Pfandsammler. Erkundungen einer urbanen Sozialfigur [1. ed.] 9783868546101, 9783868542769


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German Pages 270 [264] Year 2014

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Pfandsammler. Erkundungen einer urbanen Sozialfigur [1. ed.]
 9783868546101, 9783868542769

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Sebastian J. Moser

Pfandsammler Erkundungen einer urbanen Sozialfigur

Hamburger Edition

Hamburger Edition HIS Verlagsges. mbH Verlag des Hamburger Instituts für Sozialforschung Mittelweg 36 20148 Hamburg www.hamburger-edition.de © der E-Book-Ausgabe 2014 by Hamburger Edition ISBN 978-3-86854-610-1 E-Book Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde © 2014 by Hamburger Edition ISBN 978-3-86854-276-9 Der Text basiert auf der Dissertation, vorgelegt an der Albert-Ludwigs-Universität, Freiburg i. Br. (2013), Fachbereich Soziologie Umschlaggestaltung: Wilfried Gandras Typografie und Herstellung: Jan und Elke Enns Satz aus der Aldus von Dörlemann Satz, Lemförde

Inhalt Vorbemerkung 9 Einleitung 11

Erster Teil Zur Phänomenologie des Pfandsammelns

41

Ein-(Sammeln) 42 Zwischenlagern 54 Wegbringen 56

Sammeln: Objektive Bedingungsstrukturen

63

Eine kleine Pfandgeschichte 64 Pfand als Sicherung vorübergehender Tauschbeziehungen 66 Folgerungen: Die Janusköpfigkeit des Pfandgesetzes 68 Die Tätigkeit des Sammelns – Was tun wir, wenn wir sammeln Folgerungen: Sammeln als Handlungsmuster 81

Pfandsammeln als Krisenlösung

83 Elisabeth: »Ich muss sowieso laufen« 83 Thomas: »Hängt man nicht in der Wohnung rum« 89 Dieter: »Freizeitausgleichsbeschäftigung« 103 Zwischenlager 115

Zweiter Teil Ökonomische Wohltat oder : Wohltätige Ökonomie?

125 Die Gabe oder: Eine unmögliche Möglichkeit 125 Zwischen Selbstständigkeit und Selbstüberwindung 130 Informelle Dienstboten 135 Eine Form der Institutionalisierung: »pfandgeben.de« 145 Pfandspuckende Mülleimer? 151 Erster Exkurs: Verordnete Wohltätigkeit – Ährensammler 157

69

Die Ambivalenz von »Drecksarbeit«

164 Einer muss den Dreck wegmachen 164 Wertvoller Müll 169 »Drecksarbeiter« unter sich 173 Von Saubermännern und Müllwühlern 180 Zweiter Exkurs: Die ersten Müllmänner – Lumpensammler 183

Die Aufteilung des öffentlichen Raums

194

Neoliberale Stadtästhetik 194 Der Mülleimer als öffentlicher Raum 199 Sicherheit als attraktives Potenzial 205 Dritter Exkurs: Vom Staatsbürger zum Dieb – Raffholzsammler 211

Grenzen sozialer Anerkennung

217 Zur Schau gestellte Leistungsfähigkeit Gewaltsame Worte 220 Ungebetene Gäste 242 Endlager 248 Bibliografie 257 Danksagung 269 Zum Autor 271

217

Für jedermann

»Manche, die dir hier begegnen, sind dir ähnlich, sind allein. Manche, weil sie niemand haben, andere wollen alleine sein. Und sie sehen dich nicht an, tasten sich an dir vorbei. Und verbergen doch ihr Misstrauen, ihre Angst nur schlecht dabei. Als wenn ihre Einsamkeit schon ein Vergehen sei.« Hannes Wader – »Wieder eine Nacht«

Vorbemerkung Es war ein Glücksfall, sich mit Pfandsammlern beschäftigen zu können, denn nur selten bietet sich die Möglichkeit, ein Feld zu untersuchen, welches noch unerforscht daliegt. Dies bot die einmalige Chance, ein soziales Phänomen in seiner Entstehung zu beobachten. Diese Arbeit versucht, ein Thema, mit dem die Pfandsammler immer wieder in Verbindung gebracht werden, ja, für das sie in der deutschen Gesellschaft fast ein Symbol geworden sind, differenzierter zu betrachten: Die Rede ist von der Armut. Es wäre naheliegend gewesen, in einer Arbeit über steigende Armut und Ungleichheit in Deutschland die Sammler als einen Beleg hierfür heranzuziehen. Dieser Deutung, die jedoch nur zu einem gewissen Grad zutrifft, begegnet man in den Medien sowie in alltäglichen Gesprächen mit Menschen, denen Sammler in ihrer Stadt aufgefallen sind. Nur: Geredet haben die wenigsten mit ihnen. Und hierin zeigt sich eines der wesentlichen Probleme der Sammler sehr eindringlich: Einsamkeit. Arm sein heißt sehr viel mehr, als nur wenig Geld zur Verfügung zu haben. Damit zusammenhängende Probleme sind soziale Ausgeschlossenheit aus beruflichen wie privaten Gruppen, fehlende Aufgaben und ein damit einhergehender Mangel an Gelegenheiten, den Alltag zu strukturieren, vermindertes Selbstwertgefühl, weil man glaubt, für nichts mehr zu gebrauchen zu sein. Eben dadurch, und nicht nur wegen des leeren Portemonnaies, ist Armut eine allumfassende, die Existenz bedrohende Erfahrung. Dennoch, und dies zeigt die Beschäftigung mit den Pfandsammlern: Diese Probleme sind kein »Privileg« der »Armen«. Viel eher scheinen sie sozial sehr viel heterogener verteilt zu sein, als eine reine Armutsforschung annehmen könnte. Und genau dieser Umstand sollte zu denken geben! Sind die Pfandsammler eine Ausdrucksgestalt einer Gesellschaft der Einsamen? Und wären all diese Menschen dann nicht durch ihre Einsamkeit miteinander verbunden? Oder sind es gerade das Gefangensein in dieser Einsamkeit und die sich daraus ergebenden Schwierigkeiten, die diesen Menschen Steine in den Weg legen, die sich zwar einsammeln, jedoch nicht ohne Probleme beiseiteräumen lassen?

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Einleitung »Der Ort, den eine Epoche im Geschichtsprozess einnimmt, ist aus der Analyse ihrer unscheinbaren Oberflächenäußerungen schlagender zu bestimmen als aus den Urteilen der Epoche über sich selbst. Diese sind als der Ausdruck von Zeittendenzen kein bündiges Zeugnis für die Grundverfassung der Zeit.« Siegfried Kracauer

Am helllichten Tag oder im Dunkel der Nacht, an überfüllten Bahnhöfen, vor den Fußballstadien, in Parkanlagen bei sommerlichen Temperaturen oder in den durchdesignten Innenstädten: Die sogenannten Flaschensammler1 gehören mittlerweile überall zum deutschen Stadtbild. Mit Tüten, Rucksäcken oder Handkarren ausgerüstet klappern sie die Ränder der Einkaufsstraßen nach Pfandgebinden ab und greifen schon mal mit dem ganzen Arm in die Abfalltonne, um sich der zurückgelassenen Flaschen und Dosen zu bemächtigen. Eine Bewegung, die man bis vor einiger Zeit vor allem von Obdachlosen gewohnt war, auf der Suche nach Nahrungsmittelresten. Vielleicht winden sich genau darum manche der Flaschensammler um die Tonne herum, immer den Blick an der Umgebung haftend, ob jemand ihr Werk beobachten könne. Und dann, wenn für einen kurzen Moment Sicherheit vor den Blicken der anderen vermutet wird, senkt sich der Kopf in Richtung Abfallbehälter, in der Hoffnung, darin das begehrte Objekt zu entdecken. An den Rückgabeautomaten der Supermärkte sieht man Menschen, die große Mengen unterschiedlichster Pfandflaschen abgeben. In teilweise mühevoller Kleinarbeit werden diese Objekte zusammengetragen und bringen durch das 2006 gesetzlich vorgeschriebene Pflichtpfand auf Einweggetränkeverpackungen bis zu 25 Cent pro Flasche/Dose ein. Im medialen Diskurs fungiert die Figur des Pfandsammlers mittlerweile als Sinnbild für die sich massiv verschlechternden sozialen Verhältnisse in Deutschland. Der Anstieg der Bedürftigkeit, so der allgemeine Tenor, ließe sich am wachsenden Aufkommen der Sammler auf 1 Die Begriffe Flaschen- und Pfandsammler werden synonym verwendet. Auf alternierende Genderung wurde verzichtet.

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den Straßen ablesen. Vermutlich hängt dies damit zusammen, dass im Müll wühlende Menschen vor allem mit Obdachlosigkeit in Verbindung gebracht werden. Daneben erinnert diese Tätigkeit aber auch an Müllsammler, die in südamerikanischen oder afrikanischen Ländern zur Normalität gehören.2 Damit hätte der von Ulrich Beck geprägte Begriff der »Brasilianisierung«3, mit dem die verstärkte Prekarisierung und Informalisierung von Arbeitsverhältnissen in westlichen Gesellschaften bezeichnet werden soll, in den Pfandsammlern seine Vergegenständlichung erfahren. Sozialwissenschaftliche Beiträge, die das Sammeln als Form der Subsistenzsicherung in Entwicklungsländern erwähnen, zeigen eindringlich, dass man es hier mit den weniger angenehmen, teilweise verdeckten Seiten des sozialen Lebens zu tun hat. Allen voran sind die gesundheitlichen Risiken, die diese Tätigkeit mit sich bringt, beträchtlich und werden in Ländern wie Brasilien oder Ägypten durch keinerlei Sozialsystem abgefedert.4 Von thailändischen Müllsammlern, den »khon geb khaya«, die vor der offiziellen Müllabfuhr die Abfalltonnen der Haushalte nach verwertbaren Dingen absuchen, wird berichtet: »Sie sind sehr arm, und das Einkommen aus der Müllsuche […] reicht meist kaum zum Überleben.«5 Ähnliches ist von den Philippinen bekannt, wo die »Scavenger« – übersetzt »Lumpensammler« oder auch »Aasfresser« – ebenfalls vom und im Müll leben.6 Ist eine Analogie zwischen Subsistenz- und Pfandsammler also unangemessen? Die Lebensbedingungen von Sammlern in Ländern wie den Philippinen, Brasilien oder Thailand sind nicht mit der Situation von Pfandsammlern in Deutschland vergleichbar. Richtig ist, dass sich das »Normalarbeitsverhältnis« in westlichen Industriestaaten immer 2 Vgl. dos Santos, Anna Lúcia Florisbela, »Der informelle Sektor in der Abfallwirtschaft Brasiliens am Beispiel Sao Sebastiao sowie Auswirkungen der Einführung der mechanisch-biologischen Abfallbehandlung auf diesen Sektor«, http://www2.gtz.de/dokumente/bib/05-0206.pdf [30. 01. 2012]; Wilson u.a., »Role of Informal Sector Recycling«. 3 Beck, Schöne neue Arbeitswelt, S. 7. 4 Harpet, »Anthropologie des décharges«. 5 Volkmann, »Abfallmanagement«, S. 34. 6 Der Begriff »scavenger« ist im US-amerikanischen Raum eine gängige Bezeichnung für die Müllsammler (vgl. Medina, »Scavenging in America«) und fällt gerade durch die Analogie zum Aasgeier auf. Er tritt neben Begriffe wie »informal recyclers« (Gutberlet u.a., »Informal Recyclers«) oder »dumpster divers« (vgl. Gowan, »The Nexus«; Eikenberry/Smith, »Dumpster Diving«; Ferrell, Empire of Scrounge).

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weiter verflüchtigt und sich der deutsche Sozialstaat in einem radikalen Strukturwandel befindet. Beides hat in den letzten Jahren zu wachsender sozialer Einkommensungleichheit sowie zum Anstieg der relativen Armut beigetragen. Aber richtig ist auch, und dies ist vor dem Hintergrund der Beschäftigung mit Subsistenzsammlern zu verstehen, dass die Verhältnisse weit von denen in Entwicklungsländern entfernt sind. Wer also sind diese Pfandsammler in deutschen Großstädten? Mit Blick auf entwickelte Länder, wie Kanada, Japan, Spanien oder Italien, schreibt Martin Medina: »Trotz existierender Sicherungssysteme für Arme sowie weitgehenden Wohlstand der industrialisierten Länder, existieren ›Lumpensammler‹ noch immer. Einige sammelnde Obdachlose haben sich für ein Leben auf der Straße entschieden, trotz existierender Unterkünfte. Es scheint, dass für einige das Leben auf der Straße und das Müllsammeln ein Lebensstil ist, den sie bevorzugen.«7

Nach dieser Aussage wäre das Sammeln von Gegenständen aus Abfallbehältern in industrialisierten Ländern mit sozialen Sicherungssystemen eine Form der Subsistenzsicherung, der vor allem Obdachlose nachgehen. Das sich hier wiederfindende Hauptaugenmerk auf Menschen, deren Leben von extremer Armut gezeichnet ist, entspricht zu einem guten Teil dem, was den medialen Diskurs über Pfandsammler strukturiert. Obgleich der mögliche Zusammenhang zwischen Armut und dem Sammeln von Pfandgebinden hier keinesfalls geleugnet werden soll, stellt er doch zunächst eine empirisch offene Frage dar. Der Gang auf die Straße sowie einfache, unstrukturierte Beobachtungen, die den Ausgangspunkt dieser Untersuchung bilden, legen nicht ohne Weiteres nahe, dass es sich bei Pfandsammlern in deutschen Städten ausschließlich um Obdachlose und extrem verarmte Menschen handelt. Viel eher fällt die Gruppe der Pfand sammelnden Personen durch ihre relative soziale Heterogenität auf. Dies ist umso erstaunlicher, da durch die verhältnismäßig niedrigen Pfandsätze vermutlich nur ge-

7 Medina, »Scavenger Cooperatives«, S. 237; [eigene Übersetzung, eigene Hervorhebung, S.J.M]. Der vorliegende Text ist im Sinne der Lesefreundlichkeit einheitlich in deutscher Sprache verfasst. Vom Verfasser angefertigte Übersetzungen aus dem Englischen oder Französischen werden in der Fußnote als solche gekennzeichnet.

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ringfügige Geldbeträge erwirtschaftet werden können. Der Blick auf die im Elend lebenden Subsistenzsammler in Entwicklungsländern lässt ein noch differenzierteres Bild entstehen: Während diese jede Form von Abfall sammeln, der noch in irgendeiner Form als Ressource verwendet werden kann – dies reicht bis zu Nahrungsmitteln –, sind jene ausschließlich auf Flaschen und Dosen spezialisiert, die erst durch die staatliche Verordnung zur Erhebung von Pflichtpfand zu wertvollem Abfall werden. Pfandsammler in Deutschland sind also ebenso wenig Rohstoffsammler wie informelle Müllarbeiter, da sie nicht bepfandete Gebinde sowie jeden weiteren Müll liegen lassen. Diese Überlegungen führen zu folgenden Fragen: Gibt es Gründe für das Pfandsammeln, die über die reine Bedürftigkeit hinausgehen? Und wenn dem so ist: Wie ist es möglich, dass Menschen eine Handlung als für sich angemessen ansehen, durch die sie in die soziale Nähe einer gesellschaftlich stigmatisierten Gruppe wie den Obdachlosen gestellt werden? Welche Mechanismen zeichnen dafür verantwortlich, dass trotz potenzieller Stigmatisierung dennoch Pfandflaschen gesammelt werden? Da sich bis zum heutigen Zeitpunkt keine wissenschaftliche Studie mit Pfandsammlern in Deutschland dezidiert auseinandergesetzt hat, kommt dem hier vorgelegten Text ein explorativer Charakter zu.8 In der Beschreibung der Sozialfigur des Pfandsammlers möchte ich mich der soziologischen Tradition der frühen Chicago School, aber auch Vertretern der Kritischen Theorie wie Walter Benjamin oder Siegfried Kracauer zuwenden. Anstatt große quantitative Datenmengen zu erheben und auszuwerten, stellte das Ausgangsmaterial dieser Forscher die direkte Begegnung dar. Sie begaben sich in die jeweilige soziale Umgebung, die es zu erforschen galt, und ihre Erkundungsgänge durch die Straßen, die Aufenthalte in Büros und Armenküchen waren der Versuch, ein genaueres Verständnis dieser Lebenswelten zu erhalten. Herumzuschnüffeln, sich die Hände schmutzig und die Füße nass zu

8 Aus einer soziologischen Perspektive hat sich Ulrich Bröckling in seinem Aufsatz »Der Flaschensammler« mit diesem Thema beschäftigt. Im Anschluss an ein von mir gegebenes Interview mit dem Freiburger Onlinemagazin fudder, welches am 02. 11. 2011 ebenfalls in der Badischen Zeitung abgedruckt wurde, erhielt ich zahlreiche Zuschriften von Studenten aus ganz Deutschland, die Interesse an der Auseinandersetzung mit den Pfandsammlern bekundet haben. Einige dieser Arbeiten liegen mittlerweile vor und bestätigen die hier präsentierten Ergebnisse.

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machen, diese Kriterien hatte bereits Robert E. Parks als für soziologische Forschung unabdingbar aufgestellt.9 Mit der Darstellung meiner Erkundungsgänge und Begegnungen möchte ich einen ersten Zugang zum Phänomen bieten und aufzeigen, was man sich unter dem Pfandsammeln vorzustellen hat. Obgleich der Vergleich mit Müllsammlern in Entwicklungsländern aus den zuvor genannten Gründen nur eingeschränkt möglich scheint, ist doch die historisch wiederkehrende Etikettierung oder Semantik für eine soziale Praktik nicht zufällig gewählt. Sie erklärt sich aus einer spezifischen Strukturgesetzlichkeit, die der jeweiligen Praktik als einer Art Handlungsmuster zugrunde liegt. Sammeln beschreibt allgemein eine Tätigkeit, die sich durch die Vereinigung von mehreren, ursprünglich verstreuten Dingen auszeichnet. Diese sind entweder von derselben Beschaffenheit oder tragen ein gemeinsames Wesensmerkmal. Die wissenschaftliche Literatur über das Sammeln interessiert sich außerhalb der ökonomischen Anthropologie10 zuvorderst für das Sammeln als eine Form des Luxuskonsums sowie die Verbindung zwischen dem Sammeln von Kunstgegenständen und dem Museum als Ort der Konservierung des kulturellen Erbes. Ebenso wurde vor dem Hintergrund psychoanalytischer Theorie versucht, das leidenschaftliche Sammeln zu enträtseln. Sich eines pragmatistischen Arguments bedienend möchte ich demgegenüber das Sammeln, wie jedes Handeln, zunächst als eine bestimmte Form der routinierten Bewältigung von Handlungskrisen interpretieren, die, als ein historisch gewachsenes Handlungsmuster, den Subjekten zur Verfügung steht.11 Die hermeneutische Auseinandersetzung mit einer Semantik erlaubt es, »auf empirische Weise theoretische Forschung zu treiben«.12 Mit der Selbst- und/oder Fremdbeschreibung als Pfandsammler tritt uns eine Theoretisierung des Phänomens entgegen, die als Interpretationsfolie für die Untersuchung dienen kann. Erst im Anschluss daran kann in der Rekonstruk9 Vgl. Lindner, Entdeckung der Stadtkultur. 10 Vgl. Ingold, »Jagen und Sammeln«. 11 Der Begriff »Krise« ist hier in einem vollkommen undramatischen, sozialwissenschaftlichen Sinne zu verstehen (vgl. Habermas, Spätkapitalismus, S. 9ff.). Ich werde die auf Ulrich Oevermann zurückgehende Unterscheidung von Krise/ Routine in den Anmerkungen zur Methode noch ausführlicher darstellen (vgl. Oevermann, Krise und Routine). 12 Stichweh, »Der Fremde«, S. 45.

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tion einzelner Fälle der Frage nachgegangen werden, für welche Handlungskrisen das Sammeln von Pfandflaschen jeweils eine Lösung darstellt. Die Wahl der sich bewährenden Lösungen wird durch das Eingebettetsein in soziale Strukturen sowohl ermöglicht als auch begrenzt, weil soziales Handeln grundsätzlich einen Rückgriff auf kollektive Wissensordnungen und geteilte Sinnsysteme notwendig macht. Pfandsammler mögen ihre Tätigkeit in spezifischer Weise deuten und bestimmte Erwartungen daran knüpfen, ohne dass diese jedoch von Nicht-Sammlern geteilt würden. So lässt sich etwa die Vermutung aufstellen, dass das Wühlen in öffentlichen Abfallbehältern zu Deutungskrisen für NichtSammler führt, die als solche wiederum bearbeitet werden müssen. Nur schwer vorstellbar ist, dass diese Art der Zweckentfremdung von Abfalltonnen ohne Weiteres auf allgemeine Zustimmung stößt. Mit dem Aufzeigen und Ausbuchstabieren dieser Grenzen befasst sich der zweite Teil der Untersuchung. So wird das aktive Sammeln aus dem ersten Teil, welches den Individuen selbstbestimmte Lösungen für bestimmte Probleme (zum Beispiel schwierige finanzielle Verhältnisse, soziale Vereinsamung) an die Hand gibt, im zweiten Teil zu einer Gabe, die den vormals Aktiven zu einem passiven Hilfeempfänger macht. Dabei sollen verschiedene Szenarien durchgespielt werden, die zu dem Schluss kommen, dass gerade der häufig zu beobachtende Akt des Flasche-vor-den-Mülleimer-Stellens die Positionen von Sammler und Geber in ihren Bedürfnissen respektiert und somit die Möglichkeit zur »reinen Gabe« eröffnet. Das Objekt aus dem ersten Teil, die bepfandete Flasche, verwandelt sich durch die Fokusverschiebung auf die Grenzen sozialer Strukturen in das Ausrangierte, in für unwert erklärten »Dreck«.13 Diese Deutung des Objekts ist u.a. für die Schwierigkeit verantwortlich, sich als ein produktives, leistungsfähiges Individuum im öffentlichen Raum darstellen zu können. Die gesellschaftliche Konstruktion des Wertvollen, zu dem Müll in der Regel nicht mehr zählt, etwa weil er seinen Gebrauchswert verloren hat oder weil er aus einem festen Zusammen13 An dieser Stelle sei auf eine semantische Unterscheidung hingewiesen. Ich spreche von Abfall, wenn das Nicht-mehr-Verwendete in seiner Eigenschaft als solches, gar als Materie bezeichnet wird. Geht es um die gesellschaftliche Deutung, die damit verbundene negative Konnotation, so ist von Dreck oder Schmutz zu sprechen.

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hang gelöst wurde, führt dazu, dass Tätigkeiten, die mit Ausrangiertem in Berührung kommen, gesellschaftlich nur wenig Prestige einbringen. Der Staat spielt, ohne dies vermutlich vorausgeahnt zu haben, durch die Erlassung des Pfandgesetzes eine ermöglichende Rolle. Erst durch diese politische Entscheidung wird das Sammeln von Pfandflaschen finanziell über die Grenzen des Obdachlosenmilieus hinaus interessant; gab es doch zum Beispiel die 25 Cent auf Einweggetränkeverpackungen zuvor nicht. Doch der Staat setzt der Tätigkeit, die er im ersten Teil noch bis zu einem gewissen Grad mitzuverantworten hat, im zweiten Teil mit wieder anderen Verordnungen Grenzen. So etwa mit jenen, die einen korrekten Umgang mit öffentlichen Abfallbehältern regeln und die das Sammeln potenziell unter Strafe stellen können. Das Sammeln von Pfandflaschen scheint, aufgrund seiner Leistungsabhängigkeit und seiner strukturellen Ähnlichkeit zur Erwerbsarbeit – am Ende steht eine Entlohnung –, den Sammlern einen positiven Selbstwert zu verschaffen. Zum einen, weil am Ende des Tages gesagt werden kann: »Und die Currywurst habe ich mir selbst erarbeitet!« Zum anderen, weil die Deutung vorherrscht, einer Tätigkeit nachzugehen, für die die Allgemeinheit dankbar ist. Dies zeigt der erste Teil. Im zweiten wiederum wird deutlich werden, dass diese Tätigkeit nicht uneingeschränkt positiv angenommen wird, sondern es zu missachtenden Reaktionen aus der Umwelt kommt, die so weit gehen, dass den Sammlern der Status »Mensch« abgesprochen wird. Den Übergang vom ersten in den zweiten Teil bildet das resümierende »Zwischenlager«. Da die Fokusverschiebung an diesem Punkt der Untersuchung zentral ist, wird an dieser Stelle eine detailliertere Gliederung des weiteren Fortgangs gegeben. Die Übergänge zwischen den einzelnen Kapiteln des zweiten Teils bilden kleine Exkurse, Vignetten weiterer Sammlerfiguren, die bei der finalen Zusammenführung der Arbeit im »Endlager« behilflich sein werden.

Anmerkungen zur Methode Die Anmerkungen zur Vorgehensweise werden in drei Unterpunkte gegliedert. Im ersten Abschnitt wird der Forschungsprozess rekonstruiert. Der zweite Abschnitt ist der Darstellung der Prinzipien der Sequenzanalyse gewidmet, die im Rahmen dieser Untersuchung als Aus17

wertungsmethode unterschiedlicher Datentypen verwendet wurde. Im abschließenden dritten Teil wird das Vorgehen in einer forschungsethischen Perspektive reflektiert. Die Ergebnisse der Untersuchung entwachsen in erster Linie dem unmittelbaren Kontakt mit den Pfandsammlern, dem Unterwegssein auf der Straße. Verzichtet wurde bewusst auf den Umweg über Institutionen, wie öffentliche Ämter oder Einrichtungen für Bedürftige, da dies bereits eine Vorauswahl bedeutet hätte, die dem Phänomen möglicherweise gar nicht entspricht. Das Phänomen Pfandsammler findet sich im öffentlichen Raum und ist eines in ständiger Bewegung, weshalb diese (physisch und methodisch) auch vom Forscher verlangt wurde. Ohne die bewusst methodisch offene, das heißt möglichst wenig formalisierte, Vorgehensweise hätte das Phänomen des Pfandsammlers nicht in der hier präsentierten Form untersucht werden können.14

Der Soziologe als flanierender Beobachter Aufmerksam wurde ich auf das Phänomen der Pfandsammler bei flanierenden Streifzügen durch meinen damaligen Wohnort. Flanieren mag möglicherweise dem studentischen Habitus entsprechen, ist es doch vor allem dem sorglosen und abschweifenden Geist möglich.15 Diese Bewegung ohne konkretes Ziel besteht gerade im Sich-treiben-Lassen des Blicks, dem plötzlichen Sich-Festbeißen an etwas zuvor Ungesehenem. Wer losläuft, um über etwas nachzudenken, flaniert nicht, denn sein Geist ist bereits fixiert und für Unerwartetes nur wenig empfänglich. Dem von Sorgen oder Ängsten Getriebenen fällt der unbedarfte Blick auf die Welt schwer. Er sieht zumeist nur, was sein Innerstes aufwühlt. Ich wurde bei solchem Flanieren auf Menschen aufmerksam, die in den Innenstädten oder in Parks in Abfallbehältern herumkramten. Mag dies auf den ersten Blick nichts Ungewöhnliches sein, so zeichneten sich die von mir gesehenen Menschen durch ein gepflegtes Äußeres und ihr dezentes, teilweise verstecktes Vorgehen aus. Relativ schnell wurde mir klar, dass diese Menschen nach Getränkeflaschen oder Dosen suchten, auf die seit einiger Zeit Pflichtpfand erhoben wurde. 14 Girtler, Vagabunden, S. 2ff. 15 Vgl. hierzu: Legnaro, »Flanieren«.

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Dieser ersten flanierenden Phase schloss sich dann die naturalistische Beobachtung im Sinne Goffmans an, bei der es darauf ankommt, sich der zu untersuchenden Lebenswelt kontinuierlich anzunähern und sich »möglichst authentisch ihren Lebensumständen auszusetzen«.16 Allen voran interessierte mich zu diesem Zeitpunkt, wie das Flaschensammeln vonstattengeht, das heißt, welche Wissensbestände sich angeeignet werden müssen, um diese Praktik ausführen zu können. Während die ursprüngliche Idee, selbst Flaschen sammeln zu gehen, verworfen werden musste, wurden im Laufe des Forschungsprozesses zahlreiche Selbstversuche unternommen. Neben längeren Aufenthalten im Feld – welches letztlich jede beliebige Innenstadt darstellte –, auf die ich noch zu sprechen komme, achtete ich beim privaten Pfandabgeben immer häufiger auf meine Umgebung. Ich gab bewusst häufiger größere Pfandmengen ab, wie ich es bei Flaschensammlern gesehen hatte. Obgleich diese Situationen von mir initiiert wurden, war das Gefühl, die sich bildende Schlange im Rücken und die Unruhe der anderen Kunden spüren zu können, eher unangenehm. Man versteht hierbei, dass die Orte des Zusammentreffens mit Nicht-Sammlern und deren Auswirkung auf die Tätigkeit sehr vielfältig sind und über den einfachen Austausch einer Flasche oder Dose hinausgehen. Statt mich in die Warteschlange an der Kasse einzureihen, fragte ich meist den Kunden am Anfang der Schlange, ob ich vielleicht »mal eben« mein Geld kassieren dürfte. Auch wenn die Reaktionen das eine Mal freundlicher und das andere Mal unfreundlicher ausfielen, hatte ich doch grundsätzlich Erfolg. Außerdem versuchte ich, mir ein Bild von der körperlichen Belastung des Sammelns zu machen, und befüllte dazu Plastiktüten mit Flaschen, wog sie ab und lief damit über einen längeren Zeitraum herum. Diese Art von Selbstversuchen machten von Beginn an deutlich, mit welchen psychischen und physischen Belastungen das Sammeln von Pfandflaschen behaftet ist. Dies ließ für mich das Verhältnis zwischen Belastung und Entlohnung allerdings immer unverständlicher werden. Im Unterschied zu soziologischen Studien, die sich mit Randgruppen im urbanen Raum beschäftigen, handelt es sich bei den Flaschensammlern nicht um eine geschlossene Gruppe, und vor allem nicht um ein abgegrenztes beziehungsweise abgrenzbares Feld. Diese Tätigkeit findet zu jeder Tages- und Nachtzeit sowie im (halb-)öffentlichen Raum 16 Willems, »Goffmans Forschungstil«, S. 43.

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statt. Um etwas über dieses Phänomen erfahren zu können, war es demnach notwendig, sich in die sozial-räumliche Umgebung zu begeben, in die es eingebettet ist.17 So ging ich häufig zu Orten, an denen ich während der Flanierphase Pfandsammler gesehen hatte, oder folgte Hinweisen aus meinem Umfeld; ich machte mir Erfahrungen aus meinem Alltag zunutze, um das Feld mehr und mehr zu erschließen. Insbesondere an Wochenenden, freitags und samstags, ging ich gezielt zu Diskotheken. Ebenso ging ich häufiger zu einem Fußballstadion, da mich Dritte darauf hingewiesen hatten, dass auch dort immer Flaschensammler anzutreffen seien.18 Hier war es selbstverständlich nötig, sich nach den Spieltagen und Austragungsorten der Spiele zu richten. Da die Veranstaltungen des Nachtlebens, wie der Name es bereits andeutet, meist spät beginnen, musste ich in der Regel bis 23.00 Uhr oder länger warten, bis ich Sammler traf. Es passierte, dass sich dann sogleich mehrere Flaschensammler im Umfeld der Diskotheken aufhielten, manchmal wartete ich aber auch ein oder zwei Stunden – ohne Erfolg. Es stellte sich eine wichtige Analogie zur Tätigkeit des Flaschensammlers ein: Ich konnte nie sicher sein, ob ich für die aufgewendete Zeit »belohnt« werden würde. Gleichzeitig aber musste von meiner Seite aus eine ständige Bereitschaft da sein, den angesteuerten Ort zu wechseln und zu einem anderen zu gehen. War vor der Diskothek niemand zu sehen, so zog ich weiter in die Innenstadt. War auch dort niemand, so ging ich weiter Richtung Bahnhof und so fort. Während der ersten systematischen Erhebungsphase, die zwischen November 2006 und April 2007 stattfand, verwendete ich wenigstens zwei Tage pro Woche zur Datenerhebung. Im Bereich der Innenstädte folgte ich, ähnlich einem Detektiv, den Pfandsammlern in einem Abstand, der es mir erlaubte, sie ohne Probleme zu beobachten. Blieben sie stehen, blieb auch ich stehen, drehten sie sich nach hinten, versuchte ich möglichst unauffällig zu wirken, was in Fußgängerzonen recht einfach zu bewerkstelligen ist. Diese Art der Beobachtung verlief natürlich dann problemlos, wenn ich den Pfandsammler am Tage in der Innenstadt sah oder wenn an diesen Orten Veranstaltungen stattfanden. Im Verlaufe 17 Vgl. Girtler, Feldforschung. 18 Der Leser sollte sich vergegenwärtigen, dass das Pfandgesetz, auf das später noch eingegangen wird, zum damaligen Zeitpunkt, also im Jahr 2006, erst wenige Monate in Kraft war. Pfandsammler, wie man sie heute in jeder größeren Stadt sehen kann, hatte es in diesem Sinne bis dato nicht gegeben.

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des Forschungsprozesses traf ich immer wieder unvermittelt auf Pfandsammler, an Orten, an denen ich nie mit ihnen gerechnet hätte, so zum Beispiel in einem Universitätsgebäude. Aber auch die Menschen selbst, die vor mir in die Tonne griffen, überraschten mich immer wieder. Vielleicht ist gerade dies die wichtigste Lektion, die ich lernen musste, dass man nämlich Flaschensammler schwerlich an ihrem Äußeren erkennen kann.19 Ich musste ständig bereit sein, irgendwo einem Flaschensammler zu begegnen und diesen zu beobachten. Dies führte ich so gewissenhaft wie möglich durch, hatte allerdings in diesem Zeitraum wenig Möglichkeit der Distanznahme, außer ich blieb zu Hause. Die ethnografische Untersuchung eines Alltagsphänomens des eigenen Kulturraums ist mit dem Problem der Distanznahme gekoppelt. Bei Forschung in anderen Ländern hingegen sind die Feldaufenthalte häufig streng zeitlich strukturiert, vor allem aber kann man aus seinem Feld heraustreten. Dies ist bei einem Phänomen wie dem Flaschensammler nicht möglich, weil es dem konzentrierten Blick immer und überall begegnet. Die fokussierten Beobachtungen, die sich dank der Flanierphase auf einzelne als wichtig herausgestellte Situationen beziehungsweise Details beschränken konnten, schrieb ich möglichst zeitnah in ein Forschungstagebuch, und aus diesen Notizen erstellte ich ausführliche Beobachtungsprotokolle. Ich versuchte, meine Beobachtungen so neutral wie möglich zu halten, das heißt lediglich das Gesehene zu beschreiben, dabei auf Häufigkeitsaufzählungen (immer, häufig, selten etc.) und Wertungen (gut, schlecht etc.) jeglicher Art zu verzichten. Nachdem die ersten Beobachtungen der Flanierphase unstrukturiert verlaufen waren, konzentrierte ich mich im Folgenden auf das Ansteuern von Abfalleimern, die Blicke oder das Verhalten am Rückgabeautomaten. Zur dezidierten Analyse wurden insgesamt 18 ausführliche Beobachtungsprotokolle angefertigt. Sie dienten zur detaillierten Rekonstruktion des Flaschensammel-Prozesses sowie als weitere Vergleichsmöglichkeiten zu den Informationen, die ich aus Gesprächen 19 Christoph K., mit dem ich einige Beobachtungen in Berlin durchführte, sagte einmal zu mir: »Beim Beobachten habe ich darüber nachgedacht, nach was ich eigentlich gucken soll. Dann dachte ich: Leute mit ungepflegtem Äußeren, die einen Rucksack oder Tüten bei sich tragen.« Allerdings, so bemerkte er, kommt man mit dieser Eingrenzung nicht weit, weil mit einem Mal jemand »ganz Normales« vor einem in den Mülleimer greift.

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mit Sammlern erhielt. So deckten sich zum Beispiel Aussagen von Sammlern nicht mit gemachten Beobachtungen, was demnach entweder zu erneuten Beobachtungen oder einem vertieften Einstieg in die Gespräche führte. Den Beobachtungsprotokollen kommt in dieser Studie nicht der gleiche Status wie den von den Gesprächen angefertigten Transkripten zu. Nur Letztere machen es möglich, die Lebenspraxis20 der einzelnen Pfandsammler in ihrer Spezifik und Typik zu rekonstruieren, da wir es hier mit sozialen Abläufen zu tun haben, »die die Handlungsstrukturierung des interessierten Falls dokumentieren. Diese objektiviert sich in der sequentiellen Anordnung der protokollierten (Sprech-)Handlungen.«21

Würden die Beobachtungsprotokolle derart analysiert werden, würde man letztlich beobachten, wie man beobachtet. Dies käme dann einer Selbstanalyse gleich. Beobachtungen konservieren ein Geschehen bereits immer rekonstruktiv.22 Die Beobachtungsprotokolle haben also eher beschreibenden Charakter. Sie konnten hinsichtlich ihres Inhalts in drei Gruppen unterteilt werden. Die Gruppen »(ein-)sammeln«, »zwischenlagern« und »wegbringen« sowie alle weiteren Unterteilun20 Als Lebenspraxis wird die »widersprüchliche Einheit von Entscheidungszwang und Begründungsverpflichtung« (Oevermann, »Versozialwissenschaftliche Identitäsformation«, S. 243) verstanden. Es handelt sich hierbei um historisch-konkrete Gebilde (Individuum, Gruppe, Gemeinschaft), die eingebettet sind in ein Gesamt an objektiven Bedeutungsstrukturen (soziale Welt) und, aus diesen auswählend, einen je eigenen Bildungsprozess durchlaufen. In diesem bilden sie eine Identität beziehungsweise Fallstrukturgesetzlichkeit aus, die sich langfristig in eine offene Zukunft transformieren kann. Demnach ist die Untersuchung einer Lebenspraxis immer die eines konkreten Falls, wie ich dies am Beispiel von drei Pfandsammlern vorlegen werde (s.u.). Erst die Untersuchung mehrerer Lebenspraxen kann zeigen, ob die erreichten Ergebnisse sich generalisieren lassen. Die Lebenspraxis ist das immer nur vorläufige Produkt eines aktiven, hoch selektiven und eben individuellen Prozesses des »Sichbildens in Auseinandersetzung mit der Welt«, in dem Entscheidungen getroffen und begründet werden müssen, selbst wenn kein routiniertes Wissen zur Verfügung steht. In diesem Sinne beinhaltet der Begriff der Lebenspraxis zwar jenen der »sozialen Praktik« der praxeologischen Theorieansätze (vgl. hierzu: Reckwitz, »Vokabular der Handlungstheorien«), mit dem eine kulturelle Ordnung des Wissens, ein interpretatives sowie emotionales Know-how beschrieben wird, geht jedoch über diesen hinaus, indem er die konkrete Einzigartigkeit betont. 21 Sutter, »Oevermanns Grundlegung«, S. 45. 22 Bergmann, »Flüchtigkeit«, S. 305.

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gen innerhalb der Gruppen ergaben sich aus den im Feld gemachten Erfahrungen sowie den sich anschließenden Auswertungen und stellen keine theoretisch-analytischen Kategorien dar, die den Daten »übergestülpt« wurden. Es ging also im ethnografischen Sinne um die Darstellung eines holistischen Bildes des »Wie?« der Tätigkeit.23 Auch aus den Gesprächen, auf die ich im Folgenden zu sprechen kommen möchte, übernahm ich technische Angaben. Um mit den Sammlern ins Gespräch zu kommen, entschied ich mich dafür, sie direkt bei ihrer Tätigkeit anzusprechen. Zum einen hat dieses Vorgehen den Vorteil, dass die Leute nur bedingt ausweichen konnten und die Frage »Entschuldigung, sammeln Sie Flaschen?«, die häufig meine Einstiegsfrage war, zwingend bejahen mussten. Zum anderen aber ging es mir zuvorderst um die von den Menschen ausgeführte Tätigkeit, nämlich das Sammeln. Dies ist wiederum in eine bestimmte soziale Umgebung eingebettet, die man, will man das Phänomen verstehen, nicht aus dem Forschungsprozess ausklammern kann. In den eigenen vier Wänden oder an einem neutraleren Ort wie einem Café wären die Sammler keine Sammler mehr gewesen, sondern Menschen, die über eine Tätigkeit sprechen, die sie momentan jedoch nicht ausführen. Ich wollte die Flaschensammler nicht zu offiziellen Interviews einladen, bei denen dann standardisierte oder leitfadengestützte Fragebögen bearbeitet würden. Es ging mir eher darum, sie ihre Geschichte erzählen und in einem selbstständigen Reflexionsprozess die für sie mit ihrer Tätigkeit verbundenen Relevanzen zum Ausdruck bringen zu lassen. Geschichten sind, bezogen auf die in ihnen hervorgehobenen Relevanzen, wie Zygmunt Bauman schreibt, »wie Such- und Punktscheinwerfer; sie beleuchten Teile der Bühne, während der Rest im Dunkeln bleibt. Sie wären nicht wirklich nützlich, wenn sie die gesamte Bühne gleichmäßig erhellen würden.«24

Es handelt sich also bei diesen Geschichten um rekonstruktive Deutungen erfahrener Wirklichkeit seitens der Sammler selbst. Die Se-

23 Deppermann, Arnulf, »Ethnographische Gesprächsanalyse: Zu Nutzen und Notwendigkeit von Ethnographie für die Konversationsanalyse«, Gesprächsforschung – Online-Zeitschrift zur verbalen Interaktion, Ausgabe 1 (2000), S. 96–124, hier S. 103, http://www.gespraechsforschung-ozs.de/heft2000/gadeppermann.pdf [20. 03. 2013]; vgl. auch: Lüders, »Beobachtung im Feld«. 24 Bauman, Verworfenes Leben, S. 27.

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quenzanalyse, die als Auswertungsmethode der Gesprächstranskripte diente, geht von der Textförmigkeit sozialer Wirklichkeit aus, da sowohl Gespräche, körperlicher Ausdruck oder kulturlandschaftliche Konfigurationen als Ausdruck sozialer Praktiken gelesen werden können.25 Es ist jedoch notwendig diese Texte möglichst verlustarm in ein Protokoll, das heißt eine materiale, zeichenhafte Form zu bringen. Dabei können Aufnahmegeräte, wie das hier verwendete Diktiergerät oder Videokameras, helfen. Nun darf man sich den Forschungsprozess nicht so vorstellen, dass ich einfach durch die Gegend lief und wahllos jeden Flaschensammler ansprach. Einige, so muss eingestanden werden, sprach ich ganz bewusst nicht an, weil sie mir schlicht und ergreifend aufgrund ihres Auftretens Angst machten; manchmal reichten schon mürrische Gesichtsausdrücke, um die Person nicht anzusprechen. Ein anderes Mal waren solche Ausdrucksgestalten genau der Grund dafür, dass ich sie ansprach. Einen Flaschensammler, der von mehreren als aggressiv bezeichnet worden war, dessen Geschichte jedoch sicherlich interessant zu hören gewesen wäre, sprach ich ebenfalls aus Furcht nicht an. Forschungen im Freien, die quasi beim Flanieren entstehen, zeichnen sich dadurch aus, dass der Forscher permanent an Weggabelungen gelangt, die ihn zu einer erneuten Entscheidung über die Richtung zwingen, die im Nachhinein rekonstruktiv begründet werden muss. Der Vorteil eines solch offenen Vorgehens liegt darin, dass die Auswahl der Gesprächspartner durch keinerlei »Filter« vorsortiert wird, sondern sich spontan im Feld ergibt. Ist der Forscher zum Beispiel durch einen gatekeeper in eine Institution vorgedrungen, so hat er häufig nur wenig Einfluss darauf, mit wem er im Inneren in Kontakt treten kann. Dieses Problem stellte sich bei dieser Studie nicht, da es sich bei den Sammlern um vereinzelte Personen und eben nicht um eine Gruppe handelt. Nicht nur sind die Sammler zumeist allein unterwegs, sondern die Bekanntschaften untereinander sind, wie sich schnell herausstellte, nur sehr oberflächlich.26

25 Vgl. Oevermann, »Genetischer Strukturalismus«. 26 Es wäre interessant zu sehen, inwieweit es sich hier um ein zeitgebundenes Ergebnis handelt, denn es ist durchaus denkbar, dass es zunehmend zu einer Institutionalisierung des Phänomens und daher auch zu arbeitsteiligen Gruppenzusammenhängen kommt.

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So kontaktierte mich im November 2011 eine Redakteurin des Südwestrundfunks, die eine Reportage über Pfandsammler drehen wollte und einen Protagonisten suchte. Meinem Vorschlag, doch einfach einen x-beliebigen Sammler auf der Straße anzusprechen, kam sie jedoch nicht nach und suchte stattdessen die Bahnhofsmission auf. In diesem Fall sind die Sammler bereits vorselektioniert, sodass man mit hoher Wahrscheinlichkeit auf Bedürftige treffen kann, die auch Pfand sammeln, aber nicht notwendigerweise auf Pfandsammler, die auch bedürftig sind. Die Verbindung zwischen Pfandsammeln und Armut ergibt sich dann fast zwingend. Ich wollte jedoch den umgekehrten Weg gehen. Erst wenn sich in der Auseinandersetzung mit den Sammlern die Bahnhofsmission als ein für die Tätigkeit zentraler Ort herauskristallisiert, hätte diese aufgesucht werden müssen, nicht aber weil der Forscher meint, dort auf Sammler treffen zu können. Für mich stellte es gerade zu Beginn regelmäßig eine Überwindung dar, Menschen auf offener Straße, an öffentlichen Plätzen oder auch bei Großveranstaltungen, wie vor dem Fußballstadion, anzusprechen, kam dies für mich immer einem Eindringen in ihre Privatsphäre gleich.27 Teilweise kaufte ich mir vorher ein Getränk, um die Flasche später einem Sammler geben zu können und so mit ihm ins Gespräch zu kommen. Nicht immer war dieses »Ködern« von Erfolg gekrönt. Manche Pfandsammler nahmen die Flasche an, bedankten sich und gingen dann schnell weiter. Mit anderen kam ich auch ganz einfach ins Gespräch. Die Idee, solche Arten von Gespräch zu führen, kam mir, weil ich im Vorfeld beobachtet hatte, dass gerade auf Großveranstaltungen Pfandsammler immer wieder mit Besuchern ins Gespräch kamen. Die Gespräche wurden mit einem von mir verdeckten digitalen Diktiergerät aufgenommen, um einer möglichen Verfälschung der sozialen Situation durch das Gerät vorzubeugen.28 Dieses befand sich in der Manteltasche, und das externe Mikrofon war unter meinem Schal befestigt. Weil die Gespräche häufig innerhalb von Menschenmassen oder in hallenden Gebäuden wie Bahnhöfen geführt wurden, was laute Hintergrundgeräusche zur Folge hatte, konnten aus forschungsökonomischen Gründen nur einzelne Gespräche für die Transkription ausgewählt werden. Aus den insgesamt 14 aufgezeichneten Gesprächen mit 27 Vgl. hierzu: Goffman, »Territorien des Selbst«. 28 Girtler, Vagabunden, S. 6.

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Sammlern, die zwischen 42 Minuten und etwa 150 Minuten dauerten, wurden acht Beispiele ausgesucht und Transkripte angefertigt. Daneben wurde ein Gespräch mit zwei Angestellten der Deutschen Bahn sowie mit dem Betreiber der Internetseite pfandgeben.de geführt, auf die ich noch zu sprechen komme. Es kam ebenso vor, dass ich mit Pfandsammlern über längere Zeit mitlief und wir unsere Unterhaltung beim Sammeln fortsetzten. Einmal lud ich einen Flaschensammler erst zu Bier und später zu Kaffee ein, als wir uns nachts zufällig trafen und ins Gespräch kamen, das über zwei Stunden dauerte. Zumeist begann ich, wie gesagt, mit der Frage »Entschuldigung, sammeln Sie Flaschen?«, was immer bejaht wurde. Danach fragte ich häufig, ob sich diese Tätigkeit lohne, woraufhin meist längere Ausführungen folgten. Obgleich dies nicht ausgeschlossen werden kann, so habe ich doch versucht, mich während der Gespräche weniger von theoretischem Wissen als von der sich ansammelnden Kenntnis des Feldes leiten zu lassen, das heißt dieses in einem zirkulären Verstehensprozess aufzuschließen.29 Nach einer längeren Pause begann ich meine erneuten Recherchen im Herbst 2009. Neben einigen vereinzelten Beobachtungen sowie zwei zusätzlich geführten Gesprächen mit Flaschensammlerinnen in Stuttgart im Februar 2010 konzentrierte ich mich vor allem auf die Auswertung von drei Videos, die auf der Internetplattform youtube.com zu finden sind und das Zusammentreffen zwischen Flaschensammlern und Gebern zeigen. Wenn diese Art von Zusammentreffen auch in der Vergangenheit von mir selbst beobachtet werden konnte, so scheinen mir doch die Videos dem Forscher ein besonderes Mittendrinsein zu erlauben. Da solche Videos von den Akteuren selbst aufgezeichnet und zur Verfügung gestellt werden, kann der Forscher ein Teil der Gruppe werden, ohne physisch präsent sein zu müssen. Die Nachteile bestehen selbstverständlich darin, dass der Forscher keinerlei Einfluss auf die Konstruktion seiner Daten hat und gewissermaßen mit dem zufrieden sein muss, was die Sozialwelt ihm bietet. Des Weiteren widmete ich mich, gestützt auf literarische und historische Quellen, der Rekonstruktion verwandter Sammlertypen. Diese werden in Exkursform zur Vervollständigung des Bildes des Subsistenzsammlers dargestellt, um sowohl Unterschiede wie auch Gemein29 Vgl. hierzu: Bourdieu, »Verstehen«.

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samkeiten mit den Flaschensammlern prägnanter herausstellen zu können. So finden sich schon an mehreren Stellen der Bibel Passagen, die sich mit Ährensammlern auseinandersetzen. Hierbei handelt es sich um Menschen, die nach der eigentlichen Ernte auf die Felder gehen, um die Reste aufzulesen. Ebenso findet man beim damals jungen Juristen und Redakteur der Rheinischen Zeitung Karl Marx Aufsätze aus dem Jahre 1821, in denen er sich mit dem Prozess des Preußischen Staates gegen die sogenannten Raffholzsammler befasst. Bei dem von Walter Benjamin häufig ins Feld geführten Lumpensammler handelt es sich um eine urbane Figur, die scheinbar in der westlichen Welt ausgestorben ist, in Entwicklungsländern jedoch durchaus lebendig und dem Pfandsammler – in Bezug auf die Struktur der Tätigkeit – nicht unähnlich ist. Für die Auseinandersetzung mit den Pfandsammlern im öffentlichen Raum wurden, gestützt auf die Berichterstattung über aktuelle stadtpolitische Maßnahmen, Verordnungen aus unterschiedlichen deutschen Städten untersucht, die sich mit der Benutzung von Abfallbehältern befassen und für die vorliegende Untersuchung daher von hohem Interesse sind. Schließlich konnte das Datenmaterial aus aktuellem Anlass angereichert werden, da seit Juli 2011 die Internetseite pfandgeben.de versucht, Sammler und Geber direkt zusammenzubringen. Zur Darstellung dieser Neuheit wurde die Seite gründlich studiert sowie ein Interview mit dem Betreiber Jonas Kakoschke durchgeführt. Da die Seite im Netz auftauchte, als die Redaktion dieser Arbeit bereits weit vorangeschritten war, konnte die Untersuchung nicht in der gewünschten Detailliertheit durchgeführt werden, muss die Datenerhebung, die letztlich eine ewig weiterzuführende Sammeltätigkeit darstellt, irgendwann doch an ihr Ende gelangen. Die wichtigste Datenbasis für die vorliegende Untersuchung bilden jedoch die mit den Sammlern geführten Gespräche. Andere Gesprächsinhalte, die im Folgenden verwendet werden, sind in den Beobachtungsprotokollen enthalten, da ich nicht zu jedem Zeitpunkt mein Aufnahmegerät bei mir führte. Von Beginn an war es nicht Ziel der Datenerhebung, eine möglichst hohe Fallzahl zu erreichen. Die im vorliegenden Rahmen verwendete Methode der Sequenzanalyse, die im Folgenden in ihren Grundzügen darzustellen sein wird, erlaubt es, durch eine mikroskopisch genaue Analyse einer Lebenspraxis diese in ihrer Strukturiertheit zu erfassen. Spätere fallübergreifende Generalisierungen können so mithilfe von detaillierten Rekonstruktionen we27

niger Fälle geleistet werden.30 Aus den transkribierten Gesprächen wurden daher nochmals drei Gespräche für eine Feinanalyse ausgewählt, während die übrigen fünf Gespräche mit Sammlern zur Darstellung des Sammelprozesses und als Vergleichsbasis für die Ergebnisse der Feinanalysen verwendet wurden. Das Gespräch mit der etwa 70 Jahre alten Rentnerin Elisabeth31 verfolgt vor allem heuristische Zwecke. Da Sequenzanalysen grundsätzlich sehr lang und zum Teil im Rahmen einer größeren Studie nur sehr leseunfreundlich darstellbar sind, bot sich das kurze Gespräch von 42 Minuten an, um einen Fall vollständig zu rekonstruieren, ohne dabei längere Transkriptpassagen in der Darstellung aussparen zu müssen. Zudem handelt es sich bei diesem Gespräch um eines der wenigen mit einer Frau, bildet also zu den anderen beiden Fällen einen geschlechtsspezifischen Kontrast. Danach folgt ein längeres Gespräch von anderthalb Stunden, das ich in einer mittelgroßen deutschen Stadt nachts vor einer Diskothek mit Thomas geführt habe. Diesen Fall wählte ich für die Analyse aus, da es sich aufgrund der Sozialdaten anbot, ihn mit einem anderen Fall zu kontrastieren.32 Als kontrastierendes äußeres Merkmal für den dritten Fall nahm ich die Ausübung einer Erwerbstätigkeit beziehungsweise eines formal geregelten Arbeitsverhältnisses. Durch die Kontrastierungen soll sichergestellt werden, dass es sich bei der Fallstruktur nicht nur um ein Spezifikum des Falls handelt, sondern um generalisierbare Strukturgesetzlichkeiten des untersuchten Phänomens.33 Bei Thomas handelt es sich um einen 46-jährigen Erwerbslosen, der zuvor obdachlos war, zur Zeit des Gesprächs aber einen festen Wohnsitz hatte und »Hartz IV« erhielt. Als maximalen Kontrast des Merkmals »Erwerbslosigkeit« wählte ich für die Analyse das Gespräch mit Dieter, der zum Zeitpunkt des Gesprächs 51 Jahre alt war und seit elf Jahren einen festen Arbeitsplatz in einem Betrieb hatte. Dieses Gespräch, das ich zwei Wochen früher um die gleiche Uhrzeit an demselben Ort geführt hatte, dauerte etwa eine halbe Stunde. 30 Vgl. hierzu: Oevermann, Fallrekonstruktion und Strukturgeneralisierung. 31 Die Namen der Personen sind zum größten Teil erfunden, da diese sich mir nicht mit Namen vorgestellt haben. Ich habe versucht, Namen zu vergeben, die mir zum Beispiel aus ähnlichen Altersgruppen bekannt sind. 32 Hildenbrandt, Familienforschung, S. 65ff. 33 Oevermann, Klinische Soziologie, S. 15.

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Grundprinzipien der Sequenzanalyse An dieser Stelle kann es nicht darum gehen, die Sequenzanalyse mit ihren theoretischen Prämissen en detail darzulegen. Die in der Literatur auch unter dem Name »Objektive Hermeneutik« firmierende und mit dem Namen Ulrich Oevermann verbundene Methode und ihre Grundlagen sind in ihren Einzelheiten an anderen Stellen hinreichend dargelegt worden.34 Bevor jedoch die Kriterien des methodischen Vorgehens skizziert werden, damit dem unkundigen Leser der Entstehungsprozess der in dieser Untersuchung vorgelegten Interpretationen erleichtert wird, sollen einige zentrale Begriffe erläutert werden: Eine Lebenspraxis im Sinne eines historisch-konkreten Gebildes, so wurde bereits erwähnt, zeichnet sich dadurch aus, dass sie zum Treffen von Entscheidungen gezwungen ist und diese vor sich – und unter Umständen auch vor anderen – nachträglich rechtfertigen können muss. Hierin drückt sich der bereits bei Max Weber zu findende Gedanke aus, dass man sich nicht nicht entscheiden kann; Dulden, Tun oder Unterlassen stellen ebenfalls Entscheidungen dar. Der Alltag zeichnet sich nun dadurch aus, dass der Lebenspraxis für die meisten Entscheidungen im Normalfall Routinen, etwa in Form von Regeln, Normen oder Gesetzen, zur Verfügung stehen.35 In diesem Sinne bieten Routinen Entscheidungsentlastung. Soziales Leben wäre nicht möglich, wenn die Lebenspraxis nicht auf bereits bestehende Wissensvorräte zurückgreifen könnte.36 »Krisen«, in einem sachlich verstandenen Sinne als schlichtes Nichtvorhandensein entlastender Routinen, sind dagegen der Grenzfall. Als Krisentypen wären hier Ablösungskrisen (Eltern-Kind-Beziehung),

34 Vgl. hierzu: Oevermann, »Genetischer Strukturalismus«; Garz/Kraimer (Hg.), Welt als Text; Pilz, Krisengeschöpfe. 35 Loer, Unternehmerhabitus, S. 13ff. 36 Hier etwa zeigt sich, dass das Konzept der Lebenspraxis das Vorhandensein von »sozialen Praktiken« mit voraussetzt. Auch die vorliegende Untersuchung stellt den Anspruch, mithilfe von ethnografischen Beobachtungen und Gesprächen, die sozialen Praktiken der Pfandsammler herauszuarbeiten. Die Frage aber, warum trotz einer möglichen Diskrepanz mit herrschenden Wissensbeständen, das heißt also gesellschaftlich bevorzugten Praktiken, so viele Menschen der Tätigkeit nachgehen, verlangt m. E. eine Rekonstruktion der Entscheidungen und deren Begründungen einzelner Sammler, weshalb auf den Begriff der Lebenspraxis rekurriert wird.

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Entscheidungskrisen, traumatische Krisen (Krankheit) oder Krisen durch Muße beziehungsweise ästhetische Erfahrung zu nennen.37 In manifester Art und Weise tritt die autonome Lebenspraxis nur in der Krise in Erscheinung, dann nämlich, wenn sie aus sich heraus Neues generieren muss, das heißt eine noch nicht vorhandene Gegenwart als Folge der selbst entworfenen Krisenlösung antizipiert, darin zugleich unterstellend, dass diese Lösung sich als eine bewährte herausgestellt haben wird. Die in der Krise getroffene Entscheidung geschieht demnach wider vorliegenden Wissens, da ein Nicht-Entscheiden eben nicht möglich ist, ohne dass sie allerdings von der Begründungspflicht entbunden wäre. Hier liegt strukturell das Autonomiepotenzial jeder Lebenspraxis begründet. Weil theoretisch davon ausgegangen werden kann, dass jede soziale Situation die Lebenspraxis zum Treffen von Entscheidungen zwingt – selbst wenn aus einem Repertoire an Routinen ausgewählt wird –, sind diese auch grundsätzlich immer krisenhaft. Aus diesem Umstand schlägt die Sequenzanalyse Potenzial und erklärt die Krise zum analytischen Normalfall, die Routine dagegen zum Grenzfall. Dadurch soll ein subsumtionslogisches Vorgehen ausgeschlossen werden, in dem soziales Leben (lediglich) in bereits vorhandene Kategorien eingeordnet und letztlich als Immer-schon-Bekanntes klassifiziert wird.38 Anstatt sich also ausschließlich der Untersuchung von Routinen zu widmen, wobei gewissermaßen die dahinterstehende Entscheidung als eine bereits verstandene hingenommen wird, muss die erste soziologische Frage lauten: Für welche Krise stellt das Handeln X eine Lösung dar? Diese kurzen Bemerkungen über einige zentrale Begriffe sollen genügen, und ich wende mich nun der Darstellung der einzelnen methodischen Schritte zu. Dazu greife ich auf den Einführungsband von Andreas Wernet39 zurück, der bis zum heutigen Zeitpunkt die ausführlichste Einführung in die methodischen Prinzipien der Sequenzanalyse darstellt. Die Sequenzialität der Analysen ist, wie bereits erwähnt, für die Darstellung der Untersuchung aufgebrochen worden, da es mir nicht, wie dies bei vielen Texten Oevermanns der Fall ist, um die Vorführung der Leistungsfähigkeit der Methode geht, sondern um das 37 Oevermann, »Sozialisation«, S. 168ff. 38 Adorno, »Empirische Forschung«. 39 Wernet, Objektive Hermeneutik.

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Phänomen des Pfandsammlers. Das methodische Vorgehen orientiert sich an folgenden Kriterien: 1) Kontextfreiheit: Methodisch wird bei der Interpretation einer Sequenz zunächst der Entstehungskontext ausgeklammert. Vorschnelle Deutungen und vom Alltagsverständnis Immer-schon-Verstandenes sollen hierdurch vermieden werden. Viel eher geht es darum, gedankenexperimentell Kontexte zu finden, in denen eine Äußerung Angemessenheit beanspruchen kann. Dieses Prinzip macht es dem sequenzanalytisch arbeitenden Hermeneuten möglich, sich den Gegenstand – im Falle des Soziologen sind dies die gesellschaftlichen Verhältnisse, in die er immer schon eingebunden ist – methodisch auf Distanz zu bringen. Dies gilt letztlich auch für die Erhebung der Krise zum Normalfall. Wortreihen können aufgrund grammatikalischer Regeln nicht willkürlich konstruiert werden, sollen sie verständlich bleiben, und generieren daher objektive latente Sinnstrukturen, die der Hermeneut zu rekonstruieren hat. Dies bringt den inneren Kontext der Äußerung zum Vorschein. Erst im Anschluss an diese methodische Operation kann der äußere (reale) Kontext hinzugenommen werden und mit dem zuvor rekonstruierten verglichen werden. Dies ermöglicht, die (soziale) Angemessenheit einer Äußerung zu beurteilen. 2) Wörtlichkeit: Ähnlich wie bei den freudschen Fehlleistungen hat Oevermann auf die Notwendigkeit verwiesen, nur die Wörter zu deuten, die auch tatsächlich gesagt oder geschrieben wurden. Im Anschluss an den amerikanischen Pragmatismus wird soziale Wirklichkeit methodisch als eine Aneinanderreihung von Krisen angesehen, in denen zwischen verschiedenen Möglichkeiten gewählt werden muss. Gleichzeitig aber schließen die grammatikalischen Regeln der Sprache von vornherein bestimmte Anschlussmöglichkeiten aus, ohne dabei jedoch die grundsätzliche Offenheit der Zukunft abzuriegeln. Der Hermeneut achtet vor allem auf eine sprachliche Wohlgeformtheit, nicht im Sinne einer Sprachästhetik, sondern im Sinne grammatikalisch sinnhafter Anschlüsse. Die Wörtlichkeit muss beachtet werden, da letztlich die Entscheidung des Individuum aus den vorhandenen Möglichkeiten aufschlussreich ist für die Art der Krisenbewältigung. 3) Sequenzialität: Sinn baut sich schrittweise und zeitlich aufeinanderfolgend auf. Dieses reale Nacheinander darf bei der Interpretation nicht unterbrochen werden. Die Sequenzialität meint dabei nicht nur 31

das rein zeitliche Nacheinander von Äußerungen, sondern ist im Sinne des krisentheoretischen Ansatzes zu verstehen. Damit eine Möglichkeit gewählt werden kann, muss diese zunächst sprachlich eröffnet worden sein. Dieses Kriterium untersagt beispielsweise ein willkürliches Hin-und-Herspringen im Gesprächstranskript oder die Erklärung einer Aussage unter Heranziehung einer späteren. 4) Extensivität: Anstatt einer methodischen Einstellung des Nachvollzugs im Sinne des Common Sense, eröffnet dieses Prinzip die Möglichkeit, über das vermeidlich Immer-schon-Verstandene hinauszugehen. Nicht zuletzt aufgrund der Kontextfreiheit können die zu deutenden Sequenzen in unterschiedliche Kontexte gestellt werden, um die latenten Sinnstrukturen freizulegen. Dieses Prinzip macht den Hermeneuten zum Geschichtenerzähler auf der Suche nach Erkenntnis. Das soll nicht heißen, dass Fantasie und Absurdität Tür und Tor geöffnet würden. 5) Sparsamkeit: Nicht zuletzt wird dafür das scheinbar widersprechende forschungsökonomische Prinzip der Sparsamkeit eingeführt. Hiermit soll gesichert werden, dass die Zahl der möglichen Geschichten begrenzt bleibt – was Oevermann zufolge, sich auf die generative Grammatik Chomskys berufend, auch gewährleistet ist –, und zur gleichen Zeit soll verhindert werden, dass in der Interpretation irgendwelche Pathologien (Zusatzannahmen) unterstellt werden müssen, damit die Deutung stichhaltig bleibt.

Forschungsethische Reflexionen Bevor ich inhaltlich in die Betrachtung des Phänomens einsteige, ist es geboten, das eigene Vorgehen unter forschungsethischen Gesichtspunkten zu reflektieren. Wie gesagt, begegnete ich seit 2006 immer mehr Menschen, die in Mülleimern herumwühlten, dabei jedoch vor allem in Bezug auf ihr äußeres Erscheinungsbild vollkommen unauffällig waren. Man kennt das Bild des Obdachlosen, des »ungepflegten Stadtstreichers«, der sich in den Mülleimern der Stadt die für ihn notwendigen Dinge besorgt, unter anderem auch Nahrung. Reaktionen aus meiner Umwelt zeigten, dass das Herumwühlen im Müll direkt mit einer Milieuzuschreibung verbunden wird, die häufig wie folgt formuliert wurde: »Ach so, du forschst über die Penner!« Das Miss32

verhältnis zwischen dieser Alltagsdeutung und meinen Beobachtungen bestand darin, dass die Beschreibung eines »Penners«, wie man sie in der Literatur finden kann, für die Pfandsammler nicht oder nur sehr eingeschränkt zutrifft. So sind es grundsätzlich die unauffälligen, gepflegten Sammler, die in dieser Arbeit im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen. Denn wenn ein Wohnungsloser in einen öffentlichen Abfallbehälter greift und etwas für sich Brauchbares herauszieht, dann mag man dies bedauerlich und als sozial ungerecht empfinden, jedoch überrascht dieses Bild nicht sonderlich. Von Anfang an war meine Auseinandersetzung mit diesem Thema von zwei Vorurteilen begleitet, die ebenfalls Auswirkungen auf die Vorgehensweise hatten: 1) Zunächst einmal legte der Umstand, dass Pfandsammler öffentlich im Müll »wühlen«, die Vermutung nahe, die Menschen müssten sich ihrer Tätigkeit schämen. Wie die zitierte Aussage aus meiner Umwelt es nahelegt, steht das Sammeln von Flaschen äußerlich der Tätigkeit von Obdachlosen nahe, die in Mülleimer nach Essensresten suchen. Nun soll damit nicht gesagt sein, dass Obdachlose sich per Definition ihres Daseins schämen oder ihnen keine Bewältigungsmechanismen für dieses Problem zur Verfügung stehen würden. Zweifellos aber gelten Obdachlose, weil sie eben nicht im sozial luftleeren Raum leben, sondern den Blicken der Anderen ausgesetzt sind, als stigmatisiert.40 Auch wenn ich weiterhin die Ansicht vertrete, dass es sich beim Pfandsammeln um eine stigmatisierte Tätigkeit handelt – was sich bereits aus dem gesellschaftlichen Umgang mit Müll und damit zusammenhängenden Berufen erklärt –, so müsste sich jedoch erst aus der Analyse des Materials ergeben, ob die Sammler sich ihrer Tätigkeit schämen oder nicht. 2) Aufgrund der mir bekannten Pfandsätze von 8, 15 und 25 Cent wurde zu Beginn von mir unterstellt, dass der zeitliche Aufwand in einem völligen Missverhältnis zum Ertrag stehe und sich, simpel gesprochen, die Tätigkeit des Flaschensammlers nicht lohne und daher irrational sei. Fragt man, ob sich eine Tätigkeit lohnt, so wird zunächst immer auf die Dimensionen Zeit und/oder Geld angespielt. Ist beides in hohem Maße begründungsbedürftig, so müssen andere Motive für

40 Girtler, Vagabunden, S. 109ff. Zu den Auswirkungen des Stigmas auf die Identität nach wie vor wegweisend: Goffman, Stigma.

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die Handlung bestehen.41 Unterstellt man aber, dass andere Begründungen nicht gegeben werden können, ohne irrational zu sein, so würde dies eine Engführung der Ausdeutungsmöglichkeit sozialer Wirklichkeit bedeuten. In beiden Fällen würde übersehen, dass eine zu erforschende Lebenspraxis immer ihren eigenen Relevanzen unterliegt, die nicht mit denen des Forschers übereinstimmen müssen: »Relevanz ist der Natur als solcher nicht immanent, sie ist das Ergebnis der selektiven und interpretativen Tätigkeit des Menschen im Umgang mit oder bei der Beobachtung der Natur.«42

Weil nun das Vorurteil der Scham bestand, entschied ich mich aus, wie mir schien, ethischen Gründen dafür, die Gespräche verdeckt aufzunehmen, selbst wenn dies dem forschungsethischen Prinzip der informierten Einwilligung widersprechen mag. Hinzu kamen pragmatische Probleme. Da es sich beim Sammeln um eine Tätigkeit in Bewegung handelt, wurde über eine gelingende Kontaktaufnahme in Sekundenbruchteilen entschieden. Eine nachträgliche »Einweihung« hielt ich, auch vor dem Hintergrund des forschungsethischen Prinzips der Nicht-Schädigung, für unangemessen. Das vermittelte Interesse an ihrer Person und an ihrer Tätigkeit hätte durch die Aufdeckung des Aufnahmegeräts einen tiefen Schaden genommen. Die Reduktion auf ein Forschungsobjekt, nachdem diese Menschen sich mir teilweise in intimster Weise geöffnet hatten, hätte meiner Ansicht nach einen irreparablen Vertrauensverlust in soziale Beziehungen bedeutet. Vor allem aber ging es mir um einen vermeintlichen Schutz, die Sammler nicht unnötig auf ihr Stigma hinzuweisen, indem man ihre Tätigkeit durch wissenschaftliches Forschungsinteresse als etwas Außeralltägliches darstellt. Zwei Fälle mögen hier illustrieren, warum die Unterstellung von Scham jedoch nicht ganz von der Hand zu weisen ist: Einmal traf ich Thomas abends in der Stadt. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich bereits zwei Gespräche mit ihm geführt und ihn andeutungsweise darauf hin-

41 Dies bezieht sich auf den Begriff der Lebenspraxis, wie er weiter oben eingeführt worden ist. Der Lebenspraxis wird zugeschrieben, dass sie ihre Handlungen jederzeit für sich und andere rational begründen kann. Dies ist dem »account«-Begriff in der Ethnomethodologie nicht unähnlich (vgl. Garfinkel, Studies). 42 Schütz, Gesammelte Aufsätze, Bd. I, S. 6.

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gewiesen, dass ich mir dieses Thema als Schwerpunkt für ein Forschungsprojekt vorstellen könnte – meine Identität als Soziologiestudent hatte ich ihm keinesfalls verschwiegen. Ich selbst kam gerade von einer Party und war, wenn auch nicht vollständig betrunken, so doch auch nicht mehr ganz nüchtern. Wir kamen erneut ins Gespräch, setzten uns auf eine Bank in der Innenstadt, nachdem ich zwei Dosen Bier für uns gekauft hatte.43 Wir sprachen über dies und jenes, ein wenig über ihn und ein wenig über mich, und gegen Ende des Gesprächs sagte ich ihm, dass ich am nächsten Morgen zum Frühstücken mit anderen Freunden verabredet wäre, und fragte ihn, ob er nicht Lust hätte, mit uns gemeinsam zu essen. Ich bot an, ihm gegebenenfalls mit Geld auszuhelfen, falls dies ein Problem darstellen würde, und gab ihm die Adresse und die Uhrzeit für den nächsten Tag. Am nächsten Morgen fühlte ich mich etwas unwohl. Ich rief meine Freunde an, um ihnen von meiner Einladung zu berichten und ihnen freizustellen, die Verabredung nicht einzuhalten. Mir lag es fern, sowohl die eine wie auch die andere Seite in eine unangenehme Lage zu bringen, indem ich einen vollkommen Fremden, den auch ich vor allem in seiner Rolle als Flaschensammler kannte, zu einem ungezwungenen Beisammensein unter Freunden dazuholte. Ohne Zweifel hatte der Alkohol des Vorabends seinen Teil dazu beigetragen, diesen Punkt nicht berücksichtigt zu haben. Von einem meiner Freunde, der um meine Recherchen wusste, musste ich mir beim Telefonat die Aussage gefallen lassen, er habe kein Verständnis für diese Durchmischung von Forscherdasein und Privatleben. Ebenfalls hatte ich aber bei meiner durchaus gut gemeinten Einladung nicht bedacht, wie sich Thomas fühlen könnte in einem Kreis von Menschen, die sich möglicherweise gut kennen und bei denen es sich möglicherweise um eine eingeschworene Einheit handelt. Bei den Gesprächen mit den Freunden, von denen sich letztlich einer entschieden hatte, unserem Treffen fernzubleiben, kam mir zu Bewusstsein, dass ich mich überhaupt nicht in die

43 Ein solches Gespräch beispielsweise, das in etwa eine Stunde gedauert haben mag, wurde nicht aufgenommen und daher sein Inhalt auch hier nicht verwendet. Überhaupt scheint es mir unumgänglich, vieles von den erzählten Geschichten, wenn es nicht der Sache dienlich ist, zu verschweigen. Der Forscher hat kein Recht, die anvertraute Intimität bis ins kleinste Detail darzustellen, nur zur vermeintlichen Wahrheitssuche.

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Lage von Thomas versetzt hatte, sondern einer Intuition gefolgt war, die durchaus verletzende Züge haben kann. Allzu häufig fangen Konversationen in unserem Kulturkreis unter Unbekannten mit Fragen an wie »Und, was machen Sie?«, wobei ohne jegliche Spezifizierung der Frage meist davon ausgegangen wird, man spiele auf den Beruf an. Was einer ist, wie man ihn einzuschätzen hat, das bestimmt sich in der modernen Gesellschaft beim Treffen auf Fremde als Erstes über den Beruf. Nur selten wird auf die oben angeführte Frage mit dem Hinweis auf eine Freizeitbeschäftigung geantwortet. Diesem Problem stehen vor allem auch die Arbeitslosen in unserer Gesellschaft gegenüber. Ihr Problem, keine Arbeit zu haben, die ihnen eine nach ihren jeweiligen Maßstäben sinnvolle Tätigkeit bietet, mit der sie sich identifizieren können oder die ihnen zumindest eine sozial anerkannte Identität ermöglicht, wird dadurch offenkundig, dass sie in der Auseinandersetzung mit anderen auf diese Frage eben keine Antwort zu geben wissen. Und was dann? Kann man ohne jede Scham sagen: »Ich bin bereits seit sechs Jahren arbeitslos«, ohne fürchten zu müssen, das Bild des »faulen Arbeitslosen« heraufzubeschwören? Ist es da nicht nachvollziehbar, sich mit Hilfskonstruktionen wie »Ich bin momentan arbeitslos« zu behelfen, denn Arbeit wird noch immer als Normalzustand angesehen. Vielleicht ist es diesem Umstand geschuldet, dass Thomas am nächsten Tag meiner Einladung nicht nachkam und dem Frühstückstisch fernblieb. Möglicherweise wollte er nicht mit dieser Frage konfrontiert werden. Ein anderes Mal kam es zu einer ähnlichen Begebenheit: Da ich seit Oktober 2008 in Frankreich lebe und dort mit Marktsammlern konfrontiert wurde, ging ich regelmäßig auf den Wochenmarkt, um selbst die liegen gelassenen Lebensmittel einzusammeln.44 Alleine der Umstand, dass es mir als Fremdem leichtfiel, in einer neuen Stadt einer solchen Tätigkeit nachzugehen, während ich das Sammeln von Pfandflaschen in meiner Heimatstadt unterließ, ist sicherlich ebenfalls ein

44 Bei Marktsammlern handelt es sich um Menschen, die nach dem offiziellen Ende des Marktes kommen, wenn die Händler bereits ihre Stände abgebaut haben. Sie lesen das übrig gebliebene Obst und Gemüse vom Boden oder aus den zurückgelassenen Kartons auf. Dies stellt in Frankreich ein überaus bekanntes Phänomen dar, mit dem ich mich an anderer Stelle beschäftigt habe (vgl. Moser, »Allez«) und das starke Parallelen zum hier verhandelten Phänomen des Pfandsammlers aufweist.

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Hinweis auf Scham, mag es auch lediglich meine eigene sein. Bei einer Gelegenheit begleitete mich ein befreundeter Fotograf und machte Fotos von Markt, übrig gebliebenen Lebensmitteln und Sammlern. Im Allgemeinen trifft man bei einer solchen Tätigkeit viele andere Sammler. Man grüßt sich freundlich, lächelt sich zu, gibt, wenn man zum Beispiel viel Gemüse oder Früchte von einer Sorte gefunden hat, den anderen Sammlern etwas ab und erhält manchmal im Gegenzug dafür etwas anderes. Diese Zusammenkünfte sind meist davon geprägt, dass sich die Sammler gegenseitig die Rationalität ihrer Handlungen, dem Wühlen im zurückgelassenen »Abfall«, bestätigen. Es wird über Verschwendung geredet, Lebensmittel werden hergezeigt, die noch durchaus genieß- oder verwendbar sind. Es werden Rezepte ausgetauscht, da die meisten ein Problem damit haben, sich vorzustellen, was man mit diesem Sammelsurium an Lebensmitteln anfangen kann. Bei dieser Gelegenheit kam mein Freund mit einem älteren Mann ins Gespräch, von dem er ein Foto machte. Der Mann sagte, er würde sehr gerne einen Abzug von dem Foto haben, da er schon seit Jahren kein Foto mehr von sich gehabt habe. Mein Freund sicherte ihm einen Abzug zu, und so kamen wir in der folgenden Woche wieder, um dem Mann sein Foto zu überreichen. Doch der Mann tauchte nicht auf. Monate vergingen, in unregelmäßigen Abständen gingen wir wieder zum Sammeln auf den Markt, trafen alte und neue Gesichter, nur der ältere Mann tauchte nicht wieder auf. Bei einem Spaziergang durch das Viertel traf ich ihn dann eines Tages durch Zufall. Zunächst war ich mir nicht ganz sicher, ob er es war, und zögerte, ihn anzusprechen. Auch kam mir augenblicklich die Geschichte des Flaschensammlers Thomas wieder zu Bewusstsein, was mein Zögern noch verstärkte. Schließlich aber überwand ich mich und sprach ihn an. Ich fragte, ob wir uns nicht vor einiger Zeit auf dem Markt getroffen hätten, wobei ich nicht das Sammeln der Lebensmittel erwähnte. Ich sagte ihm, dass der Fotograf seit einiger Zeit auf der Suche nach ihm sei, da er für ihn Abzüge von den Fotos gemacht habe. Der Mann schien sehr gerührt, bedankte sich überschwänglich und reichte mir anerkennend die Hand. Wir verabredeten uns für den nächsten Sonntag für die Übergabe der Fotos. Auch diesmal tauchte der Mann nicht auf und hat bis heute seine Fotos nicht erhalten. Ich glaube heute, dass die Entscheidung, die Gespräche mit den Sammlern verdeckt aufzunehmen, auch nicht zuletzt aus Selbstschutz 37

getroffen wurde, um mich nicht selbst mit meinen Vorurteilen konfrontieren zu müssen. Was denn, wenn sich die Menschen nun gar nicht geschämt haben? Was nun, wenn sie mir gerade wichtige Dinge nicht anvertraut haben, gerade weil ich nur ein einfacher Mann von der Straße war und eben kein Forscher? Ich überlasse die Antwort auf diese Fragen sowie deren Beurteilung den Leserinnen und Lesern.

Erster Teil

Zur Phänomenologie des Pfandsammelns Jeder Sozialforscher, der sich anschickt, ein Phänomen seiner Gesellschaft zu untersuchen, ist häufig mit dem Problem des »Immerschon-Bekannten« oder »Fast-schon-Banalen« konfrontiert. Das, was er sieht, entspricht zumeist dem, was jeder auf der Straße, bei subkulturellen Veranstaltungen oder gleich welcher gesellschaftlichen Institution selbst beobachten könnte. Im Konjunktiv jedoch liegt der Unterschied! Ist der Sozialforscher auch im Allgemeinen ausgebildet, ein Feld mithilfe wissenschaftlicher Methoden zu untersuchen, die ihm bei der systematischen Erschließung helfen und zur anschließenden Validierung seiner Ergebnisse verwendet werden können, so ist es allen voran die forschende Muße, die den Blick des Forschers vom Blick des Nicht-Forschers unterscheidet. Das plötzliche Erstaunen über etwas Alltägliches und der Wunsch, die dadurch ausgelösten Deutungskrisen zu lösen, ist zuallererst der Ausgangspunkt jeder Forschung. Um uns Schritt für Schritt dem hier verhandelten Phänomen des Pfandsammlers zu nähern, sollen im Folgenden zunächst die ethnografischen Beobachtungen präsentiert werden. Diese sollen einen ersten Eindruck davon vermitteln, wie sich diese Tätigkeit gestaltet. Verzichtet wird dabei weitestgehend auf theoretische Konzeptionen oder Literaturverweise. Viel eher stütze ich mich bei diesen Ausführungen auf das Immer-schon-Bekannte, verlängere jedoch die Dauer seiner Betrachtung. Dabei ist zu wünschen, dass dem Nicht-Forscher Bekanntes vor Augen geführt wird, das durch die Brille des Forschers gefiltert wurde, der in der vorteilhaften Lage ist, dem Beobachteten etwas mehr Aufmerksamkeit schenken zu dürfen, als es das Alltagsgeschäft zulässt. Als Pfandsammeln ist zunächst ganz allgemein die Suche nach leeren, mit Pfand belegten Getränkegebinden wie Dosen, Glas- oder Plastikflaschen zu verstehen. Werden diese Gebinde gefunden, so können sie anschließend an dafür vorgesehenen Stellen, wie zum Beispiel Supermärkten, Getränkehändlern oder Tankstellen, abgegeben werden. Ziel der Tätigkeit ist es, das auf die Gebinde erhobene Pfandgeld zu erhalten. Damit Flaschen oder Dosen gesammelt werden können, müssen sie zuvor von denjenigen Personen, die das Pfandgeld entrichtet haben, zurückgelassen worden sein. Dies geschieht häufig 41

dadurch, dass die Gebinde in Abfallbehälter geworfen oder an Ort und Stelle liegen gelassen werden. Außerdem darf die durch die Entrichtung des Pfandes initiierte und prinzipiell noch andauernde Beziehung zwischen dem Händler und dem Kunden der Flasche nicht mehr anzusehen sein, das heißt die zuvor durch zwei Personen eingegangene Beziehung muss entpersonalisiert werden, da sonst der Sammler, der das Gebinde gefunden hat, es nicht problemlos abgeben könnte. Das Pfandsammeln lässt sich in drei Phasen unterteilen: 1) Das (Ein-)Sammeln der Flaschen oder Dosen stellt den zeitaufwendigsten Teil der Tätigkeit dar. 2) Es müssen Vorrichtungen bestehen oder geschaffen werden, die ein Zwischenlagern ermöglichen, sodass mit einem Mal möglichst viele Flaschen oder Dosen gesammelt werden können. 3) Die letzte und sicherlich entscheidendste Phase ist die des Abgebens beziehungsweise Eintauschens.

