Geschlechtersoziologie: Theoretische Zugänge zu einer vertrackten Kategorie des Sozialen 9783486717570, 9783486586398

In frühen Texten zur Soziologie gilt die Geschlechtertrennung als Grundpfeiler sozialer Ordnung und Gesellschaft als ein

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German Pages 366 Year 2012

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Geschlechtersoziologie: Theoretische Zugänge zu einer vertrackten Kategorie des Sozialen
 9783486717570, 9783486586398

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Lehr- und Handbücher der Soziologie Herausgegeben von Dr. Arno Mohr Bisher erschienene Titel: Jost Bauch: Medizinsoziologie Regine Gildemeister, Katja Hericks: Geschlechtersoziologie Horst J. Helle: Verstehende Soziologie Katharina Liebsch: Jugendsoziologie Herlinde Maindok: Einführung in die Soziologie Gertraude Mikl-Horke: Historische Soziologie der Wirtschaft Aglaja Przyborski: Qualitative Sozialforschung Gerhard Wagner: Die Wissenschaftstheorie der Soziologie Johannes Weyer: Soziale Netzwerke

Geschlechtersoziologie Theoretische Zugänge zu einer vertrackten Kategorie des Sozialen

von

Regine Gildemeister Universität Tübingen

Katja Hericks

Universität Potsdam

Oldenbourg Verlag München

Prof. Dr. Regine Gildemeister ist Professorin für die „Soziologie der Geschlechterverhältnisse“ an der Universität Tübingen. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Modi sozialer Konstruktion von Geschlecht in Beruf, Organisation, Lebenslauf und Biographie sowie empirische (qualitative) Analysen zu Interaktion und Geschlecht. Dr. Katja Hericks ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl Geschlechtersoziologie an der Universität Potsdam. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Modi der sozialen Konstruktion von Geschlecht, Mikrosoziologie, Organisationssoziologie und Qualitative Methoden

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2012 Oldenbourg Wissenschaftsverlag GmbH Rosenheimer Straße 145, D-81671 München Telefon: (089) 45051-0 www.oldenbourg-verlag.de Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Lektorat: Christiane Engel-Haas, M.A. Herstellung: Constanze Müller Titelbild: thinkstockphotos.de Einbandgestaltung: hauser lacour Gesamtherstellung: Grafik & Druck GmbH, München Dieses Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. ISBN 978-3-486-58639-8 eISBN 978-3-486-71757-0

Inhalt 1

Einleitung

1

2

Spurensuche

7

2.1 2.1.1 2.1.2 2.1.3 2.1.4 2.1.5 2.1.6 2.1.7

Gleichheit und Differenz............................................................................................ 7 Jeder Beginn ist eine Setzung .................................................................................... 7 Entwicklung des Bürgertums ..................................................................................... 9 Die bürgerliche Sphärentrennung ............................................................................ 10 Natur, Gleichheit und die Mündigkeit des Menschen.............................................. 13 ‚Geschlecht‘ am Scheideweg................................................................................... 14 Die Verwissenschaftlichung der Differenz............................................................... 18 „Only Paradoxes to Offer“....................................................................................... 20

2.2 2.2.1 2.2.2 2.2.3 2.2.4 2.2.5

Großentwürfe gesellschaftlicher Entwicklungen und die Stellung der Geschlechter ........................................................................... 22 Ein neues Nachdenken über Gesellschaft entsteht................................................... 22 Auguste Comte (1798–1857)................................................................................... 24 Karl Marx (1818–1883) und Friedrich Engels (1820–1895) ................................... 28 Herbert Spencer (1820–1903).................................................................................. 35 Zusammenfassung: Natur – Gesellschaft – Geschichte. Und Geschlecht? .............. 39

3

Moderne Zeiten

3.1 3.1.1 3.1.2 3.1.3 3.1.4 3.1.5 3.1.6

Das Problem der Geschlechtergleichheit im Horizont soziologischer Theorieentwicklung ................................................................................................. 45 Historische Kontexte: Frauenbewegungen und die Soziologie................................ 45 Ferdinand Tönnies (1855–1936).............................................................................. 53 Emile Durkheim (1858–1917) ................................................................................. 56 Georg Simmel (1858–1918)..................................................................................... 61 Max Weber (1864–1920) und Marianne Weber (1870–1954) ................................. 68 Zusammenfassung: Soziale Differenzierung – soziale Integration. Und Frauen!.... 71

3.2 3.2.1 3.2.2

Nationalsozialismus ................................................................................................. 75 Idealisierte Ungleichheit: die „Geschlechtsharmonie“ ............................................ 76 Soziologie im Nationalsozialismus.......................................................................... 78

3.3

„Kritische Theorie“: Wiederaufnahme marxistischer Denktraditionen.................... 80

3.4 3.4.1 3.4.2 3.4.3

Ein anderer Denkrahmen für Geschlecht ................................................................. 86 George Herbert Mead (1863–1931) ......................................................................... 86 Alfred Schütz (1899–1959)...................................................................................... 90 Karl Mannheim (1893–1947) .................................................................................. 93

45

VI

Inhalt

3.4.4 3.4.5

Viola Klein (1908–1973) ..........................................................................................99 Zusammenfassung: Geschlecht als Gegenstand sozialen Wissens .........................104

4

Die Idee der „Geschlechtsrollen“

4.1

Historische Kontexte: Von der Frauenfrage zu Geschlechtsrollen..........................110

4.2 4.2.1 4.2.2 4.2.3

Die Entdeckung der Kategorie Geschlecht im Kulturvergleich..............................114 Ralph Linton (1893–1953) .....................................................................................114 Margaret Mead (1901–1978) ..................................................................................117 Claude Lévi-Strauss (1908–2009) ..........................................................................118

4.3 4.3.1 4.3.2 4.3.3

Strukturfunktionalismus: Die Geschlechtsrolle kommt in die Soziologie ..............120 Talcott Parsons (1902–1979) ..................................................................................120 Viola Kleins Kritik an der Geschlechtsrolle ...........................................................126 Zusammenfassung: die „Geschlechtsrolle“ als Element der Sozialstruktur ...........128

4.4 4.4.1 4.4.2 4.4.3

Gegenbewegungen..................................................................................................130 Symbolischer Interaktionismus ..............................................................................130 Ethnomethodologie.................................................................................................134 Erving Goffman (1922–1982) ................................................................................138

4.5

Zusammenfassung: Geschlecht im Alltagshandeln ................................................145

5

Zurück zum Anfang?

5.1 5.1.1

Historische Kontexte: Aufbruchstimmung .............................................................149 Eine neue Frauenbewegung entsteht.......................................................................151

5.2

Frauenforschung als Frauenbewegung in der Wissenschaft ...................................154

5.3 5.3.1 5.3.2 5.3.3 5.3.4

Die Entdeckung des „Geschlechterverhältnisses“ ..................................................158 Ursula Beer: Arbeit und Generativität ....................................................................158 Ute Gerhard: Die Zweischneidigkeit des Rechts ....................................................160 Regina Becker-Schmidt: Doppelte Vergesellschaftung – doppelte Benachteiligung......................................161 Geschlechterverhältnis – Geschlechterverhältnisse ................................................164

5.4

Auch Männer bekommen ein Geschlecht...............................................................165

6

Zwischen Parallelisierung und Kooptation

6.1

Historische Kontexte: Gleichstellung und Globalisierung......................................171

6.2

Institutionalisierung der Frauen- und Geschlechterforschung ................................175

6.3

Kooptationen oder: Facetten einer „geschlechtssensibilisierten Soziologie“ .........179

6.4

Zwischenfazit: Ist Geschlecht ein „Grundbegriff“ der Soziologie?........................184

7

Zweigeschlechtlichkeit als Problem

7.1 7.1.1 7.1.2

,Sex‘ und ,gender‘...................................................................................................189 Auch „sex“ ist Kultur .............................................................................................191 Grenzen biologischer Erklärungen .........................................................................192

109

149

171

189

Inhalt

VII

7.1.3 7.1.4 7.1.5

Kulturelle Variationen der Geschlechterklassifikation........................................... 194 Historizität der Kategorie Geschlecht .................................................................... 195 Konstruktion von Geschlecht: eine Idee – viele Stimmen ..................................... 196

7.2 7.2.1 7.2.2 7.2.3

Interaktive Erzeugung von Geschlecht .................................................................. 198 Geschlecht als Darstellungsleistung....................................................................... 199 Attributionen von Geschlecht ................................................................................ 200 „Doing gender“ ...................................................................................................... 204

7.3 7.3.1 7.3.2 7.3.3 7.3.4

Diskursive Erzeugung von Geschlecht .................................................................. 207 Michel Foucault: Diskurse, Sexualität und Macht ................................................. 207 Judith Butler: Performativität und Materialisierungen........................................... 210 Das Aufbrechen der heterosexuellen Matrix.......................................................... 216 Nancy Fraser: Kritische Theorie und Dekonstruktion ........................................... 219

8

Neuerschließen soziologischer Theorien

8.1 8.1.1 8.1.2

Figurationssoziologie............................................................................................. 225 Vom Fremd- zum Selbstzwang .............................................................................. 225 Geschlechter und Geschlechterverhältnisse in Figurationen.................................. 229

8.2 8.2.1 8.2.2 8.2.3

Habitus und soziale Praxis ..................................................................................... 235 Sozialer Raum und soziale Praxis.......................................................................... 235 Geschlecht als soziale Praxis ................................................................................. 239 Geschlechter in sozialer Praxis .............................................................................. 242

8.3 8.3.1 8.3.2 8.3.3

Theorie der Strukturierung..................................................................................... 246 Strukturierungen .................................................................................................... 246 Strukturierung der Geschlechterunterscheidung .................................................... 247 Veränderte Geschlechterverhältnisse – veränderte Zeiten ..................................... 249

8.4 8.4.1 8.4.2

Systemtheorie ........................................................................................................ 252 Kommunikation und „Person“............................................................................... 252 Wo spielt Geschlecht (noch) eine Rolle?................................................................ 254

8.5

Zusammenfassung: Persistenz und Wandel ........................................................... 256

9

Die Vergeschlechtlichung sozialer Wirklichkeit

9.1 9.1.1 9.1.2 9.1.3

Institutionalisierung: Geschlecht als selbst tragende Konstruktion ....................... 261 Typologien von Akteuren....................................................................................... 264 Alter, Lebenslauf, Biographie ................................................................................ 266 Parallelisierung und periodische Separierung........................................................ 269

9.2

Aneignungsprozesse: Geschlecht als Bildungsaufgabe ......................................... 272

9.3 9.3.1 9.3.2 9.3.3 9.3.4 9.3.5

Geschlechterdifferenzierende Arbeitsteilung ......................................................... 276 ‚Männliche‘ Arbeit – ‚weiblicher‘ Liebesdienst .................................................... 276 ‚Frauenberufe‘ – ‚Männerberufe‘ .......................................................................... 278 Arbeitsmarkt, Beruf, Ausbildung ........................................................................... 280 Organisationen: Gleichzeitigkeit von Gleichheit und Differenz ............................ 282 Verflechtungen ....................................................................................................... 285

225

261

VIII

Inhalt

9.4 9.4.1 9.4.2 9.4.3

Prozesse der Naturalisierung ..................................................................................286 Körper.....................................................................................................................286 Sexualität ................................................................................................................291 Fortpflanzung .........................................................................................................296

9.5

„Doing difference“..................................................................................................299

9.6 9.6.1 9.6.2 9.6.3

„Undoing gender“...................................................................................................302 „Can we ever not do gender?“ ................................................................................302 Kontextuelle Kontingenz: Aufweichen von Geschlechterunterschieden ................303 „Yes we can“ – das Aussetzen der Geschlechterunterscheidung ............................305

10

Schluss: Denkgefängnisse unserer Zeit

309

Literatur

319

Personenregister

341

Sachregister

347

1

Einleitung

„Wir werden nicht zweigeschlechtlich geboren …“ so lautet der Titel eines Aufsatzes von Carol Hagemann-White 1988, in dem bereits die Herausforderung an eine Geschlechtersoziologie formuliert ist: Denn wenn wir nicht so ‚geboren‘ werden, dann ist es (auch) eine soziologische Frage herauszufinden, wie es dazu kommt, dass wir die Menschen um uns herum ganz problemlos in zwei Geschlechter unterscheiden können. Mit diesem Lehrbuch möchten wir Sie einladen, den Weg zu dieser Frage mit zu verfolgen und die Bandbreite der Antworten, die bisher dazu gegeben wurden, kennenzulernen. Dabei werden wir grundlegender einsetzen, als es sonst für spezielle Soziologien üblich ist. Warum? Inwiefern Geschlecht als Thema der Soziologie besteht, bestimmt sich vor allem daraus, wie man Soziologie versteht. Das ist eine vertrackte Angelegenheit, denn Geschlecht und Soziologie stellen uns immer wieder vor die Frage, wie wir das Verhältnis von ‚Natur‘ und ‚Gesellschaft‘ bestimmen. Wo und wie ziehen wir Grenzen zwischen Natur und Gesellschaft? Wo hört für uns ‚Natur‘ auf und wo fängt das gesellschaftlich Erzeugte an? Das Vertrackte daran ist, dass historisch gesehen dann eine sozialwissenschaftliche Beschäftigung mit Gesellschaft und Geschlecht einsetzte, als man versuchte, beides aus der ‚Natur‘ zu erklären. Voraussetzung dafür war, beides aus einer angenommenen Gottgegebenheit zu lösen, Gesellschaft über ‚Naturgesetze‘ und ‚natürliche‘ Anlagen des Gattungswesens Mensch zu erklären und Geschlecht naturhaft zu begründen. Das klingt heute z. T. seltsam, aber die Fragen stellen sich auch heute immer wieder, wenn z. B. in den Medien Sozial- und Naturwissenschaften um die Deutungshoheit streiten. Da wird etwa über Hormone ein unterschiedliches Karriereverhalten erklärt, und gleichzeitig machen soziologische Forschungen Schwangerschaft, Demenz oder Tod zum Gegenstand. Wer sich für ein Soziologie-Studium entschieden hat, hat die Frage ein kleines Stück weit für sich beantwortet: Er oder sie geht davon aus, dass die Soziologie einiges an Erklärungskraft besitzt, wobei unser Alltagsdenken dem durchaus Grenzen setzt und z. B. Schwangerschaft, Demenz und Tod außerhalb der Soziologie verortet werden. Wer sich aber darauf eingelassen hat, dieses Fach anzugehen, muss sich auch immer wieder darauf einlassen, das eigene Alltagsdenken zu hinterfragen und zu überwinden. Bei wenigen Sachen ist dies so unangenehm, trifft das so persönlich und ist es so unglaublich zäh wie bei Geschlecht. (Auf dem Weg, den wir nachzeichnen werden, sind daher schon klügere als die Autorinnen ins Schwimmen geraten.) An dem Punkt, an dem die Geschlechtersoziologie heute steht, wird und soll sie nicht stehen bleiben – aber wohin geht die Reise? Eine wichtige Orientierung bietet immer die Antwort auf die Frage: Wo kommen wir denn her? Wir kennen das, wenn wir uns in einer fremden Stadt verirrt haben. Die Frage, wie kommen wir zu dem Punkt, zu dem wir hin wollen, ist leichter zu beantworten, wenn wir den Weg zurück noch gut im Gedächtnis haben und dann – im besten Fall – auch noch wissen, wo wir falsch abgebogen sind. In diesem Sinne verstehen wir die Aufgabe eines Lehrbuchs für Geschlechtersoziologie weniger als die Aufgabe,

2

1 Einleitung

Ihnen, unseren Leserinnen und Lesern, nur unser Wissen mitzuteilen, sondern Sie so auf den Weg zu bringen, dass Sie ihn weitergehen können. Dazu aber müssen Sie wissen, welche Wege, welche Umwege und Sackgassen bisher beschritten wurden, um sich ein Bild machen zu können, in welcher Richtung ein „Weiter“ überhaupt liegt, welche Fehler andere schon für Sie gemacht haben und wo sie – und vielleicht auch wir – falsch abgebogen sind. Bei dieser Auseinandersetzung werden wir feststellen, dass uns bei allen Unterschieden der Thematisierung und Konzeption von Geschlecht, die wir in den gut zwei Jahrhunderten skizzieren werden, auch immer wieder Vertrautes begegnet: Dies liegt zum Teil daran, dass es Formulierungen der späten Aufklärung sind, die uns immer noch prägen. Zudem wurden aufgeworfene Fragen bislang nicht oder zumindest nicht zufriedenstellend gelöst und beschäftigen uns daher auch heute noch. Vor allem aber haben sich die Umstände, unter denen Wissenschaft betrieben wird und unter denen Geschlecht sozial relevant wird, gar nicht so weit verändert, wie wir manchmal meinen und so sind die Themen, die verhandelt werden, mehr oder weniger die gleichen. Ob Olympe de Gouges oder Marx, ob erste oder zweite Welle der Frauenbewegung: Arbeitsteilung, Sexualität, Fortpflanzung, ‚Charaktere‘ oder Macht waren und sind zentrale Angelpunkte in der Debatte über Geschlecht. Gleichzeitig sind sie weder ‚immer schon‘, geschweige ‚von Natur aus‘ mit Zweigeschlechtlichkeit verbunden, noch können wir sie verstehen ohne die Berücksichtigung von Geschlechterunterscheidungen. Vielmehr gilt es herauszuarbeiten, wie Geschlecht mit diesen Themen zusammengebracht wurde und wird. Dabei hat sich der Hintergrund, vor dem diese Themen verhandelt werden, durchaus verändert. So haben sich Teilhabebeschränkungen an Bildung und qualifizierter Erwerbsarbeit in weiten Teilen aufgelöst, sind sexuelle Einschränkungen geringer geworden, haben sich technische Möglichkeiten sowohl der Verhinderung als auch der Ermöglichung von Fortpflanzung vervielfältigt und sind gesetzlich verankerte Machtungleichgewichte verschwunden. Die genannten Themen sind nichtsdestotrotz aktuell geblieben. Die soziologische Beschäftigung mit Geschlecht hat ihren Ursprung nicht zuletzt in zwei Jahrhunderten politisch motivierter Frauenbewegungen. Ein Lehrbuch zur Geschlechtersoziologie kann darüber nicht schweigen – es kann jedoch nicht selber Teil einer solchen sein: •

In einer wissenschaftlichen Tradition, die Webers Anspruch der „Werturteilsfreiheit“ folgt (vgl. Kap. 3.1.5), können normativ-moralische Forderungen zwar zu einem Gegenstand empirischer und theoretischer Analyse werden, aber nicht ihr Ergebnis sein. • In politischen Inanspruchnahmen werden Zweifel ausgeklammert, wenn sie einer Problemlösung nicht dienlich sind. In der wissenschaftlichen Haltung aber werden Skepsis und Zweifel kultiviert. Ihr Horizont besteht in der Einsicht, dass Dinge auch ganz anders sein könnten, holt also nachdrücklich die Kontingenz des Bestehenden ins Bewusstsein. • Im Kern des politischen Interesses stand und steht die soziale Ungleichheit der Geschlechter. In der soziologischen Erforschung von Geschlecht wird dagegen die Unterscheidung zwischen Frauen und Männern selber zum Gegenstand gemacht, der Modus ihrer Vergesellschaftung folgt erst aus dieser Unterscheidung. Im Gegensatz zu bspw. einer Organisations- oder Religionssoziologie ist eine spezielle Soziologie zu Geschlecht auch heute nicht unumstritten. Da ist auf der einen Seite der Anspruch, Geschlecht müsse zum ‚Grundbegriff‘ jeder soziologischen Analyse avancieren, da mit sozialen Strukturen auch Geschlechterverhältnisse entstehen, die alle sozialen Strukturen durchziehen. Auf der anderen Seite gibt es dagegen diejenigen, die meinen, für Gesellschaftstheorien und Zeitdiagnosen inzwischen von Geschlecht weitgehend absehen zu kön-

1 Einleitung

3

nen. In vielen Teil-Soziologien wird in einer Art „political correctness“ Geschlecht inzwischen in allen möglichen quantitativen Analysen als dichotome Variable berücksichtigt, die sich sozial auswirke, aber zugleich wird (implizit) angenommen, dass sie nicht sozialen Ursprungs sei. Eine Reflexion über das, was ein ‚Unterschied‘ ist, und wie es zu Unterschieden kommt, findet hier i. d. R. nicht statt. Wenn wir dieses Buch „Geschlechtersoziologie“ genannt haben, so bedeutet das auch eine Verortung in diesen Diskussionen. Während (sich oft politisch verstehende) Frauen- und Geschlechterforschung einerseits und Soziologie andererseits vielfach lediglich nebeneinander her verlaufen, wollen wir explizit Geschlecht in genuin soziologischer Weise zum Gegenstand machen. Das impliziert, dass in einer solchen Perspektive Geschlecht nicht einfach naturhaft gegeben ist, sondern sozial erzeugt wird und sich trotz massiven sozialen Wandels immer neu reproduziert. Die unterschiedlichen Zugänge, die wir vorstellen werden, verdeutlichen, dass aus ‚Geschlecht‘ allein keine Analysekategorien folgen, sondern die Theorie darüber entscheidet, welche Dimensionen sozialer Wirklichkeit einer Analyse zugänglich gemacht werden (können). Unserer eigenen Annäherung an das Thema liegt die Perspektive zugrunde, dass sich im Zusammenleben von Menschen eine historisch und kulturell je spezifische soziale Wirklichkeit herausbildet, die den Menschen in ihrem (alltäglichen) Zusammenleben so vertraut ist, dass sie den Charakter des Selbstverständlichen annimmt und in der Regel nicht weiter hinterfragt wird. Indem soziologische Analysen dem jeweiligen Modus der Vergesellschaftung von Menschen nachgehen und die der sozialen Wirklichkeit zugrunde liegenden sozialen Formen, Verhältnisse und Strukturbildungen explizit machen, treten sie ein Stück weit ‚neben‘ diese soziale Wirklichkeit, ohne sie aber selbst verlassen zu können. Jede Soziologin/jeder Soziologe bleibt den zeitgenössischen Denkwelten immer auch verhaftet. Im Laufe des Buches werden wir daher immer wieder die historischen Kontexte der jeweiligen Entwürfe aufrufen. Die Berücksichtigung dieser Kontexte soll uns helfen, herauszuarbeiten, wie wir bestimmte Theorieentwürfe und Konzepte verstehen und einordnen können. Dabei werden wir aufzeigen, wie politische und moralische Sichtweisen – also nichtwissenschaftliche Fragen – in die jeweilige Thematisierung einfließen. Diese – das Alltagsdenken, die moralischen und politischen Vorstellungen – bezeichnen wir als Denkgefängnisse, die von der Aufklärung bis heute eine offene, systematische und dezidiert soziologische Erforschung von Geschlecht erschweren. Im alltäglichen Zusammenleben ist die Unterteilung von Menschen in Frauen und Männer so präsent, so basal und so selbstverständlich wie für Fische das Wasser. Diese für uns fraglose Gegebenheit von zwei klar voneinander geschiedenen Spezies der menschlichen Gattung, die sich in physischen Merkmalen, psychischen Eigenschaften und sozialen Verhaltensweisen grundlegend voneinander unterscheiden, ist jedoch eine kulturelle und historische Besonderheit. Sie entwickelte sich in Europa mit der Aufklärung. Vor dem Hintergrund des Gleichheitspostulats, das von dem zunehmend erstarkenden Bürgertum in die Wissenschaften und in die Politik getragen wurde, musste die zuvor gegebene Unterordnung von Frauen unter Männer in den jeweiligen Ständen neu austariert werden. Eine Reformulierung sozialer Ungleichheit zwischen den Geschlechtern blieb zwar nicht unangefochten, sie konnte sich jedoch vor dem Hintergrund philosophischer und moralischer Legitimation und aufgrund gelebter Praxis etablieren. Nach und nach wurde die Ungleichheit durch den Gedanken der zwei kategorial und ‚von Natur aus‘ unterschiedlichen Geschlechter unterlegt und weiter verfestigt (Kap. 2.1).

4

1 Einleitung

Vor diesem Hintergrund mussten sich die – als solche heute anerkannten – Gründungsväter der Soziologie zu dem bürgerlichen Ideal der Geschlechtertrennung verhalten: Auguste Comte, Herbert Spencer und Karl Marx mit Friedrich Engels konzipierten ihre Großentwürfe zu gesellschaftlichen Entwicklungen im Bezug auf die wissenschaftlichen und alltäglichen Wissensbestände und Fragen ihrer Zeit. Dennoch fielen ihre Entwürfe sehr unterschiedlich aus. Für alle vier Wegbereiter der Soziologie war die Frage nach der Stellung der Frauen so wichtig, dass wir hier erste Ansätze zu einer soziologischen Thematisierung von Geschlecht finden. Sie widmeten sich vor allem der Frage, wie die zeitgenössischen Geschlechterverhältnisse entstanden sind – dagegen ist die grundsätzliche Frage der Einteilung von Menschen in zwei und nur zwei Geschlechter nicht (mehr) ihr Thema (Kap. 2.2). Auch die als Klassiker geltende Generation an Wissenschaftlern ging dieser Frage nicht nach, obwohl ihre theoretischen Entwürfe dies zum Teil durchaus nahegelegt hätten. Ferdinand Tönnies, Emile Durkheim, Georg Simmel und Max Weber banden Geschlecht – ebenfalls unterschiedlich – in ihre soziologischen Konzepte mit ein. Anders als die frühen Wegbereiter nahmen sie in ihren allgemeinen soziologischen Konzepten vor allem die Brüche und Kontingenzen in gesellschaftlichen Entwicklungen sowie die Entwicklung des Individuums aus dem Sozialen in den Blick. Sie fragten, wie Gesellschaft möglich ist und da bot sich ihnen – in unterschiedlichem Ausmaß und bei weitem nicht immer konsistent – auch eine in der Natur verortete Verschiedenheit der Geschlechter und ihrer Aufgaben zur Antwort an. Rechte und Aufgaben nach Geschlecht zuzuweisen, war schon zu ihrer Zeit heftig umstritten – die erste Welle der Frauenbewegungen zeitigte hier gravierende Veränderungen. Die genannten Klassiker nahmen darauf auch Bezug und kamen zu unterschiedlichen Einschätzungen, wie sich die Verhältnisse der Geschlechter wandeln würden bzw. sollten (Kap. 3.1). Im Nationalsozialismus stellte sich diese Frage nicht mehr. Sie wurde durch eine rigide, Frauen auf das Haus und in die Unterordnung verweisende Ideologie beantwortet. Damit wurde nicht nur die Lebensrealität der Geschlechter berührt – auch für eine soziologische Beschäftigung mit Geschlecht hatte dies Konsequenzen. Das internationale Renommee der deutschen Soziologie zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde durch die Flucht einer neuen Generation wichtiger Denker/innen ausradiert (Kap. 3.2). Theoriebildung fand größtenteils im Exil statt. Eine Gruppe, die schon vor, aber besonders im Exil wesentliche Konturen einer Theorie der Sozialwissenschaften entworfen hatte und nach dem Krieg wieder zurückkehrte, ist die sogenannte „Frankfurter Schule“. Mit ihr kam die „Kritische Theorie“ nach Deutschland. Vor dem Hintergrund der politischen Umbrüche und der Schrecken der NS-Zeit hatten sie eine Sozialtheorie entworfen, die sich mit Bezug auf Marx wieder als ‚politisch‘ verstand. Die Kategorie Geschlecht erschien bei ihnen jedoch nur als Randthema dort, wo es um Frauen ging und das hieß bei ihnen: in der Familie (Kap. 1.1). In den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts war dieser Ansatz in Deutschland sehr verbreitet und wurde dann auch von der Frauenforschung (kritisch) aufgegriffen. Wesentlich weniger prominent waren lange Zeit die Ansätze, die Interaktionstheorien, soziologische Phänomenologie und Wissenssoziologie begründeten. George Herbert Mead, Alfred Schütz, Karl Mannheim und Viola Klein legten in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts Ansätze vor, die die Geschlechterdifferenz nicht mehr voraussetzten. Geschlecht wurde bei Klein und – in Anlehnung an ihre Forschung – bei Mannheim zum Gegenstand einer „Ideologiekritik“ (Kap. 3.4).

1 Einleitung

5

In den 1950er und 60er Jahren drang Geschlecht über den Begriff der „Geschlechtsrolle“ (wieder) in die (deutschsprachige) Soziologie ein. Pate stand hier der Strukturfunktionalismus Parsons’scher Prägung, in dem ein Gedanke aus der Kulturanthropologie aufgegriffen wurde, in kulturell definierten „age and sex categories“ (Linton 1942) ein grundlegendes Muster sozialer Differenzierung zu sehen. Die ‚Geschlechtsrollendifferenzierung‘ galt als grundlegende Voraussetzung des sozialen Systems ‚Familie‘ und als Basis von Gesellschaftssystemen. Die sich relativ bald formierende Kritik fand zunächst wenig Resonanz (Kap. 4.1–4.3). Dasselbe gilt für die durch H. Garfinkel und E. Goffman im interpretativen Paradigma – mit Bezug auf Mannheim, Schütz und Mead – entwickelten soziologischen Entwürfe, in denen die alltägliche Praxis der Unterscheidung von Menschen in zwei Geschlechter nun systematisch in den Blick genommen wurde (Kap. 4.4). Auf diesen Entwürfen konnte jedoch Jahrzehnte später die interaktionstheoretische Konstruktionstheorie aufbauen. In den 1960er und 70er Jahren entstand im Kontext einer allgemeinen Aufbruchstimmung eine zweite Welle der Frauenbewegung und mit ihr eine explizit sich auf Frauen beziehende Forschung „von Frauen für Frauen“ – die „Frauenforschung“, die den Begriff der „Geschlechtsrolle“ ablehnte. Doch auch der Frauenforschung ging es zunächst nicht um die Kategorie Geschlecht, sondern darum, einen in allen Wissenschaften diagnostizierten Androzentrismus sichtbar zu machen und ihm eine andere, eben „weibliche“ Perspektive gegenüberzustellen. Im Zentrum standen die Kritik an Macht, Herrschaft und Gewalt im Verhältnis der Geschlechter, der Unterbewertung von Hausarbeit, ihrem Ausschluss aus der Öffentlichkeit sowie der Unsichtbarkeit und dem unsichtbar Machen von Frauen in der Wissenschaft (Kap. 5.1 und 5.2). In dem Maße, wie in den Blick rückte, dass auch und gerade in modernen Geschlechterverhältnissen Frauen der Status des Anderen und Minderen zugewiesen wird, sie zentral über ihr Geschlecht definiert werden, Männer dagegen für das Allgemeine stehen, wurde „das Geschlechterverhältnis“ zum Thema und die „Frauenforschung“ erweitert zur „Frauen- und Geschlechterforschung“ (Kap. 5.3 und 5.4). Eine als ‚feministische Revolution‘ anvisierte, ganz andere Soziologie, in der alle bisherige Forschung überprüft und in der ‚Geschlecht‘ nunmehr eine grundlegende Forschungsperspektive bilden sollte, kam jedoch nicht zustande. Stattdessen kam es in einzelnen Bereichen zu Kooperationen und Kooptationen wie etwa in der „geschlechtssensibilisierten Sozialstrukturanalyse“ und zur Herausbildung einer Art „Arbeitsteilung“ (Hirschauer 1994) zwischen der allgemeinen (und auch der Mehrzahl der speziellen) Soziologie(n) und der sich nach wie vor inter- und transdisziplinär verstehenden Frauen- und Geschlechterforschung (Kap. 6). Die andere Thematisierung, die in der Geschichte – von Hippel über Klein bis Garfinkel und Goffman – immer (nur) mitlief, brach sich vor allem in den 1980er Jahren Bahn. Wissenschaftsgeschichtlich und -kritisch, kulturvergleichend und ethnomethodologisch wurde – nicht zuletzt unter Bezug auf frühe Ansätze – Geschlecht systematisch zum Gegenstand gemacht. Dabei wurde die Trennung eines kulturellen („gender“) – und damit der Soziologie zugänglichen – von einem vermeintlich natürlichen Geschlecht („sex“) grundsätzlich infrage gestellt (Kap. 7.1). Die „konstruktivistische Wende“ brachte zwei Ansätze hervor, die dieses Infragestellen in theoretische Entwürfe goss: einen interaktionstheoretischen (Kap. 7.2) und einen diskurstheoretischen (Kap. 7.3). Mit der konstruktivistischen Wende nahm die Thematisierung von Geschlecht in der Soziologie Fahrt auf. Auch andere aktuell vertretene Sozialtheorien wurden als Potential für die Analyse von Geschlecht erschlossen, zum Teil um eigene Konzeptionen zur Erklärung der sozialen Konstruktion von Geschlecht vorzulegen, zum Teil um Konstruktionsmodi zu sys-

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1 Einleitung

tematisieren. Zentrales Anliegen in diesen Ansätzen war und ist es, auf der Grundlage der soziologischen Erschließung des Gegenstandes Fragen vor allem zu Persistenz und Wandel der Geschlechterverhältnisse oder zu Machtverhältnissen neu zu beantworten (Kap. 8). In einem Verständnis von Geschlechtersoziologie, wie es in diesem Buch vertreten wird, wird die Frage zentral, wie in unterschiedlichen Bereichen des Sozialen Geschlecht ‚gemacht‘ wird. Die Unterscheidung nach Geschlecht wird in Interaktionen hergestellt, sie wird dort aber nicht jedes Mal neu ‚erfunden‘, vielmehr ist sie institutionell verankert und diese institutionelle Verankerung dient als Ressource der interaktiven Herstellung (Kap. 9.1). Im Laufe eines Lebens muss sie zwar ebenso wenig neu erfunden, doch stets neu angeeignet werden (Kap. 9.2). Eine zentrale Stelle, an der die Unterscheidung wirkmächtig wird, ist die geschlechterdifferenzierende Arbeitsteilung, die mit der Unterscheidung von Erwerbs- und Haus-/Familienarbeit seit der Aufklärung die Dichotomisierung getragen hat (Kap. 9.3). Wenn uns die Geschlechtertrennung – über zwei Jahrhunderte bis heute – als ‚natürlich‘ erscheint, so liegt das in Naturalisierungsprozessen begründet. Diese haben wie die Arbeitsteilung zwar im 18./19. Jahrhundert ihren Anfang genommen, sie müssen jedoch stets legitimatorisch ‚erneuert‘ werden (Kap. 9.4). Geschlecht ist beileibe nicht die einzige Kategorie des Sozialen, deren interaktive Erzeugung Individuen in der sozialen Ordnung ihre Plätze zuweist. Das heutzutage mit dem Begriff der Intersektionalität diskutierte „doing difference“ will die simultane Hervorbringung der verschiedenen sozialen Kategorien einfangen (Kap. 9.5). Wir beschließen dieses Kapitel mit einer Frage, die vielen unserer Leserinnen und Leser vor der Lektüre des Buches sicher noch leicht zu beantworten schien: Können wir von Geschlechterunterscheidungen auch absehen (Kap. 9.6)? Beim Schreiben dieses Buches haben wir uns Leserinnen und Leser vorgestellt, die so viel Erfahrung mit der Soziologie haben, dass sie wissen, wofür sie sich da interessieren. Ob das im 3. oder im 7. Semester ist, wird individuell differieren. Es ist aber auch so geschrieben, dass Lehrende in anderen Fächern und anderen Institutionen Hinweise und Anhaltspunkte finden können, das Thema in die eigene Lehrtätigkeit einzubauen, d. h. man kann das Buch auch selektiv nutzen. Dort, wo wir Fachbegriffe einführen und erläutern, haben wir sie besonders hervorgehoben, so dass sie im Text schnell(er) gefunden werden können. Schließlich möchten wir uns bei Darja Burljaev und Konstantin Decker bedanken, die durch kritische Rückfragen immer wieder zur Verbesserung der Texte beigetragen haben und ohne die die technische Fertigstellung des Manuskriptes wohl nicht gelungen wäre.