(Ein-)Sammeln Für das (Ein-)Sammeln von Pfandflaschen müssen Orte aufgesucht werden, an denen die Nicht-Sammler oder Geber ihre Getränke konsumieren und/oder deren Verpackungen zurücklassen. Zu den Orten, an denen ich Flaschensammler angetroffen habe, gehören Fußgängerzonen, Parks, Universitäten, Schulen, Züge, Bahnhofsgebäude und deren nähere Umgebung, Flughafenhallen, Vorplätze von Diskotheken, Fußballstadien oder Konzerthallen, Bus-, Straßenbahn- und U-Bahnhaltestellen, Parkhäuser, Supermärkte oder schlicht die Straßen einer Stadt. Man kann daher allgemein festhalten, dass es sich beim Flaschensammeln um ein urbanes Phänomen handelt und die potenziellen Sammelorte sich über das gesamte Stadtgebiet erstrecken. Aus der Aufzählung wird zudem deutlich, dass es sich um Orte handelt, an denen sich grundsätzlich viele Menschen aufhalten oder an denen hoher Durchgangsverkehr besteht. Da aber nun städtische Gebiete sehr groß sind, bedeutet dies für den Pfandsammler gezwungenermaßen, sich auf bestimmte Orte zu beschränken. Dass ein unstrukturiertes Herumlaufen kein lukratives (Ein-)Sammeln gewährleistet, zeigt die Aussage eines Gesprächs, dass mit Thomas geführt wurde: 42

SJM: […] Machen Sie das immer hier, oder was? T: Na, in ganz X-Stadt. SJM: In ganz X-Stadt? T: Na ja, nie also aber in der City so. Man muss so seine Stellen haben. Jeder hat so seine Stellen.

Die räumliche Eingrenzung scheint zunächst nicht besonders präzise zu sein, sondern wird von Thomas als die Stadtgrenze dargestellt. Damit ist nicht mehr gesagt, als dass prinzipiell in der ganzen Stadt gesammelt werden kann. Gebiete, in denen sich Flaschen und Dosen finden lassen, gibt es überall. Im Weiteren wird jedoch klargemacht, dass man »Stellen haben« muss, weil es unmöglich für einen Pfandsammler wäre, im gesamten Stadtgebiet Flaschen zu sammeln. Mit der Bezeichnung als »Stellen« verdeutlicht Thomas, dass es sich hierbei um Orte handelt, die als solche erkannt werden können, an denen sich Flaschen finden lassen. Diese Erfahrung muss sich der Pfandsammler im Verlauf der Tätigkeit aneignen. »Stellen« müssen gesucht, gefunden und ausgekundschaftet werden, das heißt, man muss wissen, wo man der Tätigkeit nachgehen kann.1 Hierbei handelt es sich um ein Erfahrungswissen, das nicht mit anderen geteilt wird, da es die Grundlage des Erfolgs darstellt. Weil das gesamte Stadtgebiet zum Sammelraum gehört, ist es schwer, »Stellen« wirklich geheim zu halten. Thomas spricht in dem Gesprächsausschnitt von »seinen Stellen«, womit er grundsätzlich Orte bezeichnet, die er nicht mit anderen teilt beziehungsweise auf die er sich beschränkt. Neben dieser notwendigen Selbstbeschränkung bietet der Umstand des Überall-sammeln-Könnens eine Art Flexibilität bei der Wahl des Sammelortes. Mag es auch anderweitige Meinungen geben – wie man sie zumeist in der medialen Aufbereitung des Themas finden kann –, so muss zumindest aus den eigenen Beobachtungen und Gesprächen geschlossen werden, dass diese »Stellen« nicht Revieren ähneln, die für bestimmte Sammler reserviert wären. Dies hat zwei Gründe: Beim Sammelraum handelt es sich um einen öffentlich zu1 Manfred Sommer (Suchen und Finden, S. 41) gibt an, dass jede Suche notwendigerweise »Stellensuche« sein muss. Das Auffinden einer Stelle muss aber nicht unweigerlich mit dem Finden der Sache selbst zusammenfallen, da zwar viele Plätze inspiziert werden können, jedoch nicht unbedingt mit dem »besetzt« sind, was wir zu finden erhoffen. Stellen im Sinne von Thomas zu haben bedeutet demnach nicht zugleich auch, Flaschen zu haben.

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gänglichen Raum, auf den letztlich kein Besitzanspruch erhoben werden kann. Außerdem oder vor allem ist das Flaschensammeln eine Tätigkeit in Bewegung, weshalb Räume nur unzureichend überschaut werden können. Die »Stellen« der Sammler markieren daher eher individuell festgelegte Fixpunkte, entlang derer sich die Flaschensammler bewegen. Dies führt zu der hilfreichen Unterscheidung zwischen Routensammlern und Veranstaltungssammlern. Die Letzteren sind bei (Groß-)Veranstaltungen wie Fußballspielen und Konzerten anzutreffen, sammeln also zu einem festen Zeitpunkt und an einem eingegrenzten Ort. Im Unterschied zu Anlaufstellen, die eine Route definieren und selbst festgelegt und ausgekundschaftet werden, können die Veranstaltungsorte nicht als »Stellen« beschrieben werden, da sie weder gesucht beziehungsweise gefunden werden müssen, noch reichen sie über einen bestimmten Radius hinaus. Routensammler dagegen bewegen sich meist entlang selbst gewählter »Stellen« durch die Städte. Diese Routen können verschiedene Formen annehmen, wie zum Beispiel einen geschlossenen Kreis oder eine Route mit einem Start- und einem Endpunkt. Die Routen wiederum werden in kleine Etappen eingeteilt, die zumeist von einem zum nächsten öffentlichen Abfallbehälter reichen. Das Weitergehen zum Abfalleimer kann wiederum verschiedene Formen annehmen: Entweder wird eine Straßenseite abgelaufen, um dann auf die andere Seite zu wechseln, oder es werden in einem Zickzackkurs beide Seiten abgelaufen. Das In-den-Abfalleimer-Hineingucken kann auf zwei unterschiedliche Arten erfolgen. Die erste ist flüchtig und unauffällig. Im Vorbeigehen wird das Kinn leicht gesenkt, der Kopf minimal in die jeweilige Richtung gedreht, ohne dass die Augen sich direkt darauf richten. Befindet man sich direkt am Abfalleimer, wird für einen kurzen Augenblick der Blick darauf gerichtet. Dieser Vorgang, den ich bei mehreren Flaschensammlern beobachten konnte, wiederholt sich bei jedem Behältnis. Eine Abwandlung des unauffälligen Hineinguckens ist das Vortäuschen einer anderen Tätigkeit: Entweder wird ein Taschentuch oder ähnliches in der Hand gehalten, vorgebend, es wegwerfen zu wollen. In der Innenstadt gibt es zudem die Möglichkeit des Blicks in ein Schaufenster. Im Augenblick des Abwendens wandert der Blick wie zufällig in die Abfalltonne. In einem öffentlichen Gebäude beobachtete ich eine Frau, die Aushänge studierte. Dieser Vorgang dauerte meist nur wenige Sekunden. 44

Sie stellte sich vor die Anschlagtafeln, schaute für einen Moment darauf, wobei sie den Kopf meist nach oben richtete. Als sie den Kopf wieder senkte und sich mit einem Schritt bereits vom Aushang entfernt hatte, drehte sie den Kopf für einen kurzen Augenblick in Richtung des Abfalleimers und ging dann weiter. Diesen Vorgang wiederholte sie bei jedem Behälter im Gebäude. Wenn eine Flasche obenauf lag, nahm sie sie heraus; nie aber griff sie tief in den Abfalleimer hinein oder durchsuchte diesen mit ihren Händen. Bei einem späteren Rundgang durch das Gebäude stellte sich durch Zufall heraus, dass es sich bei der Sammlerin um eine Angestellte handelte. Sie war im Bereich der Administration tätig, und ich konnte sie in der folgenden Zeit fast wöchentlich beobachten. Wie gesagt fällt diese Art des Sammelns kaum auf. Erkennbar wird sie erst, wenn in die Tonne hineingegriffen wird.2 Die zweite Art des Hineinguckens ist der offensichtliche Blick, das heißt, es wird dabei keine andere Tätigkeit vorgetäuscht, sondern die Abfalltonne wird angesteuert und offensiv in Beschlag genommen. Dabei wird nicht darauf geachtet, sich so schnell wie möglich wieder zu entfernen. Die Verweildauer am Abfalleimer kann sich also signifikant von einem normalen Wegwerfvorgang unterscheiden, wodurch Sammler erkennbar werden. In manchen Fällen ist damit auch das Durchsuchen der Abfalltonne verbunden. Dazu wird der Arm etwa bis zur Hälfte in den Abfalleimer eingeführt. Hierbei hängt es natürlich von der Bauart des Abfalleimers ab, wie leicht sich dieser einsehen lässt. Bezogen auf die Erfahrungen während der Datensammelphase kann nunmehr konstatiert werden, dass die unauffälligen Sammler nur selten zu ausführlichen Gesprächen bereit waren. Bei einigen gewann ich den Eindruck, sie fühlten sich bei ihrer Tätigkeit regelrecht ertappt. Routensammler sind in den beobachteten Fällen zumeist alleine unterwegs, da die Bekanntgabe der »Stellen« die Gefahr birgt, dass diese von anderen leergesammelt werden könnten: Verschwiegenheit ist für

2 Dass es überhaupt nötig ist, zu »täuschen«, kann als Hinweis darauf gelesen werden, dass diese Flaschensammler ihre Tätigkeit als diskreditierbar deuten und damit als eine Bedrohung ihrer sozialen Identität, die sie durch das Täuschen zu schützen suchen (vgl. Goffman, Stigma, S. 94ff.). Weil das Pfandsammeln ohne Zweifel jedoch ein dynamisches Phänomen ist, daher auch immer mehr zum Stadtbild zu gehören scheint, mag die hier getroffene Unterscheidung zwischen verstecktem und offensivem (Ein-)Sammeln bereits nicht mehr gültig sein.

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das Routensammeln konstitutiv.3 Im Gespräch berichtet Thomas, er habe zu Beginn viel »Lehrgeld« bezahlt, da er gewissermaßen ziellos in der Gegend herumgelaufen sei. Im Laufe der Zeit hat er eine Strategie entwickelt. Er konzentriert sich seither auf Orte, »wo viele Jugendliche rumhängen«. Dieser Strategie liegt der unterstellte Zusammenhang zwischen Jugendlichen und vielen Flaschen zugrunde. Deswegen kundschaftet Thomas Orte aus, an denen sich Jugendliche aufhalten, wie zum Beispiel Schulen, Hochschulen oder Parks. Dazu ist es wichtig, sich Wissen darüber zu verschaffen, wann beispielsweise die Pausen in den Schulen beginnen und wann sie zu Ende sind, welche Orte auf der Route liegen, die noch in diese eingebaut werden können, und so weiter. Auch dieses Wissen darf natürlich nicht an andere weitergegeben werden. Hier kann eine Unterscheidung von Thomas aufgegriffen werden: Die Strategie des Auskundschaftens von Stellen und eine damit einhergehende Spezialisierung zum Beispiel auf Jugendgruppen kann als »Geld machen« bezeichnet werden. Dagegen nimmt das (Ein-)Sammeln auf Veranstaltungen eher die Form von »Geld verdienen« an. Während man eine Formulierung wie »Geld machen« aus dem Bereich des Spiels kennt, wo der Ertrag stark vom Glück und den Umständen abhängig ist, drückt »Geld verdienen« das Resultat von Erwerbsarbeit aus. Im ersten Fall kommt es auf eine eigene Vorleistung an, nämlich zum Beispiel das Auskundschaften von Stellen, aus der eigenen Erfahrung die richtigen Schlüsse ziehen (wie zum Beispiel, dass Jugendliche immer ihre Flaschen wegschmeißen). Genauso spielt aber ein Quäntchen Glück und auch Abenteuerlust mit hinein. Eine sichere Einnahmequelle sind dagegen Großveranstaltungen, zu denen man lediglich gehen muss und wo davon ausgegangen werden kann, dass Geld zu verdienen ist. Im Unterschied zu Routensammlern, die teilweise ihrer Tätigkeit auf eine unauffällige und fast versteckte Art und Weise nachgehen, trifft diese Unterscheidung auf Veranstaltungssammler nicht zu, da sie sichtbar für jeden an den Veranstaltungsorten die Flaschen und Dosen 3 Von Obdachlosen ist bekannt, dass sie ihre Schlafstellen, an denen sie auch ihre Habseligkeiten verstauen, nicht ohne Weiteres anderen Menschen, die auf der Straße leben, mitteilen. Sie versuchen, sich dadurch gegen Übergriffe zu schützen, oder davor, dass ihre »Stellen« während ihrer Abwesenheit ausgeräumt werden (vgl. hierzu: Declerck, Les naufragés).

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(ein-)sammeln.4 Es ist nicht notwendigerweise so, dass sie dabei an einer Stelle stehen bleiben. Viel eher lassen sie sich als bewegte oder aber stationäre Sammler beschreiben; auch sie verfolgen verschiedene Strategien. Einige bleiben mehr oder weniger immer an der gleichen Stelle stehen oder bewegen sich nur in einem Radius von wenigen Metern. Diese Art der Positionierung gleicht der eines Bettlers, der sich an einer festen Stelle platziert und von den vorübergehenden Menschen Almosen erhält. Andere wieder laufen umher und sammeln auf dem gesamten Gelände. Dabei kann das Gelände selbst unterteilt werden in Zentrum und Peripherie. Manche Sammler kommen nicht auf den Platz, sondern laufen nur am Rand herum, andere wiederum platzieren sich in der Nähe der Eingänge. Interessant ist bei einem von mir beobachteten Fußballstadion, dass sich bei jedem Spiel eine ähnliche »Aufstellung« der einzelnen Sammler ergab; jeder Sammler hatte dabei eine Art Stammplatz, den er auch beim nächsten Spiel wieder einnahm. Hierbei ist es nicht so, dass die Bereiche strikt voneinander abgegrenzt wären, sondern sie bieten eher Bezugspunkte für jeden Sammler, weil auch hier die Größe des Terrains eine Selbstbeschränkung mehr oder weniger erzwingt. Ähnlich wie sich die Sammler auf verschiedene Orte spezialisieren können, so tun sie dies auch mit bestimmten Pfandtypen. Es besteht eine nicht unerhebliche finanzielle Differenz zwischen den mit 25 Cent belegten Einweggetränkeverpackungen und einer Bierflasche, auf die lediglich 8 Cent erhoben werden.5 Viele Flaschensammler berichten, dass sie sich ausschließlich auf Flaschen beschränken, auf denen das seit 2006 eingeführte Pfandsymbol der Deutschen Pfand GmbH (DPG) abgedruckt ist. Ist dieses Zeichen nicht auf der Flasche abgebildet, wird sie nicht mitgenommen, selbst wenn auf sie Pfand erhoben wird. Ich konnte beobachten, wie Flaschensammler verbeulte Dosen wieder wegwarfen, da diese nicht von den Automaten im Supermarkt erkannt werden können. Ebenso konnte ich Sammler beobachten, die diese verformten Dosen mit einem spitzen, langen, stabilen Gegenstand 4 Natürlich handelt es sich bei der Unterscheidung von Routen- und Veranstaltungssammlern um eine idealtypische. Viele Flaschensammler gehören sowohl der einen als auch der anderen »Gruppe« an. 5 Ein Sammler, der eine Art Buchführung über seine Einkünfte führt, bezifferte den durchschnittlichen Pfandwert pro Gebinde mit 15 Cent.

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wieder »geglättet« oder auch aufgeblasen haben, um sie für den Automaten lesbar zu machen. Gelingt dies nicht, können die Pfandgebinde gegebenenfalls auch an der Kasse abgegeben werden. Neben dem Geldwert ist zu berücksichtigen, dass bei den zum Teil anfallenden Massen von Behältnissen das Gewicht eine große Rolle spielt. Eine Dose oder Plastikflasche ist sehr viel leichter als Gebinde aus Glas, was allerdings erst auffällt, wenn man mehrere Glasflaschen trägt. Erwin sagt dazu: E: […] wenn ich kleine habe, dann krieg ich in den Beutel dreißig Stück rein. Aber die großen, das is zwanzig, fünfundzwanzig, dann is das und vor allen Dingen is das schwer, ne.

Eine Tüte, gefüllt mit 20 Bierflaschen der Füllmenge 0,33 l, wiegt in etwa fünf Kilogramm. Bei Flaschen mit einer Füllmenge von 0,5 l erhöht sich das Gewicht bei 20 Flaschen auf etwa 6,16 Kilogramm. Dies muss man vor Augen haben und auch, dass gerade Routensammler teilweise bis zu zehn Kilometer an einem Tag beziehungsweise in einer Nacht zurücklegen. Um dieses Problem zu lösen, müssen Möglichkeiten des Zwischenlagerns gefunden werden. Eine weitere Spezialisierung auf Pfandarten ist verbunden mit dem Sammeln auf Großveranstaltungen wie Jahrmärkten, Stadtfesten. Hier gibt es häufig neben großen Mengen an Flaschen und Dosen noch weitere Getränkegefäße, die mit Pfand belegt sind und die, sofern sie zurückgelassen werden, eingesammelt werden können. An Buden, die Getränke wie Glühwein, Met oder Weißbier ausschenken, gibt es immer auch die dazu passenden Behältnisse, auf die Pfand von bis zu fünf Euro erhoben wird. Dies ist vergleichbar mit Diskotheken, in denen das Pfand häufig auch höher ist. Dort, so sagte mir jemand mit jahrelanger Erfahrung im Gastronomiebereich, gäbe es allerdings die Regel, dass jemandem, der mit einer hohen Anzahl von Flaschen an den Tresen kommt, maximal zwei Mal Pfand ausgezahlt würde. Dies geschieht dann, wenn vermutet wird, dass es sich nicht um Flaschen handelt, die am jeweiligen Veranstaltungsort erstanden wurden. Dass dies bei Spezialgläsern von »Bierbuden« nicht der Fall ist, zeigt die Aussage von Dieter: D: Und hier beim ((X))-markt war es so, der hat Gläser, da war zwei Euro Pfand drauf. Das sind ja verdammt viel, zwei Euro Pfand, und die Leute, die haben, äh (glauben se es), ihre Biergläser getrunken, Bierbuden waren zu, und haben das hingestellt, überall stand Bier, diese Biertöpfe, diese, diese weißen Weißbierdinger. SJM: Ja, ja, ja.

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D: Was hab ich nachts gemacht, ich hab nur Biergläser eingesammelt. Nächsten Tag bin ich hin und hab die Biergläser da wieder abgegeben und hab die Kohle kassiert. Man glaub gar nicht, wie viele Biergläser, wie viel Geld das war, nich. Da is hier, auf Deutsch gesagt, diese acht Cent Pfandflaschen, das waren Peanuts, die waren nebenbei. Aber zwei Euro pro Glas und da so ne Tüte voll, das war Kohle. Da gab es richtig Kohle.

Dies zeigt nicht nur, dass Großveranstaltungen von Flaschensammlern systematisch aufgesucht werden, sondern dass es dort auch neben den »Peanuts«, also dem, was beim alltäglichen Flaschensammeln anfällt, andere Mittel gibt, um »richtig Kohle« zu machen. Man kann sich vorstellen, dass man für diese Art des (Ein-)Sammelns bestimmte Hilfsmittel benötigt, ohne die der Aufwand nicht zu bewerkstelligen wäre. Auf den ersten Blick scheint es so zu sein, dass das Pfandsammeln eine einfache Art und Weise darstellt, Geld zu verdienen. Unterstützt wurde diese Ansicht sicherlich durch die sich über Jahre hinziehende mediale Diskussion über das Dosenpfand, die ihren Abschluss im Jahre 2006 fand, sowie die im selben Jahr stattfindende Fußballweltmeisterschaft, die zu einer Art Boom des Pfandsammelns geführt hat. Mehrere Sammler beschreiben diese wenigen Wochen wie ein goldenes Zeitalter. Die Tätigkeit des Pfandsammelns zeichnete sich zu dem damaligen Zeitpunkt dadurch aus, dass das Geld buchstäblich auf der Straße lag und letztlich nur (ein-)gesammelt werden musste. Hieran zeigt sich ein scheinbarer Widerspruch, der dafür verantwortlich ist, dass diesem Thema gerade zu Beginn ein geringer Medienwert zukam: Auf der einen Seite liegt das Geld scheinbar auf der Straße und muss nur eingesammelt werden. Dieses Bild greift das universell geltende Leistungsprinzip auf, nach dem jeder seines eigenen Glückes Schmied ist. In ihm objektiviert sich gewissermaßen der amerikanische Traum des Tellerwäschers, der sich durch harte Arbeit zum Millionär hochgearbeitet hat, nur dass man mit Pfandsammeln nicht reich werden kann. Denn auf der anderen Seite wird das Thema des Pfandsammelns grundsätzlich vor dem Hintergrund von Armut diskutiert, für die es gewissermaßen ein manifester Ausdruck sein soll.6 Im Gespräch mit dem erwerbslosen Erwin erfahren wir, dass dem Pfandsammeln eine Aura anhaftet, die scheinbar viele Menschen zu6 Vgl. exemplarisch: Wittershagen, Michael, »25 Cent Glück«, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25. 09. 2006; Claus, Uta, »Das Geld liegt auf der Straße«, ZDF Reportage 37 Grad, 19. 11. 2008.

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nächst auf die Straße »lockt«, bevor sie sich der dort herrschenden Verhältnisse bewusst werden: E: Also viele ham’s auch schon wieder aufgegeben. Ham’s versucht und dann ham sich nich das versprochen, was war. Weil die meisten lügen sich ja selbst ein in die (Tüte). SJM: Warum, was meinen Sie? E: Ja, och wer weiß, was se verdient haben. SJM: Ach so, ja. Wird da viel erzählt oder was? E: Bei der Weltmeisterschaft, da war hoch bei der Weltmeisterschaft, da beim Fußballspiel, da ham se tausend Euro gemacht. SJM: Was, am Tag oder was? E: Am Tag. Bei einem Spiel. Wenn man das an Flaschen umrechnet, das, das is, is ne Lkw-Ladung voll oder noch mehr. Also von daher.

Hier lernen wir also die besonderen Umstände während der Weltmeisterschaft etwas näher kennen. Der von Erwin beschriebene Anstieg der Menschen, die meinten mit dem Sammeln von Pfandgebinden sehr viel Geld verdienen zu können, führte natürlich zu unmittelbar neuen Konkurrenten für diejenigen Flaschensammler, die dieser Tätigkeit bereits seit Längerem nachgingen, zum Beispiel Obdachlose, für die Flaschensammeln zuvor eine sichere Einnahmequelle dargestellt haben mag. Vor diesem Hintergrund würde es erklärbar werden, warum auch Menschen, die rein äußerlich nicht unbedingt dem Obdachlosenmilieu zuzurechnen sind, anfingen, Pfandflaschen zu sammeln. Der Anstieg der sammelnden Personen führt zu einer Differenzierung, bei der die jeweiligen Strategien verfeinert werden müssen oder schlicht schneller gesammelt werden muss, als es die anderen tun, denn das Konkurrenzprinzip ist simpel, aber hart: »Wer zuerst kommt, mahlt zuerst«. Auch wenn die Tätigkeit des Pfandsammlers zumeist allein ausgeführt wird und es nicht notwendigerweise zum Kontakt mit anderen Menschen kommen muss – das Sammeln ist zum Großteil ein Greifen in öffentliche Abfalleimer, an denen man sich nur selten zu mehreren aufhält –, berichten Sammler zum Teil über positive Erfahrungen bei Begegnungen mit Gebern oder denjenigen, die an bestimmten Orten das Hausrecht inne haben. Für Diskothekenbesitzer oder Polizisten erfüllt das Flaschensammeln scheinbar eine direkte Funktion und wird daher von diesen toleriert. Dieter sagt: D: […] Polizisten, wenn ich sage »Kann ich die Flaschen wegnehmen?« Die finden’s sogar gut, dass man wegräumt, damit das keine Wurfgeschosse

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werden oder so. (Dass man nicht) von den, sagen was ma so, kaputtgemacht werden und äh kaputt gefahren werden. Auch hier die Diskothekenbesitzer, Parkhausbesitzer, die sind froh, dass man das Zeug wegräumt. Die sind dankbar, dass man das wegräumt, dass da also nichts mehr auf Deutsch gesagt kaputt geschlagen wird.

Wenn man den Aussagen einzelner Sammler glaubt, dann bedeutet ihr Auftauchen für die Polizisten eine Unterstützung, weil dadurch die Gefahren, zum Beispiel bei Fußballspielen, reduziert werden, da Verletzungsmöglichkeiten durch Glasflaschen weitestgehend ausgeschlossen werden können. Für Diskothekenbesitzer oder auch Parkhausbesitzer übernehmen die Flaschensammler eine nicht zu entlohnende Dienstleistung, da Erstere den Platz vor der Diskothek von Flaschen und Dosen nicht säubern müssen; wobei natürlich klar ist, dass die Flaschensammler nicht »sauber machen«. Insofern ist das von Dieter verwendete Wort »dankbar« unangemessen. Die Flaschensammler nehmen hier vielleicht einen Teil der Arbeit ab, die gemacht und auch bezahlt werden muss, nehmen allerdings vom zurückgelassenen Müll lediglich jenen an sich, der für sie brauchbar ist. Dieter berichtet weiter, dass ein Parkhauswächter ihm erlaubt, nachts im Parkhaus herumzulaufen und die dort befindlichen Flaschen einzusammeln. Manchmal, so sagt er, sammelt dieser Wächter, der früher die Flaschen für sich behielt, auch für ihn. Wenn Dieter dann das Parkhaus betritt, rufe er ihn manchmal über die Lautsprecheranlage und dann … D: […] geh ich vorne hin, dann geht er wieder mit mir in Maschinenraum und dann hat er da meistens’n Tisch vollstehen, ja, und dann kann ich die einpacken und dann hab ich wieder zwei Tüten voll, ohne dass ich mich groß anstrengen brauchte.

Zunächst einmal zeigt sich hier, dass Pfandsammler durch das Knüpfen von Kontakten zu Personen, denen die Kontrolle eines bestimmten Raumes obliegt, ihre Tätigkeit erleichtern können. So ist es möglich, diesen Raum für sich zu »reservieren« und damit Einfluss über ihn zu gewinnen, obgleich sie abwesend sind.7 Im hier präsentierten Beispiel ist es offensichtlich, dass der Wächter Dieter die Flaschen überlässt. Er schenkt sie ihm, obgleich er, wie Dieter weiter berichtet, das Pfandgeld früher selbst kassierte. Der somit erlittene Verlust des Wächters kom7 Über die Machtsteigerung, die mit dem Reservieren eines Platzes einhergeht, kann man in Heinrich Popitz’ Liegestuhl-Studie nachlesen (Macht, S. 185ff.).

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muniziert ein bestimmtes Bild von Flaschensammlern: Für ihn haben diese Menschen das Geld nötiger als er, der eine Anstellung als Parkplatzwächter hat. Interessant ist, dass die Gabe von vielen Flaschensammlern nicht als eine solche gedeutet wird – auch Dieter spricht von der Dankbarkeit der anderen und nicht der eigenen. Dadurch wird das Sammeln von Pfandflaschen wie ein helfender Beruf dargestellt, der dementsprechend auch professionalisiert abläuft. In Berlin zum Beispiel existieren schon seit längerer Zeit Aufkleber auf öffentlichen Abfallbehältern, mit denen die Menschen dazu aufgefordert werden, ihre Flaschen nicht in diese zu werfen, sondern sie davor, auf dem Boden, zu platzieren. Hier wird selbstverständlich die Arbeit für den Pfandsammler bis zu einem gewissen Grad erleichtert, da er – theoretisch – nicht mehr zuerst die Abfalltonne umständlich nach Pfandgebinden durchsuchen muss. Gleichzeitig kann es beim Greifen in den Abfalleimer zu Verletzungen kommen, die durch das Postieren der Flasche vor die Tonne ebenfalls verhindert werden können. Da jedoch nicht alle Personen, die sich ihrer Flaschen entledigen wollen, dieser Aufforderung nachkommen, müssen die Sammler trotz allem in die Tonne gucken beziehungsweise greifen. Auch hier wird ein bestimmtes Bild von den Pfandsammlern konstruiert. Das Vorden-Abfalleimer-Stellen soll dem mit einem Stigma belegten Bild des In-den-Abfalleimer-Greifens entgegenwirken und dieses unnötig machen. Was dabei jedoch verkannt wird: Der Flaschensammler macht sich beim Aufheben von vor dem Abfalleimer befindlichen Gebinden als jener identifizierbar, der notfalls hineingreift. Interessant ist das Phänomen des Vor-den-Abfalleimer-Stellens deswegen, weil das Auftauchen der Pfandsammler zu einer neuen sozialen Handlungsmöglichkeit geführt hat, die zuvor nicht existierte. Diese Geste ist von vielen Menschen übernommen worden und wird, falls nicht bekannt, weiterkommuniziert. Die Art von Abmachung, wie sie von Dieter präsentiert wurde, ist jedoch selten. Eher erbringen die Pfandsammler Leistung für »ihr Geld«, fragen auch meist nicht nach Flaschen, sondern nehmen diese selbstständig aus den Abfallbehältern. Man könnte vermuten, dass zum Zeitpunkt des Einlösens der Pfandflaschen bereits vergessen ist, woher diese Flaschen gekommen sind.8 Was zählt, wäre dann das 8 Zugleich darf nicht generalisierend davon ausgegangen werden. So sagt er, dass er täglich Buch über Fundort und -menge seiner Flaschen führt.

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Endprodukt, nämlich wie viel Geld hinterher kassiert wird. Ein Flaschensammler, den ich einmal abgekämpft und entnervt nach etwa zweistündigem Sammeln am Bahnhof mit einer großen Menge von Flaschen antraf und zu dem ich sagte, dass es ja offensichtlich für ihn gut gelaufen wäre, entgegnete nur sehr barsch: »Man muss das ganze Zeug ja auch noch verkaufen!«. Das in diesem Zusammenhang eher unangemessenen scheinende Wort »verkaufen« macht darauf aufmerksam, in welcher gesellschaftlichen Sphäre sich dieser Sammler mental bewegt: der Ökonomie. Zum einen bringt er damit zum Ausdruck, dass die Tätigkeit mit dem einfachen Akt des Sammelns noch kein Ende hat, sondern dass es eine ebenso große Schwierigkeit darstellen kann, die Flaschen wieder loszuwerden. Zum anderen aber stellt er die Flaschen als Güter dar, die er, als Händler, unter die Leute zu bringen hat. Dies ist insofern unangemessen, als dass die Pfandsätze einheitlich geregelt sind und der Sammler die Flaschen lediglich abzugeben braucht. Er ist kein Händler, sondern allenfalls Lieferant von wiederverwertbaren »Rohstoffen«. Die Aussage verdeutlicht jedoch die Zentralität des Leistungsaspekts. Deswegen kann vermutlich auch die Gabe nicht als solche angesehen werden, sondern das Sammeln wird als Dienstleistung oder sogar als gute Tat von den Flaschensammlern gedeutet. Wenn wir uns hier zumindest ansatzweise mit dem Geben beziehungsweise der Beziehung zwischen Gebern und Sammlern beschäftigt haben, so wollen wir doch einen Augenblick bei der Deutung des Wegwerfens durch die Pfandsammler verbleiben. Ohne Zweifel bildet dieser Akt die Grundlage für die Möglichkeit, eine fremde Flasche überhaupt an sich zu bringen. Die Menschen, die in den Innenstädten unterwegs sind, entledigen sich meist der von ihnen erworbenen Pfandgebinde. Auch vor Diskotheken, zu denen Jugendliche häufig mit einem eigens mitgebrachten Getränk kommen, müssen die Dosen und Flaschen draußen gelassen werden. Der obdachlose Stefan aus Berlin äußert auf die Frage, warum die Menschen ihre Flaschen wegwerfen, folgende Vermutung: Na, dass sie grad keine Möglichkeit haben, die irgendwie zeitbedingt wird abzugeben, (stelln sich zur Verfügung) Menschen die auf der Straße leben, denk ik ma. Dass se einfach mit einer Flasche nich rumleer rumlaufen wollen. Oder sich det irgendwo reinstecken inne Tasche (was weiß ich), is der einzigste Grund. Weils einfach lästig ist, irgendwelches Leergut mit sich

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rumzuschleppen. Hab ik grade kene Tüte, wo Platz dafür is, dann lassen se se am Mülleimer stehn, is doch auch ok. Hauptsache, es liegt nich in der Umgebung rum.

Für Stefan scheinen die Flaschen von den Gebern Menschen zur Verfügung gestellt zu werden, die wie er auf der Straße leben. Auch für ihn scheint daher erklärungsbedürftig, warum es Nicht-Obdachlose gibt, die auch (ein-)sammeln. Besonders interessant ist hier, dass das »Rumlaufen« mit einer leeren Flasche als »lästig« beschrieben wird. Dass Stefan in Bezug auf eine Flasche von »Rumschleppen« spricht, womit man eher das Tragen schwerer Lasten bezeichnet, erscheint jedoch eher unangemessen. Die Aufgabe des Flaschensammlers ist es also, die Last der Geber auf sich zu nehmen sowie die »Umgebung« von Unrat – wohlgemerkt geldeinbringendem Unrat – frei zu halten, womit er sich in gewisser Art und Weise aufopfert. Auch diese Darstellung nimmt das Bild des helfenden Berufs auf. Andere Menschen werden entlastet, indem man mühevolle Aufgaben für sie übernimmt. Ob jedoch eine wirkliche Entlastung des Gebers aus der Tätigkeit des Flaschensammlers entsteht, erscheint fraglich. Der Geber hat sich der Last bereits in dem Augenblick entledigt, in dem er die Flasche in den Abfalleimer geworfen hat. Viel eher negiert der Sammler diesen willentlichen Akt und macht ihn rückgängig. Er weist die Verwandlung der Pfandflasche in Müll zurück, kennzeichnet diese als unangemessen, da damit buchstäblich »bares Geld« weggeworfen wurde.

Zwischenlagern Es mag zunächst als Banalität erscheinen, dass zum Sammeln von Pfandgebinden Hilfsmittel zum Verstauen und Transportieren der Flaschen und Dosen benötigt werden. Denn das Sammeln verspricht nur dann erfolgreich zu sein, wenn mehrere Flaschen mit einem Mal gegen Pfand eingelöst werden. Das am häufigsten beobachtete Transportmittel für Flaschen bei Routensammlern ist die Plastik- beziehungsweise Stofftüte oder der Rucksack. Als Hilfsmittel werden Fahrräder oder geschlossene Handkarren verwendet, die eventuell zum Transport weiterer Zwischenlagerungsmöglichkeiten verwendet werden. Der Vorteil von Handkarren liegt 54

darin, dass das Gewicht auf den Boden verlagert wird. Meist sind diese Karren auch so groß, dass eine große Menge Pfandgut verstaut werden kann. Die Getränkeverpackungen sind bei den Karren von außen nicht sichtbar und machen kaum Geräusche. Dies eignet sich für die oben beschriebene Art des unauffälligen Sammelns. Als weitere Möglichkeit werden Fahrräder oder Bollerwagen verwendet. Die Nachteile dieser Art von Verstaumöglichkeit sind eine relative Unflexibilität, da die Vehikel ständig irgendwo verstaut beziehungsweise geparkt werden müssen, wo man sie im Auge behalten kann. Bei einem Flaschensammler am Fußballstadion konnte ich dessen Handkarren genauer betrachten. Bei seinem Handkarren handelte es sich um eine große Plastikkiste auf Rädern mit einem darauf montierten Holzgestell, einer Plane sowie Klapptüren, auf die ein Spruch geschrieben war: »Danke sehr für Flasche leer!« Darunter stand: »Leer-gut-Wagen«. Auf der anderen Tür war ein Pfeil, der in den Wagen hineinzeigte, und über dem der Spruch stand: »Scherben bringen hier kein Glück. Als Pfand zum Laden geht’s als ganzes Stück.« Was wir hier beobachten können, ist eine offensive Form des (Ein-)Sammelns. Zunächst einmal weist sich der Sammler mit dem Verweis auf die Rede des Fußballtrainers Giovanni Trapattoni (»Flasche leer«) als ein Zugehöriger aus, der Referenzen des Fußballmilieus humoristisch einsetzt, um Aufmerksamkeit und damit Differenz zu erzeugen. Diese Verbrüderung, die ebenfalls als eine Form der Professionalisierung angesehen werden muss, scheint zu ermöglichen, die Menschen direkt aufzufordern, ihre Flaschen abzugeben und dabei noch darauf zu achten, dass diese ganz bleiben. Auffallend ist hier der widersprüchliche Ausdruck von Dank auf der einen und einem angebotenen Service auf der anderen Seite. Der Sammler kombiniert am Veranstaltungsort bewegtes und stationäres Sammeln, wobei sein Karren für ihn die Arbeit übernimmt und zu einem »Kollegen« wird, mit dem er seinen späteren Ertrag nicht zu teilen braucht. In einigen Fällen werden auch Bollerwagen aus Holz, Pkws oder Einkaufswagen für den Transport benutzt. Weitere, eher indirekte Transportmittel sind öffentliche Verkehrsmittel. Hier berichteten Flaschensammler von Zusammenstößen mit den Bus- und Bahnfahrern, die sich weigerten, sie mitzunehmen mit der Begründung, es handele sich um ein Personenbeförderungsmittel, was vor dem Hintergrund der zum Teil anfallenden Dosen- und Flaschenmengen verständlich erscheint. Mit den öffentlichen Verkehrsmitteln ist ein weiteres Hilfs55

mittel verbunden, nämlich der Behindertenausweis, der den Inhaber berechtigt, in ganz Deutschland umsonst die Bahn zu benutzen. Dies erklärt auch, warum man bei einem Fußballspiel in Dortmund einen Sammler aus Leipzig bei seiner Tätigkeit antreffen kann. Welches von den aufgeführten Hilfsmitteln eingesetzt wird und in welchem Umfang, hängt natürlich vom Sammelort, den jeweils verfolgten Strategien und den finanziellen Ressourcen ab. Bei Großveranstaltungen zum Beispiel fallen solche Massen an Flaschen an, dass es unmöglich ist, diese in einer einzigen Tüte zu verstauen. Die symbolische Dimension der Hilfsmittel bietet den Sammlern zudem untereinander auch die Möglichkeit, eine innere Differenzierung vorzunehmen, die Rückschlüsse auf die Professionalität zulässt. Ein »Tütensammler« kann sich nur schwer mit jenem vergleichen, der seinen Handkarren mit werbetauglichen Sprüchen schmückt, um die Aufmerksamkeit der Menschen auf sich zu ziehen. Es gibt also Anzeichen dafür, dass eine beträchtliche interne Differenzierung in Form unterschiedlichster Professionalisierungsgrade in der Gruppe besteht.

Wegbringen Das Wegbringen bildet beim Flaschensammeln nicht nur den Endpunkt und Abschluss der Tätigkeit, sondern ist auch die unmittelbare Rückmeldung über die eigene Leistung. Nach Einführung der Pfandpflicht im Jahre 2006 kam es vor, dass die Pfandflaschen an der Kasse im Supermarkt abgegeben werden mussten, zum Teil auch gegen Vorzeigen eines Kassenbons, auf welchem das Pfand beim Kauf verbucht wurde. Dies führte dazu, dass das Pfand nur gegen Vorlage eines Belegs dort eingelöst werden konnte, wo die dazugehörige Verpackung erstanden worden war. Mittlerweile bestehen in den meisten großen Supermärkten allerdings Automaten, in die die Gebinde eingeführt werden müssen und die durch das Lesen eines auf der Flasche befindlichen Codes das Pfand verrechnen. Diese Änderung, die weiter unten auch in ihren theoretischen Auswirkungen bezüglich der Idee des Pfandes noch zu untersuchen sein wird, führt dazu, dass jedes Gebinde unabhängig von seinem Vorbesitzer abgegeben und das Pfand kassiert werden kann. Der Bon, den der Automat nach dem Befüllen auswirft, wird für den Flaschensammler zur Lohnabrechnung. Hier kann abge56

lesen werden, in wieweit die eigene Strategie von Erfolg gekrönt ist, welchen Einfluss ein bestimmtes Wetter auf den Ertrag hat und wie es um die Lukrativität der ausgekundschafteten Stellen bestellt ist. Auch bezüglich des Wegbringens bestehen verschiedene Strategien: Entweder alles wird mit einem Mal abgegeben oder erst nach und nach. Einige Routensammler bringen die Flaschen und Dosen unmittelbar weg, wenn ihr Transportmittel seine Füllkapazität erreicht hat, und sammeln dann anschließend weiter. So wird auch die Zeit des Zwischenlagerns auf ein Minimum reduziert, allerdings müssen dann auch Abgabestellen in die Route integriert werden. Wenn die Sammelzeit oder die Menge der Gebinde ein längeres Zwischenlagern nötig machen, etwa in dafür eingerichteten Verstecken oder in der eigenen Wohnung, kann dieses stille Kapital anschließend entweder mit einem Mal eingelöst werden, oder es verbleibt, wie eine Art objektivierter Notgroschen, vor Ort. Bei Veranstaltungssammlern kommt es vor, dass sie entweder direkt nach der Veranstaltung das Pfand einlösen oder es ebenfalls zunächst zwischenlagern, um es dann nach und nach wegzubringen. Denn das Wegbringen kann, wie wir noch sehen werden, dann problematisch werden, wenn mit einem Mal größere Mengen abgegeben werden müssen. Die Transportmittel, die für das Wegbringen verwendet werden, unterscheiden sich im Allgemeinen nicht von jenen, die zum (Ein-)Sammeln verwendet werden. Von einer geradezu spektakulären Transportweise, die nicht nur die Anstrengung des Flaschensammelns, sondern auch die Erfindungsgabe bei fehlenden Möglichkeiten widerspiegelt, berichtete mir ein Flaschensammler an einem Fußballstadion: Er erzählte, dass er zuerst die von ihm (ein-)gesammelten Flaschen im Zug nach Hause, in eine circa 140 Kilometer entfernte Stadt, transportiert, um sie dort abzugeben. Auch wenn dies zunächst widersinnig erscheint, so entlastet es ihn doch davon, in einer ihm fremden Stadt Abgabestellen auszukundschaften. Da der Mann keinen fahrbaren Untersatz besitzt, trägt er die gesamten Flaschen, die er in Tüten und Kisten verstaut. Dabei verfährt er so, dass alle Flaschen in zwei Haufen aufteilt werden. Jeweils einen Haufen trägt er etwa 100 Meter weit nach vorne und behält dabei den anderen Haufen im Auge. Dann läuft er zurück, um den zurückgelassenen Haufen zu holen, und trägt diesen dann etwa 200 Meter nach vorne, während er den ersten Haufen die ganze Zeit im Auge behält. In diesem Hin und Her legt der Mann eine Strecke von etwa zwei Kilometern bis zum Bahnhof zurück und trans57

portiert sein Pfand auch in dieser Art und Weise zum Supermarkt in seiner Heimatstadt. Für einen Flaschensammler ist es ist unumgänglich zu wissen, in welchen Supermärkten welche Flaschentypen abgegeben werden können. Bei den Anlaufstellen, in denen alles angenommen wird, handelt es sich zumeist um große Supermarktketten und weniger um kleine Supermärkte.9 Die Chance, bei einem großen Supermarkt oder Einkaufszentrum sämtliche Flaschen und Dosen mit einem Mal loswerden zu können, ist demnach ungemein größer und wird daher auch häufig gewählt. Dies bestätigen die Aussagen der Flaschensammler, wie zum Beispiel Thomas, der sagt: »Alles zum Marktkauf hin, in Automaten rein, Bon raus, Kasse hin, Geld einstecken, fertig.« Formelhaft kann man sagen: Je größer der Supermarkt ist, desto größer ist auch die Chance, alle Getränkeverpackungen mit einem Mal loszuwerden. Die großen Supermärkte werden im Allgemeinen von mehreren Flaschensammlern angelaufen. So werden diese Abgabestellen zu potenziellen Orten, an denen man sich gelegentlich trifft und eventuell miteinander redet. Die Supermärkte stellen grundsätzlich keinen Ort der Konkurrenz dar, da diese aufgrund der rechtlichen Lage die Annahme von Leergut nicht verweigern dürfen. Das Wissen, dass in einem bestimmten Supermarkt alles angenommen wird, kann auch prinzipiell an andere Flaschensammler weitergegeben werden und unterliegt, im Gegensatz zu den Sammelstellen, nicht notwendigerweise der Verschwiegenheit. Thomas sagt über den Supermarkt und das Personal: Die kenn alle. Bei der XYZ-Straße, da nehm se alles an, da gehen alle hin. So ziemlich alle. Müssen se. Die kenn uns alle. Die wissen genau, heute is Samstag, da komm die alle angetuckert.

Flaschensammler sind also für die heutigen Supermärkte, zumindest für die großen oder die im Innenstadtbereich gelegenen, eine Normalität. Dies bedeutet, dass es für die Supermärkte ein »offenes Geheimnis« darstellt, dass die Flaschensammler die Flaschen nicht gekauft haben, was jedoch aufgrund der Ablösung vom Vorbesitzer durch uni-

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Da es zum Teil auch vorkommt, dass eine in den Automaten eingeführte Flaschen wieder ausgeworfen wird, etwa weil es Probleme beim Lesen des Codes gibt, werfen »normale« Kunden diese Flaschen häufig in die Abfalleimer im beziehungsweise am Supermarkt. Daher sind Supermärkte ambigue Orte, da in ihnen Flaschen (ein-)gesammelt und abgegeben werden können.

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verselle Geltung der Rücknahme nicht weiter tragisch erscheint. Aus der Aussage von Thomas wird auch deutlich, dass das Sammeln eine Tätigkeit ist, der vor allem am Wochenende nachgegangen wird. Dies ist insofern ersichtlich, als dass am Wochenende die Innenstädte mit Besuchern, das heißt Konsumenten, gefüllt sind und so die Möglichkeit, »Beute« zu machen, wesentlich höher ist. Flaschensammler sind zwar für die Supermärkte alte Bekannte, allerdings nicht notwendigerweise gern gesehene Gäste. Interessant ist an der Aussage von Thomas, dass er das Hingehen zu einem Supermarkt zunächst verallgemeinert und dann im Weiteren klarmacht, dass nur »so ziemlich alle« wissen, dass in der »XYZ-Straße« alles angenommen wird. Das Wissen darüber, wie die Verpackungsverordnung die Abgabe regelt, das heißt, zu welcher Annahme welcher Vertreiber rechtlich verpflichtet ist, scheint im Kreise der Sammler nicht zur »Allgemeinbildung« zu gehören. In keinem der geführten Gespräche konnten Hinweise darauf gefunden werden, dass ein Pfandsammler detailliert über die Rechtslage Bescheid weiß. Viel eher wird gerade die Einführung von Rückgabeautomaten als eine Änderung zum Überall-wird-alles-Angenommen interpretiert, was allerdings keineswegs zutrifft. Flaschensammler berichten auch von mehreren Anlaufstellen, die von ihnen aufgesucht werden, da sie dadurch verhindern wollen, Ärger zu bekommen, oder nicht unmittelbar als Flaschensammler erkannt werden möchten. Eine Frage, die mir im Laufe des Forschungsprozesses immer wieder gestellt wurde und scheinbar von großem Interesse für Nicht-Sammler ist, bezieht sich auf die Verdienstmöglichkeiten der Pfandflaschensammler. Diese Frage muss unbeantwortet bleiben, beziehungsweise es soll lediglich vor dem Hintergrund von nicht repräsentativen Angaben einzelner Pfandsammler geschätzt werden. Eine stichhaltige Antwort würde eine quantitative Erhebung über die Erträge durch das Pfandsammeln nötig machen, die nur schwer durchführbar wäre. Zum einen ist die Höhe des Verdienstes kein Thema, über das die Sammler bereitwillig Auskunft geben oder einfach so sprechen. Manches Mal wurde diese Frage auch ausdrücklich zurückgewiesen. Zum anderen ist es insgesamt schwer, mit Pfandsammlern ohne Weiteres in Kontakt zu kommen, wenn man sie einfach auf der Straße anspricht. Es ist nicht so, dass ein kurzer Austausch verweigert werden würde, jedoch waren sehr viele von ihnen kurz angebunden; vielleicht auch einfach nur, weil sie weitersammeln wollten. Daher ist den im Folgenden präsentierten Zahlen voranzustellen, dass es sich bei ihnen eher um ein 59

Konglomerat von Aussagen über die individuellen Verdienste aus den verschiedenen Gesprächen handelt. Allerdings kann eines mit hoher Sicherheit gesagt werden: Die Tätigkeit des Pfandflaschensammlers reicht nicht aus, um das Überleben zu sichern. So gesehen handelt es sich beim Flaschensammeln um eine Subsistenzökonomie, die die Subsistenz nicht sichert. Unter den Gesprächspartnern fanden sich Langzeitarbeitslose beziehungsweise »Hartz-IV-Empfänger«, Rentner, Menschen, die einer festen Beschäftigung nachgehen – zum Teil im Bereich der prekären Arbeitsverhältnisse, wie Zeit- und Leiharbeit, geringfügige oder Vollzeitbeschäftigung im Niedriglohnsektor –, Angestellte oder Obdachlose. Alle diese Gruppen verfügen, mit Ausnahme der Obdachlosen, über regelmäßige Einkünfte, welche die Erträge des Flaschensammelns übersteigen. Das Flaschengeld muss als ein Zubrot zum eigentlichen Einkommen angesehen werden, also als dasjenige Geld, welches man »extra macht«. Wofür dieses Geld ausgegeben wird, ist sehr unterschiedlich. Allerdings wird es, mit Ausnahme der Obdachlosen, nie zur unmittelbaren Bedarfsdeckung verwendet, sondern für einen sozial relativen »Luxus« ausgegeben. Die Aussagen über die Verwendungszwecke reichen von »ein paar Brötchen« über »ne Bratwurst […] oder so was eben«, »n bisschen nebenbei zum Rauchen« bis hin zu »dann kaufen wir uns so ein kleines Häuschen direkt am Wasser und holla die Waldfee«. In diesem Sinne handelt es sich beim Pfandsammeln um eine Subsistenzökonomie, die nicht nur die Subsistenz nicht sichert, sondern diese auch nicht zu sichern braucht. Es zeigt sich, dass der Verdienst stark vom individuellen Einsatz abhängt. Hinzu kommen Bedingungen wie Wetter, die gewählten Orte und Strategien sowie die zur Verfügung stehenden Hilfsmittel und die Anzahl der am Ort befindlichen Konkurrenten. Einige Sammler sind nur an wenigen Tagen unterwegs, andere dagegen täglich auf der Straße. Ein Veranstaltungssammler wird mit dem (Ein-)Sammeln bei einer Veranstaltung möglicherweise so viel verdienen, wie ein Routensammler in einer ganzen Woche. Ein offensiv agierender Flaschensammler, der neben dem unverblümten Blick in die Tonne auch noch die Menschen direkt auf ihre Flaschen anspricht, wird größere Beträge auf seinem Pfandbon stehen haben als ein defensiv, versteckt agierender. Das »Entlohnungssystem« für die Tätigkeit des Flaschensammelns ist in hohem Maße leistungsabhängig – die Quantität der 60

zu findenden Getränkeverpackungen wiederum vom Verhalten der Geber. Thomas berichtet von einem Flaschensammler, der seiner Meinung nach zu den »Topverdienern« gehört und bis zu 40 Euro mit einem Mal Wegbringen aus dem Automaten zieht. Allerdings sagt er sofort: »Also der is von früh bis abends unterwegs. Ich weiß gar nich, wann der schläft.« Zur gleichen Zeit finden sich auch Aussagen wie die einer Rentnerin, die berichtet, sie komme auf etwa 1,50 Euro, wenn sie zum (Ein-)Sammeln aufbricht. Dies entspräche bei täglichem Einsatz 45 Euro pro Monat. Bei Pfandsammlern, die täglich unterwegs sind, kann man durchschnittlich von 100–150 Euro pro Monat ausgehen. Thomas selbst berichtet, dass er bis zu 200 Euro durch das Pfandsammeln verdient. Da die in den Gesprächen genannten Beträge sich jedoch teilweise auf konkrete Ereignisse, wie zum Beispiel die Fußballweltmeisterschaft oder das (Ein-)Sammeln auf einem Jahrmarkt (»Da macht man am Wochenende hundert, zweihundert Euro, ne.«) beziehen, muss davon ausgegangen werden, dass es sich hierbei um Höchstwerte handelt, die nicht die Regel darstellen. Diese Beträge haben den Charakter einer Spielstärke, einem möglichen Vergleichspunkt, von dem aus jedes weitere (Ein-)Sammeln negativ oder positiv beurteilt wird. Wie in der Aussage von Erwin weiter oben deutlich wurde, kann dieser einmal erzielte Betrag zur Grundlage von Enttäuschung werden, weshalb das (Ein-)Sammeln später aufgegeben wird. Solche Beträge dürfen nicht mit regelmäßigem Einkommen gleichgesetzt und für alle Sammler verallgemeinert werden. Diesen Rückschluss lassen nicht nur Widersprüche in einzelnen Gesprächen zu, sondern dieser Eindruck erhärtet sich auch durch unterschiedliche Äußerungen. Erwin sagt: »Also wenn ich manchma auf drei, vier Euro komme am Tag. Dann is das schon groß.« Das entspricht im Höchstfall den besagten 120 Euro im Monat. Stefan äußert dagegen: »Äh, in der Bahnhofsmission stehn so viele Leute an, da muss man ne Stunde warten. In der Zeit hab ik schon vielleicht zwe Euro zusammen«, was bei einem zeitlichen Einsatz von sechs Stunden täglich einem Wert von 12 Euro entsprechen und somit 360 Euro im Monat ergeben würde. Man sieht diesen fiktiven Rechnungen an, dass eine wirkliche Aussage über die Erträge nicht gemacht werden kann und dass, wie bereits vermerkt, diese Erträge immer leistungsabhängig sind sowie aufgrund weiterer Faktoren (Wetter, Tageszeit, Jahreszeit, Wochentag) stark variieren können. Eine ökologische Dimension bekommen diese Überlegungen vor al61

lem dann, wenn man sich anstatt des Geldes die Anzahl der Flaschen vor Augen führt, die zur Erreichung dieser Erträge (ein-)gesammelt beziehungsweise weggeworfen werden müssen. Stellt man sich beispielsweise vor, ein Flaschensammler wolle mit dem (Ein-)Sammeln von Pfandflaschen seinen täglichen Bedarf an Tabak finanzieren, wobei ich ein Päckchen Tabak mit fünf Euro veranschlage, so müsste er 20 Flaschen à 25 Cent sammeln oder 33 Flaschen à 15 Cent oder gar 63 Flaschen, wenn er nur Bierflaschen zu je 8 Cent in den Abfalleimern findet. Zusätzlich ist dies vor dem Hintergrund zu sehen, dass zur gleichen Zeit und am gleichen Ort auch Konkurrenten unterwegs sind. Wenn Thomas zum Beispiel sagt, dass er am Wochenende auf 20 Euro pro Nacht kommt, dann entspricht dies, nur in Bierflaschen, einer Anzahl von 250 à 8 Cent und einem Gewicht von 62,5 Kilogramm, die er in einer Nacht aus den Abfalleimern der Stadt zusammensucht. Um das Zahlenspiel noch weiterzuführen: Wenn für eine mittelgroße Stadt mit 350000 Einwohnern, in der der Großteil der hier präsentierten Beobachtungen angestellt worden ist, angenommen wird, dass es dort 100 Personen gibt, die dem Pfandsammeln nachgehen,10 dann sammeln diese bei einem Durchschnittsverdienst von 120 Euro pro Monat etwa 12000 Euro ein. Dies sind 12000 Euro, die pro Monat von den Gebern »weggeworfen« werden. Würde es sich dabei nur um Bierflaschen handeln, ergäbe dies eine Menge von 150000 Flaschen pro Monat.

10 Diese Zahl dürfte wohl untertrieben sein. Sie gründet sich jedoch darauf, dass ich allein in einer einzigen Stadt 35 verschiedene Personen beobachtet habe und bei so gut wie jedem »Feldaufenthalt« mindestens einen neuen Flaschensammler gesehen habe, der mir vorher noch nie begegnet war.

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Sammeln: Objektive Bedingungsstrukturen Die Bedingung dafür, dass es Menschen gibt, die Pfandflaschen (ein-) sammeln können, ist an die Existenz eines Pfandsystems geknüpft. In der Bundesrepublik Deutschland wird seit dem 01. 05. 2006 zusätzlich ein gesetzlich vorgeschriebenes Pflichtpfand auf Einweggetränkeverpackungen erhoben.11 Das bifa-Institut legte im April 2010 eine vom Umweltbundesamt (UBA) in Auftrag gegebene Studie zur Evaluierung des Pflichtpfandes vor. Insgesamt kommt die Studie zu einem positiven Ergebnis, mag es auch in Detailfragen Regelungsbedarf geben. Durch die Pfandpflicht sei es zu einer deutlichen »Steigerung der von den Verbrauchern zurückgegebenen Mengen an Einweggetränkeverpackungen«12 gekommen. Im Kapitel mit der Überschrift »Soziale und gesellschaftspolitische Wirkungen« des Bericht heißt es: »Die Rückgabequote ist ein Indikator für das Rückgabeverhalten.«13 In quantitativer Hinsicht erscheint diese Aussage plausibel. Das genannte Kapitel behandelt vor allem die Kostenverteilung zwischen Industrie, Handel und Konsument sowie die politische Durchsetzbarkeit und die Annahme des Systems in der Bevölkerung. Auch wenn dies nicht weiter verwundern mag, bleiben die Pfandsammler an dieser Stelle sowie im gesamten Bericht unerwähnt. Dies erscheint insofern unangemessen, als die wachsende Zahl der Menschen, die seit Einführung des Pflichtpfandes in den Innenstäd11 Im europäischen Ausland wird ebenfalls Pfand erhoben: In Schweden: 5–44 Cent; in Norwegen: 13–31 Cent; in Dänemark: 13–39 Cent. In den USA existiert Vergleichbares unter dem Namen »Container deposit legislation«, womit ein Zuschuss des Staates gemeint ist, wenn Personen Dosen zum Recyclen zurückgeben. Der Wert für eine Dose liegt bei 5 oder 10 US-Cent. Auch in Japan, Singapur, Thailand und China werden für »Wertstoffe« Preise pro Kilo gezahlt. In all diesen Ländern, so berichteten mir dort wohnhafte Personen, ist das Phänomen des Pfand- beziehungsweise Wertstoffsammlers bekannt. 12 bifa Umweltinstitut, »Von der Verpackungsverordnung zur Wertstofftonne«, bifa aktuell, 01/2011, S. 2. 13 Umweltbundesamt, Bewertung der Verpackungsverordnung. Evaluierung der Pfandpflicht, http://www.umweltbundesamt.de/publikationen/ bewertung-verpackungsordnung [19. 03. 2013], S. 165.

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ten nach Getränkeverpackungen suchen, nicht unbemerkt geblieben sein dürfte. Wenn die Rückgabequote ein Indikator für das Rückgabeverhalten ist, dann muss sie auch als ein Indikator für den Anstieg von Flaschensammlern angesehen werden, da diese, betrachtet man ihre wachsende Präsenz im öffentlichen Raum, für die Rücklaufquote mitverantwortlich sind. Dass sie vonseiten des Berichts unerwähnt bleiben, muss als Indikator dafür gesehen werden, dass die Tätigkeit des Pfandsammlers gesellschaftlich allgemein nicht anerkannt wird. Als soziale Konsequenz einer politischen Steuerungsidee zur Regulierung des Umweltverhaltens war sie ohne Zweifel nicht intendiert.

Eine kleine Pfandgeschichte Das Pfandgesetz ist weder das Ergebnis eines Sinneswandels in Industrie und Handel noch das Ergebnis eines kooperativen Arrangements zwischen Politik und Wirtschaft. Viel eher muss die Einführung des Pfandes als eine »Rückkehr des befehlenden Staates«14 in die Abfallpolitik interpretiert werden: Nach einer langen und zähen Auseinandersetzung mit Industrie und Handel setzte der Gesetzgeber sich durch und verordnete der Wirtschaft ein »Umweltbewusstsein« mit besonderem Augenmerk auf schonenden Einsatz von Ressourcen. Zur gleichen Zeit sollte der Bürger zu einer Verhaltensänderung hin zu mehr Nachhaltigkeit bewegt werden. Ab Mitte der 1970er Jahre kam es immer wieder zu Debatten und Vereinbarungen über die Stabilisierung der Mehrwegquote zwischen Politik und Wirtschaft, da »insbesondere Getränkeverpackungen […] schon früh zum Sinnbild der Überflussgesellschaft [wurden]«.15 Im Jahr 1988 belegte Klaus Töpfer (CDU) die 1,5-Liter-Plastikflasche mit einem Pflichtpfand, welches die Händler und Hersteller zur Rücknahme und Entsorgung verpflichtete.16 Diese politische Diskussion fand am 20. 07. 1991 ihr vorläufiges Ende, indem die erste Verpackungsverordnung ins Bundesgesetzblatt aufgenommen wurde. Diese 14 Töller, »Befehlender Staat«. 15 Ebenda, S. 74. 16 Vgl. hierzu: Smoltczyk, Alexander/Geyer, Matthias, »Die Dosenrepublik«, Der Spiegel, 04. 08. 2003, S. 38–54; Garrelts, Politische Steuerung.

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legte fest, dass ein Pflichtpfand auf Einweggetränkeverpackungen erhoben würde, sollte die Mehrwegquote die Marke von 72 Prozent unterschreiten. Das heute in ganz Deutschland verbreitete Entsorgungssystem für Verpackungsmüll unter dem Namen »Duales System«, besser bekannt als der »Grüne Punkt«, stellt seit 1992 die gesamte Organisation zur Umsetzung der Anforderungen der Verpackungsverordnung dar, wonach auch Getränkeverpackungen in der »gelben Tonne« landeten.17 Trotz dieser Verordnung, zahlreicher Novellierungen und mehrerer Umweltminister, sank die Mehrwegquote in den folgenden Jahren, ohne dass die politische Drohung in Handeln umgesetzt worden wäre. Mit einer Klagewelle versuchte die Industrie bis 2001, die Veröffentlichung der Zahlen im Bundesanzeiger zu verhindern,18 und auch eine von Jürgen Trittin vorgeschlagene Novellierung der Verpackungsverordnung scheiterte im Bundesrat. Die Zahlen für die Jahre 1999 bis 2001 wurden nach langem Rechtsstreit im Juli 2002 im Bundesanzeiger veröffentlicht, und das Pflichtpfand auf Einweggetränkeverpackungen wurde somit beginnend mit dem 01. 01. 2003 ausgelöst.19 Zum Zeitpunkt der Einführung des Pflichtpfandes erklärte sich die damalige Bundesregierung jedoch bereit, den Vollzug lediglich eingeschränkt zu verlangen. Im Juli 2003 beschlossen Kabinett und Bundestag die Novellierung der Verpackungsverordnung, nach der Pfand nur noch auf ökologisch schädliche Verpackungen erhoben werden sollte. Dies führte zu den sogenannten »Insellösungen«, bei denen die Getränkegebinde nur dort abgegeben werden konnten, wo sie auch erstanden wurden, was wiederum zu einem Vertragsverletzungsverfahren der EU gegen Deutschland führte und im Mai 2006 wieder abgeschafft wurde.20 Alle Händler mit einer Verkaufsfläche von min17 Herbold u.a., Entsorgungsproblem, S. 11. 18 Über die Einführung eines Pflichtpfandes wurden in den Jahren 2002 bis 2006 insgesamt 14 Urteile von Gerichten in Deutschland ausgesprochen. Flanderka und Renke weisen darauf hin, dass »zahlreiche in diesem Zusammenhang auftretende Rechtsfragen […] zum Teil erstmals entschieden [wurden]« (S. 24). 19 Vermuten lässt sich, dass es bereits zu diesem Zeitpunkt zu einem erheblichen Anstieg Flaschen sammelnder Menschen gekommen ist. Problematisch bei solch marginalisierten Tätigkeiten ist das Fehlen historischer Dokumente. Man ist in diesen Fällen sehr oft auf fiktionale Texte angewiesen, in denen solche Figuren vorkommen. 20 Flanderka/Renke, »Pfandpflichten«, S. 24.

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destens 200 Quadratmetern21 sind seitdem gesetzlich dazu verpflichtet, alle Getränkeverpackungen zurückzunehmen, deren Materialart sie in ihrem Sortiment führen.

Pfand als Sicherung vorübergehender Tauschbeziehungen Unter »Pfand« wird der Gegenstand einer Bürgschaft oder die Sicherungsleistung für eine Forderung verstanden.22 Die etymologische Herkunft des Wortes ist bisher ungeklärt. Ab dem 9. Jahrhundert bezeichnet Pfand als Rechtsausdruck ganz allgemein die Sicherung einer Verpflichtung: Durch die Entrichtung eines Pfandes soll die Einhaltung der eingegangenen Verpflichtung sichergestellt werden. Deren Sinn ist die Erhöhung der Wahrscheinlichkeit, dass der Schuldner die Schuld samt Zinsen begleicht. Damit die Verpflichtung eingehalten wird, muss es sich bei dem mit Pfand belegten Objekt um etwas handeln, das einen Wert besitzt. Das Objekt ist also als etwas Wertvolles, Seltenes oder »Wiederbringungswürdiges« definiert.23 Damit sind zwei für das Pfand wichtige Merkmale angedeutet: 1) Das mit Pfand belegte Objekt sowie der entrichtete Pfand selbst sind nicht für einen dauerhaften Tausch konzipiert, sondern wechseln nur vorübergehend den Besitzer. Damit ist auch klar, dass in der Regel das Objekt nur vorübergehend benötigt wird. Pfand ist prinzipiell nicht darauf angelegt, einen Mehrwert zu erwirtschaften, sondern soll ganz allgemein sicherstellen, dass das Objekt wieder in die Hände des 21 Kioske oder ähnliche Händler mit Verkaufsfläche unter 200 Quadratmetern müssen lediglich die Verpackungen derjenigen Getränkesorten zurücknehmen, die sie auch in ihrem Sortiment führen. 22 Pfeifer, Etymologisches Wörterbuch, S. 994; Grimm/Grimm, Wörterbuch Bd. 7, S. 1604. 23 Eine Rekonstruktion müsste, soweit dies die Datenbasis zuließe, versuchen zu klären, ab welchem Zeitpunkt das Wort, durch welches ja grundsätzlich die Verpflichtung eingegangen wurde (Wort geben – Wort halten), durch Objekte abgesichert beziehungsweise ersetzt werden musste. Vermutlich hängt dies mit der Ausdifferenzierung moderner Gesellschaften und dem Anstieg des Handels mit Fremden zusammen. Zugleich gibt es aber noch heute Kulturkreise oder Geschäftsmilieus, in denen ein Handschlag ebenso viel gilt wie das unterzeichnete Papier.

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eigentlichen Besitzers gelangt. Durch die Erhebung von Pfand wird eine vorübergehende, zeitlich mehr oder weniger genau definierte Beziehung eingegangen. Die hohe Verbindlichkeit einer durch Pfand gestifteten Sozialbeziehung ergibt sich für Marcel Mauss aus der Tatsache, dass das zum Pfand gegebene Objekt immer auch von der Individualität des Gebers erfüllt ist. Derjenige, der ein Pfand gibt, »bleibt solange in einer unterlegenen Stellung, bis er sich von seiner ›Wette‹ befreit hat«.24 Für Mauss sind »Wette« und »Pfand« nicht nur etymologisch verbunden. Das Pfand sei der Einsatz in einem Wettstreit, die Bestätigung einer angenommenen Herausforderung und weniger ein Druckmittel gegen den Geber. Dass Pfand eine reziproke Sozialbeziehung stiftet, zeigt Mauss daran, dass das Eingehen der Wette auch eine Gefahren bergende Bindung für den Empfänger darstellt. Er riskiert, sein Objekt nicht wieder zu erhalten. 2) Mit Pfand belegte Objekte sind grundsätzlich für einen längeren »Lebenszeitraum« bestimmt. Die Rückgabe sichert die Möglichkeit einer zukünftigen Verwendung. Das Verhältnis, welches durch die Entrichtung des Pfandes eingegangen wird, kann als symmetrisches beschrieben werden, bei dem Äquivalentes ausgetauscht wird. Denn grundsätzlich muss sich das Pfand nach dem Wert des Objekts richten. Würde es dies nicht tun, so könnte das Pfand seine Bindungsfunktion nicht erfüllen. Mit der Höhe des Pfandes muss zumindest für den Besitzer gesichert sein, dass er, wenn nötig, das Objekt neu produzieren oder erwerben könnte. Es widerspricht der ursprünglichen Pfandidee, dass die Entrichtung von jeder Verpflichtung löst. Selbst da, wo keine gesetzlich oder vertraglich festgeschriebenen Fristen bestehen, hat die durch Pfand gestiftete Beziehung unter anderem etwas mit Vertrauen in die Redlichkeit des Gegenüber zu tun.25 Mit der Entrichtung von Pfand soll neben der Rückgabe auch der beiderseitige verantwortungsvolle Umgang mit den getauschten Objekten gesichert werden.

24 Mauss, »Die Gabe«, S. 119. 25 Dischinger/Mögel, »Pfandhaus«, S. 20.

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Folgerungen: Die Janusköpfigkeit des Pfandgesetzes Die vorangehenden Überlegungen erleichtern es zu zeigen, inwieweit mit dem oben dargelegten Pfandgesetz die ursprüngliche Idee des Pfandes karikiert wird. Zunächst einmal muss gesagt werden, dass sich das Pfandgesetz an dem Grundsatz der Nachhaltigkeit sowie dem schonenden Umgang mit Ressourcen orientiert, was dem ersten Merkmal des Pfandes entspricht. Jedoch haben weder Industrie noch Handel ein lebhaftes Interesse daran, die mit Pfand belegten Objekte wiederzuerhalten. Das Gesetz zwingt lediglich Akteure, eine Beziehung einzugehen, die von Anfang an nicht gewünscht ist. Hier ist es nicht der Objektbesitzer, der dieses durch das Pfand an sich zu binden sucht. Mag die langfristige Verwendung eines Produktes sowohl ökologisch als auch ökonomisch auf den ersten Blick sinnvoll erscheinen – und im Grundsatz vom Konsumenten befürwortet werden –, so widerspricht die Idee des Pfandes grundsätzlich einem an maximalem Profit orientierten Produktionsmodell, in dem Produkte schnell veralten und somit durch neue ausgetauscht werden müssen. Dies ist im kapitalistischen System mit geplanten Produktlebenszyklen der Fall.26 Flaschen mit einer Füllmenge von 0,33 l sind nicht dazu konzipiert, den Konsumenten über einen längeren Weg hin zu begleiten. Gerade die Dose muss aufgrund des Umstands, dass sie nicht wieder verschließbar ist, unmittelbar konsumiert werden und symbolisiert darin die vollkommene Konzentration auf das »Hier und Jetzt«, die dazu einlädt, jedweden Ballast hinter sich zu lassen. Der zweite genannte Punkt, dass nämlich das Objekt für eine lange Lebensdauer geplant ist, wird

26 Aus einer »anderen deutschen Geschichte« ist diesbezüglich bekannt, wie der Staat versucht hat, durch gesteigerte Wiederverwertung die Autonomie einer ganzen Gesellschaft zu garantieren. In der DDR gab es das sogenannte SERO-System, ein Rücknahme- und Wiederverwertungssystem von Sekundärrohstoffen (SERO), welches den Import von ausländischen Rohstoffen verhindern sollte, um eine autarke Volkswirtschaft zu schaffen (vgl. Hartard u.a., »SERO-System«). Die Organisation, die Einbeziehung der Bürger in den Sammelprozess, die Einrichtung von Abgabestellen und die Vergütung nach Wertstoffart im Pfennigbereich (ebenda, S. 36ff.) weisen eine hohe Ähnlichkeit zum hier betrachteten Phänomen des Flaschensammelns auf. Auch hier erzeugte die Setzung gesellschaftspolitischer Rahmenbedingungen systemische Flaschensammler, wenn auch die dahinterstehende politische Ideologie eine andere gewesen sein mag.

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beim Pfand auf Einweggetränkeverpackungen ad absurdum geführt, da gerade diese sich dadurch auszeichnen, nicht wiederverwendet zu werden. Weiterhin existiert für den Käufer der Getränkeverpackung keine festgelegte zeitliche Frist, in der das Pfand einzulösen wäre. Die Wechselseitigkeit der durch das Pfand eingegangenen Tauschbeziehung wird daher aufgelöst. Im Sinne von Mauss verliert der Kunde seine Wette, und der Hersteller wird zudem von einem Objekt entlastet, welches er ohnehin nicht haben wollte. Gerade die Höhe der Pfandbeträge ist zu gering, als dass die Rückgabe einen ökonomischen Vorteil für Kunden bedeuten beziehungsweise die Nicht-Rückgabe als eine Bestrafung empfunden würde. Ökologisch nachhaltige Handlungen sind eher erwartbar, »wenn diese mit geringen Einbußen an Kosten und Bequemlichkeit verbunden sind«.27 Da es sich bei dem Pfand mit 8, 15 und 25 Cent um relativ geringe Beträge handelt, liegt die Vermutung nahe, dass dieses Geld von denjenigen, die ihre Getränkeverpackung wegwerfen, bereits als ausgegeben angesehen wird. Das aufgeschlagene Pfand kommt dann einer Preiserhöhung gleich. Festzuhalten bleibt: Die Bedingung der Möglichkeit des Flaschensammelns ist im Ausbrechen des Kunden aus der eigentlich zeitlich begrenzten Bindung an den Händler zu sehen. Anstatt die Flasche oder Dose als eine Ressource zu sehen, klassifiziert der Kunde die Getränkeverpackung im Akt des Wegwerfens als für ihn wertlosen Müll. Für die weitere Betrachtung ist zentral, dass sich die Gesellschaft aufspaltet in diejenigen, die ihre Getränkeverpackungen wegwerfen, diejenigen, die sie zurückbringen, und diejenigen, die sie (ein-)sammeln. Doch was ist Sammeln eigentlich für eine Tätigkeit?

Die Tätigkeit des Sammelns – Was tun wir, wenn wir sammeln Das Verb »sammeln« hat seinen Ursprung im niederhochdeutschen »samenen« und bedeutet so viel wie »vereinigen« oder »anhäufen«.28 Neben diese Bedeutung stellt sich das altdeutsche Pronomen »samo« (derselbe) und das Adverb »sama« (ebenso). Des Weiteren besteht ein 27 Diekmann/Preisendörfer, Umweltsoziologie, S. 124. 28 Pfeifer, Etymologisches Wörterbuch, S. 1163.

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gemeingermanisches Suffix »-sam«, welches seiner eigenständigen Bedeutung nach so viel aussagt wie »mit etwas übereinstimmend, von gleicher Beschaffenheit«, so wie es heute noch in dem englischen Wort the same29 zu finden ist. Sammeln beschreibt demnach eine Tätigkeit, bei der mehrere, ursprünglich unvereinte Dinge von derselben Beschaffenheit, einem identischen Wesensmerkmal oder der gleichen Gattung zusammengebracht und vereint werden.30 Die Wortbedeutung verrät bereits eine wichtige Unterscheidung: Auf der einen Seite ist mit dem Sammeln das Herstellen einer Ordnung verbunden. Zuvor Verstreutes wird in einen geordneten Zusammenhang gebracht. Dies ist zum Beispiel beim Briefmarkensammler der Fall. Wie jedoch geordnet wird – etwa nach Farbe, Wert, Land etc. –, liegt im Ermessen des Sammlers. In der Möglichkeit zur Innovation einer eigenen Ordnung zeigt sich das Autonomiepotenzial, welches im Sammeln angelegt ist.31 Auf der anderen Seite ist Sammeln immer auch Ansammeln, Anhäufung, also letztlich die Herstellung einer Masse, die zuvor in dieser Form nicht bestanden hat. Sammeln findet sein Ziel nicht in dem Auffinden eines einzigen Objekts, sondern dem Zusammentragen von mehreren, die durch ein (selbstbestimmtes) Ordnungsschema zusammengehalten werden. Jedoch lässt dies nicht den grundsätzlichen Schluss zu, dass am Ende jedes Sammelns auch eine Sammlung, wie zum Beispiel eine Sammlung antiker Vasen oder eine Plattensammlung, entstehen muss. Auch der Altmetallsammler trägt Gleiches zusammen, ohne dass man am Ende von einer Sammlung sprechen würde. Verschieben wir unseren Fokus ein wenig: Weil grundsätzlich Objekte gesammelt werden, kann zunächst festgehalten werden, dass alles, was – in welcher Form auch immer – von Wert und/oder Nutzen ist, ebenfalls gesammelt werden kann. Dieser sich auf das Objekt beziehende Wert kann ein dienlicher, monetärer, ideeller oder ästhetischer sein; wichtig ist lediglich, dass ein Wesensmerkmal besteht, welches alle Objekte zusammenhält beziehungsweise nach dem sich diese (ein-)ordnen lassen. Jedoch muss ebenso die Möglichkeit berücksichtigt werden, dass sich der Wert des Sammelns nicht unmittelbar und 29 Stagl, »Homo Collector«, S. 37. 30 Grimm/Grimm, Wörterbuch Bd. 8, S. 1741. 31 Vgl. hierzu: Popitz, Kreativität, S. 78.

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lediglich aus dem Objekt, sondern ebenso aus dem Sammeln selbst, das heißt dem aktiven Tun, ergeben kann. Dies berücksichtigend scheint eine genauere Unterscheidung notwendig, die zwischen dem Sammeln als Mittel zu einem Zweck – einer Handlung, die sich als Notwendigkeit zur Erreichung eines bestimmten Zwecks ergibt – und dem Sammeln als Selbstzweck – einer Handlung, die um ihrer selbst Willen ausgeführt wird und damit sich selbst genügt – differenziert.32

Sammeln als Mittel zum Zweck: Arbeit Die vermutlich bekannteste Form des Sammelns als Mittel zum Zweck ist die Beschaffung von Nahrungsmitteln, wie es in Jäger- und Sammlergesellschaften noch heute betrieben wird. Bei dieser Tätigkeit vom »Typus des vorsorgenden Sammelns«33 bleibt der Gebrauchsaspekt des zusammengetragenen Objekts ausschlaggebend, und es verbleibt nur für eine begrenzte Zeit beim Sammler. Wenn beispielsweise Beeren im Wald gesammelt werden, so geschieht dies zum späteren Verzehr oder zum Verkauf auf dem Markt. Die Anstrengung des Sammelns dient hier dem Zweck der Bedürfnisbefriedigung, egal ob das Objekt selbst konsumiert wird oder sein Verkauf den Konsum anderer Objekte ermöglicht. Mit dem vorsorgenden Sammeln, welches in relativ kleinen und nomadisierenden Gruppen stattfindet, verbleibt die menschliche Reproduktion noch auf einer primitiven Stufe, weil die Abhängigkeit von der Natur hoch ist. Im gezielten, durch Werkzeuge unterstützten Sammeln legt der Mensch den Grundstein für seine Emanzipation von einer Welt, die auf seine Bedürfnisse keine Rücksicht nimmt. Angetrieben von der Angst vor der Kontingenz der Welt opfert der Mensch seine Freiheit, sich treiben zu lassen, in den Tag hineinzuleben und sich der Bequemlichkeit hinzugeben, und sorgt, seine zukünftigen Bedürfnisse antizi32 Es soll an dieser Stelle explizit auf etwas hingewiesen werden, was implizit im Vorgestellten enthalten ist: Bei der soziologischen Analyse des Sammelns geht es in erster Linie um das Sammeln als Handlungsform. Erst wenn man das Sammeln in seiner Struktur grundlegend rekonstruiert hat, kann man sich der Frage zuwenden, was das Sammeln von Briefmarken und das Sammeln von Pfandflaschen grundlegend unterscheidet beziehungsweise was diese verbindet. Der Begründung für die Möglichkeit eines solchen Vergleichs liegt darin, dass beide Tätigkeiten als Sammeln bezeichnet werden. 33 Marquard, »Wegwerfgesellschaft«, S. 911.

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pierend und sich dadurch von der Natur emanzipierend, vor. Der »homo collector«, für den das Sammeln in seinem Gerichtetsein auf die Zukunft eine Form des »transzendentales Sparens«34 darstellt, hat eine bewusste Vorstellung von sich. Im Sammeln drückt sich die Erinnerung an seine Bedürfnisse aus, deren Befriedigung ihm durch das Sammeln ermöglicht wird. Er lernt seine unmittelbaren Triebe zu kontrollieren, weitsichtig planend zu handeln, weshalb für Stagl die Art und Weise des Sammelns auch einen Gradmesser der Zivilisierung einer Gesellschaft darstellt. Soziogenetisch ist es ab dem Moment, in dem der Mensch sesshaft wird und selbst zu kultivieren beginnt, eine antiquierte Tätigkeit. Der sesshafte und produzierende Mensch findet nicht mehr vor, sondern stellt mit seinen eigenen Händen her. Er treibt seine Emanzipation von der Natur stetig und mit technischen Mitteln voran.35 Ein solches vorsorgendes Sammeln muss verstanden werden als Einsammeln, Ernten oder Auflesen.36 Dieses findet notwendigerweise immer in einer bestimmten Öffentlichkeit, das heißt sowohl im öffentlichen Raum im weitesten Sinne als auch vor den Augen anderer statt. Weder der Sammler von Pilzen noch der Altpapiersammler werden die von ihnen begehrten Objekte finden können, ohne ihr Haus zu verlassen. Jedes Sammeln stellt einen Suchprozess dar. Da es aber beim Einsammeln vor allem um die Verwendung des Objekts geht, kommt gerade dem Finden existenzielle Bedeutung zu.37 Hierzu bedarf es einer wertenden Positionierung auf die Frage »In welchem Verhältnis stehen

34 Stagl, »Homo Collector«, S. 41. 35 Vgl. hierzu: Popitz, Macht, S. 247f. 36 Die deutsche Sprache verfügt über Wörter, die die Tätigkeit des Sammelns sehr viel differenzierter wiedergeben können, als dies im Alltag der Fall ist. »Auflesen« bezieht sich auf das Hochheben mit der Hand von etwas, das auf dem Boden herumliegt. Darin enthalten ist zum einen der Aspekt des Unvorhergesehenen, denn ich kann auch einen entlaufenen Hund auflesen, den ich nicht gesucht hatte, zum anderen steckt die Aneignung implizit mit im Wort. Das Wort »aufklauben« kann synonym verwendet werden. »Aufsammeln« bezieht sich ebenfalls auf eine Bewegung von unten nach oben und kann daher synonym mit »aufheben« beziehungsweise »aufgreifen« und »mitnehmen« verwendet werden. »Einsammeln« hingegen impliziert nicht unbedingt die Bewegung von unten nach oben, weshalb es für das Sammeln als Mittel zum Zweck – im Sinne von Versorgungssammeln – am sinnvollsten ist, vom Einsammeln zu sprechen. 37 Vgl. Sommer, Suchen und Finden.

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für mich Mittel und Zweck?«, die den Grad der auf sich zu nehmenden Mühe bestimmt. Durch die existenzielle Bedeutung des Findens muss das dem Suchprozess zugrundeliegende Wissen breit gestreut sein. Würde ein Stamm sich nur von einer einzigen Pflanzenart ernähren, so würde er vermutlich keine zweite Generation hervorbringen. Man kann nach dem bisher Gesagten das Einsammeln vielleicht die allgemeinste Form von Arbeit nennen, da es der Subsistenzsicherung dient.38 Die Anhäufung zu gebrauchender Objekte erlaubt dem Menschen, seine Unabhängigkeit von der Natur auszubauen, und richtet diese, durch sein ordnendes Tun, zugleich nach seinen Vorstellungen ein. Lösen wir uns von diesen allgemeinen Anmerkungen und denken einen Augenblick über das Wort »Einsammeln« nach und übertragen es auf geläufige, alltägliche Situationen. Eingesammelt werden können zum Beispiel Klassenhefte durch die Lehrerin oder die vollen Aschenbecher in einer Bar durch den Kellner. In den beiden genannten Fällen ist das Einsammeln als Teil eines Aufgabenbereiches zu sehen, der sich aus der jeweiligen Position ergibt. Es stellt aber lediglich einen kleinen Teilbereich der Tätigkeit dar. Das Ziel ihrer als Arbeit bezeichneten Handlungen ist die Koordination und Erledigung der jeweils einzelnen Handlungsschritte. Die Bezeichnung eines Kellners als »Tellerwegräumer«, einer Lehrerin als »Hefteeinsammlerin« oder, um ein anderes Beispiel zu verwenden, einer Sekretärin als »Tippse« kommt einer Beleidigung gleich, gerade weil damit die Tätigkeit auf einen einzigen Aspekt reduziert wird, hinter dem ein ganzer Aufgabenkomplex verschwindet.39 Was wir aus den Beispielen ebenfalls lernen, ist, dass sowohl bei der Lehrerin als auch beim Kellner eine übergeordnete Institution festlegt, welche einzelnen Tätigkeiten zum jeweiligen Aufgabenbereich zu zählen sind; so eben auch das Einsammeln von Objekten. Die Tätigkeit findet an dafür eingerichteten Orten statt, zu dem die einzusammeln-

38 Lang, »Ende der Arbeitswelt«, S. 13. 39 Obgleich das Sammeln von Briefmarken sich nicht nur auf Suchen und Finden beschränkt, sondern ein bestimmtes Wissen dazu gehört (Katalogisierung), ist dies in der Bezeichnung des Briefmarkensammlers bereits enthalten, denn er ist derjenige, der eine Sammlung anlegt. Die französische Sprache trennt beispielsweise sehr klar zwischen »collectioner« (sammeln) und »glaner« (einsammeln/ auflesen), was in der Übersetzung des Filmtitels von Agnes Varda »Les glaneurs et la glaneuse« (2000) mit »Die Sammler und die Sammlerin« verwischt wird.

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den Objekte in Relation stehen. Manchmal, wie im Fall der Schulhefte, haben diese Objekte nur Sinn, weil es diese Institutionen gibt, für die deren Existenz sowie das Einsammeln notwendig sind, diese gar legitimieren. Die Lehrerin wie auch der Kellner sammeln die jeweils für sie durch eine dahinterstehende Institution bestimmten Objekte zum Zweck der Reproduktion ihres eigenen Lebens ein, und nicht etwa aus reinem Vergnügen. Daher ist in diesen Fällen das Einsammeln ein Teil einer Erwerbsarbeit. Da Mittel und Zweck hier nicht identisch sind, kann Arbeit allgemein verstanden werden als »eine ziel- und zweckorientierte Tätigkeit, also eine Reihung oder Gruppierung von zusammengehörigen Handlungen mit einem Ziel und einem Zweck verbunden«.40 Das Ziel der Handlung ist die erfolgreiche Aneinanderreihung der Handlungsschritte. Erst wenn dies erreicht ist, kann die Arbeit ihren Zweck der Bedürfnisbefriedigung erfüllen. Konstruieren wir ein weiteres Beispiel: Ein Umweltschützer kann gestrandete Vögel nach einem Tankerunglück am Strand aufsammeln. Mag das erfolgreiche Zusammentragen aller oder vieler Vögel auch das Ziel des Sammelns sein, der Zweck seiner Handlung ist dies nicht. Im Allgemeinen bekommt der Umweltschützer kein Geld für seine Tätigkeit, sondern der Zweck dieser Tätigkeit kann beispielsweise die von ihm gewünschte Rettung der Tiere sein oder auch soziale Anerkennung. Oben wurde darauf hingewiesen, dass Einsammeln immer in einer Öffentlichkeit stattfinden muss, dementsprechend eine Handlung ist, die sich zwangsläufig auch dem öffentlichen Urteil aussetzt. Der Sammler folgt bestimmten eigenen Motiven oder Interessen, gleichzeitig aber wird seiner Tätigkeit von außen ein Sinn zugeschrieben, wird anerkannt, missachtet oder lässt unberührt. Die Erfahrung mit der eigenen Tätigkeit und die Erfahrung damit, wie sie von anderen angesehen und gedeutet wird, bestimmen soziale sowie personale Identität.41 40 Lang, »Ende der Arbeitswelt«, S. 11. 41 Vgl. ebenda, S. 15f.; Mead, Geist, Identität und Gesellschaft, S. 244ff.; ein derart weit gefasster Arbeitsbegriff trägt auch einem Phänomen Rechnung, auf das unter anderem Stephan Voswinkel und Hermann Kocyba hinweisen: Ihrer Ansicht nach wird in der modernen Gesellschaft eine Tätigkeit erst dann als legitim anerkannt, wenn sie zur Arbeit geadelt wird, so zum Beispiel Beziehungsarbeit, Erziehungsarbeit, Pflegearbeit oder Trauerarbeit. »Diese Universalisierung des Arbeitsbegriffs [bekräftigt] gerade den paradigmatischen Vorbildcharakter der Erwerbsarbeit.« (Voswinkel/Kocyba, »Entgrenzung der Arbeit«, S. 74).

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Trotz eines momentanen Strukturwandels der Erwerbsarbeit42 – im Sinne von bezahlter und in die sozialen Sicherungssysteme eingebetteter Arbeit – ist diese »in der gegenwärtigen Gesellschaft […] nach wie vor ein wesentliches Medium sozialer Anerkennung und individueller Vollwertigkeit«.43 Vielleicht kann man sich die Bedeutung der (Erwerbs-)Arbeit für den Einzelnen am deutlichsten vor Augen führen, wenn man sein Augenmerk auf diejenigen richtet, die von der Erwerbsarbeit ausgeschlossen sind: Erwerbslos zu sein wird als anormaler Zustand angesehen, den es zu überwinden gilt. Nur wer erwerbstätig ist, bekommt damit die Lösung einer ganzen Reihe von Problemen an die Hand. »Dazu gehören die Entwicklung einer gesellschaftlich anerkannten persönlichen Identität, die Sicherung einer sozialen Stellung, das individuelle und kollektive Überleben, die gesellschaftliche Ordnung und die Reproduktion des Gesamtsystems.«44

Sammeln als Selbstzweck: Muße Beim Sammeln als Selbstzweck ist die Tätigkeit dasjenige, was im Vordergrund steht. Es ist darin dem Spiel verwandt, denn auch dort sind Mittel und Zweck identisch.45 Aber noch mehr: Das Sammeln stellt, wie bereits erwähnt, im Wesentlichen einen Suchprozess dar, an dessen Ende das erhoffte und beglückende Finden steht. Anders jedoch als beim Einsammeln kommt dem Finden hier keine existenzielle Bedeutung zu. Gesucht werden kann nur, wenn bereits Wissen vorhanden ist, und eben das Erlernen dieses Wissens kann bereits ein Selbstzweck sein. Suchen, so schreibt Manfred Sommer, ist das Sichtbarmachen eines abwesenden Objekts, dessen Existenz jedoch bekannt ist und das im Finden sichtbar gemacht beziehungsweise erkannt wird.46 Demnach ist es notwendig, die Zeichen deuten zu können, die Aufschluss darüber geben, wo das Gesuchte gefunden werden kann.

42 Castel, Die Metamorphosen; Dörre, »Prekäre Arbeit«; Kraemer, »Prekäre Erwerbsarbeit«. 43 Negt, »Was den Menschen ausmacht«, S. 11; vgl. auch: Neumann u.a., »Existenzsangst«; Holtgrewe, »Anerkennung und Arbeit«. 44 Bauman, Verworfenes Leben, S. 19; vgl. auch: Hondrich, Der neue Mensch. 45 Hahn, »Soziologie des Sammlers«, S. 70. 46 Sommer, Suchen und Finden, S. 17.

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Obwohl also Sammeln immer mit dem Noch-nicht-Sichtbarsein des gesuchten Objekts beginnt, ist das Risiko, nichts zu finden, durch das Wissen um das Objekt relativ entschärft. Auch hierin ist es dem Spiel nicht unähnlich, denn es geht beim Spielen um das mehr oder weniger kalkulierbare und zeitlich verdichtete Überschreiten von Grenzen, die im Alltag gelten.47 Während das Suchen ein systematisches Tätigsein darstellt, dessen Erfolgschancen durch subjektive Qualifikation erhöht werden können, ist das Finden ein glückliches Ereignis, also letztlich unkalkulierbar, und erhält gerade dadurch eine hohe Affektgeladenheit. Der wahre Sammler sammelt aus und mit Leidenschaft. So kann man bei Stefan Zweig, der ein leidenschaftlicher Sammler von Unterschriften und Urschriften beziehungsweise Ideenskizzen war, nachlesen: »Zu dem Stolz, einige solcher Blätter zu besitzen, gesellt sich noch der fast sportliche Reiz, sie zu erwerben, ihnen nachzujagen auf Auktionen oder in Katalogen; wie viel gespannte Stunde danke ich dieser Jagd, wie viel erregende Zufälle!«48

Dass das Sammeln als Selbstzweck eine Art erregenden Jagdtrieb auslöst, zeigt, dass die Leidenschaft sich in einer lustvollen Versunkenheit ausdrückt, die sich bis zum Rausch steigern kann. Die notwendige Verengung des Sichtfeldes, die Konditionierung des Blicks, die sich im Verlauf des Sammelns langsam einstellt, weil gezielte Suche nur so funktioniert, schließt den Sammler in einer eigenen Welt ein, in der er nur noch »Augen für sein Objekt« hat. Das Glück des Finders, demjenigen, dessen Auge schließlich mit dem begehrten Objekt zusammentrifft, hängt an zwei Bedingungen: »Das Hochgefühl, subjektiv eine Leistung vollbracht zu haben, und die Freude über die Gunst der objektiven Umstände, auf die man wohl hoffen, mit denen man aber nicht rechnen durfte.«49

Sammeln zeichnet sich durch Unberechenbarkeit aus. Die sich im Dreischritt Suchen-Hoffen-Finden vollziehende Tätigkeit setzt sich aus wechselnden Phasen aufbauender Erregung und spannungslösender Befriedigung zusammen.50 Ein Sammler kann nie wirklich si-

47 48 49 50

Popitz, Kreativität, S. 76f. Zweig, Die Welt von gestern, S. 192. Sommer, Suchen und Finden, S. 44. Stagl, »Homo Collector«, S. 42.

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cher sein, was er wo finden wird oder ob er überhaupt etwas finden wird. Während beim Einsammeln die Verwendung des gefundenen Objekts im Vordergrund steht, kommt im Finden und Ansichnehmen das Sammeln als Selbstzweck zu seinem Ende. Der Augenblick des Findens negiert das Interesse am Ort, da das Finden auf das Habenwollen fixiert ist.51 Wird Sammeln als Selbstzweck ausgeführt, gehört wesentlich das Aufbewahren mit dazu, was sich beispielsweise beim Briefmarkensammler zeigt. Dieser Sammler verkauft nichts, während der Altmetallsammler versucht, seine Objekte möglichst gewinnbringend abzusetzen. Der Selbstzweck-Sammler treibt keinen Handel, sondern will seine Objekte besitzen, ohne sie notwendigerweise zu verwenden. Das Ziel des Sammelns als Selbstzweck ist das Anlegen einer Sammlung, wenn auch Justin Stagl entgegengehalten werden muss, dass der Sammler als Sozialtypus nicht erst durch das »Anlegen von Sammlungen mit nicht vorwiegendem Bedeutungs- und zurücktretendem Gebrauchsaspekt«52 entsteht, sondern dies lediglich das Sammeln als Selbstzweck beschreibt. Mag in der Alltagswelt vor allem der Anhäufer von Kronkorken oder Porzellanfiguren den Titel des Sammlers verdienen, so hat soziologisch dagegen jeder als Sammler zu gelten, für den diese Tätigkeit eine angemessene und routinierte Lösung einer Krise darstellt. Es ist nicht erstaunlich, dass das Sammeln als Ausdruck psychischer Pathologien oder Bewältigung frühkindlicher Traumata beschrieben wird.53 Dies liegt allerdings an einem eingeschränkten Sammelbegriff. Mag das Sammeln auch pathologische Züge annehmen können: In erster Linie handelt es sich dabei um eine sozial sinnhafte Tätigkeit, dem Zusammentragen verstreuter Gegenstände mit gleichem Wesensmerkmal, die einer eigenen Strukturgesetzlichkeit folgt. 51 Erich Fromm unterscheidet zwischen gesellschaftlich anerzogenem und funktionellem Haben, also dem Besitz von Dingen, ohne die wir unser Leben nicht bestreiten können. »Um überleben zu können, ist es erforderlich, daß wir bestimmte Dinge haben, behalten, pflegen und gebrauchen. (…) Dieses funktionelle Haben kann man auch als existentielles Haben bezeichnen, da es in der menschlichen Existenz wurzelt.« (Fromm, Haben oder Sein, S. 87) Die von ihm behandelte Habenorientierung drückt sich im Besitzenwollen aus, im Ausschluss anderer von dem, was mir gehört, ohne dass ich meinen Besitz notwendigerweise gewinnbringend einsetze. 52 Stagl, »Homo Collector«, S. 45. 53 Münsterberger, Sammeln.

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Wie gesagt gehört das Aufbewahren zum Selbstzwecksammeln dazu. Odo Marquard weist auf dessen enge Verbindung zum Wegwerfen hin, da nur durch Letzteres die Möglichkeit entsteht, etwas aufbewahren zu können.54 Aufbewahren bezeichnet das Nicht-Wegwerfen für eine eventuell spätere Verwendung, die allerdings nicht eintreten muss. Daher bewegt sich Aufbewahrtes an der Grenze zum Verworfenen. Weil der Lebensplatz der Menschen begrenzt ist und nicht unendlich viel Neues hinzugefügt werden kann, sind Menschen dazu genötigt, auszurangieren und wegzuwerfen. »So sind Menschen – weil sie wesensmäßig Neuerer sind – zugleich die Ausrangierer, die Wegwerfwesen.«55 Der Umstand, dass das Ausrangieren eine sozial akzeptierte Handlung darstellt, führt nach Marquard dazu, dass die Wegwerfgesellschaft zugleich eine Bewahrungsgesellschaft ist. Das Wegwerfen des einen ist die Bedingung der Möglichkeit zum Sammeln durch den anderen. Sammeln muss demnach allgemein als eine Form der Ermahnung oder des Infragestellens einer zuvor angebotenen Deutung des Objekts als Auszurangierendes angesehen werden. Die das Objekt negierende Haltung des Wegwerfenden wird durch den Sammler selbst negiert. Anstatt die Deutung hinzunehmen, bedient sich der Sammler der menschlichen Eigenschaft des »Neinsagenkönners« (Scheler) und nimmt sich des Ausrangierten an. Jedoch kann dies nicht ohne Weiteres auf uneingeschränktes Wohlwollen hoffen, weshalb dem Sammler eine Außenseiterposition zukommt. Für Walter Benjamin, der selbst ein leidenschaftlicher Büchersammler war, zeigt sich in dem marxistischen Kulturwissenschaftler, Historiker, Sammler und Archivar des frühen Frankfurter Instituts für Sozialforschung Eduard Fuchs ein idealtypischer Sammler.56 Fuchs ist für Benjamin, das offenbart bereits der Titel, in erster Linie Sammler und erst danach Historiker. Er wurde vor allem durch seine Auseinandersetzung mit Karikaturen sowie erotischer Kunst bekannt, wobei für ihn seine wissenschaftliche und sammlerische Tätigkeit identisch waren. Es war sogar »der Sammler Fuchs, der den Theoretiker vieles erfassen lehrte, wozu seine Zeit ihm den Zugang sperrte«,57 was dazu führte, dass er sich mit Dingen auseinandersetzte, denen die Wissen54 55 56 57

Marquard, »Über das Ausrangierte«. Ebenda, S. 5. Vgl. hierzu: Kontny, »Eduard Fuchs«. Benjamin, »Eduard Fuchs«, S. 478.

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schaft vermutlich keine Aufmerksamkeit geschenkt hätte. Für Benjamin trägt der Sammler das Potenzial in sich, Neues aufzuspüren oder Bekanntes so zusammenzustellen, dass es bislang Unbekanntem entspricht, gerade weil er sich häufig in »Grenzgebieten« (Benjamin) bewegt.58 Mit seiner Tätigkeit versucht er bestehende Ambiguität aufzulösen und nicht beachtete oder ausrangierte Objekte integrierbar zu machen, indem er sie durch sein Sammeln würdigt. Fuchs’ Tätigkeit entspricht dem »Typus des entdeckenden Sammelns«,59 in dem die Neugier zum Akt der Auseinandersetzung mit der Welt führt. Jedoch erschöpft sich die Auseinandersetzung zumeist im Klassifizieren. Wird Sammeln zum Selbstzweck betrieben, so besitzen die Objekte für den Sammler selbst keinen unmittelbaren Gebrauchswert, denn sie werden durch den Akt des Sammelns ihrem Verwendungskontext enthoben.60 Der Sinn jedes einzelnen Objektes ist es, Teil einer Sammlung zu sein, dessen Bedeutung sich vor allem aus der Beziehung zu allen anderen Objekten und der Stellung innerhalb der Sammlung ergibt.61 Zugleich drückt der Akt des Sammelns einen dem Objekt zugeschriebenen Wert aus. Zum Beispiel kann eine Mutter die Wichtigkeit ihres Kindes durch die Aufbewahrung seiner Milchzähne ausdrücken. Sie konserviert so eine gewisse Zeit oder besser: eine Erinnerung für sich, in dem die Vergangenheit materialisiert wird.62 Ein wenig anders ist es bei dem Sammeln von Schallplatten durch einen Musikliebhaber. Auch für ihn kann jede Platte eine Erinnerung an eine bestimmte Situation darstellen. Die Platten verlieren in der Sammlung jedoch grundsätzlich nicht ihren Gebrauchswert; mag der Sammler sie auch nur selten hören. Zudem besitzen sie einen in Geld 58 So kann es passieren, dass der Sammler von Kunstwerken mit einem Mal eine ähnliche Bedeutung erlangt wie der Künstler als Erschaffer des Werkes. Letztlich wird im Akt des Sammelns dem Werk eine Bedeutung beigemessen, die den Künstler erst offiziell zum Künstler macht. Zur gleichen Zeit, darauf weist Aleida Assmann hin, konzentriert sich vor allem in Kunstrichtungen, die mit fertigen Objekten oder Müll arbeiten, die künstlerische Arbeit auf den »Akt der Auswahl« (Assmann, »Archive«, S. 226). Daher wäre zu fragen: Ist der Künstler nicht letztlich auch nur ein aufmerksamer Sammler, der der Welt seine Funde zur Verfügung stellt? 59 Marquard, »Wegwerfgesellschaft«, S. 912. 60 Hahn, »Soziologie des Sammlers«, S. 60. 61 Baudrillard, Das System der Dinge, S. 120ff. 62 Miller, Trost der Dinge, S. 201ff.

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ausdrückbaren Tauschwert. Dies gilt auch für Briefmarken oder Münzen. Diese Arten von Sammlungen können ebenso als Wertanlage verstanden werden, wobei die Wertakkumulation häufig ein Nebeneffekt für den Sammler ist. Jedoch wird in solche Sammlungen sowohl Geld als auch Zeit investiert, weshalb Sammeln als eine Variation von Konsum verstanden werden kann.63 Je seltener oder exquisiter die gesammelten Objekte sind, desto mehr stellt das Sammeln einen Luxus dar, was den Kreis der Sammler einschränkt. Sammeln als Selbstzweck ist eine Form der Liebhaberei und gleichzeitig ein Ausdruck der sozialen Position. Etwas verkürzt könnte man sagen: Das von mir gesammelte Objekt symbolisiert für mich und andere, wer und was ich bin.64 Prinzipiell sind die Felder eines (spezialisierten) Sammlers im Sinne des Selbstzwecks unendlich, da durch das Sammeln nach und nach ein Stück der mit dem Objekt verbundenen Wirklichkeit entdeckt, aber niemals entschlüsselt wird.65 Sammlungen sind zwar in einzelnen Segmenten auf Vollständigkeit angelegt und mögen sogar irgendwann ihre Möglichkeit, erweitert zu werden, erschöpft haben. Der Selbstzweck-Sammler aber wird andere Möglichkeiten finden, seinem »Trieb« nachzugehen, denn es kommt ihm letztlich nicht auf das Resultat an.66 Die Sammlung des Sammlers muss unvollständig bleiben, denn sonst würde er aufhören, ein Sammler zu sein. Insofern muss Dominik Finkeldes Kategorie des vergeblichen Sammelns,67 welche er in der Auseinandersetzung mit Walter Benjamin entwickelt, differenziert werden, als dass Vergeblichkeit im Sinne einer Unabschließbarkeit – was grundsätzlich die Sinnhaftigkeit unter Begründungszwang stellt – in der Struktur der Sammelhandlung angelegt ist. Gerade diese Eigenschaft, gepaart mit der Lust bereitenden Unvorhersehbarkeit des Sammelns, macht daraus eine sich selbst verstärkende Tätigkeit, die immer weitergeht. Dies gilt für die beiden hier unterschiedenen Formen des Sammelns (Mittel zum Zweck und Selbstzweck), die nur in ihrer ständigen Wiederholung Sinn machen. Auch der Subsistenzsammler muss immer wieder erneut zum Sammler werden, da er sonst sterben würde. 63 64 65 66 67

Belk, »Luxury consumption«, S. 479. Veblen, »Freizeit und Elite«. Hinske, »Philosophie des Sammelns«, S. 91. Stagl, »Homo Collector«, S. 47. Finkelde, »Vergebliches Sammeln«.

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Eine letzte Bedeutung des Sammelns als Selbstzweck, die erwähnt werden muss, ist die der Tätigkeit um des Tätigseins willen. Tätigsein kann ein Bedürfnis sein, worauf nicht zuletzt Hannah Arendt mit ihrem Begriff der »vita activa« beziehungsweise des tätigen Lebens hinweist. Das Tätigsein ist von zentraler Bedeutung, weil der Mensch darin eine Bestätigung der eigenen Existenz findet. Hierbei ist zunächst unerheblich, ob gearbeitet, hergestellt oder gehandelt wird. Diese Sichtweise des Sammelns lässt sich nur schwer von der Tätigkeit als Mittel zum Zweck trennen. Wenn das Tätigsein zum Selbstzweck wird, so ist es gleichzeitig aber das Mittel dazu, nicht untätig zu sein. Nur wenn die Tätigkeit des Sammelns im Vordergrund steht, fallen »vita activa« und »vita contemplativa« zusammen. Ansonsten gilt: »Die Sammlung ist keine Vorratskammer und kein Arsenal. Das Arsenal ist eine Sache des tätigen, die Sammlung eine Sache des betrachtenden Lebens.«68

Folgerungen: Sammeln als Handlungsmuster Die Ausführungen haben deutlich gemacht, dass sich zwischen Sammeln und Einsammeln unterscheiden lässt: Hierbei stellt Sammeln eine Tätigkeit zum Selbstzweck dar und Einsammeln ein Mittel zu einem anderen, dem Sammeln selbst äußerlichen Zweck. Die Unterschiede pointiert zusammenfassend kann man das Sammeln dem Bereich der Muße und das Einsammeln dem der Arbeit zuordnen. Dies leitet zu den strukturellen Gemeinsamkeiten der beiden Tätigkeitsformen über: Beim (Ein-)Sammeln hat man es mit einer unabschließbaren Tätigkeit zu tun, die weder an ein Ende geraten darf noch kann. Der Sammler würde aufhören ein Sammler zu sein, der Einsammler wäre nicht mehr. Das (Ein-)Sammeln ist keine Privatangelegenheit, sondern seiner Struktur nach auf einen öffentlichen Raum angewiesen, aus der die verstreuten Objekte entnommen werden und in dem zugleich die Tätigkeit unter den Blicken der anderen bewertet wird. Dabei trägt das In-Kontakt-Kommen mit anderen Sammlern sowie das Aufeinandertreffen mit Nicht-Sammlern zur Formung einer

68 Hinske, »Philosophie des Sammelns«, S. 89f.

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spezifischen sozialen und individuellen Sammleridentität bei, weil der Öffentlichkeit sammelnd begegnet wird. Die Angewiesenheit des Nach-Außen-Tretens beim (Ein-)Sammeln ergibt sich nicht zuletzt aus seiner Kopplung mit dem Geben. Bei den durch die Sammler zusammengetragenen Objekten handelt es sich um den vormaligen Besitz von anderen. Damit diese (ein-)gesammelt werden können, müssen sie einem überlassen, von jemandem zurückgelassen oder weggeworfen werden. Wäre diese Bedingung nicht erfüllt, hätte man es mit einem Dieb statt einem Sammler zu tun. Eine weitere Gemeinsamkeit, die jedoch zunächst eher spekulativ vermutet werden muss, ist die Außenseiterstellung des (Ein-)Sammlers, die sich in einem Kontinuum zwischen Exzentriker und Exkludiertem bewegen kann. Sie resultiert, wie bei Eduard Fuchs, aus der eindringlichen Beschäftigung mit Grenzgebieten und einer leidenschaftlichen Versunkenheit, die sich bis zum Rausch steigern kann und die Außenstehende befremden muss. Es konnte ebenso gezeigt werden, dass das Einsammeln von Objekten für bestimmte Berufe lediglich einen kleinen Teil ihrer Tätigkeit darstellt und die Bezeichnung als Sammler demnach einer Beleidigung gleichkäme. Zu guter Letzt ergibt sich die Außenseiterstellung aus dem Infragestellen der Deutung anderer, da der Sammler als Aufbewahrer das Ausrangierte würdigt und daher abweichendes Verhalten zeigt. Dies legt den Schluss nahe, dass Sammler, die nur einsammeln, eher marginalisiert werden. Eine weitere Gemeinsamkeit stellt die Unberechenbarkeit dar. Kein Sammler kann sicher sein, für seine Anstrengungen belohnt zu werden, denn das Finden ist letztlich ein glücklicher Zufall und kein planbares Ereignis. Insofern ist das Sammeln eine grundsätzlich krisenhafte Angelegenheit und zeigt nicht zuletzt darin ein Autonomie erzeugendes Potenzial, da der Sammler sich beim Sammeln ständig der Gefahr des Scheiterns aussetzt, es aber dennoch tut.

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Pfandsammeln als Krisenlösung Die Strukturanalyse des Sammelns erlaubt es, eine vorläufige Hypothese zu formulieren: Die Tätigkeit des Sammelns ist als Lösung für Krisen prädestiniert, die sich aus einer als zu stark empfundenen Schließung der Zukunftsoffenheit ergeben und weniger zur Herstellung einer existenzsichernden Basis (Unabschließbarkeit/ Unberechenbarkeit). In diesem Sinne vermag das Sammeln eine langfristige Nebenbeschäftigung – ob arbeits- oder mußezentriert – zu bieten, die in ihrem Ergebnis jedoch hochgradig unbestimmt bleibt. Dass dies für das Pfandsammeln zutrifft, konnte bereits in der Phänomenologie gezeigt werden. Zudem ermöglicht beziehungsweise erzwingt die Außenseiterstellung, die der Figur des Sammlers innewohnt, trotz der Notwendigkeit des In-Kontakt-Kommens mit Nicht-Sammlern, eine nicht vollständig zu überbrückende Distanz. Der Sammler bleibt, aufgrund der Suche nach dem Objekt, die Augen umherschweifend, in seiner eigenen Welt, obgleich er sich mitten unter Menschen befindet. Nach der hermeneutischen Betrachtungsweise der Begriffe Pfand und Sammeln sowie der Herausarbeitung der jeweiligen Strukturmerkmale wird sich im Folgenden der Innenansicht dreier »Fälle« zugewandt.

Elisabeth: »Ich muss sowieso laufen« Das vorliegende Gespräch mit Elisabeth findet im März 2010 im Hauptbahnhof einer süddeutschen Großstadt statt. Ich beobachte die Frau von etwa 70 Jahren, die im gesamten Gelände herumläuft und die Abfalleimer durchsucht. Dabei geht sie die meiste Zeit sehr diskret vor, fast schmiegt sie sich an die Behälter, sieht nur aus sicherer Entfernung hinein, ohne jedoch jedes Mal darin zu wühlen. Zu diesem Zeitpunkt trage ich eine Flasche in der Hand, nähere mich ihr und übergebe ihr meine Flasche, als sie auf meine Nachfrage, ob sie Pfand sammle, mit »Ja« antwortet. SJM: Lohnt sich das? EB: Nich ganz.

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Mit der einleitend gestellten Frage wird nach einer nicht unmittelbar für das Außen ersichtlichen Rationalität der Tätigkeit gefragt, in der Aufwand und Ertrag in einem Gleichgewicht stehen. In Bezug auf das Sammeln von Pfandflaschen ist die zunächst ins Auge fallende Kategorie die der Entlohnung, das heißt eine ökonomische. Dadurch, dass zwischen der Frage und einer möglichen Antwort eine relativ lange Pause entsteht, baut Elisabeth einen hohen Erwartungsdruck auf. Man muss annehmen, dass die folgende Antwort wohl überlegt ist, da sie nicht einfach und unreflektiert formuliert wird. Das von ihr Geäußerte ist sprachlich durchaus wohlgeformt, denn grundsätzlich ist eine Bejahung nicht zwingend. Allerdings fehlt es ihrer Antwort an Konsequenz. Sie bleibt durch das »ganz« vage; das Sammeln lohnt sich nicht wirklich, sondern nur fast. Das »nich ganz« misst sich an dem in der Frage formulierten Ziel, eine lohnende Tätigkeit zu sein, welches zu erreichen ist. Eben weil Elisabeth in ihrer Antwort keine konsequente Negation entwirft, kommt die Nichterreichung damit einer eingestandenen Enttäuschung gleich, die jedoch zu beschönigen versucht wird. Gedankenexperimentell lässt sich an einen Fahrschüler denken, der auf die Frage seiner Freunde, »Hast du die Prüfung bestanden?«, mit »Nich ganz« antwortet: Der erlebte Misserfolg muss nicht eingestanden werden, weil es ja beinahe nicht dazu gekommen wäre. Trotz allem ist der Misserfolg objektiv, die Fahrprüfung nicht bestanden. Im Gegensatz zum Fahrschülerbeispiel gibt es beim Sammeln noch die Möglichkeit eines größeren oder kleineren Erfolgs, also eines quantitativen Mehr oder Weniger, das bei der Deutung berücksichtigt werden muss. Die sich daraus ergebende Frage ist, ob es dem eigenen Verschulden anzulasten ist, dass es zur Enttäuschung kam, oder ob sich nicht zu beeinflussende äußere Einflüsse aufzeigen lassen, sodass die Verantwortung für das Scheitern nicht auf Elisabeth lastet. Auch hier baut sie sprachlich einen erheblichen Rechtfertigungsdruck auf, der den durch die Pause eingeführten noch verstärkt. Erwartbar ist nun eine wohlüberlegte und erfahrungsgesättigte Aussage darüber, warum sie der Tätigkeit nachgeht, obgleich sie anscheinend einen Misserfolg darstellt. Die im Folgenden von mir wiederholte Aussage von Elisabeth verstärkt eine solche Erwartung: SJM: Nich ganz? EB: Es is nur so, ähm, ich muss sowieso laufen.

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Der Grund für die ausbleibende Enttäuschung ist einfach: Es kommt Elisabeth nicht auf den ökonomischen Erfolg an, sondern in erster Linie auf die mit der Tätigkeit zusammenhängenden Bewegung. Gewissermaßen ist das Sammeln eine Nebenerscheinung der notwendigen Laufbewegung. Auffällig ist jedoch, dass sie diese Erklärung wie eine Entschuldigung einleitet: »Es ist nur so.« Gerade weil sie »sowieso laufen« muss, das heißt dazu gezwungen ist, sich zu bewegen, kann es auch egal sein, ob sich die Tätigkeit des Sammelns lohnt oder nicht. Das Sammeln von Pfandflaschen ist gewissermaßen eine Zusatzbeschäftigung zu einer anderen, die gezwungenermaßen ausgeführt werden muss. Die Entschuldigung bezieht sich damit auf eine wenig leistungsorientierte Einstellung gegenüber dem Sammeln, mit der zuvor das Gespräch gerahmt wurde. Vermuten lässt sich, dass der Bewegung aus gesundheitlichen Gründen nachgekommen werden muss, etwa um den Kreislauf in Schwung zu halten oder drohendem Übergewicht vorzubeugen. Sollte diese Vermutung stimmen, dann ist auffällig, dass diese Begründung der Bewegung alleine nicht ausreicht, sondern dieser eine Zusatzbetätigung wie das Flaschensammeln hinzugefügt wird. Spazierengehen, Laufen um des Laufens willen, Flanieren ist vielleicht neben der auf die Ästhetik gerichteten Wahrnehmung der Idealtypus von Muße, also interesselosem und zweckfreiem Handeln.69 Umherschweifen oder Abdriften ist, wie Guy Debord dargestellt hat, eine Art willentlicher Kontrollverlust, da das Sich-treiben-Lassen dem Raum und dem Zufall Einfluss gewährt, der gerade durch rationale Planung minimiert werden soll.70 Mit dem Problem des Umherschweifens ist das Problem der Freiheit eng verbunden, da grundsätzlich eine Orientierung an bereits etablierten Strukturen beziehungsweise habituellen Gewohnheiten nur bestimmte Variationen des Immergleichen zulassen. Muße heißt demnach, sich frei zu machen von Bekanntem und neue Erfahrungen zuzulassen. Dem fügt Elisabeth eine Tätigkeit hinzu, bei der etwas geleistet werden kann und sich die Leistung sogar in Geldwert ausdrücken lässt. Tätigkeiten scheinen für sie nur dann gerechtfertigt, wenn sie beziffert werden können. Dies geschieht entweder im Sinne der ökonomischen 69 Vgl. Oevermann, »Struktureigenschaften künstlerischen Handelns«. 70 Debord, Guy, »Théorie de la dérive«, La Revue des Ressources, 29. 11. 2011, http://www.larevuedesressources.org/theorie-de-la-derive,038.html [20. 03. 2013].

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Teilhabe am gesellschaftlichen Ganzen, das heißt Geld verdienen oder ausgeben, oder aber im Setzen präziser Ziele, die es notwendig zu erreichen gilt. Ein mehr oder weniger zielloses Umherschweifen, dessen Ziel in der Bewegung selbst liegt, ist nicht vorgesehen. Interessant ist, dass sie nicht etwa die zurückgelegten Kilometer zählt. Allerdings bleiben ja auch diese notwendigerweise abstrakt und »nicht greifbar«. Indem sie argumentativ das Spazierengehen zu einer Notwendigkeit macht, da sie ohne diese Bewegung keine Flaschen sammeln gehen und folglich kein Geld verdienen könnte, dreht Elisabeth sozusagen den Spieß um. Durch das Flaschensammeln erfindet sie sich eine Tätigkeit hinzu, unter deren Vorwand sie das Spazierengehen vor sich und anderen rechtfertigen kann. In diesem Falle kann die Unterstellung, sie würde einer Handlung aus Muße nachgehen, zurückgewiesen werden. Als sinnvoll kann das Spazierengehen erst angesehen werden, sobald ihm eine Tätigkeit hinzugefügt wird, die zweckrationalen Kategorien entspricht. Im Folgenden wird diese Ausdeutung positiv bestätigt: SJM: Ja. EB: Und denn guck ich halt automatisch. Des is nur automatisch dann. Wenn was drin is, nehm ich und sonst.

Das Pfandsammeln ist eine Nebenbeschäftigung des Laufens beziehungsweise Spazierengehens und nicht etwa das Laufen ein notwendiges Übel des Pfandsammelns. Allerdings ist der durch die Wortwahl auftretende Bruch in ihrer Erzählung frappierend, weil sie das Sammeln als einen reinen Automatismus darstellt. Wenn sich aber Sammeln als die routinierte Lösung einer Krise darstellt, dann ist der Automatismus etwas, das am Ende eines Entwicklungsprozesses steht. Die Suche nach Pfandflaschen ist das Sichtbarmachen der abwesenden Flasche, deren Existenz jedoch bekannt ist. Es handelt sich demnach um eine geplante und teilweise organisierte Tätigkeit. Im Finden, welches das Sammeln abschließt, wird die Flasche sichtbar gemacht. Um aber überhaupt als solche erkannt zu werden, benötigt es einen Prozess der Wissensaneignung. Für Elisabeth muss das Pfandsammeln demnach entweder die vorgeschobene Entschuldigung sein, spazieren zu gehen, was einer negierenden Haltung gegenüber Mußehandlungen entspricht, oder aber es stellt die Lösung einer Krise dar, die mit dem Laufen alleine nicht zu bewältigen wäre. Die Darstellung des Sammelns als einer automatischen Handlung ermöglicht es Elisabeth, ein Differenzierungskriterium zur Handlung 86

als Muße einzuführen: Sie ist keine Sammlerin im alltäglichen Verständnis des Wortes, sondern eine Technikerin, die routiniert ihre Handlungen ausführt, indem sie gewissermaßen ein Programm abspult. Der Vergleich von »automatisch« mit einer Maschine, die vollkommen frei von jeglichen Emotionen fremdgesteuert arbeitet, bietet sich hier an. Maschinen, so könnte man sagen, auch wenn es heute nicht mehr ganz so eindeutig zu sein scheint, haben keinen eigenen Willen, sondern sind von den Anweisungen und der Programmierung durch den Menschen abhängig. Zur gleichen Zeit, das jedoch nur am Rand, ist es gerade unser alltäglicher Umgang mit diesen Maschinen und Dingen, die auf die Handlungsfreiheit des Menschen zurückwirken und strukturierend in seine Handlungen eingreifen.71 Elisabeth führt auch diese Abgrenzung wieder als eine Entschuldigung ein: »nur automatisch«, als wenn für sie die Notwendigkeit bestünde, sich von ihrem eigenen Willen distanzieren zu müssen. Nicht sie entscheidet darüber, ob sie die leere Flasche an sich nimmt, sondern sie geht wie fremdgesteuert dieser Tätigkeit nach, indem der Automatismus eine Grenze zwischen ihr als fühlendem, emotionalen Menschen und dem Sammeln schafft. Die Notwendigkeit dieser Distanz wird mit der nächsten Äußerung erklärbar: »Wenn was drin is.« Das »drin« bezieht sich als Angabe eines Ortes ohne Zweifel auf den Abfallbehälter, aus dem die Flasche herausgenommen werden muss. Der Automatismus, der Umgang mit dem eigenen Körper wie mit einer gut laufenden Maschine, erfüllt die Funktion, die Handlung auf Distanz zur eigenen Person zu bringen, die aus dem Umstand erfolgt, mit gesellschaftlich Ausgestoßenem, mit Müll in Kontakt zu kommen.72 Gleichzeitig erklärt dies ihre entschuldigende Haltung, mit der deutlich gemacht werden soll, dass sie selbstverständlich nicht zum Vergnügen in Mülleimern wühlen würde. Die Fähigkeit zur Distanznahme wird hier wie der Teil einer professionellen Identität qualifiziert. Es ist nicht so sehr die Fähigkeit, mit Schmutz umzugehen, sondern eher stellt die Selbstwahrnehmung als Automat eine positive Eigenschaft dar, die für das Sammeln von Pfandflaschen konstitutiv scheint: Um die Tätigkeit ausführen zu kön71 Vgl. hierzu: Baudrillard, Das System der Dinge. 72 Dant, Tim/Bowles, David, »Dealing with Dirt: Servicing and Repairing Cars«, Sociological Research online, http://www.socresonline.org.uk/8/2/dant.html [20. 03. 2013].

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nen, bedarf es einer extremen Form von Selbstdistanzierung und Emotionslosigkeit, damit man, ohne mit der Wimper zu zucken, in die Abfalltonne greifen und sich dabei gleichzeitig von anderen Menschen zusehen lassen kann, eines Sich-für-nichts-zu-schade-Seins, solange nur etwas dabei herum kommt. Dieser zur Schau gestellte Habitus lässt sich bei Menschen finden, die im gesellschaftlichen Produktionsprozess nicht mehr benötigt werden, sich aber trotzdem anbieten wollen. Diese Form der Selbstaufgabe erinnert an bekannte Fotos von Arbeitssuchenden in der Weimarer Republik während der Weltwirtschaftskrise, die mit umgehängten Schildern auf der Straße stehend ihre Arbeitskraft anbieten. Dieser Habitus drückt die unbedingte Bereitschaft aus, sich notfalls für Arbeit zu erniedrigen und keinerlei individuelle Ansprüche zu stellen. All dies, um sich dadurch ein Mindestmaß an gesellschaftlicher Anerkennung und Teilhabe zu ermöglichen. Wie Siegfried Kracauer bei seinen Beobachtungen von Arbeitsvermittlungsstellen in der Weimarer Republik festgestellt hat, gelten die Werte und Gesetze der Arbeit vor allem uneingeschränkt dort, wo man von ihnen ausgeschlossen ist.73 Auch Elisabeth kann ja, wie gezeigt worden ist, das Spazierengehen nur rechtfertigen, indem sie es als Notwendigkeit innerhalb eines Prozesses darstellt, der am Ende mit Geld beziffert werden kann. SJM: Warum müssen Sie laufen? EB: Wegen meine Füße. Der Doktor sagt, ich muss laufen. Nich immer daheim sitzen.

An dieser Stelle wird das Laufen als eine Gesundheitsmaßnahme dargestellt, die sogar vom »Doktor« verordnet wurde, also einer wissenschaftlich ausgebildeten Autorität, deren Anweisungen man Folge zu leisten hat. Es scheint fast ihrer Argumentation angemessen, dass es letztlich der Doktor ist, der die Verantwortung dafür trägt, dass sie nun Flaschen sammelt. Die eigene Gesundheit als ein Wert an sich, der das Laufen ohne Zweifel rechtfertigen würde, zählt für Elisabeth allerdings nicht, sondern muss durch etwas »aufgefüllt« werden. Ist es jedoch gerade die Bewegung, die ihr der Arzt verschrieben hat, so scheint das Sammeln eher kontraproduktiv zu sein, da die tatsächliche Bewegung eher ein abwechselndes Stehen und Laufen, niemals aber eine lang andauernde Laufbewegung ist. Mit der Orientierung an einer 73 Kracauer, »Über Arbeitsnachweise«, S. 34.

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Tätigkeit, die Geld einbringt und sich daher an Erwerbsarbeit ausrichtet, die eigene Gesundheit dabei aber als weniger wichtig kennzeichnet, ist die Aufrechterhaltung einer anerkennungswürdigen Individualität ganz auf äußere Umstände fokussiert. Erwerbsarbeit nachzugehen kann als Zeichen der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft angesehen werden, deren gemeinsam geschaffener Wert sich zum Beispiel im Bruttoinlandsprodukt ausdrückt. Derjenige, der in die Erwerbsarbeit integriert ist, befindet sich in einer »abgeschlossenen Sphäre der Vertrautheit«,74 gehört zum engen Kreis der Leistungsfähigen. Nur vor diesem Hintergrund kann von der Allgemeinheit Anerkennung eingefordert werden. Des Weiteren zeigt sich in dieser Sequenz, dass das Problem, welches durch das vom Doktor verordnete Laufen gelöst werden soll, über »meine Füße« hinaus zu reichen scheint. »Nich immer daheim sitzen« muss im Sinne des Sichverkriechens verstanden werden, entspricht also einem Problem von sozialer Vereinsamung. Man mag sich vorstellen, dass der Arzt Elisabeth mit der Verordnung vor allem dazu anhalten will, aus dem Haus und damit unter Menschen zu gehen, um einer möglicherweise mit der Vereinsamung zusammenhängenden depressiven Stimmung vorzubeugen. Allerdings gibt es für Elisabeth keine zweckfreie oder interessenlose Tätigkeit, die jenseits von entlohnter Arbeit angesiedelt wäre. Folglich kann sie auch den Aufenthalt unter Menschen nicht als sinnvoll ansehen. Nur durch eine arbeitsähnliche Tätigkeit scheint es ihr möglich, sich selbst in gewisser Weise aufzuwerten beziehungsweise ihr Umherschweifen als eine sinnvolle Tätigkeit zu betrachten. Es manifestiert sich hier der Habitus eines Lebens, das nur Lohnarbeit als Sinnerfüllung kennt und wenig Rücksicht auf das eigene Wohlergehen nimmt.

Thomas: »Hängt man nich in der Wohnung rum« Das Gespräch mit Thomas wird Ende März 2007 vor einer Diskothek in einer mittelgroßen Stadt in Nordrhein-Westfalen geführt und dauert etwa 1,5 Stunden. Ich spreche Thomas an, als er gerade dabei ist, wenige Meter von mir entfernt eine Flasche aufzuheben. Kurz zuvor 74 Plessner, Grenzen der Gemeinschaft, S. 45.

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kann ich beobachten, wie er an einem anderen Flaschensammler vorbeigeht, der wenige Meter von mir entfernt ebenfalls Flaschen sammelt. Thomas bemerkt ihn, sieht ihn an, geht jedoch an ihm vorbei, ohne dass sie miteinander sprechen. Da es im Folgenden um Thomas’ Deutung des Flaschensammelns geht, wird der Anfang des Gesprächs übersprungen, und ich befasse mich umgehend mit der Antwort auf die Frage, ob sich das Sammeln lohne. Meine zuvor gestellte Frage nimmt Bezug auf den anderen Flaschensammler und unterstellt, dass die starke, unmittelbar zu beobachtende Konkurrenz den Ertrag so erheblich mindern würde, dass der gesamte Sinn der Tätigkeit infrage gestellt würde. Natürlich unterstellt diese Art der Fragestellung direkt, dass es zum einen beim Sammeln ausschließlich um Geld geht und zum anderen, dass die Erträge dieser Tätigkeit minimal sein müssen. Thomas entgegnet im Folgenden: T: Na wenn man nur dreihundertfünfundvierzig Euro kriegt im Monat. SJM: Ach, kriegen sie Hartz IV oder was? T: Wenn man zweihundert Euro da extra machen kann, is viel Geld, ne.

Die Angabe von »dreihundertfünfundvierzig Euro« steht stellvertretend für die Angabe des Sozialstatus eines Empfängers von Arbeitslosengeld II (Hartz IV).75 Ich will hier nicht so weit gehen anzunehmen, dass Thomas das Pfandsammeln als die von der Regierung geforderte Eigeninitiative versteht. Die Antwort kann viel eher dahingehend verallgemeinert werden, dass für denjenigen, dem wenig Geld zur Verfügung steht, die Tätigkeit lohnenswert ist. Im Umkehrschluss wäre für Thomas ein solches Verhalten von Menschen, denen ausreichend Geld zur Verfügung steht, jedoch erklärungsbedürftig. Es kann davon ausgegangen werden, dass im weiteren Verlauf des Gesprächs noch genauer ausgeführt werden wird, wie viel Geld denn von ihm als ausreichend angesehen wird, weil er dies eingangs erwähnt und es damit kommunikativ anschlussfähig macht. Mit dem Hinweis, dass er mit dem Flaschensammeln Geld »extra machen kann«, wird verdeutlicht,

75 Die »Hartz-Gesetze« gehören zu den umstrittensten Gesetzesänderungen der Regierung unter Bundeskanzler Schröder und können hier nicht im Einzelnen nachgezeichnet werden. Das Leitbild dieser am Neoliberalismus orientierten Arbeitsmarktpolitik ist: »Eigenaktivitäten auslösen und Sicherheiten einlösen« (Schmid, »Dienstleistungen am Arbeitsmarkt«, S. 3; vgl. auch: Seifert, »Was bringen die Hartz-Gesetze«).

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dass es sich hierbei nicht um seine Haupteinnahmequelle handelt: Diese stellt das »Hartz-IV-Geld« dar. Zu erinnern sei an die oben formulierte Überlegung, dass es gerade die Existenz sozialer Sicherungssysteme ist, die die Hinwendung zu einer solch stigmabehafteten Tätigkeit mit Fragen belastet. Dass es sich beim Pfand- oder Müllsammeln nicht um die einzige Einnahmequelle handelt, betont auch Martin Medina.76 Allerdings kann für die in den USA durchgeführte Untersuchung nicht von einem ausgebauten Sozialnetz ausgegangen werden. Dort herrschen Prekaritätsstrukturen, in denen Arbeitnehmer mehreren Tätigkeiten zur gleichen Zeit nachgehen, wie sie in Europa erst seit Mitte der 1990er Jahre bekannt sind.77 Geld »machen« drückt, wie bereits angedeutet, eine gewisse Leichtigkeit aus, eine Art Glück und eine Unvorhersehbarkeit des Ertrags. Eine solche Formulierung erscheint für den Bereich des Spiels angemessen, ebenso wie für nicht-formell geregelte Arbeit, wo der Ertrag nicht von vornherein feststeht; im Gegensatz dazu würde »Geld verdienen« eher eine Sicherheit ausdrücken. Im ersten Fall kommt es auf eine eigene Vorleistung an, nämlich zum Beispiel aufgrund guter Arbeit an eine andere Privatperson weitervermittelt zu werden oder einen kühlen Kopf bewahrt zu haben, als es darauf ankam. Genauso spielt aber ein Quäntchen Glück und die Lust am Abenteuer mit hinein; in diesem Sinne wäre »Geld machen« mit Sammeln als Selbstzweck vergleichbar. Entgegen einer Entlohnung, die sich an der formal abgeleisteten Arbeitszeit orientiert, steht beim Geld »machen« die eigene Leistung des Individuums im Vordergrund. So kann es beim Geld »machen« dazu kommen, dass man selbst sein Möglichstes gegeben hat, jedoch irgendetwas dazu geführt hat, dass man trotzdem nicht viel verdient. Dass dieser Tätigkeit trotz allem nachgegangen wird, liegt also nicht nur an der anschließenden Entlohnung, sondern das »Machen« des Geldes, das Unter-Beweis-Stellen des eigenen Geschicks und Könnens, ist hier ein ebenso ausschlaggebender Punkt; dem Sammler kommt es in diesem Fall nicht nur auf das glückliche Ereignis des Findens an.78 Aus der Aussage ist zu lernen, dass mit dem zusätzlichen Geld nicht das eigene Überleben gesichert werden muss. Den Kontext der Sozial76 Medina, »Scavenger Cooperatives«, S. 237. 77 Vgl. hierzu: Sennett, Kultur des neuen Kapitalismus. 78 Sommer, Suchen und Finden, S. 43f.

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position ausklammernd, muss das Geld, das »extra« gemacht werden kann, zunächst also überschüssig ist, als Luxus oder neutraler: Annehmlichkeit interpretiert werden. Allgemein dient Extrageld der Erhöhung der Lebensqualität beziehungsweise des Lebensstandards. Durch dieses Geld erweitert Thomas nun ganz konkret seine Handlungsmöglichkeiten und bringt damit zum Ausdruck, dass seine Vorstellung von einem angenehmen Leben nicht mit den von Hartz IV zur Verfügung gestellten Mitteln zu finanzieren ist. Insofern drückt sich hier empfundene Unfreiheit aufgrund von Geldmangel aus.79 In Bezug auf die soziale Position eines Hartz-IV-Empfängers könnte das »Extrageld« bedeuten, sich auch mal was leisten zu können, ohne zugleich seine Existenz zu gefährden. In diesem Sinne stellt das Pfandgeld einen Freiheitszuwachs dar. Im weiteren Gesprächsverlauf berichtet Thomas über sein Verhältnis zu anderen Flaschensammlern. Wie eingangs erwähnt, traf Thomas vor Beginn des Gesprächs auf einen anderen Sammler, ohne dass es zu einem verbalen Austausch oder zu einem nonverbalen Gruß gekommen wäre. Diese Beobachtung lässt vermuten, dass das Sammeln von Pfandflaschen nicht notwendigerweise gemeinschaftsbildend wirkt. Zu seiner Bezugsgruppe unter den Flaschensammlern gehören Bekannte, die er aus anderen Zusammenhängen kennt. Hierbei handelt es sich nicht um gute Freunde, sondern um einen mehr oder weniger festen Kreis von Personen, die sich »vom Vornamen« kennen. Dieser Kreis rekrutiert sich aus Menschen, die sich von den warmen Mahlzeiten der Heilsarmee oder aus dem Rahmen anderer sozialer Hilfe kennen; es handelt sich um sozial schwächer Gestellte, wie zum Beispiel Obdachlose. Auch er, so berichtet er im Folgenden, war vor einiger Zeit selbst noch obdachlos, lebt zum Zeitpunkt des Gesprächs aber von Hartz IV und hat eine eigene Wohnung. Seine frühere Obdachlosigkeit erklärt nicht nur, warum er Möglichkeiten kennt, wo man »schön umsonst essen« kann, sondern auch seinen Hang zur Sparsamkeit beziehungsweise das Wissen darüber, wo und wie Geld eingespart werden kann. Wenn man Gedan79 »Man fühlt sich frei, wenn die Vorstellungen nicht über die aktuellen Bedürfnisse hinausgreifen und beide nicht die Grenze der eigenen Handlungsmöglichkeit überschreiten.« (Bauman, Flüchtige Moderne, S. 26) In einer massenmedial durchdrungenen Alltagswelt wäre zu fragen, ob eine wahre Freiheit – im Sinne von stillstellbaren Bedürfnissen – überhaupt noch möglich ist.

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kenlosigkeit und verschwenderisches Handeln als das Gegenteil von Sparsamkeit identifiziert, so versteht man, dass, wer auf der Straße überleben will, sich ein solches Verhalten nicht leisten kann. Sparsamkeit in diesem Sinne ist kein ökonomischer Selbstzweck, »sondern steht im Dienst einer sinnvollen Lebenserfüllung«.80 Das Wissen um die Einsparmöglichkeiten strukturiert in gewisser Hinsicht das Leben von Thomas: T: Und wenn ich ein Abendbrot spare, sagen wa, das sind fünf Euro vielleicht, die ich nich ausgeben brauch. Dann gibt’s n X-Städter Tisch, kann ma auch schön umsonst essen, Dienstag, Donnerstag, Samstag. Sonntag kann man auch bei der Heilsarmee hingehn abends. Des einzige Montag. Montag is gar nichts. Aber sonst kann man eigentlich jeden Tag zumindest eine Mahlzeit umsonst kriegen, irgendwo. Also das hilft.

Seine Sparsamkeit zeigt hier mehrere Variationen: Zunächst wird von Geld gesprochen, dass er »nich ausgeben braucht«. Hiermit wird nicht Geld bezeichnet, welches er nicht hat, weshalb er sich selbst nicht als jemanden darstellt, der grundsätzlich Geldsorgen hat. Dies scheint er mit der Ästhetisierung des sparsamen Haushaltens zu rechtfertigen, das sich im Verweis darauf findet, dass etwas »schön umsonst« sei. Am Ende des Zitats hebt er seine soziale Lage hervor, die ihn gewissermaßen gerade zum Sparen zwingt und wodurch er wiederum Unfreiheit aufgrund von Geldmangel ausdrückt: »Also das hilft.« So helfen ihm die kostenlosen Angebote von Hilfeorganisationen trotz seiner finanziellen Lage, die, bedingt durch die Arbeitslosigkeit beziehungsweise den Empfang von Hartz IV, eingeschränkt ist, auf diese Weise Geld einzusparen, welches er anderweitig ausgeben kann. Wiederholt werden muss, dass es jedoch nicht für Existenzielles ausgegeben werden braucht. Mag dies hier auch nicht zur Sprache kommen, so haben wir einen ersten Hinweis auf eine Begründung für die Betätigung als Flaschensammler, die ihn mit zusätzlichem Geld versorgt. Auffallend ist sein Verhalten vor dem Hintergrund der veränderten Lebenssituation: Seit dem Ende der Obdachlosigkeit scheint er seine Gewohnheiten nur wenig verändert zu haben. Noch immer geht er an die gleichen Orte, verbringt seine Zeit mit den gleichen Menschen. Die in den Gewohnheiten zum Ausdruck kommende aufrechtgehaltene Verbindung zwi80 Bollnow, Tugenden, S. 43.

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schen diesen beiden Lebensabschnitten stellt, im Sinne einer erzählbaren Geschichte, für sein Leben eine Kontinuität her. Ebenso gilt dies für die Betätigung als Flaschensammler: T: Ja. Trennung, ja hab ich, irgendwo hab ich das nich verkraftet, ja dann kam der Absturz. SJM: Wie lang is das her? T: Das is jetzt äh zweitausend. So Flaschen sammeln tu ich jetzt vier Jahre.

An dieser Stelle entwirft Thomas das Bild eines einsamen Menschen: Zum einen ist dies dem Umstand geschuldet, dass er intimste Lebensumstände einer völlig fremden Person berichtet, die ihn nicht explizit dazu aufgefordert hat. Zum anderen sind es aber auch die Verweise auf seine Bekanntschaften mit zum Beispiel Obdachlosen, seine Arbeitslosigkeit, die einhergeht mit bestimmten Entbehrungen, und eine »Trennung«, die ihn völlig aus der Bahn geworfen hat. So lassen seine Ausführungen vermuten, dass er noch immer mit einem Bein in der Obdachlosigkeit steht, in die auch das Pfandsammeln gehört. Der Weg auf die Straße, die Zeit auf der Straße und der Weg von der Straße weg sind für ihn auf das Engste mit dem Flaschensammeln verbunden: Es ist also gerade die Funktion des Sammelns für ihn die Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart herzustellen und damit überhaupt die Möglichkeit, seiner Lebensgeschichte eine Konstante zu geben. Der öffentliche Charakter des Sammelns stellt dabei eine Verbindung zum Rest der Gesellschaft her beziehungsweise lässt diese nicht abreißen und bietet daher, zumindest potenziell, die Möglichkeit sozialer Eingebundenheit.81 So berichtet er über eine Begebenheit während der öffentlichen Übertragung eines Fußballspiels der WM 2006, während der Deutschland sich für kurze Zeit in das Land verwandelte, »wo Flaschen aus dem Boden wachsen«:82 81 Neben anderen Bereichen wie Kultur oder den Institutionen zeichnet sich die Ausgrenzung sozial schwächer Gestellter häufig durch »gesellschaftliche Isolation« (Kronauer, »Underclass« S. 63) aus. Christine Morgenroth schreibt: »Dem Leben Arbeitsloser fehlen vor allem Zeitstruktur und soziale Anerkennung als mentale Haltepunkte für eine sinnvolle persönliche Existenz.« (Morgenroth, »Arbeitsidentität«, S. 20) 82 Diesen Satz sagte Thomas einmal in einem anderen Gespräch, das weder aufgenommen noch in einem Beobachtungsprotokoll festgehalten ist: Es handelte sich um ein sehr persönliches Gespräch, das mit der Flaschensammler-Thematik nur noch entfernt zu tun hatte und daher auch nicht weiter verwandt wurde.

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T: […] Letztes Jahr zur Fußballweltmeisterschaft, da war’s Wahnsinn. Da war hier, war hier, hatten die hier, da war’n Bildschirm, da war’n Bildschirm aufgebaut, ne. Da warn so viele Flaschen, die kriegt ich gar nich alle weg. Und da stand da Bereitschaftspolizei, da hab ich meine Flaschen hingestellt, die sind ja froh, dass man se einsammelt, dass se nich einer noch vorn Kopp kriegt oder so, ne. Da hab ich meine Taschen hingestellt, da wusst ich genau, da kommt ja nix weg, ne. SJM: Bei der Polizei. T: Die warn, die, die ham gesagt »Sammel alles ein. Alles was de siehst, sammel alles ein.«

Die Eindrücke der Fußball-WM müssen für den Sammler geradezu überwältigend, ja aufgrund ihrer schieren Ungeheuerlichkeit geradezu sinnenbetäubend gewesen sein: Thomas fällt es auch zum Zeitpunkt des Gesprächs noch schwer, die herrschenden Zustände klar in Worte zu fassen: »Wahnsinn. Da war hier, war hier, hatten die hier.« Gerade das außeralltägliche Beispiel der Fußball-WM macht deutlich, dass der Gewinn beim Flaschensammeln – und dies muss letztlich für alle Arten des Einsammels gelten – nicht zuallererst auf der eigenen Leistung aufbaut, sondern vor allem darauf, dass viel zum (Ein-)Sammeln da ist: »Die kriegt ich gar nich alle weg.« Gerade dies ist ein prägnantes Beispiel für das dem Sammeln innewohnende Strukturmerkmal der »Unvorhersehbarkeit«. Im weiteren Fortgang der Aussage wird das Sammeln als gute Tat für andere gedeutet. So sei dies etwas, über das die anderen »ja froh« seien. Dies wird damit begründet, dass das Flaschensammeln ebenso als Schutzmaßnahme für die Allgemeinheit interpretiert wird: »dass se nich einer noch vorn Kopp kriegt«. Hierbei handelt es sich, der Aussage folgend, nicht um die eigene Deutung, sondern er gibt hier lediglich die Perspektive Dritter wieder. Diese erachteten die Tätigkeit als sinnvoll und nützlich. Zum einen bietet der Verweis auf die Sichtweise anderer Thomas die Möglichkeit, die positiven Aspekte des Sammelns hervorzuheben, die möglicherweise dem Gesprächspartner entgehen könnten. Zum anderen kann er dies tun, ohne dabei sich selbst in den Vordergrund stellen zu müssen und es möglicherweise wie Aufschneiderei aussehen zu lassen. Dies verleiht der Aussage mehr Nachdruck. Vor allem vor dem Hintergrund, dass er sich auf die staatliche Gewalt in Gestalt der »Bereitschaftspolizei« bezieht, der er quasi zur Hand geht. Auffallend ist nun allerdings, wie Thomas diese anscheinend entgegengebrachte Anerkennung der anderen mitgeteilt wird: »Sammel al95

les ein. Alles was de siehst, sammel alles ein.« Die der Bereitschaftspolizei zugeschriebene Aussage stellt einen Befehl dar. Ein solcher Satz kann nur von jemandem verwendet werden, der hierarchisch über dem Angesprochenen steht beziehungsweise sich diesem gegenüber höherwertig fühlt. Nicht zuletzt zeigt sich diese Asymmetrie in dem Umstand, dass Thomas von den Polizisten geduzt wird.83 Aus seiner Position heraus geben diese die Regeln vor, nach denen das »Spiel« abläuft. Nur dieser Position im Gesamtgefüge steht die Befugnis zu, diesen Satz zu äußern. Thomas unterstellt hier einem im Weber’schen Sinne legal Herrschenden (Polizist), man würde ihm eine Freude machen oder Arbeit abnehmen, wenn man seine Befehle befolgt. Er verkennt dabei allerdings die Tatsache, dass der Vorgesetzte niemals selbst die Tätigkeit ausführen würde, zu der er den Befehl erteilt. Sonst würde er aufhören, Vorgesetzter zu sein. Bei diesem Vorgesetzten handelt es sich um einen Polizisten, also um einen geschulten Fachbeamten, der seine Arbeit »ohne allen Einfluß persönlicher Motive oder gefühlsmäßiger Einflüsse, frei von Willkür und Unberechenbarkeiten«84 ausführt. Die ausgesprochene Formulierung spiegelt hier einen Befehl zu einer bestimmten Handlung wider: Dem Befohlenen wird dadurch von vornherein die Möglichkeit der freien Entscheidung entzogen. Wenn Thomas im Folgenden die Flaschen einsammelt, dann stellt dies die Befolgung eines Befehls dar. In diesem Sinne könnte man die Aufforderung des Polizisten lesen als »Mach dich gefälligst nützlich.« Dass Thomas diese Art der Adressierung umdeutet in einen Gefallen, den er dem Polizisten tut, und noch dazu in eine gute Tat für die Allgemeinheit, zeigt einerseits die durchscheinende Anerkennung der legitimen Herrschaft der Polizei, der er sich, ohne zu widersprechen, fügt, und andererseits seine Bereitschaft, grundsätzlich für die Allgemeinheit tätig zu sein. Im Weiteren zeigt seine Aussage, wie er selbst seine Rolle in der Öffentlichkeit wahrnimmt. Sie ist geprägt durch anständiges und unauffälliges Verhalten. So beschreibt er, nachdem über die Fußball-WM und die dort anfallenden »Flaschenmassen« gesprochen wurde, das Abgeben der gesammelten Flaschen im Supermarkt wie folgt:

83 Besch, Anrede, S. 56ff. 84 Weber, Herrschaft, S. 476.

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SJM: […] Aber ich meine, wird man da nich schief angeguckt oder so? T: Nee, warum? Wieso? Ich gebe ganz ordentlich meine Flaschen ab, da sind ja Automaten, ne. Die Flaschen alle rein, Bon raus, dann geht man zur Kasse hin, und dann holt man sein Geld. Was wolln, was solln die sagen? Man is Kunde wie jeder andere.

Zunächst einmal wird in der Frage unterstellt, das Abgeben von vielen Flaschen könnte Probleme mit sich bringen, die es rechtfertigen würden, »schief angeguckt« zu werden. Dies lässt sich zum einen damit erklären, direkt als Sammler identifizier- und dadurch stigmatisierbar zu werden. Zum anderen ist es einleuchtend, dass die Abgabe großer Flaschenmengen längere Zeit in Anspruch nimmt und dadurch die zur Verfügung stehenden Automaten für weitere Kunden blockiert werden. Die völlige Automatisierung des Abgebens im Fall von Thomas macht es möglich, gar nicht erst »schief angeguckt« werden zu können. Vor dem Automaten tauscht er die Rolle des Flaschensammlers ein und »is Kunde wie jeder andere«. Dass dieser Rollenwechsel jedoch auch von ihm als notwendig artikuliert wird, um eben nicht »schief angeguckt« zu werden, macht die Allgegenwärtigkeit der Möglichkeit von Stigmatisierung deutlich. Noch dazu zeigt er, dass ein scheinbar verbreitetes Deutungsmuster auch für ihn gilt: Thomas würde durchaus verstehen, »schief angeguckt« zu werden, würde man erkennen können, dass es sich bei ihm um einen Pfandsammler handelt, nicht jedoch als Kunde. Die Sammler kreieren um sich herum keinen sozial luftleeren Raum, in dem das Pfandsammeln umstandslos positiv konnotiert ist, sondern sie sind sich durchaus der Deutung ihrer Tätigkeit durch andere bewusst und erachten diese bis zu einem gewissen Grad für legitim. Dieses Phänomen, bei dem die Missachtung einer sozialen Position von Inhabern einer solchen Position geteilt wird, ist aus Studien über die Vorurteile gegenüber Erwerbslosen bekannt. Die durch die Öffentlichkeit zugeschriebenen Attribute, wie zum Beispiel Faulheit oder fehlender Anpassungswille, werden von den meisten Erwerbslosen ebenfalls verurteilt. Schmarotzertum wird von den Befragten missachtet, ohne jedoch zu hinterfragen, ob diese Deutung überhaupt Gültigkeit beanspruchen kann.85 Mit dem oben genannten Hinweis, es handele sich um eine nützliche Tätigkeit für die Allgemeinheit, haben

85 Moser, »Sozialschmarotzer«, S. 331ff.

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wir bereits ein verbreitetes Legitimationsmuster von Pfandsammlern herausgearbeitet, um ihre Tätigkeit gegen die negativen Deutungen von außen abzuschirmen. Mit dem Verweis auf die »Automaten« wird deutlich, dass das Abgeben vollkommen anonym vonstatten geht; man könnte auch sagen: »Automaten« haben keine Augen. Die Auszahlung durch den vorgelegten »Lohnstreifen« in Form des Bons aus dem Automaten negiert zur gleichen Zeit für Thomas die Möglichkeit, »schief angeguckt« zu werden. Er verschwindet in der gesichtslosen Masse der anderen Kunden. Gleichzeitig wird damit aber auch die öffentliche Anerkennung durch die Allgemeinheit für eine doch scheinbar gute Tat unmöglich gemacht, denn Thomas leugnet gewissermaßen seine eigene Tat. Dies wiederum wäre nicht nötig, wenn es sich um eine weitgehend gesellschaftlich anerkannte Tätigkeit handeln würde. Als Kunde wie jeder andere, so könnte man es ausdrücken, ist er weder diskreditierbar, noch kann er bejubelt werden, weil er sich unkenntlich gemacht hat.86 In dieser Darstellung von Thomas erinnert der Pfandsammler an Superhelden wie Spiderman, Batman oder Zorro, die im öffentlichen Raum ihre guten Taten vollbringen, dies jedoch maskiert, um dann wieder in den Untergrund abzutauchen. Dort fristen sie, von niemandem erkannt, ihr ruhiges und zugleich einsam-trauriges Dasein; bis zum nächsten Einsatz. Die Tragik ihres Dasein hat zwei Gründe: Sie müssen ihren guten Willen geheim halten, obwohl sie gerade dadurch als Person anerkannt und geliebt werden. Außerdem halten sie den Verantwortlichen gewissermaßen den Spiegel für deren Unfähigkeit vor und geraten daher häufig mit diesen in Konflikt. Die Figur des Superhelden macht außerdem deutlich, dass ein »normaler Mensch« quasi außerstande ist, selbstlose Handlungen zum Wohle der Allgemeinheit auszuführen, weil er zu sehr mit sich selbst beschäftigt ist. Zugleich aber ist der Begriff von Normalität ständig präsent, denn die Superhelden wünschen sich häufig nichts sehnlicher, als ein völlig normales Leben führen zu können. Diese Tragik findet sich in Thomas’ Aussage. Im weiteren Gesprächsverlauf findet sich die alltägliche Routine wieder, die das Sammeln für Thomas darstellt. Diese ist nicht nur auf 86 In Bezug auf die Stigmatisierung der Tätigkeit kann man sagen, dass durch die automatisierte Abwicklung der Pfandrückgabe die »Andersartigkeit nicht [mehr] unmittelbar offensichtlich« (Goffman, Stigma, S. 56) ist.

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das Abgeben der Flaschen bezogen, sondern findet sich ebenso in seiner Beschreibung eines normalen Tagesablaufs. Für ihn, so wird hier ersichtlich, hat die Tätigkeit nicht nur eine strukturierende Funktion hinsichtlich der Kontinuität seines Lebens, sondern es handelt sich beim (Ein-)Sammeln von Flaschen um ein Strukturierungswerkzeug von Lebenszeit: T: Ja jetzt gehe ich (natürle), ich hab jetzt kein, nich mehr viel Platz hier. Jetzt geh ich langsam, wo ich meine Stelle hab, wo ich die alle verbunkere, die Flaschen, ne. Und dann fahr ich mit’m Nachtbus nach X-Stadt, ich wohn in X-Stadt, dann hau ich mich ins Bett. Dann schlaf ich erst ma, bis ich wach werde. Wenn ich wach bin, dann ess ich was, duschen, so, dann fahr ich los mit der Bahn, die Flaschen alle abgeben, und dann geh ich zum X-Städter Tisch, da in Ruhe was essen, schön, warm essen und so, ne. Und denn noch’n bisschen quatschen, und denn geh ich abends los, Flaschen sammeln. Ja. SJM: Jeden Abend? T: Ja. SJM: Machen das Ihre Kumpels auch jeden Abend? T: Ja.

Seine gesamte Alltagsplanung ist voll und ganz vom Flaschensammeln bestimmt und darin durchaus einem Arbeitstag vergleichbar. Dieser ist vor allem geprägt durch eine Disziplinierung, die aus den kompakten zeitlichen Strukturen resultiert, um die herum der restliche Alltag organisiert werden kann.87 Wie nicht zuletzt in der klassischen Studie über »Die Arbeitslosen von Marienthal« gezeigt wurde, kann sich bei Menschen, die mit ihrer Arbeit auch die Möglichkeit der Strukturierung ihres Alltags verloren haben, das Bewusstsein für Zeit drastisch ändern. In Bezug auf Thomas haben wir bereits gesehen, dass ihm das Flaschensammeln die Fähigkeit erhält, sein Leben als eine kontinuierliche Erzählung darzustellen.88 Die Formulierung, »Dann schlaf ich erst ma, bis ich wach werde«, zeigt jedoch, dass eine allzu feste Struktur nicht besteht. Auffällig erscheint diese Formulierung noch aus einem anderen Grund. Seine Tätigkeit wird von niemand anderem geregelt als von 87 Vgl. hierzu: Treiber/Steinert, Fabrikation, S. 40. 88 »Wenn sie Rückschau halten über einen Abschnitt dieser freien Zeit, dann will ihnen nichts einfallen, was der Mühe wert wäre, erzählt zu werden. […] Nichts muss mehr schnell geschehen, die Menschen haben verlernt, sich zu beeilen.« (Jahoda u.a., Marienthal, S. 83).

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Thomas selbst. Darin kommt das dem Sammeln innewohnende Freiheitspotenzial zum Ausdruck. Er ist ein »kleiner« Selbstständiger beziehungsweise Unternehmer und steht auf, wann er will, und fängt an, wann er will. Ihn drängt niemand, er ist niemandem gegenüber verantwortlich, außer sich selbst, auch wenn er dafür das gesamte Wochenende der Tätigkeit nachgeht. Dies entspricht nicht dem Geist des Unternehmers, der findig auf der Suche nach Gewinnmöglichkeiten ist.89 Im Falle des Pfandsammlers erscheint dies jedoch tragisch, weil niemand auf seine Dienstleistung wartet. Mit ihr reagiert er auf keinerlei Nachfrage und erzeugt diese auch nicht, wie zum Beispiel der Unternehmer. Sondern es handelt sich um eine selbst geschaffene Form der Beschäftigung. Thomas hat, auch dies wird an dieser Stelle deutlich, keine anderweitigen Verpflichtungen. Der Pfandflaschenunternehmer ist zwar sein eigener Herr und daher niemandem Rechenschaft schuldig, es wartet aber auch niemand auf ihn, außer vielleicht den »Kumpels«, die man mit Vornamen kennt, mit denen man »in Ruhe was essen« kann. Vermutlich jedoch würde es keinen ernstlich beunruhigen, wenn man ihn für eine Zeit lang nicht zu Gesicht bekäme. Was diese Form der Beschäftigung interessant macht, zeigt sich an der kurzen Zeitspanne, die zwischen Arbeit und Entlohnung liegt: »Dann fahr ich los mit der Bahn, die Flaschen alle abgeben.« Thomas sammelt bei Nacht seine Flaschen ein, um sie dann am nächsten Morgen gleich nach dem Aufstehen abgeben zu können. Dies ist sicherlich aus rein logistischen Gründen der Fall, da Supermärkte bei Nacht nicht geöffnet haben. Gleichzeitig aber hat seine Aufzählung in ihrer vermeintlichen Indifferenz (»Wenn ich wach bin, dann ess ich was, duschen, so, dann fahr ich los«) etwas von einer aufgebauten Spannung, mit der der Sammler das Wissen um das endgültige Ergebnis und letztlich die eigene Leistung hinauszögert. Thomas macht sich die dem Sammeln innewohnende Eigenschaft der Unberechenbarkeit zunutze, und so gleicht seine Sammeltätigkeit einem Spiel, das er mit sich selbst spielt. Obwohl Thomas mit dem Pfandsammeln einer Tätigkeit nachgeht, an deren Ende eine Entlohnung steht, scheint ihm insgesamt eine Form von modernem Leistungsdenken abzugehen, das nicht zuletzt

89 Bröckling, Unternehmerisches Selbst.

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durch eine rigide Zeitstrukturierung geprägt ist. Das Flaschensammeln stellt für ihn stattdessen eine Tätigkeit dar, bei der er sich nicht stressen will; obgleich doch Zeit Geld ist. So antwortet er auf die Frage, ob er auch am Fußballstadion sammeln würde: »Ja manchmal. Aber da sind mir zu viele, die sammeln. Das is mir zu stressig.« Sammeln tut Thomas nicht unter jeden Bedingungen und daher auch nicht um jeden Preis. Viel eher nimmt er sich die Freiheit, aussuchen zu können, wann und wo er dieser Tätigkeit nachgeht. Das Konkurrieren mit anderen ist »zu stressig« und wird daher nur in Ausnahmesituationen gewählt. Was an dieser Aussage sehr aufschlussreich ist, ist der freiwillige Verzicht auf Geld, um den Luxus der Stressfreiheit sowie den Luxus der Selbstbestimmung über Zeit und Arbeitsbedingungen zu haben. In dieser Aussage findet sich die Hypothese des Anfangs bestätigt, dass es Thomas beim Flaschensammeln eben nicht zuallererst um den Verdienst geht, sonst dürfe er sich eine Gelegenheit wie die Sportveranstaltung, bei der man »Geld verdienen« kann, nicht entgehen lassen. Als professionelle Sammler, aus deren Kreis sich Thomas im Folgenden ausschließt – er bezeichnet sich als »halb professionell« –, werden von ihm diejenigen bezeichnet, die »da schon richtig von leben« können und die »von früh bis abends unterwegs« sind. Der Verweis von mir, dass diese Leistung »auch schon Knochenarbeit« ist, begegnet er im Weiteren mit der Aussage: »Ne Verkäuferin muss auch’n ganzen Tag laufen.« Er sieht also keinen Unterschied zwischen der Tätigkeit einer Verkäuferin und der eines Flaschensammlers, bezogen auf die notwendige Anstrengung sowie die Investition von Zeit. Er deutet hier die Tätigkeit wie eine unter vielen, mit der man ebenfalls »n ganzen Tag« beschäftigt ist. Mit Bezug auf das zuvor Gesagte kann festgehalten werden, dass für Thomas die Professionalität der Tätigkeit anfängt, wo sie ununterscheidbar zu formal geregelter Arbeit wird, in der wiederum Zeit extrem institutionell strukturiert und daher nur wenig selbstbestimmt ist. Im Folgenden kommt Thomas noch einmal auf seine Zeit als Obdachloser zu sprechen. Zunächst erläutert er Mittel und Wege, als Obdachloser an bestimmte Dinge wie Kleidung und Nahrung zu kommen, und wie man auf günstige Art und Weise die zur Verfügung stehende Zeit ausfüllen kann. Dies scheint ein Problem zu sein, das er schon seit Längerem kennt. Hierzu bietet sich nach seiner Aussage zum Beispiel der Besuch der Bibliothek an: »Kann man lesen umsonst, ne. Geht die 101

Zeit auch weg, ne.« Wie die Aussage deutlich zeigt, ist das Problem nicht so sehr das sinnvolle Ausfüllen der Zeit, sondern die Beseitigung eines Zuviels an Zeit. Inwiefern das Problem der Zeit existenzielle Züge annimmt, zeigt sich durch das Wort »weggehen«. Allgemein bezieht man sich damit auf einen unerfreulichen Zustand, der überwunden werden soll. So ist zum Beispiel das Weggehen einer Krankheit dessen Heilung oder das Weggehen eines unerwünschten Besuchers dessen befreiendes Verschwinden. Zur Verfügung stehende Lebenszeit – oder besser: von Arbeit freigesetzte Zeit – stellt sich in Thomas’ Fall als etwas Unangenehmes dar, als etwas, dessen man sich zu entledigen versucht und dessen Beseitigung als wohltuend empfunden wird. Obwohl sich diese Aussage auf seine Zeit auf der Straße bezieht, bringt er doch weiter unten Ähnliches zum Ausdruck, wenn es um die Frage geht, ob er das Flaschensammeln weiter betreiben würde, wenn er zum Beispiel einen »Ein-Euro-Job« bekommen könnte: T: Ja. Klar. Na vielleicht nich mehr so viel. Vielleicht nur am, am Wochenende, ne. Aber aufgeben? Nee. Erst ma komm ich jeden Tag raus. Hängt man nich in der Wohnung rum, ne. Kommt immer, kommt ma raus. Und manchma sieht man auch viele interessante Sachen so, was ma so, ne. Wo man auch schmunzelt dann, ne. Nee also, ich hab mich da dran gewöhnt, so, so aufgeben weiß ich nich. Wenn ich jetzt natürlich irgend nen Job kriegen würde, wo ich richtig Geld verdiene, dann natürlich nich, ne. Aber so? Kommt man’n bisschen raus, bisschen Bewegung.