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Spurensuche

Kapitelvorschau 1. Die historische Besonderheit unseres heutigen Geschlechtermodells wird hergeleitet vor dem Hintergrund der sozialen und wissenschaftlichen Entwicklungen in Europa. 2. Die ersten Entwürfe zu einer eigenständigen Wissenschaft von der Gesellschaft werden vorgestellt. Dabei werden erste Ausprägungen des neuen Blicks auf das Zusammenleben von Menschen sichtbar und Fragen aufgeworfen, mit denen wir bis heute befasst sind. Für die frühen Klassiker ist Geschlecht ein selbstverständlicher Gegenstand ihres Nachdenkens über Gesellschaft. Ihr Umgang damit ist jedoch sehr unterschiedlich, auch wenn das bürgerliche Geschlechtermodell eine wichtige Hintergrundfolie bildet.

2.1

Gleichheit und Differenz

2.1.1

Jeder Beginn ist eine Setzung

Seit den Anfängen der schriftlichen Überlieferung unseres Kulturkreises werden Menschen in Männer und Frauen eingeteilt. So heißt es z. B. in der biblischen Schöpfungsgeschichte: „Gott erschuf den Menschen, als Mann und Frau erschuf er sie“ (vgl. Genesis 1.1). ‚Geschlecht‘ scheint damit von ‚Anbeginn der Welt‘ da zu sein und unsere Betrachtung einer sozialen Bedeutung der Kategorie Geschlecht könnte also sprichwörtlich bei den ersten zwei Menschen ansetzen. Doch eine Unterscheidung von Menschen in Männer und Frauen, z. B. als Frage der Fortpflanzung oder zur Definition (eben: heterosexueller) Ehen und der Machtgefüge in ihr, ist noch nicht dasselbe wie eine soziale Aufladung der Kategorie Geschlecht, die sie zum Gegenstand einer Geschlechtersoziologie macht. Kategorien (griechisch für „Aussage“) sind Gruppierungen von Objekten, die aufgrund sozial vereinbarter Kriterien unterschieden werden. Mit der Verwendung des Begriffs kennzeichnen wir, dass Geschlecht nicht ein Merkmal von Personen, sondern ein Merkmal der Sozialorganisation ist. Diesem Gegenstand kann man sich auf sehr verschiedene Weise nähern. Sehr verbreitet ist die These, dass Gesellschaften den ‚biologischen‘ Geschlechtsunterschied verschieden interpretieren und ausgestalten, so dass die jeweilige Geschlechtszugehörigkeit für Frauen und Männer unterschiedliche Konsequenzen hat. Dazu gibt es seit vielen Jahren immer neue historisch und interkulturell vergleichende Studien. Wir werden jedoch einen anderen Zugang ausbuchstabieren. Wir gehen davon aus, dass auch ein ‚biologischer‘ Geschlechtsunterschied keine ahistorische Konstante darstellt, sondern Teil eines Wissenssystems ist, in dem ‚Geschlecht‘ zu einem außerkulturellen und ahistorischen Tatbestand gemacht worden ist. Bereits der Begriff ‚biologisch‘ weist darauf hin, denn er bezieht sich auf eine Wissenschaft namens Biologie.

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2 Spurensuche

Dieses Wissenssystem liegt unserer alltäglichen Praxis zugrunde, wir reproduzieren es in unseren Denk- und Wahrnehmungskategorien, mit deren Hilfe wir die Welt ordnen. In dieses Wissenssystem gehen biologisches, medizinisches, psychologisches oder auch historisches Wissen ebenso ein wie religiöse und ethische Überzeugungen. (Wissenschaftliches) Wissen ist grundsätzlich wandel- und revidierbar und es ist stets seinerseits von den jeweiligen sozialen und politischen Kontexten geprägt. Grundsätzlich gilt die Annahme der Veränderbarkeit auch für unser alltagsweltliches Wissen. In dem Maße jedoch, wie dieses den unhinterfragbaren, selbstverständlichen Hintergrund unserer alltäglichen Praxis bildet, ist es moralisch aufgeladen und beinhaltet glaubwürdige, selbstverständliche Begründungen, warum die Welt ist, wie sie ist. Nicht zuletzt deshalb ist es widerständiger gegenüber Wandlungsprozessen als das im engeren Sinne wissenschaftliche Wissen. Ein wichtiges Element in Wissenssystemen sind Begriffe. Sie haben im Lauf der Geschichte oftmals einen Bedeutungswandel durchlaufen, der mit der in der Geschichtswissenschaft entwickelten Methode der Begriffsgeschichte rekonstruiert werden kann und der als ein Indikator für den Wandel gesellschaftlicher Verhältnisse und Interpretationsmuster gilt. Besonders gut nachvollziehen lässt sich Bedeutung und Art der Verwendung von Begriffen anhand von Konversationslexika. In ihnen finden wir das jeweilige zeitgenössisch als gesichert geltende Wissen, in unserem Fall das Wissen zu Geschlecht. In Lexika des 18. Jahrhunderts wird beim Stichwort Geschlecht an erster Stelle die genealogische Bedeutung erläutert, i. e. die Unterscheidung von Abstammungslinien, so z. B. das Geschlecht Abrahams. Die für uns heute selbstverständliche Bedeutung – die Einteilung von Menschen in Frauen und Männer – wird erst an einer späteren Stelle mit „Sexus“ als Differenzierung zu Fortpflanzungszwecken spezifiziert. Und auch bei den Begriffen „Mann“ und „Frau“ wird stets zuerst auf ihren sozialen Stand hingewiesen (so der „Lehnsmann“ oder „Soldat“), anschließend auf ihren Ehestand (als „Ehemann“ oder „-weib“/„-frau“). Erst nachrangig gegenüber allen anderen Bedeutungen wird auf Personen männlichen/weiblichen Geschlechts verwiesen, wobei bei Frau/Weib nicht nur die Fortpflanzungsfunktionen, sondern auch ihre rechtliche Unterordnung als allgemeines Kriterium angeführt wird (Frevert 1995). Die Einteilung in genealogische Geschlechter war sozial bedeutsamer als die Unterscheidung zwischen Männern und Frauen, denn die Abstammung bestimmte in Europa in hohem Maße den sozialen Status. Unser heutiges Verständnis der Kategorie Geschlecht, die jeweils alle Männer und alle Frauen umfasst, war vor dem historischen Hintergrund der Antike bis weit in die Neuzeit gar nicht denkbar: Königin, Herzogin, Maitresse, Nonne, Bürgerin, Bäuerin, Freie oder Leibeigene ließen sich in der damaligen Lebenswirklichkeit und Wahrnehmung nicht unter einer Kategorie subsumieren – sie hatten eben nicht das gleiche Geschlecht (vgl. Laqueur 1992; Honegger 1991; Hausen 1976). Und wo die Abstammungslinie über den sozialen Status entschied, waren – wie die Geschichte zeigt – Frauen nicht von Macht und Herrschaft ausgeschlossen. Der Veränderungsprozess hin zu dem heutigen Verständnis von ‚Geschlecht‘ fand in der Zeit etwa zwischen 1750 und 1850 statt. Für diese Zeit von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts hat Koselleck den Begriff der „Sattelzeit“ (Koselleck 1972, S. XV) zwischen vormodernen und modernen Zeiten geprägt. Diese Zeit erscheint uns im Nachhinein als eine Phase ganz einschneidender Umbrüche, die vieles hervor gebracht hat, was in unseren heutigen Sichtweisen und Lebenswirklichkeiten nach wie vor Gültigkeit hat, eben auch unser Verständnis von Geschlecht. Sie wollen wir im Folgenden betrachten, um die Hintergründe und Entwicklungen zu skizzieren, die bis heute unser Verständnis von Ge-

2.1 Gleichheit und Differenz

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schlecht prägen und mit denen gleichzeitig ein grundlegender Widerspruch in die Entwicklung der modernen Gesellschaft eingebracht wurde, der bislang nicht aufgelöst wurde.

2.1.2

Entwicklung des Bürgertums

Die wichtigste soziale Grundlage dafür, dass die Einteilung in Männer und Frauen an Gewicht gewinnen konnte, war der Bedeutungsverlust der Abstammung. Diese Bedingung war in den immer wichtiger werdenden Städten relativ früh gegeben: Dort lebten die „Freien“, die „Bürger“ bzw. „cives“, das heißt, diejenigen, die im Rechtsbereich der Stadt einander gleichgestellt waren. Von dort aus nahm das Bürgertum nicht nur an Größe zu, sondern vor allem an Einfluss, sowohl in Hinsicht auf direkte politische Macht, vor allem aber indirekt, indem seine Leitbilder zunehmend von anderen sozialen Gruppen übernommen wurden (Rosenbaum 1982). Der Machtzuwachs des Bürgertums war wiederum wechselseitig verbunden mit anderen Umwälzungen, die in dieser Zeit stattfanden. Wichtige Umwälzungen waren: •

Religion und ihre Institutionen verloren an Bedeutung; eine zunehmende Säkularisierung oder „Entzauberung“ der Welt setzte ein (Weber 1919), die mit dem ideellen und politischen Machtverlust des Klerus einherging. Andere Orientierungssysteme wie z. B. die Wissenschaft drängten an ihre Stelle. • Das Feudalsystem und mit ihm seine Verwaltungsstrukturen wurden brüchig. Insbesondere mit der Entstehung von Territorialstaaten verlor die Hierarchie zwischen und in den Ständen an politischer Bedeutung. Es entstanden politische Verwaltungsstrukturen, die die alten Strukturen verdrängten bzw. die entstehende Lücke füllten. In diesen Verwaltungen wurden zunehmend durch allgemein gesetzliche und (im weitesten Sinne) leistungsbezogene Kriterien Rechte und Pflichten fixiert, so dass die auf Stände bezogenen tradierten Rechte langsam erodierten. • Die Produktionsverhältnisse änderten sich: Die zünftigen Handwerke verloren gegenüber Manufakturen zunehmend an Bedeutung. Letztere waren u. a. durch technische Neuerungen und die Entstehung des westlichen Kapitalismus einem Wandel unterworfen, der ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts von England ausgehend in die Industrialisierung mündete (in Deutschland erste Hälfte des 19. Jh.). Mit diesen Prozessen wurde die Macht des Adels und des Klerus geschwächt und die ökonomische, politische und kulturelle Macht des Bürgertums gestärkt. Seine (auch politisch relevante) ökonomische Macht bestand primär darin, dass die Bürger die Beamten in Verwaltung und Wirtschaft (z. B. die sogenannten ‚Fabrik-‘ oder ‚Bankbeamten‘) und die Unternehmer stellten. Ihre kulturelle Macht beruhte auf zweierlei. Das städtische Bürgertum machte zwar zu Beginn des 18. Jh. nur 10% der Bevölkerung aus (Frevert 1986, S. 24), doch dominierten die Bürgerlichen an den Universitäten. Ihre Kenntnisse, ihr Wissen-Schaffen und auch ihre Ansprüche an Bildungsinhalte formten die wissenschaftlichen Erkenntnisse und Meinungen (vgl. Rosenbaum 1982; Frevert 1986). Damit war das Bürgertum zutiefst aufklärerisch. Es brach die Wissensmonopole von Kirche und Adel auf und prägte fortan wesentlich die Geistesgeschichte. Zum Zweiten beinhaltete das bürgerliche Leitbild eine große Attraktivität für untere Gesellschaftsschichten: Entgegen dem Adel, der sich durch eine ‚gottgewollte‘ und somit nicht überschreitbare Grenze von den unteren Ständen abhob, suggerierte das bürgerliche Ideal ein Aufweichen der Grenzen im Gedanken der Gleichheit aller Menschen (vgl. Kap. 2.1.4). Es vermittelte, dass die Grenze zu einem bürgerlichen Status durchlässig sei, denn das Selbstverständnis des Bürgertums beruhte auf Distinktionsmerkma-

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2 Spurensuche

len, die nicht ‚gottgegeben‘ und damit angeboren, sondern von Menschen erlangbar und veränderbar waren, vor allem Bildung und Vermögen (vgl. Rosenbaum 1982, S. 379 f.).

2.1.3

Die bürgerliche Sphärentrennung

Unser heutiges Verständnis von Geschlecht speist sich wesentlich aus den bürgerlichen Leitbildern, die sich wegen dieser kulturellen, sozialen aber vor allem wissenschaftlich prägenden Kraft des Bürgertums durchsetzen konnten. Bis sich die Leitbilder in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entwickelten und von dort nach und nach ihre soziale Wirkmacht entfalten konnten, sah das alltägliche Leben des weit überwiegenden Teils der damaligen Bevölkerung ganz anders aus. Arbeitsteilung zwischen Männern und Frauen existierte nur ‚innerfamilial‘, weil Frauen und Männer im alltäglichen Leben nicht anders vorkamen als in der ökonomischen Einheit des Hauses. ‚Innerfamilial‘ muss an dieser Stelle deswegen in Anführungsstriche gesetzt werden, weil auch der Begriff der Familie erst mit dem Erstarken des Bürgertums eingedeutscht wurde. Bis zur ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts war dieser Begriff unbekannt, wurde dann zunächst als Synonym zur ‚Hausgemeinschaft‘ verwendet, so dass auch nicht verwandte Mitglieder des Hauses (Gesinde, Lehrlinge etc.) zur Familie zählten. Danach setzte sich der Begriff Familie für die Bezeichnung von Verwandtschaftsverhältnissen durch, so dass die Trennung zwischen Verwandten und nicht-Verwandten erstmalig diese Bedeutung erfuhr (Frevert 1986, S. 17). In der (vorbürgerlichen) Hausgemeinschaft wurde die Arbeitsteilung auf Bauernhöfen, bei Kaufleuten oder in Handwerkshäusern nicht entscheidend über die Achse Männer/Frauen geregelt, sondern am Status innerhalb der Hausgemeinschaft. Hausherr und -herrin standen jeweils Gesellen, Knechten, Mägden und Kindern vor – wobei der Hausherr die oberste ‚Instanz‘ darstellte. Innerhalb dieses Gefüges waltete die Hausherrin jedoch recht selbständig über das weibliche Gesinde und Töchter (Frevert 1986, S. 27 f.) und übernahm bei Abwesenheit des Hausherrn (z. B. Händlern) häufig seine Stellvertretung. Nach Geschlecht getrennte Aufgabenbereiche innerhalb des Erwerbs waren zwar weit verbreitet, bspw. dass Männer überwiegend auf dem Feld, Frauen überwiegend im Haus arbeiteten. Rigide aufrechtgehalten wurden diese jedoch nicht: So lernten beispielsweise auch die Söhne Handarbeiten wie Spinnen und Weben, und ein Bauernhof konnte es sich nicht leisten, dass die Bäuerin nur im Haus tätig war, wenn die Ernte eingefahren werden musste. Für die Heuerlinge (die „protoindustrielle“ Arbeiterklasse) galten die unterschiedlichen Aufgabenbereiche noch weniger (Frevert 1986, S. 29 f.). Diese lange selbstverständliche und unhinterfragte Form des Familienunterhalts war mit den sich neu entwickelnden Leitbildern im Bürgertum nicht vereinbar. Die neuen Leitbilder ließen diese regelrecht abstoßend erscheinen: „[Es] sind die Weiber des gemeinen Mannes, welche gar oft die schwersten Arbeiten verrichten müssen, mehr wie Mannspersonen, als Frauenzimmer anzusehen. Man sieht sie auf den Marktplätzen und auf dem Felde, aller Orten mit den Männern vermischt: sie müssen sich unter eben die Lasten biegen; und kommen sie nach Hause, so warten neue Arbeiten auf sie. Die Frau (…) scheint beyden Geschlechtern zu zugehören, und muß nicht alleine ihre eigenen Arbeiten, sondern auch noch sehr oft die Arbeiten des Mannes übernehmen“ (Krünitz 1788 zit. nach Frevert 1986, S. 30). Die Wahrnehmung, dass die Frauen „beyden Geschlechtern zu zugehören“ schienen, impliziert Unterscheidungskriterien zwischen den Geschlechtern, die nichts mit Fortpflanzungsfunktionen und -organen oder der rechtlichen Geschlechterunterscheidung (d. h. der rechtli-

2.1 Gleichheit und Differenz

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chen Unterordnung von Frauen unter ihre Väter oder Ehemänner) zu tun haben. Für Krünitz, den bürgerlichen Beobachter dieser Szenen, sind Frauen hier ‚halbe Männer‘, weil sie sich an ‚Männerorten‘ aufhalten und ‚Männerarbeiten‘ verrichten. Arbeitsteilung und Sphärentrennung sind in seinen – bürgerlichen – Vorstellungen geschlechterdifferenzierend. Diese Diskrepanz zwischen der Lebenswirklichkeit weiter Teile der Bevölkerung und den bürgerlichen Leitbildern lässt sich nur verstehen vor dem Hintergrund der strukturellen Besonderheiten des bürgerlichen Alltags. Das Bürgertum war gekennzeichnet durch neue Arbeitsformen: Der Bürger hatte in aller Regel einen Beruf, d. h. er übte eine Tätigkeit aus, die nicht qua Stand vererbt wurde, sondern für die fachspezifische Kenntnisse und Fertigkeiten erworben werden mussten und die die Grundlage seines Lebensunterhalts bildete. Für die Erwerbsarbeit musste er eine Arbeitsstelle aufsuchen, die aus der Hausgemeinschaft und den ‚eigenen vier Wänden‘ ausgelagert war. Anders als z. B. bei Heuerlingen, Bauernhöfen oder Händlern (die den Erwerb außerhalb des Hauses zusätzlich kannten) war nun das Haus von Erwerbstätigkeit (idealiter) entleert. Durch diese räumliche Trennung entstanden die nunmehr eigenständigen Sphären des Privaten und des Erwerbs. Die für den Beruf notwendigen Qualifikationen hatten die alleinige Berufstätigkeit des (Ehe)Mannes zur Folge; eine zeitweise Stellvertretung des Berufstätigen durch Familienangehörige, die nicht diesen Beruf haben, war nicht mehr möglich. Die Berufstätigkeit des Bürgers bringt also eine Sphärentrennung hervor, die eine kategoriale Aufteilung der Väter/Ehemänner einerseits und Frauen/Kinder andererseits auf die Sphären nach sich zieht. Die Aufteilung der Geschlechter auf die Sphären bekommt damit eine ganz andere Qualität als eine Aufteilung von Arbeitsbereichen: Sie bedeutet eine rigide Trennung der Geschlechter, bei der die Pflicht, für den ökonomischen Unterhalt zu sorgen, nun allein männlichen Erwachsenen zugewiesen wird. Diese kategoriale Trennung ist zwar im 18. Jahrhundert nicht bei allen bürgerlichen Familien in dem Sinne durchgesetzt, dass es nicht auch noch häusliche Arbeiten gab, die auch Anteil an der ökonomischen Versorgung der Familie hatten – z. B. das Bestellen von Gemüsegärten oder die Herstellung von Kleidung etc. durch die Ehefrauen und Töchter. Als Leitvorstellung jedoch setzt sich auch bei denjenigen, die das noch nicht in Gänze realisieren können, durch, dass das Erwerbseinkommen des Gatten und Vaters den ökonomischen Unterhalt darstellen solle. Indem bürgerliche (Ehe)Frauen von der Berufstätigkeit und damit von dem entscheidenden ökonomischen Wirkungskreis weitgehend ausgeschlossen werden, entsteht ein Freiraum für andere Aufgabenbereiche, die ihnen nun zugeschrieben werden. Diese neue an sie herangetragene Verpflichtung folgt ebenfalls aus dem Verwiesensein auf die Berufstätigkeit des Mannes als Basis des Lebensunterhaltes. Beim Adel (im Großen) und Bauern oder Handwerkern (im Kleinen) war ein materieller Besitz (vor allem von Grund und Boden) Grundlage der Einkünfte. Dieser ließ sich an die Nachkommen vererben, weswegen die Sicherung der Generationenfolge entscheidend für den Anspruch auf Territorium, Ländereien, Hof oder Handwerkshaus waren. Beim Bürgertum ist das anders, die bürgerlichen Berufe, z. B. als Beamte, sind i. d. R. nicht vererbbar. Die soziale Herkunft hat daher bei denjenigen, die nicht über ein beachtliches Vermögen verfügen, keine unmittelbar materiellen Vorteile. Stattdessen treten nun die mittelbaren und immateriellen in den Vordergrund: Bildung und bürgerliche Erziehung (z. B. entsprechende Manieren) waren die entscheidende ‚Aussteuer‘, die dem Nachwuchs mitgegeben werden konnte. Während im Handwerk, bei Bauernfamilien oder Heuerlingen Kinder aufzuziehen eine von der Hausgemeinschaft geteilte Aufgabe der Versorgung einerseits und des Einler-

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2 Spurensuche

nens in die zu verrichtenden Tätigkeiten andererseits bedeutete, entstand im Bürgertum nun eine eigene Konzeption einer Kindern entsprechenden Erziehung. Die Kindheit wurde damit zu einer eigenen Lebensphase, mit eigenen Entwicklungsstufen. Es entstand die Vorstellung, dass Kinder nicht ‚von alleine‘ zu wohlgeratenen Mitgliedern der Gesellschaft werden, sondern durch entsprechende Maßnahmen dazu erzogen werden müssen. Diese Aufgabe wurde nun den Müttern zugedacht. Dadurch wurde Mutterschaft inhaltlich gefüllt: Sie war nun nicht mehr nur ein Verwandtschaftsverhältnis, sondern stellte eine eigene aktive und normativ aufgeladene Bestimmung zur liebevollen Fürsorge und steten Erziehung von Kindern dar. Mit der Konstruktion einer heute selbstverständlichen eigenständigen Bedeutung von Kindheit ging also wechselseitig die Konstruktion einer dazu komplementären Mütterlichkeit einher (vgl. Frevert 1986; Badinter 1992; Schütze 1986). Diese beiden Aspekte – geschlechterdifferenzierende Sphärentrennung (Arbeitsteilung) einerseits und die normative Aufladung von Mütterlichkeit – sind noch mit einer weiteren Entwicklung verbunden: Im 18. Jahrhundert bekommen Gefühle der Zuneigung („Liebe“) nun eine neue, sozial strukturierende Bedeutung. Es entsteht das Ideal der ‚Liebesheirat‘. Diese bildet eine Art „Kernstück“ des bürgerlichen Lebensideals dieser Zeit (Rosenbaum 1982, S. 261). Dieses Ideal ging zwar nicht notwendig auch mit einer tatsächlichen Liebesheirat einher, jedoch führte es zu einer „Intensivierung und Intimisierung“ der Beziehung zwischen Ehemann und Ehefrau (ebd., S. 251). Die durch die Auslagerung des Erwerbs entstandene Sphäre des Privaten wird durch Liebesheirat und Mütterlichkeit affektiv aufgeladen zu einem „gefühlsintensiven Binnenraum“ (ebd., S. 300). Sie ist der Rückzugsort des Mannes, der – wie Schiller in der Ballade „die Glocke“ schreibt – hinaus „in’s feindliche Leben“ muss (Schiller 1799 zit. nach Thalheim et al. 2005, S. 480). Das Gegenstück zum ‚feindlichen‘ Leben außerhalb des Hauses ist nicht nur für Schiller der Ort, an dem die „züchtige Hausfrau“ wirkt: Sie erzeugt im bürgerlichen Ideal die affektive Aufladung dieses Ortes. Erst aus dieser Idealisierung von Emotionalität und Empathie entstand eine normative Bestimmung dessen, was das ‚richtige‘ Ehefrau- und Muttersein ausmache. Diese wird für die bürgerliche Erziehung der Mädchen zur entscheidenden Maßgabe. Mit der Differenzierung zwischen der ‚feindlichen‘ Erwerbssphäre und der ‚liebevollen‘ Privatsphäre wird also die durch die Auslagerung der Erwerbsarbeit faktisch erzeugte Trennung der Sphären moralisch aufgeladen. Diese moralische Aufladung wird auch auf die kategoriale Aufteilung der Geschlechter auf diese Sphären übertragen. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum die Vermischung der Geschlechter bei den Heuerlingen, die Herr Krünitz im obigen Zitat beobachtete, nicht einfach als eine Folge einer anderen Lebensrealität wahrgenommen, sondern als ‚abstoßend‘ empfunden, zu einer Frage der Moral wurde. Damit aber wird sie, wie wir nachfolgend ausführen wollen, quasi automatisch zu einer Frage der ‚Natur‘. Im Zeitraffer dieser hier betrachteten Entwicklung gesehen, hat sich aus einem (inner)bürgerlichen Diskurs der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, der in ‚Ratgeberliteratur‘ und in ‚Familienzeitschriften‘ wie dem „Kinderfreund“ stattfand (Rosenbaum 1982, S. 261), ein noch heute gültiges ‚Allgemeinwissen‘ herausgebildet, das sich ab der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch in Konversationslexika niederschlug. Aus Verhaltenserwartungen an ‚gute‘ Ehefrauen und Ehemänner wurden zunehmend Aussagen über Unterschiede zwischen dem Wesen ‚der Frau‘ und dem Wesen ‚des Mannes‘. Diese Entwicklung verlief über das wichtigste Medium bürgerlicher Macht: dem Generieren von Wissensbeständen mittels der universitären Wissenschaften.

2.1 Gleichheit und Differenz

2.1.4

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Natur, Gleichheit und die Mündigkeit des Menschen

Der berühmte Satz des Philosophen der späten Aufklärung Immanuel Kant, „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“ (Kant 1784, S. 481), wirft den entscheidenden Aspekt auf, der die Neuzeit (nicht nur) geistesgeschichtlich durchgängig prägte: In der Emanzipation der Geistes- und Naturwissenschaften von der Dogmatik der Kirche entstand die Wissenschaft im heutigen Sinne. Der Aufruf „Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ (ebd., S. 481, Herv. i. O.) kennzeichnet die Emanzipation des Menschen von seinem (durch Gott) vorgezeichneten Schicksal. Aufklärung bedeutete in diesem Sinne, das Verhältnis zwischen dem, was durch göttliche Fügung geschah, und dem Anteil des Menschen an seinem eigenen Schicksal neu zu justieren. Ein gewichtiger Faktor, der diese neue Balance herstellte und als Bindeglied zwischen göttlichem und menschlichem Tun fungierte, war ‚die Natur‘. Der Naturbegriff der damaligen Zeit war mit unserem heutigen nicht identisch. Der heutige Naturbegriff versteht menschliches Tun, Gott und Natur als drei relativ distinkte Einheiten: Was Menschen machen, sei es Erziehung, Genmanipulation, Landwirtschaft oder Straßenbau, ist für uns eben nicht ‚Natur‘. Und diejenigen Positionen, die Gott als Schöpfer unserer Welt sehen, stehen unserer heutigen Vorstellung nach im Widerspruch zur Urknall-Theorie. In der Aufklärung galt diese Sicht noch nicht. Grob vereinfacht lässt sich sagen, dass der Mensch in der Pflicht gesehen wurde, dem ‚Ratschluss‘ der Natur zu folgen, deren Urheber – Gott – sie in seiner Allwissenheit perfekt geschaffen hatte. Das Neue in der Aufklärung war nun, dass diese Natur nicht mehr stets und unmittelbar von Gottes Wirken abhängig war. Die Vorstellung, dass ‚die Natur‘ aus einzelnen Individuen mit je eigenen Wesenszügen und Charakteristika bestehe, wich der Idee, dass ihr allgemeine Gesetzmäßigkeiten zugrunde liegen, die Schöpfung also ein für allemal in naturwissenschaftlich erkennbaren Gesetzen festgeschrieben war. Damit wurde die Natur in der Neuzeit der (wortwörtlich) unberechenbaren Willkür Gottes entzogen und für Menschen bestimmbar. Da die Natur als Ratgeber für den Menschen gesehen wurde, wurde von Descartes (1596–1650) bis Humboldt (1769–1859) mit mathematischen Formeln, physikalischen (d. h. vor allem mechanischen) Modellen, anatomischen und chemischen Untersuchungen versucht, dieser Natur Hinweise für moralisch richtiges Verhalten zu entlocken – und damit die moralischen Sitten ebenfalls von kirchlichen Vorgaben zu emanzipieren. Aufgrund dieses Anspruchs waren es also nicht nur Experimentalphysiker oder Mediziner, die sich über „die Natur der Sache“ und „die Natur des Menschen“ Gedanken machten, sondern vor allem auch die Philosophen, insbesondere die Sozialphilosophie bzw. Ethik. Gleichzeitig galt der Mensch der Natur aber nicht (mehr) ohnmächtig gegenübergestellt: Indem sie für den Menschen berechenbar wurde, konnte er nicht nur Lehren aus ihr ziehen, sondern sie auch (technisch) beherrschen und z. B. durch Erziehung ‚vollenden‘. Sich die Natur ‚untertan zu machen‘, wurde als Teil des Auftrages gewertet, den der Schöpfer dem Menschen gestellt hatte (vgl. Kaulbach 1984). Der zweite wesentliche Unterschied des heutigen und damaligen Naturverständnisses ist, dass im heutigen Alltagsverständnis Natur oft mit Biologie gleichgesetzt wird. Die Biologie formte sich in Deutschland jedoch erst ab der Mitte des 19. Jahrhunderts als eigenständige Wissenschaft (vgl. Mayr 1984). Naturwissenschaft hieß in der Aufklärung und Sattelzeit in erster Linie Physik. Ihre Verfahren, der Natur Gesetzmäßigkeiten zu entlocken, sie mit mathematischen Formeln zu beschreiben, war der Königsweg aller damaliger (empirischen) Wissenschaft bis weit ins 19. Jahrhundert hinein.