Die zu Anfang des Gesprächs präsentierte Deutung der Tätigkeit als eine, die Geld einzubringen verspricht, wird hier vollständig aufgegeben. So bekommt das Sammeln von Pfandflaschen, wie sich oben bereits angedeutet hat, die Funktion, sein Leben zu strukturieren. Vor allem aber zwingt er sich durch Einsatz der Tätigkeit, aus dem Haus zu gehen, Bewegung zu haben und sich nicht hängen zu lassen: »Hängt man nich in der Wohnung rum«, wie dies bereits in der Analyse von Elisabeth aufgezeigt werden konnte. Aufgrund der Allgegenwart von Sparsamkeit in seinen Aussagen, die ein Überbleibsel seines Lebens auf der Straße darstellt, ist es vollkommen angemessen, dass Thomas eine Tätigkeit wählt, die ihm Geld einzubringen verspricht. Es ist jedoch zuletzt auch hier die herausgearbeitete Einsamkeit, wie sie bereits bei Elisabeth zum Ausdruck kam, die durch das Sammeln kompensiert werden soll. Die sich durch das Sammeln bietende alltägliche Möglichkeit, »viele interessante Sachen« zu se102

hen, lässt ihn, wenn auch nur als Beobachter und somit indirekt, am öffentlichen Leben partizipieren. Im Fall von Thomas haben wir es also mit einem einsammelnden Sammler zu tun, da seine Tätigkeit Züge vom Sammeln als Selbstzweck und als Mittel zum Zweck trägt, wobei das Erstere klar zu überwiegen scheint. Dem Sammeln kommt vor allem eine sozial-existenzielle Komponente zu, weil es die »Flucht« aus den eigenen vier Wänden ermöglicht. Die dort vorgefundene Einsamkeit, die auch durch die regelmäßigen Besuche in Einrichtungen für Obdachlose und sozial Schwächere nicht aufgelöst wird, kann scheinbar bis zu einem gewissen Grad durch passive Teilnahme am öffentlichen Leben ausgeglichen werden. Die hier gelieferte Beschreibung erinnert an eine »Beschäftigungstherapie«, die damit gerechtfertigt wird, dass man mit ihr Geld verdient, etwas für die Allgemeinheit tut, aber vor allem sein eigener Herr ist. Allerdings ist Thomas klar, dass er bei allem Freiheitspotenzial nur wenig Anerkennung von dieser Tätigkeit erwarten kann.

Dieter : »Freizeitausgleichsbeschäftigung« Einige Wochen später wird das Gespräch mit Dieter an der gleichen Stelle geführt wie das Gespräch mit Thomas und dauert etwa eine halbe Stunde. Er fällt mir auf, als er mit zwei Tüten in den Händen vor einer Diskothek die Abfalleimer abgeht. Ich sehe, wie er Flaschen, die auf dem Boden stehen, in die Tüten steckt und sich dann entfernt. Als ich hinter ihm hergehe, sehe ich, wie er in einer dunkleren Ecke des Platzes seine Flaschen in vor ihm liegende Tüten umpackt. Um mit ihm ins Gespräch zu kommen, frage ich ihn, ob ich ihm meine Flasche geben könne, was er bejaht und sie dankend annimmt. Auf die Frage, ob sich die Tätigkeit lohne, sagt Dieter: D: Sonst würd ich’s nicht machen. Es sind bloß schon so viele Flaschensammler unterwegs. Aber es lohnt sich immer noch. ((Stellt sich neben SJM))

Dieter weist hier zunächst mit Nachdruck eine mögliche Irrationalität des Flaschensammelns zurück, die mit der Frage nach dem »Lohnen« impliziert zu sein schien; zumindest interpretiert Dieter diese Frage so. Das »Lohnen« unterstellt auch hier von meiner Seite zunächst 103

ein mögliches Missverhältnis zwischen eingesetzter Zeit und Ertrag, bewegt sich daher ausschließlich in ökonomischen, zweckrationalen Kategorien. Wäre für mich das Pfandsammeln von außen offensichtlich als Spiel oder Zerstreuung kenntlich, würde sich diese Frage gar nicht ergeben. Mit »Sonst würd ich’s nicht machen« nimmt Dieter zu dieser Aussage Stellung, ohne jedoch genau zu bezeichnen, inwieweit sich das Sammeln für ihn lohne. Bei Thomas war dies anders, hatte er doch mit der Nennung des Hartz-IV-Satzes unmittelbar die ökonomische Kategorie übernommen. Dieter, der uns hier zu verstehen gibt, dass er ja dumm wäre, wenn es sich nicht in irgendeiner Form für ihn lohnen würde, bleibt hier eher vage. Mit dem im nächsten Satz angedeuteten Verweis auf die Konkurrenz jedoch ändert sich dies. Im Bereich des Spiels wären die vielen nicht notwendigerweise Konkurrenten, sondern eher Mit- oder Gegenspieler, die jedoch zum Spiel unentbehrlich sind und daher nicht als problematisch angeführt werden müssten. Wirtschaftliche Beziehungen dagegen sind gerade dadurch gekennzeichnet, dass jeder weitere Konkurrent mögliche Umsatzeinbußen bedeutet, weshalb ein »Zuviel« an Konkurrenz auf Anbieterseite als problematisch empfunden wird. Weil sich Dieter als jemand darstellt, der sich in Konkurrenz um die Flaschen mit anderen befindet, was wiederum die Sinnhaftigkeit der Tätigkeit infrage stellen könnte, bewegt er sich ebenfalls in einer ökonomischen Welt. Doch durch seine Aussage lernen wir noch mehr über das Phänomen des Pfandsammelns. Zum einen deutet er an, dass es zuvor weniger Konkurrenz gegeben haben muss (»bloß schon«), dass also immer mehr Menschen sich als Sammler von Pfandflaschen betätigen. Zum anderen macht die Aussage deutlich, dass Dieter sich aus dem Kreis der Flaschensammler ausschließt beziehungsweise ein ambivalentes Verhältnis zu ihnen hat. Dies wird an mehreren Stellen im Transkript deutlich. Er betrachtet sie eher als Außenstehender und bezeichnet sie als »viele«. Außerdem wird dies durch die im Transkript vermerkte Körperdrehung unterstrichen, als er sich auf die Seite eines Nicht-Sammlers stellt und mit diesem gemeinsam über das Thema »Flaschensammler« spricht. Diese ambivalente Stellung, in der sich Dieter als »anders« darstellt, muss als eine sprachlich eröffnete Möglichkeit weiter im Auge behalten werden. Sein Verweis auf die gestiegene Konkurrenz bei gleichzeitiger Erklärung, »es lohnt sich immer noch«, macht deutlich, mit welcher Quantität an Leergut es Pfandsammler zu tun haben müssen. Außerdem erhält die Tätigkeit in dieser Darstellung Züge des Teilens: Man 104

muss sich keine Sorgen machen, denn es ist genug für alle da. Allerdings wird hier mitnichten unterstellt, unter Pfandsammlern herrsche ein Solidaritätsprinzip, das so weit reicht, anderen etwas übrig zu lassen. Viel eher drückt sich hierin die Simplizität des unter Sammlern herrschenden Konkurrenzprinzips aus, welches sich an einer basalen Leistungsethik orientiert: individuelle Verausgabung und Mühe als Verheißung des Glücks. Im weiteren Verlauf des Gesprächs berichtet Dieter nun, wie er zum Flaschensammeln gekommen sei und wie lange er dieser Tätigkeit schon nachgehe. Die zuvor genannte Zeitspanne von nahezu zwei Jahren präzisiert er wie folgt: D: Ähm, genauer gesacht bin ich dadrauf gekomm, ähm, bei der Fußballweltmeisterschaft, die letztes Jahr war. Vorher hab ich schon mal so n bisschen eingesammelt, aber letztes Jahr so bei der Fußballweltmeisterschaft da war’s extrem. Da war hier die ganze Stadt voll, und da hab ich dann angefang zu sammeln, und seitdem also jedes Wochenende.

Zunächst einmal wird die Fußball-WM als der Auslöser für seine Sammeltätigkeit angegeben, hierbei wird allerdings nicht weiter ausgeführt, worauf genau ihn die Fußball-WM gebracht hat. Seine Aussage erscheint umso auffälliger, als er im Weiteren angibt, auch schon vor der Fußball-WM Flaschen gesammelt zu haben. So hat sich also nicht die Tätigkeit als solche grundlegend geändert, sondern vor allem die dafür aufgewendete Zeit. Die Differenzierung zwischen »bisschen eingesammelt« und »angefang zu sammeln« lässt allerdings nicht nur auf eine Unterscheidung zwischen amateurhafter und professioneller Ausführung schließen, sondern muss vor dem Hintergrund des »dadrauf gekomm« gelesen werden: Er ist auf die Differenz zwischen Einsammeln und Sammeln gekommen. Auf der Grundlage der theoretisch geleiteten Überlegungen kann man demnach vermuten, dass zu Beginn das Geldverdienen für ihn im Mittelpunkt der Tätigkeit stand, wobei er nun eine Entwicklung hin zu einem »echten« Selbstzwecksammler durchgemacht hat. Das »dadrauf gekomm« muss demnach gelesen werden als eine Art Infizierung mit dem Virus des Sammlers, der mit einem Mal seine Leidenschaft entdeckt hat und nun nicht mehr davon loskommt. Dies erscheint insofern angemessen, als der Erfolg oder auch die generelle Ungeheuerlichkeit der Weltmeisterschaft (»da war’s extrem«) für ihn den Reiz der Tätigkeit gesteigert hat, sodass er ihr »seitdem also jedes Wochenende« nachgeht. Das Bild einer mit Flaschen übersäten Stadt 105

(»Da war hier die ganze Stadt voll«) scheint die Unfassbarkeit dieses Ereignisses zu bestätigen, so wie wir es auch schon bei Thomas gesehen haben. Da allerdings nicht davon auszugehen ist, dass der extreme Erfolg der Weltmeisterschaft kontinuierlich angehalten hat, bekommt das Sammeln damit einen Zwangscharakter, dem er »jedes Wochenende« nachkommen muss. Auf die hohe Affektgeladenheit, die sich aus der hoffnungsvollen Suche ergibt und in der der Blick die Umgebung nach dem begehrten Objekt abtastet, wurde bei der Auseinandersetzung mit dem Sammeln bereits verwiesen. Auch wenn Dieter nicht mehr die gleichen Verdienstmöglichkeiten wie zur Zeit der WM hat, ist er dermaßen von der Tätigkeit »angefixt«, dass er ihr auch ohne eine derartige Vergütung nachgeht. Hier zeigt sich, dass die Unabschließbarkeit des Sammelns durch die Unberechenbarkeit wachgehalten wird, weshalb jeder Sammelgang eine selbstverstärkende Wirkung beinhaltet. Auf die anschließende Frage, ob er das Flaschensammeln als eine Art Hobby oder eher aus finanziellen Gründen betreibe, sagt Dieter: D: Ähm, nebenbei. Das ist mein Taschengeld. Und äh, wenn man, ja gut, ich weiß, was bei rumkommt, weil ich muss es nich ausgeben. Das heißt also, alles was ich an Pfand zusammensammel, das liegt bei mir extra. Das heißt, ich geh da nich bei. Das is [mein] SJM: [ach, als äh] D: Ja, ich hab’n gewisses Ziel, und dieses Ziel is, also ich möchte, ich möchte da was von zusammensammeln, und äh, da bin ich auf’m guten Weg.

Im alltäglichen Sprachgebrauch wird mit einer aus finanziellen Gründen »nebenbei« geleisteten Tätigkeit Schwarzarbeit bezeichnet. Zunächst erfahren wir aus dieser Aussage, dass es sich hierbei nicht um seine Haupteinnahmequelle handelt; Pfandsammeln findet nicht zur Subsistenzsicherung statt. Auffallend ist die Bezeichnung als »Taschengeld«, mit dem im Allgemeinen das Geld von Kindern bezeichnet wird, das von Eltern gezahlt wird, ohne dass dafür notwendigerweise eine Leistung erbracht werden müsste. Viel eher stellt es ein Geschenk und eine Möglichkeit des Autonomiegewinnes für einen Heranwachsenden dar. Daher scheint zunächst die Bezeichnung als »Taschengeld« missverständlich. Auch mag er hiermit nicht »Klimpergeld« bezeichnen, welches in der Tasche mitgeführt wird und ohne längere Überlegung ausgegeben werden kann, da Dieter im Folgenden explizit darauf hinweist, es gerade nicht auszugeben. Das »Taschengeld« scheint sich also auf das wenige von Eltern ausgezahlte Geld an die Kinder zu be106

ziehen. Allerdings gibt es auch dieses nicht geschenkt, sondern, vor dem Hintergrund einer Leistungsethik, nur gegen Arbeit. Nicht-entlohnte Tätigkeiten gibt es in Dieters Welt nicht. In diesem Fall also ist das Angefixtsein vom Sammeln auch vor dem Hintergrund zu verstehen, dass es eine Verdienstmöglichkeit darstellt. Die reine Möglichkeit, etwas sammeln zu können, ist kein hinreichender Grund. Das Pfand, das er mit Geld gleichsetzt, wird von ihm allerdings gespart, es »liegt bei mir extra«. Auch hier handelt es sich nicht um benötigtes Geld, sondern um eine Art Vorsorge für die Zukunft, die er sich erarbeitet. Als Ziel der Tätigkeit hat sich Dieter einen subjektiven Fixpunkt gesetzt, bis zu welchem er mit seinem »Zusammensammeln« gelangen will. Dies scheint der bisherigen Interpretation zu widersprechen, da es ihm scheinbar nicht auf das Anlegen einer Sammlung ankommt, obgleich er das gesammelte Geld wie eine Sammlung behandelt (»ich geh da nich bei«). Hierbei zeigt sich eine Deutung von Geld als Kapital, welches angehäuft werden kann, ohne dass es einen unmittelbaren Verwendungszweck besitzt. Für Dieter verbindet sich mit dem Sammeln von Pfandflaschen und damit von Geld eine Idee von Vollständigkeit, die er subjektiv bestimmt. Diese Vollständigkeit ergibt sich für ihn mit dem Ziel einer Urlaubsreise für drei Personen nach Argentinien, die er mit dem Flaschensammeln finanzieren will. Aus seiner Haupterwerbsquelle kann oder will Dieter eine solche Reise nicht finanzieren, sondern verdient dafür »nebenbei« Geld. Dies erscheint vor dem Hintergrund angemessen, dass es sich möglicherweise um einen dringlichen Wunsch handelt, dem er möglichst schnell nachkommen will. Zur gleichen Zeit findet man auch hier wieder eine Leistungsethik vor, wie sie beim »Taschengeld« gegenwärtig gewesen ist, die besagt, dass wer sich etwas leisten will, dafür auch etwas leisten muss. Seine Auskunft über den Ertrag des Flaschensammelns, auf den er zu sprechen kommt, wird im Laufe des Gesprächs widersprüchlich vorgetragen,90 was wiederum die Frage aufkommen lässt, inwieweit Geld

90 So berichtet er einmal: »im Jahr tausend Euro«, was in etwa 80 Euro pro Monat und 20 Euro pro Wochenende bedeuten würde. Die spätere Angabe von »im Schnitt so an die hundert Euro« ist daher widersprüchlich, da zuvor über ein Wochenende gesprochen wurde. Rechnet man dies auf einen Monat hoch, so käme man etwa auf 400 Euro, was pro Jahr einem Ertrag von 4800 Euro entsprechen würde. Beziehen sich die »hundert Euro« auf einen Monat, so würde der Jahresertrag bei etwa 1200 Euro liegen.

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tatsächlich der ausschlaggebende Punkt für seine Betätigung darstellt. Die im Folgenden gestellte Frage nimmt Bezug auf den Ort, an dem das Gespräch stattfindet: SJM: Und Sie sind immer nur hier, oder was? D: Nee, ich war heute Nachmittag am Stadion bei Y-Verein, da war Regionalliga oder Oberligaspiel X-Stadt gegen Preußen Münster, da hab ich gesammelt, dann bin ich kurz für ne Stunde nach Hause, jetzt lauf ich hier rum, jetzt war ich an und für sich auf’m Rückweg, ja und wenn ich zu Hause gewesen bin, sagen was ma so, dann geh ich ins Bett, morgen bring ich meinen Pfand weg, und morgen Nachmittag fang ich hier wieder an. Wenn Y-Verein spielt, hier geh ich zum Station. Wenn se nich hier spieln, dann fang ich erst abends hier spät an, hier durch die Stadt zu rennen.

Ähnlich wie wir es im Gespräch mit Thomas gesehen haben, scheint sich das gesamte Leben – zumindest am Wochenende – nur um das Pfandsammeln zu strukturieren. Dabei ist er gut organisiert, da er sich im Vorfeld darüber informiert, wo welche Veranstaltungen stattfindet. Der Inhalt ist jedoch nebensächlich: »da war Regionalliga oder Oberligaspiel«. Entscheidend ist, dass dort Flaschen gesammelt werden können. Wenn dies nicht der Fall ist, dann besucht er die Veranstaltung auch nicht. Im Gegensatz zu der Darstellung von Thomas finden wir hier allerdings das Bild eines Gehetzten. Außer zwischen Einsammeln und Wegbringen ein wenig Schlaf zu schieben, versucht er ein zeitliches Maximum aktiv zu sein. Für das selbst gesetzte Ziel – die Urlaubsreise – nimmt er ein erhöhtes Maß an Stress in Kauf: Dieter geht nur »kurz für ne Stunde nach Hause«, um gleich danach wieder weiter »zu rennen«. Prinzipiell zeigt sich hier, dass das Pfandsammeln kein Ende zu nehmen braucht (Unabschließbarkeit), weil immer und überall Flaschen gefunden werden können (Unberechenbarkeit). Unterbrochen wird es lediglich durch das Wegbringen, was zeitlich möglichst nah an das Einsammeln gekoppelt ist und unmittelbar eine Rückmeldung über das Geleistete geben kann. Die bereits weiter oben aufgestellte Vermutung, dass es sich beim Pfandsammeln für Dieter um eine Pfandgeldsammelleidenschaft handelt, die Merkmale eines süchtig machenden Spiels trägt, verfestigt sich im weiteren Verlauf des Gesprächs. So heißt es über die eigene Organisation der Tätigkeit: D: Ich hab mein Auto dahinter stehn und ähm, der Kofferraum, also is’n Kombi, hinten die Ladefläche und die Sitze sind runtergeklappt, die sind

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voll. Ich hab also leere Kisten Bier im Auto stehn, und die sammel ich voll.

Würde er das Sammeln ausschließlich zum Zweck des Gelderwerbs durchführen, so erscheint seine Planung diesem Zweck in gewisser Weise entgegengesetzt. Die Bierkisten, die er in seinem Auto transportiert, nehmen in erster Linie Platz im Auto weg, den er nicht mit Flaschen füllen kann. Anstatt sich also ein Maximum an Profit als Ziel zu setzen, scheint für ihn eine Regel zu gelten, wonach die aus dem Müll kommenden Getränkeverpackungen in eine Ordnung eingegliedert werden müssen. Hinzu kommt, dass auch Bierkisten mit Pfand belegt sind und das Benzin für das Auto bezahlt werden muss. Somit zeigt sich an dieser Stelle des Transkripts, dass Dieter in seine Sammeltätigkeit Geld investiert, selbst wenn es an anderer Stelle wieder dazuverdient wird. Das selbst auferlegte Ziel ist es nicht, so viel wie möglich, sondern die Bierkisten »voll« zu sammeln. Auch hier scheint die Einhaltung der selbst auferlegten Ordnung wichtiger zu sein als ein Maximum an Profit, was einer gewissen Pedanterie entspricht. Das Sammeln hat hier in erster Linie den Zweck, die Verstreutheit der Objekte durch eine Ordnung zu ersetzten, jedes Ding an seinen Platz zu bringen, und kommt damit einer »rationalen Durchgestaltung des Lebens«91 gleich. Die Möglichkeit hierzu ergibt sich für Dieter aus einer Tätigkeit, an dessen Ende eine Entlohnung steht. Interessant ist vor diesem Hintergrund der weitere Verlauf des Gesprächs, in dem Dieter von seiner festen Arbeitsstelle spricht und damit gleichzeitig unterstreicht, der Tätigkeit nicht ausschließlich aus finanziellen Gründen nachgehen zu müssen: D: […] Ich bin also so eingestellt, ich brauch’s nicht. Ich hab, ich kann das ruhig sagen, ich hab’ n Beruf, was heißt Beruf, ich geh arbeiten, meine acht Stunden am Tag, mach das auch fünf Tage die Woche, hab mein festes Einkommen, und ich brauch das nicht zu machen, nich. Und andere, die das wieder machen müssen, weil se vielleicht Hartz-IV-Empfänger sind oder wie auch immer, die kann ich verstehn, und da bin ich an und für sich auch nich so, dass ich sage, den schnapp ich das alles jetzt weg. Ich nehm also schon ’n bisschen Rücksicht drauf, ne.

91 Bollnow, Tugenden, S. 34. In diesem Sinne kann das Sammeln dahingehend psychologisisert werden, als sein Gegenstück der zerstreute Mensch ist, der nicht »alle beisammen hat«.

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Mit der präsentierten Einstellung, gerade nicht aus Geldnot beziehungsweise Bedürftigkeit Pfandflaschen sammeln zu müssen, obwohl er selbst durch diese Tätigkeit zum Gehetzten wird, der jede freie Minute damit verbringt, verdichtet sich das Bild seiner Pfandsammelleidenschaft. Der Hinweis, »das ruhig sagen« zu können, muss so verstanden werden, dass Dieter bewusst ist, dass es sich hier um Schwarzarbeit handelt und somit eine kriminelle Handlung darstellt, weil er zuzüglich zu seinem regulären Einkommen Geld erwirtschaftet, das er nicht versteuert. In dieser Gesprächssituation aber hat er nichts zu befürchten und kann es daher »ruhig sagen«. Auffällig ist die eingeführte Unterscheidung zwischen Beruf und Arbeit, auf der explizit bestanden wird: »ich hab’ n Beruf, was heißt Beruf, ich geh arbeiten«. Mit dieser verdeutlicht Dieter, dass seine Haupterwerbstätigkeit für ihn in erster Linie die Funktion des Gelderwerbs beziehungsweise der Existenzsicherung darstellt, er jedoch keine innere Bindung im Sinne einer Berufung dazu unterhält. Es scheint so zu sein, dass die von Dieter ausgeführte Lohnarbeit, die ihn prinzipiell zur gesellschaftlichen Teilhabe am Konsum befähigt und damit für sein soziales Ansehen zentral ist, für ihn selbst deutlich von einem Beruf unterschieden werden muss, der ebenfalls und vor allem sinnstiftend ist. Gleichzeitig folgt aus seinen bisherigen Aussagen, dass es ihm nicht unbedingt auf Möglichkeiten eines gesteigerten Konsums ankommt, dem er durch das Sammeln von Pfandflaschen nachkommt. Er hatte zuvor betont, dass das gesammelte Pfandgeld nicht ausgeben wird, sondern »extra« liege. Aufschlussreich ist die im Folgenden gemachte Deutung seiner Beziehung zu anderen Flaschensammlern. Zunächst einmal bestätigt sich hier die aufgestellte Vermutung, nach der Dieter sich aus dem Kreis der Sammler ausschließt. Er hat ein »festes Einkommen«, das ihn unabhängig vom Pfandgeld macht. Für ihn sind alle anderen jene, »die das wieder machen müssen, weil se vielleicht Hartz-IV-Empfänger sind«, das heißt Dieter hat durchaus Verständnis für diejenigen, die dieser Tätigkeit unter rein finanziellen Aspekten nachgehen. Zugleich wird verständlich, warum er sich aus deren Kreis ausschließt. Er ist kein Bedürftiger oder Sammler als Mittel zum Zweck, sondern geht hier einer Mußetätigkeit aus Leidenschaft nach. Sein ambivalentes Verhältnis bestätigt sich auch in der von ihm beschriebenen »Rücksicht«, wobei nicht klar ist, wie genau diese Rücksicht im Falle des Sammelns aussehen kann. Zum einen dürfte Dieter, wenn er unter110

stellt, alle anderen Flaschensammler hätten das Geld wirklich nötig, gar nicht erst Flaschen sammeln gehen. Zum anderen ist ein Konkurrenzkampf gerade darauf angelegt, dass man besser ist als die anderen und seine Gegner auszuschalten versteht.92 Wenn Dieter Rücksicht nimmt, dann hat er diesen Kampf schon verloren beziehungsweise gar nicht erst wirklich aufgenommen. Warum er sich aus diesem Kampf heraushält und sein Verhalten als eine Art Güte markiert, wird vor dem Hintergrund verständlich, dass ein Verhalten wie die »anderen Sammler« ihn ununterscheidbar von diesen machen würde, was er explizit zu vermeiden versucht. Unterstrichen wird die Aussage noch durch eine Überheblichkeit, die darin zum Ausdruck kommt, dass er »das alles jetzt« nicht den anderen wegschnappen will, obgleich er es durchaus könnte. Man stößt hier auf ähnliche Strukturen, wie sie bereits bei Thomas und Elisabeth herauspräpariert wurden: Zum einen scheint die Entlohnung, die aus der Tätigkeit des Pfandsammelns resultiert, nicht vordergründig zu sein. Das Geld wird aufgrund der Einbindung in ein festes Arbeitsverhältnis von Dieter nicht zur alltäglichen Bedarfsdeckung verwendet und kann daher angespart werden. Dieter gibt sogar an, auf die unterstellte Notlage der anderen Sammler Rücksicht zu nehmen, indem er nicht mit ihnen konkurriert. Bei Thomas war es ebenfalls so, dass der Bezug von Hartz IV gewissermaßen die existenzielle Grundsicherung seines Lebens regelt. In allen drei Fällen, mögen sie auch noch so unterschiedlich sein, scheint es sich so zu verhalten, dass das Sammeln zu einem Selbstzweck wird. Bei Thomas konnten wir erfahren, dass er sich mit dieser Tätigkeit eines Zuviels an Zeit zu entledigen versucht, bei Elisabeth war es das Unter-Leute-Kommen, während es bei Dieter Züge einer Sucht annimmt, die ihn immer wieder auf die Straße hinaustreibt. Es scheint demnach die Tätigkeit des Sammelns selbst zu sein, der Dieter hier in erster Linie nachgeht. Zum anderen aber ist es genau diese potenzielle Möglichkeit des Geldverdienens, die dazu führt, dass alle drei aus dem umfangreichen Korpus zur Verfügung stehender Möglichkeiten genau das Sammeln von Pfandgebinden ausgewählt haben. 92 Georg Simmel schreibt über das Verhältnis zum Gegner in einer Konkurrenzsituation: »Wer den Gegner unmittelbar beschädigt, oder aus dem Weg räumt, konkurriert (…) nicht mehr mit ihm.« (Simmel, »Konkurrenz«, S. 1010).

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Aus den bisher präsentierten Überlegungen lassen sich folgende Vermutungen formulieren: Das Pfandsammeln ist eine selbstbestimmte Tätigkeit, bei der der Sammler nur sich selbst gegenüber verantwortlich ist. Seine Tätigkeit stellt die eines Kleinstunternehmers dar, der jedoch niemandem gegenüber Rechenschaft abzulegen hat. Des Weiteren ist die zeitliche Spanne zwischen geleisteter Arbeit und Entlohnung sehr kurz und die Kopplung von eigener Leistung und Höhe der Entlohnung besonders stark. In diesem Sinne erlebt der Sammler die Folgen seines eigenen Tuns als eine direkte Konsequenz seiner Leistungsfähigkeit. Für Dieter wird im Folgenden zu klären sein, ob sich dies aus der von ihm gemachten Unterscheidung zwischen Arbeit und Beruf ergibt. Es erscheint angemessen, dass Dieter das Flaschensammeln als eine sinnstiftende Tätigkeit erfährt, was für seine Arbeit nicht gilt. Im Folgenden erfahren wir nun mehr über die Erwerbsarbeit, der Dieter nachgeht: »Ich hab ma Fliesenleger gelernt, aber, äh, äh, im Moment bin ich Lagerist.« Die oben eingeführte Unterscheidung zwischen Beruf und Arbeit wird hier näher verdeutlicht. Bei der momentan ausgeführten Tätigkeit als »Lagerist« handelt es sich nicht um seinen Lehrberuf. Dieser jedoch bildet für ihn, vermutlich aufgrund eines berufsspezifischen Wissens und der in einer Ausbildung erlernten Fähigkeiten, weiterhin den Hintergrund einer professionellen Identität. Man kann daraus schließen, dass Dieter den Wechsel von einem Handwerksberuf hin zur Tätigkeit eines Lageristen subjektiv als einen beruflichen Abstieg erlebt hat. Berufliche Abstiege ereignen sich bekanntermaßen zumeist nicht freiwillig, sondern werden oft durch strukturelle Veränderungen erzwungen, wie zum Beispiel durch die Bedrohung von Arbeitslosigkeit. Meist gehen sie einher mit dem »Aufschieben vorhandener Ansprüche an Lohn, aber auch an beruflichen Entfaltungsmöglichkeiten und Entwicklungsperspektiven«.93 Dass Dieter diesen Zustand jedoch nur als eine zeitlich begrenzte Lebensperspektive deutet, zeigt sich an der Formulierung »im Moment«. Der Tätigkeit als »Lagerist« geht er nur bis auf Weiteres nach, sie stellt für ihn eine vorübergehende Verdienstmöglichkeit dar. Die zeitliche Begrenztheit wird unterstrichen, indem Dieter die Tätigkeit dadurch entwertet, dass er ihr den Titel als »Beruf« verwehrt. Dass sein Lehrberuf weiterhin Grundlage einer

93 Andretta/Baethge, »Zwischen zwei Welten«, S. 23.

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professionellen Identitätsbildung ist, wird durch die Erstnennung deutlich, irritiert jedoch vor dem Hintergrund der Aussage über die zeitliche Begrenztheit seines momentanen Anstellung: D: Ja, ich hab das ma gelernt, und wie schon gesagt, war’n Lernberuf, aber Handwerk (hat ja den Bonus), ich immer zu. Und äh, wie schon gesagt, jetzt bin ich fast zwanzig Jahre in meinem Betrieb, und ja. Das is wirklich gut, ((kurzes Stocken)) ich hab, ((auffallend lange Pause)) das is wie Droge, des is wie, wie Alkohol trinken oder wie Zi Nikotin nehmen. Wenn man einma angefangen hat, ich hab angefangen, wie schon gesagt, bei der Fußballweltmeisterschaft, dann im, im Sommer jeden Tag mit’m Fahrrad. Rucksack auf’m Buckel, bin ich mit’m Fahrrad rumgefahren. Ich hab immer’n Rucksack voll gehabt [mit Leergut].

Hier erfahren wir, dass Dieter seit »zwanzig Jahren« in ein und demselben Betrieb tätig ist, obgleich er zu Beginn diese Tätigkeit als etwas Vorübergehendes beschrieben hatte. So erhalten wir eine Ahnung davon, wie sich für ihn seine berufliche Position darstellen muss. Er scheint sich in einem professionellen Schwebezustand zu befindet, der allerdings bereits »zwanzig Jahre« andauert und der ihm keinerlei Möglichkeit zu einer positiven Identifizierung mit dem gibt, was er täglich tut. Dies kann verschiedene Ursachen haben: Zum einen haben wir oben gesehen, dass Dieter an seinem Lehrberuf zur Konstruktion einer professionellen Identität festhält, vermutlich weil es sich um einen anerkannten Handwerksberuf handelt. Dies erklärt sich sicherlich zum anderen aus der Tätigkeit als Lagerist, die nur wenig soziale Anerkennung im Sinne des Prestige einbringt, welches aufbaut auf Fähigkeiten, Ressourcen und Erfolg.94 Als Lageristen arbeiten zumeist ungelernte Arbeiter sowie Studenten oder Schüler, weshalb die professionelle Identität eher über die offensive Darstellung körperlich harter Arbeit hergestellt wird als über ein durch Ausbildung erlerntes Wissen. Der berufliche Abstieg scheint von Dieter nur ungenügend verarbeitet zu sein. Das Flaschensammeln hingegen, so ist das bisher Gesagte sowie der plötzliche Schwenk in seiner Argumentation zu deuten, gibt ihm die Möglichkeit eines Ausgleichs von dieser ihn frustrierenden Realität. Aufgrund der herausgearbeiteten Strukturmerkmale ist davon auszugehen, dass es das Sammeln sein muss, die Art der Selbstbestimmtheit sowie die quantifizierbare eigene Leistung in Form 94 Vgl. hierzu: Voswinkel, »Anerkennung der Arbeit«.

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zeitlich unmittelbar folgender Entlohnung, das für ihn eine Möglichkeit zur Bildung einer positiven professionellen Identität enthält. Einen bitteren Beigeschmack erhält dies jedoch aus zwei Gründen: Zum einen bezeichnet Dieter das Flaschensammeln, wie dies bereits weiter oben vermutet wurde, als »Droge«, von der man nicht mehr loskommt. Bei einer Sucht wird die »Droge« zum Selbstzweck und zum Lebensinhalt für den Süchtigen. Auch das Bewusstsein einer möglichen Schädigung wird in Kauf genommen, solange nur die Sucht befriedigt werden kann. In diesem Fall kann man von einer Sucht nach professioneller Bestätigung oder beruflicher Identität sprechen, die ihm sein Lohnarbeitsverhältnis, dem gesellschaftlichen Medium, über das soziale Anerkennung und individuelle Vollwertigkeit vermittelt werden, nicht zu geben scheint. Es mag sich daher auch das hohe Tätigkeitspensum beim Flaschensammeln erklären, mit dem zugleich versucht wird, den Umstand zu kompensieren, dass das Sammeln von Flaschen keine Erwerbsarbeit ist und zudem aufgrund des In-KontaktKommens mit Müll nur geringe gesellschaftliche Anerkennung findet.95 Nicht zuletzt hatte man auch bei Thomas gesehen, dass der Erfolg des Sammlers eher ein stiller und einsam erlebter Erfolg vor den Pfandautomaten bleibt. Daher ist von dieser Tätigkeit nur wenig Anerkennung im Sinne der Würdigung von außen zu erwarten, weil es für das Außen häufig unsichtbar bleibt. Ein besonderer Vorteil des Flaschensammelns ist jedoch, dass die Suche nach Flaschen beziehungsweise nach Geld immer wieder erfolgreich ist (Unabschließbarkeit) und daher die negativen Begleiterscheinungen zu kompensieren vermag: »Ich hab immer’n Rucksack voll gehabt.« Die zentrale Bedeutung der Tätigkeit für ihn bringt er wie folgt zum Ausdruck: D: Ja, und deswegen, also, es is für mich schon, äh, ne Art Sucht, ((kurzes Stocken)) Freizeitausgleichbeschäftigung.

Die Krise, die Dieter mit dem Pfandsammeln zu lösen versucht, wird hier offensichtlich. Zunächst wird deutlich, dass es ihm an einer professionellen Identität mangelt, weil seine berufliche Tätigkeit ihm diese nicht zu geben verspricht. Dass er eben dies von ihr erwarten 95 Bohmeyer, Axel, Work as Key to the Social Question, Workaholismus als Pathologie der Erwerbsgesellschaft, http://www.stthomas.edu/cathstudies/cst/confe rences/le/papers/bohmeyer.pdf [20. 03. 2013], S. 4.

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würde, zeigt sich an dem Umstand, dass er seine freie Zeit mit Flaschensammeln füllt und damit unmittelbare Bestätigung seiner Leistungsfähigkeit erhält. Es ist keine Freizeitbeschäftigung, sondern eine Tätigkeit, um die Freizeit auszugleichen. Zum einen verdeutlicht er damit, dass er keine anderweitigen Freizeitbeschäftigungen hat, mit denen er in ähnlicher Weise seine freie Zeit ausfüllen könnte, was auf eine gewisse soziale Isolierung schließen lässt. Weil er sich mit seiner Arbeit nicht identifizieren kann, wird er auch ein ähnlich ambivalentes Verhältnis zu seinen Kollegen unterhalten. Zum anderen besteht für ihn aber die Notwendigkeit, die nicht ausgefüllte Zeit sinnvoll zu füllen, was allerdings wiederum nur durch eine Tätigkeit geleistet werden kann, mit der er Geld verdient, also streng genommen mit Erwerbsarbeit.

Zwischenlager Die Strukturanalyse des Sammelns konnte zeigen, dass sich der Sammler durch die Bejahung von Ausrangiertem in eine fragile Stellung als Außenseiter begibt – zwischen Exzentriker und Exkludiertem. Das Sammeln bietet aber zugleich die Möglichkeit, im Prozess des versunkenen Suchens, in welchem sich die Augen leidenschaftlich nach dem begehrten Objekt sehnen, eine eigene Welt zu konstruieren.96 Es nötigt zwar den Kontakt zum öffentlichen Raum und somit zu anderen auf, denn nur dort ist das Ausrangierte zu finden. Doch auch wenn das Pfandgeld der anfängliche Grund für den Gang auf die Straße sein mag, so scheinen die Strukturmerkmale des Sammeln eine gewisse Eigendynamik zu entwickeln, wie die Ergebnisse der Sequenzanalysen nahelegen. Den Mangel an Geld zu beheben, ist, anders als dies etwa im medialen Diskurs dargestellt wird, nur eine Lösung einer lebenspraktischen Krise, die durch das Sammeln geboten wird. Das Pfandsammeln bietet zugleich und vor allem auch die Möglichkeit der »Flucht« aus den eigenen vier Wänden – auf die öffentlichen Plätze, unter Menschen. Die Ergebnisse der Sequenzanalysen lassen sich dahingehend generalisieren, dass in allen drei Fällen das Sammeln von Pfandflaschen, neben der Möglichkeit des Geldverdienstes, als Ersatz für die Entbehrung sozialer Nähe und Eingebundenheit dient.

96 Münsterberger, Sammeln, S. 39.

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Das vorsorgende Sammeln, so konnte gezeigt werden, geschieht aufgrund von Existenzsicherung. Dies trifft auf das Pfandsammeln nur bedingt zu. Eher scheint sich diese Vorsorge auf die soziale Existenz zu beziehen. Diese ist bedroht durch eine von Einsamkeit geprägte Lebenssituation, die wiederum mit der jeweiligen Positionierung zur Erwerbsarbeit in Zusammenhang steht. Zugleich lässt sich in allen Fällen das Deutungsmuster rekonstruieren, nach dem die soziale Existenz zuallererst über eine entlohnte Tätigkeit gesichert werden kann. Somit scheint Erwerbsarbeit für Pfandsammler das einzig mögliche Modell für soziale Anerkennung und Integration zu sein.97 Gesammelt werden immer Objekte. Da es sich bei Pfandflaschen um die weggeworfenen Objekte anderer Personen handelt, ergibt sich durch deren Sammeln eine Nähe zu anderen Menschen, die den Sammlern in ihrem sozialen Umfeld fehlt. Ohne dass also der Kontakt als erklärtes Ziel angegeben werden müsste – denn dies würde ein permanentes Ins-Gedächtnis-Rufen der sozialen Randstellung bedeuten –, wird dieser über die Suche nach Pfandgebinden automatisch hergestellt. Das Pfandsammeln bietet die Möglichkeit einer doppelten Teilhabe: Zum einen erhöhen die Sammler die potenziellen Gelegenheiten, mit Menschen in Kontakt zu kommen, weil sie draußen unterwegs sein müssen, anstatt sich in ihren vier Wänden aufzuhalten. Zum anderen erweitert das »ersammelte« Geld ihre Konsumchancen, die zum Teil aufgrund schwieriger ökonomischer Verhältnisse eingeschränkt sind. Als Kunde, der mehr als nur seinen unmittelbaren Bedarf deckt, machen sie sich sozial akzeptabel, denn in einer Konsumgesellschaft wird Anerkennung auch und vor allem über den Kundenstatus vermittelt.98 Während der Kunstsammler sammelt, um zu behalten, sammelt der Flaschensammler letztlich, um (aus-) zu geben. Dies zeigt sich, neben der relational zur sozialen Position eröffneten Möglichkeit zum Luxuskonsum, auch am unter Sammlern herrschenden Deutungsmuster, die anderen wären ihnen für das Sammeln dankbar. Die Hoffnung, die individuelle Krise der sozialen Vereinsamung durch erhöhte Konsumchancen zu lösen, muss jedoch bis zu einem gewissen Grade enttäuscht werden. Soziale Vereinsamung zeichnet sich vor allem durch das Fehlen von diffusen (Familie, Freunde) und eben 97 Franzmann, »Einleitung«. 98 Lorenz, »Konsumismus und Überflüssigkeit«.

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nicht spezifischen Sozialbeziehungen aus. Im Anschluss an Georg Simmel formuliert Christoph Deutschmann: »Mit der Geldwirtschaft wächst ja die gesellschaftliche Arbeitsteilung und damit gerade nicht die Freiheit, sondern die Abhängigkeit aller von allen. (…) Das Entscheidende ist aber nach Simmel, dass das Geld den persönlichen Charakter dieser Abhängigkeiten beseitigt und ihnen eine funktionale, damit austauschbare und anonyme Form gibt.«99

Selbst wenn die Pfandsammler durch ihre Tätigkeit zu erhöhtem Konsum befähigt werden, sind die durch Geld induzierten Beziehungen als Vermittlungsinstanzen zu anderen Menschen begrenzt, das heißt, erhöhter Konsum geht nicht zwangsläufig mit einer Erhöhung sozialer Eingebundenheit einher.100 Sammeln vermag das Gefühl von Einsamkeit beiseitezuschieben, indem ein kompensatorisches Objekt gefunden wird, das die Nähe zu anderen Menschen ersetzt. Dabei kann das Sammeln sich, je nach Verarbeitung bestimmter Erfahrungen, zu einer wahren Sammelsucht ausweiten – wie dies bei Dieter der Fall ist. Es fungiert in einem solchen Zusammenhang »als Bollwerk gegen tief eingewurzelte Unsicherheiten und existenzielle Ängste«.101 Unsicherheit des Individuum lässt sich hier als fehlender Selbstwert inter pretieren, der aus dem Mangel an sozialer Anerkennung resultiert. Existenzielle Ängste wiederum stammen nicht zuletzt von einer finanziellen Notsituation. Das Sammeln eignet sich aufgrund seiner strukturellen Eigenschaften besonders zur Bearbeitung solcher Unsicherheiten und Ängste. Dies gilt sowohl für das Sammeln als Mittel zum Zweck als auch für das Selbstzwecksammeln: 1) Sammeln heißt, mit Unabschließbarkeit konfrontiert zu sein. Hiermit ist weniger eine negative Am-Ende-nichtsgenützt-Haltung bezeichnet als vielmehr ein grundsätzlich positives Immer-weitermachen-Können. 2) Sammeln zwingt zum sozialen Austausch, macht also das In-Kontakt-Kommen mit Menschen und daher das Heraustreten aus der Einsamkeit notwendig. 3) Das Sammeln macht aus dem Sammler einen Außenseiter, der zwar einerseits diskreditierbar sein mag, andererseits aber durch seine Tätigkeit Außergewöhnlichkeit und damit letztlich individuelle Unabhängigkeit und Frei99 Deutschmann, »Simmels Geldtheorie«, [Hervorhebung im Original] S. 304. 100 Augé, Tagebuch eines Obdachlosen. 101 Münsterberger, Sammeln, S. 46.

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heit zum Ausdruck bringt. 4) Sammeln zeichnet sich in seinem Ergebnis durch eine gewisse Unberechenbarkeit aus. Es schließt eine zu starke Vorstrukturierung der Zukunft aus und bietet doch zugleich, weil man nur Dinge sammeln kann, von denen man weiß, dass sie potenziell auch gefunden werden können, eine beruhigende Sicherheit. Die Selbsterhaltung, nicht im existenziellen, sondern im sozialen Sinne, ist, wie die Sequenzanalysen gezeigt haben, für die Pfandsammler jedoch nur über Arbeit möglich. Dies verdeutlicht, wie stark verwurzelt die Kopplung zwischen Arbeit und Anerkennung im sozial formatierten Individuum ist. Daher konfrontiert uns die Betrachtung der Pfandsammler mit dem Bild einer Gesellschaft, in der Muße entweder vollkommen unbekannt oder verboten ist oder nur als eine Zeit vorgestellt werden kann, die durch Arbeit ausgefüllt wird. Diese Sichtweise ist vor dem Hintergrund struktureller Arbeitslosigkeit, das heißt der Unmöglichkeit, alle arbeitsfähigen Individuen über dieses Modell gesellschaftlich zu integrieren, nicht unproblematisch. Das Festhalten an diesem Vergesellschaftungsmodell scheint jedoch sozialhistorisch durchaus verständlich. Wie Wolfgang Kaschuba schreibt, ist die komplexe Frage zu beantworten, »was 300 Jahre Zivilisationsprozeß und 150 Jahre ›Industriegesellschaft‹ für uns als kulturelles Erbe und als selbstverständlich gewordene Identität bedeuten«.102 Die Arbeitswelt prägt seit dem 19. Jahrhundert nicht nur in hohem Maße die Zeitwahrnehmung des Menschen, sondern formt ebenso den modernen Arbeitskörper, und damit auch die Zeitwahrnehmung. Sie diszipliniert den Menschen, und diese Disziplin wird ins Innere verlagert.103 Der Verdienst eines Pfandsammlers ist, gemessen an der formellen Erwerbsarbeit – sogar im Vergleich zum Niedriglohnsektor –, sehr gering. Daher muss diese Tätigkeit, berechnete man den Ertrag wie einen Stundenlohn, als eine permanente Selbstausbeutung erscheinen. Dass dennoch gesammelt wird, bedingt die an Erwerbsarbeit erinnernde Struktur: Pfandsammeln macht die eigene Leistung quantifizierbar, die eigene Fähigkeit wird in Geld übersetzt. Die Arbeitsideologie der Gesellschaft, die Max Weber mit dem Begriff der protestantischen Ethik gekennzeichnet hat, ist für diese Menschen so ins Innere verlagert, dass eine andere sinnvolle Tätigkeit außerhalb der Arbeit jenseits aller Möglichkeiten liegt. Hannah Arendt hat dies, mit Blick auf eine 102 Kaschuba, »Arbeitskörper und Freizeitmensch«, S. 46. 103 Foucault, Überwachen und Strafen; Elias, Prozess der Zivilisation.

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Rationalisierung, die eigentlich die Arbeit erleichtern soll und daher den Menschen von der Arbeit befreien soll, wie folgt formuliert: »Die Neuzeit hat im siebzehnten Jahrhundert damit begonnen, theoretisch die Arbeit zu verherrlichen, und sie hat zu Beginn unseres Jahrhunderts damit geendet, die Gesellschaft im Ganzen in eine Arbeitsgesellschaft zu verwandeln. Die Erfüllung des uralten Traums trifft wie in der Erfüllung von Märchenwünschen auf eine Konstellation, in der der erträumte Segen sich als Fluch auswirkt. Denn es ist ja eine Arbeitsgesellschaft, die von den Fesseln der Arbeit befreit werden soll, und diese Gesellschaft kennt kaum noch vom Hörensagen die höheren und sinnvolleren Tätigkeiten, um derentwillen die Befriedigung sich lohnen würde.«104

Alles, was nicht nach dem Muster »finanzielle Entlohnung gegen erbrachte Leistung« funktioniert, scheint zunächst nicht als individuelle Krisenlösung akzeptiert werden zu können. Die Analysen der drei Fälle zeigen jedoch unverstellt, dass es gerade die Zentralität der eigenen Leistung ist, über die man beim Pfandsammeln unmittelbar Rückmeldung erhält. Dass Geld für keinen der Sammler die entscheidende Bedingung für das Sammeln darstellt, obgleich dies der Arbeitsorientierung zu widersprechen scheint, wird so verständlich. Außerdem besteht das Bedürfnis, unter Leute zu kommen. Die Betrachtung des Pfandsammelns als einer freiwillig ausgeführten Tätigkeit, die nicht in erster Linie der Existenzsicherung dient, kann demnach Aufschluss darüber geben, wie (Eigen-)Arbeit beschaffen sein müsste, damit sie als Selbstentfaltung empfunden wird.105 Die Wichtigkeit des Erwerbsarbeitsaspekts würde es grundsätzlich notwendig machen, von Pfandgebindeeinsammlern zu sprechen. Zum einen aber handelt es sich hierbei um ein wenig praktisches Wortungetüm, und zum anderen sind die Aspekte des Sammelns in der Praxis durchaus gegenwärtig. So findet sich bei den Pfandsammlern eine Habenorientierung, und auch das Suchen als mögliche Beschäftigung ist von zentraler Bedeutung. Daher bleibe ich der Einfachheit halber bei der Verwendung der Bezeichnung Pfand- beziehungsweise Flaschensammler. Nicht zuletzt an dieser semantischen Unentscheidbarkeit zeigt sich, dass das Sammeln von Pfandflaschen sich zwischen Mußeund Arbeitstätigkeit bewegt. 104 Arendt, Vita activa, S. 12f. 105 Bonß, »Erwerbsarbeit und Eigenarbeit«, S. 15.

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Weil das Pfandsammeln als eine Selbstaktivierung, ein passerà-l’action, verstanden werden muss, wodurch das Gefühl der Passivität und des Alleinseins in Aktion und Initiative transformiert wird, ist es als Ausdrucksgestalt der Autonomie von Lebenspraxis zu interpretieren, die das Potenzial des Gelingens in sich trägt. Durch selbstgewählte Krisenlösungen wird die Kontrolle über das eigene Leben übernommen und damit ein gewisses Maß an Unabhängigkeit und Selbstachtung gewonnen. Bei allen Flaschensammlern, mit denen gesprochen wurde, lassen sich die erwähnten existenziellen Ängste und Verunsicherungen aufweisen. Diese entstammen ihrer Position im gesellschaftlichen Gesamtgefüge, vor allem aber der Stellung innerhalb einer Leistungsgesellschaft, die von allen Leistung fordert, aber nicht alle mit Positionen versorgen kann, in denen diese Leistungsfähigkeit unter Beweis gestellt werden könnte. Die Prekarisierung der Arbeitssituation, der Sturz in die Arbeitslosigkeit oder der Eintritt ins Rentenalter sowie der Mangel an einer befriedigenden Freizeitbetätigung jenseits von Erwerbstätigkeit führen dazu, sich als Flaschensammler zu betätigen. Das Sammeln eignet sich zur Bewältigung einer solchen Krise, da durch die Unberechenbarkeit des Ertrags Hoffnung der ständige Begleiter des Sammlers ist. Das Beispiel von Thomas verweist jedoch auf die Begrenztheit der aus dem Sammeln resultierenden Krisenlösungschancen, um die es im zweiten Teil der Untersuchung gehen soll. Als das oben analysierte Gespräch geführt wird, macht er den Eindruck eines Menschen, der sich gut mit seiner Lebenssituation arrangiert hat. Er verwendet das Pfandsammeln als eine Art der Alltagsstrukturierung und den Versuch, sich von seinem alten Leben auf der Straße zu entfernen, zu dem auch die Alkoholsucht gehörte. Mithilfe von Sozialarbeitern, die ihm nicht nur eine Entziehungskur ermöglichten, sondern auch eine Wohnung besorgten, konnte er wieder Fuß im Leben fassen. Während des Gesprächs macht er, ebenso wie zahlreiche andere Sammler, einen gepflegten äußeren Eindruck und entwirft das Bild eines gut organisierten Sammlers, den seine Beschäftigung voll und ganz ausfüllt. Als ich ihn einige Monate nach dem Gespräch erneut beim Sammeln treffe, hat sich dieses Bild vollkommen gewandelt. Zwar hat er seine Tätigkeit nicht aufgegeben, jedoch zeigt sich, dass sie ihn keinesfalls vor einem erneuten Absturz hat bewahren können. Innerhalb weniger Monate hat sich Thomas von einem ordentlich gekleideten und frisch rasierten Mann Mitte vierzig in einen zahnlosen, schmuddeligen, nach 120

Alkohol riechenden Mann verwandelt, der zehn Jahre älter aussieht, als er tatsächlich ist. Das Problem des Pfandsammelns ist, dass es in die Kategorie gesellschaftlich wenig anerkannter »Drecksarbeit« fällt, deren negative Einwirkungen auf die Identität aufgrund der nicht zustande kommenden Vergemeinschaftung der Sammler allein getragen und erduldet werden müssen. Im zweiten Teil wende ich mich nun, aufbauend auf den bisherigen Ergebnissen, den strukturellen Grenzen zu, mit denen die individuelle Krisenlösung »Pfandsammeln« konfrontiert ist. Weil die Pfandsammler im öffentlichen Raum in Abfalltonnen ihre Objekte suchen müssen und dadurch mit einer unhinterfragten gesellschaftlichen Norm brechen, können sie nicht mit uneingeschränkter sozialer Akzeptanz rechnen. Zudem ist, trotz einer ausgeprägten Orientierung an der Leistungsethik, nicht jede Form entlohnter Tätigkeit uneingeschränkter Garant für soziale Anerkennung. Der zweite Hauptteil strukturiert sich entlang von vier Grenzen, die sich aus den bisherigen Analysen ergeben: Wie gezeigt werden konnte, gehört zum Sammeln der soziale Austausch. Die Objekte müssen dem Sammler entweder übergeben oder zurückgelassen werden. Jedoch macht es einen Unterschied, ob der Sammler in seiner aktiven Rolle als Sammler anerkannt wird oder ob seine Tätigkeit lediglich als das Erhalten von Gaben gedeutet wird. Daher wird das Material mit Bezug auf die Theorie der Gabe interpretiert, um die Frage zu klären, welche Auswirkungen der Umstand mit sich bringt, dass das Pfandsammeln, neben einer informellen Dienstleistungsbeziehung, ebenso eine gabeninduzierte Beziehung zwischen Sammler und Geber entstehen lassen kann. Der Dreischritt GebenNehmen-Erwidern findet sich in Reziprozitätsbeziehungen, in denen kein ökonomisches Kalkül vorherrscht, und stellt daher ein alternatives Vergesellschaftungsmodell in den Vordergrund, für das das Pfandsammeln als Beispiel herangezogen werden kann. Bei dem, was von den Pfandsammlern zusammengetragen wird, handelt es sich um Getränkegebinde, auf die vertraglich Geld ausgezahlt wird. Zugleich aber handelt es sich um den Müll anderer Leute, mit dem die Sammler – auf den ersten Blick freiwillig – in Berührung kommen. Müll oder Dreck unterliegen einer bestimmten gesellschaftlichen Deutung und stellen die negative Seite einer Unterscheidung – das Reine und das Unreine – dar, auf der sich die Sammler durch ihre 121

Tätigkeit wiederfinden. Auszuführende Arbeiten, die es notwendig machen, mit Müll in Kontakt zu kommen, gibt es in der Gesellschaft viele, jedoch ist das dafür zu vergebende Prestige häufig gering. Die zu behandelnde Frage wird demnach sein, welche Grenzen der Krisenlösung gesetzt werden, dadurch dass das gesammelte Objekt von zwei Seiten betrachtet werden kann, die sich jedoch diametral gegenüberstehen. Wurde das politische System mit seiner Verordnung zur Pfandpflicht im ersten Teil als ermöglichend für die Etablierung der Sammler ins Feld geführt, so wende ich mich nun dem begrenzenden Moment zu, indem Stadtverordnungen sowie aktuelle politische Entscheidungen untersucht werden. In ihrer Rolle als Territorialunternehmer besteht für die lokalen Volksvertretungen Interesse daran, ein positives Image ihrer Städte zu konstruieren. Die Ausrichtung politischer Entscheidungen am neoliberalen Politikmodell, wie es heute vielerorts vorherrscht, macht das Auftreten nicht oder nur begrenzt leistungsfähiger Menschengruppen im öffentlichen Raum unerwünscht. Zu ihnen gehören auch die Pfandsammler. Wie im ersten Teil eindeutig herausgearbeitet, dient das Pfandsammeln der Entwicklung eines positiven Selbstwertes, indem sich auf die eigene Leistungsfähigkeit bezogen werden kann. Allerdings ist dieser Selbstwert auf die Anerkennung von außen angewiesen. Im Setzen von Grenzen können die politischen Institutionen auf in der Gesellschaft vorherrschende Deutungsmuster zurückgreifen. Die Individuen, die diese Muster teilen, machen sich durch ihre missachtenden Reaktionen zu Helfershelfern. Die Möglichkeiten, durch Anerkennung von außen eine positive Identität zu konstituieren, sind daher von Anfang an begrenzt. Dies zeigt, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse so eingerichtet sind, dass Anerkennung, wenn in einer zu allgemeinen Form konzipiert, nicht funktionieren kann.

Zweiter Teil

Ökonomische Wohltat oder: Wohltätige Ökonomie? Die Gabe oder : Eine unmögliche Möglichkeit Die Auseinandersetzung mit dem Sammeln hat gezeigt, dass diese Tätigkeit notwendig mit dem Geben zusammenhängt. Damit liegt es zunächst scheinbar jenseits eines landläufigen Verständnisses von ökonomischem Handeln, denn gegeben kann nur werden, solange keine Knappheit herrscht. Bäume oder Sträucher können dem Sammler im Wald ihre Früchte geben, weil sie diese größtenteils nicht benötigen. Hier gibt die Natur, ohne zurückzuerhalten: Sie kennt keine Ursache und kein Kalkül.1 Der Mensch schmarotzt in dieser Konstellation, er macht sich ihre »Freigiebigkeit« zunutze. Als Parasit profitiert er unentgeltlich von den Vorräten der Natur: dem Wirt. Der sammelnde Parasit ist jedoch nicht genügsam und nimmt dankend, was ihm gegeben wird, sondern wählt fein säuberlich aus: »Das Sammeln geht dem [Ackerbau] voraus, erzählt man. Noch können wir gar nichts und sind doch anspruchsvoll. Wir wählen aus. Wir weisen damit andere Pflanzenarten ab. Wir eliminieren sie. Die Geste des Ausschlusses, die Geste der Vertreibung, ist schon zu Anfang da, die enge Öffnung.«2

Demnach ist im Sammeln ein ökonomisches Moment enthalten (Knappheit). »Der Parasit ist auf der Suche nach dem Seltenen.«3 Der Liebhaber, der alte Bücher für seine Sammlung sucht, geht dabei nicht willkürlich vor, sondern hoch selektiv – er sucht etwas ganz Bestimmtes. Seine Selektion wiederum ist daran gebunden, dass sie der Gabe

1 Caillé, »Doppelte Unbegreiflichkeit«, S. 111ff. 2 Serres, Parasit, S. 270. 3 Ebenda, S. 230. Michel Serres geht es darum aufzuzeigen, dass Parasitismus die »gewöhnlichste Sache von der Welt« (ebenda S. 24) ist und daher als negative Beschreibung einer Beziehung – wie dies die Verwendung des Begriffs als Schimpfwort zeigt – unbrauchbar ist. Wer Gastfreundschaft annimmt, handelt parasitär, denn Parasit sein heißt, bei jemandem zu speisen, ohne zu bezahlen. Bei Georg Simmel findet sich eine Möglichkeit, diesen Parasitismus zeitlich zu begrenzen; ich komme darauf weiter unten zu sprechen.

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eines Anderen entspricht, das heißt, die Knappheit ergibt sich für den Sammler aus dem Umstand, dass an dem Objekt immer irgendwie noch ein anderes oder ein anderer hängt, der eventuell Ansprüche anmelden könnte. Dadurch entsteht zu diesem eine Verbindung. Zu sammelnde Objekte liegen in der Regel nicht einfach herum, sondern sind markiertes, vormaliges Eigentum desjenigen, der sie dem Sammler überlässt. Die Vermittlung zwischen Sammler und gebender Instanz vollzieht sich über das Objekt. Generell sind Formen der Transaktion soziologisch aufschlussreich, da sie darüber informieren, mit welcher Art von sozialer Beziehung man es zu tun hat. Wie Marshall D. Sahlins schreibt: »Wenn Freunde Geschenke machen, so machen auch Geschenke Freunde.«4 Das Thema des Gebens hat, neben Theorieansätzen der rationalen Wahl, welche die Interaktion zwischen Individuen ähnlich einem ökonomischen Tauschverhältnis5 auffassen, vor allem aufgrund der Arbeit von Marcel Mauss einen prominenten Platz in der Soziologie erhalten. Der Neffe Emile Durkheims veröffentlichte im Jahre 1924 mit seinem viel beachteten Essay »Die Gabe« ein Werk, das den nachfolgenden französischen Strukturalismus und damit Forscher wie Claude Lévi-Strauss oder Pierre Bourdieu nachhaltig geprägt hat. In der Gabe glaubte Mauss ein Grundprinzip von Vergesellschaftung ausfindig gemacht zu haben: Die freiwillige soziale Norm des GebenNehmen-Erwiderns, die zur gleichen Zeit hochgradig verpflichtend sei, finde sich ihrer Struktur nach in allen bekannten Gesellschaften wieder.6 Die Art der Verbindung, die durch die Gabe eingegangen wird, ist soziologisch vor allem deswegen interessant, weil sich an ihr das Prinzip der Reziprozität innerhalb sozialer Beziehungen untersuchen lässt, die gerade nicht auf familiären Banden beruhen und jenseits des ökonomischen Austausches oder Vertragsbindungen anzusiedeln sind.7 Gerade in diesem Punkt verspricht die Gabe das Paradeargument gegen Theorien der rationalen Wahl abzugeben, die aufzeigen, »dass soziale Interaktion jenseits der ökonomischen

4 5 6 7

Sahlins, »Soziologie des primitiven Tauschs«, S. 75. Vgl. Homans, Elementarformen; Blau, »Sozialer Austausch«. Mauss, »Die Gabe«, S. 71ff. Berking, Schenken; Adloff/Mau (Hg.), Geben und Nehmen.

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Sphäre erhebliche Ähnlichkeiten zu wirtschaftlichen Transaktionen aufweist«.8 Mag die Lebenswelt von der systemischen Zweckrationalität kolonialisiert werden, so versuchen Theoretiker in der Auseinandersetzung mit Mauss zu zeigen, dass es gerade eine Art von primärer Sozialität gibt, auf die der rationale Tausch angewiesen ist. Ulrich Oevermann hat dies an der Betrachtung des gegenseitigen Grüßens demonstriert: »Was [beim Grüßen] ausgetauscht wird, sind vollkommen gleichlautende, selbstbindende Wünsche. Also ein Austausch gerade ohne die Vorbedingung der Gebrauchswertdifferenz. Aber gerade deshalb die Grundform von Sozialität mit ihrer Kernstruktur der Reziprozität. Sie wird insofern zweckfrei, in zweckfreier Reproduktion eines Regelalgorithmus hergestellt. Nur deshalb kann sie auch die Eröffnung einer gemeinsamen Praxis leisten, die gegeben sein muß, damit überhaupt zweckgerichtet und interessiert gehandelt werden kann.«9

Obgleich hier argumentiert wird, konstitutionslogisch müsse die Reziprozität der ökonomischen Logik vorausgehen, können doch die Bezugnahmen auf das Gabentheorem nicht umhin, sich zugleich der Kritik von Sozialromantik ausgesetzt zu sehen. Zu eindeutig scheint darin die Unterscheidung des Tönnies’schen Begriffspaares von Gemeinschaft und Gesellschaft erneut aufzutauchen und eine Rückkehr zu vermeintlich interessenfreier Reziprozität zu fordern,10 die gerade in kapitalistisch geprägten Gesellschaften ein knappes Gut ist. Mauss’ Studie scheint an derartigen Vorwürfen nicht ganz unschuldig. An deren Ende präsentiert er die »moralischen Schlussfolgerungen«11 und wechselt dabei, wie Jacques Derrida es ausdrückt, von der beschreibenden zur vorschreibenden Sprache, sodass »der Essai von Anfang bis

8 Blau, »Sozialer Austausch«, S. 129; die durch Alain Caillé und Gérald Berthoud 1980 gegründete Theorieschule »Mouvement Anti-Utilitariste dans les Sciences Sociales (M.A.U.S.S.; antiutilitaristische Bewegung in den Sozialwissenschaften), bezieht sich explizit auf die Mauss’sche Gabentheorie. Aus der Kritik an Pierre Bourdieu entstanden, versucht die Gruppe ein neues Paradigma für die Sozialwissenschaften zu entwerfen (vgl. hierzu: Godbout/(Caillé), L’esprit du don; Moebius, »Die Gabe«). 9 Oevermann, Strukturale Soziologie, S. 3f. 10 Lessenich/Mau, »Reziprozität und Wohlfahrtsstaat«, S. 260ff. 11 Mauss, »Die Gabe«, S. 123ff.

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Ende eine einzige lange Parteinahme«12 für das Zusammenleben jenseits von ökonomischer Rationalität ist. In Anbetracht der hier nur angedeuteten definitorischen Vielfalt scheint es willkürlich, eine Definition der Gabe herauszugreifen und dabei allen anderen den Rücken zu kehren.13 Bevor ich mich allerdings den Pfandsammlern zuwende, um an der Auseinandersetzung mit dem empirischen Material klarzumachen, inwieweit das Pfandsammeln zwischen Reziprozität und Ökonomie oszilliert, soll das Geben noch aus einem anderen Blickwinkel betrachtet werden. Dazu greife ich auf eine Schrift Georg Simmels zurück. Dieser hat mit seinem ihm eigenen soziologischen Gespür den Fokus auf eine soziale Form des Miteinanders gelegt, die für die folgende Auseinandersetzung zentral ist: Dankbarkeit. Simmel weist darauf hin, dass Dankbarkeit jenes Band des Hin- und Hergebens zu stiften vermag, »wo kein äußerer Zwang es garantiert«,14 wie dies in ökonomischen Beziehungen und dem damit verbundenen Begleichen der Schuld durch Bezahlung der Fall ist. Wenn wir es mit sozialen Beziehungen zu tun haben, in denen die Verpflichtung besteht, Dankbarkeit auszudrücken, gibt dies einen Indikator dafür ab, dass wir es mit einer parasitären Beziehung im Serres’schen Sinne zu tun haben. Es wurde gegeben, ohne unmittelbar etwas zurückzufordern. Der Dank aber ist nicht die Tilgung der Schuld, mit der die Verbindung zwischen Geber und Empfänger aufgelöst würde: 12 Derrida, Falschgeld, S. 85. 13 Vor allem die Kontroverse um den von Kritikern unterstellten Ökonomismus Pierre Bourdieus ist ein instruktives Beispiel dafür, dass letztlich die nicht-reflexive Wahl einer Definition willkürlich bleiben muss. Die eine Seite (Caillé) wirft der anderen (Bourdieu) vor, nicht verstanden zu haben, was eigentlich mit Gabe gemeint sei. Daraufhin sucht sich die andere Seite zu verteidigen, indem sie scheinbar auf die Kritik reagiert. Die eine Seite jedoch bleibt auf ihrem Standpunkt, indem sie aufzuzeigen versucht, dass sich die Position »in Wahrheit« nicht geändert habe (vgl. Bourdieu, »Die Ökonomie der symbolischen Güter«, S. 187ff.; Caillé, »Doppelte Unbegreiflichkeit«, S. 160ff.). Allerdings sind derartige Kontroversen insofern lehrreich, als sie zu Kritik anregen. Sie nötigen den Forscher, den von anderen begangenen Weg noch einmal entlangzuschreiten, um am Ende möglicherweise den eigenen Weg zu finden. Traurige Wissenschaft zeigt sich in der Abwesenheit freiheitlichen Denkens, im »gelehrsamen Nachbeten überlieferter philosophischer Entwürfe.« (Adorno, Minima Moralia, S. 117; vgl. auch: Serres, Parasit, S. 13). 14 Simmel, »Dankbarkeit«, S. 102.

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»Die Dankbarkeit ist ein solches Weiterbestehen im entschiedensten Sinne, ein ideelles Fortleben einer Beziehung, auch nachdem sie etwa längst abgebrochen, und der Aktus des Gebens und Empfangens längst abgeschlossen ist.«15

Genau wie im Geben, so spiegelt sich auch im Dank ein Versprechen in die Zukunft wider, in der die eingegangene Beziehung weiter Bestand haben wird, ganz im Gegensatz zu ökonomischen Beziehungen, die mit der Bezahlung beendet sind. Bestimmte Normen legen dabei fest, in welcher Art und Weise der Dank zu erbringen ist.16 Nicht für jedes Geschenk wird sich gleich bedankt, weshalb auch davon ausgegangen werden muss, dass nicht jede dankbare Handlung in gleicher Weise die Aufrechterhaltung einer sozialen Beziehung zu sichern vermag. Daher muss der Dank genauer untersucht werden. Simmel zeigt in seiner Abhandlung die Tragik, die in der Unauflösbarkeit einer so eingegangenen Beziehung liegt. Die vermeintliche Freiwilligkeit und Verbundenheit, die sich im Akt des Gebens auszudrücken scheint, ist seiner Ansicht nach selbst nur Schein. Die Dank auslösende Schönheit eines spontanen Sichhingebens an den anderen sei nur in der ersten Gabe vorhanden; jede Gegengabe stehe unter ihrem Zwang, sodass daraus folgt, »dass wir eine Gabe überhaupt nicht erwidern können; denn in ihr lebt eine Freiheit, die die Gegengabe, eben weil sie Gegengabe ist, nicht besitzen kann.«17

Auch bei Simmel ist die durch die Gabe gestiftete Beziehung dem Anschein nach vor allem eine Zwangsverbindung, aus der man sich nicht zu lösen weiß. Dies betont die strukturelle Agonalität, die sich in der Gabe wiederfindet, obgleich nach außen hin gerade Friede zu herrschen scheint. Zwar zeigt sich in der Verpflichtung zur Gegengabe (Reziprozitätsnorm) die aufscheinende Möglichkeit, die gestörte Symmetrie in der Beziehung wieder auszugleichen, es ist aber gerade die Pflicht zur Gegengabe, die eingegangen wird, sobald der Dank ausgesprochen ist, die eine Stillstellung von Feindseligkeit auf Zeit bedeutet: bis zur nächsten Gabe.18 Eben dies scheint letztlich die Gabe und damit

15 16 17 18

Ebenda, S. 103. Vgl. hierzu: Berking, Schenken, S. 46ff. Simmel, »Dankbarkeit«, S. 106 [Hervorhebung im Original]. Vgl. Strehle, »Jenseits des Tausches«, S. 135.

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eine Alternative zum zweckrationalen (ökonomischen) Tausch unmöglich zu machen. Obgleich der Sammler scheinbar nur sein Objekt sucht und somit ganz in der Beziehung zu ihm aufgeht, entstehen durch das Sammeln immer auch Verbindungen zwischen ihm und anderen, wie zum Beispiel den ehemaligen Besitzern dieser Objekte. Dies lässt die Frage aufkommen, von welcher Art diese Verbindungen sein können. Handelt es sich um eine Gabe, so müsste sich auch Dankbarkeit einer besonderen Art ausdrücken. In den Gesprächen mit Dieter und Thomas hatten die beiden darauf hingewiesen, es seien gerade die vermeintlichen Geber oder Dritte, wie etwa die Bereitschaftspolizei beim Fußballspiel, die den Sammlern dankbar sind. Handelte es sich dagegen um eine einfache Dienstleistung – also eine ökonomische Handlung –, dann könnte grundsätzlich nicht von einer »Pfandgabe« gesprochen werden. Dass diese Deutung jedoch nicht ungewöhnlich ist, wird u.a. die Betrachtung der Internetseite pfandgeben.de zeigen. Pfandsammeln scheint beide Möglichkeiten – Reziprozität und Ökonomie – prinzipiell zu vereinen, was die Frage aufwirft: Wer hat in diesem Arrangement eigentlich wem dankbar zu sein? Oder: Muss hier überhaupt irgendwer dankbar sein? Doch bevor auf diese Fragen näher eingegangen wird, soll die Situation der Sammler etwas genauer betrachtet werden.

Zwischen Selbstständigkeit und Selbstüberwindung Der Flaschensammler muss sich danach richten, wann viele Leute auf der Straße unterwegs sind. Ob er auf Veranstaltungen sammelt oder eher selbst entworfene Routen abläuft, liegt in seiner Freiheit. Die Tätigkeit besitzt jedoch wenig Freiheit in der zeitlichen Gestaltung, da diese von der Freizeit der anderen abhängig ist. Nicht der Pfandsammler hat etwas anzubieten, das die anderen benötigen könnten, sondern er sucht ihre Flaschen; in diesem Sinne ist der Sammler ein Beispiel für eine Art unternehmerischer Selbstaktivierung.19 Gerade Freitag und Samstag sind die »Pflichttage«, an denen die Pfandsammler unterwegs sein müssen, wenn sie »hohe« Erträge erzie-

19 Bröckling, Unternehmerisches Selbst.

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len wollen. Besonders einsichtig wird dies bei der Betrachtung von Veranstaltungssammlern. Bei Fußballspielen, Konzerten oder Jahrmärkten handelt es sich um feste Termine, die mehrere Monate im Voraus bekannt sind. Diese können nicht frei gewählt werden, allenfalls kann die Wahl getroffen werden, bestimmte Veranstaltungen nicht aufzusuchen. Routensammler sind, vor allem was die Stellen ihrer Route angeht, frei in ihrer Wahl, auch wenn die Stellen möglichst nicht zu weit auseinanderliegen sollten. Zugleich aber sind sie, auch was die Zeiten anbelangt, in ihrer Wahl eingeschränkt. Nicht zuletzt die Jahreszeit und vor allem das Wetter spielen eine erhebliche Rolle. Thomas sagt dazu: Wetterbericht is entscheidend, ne. Danach, Wetterbericht hör ich immer. Da gibt’s da so bestimmte Stellen, wo man weiß, wo viele Jugendliche rumhängen. Und da sein, da muss man natürlich präsent sein, das is natürlich Pflichtprogramm.

Mit dem Hinweis auf ein »Pflichtprogramm« verdeutlicht sich das Zurücknehmen eigener Ansprüche. Das Wetter wird nicht nach eigenen Maßstäben oder individueller Befindlichkeit bewertet, sondern nur in Bezug auf seine Auswirkungen auf die Höhe des zu erlangenden Pfandgeldes. Das Sammeln von Flaschen nötigt dazu, bisherige Deutungskategorien zu ver- und dafür andere zu erlernen; dies gilt ebenso für die Kategorie des Schmutzes, wie später noch zu zeigen sein wird. Obgleich sich Thomas’ Aussage auf den ersten Blick so verstehen lassen könnte, sind Flaschensammler jedoch nicht nur bei gutem Wetter auf den Straßen anzutreffen. Zwar lohnt es sich, wie er sagt, bei gutem Wetter besonders, jedoch legen die Beobachtungen nahe, dass Flaschensammler generell bei jedem Wetter unterwegs sind. Dies führt zu zwei Fragen: Übt das Wetter nur einen minimalen Einfluss auf das Sammeln aus? Oder, wie die Krisenlösungen es vermuten lassen: Kommt es letztlich gar nicht nur auf den Ertrag an? Wie unterschiedlich die Einstellung zum Wetter ist, zeigt die folgende Aussage von Dieter: … morgen Abend um zehne oder um elfe, dann geh ich ja erst los, vorher geh ich ja gar nicht, dann, dann sag ich schon zu meiner Frau: »Mensch, scheiße, es regnet.« »Ach, bleib zu Hause«, sagt die zu mir, ich sag: »Nee. Ich muss los.« Ja, und wenn’s regnet oder stürmt, ich geh los, weil es is so ’n Magnet, die Kohle auf der Straße.

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Hier zeigt sich eine mögliche Antwort auf die gestellte Frage: Die »Kohle auf der Straße« übt eine Anziehung aus, die süchtig macht und der man sich letztlich nicht erwehren kann. Trotz des eigenen Unbehagens bezüglich des Wetters wird nicht davon abgelassen, auf die Straße zu gehen und nach Flaschen zu suchen. Die Bewertungsmaßstäbe für das Wetter sind hier nicht mehr die eigenen. Eine solche Art der Umwertung der eigenen Werte findet sich auch in Bezug auf Orte und Zeiten, in denen gesammelt wird. Erwin, ein 60-jähriger Erwerbsloser, der hauptsächlich spät abends oder nachts sammelt, antwortet auf die Frage, ob er jeden Tag unterwegs sei: An für sich, äh, wenn’s eben geht, freitags, mittwochs und samstags. Sonst abends so bei diesem Wetter, da geh ich so abends noch ma eben kurz durch. Hier, heute geh ich auch nur ganz kurz durch. Weil ich muss ja auch gleich mitte Bahn wieder fahren.

Die eigentliche Frage, ob er jeden Tag unterwegs sei, beantwortet Erwin hier im Grunde mit »Ja«. Auffällig ist die Unterscheidung zwischen festen Tagen, an denen scheinbar »richtig« gesammelt wird, und den restlichen Tagen, an denen er nur mal »kurz durch« geht, also nicht so lange, intensiv und gründlich sammelt. Der Ort, an dem er nur mal »kurz durch« geht, stellt einen eigenen Raum dar, der von ihm überprüft wird, wobei er zwischen gründlicher und weniger gründlicher Kontrolle unterscheidet. In dieser Darstellung ist der Pfandsammler ein Pfandgebinde-Wachmann, dessen Aufgabe in der Reinhaltung seines Zuständigkeitsbereichs besteht. Warum er zwischen genauer und ungenauer Kontrolle unterscheidet, liegt nicht nur an der Bahn, auf die er angewiesen ist und die wochentags nicht so lange fährt wie am Wochenende. Als Begründung kann eine Aussage herangezogen werden, die er zuvor im Gespräch gemacht hat: E: Das lohnt sich nur, wenn richtig wat los is, muss man so viel laufen. Montags is und dienstags hat überhaupt kein Sinn. An und für sich nich.

Die Aussage von Erwin ist vor dem Hintergrund widersprüchlich, da das Gespräch mit ihm an einem Montag stattfand. Auch er geht los, obgleich es sich nach seinem eigenen Dafürhalten an eben diesem Tag nicht lohnt. Ähnlich wie bei Dieters Aussage über das Wetter, welches ihm nicht passt, aber nicht daran hindert rauszugehen, zeigt sich auch an Erwins Ausführung eine Diskrepanz zwischen Aussage und Hand132

lung. Bei Dieter findet sich noch ein weiteres Beispiel, welches auf den Ort bezogen ist, an dem er (ein-)sammelt: Jetzt war ich vorne am Bahnhof, aber das is so n dunkels Viertel, das passt mir gar nicht. Also da, da is auch meistens nix zu finden.

Trotz des Hinweises, das Herumlaufen in dunklen Vierteln gefalle ihm nicht und lohne sich obendrein nicht, geht er dennoch in dieses Viertel, um dort nach Flaschen zu suchen, sonst wüsste er ja nicht, dass »auch meistens nix zu finden« ist. Der Grund dafür, dass alle Sammler scheinbar bei ihrer Tätigkeit das eigene Unbehagen überwinden, erklärt sich aus der Tätigkeitsstruktur: Das Sammeln nimmt nie ein Ende, es ist unberechenbar und nicht abschließbar und genau daher anziehend. Es kann immer und überall gesammelt werden, was die Anpassung der eigenen Einstellungen notwendig macht.20 Vor dem Hintergrund der Ergebnisse der Sequenzanalysen kann gezeigt werden, dass das Flaschensammeln eine nicht enden wollende Möglichkeit bietet, die übermäßig vorhandene Zeit auszufüllen. Dass jedoch lediglich eine Geld einbringende Tätigkeit gewählt werden kann, was wiederum auf eine tief verwurzelte Leistungsethik schließen lässt, zeigt der folgende Ausschnitt aus dem Gespräch mit Thomas. Auf die Frage, wie er auf die Idee gekommen sei, Flaschen sammeln zu gehen, antwortet er: Damals, wie ich Platte gemacht hab. Kein Geld gehabt und hab ich jemand kennengelernt, der war immer, wenn du n bisschen Kohle brauchst, Flaschen sammeln, ne.

In der Obdachlosenszene ist Pfandsammeln also eine Tätigkeit, die es erlaubt, sich mit geringen Geldmengen zu versorgen, um damit geradewegs eigene Bedürfnisse befriedigen zu können. Nicht nur enthält diese Aussage einen möglichen Hinweis auf die Genese des Flaschensammelns – nämlich seine ursprüngliche Verbundenheit mit dem Obdachlosenmilieu –, sondern wir können einen nur kurz angeklungenen Gedanken weiterführen: Was Thomas hier ausdrückt, ist, dass man ein Obdachloser wird, indem man den Hinweisen anderer folgt und diese in ihrer Tätigkeit nachahmt. Auch Flaschensammeln ist eine Tätigkeit, die auf Nachahmung anderer beruht und demnach erst einmal keine eigenständige Krisenlösung für ein lebenspraktisches Problem dar20 Vgl. hierzu: Festinger, Theorie der kognitiven Dissonanz; Sennett, Der flexible Mensch.

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stellt. Viel eher kommt es zur Einsozialisierung in die Routinen eines Milieus, dem man bis dato nicht angehört hat.21 Der Bezug zu einer mit Schmutz und Abfall konnotierten Tätigkeit macht es unausweichlich, die bisherigen Kategorien von gut/schlecht oder sauber/schmutzig zu überdenken, wenn nicht sogar zu revidieren.22 In keinem Gespräch ließ sich ein Beleg dafür finden, dass das Pfandsammeln eine »pfiffige Geschäftsidee« gewesen wäre. So betrachtet, ist der Pfandsammler kein findiger Entdecker im unternehmerischen Sinne, sondern allenfalls ein Nachahmer, der »eine Meinung zu einem fertigen Erbe«23 hat. Selbst dort, wo altruistische Beweggründe angedeutet werden, bleibt am Ende die Nachahmung entscheidend, wie bei Rudi zu sehen ist: R: Tja, wie kommt man auf die Idee? Man geht hier hin (morgens um zehn) und dann, ich hab mich mal geärgert, ich bin hier über ne Flaschen ausge-, rübergefallen. SJM: Was sind Sie? R: Ich bin hier mal auf ner Flasche gestolpert. Ja, und da hab ich gesagt, und dann hab ich das gesehn, »Och, was andere könn, kannste auch.«

Das »Rübergefallen«, also die potenzielle Gefahr der Verletzung, der Wunsch, andere davor zu bewahren und sich somit als deren »Retter« zu profilieren, reicht für die Begründung der Wahl des Pfandsammelns nicht aus. Es musste erst bei anderen »gesehn« werden, um als Möglichkeit in Betracht gezogen zu werden. Vor allem aber muss das »was andere könn, kannste auch« vor dem Hintergrund der Struktur der Tätigkeit nicht im Sinne einer schwierigen physischen Herausforderung angesehen werden, sondern eher im Sinne einer Überwindung: Wenn andere Leute Müll aufsammeln, dann kann ich das auch tun. Mit einer derartigen Krisenlösung deutet sich eine geringe Risikobereitschaft seitens der Flaschensammler an, die dem Bild des findigen Unternehmers entgegensteht. Eher ist es ein Auf-Nummer-sicher-Gehen. 21 Vgl. Becker, Außenseiter. 22 Ashfort/Kreiner, »How Can You Do It?«, S. 426f. 23 Serres, Parasit, S. 13. Für Michel Serres wäre der echte Unternehmer, ebenso wie dies letztlich für Bröckling gilt, der Produzent des Neuen, des Bisher-nicht-Dagewesenen, alle anderen dagegen reproduzieren: »Produktion ist ohne Zweifel etwas Seltenes, sie zieht die Parasiten an, die sie auch sogleich banalisieren. Die unerwartete, unwahrscheinliche Produktion ist geschwängert mit Informationen, und stets machen sich die Parasiten unverzüglich darüber her.« (Serres, Parasit, S. 13).

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Richard Sennett weist darauf hin, dass Risikobereitschaft eng mit der sozialen Lage verbunden ist.24 Wer ein Risiko eingeht, besitzt zumeist genügend Absicherungsmöglichkeiten, um einen Verlust zu verkraften. Einen Kredit für ein (waghalsiges) Geschäft kann niemand aufnehmen, der nicht zugleich über Sicherheiten verfügt. Andere würden bei gleichem Verlust sofort den Boden unter den Füßen verlieren. Daher kann die Bereitschaft, ein Risiko einzugehen, als Indikator für soziale Ungleichheit gelten. Erst wenn durch das Auftauchen von Dritten quasi die Lukrativität bestätigt wurde, erst wenn sichtbar ist, dass auch andere Leute gewillt sind, in den Müll zu greifen, kann dieses Risiko eben ohne Risiko eingegangen werden. Verfolgt man diesen Gedanken noch weiter, so scheint dem Pfandsammeln im ökonomischen Sinne Parasitäres anzuhaften, denn finanziell verspricht es immer einen Reingewinn. Investiert wird Zeit, von der aber eher übermäßig viel vorhanden ist. Das Risiko ist jedoch ein soziales: Der Sammler begibt sich auf die Seite des Mülls und macht sich vor den Augen der Öffentlichkeit diskreditierbar. Auch die Bereitschaft, ein solches Risiko einzugehen, wird vermutlich sehr ungleich verteilt sein. Wer potenziell bei jedem Gang auf die Straße auf Freunde oder Bekannte treffen kann und sich beim Griff in die Tonne beobachten lässt, der riskiert umso mehr sein soziales Ansehen.

Informelle Dienstboten Die beobachteten Situationen, in denen es zu Interaktionen zwischen Sammlern und Flaschenbesitzern kommt, scheinen auf die Frage, wer denn wem in dieser Konstellation dankbar zu sein hat, eine eindeutige Antwort zu geben. Bei Veranstaltungssammlern, die sich vor Ort an einem fixen Punkt befinden, kann man sehen, wie diesen direkt Flaschen übergeben werden oder wie sie Menschen auf ihre Flaschen ansprechen. Dabei fallen Sätze wie zum Beispiel »Entschuldigung, kann ich haben?«; »Die nehm ich Ihnen gerne ab«; »Bevor Sie sie da hinstellen, geben Sie sie lieber mir«. Bei Adressierungen solcher Art wird jedem Angesprochenen unterstellt, er würde sich nach dem Konsum sei-

24 Sennett, Der flexible Mensch, S. 116.

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ner Flasche durch den Wurf in den Abfalleimer entledigen. Die erste Aussage ist eine direkte Bitte um Zuwendung, die mit Betteln zu vergleichen ist. Der Obdachlose Stefan fragte während des Gesprächs nach »n paar Cents«, und auch andere Flaschensammler, die ich zuvor bei der Ausübung ihrer Tätigkeit getroffen hatte, konnte ich an anderen Tagen bettelnd in der Innenstadt sehen. Wieder andere wie Thomas schließen Betteln für sich kategorisch aus, da sie da »zu stolz für« sind. Grundsätzlich muss davon ausgegangen werden, dass Menschen, die durch durch das Sammeln von Pfandflaschen ihre Subsistenz in minimalster Form zu sichern versuchen – wie dies etwa bei Obdachlosen der Fall ist –, auch zum Betteln bereit sind. Dies kann jedoch nicht zur Regel gemacht werden. Bei ihnen handelt es sich eher um Bedürftige, die auch Pfand sammeln. Während der Beobachtungsphase passierte es einmal in einer ostwestfälischen Innenstadt, dass ich bei einem Gespräch mit einer Bekannten durch einen Pfandsammler unterbrochen wurde. Meine Bekannte hielt eine Flasche in der Hand, und der Sammler fragte, ob er die Flasche haben könne. Darauf sagte sie: »Muss ich sie aber grad noch austrinken«, tat es und gab sie ihm. An diesem Beispiel zeigt sich die Leichtigkeit, mit der eine Pfandflasche aus der Hand gegeben wird, obwohl sich mit ihr ein Geldwert verbindet. Ebenso zeigt es die Leichtigkeit, mit der die Sammler um eine Zuwendung bitten können. Durch den dank des Pfandes am Objekt »klebenden« Geldwert wird die Notwendigkeit verhindert, direkt nach Geld fragen zu müssen. Die durch die Flasche vermittelte Entrichtung des Pfandgeldes als Zuwendung erfordert vom Geber nur wenig Aufwand. Der Wert ist bereits festgelegt und bewegt sich im Rahmen eines Almosens. Ebenso entfällt für den Geber der Aufwand der Rückgabe der Pfandflasche, er erhält gewissermaßen eine Gegenleistung für sein Geld. Eine gesellschaftlich vorherrschende und durch die Politik gestützte Leistungsethik eines »Förderns und Forderns«,25 wie sie auf Hilfsempfänger übertragen wird, mag durchaus erklären, warum sich die Flasche so leicht aus der Hand gibt. Außerdem ist das Geld bereits ausgegeben und muss nicht zusätzlich aufgewendet werden. Der Preis für ein Getränk, inklusive des Pfandes, wird als Normalpreis gedeutet. Die Flasche besitzt für diejenigen, die sie wegwerfen, keinen Geldwert mehr, sondern ist Müll. 25 Vgl. hierzu: Schmid, »Dienstleistungen am Arbeitsmarkt«; Seifert, »Was bringen die Hartz-Gesetze«.

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Auf den ersten Blick erscheint die Pfandflasche als eine Gabe, die Dankbarkeit aufseiten des Pfandsammlers nach sich ziehen muss, und entspricht damit einer moralischen Handlung, bei der die Bedürfnisse des anderen und der Respekt vor demselben das Handlungsmotiv darstellen; man orientiert sich nicht am Fördern und Fordern. In der Pfandflasche materialisiert sich die soziale Beziehung zwischen dem Flaschensammler und dem Geber, die durch die Gabe »nicht nur stabilisiert und verstärkt, sondern auch sichtbar gemacht«26 wird, wie dies bei Geschenken der Fall ist. Was aber geschieht, wenn am Ende die Flasche gegen Geld eingetauscht wird? Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass die Leichtigkeit der Abgabe sich u.a. aus der erbrachten Gegenleistung – dem Wegbringen – erklären ließe. Für die Sammler ist ja gerade der Leistungsaspekt von Bedeutung. Bezüglich der Beziehung ist allerdings zu sagen: Der abstrakte Geldwert löst alles Persönliche von der Beziehung ab, sodass ihr Ende bereits mit dem Umdrehen und Weggehen des einen oder anderen eingeleitet wird. Mit dem Erhalt des Pfandgeldes ist die Schuld des Sammlers getilgt. Hat sich durch die Entrichtung der Flasche eine Asymmetrie im Verhältnis zwischen Sammler und Geber eingestellt, wie es für den Gabentausch konstitutiv ist, so »[mischt] der Ausgleich des Gabenkontos die Würfel der sozialen Hierarchie neu und sorgt derart für soziale Entlastung der Gruppe – vor allem aber bedeutet er die Wiedererlangung der Souveränität des Subjekts.«27

Mit dem Erhalt des Pfandgeldes erhält der Sammler seine Autonomie zurück, die Gabe scheint aufgelöst, weil sie sich in einen ökonomischen Akt transformiert hat. Der Geber steht also vor dem Problem, dass seine Gabe als Gabe entwertet zu werden scheint. Der »moralische Druck auf Dank«28 besteht letztlich innerhalb einer Dienstleistung nicht. Dass es sich für die Sammler um eine solche handelt, und eben nicht um eine Bitte um Zuwendung, zeigen die anderen beiden genannten Äußerungen deutlich. Mit der Äußerung »Die nehm ich Ihnen gerne ab« wird die Bereitschaft signalisiert, die Entsorgung der Flasche oder Dose zu übernehmen. Dies entspricht der Äußerung eines Angebotes, einer Minidienstleistung, die prinzipiell von Flaschenbesitzern 26 Schmied, »Schenken«, S. 368. 27 Strehle, »Jenseits des Tausches«, S. 136. 28 Naumann, »Schenken«, S. 400.

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auch abgelehnt werden könnte, selbst wenn dies, aufgrund des geringen Geldwerts, vermutlich eher eine Begründung erfordern würde. Angebote solcher Art finden sich zuhauf im urbanen Leben in Entwicklungsländern und bilden einen wichtigen Teil der informellen Ökonomie.29 In seiner Studie »Auf der Straße liegt die Fantasie« stellt der afrikanische Soziologe Abdou Touré viele solcher »Gelegenheitsberufe« vor, die von Reifenpumper über Kundenflickschneider bis hin zu Wanderbankiers reicht. Doch auch in Deutschland und anderen europäischen Ländern finden sich mittlerweile informell-ökonomische Tätigkeiten wie Türaufhalter, Parkplatzanweiser oder Autoscheibenputzer.30 Zu ihnen müssen auch die Pfandsammler gerechnet werden. Nicht zuletzt zeichnen sich diese Tätigkeiten durch zwei Merkmale aus: Zum einen reagieren sie häufig auf Entwicklungen im formellen Sektor, aus denen sich eine Gelegenheit des Gelderwerbs ergibt – so reagieren die Pfandsammler auf die Verpackungsverordnung –, und zum anderen nutzen sie die Gelegenheit, dass eine reguläre, durch den Markt geregelte Nachfrage zu gering ist, als dass sich ein ausdifferenzierter, formell geregelter Wirtschaftszweig bilden könnte. Den Individuen erlauben diese Tätigkeiten aufgrund ihrer geringfügigen Erträge meist keine langfristige Lebensplanung, sodass jede Gelegenheit, Geld zu verdienen, wahrgenommen werden muss.31 Jedoch folgt daraus nicht, dass es sich um eine primitive Art ökonomischer Tätigkeit handelt. 29 Ulrich, Bruno/Viertel, Lisa, Recycling und Wiederverwertungsstrukturen in Dakar/Senegal, http://www.justicef.org/index.php/projekte/bildungsarbeit/asaprogramm/asa-2005/asa-20054 [20. 03. 2013]; Florin, »Gestion des déchets«. 30 Butscher, Überlebensökonomie. 31 Obgleich der Begriff der informellen Ökonomie aus der Entwicklungszusammenarbeit stammt, umfasst er im Kontext entwickelter Industrienationen vollkommen andere Tätigkeitsbereiche. Für Volker Teichert, der einen anschaulichen Überblick über die Literatur zu diesem Themenbereich sowie die Definitionsvielfalt gibt, gehören hierzu all diejenigen Bereiche, »in denen gesetzlich erlaubte Aktivitäten stattfinden, nicht-monetäre Tauschprozesse dominieren, in denen die Autonomie und Motivation der menschlichen Arbeit betont wird und das subsistenzwirtschaftliche Kriterium überwiegt.« (Teichert, Volker, Die informelle Ökonomie als notwendiger Bestandteil der formellen Erwerbswirtschaft, skylla.wz-berlin.de/pdf/2000/p00-524.pdf [20. 03. 2013], S. 6) Ausdrücklich besteht er auf der Differenz zwischen informeller Ökonomie und Schattenwirtschaft (ebenda, S. 23), wohingegen andere Autoren ehrenamtliche Tätigkeiten, Nachbarschafts- sowie Selbsthilfe ebenso wie Schwarzarbeit und andere illegale Aktivitäten zur informellen Ökonomie zählen (Henckel, Informelle Ökonomie, S. 27).

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Auf eine solche eurozentristische Sichtweise reagiert Abdou Touré, wenn er schreibt: »Reden wir also ebenso wenig vom ›informellen Sektor‹ wie von sogenannten ›informellen Zusammenkünften‹. Informelles Leben gibt es nicht! Gelegenheitsberufe sind schlicht und einfach das tägliche Leben von Millionen von Männern, Frauen und Kindern in der ganzen Welt. Man muss sich nur bemühen, die Organisation der sogenannt Unorganisierten und die Sparmethoden jener, die keine Buchführung im abendländischen Sinne führen, zu verstehen.«32

Wie die Auseinandersetzung mit den Pfandsammlern zeigt, bestehen, wie in anderen Berufen, auch hier unterschiedliche Organisations- beziehungsweise Professionalisierungsgrade. So entwickeln sich mit der Zeit bestimmte Strukturen und Kompetenzen, die einen Pfandsammler als professionell oder laienhaft auszeichnen, wie zum Beispiel Routen, Sammelstrategien, Hilfsmittel zum Transport oder Zwischenlager. Hierzu gehört auch die Entwicklung einer bestimmten Haltung, die sich in der Äußerung »Die nehm ich Ihnen gerne ab« zu zeigen scheint. Der Hinweis, es »gerne« zu tun, zeigt die bedienende Haltung gegenüber dem potenziellen Geber, mit der der Flaschensammler zugleich eine statusniedere Position einnimmt. In den Gesprächen kommt diese Haltung immer wieder zum Vorschein. Die Situation für die Sammler vor Ort bewegt sich auf einem Kontinuum zwischen geduldetem und erwünschtem Aufenthalt, wie dies aus der Aussage von Dieter über die dankbaren Diskotheken- und Parkhausbesitzer deutlich wird. Für die Polizisten bedeutet das Auftauchen von Flaschensammlern eine Gefahrenreduktion, zum Beispiel bei Fußballspielen, da Verletzungsmöglichkeiten durch Glasflaschen weitgehend ausgeschlossen werden können. Da die Sammler von niemandem eingesetzt werden, muss das freiwillige Engagement einiger Bürger, die sich dazu veranlasst sehen, die leeren Flaschen der anderen wegzuräumen, »sogar gut« gefunden werden, was durchaus angemessen erscheint. Nicht zu übersehen ist jedoch die durch die Ordnungsmacht erteilte Erlaubnis, die erst vom Sammler erfragt werden muss. Wie dies bereits bei Thomas deutlich wurde, scheint das Subsistenzsammeln immer mit der Notwendigkeit konfrontiert zu sein, erlaubt werden zu müssen. Auf der

32 Touré, Fantasie, S. 22.

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Suche nach dem Seltenen hängt, wie dies bereits ausgeführt wurde, der andere irgendwie immer am Objekt. Sowohl Thomas als auch Dieter scheinen, bei der ganzen Dankbarkeit, die von Diskotheken- oder Parkhausbesitzern ausgedrückt wird, zu übersehen, dass die Flaschensammler vor allem eine nicht zu entlohnende Dienstleistung für besagte Besitzer erbringen. Im Grunde sind es diejenigen, die die Verunreinigung verursacht haben, die durch ihren »wertvollen Müll« die Pfandsammler individuell entlohnen. Da die Besitzer nicht mehr das Parkhaus beziehungsweise den Platz vor der Diskothek von Flaschen und Dosen säubern müssen, gleichzeitig aber nichts dafür bezahlen, macht sich der Pfandsammler selbst zum Geber, der, außer dem Recht zu sammeln, keine Gegengabe erwartet. Insofern ist das von Dieter verwendete Wort »dankbar« durchaus angemessen, obgleich seine Haltung – nach der Art: »Dürfte ich Ihnen bitte einen Gefallen tun?« – eher unangemessen ist. Eine ähnliche Diskrepanz findet sich im Beispiel des Parkhauswächters, der Dieter erlaubt, nachts im Parkhaus herumzulaufen und die Flaschen einzusammeln. Manchmal, so sagt er, sammle dieser Wächter, der früher die Flaschen selbst zurückgegeben habe, auch für ihn und erleidet somit einen Verlust. Die Gabe wird von vielen Flaschensammlern nicht als eine solche gedeutet: Dieter spricht von der Dankbarkeit der anderen – derer, die ihm letztlich den Zugang erlauben, derer, die ihm Flaschen schenken –, nicht aber von seiner eigenen. Die Pfandsammler erbringen Leistung für »ihr Geld«, daher gibt es vermutlich von ihrer Seite aus »nichts zu danken«. Dem Geld, welches am Ende kassiert wird, ist nicht mehr anzusehen, wo es herkommt, es ist Selbstzweck und damit Merkmal entfremdeter Arbeit, bei der der Inhalt nicht zählt. Obwohl das stellvertretende Wegbringen Teil der Arbeit ist und nach dem Dafürhalten der Sammler Dankbarkeit erzwingt – denn schließlich wird ja eine Last abgenommen –, überwiegt doch scheinbar ihre Vorsicht und Zurückhaltung, so als sei der Dank letztlich nicht gerechtfertigt. Es ist eine Vorsicht, die sich bis zu einer unterwürfigen Haltung steigert, wie man sie von Dienstboten kennt, denn genau wie zwischen jenem und seinem Herrn sind die Statusrollen zwischen Gebern und Sammlern klar verteilt. Dieter sagt hierzu: Wenn man dann n bisschen noch große Fresse hat, dann schieben sie einen weg, oder man kriegt Platzverweis und so, ne. Da leg ich’s an und für sich nicht drauf an, ne.

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Wie ein »Große Fresse«-Haben aussehen könnte, wird nicht weiter verdeutlicht. Jedoch reicht für den Sammler bereits ein »bisschen« aus, um ein Hausverbot zu bekommen, was für ihn das Aus bedeutete. Das »Wegschieben« bezieht sich auf etwas, das im Weg ist, wobei man dies im Allgemeinen eher mit Gegenständen als mit Menschen in Verbindung bringt. Hier taucht ein entmenschlichender Umgang mit Sammlern auf, dem später noch mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden wird. Was zunächst deutlich wird, ist das Wohlwollen der Hausrechteinhaber, dem die Flaschensammler unterstehen, und damit die einseitige Abhängigkeit. Allem voran ist der Sammler darauf angewiesen, dass die Leute ihr Pfand nicht zurückbringen, was seine Handlungsautonomie stark begrenzt. Er ist in diesem Fall zu einer vollkommenen Passivität, zu einem abwartenden Ausharren verurteilt, auf das er, außer durch die interaktive Darstellung seiner Unterwürfigkeit, keinen Einfluss nehmen kann. Diese Zurschaustellung ständiger Bereitschaft, dem anderen dienlich zu sein, selbst jedoch passiv bleiben zu müssen, ist grundsätzlichen Merkmalen sozialer Ausgegrenztheit sehr verwandt.33 Indem der Sammler die Beziehung zwischen sich und dem Geber durch eine Nicht-Gleichberechtigung kennzeichnet, stigmatisiert er sich selbst und begrenzt damit die Möglichkeiten einer symmetrischen Beziehung.34 Im Falle einer solchen Performanz ist für beide Seiten klar, dass der Grund für die Übergabe einer Flasche aus reiner Annehmlichkeit oder aus Mitleid erfolgt. Wenn man das Phänomen der Pfandsammler gabentheoretisch betrachtet, wird deutlich, dass die durch den Sammler geleistete Dienstleistung und die daraus resultierende Souveränität – durch Erbringung einer Gegenleistung – sowie die Autonomie seiner Lebenspraxis, die sich durch die Tätigkeit zu objektivieren scheint, auf wacklig-konjunktiven Beinen stehen. In den sich bietenden Lösungen für das Handlungsproblem »Wie werde ich meine Flasche los?« hätte der Geber immer auch den Abfalleimer wählen können, was die Leistung des Sammlers entwertet. Zwar muss sich der Sammler nicht sagen lassen, er wolle etwas geschenkt haben, denn er befindet sich aufgrund der Einhaltung der Reziprozitätsnorm in »der ›realisitischen‹ Welt der Ar-

33 Vgl. hierzu: Kronauer, »Massenarbeitslosigkeit«. 34 Gurr, »Lebensmittel gegen gar nichts«, S. 213.

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beit«.35 Der Geber behält jedoch aus zwei Gründen die Position des die Beziehung Dominierenden inne: Zum einen fällt der Sammler, wie Georg Simmel sagt, durch den Umstand, dass ihm durch die Interaktion Unterstützung zuteil wird, unter die Kategorie des Armen,36 selbst wenn dies, wie es bei vielen Sammlern der Fall ist, nicht ihrer objektiven Lebenslage entspricht, weshalb es gut ist, die Dienstleistung als Gegenargument zu haben. Zum anderen besteht hier eine einseitige Beziehung von »generalisierter Reziprozität«,37 in der der Geber sich stillschweigend der Anerkennung gewiss sein kann. Die stellvertretende Bewältigung eines Handlungsproblems, die durch den Sammler angeboten wird, bezieht sich nicht auf eine beim Geber vorherrschende Unfähigkeit. Das Pfandsammeln stellt folglich eine Dienstleistung dar, deren Inanspruchnahme einen Luxus darstellt und für die André Gorz den Begriff der »Dienstbotenarbeit« entwickelt hat.38 Die vorrangigen Merkmale dieser Tätigkeit sind nach Gorz folgende: Zum einen handelt es sich um Aktivitäten, die ebenso gut selbst hätten ausgeführt werden können; weder wird für ihre Durchführung ein besonderes Fachwissen benötigt, noch sind sie körperlich so anstrengend, dass sie nur von Menschen in guter physischer Verfassung ausgeführt werden könnten. Zum anderen stellen diese keinen Gebrauchswert her: Sie entsprächen nur dann einer ökonomischen Rationalität, wenn sie einen so beträchtlichen Zeitrahmen für die Bedienten freisetzten, dass er diesen eine beträchtliche Steigerung ihrer eigenen Produktivität ermöglichte. Dies vermögen Dienstbotentätigkeiten jedoch nicht zu leisten. Viel eher besteht die Rolle der zumeist im privaten Bereich eingesetzten Dienstboten darin, Zeit für Amüsement oder Konsum zu schaffen. Das Auftreten solcher informellen Berufe sei, so Gorz, Ausdruck einer hohen sozialen Ungleichheit. Das hieraus entstehende gesellschaftliche Konfliktpotenzial kann wiederum durch diesen Beschäftigungssektor abgefedert werden, weshalb

35 Gouldner, »Etwas gegen nichts«, S. 112. Dies ist in einem sozialen Klima, in dem Hilfeempfänger öffentlich als Sozialschmarotzer stigmatisiert werden, durchaus vonnöten (vgl. hierzu: Zilian/Moser, »Der rationale Schmarotzer«). 36 Simmel, »Der Arme«. 37 Sahlins, »Soziologie des primitiven Tausches«, S. 84ff. 38 Gorz, Kritik der ökonomischen Vernunft, S. 220ff.

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Abdou Touré vom »Relais-Sektor« spricht.39 Wenn diese Diagnose zutrifft, dann müssen die Pfandsammler, ähnlich der Autoscheibenputzer, als ein Beispiel des gewichtigen Wandels bisheriger Wohlfahrtsstaaten gelesen werden: »Die Entwicklung der persönlichen Dienstleistungen ist also nur in einem Kontext wachsender sozialer Ungleichheit möglich, in der ein Teil der Bevölkerung die wohl bezahlten Aktivitäten ergattert und einen anderen Teil in die Rolle der Dienstboten zwingt.«40

Anders als Dienstboten, die zum Beispiel im privaten Haushalt angestellt werden, also ein direktes und andauerndes Verhältnis zu dem Bedienten unterhalten, ist die Beziehung zwischen Sammler und Geber nur flüchtig und häufig sogar indirekt. Außerdem reagieren Sammler nicht auf eine Nachfrage nach Dienstboten, sondern ihre Tätigkeit stellt eine schöpferische Interpretation eines mangelnden Angebots aufseiten des formellen Sektors dar, zu dem sie eine Ergänzung bieten.41 Dafür ist es besonders wichtig über die gesellschaftlichen Entwicklungen informiert zu sein, durch die schöpferisch auszufüllende Marktlücken ausfindig gemacht werden können. Diesem Bild des Dienstboten steht jedoch eine zweite Auffälligkeit des Pfandsammlers entgegen: Die objektive Bezahlung, die grundsätzlich Strukturmerkmal einer jeden Dienstleistung ist, fehlt. Der Wert für die erbrachte Leistung ist mit dem Objekt identisch. In welchen Fällen trifft man auf ähnliche Konstellationen? Bei für den Geber nicht mehr zu gebrauchenden Objekten, für deren Entsorgung allerdings kein Geld entrichtet werden muss, handelt es sich um Spenden an wohltätige Einrichtungen, die diese entweder an Bedürftige weiterverteilen oder gegen

39 »[W]enn dieser Sektor nicht als Puffer funktionieren, wenn er den modernen Sektor nicht entlasten, ergänzen und stützen würde, hätten wir ein gesellschaftliches Ungleichgewicht, das nur in einer unerbittlichen Diktatur aufrecht erhalten werden könnte.« (Touré, Fantasie, S. 266). 40 Gorz, Kritik der ökonomischen Vernunft, S. 244. 41 Die Sammler müssen sich grundsätzlich dem Argument stellen, dass es für das Einsammeln und Entsorgen von Müll von der Gesellschaft vorgesehene Berufe gibt. Was sich also vor allem in der Anerkennung der Sammlertätigkeit ausdrückt, ist, dass die unmittelbare Rückgabe von Pfandgebinden eigentlich mit Zustimmung rechnen kann. Mag dies auf den ersten Blick widersprüchlich erscheinen, so ist ein solches NIMBY-Verhalten in der Umweltforschung durchaus bekannt (vgl. Diekmann/Preisendörfer, Umweltsoziologie).

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ein geringes Entgelt verkaufen.42 Wenn auch die Spende einen Nutzen für den Spender davontragen mag, so ist die Hilfe doch in erster Linie davon normativ unabhängig, ob er dafür eine Gegenleistung erhält: »Die Norm der Wohltätigkeit verlangt von einem Menschen, anderen zu helfen, ohne daran zu denken, was jene für ihn getan haben oder für ihn tun können, und die Hilfe nicht abhängig machen von früheren empfangenen Wohltaten oder zu erwartenden, künftigen Wohltaten.«43

Weil das Wissen um die Bedürftigkeit desjenigen im Vordergrund steht, für den gespendet wird, würde es wenig angemessen erscheinen, dass ein Flaschenbesitzer seine Flaschen nur unter Bedingung ihrer Rückgabe an den Sammler weitergibt, das Verhältnis also in ein ausschließlich ökonomisches verwandeln würde: In diesem Fall wäre zum Beispiel für ihn die ökologische Motivation höher als die soziale, jedoch müsste er explizit den Auftrag zur Rückführung aussprechen und diesen mit der Entrichtung eines Entgeldes absichern. Würde ein Geber, berücksichtigt man den Geldwert einer Pfandflasche, an die Übergabe irgendwelche Bedingungen knüpfen, so löste dies bei ihm selbst vermutlich eher Scham aus, da die Höhe des Pfandes nur die soziale Kluft zwischen ihm, der diesen Betrag entbehren kann, und dem »Bedürftigen« verdeutlichen würde.44 Was letztlich mit der Spende geschieht, ist für den Geber zweitrangig, weil sie für ihn nicht zur Herstellung einer Beziehung zum Sammler dient; der Sammler als ganze Person ist letztlich unwichtig, was das Gegenteil einer gabenindizierten Beziehung darstellt. So schreibt Adorno in der »Minima Moralia«: »Wirkliches Schenken hatte sein Glück in der Imagination des Glücks des Beschenkten. Es heißt wählen, Zeit aufwenden, aus seinem Weg gehen, den anderen als Subjekt denken: das Gegenteil von Vergeßlichkeit.«45 42 Dies ist zum Beispiel bei den Tafeln der Fall, die Lebensmittelspenden des Handels und der Industrie an jene weitergeben, die ihre Bedürftigkeit nachgewiesen haben. Mag dies auch eine lobenswerte Grundhaltung einschließen, so sind die praktischen Umsetzungen der Tafel-Einrichtungen in den letzten Jahren von sozialwissenschaftlicher Seite immer wieder kritisiert worden (vgl. Lorenz, »Konsumismus und Überflüssigkeit«; Selke (Hg.), Kritik der Tafeln in Deutschland). 43 Gouldner, »Etwas gegen nichts«, S. 110. 44 Vgl. hierzu: Fromm, Haben oder Sein, S. 120. 45 Adorno, Minima Moralia, S. 64.

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Der Aspekt der Gabe, oder genauer: der Flaschenspende, ist zentral für ein aktuelles Phänomen, das im Folgenden betrachtet werden soll. Auch hier wird die dem Pfandsammeln anhaftende Ambivalenz deutlich, wenn nicht gar auf die Spitze getrieben.

Eine Form der Institutionalisierung: »pfandgeben.de« Im Frühjahr 2012 hat das Phänomen Pfandsammeln in Deutschland eine ungeahnte Aktualität erfahren. Bezeichnend ist, dass sich das breitere Interesse nicht zuallererst auf die Sammler richtet, sondern auf die Idee des Kommunikationsdesignstudenten Jonas Kakoschke aus Berlin. Seit dem 04. 07. 2011 ist seine Internetseite pfandgeben.de im Netz, bei der es darum geht, Pfandsuchende und Pfandbesitzende mithilfe einer digitalen Plattform zusammenzubringen. Über diese neue Möglichkeit, Pfandflaschen loszuwerden, ist in verschiedenen Printmedien sowie in den virtuellen Netzwerken Facebook und Twitter viel geschrieben worden. Ihr Betreiber führt dies, neben dem alljährlichen medialen Sommerloch, vor allem auf das Phänomen selbst zurück.46 Der Vorteil des Projektes sei, so Kakoschke, dass das Nutzerprofil sehr weit gestreut ist. Jeder kenne Pfandsammler und könnte möglicherweise in die Situation kommen, einmal Pfandflaschen abholen lassen zu wollen. Entwickelt hatte Kakoschke die Idee im Rahmen eines Seminars, in dem es um die Frage ging, wie analog ablaufende Kommunikationsprozesse digitalisiert werden könnten. Er selbst jedoch fand diese einseitige Verlagerung unbefriedigend. Anstatt immer mehr Prozesse aus dem »analogen« ins »digitale« Leben zu übertragen, wollte er versuchen, den Kreis zu schließen und den Weg aus der digitalen Welt wieder zurück in die analoge zu finden. Nach einigen Gesprächen mit Pfandsammlern auf der Straße, in denen ihre Meinung zu einer solchen Plattform erfragt wurde, sieht das Ergebnis nun wie folgt aus:47 46 Da das Interview mit Kakoschke keiner Feinanalyse unterzogen wurde, werden seine Aussagen lediglich paraphrasiert. 47 Sein vorheriges Bild von Sammlern musste Kakoschke nach diesen Gesprächen revidieren. Hatte er Pfandsammler bis dato mit Menschen mit Alkoholproblemen oder psychischen Störungen gleichgesetzt, war er von deren interessanten Geschichten überrascht.

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Einmal auf die Seite gelangt, sieht man auf einem weißen Hintergrund im mittleren oberen Bildrand zwei grün-türkis gemalte Hände, die, von links und rechts kommend und sich in der Mitte treffend, jeweils eine Flasche halten. Darunter steht in gleicher Farbe und ähnlichem Stil pfandgeben.de geschrieben.48 Weiter unten findet sich in hellgrauer Schrift folgender Text: »Du möchtest deine Pfandflaschen abholen lassen?« Sowohl mit dem Titel der Seite als auch mit dem zitierten Satz, der die Mitte der Seite einnimmt und damit die Aufmerksamkeit des Besuchers auf sich zieht, wird deutlich, an wen sich die Seite in erster Linie richtet: Mag es auch erklärtes Ziel der Seite sein, einen zusätzlichen Kommunikationskanal zwischen Pfandbesitzern und Pfandsammlern herzustellen, so zeigt die unmittelbare Adressierung der Ersteren, die durch den Titel zu »Gebern« werden, eine präferierte Selektion. Unter dem genannten Text befinden sich zwei größere Schaltflächen, mit denen der Benutzer seine Stadt und den dazugehörigen Stadtbezirk auswählen kann. Außerdem muss die Anzahl der abzuholenden Flaschen angegeben werden. Für den Fall, dass die eigene Stadt nicht verzeichnet ist, gibt es einen verlinkten Satz gleich neben der oberen Schaltfläche (»Hat Deine Stadt Bedarf?«), mit dem man auf eine andere Seite weiterleitet wird. Dort erklärt der Betreiber das Prinzip und gibt Hilfsmittel an die Hand, wie das Projekt unterstützt werden kann. Hat der Besucher der Seite die Informationen einmal eingegeben, so erscheint unterhalb der beiden Schaltflächen ein Text: »Du kannst folgende Leute anrufen und fragen, ob sie Zeit haben, deine Pfandflaschen abzuholen.«49 Daran anschließend werden Telefonnummern von Pfandsammlern angegeben, die im jeweiligen Bezirk tätig sind und die sich zuvor – dies 48 Eine wirklich dezidierte Sequenzanalyse der Internetpräsenz konnte aus Zeitgründen leider nicht durchgeführt werden. Die hier vorgetragenen Ideen stellen daher lediglich Ansätze einer solchen dar. 49 Dies geschieht allerdings nur, wenn der Benutzer nicht die Option »weniger als 20 Flaschen« gewählt hat. Wird dies getan, so erscheint grundsätzlich ein Text, mit dem die Betreiber ihre Meinung ausdrücken und dabei gleichzeitig den moralischen Zeigefinger erheben: »Sorry, aber wir denken, dass das zu wenig Flaschen sind, um extra jemanden zu Dir kommen zu lassen.« Anstatt diese Option schlicht zu streichen, halten sich die Betreiber die Möglichkeit offen, einen sozialkritischen Kommentar abgeben zu können und damit gewissermaßen erzieherisch tätig zu sein.

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ist für Kakoschke die analoge Seite – auf der Seite haben registrieren lassen. Die Registrierung als Sammler geht so vonstatten, dass eine SMS an eine auf der Seite angegebene Nummer versendet werden muss, indem ein selbstgewählter Spitzname50, die Stadt sowie der Stadtbezirk angegeben werden. In der Folge werden sie dann vom Betreiber der Seite per Hand eingetragen. Dieses Prinzip der analogen Einschreibung sei daher notwendig, da es zu Beginn, als eine OnlineEinschreibung möglich war, erheblichen Missbrauch gegeben habe, weil Nicht-Sammler »aus Spaß« von Dritten eingetragen worden sind. Das jetzige Verfahren sei zwar umständlicher, jedoch könnte dafür garantiert werden, dass sich hinter der Nummer auch ein Sammler verbirgt. Wie bereits deutlich geworden ist, richtet sich die Seite in erster Linie an Menschen, die ihren Pfand abzugeben gedenken. Nach den bisherigen Erfahrungen und Rückmeldungen setzt sich diese Gruppe vor allem aus studentischen Wohngemeinschaften – was unter anderem der Ausgangspunkt der Idee gewesen sei – und Bürogemeinschaften zusammen. Das Problem solcher Orte ist, dass dort aufgrund einer erhöhten Personenzahl eine große Menge an Pfandgebinden zusammenkommt, die später, aufgrund der Uniformität von Einwegflaschen – wenn nicht von Anfang an jeder seinen Pfand in einer bestimmten Ecke für sich sammelt –, zur Entstehung einer ununterscheidbaren Masse führt, die den kollektiven Raum »überflutet«. Die so entstandene Pfandgebindemenge kann jedoch keiner konkreten Person mehr zugerechnet werden, was ebenfalls für eine unmittelbare Verantwortung zum Wegbringen gilt. Zugleich aber kann das Recht auf diesen »Müll«, der ja letztlich einen bestimmten Geldwert darstellt, nicht ohne Weiteres beansprucht werden. Dieser Zustand kann aufgehoben werden, indem eine dritte Person mit dem Abtransport der Gebinde beauftragt wird. In dieser Hinsicht scheint es zunächst angemessen zu

50 Gefordert wird explizit die Angabe eines »Spitznamens«. Spitznamen können auf der einen Seite die Form von Spottnamen annehmen, jedoch auch in Koseform gebraucht werden. Meist werden sie aber nicht von der Person gewählt, die den Namen trägt, sondern von außen zugeschrieben. Spitznamen lassen den offiziellen, bürgerlichen Namen in den Hintergrund treten und reduzieren die Person meist auf eine einzige Eigenschaft oder ein Merkmal, wohingegen der offizielle Name für die Person als Ganzes steht. Diese wäre in ihren Bedürfnissen letztlich auch Objekt einer Gabe in Reinform.

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sein, wenn zum Beispiel die von der ZEIT vermarktete Internetseite netzpolitik.org von Kakoschkes Idee als einem »praktischen Tool« spricht:51 »pfandgeben.de ist als soziales Projekt gestartet, um ein konkretes Problem zu lösen: In vielen Büros, WGs und sonstwo stehen Pfandflaschen herum, und der nächste Laden zum Abgeben ist für den inneren Schweinehund oft eine Ecke zu weit oder einige Treppenstufen zu viel entfernt. Andererseits gibt es viele Menschen, die aufgrund ihrer ökonomischen Verhältnisse ihr niedriges monatliches Einkommen dadurch aufbessern müssen, dass sie durch die Straßen ziehen und Pfandflaschen einsammeln.«52

Was in dieser Darstellung, wie auch mit dem Verweis auf die Gabe im Namen, betont wird, ist der soziale Aspekt der Seite. Die Präsentation von netzpolitik.org lässt an ähnliche soziale Projekte, wie zum Beispiel die Tafeln, denken. Dort werden mithilfe von freiwilligen Helfern überschüssige Lebensmittel gesammelt und an Menschen verteilt, »deren Möglichkeiten einer eigenständigen Versorgung über den Markt stark eingeschränkt sind«.53 Wie Stephan Lorenz es kritisch ausdrückt, wird dort gesellschaftlicher Überfluss an gesellschaftlich Überflüssige verteilt. Mit pfandgeben.de soll Menschen in ökonomisch schwierigen Verhältnissen unter die Arme gegriffen werden, indem sie mit der Lösung eines konkreten Problems anderer Leute betreut werden. Genau hierin, der vermeintlichen Hilfe gegen erbrachte Leistung, unterscheidet sich jedoch das Pfandabkommen von den Tafeln und ähnelt eher einem Abfallentsorgungsprojekt in der brasilianischen Stadt Curitiba. Dort besteht seit dem Jahr 1989 das Programm »Cambia Verde« (Grüner Tausch), bei dem das Müllsammeln und -trennen durch Favela-Bewohner staatlich gefördert wird. Gesammelten

51 Da die Artikel über die Seite in Tageszeitungen hier nicht systematisch ausgewertet werden können, beziehen wir uns, soweit es sich um Reaktionen auf pfandgeben.de handelt, auf die Kommentare von Benutzern von netzpolitik.org, die den angegebenen Artikel kommentiert haben. Stellvertretend für die Berichterstattung siehe: Bollwahn, Barbara, »Müll zu Geld: Wenn der Pfandsammler zweimal klingelt«, SPIEGEL-Online, 28. 07. 2011; Scheib, Katrin, »Pfandgeben.de will Flaschen-Sammlern helfen«, Der Westen, 21. 08. 2011; »Flaschensammler vernetzten sich online«, WELT-Online, 28. 07. 2011. 52 Beckedahl, Markus, Praktisches Tool, https://netzpolitik.org/2011/praktischestool-pfandgeben-de/ [20. 03. 2013]. 53 Lorenz, »TafelGesellschaft«, S. 10f.

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und vorsortierten Müll kann die arme Bevölkerung der Stadt gegen Lebensmittel, Schulhefte und Busfahrkarten eintauschen.54 Der instrumentelle Charakter solcher Hilfsprogramme zeigt sich ebenfalls bei pfandgeben.de. Ohne die Bearbeitung des Handlungsproblem anderer, nämlich das Wegbringen ihrer Pfandflaschen – letztlich ein Abholservice –, erhält der Sammler nicht die vermeintliche Hilfe, muss also für diese eine Leistung erbringen. Genau darin verstrickt sich die Präsentation der Seite in einen Widerspruch. Abholen lassen kann man etwas aus zwei Gründen: 1) Das abzuholende Objekt stellt ein Problem dar, welches nicht selbst gelöst werden kann. Beispielsweise können große Möbelstücke durch ein Umzugsunternehmen abgeholt werden, da sie von Privatpersonen nicht eigenständig transportiert werden können, etwa weil die nötige Kraft fehlt oder entsprechende Transportmittel nicht zur Verfügung stehen. Bezogen auf psychisch kranke Personen wird umgangssprachlich davon gesprochen, diese würden »abgeholt« werden: Damit wird darauf verwiesen, dass Angehörige nicht angemessen deren Versorgung übernehmen können, etwa weil dies für Leib und Leben gefährlich wird. Für diese und ähnliche Fälle von »Abholungen« haben sich in der arbeitsteilig organisierten Gesellschaft Berufszweige herausgebildet, die sich auf bestimmte Arten von Krisenlösungen spezialisiert haben. 2) Das Abholen kann jedoch auch an Dritte übertragen werden, weil die Arbeit einem selbst als zu lästig erscheint, das heißt, man will sich der Drecksarbeit, mag sie auch notwendig sein, entledigen und beauftragt daher Dritte. Auch hierfür wäre das Umzugsunternehmen ein Beispiel, wenn es gerade nicht um den Transport schwerer Möbel geht, sondern um das Packen und Tragen von Kartons, dessen man sich durch die Entrichtung von Geld zu entledigen sucht. In dieser Gegenüberstellung, die sich implizit im zitierten Abschnitt wiederfindet, taucht das Bild des Sammlers als Dienstbote, wie ich es im vorhergehenden Abschnitt entwickelt habe, wieder auf. Die einen lassen sich bedienen, weil es ihnen eine Annehmlichkeit bringt, den inneren Schweinehund nicht selbst überwinden zu müssen. Was die anderen ihnen liefern, stellt einen Luxus dar. Dieser wiederum wird, an54 Frey, »Deliberative Demokratie«; Otterbein, Karl, »Vier Kilo Müll gegen ein Kilo Gemüse«, Welt Sichten, Magazin für globale Entwicklung und ökumenische Zusammenarbeit, http://www.archiv-welt-sichten.org/artikel/art-04-008/vier-kilomuell-gegen-ein-kilo-gemüse.html [22. 03. 2013].

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statt den Fokus auf einen neutralen Abholservice von Pfandflaschen zu legen, wie es auf der Seite mit einem Satz wie »Du möchtest deine Pfandflaschen abholen lassen« suggeriert wird, in den Kontext des Gebens gestellt und somit als eine »gute Tat« konstruiert. Kakoschke glaubt, dass diese Art der Darstellung nötig gewesen ist, um die Geber anzuziehen und zur Benutzung der Seite zu animieren. Als reine Dienstleistung, ohne den Zusatz des »guten Gewissens«, hätte es möglicherweise nicht funktioniert. Und auch für die Sammler scheint klar zu sein, welche Rolle ihnen in einem solchen Arrangement zukommt. Die hier entstehende Beziehung wird von Anbeginn als ein asymmetrisches Verhältnis gerahmt, bei dem der Sammler die statusniedere Position einnimmt. Dies zeigt eine von Kakoschke vorgetragene Geschichte: Es sei ihm zu Beginn des Projekts einmal passiert, dass ein Pfandsammler, der in Kakoschkes Wohnung Pfand abholte, ihm anbot, den Hausmüll mitzunehmen. Zunächst mag unverständlich erscheinen, wie eine offensichtliche Dienstleistung – eine ökonomische Beziehung zwischen zwei Personen –, die das Abholen von Pfandflaschen im eigenen Haushalt ohne Zweifel darstellt, als eine gute Tat interpretiert werden kann. Zum einen jedoch scheint die Wahl des Namens der Internetseite und die damit vorgenommene Einbettung in den Kontext von Mildtätigkeit nicht ganz unschuldig daran zu sein. Zum anderen gehört die unterwürfige Dienstbotenhaltung zum Repertoire des Pfandsammlers, sodass der Griff zum Hausmüllbeutel als durchaus angemessen erscheint. Warum Kakoschke vermeiden wollte, die Seite wie ein Dienstleistungsangebot aussehen zu lassen, bezieht sich eher auf ihn selbst als auf die Sammler, für die es letztlich ein Business darstellt. Kommentare auf der Seite netzpolitik.org, wie »Sichern sich die Studenten (…) somit ihre Einnahmequelle nach ihrem Abschluss?« (Micha), unterstellen, dass Kakoschke die Internetseite als Geldquelle verwendet, was laut seiner Aussage nicht der Fall ist.55 Dass dem Betreiber solche Gefahren sicherlich bewusst waren, zeigen vor allem die zurückhaltenden und auf den Respekt der Sammler bedachten Kurztexte, die zuvor zitiert worden sind. Solche Kommentare zeigen aller55 Ein weiterer Kommentar: »Ich denke allerdings auch, dass es noch einen deutlichen Unterschied zwischen dem wohlgeordneten Zurücklassen von Pfandflaschen im Park und der Institutionalisierung von Billigjobs auf Pfand-Internetportalen gibt.« (Xberg36).

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dings, dass eine Gabe, in diesem Fall die Idee zur Internetseite, die keine Gegengabe verlangt, dem Verdacht des ökonomischen Kalküls nicht zu entkommen vermag.

Pfandspuckende Mülleimer? Wenn auch die vorgestellte Internetseite einen weiteren Schritt zur Institutionalisierung der Pfandsammler im Kontext personenbezogener informeller Dienstleistungen darstellt, so stellt doch vor allem der Abfallbehälter den Ort dar, an dem Pfandsammler sich aufhalten. In den Abfalleimern lassen Menschen ihre geleerten Getränkegebinde zurück, die deswegen von den Pfandsammlern zunächst herausgeholt werden müssen. Werden die Pfandsammler dazu genötigt, in den Mülleimer zu greifen, so kann der vormalige Besitzer nur eingeschränkt als Geber bezeichnet werden. Obwohl es auf Großveranstaltungen schon fast zum Verhaltensrepertoire vieler Besucher gehört, die leere Flasche einem der zahlreichen Flaschensammler direkt in die Hand zu geben, tun dies doch längst nicht alle. Es konnte beobachtet werden, wie Flaschen und Dosen, obgleich sich ein Sammler mit seinen Tüten unmittelbar neben dem Mülleimer postiert hat, diese dennoch hineingeworfen wurden. Selbstverständlich holt der Sammler sie sofort wieder heraus. In solchen Fällen, in denen die Präsenz der Pfandsammler keinen Zweifel über ihre Existenz aufkommen lassen kann, muss man von der bewussten Verweigerung sozialer Wertschätzung der Sammeltätigkeit ausgehen: Die Leistungen der Sammler widersprechen dem kulturellen Selbstverständnis, welches das Mit-Müll-in-Kontakt-Kommen außerhalb der dafür vorgesehenen Rahmen grundsätzlich missbilligt. Gerade für die Beseitigung von Müll bestehen bereits gesellschaftlich fest institutionalisierte Berufe, sodass die Tätigkeit der Pfandsammler zur praktischen Bearbeitung dieses Problems scheinbar nichts beizutragen hat.56 Obwohl die Sammler eine Tätigkeit wählen, die von ihrer Struktur her Erwerbsarbeit entspricht und in der individuellen Besonderheit der Leistung abgelesen werden kann, ist die Anerkennung be-

56 Perry, Collecting Garbage; Billerbeck, »Müllmänner«.

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grenzt. An dieser Stelle zeigt sich, dass Leistung als universelles Integrationskriterium in die Gesellschaft seine Grenzen hat, weil es eben nicht ausschließlich darauf ankommt, dass etwas geleistet wird – wie dies vielleicht die Pfandsammler mit Fixierung auf eine Erwerbsarbeitsideologie sehen würden. Es kommt eben vielmehr auch immer darauf an, was man leistet. Im Leistungsprinzip scheint eine ständig mitlaufende Unterstellung von Unzulänglichkeit eingebaut zu sein, die zum einen Ansporn zu mehr Leistung bieten soll, zum anderen aber die Reziprozitätsnorm aufzulösen droht: »Wenn ich meinen Interaktionspartner nicht als eine bestimmte Art von Person [zum Beispiel einer leistungsfähigen, S.J.M.] anerkenne, dann kann ich mich in seinen Reaktionen auch nicht als dieselbe Art von Person anerkannt sehen, weil ihm von mir ja gerade jene Eigenschaften und Fähigkeiten abgesprochen werden, in denen ich mich durch ihn bestätigt fühlen will.«57

Leistung als Kriterium sozialer Wertschätzung steht im kulturellen Dauerkonflikt, weil es grundsätzlich einer sekundären Deutungspraxis durch die soziale Lebenswelt bedarf, in der entschieden wird, ob es sich um eine wertvolle Leistung handelt oder nicht. Die Lebenswelt ist allerdings durchzogen von Kämpfen verschiedener sozialer Gruppen, die darauf aus sind, »die eigenen Leistungen und Lebensformen öffentlich als besonders wertvoll auszulegen.«58 Dass die Flaschen und Dosen überhaupt im Müll landen, hängt, neben der Missachtung der durch den Pfand eingegangenen Vertragsbindung, vor allem mit den Orten zusammen, an denen konsumiert wird. Zumeist ermöglichen diese den Flaschenbesitzern keine unkomplizierte und unmittelbare Rückgabe; dafür müssten Pfandautomaten in ähnlicher Anzahl wie Telefonzellen oder Parkautomaten aufgestellt werden. Nicht zuletzt aber steckt der Umstand im Objekt selbst: Die individualisierte, vereinzelte Flasche oder Dose unterscheidet sich von Mehrwegverpackungen, die in Kisten gekauft werden und demnach als Vorrat im Privathaushalt verstaut werden. Die Individualgetränkeverpackung lässt sich, nicht zuletzt durch ihre wohl dosierte Füllmenge, einem einzelnen Individuum zuschreiben und ist Ausdruck des unmittelbar intendierten Konsums, der im Hier und Jetzt stattfindet. Zwar wird bei Veranstaltungen in Kauf genommen, dass volle Flaschen oder 57 Honneth, Anerkennung, S. 64f. 58 Ebenda, S. 205.

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Dosen transportiert werden müssen. Jedoch verlieren sie im Augenblick, in dem sie ihres Inhaltes beraubt sind, jegliches Interesse, werden zu Müll und damit zu Ballast. Ich zitiere an dieser Stelle nochmals den obdachlosen Stefan aus Berlin: Na, dass sie grad keine Möglichkeit haben, die irgendwie zeitbedingt wird, abzugeben, (stelln sich zur Verfügung) Menschen, die auf der Straße leben, denk ik ma. Dass se einfach mit einer Flasche nich rumleer, rumlaufen wollen. Oder sich det irgendwo reinstecken inne Tasche (was weiß ich), is der einzigste Grund. Weils einfach lästig ist, irgendwelches Leergut mit sich rumzuschleppen. Hab ik grade kene Tüte, wo Platz dafür is, dann lassen se se am Mülleimer stehn, is doch auch ok. Hauptsache, es liegt nich in der Umgebung rum.

Die Aufgabe des Flaschensammlers ist es, die Last auf sich zu nehmen, die der Geber von sich weist, indem er die Flasche oder Dose in Müll verwandelt. Jedoch ist die Entlastung eher Schein. Ist die Flasche erst im Abfalleimer gelandet, wird die Last bereits nicht mehr getragen. Der Sammler wird demnach auch nicht zum eingesetzten Stellvertreter und kann nicht notwendigerweise mit Anerkennung rechnen. Doch wie steht es im Fall der von Stefan angedeuteten Geste einiger Flaschenbesitzer? Seit dem Auftauchen der Pfandsammler kann man nämlich in Innenstädten vor Abfallbehältern oder in öffentlichen Anlagen kleine Flascheninseln finden, die Ausdruck einer Verhaltensänderung sind, die auch im Gespräch mit Thomas Erwähnung findet: Also, viele schmeißens gar nicht mehr rein. Die stelln’s so hin, ne. Also, das, das ham sich viele schon angewöhnt. Stelln so neben den Mülleimer, oder daneben oder irgendwo anders hin, ne.

Durch das ausbleibende Hineinwerfen wird auch das zum Teil umständliche Herausholen vermieden, sodass die Sammler die Flaschen nur vom Boden aufzuheben brauchen. Wie Thomas sagt, ist dieses unterstützende Verhalten, bei dem die Tätigkeit der Pfandsammler im Akt des Sich-der-Flasche-Entledigens mitgedacht wird, bereits für viele zur Gewohnheit geworden.59 Im Verlauf des Forschungsprozesses wurde 59 So findet sich etwa eine Facebook-Seite mit dem Namen »Pfand gehört daneben«. In der Beschreibung der Seite heißt es: »Um Obdachlosen und bedürftigen Menschen die Schmach des Müllwühlens zu ersparen, gehören Pfandflaschen nicht in den Mülleimer oder Container, sondern sollten daneben abgestellt werden.« (http://www.facebook.com/pfand.gehoert.daneben [20. 03. 2013]).

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dies in Gesprächen mit potenziellen Gebern immer wieder bestätigt. Viele wiesen darauf hin, ihre Getränkeverpackungen nicht mehr in den Mülleimer zu werfen, da sie entweder von anderen auf Flaschensammler aufmerksam gemacht wurden – dies würde dann einem »Zwang zur Selbstlosigkeit«60 gleichkommen, denn wie wollte man begründen, dass man seine Flasche zwar wegwerfen, aber nicht einem Flaschensammler geben will – oder selbst darauf aufmerksam geworden sind. In Berlin kann man sogar teilweise auf öffentlichen Müllbehältern Aufkleber entdecken, die explizit auf diese Praktik hinweisen: Die Aufkleber, die meist unterhalb des Einwurfschlitzes angebracht werden, haben in etwa die Größe einer Handfläche und bestehen aus zwei Abbildungen, die die Abbildung in zwei gleichmäßige Hälften aufteilt (unten/oben). Auf der oberen Abbildung kann man einen roten Kreis sehen, in dessen Innerem die obere Hälfte eines Abfallbehälters abgebildet ist. Aus dem rechten Bildrand kommt eine einzelne Hand, die eine Flasche in den Mülleimer wirft. Die untere Abbildung zeigt, eingeschlossen von einem weißen Kreis auf blauem Hintergrund, das untere Ende eines Abfalleimers sowie einen Ausschnitt der gepflasterten Straße. Aus dem linken Bildrand kommt eine Hand, die die Flasche unterhalb des Mülleimers auf dem Straßenpflaster postiert. Das Motiv der Aufkleber bedient sich bei den in Deutschland üblichen Verkehrsschildern. Hierbei symbolisieren rot umrandete Schilder ein Verbot, wohingegen blaue Schilder mit weißen Abbildungen Vorschriften darstellen (zum Beispiel vorgeschriebene Fahrtrichtung, Fußgängerzone). Der Abfallbehälterbenutzer wird hier also aufgeklärt, welches Verhalten geboten ist. Auffällig ist diese Art der Adressierung im Kontext der Abgabe der Pfandflasche gerade deshalb, weil keine Bitte um Berücksichtigung der Pfandsammeltätigkeit ausgedrückt, sondern in autoritärer Form solidarisches Handeln verordnet wird; die Probleme, die damit verbunden sein können, werde ich im nachfolgenden Exkurs über Ährensammler darzustellen versuchen. Da dieser Aufkleber jedoch in den meisten Städten nicht existiert, ist davon auszugehen, dass es sich um eine soziale Praxis handelt, die sich in Bezug auf das Auftauchen der Sammler nach und nach selbstständig entwickelt hat. Ob durch explizite Hinweise oder durch Nachahmung: Das Vor-den-Abfallbehälter-Stellen ist zu einem institutio-

60 Naumann, »Schenken«.

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nalisierten Verhalten geworden, das für immer mehr Menschen zum verkörperten Wissen geworden ist. Der immer wieder genannte Grund für diese soziale Praxis ist die Vermeidung des In-den-MülleimerGreifens beziehungsweise Im-Abfall-Herumwühlens. Gerade diese typischen Handbewegungen sind es, die von den potenziellen Gebern als eine mit dem Sammeln verbundene Erniedrigung interpretiert wird.61 Dadurch, dass die Flaschen nicht in den Mülleimer geworfen werden, soll einer damit antizipierten Stigmatisierung zuvorgekommen werden. Dies ist vor dem Hintergrund der Arbeit Goffmans aufschlussreich, in der es vor allem um Techniken zur Bewältigung eines Stigmas geht, die von den betroffenen Individuen selbst entwickelt werden. In den Flascheninseln vor den Abfallbehältern drückt sich die soziale Norm aus, nach der man nicht im Müll zu wühlen hat. Das Inden-Mülleimer-Greifen wird demnach für alle sichtbar zu einem sozialen Übel beziehungsweise abweichenden Verhalten deklariert, das durch Prävention zu verhindern versucht wird, gleichzeitig aber normkonformes Handeln sicherstellt. »Die vorbeugenden Maßnahmen mögen autoritär die individuelle Freiheit beschneiden oder – als Selbstkontrolle – die Autonomie des Individuums bestätigen, ihre Legitimität und Attraktivität beziehen sie aus dem Versprechen, mögliche Schäden abzuwehren.«62

Die Absurdität dieser – sicherlich wohlgemeinten – sozialen Praxis liegt darin, dass jeder Pfandsammler, selbst wenn sich Flaschen vor dem Mülleimer befinden, immer auch in diesen hineinsieht und, wenn nötig, hineingreift. Gabentheoretisch ist der Akt des Vor-den-Mülleimer-Stellens jedoch bedeutend: Anders nämlich, als dies bei Marcel Mauss der Fall ist, kommt es an dieser Stelle nicht zu einer persönlichen Übergabe zwischen Geber und Empfänger. Weil die Gabe nicht mehr zurechenbar ist, muss auch die durch sie notwendig werdende Dankbarkeit im Sinne Simmels ausbleiben. Die vor den Mülleimer gestellte Flasche stellt

61 Ein weiterer Grund, der jedoch in den Gesprächen mit Gebern sowie auf Internetforen nicht genannt wird, ist natürlich die Verletzungsgefahr durch im Müll befindliche spitze oder scharfe Gegenstände (vgl. Rendleman/Feldstein, »Urban Recyclers«). Die Sammler selbst begegnen diesem Problem zum Teil mit der Verwendung von Gummihandschuhen. 62 Bröckling, »Prävention«, S. 45.

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demnach eine anonymisierte Gabe dar, die, obwohl sie Ausdruck des Bedürfnis des Gebers ist – nämlich seine Flasche loszuwerden –, zugleich das Bedürfnis des Sammlers mitberücksichtigt. In der Betrachtung des Phänomens des Pfandsammlers haben wir es mit einem empirischen Beispiel für die von Samuel Strehle entwickelte Theorie der Gabe zu tun, die an die Überlegungen Karl Marx’ anschließt. Durch die Auseinandersetzung mit Marx entwirft Strehle das Bild einer Gabe, die jenseits des Tausches angelegt ist, indem Gabe und Gegengabe radikal voneinander abgekoppelt werden. Weil im Akt der Gabe die Bedürfnisse beider Seiten befriedigt werden – ähnlich wie Marx dies im Gedanken einer nicht-entfremdeten Arbeit als freier Lebensäußerung formuliert63 –, zugleich die Anonymität aber die Verpflichtung zur Reziprozität auflöst, entbehrt eine solche Beziehung der strukturellen Feindschaft, wie sie im archaischen Gabentausch angelegt ist:64 »Das Geben ist mitnichten interessenlos, aber das Interesse erfüllt sich im Akt des Gebens selbst, sofern mich der Akt des Gebens als souveränes, schöpferisches Subjekt bestätigt – und zwar unabhängig davon, ob ich demjenigen, der das Gegebene später konsumiert, persönlich begegne oder nicht.«65

In Situationen, in denen die Flasche dem Sammler direkt und zumeist ungefragt übergeben wird – Situationen, in denen Sammler und Mülleimer für einen kurzen Moment ununterscheidbar werden – und in denen jeglicher verbaler Austausch fehlen kann, erscheint es unmöglich, der Produktion von Asymmetrie zu entgehen. Die gute Tat, die »Großzügigkeit« des Gebers spiegelt sich noch im »Danke!« des Sammlers. Der Geber, der in offensiver Art und Weise seine Absicht zu geben verfolgt, genehmigt sich bereits »eine symbolische Anerkennung, beginnt sich selbstgefällig glücklich zu schätzen, gratifiziert und gratuliert sich selbst und erstattet sich symbolisch den Wert dessen zurück, was er gerade gegeben hat.«66

Eben diese Möglichkeit scheint durch das Vor-den-Abfalleimer-Stellen wenn nicht negiert, so doch auf ein Mindestmaß reduziert worden zu sein. Anders als bei der Übergabe muss die Flasche nicht als objek-

63 64 65 66

Marx, »Manifest«, S. 303f. Godbout/(Caillé), L’esprit du don. Strehle, »Jenseits des Tausches«, S. 148. Derrida, Falschgeld, S. 25.

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tivierte Asymmetrie zwischen Geber und Sammler gedeutet werden, sie ist nicht, wie dies beim Potlatsch der Fall ist, Ausdruck einer ungleichmäßigen ökonomischen Potenz, sondern ein Angebot, das ebenso ausgeschlagen werden kann. In der Geste des Vor-den-MüllbehälterStellens verdeutlicht der Geber zudem, dass er in der Lage ist, den von ihm erlittenen »Verlust« realistisch einzuschätzen. Die Flaschengabe, mag sie auch Gabe sein, eignet sich gerade in finanzieller Hinsicht nicht, um einen Wohltäter zu generieren, sondern bietet dem Flaschensammler allenfalls ein Zubrot. Die Übergabe der Flasche, ohne ein Wort zu wechseln, ist dabei vielleicht der härteste Schlag ins Gesicht. Derjenige, der seine Flasche ungefragt vor den Mülleimer stellt, bleibt dagegen selbst noch in seiner Art, zu geben, bescheiden. Erst in dieser Konstellation wird die Flasche zur wahren Gabe, weil sie eine Gabe ist, die ohne Antwort bestehen kann. Der Empfänger fühlt sich nicht beleidigt oder bedrängt, nicht von Hass oder Ressentiment erfüllt, und der Geber muss sich nicht dem potenziellen Neid aussetzen, er kann geben, ohne in der Furcht leben zu müssen, möglicherweise eine Vergeltung für seine Tat zu erhalten. Mag der Geber auch zu jenem Zeitpunkt wissen, dass er gibt, so weiß er hingegen nicht, »was er gibt, denn der Beschenkte aktualisiert den Wert der Gabe«.67 Die Sequenzanalysen zeigen, dass die Tätigkeit den Flaschensammlern neben dem ökonomischen Vorteil ebenso zur Überwindung sozialer Vereinsamung dient. Die Flasche vor dem Müllbehälter drückt dann ein »An dich hab ich gedacht« aus. Genau darin entspricht ihr Postieren, ohne es zu wissen, dem Bedürfnis des Sammlers.

Erster Exkurs: Verordnete Wohltätigkeit – Ährensammler »In äußerster Gefahr und im Konflikt mit dem juristischen Recht ist dem Leben ein Notrecht einzuräumen.« Georg Wilhelm Friedrich Hegel

Ein Beispiel für Sammler, denen gegeben wird, denen die Gabe sogar von oberster Instanz zugesprochen wird, findet sich in den levitischen Gesetzen, dem 3. Buch Mose (19, 9–10), das schon Mary Douglas für ihre Untersuchung »Reinheit und Gefährdung« in Bezug auf die Reinigungsrituale ausgewertet hat. Gott untersagt im »Verbot der Nach67 Caillé, »Doppelte Unbegreiflichkeit«, S. 176.

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lese« dem Besitzer von Ackerland, sich die anfallenden Reste auf seinem Feld anzueignen. Nicht einmal dürfe das Feld bis zu seinen äußeren Rändern abgeerntet werden, sondern alles übrig Gebliebene sei den Armen und Fremden zu überlassen. Gott wendet sich mit diesem Verbot an die soziale Position des Grund- und Bodeneigentümers; also an den Individualeigentümer. Mit diesem Gesetz schränkt er den Gebrauch des privaten Eigentums ein (Deuteronomium 24, 19–21). Die Begründung dafür kann in der Pflicht des Besitzenden gegenüber den Besitzlosen (Armen und Fremden) gesehen werden, für die er gewissermaßen Verantwortung trägt. So findet man in diesem Verbot den Ausgangspunkt der christlichen Tradition der Mildtätigkeit und des Platzes der Armen in der abendländisch-christlichen Gesellschaft, wie sie bis ins hohe Mittelalter bestand. Der Arme befand sich nicht am Rande der Gesellschaft, sondern war insofern integriert, als seine Existenz den Wohlhabenden Gelegenheit zur Mildtätigkeit bot. Er erfüllte damit eine gesellschaftliche Funktion. Besitzende wie Besitzlose hatten ihre Stellung in der Gesellschaftsordnung der Societas Christiana. Der Arme konnte auf die Unterstützung vertrauen, da seine Situation nicht als selbst verschuldet, sondern als gottgewollt angesehen wurde.68 Das Verbot der Nachlese ist die abstrakte Formulierung eines allgemeinen Gesetzes, welches im 2. Kapitel des Buches Rut (»Rut auf dem Acker des Boas«) gewissermaßen zur konkreten Anwendung kommt. Mit dem Verbot kommt es zur Ausbildung einer Praxis, die vor allem in der Kunstgeschichte durch eine Darstellung des Malers Jean-François Millet (1814–1875) Berühmtheit erlangt hat: das Ährenlesen. Hierunter versteht man die Erntemethode der armen Bevölkerungsschicht, die nach der eigentlichen Ernte die Reste von den Feldern auflas. Das Sammeln zurückgelassener Ähren oder Kartoffeln bot Menschen ohne Grundbesitz die Möglichkeit, sich einen Teil ihrer Nahrungsmittel zu beschaffen. Diese Praktik ist jedoch keineswegs gänzlich verschwunden. Noch in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg waren es vor allem die städtische Bevölkerung, ältere Frauen, Invaliden, Arbeitslose aber auch Kinder, die zum Stoppeln, wie es zum Teil genannt wird, hinaus aufs Land fuhren. Und auch heute wird in manchen Regionen Bedürftigen das Auflesen der Erntereste gestattet. Im französischen Gesetzbuch zum Zivilrecht (code civil) besteht noch

68 Irsigler/Lassotta, Außenseiter, S. 18.

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heute ein Artikel, der die Nachlese von Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang regelt. Im Buch Rut nun kann nicht nur nachgelesen werden, wie man sich die Nachlese vorzustellen hat, sondern auch mit welchen Problemen die Ährensammler konfrontiert sind. Bei der jungen Rut handelt es sich um eine verarmte Witwe. Nach dem Tod ihres Mannes besteht sie darauf, bei dessen Mutter Noomi zu bleiben, die ebenso verarmt ist, um sich um diese zu kümmern. Dies ist insofern eine außergewöhnliche Tat – für die Rut später belohnt werden soll –, als die verpflichtende Bindung an die Familie ihres Mannes durch dessen Tod aufgehoben ist. Gemeinsam wandern die beiden Frauen nach Bethlehem, der Heimatstadt Noomis. Bei ihrer Ankunft macht die Schwiegermutter die Menschen umgehend auf die Wandlung ihrer persönlichen Situation aufmerksam: »Nennt mich nicht mehr Noomi (Liebliche), sondern Mara (Bittere); denn viel Bitteres hat der Allmächtige mir angetan. Reich bin ich ausgezogen, aber mit leeren Händen hat der Herr mich heimkehren lassen.«69

Die theologische Quintessenz der Geschichte scheint mit den Bezügen auf das solidarische Verhalten Ruts, die starke emotionale Bindung an ihre Schwiegermutter und den damit zum Ausdruck gebrachten Gemeinschaftssinn, auch entgegen einer an Tradition ausgerichteten Erwartung, gefunden zu sein.70 Die von Noomi so betonte soziale Situation scheint jedoch von wenig Interesse, allerdings nicht für die vorliegende Untersuchung. In der Darstellung der Ährensammlerinnen bei Millet sieht man drei Frauen, die in gebückter Haltung nah beieinanderstehen. Klar von ihnen getrennt, im Hintergrund des Bildes, kann man die Erntehelfer sehen, die von einem Reiter, vermutlich dem Gutsverwalter, bewacht werden. Diese vielleicht sehr puristisch dargestellte Struktur der Abbildung findet sich auch in der Darstellung Ruts von Julius Schnorr von Carolsfeld (1794–1872) aus dem Jahre 1828. Hier werden zwei Gruppen von Menschen dargestellt, die sich in relativer Nähe zueinander befinden. Es scheint soziologisch schwer vorstellbar, dass es zu keinem Austausch zwischen ihnen gekommen ist; in welcher Form auch immer.

69 Rut 1, 20+21. 70 Kleine, Hilfe für Schwache, S. 79.

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Nach dem im Leviticus formulierten Gesetz sind es gerade Arme und Fremde, für die die Erntereste bestimmt sind. Rut, die in ihrer Bindung an die Schwiegermutter ebenfalls arm und mittellos ist, will sich eines Tages zum Ährensammeln aufmachen. Das in der Kunst dargestellte, scheinbar harmlose Nebeneinander und auch die Moral der Geschichte bekommen jedoch durch die Aussagen Ruts in Bezug auf ihre Tätigkeit als Sammlerin eine Wendung, die uns auf einen blinden Fleck sowohl in der Kunst als auch in der theologischen Ausdeutung dieser Bibelstelle hinweist: »Eines Tages sagt die Moabiterin Rut zu Noomi: Ich möchte aufs Feld gehen und Ähren lesen, wo es mir jemand erlaubt.«71

Zunächst einmal machen die Worte Ruts deutlich, dass es auf Gottes Geheiß hin zwar ein Nachleseverbot für den Besitzenden gibt, nicht aber ein Recht für den Armen. Statt ohne auf beliebigen Feldern Erntereste auflesen zu können, muss Rut jemanden finden, der es ihr erlaubt. Dort wo erlaubt werden muss, kann auch verweigert werden. Wir finden also einen Hinweis auf bestehende Machtverhältnisse zwischen Besitzern und Nicht-Besitzern, die durch das Verbot der Nachlese nicht aufgehoben sind. Die Sammler können keinerlei Machtmittel mobilisieren, im Sinne von einklagbaren Ansprüchen. Die durch das Nachleseverbot entstehende Situation des Sammlers erinnert an Georg Simmels kritische Betrachtung des christlichen Almosens in seiner Abhandlung »Der Arme«. Für ihn ist diese Form der Zuwendung ein markantes Beispiel der Auflösung des soziologischen Verhältnisses von Rechten und Pflichten, wonach die Rechte des einen zugleich immer auch die Pflichten eines anderen einschließen. Im Falle des christlichen Almosens bildet nicht das Recht des Empfangenden den Ausgangspunkt der Beziehung, sondern die Pflicht des Gebenden. In einer solchen institutionalisierten Armenpflege werde die Verbindung zwischen Recht und Pflicht aufgehoben und »der Arme als berechtigtes Subjekt und Interessenzielpunkt [verschwindet] vollständig«.72 Bei Verzicht auf das, was einem Besitzenden rechtmäßig gehöre, stehe nicht das Recht des Armen auf Unterstützung im Vordergrund, sondern viel eher das Heil des Gebenden. Inhaltlich entspricht ihm jedoch die jenseitige Verbesserung des Schicksals des Gebers: 71 Rut 2, 2 [eigene Hervorhebung, S.J.M.]. 72 Simmel, »Der Arme«, S. 348.

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»Prinzipiell nun ist auch der Empfangende ein Gebender, es geht ein Wirkungsstrahl von ihm auf den Schenkenden zurück, und dies eben macht das Geschenk zu einer Wechselwirkung, zu einem soziologischen Ereignis. Ist aber (…) der Empfänger aus dem Zweckprozeß des Gebenden ganz ausgeschaltet, spielt er keine andre Rolle als der Kasten, in den eine Spende für irgendwelche Seelenmessen gelegt wird, so ist die Wechselwirkung abgeschnitten, die Schenkaktion ist kein soziales, sondern ein bloß individuelles Ereignis.«73

Nachdem aus der Bibelerzählung bereits Hinweise auf das Verhältnis zwischen Besitzer und Sammler hervorgegangen sind, soll der Fokus auf die Stellen gerichtet werden, an denen das Verhältnis zwischen Feldarbeitern und Sammlern zum Ausdruck kommt: Rut geht auf das Feld des Grundbesitzers. Bei diesem handelt es sich, ohne dass Rut dies weiß, um einen Verwandten ihrer Schwiegermutter. Boas lässt sich von seinen Knechten Auskunft über das junge Mädchen geben und spricht sie daraufhin an. Beeindruckt von dem Verhalten gegenüber Noomi erteilt er ihr die uneingeschränkte Erlaubnis, auf seinem Feld zu sammeln. Mag auch dies zunächst seine Großherzigkeit und Güte zum Ausdruck bringen, so lesen sich seine im Imperativ formulierten Erlaubnisse eher wie Befehle: »Geh auf kein anderes Feld«, »Entfern dich nicht von hier«, »Behalte das Feld im Auge«. Dies erinnert an die von Thomas berichtete Begebenheit während der Fußball-Weltmeisterschaft, als die Polizisten ihm quasi den Befehl erteilen, die Flaschen einzusammeln. Es fällt schwer, diese Art der Adressierung allen voran als eine Form von Mildtätigkeit zu betrachten. Im Folgenden heißt es dann: »Ich werde meinen Knechten befehlen, dich nicht anzurühren. Hast du Durst, so darfst du zu den Gefäßen gehen und von dem trinken, was die Knechte schöpfen.«74

Rut hätte ohne den Schutz Boas’ also mit Übergriffen seitens der Feldarbeiter rechnen müssen. Erst der Befehl schützt sie vor willkürlichen Gewaltakten. Das Wort Boas’ ist für seine Knechte Autorität und muss respektiert werden. Ähnlich wie die Knechte für Rut, so ist Boas für sie Gebieter über Leben und Tod. Die erteilte Erlaubnis des Trinkens aus den Gefäßen der Knechte liest sich wie ein gewährter Sonderstatus; die Regel ist dies nicht. Dass dem Durstigen zu Trinken gegeben wird – was bezo73 Ebenda, S. 353. 74 Rut, 2, 9; vgl. auch: Rut, 2, 15.

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gen auf eine alttestamentarische Moral selbstverständlich sein müsste –, ist von den Knechten und auch von Boas nicht zu erwarten. Ähnliches zeigt auch eine Aussage Noomis gegen Ende des zweiten Kapitels: »Gut, meine Tochter, sagte Noomi zu Rut, wenn du mit seinen Mägden hinausgehst, dann kann man dich auf einem anderen Feld nicht belästigen.«75

Rut wird sowohl mit dem Hinweis »meine Tochter« als auch »seinen Mägden« einer Gruppe zugeteilt, die ein Geschlechtsmerkmal miteinander teilen: Sie ist eine Frau. Als solche kann sie nur mit einem respektvollen Verhalten ihr gegenüber rechnen, wenn sie sich unter die Gruppe der Mägde mischt und von diesen ununterscheidbar wird. Andernfalls, so wird auch hier sehr deutlich, müsste sie mit Belästigungen rechnen. Die Mägde, die das geschlechtsspezifische Pendant zu den Knechten bilden, müssen nicht um ihre körperliche Integrität fürchten. Ähnlich wie die Stillung des Durstes muss körperliche Unversehrtheit als Grundrecht aufgefasst werden, als ein Recht, das das Gegenüber als menschlich gleichwertig auffasst und respektiert. Die Ährensammler können nicht damit rechnen, menschlich behandelt zu werden. Eine mögliche Erklärung für diese Behandlung ist die relative Nähe von Knechten und Sammlern in der sozialen Hierarchie. Weil die Differenz des jeweiligen Integrationsgrades ziemlich gering ist, bleibt die physische Gewalt für die Knechte als Machtbeweis die vielleicht einzige Möglichkeit, um die Sammler auf ihre Position als Außenseiter zu verweisen. Von der Ausführung ihrer Tätigkeit sind sie gewissermaßen ununterscheidbar. Die Präsenz der Sammler scheint die soziale Identität derart zu beeinträchtigen, dass nur durch Abwertung oder gar intendierte körperliche Verletzung eine stabile Wir-Identität ausgebildet werden kann.76 Im Aufeinandertreffen von Knecht und Sammler bekommt Ersterer die Gelegenheit, seine soziale Existenz zu transzendieren. Physische Gewalt, welcher der Knecht vermutlich vonseiten seines Herrn ausgesetzt ist, muss als der intensivste aller Machtbeweise angesehen werden. Die Gewalt trifft das Opfer, das sich von seinem Körper nicht trennen kann, demnach im »Zentrum der Existenz«.77 Warum aber verhindert Boas diese potenzielle Entmenschlichung Ruts? Eine mögliche Erklärung bietet das Verwandtschaftsverhältnis 75 Rut, 2, 22. 76 Vgl. hierzu: Elias/Scotson, Etablierte und Außenseiter. 77 Sofsky, Traktat, S. 19.

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zwischen den beiden. Für diffuse Sozialbeziehungen, die sich an den Grundsätzen der Gemeinschaft orientieren, ist moralisches Handeln im Sinne von Uneigennützigkeit und Solidarität konstitutiv. Gerade der auch gegen die sozialen Konventionen sprechende Verbleib Ruts in der Familie ihres verstorbenen Mannes zeigt die emotionale Basis, auf der solche Beziehungen fußen. In ihnen muss grundsätzlich von einer Nicht-Ersetzbarkeit einzelner Positionen ausgegangen werden, und einer daraus resultierenden lebenslangen Bindung; selbst bei Abwesenheit, wie zum Beispiel durch das Versterben. Im Durkheim’schen Sinne kann man von einer Form mechanischer Solidarität sprechen, die sich an der Zugehörigkeit zur gleichen Sippe beziehungsweise Familie orientiert.78 Im solidarischen Verhalten Boas’ wird die unterstützende Funktion von Solidarität deutlich, um bestehende Ungleichheiten zwischen einzelnen Mitgliedern der gleichen Gruppe aufzufangen.79 Im Gegensatz zur moralischen Verpflichtung gegenüber seinesgleichen kann das Nachleseverbot nicht als ein Mildtätigkeitsgebot gelesen werden, das an der Aufrechterhaltung der Integrität völlig Fremder interessiert wäre. Es bezeichnet lediglich das Erlaubte, nicht aber das Gebotene.80 In Bezug auf die Mauss’sche Gabentheorie haben wir es in der Geschichte Ruts nicht mit einem alternativen Gesellschaftsmodell zu tun. Die Gabe Boas’ wird hier über Verwandtschaftsverhältnisse traditionell erzwungen. Außerdem kann Rut Boas keine Gegengabe machen, weshalb das Verhältnis streng asymmetrisch bleibt.

78 Durkheim, Über soziale Arbeitsteilung. 79 Zimmermann, »Solidarität«, S. 307. 80 »Je allgemeiner, für einen je größeren Kreis geltend, eine Norm ist, desto weniger ist ihre Befolgung für das Individuum charakterisierend und bedeutsam; während ihre Verletzung von besonders starken und hervorhebenden Folgen zu sein pflegt.« (Simmel, »Der Arme«, S. 361).

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Die Ambivalenz von »Drecksarbeit« Einer muss den Dreck wegmachen Wie bereits dargestellt ist die Transformation der Flasche in Abfall, oder genauer: in Müll, für das Sammeln unumgänglich. In den Sozialwissenschaften ist das Thema Abfall beziehungsweise Schmutz immer wieder behandelt worden, vor allem um zu zeigen, dass es sich dabei um keine natürlichen Eigenschaften des Objekts handelt. Kein Ding ist an sich schmutzig oder unrein, sondern es handelt sich hierbei um eine gesellschaftlich konstruierte Kategorie. Womit wir es zu tun haben, ist das Produkt einer Kultur, die zur Unterscheidung von Objekten die Begriffe wertvoll, unwert oder wertlos auf eine bestimmte Art und Weise verwendet. In seinem Modell schlägt Roger Fayets vor, Abfall als einen Bestandteil des Unwerten zu sehen. Eben weil diese Kategorie zur Anwendung kommt, muss man eigentlich eher von Müll, Dreck oder Schmutz als von Abfall sprechen, will man die negative Konnotation nicht ausblenden. Unsere Haltung wertlosen Objekten gegenüber ist seiner Ansicht nach durch Gleichgültigkeit gekennzeichnet. Wir sondern sie aus, versuchen, sie möglichst dorthin zu verlagern, wo wir sie nicht mehr wahrnehmen. Abfall hingegen ist das Produkt einer bewussten Verneinung beziehungsweise Verwerfung und stellt somit eine negative Entscheidung dar: »Auf dem Waldboden liegendes Herbstlaub beispielsweise ist uns vollkommen gleichgültig, und tatsächlich kämen wir auch niemals auf die Idee, es als Abfall zu bezeichnen, obschon es ja immerhin ab-gefallen und in diesem Sinn ›Abfall‹ ist. Liegt das Laub aber hingegen auf einem geteerten Platz mitten in der Stadt und hat man vielleicht schon damit begonnen, es zusammenzuwischen und Haufen zu bilden, dann gehört es – nun als störendes Element – zum Bereich des Abfalls. Die plötzliche Anstößigkeit des zuvor noch Unproblematischen kommt einzig durch den Bereichswechsel, den das Laub absolviert hat, zustande: vom Gleichgültigen und deshalb ganz und gar Unstörenden zum Abfall, der auf seine Beseitigung (oder Kompostierung) wartet und, solange er noch da ist, eine Störung der Ordnung bedeutet.«81 81 Fayet, Reinigungen, S. 47.