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2 Spurensuche

Dieser auf mathematischen Verfahren gründende ‚Königsweg‘ leistete dem Gedanken der Gleichheit der Menschen wesentlich Vorschub. Um eine gesetzmäßige Aussage über eine Gattung zu treffen, musste vorausgesetzt werden, dass die Elemente dieser Gattung in denjenigen Hinsichten, die durch die Gesetzmäßigkeiten erfasst werden sollten, gleich seien. Diese zunächst mathematische Gleichheit durchdrang aufgrund der überragenden Bedeutung mathematischer Verfahren auch die weiteren Wissenschaften. Die Mündigsprechung der Menschen in der Philosophie der Aufklärung war dementsprechend ‚selbstverständlich‘ eine Aussage über die menschliche Gattung, in der allen Menschen als Gleichen die Voraussetzung der Vernunftbegabung zugesprochen wurde, die ihre Mündigkeit ausmachte. Vor diesem Hintergrund gewann der Gleichheitsgedanke an wesentlich breiterem ideellen Wert. Die rechtliche Gleichheit der Bürger in den Städten konnte damit als ‚natürliche‘ Gleichheit durch ihre wissenschaftliche Fundierung eine neue Legitimation erlangen (vgl. Dann 1975).

2.1.5

‚Geschlecht‘ am Scheideweg

Die aufklärerischen Gedanken der Gleichheit, der Mündigsprechung des Menschen und seiner Möglichkeit Natur zu beherrschen, schufen auch eine Grundlage, um die hierarchische Ordnung der Geschlechter in Frage zu stellen. Im Vergleich zu den Abstammungslinien war diese zwar nachrangig, aber in der vor-bürgerlichen Zeit rechtlich festgeschrieben. Dieser rechtliche Unterschied zwischen Männern und Frauen war entscheidender als ein ‚natürlicher‘. Letzterer wurde als ein anatomischer Unterschied zwischen Männern und Frauen verstanden: Durch Mangel an ‚vitaler Hitze‘ seien die Sexualorgane bei Frauen nur nach innen gestülpte männliche. Penis und Vagina, Hoden und Eierstöcke, Hodensack und Gebärmutter wurden jeweils als dasselbe Organ gesehen und mit den gleichen (Fach)Begriffen belegt (vgl. Laqueur 1992). In diesem „Ein-Geschlecht-Modell“ waren Frauen die weniger vollkommenen Menschen, eine Begründung der (rechtlichen) Unterordnung lag darin aber nicht. Diese fand sich weniger ‚in der Natur‘ als in der Bibel. Das oben skizzierte bürgerliche Ideal besaß nun gerade für Wissenschaftler – also bürgerliche Männer – eine besondere und – wie wir zeigen werden – wirkmächtige Attraktivität, gerade weil es (zu der Zeit) vor allem ein Ideal und kaum erlebte Realität war. Wie es mit ‚Geschlecht‘ bzw. einer sozialen Bedeutung der Einordnung in Männer und Frauen weiter gehen würde, war zum Ende des 18. Jahrhunderts offen, das heißt vor allem, es konnte, musste und wurde auch neu diskutiert: Auf der einen Seite wurde bspw. von Hippel, Wollstonecraft oder Olympe de Gouges die Gleichheit der Menschen konsequent zu Ende gedacht. Auf der anderen Seite wurden bspw. von Kant oder Rousseau Argumente ins Feld geführt, die die bestehende Abwertung von Frauen vor der Folie des bürgerlichen Familienideals neu legitimierten. Auch Frauen sind zur Vernunft fähig und daher ‚gleich‘ Mary Wollstonecraft und Olympe de Gouges gelten als erste feministische Denkerinnen. In ihren „Vindications of the Rights of Women“ beklagt M. Wollstonecraft die „Tyranney, die sich der Mann gegenüber [dem] Weib erlaubt“ (Wollstonecarft 1792 zit. nach Gerhard et al. 2008, S. 28) und die Unmündigkeit, in der Frauen gehalten werden. Sie insistiert einerseits auf dem Prinzip ungeteilter Menschenrechte, da auch Frauen von Natur aus zu Vernunft und Freiheit fähig seien. Gleichzeitig betont sie die besonderen Bedürfnisse und Erfahrungen, die Frauen aufgrund ihrer Fähigkeit zur Mutterschaft haben und sieht diese als Grundlage unter-

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schiedlicher Bürgerpflichten an. Die Geschlechtertrennung als solche wird weder für sie noch für Olympe de Gouges zum Thema. Theodor Gottlieb von Hippel geht hier bereits einen Schritt weiter und fragt danach, was die Grundlage der Geschlechtertrennung sei. Er geht davon aus, dass Geschlecht nur dann relevant (und natürlich sei), wenn es konkret um Fortpflanzung gehe. Alle anderen Unterschiede – auch physiologische, sofern sie über die Fortpflanzungsorgane hinausgehen – sind in seiner Wahrnehmung nicht natürlich begründet: „Ist das weibliche Geschlecht in der Regel wirklich kleiner als das männliche? Ist nicht die Größe überhaupt etwas sehr relatives, welches in Klima, Nahrungsmitteln und anderen uns unbekannten Ursachen wesentlichere Bestimmungsgründe findet, als in dem Geschlechtsunterschied?“ (Hippel 1828 [1792], S. 25). Die beobachtbaren Unterschiede zwischen Männern und Frauen sind in Hippels Augen durch Arbeitsteilung und vor allem Zuschreibungen historisch entstanden. Einer vermeintlichen Naturhaftigkeit stellt er entgegen, dass es „die Natur“ in dem Sinne nicht gebe, „denn der Grund aller Behauptungen wird aus der Natur genommen, einer Urkunde, die das mit allen Urkunden gemein hat, daß ein Jeder, was er darin sucht, auch darin findet“ (ebd., S. 32), sie also gleichermaßen das Gegenteil belegen könne. Mehr noch, ist die ‚menschliche Natur‘ menschlich im doppelten Sinne, nämlich auch eine von Menschen gemachte Natur: „der Mensch, sein eigener Bildhauer, kann aus dem Marmorwürfel, den die Natur ihm zuwarf, einen Gott und ein Thier machen (…) bloß auf die Behauptung schränk‘ ich mich ein, daß der Stoff, woraus eine Venus ward sich eben so gut zu einem Merkur verarbeiten läßt (…) und daß, wenn die Natur das menschliche Geschlecht zu schaffen anfing, sie den größeren Theil uns selbst überließ“ (ebd., S. 10). Sein Begriff von Geschlecht ist in drei Bestandteile unterteilt: Der erste ist die Fortpflanzung. Dies ist der einzige natürliche Unterschied für Hippel. Der zweite sind die historisch entstandenen Unterschiede, deren Ursprünge er in der frühen Menschheitsgeschichte vermutet und hier die Arbeitsteilung als das entscheidende Moment annimmt. Dabei geht er jedoch nicht davon aus, dass der Mann die schwereren Aufgaben übernahm, sondern vielmehr, dass er diese der Frau aufzwang, da sie durch die Schwangerschaft die größere Belastbarkeit zu haben schien. Der dritte Bestandteil ist die Ungleichheit, die er ebenfalls als Ergebnis der Arbeitsteilung denkt. Haustierhaltung sieht er als Ursprung der Sklaverei und so vermutet er: „So ward das Weib allmählich die Befehlshaberin der Hausthiere und eh’ sie sich’s versah, das erste Hausthier selbst“ (ebd., S. 56). Aus den historisch entstandenen Unterschieden folgt für Hippel eine Erklärung, aber keine Legitimierung der hierarchischen Ungleichheit der Geschlechter, also des Ausschlusses von Frauen aus bürgerlichen Rechten und ihrer Unterordnung unter den Mann. Im Gegenteil ist diese Spekulation über das historische Entstehen der Geschlechterunterschiede (über die Fortpflanzung hinaus) Teil seiner Argumentation für eine „bürgerliche Verbesserung der Weiber“. Der Gleichheitsgedanke ist noch nicht so weit sozial verfestigt, dass aus einem Mangel an Gründen für die hierarchische Ungleichheit eine umfassende Gleichstellung quasi automatisch resultiert. Hippels sehr ausführliche Begründung beruft sich daher vor allem auf eine christlich-protestantische Moral, die er (zeitgemäß) mit naturwissenschaftlichen und politischen, aber auch schon andeutungsweise soziologischen Erklärungen unterfüttert: „Gesellschaft setzt unter den Verbundenen eine Gleichheit voraus, wozu es der Urheber der Men-

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2 Spurensuche

schen auch angelegt hat“ (Hippel 1828, S. 16). Dabei greift er, ohne diese explizit zu nennen, seinen Freund Immanuel Kant und Jean-Jacques Rousseau an: „Wie ist dem menschlichen Geschlechte zu rathen und zu helfen, wenn es so entsetzlich einseitig verfährt? Der Himmel der alten Welt hatte seine Göttinnen so gut wie seine Götter; nur unter den Menschen soll es keine anderen Götter geben neben den Männern von Gottes Gnaden!“ (ebd., S. 9). ‚Der Mensch‘ wird männlich Die beiden im vorangehenden Zitat indirekt angesprochenen Philosophen sind zu dieser Zeit europaweit einflussreiche Denker, die mit dem Anspruch menschlicher Autonomie und der Emanzipation des Individuums dem Menschen einen durchaus gottgleichen Status zugestehen. Jean-Jacques Rousseau ist nicht nur einer der heftigsten und innerhalb der Philosophie berühmtesten Verfechter des aufklärerischen Gleichheitsgedankens. Seine Differenzierung zwischen einer naturbedingten und damit legitimen Ungleichheit (z. B. Größe oder Gewicht) und einer sozialen und damit illegitimen Ungleichheit beeinflusste auch wesentlich die Französische Revolution. In unserem Zusammenhang ist sein wichtigstes Werk das fünfte Buch des „Emile oder Über die Erziehung“ (1762), in dem es nun um „Sophie oder die Frau“ geht. Dies leitet er in Anlehnung an das Bibel-Zitat der Erschaffung Evas (1. Mose 2) folgendermaßen ein: „Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei, Emile ist ein fertiger Mensch; Wir haben ihm eine Gefährtin versprochen, so müssen wir sie ihm geben“ (Rousseau 2002 [1762], S. 165). Bereits dieses Zitat macht deutlich, was Hippel an Rousseau kritisiert: Der Mann als ‚Gott‘ eines Aufklärers wird zum alleinig ‚wahren Menschen‘ erkoren, dem nun ‚die‘ Frau als Komplement zu- und untergeordnet wird. Für Rousseau ist die Annäherung an die ‚wahre‘ Natur des Menschen ein zentrales Ideal. In dieses Ideal wird seine normative Vorstellung über die Geschlechterverhältnisse integriert, indem auch ‚die‘ Frau (i. e. Sophie) zu ‚ihrer Natur‘ hin erzogen werden solle, entsprechend der Vorstellung seiner Zeit, dass Natur ein Ratgeber und nicht – wie erst später in der Biologie – determinierend sei. Die menschliche Natur wird nun in diesem Buch in zwei Kategorien unterteilt: Zum einen gibt es die allgemeinmenschliche, also die „gattungsbedingte“ Natur. Zum anderen taucht mit ‚der Frau‘ auch eine zweite Kategorie auf, nämlich eine „geschlechtsbedingte“ Natur. Die Frau, so stellt er nun fest, sei in den Dingen dem Manne gleich, die gattungsbedingt seien. Unterschiede dagegen werden (tautologisch) als geschlechtsbedingte gefasst. Von dieser Ausgangsdefinition, die zunächst Männer und Frauen jeweils zu Gattungsund Geschlechtswesen macht (was erst dort thematisiert wird, wo er über Frauen schreibt), entspinnt er seine Vorstellungen über Geschlecht, wobei sich über drei Elemente eine Verschiebung der Ausgangsformulierung ergibt, in deren Effekt ‚der Mensch‘ männlich wird. Diese drei Elemente sind: Polarisierung: Die ‚Natur‘ der Geschlechter leitet Rousseau aus ihrer (jeweils kollektiv gedachten) Sexualität her. Aktivität und Überlegenheit ‚des‘ Mannes einerseits und Passivität und Unterlegenheit ‚der‘ Frau andererseits werden als natürliche, pauschale und unveränderliche sexuelle Eigenheiten der Geschlechter gewertet, aus denen dann unterschiedliche ‚Naturen‘ der Geschlechter auf die gesamte Physis, seelische und geistige Konstitution ‚der‘ Geschlechter übertragen werden. Dieser ‚Natur der Geschlechter‘ ist immer auch eine hierarchische Ordnung implizit, da „die Frau dazu geschaffen ist, zu gefallen und sich zu unterwerfen“ (ebd., S. 167). Die Komplementarität der Geschlechter überträgt Rousseau dann auf Weiteres und ‚vergeschlechtlicht‘ so die gesamte Welt: Jede Dichotomie wird mit den Ge-

2.1 Gleichheit und Differenz

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schlechterpolen belegt, z. B. „Auge und Herz, Vernunft und Gefühl, Aktivität und Passivität, Kultur und Natur“ (Kuster 2002, S. 162) werden jeweils als männlich oder weiblich verstanden. Diese Differenzierung von Prinzipien durch die Geschlechterdichotomie wirkt entsprechend auf die menschlichen Geschlechter zurück: Frauen versteht Rousseau stärker in der Natur verankert, während Männer für ihn über die Natur hinausblicken und in der Kultur verankert sind. Betonung des Geschlechtsbedingten gegenüber dem Gattungsbedingten: Entsprechend dieser umfassenden Polarisierung werden die „gattungsbedingten“ Gemeinsamkeiten gegenüber den „geschlechtsbedingten“ Unterschieden marginalisiert: „Eine vollkommene Frau und ein vollkommener Mann dürfen sich im Geist ebenso wenig gleichen wie im Antlitz und in der Vollkommenheit gibt es kein Mehr oder Weniger“ (Rousseau 2002, S. 166). Für die Erziehung der Sophie bekommen die „geschlechtsbedingten Unterschiede“ den Vorrang vor der gattungsbedingten Gleichheit: Sophies Erziehung weicht also nicht nur in wenigen (dann geschlechtsrelevanten) Punkten von Emiles ab, sondern wird eine durch und durch geschlechtliche. Sophie wird so primär zum ‚Geschlechtswesen‘. Entgeschlechtlichung des Mannes: Die weibliche Sexualität, aus der Rousseau zuvor die Unterwerfung und Passivität der Frau herleitete, wird in einer ausdrücklichen Ambivalenz gezeichnet: „gibt er [i. e. Gott] dem Menschen unbeschränkte Neigungen, gibt er ihm zugleich das Gesetz, das sie ordnet, damit er frei sei und selbst über sich herrsche; (…) liefert er die Frau schrankenlosen Begierden aus, fügt er diesen Begierden das Schamgefühl bei, um sie in Schranken zu halten“ (ebd., S. 168). So setzt Rousseau gleichzeitig Frauen als diejenigen, die ihren eigenen Trieben weit mehr ausgeliefert, ihrer eigenen Natur also stärker unterworfen sind, und setzt zugleich der Ausübung dieser Sexualität ‚natürliche‘ Schranken. ‚Die‘ Frau beherrscht damit gerade ihre Lüste nicht – wie ‚der‘ Mann – durch Vernunft, sondern wird von widersprüchlichen Trieben beherrscht, die eine ‚Balance‘ schaffen, in der das triebhaftere Wesen (Frauen) zugleich das passive und widerstehende ist. Naturhaftigkeit und mit ihr Sexualität und Geschlecht werden so letztlich zu einem ‚weiblichen Prinzip‘, denn „der Mann ist nur in gewissen Augenblicken Mann, die Frau ist ihr ganzes Leben lang Frau, oder wenigstens während ihrer ganzen Jugend; alles erinnert sie unablässig an ihr Geschlecht“ (ebd., S. 171). Damit ist letztlich Sophie das alleinige Geschlechtswesen und die Polarisierung der Geschlechter vollendet sich darin, dass das ‚Gattungswesen Mann‘ dem ‚Geschlechtswesen Frau‘ gegenüber gestellt wird. Auf diese Weise in ‚der‘ Natur ‚begründet‘, bettet Rousseau die von ihm gemachten komplementären und hierarchischen Unterschiede in das von ihm proklamierte Familiengefüge ein. Kuster (2002) fasst dies folgendermaßen: „Bereits im ersten Buch des Emile beschwört Rousseau emphatisch die gesellschaftlich regenerativen Kräfte eines bürgerlichsentimentalen Familienmodells (…). Konstitutiv für diese neuartige Familienkonzeption sind die unmittelbaren emotionalen Bindungen der Familienmitglieder untereinander“ (Kuster 2002, S. 159), die auf der Rousseauschen Geschlechterdifferenzierung aufsetzen. Die bürgerliche Familie ist für ihn nicht nur Glücksbedingung des einzelnen Individuums, sondern auch das Fundament eines Staates nach seinen Vorstellungen: „als ob das Herz sich nicht durch die kleine Heimat, die Familie, der größeren anschlösse!“ (Rousseau 2002, S. 175). Immanuel Kant orientiert sich in seiner Schrift „Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen“ sehr weitreichend an Rousseaus Argumentation. Er überträgt Rousseaus Gedanken auf Fragen der Moral und führt ebenfalls umfassend Unterschiede zwischen den Geschlechtern aus, wobei auch bei ihm Frauen zum alleinigen Geschlechtswesen werden

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2 Spurensuche

(vgl. Heinz 2002). Doyé (2002) sieht diese frühe Sichtweise Kants durch die spätere kritische Phase relativiert. In dieser Phase verlören die „auf empirischem Wege gewonnenen anthropologischen Kenntnisse über die menschliche Natur, insbesondere der Rückgriff auf gängige, die Inferiorität der Frau charakterisierende Geschlechterstereotype, innerhalb der Moralphilosophie ihren Geltungsanspruch“ (Doyé 2002, S. 210). Eine solche Begründung geschlechtlicher Ungleichheit widerspricht dem aufklärerischen Gleichheitsgrundsatz, wie er in Kants „Metaphysik der Sitten“ (1797) ausgeführt wird. In dieser Schrift wird Geschlecht daher nun primär auf die Sexualorgane reduziert. Frauen und Männer treten hier als Geschlechtswesen nur in Form von Vertragspartnern auf, die sich wechselseitig in Gänze erwerben müssen, um in den Genuss der Genitalien des/der Anderen zu kommen. Sekundär legitimiert er den Ausschluss aus dem Status aktiver Staatsbürgerschaft in einem Zirkelschluss. Was aus den bürgerlichen Rechten folgt, gilt zugleich als Voraussetzung für diese: rechtliche Freiheit, ökonomische Selbständigkeit und politische Gleichheit (vgl. Doyé 2002). „Der Geselle bei einem Kaufmann oder Handwerker; der Dienstbote (…); der Unmündige (…); alles Frauenzimmer und überhaupt jedermann, der nicht nach eigenem Betrieb, sondern nach der Verfügung Anderer (…) genötigt ist, seine Existenz (Nahrung und Schutz) zu erhalten, entbehrt der bürgerlichen Persönlichkeit“ (Kant 2002 [1797], S. 221). Die (frühe) naturalisierende Auffassung einer von Rousseau übernommenen Geschlechterdifferenz wird zwar nicht aufgegeben, zur Legitimation von Ungleichheit aber nun nicht mehr herangezogen. Viele zeitgenössische Wissenschaftler argumentierten ähnlich wie Kant und Rousseau. Auch sie verankerten ihre Ausführungen allein im Bürgertum und dem bürgerlichen Familienideal. Damit waren ihre Positionen besonders anschlussfähig für jene bürgerlichen Männer, die zu ihren Studenten, Lesern und Kollegen zählten und also wesentlich an der weiteren Entwicklung der Wissenschaften beteiligt waren. Für die Gegenentwürfe Theodor Gottlieb von Hippels, Olympe de Gouges’ oder Mary Wollstonecrafts, die mit den beiden genannten Philosophen schon in der zeitgenössischen Reputation nicht konkurrieren konnten, galt dies nicht. Ihren Ansätzen fehlte die Attraktivität des Leitbilds des glücklichen Heims, des Ideals der aus ihrem ‚Wesen‘ heraus dem Mann in Liebe unterworfenen Frau und der in Natur begründeten Übersteigerung der Bedeutung des Mannes als einziger, wahrer und mündiger Mensch. Das sich im Bürgertum verbreitende Ideal, das eine neue Familienstruktur, Erwerbsbeteiligung und Sphärentrennung einläutete, wurde also schon in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts von prominenten philosophischen Ansätzen flankiert, in denen die Kategorie Geschlecht als polarisierte, komplementäre und vor allem natürliche Zweigeschlechtlichkeit gezeichnet wurde. Die Argumente, auch wenn sie aus ‚der Natur‘ genommen waren, waren gerade keine naturwissenschaftlichen, sondern rein spekulative, deren innere Logik sich daraus speisen konnte, dass sie sich harmonisch in die Leitvorstellung des neuen Familienideals einfügen konnten und diesem eine philosophische ‚Begründung‘ zu liefern schienen.

2.1.6

Die Verwissenschaftlichung der Differenz

Den durch die Ko-Konstruktion einer affektiv aufgeladenen Privatsphäre und dem damit korrespondierenden Wesen ‚der Frau‘ neu gezogenen Geschlechtergrenzen folgte um die Jahrhundertwende ihre naturwissenschaftliche Legitimation: die ‚Entdeckung‘ der Zweigeschlechtlichkeit. Zentrales Moment hierzu war die medizinisch geprägte Anthropologie. Sie entstand im 18. Jahrhundert zusammen mit dem Anspruch der Gleichheit der Menschen

2.1 Gleichheit und Differenz

19

zunächst durch eine Grenzziehung des lebendigen Menschen zu allem Anderen. Diese Definition des Mensch-Seins über Abgrenzungen zu Tieren, Maschinen und „Jenseitswesen“ sowie das Kriterium der Lebendigkeit bedeutete eine Naturalisierung der (zuvor religiös begründeten) Besonderung des Menschen, durch die ‚gottgegebene‘ Unterschiede – wie die des Standes – irrelevant gesetzt und ‚der Mensch‘ zunehmend mit „Schutzrechten“ (Menschenrechte) ausgestattet wurde (Lindemann 2011 [1993], S. 10f.). Der umfassende Anspruch dieser neuen Wissenschaft bestand auch explizit darin, medizinisch das moralisch korrekte Verhalten zu begründen, wobei gezielt nach moralischen, psychischen und physiologischen Unterschieden zwischen ‚weiblichem‘ und ‚männlichem‘ Organismus gesucht wurde. In der lange Zeit als Standardwerk geltenden Schrift zur ‚weiblichen Physiologie‘ (1775 [deutsch: 1786]) geht der französische Mediziner Roussel in Übereinstimmung mit vielen seiner Kollegen davon aus, dass der „Naturzweck“ des Lebens die Fortpflanzung der Gattung sei. Entsprechend führt er das „physische und sittliche System der Frau“ (Roussel 1786, S. 1 zit. nach Honegger 2011, S. 101) vollständig auf ihre Fortpflanzungsfunktion zurück. Alles an diesem Wesen sei daraufhin ‚organisiert‘: Nicht nur sei dies der ganze Zweck ihrer physischen und psychischen Beschaffenheit, sondern zugleich auch ihre moralische Verpflichtung. Knochenbau, Nerven, Gefäße, Muskeln, Bänder etc. seien daher (!) schwächer, weicher und kleiner als beim Mann. Insgesamt sei der weibliche Organismus durch Schwäche und Empfindlichkeit gekennzeichnet. Damit waren die vom Mediziner A. v. Haller benannten beiden Merkmale, wie sich die Physiologie unabhängig einer von Gott gegebenen Seele am Leben erhalten könne, die Reizbarkeit der Muskeln (Irritabilität) und die Empfindsamkeit der Nerven (Sensibilität), geschlechtlich kodiert. In den 1820er Jahren entwickelte sich auf Betreiben von Ärzten und Geburtshelfern die Gynäkologie, die gerade nicht darin ihren Erfolg begründen konnte, dass sie medizinischpraktische Unterstützung für Schwangerschaft und Geburt bot. Vielmehr lag der Erfolg darin, dass sie den Thematisierungen von ‚Frauenkrankheiten‘ nun die dreifache ‚organistische‘ Begründung einer physisch, psychisch und ethischen Unterlegenheit des ‚Weiblichen‘ unter das ‚Männliche‘ vorausschickte – die sie dann an den weiblichen Fortpflanzungsorganen festmachte (vgl. Honegger 1991; 2011): „Der schwächere Körper bedeutet das schwächere Geistesvermögen, die weicheren Fibern weisen auf den weicheren Charakter hin. Die kleineren Lungen künden von der größeren Furcht, die schlafferen Muskeln vom schlafferen Willen (…). ‚Weltoffenheit‘ und ‚Selbständigkeit‘ von Rute und Hodensack ermöglichen das männliche Prinzip der Selbsterhaltung und Individuation; innere Lage und defizitäre Ausstattung des weiblichen Geschlechtsapparates signalisieren die Unselbständigkeit der Frau in der Welt“ (Honegger 1991, S. 206). Die bürgerlichen, nun ‚verwissenschaftlichten‘ und dabei naturalisierten Geschlechterdifferenzierungen lagerten sich in der Folge auch in die Allgemeinbildung ein: Die nun immer schärfer unterschiedenen ‚Geschlechtseigentümlichkeiten‘ hielten Einzug in Konversationslexika insbesondere unter dem Begriff der ‚Geschlechtscharaktere‘ (vgl. Hausen 1976). Aus ‚der Natur‘ wurde nun nicht nur die Unterscheidung in der Fortpflanzung hergeleitet, sondern vor allem eine Gesetzmäßigkeit beschrieben, die dem (vergeschlechtlichten) Menschen seine Bestimmung offenbare: Die ‚natürliche Verschiedenheit‘ der Geschlechter sei umso stärker ausgeprägt je höher zivilisatorisch entwickelt die Menschen seien, und entsprechend wurden die sozialen Unterschiede – d. h. die Arbeitsteilung und die Machtverhältnisse – als die moralischen Schlüsse zur Vollendung dieser Naturen dargestellt (Frevert 1995). Insbe-

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2 Spurensuche

sondere die Charakteristika des weiblichen Geschlechts, seine „Bestimmung“ und soziale Positionierung wurden nun ausgeführt und mit ‚Natur‘ versehen: „So viel ist gewiß, dass der Mann nicht nur mehr Kraft besitzt, für das Äußere zu wirken, sondern dass er auch seiner Natur gemäß ununterbrochen seine Wirksamkeit äußern kann, während das Weib durch Menstrualfluß, Schwangerschaft, Wochenbett, Säugegeschäft, auf längere Zeit an wirklichen ernsthaft geistigen oder sehr angreifenden körperlichen Beschäftigungen verhindert wird. Demgemäß ist das Weib mehr für das geschlechtliche Verhältnis und für das damit in nächster Beziehung stehende Familienleben bestimmt, wozu es wegen der sein ganzes Wesen beseelenden Liebe auch vorzüglich sich eignet (…). Entfernt sich aber das weibliche Geschlecht von seiner eigentlichen Bestimmung, so hat es durch Schwächlichkeit und Kränklichkeit dafür zu büßen“ (Meyers Großes Conversationslexikon 1848 zit. nach Frevert 1995, S. 41). An dem Lexikonartikel Mitte des 19. Jahrhunderts zeigt sich auch, dass der inzwischen im Alltagsdenken gebildeter Bürger/innen vorherrschende Naturbegriff aus der Medizin (und nicht mehr aus der Physik) kam. Er integriert den Einfluss menschlichen Handelns (auch heute noch) systematisch: Das moralische, sozial als richtig verstandene Handeln ist auch zugleich das gesunde, und das verwerfliche Handeln wird pathologisiert, d. h. es ist krank, es macht krank und/oder es ist Symptom einer Krankheit.

2.1.7

„Only Paradoxes to Offer“1

Die universalistischen Forderungen nach Freiheit und Gleichheit im Gefolge der Aufklärung schlossen, wie wir gesehen haben, zunächst Frauen nicht aus. Sie basierten auf Vorstellungen eines „abstrakten Individuums“, welches aus der „allgemeinen Natur des Menschen“ hergeleitet war und in denen sowohl von sozialen Merkmalen wie Herkunft, Status und Religion als auch von physiologischen Merkmalen wie Hautfarbe und Geschlecht abgesehen wurde. Diese Abstraktion machte das Konstrukt einer grundlegenden „Gleichheit“ aller Menschen erst möglich. Gleichzeitig mussten diese Vorstellungen aber in Einklang gebracht werden mit einer realen Welt, in der solche und andere Unterschiede das Leben der Menschen bestimmten und in der Frauen innerhalb der Stände Männern nachgeordnet waren. Waren Standesund Klassenunterschiede legitime Ziele einer revolutionären Veränderung, so sollten die Scheidelinien zwischen den Geschlechtern auf keinen Fall verwischt werden. Dazu aber bedurfte es einer neuen Legitimation, denn die patriarchalisch geordnete Ständegesellschaft war als solche überholt. Wie in den bisherigen Abschnitten ausgeführt, wurde diese neue Legitimation in der ‚Natur‘ gefunden, ‚der Mensch‘ als Gattungswesen und ‚abstraktes Individuum‘ wurde zum männlichen Menschen und so kam die dritte Forderung in der französischen Revolution – die Forderung nach ‚Brüderlichkeit‘ – ohne Frauen aus. Den Status des ‚Bürgers‘ konnten nur Männer erhalten; der Zugang zu den neu entstehenden demokratischen Formen von Macht und Herrschaft war Frauen aufgrund ihrer ‚schwächeren‘ und ‚weicheren Natur‘ nun systematisch versperrt. Dennoch erzeugte das der revolutionären Bewegung immanente Versprechen, die kulturellen, sozialen und politischen Verhältnisse zu erneuern, eine bis heute anhaltende Dynamik.

1

So der Titel des Buchs von J.W. Scott zur Geschichte des französischen Feminismus, mit dem sie explizit Bezug nimmt auf eine Formulierung von Olympe de Gouges (Scott 1996, S. 4).

2.1 Gleichheit und Differenz

21

Emanzipative Vorstellungen wie die von Wollstonecraft und Hippel waren in politischen Kreisen der Zeit durchaus bekannt. So hatte ein bekannter Politiker der Aufklärung – Condorcet – etwa die Ansicht vertreten, es sei lächerlich, Frauen wegen ihres Geschlechts von politischen Wahlen auszuschließen, was in der französischen Verfassung von 1791 dann jedoch trotzdem geschah: „Warum sollte eine Gruppe von Menschen, weil sie schwanger werden können und sich vorübergehend unwohl fühlen nicht Rechte ausüben, die man denjenigen niemals vorenthalten würde, die jeden Winter unter Gicht leiden und sich leicht erkälten?“ (Condorcet 1789 zit. nach Laqueur 1992, S. 222). Gleichzeitig aber ist auch er sich sicher, dass Frauen „in den sanften und häuslichen Tugenden den Männern überlegen sind“ (ebd.). Und als Olympe de Gouges 1791 ihre berühmte „Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin“ veröffentlichte, so begleitet sie dies mit den Worten, dass sie im Namen des Geschlechts spricht, das „an Schönheit wie Mut im Ertragen der Mutterschaft“ überlegen ist (1791 zit. nach Gerhard et al. 2008, S. 20). Wollstonecraft, Condorcet und de Gouges nahmen den aufklärerischen Universalismus beim Wort und begründeten gleichzeitig die besondere Stellung der Frauen als Bürgerinnen. Für sie ist der Platz der Frauen durch Mutterschaft und Familie vordefiniert, aber nicht determiniert. Die Art ihrer Einbindung war und ist interpretationsbedürftig, nicht zuletzt im Hinblick auf ihre Bedeutung für die Bestimmung des ‚an Rechten gleich geborenen Individuums‘. In allen an die Versprechen der Aufklärung anschließenden Frauenbewegungen entsteht der Widerspruch einer Gleichzeitigkeit von Irrelevanz und Relevanz der Geschlechterdifferenz; mit ihm wird das Problem von Gleichheit und Differenz geboren, um das seitdem unzählige feministische Debatten kreisen und für das es auf der Grundlage der Naturalisierung der Geschlechterdifferenz keine Lösung gibt. Menschen sind als „abstrakte Individuen“ gleich – aber als Männer und Frauen grundsätzlich verschieden. Das darin enthaltene Paradox, die sexuelle Differenz gleichzeitig positiv zu besetzen und zurückzuweisen, ist – so Scott – ein konstitutives Element in der Geschichte aller feministischen Bewegungen (Scott 1996, S. 3 f.). Dieses Paradox ist nicht darin begründet, dass deren Theorien fehlerhaft gewesen wären, sondern es hat seine Wurzeln darin, dass sich der moderne westliche Feminismus historisch durch eben jene diskursiven Praktiken demokratischer Politik konstituiert hat, in denen ‚der Mensch‘ und ‚das Individuum‘ mit ‚dem Mann‘ gleichgesetzt wurden. In dem sich dagegen richtenden Protest bestanden Frauen darauf, den Kriterien der damaligen Zeit entsprechend auch Individuen zu sein, die um ihren Anspruch auf Freiheit und Gleichheit betrogen werden. Als Individuen lehnten sie den ihnen als Frauen zugewiesenen Platz in der Gesellschaft ab und erhoben dabei gleichzeitig den Anspruch, für alle Frauen zu sprechen, auch für jene, die diesen Platz als ‚ihrer Natur entsprechend‘ annahmen. Nicht zuletzt deshalb waren feministische Bewegungen vielfältig, facettenreich und wirkten mitunter auf den ersten Blick widersprüchlich. Keine Thematisierung von Geschlecht kommt in dem gegebenen Rahmen an dieser Widersprüchlichkeit vorbei – zugleich kommt das „Spiel um den Unterschied“ nie zum Stillstand, denn „das Wesen des Geschlechtsunterschieds ist empirisch nicht überprüfbar“ (Laqueur 1996, S. 176). Dieses „Spiel“ beschäftigt uns bis heute. Der Widerspruch, dass moderne, demokratisch verfasste Gesellschaften einerseits auf einer in naturalisierenden Differenzsemantiken gründenden sozialen Ungleichheit der Geschlechter beruhen und andererseits von Anfang an deren De-Legitimation kontinuierlich vorangetrieben wurde, dieser Widerspruch war in einer Wissenschaft, die sich mit dem Zusammenleben von Menschen zu befassen begann, im Grunde nicht zu übersehen. Er hätte –

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2 Spurensuche

aus heutiger Sicht – nicht nur konstitutiv für feministische Bewegungen, sondern auch für eine Wissenschaft von der Gesellschaft sein können. Denkanstöße und weiterführende Fragen: In der Literatur des 19. Jahrhunderts wird mit Krankheit bedroht, wer seiner „geschlechtlichen Bestimmung“ nicht nachkommt. So absurd uns das heute erscheint, so sind wir doch nach wie vor nicht davor gefeit, sozial unerwünschte Verhaltensweisen als krank oder naturwidrig zu disqualifizieren, also zu pathologisieren. Auch Wissenschaftler/innen tragen ihr Alltagsdenken und -erleben in ihre wissenschaftlichen Ergebnisse mit hinein und suchen entsprechende Beweise dafür. Wir nehmen es als selbstverständlich hin, dass Verhaltensweisen, die als ‚gut‘ gelten, gar nicht erst auf eine potentielle Gesundheitsschädlichkeit hin überprüft werden, z. B. Mäßigung, Nichtrauchen, Nachtschlaf u. v. m. Gerade im Kontext von Geschlecht und Sexualität können Sie hierzu viele Beispiele finden: • Welche Verhaltensweisen werden pathologisiert? • Wie stellt sich dies historisch dar? • Welche ‚Therapien‘ wurden entwickelt? • Wo wurde oder wird die Grenze zwischen Natur und Sozialem infrage gestellt?

2.2

Großentwürfe gesellschaftlicher Entwicklungen und die Stellung der Geschlechter

2.2.1

Ein neues Nachdenken über Gesellschaft entsteht

Ansätze zu einer im Kontext der universitären Disziplinen eigenständigen Fachwissenschaft Soziologie entstanden in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Hintergrund dafür sind zum einen die im vorigen Kapitel skizzierten geistesgeschichtlichen Wendungen der Aufklärung und zum anderen die mit der französischen Revolution bzw. in deren Folge auftretenden Erschütterungen sozialer Ordnung. Begleitet von philosophischen Reflexionen zu Staatsformen, Recht und Moral sowie von einer Vielzahl naturwissenschaftlicher und vor allem auch technischer Entdeckungen drang die industrielle Entwicklung in immer weitere gesellschaftliche Bereiche vor und erreichte in Großbritannien zur Mitte des 19. Jahrhunderts einen ersten Höhepunkt. Vor dem Hintergrund revolutionärer Umbrüche, sozialer Unruhen und einer damit verbundenen Verunsicherung stellten diejenigen, die uns heute als Wegbereiter der Soziologie gelten, die in der Aufklärung virulenten Fragen nach Gleichheit und Freiheit nun in einen Zusammenhang mit Fragen nach einer sinnvollen sozialen Ordnung und sinnvollen Regeln des menschlichen Zusammenlebens. Die Entwicklung eines neuen Nachdenkens über menschliches Zusammenleben geschah als Versuch, „Gesellschaft“ als Gegenstand in eine anerkannte und/oder aufstrebende wissenschaftliche Methodik und Thematisierungslinie zu integrieren. Neben der voll etablierten Physik, an der sich Auguste Comte maßgeblich orientierte, wurden vor allem zwei weitere junge Wissenschaften für die systematische Analyse des zwischenmenschlichen Zusammenlebens wichtig: Die Geschichtswissenschaft und die Biologie.

2.2 Großentwürfe gesellschaftlicher Entwicklungen und die Stellung der Geschlechter

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Die neu entstehenden Denkansätze zu einer Gesellschaftswissenschaft machte die Art, wie Menschen zusammenleben, selbst zum Thema und versuchte in diesem Zusammenhang, die eigene Gesellschaft als historisch Gegebene aus dem Vergangenen heraus zu verstehen und zugleich die Richtung zu erkennen, in die sie sich entwickeln würde. Das erscheint uns heute nicht weiter bemerkenswert: ‚Geschichte‘ ist wie ‚Geschlecht‘ etwas, das für uns völlig selbstverständlich ist. Jedes Kind weiß, dass die Welt vor hundert Jahren eine andere war und unsere Art zu leben – auch: zusammenzuleben – nicht vom Himmel gefallen ist. Der Bezug auf die Geschichte hat aber selber eine Geschichte, genauer: eine Entstehungsgeschichte. Bis sich ab der Mitte des 18. Jahrhunderts der für uns so selbstverständliche Geschichtsbegriff zu entwickeln begann, war Geschichte als Summe verschiedener Geschichten nur im Plural üblich. Die Geschichte nun als eine Geschichte zu begreifen, hieß, sie als „Inbegriff alles in der Welt Geschehenen“ zu sehen (Grimm 1897 zit. nach Koselleck 1975, S. 648), also einen inneren Zusammenhang der Geschichten vorauszusetzen und aufzuspüren. Die Entfaltung dieses Geschichtsbegriffs machte eine geschichtliche Gewordenheit unserer Wirklichkeit bewusst. Kennzeichnend für die so konzipierte historische Entwicklung war, dass sie als eine Entwicklung des Fortschritts gesehen wurde: Vom kindlich Unwissenden, Unmündigen und Unvernünftigen reife mit der Aufklärung die Fähigkeit zur wissenschaftlichen Erkenntnis, zur Mündigkeit und zur Vernunft heran. Der Prozess des Fortschritts galt mit der Mündigwerdung des Menschen noch nicht als abgeschlossen, denn nun war die Gattung Mensch ja erst in die Lage versetzt, die Vernunft – sprich: die geistes- und naturwissenschaftliche Erkenntnisfähigkeit – für den weiteren Fortschritt der Menschheitsgeschichte auch zu nutzen. Mit der Wissenschaft von der Geschichte entstand auch eine „historische Methode“, also eine Erkenntnis mittels Geschichte. Diese historische Methode konnte sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts allmählich neben der mathematischen Beweisführung als wissenschaftlicher Beleg etablieren. Vor allem die Schriften von Karl Marx und Friedrich Engels sind unter dem Eindruck des neuen Verständnisses von Geschichte entstanden. Die Entfaltung der historischen Methode war auch eine wesentliche Voraussetzung für die Entwicklung der (biologischen) Evolutionstheorie. Der Brite Herbert Spencer, in dessen Heimatland die Evolutionstheorie ihren vorläufigen Höhepunkt in der Konzeption Darwins hatte, orientierte sich in seiner Herangehensweise, Gesellschaft außerhalb einer Sozialphilosophie zu denken, immer stärker an der in dieser Zeit entstehenden Biologie. Bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden wesentliche Bereiche der heutigen Biologie in der Medizin (Anatomie, Physiologie und Botanik) und in der (der philosophischen Fakultät zugeordneten) Naturgeschichte abgedeckt. Im geschichtlichen Denken liegt der für das damalige Methodenparadigma wesentliche Unterschied zwischen Biologie und Physik (vgl. Mayr 1984). Die ersten systematischen Ansätze zu einer Soziologie entwickelten sich also vor einem wissenschaftlichen Hintergrund, der selbst in Bewegung geraten war. Damit standen den Vorläufern unserer Wissenschaft neue Wege offen, sich dem Phänomen menschlichen Zusammenlebens – Gesellschaft – zu nähern. Comte, Marx und Spencer haben ihre Wissenschaft jeweils als Privatgelehrte entwickelt, waren also nicht in die damaligen universitären Organisationen eingebunden und konnten die neuen Entwicklungen ohne institutionell erzwungene Umwege aufnehmen. Ihnen allen ging es um die Entwicklungsgeschichte der Menschheit im Hinblick auf die gesellschaftlichen Veränderungen, die hinter ihr lagen und im Hinblick auf die Veränderungen, die sich in dem jeweiligen Deutungshorizont abzeichneten. Gemeinsam ist diesen Autoren des 19. Jahrhunderts auch ihr ungebrochener Wissenschafts- und Fortschrittsglaube, der sie an eine zielgerichtete (teleologische) Entwicklung

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2 Spurensuche

gesellschaftlicher Veränderungen glauben ließ. Am ‚Ende‘, in der letzten Entwicklungsphase oder -stufe seien die Verhältnisse und die Menschen in ihnen besser, freier, vernünftiger, glücklicher und tugendhafter. Alle Menschen? In allen drei Entwürfen wird Geschlecht bzw. werden Beziehungen zwischen den Geschlechtern thematisch. Die Autoren entstammten dem aufstrebenden Bürgertum und wuchsen in eben jener Zeit auf, in der das im vorigen Kapitel skizzierte bürgerliche Leitbild der Familie seine normative Zugkraft voll entfaltete. Es stand ihnen also als wichtiges Deutungsmuster zur Verfügung. Aber es prägte die Ansätze dieser Vordenker der Soziologie nicht auf die gleiche Weise.

2.2.2

Auguste Comte (1798–1857)

Auguste Comte wurde neun Jahre nach Beginn der französischen Revolution geboren, einer Zeit voller politischer Wirren und dramatischer Umbrüche. Sie resultierten aus den andauernden Auseinandersetzungen zwischen jenen Kräften, die die revolutionären Ziele und Veränderungen fortführen und jenen, die die alte Ordnung wiederherstellen wollten. Gleichzeitig ist dies eine Zeit großer Erfolge der naturwissenschaftlichen Forschung und daraus resultierender technischer Erfindungen. Comte nannte die von ihm angezielte neue Wissenschaft zunächst „soziale Physik“. Das verdeutlicht seine Grundhaltung, dass auch einer auf soziale Phänomene zielenden Wissenschaft das zeitgenössische Modell der Naturwissenschaften zugrunde lag. Die Physik verkörperte dieses Modell in der reinsten Form. Dahinter stand nicht zuletzt der Wunsch, das, was in der Anwendung der Naturwissenschaften möglich war, nämlich durch technische Erfindungen und Entwicklungen die Lage der Menschheit zu verbessern, auf die Wissenschaft vom Sozialen zu übertragen und durch Einsicht in die entsprechenden Gesetze menschliches Handeln zu lenken. Nur weil der Begriff der „sozialen Physik“ bereits durch statistische Untersuchungen eines anderen Autors seiner Zeit (A. Quetelet) belegt war, benannte Comte sie um in „Soziologie“. Soziale Statik – soziale Dynamik Als Naturwissenschaftler und Philosoph stand A. Comte noch mit beiden Beinen in dem physikalisch/mathematisch dominierten Wissenschaftsverständnis der Aufklärung und musste sich von dort aus zur etablierten Sozialphilosophie verhalten. Entsprechend grenzt er die neue Wissenschaft strikt gegen die zeitgenössische Philosophie als einer „metaphysischen“, i. e. mit abstrakt-spekulativen Begriffen operierenden Wissenschaft ab. Wie die Naturwissenschaften sei die Soziologie an empirisch beobachtbaren Tatsachen orientiert und vermeide alle Fragen nach dem „Wesen“ sozialer Phänomene: Wann immer man nach der „inneren Natur“ der Dinge oder ihren „letzten Ursachen“ frage, so schreibt Comte, dann sei dies etwas „Unbedingtes“, während es der Soziologie vielmehr darum gehe, nach Bedingungen zu suchen, unter denen bestimmte soziale Phänomene auftreten (Comte 1974 [1838–1842], S. 80, 82). Dabei unterstellt er, dass die soziale Entwicklung der Menschheit ebenso von Gesetzmäßigkeiten bestimmt ist wie der Untersuchungsbereich der Naturwissenschaften. Diese Orientierung am Beobachtbaren hat ihm die Bezeichnung „Positivist“ eingetragen. Er selber sprach aber von der „Positivität“ der Wissenschaften und meinte damit sehr viel mehr als nur Beobachtbarkeit. „Positivität“ umfasste Kriterien der Genauigkeit und der sicheren Bestimmbarkeit von sozialen Vorgängen sowie die Nützlichkeit des Entdeckten und – eng damit verbunden – dessen positive Gestaltbarkeit. Seine „positive Wissenschaft“ kann als Teil des Versuchs verstanden werden, eine Lösung für die von ihm diagnostizierten Probleme seiner

2.2 Großentwürfe gesellschaftlicher Entwicklungen und die Stellung der Geschlechter

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Zeit zu ermöglichen, die daraus resultierten, dass eine alte Ordnung untergegangen war, ohne dass sich bislang eine Neue hatte durchsetzen können. Comte vergleicht in seinen Arbeiten die Gesellschaft mit einem lebenden Organismus, in dem die einzelnen Teile (Organe) nicht unabhängig voneinander gedacht werden können und „das Ganze“ (die Gesellschaft) mehr und vor allem etwas anderes ist als die Summe seiner Teile. Bezogen auf die Untersuchung dieses „Gesellschafts-Organismus“ unterscheidet Comte zwei „Hauptwissenschaften“ (ebd., S. 380) in der Soziologie: die „soziale Statik“ und die „soziale Dynamik“. Gegenstand der sozialen Statik ist die soziale Ordnung. Aus dem Studium ihrer „Anatomie“ lassen sich die Grundbedingungen bzw. Grundkomponenten jeder sozialen Ordnung erkennen, unabhängig von Raum und Zeit. Der sozialen Statik untergeordnet ist die soziale Dynamik; deren Gegenstand sind gesellschaftliche Veränderungen bzw. der Fortschritt. Ihr Studium soll den Übergang von einer sozialen Ordnung in eine andere, höherwertige erhellen. Dieser Dualismus von Statik und Dynamik bzw. Ordnung und Fortschritt bildet auch die Grundlage des von ihm zwar nicht erfundenen aber neu synthetisierten „Dreistadiengesetzes“. Demzufolge muss jede Entwicklung der Menschheit ein „theologisches Stadium“ durchlaufen, in dem mythisch-magische Vorstellungen das Denken bestimmen. Es folgt ein „metaphysisches Stadium“, in dem Phänomene nicht mehr auf göttliche (überweltliche) Kräfte, sondern auf abstrakte Prinzipien wie etwa Vernunft oder Eigennutz zurückgeführt werden. Es stellt ein Zwischenstadium dar, in dem Comte seine eigene Zeit verortete und das schließlich durch das „positiv-wissenschaftliche Stadium“ abgelöst werde. Treibende Kraft dieser Entwicklung ist das Wissen bzw. das Denken der Menschen. Die Abfolge von vorwissenschaftlichem (theologischem und metaphysischem) hin zum wissenschaftlichen (positiven) Stadium gilt Comte als unvermeidlich und notwendig – eben als naturgesetzlicher Ablauf. Dieser Ablauf ist Bedingung für die Herausbildung einer sozialen Ordnung auf höherem Niveau, in der die Gesellschaft auf wissenschaftlicher Grundlage organisiert werden kann. In diesem Stadium komme der Soziologie als komplexester aller Wissenschaften eine steuernde und gesellschaftliche Entwicklung lenkende Bedeutung zu. Durch Kenntnis der sozialen Gesetzmäßigkeiten werde eine reibungslose und weitgehend konfliktfreie gesellschaftliche Integration möglich, nicht zuletzt, weil so der „geistigen Anarchie“ und der „Willkür“ von Einzelnen und Gruppen entgegengewirkt werden könne. Fortschritt wird so zu einem geordneten Prozess. Der Positivismus bzw. die „positive Wissenschaft“ tritt an die Stelle der Religion(en) und wird von Comte vor allem in seinem Spätwerk systematisch zu einem Religionsersatz ausgebaut. Die Ordnung der Familie ist die Ordnung der Geschlechter In dem Ringen um eine Versöhnung von Ordnung und Fortschritt läge es nun nahe, dass auch dem Thema Geschlecht Aufmerksamkeit gezollt wird, denn schließlich wurde die Geschlechterungleichheit bereits in der Literatur der Aufklärung als Problem gesehen. Das ist aber kaum der Fall: Geschlecht als Aufteilung der Menschen in Männer und Frauen wird bei Comte nur im Zusammenhang der Überlegungen zur „sozialen Statik“ als der „natürlichen“ oder „organischen“ Ordnung von sozialen Einheiten thematisch. In den Kapiteln zur „sozialen Dynamik“ sucht man Frauen vergebens. In der „sozialen Statik“ geht es, wie schon oben gesagt, um jene konstanten, universellen „Grundgesetze“, die „notwendigerweise allen Zeiten und allen Orten“ gemeinsam sind (Comte 1852, S. 3 zit. nach Fuchs-Heinritz 1998, S. 173). Comte geht diesen „Gesetzen“ zwar anhand von drei Bereichen nach, dem Individuum, der Familie und der Gesellschaft bzw. der Regierung (Comte 1974, S. 118 ff.), macht

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dabei aber unmissverständlich deutlich, dass die Grundeinheit des Sozialen nicht das Individuum ist, sondern die Familie. Nur im Hinblick auf diese Grundeinheit werden „FrauenIndividuen“ und „Männer-Individuen“ zu einem Thema seiner Soziologie. In der Sichtweise von Comte kann das Individuum deswegen vernachlässigt werden, weil die „Neigung zur Vergesellschaftung“ (ebd., S. 118) bereits in der menschlichen Natur angelegt sei. So buchstabiert er auf dieser Ebene lediglich Kräftepaare aus, die jene grundlegende „Neigung“ begründen, etwa die Spannung zwischen Ausdauer und Abwechslung, egoistischen und altruistischen („sympathischen“) Trieben, Verstand und Gefühl. Diese erzwingen geradezu eine Organisationsform, die (moralische) Grenzen setzt (Ordnung) und gleichzeitig für Veränderung (Fortschritt) offen ist. Entsprechend grenzt sich Comte von anderen in der Literatur der Aufklärung verbreiteten Theorien ab, denen zufolge sich Menschen aus Nutzenerwägungen zusammengeschlossen hätten (Utilitarismus, Vertragstheorien). Ein solcher Nutzen werde vielmehr erst „nach einer langen Entwicklung der Gesellschaft“ (ebd., S. 118) offenbar, sei nicht Voraussetzung, sondern Folge der Vergesellschaftung. Die aus dem Studium der sozialen Statik erkennbare „natürliche Ordnung“ gewährleiste im Zusammenleben der Menschen Konsens, Harmonie und Solidarität. Ihr „Keim“ (ebd., S. 122) liege in der Familie: „sie bildet das Mittelglied zwischen dem Einzelnen und der Gattung“ (ebd., S. 122). Zwar kann sie in Form und Gestalt in einzelnen Aspekten variieren, in ihren Grundmerkmalen aber habe sie sich über die Zeitalter hinweg nicht verändert. Die Familie basiere „auf der Unterordnung der Geschlechter und die der Lebensalter; das eine begründet die Familie, das andere erhält sie“ (ebd., S. 123). Die Unterordnung ‚der‘ Frau unter ‚den‘ Mann wird von Comte sowohl über ‚natürliche Unterschiede‘ der Geschlechter als auch über angenommene gesellschaftliche Erfordernisse begründet, wobei „soziale Organisation“ und eine „Natur des Menschen“ bei ihm wechselseitig aufeinander bezogen sind. Aus einer angenommenen historischen Konstanz leitet er eine soziale Gesetzmäßigkeit ab, so dass ihm die „Unterordnung der Geschlechter“ für die Erfordernisse der sozialen Organisation der Familie als konstitutiv erscheint. Unter Verweis auf die „biologische Philosophie“ erklärt er, dass sich „das weibliche Geschlecht (…) im Vergleich zum anderen als in einer Art Kindheit befindlich“ darstelle (ebd., S. 124). So seien Frauen grundsätzlich für geistige Arbeit nicht geeignet, schon gar nicht fürs Regieren, da ihnen die Fähigkeit zur Abstraktion fehle. Dabei sind die Komponenten Gefühl, Aktivität und Verstand bei den Geschlechtern unterschiedlich ausgeprägt. Das Gefühl ist basaler Antrieb zur Aktivität, der Verstand primär ein Lenkungs- und Kontrollorgan. Da ‚der‘ Mann über die Macht des Verstandes verfüge, könne er Gehorsam von ‚der‘ Frau verlangen. Die Soziologie ergänze dieses „wissenschaftliche Urteil, indem sie zeigt, dass jeder soziale Bestand unverträglich ist mit einer utopischen Gleichheit beider Geschlechter, da sie die verschiedenen Aufgaben kennzeichnet, die jedes dieser beiden Geschlechter in der Familie zu erfüllen hat“ (ebd., S. 124). Frauen hätten die „glückliche Bestimmung“ (ebd., S. 125), dass sie Männern an Mitgefühl und Geselligkeit überlegen seien. Eine vermeintliche „Gleichheit“ der Geschlechter sei daher einer der „Irrtümer der geistigen Anarchie“ (ebd., S. 126) seiner Zeit. Eingebunden ist die als sozial notwendig und natürlich angesehene Unterordnung der Frau unter den Mann in eine allgemeine Untergeordnetheit des Individuums unter das Kollektiv, das „Ganze eines sozialen Organismus“ gehe seinen Teilen grundsätzlich voraus (ebd., S. 127): Das Individuum als solches ist daher nur eine Abstraktion – das weibliche wie das männliche, wobei er dem männlichen aber den Vorrang hinsichtlich der Dynamik in der gesellschaftlichen Entwicklung gibt. Anders als die Familie werde Gesellschaft nicht durch

2.2 Großentwürfe gesellschaftlicher Entwicklungen und die Stellung der Geschlechter

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„sympathische Instinkte“ (ebd., S. 128) zusammengehalten, dazu seien diese zu schwach. Die Ordnung dieses sozialen Organismus sei „künstlicher“, auch „unvollkommener“ (ebd., S. 131) als die der häuslichen Disziplin, baue aber auf dieser auf. Ihr Regulativ sei die Teilung der Arbeit. Diese erfordere eine dauernde Aufsicht und Lenkung (Regierung), um einem Auseinanderstreben der Einheiten entgegenzuwirken. Bezogen auf die gesellschaftliche Entwicklung liege die besondere Aufgabe und besondere Bedeutung ‚der‘ Frau in der Familie darin, durch die „Entfaltung der Sympathie und des Geselligkeitstriebes“ die zu „kalte und harte männliche Führung durch die Vernunft“ zu mäßigen (ebd., S. 125).2 Die Erfordernisse der Institution Familie werden bei Comte zwar aus der sozialen Organisation, aber nicht mit der Arbeitsteilung begründet. Diese nähme zwar in der Menschheitsentwicklung immer größeren Raum ein, bezogen auf die Familie aber könne „die Arbeitsteilung (…) nicht groß sein, denn die Zahl ihrer Mitglieder ist zu klein, und eine solche Teilung widerspricht dem Geist dieser Einrichtung. (…) Auf die Zuneigung und die Dankbarkeit gestützt, ist der häusliche Verein hauptsächlich bestimmt, die Gesamtheit der sympathisierenden Triebe zu befriedigen“ (ebd., S. 128). Arbeitsteilung folge auf eine solche Gemeinsamkeit, setzte sie bereits voraus. Ihm gilt das Leben in der Familie daher als die „Schule für das soziale Leben, sowohl für das Gehorchen wie für das Befehlen“ (ebd., S. 126). Jeder Versuch diese Ordnung zu verändern, verstoße gegen die „Naturgesetze des Sozialen“. Veränderung (Dynamik) könne sich allein auf die Ebene der Gesellschaft beziehen, nicht aber auf die Familie als Grundeinheit des Sozialen. Im Spätwerk von Comte, in dem es ihm um die Begründung und Ausformulierung einer „Religion der Humanität“ (Wagner 2001, S. 77 ff.) geht, verändert sich nicht zuletzt unter dem Eindruck einer (unerwiderten) Liebe zu der für damalige Verhältnisse emanzipierten Clotilde de Vaux sein Blick auf Frauen (Lepenies 1985, S. 27 ff.). Es kommt zunehmend zu einer Überhöhung von Frauen, die für ihn „am reinsten und unmittelbarsten“ die Humanität verkörpern. Diese sieht er zum einen im Bild Marias mit dem Kinde realisiert, zum anderen in der „Gattenliebe“. Die soziale Beziehung zwischen Mutter und Kind wird zum Ideal des sozialen Miteinanders, die Gattenliebe zum Modell, dass Altruismus egoistische Triebkräfte zu zähmen und zu überwinden vermag. ‚Die‘ Frau wird über die Macht der Liebe als der nach Comte „edelsten“ Macht definiert. Hier wird das bürgerliche Familienmodell geradezu zu einem Vorbild für die Vision der letzten Entwicklungsstufe der Menschheit. ‚Der‘ Frau kommt nun die Aufgabe zu, den von Comte im Gegensatz zum Rousseauschen Bild als stärker angenommenen Sexualtrieb ‚des‘ Mannes zu zähmen und zu zivilisieren. Augenfällig wird in den verschiedenen Arbeiten Comtes, dass eine Gesellschaftsvorstellung, die in Analogie zu einem „sozialen Organismus“ entworfen wird und darin das Individuum dem Kollektiv unterordnet, grundsätzlich unvereinbar ist mit Freiheitsvorstellungen, die es 2

In seinen Ausführungen über Ehe und Familie versteht Comte sich durchaus als Verteidiger dieser als „natürlich“ angesehenen Ordnung nicht zuletzt, weil durch die Säkularisierung die in der Religion begründete Legitimation mehr und mehr entfallen ist. Trotz der verschiedenen Debatten um eine „moderne Ehe“ könne er sich dafür verbürgen, dass die dort angesprochenen Veränderungen den „Geist der Institution“, der die „Unterordnung der Frau unter den Mann“ fordere und bewirke, nicht tangieren werden (Comte 1974, S. 124). Dabei weiß Comte durchaus um die historisch und interkulturell facettenreiche soziale Form dessen, was als Familie gilt, generalisiert aber das zu seiner Zeit im Entstehen begriffene bürgerliche Familienmodell mit seiner strikten Sphärentrennung und der Betonung gefühlshafter Bindung („Vorherrschaft sympathisierender Instinkte“ ebd., S. 136). Comte zitiert Rousseau in diesem Zusammenhang zwar nicht, aber wir können davon ausgehen, dass dessen Modell der Geschlechterdifferenz in gebildeten Kreisen zum Allgemeingut geworden war. Gerade in Bezug auf Geschlecht hat Comte offensichtlich viele der Rousseauschen Gedanken übernommen.

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Einzelnen erlauben, diese Grundlagen gesellschaftlichen Zusammenlebens in Frage zu stellen – seien diese Einzelnen nun Frauen oder Männer. Bereits zu seinen Lebzeiten sind diese Prämissen und insbesondere seine Vorstellungen zur Stellung der Frau einer grundlegenden Kritik unterzogen worden. Unter dem Pseudonym d’Héricourt veröffentlichte Jeanne-MarieFabienne Poinsard (1809–1875) eine u. a. von Frühsozialisten beeinflusste Auseinandersetzung mit dem Werk Comtes und bezeichnet dessen Haltung zur Geschlechterfrage als „(menschliche) Verirrung“ (d’Héricourt 1860 zit. nach Gerhard 2012). Diese Auseinandersetzung aus den Anfängen der Soziologie wurde jedoch im weiteren Verlauf nicht aufgenommen; bis heute ist Jenny d’Héricourt eine eher unbekannte Vorläuferin der Soziologie (Arni/Honegger 1998).