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Das Beispiel macht deutlich, dass ein und dasselbe Ding nicht überall und zu jeder Zeit als schmutzig angesehen wird. Damit übernimmt Fayet einen zentralen Gedanken der Anthropologin Mary Douglas, die zeigt, dass Dinge erst dann zu Schmutz oder Müll werden, wenn sie in einem wohl definierten System fehl am Platz sind. In ihrer einflussreichen Studie »Reinheit und Gefährdung« sieht Douglas im Akt des Reinigens, das heißt der Beseitigung von Schmutz, nichts anderes als das Hantieren mit Differenzen. Ziel ist es, eine Ordnung herzustellen, die notwendig ist, um sich in einer unübersichtlichen Welt zurechtzufinden. Das Entwerfen von Ordnung bedeutet aber immer auch Bewertung, wodurch zugleich bestimmte Bereiche entwertet werden. Prioritäten setzen, einer Möglichkeit den Vorzug vor anderen zu geben, bedeutet immer auch, bestimmte Ereignisse möglichst unwahrscheinlich werden zu lassen. Wenn wir Schmutz entfernen, kommt dies der Verteidigung der von uns gemachten Ordnung gleich, die keine Ambiguität duldet. Douglas schreibt: »Schmutz ist das Nebenprodukt eines systematischen Ordnens und Klassifizierens von Sachen, und zwar deshalb, weil Ordnen das Verwerfen ungeeigneter Elemente einschließt.«82

Schmutz ist etwas Negatives, Gefährliches, weil er nicht in das Bild der Welt passt, wie wir sie entworfen haben.83 Mehr noch: Weil auch die menschlichen Überreste in Form von Abfällen materielle sind, gesellen sie sich zu jenen Objekten, die wir gerne als Repräsentanten unseres Selbstbildes zur Schau stellen. Statuen, Kunstwerke, Bücher oder Bauwerke sollen für alle Ewigkeit die Schönheit und Größe der menschlichen Kultur symbolisieren. Deshalb kommt ihnen ein exponierter Status zu. Müll aber ist ebenfalls materiell vorhanden und bietet als kulturelles Symbol ein Bild von uns selbst: »›Sage mir was du wegwirfst und vor allem, was du behältst und ich sage dir, wer du bist‹. Es sind die Objekte, ihre Anzahl und die Orte, an denen sie auffindbar sind, durch die sich das Subjekt ausweist und darstellt.«84

82 Douglas, »Profane Verunreinigung«, S. 29. 83 Douglas, Reinheit und Gefährdung, S. 58. 84 Dagognet, Des détritus, S. 98 [eigene Übersetzung, S.J.M.].

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In diesem Vorhandensein, oder besser: dem Vorhandenbleiben, stellt der Abfall die etablierte und geschätzte Ordnung infrage, denn er ist die Kehrseite des von uns gewünschten Selbstbildes. Weil Schmutz die permanente Mitführung der anderen Seite unserer Unterscheidung ist, führt er vor Augen, dass unsere »Weisen der Welterzeugung« (Goodman), unsere Klassifikationen von Dingen willkürlich sind. Je klarer die Grenzen gezogen werden, je mehr wir versuchen, die Kategorien eindeutig zu definieren, desto stärker muss Abfall als Gefährdung der Stabilität unserer Welt angesehen werden.85 In seinen Betrachtungen über den Abfall versucht François Dagognet die interne Differenzierung der Kategorie des Abfalls aufzuzeigen.86 Obwohl es eine Vielzahl von Möglichkeiten gibt, wie aus einem Ding Abfall werden kann, ist für Dagognet die Bezeichnung erst ab dem Zeitpunkt anzuwenden, wo wir es mit dem Bodensatz, mit Schlacke oder einer undefinierbaren Masse zu tun haben. Nicht nur hat das Ding, das Abfall ist, jede Funktion verloren, sodass es unverwendbar geworden ist. Dies verdeutlicht sich seiner Ansicht nach vor allem daran, dass Abfall einen ganz eigenen Aggregatzustand annimmt. Bei Mary Douglas findet man einen ähnlichen Gedanken:87 Die Identität von Schmutz ist zeitlich begrenzt und hört da auf, wo sich das Objekt in seine Umwelt entdifferenziert, das heißt verrottet oder auflöst.88 Das Objekt, das zu Müll wird, ist in eine Abwärtsbewegung eingebunden, verlagert sich von oben nach unten, bis es schließlich auf dem Boden angelangt ist. Ganz oben auf der Stufenleiter stehen zurückgelassene Objekte, die zwar nicht mehr verwendet werden, deren Zugehörigkeit zu einem anderen Objekt aber noch an ihnen haftet, so zum Beispiel das Rad eines alten Kinderwagens. Mag dieses Rad auch keinen Verwendungswert mehr besitzen, so ist es der symbolische Verweisungszusammenhang, der es zu einem Objekt mit Wert macht. Sein Status ist jedoch bereits ambivalent. In dieser Perspektive ist es nicht so sehr Widerspruch gegen eine bestehende Ordnung, wie bei Douglas, sondern vor allem das Herausgelöstsein aus einem definierten Zusammenhang, der die Entwertung der Objekte vorantreibt. So kommt es 85 86 87 88

Bauman, Moderne und Ambivalenz. Dagognet, Des détritus, S. 61ff. Douglas, Reinheit und Gefährdung, S. 208ff. Vgl. auch: Fayet, Reinigungen, S. 23ff.

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häufig vor, dass das Ding seinen unaufhaltsamen Weg nach unten antritt, statt dass versucht wird, es in eine neue Einheit zu integrieren, das heißt wiederzuverwerten oder zu kompostieren. Solange sich Objekte noch relativ weit oben befinden oder solange sie noch als ein Teil von etwas anderem erkennbar sind, bleibt die Möglichkeit erhalten, sie wieder- oder weiterzuverwenden. So können sie als Ressource für etwas anderes dienen, oder aber sie bleiben als Symbol erhalten. Mag sich diese Entwertung zunächst lediglich auf eine dem Objekt abgehende Funktion beschränken, kann sie sich schließlich zu einer moralischen steigern. Dies führt dazu, dass der Schmutz mit dem Schlechten und Bösen gleichgesetzt wird, wohingegen das Reine das Gute symbolisiert. Es ist nicht zuletzt diesem Umstand geschuldet, dass alle Studien, die sich mit Schmutz befassen, darauf hinweisen, dass die auf den Schmutz angewendeten Kategorien sich ebenfalls auf die Menschen übertragen, die mit ihm in Berührung kommen.89 Für solche Arten von Tätigkeit hat der amerikanische Soziologe Everett Hughes den Begriff »Drecksarbeit« geprägt, womit nicht ausschließlich die Beseitigung von physischem Abfall gemeint ist. Ob eine Tätigkeit als Drecksarbeit bezeichnet werden kann, hängt vor allem mit den Objekten zusammen, mit denen man es zu tun hat. Eben deshalb kann zwischen physischer, sozialer und moralischer Drecksarbeit unterschieden werden, die noch dazu auf einem Kontinuum zwischen niedriger und hoher sozialer Anerkennung anzusiedeln sind.90 Unter physischer Drecksarbeit werden Tätigkeiten verstanden, die das Mit-Ausgestoßenem-in-Kontakt-Kommen unumgänglich machen, wie dies zum Beispiel in der Abfallwirtschaft oder auch bei der Bestattung von Leichen der Fall ist. Auch der Zahnarzt verrichtet in gewisser Weise Drecksarbeit, ist er doch im Kontakt mit Speichel, Blut und verfaulten Zähnen. Gerade solche Tätigkeiten genießen hohen sozialen Status, weil sie eine hohe Qualifikation erfordern, das heißt nicht ohne Weiteres von jedermann ausgeführt werden können und mit der Rettung oder Erhaltung von Leben zu tun haben, wohingegen der Müll aus den Mülltonnen lediglich abtransportiert wird. Soziale Drecksarbeit beinhaltet den Kontakt mit gesellschaftlich stigmatisierten Grup89 Vgl. hierzu: Dagognet, Des détritus, S. 14; Frias, »Monde des chiffoniers«, S. 212; Douglas, Reinheit und Gefährdung, S. 129. 90 Vgl. hierzu: Ashfort/Kreiner, »How Can You Do It?«, S. 416ff.

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pen, wie Obdachlosen oder Kriminellen, kann aber ebenso auf jene Tätigkeiten angewandt werden, bei denen andere Menschen bedient werden. Die letzte Kategorie von Drecksarbeit betrifft die Moral: Hiermit können sowohl Tätigkeiten wie Prostitution gemeint sein, die als sündhaft stigmatisiert werden, oder solche, die ein zudringliches Verhalten notwendig machen, wie dies etwa bei Telefonverkäufen der Fall ist. Wie Hughes angibt, ist Drecksarbeit durchaus eine gebilligte Tätigkeit, weil ihre Erledigung als sinnvoll angesehen wird, soweit es sich um die Beseitigung eines allgemein anerkannten Problems handelt.91 Zu beachten sind dabei zwei Dinge: Zum einen werden Menschen, die sich dazu bereit erklären, diese Art von Arbeit zu übernehmen, als Stellvertreter derjenigen eingesetzt, die sich die Hände nicht schmutzig machen wollen, das heißt, sie werden beauftragt und übernehmen diese Arbeit nicht freiwillig. Drecksarbeiter machen sich im Allgemeinen zu Dienern und warten auf Befehle. Zum anderen ist gerade das Schweigen über diese Arbeit von erheblicher Wichtigkeit. Eine offene Diskussion über Drecksarbeit könnte das Selbstbild der Gruppe gefährden, beziehungsweise der Bruch des Schweigens könnte gar als offener Angriff auf die Gruppe und ihre Werte angesehen werden. Drecksarbeiter stellen eine Scheinnormalität her, indem sie, möglichst unauffällig, für die Beseitigung dessen verantwortlich sind, was nicht ins Bild passt. Dass diese Art von Tätigkeiten akzeptiert werden, erklärt sich nach Hughes wie folgt: Er erwähnt zunächst die starke Kopplung von sozialer Wertschätzung und Erwerbsarbeit sowie das Fehlen entsprechender Alternativen, andere Tätigkeiten auszuüben. So ist zum einen bekannt, dass die ethnische oder soziale Herkunft die zur Verfügung stehenden Möglichkeiten, in höhere Positionen zu gelangen, erheblich einschränken kann. Zum anderen seien es, gerade in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit, »gescheiterte Existenzen«, sozial Ausgegrenzte oder, wie es in der neueren soziologischen Debatte heißt, »Überflüssige«,92 die auch wenig Prestige einbringende Tätigkeiten ausführen. Es sei dem gesteigerten Integrationswillen jener geschuldet, die innerhalb der Arbeitsgesellschaft keinen rechten Platz beanspruchen können, 91 Hughes, »Dirty work«, S. 6ff. 92 Steinert, »Diagnostik der Überflüssigen«; Vogel, »Überflussgesellschaft«; Bude, »Soziale Frage«.

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weil ihre Arbeitskraft auf lange Sicht nicht nachgefragt wird und die letztlich jede Arbeit annehmen, um zu arbeiten und damit dazuzugehören.

Wertvoller Müll Mag auch die Arbeit mit Müll wenig Prestige einbringen, so ist die Entdeckung, dass sich mit Müll Geld verdienen lässt, nicht neu. In einem Wirtschaftskreislauf, der immer mehr auf den schonenden Einsatz seiner Ressourcen zu achten hat, wird das auf der einen Seite Ausgestoßene auf der anderen Seite wertvoll. So haben sich gerade im Bereich der Abfallwirtschaft in den letzten Jahren neue Tätigkeitsfelder eröffnet, und die Pfandsammler müssen als Ausdrucksgestalt einer sich informell bildenden Recycling-Ökonomie verstanden werden. In ihr sind Pfandgebinde wertvolle Abfallgegenstände. Dieser Wert zeichnet sich jedoch nicht nur durch den bloßen Umstand aus, dass diese gegen einen Geldbetrag eingetauscht werden können. Auch der Umgang der Pfandsammler mit ihrem Objekt ist ein Hinweis auf diese Wertigkeit. Mag es sich dabei um Centbeträge handeln, so sind sie doch so wertvoll, dass sie vor den anderen wie ein Schatz in Sicherheit gebracht werden müssen. Dies geschieht, indem man sie bunkert. Unter Bunkern kann das Zwischenlagern über einen längeren Zeitraum von mehreren Stunden oder auch Tagen verstanden werden; eine Art Reservebildung. Hierzu werden im Allgemeinen nicht-öffentlich zugängliche Orte benötigt. Einige Flaschensammler benutzen dafür ihre Wohnungen oder Kellerräume, soweit diese ihnen zur Verfügung stehen. Vor allem solche Fälle verdeutlichen die Entgrenzung zwischen Privatleben und professioneller Tätigkeit. Der Pfandsammler ist rund um die Uhr Sammler und nicht erst ab dem Zeitpunkt, ab dem er sich auf der Straße befindet. Andere, die diese Möglichkeit nicht besitzen, suchen sich »Bunker« in unmittelbarer Nähe ihrer Sammelstellen. So werden beispielsweise Haushaltsmülltonnen, die nicht ohne Weiteres der Öffentlichkeit zugänglich sind, weil sie zum Beispiel in einem Hinterhof oder auf Privatgrundstücken stehen, als Bunker verwendet. In diese werden die mit Flaschen gefüllten Tüten hineingelegt und mit anderem Müll bedeckt, um zu verhindern, dass sie sichtbar sind. An dieser Strategie des Bunkerns zeigt sich, dass im Müll ge169

wühlt wird, ohne dass es als Im-Müll-Wühlen gedeutet werden würde, da in diesem Fall die »Beute« geschützt wird. Diese Bunker werden nur für einen kurzen Zeitraum von einigen Stunden, höchstens einer Nacht, verwendet. Weiterhin werden Container aus Metall benutzt, die mit einem Vorhängeschloss versehen werden können. Da man sich jedoch nicht sicher sein kann, ob diese Bunker anderweitig genutzt werden, müssen sie zunächst für einen längeren Zeitraum beobachtet werden. Thomas, der diese Strategie verfolgt, berichtet: Man muss das nur erst ma ne Weile beobachten, ne. Drei, vier Flaschen reinpacken. Die muss man eben vielleicht opfern und das ne Weile beobachten, und wenn da nix passiert, ja, dann is der Bunker sicher.

Die Bunker dieser Art, die zu den weiter vorne beschriebenen »Stellen« zu zählen sind, die unter keinen Umständen verraten werden dürfen, werden hauptsächlich von Sammlern benutzt, die ihrer Tätigkeit nachts nachgehen oder zu Hause nicht den nötigen Platz haben. Supermärkte haben nachts geschlossen, und Tankstellen oder Drugstores mit geringeren Verkaufsflächen sind lediglich verpflichtet, die in ihrem Sortiment befindlichen Getränkeverpackungen zurückzunehmen. Eine wichtige Funktion des Bunkers beschreibt Thomas so: T: […] in meinem Bunker hab ich natürlich immer noch’n paar Reserven drin, ne. SJM: Dass Sie nich alles wegbringen oder was? T: Ja, weil ich’s manchmal mit einem Mal gar nich alles wegkriege, ne. Wenn ich jetzt einmal wegbringe und hab genug, dass ich jetzt ein Tag oder so genug habe, ne, genug Geld, dann lass ich das liegen in meinem Bunker. Und wenn ma’n Tag is, wo schwach is, wo weniger, da kann man die Reserven mit reinnehmen, ne.

Mit dem Bunker soll nicht nur verhindert werden, dass die bisherigen Flaschen abhandenkommen, sondern sie dienen auch als Reservelager für schlechte Zeiten. An Thomas’ Aussage wird deutlich, dass das Pfandgeld zum festen Bestandteil des Lebensunterhaltes hinzugerechnet wird, da er manchmal »genug« hat und es dementsprechend im Bunker liegen lassen kann. Wenn es also zum Beispiel aufgrund von schlechtem Wetter zu einer Flaute kommt, kann diese Zeit mit den im Bunker eingelagerten Flaschen überbrückt werden. Als Bunker können auch Rasenflächen oder Gebüsche dienen, wie es bei Großveranstaltungen der Fall ist. Hier hat jeder Flaschensamm170

ler gewissermaßen sein Territorium, auf dem er sein Sammelgut zwischenlagert. Allerdings werden diese Bunker oder Flächen höchstens für ein bis zwei Stunden in Beschlag genommen. Am Wochenende oder bei einer Großveranstaltung kann es notwendig sein, wenn das jeweilige Hilfsmittel zum Verstauen gefüllt ist, den Sammelprozess zu unterbrechen, damit man die bisherigen Erträge bunkern kann. Danach wird weitergesammelt. Gerade an diesen Bunkerstellen kann man dabei zusehen, wie sich im Laufe der Zeit Berge von Pfandgebinden anhäufen. Teilweise kommt es dazu, dass außenstehende Nicht-Sammler kurzzeitig gefragt werden, ob sie auf die Flaschen Acht geben könnten. So berichtet Thomas, dass er einmal während einer öffentlichen Übertragung bei der Fußballweltmeisterschaft seine Flaschen bei der Bereitschaftspolizei zwischengelagert hat, denn, wie er mit einem Augenzwinkern sagt, »da wusst ich genau, da kommt ja nix weg, ne«. Aus dem Umstand, seine Beute bewachen zu müssen, wird deutlich, dass Flaschen geklaut werden können, wenn nicht auf sie geachtet wird. So konnte ich zum Beispiel beobachten, wie ein Flaschensammler auf dem Vorplatz eines Stadions etwa zehn Minuten neben Tüten stand, die mit Flaschen gefüllt waren. Immer wieder schaute der Mann sich um, wirkte insgesamt sehr nervös, und erst nach einiger Zeit räumte er die Tüten aus. Zuerst nahm er nur die Dosen und Plastikflaschen heraus, nach etwa zwei Minuten wendete er sich erneut den Tüten zu und räumte sie gänzlich aus, ohne dass er dabei seine Umgebung aus den Augen gelassen hätte. Auch wenn es mit Sicherheit nicht zum Alltag der Pfandsammler gehört, beklaut zu werden, gerade weil die Routensammler die Flaschen »am Körper« tragen, so zeigt das Bunkern und auch das Bewachen, dass man sich seiner Flaschen nie ganz sicher sein kann. Hieraus folgt, dass für die Sammler eine herrenlose Flasche, das heißt eine solche, die nicht durch Anwesenheit des Besitzers unmittelbar zurechenbar ist, ein öffentliches Gut darstellt. Dies ist so lange der Fall, wie sie nicht einem Flaschensammler zugeordnet werden kann oder besser: solange sie noch nicht zu Geld »gemacht« worden ist. Das Gleiche gilt im Übrigen auch für die Abfallbehälter. Diese stellen öffentliche Orte dar, auf die nicht ohne Weiteres Besitzanspruch erhoben werden kann; genau dies kann Konflikte in der Beziehung zwischen Sammlern und Nicht-Sammlern hervorrufen, wenn nämlich Letztere durch die Sammler an der Benutzung der Behälter gehindert werden. Dazu jedoch müsste der Sammler permanent an demselben Abfallei171

mer stehen bleiben, was nicht nur praktisch unmöglich ist, sondern er würde gänzlich zu einem Wartenden werden, ein Sammler aber wäre er nicht. Trotzdem ist die längere Verweildauer am Mülleimer, ob aufgrund des Darum-Herumschleichens mit dem Ziel, eine andere Tätigkeit vorzutäuschen, oder aufgrund des Hineingreifens und Nachsehens, ein Erkennungsmerkmal für Pfandsammler. Der Abfalleimer als wichtiger Bestandteil der Sammlertätigkeit ist ein Ort, der auf allen Routen kurzweilig zum eigentlich entscheidenden Ort des Geschehens wird. In den Innenstädten oder in öffentlichen Gebäuden wie Bahnhöfen sieht man die Routensammler die aufgestellten Mülleimer ansteuern, hineingucken und die Flaschen herausziehen. Die Konzentration auf Ereignisse um einen herum ist dabei fast nicht möglich. Dies drückt sich nicht nur in Begriffen wie dem von Thomas verwendeten »Hinterherlaufen« aus. Bei vielen Flaschensammlern konnte ich etwas beobachten, was man als apathisch-abwesenden Blick beschreiben kann. Dieser fast tranceartige Blick suggeriert eine geistige Abwesenheit trotz körperlicher Anwesenheit, da die Flaschensammler im Laufen stetig nach links und rechts schauen, aber so gut wie nie geradeaus. Warum diese Konditionierung des Blicks, die ja ein Strukturmerkmal des Sammelns darstellt, so wichtig ist und wie man sich diesen vorzustellen hat, zeigt eine Aussage von Dieter: Und immer die Augen so an die Seite, könnt ja irgendwie was an Pfandflaschen liegen.

Die Notwendigkeit der permanenten Aufmerksamkeit drückt Dieter auch in Worten wie »rumlaufen« oder »rumrennen« aus. Beide Begriffe bezeichnen eine auf einen eingegrenzten Ort bezogene zirkuläre Bewegung. Diese Bewegung hat aber kein geografisches Ziel. Sie ist nicht auf etwas hin gerichtet und besitzt keinen Endpunkt. Vielmehr bezieht sie sich auf den Ort, an dem man sich bereits befindet. Das Ziel ist das In-Bewegung-Sein selbst. Rumlaufen impliziert, im Gegensatz zu Rumrennen, wenig Stress. In beiden Fällen aber lassen die Begriffe Rückschlüsse auf die erlebte Zeit während der Bewegung zu. Das Rumlaufen stellt eine Tätigkeit dar, bei der man die Zeit »rumkriegen« muss. Das Rumrennen bezeichnet eine hektisch ausgeführte Tätigkeit, bei der die Zeit rasch vorbeigeht – man denke hier an einen Tag im Büro, an dem man meint, nichts geschafft zu haben, weil man nur rumgerannt ist. In Bezug auf die Aussage von Dieter heißt dies, dass 172

der Sammelprozess kein festgesetztes zeitliches Ende hat, sondern endlos so weitergehen könnte. Der Umstand, dass Pfandsammler immer und zu jeder Zeit ihrer Tätigkeit nachgehen können (Unabschließbarkeit), hat mit der gesellschaftlichen Allgegenwart von Müll zu tun. An jeder Ecke, zu jeder Zeit ist Schmutz ein Teil des Ganzen, auch wenn wir versuchen, ihn so gut es geht aus unserem Leben fernzuhalten. Gerade darin zeigt sich seine kulturelle Produktion, die zu Beginn erwähnt wurde. Im Gegensatz zu bestimmten Nahrungsmitteln wie Pilzen oder Beeren, die nur saisonal wachsen und daher nur zu begrenzten Zeiten gesammelt werden können, werden jene Sammler, die sich auf Müll spezialisiert haben, jeden Tag aufs Neue fündig.

»Drecksarbeiter« unter sich Wie im Anschluss an Everett Hughes bereits gesagt wurde, ist Drecksarbeit eine akzeptierte und gesellschaftlich gebilligte Tätigkeit, soweit die Erledigung als die Lösung eines Problems empfunden wird, welches allgemein anerkannt ist. Jedoch werden die Drecksarbeiter stellvertretend eingesetzt, um sich des Drecks anzunehmen. Bei der Erledigung muss jedoch behutsam vorgegangen werden, um das Selbstbild der Gruppe nicht zu gefährden, die die andere Seite des Schmutzes als Ausdruck dieses Selbstbildes anerkannt wissen will. Das Sammeln von Pfandflaschen verstößt teilweise gegen diese beiden Punkte: Wenn Flaschen explizit neben den Mülleimer gestellt werden oder dem Sammler unmittelbar in die Hand gegeben werden, sind sie ihm direkt zuzuschreiben. Es ist Müll, der für ihn da ist. Aber bei Pfandsammlern handelt es sich nicht um offizielle Stellvertreter, die zur Beseitigung des Mülls eingesetzt werden. Mit dieser Funktion ist bereits eine Gruppe betraut; mit bestimmten Fahrzeugen, Werkzeugen und auffälliger Kleidung ausgestattet, sind sie als Stellvertreter für die Erledigung dieser Drecksarbeit kenntlich gemacht und so gesellschaftlich anerkannt, wenn auch das Prestige nicht besonders hoch sein mag.93 Vielleicht ist die Ähnlichkeit der Tätigkeit dafür verantwortlich,

93 Vgl. hierzu: Billerbeck, »Müllmänner«.

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dass es zur Konkurrenz zwischen Flaschensammlern und öffentlichen Reinigungskräften kommt. Hinweise darauf sind in der Betrachtung der Rut-Geschichte deutlich gemacht worden. Auch die Reinigungskräfte sammeln während ihrer eigentlichen Arbeitszeit zusätzlich Pfandflaschen, werden im Allgemeinen aber nicht als Veranstaltungsoder Routensammler tätig. Im Verlauf des Forschungsprozesses sah ich immer wieder Straßenreiniger, die mehr nach Pfandflaschen Ausschau hielten, als die Straße zu reinigen. In den Wagen, mit denen diese Abfallentsorger unterwegs sind, sind Tüten deponiert, in denen sie das Leergut sammeln. Über zwei ihm bekannte Männer vom Bahnhofsreinigungspersonal sagt Thomas: Ähm, die stochern jedes Mal in Papierkorb rein mit’m Besenstiel verkehrt rum und hören, ob da was klappert. Und die, die sind natürlich auch wie die Geier. Dass die natürlich Interesse haben, das is natürlich klar. Dass die mich vielleicht nich gerne sehn, das is natürlich logisch.

Auffällig ist hier, dass Thomas für die Bezeichnung der Reinigungskräfte das Wort »Geier« verwendet, mit dem Müllsammler in Südund Nordamerika bezeichnet werden.94 Die damit verbundene Deutung des Schmarotzertums, mit der vor allem die Pfandsammler selbst konfrontiert sind, wird im letzten Kapitel noch eingehender diskutiert. Man muss das Pfandgesetz als eine umweltpolitische Maßnahme interpretieren, die versucht, das Umweltverhalten der Bevölkerung auf bürokratische Art zu regulieren beziehungsweise zu kontrollieren.95 Weil die Pfandflaschen kein gewöhnlicher Müll sind, sondern mit der Idee der Wiederverwertung und der ökologischen Nachhaltigkeit verbunden, symbolisiert die Pfandflasche im Mülleimer neben der Einstellung zu Geld auch eine bestimmte Einstellung zu dieser umweltpolitischen Idee. Die im Müll gelandete Pfandflasche drückt die Diskrepanz zwischen Umwelteinstellung und -verhalten aus, die sich aus als zu hoch empfundenen Kosten oder unerwünschten Verhaltensanforderungen erklären lässt.96 Mit einer solchen Diskrepanz kommt es gleichzeitig zu einem gesellschaftlichen Tabu: Vor dem Hintergrund der herrschenden ökologischen Verhältnisse ist es schwer, öffentlich eine Nach-mir-die-Sintflut-Mentalität zu verteidigen. Die Pfand94 Medina, »Scavenging in America«. 95 Huber, Umweltsoziologie, S. 357. 96 Diekmann/Preisendörfer, Umweltsoziologie, S. 117.

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sammler heben dieses Tabu mit ihrer Tätigkeit vor allen Augen an die Oberfläche. Auch vor diesem Hintergrund könnte die Notwendigkeit des Täuschens beziehungsweise des unauffälligen Sammelns erklärt werden. Wenn die Visibilität eines Stigmas zugleich die Andersartigkeit des Individuums ausweist,97 dann muss diese reduziert oder möglichst vermieden werden. Dies ist gerade vor dem Hintergrund der Notwendigkeit, in die Öffentlichkeit treten zu müssen, äußerst schwierig. In einer Gesellschaft, die sich immer stärker funktional differenziert und in der diese Funktionen in Einheiten zusammengefasst werden, hört das Leben mehr und mehr auf, sich im öffentlichen Raum abzuspielen. Dieser bildet eher eine Art Durchgangszimmer oder besser: einen Korridor, durch den all diese funktionalen Einheiten miteinander verbunden werden. Das Leben, dem wir in öffentlichen Räumen begegnen, ist eines in Bewegung, und diese Bewegung verweist auf ein Ziel, das nicht mit diesem Raum identisch ist. Man kann Personen sehen, die von irgendwoher kommen oder gerade auf dem Weg irgendwohin sind. Der Parkplatz vor der Diskothek, die Schlangen vor dem Fußballstadion oder die Fußgängerzonen der Innenstädte: An all diesen Orten sind die Menschen nur bis auf Weiteres oder im Vorbeigehen. In eben diesem Raum der flüchtigen Durchgängigkeit findet das Pfandsammeln statt, jedoch halten sich die Sammler bewusst in ihm auf. Erkennbar sind sie als Sammler durch ihre physische Nähe zum Mülleimer beziehungsweise das Hineingreifen in diesen, die sich von der sonstigen Benutzung unterscheidet. In den Sequenzanalysen hatte sich das Pfandsammeln als eine Lösung für die Krise sozialer Vereinsamung herausgestellt. Es bildet, neben der Möglichkeit, Geld zu verdienen, eine Art Beschäftigungstherapie, die den Tag durch Aktivität strukturiert. Diese Eigenschaft wird ebenfalls der Erwerbsarbeit zugeschrieben. Gerade von Erwerbslosen wird der Wegfall des alltagsstrukturierenden Elements und eine damit einhergehende Vereinsamungsdynamik als stark belastend empfunden.98 Dies lässt sich für Elisabeth als auch Thomas ohne Weiteres zeigen. Aber auch Dieters beruflicher Abstieg – vom Fliesenleger zum Lageristen – kann dahingehend interpretiert werden. Diese Einsamkeit ist jedoch nicht nur als eine Getrenntheit von denjenigen zu sehen, die 97 Goffman, Stigma, S. 56ff. 98 Morgenroth, »Arbeitsidentität«, S. 20; Linhart, Perte d’emploi.

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die öffentlichen Räume möglichst ohne Zwischenstopp durchqueren, sondern auch die Sammler untereinander kommen nur schwerlich in Kontakt, handelt es sich doch bei ihnen um Konkurrenten. Ob bei Großveranstaltungen oder in den Innenstädten, immer wieder kann man sammelnde Menschen beobachten, die sich auf ihrer täglichen Route begegnen, die sich im Abstand von wenigen Metern folgen oder auch nebeneinanderstehen. Vor allem die Enge des abgegrenzten Raums bei Großveranstaltungen führt dazu, dass immer wieder kurze Gespräche zustande kommen. Trotz all dieser Zusammentreffen bleibt das Sammeln jedoch eine Tätigkeit, der zumeist allein nachgegangen wird und bei der die Kontakte zu anderen oberflächlich bleiben, selbst wenn deren Augen immer wieder die in die Mülltonne greifenden Menschen fixieren. Vor allem die Sammler untereinander kennen sich flüchtig, man weiß, wo der andere herkommt, oder kennt sogar den Vornamen. Einzig diejenigen, die am Rand umherlaufen – gewissermaßen neben dem eigentlichen Geschehen –, kommen in keinerlei Kontakt mit den übrigen Flaschensammlern. An einer Aussage von Dieter, der ein solcher Randsammler ist, zeigt sich der Grad der Bekanntschaft mit anderen ganz deutlich: Äh, ja, man sieht se. Man weiß schon seine Pappenheimer. Einer mit nem Rucksack, einer Kappe falsch rum auf und so, das sind so Markenzeichen, äh, dann, ähm, so n stabiler Ausländer, ja, ja, Ähm, so, die kennt man doch schon, zwei laufen mit’m Fahrrad hier immer rum.

Mit der Äußerung »Man sieht se« drückt sich Dieters Distanz zu den Übrigen aus. Die Gründe dafür wurden bereits dargelegt. Er kommentiert hier eher aus einer Beobachterposition und nicht als jemand, der sich im Inneren bewegt; für ihn sind die Pfandsammler keine Gruppe, von der er Wir sagen würde. Der Versuch, sich als Experte auszugeben (»seine Pappenheimer«), misslingt insofern, als lediglich einzelne äußere Merkmale zugeschrieben werden können: Gerade ein Kennen des anderen müsste ihn in die Lage versetzten, genauere Informationen geben zu können. Die distanzierte Beziehung des Randsammlers zu den Übrigen ist jedoch nur das eine Extrem eines Kontinuums, an dessen anderem Ende eine ebenso von Distanz geprägte Sozialbeziehung untereinander steht. Den Gedanken des öffentlichen Raumes wiederaufnehmend lassen sich die Pfandsammler als Wartende inmitten des gesellschaftlichen Geschehens beschreiben, deren Warten sich unaufhörlich fortsetzt: 176

Sie warten auf eine Flasche, die sie auf ihrem Gang durch die Stadt finden, sie warten auf jemanden, der seine Dose in den Mülleimer wirft, sie warten darauf, ihren Pfandbon an der Kasse abgeben zu können, um die Belohnung des jeweiligen Tages kassieren zu können. Zugespitzt formuliert kann man sagen: Die Sammler befinden sich bei dieser wartenden Tätigkeit mittendrin und trotzdem nicht dabei; die Gesellschaft befindet sich um sie herum.99 Der Müll der Gesellschaft ist das, was noch Reste von Leben an sich trägt. Während der Wartende von der Situation, sich selbst beschäftigen zu müssen, sich die Zeit zu vertreiben, überrascht wird, ist dieser Punkt für denjenigen, der einsam ist, konstitutiv. Seine Welt ist ihm vollkommen bekannt, und diese Unbeweglichkeit der eigenen Welt treibt nach draußen, dort, wo man, wie Thomas sagt, »viele interessante Sachen« sieht, wo man mit dem Unbekannten konfrontiert wird, das die Abgeschlossenheit der eigenen Zukunft für einen Moment wiederaufzuschließen vermag. Die Mülltonne, als Ort an dem die Pfandsammler tätig werden oder sich längere Zeit aufhalten, gehört jedoch nicht zu denen, wo gemeinhin Vergemeinschaftung stattfindet. Die Behältnisse, wie Tüten oder Handkarren, werden durch ihre Nähe zur Mülltonne zu einer eben solchen, der Pfandsammler wird zum Müllmann, dem allerdings äußerliche Merkmale abgehen. Der Abfalleimer wird vom Sammler als ein Ort eingeführt, an dem man sich mit einem Mal aufhalten kann. Allerdings bleibt er dabei allein, weil sich niemand an seine Seite gesellt. Bezugnehmend auf Jean-Paul Sartres »Kritik der dialektischen Vernunft« beschreibt Rainer Paris die soziale Beziehung zwischen Wartenden als eine Serie, für die Anonymität, Distanziertheit und Überzähligkeit konstitutiv sind.100 Der andere ist zwar räumlich präsent, jedoch austauschbar, bleibt in seiner Individualität abstrakt und in gewisser Weise sogar lästig. In einer Schlange führt die Anwesenheit des anderen dazu, dass ich, wartend hinter ihm, umso länger warten muss. Für die Pfandsammler bedeutet die Anwesenheit anderer Sammler, 99 »Der Begriff der Einsamkeit bezieht sich auch auf einen Menschen inmitten vieler anderer, für die er selbst ohne jede Bedeutung ist, für die es gleichgültig ist, ob er existiert oder nicht existiert, die die letztliche Gefühlsbrücke zwischen sich selbst und ihm abgebrochen haben.« (Elias, Einsamkeit, S. 98) [Hervorhebung im Original, S.J.M.]. 100 Paris, »Warten«, S. 708ff.

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wenn sie nicht schnell genug agieren, einen realen Verlust, denn sie haben alle das gleiche Ziel. »Trotz der räumlichen Nähe kommt es kaum zu Kontakten; keiner kümmert sich um den anderen, jeder ist um sich selbst bekümmert. Das gemeinsame Ziel (…) vergemeinschaftet die Menschen keineswegs. Die Gemeinsamkeit ihrer Anwesenheit ist nur von außen veranlasst.«101

Die Anwesenheit der Sammler ist bestimmt durch ein gleiches – nicht gemeinsames – Ziel. Die Orte der Veranstaltungen können nicht ausgewählt werden, sondern viel eher wählen diese Orte die Sammler aus. Das Aufeinandertreffen mit anderen Sammlern ist daher unvermeidlich und macht ein Minimum an serieller Ordnung notwendig. Das Minimum einer solchen internen Organisation zwischen den Sammlern zeigt das einfache, jedoch fragile Konkurrenzprinzip: »Wer zuerst kommt, mahlt zuerst«. Verstöße gegen dieses können jedoch nur unzureichend sanktioniert werden, da die Sammler durch keine zentrale Instanz zusammengehalten werden. »Im Nebeneinander der Serie«, so heißt es bei Paris weiter, »sind die Menschen voneinander isoliert und kapseln sich ab. Trotz der Präsenz der Vielen ist jeder mit sich allein.«102 Die herrschende Distanz erschwert eine spontane Selbstorganisation, und so erklärt es sich, dass der Sammler als Außenseiter – jemand, der mit dem Wühlen im Müll gegen die etablierte Ordnung verstößt – eher die Gemeinschaft der Nicht-Sammler herstellt und bekräftigt, die nicht so sind wie er. Auch bei den Routensammlern ist das Aufeinandertreffen Normalität. Ich konnte beobachten, wie Sammler aneinander vorbeigehen, ohne sich dabei zu grüßen oder gar anzusprechen. Man könnte ihre Begegnungen untereinander als Sich-aus-dem-Weg-Gehen oder Aneinander-vorbei-Treffen beschreiben. So kommt es vor, dass die Straßenseite gewechselt oder in eine Seitenstraße abgebogen wird. Nicht nur kann bei der unmittelbaren Präsenz des anderen davon ausgegangen werden, dass alle weiteren Müllbehälter bereits auf Pfandgebinde untersucht wurden, sondern man geht damit auch einer möglicherweise peinlichen Begegnung aus dem Weg. Das Ignorieren des anderen ist die »Kunst zu sehen, ohne zu sehen«,103 bei der nur die starren Blicke erlaubt sind, die sich auf unbestreitbar neutrale Punkte richten. 101 Ebenda, S. 708. 102 Ebenda, S. 709. 103 Kaufmann, Frauenkörper – Männerblicke, S. 161.

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Kommt es doch zum Eindringen des Blicks in die individuellen Bereiche, kann dies zu peinlichen oder gespannten Situationen führen. Auch in diesen Fällen geht die räumliche nicht notwendigerweise mit sozialer Nähe einher. Von wirklichen Bekanntschaften oder gar Freundschaften zwischen Flaschensammlern wurde mir in den Gesprächen nicht berichtet. Wenn man einander kennt, dann eher aus anderen Zusammenhängen: SJM: (…) Und dann quatschen se ab und zu ma zusammen, oder was? T: Ja, wir ham so, so Stellen, ne, wo wa uns dann immer so treffen. Die meisten Leute freitags bei der Heilsarmee, der kommt hier oben hinterm Bahnhof hin. Kriegt man umsonst belegte Brötchen.

Nicht nur sieht man an dieser Aussage, dass Thomas eher an den belegten Brötchen als an den christlichen Verkündungen der Heilsarmee interessiert ist, sondern man bekommt auch einen Einblick in das soziale Milieu, in dem er sich bewegt. Bei Thomas handelt es sich um einen ehemaligen Obdachlosen, der seinen alten Gewohnheiten folgend weiterhin bei der Heilsarmee vorstellig wird. Wenn er an diesem Ort anderen Sammlern begegnet, so sind diese in diesem Moment keine Konkurrenten, sondern stehen sich als Hilfsbedürftige bei der Armenspeisung gegenüber. Bedürftigkeit ist jedoch ein unzureichendes Bindemittel für Sozialbeziehungen. Hier fehlt die gefühlte Zusammengehörigkeit im Sinne einer auf geteilten Werten basierenden Vergemeinschaftung. Doch es fehlt noch etwas anderes: »Ein stigmatisierter Mensch kann einen anderen Träger desselben Stigmas mögen oder verabscheuen, beide können miteinander in Frieden oder im Krieg leben – aber was sie in aller Regel nicht entwickeln werden, ist gegenseitiger Respekt.«104

Dieter gibt im Gespräch an, dass er schon mal am Wochenende mit einem Kollegen aus seinem Betrieb losgeht. In diesem Fall sind es dann Freunde oder Bekannte, die auch Flaschensammler sind, und nicht Flaschensammler, die auch Freunde sind: »Die Vermischung mit anderen Typen sozialer Beziehungen drängt die Serie zurück und setzt sie zeitweise außer Kraft. Die Anonymität ist aufgehoben; aus Wartenden werden Klatschende, die gemeinsam warten.«105 104 Bauman, Gemeinschaften, S. 149. 105 Paris, »Warten«, S. 712.

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Die Gemeinsamkeit, Flaschensammler zu sein, erfüllt diese bindende Funktion aus den oben angeführten Gründen nicht oder nur unzureichend. Ein weiterer Grund dürfte in der Heterogenität der sozialen Hintergründe zu suchen sein: Pfandsammler sind Angestellte, Arbeiter, Arbeitslose, Obdachlose oder Rentner, denen eine Wir-Basis fehlt. Gerade hierin ist ein gewichtiger Unterschied zu anderen Sammlertypen zu sehen. Sammler in archaischen Gesellschaften beispielsweise sammeln für die Mitglieder der Familie oder des Stammes. Von Lumpensammlern ist bekannt, dass sich ihre Gruppe durch eine extreme Solidarität untereinander und eine Abschließung gegenüber NichtGruppenmitgliedern ausgezeichnet haben, wie dem Exkurs zu entnehmen ist, der sich diesem Kapitel anschließt. Bei den Pfandsammlern kann man sagen, dass die vielleicht engste Bindung des Sammlers letztlich zu den gesammelten Objekten besteht; es kommt aber zu keiner Milieu- oder Gruppenbildung, sondern zu Vereinzelung. Die gesellschaftliche Isolation kann durch das Sammeln nur unzureichend überwunden werden. Auch die Rückmeldung über die eigene Leistung am Pfandautomaten hat nur Bedeutung für den Pfandsammler und wird nicht von Dritten durch Anerkennung honoriert. Eine wirkliche Reziprozität kommt durch die Tätigkeit nicht zustande; Flaschensammler bleiben weitestgehend isoliert, was letztlich nicht ihren Erwartungen an diese Tätigkeit entspricht, jedoch nicht zuletzt mit der Struktur des Sammelns zusammenhängt, zum Beispiel dem konditionierten Blick oder der Außenseiterstellung, die sich aus dem Kontakt mit Ausrangiertem ergibt.

Von Saubermännern und Müllwühlern Ashforth und Kreiner haben sich in ihrer Auseinandersetzung mit »Drecksarbeit« die Frage gestellt, wie es möglich ist, trotz einer in der Gesellschaft vorherrschenden Geringschätzung bestimmter Tätigkeiten, eine positive professionelle Identität zu entwickeln.106 Ihre Antwort: Je »dreckiger« eine Tätigkeit ist, desto stärker müssen die Bande innerhalb der Gruppe gestrickt sein, um in kollektiver Weise ein posi-

106 Ashfort/Kreiner, »How Can You Do It?«, S. 419ff.

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tives Selbstbild zu entwerfen. Das Fehlen einer solchen Gruppe stellt eines der zentralsten Probleme für die Konstitution einer Identität als Pfandsammler dar. Grundsätzlich sind einzelne Gruppenmitglieder permanent damit beschäftigt, sich die Sinnhaftigkeit ihrer Handlungen gegenseitig anzuzeigen.107 Bezogen auf die Drecksarbeit müssen demnach Mittel und Wege gefunden werden, die gesellschaftlich stigmatisierten Handlungen positiv zu besetzen. Dies kann zum Beispiel geschehen, wie Howard S. Becker in seiner Studie über Jazzmusiker gezeigt hat,108 indem die Verhältnisse von Außenseitern und Etablierten innerhalb der Gruppe umgedeutet werden. Wo dies aufgrund unzureichend ausgeprägter Gruppenstrukturen nicht möglich ist, müssen sich die Außenseiter weiterhin an der Etabliertengruppe orientieren und sich auch untereinander abgrenzen. Da sich die Pfandgebinde häufig in der Nähe von anderem Müll befinden, muss während des Flaschensammelns darauf Acht gegeben werden, sich nicht zu beschmutzen. Nicht nur, weil Pfandflaschen neben anderen Dingen im Abfallbehälter liegen oder teilweise von diesen zugedeckt sind, sondern auch, weil viele Flaschen nicht ganz ausgetrunken sind. Gerade Letzteres ist der Grund für die automatische Kippbewegung der Flaschen, die ein konstitutives Merkmal der Pfandsammler ist. Mit dieser Bewegung werden die verbliebenen Reste entfernt, bevor sie verstaut werden, und zugleich symbolisiert dies die vollständige Ablösung vom Vorbesitzer. Die Funktion der Flasche besteht grundsätzlich in der Aufbewahrung von Flüssigkeiten – sie stellt ein Objekt für Objekte, einen Gebrauchsgegenstand dar, dessen Wert eben mit seinem Gebrauch zusammenhängt.109 Im Alltag wird eine gute oder teure Flasche nicht durch den Wert der Flasche zu einer solchen, sondern aufgrund ihres Inhalts. Mag es auch in früheren Zeiten so etwas wie universelle Gefäße, wie Krüge oder Flaschen, gegeben haben, denen Funktionen auf lange Zeit zugeteilt wurden – und die zumeist eingebunden waren in einen bestimmten sozialen Zusammenhang, wie etwa Familie oder Brüderschaft, Wirtshaus oder Wochenmarkt –, so sind gerade die von den Pfandsammlern eingesammelten Dosen und Flaschen in Form und Füllmenge Ausdruck einer hochgradig individualisierten Gesellschaft 107 Vgl. hierzu: Garfinkel, Studies. 108 Becker, Außenseiter, S. 71ff. 109 Dagognet, Des détritus, 59f.

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und deren Schnelllebigkeit. Während Objekte wie Milchkannen, Weinkrüge oder Karaffen für Wasser in einen bestimmten sozialen Kontext eingebunden sind, symbolisieren sie zugleich die Kontinuität dieses Kontextes und des individuellen Lebens, das in diesen eingebunden ist. Der alte Krug der Großmutter trägt einen symbolischen Wert, den eine PET-Flasche nur schwerlich zu erreichen vermag. Es sei denn, man ist Pfandsammler. Weil nun die Möglichkeit besteht, als Pfandsammler unmittelbar mit Müll in Berührung zu kommen, werden teilweise Handschuhe getragen, wenn dies auch die Ausnahme ist. Weiterhin werden von einigen längere Metall- oder Holzstäbe sowie Greifzangen benutzt, um mit diesen den Müll an die Seite schieben und damit die gesamte Mülltonne auf Pfand untersuchen zu können – häufig wird diese Tätigkeit auch mit den bloßen Händen erledigt. Bei den Greifzangen handelt es sich um etwa ein Meter lange Stäbe aus Metall, an deren unterem Ende eine Art Zange angebracht ist, die mit einem am oberen Ende angebrachten Mechanismus betätigt wird. Taschenlampen sind ebenfalls ein wichtiges Hilfsmittel, mit dem die teilweise schwer einsehbaren Müllbehälter ausgeleuchtet werden können. All diese Beispiele zeigen, dass Schmutz für die Sammler ein praktisches Problem darstellt,110 dem es zu begegnen gilt, und keine moralische Kategorie. Eine weitere Gefahr ist, sich zu verletzen, da nicht alle Flaschen, die weggeworfen werden, unbeschädigt bleiben. Hierzu sagt Thomas: Also, ich wühle nich drin rum, ich gucke nur, was oben drauf liegt, ne. Weil drin rumwühlen is manch, is, is gefährlich. Wenn da kaputte Flaschen drin sind, ne.

Das Wort »wühlen« verweist auf ein nicht gezieltes Treiben und hat einen Bezug zum Animalischen. Hiermit wird gleichzeitig Dreck und Schmutz assoziiert, wie zum Beispiel Journalisten, die in der »dreckigen Wäsche« von Prominenten herumwühlen, oder Tiere, die im »Dreck« wühlen. Obgleich Thomas sagt, er tue es aufgrund der Verletzungsgefahr nicht, schwingen doch der Bezug zum Dreck und die Abscheu davor mit, was wiederum verdeutlicht, dass Schmutz als zu bewältigendes Problem nicht vollständig die mit ihm zusammenhän-

110 Vgl. Douglas, Reinheit und Gefährdung.

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gende Konnotation verliert. Die Flaschensammler agieren innerhalb eines kulturellen Zusammenhangs mit bestimmten Normen, denen sie sich entweder entgegenstellen oder entziehen können. Dies heißt aber nicht, dass sie unbekannt sind. Aus der Äußerung lässt sich entnehmen, dass es andere Flaschensammler gibt, für die das Wühlen im Müll kein Problem darstellt. Dieter sagt dazu: Ne, also, hier schon so oben, was oben drauf liegt, das mach ich schon, nich. Aber da drinne rumwühlen, wie die anderen machen, nee, das mach ich nich.

Die Hände schmutzig machen sich »die anderen«, wobei nicht erwähnt wird, um wen es sich dabei handelt. Es tun einfach alle anderen. Sowohl Dieter als auch Thomas unterteilen den Müll in einem Abfallbehälter. Kein Müll ist, was »oben drauf« liegt. Was noch nicht mit anderem Müll bedeckt ist, ist daher noch nicht verunreinigt. Alles Darunterliegende, durch das man sich erst wühlen müsste, um an Pfandflaschen zu kommen, wird als Müll und gefährlich klassifiziert. Die Aussagen der beiden zeigen, dass die Flaschensammler selbst eine Differenzierung zwischen den Müllwühlern und den Saubermännern vornehmen, die es ihnen zugleich erlaubt, sich eine positive Identität zu verschaffen.

Zweiter Exkurs: Die ersten Müllmänner – Lumpensammler »Der Lumpensammler faszinierte seine Epoche. Die Blicke der ersten Erforscher des Pauperismus hingen an ihm wie gebannt mit der stummen Frage, wo die Grenze des menschlichen Elends erreicht sei.« Walter Benjamin

Das Zitat Benjamins mag den Anschein erwecken, als habe das Elend zum Zeitpunkt der Niederschrift ein noch nie dagewesenes Ausmaß erreicht. Angesichts der im Mittelalter herrschenden Lebensumstände der ärmeren Bevölkerung ist dies jedoch nur schwer denkbar. Das Entsetzen scheint durch zwei Umstände bedingt: Erstens bezieht sich Benjamin auf die Epoche der Industrialisierung, in der Charles Baudelaire die Figur des Lumpensammlers beschreibt. In dieser Zeit verspricht die Einbindung in (mehr oder weniger) geregelte Arbeitsverhältnisse eine neue Form des Lebensstandards für die Arbeiter, selbst wenn die Lebensumstände weiterhin äußerst prekär 183

bleiben.111 Die Lumpensammler, die außerhalb jener Verhältnisse standen, wurden demnach am erreichten Niveau der herrschenden Produktionsverhältnisse gemessen, weshalb das Zitat wie folgt gelesen werden könnte: »Wie ist es möglich, dass trotz der industriellen Produktion und der damit versprochenen Hebung des allgemeinen Lebensstandards noch solch elende Zustände herrschen?« Diese Frage könnte bezogen auf die Pfandsammler wie folgt formuliert werden: Wie kommt es, dass trotz eines relativ hohen Lebensstandards in der Bundesrepublik sowie der Existenz eines versorgenden Wohlfahrtstaates, trotzdem Menschen zum Wühlen in Mülltonnen bereit sind? Was ist es, das diese Tätigkeit derart anziehend macht? Zweitens ist die Tätigkeit des Lumpensammlers vor allem darauf angewiesen, vor den Augen derjenigen stattzufinden, die in diese industrielle Produktion eingebunden sind. Die Lumpensammler mussten, um ihrer Tätigkeit nachgehen zu können, die Elendsviertel verlassen, bewegten sich überall in der Stadt und machten das Elend unübersehbar für jedermann. Erst dadurch mögen die von Benjamin erwähnten »Erforscher« überhaupt auf die Idee gekommen sein, sich für diese Bevölkerungsschicht zu interessieren, von deren Existenz sie zuvor möglicherweise keine Kenntnis hatten. Auch die hier vorliegende Studie ist nicht zuallererst durch die Bewegung des Forschers entstanden, sondern beruht auf der Tatsache, dass die Pfandsammler sich dort aufhalten, wo man sie nicht übersehen kann: dort, wo gesellschaftliches Leben stattfindet. Öffentliche oder private Müllentsorgungsunternehmen, welche die Innenstädte sauber halten und die Müllbehälter ausleeren, hat es nicht zu allen Zeiten gegeben. Die Vermüllung der Städte wurde mit dem starken Bevölkerungsanstieg im 14. und 15. Jahrhundert ein ernst zu nehmendes Problem, da zunächst lediglich die Beseitigung von sichtbarem Unrat betrieben wurde. Erst im Zuge der Entstehung der modernen Wissenschaften und vor allem der Bakteriologie wurden die Gefahren für den Menschen im sinnlich nicht Wahrnehmbaren entdeckt, was zu ersten Bestrebungen einer institutionalisierten Abfallwirtschaft führte.112 Die Hygienebestrebungen seit dem 18. Jahrhundert verquickten zudem materiale Schmutzkategorien mit aufkommenden bürgerlichen Tugenden – Sauberkeit, Reinigung und 111 Vgl. hierzu: Engels, »Lage der arbeitenden Klasse«. 112 Keller, Müll, S. 73ff.; de Silguy, Hommes et ordures, S. 13ff.

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Ordnung –, die im Folgenden auf die soziale Welt und die sich darin reproduzierenden Beziehungen ausgeweitet wurden: »Desinfektion wird mit sozialer Säuberung gleichgesetzt: Bettler und Zuchthäusler werden als Straßenkehrer eingesetzt, der Beruf des Lumpensammlers wird öffentlich abgewertet.«113

Die Beseitigung sichtbaren Unrats wurde, vor allem im Frankreich des 18. und 19. Jahrhunderts, zu einem Großteil von Lumpensammlern, den sogenannten »chiffoniers«, besorgt.114 »Die Chiffoniers sind in einer Gilde mit eigener Standesehre organisiert, gehen von Haus zu Haus und durchsuchen den Müll nach verwertbaren Gegenständen.«115 Mit ihnen etablierte sich ein Gewerbe, das aus der Verquickung zweier Handlungsvollzüge besteht: Wegwerfen und Sammeln.116 Die Figur des Lumpensammlers ist bereits seit dem 13. Jahrhundert bekannt, in

113 Keller, Müll, S. 84. 114 Auf das Metier des Lumpensammlers kann leider nicht angemessen detailliert eingegangen werden. Ich verweise daher auf die ausgezeichneten Arbeiten von Catherine de Silguy (Hommes et ordures, S. 83ff.) sowie Anibal Frias »Le monde des chiffoniers«, die jedoch nur in französischer Sprache vorliegen. Die Ausführungen zur Geschichte der deutschen und französischen Abfallwirtschaft von Reiner Keller legen zwei Hypothesen nahe: Entweder waren Lumpensammler in Deutschland weniger verbreitet, oder die Wissenschaft sowie die Literatur haben sich nicht für sie interessiert. Auch Keller bezieht sich in seiner Studie ausschließlich auf Frankreich und erwähnt Lumpensammler in Bezug auf Deutschland kein einziges Mal. 115 Keller, Müll, S. 84. 116 Grundsätzlich ist anzumerken, dass erst die Wohlstandsentwicklung der Nachkriegszeit sowie die Massenproduktion zu einem massiven Anstieg des Müllaufkommens geführt haben und damit das Wegwerfen von zum Teil intakten Gegenständen, wie wir es heute kennen, erst seitdem auftritt. Bis dahin wurden die Objekte in hohem Maße im Haushalt selbst wieder- beziehungsweise weiterverwertet, sodass die Lumpensammler es häufig mit für den Privatgebrauch nicht mehr verwendbaren Objekten zu tun hatten. Das Wort »Lumpen« ist in gewisser Weise sogar unangemessen, wie Michaela Vieser schreibt (»Andere Zeiten, andere Berufe. Der Lumpensammler«, Der Tagesspiegel, 06. 09. 2009, http://www.tagesspiegel.de/wirtschaft/andere-zeiten-andere-berufe-der-lumpen sammler/1595110.html [21. 03. 2013]). So seien es zumeist verdreckte Stofffetzen gewesen, die im Haushalt nicht mehr weiterverwendet werden konnten, sowie vormoderne Versionen von Damenbinden oder Tücher, die in der Krankenpflege benutzt wurden. Diese Reste waren häufig schimmelig und feucht sowie mit Ungeziefer aller Art durchsetzt.

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der die ersten Papiermühlen entstanden. Seine Aufgabe bestand darin, aus Haushalten, die Stoffreste übrig hatten oder es sich leisten konnten, Kleidungsstücke auszusortieren, Lumpen zusammenzutragen, um sie an Papiermühlen weiterzuverkaufen, die diese zur Papierherstellung verwendeten.117 Mit der rasanten Entwicklung der Industriegesellschaft wurde dann jede Form von Abfall, der sich noch in irgendeiner Art und Weise weiterverwenden ließ, wie zum Beispiel Knochen zur Klebstoffherstellung oder Alteisen, den Lumpensammlern überlassen, die ihn an die jeweiligen Industriezweige weiterverkauften.118 Die stark hierarchisierte und reglementierte Gruppe der Lumpensammler setzte sich zumeist aus Migranten sowie Zuwanderern aus ländlichen Gebieten zusammen, die in den Städten ihren Lebensunterhalt zu verdienen suchten. Sie bildeten mit anderen Außenseitern den ärmsten Teil der städtischen Bevölkerung und lebten in Elendsvierteln, die in ähnlicher Weise vom Schmutz überzogen waren, wie die von ihnen eingesammelten Objekte.119 Weil die Arbeit nur so viel Geld einbrachte, dass es für Nahrung und Alkohol langte, waren auch das Mobiliar, die Kleidung sowie anderweitige Utensilien Erträge aus den täglichen Sammelgängen. Aufgrund der unhygienischen Arbeits- und Lebensbedingungen war die Kindersterblichkeit sehr hoch und das erreichte Durchschnittsalter relativ gering. Jedoch blieb die Gruppe geschlossen unter sich und versuchte, den Kontakt zu Behörden, aber auch zur medizinischen Außenwelt auf ein Mindestmaß zu reduzieren. Konflikte, die sich zum Beispiel aus Gebietsverteilungen beziehungsweise -übertretungen ergaben, familiäre Streitigkeiten, die durch die hohe Zahl »wilder Ehen« auftraten, wurden ausschließlich innerhalb der Gruppe ausgetragen, und alkoholbedingte Schlägereien gab es zumeist nur im Verborgenen. Mag also die Not, wie das Zitat Walter Benjamins nahelegt, allgegenwärtig gewesen sein, so war es doch die Solidarität innerhalb der Gruppe der Lumpensammler ebenso. Vor allem, wenn es gegen behördliche Reglementierungen ihres Berufes ging.

117 Assmann, »Archive«, S. 220. 118 Medina, »Scavenging in America«, S. 231; Le Herisse, Yann »Des Pillaouer de Ploeuc-sur-Lié aux chiffoniers de Gournay-en-Bray (1881–1977)«, Annales de Bretagne et des Pays de l’ouest, 109–2, 2002, http://abpo.revues.org/1610 [21. 03. 2013]. 119 Segalen/le Wita, »Se battre«, S. 208f.; Frias, »Monde des chiffoniers«, S. 221ff.

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Die Allgegenwart physischer und verbaler Gewalt in diesem Milieu mögen dazu geführt haben, dass sich in Frankreich das Sprichwort »sich prügeln wie die Lumpensammler« [»se battre comme des chiffonniers«] verbreitet hat. Bei der Untersuchung dieses Ausdrucks in ihrem gleichnamigen Artikel zeigen Segalen und Le Wita, dass sich die Gewalt vor allem aus den unsicheren Lebensbedingungen und dem starken Alkoholkonsum ergab, Konflikte zugleich aber nie öffentlich ausgetragen wurden. Die Autoren führen diesen Ausdruck auf die Fähigkeit der Lumpensammler zurück, sich gegen jede Form von Zwangsorganisierung »von oben« zur Wehr zu setzen.120 Zudem seien die Raufereien eher Ausdruck identitätsstiftender Körpersprache innerhalb einer männlich dominierten Welt gewesen als ernst zu nehmende Gewalt. Auch Ulrich Billerbeck arbeitet in seiner Studie über Frankfurter Müllwerker die zentrale Präsenz eines männlichen Habitus heraus. Für ihn dient die Zurschaustellung des männlichen Attributs der körperlichen Stärke eine Bewältigung für die relative gesellschaftliche Missachtung dieser Tätigkeit dar. So wird Drecksarbeit in »richtige Männerarbeit« überführt. Interessant erscheinen in diesem Zusammenhang zwei Umstände: Zum einen weisen Segalen und Le Wita darauf hin, dass dieses Sprichwort heute vor allem für sich streitende Kinder Verwendung findet. Zum anderen ist auffällig, dass in der deutschen Sprache das gleiche Sprichwort existiert, nur dass der Beruf des Lumpensammlers durch den des Kesselflickers ersetzt wird. Letzterer gehörte ebenso wie der Beruf des Lumpensammlers zu jenen nomadischen Kleingewerbetreibern, die von Karl Marx unter anderem im »Kommunistischen Manifest« als »Lumpenproletariat« bezeichnet wurden. Diese subproletarische Gruppe, die für Marx zu den Überbleibseln feudaler Gesellschaftsstrukturen zählte, fand ihre ökonomische Nische im Ausführen jeglicher von der Gesellschaft als solcher angesehenen Drecksarbeit:121 120 Segalen/le Wita, »Se battre«, S. 210. 121 Die Liste derjenigen, die für Marx zum Lumpenproletariat zählen, ist ebenso lang wie heterogen: »Neben zerrütteten Roués ›Wüstlingen‹ mit zweideutigen Subsistenzmitteln und von zweideutiger Herkunft, neben verkommenen und abenteuernden Ablegern der Bourgeoisie, Vagabunden, entlassene Soldaten, entlassene Zuchthaussträflinge, entlaufene Galeerensklaven, Gauner, Gaukler, Lazzaroni, Taschendiebe, Taschenspieler, Spieler, Maquereaus ›Zuhälter‹, Bordellhalter, Lastträger, Literaten, Orgeldreher, Lumpensammler, Scherenschleifer, Kesselflicker, Bettler, kurz, die ganze unbestimmte, aufgelöste, hin-

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»Das Lumpenproletariat, diese passive Verfaulung der untersten Schichten der alten Gesellschaft, wird durch eine proletarische Revolution stellenweise in die Bewegung hineingeschleudert, seiner ganzen Lebenslage nach wird es bereitwilliger sein, sich zu reaktionären Umtrieben erkaufen zu lassen.«122

Gerade das Ende des Zitats enthält das Strukturmerkmal, welches Hughes für die Drecksarbeiter herausgearbeitet hat:123 Die zumeist niedere Stellung im gesellschaftlichen Gesamtgefüge und die Aussicht, in diesem seine Rolle spielen zu können, macht es möglich, sie für die Zwecke der Macht zu instrumentalisieren. Wie Michael Schwartz in seiner Auseinandersetzung mit dem Marx’schen Begriff des »Lumpenproletariats« zeigt, spielte dieser eine gewichtige Rolle für die Theorie des Klassenkampfes sowie die Bildung eines Bewusstseins der Arbeiterklasse.124 Weil grundsätzlich alle niederen Schichten durch die Bourgeoisie als Proletarier bezeichnet wurden, etablierte sich der Begriff als Möglichkeit zur Distanzierung. Das Proletariat im Marx’schen Sinne setzte sich zusammen aus gelernten Handwerkern sowie qualifizierten Facharbeitern, die mit Berufen wie denen des Lumpensammlers oder Kesselflickers nichts gemein hatten.125 Die durch diesen Begriff eingenommene »doppelte Frontstellung der Arbeiterbewegung gegen Bourgeoisie und ›Lumpenproletariat‹«126 war Ausdruck eines Gefühls der Minderwertigkeit, das sich aus der Bezeichnung als Proletarier ergab, und zugleich des Wunsches, ein höheres soziales Niveau zu erreichen. Dass das Lumpensammeln als Möglichkeit des Gelderwerbs keine besondere Anerkennung einbrachte, mag von zwei wesentlichen Gründen bestimmt sein: Zum einen griffen die bürgerlichen Hygienevorstellungen immer weiter um sich, sodass immer größere Teile der Gesellschaft diesen folgten. Zum anderen war der Lumpensammler, mochte er auch die Rohstoffe liefern, an der Wiederbelebung der eingesammelten Objekte nicht beteiligt.127 Die Herstellung, die »eigent-

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und hergeworfene Masse, die die Franzosen la bohème nennen.« (Marx, »Das 18. Brumaire«, S. 160f.). Marx, »Manifest«, S. 476. Hughes, »Dirty Work«, S. 9ff. Schwartz, »›Proletariar‹ und ›Lumpen‹«. Moore, Ungerechtigkeit, S. 180ff.; Huard, »La marginalité«. Schwartz, »›Proletariar‹ und ›Lumpen‹«, S. 544. Frias, »Monde des chiffoniers«, S. 216.

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liche« Arbeit, wird dem Handwerker überlassen.128 Diese Differenz muss auch bezüglich des Pfandsammlers konstatiert werden. Öffentliche Anerkennung von Berufen wird zum Beispiel aufgrund der Schöpfungskraft des Technikers oder des Künstlers vergeben, das heißt für Tätigkeiten, in denen Kreativität, Originalität und Durchsetzungsvermögen des Subjekts im Vordergrund stehen. Nicht zuletzt entspricht dies der von Max Weber beschriebenen Geisteshaltung der protestantischen Ethik, die die Selbstverwirklichung in der Arbeit als eine Berufung zum Selbstzweck macht, die mit reiner Reproduktion nichts zu tun hat.129 Vor diesem Hintergrund liegt die Interpretation nahe, dass solche oder ähnliche Sprichwörter Differenzierungsmöglichkeiten gegenüber dem Lumpenproletariat boten. Sprichwörter, vor allem mit stigmatisierenden Vorurteilen gegenüber anderen Gruppen, werden nicht von denjenigen verwendet, die in diesen Sprichwörtern genannt werden.130 Einerseits wurde damit auf die unzivilisierten Verhaltensweisen dieser Schicht abgestellt. Andererseits mag es aber auch eine Art Belustigung über ihre Tätigkeit ausdrücken. Dass heute das Sprichwort auf Streitigkeiten unter Kindern angewendet wird, kann dahingehend interpretiert werden, dass es sich bei den Inhalten kindlichen Streits zumeist um »Kleinigkeiten« handelt, über die die Welt der Erwachsenen, die »wahre Welt«, erhaben ist. Angewendet auf die Differenz zwischen Lumpen- und »richtigem« Proletariat, könnte man also sagen: Der Arbeiter macht sich niemals für solche Geringfügigkeiten krumm und kann den Lumpensammler daher »belächeln«. Bezogen auf die Pfandsammler kann mit Blick auf die Flasche ähnliches konstatiert werden. Wenn wir uns an das obige Zitat »Sage mir, was du wegwirfst, und ich sage dir, wer du bist« von François Dagognet 128 Die Differenz zwischen Arbeit als (simples) Mittel der menschlichen Reproduktion und der Herstellung als Einrichtung der Welt durch den Menschen findet sich bei Hannah Arendt: »Die Weltdinge [haben] die Aufgabe, menschliches Leben zu stabilisieren, und ihre ›Objektivität‹ liegt darin, daß sie der reißenden Veränderung des natürlichen Lebens […] eine menschliche Selbigkeit darbieten, eine Identität, die sich daraus herleitet, daß der gleiche Stuhl und der gleiche Tisch den jeden Tag veränderten Menschen mit gleichbleibender Vertrautheit entgegenstehen.«(Arendt, Vita activa, S. 162). 129 Weber, Protestantische Ethik; Treiber/Steinert, Fabrikation. 130 Vgl. hierzu auch die Ausführungen über »Schimpfklatsch« in: Elias/Scotson, Etablierte und Außenseiter.

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erinnern, dann kann die Flasche im Abfalleimer als Ausdruck eines, wenn auch geringfügigen Wohlstandes interpretiert werden. Während also die einen auf das Geld freiwillig verzichten und damit ausdrücken, dass sie es nicht nötig haben, auf bestimmte Geldbeträge zu achten, beziehen sich die Sammler bei ihrer Tätigkeit auf den universellen Charakter des Geldes als Kommunikationsmedium, der niemals aufhört, egal wie gering der Betrag auch sein mag. Geld wird aufgrund dieser Charakteristik an sich wertgeschätzt. In dem oben genannten Sprichwort der sich bekämpfenden Lumpensammler schwingt allerdings zugleich ein gewisser Neid oder gar eine stille Bewunderung gegenüber diesen Berufe mit, wie im Folgenden dargelegt werden soll. Zwar scheinen die Tätigkeiten des ausgebildeten Facharbeiters und Handwerkers sehr viel höhere Ansprüche zu stellen, doch »Qualifizierung heißt in einer kapitalistischen Wirtschaft immer auch Anpassung an fremdbestimmte Zwecke«.131 Demgegenüber aber ist der Lumpensammler ein freier Mensch, eine Art Selbstständiger – mit Blick auf heutige Verhältnisse könnte man vielleicht von einer Ich-AG sprechen –, der scheinbar durch seine Tätigkeit in keinerlei Abhängigkeitsverhältnis steht. Muss er auch von der »Hand in den Mund« leben, sein Überleben jeden Tag aufs Neue erkämpfen, so ist diese erlebte Freiheit ein wichtiges Strukturmerkmal seiner Tätigkeit, auf das die Lumpensammler immer wieder mit Stolz hingewiesen haben. Im Gegensatz zu einer Arbeiterklasse, die ihr Selbstbewusstsein und ihren Stolz durch die Fähigkeit der Ausführung komplexer Aufgaben konstituiert, war die Tätigkeit des Sammlers geprägt durch seine spezifische Ungebundenheit. Während sich die Industriearbeiter oder Angestellten in einer Art Disziplinkorsett befanden und von geregelten Zeitstrukturen und Vorschriften abhängig waren, so war die Tätigkeit des Lumpensammlers scheinbar von Selbstorganisation geprägt. Im Gegensatz zur Kompetenz von Facharbeitern, die durch die Ausbildung in den Zünften oder die Beobachtung des Meisters vermittelt wurde, war für das »richtige« Sammeln eher eine erfahrungsgesättigte und im praktischen Leben erworbene Kompetenz notwendig.132 All dies ist ebenfalls für die Pfandsammler zutreffend, nur dass es sich hier wie da um eine ambivalente Freiheit handelt. Auf der einen Seite sind 131 Billerbeck, »Müllmänner«, S. 247. 132 Ebenda, S. 250.

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auch die Pfandsammler niemandem verpflichtet, organisieren sich selbst und sind ins alltägliche urbane Leben eingebettet, auf der anderen Seite aber wartet auch niemand auf sie. Für ihre Tätigkeit gibt es keine zufriedenstellende Nachfrage.133 Dass die Kompetenz der nomadischen Tätigkeiten134 des »Lumpenproletariats« gerade im gezielten »Management sozialer Beziehungen unmittelbar am Arbeitsplatz«135 besteht, dafür findet man in der Kurzgeschichte »Der Hausierer« von Hermann Hesse aus dem Jahre 1900 treffende Beispiele. Wenn es sich auch beim Hausierer nicht um einen Lumpensammler handelt, so gehört auch dieser zur Gruppen des Lumpenproletariats, stellt einen nomadischen Beruf dar, für den es keinerlei Ausbildung gibt. Daher hat auch Hesses Text in diesem Zusammenhang aufschließendes Potenzial: »Der krumme alte Hausierer, ohne den ich mir die Falkengasse und unser Städtchen und meine Knabenzeit nicht denken kann, war ein rätselhafter Mensch, über dessen Alter und Vergangenheit nur dunkle Vermutungen im Umlauf waren. Auch sein bürgerlicher Name war ihm seit Jahrzehnten abhandengekommen, und schon unsere Väter hatten ihn nie anders als mit dem mythischen Namen Hotte Hotte Putzpulver gerufen.«136

Bereits der Name gibt Aufschluss über die Ausstattung des Hausierers. Bei einer »Hotte« handelt es sich um ein Transportbehältnis, das auf dem Rücken getragen wird und das heute noch häufig zur Weinlese 133 Man müsste einmal langfristig verfolgen, wie lange eine Institutionalisierung wie pfandgeben.de überdauert. Handelt es sich dabei um einen vorübergehenden Trend, eine Art Virtuelle-soziale-Netzwerk-Blase, die nach einiger Zeit wieder zerplatzt? Oder kann sich darüber eine Einbindung der Pfandsammler langfristig etablieren? Und wenn ja, was folgt daraus? Kommen dann auch andere »Dienstboten« ins Haus? 134 Anibal Frias (»Monde des chiffonniers«, S. 230ff.) weist darauf hin, dass sich das geringe Ansehen der Tätigkeit daraus ergibt, dass es sich aufseiten der Natur befindet und weniger aufseiten der Kultur: 1) Sei das Sammeln eine nomadische Tätigkeit, weshalb es an die Zeit der Nicht-Sesshaftigkeit des Menschen erinnert. 2) Sei es eine Tätigkeit, die zumeist nachts ausgeführt wird, und diese Tageszeit werde assoziiert mit Gefahr und Unkontrollierbarkeit. 3) Seien die Objekte bereits aus dem Raum des Menschlichen ausgeschlossen, weshalb auch jene, die damit in Berührung stehen, aus dem menschlichen Bereich herausfielen. 135 Billerbeck, »Müllmänner«, S. 250. 136 Hesse, »Der Hausierer«, S. 7.

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eingesetzt wird. Dies mag seine krumme Haltung erklären. Der Zusatz »Putzpulver« gibt Aufschluss über die von ihm angebotenen Produkte. Die Figur des Hausierers gehört in dieser Zeit zum Stadtbild dazu; es handelt sich bei ihm um einen fremden Bekannten. Ohne dass mehr als Gerüchte bekannt wären, ist »Hotte Hotte Putzpulver« für jeden ein Begriff, eine mythische Figur ohne bürgerlichen Namen und dementsprechend eher ein Fabelwesen als ein richtiger Mensch. Die Generationen geben sich Geschichten und Erzählungen weiter, die anstatt verifiziert zu werden, eher fantastisch erweitert werden, sodass die Figur nichts von ihrer Rätselhaftigkeit einbüßt. Aus den Schilderungen Hesses könnte man schließen, dass es sich beim Hausierer, den der Vater kannte, und jenem, der in seiner Jugend durch die Straßen zog, nicht um die gleiche Person handelt. Worauf es hier ankommt, ist die Figur des Hausierers, hinter der die Person mit bürgerlichem Namen vollkommen verschwindet. Ähnlich wie die vom Lumpen- oder Pfandsammler zusammengetragenen Objekte als »transitorischer Abfall«137 bezeichnet werden können, so sind diese Figuren ebenfalls transitorisch; nie ganz da, aber auch nie ganz weg. Im Unterschied zum »Fremden« bei Georg Simmel, der heute kommt, um morgen zu bleiben, kann der Sammler als jener bezeichnet werden, der heute kommt, jedoch nicht einmal bis morgen bleibt, sondern erst nach einiger Zeit wieder auftaucht. Im Gegensatz zum Fremden, der mit seinem nicht-einheimischen Blick Dingen eine ungeahnte Wendung zu geben versteht und zugleich aufgrund seiner Sesshaftigkeit ein reales Interesse an der Verbesserung seiner Umwelt haben mag, ist der Sammler in seiner Ungebundenheit den Verhältnissen gegenüber eher indifferent und interessiert sich nur für den Abfall der anderen.138 Zur gleichen Zeit aber ist der Sammler ein fremder Bekannter, das heißt eine Person, die aufgrund ihrer Tätigkeit auf den Kontakt mit anderen angewiesen ist. Seine Tätigkeit nötigt ihn dazu, Zugang zu etwas Intimem zu bekommen: dem privaten Abfall, der möglicherweise noch 137 Frias, »Monde des chiffoniers«, S. 215 [eigene Übersetzung]. 138 Rudolf Stichweh (»Der Fremde«, S. 57f.) hat diesen Aspekt der Indifferenz in Bezug auf den Fremden untersucht. Jedoch bezieht er sich auf eine Weltgesellschaft, in der Fremdheit beim Aufeinandertreffen immer schon antizipiert und daher eine erste Typisierung vorgenommen werden kann, die gleichzeitig Fremdheit überwindet.

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etwas über das Leben der Menschen auszusagen imstande ist. Allein aus diesem Grunde muss die dem Metier angetragene Freiheit und Unabhängigkeit stark relativiert werden. Der benötigte Zugang macht aus dem Lumpensammler den smalltalker, der zu allem und vor allem auch zu jedem etwas zu sagen weiß, egal mit welcher sozialen Schicht er es zu tun hat, denn nur so erhält er das begehrte Gut. So heißt es denn bei Hesse weiter: »In jener üblen Gasse bewegte er sich so sicher, als wäre er dort geboren, und vielleicht war er das auch, obwohl er uns immer für einen Fremden galt. […] Er rief und plauderte und fluchte zu allen Erdgeschoß- und Kellerfenstern hinein. Er gab allen diesen alten, faulen, schmutzigen Männern die Hand, er schäkerte mit den derben, ungekämmten, verwahrlosten Weibern und er kannte die vielen strohblonden, frechen, lärmigen Kinder mit Namen.«139

Dass sich der Hausierer wie der Lumpensammler in der Welt der Schmutzigen, Ungekämmten und Verwahrlosten so sicher bewegt, zeigt seine Zugehörigkeit zu dieser Welt, auch wenn ihn seine Tätigkeit von Zeit zu Zeit zum Ausbruch nötigt. Wir haben es bei dieser Figur mit einer Vorform organisierter Müllverarbeitung oder Wiederverwertung zu tun, die zum damaligen Zeitpunkt noch nicht in umfassendem Maße zu den öffentlichen Aufgaben zählte.140 Das Aufkommen öffentlicher Abfallbeseitigung beziehungsweise die privatwirtschaftliche Einsicht, dass mit Abfall Geld gemacht werden kann, führt zur Bildung größerer Strukturen, welche die traditionellen Berufe immer mehr verdrängen. Dies lässt sich noch heute in Ländern beobachten, in denen Lumpensammler weiterhin zum Stadtbild gehören.141 Im Gegensatz dazu kommt es in Deutschland zur Rückkehr des Müll sammelnden Stadtstreichers.

139 Hesse, »Der Hausierer«, S. 8. 140 Medina weist darauf hin, dass viele große US-Firmen im Bereich der Abfallsowie der Handelswirtschaft aus Lumpensammler- oder Hausiererfamilien entstanden sind (»Scavenging in America«, S. 232). 141 Florin, »Gestion des déchets«; Verdeil, »Services urbaines«.

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Die Aufteilung des öffentlichen Raums Neoliberale Stadtästhetik Während für das Individuum das »unternehmerische Selbst«142 zur beherrschenden und staatlich anerkannten Subjektivierungsform geworden ist,143 müssen auch Städte sich im Kampf um Anlage- und Investitionsmöglichkeiten als »Territorialunternehmer«144 begreifen. In Zeiten des allumfassenden Wettbewerbs wird es immer wichtiger, sich in der Auseinandersetzung mit anderen als findig, außergewöhnlich und besonders darzustellen. Die von den Städten vorrangig angebotene Ware ist der zur Verfügung stehende physische Raum mit den dazugehörigen Infrastrukturen. Das vordringlichste Steuerungsproblem postmoderner Stadtpolitik ist nicht mehr die flächendeckende Verteilung von Wachstum innerhalb der Stadt, sondern dessen selbstständige Erzeugung: »Dies geschieht vor allem durch die Ausgestaltung der Innenstädte zu Einkaufs- und Erlebniszonen, durch bevorzugte Förderung der internationalen Segmente im Büro- und Kulturbereich, durch die Förderung des Tourismus und durch die Unterstützung und Entwicklung von Informationstechnologie und der Kommunikationsindustrie.«145

Entscheidungsträger gestalterischer urbaner Maßnahmen sind heute mehr denn je private Investoren, die aufgrund leerer Staats- und Stadtkassen immer höhere Anteile des Budgets zur Verfügung stellen (zum Beispiel durch public private partnerships). Waren ehemalige politische Zielvorstellungen an der Inklusion möglichst vieler Bevölkerungsanteile und damit der Herstellung von Heterogenität ausgerichtet, so führt die Fokussierung auf das vorrangige Ziel der Profitmaximierung zu einer steigenden Homogenität und Segregation innerhalb der Städte. Die hoch frequentierten Innenstädte, die aus den genannten Gründen zu den Prestigeobjekten zählen, bilden zugleich 142 143 144 145

Bröckling, Unternehmerisches Selbst. Vgl. hierzu: Hickel, »Hartz-Konzept«. Lessenich/Nullmeier (Hg.), Deutschland, S. 20. Häußermann u.a., Stadtpolitik, S. 246.

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die Räume, in denen sich Pfandsammler bewegen. Aufgrund der Struktur ihrer Tätigkeit werden sie gerade zum Aufenthalt darin genötigt. Aber auch auf öffentlichen Veranstaltungen, zu denen Menschen von außerhalb kommen und die somit von hoher Bedeutung für die Imageproduktion einer Stadt sind, sind Sammler anzutreffen. An mehreren Stellen der Gespräche wurde die Fußballweltmeisterschaft betont, bei der die Innenstädte nicht nur von Fans aus aller Welt, sondern ebenso mit zahlreichen Sammlern gefüllt waren. Überall dort, wo die einen sich konsumierend amüsieren, sind die anderen zur Stelle. »Der klassische Ort städtischer Öffentlichkeit ist die Stadt-Mitte, in der nicht nur viele zentrale Einrichtungen zusammengefasst sind, sondern die auch symbolische Bedeutung für die Stadt-Kultur im weitesten Sinne erhält, indem sie die Stadt in ihrer Individualität repräsentiert.«146

Wo ein Image gepflegt und Individualität künstlich verstärkt wird, da müssen die Schattenseiten möglichst versteckt werden. Am Ende dieses Prozesses stehen die Gewinner den Verlierern gegenüber. Soll die geforderte oder selbstauferlegte Erhöhung der Attraktivität des öffentlich-städtischen Raumes gelingen, so muss aussortiert werden, was als unerwünscht, unansehnlich und überflüssig zu gelten hat. Zur Produktion eines profitträchtigen Images gehört es auch, dass Missstände, Unsicherheiten oder gar stigmafähige Charakterzüge einer Stadt beseitigt werden. Mag sich auch der versorgende Staat aus den ärmeren Vierteln immer mehr zurückziehen und diese sich selbst überlassen, so zeigt sich gerade in den Innenstädten unter dem Banner einer neoliberalen Politikorientierung, die »Rückkehr des strafenden Staates«.147 Die Studie »City of Quartz« von Mike Davis zeigt eindringlich, wie Architektur und polizeiliche Kontrolle eine neue Verbindung eingehen. In Los Angeles wurde Anfang der 1990er Jahre durch verstärkte Streichung öffentlicher Toiletten, Bewässerungsanlagen in Parks oder die Einzäunung von öffentlichen Abfallbehältern versucht, den Aufenthalt unerwünschter Personen an öffentlichen Orten zu unterbinden. Die Erhöhung öffentlicher Sicherheit sowie die Störung der öffentlichen Ordnung bilden dabei die zentralen Argumente. Häufig, so stellt Djemila Zeneidi-Henry in einer Studie über Obdachlose in fran146 Herlyn, »Stadt«, S. 374. 147 Wacquant, »Armut als Delikt«, S. 66.