2.2.3

Karl Marx (1818–1883) und Friedrich Engels (1820–1895)

Weder Karl Marx noch Friedrich Engels haben sich als „Soziologen“ verstanden, werden aber dennoch heute durchgängig als zentrale Wegbereiter des Fachs angesehen. Sie wurden ca. zwei Jahrzehnte später als Auguste Comte in Deutschland geboren. Auch sie lebten in einer Zeit radikalen sozialen Wandels: Beide waren in der politischen Bewegung des Vormärz aktiv und in die (misslungene) Revolution von 1848 so involviert, dass sie ins Exil gehen mussten. Neben einem hohen wissenschaftlichen Anspruch ging es ihnen auch um die Unterstützung der entstehenden Arbeiterbewegung und ihres Kampfes für eine gerechtere Welt ohne ökonomische Ausbeutung und politische Unterdrückung. Wenn es bei Marx und Engels heißt, „die Voraussetzungen, mit denen wir beginnen, sind keine willkürlichen, keine Dogmen, es sind wirkliche Voraussetzungen, von denen man nur in der Einbildung abstrahieren kann. Es sind die wirklichen Individuen, ihre Aktion und ihre materiellen Lebensbedingungen (…) diese Voraussetzungen sind also auf rein empirischem Wege konstatierbar“ (…) (MEW 3, S. 20 f.), so scheinen diese Formulierungen der Orientierung von A. Comte am „Beobachtbaren“ zunächst durchaus ähnlich zu sein. Auch in der Marx/Engels’schen Analyse ging es gemäß dem Denken ihrer Zeit darum, universell gültige Entwicklungsgesetze der menschlichen Geschichte aufzudecken, die zu einem erkennbaren Zielzustand hinführten, in ihrem Falle einer „klassenlosen“ (kommunistischen) Gesellschaft, in der ein jeder nach seinen Fähigkeiten und Bedürfnissen leben könne. Zugleich gilt bei Marx und Engels ein Gesellschaftszustand, in dem „Entwicklungsgesetze“ wirken, als mangelhaft, weil er darauf verweist, dass Menschen ihr Leben noch „bewusstlos“ vollziehen, i. e. kein Bewusstsein darüber erlangt haben, was sie eigentlich tun (MEW 3, S. 33). Damit liegt auch ihren Arbeiten ein teleologisches Geschichts- und Entwicklungsverständnis zugrunde. Im Unterschied zu Comte begründeten die Arbeiten von Marx und Engels eine politisch-emanzipative Bewegung. Ihnen ging es an zentraler Stelle darum, wie und unter welchen Bedingungen Menschen sich von sozialen und politischen Zwängen befreien und die Entwicklung hin zur letzten Stufe gesellschaftlicher Entwicklung beschleunigen konnten. Vor diesem Hintergrund werden Marx/Engels und Comte auch als Antipoden in der Gründungsgeschichte der Soziologie bezeichnet. Das Gesamtwerk von Marx und Engels ist so wenig einheitlich wie das anderer Klassiker, auch hier muss zwischen „frühen“ und „späten“ Schriften unterschieden werden. In den zum Teil gemeinsam verfassten Frühschriften unterscheiden sie sich in Bezug auf die Geschlechterfrage nicht, in den späteren Werken dagegen treten gravierende Unterschiede zu-

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tage. Beide aber haben der Frauenemanzipation die Bedeutung eines „Gradmessers“ für die allgemeine Emanzipation zuerkannt (z. B. MEW 19, S. 196). Menschliche Arbeit und ihre gesellschaftliche Organisation Karl Marx und Friedrich Engels verdanken wir zunächst einmal die Einsicht, dass die Art, wie Menschen zusammenleben auf das engste mit der Art, wie sie arbeiten, zusammenhängt: „(Die Menschen) fangen an, sich von den Tieren zu unterscheiden, sobald sie anfangen, ihre Lebensmittel zu produzieren, ein Schritt, der durch ihre körperliche Organisation bedingt ist. (…) Wie die Individuen ihr Leben äußern, so sind sie. Was sie sind fällt also zusammen mit ihrer Produktion, sowohl damit, was sie produzieren als auch damit, wie sie produzieren“ (MEW 3, S. 21). Arbeit (Produktion) gilt als Grundvoraussetzung jeder menschlichen Existenz. Sie hat zwei Bedeutungsdimensionen: In dem, was sie produzieren, befriedigen Menschen ihre Bedürfnisse, in dem, wie sie produzieren, bringen sie die gesellschaftliche Wirklichkeit, in der sie leben, immer neu hervor. Gesellschaftliche Wirklichkeit ist so immer auch eine geschichtliche Wirklichkeit. Sie beginnt damit, dass Menschen in dem, „was sie produzieren“, Mittel zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse erzeugen, mit deren Befriedigung neue Bedürfnisse entstehen. Mit dem „Wie“ der Produktion ist zum einen die Art der Arbeitsteilung angesprochen, zum anderen die Organisationsform des Wirtschaftens. Die Arbeitsteilung entwickelt sich durch die Vermehrung der Bevölkerung und den dadurch erzeugten Verkehr zwischen den Individuen von einfachen zu immer komplexeren Formen und bringt dabei das hervor, was Marx „Produktivkräfte“ nennt: alles, woran und womit der Mensch arbeitet wie Rohstoffe, Werkzeuge, Maschinen („Produktionsmittel“), aber auch Geschicklichkeit, Kompetenz und Wissen der Arbeitskraft. Die Entwicklung der Produktivkräfte ist das dynamische Element in der Menschheitsgeschichte und bewirkt eine steigende Produktivität der Arbeit, i. e. dass immer weniger Arbeitszeit für die Erzeugung dergleichen Produkte notwendig ist und immer neue Produkte für neue Bedürfnisse hinzukommen. Mit der Arbeitsteilung entsteht die Möglichkeit, über die Arbeitskraft anderer zu verfügen und sich das Produkt deren Arbeit anzueignen. Damit entsteht auf der einen Seite das „Privateigentum“, auf der anderen Seite das, was Marx „Entfremdung“ nennt. Dieser Begriff hat unterschiedliche Dimensionen und Bezüge (vgl. Israel 1972), meint zum einen die Entfremdung von sich selbst und von der Gattung dann, wenn die Arbeit zu einem Zwangsverhältnis und bloßem Mittel zum Zweck der Existenzsicherung wird und einer „Entäußerung“ in der Arbeit, einer allseitigen Entfaltung von Fähigkeiten entgegensteht. Zum anderen wird damit die Entfremdung vom Produkt der Arbeit angesprochen sowie die vom Arbeitsprozess – das Produkt kann nicht mehr angeeignet werden, der Prozess ist fremdbestimmt. Ein weiterer Aspekt ist die Entfremdung des Menschen vom Menschen, dann wenn sich Menschen wechselseitig nur noch als „Mittel zum Zweck“ ansehen. Die Entwicklungsgeschichte der Menschheit stellt sich für Karl Marx dar als eine Geschichte der Herausbildung immer differenzierterer und komplexerer Formen der Arbeitsteilung und der Differenzierung von Arbeit und Aneignung. Die Produktivkräfte als dynamisches Element dieser Menschheitsgeschichte sind eingebunden in die jeweilige Organisationsform der Wirtschaft, die „Produktionsverhältnisse“. Damit ist die jeweilige Art der ökonomischen und sozialen Beziehungen der Menschen untereinander angesprochen, insbesondere die Eigentumsverhältnisse. Am wichtigsten sind dabei die Eigentumsverhältnisse an den Produktionsmit-

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teln, da mit ihnen bestimmte Bevölkerungsgruppen assoziiert sind. Diese nennt Marx „Klassen“ und unterscheidet die Klasse der Besitzenden, die ein Interesse am Fortbestand der jeweiligen Produktionsverhältnisse haben, von der Klasse derer, die eine Veränderung dieser Verhältnisse fordern, weil sie zur Arbeit gezwungen sind, ohne über die Produkte verfügen zu können. Der berühmte Satz: „Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen“ (MEW 4, S. 462), verdeutlicht, dass in dieser Gegenüberstellung von Klassen ein weiteres dynamisches Element der Geschichte gesehen wird. Vereinfacht gesprochen, besagt die Grundthese der historisch-materialistischen Geschichtsauffassung nun, dass in bestimmten historischen Epochen einem gegebenen Stand der Produktivkräfte ein bestimmter Stand der Produktionsverhältnisse entspricht. Dieser historisch spezifische Stand ist die „Produktionsweise“ einer Epoche. Produktionskräfte und Produktionsverhältnisse können aber auch in Widerspruch zueinander treten, etwa, wenn sich wie in der industriellen Revolution die Produktivkräfte so rasant entwickeln, dass sie in Widerspruch zu den bestehenden Produktionsverhältnissen des Feudalismus treten. Wenn ein solcher Widerspruch auftritt, dann kommt Bewegung in gesellschaftliche Verhältnisse. Es entstehen Klassenkämpfe, die auf der Grundlage der sich entfaltenden Produktivkräfte eine Veränderung der herrschenden Produktionsverhältnisse erzwingen und damit eine neue Produktionsweise herbeiführen. Marx und Engels sehen den Motor oder die Dynamik gesellschaftlicher Entwicklung in den verschiedenen Formen der gesellschaftlichen Produktion und in der gesellschaftlichen Praxis der Menschen – nicht in einer Geschichte des menschlichen Geistes bzw. der Unterscheidung von vorwissenschaftlichem und wissenschaftlichem Denken. Die jeweilige ökonomischgesellschaftliche Struktur bildet nach Marx/Engels die materielle „Basis“ von Gesellschaften. Auf ihrer Grundlage entwickelt sich ein der jeweiligen gesellschaftlichen Struktur entsprechender „Überbau“, seien es juristische Normen, religiöse Vorstellungen, Kulturformen oder politische Kräfteverhältnisse. Die einzelnen Elemente des Überbaus gehen in das gesellschaftliche Bewusstsein ein und stehen grundsätzlich unter „Ideologieverdacht“, i. e. sie stützen und rechtfertigen bestehende (Macht)Verhältnisse. Das zentrale Interesse von Marx bezog sich vor allem auf die Analyse der kapitalistischen Gesellschaftsformation und ihrer immanenten Widersprüchlichkeit. In kapitalistischen Gesellschaften treten die ökonomischen Verhältnisse in den Vordergrund, es geht in ihnen nicht einfach um den Gegensatz von Eigentümern und Nicht-Eigentümern, sondern um den Gegensatz von Lohnarbeit und Kapital. Sehr stark vereinfacht folgt der Kernkonflikt von Lohnarbeit und Kapital daraus, dass derjenige, der nicht über Produktionsmittel verfügt, seine Arbeitskraft verkaufen muss, um zu überleben. Diese wird so selbst zu einer Ware, deren Wert niedriger ist als der Wert ihrer Produkte: der Arbeitende produziere in seiner Arbeitszeit mehr Wert als er an Lohn erhalte. Die Aneignung unbezahlter Mehrarbeit nennt Marx Ausbeutung; sie nimmt durch die immanenten Zwänge kapitalistischer Produktion immer weiter zu und führe zu einer im Verhältnis zum gesellschaftlich geschaffenen Reichtum relativen Verarmung und Verelendung der Arbeiterklasse. Indem Marx den Kapitalismus als ein gesellschaftliches und damit historisches Produktionsverhältnis ansieht, konnte er annehmen, dass dieser angesichts seiner Widersprüchlichkeit und der dramatischen Folgen für die Mehrheit der Menschen früher oder später untergehen würde und einer neuen Produktionsweise Platz macht. Diese Veränderung könne und müsse von der Arbeiterklasse vorangetrieben werden – sie sei der entscheidende Akteur in dieser Geschichte. Dazu ist sehr viel geschrieben worden. Sehr viel weniger untersucht ist

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die Frage, ob, wie und in welcher Weise in diesem Denksystem Geschlecht zum Thema geworden ist, das als „Frauenfrage“ in der Literatur der Aufklärung und bei den Frühsozialisten durchaus präsent war. Arbeitsteilung und Geschlecht In der „Deutschen Ideologie“ (1845), wird mit dem Gedanken der Arbeitsteilung nahezu selbstläufig das Geschlechterthema angesprochen, wenn es dort heißt, dass die Teilung der Arbeit „ursprünglich nichts war als die Teilung der Arbeit im Geschlechtsakt“ (MEW 3, S. 31) und sich von hier aus weiter entwickelte. Jeder geschichtlichen Entwicklung liege zugrunde, „daß die Menschen, die ihr eigenes Leben täglich neu machen, anfangen, andre Menschen zu machen, sich fortzupflanzen – das Verhältnis zwischen Mann und Weib, Eltern und Kindern, die Familie“ (ebd., S. 31, Herv. i. O.). Geschlecht bzw. die Trennung von Menschen in Frauen und Männer wird damit automatisch und zunächst auch ausschließlich auf die Fortpflanzung und deren gesellschaftliche Organisation – die Familie – bezogen. Wenn man sich die entsprechenden Passagen ansieht, so wird „Familie“ hier i. d. R. vom Familienoberhaupt – dem Patriarchen – her gedacht, in dessen Abhängigkeit Frauen, Kinder und Gesinde stehen. Modell für die Gedankenführung ist bei Marx weniger die „bürgerliche“ Kleinfamilie, sondern eher die patriarchale Organisation von Haus und Verwandtschaft. Damit wird auch plausibel, dass Marx in der „Deutschen Ideologie“ den „Keim“ der Ungleichheit der Geschlechter in der Familie gegeben sieht, „wo Frauen und Kinder die Sklaven des Mannes sind“ (ebd., S. 32). Der Arbeitsteilung in der Fortpflanzung, in den ökonomischen Beziehungen in der Familie sowie der „Trennung der Gesellschaft in einzelne, entgegen gesetzte Familien“ (ebd., S. 31) rechnet er das Prädikat „naturwüchsig“ zu. „Naturwüchsig“ heißt zunächst nur, dass diese „von allein“, ohne bewusste Planung oder Absicht eingetreten sei und sagt noch nichts aus über die Art der Arbeit oder ihre Organisationsform. Sie ist aber als solche gesetzt und wird nicht weiter hinterfragt. Weder ist mit dieser Arbeitsteilung automatisch ein Zwangsverhältnis verbunden, noch schließt sie ein solches aus. Eine bewusste Planung werde erst mit der Teilung von körperlicher (materieller) und geistiger Arbeit möglich, die Marx als die „erst wirkliche Teilung“ bezeichnet (ebd., S. 31). Grundsätzlich aber sei mit jeder Arbeitsteilung auch die „quantitativ und qualitativ ungleiche Verteilung der Arbeit wie ihrer Produkte“ (ebd., S. 31) – also die Entstehung von Eigentum – gegeben. Auch die „naturwüchsige“ Arbeitsteilung ist damit nicht einfach ‚natürlich‘, sondern immer schon in Produktionsverhältnisse eingelassen. Eine „Natur“ habe der Mensch eben nur darin, dass „Leben“ und „Lebensmittel zu produzieren“ – i. e. auf die Natur einzuwirken – in seiner Natur liege, beides aber unvermeidlich und unausweichlich „gesellschaftlich“ ist: „Die Produktion des Lebens, sowohl des eigenen in der Arbeit wie des fremden in der Zeugung, erscheint nun sogleich als ein doppeltes Verhältnis – einerseits natürlich, andererseits als gesellschaftliches Verhältnis –, gesellschaftlich in dem Sinne, als hierunter das Zusammenwirken mehrerer Individuen, gleichviel unter welchen Bedingungen, auf welche Weise und zu welchem Zweck verstanden wird“ (ebd., S. 29 f.). In der Vergesellschaftung des Menschen durch Arbeit ist danach die Fortpflanzung mitgedacht, sie geht der gesellschaftlichen Natur des Menschen nicht voraus. Einerseits entwickelt sich die gesellschaftliche Arbeitsteilung aus der „naturwüchsigen“ Arbeitsteilung in der Familie, andererseits schließt Marx diese Arbeitsteilung der Geschlechter in die gesellschaftli-

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che Arbeitsteilung ein und öffnet sie damit auch für alle Formen von sozialer Ungleichheit, Macht und Herrschaft. Über eine dem gesellschaftlichen Leben vorgelagerte „Natur der Frau“ oder einer Zuordnung der Frau zur Natur stellt er keine Überlegungen an. Nicht zuletzt deshalb wurden diese Passagen aus der „Deutschen Ideologie“ auch in der Frauen- und Geschlechterforschung vielfach aufgegriffen, da hier eine Möglichkeit gesehen wurde, die soziale Ungleichheit der Geschlechter aus den „gesellschaftlichen Verhältnissen“ heraus zu erklären und nicht auf „Natur“ verwiesen zu sein. Kapitalismus als „Gleichmacher“? Marx selbst hat dieses „doppelte Verhältnis“ jedoch nicht weiter ausbuchstabiert, sondern das gesamte Thema geschlechtlicher Arbeitsteilung immer stärker zugunsten der politökonomischen Analyse des Kapitalismus marginalisiert. In seiner als Hauptwerk angesehenen Schrift „Das Kapital“ schildert Marx vielfach die problematischen, Leben zerstörenden Arbeitsbedingungen von Kindern und Frauen. Beide gehören für ihn zur gleichen Kategorie: „Sofern die Maschinerie Muskelkraft entbehrlich macht, wird sie zum Mittel, Arbeiter ohne Muskelkraft oder von unreifer Körperentwicklung aber größrer Geschmeidigkeit der Glieder anzuwenden, Weiber- oder Kinderarbeit war daher das erste Wort der kapitalistischen Anwendung der Maschinerie!“ (MEW 23, S. 416). Das gesellschaftliche Leben außerhalb der industriellen Produktion interessiert ihn an dieser Stelle kaum noch. Marx entwickelt hier den Gedanken der „industriellen Reservearmee“, die im Falle von Nachfrageschwankungen den Nachschub an Arbeitskräften sichert und insgesamt disziplinierend wirke, da Kapitalisten teure Arbeitskräfte durch billigere ersetzen können und dadurch alle Arbeiter „unter die Diktate des Kapitals“ zwingt (ebd., S. 665). Aus heutiger Sicht stellt sich die Frage, warum Marx die katastrophalen Arbeitsbedingungen von Arbeiterinnen zwar durchaus eindringlich beschreibt, aber weder erklärt, warum Frauen sich in dieser Position befinden, noch, warum die nicht erwerbsförmige Arbeit in der Familie trotz ihrer Erwerbsarbeit von Frauen erbracht wird. Marx schreibt nicht, dass die besondere Benachteiligung von Frauen (und Kindern) ursächlich den Verwertungsinteressen des Kapitals entspringe – im Gegenteil: Der kapitalistische Produktionsprozess macht Menschen tendenziell ‚gleich‘, indem Geschlechts- und Altersunterschiede bedeutungslos werden. Er führt das oben aufgerufene Zitat zur Maschinerie so weiter: „Dieses gewaltige Ersatzmittel von Arbeit und Arbeitern verwandelt sich damit sofort in ein Mittel, die Zahl der Lohnarbeiter zu vermehren und durch Einreihung aller Mitglieder der Arbeiterfamilie, ohne Unterschied von Geschlecht und Alter, unter die unmittelbare Botmäßigkeit des Kapitals. Die Zwangsarbeit für den Kapitalismus usurpierte nicht nur die Stelle des Kinderspiels, sondern auch der freien Arbeit im häuslichen Kreis innerhalb sittlicher Schranken, für die Familie selbst“ (ebd., S. 416). In der häuslichen, nicht erwerbsförmigen Arbeit erkennt Marx an dieser Stelle keinen Herrschafts- oder Ausbeutungscharakter mehr wie noch in den Frühschriften. Die Formulierung „freie Arbeit im häuslichen Kreis“ könnte so gelesen werden, dass er familiale Arbeit tendenziell als nicht-entfremdete Arbeit versteht. In jedem Fall ist es eine Arbeit, die nicht unter das unmittelbare Diktat des Kapitals fällt und insofern ein Stück weit der Logik des Warentausches entzogen ist. So sieht er auch durchaus kritisch, dass sich „die alten Familienverhältnisse“ auflösten (ebd., S. 513). Zugleich aber werde damit der besonderen Benachteiligung von Frauen im Produktionsprozess eine wichtige Grundlage entzogen:

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„So furchtbar und ekelhaft nun die Auflösung des alten Familienwesens innerhalb des kapitalistischen Systems erscheint, so schafft nichtsdestoweniger die große Industrie mit der entscheidenden Rolle, die sie den Weibern, jungen Personen und Kindern beiderlei Geschlechts in gesellschaftlich organisierten Produktionsprozessen jenseits der Sphäre des Hauswesens zuweist, die neue ökonomische Grundlage für eine höhere Form der Familie und des Verhältnisses beider Geschlechter“ (ebd., S. 514). Wie diese „höhere Form der Familie“ aussehen kann, dazu stellt er keine weiteren Überlegungen an – wichtig ist an dieser Stelle primär, dass die Logik der kapitalistischen Produktion Geschlecht gegenüber indifferent ist und aus sich heraus keine auf Geschlecht bezogene Arbeitsteilung und Wertung hervorbringt. So gesehen wirke der Kapitalismus als „Gleichmacher“ emanzipativ und trägt darin auch zur Überwindung überkommener Familienformen bei. Das hat Marx aber nicht weiter interessiert. Friedrich Engels „Ursprung der Familie“ Im Unterschied zu den späten Schriften Marx’ hat Friedrich Engels dem Verhältnis der Geschlechter eine weitaus größere Aufmerksamkeit gewidmet. Nach dem Tode von Marx hat er die Schrift „Über den Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates“ (1884) verfasst. Seinen Ausführungen zur Geschichte der Familie ist ein Vorwort vorangestellt, in dem die als gemeinsam unterstellte materialistische Geschichtskonzeption aufgerufen wird: „Nach der materialistischen Auffassung ist das in letzter Instanz bestimmende Moment in der Geschichte: die Produktion und Reproduktion des unmittelbaren Lebens. Diese ist aber selbst wieder doppelter Art: Einerseits die Erzeugung von Lebensmitteln, von Gegenständen der Nahrung, Kleidung, Wohnung und den dazu erforderlichen Werkzeugen, andererseits die Erzeugung der Menschen selbst, die Fortpflanzung der Gattung“ (MEW 21, S. 27 f.). Engels trennt hier die Erzeugung von Lebensmitteln und Werkzeugen als „Produktion“ und „Arbeit“ von der „Fortpflanzung der Gattung“ als „Reproduktion“, die gleichbedeutend mit ‚Familie‘ wird. Damit wird im Unterschied zum Marx’schen Reproduktionsbegriff Fortpflanzung ein „Gegenprinzip“ zur Produktion. Mit dieser dualistischen Interpretation habe Engels, so Beer (1984), den Grundstein gelegt für eine unterschiedliche (theoretische) Wertung und Gewichtung dieser Bereiche (Beer 1984, S. 31). Im Einzelnen versucht Engels in dieser Schrift unter Bezugnahme auf damals aktuelle, heute weitgehend vergessene Studien (J. J. Bachofen, Lewis Henry Morgan) eine Rekonstruktion der Geschichte der Familie und ihrer Organisationsformen – um „Geschlecht“ geht es also nur sekundär. Im Unterschied zur „Deutschen Ideologie“ geht er nun davon aus, dass ‚die‘ Frau zu Beginn der Geschichte aufgrund der egalitären Produktionsweise keinen untergeordneten Status hatte. Vielmehr verfügten Männer und Frauen in der „Urgesellschaft“ entsprechend ihrer „natürlichen Begabung“ über jeweils eigenständige Betätigungsfelder und seien darin zunächst gleichwertig gewesen. Unterstellt wird hier allerdings bereits, dass die Arbeit des Mannes der Sicherung des familialen Lebensunterhalts dient und die Entwicklung der Produktivkräfte allein im Arbeitsbereich des Mannes stattgefunden habe. Mit zunehmender Produktivität und der Einführung des Privateigentums wächst damit auch die Macht des Mannes im häuslichen Bereich. Der Wert der Frauenarbeit sinke bis hin zur völligen Bedeutungslosigkeit, wird zur „unbedeutenden Beigabe“ (MEW 21, S. 158) der Arbeit des Mannes. Beer interpretiert diese Passagen so, dass Engels zufolge die geschlechtliche Arbeitsteilung

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zum einen zum Resultat hat, den Mann mit den Mitteln zu versehen, die es ihm erlaubten, die Frau in ihrem eigenen Arbeitsbereich seinem Willen zu unterwerfen. Zum anderen ermöglichen es ihm eben diese Mittel, deren Arbeit auch insgesamt zu entwerten (Beer 1984, S. 39). Zudem entstehen mit vermehrtem gesellschaftlichem Austausch Unterschiede des Reichtums und es wachsen die Möglichkeiten fremde Arbeitskraft zu verwerten. Damit wird die „alte, auf Geschlechtsverbindungen beruhende Gesellschaft gesprengt“. An ihre Stelle tritt eine neue Form, in der „die Familienordnung ganz von der Eigentumsordnung beherrscht wird und in der sich nun jene Klassengegensätze und Klassenkämpfe frei entfalten, aus denen der Inhalt aller bisher geschriebenen Geschichte besteht“ (MEW 21, S. 27 f.). Eine Antwort auf die Frage nach der Entstehung der Arbeitsteilung jenseits des sexuellen Fortpflanzungsaktes bietet sein Versuch zur Rekonstruktion der Organisationsformen von Familie nicht. Vielmehr wird die Arbeitsteilung nach „männlichen“ (produktiven) und „weiblichen“ (reproduktiv-häuslichen) Arbeitsbereichen bereits vorausgesetzt und ist als solche auch in die jeweilige ökonomische Organisationsform der Familie als selbstverständlicher Hintergrund eingelassen. Sie wird weder als Zwangsverhältnis eingeschätzt noch resultiert aus ihr automatisch eine unterschiedliche Wertung der Geschlechter – diese ist nach Engels vielmehr ein Ergebnis der Produktivkraftentwicklung und der Eigentumsordnungen. Auch für die zukünftige „klassenlose“ Gesellschaft, in der die (monogame) Ehe auf „individueller Geschlechtsliebe“ beruhe, sah Engels in der Arbeitsteilung kein Problem. Ähnlich wie A. Comte rechnet er Männern die stärkeren (und aggressiveren) sexuellen Bedürfnisse zu, Frauen sieht er in dieser Hinsicht als weitgehend bedürfnislos (ebd., S. 82 f.). Insofern kommt ‚der‘ Frau auch hier die Aufgabe zu, auf ‚den‘ Mann sittlich einzuwirken. Eine „Emanzipation der Frau“ setze jedoch voraus, Frauen von Hausarbeit zu entlasten (ohne dass Engels ihre Zuständigkeit hierfür infrage stellt) und in die Lohnarbeit zu integrieren: „Hier zeigt sich schon, dass die Befreiung der Frau, ihre Gleichstellung mit dem Manne, eine Unmöglichkeit ist und bleibt, solange die Frau von der gesellschaftlich produktiven Arbeit ausgeschlossen und auf die häusliche Privatarbeit beschränkt bleibt. Die Befreiung der Frau wird erst möglich, sobald diese in großem gesellschaftlichem Maßstab an der Produktion sich beteiligen kann, und die häusliche Arbeit sie nur noch in unbedeutendem Maß in Anspruch nimmt. Und dies ist erst möglich geworden durch die moderne große Industrie, die nicht nur Frauenarbeit auf großer Stufenleistung zulässt, sondern förmlich nach ihr verlangt und die auch die private Arbeit mehr und mehr in öffentliche Hausarbeit aufzulösen strebt“ (ebd., S. 158). Implizit hat Engels mit seiner Studie ein grundlegendes Problem angeschnitten, ohne es jedoch als solches zu benennen: Wie kommt es dazu, dass die Produktivkraftentwicklung ausschließlich in den männlichen Arbeitsbereich fällt und es deshalb auch Männer sind, die Eigentum bilden, neue Produktionsverhältnisse eingehen und diese dann wieder überwinden? Eine solche Frage ist ihm offensichtlich gar nicht in den Sinn gekommen. Mit der Unterscheidung von Produktion und Reproduktion bzw. produktiver und unproduktiver Arbeit hat Friedrich Engels jedoch in der späteren Rezeption einer ganzen Reihe von Missverständnissen den Weg gebahnt – eines davon ist die Einordnung der Frauenfrage als mehr oder weniger zu vernachlässigender „Nebenwiderspruch“ in der Klassengesellschaft und damit auch die Persistenz einer letztlich essentialisierten Basisdifferenz.

2.2 Großentwürfe gesellschaftlicher Entwicklungen und die Stellung der Geschlechter

2.2.4

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Herbert Spencer (1820–1903)

Herbert Spencer war ein Zeitgenosse von Marx und Engels, lebte also in eben jenen sozialen Verhältnissen in England, die bei letzteren zur Entwicklung einer politisch revolutionären Perspektive geführt hatten. Spencers Blick auf die Gesellschaft war jedoch ein völlig anderer und dementsprechend zog er auch völlig andere Konsequenzen. Von ihm – nicht von Darwin – stammen die bekannten Redeweisen eines „Kampfes ums Dasein“ („struggle for existence“) oder eines „Überlebens des Tauglichsten“ („survival of the fittest“). Entsprechend war die Anpassung an die gesellschaftliche Entwicklung – die auch er als „Fortschritt“ definierte – das erste Gebot. Spencer lehnte es dezidiert ab, in die sozialen Verhältnisse korrigierend durch sozialpolitische Maßnahmen einzugreifen. Sein Denken war zu seiner Zeit außerordentlich einflussreich und auch, wenn er heute im Unterschied zu Karl Marx kaum noch zitiert wird, hat er nicht zuletzt durch die von ihm geprägten Konzepte und Begriffe die weitere Entwicklung in der Soziologie maßgeblich beeinflusst (Theorien sozialer Differenzierung, Strukturfunktionalismus und Systemtheorie). Evolution von Gesellschaften Auf den ersten Blick ähnlich wie Comte sah auch Spencer in der Gesellschaft einen „lebenden Organismus“. Er band diese Analogie aber in eine völlig andere theoretische Perspektive ein: die Evolutionstheorie. Hierfür übertrug er zunächst Befunde aus den zu seiner Zeit aktuellen Studien zu einer Evolution der Erd- und Naturgeschichte (Darwin) auf die Entwicklung von menschlichen Gesellschaften und nahm an, dass hier wie dort die gleichen „Naturgesetze“ gültig seien. Evolution bedeute für Gesellschaften, dass aus kleinräumigen einfachen Gesellschaften (Horden oder Stämmen), in der keine Funktionsteilung ausgebildet ist und jeder alles macht („unbestimmte, zusammenhanglose Homogenität“), arbeitsteilige Gesellschaften entstehen, in denen sich unterschiedliche, funktional spezialisierte Teilsysteme ausdifferenzieren („bestimmte, zusammenhängende Heterogenität“). Zentrale Aspekte dieses „Evolutionsgesetzes“ liegen zum einen darin, dass jeder Organismus nach Selbsterhaltung strebt und sich an die jeweilige Umwelt anpassen muss, um zu überleben („Kampf ums Dasein“). Zum anderen sind mit Wachstum, Reife und Verfall von Organismen Veränderungen verbunden, die immer neue Anpassungen erfordern, um ein neues Gleichgewicht zur Umwelt hin zu ermöglichen. Diese Anpassungsleistungen schließen auch die Verdrängung oder Vernichtung (Einverleibung) anderer Organismen ein („survival of the fittest“). Ebenso wie jeder andere lebende Organismus seien auch Gesellschaften einem solchen Anpassungsdruck unterworfen: „Gesellschaften beginnen ebenso wie lebende Körper als Keime – sie nehmen ihren Ursprung in Form von Massen, die außerordentlich klein sind, verglichen mit der Masse, welche einige derselben schließlich erreichen“ (Spencer 1887, S. 22). Grundlegendes strukturierendes Prinzip dieser gesellschaftlichen Entwicklung ist die Arbeitsteilung. „Indem die wechselseitig abhängigen Theile so durch- und füreinander leben, bilden sie ein Aggregat, das nach demselben allgemeinen Grundsatze aufgebaut ist wie ein einzelner Organismus“ (ebd., S. 21). Gleichzeitig sieht Spencer durchaus, dass die Analogiebildung von Organismus und Gesellschaft Grenzen hat. Während die Organe eines Körpers etwa ein „konkretes Ganzes“ darstellen, bilden die Einheiten einer Gesellschaft ein „diskretes Ganzes“; „diskret“ heißt in diesem Fall, dass die Einheiten (die Individuen) getrennt voneinander existieren und auf andere Weise zu einer Kooperation finden müssen als Organe im menschlichen Organismus. Ihr

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Zusammenleben erfordere eine „soziale Organisation“, in der es „der Sprache der Gemütsbewegungen“ und der „Sprache des Verstandes“ bedarf (ebd., S. 18). Das heißt nichts anderes, als dass die Einheiten des gesellschaftlichen Organismus – die Individuen – bereit und fähig sein müssen, emotionale Bindungen und Beziehungen einzugehen und dass sie Bewusstsein haben müssen, um kooperieren zu können. Individuen und Aggregat streben nach Selbsterhaltung und bringen damit unterschiedliche Formen der sozialen Organisation hervor. Im ersten Fall werden nur „Privatzwecke mit Absicht verfolgt“, im anderen finden wir eine „bewusste Verfolgung öffentlicher Zwecke, und die entsprechende Organisation (…) übt auch einen bestimmten Zwang aus“ (Spencer 1889, S. 297). Daraus folgert Spencer weiter, dass die „Wohlfahrt des Ganzen“ nicht unabhängig von derjenigen der Einheiten angestrebt werden könne: „Die Gesellschaft existiert zum Nutzen ihrer Glieder und nicht ihre Glieder zum Nutzen der Gesellschaft“ (Spencer 1887, S. 20). Das unterscheidet ihn sehr grundlegend von Comte, bei dem die Erfordernisse des Ganzen der Gesellschaft dem Individuum vorgeordnet waren. Wie das Verhältnis von Individuum und Aggregat (Gesellschaft) im Einzelnen ausgestaltet ist oder auszugestalten wäre, bleibt jenseits sehr allgemeiner wechselseitiger Funktionalitätsannahmen weitgehend im Dunkeln. Die Frage nach dem Verhältnis individueller Freiheit und gesellschaftlicher Ordnung hat auch bei Spencer keinen systematischen Platz. Auf der Grundlage der zahlreichen ethnografischen Untersuchungen seiner Zeit zu „Naturvölkern“ arbeitet Spencer heraus, wie sich mit dem Wachstum auch die Struktur menschlicher Gesellschaften verändert und damit eben jene Richtung nimmt, die er generell evolutionären Prozessen zuweist, nämlich als Entwicklung von „unbestimmter, zusammenhangloser Homogenität“ zur „bestimmten, in sich zusammenhängender Heterogenität“. Aus heutiger Sicht mutet sein Vorgehen freilich eher illustrativ als systematisch an. Im Ergebnis unterscheidet er drei Gesellschaftstypen: den „einfachen“ (lose, weitgehend homogene kleine Einheiten als „Horden“) sowie den „militärischen“ und den „industriellen“ Gesellschaftstypus. Letzterer stellt die höchstmögliche Entwicklungsstufe dar und ist mehr oder weniger identisch mit dem England seiner eigenen Zeit. Im Unterschied zu Comte sieht Spencer diesen Entwicklungsprozess aber nicht als lineare, zwingende Abfolge an, sondern deckt auch Hindernisse und Blockaden auf: „Obgleich die Struktur bis zu einem gewissen Punkte für das Wachstum erforderlich ist, hindert die Struktur über jenen Punkt hinaus das Wachstum“ (Spencer 1872, S. 79). Er sieht, dass in den sich entwickelnden Organisationseinheiten (Institutionen) Eigendynamiken entstehen, die eine Anpassung an neue Verhältnisse und damit ein weiteres Wachstum erschweren. Anhand vielfältiger Beispiele zeigt er, dass zwar die Struktur zum Wachstum nötig ist, aber fortgesetztes Wachstum einen Abbau und eine Veränderung der Struktur erfordert (ebd., S. 85). In der Untersuchung solcher Fragen sieht er eine der zentralen Aufgaben der neuen Wissenschaft, der Soziologie. Das Grundprinzip sozialer Organisation und sozialer Differenzierung ist die Arbeitsteilung und deren Grundlage die „menschliche Natur“. Diese ist bei Spencer geradezu konträr gefasst zu den Annahmen Comtes und hat auch mit der Marx’schen Konzeption nichts zu tun. Ausgangspunkt ist für ihn die biologische Sicht auf den einzelnen Menschen als ein agierendes und reagierendes – sich an seine Umwelt anpassendes – Wesen. Kriterium dieser „Anpassung“ ist das Überleben des Einzelnen, aber auch das Überleben der Nachkommen in der folgenden Generation. Darin unterscheiden sich Menschen nicht von anderen biologischen Organismen: Wer sich erfolgreich an seine Umweltbedingungen anpasst, wird belohnt, wer sich nicht anpasst, geht unter.