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zösischen Städten fest, seien es die ansässigen Händler, welche die politisch Verantwortlichen zum Handeln zwingen wollen, da sie durch den Aufenthalt bestimmter Personengruppen eine negative Auswirkung auf ihre Umsätze fürchten. Daneben käme es auch zu Beschwerden durch Kunden, die sich belästigt fühlten und dementsprechend den Einkaufsstraßen fernblieben. Mitchell Duneier berichtet in seiner Studie »Sidewalk«, die sich mit Buchverkäufern in den Straßen von New York beschäftigt, über sogenannte Business Improvement Districts, in denen Grundstückseigentümer private Dienstleister beschäftigen, um den öffentlichen Raum zu kontrollieren und so vor jeglicher Abwertung zu schützen. Vor allem geht es den Gewerbebetreibern, die zudem häufig über politischen Einfluss verfügen und dementsprechend ihre Interessen durchzusetzen verstehen, um die Aufrechterhaltung von Sauberkeit und Sicherheit.148 Uniformierte Dienstleister patrouillieren in diesen Bezirken von morgens bis abends, sorgen für Ordnung und melden Verstöße oder Auffälligkeiten der örtlichen Polizeibehörde. Vor allem die informell arbeitenden Straßenverkäufer sind ungern gesehen, da ihre Präsenz als schädlich für das Ansehen des Geschäfts gedeutet wird. In offiziellen Stellungnahmen steht ebenfalls die Herstellung des öffentlichen Wohles und der Sicherheit im Vordergrund, die durch die Straßenverkäufer bedroht seien. Entsprechend erlassene Gesetze reglementieren die Arbeit der Buchverkäufer aufs Strengste oder untersagen solche Tätigkeiten in diesen Bezirken gänzlich. Diese und ähnliche Beispiele finden sich ebenso in deutschen Städten wie Berlin, Frankfurt am Main, München, Leipzig oder Hamburg und zeigen damit die Auswirkungen einer auch hier deutlich werdenden neoliberalen Stadtpolitik.149 Neben dem erhöhten Einsatz privater Sicherheitsdienste, die dafür sorgen, dass bestimmte Personengruppen sich nicht zu lange an einem Ort aufhalten, werden architektonische Mittel eingesetzt, die diese Aufenthalte von vornherein verhindern. In Leerräumen wird das Verweilen unmöglich gemacht, denn sie entbehren allem, was eine Rast angenehm gestalten könnte, wie Bäume oder Bänke.150 Stattdessen werden diese Orte durch Skulpturen aus Metall oder Beton gestalte148 Duneier, Sidewalk, S. 232ff. 149 Ronneberger u.a., Stadt als Beute. 150 Bauman, Flüchtige Moderne, S. 123ff.

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risch aufgewertet. Auch durch kleinste architektonische Veränderungen wie schräge Ebenen in U-Bahn-Stationen, mit Gitter versehene Treppenstufen oder das Austauschen von Sitzbänken durch Geländer aus Metall wird gezielt dem andauernden Aufenthalt entgegengearbeitet. Leerräume sind konzipierte Durchgangsräume. Die spanische Anthropologin Danielle Provansal berichtet von städtebaulichen Maßnahmen rund um das Museum für zeitgenössische Kunst in Barcelona.151 Ein in der Nähe befindlicher leer stehender Platz wurde von dort lebenden Personen und vor allem Jugendlichen als Treffpunkt und Aufenthaltsort genutzt. Nach kurzer Zeit entschied die Stadtverwaltung die dort entstandenen Graffiti durch das Abbild einer Frau zu ersetzten. Auf dem Vorplatz des Museums, auf dem sich im Jahre 1998 allabendlich maghrebinische Frauen trafen, diskutierten und ihre Kinder spielen ließen, wurde im darauf folgenden Jahr eine Parkhauszufahrt mit dazugehörigem Wachpostenhäuschen errichtet. Provansal betont die häufig vorzufindende Verbindung von architektonischer und sozial-ethnischer »Reinigung«. Mithilfe eines immer dichter werdenden Netzes von staatlichen und privaten Kontroll- und Überwachungssystemen soll schließlich das vermeintlich die Sicherheit Gefährdende aus dem öffentlichen Raum vertrieben werden, mit der Konsequenz, dass sich bestimmte Gruppen nicht mehr ohne Weiteres in ihm bewegen können. Dies ist ohne Zweifel keine neue Entwicklung: »Historisch betrachtet wurden verschiedenste soziale Gruppen wie etwa Juden, Frauen, Jugendliche oder Angehörige sexueller und ethnischer Minderheiten von öffentlichen Räumen ausgeschlossen oder waren Objekte einer politischen und moralischen Diskriminierung. Insofern garantiert der Begriff der Öffentlichkeit keinen Anspruch auf Inklusion.«152

Das vermehrte Auftreten privater Sicherheitsdienste zeigt jedoch, dass die einst vom staatlichen Gewaltmonopol hergestellte Sicherheit zu einer Ware geworden ist, die verkauft werden will. Dies führt zugleich zu einer paranoiden Nachfrage, bei der zwischen realen Gefahren, Verunsicherungen oder einfach einer unterschiedlichen Auffassung von öffentlich angemessenem Verhalten immer weniger differenziert wird. Als marktfähiges Symbol wird Sicherheit zum Indiz steigender sozia151 Provansal, »Espace public«, S. 142ff. 152 Ronneberger, Der öffentliche Raum, S. 10.

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ler Ungleichheit; sogenannte gated communities sind dafür ein Beispiel. Zu der ohnehin bestehenden Segregation der Städte gesellt sich dann eine Abschottung gegenüber unerwünschten Individuen oder ganzen Bevölkerungsschichten.153 So wird die Vermittlung des Gefühls von Sicherheit im öffentlichen Raum und die Milderung alltäglicher Angst von fremden oder gefährlichen Subjekten zur ersten und zugleich gewinnträchtigen Aufgabe aktueller Stadtpolitik. Dies geht nicht ohne Ausschluss: »Eine Gemeinschaft, die sich nicht mehr über ihre Gemeinsamkeit, sondern über die scharfe Bewachung ihrer Grenzen definiert; ›Verteidigungsgemeinschaften‹ mit bewaffneten Wächtern, kommerziellen Sicherheitsdiensten und kontrollierten Zugängen; Penner und Obdachlose als Staatsfeinde erster Ordnung; Überführung von öffentlichen Plätzen in Hochsicherheitstrakte, zu denen nicht jeder Zugang hat; ein öffentliches Leben, das nicht mehr auf Aushandeln, sondern auf Segregation oder schlimmstenfalls Kriminalisierung von Differenzen beruht – das sind die grundlegenden Dimensionen, in denen sich das urbane Leben zur Zeit entwickelt.«154

Damit steht zugleich die »integrative und emanzipatorische Bedeutung«155 des städtischen Raums auf dem Spiel. Denn erst im öffentlichen Raum, anders als innerhalb der Familien, lernt das Individuum mit prinzipieller Verunsicherung umzugehen, die hervorgerufen wird durch Anonymität, Fremdheit und Differenz: Sich in der Öffentlichkeit bewegen heißt Ambivalenz auszuhalten. Jedoch ist das Aushalten und Erdulden nicht jeder Differenz gleichermaßen sozial akzeptiert, nicht jeder Privatheitsfetzen wird umstandslos ertragen – die Grenzen dessen, was tolerierbar ist, scheinen in den Innenstädten immer enger zu werden. Entscheidungen darüber, welchen gesellschaftlichen Gruppen das Recht auf Mitgestaltung des öffentlichen Raumes eingeräumt wird, ziehen notwendigerweise Maßnahmen nach sich.156 Die gegenwärtigen Trends der gestalterischen Aktivitäten der Politik in Innenstädten gehen dahin, neben der Beseitigung solch negativer Begleiterscheinungen wie zum Beispiel Schmutz, dort auch Minderheiten

153 154 155 156

Davis, City of Quartz, S. 224. Bauman, Flüchtige Moderne, S. 113f. Siebel/Wehrheim, »Überwachte Stadt«, S. 6. Provansal, »Espace public«, S. 145.

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symbolische Präsenz zu versagen.157 Sie würden nur jenes Bild einer imaginären Gemeinschaft stören, welches dadurch gesichert wird, dass alle Anwesenden scheinbar gemeinsamen Werten folgen und sich durch die Gleichförmigkeit des Verhaltens die Sinnhaftigkeit ihres Tuns gegenseitig bestätigen. In der Welt des Konsums hat der schlechte Konsument keine Aufenthaltsberechtigung, und der »Territorialunternehmer« muss in diesem Falle strengste Personalpolitik betreiben. das heißt, die Volksvertreter vor Ort müssen, unter der Aufsicht jener Bevölkerungsteile, die ein Mitspracherecht aufgrund ihrer Investitionskraft beanspruchen, die eigene Bevölkerung nach dem Maße ihrer Wettbewerbsfähigkeit unterscheiden und nötigenfalls aussortieren.

Der Mülleimer als öffentlicher Raum Bei einem längeren Feldaufenthalt in der Stadt Frankfurt fielen mir die öffentlichen Müllbehälter auf dem Rathausplatz auf.158 Der »Römer«, wie der Rathauskomplex mit seiner Treppengiebelfassade genannt wird, ist vielleicht der von Touristen am häufigsten frequentierte Ort der Stadt. Die öffentlichen Behältnisse für den Müll, quadratisch und aus blankem Metall, fallen neben ihrer überverhältnismäßigen Größe zudem durch den winzigen Einwurfschlitz für Abfälle auf. Dieser ist am oberen Rand angebracht und gerade so groß, dass man zum Beispiel eine Flasche einwerfen kann. Weder das Hineingucken noch -greifen ist jedoch von außen möglich. In weiteren deutschen Städten wie etwa Stuttgart oder Hamburg werden seit etwa 2007 völlig neuartige Abfallbehälter eingesetzt, die Waste Lifts oder Unterflur-Abfallbehälter genannt werden.159 In die157 Häußermann u.a., Stadtpolitik, S. 304. 158 Aufgrund der um sich greifenden Privatisierung in der Abfallwirtschaft müsste eigentlich die Frage gestellt werden, ob noch von »öffentlichen Müllbehältern« gesprochen werden kann. Weil sich diese jedoch im öffentlichen Raum befinden, wird deren Benutzung auch durch staatliche Verordnungen und Gesetze geregelt. 159 Vgl. Grupe, Friederike, »In Ottensen wird Müll unterirdisch gesammelt«, Hamburger Abendblatt, 11. 05. 2007 (Onlineausgabe), www.abendblatt.de/ hamburg/article466706/In-Ottensen-wird Muell-unterirdisch-gesammelt.html [20. 03. 2013].

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sen wird der Abfall unterirdisch gesammelt, indem eine 60 Zentimeter dicke und über vier Meter lange Metallröhre im Boden versenkt wird. Im Gegensatz zu herkömmlichen Mülleimern, die etwa 60 Liter Fassungsvermögen haben, kann der Waste Lift etwa 400 Liter Müll aufnehmen, was eine tägliche Leerung überflüssig macht. Diese öffentlichen Mülltonnen können weder ohne Spezialwerkzeug geöffnet werden, noch ist von außen Müll sichtbar. Die technischen Neuerungen bedeuten für die Arbeit öffentlicher oder privater Entsorgungsdienste sicherlich eine Erleichterung, zudem verhindern sie mögliche Geruchsbelästigungen für die Passanten. Zugleich wird jedoch das Flaschensammeln durch solche Konstruktionen unmöglich gemacht, da die Sammler nicht über nötiges Spezialwerkzeug verfügen, um die Mülltonnen einsehen und ihnen Pfandflaschen entnehmen zu können. Neben diesen beschriebenen Neuerungen im Bereich der Konstruktionen von Abfallbehältern, die der Tätigkeit der Pfandsammler Grenzen setzen, existieren in vielen Städten Verordnungen, die sich mit der ordnungsgemäßen Nutzung von öffentlichen Abfalltonnen beschäftigen. In der Grünflächenverordnung der Stadt Köln heißt es beispielsweise: »Jede zweckwidrige Benutzung der Abfallbehälter (…) ist untersagt. Ebenso dürfen die Abfallbehälter und die Wertstoffcontainer nicht durchsucht, Gegenstände daraus entnommen oder verstreut werden.«160

Der zweite Satz liest sich wie eine angeführte Erläuterung des ersten. Das Objekt »Abfallbehälter« besitzt einen Zweck, der in der Aufnahme von Gegenständen besteht, die von einer Person als Abfall deklariert wurden. Die teils von öffentlichen, teils von privaten Trägern zur Verfügung gestellten Service unterliegen strengen Regeln, die bei der Benutzung zu befolgen sind. Sein Gegenteil, nämlich die Entnahme von zuvor Eingefülltem, stellt eine Zweckentfremdung dar, die durch die Verordnung untersagt wird. Das heißt die einmal getätigte Klassifizierung einer Sache als Müll darf nicht mehr infrage gestellt beziehungsweise rückgängig gemacht werden, sobald dieser Gegenstand einmal den Weg in die Tonne gefunden hat. Solche Verordnungen bieten nicht nur ein Beispiel für das paternalistische Potenzial einer herrschenden 160 Vgl. »Grünflächenverordnung« § 11, 3 der Stadt Köln, http://www.stadtkoeln.de/mediaasset/content/pdf67/13.pdf [20. 03. 2013].

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Ordnung, die die alltäglichsten Handlungen mit bevormundenden Vorschriften durchsetzt. Konkret zeigt sich hier die reale und zugleich symbolische Hygienisierung gesellschaftlicher Handlungszusammenhänge, die »sich auf den Einzelkörper und auf die Reorganisation von privaten und öffentlichen Räumen beziehungsweise von Privatheit und Öffentlichkeit selbst«161 richtet. In der Abfallwirtschaftssatzung der Stadt Stuttgart wird unter der Überschrift »Durchsuchung der Abfälle und Eigentumsübergang«162 im zweiten Absatz die Durchsuchung und Entnahme eingefüllter Abfälle grundsätzlich untersagt. Im dritten Absatz findet sich die folgende Einschränkung: »Zulässig ist lediglich die Wegnahme einzelner Gegenstände durch Privatpersonen zum Eigengebrauch, sofern diese die öffentliche Ordnung nicht stört.«

Im Stuttgarter Fall wird also präzisiert, dass mit den Gegenständen, die zum Gebrauch den Abfallbehältern entnommen werden können, kein Handel betrieben werden darf. Dies erscheint insofern verständlich, als Müll eingebunden ist in einen (Wieder-)Verwertungszusammenhang und somit die materielle Grundlage eines gesamten Wirtschaftszweigs bildet. Die Hausordnung der Deutschen Bahn AG wiederum untersagt das »Durchsuchen von Abfallbehältern« und damit jegliche Entnahme ausdrücklich, wobei auch dies zunächst mit dem Eigentumsrecht begründet wird, wie wir einem Gespräch mit zwei Angestellten der Deutschen Bahn – männlich (M) und weiblich (W) – am Berliner Ostbahnhof entnehmen können: M: Also, eigentlich ist es so, dass der Müll in den Containern oder in den Müllbehältern ist Bahneigentum. W: Also uns gehört. M: Sobald er einmal drinne is, gehört er uns. SJM: Ja. 161 Keller, Müll, S. 75. Catherine de Silguy (Hommes et ordures) hat gezeigt, wie zum Beispiel die Tätigkeit der Lumpensammler verschwand, nachdem die herrschenden Vorstellungen von Hygiene und Sauberkeit in Verordnungen und Gesetzen verewigt wurden. 162 Vgl. »Abfallwirtschaftssatzung der Landeshauptstadt Stuttgart – AfS« § 19, http://www.stuttgart.de/img/mdb/item/186123/91574.pdf [20. 03. 2013]. Ähnlich lautende Formulierungen finden sich zum Beispiel in der »Abfallbehälterbenutzungsverordnung« § 16 der Stadt Hamburg, www.landesrecht-hamburg. de/jportal/portal/page/bshaprod.psml?doc.id=jlr-AbfBenVHApP16&st=lr& showdoccase=1¶mfromHL=true#focuspoint [20. 03. 2013].

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M: Weil die Bahn zahlt auch für diesen Müll, dann an die ((Unternehmensname)), wer auch immer abholt, ich sag mal so, wir haben hier natürlich Flaschensammler, aber das wird nicht unbedingt so sein, dass man die dann gleich wieder rausschmeißt, verhaftet, kommt immer drauf an, wie sie sich verhalten. Wenn sie sich natürlich dann noch andere Leute belästigen oder so, na dann wird man sie natürlich entfernen. Aber ansonsten …

Das Entfernen von Müll aus den unternehmenseigenen Abfallbehältern ist nach Aussage der Angestellten als Diebstahl anzusehen. Ähnliches muss, wie die Auszüge aus den Verordnungen zeigen, überall dort konstatiert werden, wo ein Hauseigentümer Anrecht auf die Behälter beanspruchen kann. Der Umgang mit dem geltenden Recht in Bezug auf die Tätigkeit des Flaschensammelns ist, wie gezeigt werden konnte, in hohem Maße vom Wohlwollen desjenigen abhängig, der am jeweiligen Ort Hausrecht beansprucht, und führt nicht per definitionem zu Problemen. Jedoch zeigt sich im Ausdruck »entfernen lassen«, dass die Hausrechtinhaber die Macht besitzen, sich einer Person auch gegen ihr Widerstreben zu entledigen, die eine (geltende) Regel übertreten hat. Die Auslegung des Rechts beziehungsweise Anwendung der Regel ist aber zuallererst situations- und personenabhängig. Auf Nachfragen bei Polizisten in Bielefeld, Berlin und Dortmund wurde einheitlich geantwortet, dass das Pfandsammeln eine Tätigkeit sei, die toleriert werde, solange niemand belästigt werde. Hier stellt sich umgehend die Frage, wie Normalitätsvorstellung von Belästigung beziehungsweise Nicht-Belästigung konstruiert werden. Im Verlauf des Gesprächs mit den Bahnangestellten kommen wir auf den damals neu eröffneten Berliner Hauptbahnhof 2006 zu sprechen und erhalten dabei eine mögliche Antwort auf diese Frage. Wurde im Verlauf des Gesprächs die Frage aufgeworfen, ob am Hauptbahnhof in besonderer Weise auf die Sammler geachtet werde, so entgegnet der Mann an dieser Stelle: M: Nee, da wurden wir aber extra, weil ist ja nun neu alles, die neuen Kollegen alle zusammen, da wurde dann extra gesagt: »Also passt uff. Eigentlich nicht erlaubt«, und wie gesagt, also wer sich ordentlich verhält, da wird man mal ein Auge zulassen. Aber eigentlich rechtlich wäre es so, dass man das eigentlich nicht darf.

Obwohl mit dieser Aussage zunächst ein spezifischer Umgang mit den Flaschensammlern zurückgewiesen wird (»nee«), wurde doch in Bezug auf den neuen Hauptbahnhof »extra« auf die bestehende Haus202

ordnung hingewiesen, nach der das Entnehmen von Gegenständen aus den Mülleimern untersagt ist. Hierzu muss gesagt werden, dass es sich bei dem Hauptbahnhof nicht nur um das Prestigeobjekt der Deutschen Bahn AG in der Bundeshauptstadt handelt, sondern dieser zugleich auch den wichtigsten innerstädtischen Zentralpunkt mit bis zu 300000 Reisenden und Besuchern täglich darstellt. In diesem Sinne würde jeder Bahnbeamte, der innerhalb des neuen Bahnhofs »mal ein Auge zu« lässt, sich gegen die dort hierarchisch verordnete erhöhte Aufmerksamkeit (»passt uff«) gegenüber Personen stellen, die dem Image des Unternehmens schaden könnten. Die folgende Aussage zeigt, dass es bestimmte Grenzen gibt, die nicht überschritten werden können: M: Bloß es gibt eben auch noch Flaschensammler, die sagen wir mal nebenbei betteln, und das ist nun überhaupt nicht erwünscht. W: Da machen wir auch gar keine Kompromisse.

Auch hier treffen wir auf die bereits erwähnte Toleranz gegenüber den Flaschensammlern. Dieser wird jedoch ein jähes Ende gesetzt, sobald die Handlung mit anderen kombiniert wird, bei denen es zu einer direkten Interaktion beziehungsweise Ansprache der Reisenden durch die Sammler kommt. Diese können ihrer Tätigkeit in aller Stille und Unauffälligkeit nachgehen, jedoch sollte sie möglichst unbemerkt stattfinden. Die Normalitätsvorstellungen richten sich danach, inwieweit Bedürftigkeit – vor allem in Form von Betteln – öffentlich zum Ausdruck kommt. Genau in diesem Moment ist die Grenze überschritten, die zu einer Nicht-Toleranz der Tätigkeit führt. Da ich darauf hingewiesen habe, dass die Toleranz situations- und personenabhängig ist, werden auch die Normalitätsvorstellung stark variieren. In Bezug auf die Toleranz von Differenzen bietet Zygmunt Bauman folgende Auslegung der Begriffe Toleranz und Akzeptanz an: »Toleranz schließt die Akzeptanz des Wertes des anderen nicht ein; ganz im Gegenteil, sie ist eine weitere, vielleicht etwas subtilere und schlauere Methode, die Unterlegenheit des anderen noch einmal zu bekräftigen, und dient als warnende Ankündigung der Absicht, die Andersheit des Anderen zu beenden (…). Die bekannte Humanität der Toleranzpolitik geht nicht über die Zustimmung hinaus, den letzten showdown aufzuschieben – unter

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der Bedingung freilich, daß eben der Akt der Zustimmung die bestehende Ordnung der Überlegenheit weiter stärkt.«163

In dieser Lesart kommt der Toleranz ihr positives Potenzial abhanden. Dass die Flaschensammler toleriert werden, führt nicht zu einer Akzeptanz einer möglichen Andersartigkeit. Diese Toleranz ist mit einem »bis auf Weiteres« versehen oder einem »zugedrückten Auge«, das aber zur gleichen Zeit auf die eigentliche Unangemessenheit hinweist.164 In den Hinweisen auf eine vorläufige Tolerierung des bestehenden Unterschieds wird dieser zum einen bekräftigt, weil er eben nur provisorisch akzeptiert wird, zum anderen zeigt die bestehende Ordnung darin ihre Vormachtstellung, weil die vollständige Akzeptanz zunächst ihren Deutungsfilter durchlaufen muss. Mit dieser fast schon an indifferente Neutralität erinnernden Attitüde wird auf einen legitimen und anerkannten Bereich verwiesen, in dem man sich bewegen kann, ohne auf Probleme zu stoßen. Dieser Bereich ist jedoch keineswegs zukunftsoffen, sondern klar umrissen. Mögen Individualität und Außergewöhnlichkeit in der heutigen Gesellschaft zu Werten an sich geworden sein, so kommt dem Umstand, toleriert werden zu müssen, das Anhaften eines Stigmas gleich. Denn es enthält den Hinweis, sich außerhalb der legitimen Andersartigkeit zu befinden; soziale Gruppen halten Diversität nur schlecht aus. Toleriert zu werden hat in diesem Sinne nichts Großherziges, sondern zieht ganz klar eine Grenze zwischen jenem, der die Macht besitzt, einen anderen zu tolerieren, und demjenigen, der toleriert wird, wobei er durch diesen Akt noch gedemütigt wird. Die Grenze, vor welche sich Pfandsammler gestellt sehen, ist demnach ebenso praktisch wie existenziell. Ihre Tätigkeit nötigt sie dazu, einen Zugang zu Müllbehältern zu erhalten oder zumindest zu Orten, 163 Bauman, Verworfenes Leben, S. 22. 164 Wir haben es in diesem Fall mit instrumenteller Macht, das heißt einer Möglichkeit der Verhaltenssteuerung in Form einer Drohung, zu tun (vgl. Popitz, Macht, S. 79ff.). Das geforderte Verhalten besteht in der Nicht-Belästigung der anderen, die Drohung ist das Hausverbot. Kann der Pfandsammler sich alternativ für Fügsamkeit oder Nicht-Fügsamkeit entscheiden, so wird sein Tun doch einzig im Interpretationsrahmen gedeutet, den die Alternative setzt. Weil aber unklar bleibt, ab wann von Belästigung gesprochen werden kann, bleibt auch die Alternative unklar. Gleichzeitig setzt der Hausrechteinhaber seine Glaubwürdigkeit aufs Spiel, sollte er nicht auch exemplarisch seine Drohung wahr machen.

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an denen Menschen ihre Flaschen zurücklassen. Diese Möglichkeit wird erst durch die Verpackungsverordnung eröffnet. Verlieren sie diesen Zugang, zum Beispiel durch die städtischen Verordnungen zur Nutzung von Abfallbehältern, so bedeutet dies das Ende ihrer Tätigkeit. Dies nötigt sie dazu, ihrer Tätigkeit möglichst unauffällig nachzugehen und immer darauf bedacht zu sein, möglichst niemanden zu belästigen, wobei es für Letzteres keine klaren Verhaltensanweisungen gibt. In einem hohen Maße sind die Sammler also der Willkür der Hausrechteinhaber ausgeliefert und können, weil sie gleichzeitig mit geltendem Recht in Konflikt geraten, welches das Sammeln zur strafbaren Handlung macht, kein Recht für sich beanspruchen. Ordnungswidrigkeiten, die im Ordnungswidrigkeitengesetz (OWiG) geregelt sind und zu denen das unerlaubte Greifen in den Müllbehälter ohne Zweifel zählen dürfte, werden mit einem Bußgeld belegt und nur im Falle der NichtZahlung sowie einer ausbleibenden Erklärung des Angeklagten kann Erzwingungshaft angeordnet werden.165 Da das Bußgeld vermutlich höher sein dürfte als der Tagesverdienst eines Sammlers, wird alles Notwendige getan, um einem solchen aus dem Weg zu gehen.

Sicherheit als attraktives Potenzial Sind die bisherigen Darstellungen vor allem für Routensammler von Bedeutung, weil ihre Routen meist aus einer Aneinanderreihung von Abfallbehältern bestehen, so sollen im Folgenden neuartige Entwicklungen aufgezeigt werden, die vor allem die Veranstaltungssammler betreffen. In der Pressemappe der Bundespolizeidirektion Hannover findet sich am 06. 05. 2010 ein Artikel, der über das Verbot von Glasflaschen und Getränkedosen für reisende Fußballfans zwischen Hannover und Bremen informiert. Zum einen, so die Begründung, könne einer übermäßigen Verschmutzung von Verkehrsmitteln vorgebeugt werden. Aufgrund der ethnografischen Beobachtungen erscheint diese Begründung jedoch wenig angemessen, da gerade die Arbeit der Sammler an Veranstaltungsorten in hohem Maße für deren Sauberkeit mitverantwortlich ist. Alle Veranstaltungsorte, die während des 165 Vgl. OwiG §§ 96 ff., http://www.gesetze-im-internet.de/owig_1968 [20. 03. 2013].

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Feldaufenthaltes beobachtet werden konnten, waren am Ende gänzlich von jeglichen Getränkegebinden gesäubert. Züge, Straßen- oder U-Bahnen gehören ebenfalls zu den Orten, an denen Sammler unterwegs sind, und werden gerade bei Fußballspielen oder ähnlichen Großveranstaltungen zu strategisch wichtigen Stellen. Entweder der Sammler ist während der gesamten Fahrt bereits im Zug anwesend, läuft alle Abteile ab und nimmt die leeren Getränkegebinde direkt entgegen. Oder aber die Sammler positionieren sich noch vor Einfahrt der zumeist zu Veranstaltungen eingesetzten Sonderzüge auf dem Bahnsteig. Dann kann es passieren, dass sie entweder die Aussteigenden auf ihr Leergut ansprechen, oder aber sie warten, bis alle ausgestiegen sind, und durchsuchen möglichst schnell den Zug nach Flaschen und Dosen. Eine weitere Begründung, warum die Polizei die Benutzung von Glasbehältnissen untersagt, ist die Vermeidung von alkoholbedingtem Randalieren in den Zügen oder am späteren Zielort, weil »Flaschen als Wurfgeschosse gegen Polizisten und Unbeteiligte«166 eingesetzt würden. Die entsprechend dafür erlassene Allgemeinverfügung, die in ähnlicher Weise auch seit Kurzem für die in der Stadt Köln ausgetragenen Fußballspiele besteht,167 untersagt demgemäß das Mitführen von Glasflaschen und Getränkedosen sowie jeglicher alkoholischer Getränke in allen Zügen auf dieser Strecke. Für die Veranstaltungssammler, die seit Einführung der Pfandpflicht zum Bild eines Events dazugehören, bedeutet eine solche Verfügung selbstverständlich einen massiven Einschnitt. Die Bürgerschaft der Stadt Hamburg beschloss nach längerer Diskussion bereits im Jahre 2009 ein Glasflaschenverbotsgesetz, welches sowohl das Mitführen wie auch den Verkauf in Supermärkten oder Kiosken rund um die Reeperbahn im Stadtteil St. Pauli von Freitagabend bis Montag untersagt. Weil Sammler sich grundsätzlich dort aufhalten, wo viele Menschen zusammen kommen, bedeutet das Ver-

166 Vgl. »Allgemeinverfügung Glas-, Glasflaschen- und Getränkedosenverbot im Stadionumfeld des RheinEnergieStadions in Köln-Müngersdorf/Junkersdorf«, http://www.stadt-koeln.de/mediaasset/content/satzungen/allgemeinverf_gung_ glas-_glasflaschen-_und_getr_nkedosenverbot_im_stadionumfeld-28-062012.pdf [20. 03. 2013]. 167 Müllenberg, Jürgen, »Glas- und Dosenverbot auch in der kommenden Saison«, http://www.stadt-koeln.de/1/presseservice/mitteilungen/2011/06079/ [20. 03. 2013].

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bot von Flaschen auf solch einer »Amüsiermeile« wie der Reeperbahn ebenfalls eine große Einschränkung. Bei der Aufstellung des ersten Warnschildes, die seitdem im gesamten Stadtteil auf das Verbot verweisen, betonte der damalige Innensenator Christoph Ahlhaus (CDU), mit dem Verbot solle die Sicherheit der Menschen vor Ort gesteigert werden. Auch er wies auf die Gefahr von Glasflaschen hin, die als Waffen eingesetzt werden könnten.168 Neben einer erhöhten Polizeipräsenz vor Ort und der Videoüberwachung zur Prävention sei das Gesetz ein weiterer Baustein im Maßnahmenpaket zur Herstellung von Sicherheit auf St. Pauli. Gegen Ende seines Diskurses fügt Ahlhaus hinzu: »Diese Maßnahmen werden wir auch weiterhin konsequent umsetzen, um die Sicherheit von St. Pauli und damit die Attraktivität für die Anwohner und die vielen Gäste aus aller Welt zu gewährleisten.«169

Das Gefühl der Sicherheit wird hier mit der Attraktivität gekoppelt, wodurch Maßnahmen dieser Art grundsätzlich mit Akzeptanz der Bevölkerung rechnen können, da die Alternative der Unsicherheit wenig verlockend erscheint. Sicherheitsprogramme solcher Couleur benötigen jedoch Risiken, die zur Rechtfertigung herangezogen werden können und vor denen es zu schützen gilt, weshalb Gruppen ins Bewusstsein gehoben werden müssen, die als grundsätzlich gefährlich gelten.170 Mag auch hier nicht von den Sammlern die Rede sein, so führt die Einrichtung ganzer Stadtteile, in denen Glasflaschen und Getränkedosen nicht zugelassen sind, zu einer Abschottung von NichtSammler und Sammlern, womit zur gleichen Zeit jener möglichen Belästigungen vorgebeugt werden kann, welche die Attraktivität einschränken würde. Die staatlich verordnete räumliche Distanzierung wird somit zu einer sozialen, denn diese kontrollierten Zonen entbehren der Möglichkeit des Aufeinandertreffens von jenen, die sich den Kauf einer Flasche zu ihrem Vergnügen leisten, und jenen, die ihr Haus verlassen, um die Gebinde der anderen einzusammeln.

168 »Glasflaschenverbot: 54 neue Schilder auf der Reeperbahn«, 15. 7. 2009, http://www.hamburg.de/innenbehoerde/1591324/2009-07-15-bfi-pm-glas flaschenverbot.html [20. 03. 2013). 169 Ebenda. 170 Eick u.a., »Sicherheitspolitik«.

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Die durch die Verordnungen getragene physische Separation führt nicht zum Abbau »mentaler Wagenburgen«,171 in denen die Sammler von Anbeginn, wenn überhaupt, nur toleriert werden und daher eigentlich keinen Platz haben. Mögen die Geber und Sammler auch vor den Toren des kontrollierten Raumes aufeinandertreffen, trennen sich ihre Wege am Eingang, den die Sammler nicht mehr zu überschreiten brauchen, weil sie jegliches Interesse daran verloren haben. Die von Ahlhaus erwähnte Attraktivität erscheint sich demnach ebenso aus dem Unter-sich-Sein zu ergeben. Der Unterschied zu Orten, zu denen ohnehin eine offizielle Zugangsberechtigung in Form von Eintrittskarten notwendig wäre, ist der, dass dieser Raum unter der Verwendung des Sicherheitsarguments problemlos erweitert werden kann. Das Neuartige daran ist jedoch, dass bestimmte Bevölkerungsschichten nicht explizit ausgeschlossen werden müssen, sondern man nimmt ihnen das objektive Interesse am Zugang zu diesen Räumen und generiert dadurch Homogenität. Eine scheinbar andere Möglichkeit mit den Sammlern umzugehen findet sich im Kölner Modell: »In bewährter Weise werden die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Ordnungsamtes durch persönliche Ansprache die Stadionbesucherinnen und -besucher veranlassen, Glas, Glasflaschen und Dosen in den bereit stehenden Containern zu entsorgen oder den ehrenamtlichen Flaschensammlerinnen und -sammlern zu übergeben.«172

Wie es auf den ersten Blick der Artikel suggeriert, »beschäftigt« das Ordnungsamt der Stadt Köln ehrenamtliche Flaschensammler. Aufgrund eines informellen Gesprächs mit Stefan Palm, dem Textchef des Presseamts, das für diese Mitteilung verantwortlich zeichnet, muss dieses Bild jedoch korrigiert werden. So berichtet Palm, dass der Begriff »ehrenamtlich« unkorrekt sei. Die Sammler handelten weder im Auftrag der Stadt Köln, noch gingen sie unentgeltlich dieser Tätigkeit nach. Gerade Letzteres wäre ein wichtiges Strukturmerkmal des Ehrenamtes.173 Viel eher sei es so, dass die Ordnungskräfte an den Zugangsstellen zu den Vierteln, in denen das Glasflaschenverbot herrsche, das Sammeln tolerieren und die Sammler bei der Umsetzung der Ordnungsmaßnahmen berücksichtigten. So käme es regelmäßig vor, 171 Legnaro, »Trias der Regulation«, S. 207. 172 Müllenberg, »Glas- und Dosenverbot auch in der kommenden Saison«, a. a. O. 173 Hacket/Mutz, »Bürgerschaftliches Engagement«.

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dass Pfandsammler die Orte frequentieren und, nach Absprache mit den städtischen Angestellten, die anfallenden Glasflaschen abtransportieren. Dies gilt jedoch nur für Glasflaschen und nicht für Einweggebinde aus Plastik. Der Begriff »ehrenamtlich« sei aber bewusst gewählt worden, um die Tätigkeit der Sammler gesellschaftlich aufzuwerten. Missverständlich ist der Begriff nicht nur vor dem Hintergrund, dass es sich beim Pfandsammeln um eine entlohnte Tätigkeit handelt – und daher streng genommen »Schwarzarbeit« darstellt –, sondern auch, weil sich ehrenamtliche Tätigkeiten traditionell eher im karitativen Bereich bewegen als in der Müllentsorgung. Diese Diskrepanz wurde bereits bei der Betrachtung der Internetseite pfandgeben.de offensichtlich. Wollte man versuchen, das Flaschensammeln mit dem Ehrenamt in Verbindung zu bringen, so müsste es vielmehr als eine Form der viel diskutierten Bürgerarbeit angesehen werden.174 Hierunter wird die Beteiligung des »Aktivbürgers« an der Produktion von an Gemeinschaft orientierter Wohlfahrt verstanden, wobei es sich vor allem um einen bestimmten Personenkreis handelt, nämlich Erwerbslose. Allerdings, und hierin liegt der wesentliche Unterschied, handelt es sich bei Bürgerarbeit nicht um eine tolerierte Tätigkeit, die nur durch das »zugedrückte Auge« der Ordnungsmacht bestehen kann, sondern um ein gezielt betriebenes und teilweise staatlich gefördertes Programm. Im Pressebericht wird demnach das Pfandsammeln in einem institutionellen Rahmen verortet, in den es nicht gehört. Die hier bewusst betriebene Aufwertung der Pfandsammler transformiert diese von »tolerierten Abweichlern« in eine zivilgesellschaftliche Verlängerung staatlicher sowie privater Prävention,175 von der sie an anderer Stelle selbst wiederum betroffen sind. Mögen in Einzelfällen Sammler wie Thomas die Integration in Sicherheitsprogramme als Anerkennung ihrer Tätigkeit deuten (»die sind ja froh, dass man se einsammelt«), so stellen Sammler im Allgemeinen eher eine durch Fans finanzierte Reinigungsarmee dar und würden, ließen sie sich in staatliche Strukturen einbinden, gerade jene Freiheit aufgeben, die in der Figur des Sammlers strukturell angelegt ist. Auch in Düsseldorf wurde unter der Verwendung des Sicherheitsarguments während der Karnevalsfeierlichkeiten im Jahre 2010 ein Verbot für Glasbehältnisse durchgesetzt, wenn auch den Jecken para174 Beck, Schöne neue Arbeitswelt; Reichert, »Gemeinwohl-Konzepte« 175 Eick u.a., »Sicherheitspolitik«, S. 16.

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doxerweise der Alkoholkonsum, ebenso wie in Hamburg, nicht untersagt wurde: »Mitarbeiter des Ordnungs- und Servicedienstes sowie eine private Sicherheitsfirma werden das Verbot an 16 Zugängen zur Altstadt kontrollieren. Dazu werden einzelne Grenzzäune aufgestellt, an der Bolkerstraße kontrollieren die Sicherheitskräfte wegen des hohen Besucherandrangs ohne Begrenzung. An den Grenzen erhalten Besucher die Möglichkeit, Getränke aus Flaschen in Plastikbecher umzufüllen.«176

An der Konstruktion risikofreier Zonen erscheint etwas unverständlich: Umzingelt von Sicherheitskräften, Grenzzäunen und Warnschildern finden sich hier potenziell gefährliche, weil alkoholisierte Subjekte mit wiederum Friedvollen in einen Raum gesperrt. Allein die Tatsache, die Ersteren ihrer vermeintlichen Waffen beraubt zu haben, rechtfertigt das Aufgebot einer umfassenden Kontrolle. Im eingeschlossenen Raum stellt jeder Nicht-Flaschenbesitzer eine potenzielle Gefahr dar, die nur dank vorheriger Intervention gebannt werden konnte; dies kommt einer sich selbsterfüllenden Prophezeiung gleich. Verordnungen der hier präsentierten Art führen zu einer Akzeptanz staatlicher Kontrolle, die den Schutz der Allgemeinheit verspricht, indem man jedwedes Risiko von vornherein auszuschließen versucht. Was dadurch geschieht, ist zur gleichen Zeit eine Entmündigung, da die Verantwortung für die Selbstkontrolle im gesellschaftlichen Getriebe nicht mehr jedem Einzelnen überlassen wird, sondern unter Aufsicht staatlicher oder privater Sicherheitsdienste steht. Die Individuen sind nicht mehr zu Selbstzwängen genötigt, weil die Fremdzwänge verstärkt werden. Paradox erscheinen diese Arten von Verfügungen, weil die Furcht hier, anders als bei anderen Abschottungsformen, wie zum Beispiel gated communities,177 nicht zur Herstellung von »partikularen Homogenitäten«178 führt, wo sich gegenseitig Nicht-Gefährlichkeit unterstellt werden kann. Die Furcht wird als Potenzial mit in den geschützten Raum überführt, in dem sich der Feind, trotz aller Vorsichtsmaßnahmen, letztlich doch innerhalb der

176 Herrendorf, Christian, »Glasflaschenverbot an Karneval«, rp online, 17. 11.2010, http://rp-online.de/region-duesseldorf/duesseldorf/nachrichten/ glasflaschenverbot-an-Karneval-1.1146887 [20. 03. 2013]. 177 Vgl. hierzu: Roitman, »Who Segregates Whom?«. 178 Legnaro, »Trias der Regulation«, S. 207.

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Gruppe befindet. Der staatlich verordnete Fremdzwang, der durch die Konstruktion von Feindbildern zum Schutz eines jeden ins Leben gerufen wird, führt letztlich zum Fortbestand einer Binnenkontrolle eines jeden durch jeden. Dementsprechend kommt es weniger zur Herstellung einer gewünschten Homogenität, die auf das Bedürfnis nach Sicherheit reagieren würde. Eher verschieben sich die Differenzen zum Beispiel von Äußerlichkeiten auf Einstellungen, vom Einkommen auf sexuelle Vorlieben oder von der Hautfarbe auf politische Gesinnung.

Dritter Exkurs: Vom Staatsbürger zum Dieb – Raffholzsammler »Der Verstand ist nicht nur einseitig, sondern es ist sein wesentliches Geschäft, die Welt einseitig zu machen.« Karl Marx

Dass sich der Staat zum Interessenvertreter einer Minorität macht, die auf sich den Großteil des gesellschaftlichen Reichtums vereint, ist sicherlich keine historische Neuentwicklung. Durch die Stellung im Produktionsprozess ist es gesellschaftlichen Gruppen immer wieder möglich gewesen, Einfluss auf politische Entscheidungen zu nehmen, sodass Recht und Gesetz letztlich nie frei von gesellschaftlichen Interessen sind. Dies illustriert im Jahre 1842 der junge Redakteur der Rheinischen Zeitung Karl Marx, indem auch er sich mit der Figur des Sammlers auseinandersetzt. Auf der Grundlage des Allgemeinen Landrechts für die Preußischen Staaten von 1794 wurde im Jahre 1821 ein »Gesetz wegen Untersuchung und Bestrafung des Holzdiebstahls« erlassen, womit sowohl die Entwendung des im Wald befindlichen Holzes als auch die Aneignung von Schwemm- und Flößholz gemeint war.179 Da es in der Folge zu einem starken Anstieg der Kriminalität kam, weil immer mehr Holzdiebstähle angezeigt und folglich untersucht wurden, debattierte nun der Rheinische Landtag im Jahre 1842 über einen Gesetzesentwurf, nach welchem ebenso das Sammeln von abgestorbenem Holz in den Wäldern, sogenanntem Raffholz, als Diebstahl zu gelten habe. Dies galt, ähnlich wie das Ährensammeln, als eine Tätigkeit der armen Landbevölkerung, die so ihren Bedarf an Brennholz zu decken versuchte. 179 Arnold, »Karl Marx«, S. 28 [FN 13].

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Die grundlegende Kritik von Marx an dem Gesetzesentwurf zielt darauf, dass seiner Ansicht nach der moderne Rechtsstaat sich zuvorderst mit der Frage beschäftigt, wie das Recht dem Besitzenden sein Eigentum garantieren könne, es ihm jedoch nicht um den Ausgleich der divergierenden Interessen gehe. Diese einseitige Orientierung des Rechts am Eigentum als Ausdruck individueller Freiheit, die zugleich jedoch nur den Besitzenden eingeräumt wird, übersehe, dass damit eine juristische Enteignung der armen Bevölkerung stattfinde.180 Marx versucht in seiner Darstellung der Debatten, die Inkohärenz der gesellschaftlichen Organisation aufzuzeigen. Aufgrund ihrer Stellung im gesellschaftlichen Produktionsprozess sowie der Eigentumsverhältnisse seien die Armen zum Sammeln von Raffholz gezwungen, um ihr Dasein sichern zu können, und dieses Motiv könne vom Rechtsstaat bei der Beurteilung der Sammler nicht einfach beiseitegelassen werden. Marx zeigt in kritisch-spöttischer Weise auf, inwieweit das Rechtssystem sich den Sonderinteressen der Waldeigentümer beugt, diese in hohem Maße für den entstandenen Schaden entschädigt und dabei gleichzeitig die Menschlichkeit des Raffholzsammlers negiert. Für ihn steht das Holzdiebstahlsgesetz stellvertretend für die Spannungen, die entstehen müssen, wenn eine Gesellschaft versucht, soziale Beziehungen einzig durch Verträge beziehungsweise Eigentumsrechte zu regeln. Der Staat, der grundsätzlich die Vertretung aller Bürger zu sein habe, vertritt ein Allgemeininteresse, das sich nicht in vertraglichen Beziehungen erschöpft, sondern auf gesellschaftlicher Solidarität sowie der Anerkennung der Bedürfnisse jedes Einzelnen beruht.181 Hierbei dürfen jedoch die Ausführungen Marx’ nicht so verstanden werden, dass er sich ganz und gar gegen gesetzliche Eigentumsregelungen ausspricht. Er pflichtet, hier ganz Jurist, dem Rheinischen Landtag bei, ein Diebstahl müsse als ein solcher verfolgt und verurteilt werden. Seine kritischen Einwendungen beziehen sich auf die rechtliche Gleichsetzung des Diebs mit dem Sammler: »Um grünes Holz sich anzueignen, muß man es gewaltsam von seinem organischen Zusammenhang trennen. Wie dies ein offenes Attentat auf den Baum, so ist es durch denselben ein offenes Attentat auf den Eigentümer des Baumes. (…) Beim Raffholz dagegen wird nichts vom Eigentum getrennt.

180 Bensaïd, Die Enteigneten, S. 36ff. 181 Ebenda, S. 23f.

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Das vom Eigentum getrennte wird vom Eigentum getrennt. Der Holzdieb erläßt ein eigenmächtiges Urteil gegen das Eigentum. Der Raffholzsammler vollzieht nur ein Urteil, was die Natur des Eigentums selbst gefällt hat, denn ihr besitzt doch nur den Baum, aber der Baum besitzt jenen Reiser nicht mehr.«182

In der begrifflichen Nicht-Unterscheidung zwischen Diebstahl und Sammeln, welches nach dem Gesetzentwurf künftig in gleicher Form bestraft werden soll, sieht Marx die Gefahr der Auflösung wirksamer rechtlicher Kategorien. Montesquieu zitierend unterscheidet er zwischen zwei Arten der Verderbtheit: zum einen die des Volkes, das die Gesetze nicht beachte, und zum anderen die Verderbtheit, die sich erst durch die Gesetze ergibt, das heißt rechtlich konstruiert wird.183 Weil es sich bei den Raffholzsammlern wie erwähnt um Arme und Besitzlose handelt, kann Marx im Folgenden den Gesetzgeber scharf attackieren: »Wenn das Gesetz aber eine Handlung, die kaum ein Holzfrevel ist, einen Holzdiebstahl nennt, so lügt das Gesetz, und der Arme wird einer gesetzlichen Lüge geopfert.«184

Was hier hervorgehoben wird, ist eine rechtlich gestützte »Bestrafung von Armut«.185 Nicht hinnehmbar sei, dass eine aus Not ausgeführte Handlung gesetzlich als Verbrechen bezeichnet werden könne. Vor allem aber komme es zu dieser Beurteilung, wie Marx aufzuzeigen sucht, um die Interessen des Waldeigentümers zu sichern. Bei jeder Eigentumsverletzung sei es unausweichlich, dass sich die Strafe nach dem Wert des beschädigten oder entwendeten Eigentums richte, um damit »die Strafe zur wirklichen Konsequenz des Verbrechens zu machen«.186 Diese Anmerkung würde eine Strafverfolgung von Raffholzsammlern unnötig machen, da der von ihnen entwendete Wert nicht feststellbar ist. 182 183 184 185

Marx, »Debatten«, S. 111f. Ebenda, S. 112. Ebenda. Dieser Begriff wird von Loïc Wacquant verwendet, um gesellschaftliche Tendenzen zu beschreiben, die durch neoliberale Strafregime gekennzeichnet sind. Vor allem in Innenstädten wird mit einer Null-Toleranz-Ideologie zum Beispiel gegen Obdachlose oder andere Randgruppen vorgegangen (vgl. Wacquant, Janusgesicht). 186 Marx, »Debatten«, S. 114.

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Im Anschluss daran spricht sich Marx für die »Aufrechterhaltung und weitere Anerkennung eines Gewohnheitsrechts für die arme politische und sozial besitzlose Menge aus«.187 Er besteht sogar darauf, dass ein solches Gewohnheitsrecht nur eines der armen Masse sein könne.188 Mit diesem Gewohnheitsrecht würde einem »rechtlichen Trieb«189 entsprochen: Die vom organischen Leben getrennten Elemente, wie geknickte Reiser und Zweige, würden von der besitzlosen Klasse gleichbedeutend dem als natürlich empfundenen Gegensatz zwischen Armut und Reichtum aufgefasst, dessen Entsprechung in der menschlichen Gesellschaft wiederzufinden ist. Eben aus diesem Verwandtschaftsgefühl zwischen heruntergefallenen Ästen und ihnen selbst leiteten sie ihr Eigentumsrecht ab. Das heißt die arme und besitzlose Bevölkerung weiß um ihre Stellung innerhalb der Gesellschaft, was das Bewusstsein über die Stellung der ihnen gegenüberstehenden Bevölkerung einschließt, von der sie nicht mehr verlangen als das übrig Gebliebene und Abgefallene; dies jedoch als ein einzuforderndes Recht, nicht als gewährtes Almosen. »Es lebt also in diesen Gewohnheiten der armen Klasse ein instinktmäßiger Rechtssinn, ihre Wurzel ist positiv und legitim, und die Form des Gewohnheitsrechts ist hier umso naturmäßiger, als das Dasein der armen Klasse selbst bisher eine bloße Gewohnheit der bürgerlichen Gesellschaft ist, die in dem Kreis der bewußten Staatsgliederung noch keine angemessene Stelle gefunden hat.«190

Anstatt aber einem Gewohnheitsrecht der Armen in entsprechenden Gesetzen Ausdruck zu verleihen und ihnen damit eine angemessene Stellung innerhalb der Gesellschaft zuzuweisen, stellt sich das Gesetz 187 Arnold, »Marx«, S. 31. 188 Norbert Elias hat in einer empirisch reichhaltigen Auseinandersetzung über das Duellieren in der bürgerlichen Gesellschaft gezeigt, wie diese soziale Praktik, bei der es sehr häufig zu Todesfällen kam, von den oberen Schichten in bewusster Missachtung des Gesetzes als deren Gewohnheitsrecht angesehen wurde (vgl. Elias, Studien, S. 61ff.). Nach ihrem Dafürhalten oblag es nicht dem Rechtsstaat, eine dem Stand gebührende Praktik der Ehrenrettung zu regulieren. Der Staat tolerierte in diesen Fällen das Duellieren, verfolgte und verurteilte es jedoch in ärmeren Bevölkerungsschichten. In diesem Fall zeigt sich die soziale Ungleichheit der staatlichen Toleranz gegenüber schichtspezifischen Gewohnheiten. 189 Marx, »Debatten«, S. 119. 190 Ebenda, [Hervorhebung im Original].

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in den Dienst des Eigentümers. Dieser sollte laut dem debattierten Gesetzesentwurf die dreifache Entschädigung des festgestellten Holzwertes erhalten, gefolgt von einer vier-, sechs- oder achtfachen Geldstrafe sowie eines besonderen Schadensersatzes, der Arbeitsdienst des Holzdiebs beinhalten konnte. Marx geht sogar so weit zu sagen, dass es die Sonderinteressen des Waldeigentümers sind, die in Wirklichkeit die staatlichen Geschicke lenken. Dies zeigt er vor allem anhand der Auseinandersetzung mit der Stellung des Forstbeamten: »Als Schutzbeamter des Holzes soll der Waldhüter das Interesse des Privateigentümers, aber als Taxator soll er ebensosehr das Interesse des Forstfrevlers gegen die extravaganten Forderungen des Privateigentümers beschützen. (…) Endlich steht dieser denunzierende Schutzbeamte, der weder als Denunziant noch als Schutzbeamter zum Experten geeignet ist, in Sold und Dienst des Waldeigentümers. Mit demselben Rechte konnte man dem Waldeigentümer selbst auf einen Eid die Taxation überlassen, da er tatsächlich in seinem Schutzbediensteten nur die Gestalt einer dritten Person angenommen hat.«191

Dem Schutzbeamten des Holzes kam nicht nur die Aufgabe zu, Anzeige zu erstatten, sondern er hatte ebenso den Wert des entwendeten Holzes festzusetzen und bekam dadurch als sachverständiger Experte maßgeblichen Einfluss auf das Urteil.192 Weil es sich bei ihm allerdings um einen Angestellten des Privateigentümers handelt, sei von Anfang an eine mögliche Neutralität zum Wohle des Angeklagten, das ein humanistisches Strafrecht ebenso im Auge behalten müsse, ausgeschlossen. Es scheine eher so zu sein, dass sich der Eigentümer dank der gesetzlichen Regulierung selbst zum Staate macht, denn letztlich bestimme er in Form des Forstbeamten seine Entschädigung eigenhändig.193 Der Rechtswissenschaftler Jörg Arnold hat mit Bezug auf die Debatten über das Holzdiebstahlsgesetz darauf hingewiesen, dass die moderne Strafrechtswissenschaft von dem humanistischen Ansatz Marx’ bis heute wenig aufgegriffen habe. Die Beschäftigung mit dem Holzdiebstahlsgesetz und die von Karl Marx aufgezeigte Absurdität könne wichtige Prinzipien des Strafrechts aufzeigen: Strafrecht müsse be-

191 Ebenda, S. 123. 192 Arnold, »Marx«, S. 34. 193 Vgl. Bensaïd, Die Enteigneten.

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grenzend sein, was die Handlungsspielräume der Staatsbürger angeht, dürfe aber zugleich nicht ausufernd sein. Dem Staat komme in erster Linie die Aufgabe der Verbrechensprävention zu, die außerhalb des Strafrechts stehe und viel eher in der Beantwortung der sozialen Frage zu sehen sei. Marx wies darauf hin, dass es die Strafe sei, die vom Straftäter als die wirkliche Konsequenz seines Verbrechens angesehen werden müsse. Wichtig sei hierbei, eine angemessene Reaktion zu finden, die immer tatproportional zu sein habe und die Bürger nicht unverhältnismäßig kriminalisiere. Denn wer einmal in die Mühlen der Justiz geraten ist, der steht vor der Gefahr einer dauerhaften Exklusion.

Grenzen sozialer Anerkennung Zur Schau gestellte Leistungsfähigkeit Sammeln muss notwendigerweise in der Öffentlichkeit stattfinden. Der Gang auf die Straße – dies stellt ein zentrales Ergebnis unserer Analysen dar – birgt den Vorteil, die Pfandsammler aus ihrer sozialen Vereinsamung herauszulösen. Diese lässt sich bei allen Sammlern aufzeigen und ist gleichbedeutend mit der weitgehenden Abkopplung vom sozialen Geschehen, die bis zu empfundener Unsichtbarkeit führen kann.194 Die erfahrene physische Einsamkeit schlägt sich aufgrund der engen Verbindung der Konstitution des Selbst und der sozialen Anerkennung durch andere auf die persönliche Identität nieder.195 Die unterschiedlichen Biografien der Sammler treffen sich in ihrer ambivalenten Stellung zum Arbeitsmarkt. Entweder sind sie durch Verrentung, Obdachlosigkeit oder Arbeitslosigkeit von ihm ausgeschlossen. Oder aber die Arbeitsverhältnisse, in denen sie sich befinden, bieten keine ausreichenden Identifikationsmöglichkeiten. Zur gleichen Zeit fehlen Alternativen für eine als sinnvoll empfundene Strukturierung des Alltags, die jenseits von Erwerbsarbeit liegt. Das Auf-die-Straße-Gehen, das zur Überwindung der Vereinsamung beitragen soll, macht es notwendig, eine Verbindung zu den anderen herzustellen, was bedeutet: Ich muss mich zeigen, um nicht länger unsichtbar zu sein. Um dies tun zu können, muss ich mich in den Augen der anderen bewähren. Mag mir auch nicht unbedingt an ihrer Freundschaft liegen, so möchte ich doch von ihnen wertgeschätzt werden. Das Sammeln von Pfandflaschen erscheint auf den ersten Blick eine prädestinierte Tätigkeit dafür zu sein. Axel Honneth versteht in seiner Anerkennungstheorie unter dem Begriff der sozialen Wertschätzung die »graduelle Bewertung konkreter Eigenschaften und Fähigkeiten«,196 der sich Handlungen eines jeden Gesellschaftsmitglied zu unterziehen haben. »Sich zeigen« heißt in diesem Sinne also, in 194 Elias, Einsamkeit. 195 Todorov, Zusammenleben, S. 75ff. 196 Honneth, Anerkennung, S. 183.

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performativer Art und Weise öffentlich zur Schau stellen, was ich zu leisten imstande bin und als welche Art von Mensch ich von den anderen gesehen werden möchte. Die Selbstdarstellung trifft auf Fremdbewertung, die in einer Art Zirkel wiederum an die Selbstwahrnehmung gekoppelt ist. Weil die Pflicht zu Arbeit und Leistung in einem sich als Arbeitsgesellschaft definierenden Sozialgefüge universelle Geltung beansprucht, scheint es nur angemessen, durch die öffentliche Darstellung der eigenen Leistungsfähigkeit die Wertschätzung der anderen gewinnen zu können. Nicht zuletzt aus dieser einfachen Überlegung erscheint es geradezu einleuchtend, warum der Erwerbsarbeit so viel Bedeutung beigemessen wird: Die im Rahmen der gesellschaftlichen Arbeitsteilung »gut« ausgeführte Leistung ist ausschlaggebend für das Bewusstsein, innerhalb eines begrenzten sozialen Zusammenhangs, wie zum Beispiel einem Betrieb, aber auch über ihn hinaus, individuelle Besonderheit beanspruchen zu können.197 Denn zugleich ist diese Leistung immer auch eine Leistung, die Selbstevaluation erlaubt. Nicht nur orientiere ich mich damit an einem gesellschaftlich anerkannten Wert, sondern in der Arbeit selbst erfahre ich mich als ein die Realität veränderndes Wesen.198 Gerade Letzteres scheint sich für die Sammler unmittelbar an der ersammelten Geldmenge ablesen zu lassen, sie ist unmittelbarer Ausdruck der individuellen Leistung. Was jedoch aus diesem der Arbeit zugeschriebenen Stellenwert folgt, könnte man als die Schattenseiten der Leistungsethik beschreiben: Wer nicht zeigen kann, dass auch er die Möglichkeit besitzt, eine »gute Figur« in einer zugewiesenen Funktion abzugeben, der besitzt auch kein Bewusstsein von Besonderheit. Dass dies so ist, liegt an der Verschränkung zwischen Arbeits- und Konsumgesellschaft und dem Umstand, dass die Rolle des Kunden zum Aufbau einer anerkannten Identität heute wichtiger ist als die des pflichtbewussten Arbeiters. In dem Willen zur Arbeit drückt sich heute aber nicht mehr einzig die Notwendigkeit zum vorsorgenden Sammeln aus; zumindest nicht in einem existenzsichernden Sozialstaat. Was zum Vorschein kommt, ist der Wille zur Partizipation an der Konsumgesellschaft, in der es ums Gesehenwerden, aber auch ums 197 Ebenda, S. 142. 198 Popitz, Macht, S. 116.

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Mithalten geht. Die Flaschensammler profitieren nicht nur vom Konsum der anderen und davon, dass die Anstrengung des Mithaltens durstig macht und die Flasche in der Hand als unnötiger Ballast empfunden wird, dem es sich zu entledigen gilt. Auch sie möchten mithalten können199: Die Hand in den Mülleimer fahrend, beschädigen sie für alle sichtbar ihre Identität, um sich eine an den Maximen der Konsumgesellschaft orientierte Identität, die Teilnahme am kollektiven »Kaufrausch« voraussetzt, aufbauen zu können.200 Unter solchen Voraussetzungen muss es geradezu beschämend erscheinen, Hilfe erfragen zu müssen, würde dies doch einer Selbstentwürdigung gleichkommen. Richard Sennett hat darauf hingewiesen, dass sich dort, wo Menschen aus Angst, bedürftig zu erscheinen, nicht um Hilfe bitten, die dysfunktionale Organisation des Ganzen offenbart.201 Doch der Schatten muss noch etwas verlängert werden: Leistung und die Ausführung einer Arbeit führen nicht per se zu Anerkennung. Zunächst einmal muss gesellschaftlich festgelegt werden, welche Funktionen überhaupt zu besetzen sind. Anschließend wird darüber verhandelt, wann genau von einer »guten Ausführung« der Tätigkeit gesprochen werden kann. All diese Entscheidungen finden nicht im sozial luftleeren Raum statt, sondern stützen sich auf herrschende Verhältnisse, die mit der Anerkennung von Arbeit als einer gesellschaftlichen Autorität gleich mitanerkannt werden: »In der Beziehung zu Personen oder Gruppen, die als maßgebend gelten, sind die Anerkennungen dieser Personen und Gruppen kritische Zeichen der Bewährung. In solcher Abhängigkeit entsteht, was wir im strengen Sinne Autorität nennen können. Die Autoritätsbeziehung beruht auf einem zweifachen Anerkennungsprozeß: Auf der Anerkennung der Überlegenheit anderer als den Maßsetzenden, Maßgebenden und auf dem Streben, von diesen Maßgebenden selbst anerkannt zu werden, Zeichen der Bewährung

199 Es stellt sich meiner Ansicht nach nicht die Frage, ob Bratwurst, Brötchen, Zigaretten oder Handys lebensnotwendig sind, sondern inwieweit diese Dinge Einzug in den Alltag gefunden haben! Diese Alltäglichkeiten mögen vor dem Hintergrund, dass man kein Geld hat, ein Luxus sein, gleichzeitig aber wird suggeriert, sie gehörten zur Grundausstattung eines jeden Menschen der westlichen Welt. 200 Bauman, Flüchtige Moderne, S. 101. 201 Sennett, Der flexible Mensch, S. 148.

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zu erhalten. In der autoritativen Bindung wird die Sicherheit der sozialen Orientierung wie die Sicherheit des Selbstwertgefühls gewonnen oder verloren.«202

Für die Sammler, die nicht nur in der Öffentlichkeit auftauchen, sondern sich vor allem in den potenziellen Dienst eines jeden stellen, der sich in der Öffentlichkeit befindet, wird damit prinzipiell jedes Zeichen, jede kleine Geste zum Symbol für Anerkennung oder Missachtung. Sich auf die Arbeit zu berufen, erscheint dabei als ein so zuverlässiger Garant für Anerkennung, dass die autoritäre Selbstbindung, die an Selbstausbeutung grenzt, in den Hintergrund rückt. Indem die Sammler davon ausgehen, dass zur Schau gestellte Leistungsfähigkeit und der Ausweis einer positiven Arbeitseinstellung grundsätzlich zu Anerkennung führen muss, verkennen sie nicht zuletzt den Ansehensverlust einfacher Arbeit.203 Unter den heute herrschenden wirtschaftlichen Bedingungen wird niemand mehr aufgrund seiner starken Arme gewürdigt. Die Ergebnisse legen es nahe, das Pfandsammeln als einen Kampf um Anerkennung zu interpretieren, der sich als die öffentliche Zurschaustellung von Leistungsfähigkeit ausdrückt. Dies lässt die Frage aufkommen, inwieweit diese Tätigkeit geeignet ist, eine durch die Solidargemeinschaft abgesicherte Form der Selbstschätzung aufzubauen. Wie die Anerkennungsverhältnisse zwischen den Sammlern und der Öffentlichkeit ausgestaltet sind, soll im Folgenden dargestellt werden.

Gewaltsame Worte Dass Menschen nicht nur in physischer, sondern ebenso in moralischer oder psychischer Hinsicht verletzbar sind, liegt an ihrer »Doppelkörperlichkeit«,204 an dem Umstand, als Mensch einen physischen Leib und einen symbolisch konstituierten Körper zu besitzen. Letzterer 202 Popitz, Macht, S. 29. 203 Voswinkel, »Reziprozität und Anerkennung«, S. 252. 204 Krämer, Sybille, »Gewalt der Sprache – Sprache der Gewalt«, Landeskommission Berlin gegen Gewalt www.bmfsfj.de/RedaktionBMFSFJ/Broschuerenstelle/ Pdf-Anlagen/Gewalt-der-Sprache-Sprache-der-Gewalt,property=pdf,bereich= bmfsfj,sprache=de,rwb=true.pdf [20. 03. 2013], S. 5.

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drückt sich am deutlichsten im Eigennamen aus. Das Perfide der verletzenden Worte im Gegensatz zur physischen Gewalt, die unmittelbar zurechenbar ist, scheint der Umstand zu sein, dass sprachliche Gewalt leicht der Deutung des Opfers zugerechnet werden kann:205 So kann dem Gegenüber Empfindlichkeit vorgeworfen werden, wenn das nicht so Gemeinte allzu ernst genommen wird. Der Gewalttäter kann sich dadurch aus der Affäre ziehen, während hingegen der Schlag ins Gesicht eindringende Spuren hinterlässt.206 Ich habe das Verhältnis zwischen Pfandsammlern und Gebern bereits unter dem Aspekt des Gebens betrachtet und dabei gezeigt, dass es immer wieder zur freiwilligen Übergabe von Dosen und Flaschen kommt und dass manchmal sogar ein paar Worte gewechselt werden. Sooft dies der Fall sein mag, sooft geschieht wohl auch das Gegenteil. Statt Freundlichkeit, Anerkennung der Tätigkeit, Anteilnahme an (unterstellter) Hilfsbedürftigkeit vonseiten einiger Geber, ist das Verhältnis zwischen anderen Gebern und den Sammlern geprägt durch Feindseligkeit und Missachtung. Jetzt werden die Geber zu denjenigen, die verurteilen und stigmatisieren, sogar teilweise zu physischen Gewalttaten schreiten. Eine Nicht-Sammlerin berichtete einmal, wie sie Jugendliche dabei beobachteten konnte, wie diese einen Flaschensammler mit ihren Dosen bewarfen und gegen die Mülltonne traten, während er Getränkeverpackungen herauszuholen versuchte. Dies mag nur ein kleines Beispiel sein, an dem sich jedoch bereits die Reichweite der Missachtung ablesen lässt. Volksfeste oder Sportveranstaltungen, auf denen Pfandsammler zum Stammpublikum zählen, haben in der Gesellschaft eine wichtige Ventilfunktion. Hier werden soziale Normen und Regeln des Verhaltens, befördert durch den Konsum von Alkohol, für einen Moment in sozial akzeptierter Weise und in räumlicher Abspaltung vom »norma205 Herrmann/Kuch, »Verletzende Worte«, S. 13. 206 Im deutschsprachigen Raum gliedert sich die Soziologie der Gewalt in zwei große Lager (vgl. hierzu: Imbusch, »Gewalt«): Auf der einen Seite gibt es spätestens seit den 1970er Jahren Forschung, die die Ursachen für Gewalt aus der sozialstrukturellen Einbettung der Täter zu erklären versucht und für die Gewalt daher mehr ist als nur physische Gewalt; Autoren dieser Richtung werden »Mainstreamer« genannt. Auf der anderen Seite finden sich die »Innovateure«, mit prominenten Namen wie Heinrich Popitz oder Wolfgang Sofsky, für die gerade die phänomenologische Beschreibung physischer Gewalttaten, das heißt also eine Formanalyse, den eigentlichen Kern der Auseinandersetzung bildet.

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len Leben«, außer Kraft gesetzt. In solchen Arrangements ist es möglich, die sonst durch soziale Kontrolle zurückgehaltenen Emotionen auszuagieren. Gerade verbale Attacken oder Witze über den Chef, über die Ehefrau oder über Randgruppen erfüllen dabei die wichtige Funktion, das gesellschaftliche Gefüge zusammenzuhalten. Lewis A. Coser weist in seiner Studie über den sozialen Konflikt darauf hin, dass im Dritten Reich politische Witze durchaus begrüßt wurden, »da sie harmlose Ventile für Aggressivität boten«.207 Eben mit dieser Art einer Atmosphäre der Ausgelassenheit und der Außeralltäglichkeit sind die Sammler konfrontiert, wenn sie auf potenzielle Geber treffen.208 Die Orte, an denen Flaschen gesammelt werden, sind zum Teil von Unübersichtlichkeit geprägt, da sie in einem von Geräuschen überfluteten, menschlichen Durcheinander versinken, für die der Begriff des Ausnahmezustands zutreffend ist. Diese Atmosphäre trifft nicht nur auf die Innenstädte an einem Freitag- oder Samstagnachmittag zu. Man stelle sich zum Beispiel den Vorplatz eines mittelgroßen Fußballstadions, in dem Bundesligaspiele stattfinden, kurz vor Spielbeginn vor: Von allen Seiten hört man das Klappern von Flaschen, nicht nur von den vielen auf dem Platz anwesenden Flaschensammlern mit ihren Tüten, sondern auch von unzähligen kleinen Grüppchen, die noch ein Bier vor dem Spiel trinken. Die Geräuschkulisse setzt sich aus Stimmen, Gesängen, Polizei- oder Krankenwagensirenen zusammen. Obwohl der Platz bereits mit Menschen gefüllt ist und aus dem Inneren des Stadions die Stimmen Tausender zu hören sind, die immer wieder Gesänge anstimmen, die von den Fans auf dem Vorplatz teilweise übernommen werden, kommen immer noch mehr Menschen auf den Platz geströmt. Auch die Schlange vor dem Eingang reicht bis auf den eigentlichen Vorplatz. Zwischendurch sieht man einen Flaschensammler zwischen den Menschen auftauchen, wie er blitzschnell eine gerade auf den Boden gestellte Bierflasche an sich nimmt. Ein ähnliches Bild zeigt sich nachts vor einer Diskothek in einer ostwestfälischen Stadt: Aus dem Inneren der Diskothek hört man in einer enormen Lautstärke die Musik. Die sich drehenden und aufblinkenden Lichter aus dem Inneren erleuchten den gesamten Platz in wechselnden Farben. Auf dem futuristisch wirkenden Platz stehen viele ein207 Coser, Konflikte, S. 48. 208 Abdou Touré weist auf die Ventil- beziehungsweise Pufferfunktion des RelaisSektors hin (siehe vorne).

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zelne Gruppen von zumeist jungen Menschen zusammen. Einige Personen sind sichtlich angetrunken, singen lauthals oder brüllen. Von der gleich nebenan liegenden Straße dringt zur Musik noch das Geräusch von vorbeifahrenden Autos. Überall auf dem Platz stehen vereinzelt Flaschen herum. Die Gesellschaft ist voll von solchen Enklaven, öffentlichen und halb öffentlichen Veranstaltungen aller Art, in denen Ausnahmezustände herrschen (können) und in denen die sonst geltenden sozialen Verhaltensweisen schnell in Vergessenheit geraten. Jedoch ist es gerade dem Außer-Kraft-Setzen der Regel geschuldet, dass die geltenden Normen umso klarer hervortreten.209 Giorgio Agamben formuliert dies wie folgt: »Die Norm wendet sich auf die Ausnahme an, indem sie sich von ihr abwendet, sich von ihr zurückzieht. Der Ausnahmezustand ist also nicht das der Ordnung vorausgehende Chaos, sondern die Situation, die aus ihrer Aufhebung hervorgeht. In diesem Sinne ist die Ausnahme wirklich, der Etymologie gemäß, herausgenommen (…) und nicht einfach nur ausgeschlossen.«210

Die Welt des Samstagabends stellt eine Schwelle dar, wo Recht und Unrecht, zivilisiertes und barbarisches Verhalten für einen Augenblick verschwimmen. Genau hierin liegt, wie auch in der Rut-Geschichte deutlich wurde, das Potenzial für das Ausbrechen von Gewalt gegenüber jenen, die durch ihre Andersartigkeit zugleich ihre Nicht-Zugehörigkeit signalisieren.

Missachtung I: Cyberspace Eine Fundgrube missachtenden Verhaltens gegenüber Pfandsammlern bildet die virtuelle Video-Sharing-Plattform YouTube, auf der Personen eigenständig Videos zur freien Verfügung stellen können. An dieser Stelle mögen nur einige Beispiele präsentiert werden: Das mit einem

209 Dies stellt vielleicht den methodologisch wichtigsten Punkt der von Harold Garfinkel entwickelten Ethnomethodologie dar (vgl. hierzu: Garfinkel, Studies). Gerade die von ihm durchgeführten Krisenexperimente versuchen gezielt, die Normalität sozialer Situation aufzubrechen, um die ihnen zugrunde liegenden Strukturen aufzudecken. 210 Agamben, Homo sacer, S. 27, [Hervorhebung im Original].

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Handy aufgenommene Video »Der gemeine Flaschensammler«211 dokumentiert eine Art Belustigung, die in ihren Spielarten variiert werden kann: Die Kamera ist zu Beginn auf einen jungen Mann gerichtet. Von einer Stimme aus dem Off ist zu hören: »Okay, filmt.« Das Folgende stellt also ein geplantes In-Szene-Setzen dar, und der Akteur muss zunächst auf die Regieanweisung warten, damit alles auf den Punkt genau von der Kamera eingefangen werden kann: »Der gemeine Biersammler an sich steht jeden zweiten Samstag an einem schönen Weg an der Dhünn und sammelt Bierflaschen auf. Klingt komisch? Ist aber so.« Nach der Äußerung dieses Satzes wird die Kamera geschwenkt und auf einen Mann gerichtet, der an der Seite des Gehwegs auf die Gruppe der jungen Leute zuläuft. Sodann kann man eine Hand sehen, die eine Bierflasche in die Richtung des Mannes wirft. Allerdings nicht direkt vor dessen Füße, sondern auf ein neben dem befestigten Weg gelegenes, abfallendes Rasenstück. Der Mann läuft der Flasche im wahrsten Sinne des Wortes hinterher, was von lautem Lachen seitens des Filmenden kommentiert wird. Der Sammler selbst, der sich in einiger Entfernung befindet, winkt der Gruppe mit dem freien Arm zu, während er in der anderen seine Tüte hält.212 Variationen dieses »Spiels«, die man ebenfalls auf YouTube findet, können folgendermaßen aussehen: Man spricht einen Pfandsammler an, indem man ihm seine Getränkeverpackung anbietet und wirft sie, wenn dieser nach ihr greift, weg. Eine durchgeplante Variante ist die Befestigung eines dünnen, nicht sichtbaren Fadens am Flaschenhals, der dazu dient, die Flasche aus sicherer Entfernung und ohne dass der Pfandsammler die Person bemerken würde, im Moment des Zugreifens wegzuziehen. Auf den ersten Blick unangemessen scheint die obige Verwendung des Ausdrucks »der gemeine Biersammler« zu sein: Das Wort »ge211 http://www.youtube.com/watch?v=57ynMHjMFBs [20. 03. 2013]. 212 An dieser Stelle soll nicht weiter auf die Kommentare eingegangen werden, die andere Benutzer bezüglich dieses Videos gepostet haben. Allerdings bietet sich hier ebenfalls ein wahrhaftes Datenparadies für zukünftige Generationen von Sozialforschern an. Zum einen ergibt sich die Möglichkeit der Partizipation an sozialen Situationen, zu denen der Zugang oft schwer zu bekommen ist, und zum anderen liegen die Daten direkt in digitalisierter Form vor. Ein Problem besteht selbstverständlich darin, dass der Forscher auf die Produktion der Daten, wie zum Beispiel Positionierung der Kamera, zusätzliche Feldbeobachtungen, keinen Einfluss nehmen kann. Von daher wird dem Forscher auch weiterhin das Verlassen seines Elfenbeinturms nicht erspart bleiben.

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mein« wird nicht im Sinne von bösartig, sondern in der Bedeutung von »bekannteste Art seiner Spezies« verwendet, wie man dies von der wissenschaftlichen Bezeichnung von Tierarten in der Biologie kennt. Damit wird auf der einen Seite der Flaschensammler kommunikativ als in der Nähe eines Tieres stehend eingeführt und damit entmenschlicht. Auf der anderen Seite stellt sich der Sprecher – wenn auch ironisierend – als eine vermeintlich wissenschaftlich geschulte Autorität dar, die sich ihrem Studienobjekt zuwendet. Diese Deutung, dass der Sammler hier mit einem Tier gleichgesetzt wird, bestätigt sich durch das Werfen der Bierflasche und das von der Gruppe antizipierte Hinterherlaufen. Dieser Akt orientiert sich am klassisch behavioristischen Reiz-Reaktions-Schema, wie man es vom Stöckchenwerfen bei Hunden kennt. Was geschieht durch die kommunikative und gestische Einführung des Sammlers als Tier, und wie kommt es überhaupt zu diesem Vergleich? Zunächst einmal wird dem Sammler der Status als Subjekt aberkannt, denn es handelt sich kommunikativ lediglich um das Exemplar einer Gattung, die den Experten interessiert. Durch die Gleichsetzung mit dem Tier kommt es, da der Sammler ja offensichtlich ein Mensch ist, zur Schändung der Kategorie »Mensch«. Die Sinnumkehrung, zu der es bei einer Schändung kommt – zum Beispiel Entweihung eines heiligen Ortes –, darf die ursprüngliche Bedeutung nicht unkenntlich werden lassen,213 ähnlich wie dies auch bei Witzen der Fall ist. Vor allem aber produziert dieser Vergleich die Differenz von Herrschendem/ Beherrschtem, von Überlegenheit/Unterlegenheit oder vom Herrchen/treuem Hündchen: Allgemein gilt der Mensch als vernunftbegabt, eine Eigenschaft, die dem Tier abgeht und durch ihr Fehlen die Vernunft und Würde des Menschen quasi implizit unter Beweis stellt. Dieser auf die Natur zurückgeführte Unterschied kann argumentativ dahingehend erweitert werden, dass nicht nur die Herrschaftsverhältnisse zwischen Natur und Kultur, sondern auch die sozialen Verhältnisse gewissermaßen als natürliche anzusehen sind. In der »Dialektik der Aufklärung« findet sich eine Passage, die, trotz ihrer zeitlichen Verortung in den 1940er Jahren, in diesem Zusammenhang von Interesse ist:

213 Sofsky, Traktat, S. 204.

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»Die Sorge ums vernunftlose Tier aber ist dem Vernünftigen müßig. Die westliche Zivilisation hat sie den Frauen überlassen. Diese haben keinen selbstständigen Anteil an der Tüchtigkeit, aus welcher diese Zivilisation hervorging. […] Die Frau war kleiner und schwächer, zwischen ihr und dem Mann bestand ein Unterschied, den sie nicht überwinden konnte, ein von Natur gesetzter Unterschied, das Beschämendste, Erniedrigendste, was in der Männergesellschaft möglich ist. Wo Beherrschung der Natur das wahre Ziel ist, bleibt biologische Unterlegenheit das Stigma schlechthin, die von Natur geprägte Schwäche zur Gewalttat herausforderndes Mal.«214

Der Vernünftige ist hier vor allem männlichen Geschlechts, und gerade seiner Überlegenheit ist es zu verdanken, dass er sich um bestimmte Dinge nicht zu kümmern braucht. Diese werden vom »schwachen Geschlecht« übernommen. Mit den Tieren, um die sich gekümmert werden muss, wird nun der Sammler zusammen gesehen. Daher kann auch das Werfen der Flasche als eine Art Zuwendung interpretiert werden, durch die wiederum die herrschende Differenz markiert wird. Wie sich aus der Analyse des Sammelns ergeben hatte, kann diese Tätigkeit allein das Überleben nicht sichern. Im Zivilisationsprozess bringt erst der Schritt hin zur gezielten Bearbeitung der Natur mit Werkzeugen und das organisierte Anlegen von Vorräten die Sicherheit und Unabhängigkeit von den Launen der Natur. Mag auch das Sammeln als die erste Form eines transzendentalen Sparens anzusehen sein, so befindet es sich, zivilisationstheoretisch gewendet, doch auf einer niederen Stufe der gesellschaftlichen Organisationsfähigkeit. Genau deshalb scheint der Sammler dem Tier ähnlicher als dem hoch spezialisierten Fachgelehrten, als der sich der junge Mann selbst präsentiert. Dieser Vergleich fokussiert sich vor allem auf das Pfandsammeln als eine Möglichkeit des Geldverdienstes beziehungsweise der Subsistenzsicherung und greift genau darin zu kurz. Zudem wird der Sammler als jemand präsentiert, der aus eigener Kraft gerade nicht für sich sorgen kann, weshalb er der Zuwendung durch den Überlegenden bedarf. Dass es gerade die Schwäche ist, die als »natürliche« gedeutet wird, die zur Gewalttat gegenüber Schwachen einlädt und die öffentliche Herabsetzung zum Tier mit kollektivem Schmunzeln ermöglicht, dafür liegt hier ein alltagsweltliches Beispiel vor. Jedoch muss festgehalten werden, dass die Inszenierung kommunikativ scheitert, da sich der vermeintliche wissenschaftliche Experte 214 Horkheimer/Adorno, Aufklärung, S. 280.