2.2 Großentwürfe gesellschaftlicher Entwicklungen und die Stellung der Geschlechter

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Gleichzeitig aber lässt sich Gesellschaft nicht vom einzelnen Individuum trennen oder abheben, da sie sich ja in Individuen konkretisiert. Wenn Spencer schreibt: „Ist also die Natur der Einheiten gegeben, so ist auch die Natur des Aggregats, welches sie bilden, vorherbestimmt“ (ebd., S. 61), so zielt er darauf ab, dass Bienen andere Gesellschaften aufbauen als Menschen, die jeweilige „Naturausstattung“ (Gemüt und Verstand) sie zu bestimmten Formen sozialer Organisation prädisponiert. Zugleich gilt aber: „Sobald ein soziales Verhältnis eine gewisse Festigkeit erlangt hat, beginnen Wirkungen und Rückwirkungen der Gesellschaft als Ganzem und jedem Gliede derselben, so dass die eine auf die Natur des anderen Einfluss gewinnt“ (Spencer 1877, S. 14). In dieser evolutionstheoretischen Sicht gibt es damit keine ein für alle mal festgelegte „Natur des Menschen“. Vielmehr findet in und mit der sozialen Evolution ein Prozess statt, der auf die anfängliche Naturausstattung der Individuen zurückwirkt und diese – in Grenzen – verändern kann. Die soziale Evolution ist ohne Zweifel ein geschichtlicher Prozess, der bei Spencer aber nur als „Naturgeschichte“ angemessen zu erfassen ist. Daraus folgt, dass er die Soziologie ebenso wie die zu dieser Zeit entstehende Biologie als eine Naturwissenschaft versteht, die nach den durch die Natur vorgegebenen und von Menschen nicht zu beeinflussenden Gesetzmäßigkeiten dieser sozialen Evolution fragt. Funktionstrennung der Geschlechter als Grundlage „sozialer Evolution“ In seinen Ausführungen zur Evolution und zur „Natur der Einheiten“ scheint Spencer diese „Natur des Menschen“ zunächst nicht nach Geschlecht zu unterscheiden: Gegenstand der Soziologie sind die Individuen und deren Existenzbedingungen, die gleichzeitig auch die Existenzbedingungen des gesellschaftlichen Aggregats sind. Verändern sich die Individuen, bewirkt dies eine Wandlung des Aggregats, welches wiederum auf die Individuen zurückwirkt und neue Anpassungen erfordert. Dabei gilt die Konkurrenz der Individuen um bessere Bedingungen des Überlebens als funktional für die (Höher)Entwicklung der Gesellschaft. Erst in den Erläuterungen zum „Evolutionsgesetz“ kommt die Differenzierung nach Geschlecht eher beiläufig zur Sprache. In den einfachen Stämmen sei es so, dass „durch den Gegensatz in der allgemeinen Lage der beiden Geschlechter“ Männer als unbeschränkte Beherrscher der Frauen auftreten (Spencer 1887, S. 32). Das bedeutet, dass Spencer trotz dieser Beiläufigkeit Geschlecht als ein grundlegendes Differenzierungskriterium einführt, das mit Beginn der sozialen Evolution wirksam wird und von Anfang an Frauen schlechter stellt. Bei den „Wilden“ hätten Frauen aufgrund der Rohheit und größeren Kraft der Männer die soziale Stellung eines „Haustiers“ und seien von Männern „als Eigenthum“ (ebd., S. 329) betrachtet worden. „Die einzige Grenze für die Rohheit, welcher die Frau von seiten des Mannes bei den niedrigen Racen ausgesetzt ist, liegt in ihrem Unvermögen, unter dem Druck noch größerer Rohheit zu leben und sich fortzupflanzen“ (ebd., S. 326). Vor allem in Kriegszeiten seien Frauen zu „Arbeitsmaschinen herabgedrückt“, weil sie alle jene zum alltäglichen Unterhalt dienenden Tätigkeiten hätten ausführen müssen (ebd., S. 32). Explizite Aufmerksamkeit widmet Spencer den Geschlechtern (nicht der Kategorie Geschlecht) vor allem im Kontext der „psychologischen Grundlagen“ der Gesellschaft: „Frauen wie Männer sind Einheiten in einem Gemeinwesen und weisen durch ihre Natur darauf hin, dem Gemeinwesen gewisse Züge der Bildung und des Handelns aufzuprägen. Daher ist die Frage: Ist die geistige Natur der Männer und Frauen dieselbe? eine für den Soziologen wichtige. Wenn sie die gleiche ist, so ist nicht wahr-

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scheinlich, dass eine Zunahme des weiblichen Einflusses auf den gesellschaftlichen Typus in auffälliger Weise einwirken würde. Wenn sie es nicht ist, so wird der gesellschaftliche Typus unvermeidlich durch Zunahme des weiblichen Einflusses verändert werden“ (Spencer 1872, Bd. 2, S. 219). Dass eine mögliche Antwort in der „Gleichheit der Geschlechter“ bestehen könnte, lehnt er gleich im nächsten Satz kategorisch ab – Frauen und Männer seien einander geistig so wenig gleich wie sie sich körperlich gleich seien.3 Die Aufgabe von Frauen sei es, Kinder zu gebären und aufzuziehen, um so das Überleben der nächsten Generation zu sichern. Damit übernimmt er die Familienideologie seiner Zeit, baut sie aus und verschafft ihr weitere Legitimation. Die evolutionär am weitesten entwickelten Gesellschaften seien auch deshalb so weit entwickelt, weil sie für die Aufzucht der Nachkommen optimale Voraussetzungen geschaffen hätten: eine positive Wertschätzung von Frauen, auf Liebe basierende monogame Ehen und Familien, in denen die uneingeschränkte Fürsorge der Mutter für die Kinder dauerhaft gesichert ist. Insofern wird die Differenzierung der Geschlechter von ihm funktional für die Reproduktion der Gattung eingesetzt. Die Differenzierung selbst wird auf die „Naturausstattung“ der Individuen zurückgeführt. Hier gäbe es geistige Differenzen, die zum einen aus dem Verhältnis von Männern als physisch Stärkeren und Frauen als physisch Schwächeren resultieren und zum anderen aus dem größeren Anteil der Frauen an der Aufzucht und dem Beschützen der Nachkommenschaft. „Quantitative Unterschiede“ ergeben sich für Spencer – wie bei Comte und ganz im Sinne der zeitgenössischen Anthropologie – daraus, dass es zu einem „etwas früheren Stillstande der individuellen Entwicklung beim Weibe“ komme, was „durch die Reservierung der Lebenskraft zur Bestreitung der Kosten der Fortpflanzung erfordert wird“ (ebd., S. 219). Dieses vermeintlich frühere Aufhören der individuellen Entwicklung zeige sich auch am geringeren Wachstum von Nerven und Muskeln, aber auch am kleineren Gehirn, so dass ihr die Kraft des abstrakten Denkens und der Gerechtigkeitssinn fehlen. Der qualitative Unterschied dagegen folge zum einen aus dem Verhältnis der Frau zu ihren Kindern. Bei ihr werde der „elterliche Instinkt“ durch die kindliche Hilflosigkeit angeregt, so dass „ohne Zweifel“ bei Frauen speziellere Fähigkeiten zur „Behandlung des Kindeslebens“ ausgeprägt seien (ebd., S. 221). Zum anderen ergeben sich qualitative Unterschiede aus den quantitativen, da Frauen als die (physisch und geistig) Schwächeren Verhaltensweisen hätten entwickeln müssen, die ihnen ein Überleben sicherten, etwa die „Fähigkeit zu gefallen“, die „Künste der Überredung“ oder die Fähigkeit, den Gemütszustand von anderen intuitiv zu erfassen. Diese Eigenschaften könnten in der evolutionären Entwicklung auch wieder zurücktreten, dann, wenn Frauen nicht mehr auf die „Gnade der Männer“ angewiesen seien. So schließt Spencer nicht 3

Das ist insofern bemerkenswert, als Spencer sich in seinen frühen Schriften noch offen für die Rechte der Frauen zeigt: „Equity knows no difference of sex“ lautet der erste Satz zu einem Kapitel (XVI) seines ersten Buches (1851/1868). Zu dieser Zeit argumentierte er noch mit Bezug auf historische und kulturell vergleichende Studien gegen eine Begrenzung von Frauen auf die häusliche Sphäre, sah die mentalen Unterschiede noch als so geringfügig und so unbedeutend an, dass sie keine Grundlage bilden, Frauen politische Rechte zu verweigern. In den späteren, ab 1860 erschienenen Werken dagegen insistierte er umso nachdrücklicher auf der qualitativen Differenz von Frauen und Männern und dem primär häuslichen Wirkungskreis der Frauen. Die Gründe dafür in seiner Biographie bzw. seinen Begegnungen mit Frauen zu suchen, trägt nicht sehr weit (Kandal 1988, S. 45). Wichtiger scheint zu sein, dass er sich von utilitaristischen und liberalistischen Ideenlehren ab- und zunehmend zur zu seiner Zeit expandierenden Biologie bzw. der biologisch begründeten Evolutionstheorie hin wendete und in diesem Zusammenhang dann die Fortpflanzung zum Ausgangspunkt seiner Argumentation wurde.

2.2 Großentwürfe gesellschaftlicher Entwicklungen und die Stellung der Geschlechter

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aus, dass mit fortschreitender Zivilisation – in ferner Zukunft – Frauen Zugang zu höherer Bildung bekommen und dies einen „minder frühen Stillstand der individuellen Entwicklung beim Weibe“ zur Folge habe. Auf diese Weise könnten sich die Unterschiede zum Mann auch abschwächen, was allerdings im Widerspruch zu seinem „Evolutionsgesetz“ steht, demzufolge die Unterschiede zwischen den Einheiten stets größer werden und nicht geringer. In Bezug auf die „Stellung der Frau“ sieht Spencer also einen direkten Zusammenhang mit dem „Typus der sozialen Organisation“ (Spencer 1887, S. 336). Frauen und Männer werden aber auch bei weiter fortschreitender Evolution nicht „gleich“. Es könnten lediglich die aus der quantitativen Differenz – dem Verhältnis von Stärkeren zu Schwächeren – resultierenden (qualitativen) Verhaltensweisen an Relevanz verlieren, die Differenz als solche bleibe aber bestehen, ebenso wie der bei Frauen stärker ausgeprägte „elterliche Instinkt“. Aus diesen und anderen Passagen wird ersichtlich, dass Spencer die Funktionstrennung zwischen Männern und Frauen weniger zu einer Frage der Arbeitsteilung macht, sondern sie als eine Folge des ‚naturhaft‘ begründeten Gegensatzes und der „den Frauen eigentümlichen Züge des Verstandes und Gefühls“ (Spencer 1872, S. 226) ansieht und diese grundlegende Differenzierung damit zu großen Teilen jenseits seines Entwicklungsmodells verortet. Zur Frage der gesellschaftlich-politischen Partizipation von Frauen argumentiert Spencer in seinen späten Werken so, dass eine Zunahme des „weiblichen Einflusses“ sich auf gesellschaftliche Entwicklungen auswirken könne, da Frauen sich aufgrund ihres „mütterlichen Instinktes“ aus Mitleid mit den Hilflosen eher der „socialen Politik“ zuwenden. Mitgefühl und Solidarität mit den Schwachen sei ein in Familien angemessener Umgang – Fortschritt in der Gesellschaft als Ganzer aber hinge davon ab, nur die Tauglichsten und Kompetentesten zu fördern. Auch sei Frauen ein „Infragestellen“ des Bestehenden eher fremd: „Indem sie mehr Ehrfurcht vor der Macht hegen als die Männer, achten die Frauen demgemäß die Freiheit weniger, d. h. Freiheit nicht jener nominellen, sondern jener wirklichen Art, welche in der Fähigkeit eines jeden besteht, sein Leben ohne Hindernis von anderen zu führen, so lang er diese nicht hindert“ (ebd., S. 228). Entsprechend liege ihr Einfluss auf gesellschaftliche Verhältnisse vor allem darin, zur Aufrechterhaltung der verschiedenen Einrichtungen beizutragen und die Strukturen politischer und kirchlicher Ordnungen zu stützen (ebd.). Ob es „wünschenswert“ wäre, dass der Anteil von Frauen in gesellschaftlichen Einrichtungen größer würde, lässt Spencer nicht nur an dieser Stelle „unerörtert“ (ebd., S. 229) – es liest sich aber durchgängig eher so, dass im Spannungsverhältnis von Struktur und Wachstum Frauen tendenziell den gesellschaftlichen Fortschritt behindern.

2.2.5

Zusammenfassung: Natur – Gesellschaft – Geschichte. Und Geschlecht?

Die Wegbereiter der Soziologie entwickelten ihr jeweiliges Denkgebäude in einer der großen historischen Umbruchsituationen und hatten als explizites Ziel, eine den gesellschaftlichen Herausforderungen angemessene neue Wissenschaft zu begründen. Comte und Spencer sahen in der im Einzelnen erst noch zu entwickelnden Soziologie die komplexeste aller Naturwissenschaften und Marx/Engels verfolgten den Anspruch, in Abgrenzung zur Philosophie des Idealismus eine gänzlich neue Perspektive auf das Zusammenleben von Menschen zu begründen. Heute erscheint uns das Verhältnis von Natur und Gesellschaft geradezu als Gegensatz. Für die frühen Klassiker der Soziologie gilt jedoch, dass sie „Gesellschaft“ als einen

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„Naturzusammenhang“ betrachteten, dabei aber ein vom heutigen Denken sehr verschiedenes Verständnis von „Natur“ zugrunde legten. Wie zu Beginn dieses Kapitels beschrieben, wäre ohne diesen Bezug auf „Natur“ eine Wissenschaft vom Zusammenleben der Menschen der Theologie oder der Sozialphilosophie zugeordnet worden. Das aber war eine Zuordnung, von der sich die Autoren gerade absetzen wollten. Die entstehende Soziologie wurde als Teil einer einheitlich gedachten ‚positiven‘ Wissenschaft verstanden, in der es darum ging, eine naturhaft gegebene Welt zu erklären. Insofern gehörten alle beobachtbaren Phänomene zur ‚Natur‘ dieser Welt, seien es nun herunterfallende Äpfel oder revoltierende Bürger. Entsprechend beschrieben und erklärten die frühen Klassiker gesellschaftliche Verhältnisse mit dem Anspruch, die in den Verhältnissen zum Ausdruck kommenden eigengesetzlich-natürlichen (i. e. nicht vom Menschen beeinflussten) Entwicklungen zu erfassen. Comte und Spencer verorteten sich selbst explizit im Kontext der sich entwickelnden Naturwissenschaften (vgl. Kap. 2.1.4). Marx und Engels nehmen hier eine etwas andere Stellung ein, da sie nicht in dem Sinne „positivistisch“ dachten, sondern stärker an die Sozialphilosophie anschlossen. Aber auch sie betonen, dass sie sich an empirisch beobachtbaren Phänomenen orientieren und nach Gesetzmäßigkeiten suchen und auch sie setzen dazu bei der „Natur des Menschen“ an. Mit der Wendung, gesellschaftliche Entwicklungen zu erfassen, kommt jedoch zu dem Verständnis, eine naturhaft gegebene Welt erforschen zu wollen, eine Dimension hinzu, die bis dahin wenig systematische Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte: die Geschichte. Im Falle der entstehenden Soziologie hätte aus heutiger Sicht das erwachende Bewusstsein zur Bedeutung der geschichtlichen Dimension von Gesellschaften dazu beitragen können, sowohl die Kontingenz gesellschaftlicher Entwicklungen als auch die Historizität des eigenen Standpunktes wahrzunehmen und so ein Bewusstsein der historischen Begrenzung des eigenen Denkens und Erkennens auszubilden. Eine solche Haltung wurde jedoch dadurch erschwert, dass Geschichte und Geschichtlichkeit in eine teleologische Geschichtsauffassung eingebunden waren, in deren Folge der eigene historische Entwicklungsstand lediglich einen Übergang zu einer besseren, vollkommeneren Gesellschaft darstellte. Faktisch waren die Wegbereiter der Soziologie in dem Versuch, in der scheinbar zusammenhanglosen Vielfalt historischer Ereignisse, Sitten und Gebräuche, Rechts- und Gesellschaftsformen eine einsehbare Ordnung zu finden, mit einem Höchstmaß an Kontingenz konfrontiert. Wenn man ihre Werke heute liest, dann haben sie diese Kontingenz auch gesehen – um sie zurückzuholen in die wissenschaftliche Denkweise ihrer Zeit. Aus heutiger Sicht reflektierten alle vier Autoren durchaus die Gesellschaftlichkeit sozialer Verhältnisse, banden diese jedoch in eine Gesetzmäßigkeit ein, die sie „Naturgesetzlichkeit“ nannten, weil ihnen dies den Status des Wissenschaftlichen verlieh. Im Rahmen der damaligen Vorstellungen von Natur konkretisierten sie ihr jeweiliges Verständnis von „Natur“ und „Naturgesetzlichkeit“ aber in denkbar unterschiedlicher Weise: Für Auguste Comte ist Gesellschaft die Einheit der Menschheit als Einheit der menschlichen Geschichte. Da er dem Ganzen den Vorrang vor den einzelnen Bestandteilen gibt, ist Gesellschaft eine universelle Voraussetzung einzelmenschlichen Lebens und damit selbst „Natur“. In seiner Organismus-Analogie entsprechen sich „menschliche Natur“ und „soziale Natur“. Etwas zugespitzt könnte man sagen, dass aus den (,natürlichen‘) Erfordernissen der sozialen Organisation die „Natur des Menschen“ abgeleitet wird. Der Vorrang der sozialen Statik in seiner Soziologie impliziert, dass sowohl die soziale wie die menschliche Natur – entsprechend des dominierenden Naturverständnisses der Physik – als zeit- und geschichtslos ge-

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dacht sind. Auch in der sozialen Dynamik geht es weniger um das Geschichtliche als vielmehr um das Gesetz der Entwicklung des menschlichen Geistes („Dreistadiengesetz“). In die soziale Statik ist auch die Sicht auf die Natur der Geschlechter als Über- und Untergeordnetheit eingebettet. Letzte sind ebenso wie Unterschiede zwischen den Geschlechtern (Liebe ergänzt Verstand) grundlegende Erfordernisse der Familie als „Grundeinheit“ des Sozialen und werden damit ebenfalls zeit- und geschichtslos gedacht. Herbert Spencer dagegen kritisiert eben diese Auffassung von „Natur“. Er geht von unterschiedlichen Formen der Gesellschaftlichkeit aus, die er von der Naturausstattung der Einheiten (Individuen) abhängig macht. Die Gesellschaftlichkeit der Bienen ist eine andere als die der Menschen. In diesem Verständnis einer „Natur des Menschen“ bezieht er sich explizit auf biologische und psychologische Grundlagen, die der Einzelne in gesellschaftliche Verhältnisse einbringt. Aus seiner Sicht existiert die Gesellschaft als „Ganzes“ primär zum Wohle des Einzelnen. Auch er sieht in der Gesellschaft einen Organismus, begründet diese Sicht aber in deutlicher Abgrenzung zu Comte mit Bezug auf die inzwischen entstandene biologische Evolutionstheorie. „Gesellschaft“ ist für ihn genau wie jeder andere Organismus einer Entwicklung unterworfen, die von Naturgesetzen bestimmt ist. Diese „Natur der Gesellschaft“ wirkt wiederum auf die Natur der Einheiten (Individuen) zurück – diesen aus heutiger Sicht interessanten Gedanken formuliert er aber nicht aus, so dass die gesellschaftliche Vermittlung einer „Natur des Menschen“ ein blinder Fleck in seinen Schriften bleibt. Auf diese Weise bleibt die „Natur von Gesellschaften“ trotz des Evolutionsgedankens mehr oder weniger geschichtslos. Dies wird insbesondere bei der Thematisierung des Geschlechterverhältnisses als ein Verhältnis des Starken zum Schwachen deutlich, wobei sich Spencer zufolge zwar die Ausprägung dieser Relation evolutionär verändern kann, nicht aber das in der Naturausstattung der weiblichen und männlichen Individuen angelegte Grundverhältnis. Bei Karl Marx und Friedrich Engels liegen die Dinge komplizierter. Hier findet sich eine Mehrdeutigkeit, die nicht zuletzt auch daraus resultiert, dass Marx sich als Philosoph der Ökonomie zuwandte, dabei aber doch Philosoph blieb. Auch Karl Marx sucht nach „Gesetzmäßigkeiten“ der gesellschaftlichen Entwicklung, spricht von „den Naturgesetzen kapitalistischer Produktion“ (MEW 23, S. 12), aber seine Naturkonzeption ist eine völlig andere als die von Comte und Spencer. Was ihn bereits im Ansatz unterscheidet ist sein geschichtliches Verständnis einer wechselseitigen Bezogenheit von Mensch und Natur. Die „Geschichte der Natur“ – so schreibt er – ist von der „Geschichte der Menschen“ nicht zu trennen, sie bedingen sich gegenseitig (MEW 3, S. 18). Der Mensch tritt dem „Naturstoff“ als eine „Naturmacht“ gegenüber. Indem er im Arbeitsprozess auf die „Natur außer ihm einwirkt, verändert er zugleich seine eigene Natur“ (MEW 23, S. 192). Marx nimmt damit an, dass etwas außerhalb des Menschen „da“ ist (die Erde, das Weltall), auf das sich Menschen beziehen, dieses „da sein“ aber nur in der gesellschaftlich-geschichtlichen Aneignung erfassbar ist. Insofern ist „Natur“ eine gesellschaftliche Kategorie, Gesellschaft aber zugleich auch „Natur“. Wenn Marx darauf insistiert, dass Menschen in der Selbstproduktion der Gattung „ihre Geschichte machen“, so öffnet er sich trotz der Suche nach Gesetzmäßigkeiten doch gleichzeitig für die Kontingenz des Historischen. Er hat diese Kontingenz aber lediglich in Bezug auf die „Produktion des Lebens“ durch Arbeit verfolgt, nicht im Hinblick auf die „Produktion des Lebens“ durch Fortpflanzung. Die Frage, wie sich in diesem Fall das „doppelte“ – einerseits natürliche, andererseits gesellschaftliche – Verhältnis im geschichtlichen Prozess ausgestaltet hat, blieb unbeantwortet. Engels dagegen versuchte im „Ursprung der Familie“ eine solche historische Rekonstruktion, verstrickte sich dabei neben einigen Ungereimtheiten in

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der Parallelisierung von Produktionsverhältnissen und Familienformen aber in einer bis heute problematischen Entgegensetzung von „Produktion“ und „Reproduktion“. Das implizite Potential des Konzepts einer „Vergesellschaftung durch Arbeit“ macht die Schriften von Karl Marx auch heute noch lesenswert und anschlussfähig. Ein „Wesen“ oder eine „Natur“ des Menschen jenseits der historisch-gesellschaftlichen Verhältnisse ist darin nicht vorgesehen und nicht denkbar: jede „Produktion des Lebens“ beruht auf einem irgendwie gearteten Zusammenwirken von Menschen und wirkt in diesem historisch sich ausformenden ‚Irgendwie‘ formbestimmend für menschliches Leben. Marx sieht zwar in der körperlich-physischen Beschaffenheit von Frauen und Männern eine Arbeitsteilung angelegt (Geschlechtsakt und Fortpflanzung), so dass auch hier die Geschlechtertrennung einen Ausgangspunkt bildet und nicht weiter begründet wird. Aber darin sieht Marx keinen Grund für gegebene Über- und Unterordnungsverhältnisse. Macht und Herrschaft sind nur gesellschaftlich-geschichtlich aufzuschließen. So gesehen ist „Geschlecht“ bei Marx eine Leerstelle, die als solche fruchtbar auszubauen wäre, da sie Geschlecht für eine gesellschaftliche Formbestimmung öffnet und im Prinzip in den Prozess der Selbstschöpfung des Menschen als Gattung einbezieht. Das darin liegende Potential wurde von Marx selbst jedoch nicht genutzt. Für alle vier gilt, dass „Geschlecht“ oder die Geschlechtertrennung als solche keinen eigenen Stellenwert in dem jeweiligen Theoriegebäude hat. Die frühen Klassiker ringen in durchaus unterschiedlicher Weise um Konzepte der Formung von Natur in der gesellschaftlichen Entwicklung, beziehen dabei aber die Geschlechtertrennung nicht ein. Diese ist als solche gesetzt, gilt (ebenso wie Alter) als nicht hintergehbar und bedarf keiner Begründung. Wenn Geschlecht thematisch wird, dann werden Frauen zum Thema und zwar ausschließlich im Hinblick auf Fortpflanzung und deren Organisation in Ehe- und Familienformen. Die über Zeit und Ort hinweg zu konstatierende Vielfalt dieser Formen wird bei Comte und Spencer systematisch auf das Ideal des bürgerlichen Familienmodells (affektive Grundlage, wechselseitige Konstitution von Kindheit und Mütterlichkeit) hin zugespitzt und verengt. Und auch bei Engels gilt die monogame, auf Liebe beruhende Ehe und Familie als die höchst entwickelte Form der Geschlechterbeziehungen. In den theoretischen Konzepten zum gesellschaftlichen Fortschritt hat die Kategorie Geschlecht sowohl bei Comte als auch bei Spencer keine Bedeutung; Frauen profitieren zwar bei Spencer insofern von diesem Fortschritt, als sich ihre soziale Stellung verbessert, aber sie bringen den Fortschritt nicht mit hervor. Auch die Marx’sche Analyse thematisiert Geschlecht nur in Bezug auf den Beginn der Geschichte (Fortpflanzung). Bei Engels wird die Entwicklung von Produktivkräften explizit der Arbeit von Männern zugeschrieben. Mit diesen Denkmodellen zur gesellschaftlichen Entwicklung entsteht ein Passungsverhältnis von gesellschaftlicher Dynamik bzw. „Fortschritt“ und dem „Männlichen“. Dieses Passungsverhältnis wird aber als solches nicht explizit gemacht, sondern bleibt unsichtbar. Die Beschränkung der Frauen auf den Bereich Ehe und Familie ermöglicht es, die faktische Vergeschlechtlichung gesellschaftlicher Entwicklung und gesellschaftlichen Fortschritts als „männlich“ nicht als solche anzusprechen und sie vermutlich auch gar nicht zu bemerken. Das entspricht dem Denken der Zeit (vgl. Kap. 2.1). Schon bei Rousseau repräsentiert ‚der‘ Mann als „Gattungswesen“ das Allgemeine. Gleichzeitig wird „Fortschritt“ „männlich“ und Männlichkeit wird definiert durch Aktivität und Dynamik. Insofern haben die genannten Autoren ihrerseits Teil an der Durchsetzung von Leitvorstellungen zur Männlichkeit, ohne diese als geschlechtliche zu thematisieren. Auf diese Weise wird mit den grundlegenden Konzepten gesellschaftlicher Entwicklung der historisch überlieferte Modus der (ständisch

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gebrochenen) Ungleichheit der Geschlechter fortgeschrieben und die zu dieser Zeit neu entstehende Vorstellung einer „qualitativen Differenz“ der Geschlechter in diese Ungleichheit integriert. Damit haben die frühen Klassiker für die weitere Entwicklung der Soziologie eine Spur gelegt, die bis heute wirksam ist: entscheidender Bezugspunkt wird die Fortpflanzung der Gattung. Vor diesem Hintergrund bekommen weder die Historizität von Eigenschaftszuschreibungen noch die Bedingungen der Arbeitsteilung einen eigenen Stellenwert. Dies mag zumindest ein Stück weit die Frage beantworten, warum Gleichheitsansprüche – wie etwa Hippel und Wollstonecraft sie formulierten – in der entstehenden Soziologie weitgehend unberücksichtigt blieben und auch so gezielte Kritiken wie die von d’Héricourt (1860) an Comte nicht aufgenommen wurden. Sowohl für Comte als auch für Spencer gilt, dass der jeweils entworfene allgemeine theoretische Rahmen zur Entwicklung von Gesellschaften in vollem Umfang kongruent ist zur gegenständlichen Befassung mit Geschlecht als der besonderen Situation von Frauen. Diese folge aus ihrer „Natur“ und den („natürlichen“) funktionalen Erfordernissen der Gesellschaften. Bei Marx dagegen entsteht zumindest in der Tendenz ein Spannungsverhältnis von allgemeinem theoretischen Rahmen und der gegenständlichen Befassung mit Geschlecht (auch hier: Frauen), etwa im Hinblick auf die Theoriefigur einer „Vergesellschaftung durch Arbeit“, in der eine Gleichheit der Geschlechter durchaus denkbar wäre, von ihm selbst aber an keiner Stelle weiter geführt wird. Mehr als 100 Jahre später wird diese Denkfigur jedoch wieder aufgegriffen werden. Vertiefende Literatur: • • • •

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Beer, Ursula, Theorien geschlechtlicher Arbeitsteilung, Frankfurt am Main/New York 1984. Frevert, Ute, „Mann und Weib und Weib und Mann“. Geschlechter-Differenzen in der Moderne, München 1995. Gerhard, Ute et al. (Hrsg.), Klassikerinnen feministischer Theorie. Band 1: 1789–1919, Königstein/Taunus 2008. Hausen, Karin, Die Polarisierung der „Geschlechtscharaktere“. Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben, in: Conze, Werner (Hrsg.), Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas. Neue Forschungen, Stuttgart 1976, S. 363– 393. Honegger, Claudia, Die Ordnung der Geschlechter. Die Wissenschaften vom Menschen und das Weib. 1750–1850, Frankfurt am Main (u. a.) 1991. Rubin, Gayle, Der Frauentausch. Zur ‚politischen Ökonomie‘ von Geschlecht, in: Dietze, Gabriele, Sabine Hark (Hrsg.), Gender kontrovers. Genealogie und Grenzen einer Kategorie, Königstein/Taunus, 2006 [1975], S. 69–115. Scott, Joan Wallach, Only paradoxes to offer. French feminists and the rights of man, Cambridge, Mass. (u. a.) 1996. Laqueur, Thomas W., Auf den Leib geschrieben. Die Inszenierung der Geschlechter von der Antike bis Freud, Frankfurt am Main/New York 1992.

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2 Spurensuche

Denkanstöße und weiterführende Fragen: Die Tücken, die wir bei der „Spurensuche“ aufgespürt haben, werden uns das ganze Buch hindurch beschäftigen. Spencer hat – so wenig er auch selber aus seiner Haut heraus konnte – das Kernproblem identifiziert, mit dem auch wir befasst sind, dass Soziolog/innen selbst Teil der Gesellschaft sind, die sie untersuchen: „Sich in Gedanken von all seinen Beziehungen zu Rasse, Vaterland und Staatsgenossenschaft abzutrennen, alle jene Interessen, Vorurtheile, Vorliebe, Aberglauben abzuwerfen, welche durch das Leben in seiner Gesellschaft und seiner Zeit in ihm erzeugt worden, alle Veränderungen, welche die Gesellschaften erlitten haben und erleiden, ohne irgendeine Beeinflussung durch die eigene Nationalität oder Glauben oder persönliche Wohlfahrt zu betrachten, ist etwas, was der Durchschnittsmensch überhaupt nicht, und der Ausnahmsmensch nur sehr unvollkommen zu thun vermag.“ (Spencer, 1872, Bd1, S. 92). Wir bewegen uns auch heute in ‚Denkgefängnissen‘, deren Grenzen wir in und mit der Wissenschaft erweitern wollen – so wenig wir sie sprengen können. Allerdings haben wir hierzu schon Hilfsmittel (z. B. Methodologien und Theorien) geliefert bekommen, durch die wir Abstand künstlich herstellen können, die den Wegbereitern noch nicht zur Verfügung standen. • Was aus den bisher vorgestellten Ansätzen ist für Sie nach wie vor anschlussfähig? • Woran würden Sie aus heutiger Sicht Kritik üben? • Welche weiteren Fragen entwickeln sich in der Auseinandersetzung mit diesen Ansätzen für Sie?

3

Moderne Zeiten

Kapitelvorschau 1. Die Entstehung der Soziologie als eigenständige Disziplin und die erste Frauenbewegung fallen zeitlich zusammen. Wir zeigen, wie sich die zeitliche Koinzidenz in den Entwürfen niederschlägt. Dabei werden wir die Frage verfolgen, wie sich die Thematisierung von Geschlecht zu dem jeweiligen theoretischen Rahmen verhält: Besteht zwischen allgemeinem Theorierahmen und der gegenständlichen Befassung mit „Geschlecht“ eine Entsprechung oder aber ein Spannungsverhältnis? 2. Eine Weiterentwicklung dieser soziologischen Ansätze zu Geschlecht findet nicht statt: Der Nationalsozialismus schafft eine Ideologie und eine Realität für Frauen, die hinter das bisher erreichte zurückfällt. 3. Nach dem zweiten Weltkrieg kehrt die „kritische Theorie“ wieder nach Deutschland zurück. Horkheimer und Adorno entwickeln ein Verständnis von Geschlecht als Herrschaftsverhältnis, das den Ansatzpunkt für eine gesellschaftstheoretisch begründete Geschlechterforschung bietet. 4. Konzepte früherer Vertreter des interpretativen Paradigmas werden vorgestellt, die aufgrund ihrer Geschlechtsneutralität den ersten konsequenten Entwurf, Geschlecht soziologisch zu deuten, ermöglicht haben: Viola Kleins „Feminine Character“.

3.1

Das Problem der Geschlechtergleichheit im Horizont soziologischer Theorieentwicklung

3.1.1

Historische Kontexte: Frauenbewegungen und die Soziologie

Anders als in England und Frankreich kam in Deutschland die Industrialisierung erst Mitte des 19. Jahrhunderts verstärkt in Gang. Und mit ihr bahnte sich auch die Moderne ihren Weg. Sie hatte es schwer in Deutschland: Politik und Kultur des Kaiserreiches standen den Entwicklungen in Wirtschaft, Politik und Kulturleben mindestens ambivalent, überwiegend aber ablehnend gegenüber (Wehler 1987). Die feudal-ständischen Ordnungen begannen nur langsam zu bröckeln, die politische Macht lag überwiegend bei den traditionalen (feudalen) Eliten. Militärische Werte und Tugenden hatten eine große Bedeutung, das Bürgertum beschränkte sich weitgehend auf das Ökonomische und auf die Wissenschaft. Anders als in England und Frankreich waren Ansätze zu demokratischen Institutionen kaum ausgeprägt. Vielmehr bildeten sich zunächst eher Abwehr- und Gegenbewegungen, etwa in der romantisierenden Verklärung des Mittelalters, der Besinnung auf spezifisch deutsche Volkstraditionen, einer grundsätzlichen Rationalitäts- und Wissenschaftsskepsis sowie nicht zuletzt der Verklärung der häuslichen Sphäre zum „Gegenidyll“ (Meurer 1992, S. 346). Zum Ende des 19. Jahrhunderts hatte sich die Sphärentrennung und mit ihr das bürgerliche Familienideal in so hohem

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3 Moderne Zeiten

Maße durchgesetzt, dass es auch zum Bezugspunkt von Sozialisten und Sozialdemokraten wurde (vgl. Thönnessen 1969). Trotz der verschiedenen Gegenbewegungen war die Moderne auch in Deutschland nicht aufzuhalten: Insbesondere die fortschreitende Entwicklung der industriellen Produktion brachte eine geteilte „Erfahrung der Beschleunigung“ (Kosellek 1969 zit. nach Gumbrecht 1978, S. 109) hervor. Gesellschaftliche Veränderungen und kultureller Wandel wurden nicht mehr als ein struktureller Umbruch erlebt, wie das noch zur Jahrhundertwende vom 18. in das 19. Jahrhundert galt, sondern als permanente, rasante Bewegung. Das nunmehr im geistesgeschichtlichen Kanon etablierte Geschichtsbewusstsein (Historizität) hat dieses Verständnis wesentlich mit hervorgebracht. Mit dem Grundgedanken, dass jede vergangene Zeit sich selbst Gegenwart war, wird der Begriff „modern“ nun als Antipode zum Zeitlosen, Ahistorischen konzipiert, das die Wissenschaften bis zum Ende des 18. Jahrhunderts geprägt hatte. Auch im gesellschaftlichen Leben entstehen soziale Bewegungen: neben den Arbeiterund den Frauenbewegungen eine große Jugend- und Lebensreformbewegung mit einer Vielzahl von Untergruppen. Mit den verschiedenen sozialen Bewegungen wuchs im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert ein öffentliches Bewusstsein zu den ‚Problemen der Zeit‘, allen voran der ‚allgemeinen sozialen Frage‘. In ihrem Zusammenhang wurde zunächst auch die ‚Frauenfrage‘ wahrgenommen, die sich jedoch zunehmend zu einem eigenständigen Problembereich entwickelte. In eben dieser Zeit nimmt auch die Soziologie mit den Schriften ihrer Klassiker Gestalt an. Die zeitliche Koinzidenz der Etablierung der Soziologie und des Aufstiegs der „sozialen Frage“ wurde bereits vielfach thematisiert. Weniger bekannt ist die Koinzidenz mit dem erwachenden Krisenbewusstsein im Hinblick auf ‚die‘ Frauen. Schon Viola Klein hat in ihrem Buch „The Feminine Character“ (1946) die These einer „Wahlverwandtschaft“ zwischen der Soziologie und der Idee der Frauenemanzipation aufgestellt, die aus einem vergleichbaren Problembezug resultiere. Beide reagierten auf problematisch werdende Phänomene in der Entwicklung zur modernen Gesellschaft, beide konnten weder die allgemeine Armut noch die Unterdrückung der Frauen weiterhin als einen ‚natürlichen‘ Zustand betrachten. Zudem waren beide tendenziell marginalisiert: die Soziologie im Kontext der etablierten Disziplinen, die Frauen in der Öffentlichkeit (zur Rekonstruktion vgl. Wobbe 1997; Gerhard 1998). Vor dem Hintergrund dieser Diagnose stellt sich für uns die Frage, ob, und wenn ja, wie in der Soziologie die „Frauenfrage“ aufgegriffen und zu einem soziologischen Thema gemacht wurde. Deutungshoheit über ‚Natur‘ Hatten die Wegbereiter der Soziologie noch nach den „Naturgesetzlichkeiten“ gesellschaftlicher Entwicklung gesucht, so ist die Erforschung von „Natur“ mehr und mehr zu einem Alleinstellungsmerkmal der Naturwissenschaften geworden. Dies gilt auch und gerade für die „Natur der Geschlechter“. Vor allem Biologie und Medizin hatten hier ihre Deutungshoheit ausgebaut („Sonderwissenschaften vom Weibe“ – vgl. Kap. 2.1.6). Darüber konnten sich weder die (männlichen) Sozialwissenschaftler noch die Vertreterinnen der Frauenbewegungen einfach hinwegsetzen, so dass die in Biologie und Medizin durchgesetzte Naturalisierung von Geschlecht bei beiden als eine Art ‚Hintergrundrauschen‘ unterstellt werden muss. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts grenzen sich Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften in ihren Themen, Methoden und Zielen immer schärfer voneinander ab. Aus den Naturwissenschaften heraus wird immer weniger der Anspruch verfolgt, soziale und moralische Fra-

3.1 Geschlechtergleichheit im Horizont soziologischer Theorieentwicklung

47

gen zu klären (Schippers 1978, S. 239). Die entstehende Evolutionsbiologie stellte nun die Frage anders: Der Zusammenhang zwischen natürlichen Erscheinungen und (menschlichem) Verhalten war nicht mehr wie in Medizin und Philosophie in die Form eines „Du sollst …“ gekleidet, sondern in die Form eines „dies dient dazu …“. Damit wurde ein Anspruch begründet, dass ein solcher Zusammenhang keine Frage philosophischer Diskussion sei, sondern als naturwissenschaftlich gesichertes Ergebnis eines Zwecks Geltung beanspruchte. Der Mensch war damit in seinen Verhaltensmöglichkeiten Ergebnis eines evolutionären (Anpassungs)Prozesses, auf den der Einzelne keinen Einfluss mehr hatte. Wie oben ausgeführt emanzipierte die Aufklärung ‚das Individuum‘ von einer willkürlichen (wenn auch eher gütigen) Allmacht Gottes durch die Konzeption einer Natur, die der Mensch (im Gegensatz zum Willen Gottes) nun verstehen, berechnen und beherrschen konnte und die von dem Gott der Aufklärung in solch verständlichen Naturgesetzen geschaffen worden war. Die Evolutionsbiologie wandte sich von der aufklärerisch ‚gleichberechtigten‘ Trias Gott – Mensch – Natur, die durch Vernunft, ‚Gesetzestreue‘, Freiheit und Gleichheit verbunden wurden, ab. Dies führte zu einer Entmachtung Gottes und des Menschen, einer Determinierung des Menschen durch die Natur und der Entstehung einer ‚vernunftwidrigen‘ Natur, was mit einer weiteren bürgerlichen Bewegung, der Romantik, harmonierte. Diese war verbunden mit einer Idealvorstellung einer ‚freien und wilden Natur‘, die sich gerade nicht in mathematische Gesetze zwängen ließ. Die stärkere Abgrenzung der Naturwissenschaften hieß damit also nicht, dass Naturwissenschaften Fragen der Moral nicht mehr berührten, sondern vor allem, dass diese nicht mehr als Fragen der Moral, sondern als ‚natürliche‘ erschienen. Und vor allem hieß dies nicht, dass ihre Ergebnisse nun frei von gesellschaftlichen Leitbildern gewesen wären, also lediglich ‚objektive Tatsachen‘ spiegelten. Beobachtete natürliche Ereignisse wurden vielmehr durch eine sozial vorgeformte Brille wahrgenommen, denn sie mussten in Sprache übersetzt werden und es bedurfte ihrer Interpretation, um zu Schlussfolgerungen zu gelangen (vgl. auch Kap. 9.4). Insofern galt (und gilt) für die Biologie nicht minder als für den Naturbegriff der Aufklärung, dass die Interpretationen einer solchen beobachtbaren Natur den Leitbildern und Vorstellungen der jeweiligen sozialen Welt entspringen. Nicht zuletzt die Vorstellungen einer Polarität der Geschlechter wanderten in die Denkmodelle der Biologie ein, z. B. in die grundlegenden Klassifikationen und Artenbestimmungen (Schiebinger 1995 [1993]). So wurden in dieser Zeit auch bei Pflanzen Geschlechtsorgane ‚entdeckt‘, sie hielten „Hochzeit“, lagen im „Hochzeitsbett“ und entwickelten ein „Intimleben“ (Schiebiger 1995, S. 26 ff.). Die Säugetiere (mammalia) bekamen ihren Namen deshalb, weil in der zeitgenössischen öffentlichen Diskussion das Ammenwesen problematisiert und das Stillen zum selbstverständlichen Bestandteil „natürlicher Mutterliebe“ erhoben wurde, obwohl diese Klassifikation der sonstigen zeitgenössischen Systematik nicht entsprochen hat (ebd., S. 67 ff.). Dass sich die für uns heute so selbstverständlich, natürlich und allgegenwärtig erscheinende Zweigeschlechtlichkeit als ein soziales Differenzierungskriterium durchsetzte, war weniger eine Frage wissenschaftlicher Wahrheitsfindung, sondern vielmehr Folge eines gesellschaftlichen Prozesses, der die Wissenschaften wesentlich beeinflusste. Dieser Prozess lässt sich sowohl in Begriffen und konkreten Ergebnissen als auch darin, welche Ergebnisse welche Aufmerksamkeit und Verbreitung erfuhren, historisch rekonstruieren (z. B. Schiebiger 1995; Laqueur 1992; Honegger 1991; Lerner 1991). Die Naturalisierung (nicht nur) der Geschlechter durch den geistesgeschichtlichen Paradigmenwechsel bot zu dieser Zeit ein Interpreta-

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3 Moderne Zeiten

tionsmuster, an das sich sehr unproblematisch Wissenschaftler der verschiedensten Disziplinen affirmativ oder kritisch einhängen konnten – auch Soziologen. Frauenfrage und Frauenbewegungen In Meyers Großem Konversationslexikon von 1907 findet sich unter dem Stichwort „Frauenfrage“ folgender Eintrag: „Frauenfrage ist die Frage, wie die Stellung der Frau im Gesellschaftsorganismus zu regeln ist. Diese Regelung ist bei den einzelnen Kulturvölkern und auf den einzelnen Kulturstufen in verschiedener Weise erfolgt. Eine eigentliche F. kennt erst die Neuzeit. Sie ist das Resultat einerseits der individualistischen Ideen, die sich seit dem 18. Jahrh. entwickelt haben, anderseits der Rückwirkung, welche die völlige Umgestaltung der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse seit dem Ende des Mittelalters auf die Lage des weiblichen Geschlechts ausübte. In der F. offenbart sich das Bewußtsein von dem Vorhandensein eines Widerspruchs zwischen den Ansprüchen, welche die Frauen an die Gesellschaftsordnung zu stellen wirklich oder vermeintlich berechtigt sind, und der Stellung, die ihnen tatsächlich zugewiesen ist. Sie berührt alle Seiten der weiblichen Existenz, die rechtliche, wirtschaftliche, sittliche und politische“ (http://www.zeno.org/Meyers-1905/A/Frauenfrage). Auf diese einleitenden Sätze folgt ein mehrseitiger Artikel, in dem kurz auf die Anfänge der Frauenbewegung in der französischen Revolution zurückgeblickt wird, dann recht knapp die Ziele (und Erfolge) der Frauenbewegungen in europäischen Ländern und in Nordamerika skizziert werden und schließlich sehr ausführlich auf die rasante Entwicklung der Frauenerwerbstätigkeit in verschiedenen Bereichen zwischen 1882 und 1895 im Vergleich verschiedener europäischer Länder eingegangen wird. Diese Gewichtung macht durchaus Sinn, da in dem Artikel davon ausgegangen wird, dass die Frauenbewegung zwar aus dem „Geist der modernen Zeit“ hervorgegangen sei, der jedem Einzelnen „das gleiche Recht zuspricht, seine Individualität“ zu entfalten, sie aber ihre „nachhaltige Kraft“ vornehmlich aus wirtschaftlichen Zielen schöpfe. Der Artikel enthält sich weitgehend einer wertenden Stellungnahme in Bezug auf die Erwerbstätigkeit von Frauen, dort, wo sie aus der Notwendigkeit, den Lebensunterhalt zu verdienen, resultiert. Er lässt aber keinen Zweifel daran, dass die „geistige Individualität der Frau sowie das bei ihr vorherrschende Gemütsleben (…) sie für eine tätige Teilnahme am öffentlichen Leben wenig geeignet erscheinen lassen. Gerade die moderne Kultur müsse durch Anerkennung der idealisierten Geschlechtsverschiedenheit (…) dem Interesse echter Weiblichkeit dienen und der Frau zu einer würdigen Stellung und einem segensreichen Wirkungskreis verhelfen. Dem Mann der Staat, der Frau die Familie!“ (ebd.). Die „Frauenfrage“ entwickelte sich also in einem Feld, das durch drei historische Entwicklungen gekennzeichnet war: Zum einen war sie untrennbar mit Frauenbewegungen verknüpft, zum Zweiten wurde sie gerahmt durch ein selbstverständlich gewordenes, Alltagsdenken und wissenschaftliche Theorien beherrschendes Bild „natürlicher Verschiedenheit“ zweier Geschlechter und zum Dritten hätte sie ohne die massiven wirtschaftlichen Umwälzungen nicht den Status erreicht, eines der großen, öffentlich breit diskutierten Problemfelder in der modernen Gesellschaft zu sein. Diese Umwälzungen hatten die verschiedenen Bevölkerungsgruppen in unterschiedlicher Weise getroffen: In den Familien der Arbeiterklasse bedurfte es zunehmend der Erwerbsarbeit der Frauen, um zu überleben. Dabei war die Kinderzahl hoch: sechs und mehr Kinder

3.1 Geschlechtergleichheit im Horizont soziologischer Theorieentwicklung

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waren in diesen Familien keine Seltenheit. Waren die Frauen erwerbstätig, so war den Familien jedoch die Arbeitskraft der Frauen für die häusliche Arbeit entzogen: Ordnung, Sauberkeit, Ernährung, Kindererziehung, Versorgung alter und kranker Familienmitglieder, Beziehungspflege etc. traten zurück. Zudem führte die verschärfte Konkurrenz zwischen Frauen und Männern zu einem Verdrängungswettbewerb mit der Folge, dass die Löhne weiter sanken und die allgemeine Verelendung wuchs (vgl. Kap. 2.2.3). Auch die Lage der in Landwirtschaft und Handel tätigen Frauen sowie des im privaten Haushalt tätigen Dienstpersonals (Dienstmädchen, Köchinnen, Waschfrauen) war mehr als prekär. Im bürgerlichen Mittelstand dagegen ging es zunächst noch darum, dass eine Erwerbsarbeit der Frauen in der Familie mit den Geboten einer standesgemäßen Lebens- und Haushaltführung unvereinbar war. Da aber oft genug das Einkommen des Familienernährers nicht ausreichte, mussten Frauen im Verborgenen arbeiten. In versteckter, heimlicher, aber „standesgemäßer“ Heimarbeit (Näh-, Stick- und anderen Handarbeiten) wurde das Familieneinkommen aufgebessert. Die Ehe war die primäre Versorgungsinstanz für Frauen; unverheirateten Frauen des Mittelstands, ohne Ausbildung und ohne (männlichen) Schutz drohte nicht nur die Verarmung, sondern auch eine gesellschaftlich unwürdige Existenz (vgl. Gerhard 1998; Nave-Herz 1989, S. 14 f.). In der Regel heirateten Frauen des Bürgertums mit Mitte 20 und bekamen durchschnittlich vier Kinder. Zum Ende des 19. Jahrhunderts sank die Anzahl der Geburten je Frau in den Bürgerfamilien (erst später auch in Arbeiter- und Bauersfamilien) allmählich ab und lag bei Ehen, die zwischen 1900 und 1914 geschlossen wurden, bei 2,5 Kindern (Eggen/ Rupp 2008). Die Lebensbedingungen in der Arbeiterschaft und im Bürgertum unterschieden sich damit erheblich. Entsprechend unterschiedlich waren dann auch die Schwerpunktsetzungen innerhalb der im 19. Jahrhundert entstehenden und sich dann ausdifferenzierenden Frauenbewegungen. Allen Organisationen war aber gemeinsam, dass sie grundsätzliche politische und bürgerliche Rechte für Frauen einforderten. Einzelne Frauen erhoben schon mit den politischen Unruhen um 1848 ihre Stimme, aber erst 1865 gelang es, mit der Gründung des „Allgemeinen Deutschen Frauenvereins“ durch Louise Otto-Peters der entstehenden Bewegung eine erste öffentliche Form zu geben. Dieser Verein konzentrierte sich noch auf die bürgerlichen Frauen und forderte das Recht auf Ausbildung und das Recht auf (qualifizierte) Erwerbsarbeit. Weitere Organisationen kamen hinzu, etwa der „Verein zur Wahrnehmung der Interessen der Arbeiterinnen“ in Berlin, der unter den angesprochenen Arbeiterinnen großen Anklang fand. 1894 schlossen sich viele dieser Gründungen zu einem „Bund deutscher Frauenvereine“ zusammen. Die sozialistischen Arbeiterinnenvereine wurden jedoch nicht aufgenommen, weil sie als „politische Vereine“ verstanden wurden und die Vereinsgesetze der damaligen Zeit ein explizites Verbot politischer Betätigung von Frauen enthielten (vgl. Nave-Herz 1989, S. 30). Die etwas später entstehende sog. „proletarische Frauenbewegung“ – eng verbunden mit dem Namen Clara Zetkin – verstand sich dann auch als ein Teil der Arbeiterbewegung und wollte den Arbeiterinnen ein Klassenbewusstsein vermitteln, das auf die Veränderung gesamtgesellschaftlicher Verhältnisse abzielte. Dabei mussten Frauen auch in den eigenen Reihen um das Recht auf Erwerbsarbeit kämpfen: Viele Sozialisten und Sozialdemokraten sahen in der Frauenarbeit ein „kapitalistisches Übel“, das es abzuschaffen gelte und hätten Frauen gern auf Haushalt und Kindererziehung verwiesen (Thönessen 1969, S. 32 f.). Erst mit August Bebels „Die Frau und der Sozialismus“ (1879) wurde die Frauenfrage als Teil der allgemeinen sozialen Frage anerkannt, blieb ihr zugleich aber auch untergeordnet.

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3 Moderne Zeiten

Die bürgerlichen Frauenvereine stießen zunächst auf wenig Widerstand. Eine eingeschränkte Teilhabe an Bildung und an diese anschließende Erwerbsarbeit wurde vergleichsweise rasch realisiert – etwa im Ausbau von Handelsschulen als Vorbereitung für kaufmännische Büroberufe oder Lehrerinnenseminare. Es wurde zunehmend ‚normal‘, dass unverheiratete (junge) Frauen bis zur Eheschließung erwerbstätig waren. Anders als die rechtliche Unterordnung von Frauen unter Väter und Ehemänner war der generelle Ausschluss von Frauen aus der Erwerbsarbeit in weiten Bevölkerungsteilen nicht traditional verankert (vgl. Kap. 2.1). Als sehr viel problematischer erwiesen sich vor diesem Hintergrund die Forderungen nach allgemeinen politischen und bürgerlichen Rechten sowie die nach dem Zugang zu hochqualifizierten Berufen. Im Vergleich zu Nordamerika, der Schweiz, Großbritannien und Frankreich öffneten sich in Deutschland die Tore der Universitäten für Frauen sehr spät (zwischen 1900 und 1908) und es dauerte dann noch viele Jahre, bis sie auch als Ärztinnen oder Rechtsanwältinnen etc. praktizieren durften oder gar zum Richteramt zugelassen wurden. Erst 1918 – nach dem ersten Weltkrieg und mit Gründung der Weimarer Republik – erhielten Frauen in Deutschland das Wahlrecht. Auch wenn die großen Ziele innerhalb der Frauenverbände weitgehend unstrittig waren (Bildungschancen, Recht auf Arbeit, Gleichstellung im bürgerlichen Recht), kam es in und unter den Vereinen immer wieder zu kontroversen Debatten und auch zu Abspaltungen. Gerade in der sog. bürgerlichen Frauenbewegung trafen diametral entgegen gesetzte politische Vorstellungen aufeinander: Für die deutliche Mehrheit ging es damals um eine Aufwertung des Weiblichen auf der Grundlage einer nachdrücklichen Betonung des Unterschieds zwischen den Geschlechtern. Der Kern der „weiblichen Eigenart“ wurde vor allem in der Mutterschaft gesehen. Die Fähigkeit zur „Mütterlichkeit“ komme jeder Frau unabhängig von der realen leiblichen Erfahrung zu, sie sei auch eine „geistige Mütterlichkeit“. Diese gelte es in Erziehung und Bildung auszubauen zum Wohle der gesamten Gesellschaft. Bekannte Namen in diesem Zusammenhang sind Helene Lange, Gertrud Bäumer oder – etwas später – Alice Salomon als Begründerin der sozialen Frauenberufe. Die Forderung nach „Recht auf Arbeit“ beschränkten auch sie auf unverheiratete Frauen – verheiratete Frauen und vor allem Mütter sollten lediglich in der Wohlfahrt (unbezahlt) tätig werden. Die Forderung nach einem politischen Wahlrecht wurde von dieser Mehrheit zunächst nur sehr verhalten gestellt. Dennoch erhoben sich bereits damals Stimmen, die erneut auf Hippel und Wollstonecraft zurückgriffen und eine sehr viel weitergehende Gleichstellung einforderten. Sie traten gegen das Theorem einer „Ergänzung“ der Geschlechter an, forderten die gleiche Ausbildung von der Grundschule bis zum Hochschulstudium, gleiche Zugangschancen zu allen Berufen und wollten die Erwerbstätigkeit auch für verheiratete Frauen ermöglichen. Dafür sind bis heute die Schriften von Hedwig Dohm lesenswert – von ihr stammt der Ausspruch „Menschenrechte haben kein Geschlecht“ (Dohm 1876, S. 185) und von ihr stammt auch die Rede von einer gewaltförmigen „Versämtlichung“ aller Frauen, in der sich vor allem ein Machtanspruch von Männern verberge. Damals galten ihre Schriften als „zu radikal“, sie erntete auch in den eigenen Reihen überwiegend Hohn und Spott. Ein anderes Buch hatte sehr viel mehr Erfolg: John Stuart und Harriet Taylor Mills Schrift über die „Hörigkeit der Frau“ (1976 [1869]) erreichte ein breites Publikum und sorgte dafür, dass die Forderung nach dem Recht der Frauen, „eine eigene Individualität auszubilden“, bis in die Konversationslexika der Zeit hinein wandern konnte. Nicht direkt zur Frauenbewegung gehörig, aber doch in losem Zusammenhang mit ihren Vertreterinnen entwickelte sich ein Sexualitätsdiskurs, der ebenfalls vieles in Bewegung

3.1 Geschlechtergleichheit im Horizont soziologischer Theorieentwicklung

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setzte (zu einzelnen Personen vgl. „The Erotic Movement“, Kandal 1988, S. 108–126). Wie „Geschlecht“, „Geschichte“ und „Natur“ ist auch der Begriff der Sexualität nicht so selbstverständlich, wie er uns heute scheint, sondern tauchte erst im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert auf und verbreitete sich dann sehr rasch (Sigusch 2008). Ute Frevert schreibt diese Entwicklung einer bürgerlichen Gesellschaft zu, in der vor allem Arbeit, Selbstdisziplin und Affektkontrolle als Maßstäbe galten und in der vor diesem Hintergrund Sexualität entsprechend kontrolliert werden sollte. In den Wissenschaften wurde (möglichst ehelich vollzogener) heterosexueller Koitus als „gesunde Sexualität“ gezeichnet und ,amoralische‘ Verhaltensweisen (z. B. Masturbation, Oral- und Analverkehr, Homosexualität) pathologisiert (Foucault 1983; Laqueur 2008). Dabei wurde vor allem die weibliche Sexualität thematisiert – ohne dass sich ein wissenschaftlicher Konsens ergeben hätte, ob z. B. Frauen mehr oder weniger sexuelle ‚Triebe‘ hätten als Männer oder ob die Empfängnis von Lust abhängig sei oder nicht. Die These, Frauen seien weniger sexuell, wurde jedoch ausführlicher rezipiert, allerdings nicht aus medizinischen Gründen, sondern aus „sittlichen“ Erwägungen, denn andernfalls, so Krafft-Ebing (1886) „sei die ganze Welt ein Bordell und Ehe und Familie undenkbar“ (Krafft-Ebing 1984 [1886], S. 12). Für die bürgerlichen Töchter galt generell eine repressive Sexualmoral – an (ehelicher) Sexualität Spaß zu haben, galt als frivol, zumindest, wenn man es zugab. Auch hier war die empirische Wirklichkeit vieler Frauen nicht unbedingt mit diesem Leitbild identisch (Frevert 1986; vgl. auch Kap. 9.4.2). Zum Ende des 19. Jahrhunderts löste Sigmund Freud mit seinen Schriften eine Bewegung aus, in der die Unterdrückung sexueller Bedürfnisse problematisiert und für mehr Freiräume, Toleranz und Aufklärung geworben wurde. Die strikte Trennung zwischen „normalen“ und „perversen“ Individuen wurde in Zweifel gezogen. Ende des 19. Jahrhunderts gründet der Mediziner Magnus Hirschfeld eine „Zeitschrift für Sexualwissenschaft“ und tritt für die gesellschaftliche Akzeptanz der Homosexualität ein, die zu dieser Zeit noch strafrechtlich verfolgt wurde und gesellschaftlich geächtet war. In der von ihm entwickelten Lehre von den „sexuellen Zwischenstufen“ vertritt er eine Sichtweise, nach der in jedem Individuum eine einzigartige, je spezifische Mischung männlicher und weiblicher Eigenschaften ausgeprägt sei. Damit wird Sexualität individualisiert und nicht mehr polar versämtlicht. Die Forderung nach einer Sexualreform war auch in großen Teilen der Frauenbewegung verankert, sei es in dem Wunsch nach Geburtenkontrolle und nach der Einrichtung von Eheberatungsstellen, der Sorge um eine unkontrollierte Ausweitung der Prostitution oder der Forderung nach Gleichstellung nicht-ehelicher Kinder und einem Ende der Diskriminierung ihrer Mütter. Auch konnten Versuche, lesbische Sexualität ebenso wie männliche Homosexualität unter Strafverfolgung zu stellen, von den Protagonistinnen der Bewegung abgewehrt werden. Überwiegend aber war der Sexualitätsdiskurs zur Jahrhundertwende von Männern bestimmt: Bärbel Meurer sah in der „Langweiligkeit des desexualisierten Frauenbildes“ einen der Ausgangspunkte (Meurer 1992, S. 349) und konstatierte, dass es in der Folge zu neuen Idealisierungstheorien kam, in der ‚die‘ Frau vor allem als Objekt erotischer Phantasien und als Projektionsfläche für eine naturwüchsig-ganzheitliche Lebensform erschien. Wer gilt in der Soziologie als Klassiker und warum? Die bis hierher aufgerufenen Stichworte umreißen holzschnittartig den geistesgeschichtlichen Status Quo, in dem die Soziologie sich als ein eigenständiges Fach etablierte und die zentralen Weichen gestellt wurden, mit denen sich jede Entwicklung soziologischer Theorie auch heute noch auseinanderzusetzen hat. Wenn wir im Folgenden zum einen von einer nicht nur