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durch Inkompetenz ausweist, indem er die unangemessene Bezeichnung »Biersammler« wählt. Die Sammler, dies müsste ihm als Fachmann klar sein, sind eben an dem leeren Objekt, an der bepfandeten Flasche und nicht an ihrem Inhalt interessiert. Verständlich wird dieser Ausdruck durch zwei interpretative Möglichkeiten: Entweder handelt es sich für den jungen Mann bei Pfandsammlern grundsätzlich um alkoholkranke Personen, die durch das Sammeln ihren eigenen Konsum sicherzustellen suchen. In diesem Fall gilt ihr Interesse ebenfalls eher dem Inhalt der Flasche. Oder aber man muss die sprachliche Auffälligkeit (»Biersammler«) als ein Deutungsmuster für den angemessenen Umgang mit einer Flasche ansehen; der selbsternannte Fachmann verbleibt bei der Deutung der Flasche in seinem Relevanzsystem. Der »normale« Umgang mit einer Flasche ist das Konsumieren des Inhalts. Der Sammler aber verdreht gewissermaßen diesen Sinn, weshalb er sich schon durch die spezifische Zuwendung zum Objekt zu einem Außenseiter macht. Der Wert einer Flasche fängt für den Sammler da an, wo er für den anderen aufhört. Deshalb muss diese Tätigkeit eine Deutungskrise, das heißt einen Bruch mit der routinisierten Wahrnehmung, auslösen. Ein mechanisches Verhältnis zu Objekten, eine ungewöhnliche Art und Weise, mit einem Gegenstand umzugehen, macht Menschen zu Figuren, die potenziell als komisch empfunden werden und über die man gewöhnlich lacht, wie Henri Bergson in seinem Essay »Das Lachen« hervorgehoben hat.215 Dieser Befund kann ohne Weiteres auf jede Art des Sammelns übertragen werden, ist es doch zumeist für das tragikomische Verhältnis, für ein übersteigertes Versunkensein in ihre Sammelobjekte oder das Zuschreiben magischer Fähigkeiten, weshalb Sammler belächelt werden.216 Gerade im letzteren Fall von Sammeln werden die Dinge ihrem Verwendungszweck im Allgemeinen enthoben. Das Verhältnis des Pfandsammlers zu den Getränkeverpackungen ist eines, das sich am monetären Wert orientiert – 8, 15, 25 Cent –, und somit eine Kuriosität mit »lächerlichem« Potenzial. Zudem, aber sicherlich nicht weniger wichtig, erscheint die Tätigkeit des Sammelns als Möglichkeit der Subsistenzsicherung vollkommen antiquiert zu sein; die Pfandsammler erscheinen daher wie Figuren aus einer längst vergessenen Zeit.217 215 Bergson, Das Lachen. 216 Münsterberger, Sammeln, S. 39ff. 217 Beachtet werden muss, dass das als komisch empfundene mechanische Verhalten der Pfandsammler zum einen einen Automatismus darstellt, wie man ihn

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Ein anderes YouTube-Video zeigt sich in seinem Titel bereits sehr explizit: »Pfandsammler wird verarscht …«218 Das ebenfalls mit einem Handy gedrehte Video zeigt mehrere Jugendliche in einem Nahverkehrszug, wie sie mit einem Pfandsammler in Kontakt treten, der etwa zwei Meter von ihnen entfernt steht. Das Video beginnt mit dem Fokus auf einen etwa 18- bis 22-jährigen männlichen Jugendlichen, der eine schwarze Kappe, ein weißes T-Shirt und eine Brille trägt. Er ruft jemandem zu »Hallo! Komm her!« – eine Art der Adressierung, die man ohne Weiteres einem Hund zuteilwerden lassen könnte. In diesem Augenblick schwenkt die Kamera, und man sieht einen beleibten Mann in einem karierten Hemd, grüner Weste und einer schwarzen Kappe, der im Gang des Zuges mit einer silbernen Tüte steht. Der Mann berührt etwas, das er unter dem Arm trägt – später kann man sehen, dass es sich dabei um eine Flasche handelt –, lächelt zunächst in die Richtung des Sprechers und schaut dann zu Boden. Irgendjemand ruft »Macht die Welle!«, und in diesem Augenblick setzt jemand im Abteil zu einem immer lauter werdenden Grölen an, wie man es mit der dazugehörigen wellenartigen Handbewegung von Sportveranstaltungen kennt. Das Ende der Welle wird von dem Wurf einer Bierflasche vor die Füße des Mannes begleitet. Dieser stellt die Flasche, die er unter dem Arm trägt, auf den Boden, hebt die Flasche auf, steckt sie in seine Tüte und sagt danach etwas zu der Gruppe Jugendlicher; leider bleibt dies unverständlich. Daraufhin sagt einer der Jugendlichen »Na Gott sei Dank!«, und der junge Mann vom Anfang ruft: »Wir ham noch viel mehr!«, worauf ein weiterer lachend ruft: »Weihnachten!« Im Weiteren gibt es einen Schwenk zu zwei gegenüber sitzenden Jugendlichen, die nach Kleingeld in ihren Geldbörsen suchen, um dann wieder bei dem Jugendlichen vom Anfang an zu gelangen. Das lallende Sprechen lässt vermuten, dass der junge Mann stark alkoholisiert ist. Im Anschluss an seinen Vater-Diskurs sagt der Sprecher, sich an einen an der Tür Sitzenden adressierend: »Mach ma die Tür auf, der Fettsack kricht noch eine«, worauf die anderen Beteiligten laut auflachen. Die Tür wird geöffnet, und die Anwesenden werden vom Sprebei jeder Tätigkeit findet, die aus mehreren Teilen zusammengesetzt ist, und zum anderen dieser Automatismus eine wichtige Funktion bzgl. des Ausschaltens der Außenwelt erfüllt. 218 http://www.youtube.com/watch?v=FMhGqJHFZSE [20. 03. 2013].

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cher dazu aufgefordert, eine Welle zu initiieren. Am Ende der Welle, die von erneutem lautem Grölen begleitet wird, wirft der Sprecher dem Pfandsammler eine Flasche vor die Füße. Wieder lachen alle, die Kamera dagegen ist auf den Pfandsammler gerichtet, der auch diese Flasche aufhebt. Bleibt es in den bisher dargestellten Fällen bei kränkenden Worten oder beleidigenden Vorführakten, so zeigt das folgende Beispiel den schmalen Grat zwischen aggressiv verbalem Verhalten und potenzieller physischer Gewalt. In dem Video »Daniel und der Flaschensammler«219 wird Daniel von einer anderen Person mit einem Handy dabei gefilmt, wie er einem Mann Geld gibt. Der Mann kann als Pfandsammler identifiziert werden, da er mehrere Flaschen in seiner rechten Hand hält. Dieser steht mit ausgestreckter Hand vor Daniel. Da jedoch die Suche nach Kleingeld länger dauert, was sich durch Daniels alkoholisierten Zustand erklären mag, den man an seinem lallenden Sprechen ablesen kann, zieht der Pfandsammler die Hand wieder zurück. Daniel gibt dem Mann schließlich zwei Euro, worauf dieser sich bedankend umdreht und fortgeht. Im Weggehen ruft Daniel dem Mann hinterher: »Hey, das nächste Mal, wenn wir uns sehen und du mir kein’ Betrag sagst, dann geb’ ich dir ’n Klatsch [und dann] fliegste durch die Wand«, worauf der Sammler im Fortgehen entgegnet: »Alles klar, weiß ich Bescheid.« Daniel ruft dem Mann von Weitem zu: »Kauf dir was Schönes zu Essen mit dem Geld! Penner, hey«, worauf der Filmende hinzufügt: »Alter Hurenbock.« Internetplattformen wie YouTube, Dailymotion oder Vimeo, auf denen Nutzer die von ihnen eingestellten Videos anderen Nutzern zur Verfügung stellen, können als virtuelle Räume (cyberspace) aufgefasst werden, in denen man sich für eine unbestimmte Öffentlichkeit, ein Publikum, eine Identität konstruieren kann. Die Erfindung eines Spitznamens oder Nutzerprofilnamens gibt einen Hinweis darauf, dass diese Möglichkeiten verwendet werden, gezielt und aktiv ein Bild zu entwerfen, das nicht notwendigerweise mit dem alltagsweltlichen Selbstbild zusammenzufallen braucht. Viel eher bietet der virtuelle Raum die Gelegenheit, ein Bild zu entwerfen, das dem entspricht, wie man gerne gesehen werden möchte. Das Internet bietet sich an, eine unendliche Anzahl von potenziellen anderen mit Informationen über

219 http://www.youtube.com/watch?v=woqBJXT4EZw [20. 03. 2013].

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sich zu versorgen. Mit dem Schritt in die Öffentlichkeit, also einem Sichzeigen, nimmt der Nutzer eine öffentliche Rolle ein und lässt damit gleichzeitig Öffentlichkeit entstehen. Er stellt sein produziertes Selbstbild zur Verfügung und sich selbst damit den möglichen Bewertungen durch ein Publikum. Er heftet die Anerkennung seiner Persönlichkeit an das, was er anzubieten hat: »Einerseits ist die Anerkennung, die er [derjenige, der eine öffentliche Rolle bekleidet, S.J.M.] erstreben und erreichen kann, noch enger, noch empfindlicher (…) auf seine Persönlichkeit bezogen, seine besondere Ausstrahlung, die Eigenart seiner Rede, die Faszination seines Mutes. Sein Selbstwertgefühl wird daher auch besonders prekär von akklamierender Bestätigung abhängen. Andererseits ist das Publikum als Autorität eine vage Größe. Die Menschen, deren Anerkennung der öffentliche Rollenspieler sucht, sind für ihn häufig nicht mehr als das Substrat kollektiver Stimmungen.«220

Dies ändert sich selbstverständlich in Zeiten des Internets, in denen die Selbstdarstellung der Nutzer fortlaufend von anderen Nutzern kommentiert werden kann. Zunächst muss jedoch unterstellt werden, dass der Informationsbereitsteller davon ausgeht, mit seiner Darstellung auf einen Deutungskonsens zu treffen; der Umstand, dass in den meisten Videos immer mehrere Personen auftauchen, legt nahe, dass bereits innerhalb dieses sozialen Kreises Einigkeit über die Angemessenheit des dargestellten Umgangs mit Pfandsammlern herrscht. Wenn das Video nicht als bewusste Provokation dienen soll, so wird im Akt des Hochladens bereits ein geteiltes Deutungsmuster unterstellt. Weil aber zur gleichen Zeit die User anonym bleiben, können sie eine negative Kommentierung ihres Selbstbildes durch andere auf Distanz bringen. Das Opfer und der Täter befinden sich nicht zur gleichen Zeit am gleichen Ort, sodass der Täter nicht unmittelbar für seine Täterschaft zur Rechenschaft gezogen werden kann. Dass gerade das In-Szene-Setzen von Gewalt gewählt wird, um ein Selbstbild zu produzieren, mag mit der Anziehungskraft von Gewaltakten zu tun haben: »Wo immer Gewalt geschieht, ist der Zuschauer nicht weit.«221 Der Gewalttäter kann quasi sein Publikum bereits vor dem Schlag ins Gesicht voraussetzen. Diese Demonstration 220 Popitz, Macht, S. 148. 221 Sofsky, Traktat, S. 103.

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der Macht, das Eindringen in den (physischen oder psychischen) Körper des anderen, beeindruckt und lässt zugleich Erleichterung bei jenen entstehen, die nicht selbst das Opfer sind. Mit jedem Klick auf das jeweilige Video kommt es zu einem Zusammenschluss mehrerer, die den gewaltsamen Umgang mit einem oder wenigen begutachten, und so entsteht eine hochgradig demokratische Gesellschaft auf Zeit, denn zuschauen kann jeder, ungeachtet seiner sozialen Stellung.222 Die Sammler gehören nicht in diesen »Kreis von Gleichen« hinein, obwohl sie für seine Entstehung unabdingbar sind. Die ihm zugewiesene Position des Randständigen stellt ihn als eine missbilligte Person dar, was zugleich die Person der Zuschauer aufwertet. Indem die Sammler in solchen Akten der Lächerlichkeit preisgegeben werden, gibt man ihnen zu verstehen, dass sie sowohl in ihrer Tätigkeit als auch in ihrer Persönlichkeit nicht ernst genommen werden, dass sie aus dem Kreis derjenigen, die Anerkennung beanspruchen können, herausfallen.223 An dieser Stelle mag vielleicht der Hinweis genügen, dass die Produktion eines positiven Selbstbildes, welches über die Abwertung eines anderen geschieht, auf eine stark ausgeprägte Ich-Schwäche hinweist. Gerade im Internet wird das Opfer vorgeführt, ohne dass es sich zur Wehr setzten könnte. Die technische Potenzierung dieses Akts der Missachtung, die die ständige Wiederholung möglich macht, lässt eine nicht stillzustellende Entwürdigung entstehen.

Missachtung II: Alltägliche Beleidigungen Mögen diese filmisch umgesetzten Protokolle des realen Lebens vielleicht als Ausnahme erscheinen, so gehören sie doch zur Wirklichkeit der Pfandsammler. Eine Aussage von Thomas macht dies deutlich: T: Ne, also die meisten sind nett. Die meisten. Neunundneunzig Prozent. SJM: Und was machen die einen, was macht das eine Prozent? T: Ja, pöbeln ma’n bisschen rum, »Du Penner« oder so, ne. Aber, wie gesagt, da dreh ich mich um.

Dieter etwa berichtet darüber, dass er angepöbelt und »als asozial, als Penner, als Schmarotzer« beschimpft wird. Das Wort »Penner« wird häufig zur Bezeichnung von Obdachlosen verwendet und verweist in 222 Ebenda, S. 112. 223 Todorov, Zusammenleben, S. 101.

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pejorativer Art und Weise auf das Schlafen in der Öffentlichkeit.224 Schlafen gehört unzweifelhaft zu den privaten und damit zu den menschlichen Tätigkeiten, die in unserem Kulturkreis grundsätzlich vor den Augen der anderen versteckt stattfinden. Die physische Nähe zu anderen im urbanen Raum, die nach Georg Simmel nur durch eine radikale soziale Distanz ausgehalten werden zu kann225 – einer Art überlebenswichtiger Panzerung der städtischen Individuen –, wird heute mehr und mehr aufgelöst. Die moderne Stadt, dafür sind die Obdachlosen nur ein Beispiel, ist ein mit Privatheitsfetzen durchsetzter Raum, in dem die Differenz von privat und öffentlich zu verschwimmen droht. In den öffentlichen Verkehrsmitteln westlicher Großstädte, die Simmel zu seiner Zeit als neuartige Beispiele für die angebrochene Moderne gedient haben mögen, treffen wir auf Menschen, die ihre Frisuren umständlich zurechtrücken, ungestört und durch Musik abgeschottet von der Außenwelt. Wieder andere beteiligen die Umherstehenden mithilfe der neuen Technologie an ihrer aufgedrehten Musik in der Bahn oder versuchen selten genug, ihre privaten Telefongespräche möglichst unbemerkt abzuwickeln. Es scheint, im genauen Gegenteil zu Simmel, nicht mehr darum zu gehen, seine Privatheit in der Öffentlichkeit für sich zu behalten, sondern viel eher so viel als möglich darüber zu berichten und sich in Szene zu setzen. Allerdings ist hierzu, wie das Beispiel der Pfandsammler zeigt, nicht jeder in gleicher Weise berechtigt. Viel eher kann es als ein Indikator für soziale Ungleichheit herangezogen werden, welche Privatheit öffentlich ausgehalten werden kann, ohne auf Widerspruch zu stoßen, und in welchen Situationen sich die Menschen einen Kommentar erlauben. Da Ablehnung des unüberhörbaren Ausdrucks bedarf, also ein öffentliches Neinsagen erfordert,226 ist es ein Leichtes, eklatante Ab224 Interessant mag in diesem Zusammenhang sein, dass das 2007 erschienene Online-Spiel pennergame, bei dem es darum geht, einen Obdachlosen zum Bettler-Monopolisten zu machen, das Sammeln von Pfandflaschen als virtuelle Möglichkeit des Gelderwerbs verwendet. In der öffentlichen Wahrnehmung scheinen Obdachloser und Pfandsammler Synonyme zu sein. Die Seite pfandgeben.de schlägt, indem die Bedürftigkeit der Sammler in den Vordergrund gestellt wird, in die gleiche Kerbe, bietet sie doch eine postmoderne Form des Almosenspendens an. 225 Simmel, »Geistesleben«. 226 Sofsky, Traktat, S. 116; Heinrich, Nein.

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weichungen von der Normalität – wie dies oberflächlich betrachtet zum Beispiel auf Obdachlosigkeit zutrifft – in stigmatisierender Art zurückzuweisen. Allgemein kann ein Gefühl des Unbehagens konstatiert werden, wenn es zur ungewollten Teilnahme am Privatleben von Fremden kommt.227 Allen voran zwingt persönliches Elend eines anderen zur Stellungnahme. Eine solche Szene der öffentlichen Darstellung von Intimität, die als erbärmlich oder im schlimmsten Fall als ekelerregend und widerlich empfunden wird, hat Patrick Süskind in seiner Novelle »Die Taube« dargestellt. Die Hauptfigur Jonathan Noel beobachtet einen Clochard – was eine feinere Art ist, nicht von einem Penner zu sprechen –, der zwischen parkenden Autos in Paris seine Notdurft verrichtet. War der Clochard und seine »provozierend zur Schau gestellte Aura der Freiheit«,228 das Strukturmerkmal einer romantisierten Vorstellung des freiheitlichen Stadtstreichers, Noel bisher ein Dorn im Auge gewesen, so wandelte der Anblick der heruntergelassenen Hose und des geschundenen Gesäßes diese Einstellung augenblicklich. »Was gab es Elenderes, als seinen Hintern öffentlich zu entblößen und auf die Straße scheißen zu müssen? Was gab es Erniedrigendes als diese herabgelassene Hose, diese hingekauerte Haltung, diese erzwungene, häßliche Nacktheit? Was Hilfloseres und Demütigenderes als den Zwang, das peinliche Geschäft vor den Augen der Welt zu verrichten? (…) In der Stadt, da half nichts anderes zur Distanzierung der Menschen als ein Verschlag mit gutem Schloß und Riegel. Wer ihn nicht besaß, diesen sicheren Hort für die Notdurft, der war der erbärmlichste und bedauernswerteste aller Menschen, Freiheit hin oder her.«229

Der Anblick des Clochards in einer solchen Haltung kann nicht unkommentiert bleiben, mag es sich dabei auch um einen inneren Dialog der Romanfigur handeln. Diese Krise, die durch die negierte Möglichkeit des Nicht-Kommentars beim Betrachter ausgelöst wird, mag durch die damit verbundene Hilflosigkeit u.a. aggressive Reaktionen 227 Helmuth Plessner sieht die Wurzeln der Lächerlichkeit in einer Überbetonung des Wunsches, als ganze Person angesehen beziehungsweise -erkannt zu werden, was dann zu einem völligen Fehlen von jeglicher Distanz führen kann (Plessner, Gemeinschaft, S. 58ff.). 228 Süskind, Die Taube, S. 53. 229 Ebenda, S. 56.

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hervorrufen. Das Problem für Individuen in einer Überflussgesellschaft scheint das Abhandenkommen von Verhaltensroutinen gegenüber sichtbarem Mitleid zu sein. Der Begriff »Schmarotzer« wird zur Bezeichnung desjenigen verwendet, der, wie ein Parasit in einem lebendigen Organismus, von diesem profitiert, ohne für ihn von Nutzen zu sein, das heißt keine eigene Leistung erbringt.230 Als Sozialschmarotzer werden zumeist die »unechten Arbeitslosen«231 bezeichnet, die entweder nicht arbeiten wollen, nicht arbeiten können, weil ihre Qualifikation nicht gebraucht wird oder sie im schlimmsten Fall nicht einmal genügend qualifiziert sind, oder jene, die eigentlich nicht arbeiten dürften, so zum Beispiel Ausländer. Die Letzteren machen den »richtigen Arbeitslosen« durch ihre Einbindung in den Arbeitsmarkt die Arbeitsplätze streitig. Die Bezeichnung als Schmarotzer verweist auf das gesellschaftlich vorherrschende Leistungsprinzip, dem die Erwerbsunfähigen sich nicht unterwerfen und es sich stattdessen in der »sozialen Hängematte«232 gemütlich machten. Die Faulheit der Arbeitslosen ist in der öffentlichen Debatte, gleich wie hoch die Arbeitslosigkeit ist, ein stabil wieder-

230 Ich verdanke Léo Coutellec den Hinweis auf das aus der Biologie stammende Konzept des Kommensalismus von Pierre-Joseph van Beneden (Coutellec, Commensalisme en biologie): Hiermit wird das Zusammenleben zweier fremdartiger Organismen bezeichnet, in der der Kommensale von Abfallstoffen oder dem Überschuss an Nahrung des Wirtes profitiert, ohne diesem dabei lebensnotwendige Substanzen zu entziehen. Typisches Beispiel sind »Aasfresser«, ein Ausdruck, der zum Beispiel für Müllsammler auf den Philippinen verwendet wird (Vogt/Schnaidt, »Leben vom Müll«). Interessanterweise stellt die Existenz solcher Schmarotzer für die Natur kein Problem dar. Wo allerdings der Wert der Person an Leistung abzulesen versucht wird, wo immer und überall Win-winSituationen gesucht werden, kann sich nur schlecht eine Seite vorgestellt werden, die nicht bezahlt. 231 Uske, »Sozialschmarotzer«, S. 173. 232 Der sehr pointierte Hinweise von Hans Uske (»Sozialschmarotzer«, S. 177 [FN 7]) weist auf die Unangemessenheit des Bildes des sozialen Netzes hin, in dem sich gut überwintern ließe. Zum einen sei die Verwendung weit entfernt vom ursprünglichen »Auffangnetz«, und zum anderen würde man im Netz wohl eher erfrieren als überwintern. Überhaupt sind solche Art von Vorwürfen zum Teil so weit von der realen Lebenssituation der Menschen entfernt, dass es schwer fällt zu glauben, die seit Jahrzehnten betriebene sozialwissenschaftliche Aufklärungsarbeit, u.a. durch Pioniere wie Marie Jahoda, habe bereits Früchte getragen.

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kehrendes Argumentationsmuster.233 Roland Girtler schreibt mit Blick auf gesellschaftlich Ausgegrenzte, die keiner anerkannten Erwerbsarbeit nachgehen, dass diese eine »potentielle Bedrohung dar[stellen], denn sie widersprechen in ihrem Handeln und ihren verbalen Äußerungen eklatant dem Leistungsprinzip, das in unserer Gesellschaft als selbstverständlich höchstes und bestimmendes Prinzip angesehen wird.«234 All diese Bezeichnungen irritieren in Bezug auf die Pfandsammler, denn mit ihrer Tätigkeit widersprechen sie dem Leistungsprinzip weder in Wort noch Tat. Nicht nur wird diese Art der Tätigkeit von ihnen gewählt, weil sie Arbeit strukturell so ähnlich ist. Gerade das Sammeln zeichnet sich durch ein fast schon primitives Verständnis von Leistung aus, in dem die Rückmeldung über die eigene Fähigkeit quasi stückweise erfolgt und am Ende jedes Arbeitstages abgelesen werden kann. Vor dem Hintergrund des Nicht-arbeiten-Wollens scheint diese Bezeichnung also wenig zutreffend. Was sich hier zeigt, ist ein Anerkennungsproblem, welches sich aus der Entwertung der Tätigkeit ergibt. Das Sammeln von Pfandflaschen wird vor dem Hintergrund der Strukturen formal geregelter Erwerbsarbeit bewertet und stellt genau in diesem Vergleich eine Missachtung dar.235 Da sich diese Missachtung im Bereich der beleidigenden Rede als eine Subsumtion unter das von der Allgemeinheit Abweichende abspielt, ist ihr nur schwer mit sprachlichen Mitteln zu begegnen. Weil vermutlich auch Flaschensammler ähnlich negative Einstellungen gegenüber »Schmarotzern« oder »Pennern« vertreten, bleibt nur der Rückzug, wie am Ende der Äußerung von Thomas deutlich wird: »da dreh ich mich um«. Dies kommt einer Verurteilung zur Sprachlosigkeit gleich. Wer mit Sprache bekämpft wird, noch dazu in flüchtig nicht-objektivierter, alltagssprachlicher Rede, dem wird gleichsam das Wort entzogen und damit die Möglichkeit, auf eine kommunikative Gabe etwas in ausgleichender Form zurückzugeben, was ebenso beleidigend ist.236

233 Vgl. hierzu: Oschmiansky, »Faule Arbeitslose«. 234 Girtler, Vagabunden, S. 110; vgl. auch: Neckel/Dröge, »Verdienste und ihr Preis«. 235 Hofbauer/Pastner, »Diskreter Charme«, S. 147. 236 Bourdieu, »Die Ökonomie der symbolischen Güter«, S. 187ff.

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Was sich in Bezeichnungen wie »Penner« oder »Schmarotzer« ausdrückt, ist die »epistemische Macht«237 der Sprache. Sie gibt uns vor, zwingt gerade dazu, die Welt in ihren Begriffen wahrzunehmen. Die sprachliche Gleichsetzung der Pfandsammler mit Obdachlosen oder arbeitsunwilligen Arbeitslosen, die zugleich eine Nicht-Anerkennung der Tätigkeit im Sinne einer Erwerbs- und Lebenspraxis darstellt, verdeutlicht das Fehlen geeigneter Kategorien für das wahrgenommene Phänomen – Pfandsammler passen nicht in die gängigen Kategorien. Ihnen wird daher fast notwendigerweise Gewalt angetan, weil sie der bestehenden Ordnung mit ihren Kategorien Gewalt antun.238 Weil Beschimpfungen zudem in ihrer Wirkung davon abhängig sind, dass die demütigenden Repräsentationen von anderen geteilt werden, erscheint es angemessen anzunehmen, die Gewalttäter erwarteten, auch andere sähen in den Pfandsammlern »Penner« oder »Schmarotzer«. Zugleich müssen diese Deutungen ebenso von denjenigen geteilt werden, die durch die Äußerungen beleidigt werden sollen. Das heißt, auch für die Pfandsammler müsste die Kategorie »Penner« oder »Schmarotzer« eine verurteilenswerte sein. So weist Johannes Moser darauf hin, dass allgemeine Vorurteile gegen Arbeitslose, wie zum Beispiel Faulheit oder fehlender Anpassungswille, von dieser Gruppe ebenfalls als negativ angesehen werden.239

Missachtung III: Angriff als Verteidigung Der beschriebene soziale Mechanismus der Abwertung anderer zur Aufwertung des Selbstbildes findet sich ebenso bei den Sammlern (Saubermänner vs. Müllwühler). Es kommt allerdings ebenso vor, dass sich die Pfandsammler auch abwertend über die Geber äußern, anstatt es ihnen gegenüber bei einer Sprachlosigkeit zu belassen. So zeigt sich zum Beispiel in der folgenden Aussage aus dem Gespräch mit Thomas, dass seine Spezialisierung auf Jugendliche nicht in erster Linie mit Erfahrung, sondern mit einer allgemeinen Einstellung der jüngeren Generation gegenüber zu tun hat:

237 Bergmann, »Macht«, S. 125. 238 Bauman, Moderne und Ambivalenz, S. 92ff. 239 Moser, »Sozialschmarotzer«, S. 331ff.

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Weil die Jugendlichen, die sind ja alle so faul heutzutage, die schmeißen doch die Flaschen alle weg. Weil, was weiß ich, die werden’s von zu Hause, nich so erzogen. Ja, wenn die nicht auf’s Geld achten müssen, ne.

Diese Bemerkung lässt unberücksichtigt, dass es in den Innenstädten oder am Fußballstadion Menschen jeglicher Altersgruppen sind, die ihre Pfandflaschen wegwerfen. Aber natürlich bestätigt er diese Sichtweise durch seine Handlungen letztlich immer wieder, da er an den Orten, »wo viele Jugendliche rumhängen«, immer wieder Flaschen findet und sie daher seiner Ansicht nach auch zu Recht als »faul« bezeichnen kann. Zugleich ist diese Aussage ein Generalangriff gegen eine finanziell besser gestellte Bevölkerungsschicht, die eine bestimmte Einstellung dem Geld gegenüber vertritt, zudem eine fehlende Leistungsbereitschaft zeigt. Die Jugendlichen sind von ihren Eltern schlecht erzogen worden, Letztere sind nicht in der Lage die gesellschaftlich notwendigen Normen und Werte, wie zum Beispiel die Leistungsethik, zu vermitteln. Dieter zum Beispiel sagt: »Also, also jetzt, wenn man das richtig sieht, ne, ähm, is Wohlstandsgesellschaft.« Die Sammler verurteilen also ihrerseits die Geber, indem sie das Phänomen des Pfandflaschen-in-den-Mülleimer-Werfens als einen Indikator für vorherrschenden Wohlstand interpretieren. Dies mag als Strategie dienen, die Missachtung und das Stigma der Tätigkeit zu bewältigen und ein positives Selbstbild aufrechterhalten zu können. »Wir«, die Sammler, sind leistungsstark und schrecken vor keiner Drecksarbeit zurück. »Die da« sind faul, weil sie ihre Flaschen einfach liegen lassen. »Wir«, die Sammler, sind sparsam beziehungsweise wissen, dass man das Geld ehren muss. »Die da« sind verschwenderisch und werfen mit ihrem Geld nur so um sich.240 Für die Flaschensammler ist es nicht nur die eine Flasche, die weggeworfen wird, sondern an die Stelle der Flasche wird das gesamte Flaschengeld gesetzt, welches sie zusammentragen. Im übertragenen Sinne wird der einzelne Jugendliche durch das Wegwerfen einer einzelnen Dose oder Flasche für das gesamte Pfandgeld verantwortlich gemacht und der Verschwendung

240 Eine ältere Flaschensammlerin brachte einmal eine genau entgegengesetzte Deutung: Ihrer Ansicht nach hätten gerade ärmere Menschen zwar immer Geld, um sich etwas zu trinken zu kaufen, die Flaschen würden sie aber wegwerfen. Sie selbst war Rentnerin und sagte, dass sie das Geld eigentlich nicht brauchen würde.

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bezichtigt. Nicht gesehen wird, dass der Verlust pro Person minimal ist. Die Sammler jedoch denken in den Dimensionen von Massen.241 Durch diese Art der Deutung konstruieren sie ihre Wir/Die-daDifferenz und definieren in dieser antagonistischen Entgegensetzung die Merkmale der eigenen Identität sowie die der anderen.242 Im Allgemeinen dienen diese Etablierten-Außenseiter-Konstruktionen dem Aufbau einer jeweils positiven Gruppenidentität. Weil aber ihre Tätigkeit die Sammler zur Vereinzelung zwingt, gestaltet sich dies problematisch. Um als Außenseiter die Etabliertengruppe abwerten zu können, bedürfte es eines starken Zusammenhalts innerhalb der Außenseitergruppe, der allerdings bei den Sammlern nicht vorherrscht. Noch dazu nötigt die Struktur der Tätigkeit die Sammler zur permanenten Übertretung der gesellschaftlichen Norm von Reinlichkeit, indem sie mit Müll in Kontakt kommen. Sie verwenden, für die Augen aller öffentlich sichtbar, Mülleimer in einer abweichenden Art und Weise, wohingegen die eher abstrakten Sinngehalte solcher Normen, wie Sparsamkeit oder Leistungsbereitschaft, nicht unmittelbar erkennbar sind, obwohl sie ohne Zweifel mit sozialer Zustimmung rechnen können. Vor diesem Hintergrund erklärt sich auch ein mit den Pfandsammlern zusammenhängendes Phänomen, das gerade in der medialen Darstellung immer wieder aufgegriffen wird. In der Öffentlichkeit, so wird berichtet, käme es immer wieder zu Handgreiflichkeiten zwischen den Sammlern selbst, sogar von Revierkämpfen ist die Rede. Den folgenden Ausführungen muss vorausgeschickt werden, dass ich selbst nie Zeuge solcher Auseinandersetzungen geworden bin, mir über diese Art von Kämpfen auch von den Sammlern nie berichtet wurde. Die Mythen von Handgreiflichkeiten und Gefechten unter Flaschensammlern, von Verteidigungen einzelner Mülleimer und Gewalt, wenn andere das Revier »beschmutzen«, sind ein immer wiederkehrendes Bild in der medialen Darstellung von Pfandsammlern.243 241 Genauso erkläre ich mir meine anfängliche Skepsis bezüglich der Frage, ob sich das Flaschensammeln lohnen kann, wenn man 8, 15 oder 25 Cent aufhebt. Diese Centbeträge erschienen mir so gering, dass ich nicht einsehen konnte, dass es sich für eine bestimmte soziale Lage und ab einer gewissen Menge durchaus (finanziell) »lohnen« kann. 242 Bauman, Soziologie, S. 56. 243 Vgl. hierzu Berichte in den Medien: Sussebach, Henning, »Hoffmanns Blick auf die Welt«, Die ZEIT, 23. 11. 2006; Kammholz, Karsten, »Das Geld, das aus dem Mülleimer kommt«, Berliner Morgenpost, 22. 08. 2006.

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Bezüglich der Veranstaltungssammler wurde bereits erwähnt, dass sie sich ihre Räume »abstecken«. Diese Räume muss man sich fließend vorstellen, da immer wieder umherlaufende Sammler in die Räume derjenigen eindringen, die an einem festen Platz stehen. Die stationierten Sammler bewegen sich ebenfalls in einem Radius, der wiederum in den Raum eines anderen hineinreicht. Diese Art von Überschneidung konnte bei Veranstaltungen immer wieder beobachtet werden, ohne dass es dabei zu Konflikten unter den Sammlern gekommen wäre. Man muss es sich als eine physische und logistische Unmöglichkeit vor Augen halten, einen Raum alleine kontrollieren zu können; dies gilt für abzulaufende Routen ebenso wie für Veranstaltungsorte. Selbst wenn es fest abgesteckte Gebiete gibt: Ein Flaschensammler allein kann die Überwachung beziehungsweise Verteidigung dieses Gebietes und das gleichzeitige (Ein-)Sammeln nicht bewerkstelligen. Genauso wie bei den »Stellen«, den Fixpunkten auf den selbst entwickelten Routen, auf die man sich beschränkt, ist die Eingrenzung auf einen bestimmten Raum bei Veranstaltungen die Entscheidung für eine bestimmte Strategie.244 Der obdachlose Stefan am Bahnhof Zoo in Berlin berichtet zum Beispiel: Wegnehmen tut der eine dem anderen eigentlich nichts (also Pfandgeld), zumal (es im Müll liegt), braucht man’s nur rausnehmen und man spart sich somit ehrlich gesagt auch, kriminell zu werden.

Und auch Thomas gibt an: SJM: Und da kommt man sich nicht in die Quere? Also ich meine, dass man da, dass es da Streitereien oder so gibt? T: Also ich hab noch mit, mit, mit, von den Flaschensammlern, wer zuerst da is, sammelt die ein. Fertig.

Damit ist klargestellt, dass es selbstverständlich eine starke Konkurrenz unter den Flaschensammlern gibt, was sich aber alleine daraus erklärt, dass alle das Gleiche wollen: das Pfandgeld. Das Bild jedoch, welches in der Öffentlichkeit von der Konkurrenz unter Flaschen-

244 Revierkämpfe oder Gewalt unter Pfandsammlern sollen hier nicht per se ausgeschlossen werden. Wenn allerdings Gruppen bestimmte Ortsteile für sich beanspruchen und mit Mitteln physischer Gewalt andere Sammler an ihrer Tätigkeit hindern, dann handelt es sich nach meinem Dafürhalten um organisierte Kriminalität und nicht um Pfandsammler im hier betrachteten Sinne.

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sammlern gezeichnet wird, konnte in keinem der Gespräche bestätigt werden.245 Wenn es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Flaschensammlern kommt, dann scheint es sich eher so zu verhalten, als wollten einzelne Sammler vor den Augen der Öffentlichkeit einen Beweis ihrer Kraft erbringen. An dieser Stelle geht es nicht um die Verteidigung eines Reviers oder der 25 Cent, die die Dose wert ist, sondern um den Blick der Außenstehenden. Was in diesem Augenblick herzustellen versucht wird, ist ein positives Selbstbild, der Wunsch, in der Öffentlichkeit als der Stärkere angesehen zu werden, was vor dem Hintergrund einer Leistungsethik der »starken Arme« durchaus angemessen erscheint. Der Mythos der Gewalttätigkeit unter Flaschensammlern mag aber vor allem darauf aufbauen, dass es zum Teil sehr offensive Vorgehensweisen gibt, die Pfandgebinde an sich zu bringen. Dies kann so weit gehen, dass die Flaschen von den Sammlern quasi eingefordert werden beziehungsweise so getan wird, als gehörten ihnen leere Flaschen per definitionem. Dieses Verhalten in der Öffentlichkeit und ein Konflikt, der zwischen Sammlern in der Öffentlichkeit ausgetragen wird, mag voreilig zu Verallgemeinerungen führen. Die unterschiedlichen Strategien, die angewendet werden, um an die Pfandgebinde zu kommen, bewegen sich auf einem Kontinuum zwischen offensiv auf der einen und defensiv auf der anderen Seite. Gerade offensives oder zum Teil auch aggressives Verhalten von Pfandsammlern wird von den übrigen Sammlern jedoch kritisch gesehen und nicht gebilligt. So berichtet eine Frau am Stadion über einen Flaschensammler, er sei den Leuten gegenüber sehr aggressiv und habe auch schon einmal Ärger mit dem Wachpersonal bekommen, da sich einige Fans belästigt gefühlt hätten. Rudi sagt sehr allgemein: R: Wissen se, es gibt doch nichts Schlimmeres, es gibt doch nichts Schlimmeres, wenn sagen wa ma, Leute, die hier in Ruhe’ n Bierchen vorm Spiel trinken wollen, ne, wenn die das Gefühl haben, dass se belästigt werden. 245 Man denke an ähnliche Alltagsmythen über ausländische Bettlerinnen, die gar nicht bedürftig sind, sondern jeden Abend von ihrem Mann in einem Mercedes abgeholt werden. Auch das mag vorkommen. Doch lässt die beharrliche Gleichheit solcher Geschichten auch anderes vermuten: Entweder es drückt sich die Beruhigung des Gewissen aus, weil man nicht gegeben hat (Nietzsche, Morgenröte, S. 160), oder vielleicht auch mehr oder weniger latente Xenophobie.

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SJM: Ja ja, das is klar. R: Nich, ne, das is doch, das is doch das Tragische daran, ne. Ich halte da nichts von.

Nach Rudi muss man sich als Flaschensammler auch in die Lage der Fans versetzen. Diese wollen sich vor einem Spiel amüsieren und nicht belästigt werden. Dass er dieses Verhalten als »tragisch« beschreibt, steigert die Negativität dieser Belästigung. Er hält es also für ein zu vermeidendes Unglück, dass das Auftreten einiger weniger Flaschensammler zu einer Belästigung derjenigen führt, die »in Ruhe’ n Bierchen vorm Spiel trinken wollen«. Wir treffen wieder auf die unterwürfige Haltung, wie sie bereits im Teil über den Müll herausgearbeitet haben. Die Sammler sind, wenn überhaupt, nur dazu da, die Freizeit der anderen möglichst angenehm zu gestalten, indem sie diesen die Last der leeren Flasche abnehmen, nicht aber um selbst zur Last zu werden. Neben der ohne Zweifel vorherrschenden Konkurrenz konnte während der Erhebungsphase jedoch auch Kooperation beobachtet werden; dies zumeist bei Veranstaltungssammlern. Bei Großveranstaltungen ist die Zahl der Konkurrenten so hoch, dass jede Sekunde entscheidend ist. Routensammler habe ich nur selten zu zweit sammeln sehen. Bei ihnen sieht die Kooperation so aus, dass sich beide in einer abwechselnden Wellenbewegung voreinander her bewegen. Während der Erste an einem Mülleimer Halt macht, geht der Zweite zum nächsten vor und kontrolliert diesen auf Pfandflaschen. Dabei wird er wieder vom ersten überholt. Oder es ist so, dass einer sammelt und der andere bei dem Leergut stehen bleibt. Diese Art der Kooperation hat in erster Linie nicht den Sinn der Profitmaximierung, sondern lediglich den Grund, nicht alleine unterwegs sein zu müssen. Die, wenn man so sagen will, natürlichste Art der Kooperation ergibt sich bei Eheleuten oder Familien, die gemeinsam losgehen. Dies kommt gerade bei älteren Menschen vor. Neben der oben beschriebenen Art des wellenartigen Voreinander-her-Bewegens, sieht die Kooperation meist wie folgt aus: Einer sammelt, der andere passt auf oder löst in der Zwischenzeit das Pfand ein.246 Ein interessantes Beispiel für Kooperation, mit der aber eigentlich nur das Ziel verfolgt wurde, die unmittelbare Konkurrenz auszuschal-

246 Es versteht sich, dass für Letzteres ein starkes Vertrauensverhältnis zwischen den beiden Sammlern bestehen muss.

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ten, konnte ich an einem Fußballstadion beobachten. Ein Flaschensammler reichte einer neben ihm stehenden Frau immer wieder Bierflaschen, die er zuvor von Passanten direkt in die Hand gedrückt bekommen hatte. Er selbst hatte vor sich eine blaue Mülltüte, in die er nur Dosen hineinfüllte; wenige Bierflaschen behielt er bei sich. Auf den ersten Blick hatte ich angenommen, dass diese beiden Sammler zusammengehörten, bis ich später erfuhr, dass es sich bei der Frau um die Gattin eines anderen Sammlers handelte. Erst durch diese Information wurde deutlich, dass der Mann in der Zeit, in der die Frau die Flaschen in ihre Tüten verstauen musste, bereits Ausschau nach Dosen oder Plastikflaschen halten konnte, die den dreifachen Wert einer Bierflasche haben. Indem er also die Frau vom selbstständigen Sammeln abhielt, konnte er auswählen, was er weiterreicht und was nicht. Man sieht an diesem Beispiel, dass es zu Kooperationen zwischen den Flaschensammlern kommt, die solidarische Züge aufweisen. Gleichzeitig können sie aber auch dazu dienen, die Konkurrenz zu übervorteilen. Ein anderes Mal konnte ich beobachten, wie ein Flaschensammler einem anderen half, seine voll bepackten Tüten so zu sortieren und ineinander zu stecken, dass der Transport erleichtert wurde. Als es dann noch Probleme beim Verschließen der Tüten gab, nahm der Helfer die Sache selbst in die Hand und knotete die Plastiktüten gekonnt zu, wobei er sagte »So muss du das machen.« Mit diesem Akt demonstriert er neben seiner Hilfsbereitschaft auch seine Überlegenheit, indem er die Position eines »Lehrherren« einnimmt.

Ungebetene Gäste Neben dem Kontakt mit Menschen auf der Straße – potenziellen Gebern – begegnen Flaschensammler bei ihrer Tätigkeit auch Supermarktbesitzern beziehungsweise deren Personal. An diesen Orten kann es demnach grundsätzlich ebenso zu Akten kommen, die die Merkmale psychischer Gewalt tragen. Obwohl nach den Aussagen der Sammler die Supermärkte grundsätzlich zur Annahme der Getränkegebinde verpflichtet seien,247 dies aber in manchen Fällen verweigern, 247 Dies entspricht nicht uneingeschränkt den Tatsachen. Wie man im Folgenden an meiner Reaktion während des Gesprächs sehen kann, ging auch ich lange

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fühlen sie sich einer gewissen Willkür ausgesetzt. Den Besitzern wird unterstellt, sie wollten die Sammler nicht in ihren Geschäften haben oder seien erbost über deren Auftauchen, da dies für sie ungeliebte Mehrarbeit bedeutet – dies trifft auch zu. So sagt Erwin: E: Ach, das is nur der Rewe, der so nen Zirkus macht. Die sind verpflichtet, das anzunehmen, davon abgesehen. SJM: Ja, ja. Das mein ich. E: Ne, wenn ich’s Ordnungsamt Bescheid sage, is er dran. SJM: Ja. Ja, gut, aber. E: Nur bloß, man zieht ja dann den Kürzeren. Der sagt: »Ja, gut, du hast mich angeschissen, dann kriegst du Hausverbot.« Ja, dann steh ich da. Dann komm ich gar nich mehr rein. Dann werd ich gar keine Flasche mehr los. Das kommt ja dann dabei raus. Dann haste einmal Recht gekriegt und dann (is Sense).

In der Aussage von Erwin fällt als Erstes auf, dass der Supermarkt personalisiert wird. Nicht eine Person, sondern der ganze Supermarkt stellt sich gegen den Flaschensammler und macht »Zirkus«, wenn er seine Flaschen abgeben will. Es ist davon auszugehen, dass Erwin dort bereits Ärger bekommen hat, den er auch mit konkreten Personen verbinden kann. Die gesamte Äußerung verdeutlicht die Situation, die auf seiner Seite von Ohnmacht (ohne Macht) geprägt ist. Würde er auf dem juristischen Weg sein Recht einklagen und den Supermarkt anzeigen, hätte er davon lediglich Nachteile. Ähnlich wie bei den Sammelorten, an denen man sich auf das Eigentum von anderen begibt, bedarf die Tätigkeit der Unterwürfigkeit, will man die Möglichkeit auf das Abgeben nicht durch ein Hausverbot riskieren. Es soll nicht behauptet werden, dass das Argument der Willkür nicht zutreffen mag – und es sei an dieser Stelle deutlich darauf hingewiesen, dass der Ladenbesitzer ab einer Größe von 200 Quadratmetern gegen geltendes Recht verstößt, wenn er die Annahme von Flaschen verweigert, deren Materialart er in seinem Sortiment führt. Die gemachten Beobachtungen können diesbezüglich jedoch entkräftend nachweisen, dass viele Flaschensammler keine Experten der rechtliZeit von einer allgemeinen Annahmepflicht aus. Gesagt werden muss, dass bei aller Erleichterung durch die Abschaffung der Insellösungen das Clearing-System nicht leicht durchschaubar ist. Dass die Pfandsammler sich eingehend mit den gesetzlichen Rahmenbedingungen der Verpackungsverordnung vertraut machen, wage ich vor dem Hintergrund des Datenmaterials zu bezweifeln.

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chen Grundlagen sind, sondern einfach ihr Glück am Pfandautomaten versuchen und zum Teil scheitern. Anstatt sich darüber zu informieren, welche Materialsorten der Supermarkt führt und welche Gebinde demnach abgegeben werden können, ziehen sie sich bei Misserfolg eher zurück. Häufiger konnte ich beobachten, wie Flaschensammler in einem Supermarkt vor einem Pfandautomaten stehen, immer wieder die gleiche Flasche einwerfen und diese immer wieder ausgeworfen wird. Dies kann zum Beispiel geschehen, wenn das Annahmeband beziehungsweise der Annahmebehälter überfüllt ist – dann muss ein Mitarbeiter des Supermarktes das Band beziehungsweise den Behälter erst leeren, was wiederum Aufsehen erregt –, oder das Material der Flasche ist nicht im Sortiment des Supermarktes vorhanden und wird deswegen nicht angenommen, oder es kommt vor, dass die Geräte ganz einfach nicht funktionieren, was dann dazu führt, dass ein Mitarbeiter zunächst eine Flasche von äquivalentem Wert herausgeben muss, damit es weitergehen kann. Zum Teil gibt es auch ungenau eingestellte Automaten, das heißt sie erkennen die unterschiedlichen Flaschentypen nicht. Dies ist dann der Auslöser für die lange Verweildauer vor einem Pfandautomaten. Diese führt dazu, dass sich eine Schlange von Menschen bildet, die ebenfalls ihre Flaschen abgeben wollen. Die wartenden Menschen in den Schlangen, die ich beobachten konnte, richten zumeist ihre Blicke direkt auf den Flaschensammler – Blicke, die der Notwendigkeit entbehren, versteckt werden zu müssen – oder machen halblaute Bemerkungen wie zum Beispiel »Dürfen denn auch andere Leute da dran?« Vor dem Pfandautomaten wartend scheren die Menschen nach längerem Warten seitlich aus der Schlange aus, bereits eine Art, ihren Unmut auszudrücken. In dieser Haltung ist der Blick frei und kann unverstellt auf den Flaschensammler gerichtet werden. Weil es sich bei Pfandautomaten um öffentlich zugängliche Ort handelt, können die Pfandsammler nicht grundsätzlich erwarten, diese auf unbestimmte Zeit in Beschlag zu nehmen, ohne dass sie sich angreifbar machen; ähnliches gilt für Mülleimer. Sie verstoßen gegen eine bestehende soziale Regel, wenn sie solch potenziell öffentlich zugängliche Orte mit ihrer Tätigkeit in ihrer Benutzbarkeit für andere zu lange blockieren oder gar längerfristig einschränken – etwa wenn sie sie bewachen würden. Weil jede sozial konstruierte Örtlichkeit ihre Kategorien von Normalität in sich trägt, gibt der Pfandsammler mit übermäßig langem Verweilen den Übrigen die Möglichkeit, dass sich 244

ihre Blicke an ihm festbeißen können und so verletzendes Potenzial entwickeln.248 Zudem muss bedacht werden, dass die Menschen sich in einer Situation des Wartens befinden, der nach Siegfried Kracauer Sinnlosigkeit anhaftet.249 Die Zeit des Wartens kann sich auf jede erdenkliche Art und Weise vertrieben werden, die Sinnlosigkeit folgt ihr nach und durchdringt den Einzelnen wie ein Gift. Dieses Gift könnte dafür verantwortlich sein, dass Sitten und Gebräuche des öffentlichen Austausches nicht mehr ohne Weiteres gelten. In den Äußerungen der Wartenden zeigt sich jedoch noch etwas anderes: Jemanden warten zu lassen ist Ausdruck sozialer Macht, denn es wird über die Zeit eines anderen verfügt. »Und je demonstrativer er dies tut, je weniger er sich dafür legitimieren muss, desto unangreifbarer erscheint seine Überlegenheit.«250 Dem Pfandsammler werden keine Sonderrechte hinsichtlich der ihm zur Verfügung stehenden Zeit am Pfandautomaten eingeräumt, obgleich es sich hierbei um ein für ihn ungleich wichtigeres Objekt handelt. Für die übrigen Wartenden ist es ihre private Zeit, die hier »abgewartet« werden muss. Warten lebt grundsätzlich von seinem Gerichtetsein auf ein künftiges Ereignis, auf das sich mental vorbereitet wird. Ärgerlich ist es, wenn die begrenzten zeitlichen Ressourcen auf unproduktive Weise verbracht werden müssen, obgleich das Ereignis – in diesem Fall das Einfüllen leerer Flaschen in einen Pfandautomaten – nur wenig Vorbereitung bedarf. In den Reaktionen der Wartenden zeigt sich die Missachtung des Umstandes, dass die Bedeutung der Abgabe für sie und die Sammler sich nicht im gleichen Rahmen bewegt. Die Flaschensammler, deren Intimsphäre durch Blicke und halblaute Bemerkungen unkaschiert verletzt wird und denen damit (indirekt) ihr Recht auf ungestörtes Arbeiten abgesprochen wird, bleiben zunächst teilnahmslos und machen beharrlich weiter; wieder findet sich die erwähnte Sprachlosigkeit. Dass die Sammler es nicht zur Aushandlung der sozialen Situation kommen lassen, kommt einem 248 »Tritt etwas Unvorhergesehenes, Unerwartetes ein, verändert sich sogleich der Charakter des Wartens: Alles Augenmerk richtet sich nun auf die Ursache der Suspendierung der Normalität, die wir restituiert sehen wollen.« (Paris, »Warten«, S. 707). 249 Kracauer, »Über Arbeitsnachweise«, S. 37. 250 Paris, »Warten«, S. 711.

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Schuldeingeständnis gleich. Wenn der Vorgang zu lange dauert, die Blicke und auch die Äußerungen aus der Schlange nicht aufhören, dann wird, so konnte ich beobachten, der Vorgang der Abgabe unterbrochen. Prinzipiell geschieht das Einfüllen in den Automaten aber wie ein Automatismus und ohne große Aufmerksamkeit für die Umwelt. Das Abgeben, das ist einleuchtend, ist der letzte und entscheidende Schritt, um das Geld ausbezahlt zu bekommen. Dass sie dies in aller Ruhe tun, bringt uns noch einmal auf das Warten zurück. Rainer Paris macht darauf aufmerksam, dass in unserer Kultur Warten »als gravierender Einschnitt und Einschränkung der individuellen Autonomie, als Musszeit, die einem Kannzeit raubt, [empfunden wird]. (…) Die Voraussetzung solcher Unrast ist die Grunderwartung einer effizienten Nutzung der Zeit. Es ist die Ökonomie, die die Zeitökonomie hervorbringt. Nur wo Zeit Geld ist, ist Warten teuer.«251

Mögen sich die Flaschensammler auch an der Erwerbsarbeit orientieren, das heißt einer Tätigkeit nachgehen, die Geld einbringt, so zeigt gerade die Ruhe, ja geradezu Gelassenheit beim Abgeben, dass es nicht um eine möglichst effiziente Ausnutzung der Zeit geht. Außer beim Sammeln auf Veranstaltungen, bei denen mit viel Konkurrenz gerechnet werden muss und Schnelligkeit wichtig wird, gleicht das Sammeln von Pfandflaschen eher einer kontemplativen Tätigkeit. Zeit ist hier keine ökonomische, sondern eine existenzielle Kategorie. Es geht nicht um ihre effiziente Ausnutzung, sondern um deren Ausfüllen, denn Zeit ist eine Ressource, die im Überfluss vorhanden ist. Sowohl am oberen wie auch am unteren Ende der sozialen Stufenleiter steht Zeit in einer solchen Form zur Verfügung. Während »oben« jedoch zahlreiche Möglichkeiten bestehen, Zerstreuungsangebote konsumieren zu können, fehlen »unten« die dafür notwendigen Mittel sowie kreative Ideen zur individuellen Ausgestaltung, jenseits von Konsum.252

251 Ebenda, S. 712. 252 Natürlich darf dies nicht verallgemeinert werden. In seiner Studie über jene, die wenig besitzen und gleichzeitig ein erfülltes Leben führen, zeichnet Pierre Sansot (Gens de peu) das Bild von Menschen jenseits des Habens. Gerade hier kommt es nicht darauf an, den Gürtel enger zu schnallen, weil nicht genügend da ist, sondern einen sinnvollen und nachhaltigen Umgang mit dem Vorhandenen zu finden. Die Studie »Haben oder Sein« von Erich Fromm, die neuere Be-

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An den angeführten Beispielen kann man sehen, dass das Auftauchen der betrachteten urbanen Figur nicht ohne Auswirkung auf seine Umwelt bleibt, diese zuweilen gehörig irritiert. Ebenfalls müssen Auswirkungen auf die Arbeitsorganisation in Supermärkten bezüglich der Personaleinteilung und auch -weiterbildung berücksichtigt werden. Viel Leergut bedeutet für den Supermarkt mehr Aufwand, möglicherweise sogar Kosten durch die Anschaffung weiterer Rücknahmeautomaten oder zusätzlichen Personals, was an einer Aussage von Erwin deutlich wird: E: […] Aber die ham dann abends kein Personal, und bei Kunststoff is das ja kein Problem. Das wird ja heute alles platt gemacht. SJM: Ja, ja. Ja stimmt, is klar. Die müssen das natürlich auch alles wegkarren. Ja, is schon krass. E: Die nehm das auch. Aber wenn’e jetzt’n ganzen Haufen hast, und du hast abends keine Leute. Wenn dann, ja, »Geht nich mehr. Band is voll.« Ja und die müssen ne Kasse aufmachen. Dann sagen die auch »Nein«. Die wissen ja gleich, dass das woanders weg is.

Erwin äußert hier Verständnis dafür, dass der Supermarkt die Annahme der Flaschen verweigert beziehungsweise »Zirkus macht«, wenn keine Mitarbeiter zur Annahme abgestellt werden können. Außerdem werden hier die Vorzüge in der Handhabung von Kunststoffflaschen für den Supermarkt hervorgehoben. Erwin spricht hier den Flaschensammlern das Recht ab, irgendwelche Forderungen zu stellen, da die Flaschen von »woanders weg« sind. An dieser Aussage wird deutlich, zumindest im Falle Erwins, inwieweit Pfandsammlern teilweise Wissen bezüglich des Pfandsystems fehlt. Für den Supermarkt darf es keine Rolle spielen und spielt auch rechtlich keine Rolle, ob die Flasche bei ihm erstanden worden ist oder nicht. Wie durch die Personifizierung des Supermarktes in der Äußerung Erwins verdeutlicht, sind es für ihn aber eben nicht gesetzlich geregelte Bedingungen, mit denen er zu tun hat, sondern die subjektive Willkür einzelner Individuen, die seinem Sammeln Grenzen setzen.

wegung in Frankreich um Alain Caillé u.a., die sich an Marcel Mauss’ Gabentheorie und am Konzept der Konvivialität nach Ivan Illich orientiert, sowie das Kolleg »Postwachstumsgesellschaft« an der Universität Jena zielen in die gleiche Richtung.

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Endlager Eine schlichte Zusammenfassung einer Untersuchung, die den Titel »Pfandsammler« trägt, könnte folgendermaßen lauten: Pfandsammeln stellt eine informell-ökonomische Handlung dar, deren Ziel es ist, durch das Zusammentragen verstreut herumliegender Pfandgebinde und deren späterer Rückführung den individuellen finanziellen Handlungsspielraum zu erweitern, das heißt, Geld zu verdienen. Diese im urbanen Alltag auftretende Tätigkeit hat nicht zuletzt durch die 2006 staatlich verordnete Pfandpflicht auf Einweggetränkeverpackungen einen starken Anstieg erfahren. Bis dahin handelte es sich dabei in Deutschland vor allem um eine Aktivität, die von Obdachlosen ausgeführt wurde. Seither können Menschen, die auf staatliche Hilfsleistungen angewiesen sind, niedrige Renten beziehen oder Kleinsteinkommen aus Erwerbsarbeit erzielen, durch das Sammeln von Pfandgebinden ihre wirtschaftlichen Möglichkeiten in nicht unerheblichem Maße erweitern. Das Sammeln erlaubt in diesen Fällen eine relevante Aufstockung des monatlich vorhandenen Budgets, was dazu führt, dass über den alltäglichen Grundbedarf hinaus konsumiert werden kann: »ne Bratwurst«, »ein paar Brötchen«, »n bisschen was nebenbei zu rauchen«. Dieser Konsum bedeutet in gewisser Weise einen wesentlichen Zugang zur gesellschaftlichen Teilhabe. Eine umfassende Existenzsicherung ist durch das Pfandsammeln allerdings nicht möglich, da hierfür die Verdienstmöglichkeiten zu marginal sind. Allerdings muss das Sammeln dies nicht leisten, weil zum einen die physische Existenz durch sonstige Einkommensquellen gesichert werden kann und zum anderen die Gründe für das Sammeln über den finanziellen Aspekt hinausgehen.253 Die zu erzielenden Erträge richten sich nach mehreren Parametern: Zunächst sind die Pfandsätze von 8, 15 und 25 Cent pro Gebinde zu berücksichtigen. Diese sind für sich genommen relativ gering und nötigen zum Sammeln großer Gebindemengen, wodurch gleichwohl nur Kleinstbeträge erwirtschaftet werden können. Nicht zuletzt stehen da-

253 Ich gehe davon aus, dass es sich um eine generalisierbare Aussage für deutsche Pfandsammler handelt. Wenn zusätzliche Einkommensquellen fehlen, ist vermutlich auch das Überleben bedroht, wie dies etwa für Obdachlose zutreffen kann. Oder das Sammeln wird zu einem »Kampf ums Überleben«, wie dies für Müllsammler in Entwicklungsländern gilt.

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her beim Pfandsammeln Ertrag und zeitlicher Aufwand in einem hervorstehenden ökonomischen Missverhältnis. Des Weiteren ist bedeutsam, zu welcher Tages- beziehungsweise Jahreszeit, an welchen Orten und mit welchen Hilfsmitteln gesammelt wird. Zu guter Letzt ist die anzutreffende Konkurrenzdichte entscheidend, die allem Anschein nach in den letzten Jahren immer größer geworden ist. Pfandsammler, so lässt sich erfahrungsgesättigt generalisieren, sind in jeder größeren deutschen Stadt anzutreffen, wobei die Zahl der Sammler mit steigender Bevölkerungsdichte zunimmt. Doch diese Zusammenfassung der Untersuchung würde zu kurz fassen: Denn der ökonomische Aspekt des angeblich einfachen und schnellen Geldes, das sprichwörtlich auf der Straße liegt, stellt nur eine Erklärung dar. Und, dies war die Ausgangsüberlegung der vorliegenden Arbeit, nicht unbedingt die aussagekräftigste. Wie nämlich kann es sein, dass sowohl Erwerbslose als auch Angestellte, Rentner und Arbeiter, also eine sozial doch relativ heterogene Gruppe einer Tätigkeit nachgeht, zu deren wesentlichen Merkmalen es gehört, öffentlich die Hand in Abfallbehälter zu stecken? Den in den Exkursen dargestellten Sammlern von Ähren, Lumpen und Holz war gemein, dass es sich bei ihnen grundsätzlich um die arme und mittellose Bevölkerung, also wirtschaftlich weitestgehend Exkludierte, handelte. Dies trifft auf die in deutschen Städten auftauchenden Pfandsammler nur eingeschränkt zu, seit es keine reine Obdachlosentätigkeit mehr ist. Auch wenn die ökonomische Situation vieler Sammler aufgrund von Arbeits- oder Obdachlosigkeit extrem schwierig ist, so überrascht doch der hohe Anteil jener, für die das Pfandgeld vor allem ein Zubrot darstellt, das heißt zur Existenzsicherung nicht benötigt wird. Würde es den Pfandsammlern zuvorderst um den Verdienst gehen, warum fällt die Entscheidung dann auf eine Tätigkeit, bei der eine unterwürfige Haltung als professioneller Habitus aufgezwungen wird? Andere Formen von informeller Ökonomie beziehungsweise Schwarzarbeit wären sicherlich ertragreicher und wären herkömmlichen Erwerbstätigkeiten wesentlich ähnlicher. Warum also eine Tätigkeit, bei der man sich zum Dienstboten anderer macht, diesen dazu noch Dankbarkeit entgegenbringen muss, weil die Flasche als Gabe interpretiert werden kann? Dankbar musste auch Rut Boas sein, der ihr das Ährensammeln auf seinem Feld erlaubte. Jedoch handelte es sich hierbei nicht um eine Dienstleistung, sondern eben tatsächlich um Almosen zur individuellen Existenzsicherung. 249

Pfandsammler reinigen öffentliche Plätze vor Diskotheken oder Bahnhöfen von leeren Dosen und Flaschen, müssen aber zum Teil um Zugangsberechtigung bangen. Im Gegensatz zu dieser Dienstbotenhaltung findet sich bei den Lumpensammlern eine gewisse Standesehre beziehungsweise ein Professionsstolz, der aus der Freiheit der Solidargemeinschaft gegenüber etablierten Strukturen resultiert. Die Pfandsammler dagegen sind keine geschlossene soziale Gruppe. Der Abfalleimer als ein zentraler Ort ihrer Tätigkeit ist nur bedingt fähig, Vergemeinschaftung unter ihnen und Vergesellschaftung mit den anderen zu erzeugen. Es lassen sich gar Tendenzen gegenseitiger Abwertung finden, um sich in den Augen der Nicht-Sammler individuell aufzuwerten. Der Makel der (scheinbaren) Bedürftigkeit muss individuell geschultert werden. Wie kommt es, dass diese heterogene Gruppe eine Tätigkeit wählt, die nicht ohne Nutzen für die Allgemeinheit ist, darin ehrenamtlichen Aktivitäten ähnelt, jedoch öffentlich bloß toleriert wird? Teilweise fehlt selbst dies: Wie das Raffholzsammeln vom Preußischen Staat, so wird das Pfandsammeln in Deutschland vor dem Hintergrund einer neoliberalen Stadtpolitik zu unterbinden versucht oder gar kriminalisiert. Sowohl Raffholz- als auch Pfandsammler widersprechen auf je unterschiedliche Art gesellschaftlich herrschenden Verhältnissen. Die Ersten, weil sie den Staat in seiner Tendenz entlarven, eher Besitz zu schützen, als ein menschenwürdiges Überleben zu sichern, die anderen, weil sie in das politisch erwünschte attraktive Bild der Städte nicht passen. Der Staat schlägt sich auf die Seite von Waldbesitzern oder Ladeninhabern und erschwert oder untersagt gar den Zutritt zu den Orten, an denen die Sammler sammeln könnten. Doch diese »Gewalt von oben« stützt sich und wird abgesichert durch eine »Gewalt von unten«, alltägliche Diskriminierung bis hin zur Androhung körperlicher Gewalt. Auch den Ährensammlern scheint Ähnliches widerfahren zu sein. Diese konnten nicht ohne Weiteres mit der Wahrung ihrer körperlichen Unversehrtheit rechnen, sondern waren vermutlich Gewalt von Feldarbeitern oder -besitzern ausgesetzt. Warum, so lässt sich weiter fragen, finden sich beim Zusammentreffen mit jenen, die die Sammler-Dienstleistung in Anspruch nehmen könnten, Formen der Erniedrigung, die bis zum herabsetzenden Vergleich mit Tieren reichen? Nicht anders steht es um die Anwendung psychischer Gewalt: Warum wird Pfandsammlern, obwohl es sich doch offensichtlich um eine stark leistungsbezogene Tätigkeit handelt, das Etikett des Penners oder 250

Schmarotzers angeheftet? In der phänomenologischen Betrachtung konnte gezeigt werden, dass das Pfandsammeln, verglichen mit anderen Tätigkeiten im personenbezogenen Dienstleistungssektor, wie zum Beispiel Kellnern oder Müllwerkern, weder weniger komplex noch weniger organisiert ist. Warum also dieser Mangel an Anerkennung? Oder besser: Warum gehen die Menschen trotz alledem Pfandsammeln? Diese Fragen fassen nicht nur die strukturellen Grenzen zusammen, wie sie im zweiten Teil der Untersuchung detailliert ausbuchstabiert worden sind. Sie führen uns wieder zum Anfang zurück, denn meines Erachtens ist die Antwort auf all diese Fragen in der Handlung selbst zu suchen: dem Sammeln. Sammeln ist nicht abschließbar, das heißt es muss notwendigerweise immer weitergehen. Deswegen ist es dauerhafte Beschäftigung, was jedoch nicht mit Erwerbsarbeit gleichzusetzen ist. Das Pfandsammeln bietet Menschen, für die die Ausfüllung von freier Zeit ein zentrales Problem darstellt, eine Lösung an. Darin unterscheiden sie sich von anderen Sammlern, für die Subsistenzsicherung konstitutiv war beziehungsweise ist, denkt man an Müllsammler in Entwicklungsländern. Zugleich aber kann dieses Beschäftigungsproblem nur durch eine Tätigkeit gelöst werden, die Geld einbringt, selbst wenn es sich um relativ geringe Beträge handelt. Das heißt: Pfandsammeln ermöglicht Menschen, die der Erwerbsarbeit ähnliche Strukturen benötigen, eine sinnvolle Zeitgestaltung. Auf den ersten Blick scheint dies für die nach wie vor zentrale Stellung einer Leistungsethik zu sprechen, auf der die Arbeitsgesellschaft aufbaut. Bei genauerem Hinsehen muss diese Einschätzung allerdings relativiert werden: In dem Willen zur Arbeit drückt sich nicht (mehr) die Notwendigkeit zur Existenzsicherung – sich kleiden, ernähren und betten – aus. Das Pfandsammeln bietet zudem nur eingeschränkt die Möglichkeit zur Sozialintegration, einer ebenfalls zentralen Funktion von Erwerbsarbeit, weil mit dem Griff in die Tonne gegen soziale Verhaltenserwartungen verstoßen wird. Das Beispiel der Pfandsammler zeichnet das Bild einer Gesellschaft, in der Arbeit vor allem die Funktion der »Freizeitausgleichbeschäftigung« (Dieter) zukommt, weil die Versorgung anderweitig geregelt ist. Dies ist erfreulich und bedenklich zugleich: Erfreulich, weil der gesellschaftliche Reichtum den Menschen scheinbar erlaubt, ihre Erfüllung in selbstgewählten Beschäftigungen zu finden, ohne dass dafür sozialstaatliche Maßnah251

men zusätzliches Geld bereitstellen müssen.254 Bedenklich, da diese Beschäftigung zum Spiel werden kann, das die Langeweile vertreibt. Eines der zentralen Merkmale des Spiels ist, den Gegenpol zum (Arbeits-)Alltag zu bilden.255 Mag das Pfandsammeln für viele einen solchen bilden, so sind doch die apathisch die Gegend nach Pfandgebinden abtastenden Augen wieder anderer ein Beleg für deren anwesende Abwesenheit. Sammeln ist in seinem Ertrag unberechenbar. Auch diese Eigenschaft teilt es mit dem Spiel. Der Ausgang dieser beiden Aktivitäten ist nicht vorhersehbar und bezieht genau daraus seinen leidenschaftlichen Reiz, der bis zur Sucht führen kann. Vielleicht lassen sich die Lebensumstände der Lumpensammler durch den Umstand charakterisieren, dass sie nicht nur von Elend, sondern auch von ausschweifender Geselligkeit bei »Wein, Weib und Gesang« geprägt waren. Wenngleich in einem anderen gesellschaftlichen Kontext, so ist auch der Pfandsammler in seiner Ambivalenz eine interessante Figur, weil seine unsichere Tätigkeit im Zusammentragen von Sicherheiten (Pfand) besteht. Obwohl das Sammeln ein scheinbar instabiles System errichtet, weiß doch der Sammler um sein Objekt. Er sucht nur das, von dem er weiß, dass es sich auffinden lässt, und kann so immer hoffen: Irgendetwas findet sich immer, das hat die Betrachtung der Pfandsammler eindrücklich bewiesen. Zum Prozess des Sammelns gehört das Leiden und die Anstrengung. Denn in der Bewegungslosigkeit lässt sich nichts finden. Diese Sammeltätigkeit, die sich bis zum Herumirren steigen kann, ist aufgrund der Unberechenbarkeit, mit Verzweiflung verbunden und löst sich letztlich im beglückenden Fund auf – mögen es auch nur 25 Cent sein. Weil Sammeln das Leben im Sinne der Existenzsicherung nur sehr schwierig voraussehbar macht, ist der Sammler Ausdruck einer vormodernen Zeit, er passt als Figur nur noch schwer in eine Ge254 Der vorhandene gesellschaftliche Reichtum und die Möglichkeit, ihn ohne Anspruch qua Bedürftigkeit zu verteilen, ist eines der zentralen Argumente in der Debatte um ein »Bedingungsloses Grundeinkommen« (vgl. Franzmann, »Einleitung«). 255 Hierzu sei auf die Arbeit von Heinrich Popitz, »Was wir tun, wenn wir spielen« (Kreativität), und seine Auseinandersetzung mit Autoren wie Huizinga, Piaget oder Schiller hingewiesen. Auch Norbert Elias’ Untersuchung über die höfische Gesellschaft und ihre Stellung im Zivilisationsprozess kann als Beispiel für einen Sozialzusammenhang gelesen werden, der sich vor allem mit Spiel und Spaß die Zeit vertreibt.

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sellschaft, die sich in ihrer ökonomischen Organisation als rational begreift. Die Buchhaltung des Sammlers zeigt zu große Schwankungen auf, als dass so rationale Systeme funktionieren könnten. Sammeln erzwingt sozialen Austausch. Nur durch den Schritt vor die eigene Haustür können Sammler an die von ihnen begehrten Objekte gelangen und werden so gezwungenermaßen zu smalltalkern. Bezogen auf die Pfandsammler ist dies von zentraler Bedeutung. Es ließ sich zeigen, dass diese sozial eher heterogene Gruppe dadurch homogenisiert wird, dass es sich bei ihnen in der Regel um sozial vereinsamte Personen handelt. Das Ablaufen der Routen, der Aufenthalt im Gedränge der Veranstaltungen vermittelt das Gefühl, unter Menschen zu sein, selbst wenn daraus keine langfristige Einbindung resultieren mag. Anstatt als ganze Person in die Öffentlichkeit zu treten, die auf der Suche nach Sozialbeziehungen ist, sind diese in direkter Weise objektvermittelt. Dies erlaubt es den Pfandsammlern, ähnlich wie einst den Lumpensammlern, zu fremden Bekannten zu werden, stadtbekannten Figuren, die sich durch ihre vorübergehende Anwesenheit auszeichnen. Ihre Abwesenheit inmitten der anderen würde einen Unterschied machen, und genau darin löst sich – bis zu einem gewissen Grad – ihre Einsamkeit auf. Die Sicherung des Lebensunterhaltes, ob in Form von staatlicher Unterstützung oder Lohn durch eigene Arbeit, wird als unbefriedigend angesehen, wenn ansonsten jegliche Anerkennung aus der sozialen Umwelt fehlt. Die Untersuchung zeigt, dass diese Eingebundenheit aus der Sicht der Pfandsammler noch immer sehr stark über Erwerbstätigkeit geregelt wird, obschon nicht jede Art der Tätigkeit auch gleichzeitig Garant für soziale Anerkennung ist. Auf teilweise diskriminierende Art und Weise wird ihnen gezeigt, dass die ihre missbilligt wird, und dennoch halten sie an dieser Möglichkeit des Kampfes um Anerkennung fest. Selbst sich andeutende Institutionalisierungen wie Internetseiten oder Aufkleber auf deutschen Abfallbehältern scheinen dieses Phänomen als Unterstützung für Bedürftige zu interpretieren, sodass hier von einer »Arbeit wie jede andere« nicht gesprochen wird. Die Wartenden – so waren die Pfandsammler beschrieben worden – warten also nicht nur darauf, dass das Zuviel an Zeit »weggeht« (Thomas), sondern ebenso darauf, dass sie von anderen in ihrer Leistungsfähigkeit anerkannt werden. Widersprüchlich ist dies, da das Sammeln, obwohl es zum sozialen Austausch zwingt, diesen zugleich erschwert, da der Sammler nun mal nur Augen für sein Objekt hat. 253

Sammeln heißt: Außenseiter sein. Nicht zuletzt, weil man sich dem Objekt verschrieben hat. Es heißt, sich in seiner eigenen Welt bewegen, Objekte in einer Weise betrachten, die vom Normalverständnis abweichen, und sie dementsprechend behandeln. Für den Pfandsammler besitzt die Flasche einen Wert, der ihr gerade von den anderen zum Teil abgesprochen wird: Der Sammler löst sich damit aus seiner Einsamkeit, während das Pfandgebinde häufig genug die soziale Eingebundenheit der anderen in verdinglichter Form repräsentiert. Für den Sammler versinnbildlicht das Objekt eine Aufgabe, die ihn sinnvoll beschäftigt, wohingegen es ein Symbol der Zerstreuung und des Amüsement der anderen ist. Jede Dose erweitert den finanziellen Handlungsspielraum des Sammlers und ist zugleich ein Zeichen der anderen, das für die Differenz zwischen nötigem und unnötigem Geld steht. Der Umstand, dass gerade der Geldwert für die anderen nicht der Rede wert ist, kann als eine von unten betriebene Inflation betrachtet werden. Sie gliedert sich in einen Zeitgeist ein, der einer kapitalistischen Steigerungslogik folgt, in welcher allein die große Zahl Gültigkeit besitzt. Dieser Logik zufolge erfüllt das Geld paradoxerweise seine Funktion als universelles Tauschmittel erst ab einem bestimmten Betrag, entwertet es aber als das System antreibenden Motor dadurch selbst. Die Pfandsammler stehen außerhalb des formell geregelten Produktionsprozesses, bilden einen Teil von informellen Gelegenheitsarbeitern. Überhaupt produzieren Sammler nichts, sie stellen nichts her, sondern suchen zusammen, was bereits da ist und (noch) verwendet werden kann. Aus diesem Außerhalb resultiert ein großer Teil ihrer Freiheit. Zur Reproduktion des gesamten Produktionssystems mag ihr Beitrag gering sein, doch sind sie niemandem verantwortlich, außer sich selbst. Der Sammler ist sein eigener Herr, eine Ich-AG, zugleich aber auch der Meister von niemandem. Eine moderne Gesellschaft könnte nicht einzig aus freiheitlichen Sammlern bestehen, wollte sie ihre erreichten Standards halten. Eine sehr viel maßvollere und nachhaltigere Lebensweise würde nicht weniger als einen radikalen Umbau der aktuellen Verhältnisse bedeuten.256 Dass wir noch weit von einer solchen Möglichkeit entfernt sind, 256 Theoretische Positionen aus Psychologie, Philosophie, Ökonomie oder Anthropologie versuchen, diesen Prozess mit voranzutreiben, vgl. hierzu stellvertretend: Fromm, Haben oder Sein; Gorz, Kritik der ökonomischen Vernunft; Krisis, Manifest; Caillé u.a., Convivialité.

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dafür bleiben die Pfandsammler ein ebenso schlagender Beweis. Sie können nur deshalb existieren, weil sich andere leisten können, oder dies zumindest meinen, es nicht mit jedem Cent so genau nehmen zu müssen, und auch das ökologische Bewusstsein gerne einmal beiseiteschieben. Gleiches gilt für Sammler in Entwicklungsländern, die zum Teil davon leben, dass westliche Gesellschaften es mit dem Ausrangieren von eventuell noch zu Gebrauchendem nicht so genau zu nehmen brauchen. Sammler in heutigen Gesellschaften sind immer auch Ausdruck eines vorhandenen Überflusses, genau darin liegt, zivilisationstheoretisch betrachtet, der Strukturwandel dieser Tätigkeit. Die Außenseiterposition, eine Distanz zur Restgesellschaft, kann selbst gewählt sein, wie dies beispielsweise in gewisser Hinsicht auf den Wissen sammelnden Soziologen als einer exzentrischen Figur zutrifft. Oder: Sie kann sich aus einer sozialen Randstellung ergeben, wie bei den Lumpen- und Ährensammlern. Immer ist sie jedoch für den Sammler konstitutiv. Diese Reflexion zeigt, dass Sammlerfiguren soziologisch vollkommen unterschiedlich interpretiert werden können: In der Perspektive von Theorien der funktionaler Differenzierung wären der spezialisierte Wissenssammler und der Lumpensammler Positionen im gesellschaftlichen Gesamtgefüge. Beide sind mit dem Zusammentragen und Ordnen unterschiedlicher Gegenstände beschäftigt, wobei ihre jeweiligen Tätigkeiten gesellschaftlich mit unterschiedlichen Chancen auf Anerkennung ausgestattet sind. Für eine Kritische Theorie der gegenwärtigen Gesellschaft wäre das Nebeneinander der beiden hingegen ein Indikator dafür, dass mit den Verhältnissen etwas nicht stimmt.

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Danksagung Diese Studie ist nur in begrenztem Maße in Einsamkeit und Freiheit entstanden. Meine Wege, auf denen ich wenigstens ebenso viele Schritte zurück wie nach vorne gemacht habe – so kommt es mir zumindest vor –, sind gesäumt von der freundschaftlichen, liebevollen und kollegialen Unterstützung vieler Menschen. In diesem Sinne ist das vorliegende Produkt ein gemeinschaftliches! Für mögliche Unzulänglichkeiten kommt mir jedoch die volle Verantwortung zu. Allen voran sind die Menschen zu nennen, die in diesem Buch als Sammlerinnen und Sammler präsentiert werden. Sie haben mir Einblicke in einen Teil ihrer Lebenswirklichkeit gewährt, mir ihre Geschichten erzählt, die ich versucht habe mit dem größtmöglichen Respekt zu behandeln. Da sie hier in den Kontext ihrer Sammeltätigkeit gestellt werden, bleibt vieles von diesen bewegenden, traurigen oder auch spannenden Geschichten ungesagt. Sollte ich die zum Teil schwierigen Lebensverhältnisse verzerrt wiedergegeben oder deren »harte Realität« heruntergespielt haben, so möchte ich an dieser Stelle ausdrücken, dass dies zu keinem Zeitpunkt meine Absicht war. Ein besonderer Dank gilt natürlich den Betreuern meiner Dissertation, die den Ausgangspunkt des vorliegenden Buches darstellt: Zum einen sei Prof. Dr. Ulrich Bröckling gedankt. Fast euphorisch machte mich die Entdeckung einer weiteren Person, die das Phänomen der Pfandsammler für soziologisch interessant (genug) hielt. Wie zwei Sammler begegneten wir uns zum ersten Mal im Sommer 2009 in einem Leipziger Café und tauschten uns über unsere »Sammlerleidenschaft« aus. Die Entstehung der Untersuchung hat er mit Ehrlichkeit und Kollegialität begleitet; eine Betreuung auf Augenhöhe. Den Mitgliedern seines Freiburger Kolloquiums sei an dieser Stelle gedankt, dass sie mir einige Stunden ihrer Zeit zur Verfügung gestellt haben. Zum anderen bin ich Prof. Dr. Dietrich Hoss vom Institut des Sciences de l’Homme in Lyon zu außerordentlichem Dank verpflichtet. Seine Begeisterung für mein Projekt hat seit der ersten Begegnung unsere Treffen begleitet. Wichtige Weichenstellungen und theoretische Entscheidungen gehen auf lange Gespräche mit diesem kritischen Theoretiker sowie den Mitgliedern seines Kolloquiums zurück. Nicht 269

zuletzt bot Herr Hoss mir in der Fremde eine akademische Heimat an, wofür ich ihm sehr verbunden bin. Daneben bin ich Prof. Dr. Elisabeth Flitner von der Universität Potsdam zu großem Dank verpflichtet. Ohne sie wäre der Kontakt zu Herrn Bröckling nicht entstanden. In vielen Gesprächen, Lektüren meiner Skizzen und Lyoner Spaziergängen hat sie mir wichtige Impulse für mein Fortkommen gegeben. Frau Flitner bot und bietet mir immer wieder ein gutes Beispiel dafür, dass Wissenschaft vor allem heißt: eine neugierige und zur Muße fähige Haltung gegenüber der Welt einnehmen. Ich bedanke mich bei Dr. Léo Coutellec vom Labo Co-errance in Lyon für einen kollegialen Sommer 2010, in dem wir nicht nur das Büro, sondern vor allem wichtige Lebensstationen, Höhen und Tiefen miteinander geteilt haben. Vermutlich wäre ich ohne die Verbindung zu ihm heute noch nicht fertig. Ähnliches gilt für Tim Bessel, Johanna Burghoff und Mara Klein, denen ich für die Durchsicht meiner Rechtschreibung und für ihre Kommentare zu meinen Gedanken danke. Bedanken möchte ich mich ebenso bei Dr. Sabine Lammers von der Hamburger Edition für ihre pointierte Durchsicht und die hilfreichen Anmerkungen zum Manuskript. Für Beistand fachlicher oder emotionaler Art bedanke ich mich bei Kerstin Botsch, Denis Bruckert, Christian Dries, Pauline Forget, Marie-Pierre Gilbert, Rivke Jaffe, Anouk de Koning, Ulf Ortmann, Matthias Revers, Jean-Paul Sauzede, Ryan Wilson sowie all den zahlreichen Menschen, die bereits die Bielefeld-Phase dieses Projekts zwischen 2006 und 2008 begleitet haben! Ich bin Françoise Lesage und Violetta Moser äußerst dankbar. Große Teile der Niederschrift sowie die Durchsicht des Manuskripts fanden zwischen November 2011 und Februar 2012 in ihren gewärmten Stuben statt. Maël, ich danke dir, mir beigebracht zu haben, dass man beim Schreiben nicht notwendigerweise sitzen muss. Anne, dir danke ich von Herzen für all deine Unterstützung und deine Geduld. Danke, fürs DaSein. Sebastian J. Moser, Lyon, im März 2013

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Zum Autor Sebastian Moser studierte von 2001 bis 2008 Soziologie, Sozialanthropologie und Wirtschaftswissenschaften an der Universität Bielefeld. Seit 2008 in Lyon lebend, arbeitete er für die französische Éducation nationale als Lehrer für Deutsch als Fremdsprache an verschiedenen Einrichtungen. Im Jahr 2012 Mitbegründer des Labo Co-Errance, das sich mit Fragen alternativer Forschung und Lehre beschäftigt.

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