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3 Moderne Zeiten

zeitlichen Koinzidenz von Frauenfrage und Soziologie ausgehen und zum anderen an die mit den frühen Klassikern gelegten Pfade anknüpfen, so markieren wir damit auch unsere eigene theoretische Positionierung: Sowohl unser Gegenstand (Geschlecht) als auch die Disziplin sind in einem historischen Bezugsrahmen zu verstehen, so dass eine auf den heutigen Stand bezogene Analyse den historischen Entstehungskontext mitreflektieren muss, um die eigene Sichtweise auf Gegenstand und Disziplin schärfen zu können. Ziel der folgenden Darstellung ist es, die mit dem Übergang zum 20. Jahrhundert entstehenden soziologischen Theorien in Bezug auf unser Thema in der Weise zum Sprechen zu bringen, dass zum einen der Stellenwert der Kategorie Geschlecht im jeweiligen theoretischen Zugang4 sichtbar gemacht wird und zum anderen die Probleme, die mit dem jeweiligen Umgang mit dieser Kategorie in diesem Theorieentwurf verbunden sind, aufgezeigt werden. Dabei müssen wir uns Eines immer wieder bewusst machen: Wir lesen heute diese Texte nicht in der gleichen Haltung, die die Autoren bei den Leser/innen ihrer Zeit vermuten konnten. Wir lesen sie in dem Wissen um ihre historische Verortung und ordnen sie vor diesem Hintergrund in die aktuelle Diskussion um ‚Geschlecht‘ ein. Indem wir sie so lesen, machen wir sie zu Klassikern, von deren Texten man sich abgrenzen, die man aber nicht ignorieren kann. Gleichzeitig reproduzieren wir in der Lektüre von Klassikern unvermeidlich die Ungleichheit der Ausgangsbedingungen von Männern und Frauen in der Wissenschaft, durch die männliche Wissenschaftler privilegiert waren. Ihnen standen alle Zugänge zur universitären Bildung und zu Publikationschancen offen, Frauen mussten sich diese erst erkämpfen. Nicht zuletzt deshalb wollen wir auch auf eine zu Unrecht vergessene Soziologin, Viola Klein, eingehen. Im Kontext einer Geschlechtersoziologie kommt ihr heute ohne Zweifel der Status einer Klassikerin zu. Damit ist ein prinzipielles Problem angesprochen: Wie lässt sich die unvermeidliche Auswahl von Klassikern begründen? Diese Frage stellte sich schon im vorigen Kapitel zu den Wegbereitern der Soziologie. Sie wird bei den Klassikern im engeren Sinne sehr viel schwieriger, zumal sich mit der Wende zum 20. Jahrhundert nicht nur in Deutschland (z. B. Tönnies, Simmel, Weber), sondern auch in Frankreich (Durkheim), Italien (Michels, Pareto) oder den Vereinigten Staaten (G. H. Mead, frühe Chicago School) Ansätze soziologischen Denkens ausbilden, die auch heute noch bedeutsam sind. In den 20er Jahren kommen allein in Deutschland einige weitere hinzu (Th. Geiger, K. Mannheim, A. Schütz, N. Elias, das Institut für Sozialforschung und andere mehr), ohne die die heutige Soziologie kaum denkbar ist. Wir sind mit diesem Problem pragmatisch umgegangen: Bei der Rekonstruktion der Thematisierung von Geschlecht in Texten soziologischer Klassiker zeigte sich, dass einige der ‚Gründungsväter‘ durchaus gezielte Erkenntnisanstrengungen auf diesen Gegenstand gerichtet haben, andere sich dagegen nur peripher oder gar nicht damit befassten, manche von diesen aber für spätere Ansätze sehr wichtig wurden. Diejenigen, die sich explizit mit dem Gegenstand beschäftigten, sind Ferdinand Tönnies, Emile Durkheim, Georg Simmel und das Ehepaar Max und Marianne Weber. Ihre Werke sind in der Geschlechterforschung schon mehrfach ins Visier genommen worden (z. B. Sydie 1987; Kandal 1988; Meurer 1992; Morgan 1992, Meuser 2006; Gerhard 1998; Wobbe 2011). Im Anschluss daran werden wir auf 4

In der empirischen Sozialforschung hat es schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine ganze Reihe von Frauen gegeben, die sich die Lebensverhältnisse von Frauen und Kindern zum Thema machten und sehr sorgfältige und innovative empirische Studien durchführten, z. B. Elisabeth Gnauck-Kühne, Gertrud Dyrenfurth, Rosa Kempf, Marie Bernays. Ihnen ging es weniger um die Herausbildung einer neuen Wissenschaft als vielmehr um engagierte und informierte Stellungnahmen zur ‚Frauenfrage‘ und darauf abzielende Reformen (Gerhard 2012).

3.1 Geschlechtergleichheit im Horizont soziologischer Theorieentwicklung

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die Soziologie im Nationalsozialismus eingehen (3.2) – ein dunkles Kapitel, das wir nicht übergehen wollen – und auf die durch den Nationalsozialismus ins Exil gezwungene „Kritische Theorie“ (3.3). Im letzten Abschnitt dieses Kapitels (3.4) widmen wir uns jenen Autoren, die einen Denkrahmen eröffneten, in dem die Kategorie Geschlecht auf eine neue Weise zum Gegenstand gemacht werden kann: Perspektiven, die eine ‚natürliche‘ Zweigeschlechtlichkeit nicht voraussetzen. Wir beginnen dieses Kapitel mit G. H. Mead, der von der Generationenlagerung her zu den ‚Gründungsvätern‘ der Soziologie gehört, aber im Kontext der Chicago Schule einen anderen Blick auf „Geschlecht“ hatte als es in Deutschland zu dieser Zeit üblich war. Es folgen Alfred Schütz, Karl Mannheim und Viola Klein, die später geboren wurden und im Nationalsozialismus ebenfalls gezwungen waren, Deutschland zu verlassen.

3.1.2

Ferdinand Tönnies (1855–1936)

Ferdinand Tönnies gilt als eine der zentralen Figuren in der Gründungsgeschichte der Soziologie. Nicht nur seine Schriften, sondern auch sein Engagement in der 1908 gegründeten Deutschen Gesellschaft für Soziologie trugen viel dazu bei, Soziologie als eine eigenständige Fachwissenschaft an den Universitäten zu etablieren. Er hat ein umfangreiches Werk hinterlassen, darunter empirische Untersuchungen zur sozialen Lage von Hafenarbeitern sowie konzeptionelle Überlegungen zur Sozialpolitik, in denen eine große Nähe zur Arbeiterbewegung sichtbar wird. Inzwischen wird fast ausschließlich sein Werk zu „Gemeinschaft und Gesellschaft“ aufgerufen, das gleichnamige Buch erlebte bis 1935 acht Auflagen. Bis heute wird mit diesem Begriffspaar gearbeitet. Gemeinschaft und Gesellschaft – Wesenwille und Kürwille Tönnies versuchte mit Hilfe der Begriffe Gemeinschaft und Gesellschaft als Formen sozialer Verbundenheit die Entwicklung der modernen Industriegesellschaft aus den traditionalfeudalen Sozialformen des Mittelalters zu erfassen. „Gemeinschaft“ ist bei ihm eine als ursprünglich gedachte quasi natürliche Form, in der Menschen in affektiver Nähe, persönlichen und vertrauten mitmenschlichen Beziehungen und in gegenseitigem Verständnis leben. „Gesellschaft“ dagegen eine in der historischen Entwicklung entstandene artifizielle (künstliche) Form, in der Beziehungen der Menschen von äußeren Einflüssen bestimmt werden, sie arbeitsteilig zusammenwirken und in Tauschbeziehungen treten, die rechtsförmig geregelt sind. Beide Formen sozialer Verbundenheit beruhen auf „Willensbeziehungen“ von Individuen. Insofern wird soziale Wirklichkeit aus „Willensakten“ von Individuen hergeleitet. In Gemeinschaft geht es ebenso wie in Gesellschaft um individuelle Willensakte wechselseitiger Bejahung, nicht um das menschliche Zusammenleben im Allgemeinen. „Verbunden“ sind Menschen dann, wenn auch ihr Wollen ein gemeinsames ist. Formen des Nicht-Bejahens bzw. der Verneinung (Konflikte, Formen abweichenden Verhaltens) sind in diesem Denkansatz negative Erscheinungen, die soziale Gebilde gefährden. Die in der „Gemeinschaft“ ausgebildete mitmenschliche Vertrautheit und innerliche Verbundenheit stellen die Grundlage dar, die Sozialität überhaupt erst ermöglichten. Ist diese aber einmal hergestellt, so nimmt sie eine eigenständige Form an, geht als „Willenssphäre des Ganzen“ dem Willen von Einzelnen voraus (Tönnies 1963 [1887], S. 229). Die Willenssphären werden eingeteilt in „Wesenwillen“ und „Kürwillen“. „Gemeinschaft“ erwächst aus dem „Wesenwillen“ und Gesellschaft aus dem „Kürwillen“. In einer direkten Parallelisierung zu den beiden Sozialformen wird der „Wesenwille“ als „natürlich“ und der „Kürwille“ als

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„künstlich gemacht“, als artifiziell angesehen: „Wesenwille ist das psychologische Äquivalent des Leibes, oder das Prinzip der Einheit des Lebens (…). Er involviert das Denken (…). Kürwille ist ein Gebilde des Denkens selbst (…)“ (ebd., S. 87 f.). In Wesenwillen und Kürwillen wird die Ursache für alle Formen des Tätigseins und Tätigwerdens von Menschen gesehen: Der Wesenwille ist dabei in jeder Tätigkeit mitgesetzt, ist ihr „immanent“, der Kürwille geht der Tätigkeit voraus, bleibt „außer ihr“ (ebd., S. 88). Entsprechend basiert Wesenwillen auf Instinkt, Gefühl (Gefallen), Gewohnheit und Gedächtnis (Tradition). Kürwillen dagegen impliziert die „scharfe Trennung von Zweck und Mittel“ (ebd., S. 109) und führt zu einem primär interessegeleiteten, instrumentellen Verhältnis zur Welt. Er basiert auf Verstandesakten (Bedacht, Beschluss, Begriff). Sozialität, verstanden als Willensakte wechselseitiger Bejahung, ist im intuitiv-instinktiven ebenso wie im rationalen Denken begründet. Als Klassifikationsbegriffe sind Gemeinschaft und Gesellschaft sowie Wesenwille und Kürwille als einander ausschließende Gegensätze konzipiert. Empirisch treten jedoch beide Willensformen und beide Formen sozialer Verbundenheit gleichzeitig auf. Tönnies zufolge geraten sie dabei „notwendig“ in einen „tragischen Konflikt“ (ebd., S. 159). Der Unterschied des Geschlechts Bereits im ersten Paragraphen zur „Theorie der Gemeinschaft“ macht Tönnies klar, dass Geschlecht und Abstammung als „Urverhältnisse“ dem als „organisch“ verstandenen Zusammenleben in der Gemeinschaft zugrunde liegen. Ein solches „Urverhältnis“ sieht er vor allem in der Mutter-Kind-Beziehung, dem Verhältnis der Ehegatten sowie dem Verhältnis der Geschwister. Die Mutter-Kind-Beziehung ist nach Tönnies „am tiefsten im reinen Instinkte oder Gefallen begründet“. Bei der Gattenbeziehung dagegen ist ein solches „gegenseitiges Verhältnis der Bejahung“ nicht selbstverständlich: Der „Sexualinstinkt“ mache ein dauerndes Zusammenleben nicht notwendig und da „Frauen von Natur schwächer“ (ebd., S. 9) seien, könnten sie zum „Gegenstand des bloßen Besitzes herabgedrückt“ werden (ebd.). Diesem Argument sind wir bereits bei Spencer begegnet. In der Tönnies’schen Interpretation muss das Verhältnis durch Gewöhnung aneinander unterstützt werden, um sich zu einem Verhältnis „gegenseitiger Bejahung“ gestalten zu können. Zentraler Faktor dabei sind die Kinder als „gemeinsamer Besitz“. Die „Gemeinschaft des Blutes“ als Keimform jeder Gemeinschaft wird einerseits als harmonisches Zusammenwirken und „herzliche Verbundenheit“ (ebd., S. 21) beschrieben, ist aber – andererseits – in keiner Weise herrschaftsfrei gedacht. Für Tönnies begründet „das Vatertum am reinsten die Idee der Herrschaft im gemeinschaftlichen Sinne“. Gegen die von ihm angedeutete Möglichkeit einer „ursprünglichen“ mütterlichen Herrschaft führt er an: „Aber weil die Herrschaft des Mannes im Kampf und Arbeit als die zweckmäßigere sich bewährt, und weil durch die Ehe die Vaterschaft zur Gewissheit einer natürlichen Tatsache sich erhebt: so ist die väterliche Herrschaft allgemeine Form des Kultur-Zustandes“ (ebd., S. 11). Die rechtliche Unmündigkeit von Frauen und Kindern sei insofern lediglich eine Folge dieses Kulturzustands und zugleich Bedingung für seinen weiteren Bestand (ebd., S. 214). Der „naturgegebene Unterschied des Geschlechts“ bedarf für ihn keiner soziologischen Erklärung, er ist etwas, das dem Sozialen vorgelagert ist. Im dritten Abschnitt des Buches zu „Wesenwille und Kürwille“ befasst er sich unter der Überschrift „Empirische Bedeutung“ in aller Ausführlichkeit mit dem „Gegensatz der Geschlechter“: „Zuerst gewahren wir in großen Zügen den psychologischen Gegensatz der Geschlechter. Es ist eine verbrauchte Wahrheit, umso mehr aber wichtig, als der Nieder-

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schlag einer allgemeinen Erfahrung: dass die Weiber durch ihr Gefühl zumeist sich leiten lassen, die Männer ihrem Verstande folgen. Die Männer sind klüger. Sie allein sind des Rechnens, des ruhigen (abstrakten) Denkens, Überlegens, Kombinierens, der Logik fähig; die Weiber bewegen sich in der Regel nur auf mangelhafte Weise in diesen Bahnen. Also fehlt ihnen die wesentliche Voraussetzung des Kürwillens“ (ebd., S. 146, Herv. i. O.). Die Entstehung dieses „psychologischen Gegensatzes“ erklärt Tönnies dadurch, dass „nicht erst unter den Menschen“, sondern schon bei Säugetieren das weibliche Tier sich um die Brut kümmern muss. Da dem männlichen Tier die Nahrungsversorgung obliegt, werde sein Leben aktiver. Der männliche Mensch habe nicht zuletzt deshalb „Kürwillen“ ausgebildet, da er in der Verantwortung für die Nahrungssuche den Nahraum habe überschreiten müssen, gezwungen war „Fernsicht“ auszubilden, Umsicht walten zu lassen, Pläne zu entwickeln und im Hinblick auf die gegebenen Umstände darüber zu urteilen, was „das Richtige“ sei. Von Natur aus der Stärkere, obliege ihm „Führung und Leitung, wenigstens in allem nach außen gehenden gemeinsamen Wirken“ (ebd., S. 147). Generell ist er der „beweglichere“, sie dagegen „sesshaft und schwerfällig“ (ebd.). Ganz im Sinne der medizinischen Anthropologie (vgl. Kap. 2.1.6) glaubte er, dass in der männlichen Konstitution das „muskuläre“ System bestimmend sei, dagegen in der weiblichen das „nervöse System“ überwiege. Deshalb seien ‚die‘ Frauen empfänglicher für unerwartete Eindrücke von außen und hätten ganz allgemein das „unmittelbare Verhältnis zu Dingen, welches den Wesenwillen bezeichnet“. Sie sind daher die „in jedem Bezuge natürlicheren Menschen“ (ebd., S. 149). Was darüber hinausgeht durch „absichtliches und bewusstes Tun“ lässt den „künstlichen Menschen“ entstehen. Dieser ist für Tönnies männlich. Auch wenn der Gegensatz der Geschlechter ein „beharrender und starrer“ (ebd., S. 154) sei, so sei er im Lebensverlauf unterschiedlich ausgeprägt: „Das jugendliche Weib ist das eigentliche Weib; das alte Weib wird dem Manne ähnlicher. Und der junge Mann hat noch des Weiblichen viel in seinem Wesen; der gereifte ältere Mann ist der wahre Mann“ (ebd., S. 152). Das heißt nichts anderes, als dass Männern ein Entwicklungspotential zugeschrieben und ‚Reife‘ für männlich erklärt wird. Im Ergebnis kommt Tönnies zu einer terminologisch komplexen Fassung eben jener „Geschlechtscharaktere“, wie sie im 19. Jahrhundert verbreitet waren. Der vermehrten Erwerbstätigkeit der Frauen in Handel und Industrie kann Tönnies daher nur mit Skepsis begegnen. Gegenüber der „weiblich-natürlichen Arbeit“ sei schon der Handel, erst recht die moderne unfreie Arbeit (Fabrikarbeit) „dem weiblichen Gemüte zuwider“ (ebd., S. 162). Als Erwerbstätige ist die Arbeiterin als „Urheberin ihrer Kontrakte“ und „Inhaberin von Geld (…) in den Ringkampf um die Lebensfristung hineingestellt“ (ebd., S. 164). Dadurch wird die Entwicklung ihrer Bewusstheit gefordert, sie wird des „rechnenden Denkens“ mächtig: „Das Weib wird aufgeklärt, wird herzenskalt, bewusst. Nichts ist ihrer ursprünglichen, trotz aller erworbenen Modifikationen immer wieder angeborenen Natur fremdartiger, ja schauderhafter. Nichts ist vielleicht für den gesellschaftlichen Bildungsund den Auflösungsprozess des gemeinschaftlichen Lebens charakteristischer und bedeutender. Durch diese Entwicklung wird erst der „Individualismus“, der Voraussetzung der Gesellschaft ist, zur Wahrheit. Darin liegt auch die Möglichkeit seiner Überwindung und der Rekonstruktion gemeinschaftlicher Lebensformen. Längst ist die Analogie des Loses der Frauen mit dem Lose des Proletariats erkannt und behauptet worden. Ihre steigende Bewusstheit kann sich (…) zum sittlich-humanen Bewusstsein entwickeln und erheben“ (ebd., S. 164, Herv. dort).

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In diesen Formulierungen wird zum einen die hohe normative Aufladung sowohl des Gemeinschaftlichen als auch des Weiblichen deutlich, die sich offensichtlich wechselseitig bedingen. Zum anderen zeigt sich, dass Tönnies die zu seiner Zeit aktuelle „Frauenfrage“ in einen direkten Zusammenhang zur Arbeiterfrage und zur Arbeiterbewegung stellt. Beide sind nur dadurch zu lösen, dass sich die Gesellschaft insgesamt in die Richtung von Sozialismus und Kommunismus verändert und dabei neue gemeinschaftliche Lebensverhältnisse entstehen. Darin liegt nicht zuletzt ein möglicher Beitrag der Frauen, wobei sie auf die häusliche Gemeinschaft verwiesen bleiben. Das unterscheidet Tönnies von den Protagonist/innen der (sozialistischen) Arbeiterbewegung (Clara Zetkin, August Bebel), die eine Gleichberechtigung der Frauen im Anschluss an Marx und Engels an die Erwerbsarbeit binden. Für Tönnies aber können Frauen nicht zu „Individuen“ werden, ohne dass „der noch erhaltene herrschaftliche Kern der häuslichen Familie (…) zersetzt“ wird (Tönnies 1926, S. 20). „Gesellschaft“ als dynamische, immer mehr Raum einnehmende Sphäre sozialer Wirklichkeit ist bei Tönnies explizit mit dem „Männlichen“ assoziiert. Umgekehrt ergeben sich daraus Anforderungsprofile an und Bilder von „Männlichkeit“, etwa die Dominanz der abstrakten Vernunft und der Arbeit als „Quelle aller Werte“ (Tönnies 1963, S. 79). Zwischen dem allgemeinen Rahmen seiner Theorie und seinen speziellen Überlegungen zum Unterschied der Geschlechter besteht eine nahezu mimetische Deckung. Mehr noch hat Tönnies mit seinem beachtlichen Publikumserfolg zu Beginn des 20. Jahrhunderts seinerseits dazu beigetragen, zeitgenössische Vorstellungen von naturhaft gegebenen „Geschlechtscharakteren“ zu verfestigen und zu legitimieren, die er, wie wir gesehen haben, selber nicht wissenschaftlich, sondern aus dem Alltagsdenken – der „allgemeinen Erfahrung“ – hergeleitet hat. Noch interessanter ist freilich, dass die konstitutive Bedeutung von Geschlecht bzw. den ‚Geschlechtscharakteren‘ für seine Theorie von vielen Rezipienten nicht wahrgenommen wurde und auch in neueren Hand- und Wörterbüchern nicht erwähnt wird (zu dieser Kritik ausführlicher Meurer 1992; Gerhard 1998; Meuser 2006).

3.1.3

Emile Durkheim (1858–1917)

Nicht nur im Herkunftsland Frankreich, auch international gehört Emile Durkheim zu den unbestrittenen Klassikern der Soziologie. Er war zunächst in Bordeaux tätig, dann ab 1902 an der Sorbonne in Paris. Auch er lebte in unruhigen Zeiten: Hundert Jahre nach der Revolution hatte sich in Frankreich noch keine stabile politische Ordnung hergestellt, der Krieg mit Deutschland 1870/71 war verloren und der Kampf zwischen alten (monarchistischen) Eliten und Republikanern in keiner Weise befriedet. Die „soziale Frage“ – i. e. die zunehmend sich verschlechternden Lebensbedingungen vor allem der Arbeiter und ihrer Familien – stellte sich auch in Frankreich immer nachdrücklicher. Auch für Durkheim war daher die zentrale Frage, wie angesichts der Herausforderungen und Krisen der modernen Gesellschaft ein gesellschaftlicher Zusammenhalt erreicht und eine neue, verbindende und verbindliche Moral entwickelt werden kann. Soziale Differenzierung, Soziale Solidarität und die „faits sociaux“ Im Vorwort zu seiner ersten großen Studie „Über soziale Arbeitsteilung“ (1883) schreibt Durkheim: „Die Frage, die am Anfang dieser Arbeit stand, war die nach den Beziehungen zwischen der individuellen Persönlichkeit und der sozialen Solidarität. Wie geht es zu,

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daß das Individuum, obgleich es immer autonomer wird, immer mehr von der Gesellschaft abhängt? Wie kann es zur gleichen Zeit persönlicher und solidarischer sein? Denn es ist unwiderlegbar, daß diese beiden Bewegungen, so gegensätzlich sie auch erscheinen, parallel verlaufen“ (Durkheim 1992 [1883], S. 82). Mit dieser Frage hat er das Leitmotiv für alle seine noch folgenden Arbeiten formuliert. Eine Antwort liegt in eben dem sozialen Phänomen, nach dem das Buch benannt ist – in der sozialen Arbeitsteilung. Unter Bezugnahme auf Comte betont er, dass Arbeitsteilung etwas anderes sei als ein „rein ökonomisches Phänomen“, nämlich die „Quelle der sozialen Solidarität“ (ebd., S. 110). „Solidarität“ ist bei Durkheim kein politischer Begriff, sondern ein Modus des Aufeinander-Bezogen-Seins, durch den Ordnung, Harmonie und gesellschaftlicher Zusammenhalt ermöglicht werden. Soziale Solidarität ist Grundbedingung jeder Gesellschaft. Als solche muss sie immer gegeben sein, jedoch könne sich die Erscheinungsform verändern. Diesbezüglich unterscheidet er zwei verschiedene Grundformen – die „mechanische“ und die „organische Solidarität“ – sowie verschiedene Zustände des Übergangs von der mechanischen zur organischen Solidarität. Durchaus vergleichbar zu Spencer geht Durkheim von einem undifferenzierten Urzustand aus (der Horde, dem Stamm), in dem die Arbeitsteilung nur gering ausgeprägt ist und alle alles machen. Unter solchen gleichartigen Arbeits- und Lebensbedingungen bilde sich eine „Solidarität der Ähnlichkeiten“ oder eben eine „mechanische Solidarität“ aus, in der die Individuen sich kaum unterscheiden und in Traditionen begründete rigide Normensysteme das Zusammenleben regeln („repressives Recht“). Aus diesen ersten einfachen Formen entwickeln sich mit zunehmender Anzahl der Gesellschaftsmitglieder und steigender Kommunikationsdichte immer komplexere Formen der Arbeitsteilung. Je stärker die Individuen sich auf bestimmte Tätigkeiten spezialisieren, desto mehr unterscheiden sie sich auch voneinander. Zugleich wächst dadurch ihre Abhängigkeit von einer funktionierenden Arbeitsteilung bzw. ihr Angewiesensein aufeinander. Nur durch diese wechselseitige Abhängigkeit kann Arbeitsteilung zur „Hauptquelle der Solidarität“ werden (ebd., S. 471). Diese Form des Aufeinander-Bezogen-Seins nennt Durkheim „organische Solidarität“, weil hier einzelne Teile der Gesellschaft wie in einem hoch entwickelten Organismus zusammenwirken. Zugleich entsteht eine Art „Kult“ um das Individuum. Das Person-werden, von dem er in dem oben aufgerufenen Zitat spricht, sieht er als eine gesellschaftliche Anforderung: Was der Mensch als Mensch ist, ist er nur durch die Gesellschaft und nicht aufgrund einer dieser vorgelagerten Natur. Fehlen integrierende, dem Handeln der Menschen eine Richtung gebende kollektive Kräfte, so entwickeln sich „pathologische“ Phänomene, etwa ein überdurchschnittlicher Anstieg der Kriminalität oder eine Zunahme von Selbsttötungen. Auch für Durkheim ist das Ganze der Gesellschaft mehr und vor allem etwas anderes als ein Aggregat von Individuen.5 Und auch bei ihm steht die Naturwissenschaft Pate für die Entwicklung der neuen Wissenschaft Soziologie – aber eben nur Pate. Die „Natur des Sozialen“ ist etwas anderes, eigenes und das gilt es zu begründen. Um dies zu leisten, braucht die Soziologie einen Begriffsapparat, der den besonderen Gegenstand des Sozialen zu fassen ver5

An Spencer kritisiert er, dass dieser trotz seiner Organismus-Analogie den Zusammenhalt als solchen gar nicht erfasse, sondern ihn allein in den Individuen begründet sehe. An Comte kritisiert er, dass dieser die neue Wissenschaft auf „die Gesellschaft“ als Einheit der Menschheit bezogen habe, die es empirisch nicht gebe, sondern nur verschiedene Gesellschaften auf unterschiedlichen Entwicklungsniveaus. Entsprechend seien allgemeine Entwicklungsgesetze, wie sie von Comte und Spencer anvisiert wurden, obsolet. Mehr als ein Ordnungsschema zur Klassifikation verschiedener Gesellschaftstypen könne man mit diesen Versuchen nicht gewinnen.

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mag und empirische Methoden, um sich auf die gegebene soziale Realität beziehen zu können. Obwohl er bei Comte dessen Wendung zur Begründung einer Zukunftsreligion zurückweist, so ist er doch auch selbst Theoretiker und Moralist, der darauf insistiert, dass eine richtige Einsicht dazu da ist, Handlungen anzuleiten. Für die soziale Realität beansprucht Durkheim den Status einer „Realität sui generis“, i. e. einer Realität eigener Art mit einer Eigengesetzlichkeit, die weder auf die Realität der äußeren Natur zurückzuführen ist noch auf die innere Realität (Psychologie) von Individuen. Diese dem Sozialen eigene Realität sieht er vor allem in den „Faits sociaux“, den soziologischen Tatbeständen begründet: „Ein soziologischer Tatbestand ist jede mehr oder minder festgelegte Art des Handelns, die die Fähigkeit besitzt, auf den einzelnen einen äußeren Zwang auszuüben“ (Durkheim 1984 [1895], S. 114). Beispiele dafür sind Rechtsnormen, Moralgebote, Geldwesen und Finanzsysteme oder auch die Zahl und Beschaffenheit von Verkehrswegen. Was aber heißt „Zwang“? Grundlegend dafür ist die Annahme, dass Individuen immer dann, wenn sie nicht im Einklang mit den sie umgebenden Ordnungsstrukturen handeln, von Sanktionen bedroht sind: Wer sich sittenwidrig verhält, muss mit Verachtung und Ablehnung rechnen, wer gegen ein Strafgesetz verstößt, wird abgeurteilt, wer sich als Geschäftsfrau nicht marktgerecht oder als Student nicht studienplangerecht verhält, muss mit Misserfolgen rechnen. Der einzelne Mensch, „er mag wollen oder nicht“, ist diesen Tatbeständen ausgeliefert: „Soziologische Tatbestände sind Dinge, die eine Eigenexistenz führen, der Einzelne findet sie vollständig vor und kann nichts dazu tun, dass sie nicht seien oder dass sie anders seien, als sie sind; er muß ihnen Rechnung tragen, und es ist umso schwerer (wenn auch nicht unmöglich), sie zu ändern, als sie in verschiedenem Grade an der materiellen und moralischen Suprematie teilhaben, welche die Gesellschaft über ihre Glieder besitzt“ (ebd., S. 99). Durkheim begreift Gesellschaft damit auch als eine Moralordnung, von der die Einzelnen nicht nur abhängen, sondern auf die sie auch verpflichtet werden können. Dies geschieht im Prozess der Erziehung. Wenn Gesellschaftsmitglieder den Regeln folgen, so geschieht das in der Regel mit ihrer vollen Zustimmung, aber nicht unbedingt mit vollem Bewusstsein: Sie haben es so gelernt, sie können es sich gar nicht anders vorstellen. Selbst wenn sich jemand abweichend verhält, so pflegt er i. d. R. sein Verhalten entsprechend wahr- und Sanktionen als legitim anzunehmen. Es ist eben diese Außenhaftigkeit der soziologischen Tatbestände, die sie zu einem die Soziologie inhaltlich bestimmenden Gegenstand macht. Dieser inhaltlichen Bestimmung folgt die methodische: „Die erste und grundlegende Regel besteht darin, die sozialen Tatsachen wie Dinge zu betrachten“ (ebd., S. 115). Das heißt, dass man als Soziologin den soziologischen Tatbeständen nach dem Modell der Naturwissenschaften in einer objektivierenden Haltung begegnen soll. In der Formulierung „soziale Tatsachen wie Dinge zu betrachten“ wird gleichzeitig dem Umstand Rechnung getragen, dass dies keine „Dinge“ im gängigen Verständnis sind, sondern eher mentale Zustände, die der Wahrnehmung und Beobachtung nicht unmittelbar zugänglich sind, sondern erst erschlossen werden müssen. Durch die Distanz zwischen Forscherin und Objekt soll gewährleistet werden, dass alle (subjektiven) Vorerfahrungen, alltäglichen Vorurteile oder auch „Vorbegriffe“ ausgeschaltet werden.

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Arbeitsteilung und Geschlecht In den Studien zur sozialen Arbeitsteilung führt Durkheim die sexuelle Arbeitsteilung und die darauf basierende eheliche Solidarität als ein zentrales Beispiel für die Entwicklung der ‚organisch‘ verfassten Solidarität im Unterschied zur ‚mechanischen‘, auf Ähnlichkeiten beruhenden Solidarität ein. ‚Sexuelle Arbeitsteilung‘ ist hier nicht – wie bei Kant (Kap. 2.1.5) auf Sexualität bezogen. Im Stadium der (für ihn) modernen Gesellschaft umfasst die sexuelle Arbeitsteilung faktisch das gesamte Spektrum der sozialen Beziehungen zwischen Männern und Frauen. „Am Anfang“, i. e. in einfachen Gesellschaften sei sie kaum ausgeprägt, die Geschlechter seien einander vielmehr sehr ähnlich gewesen: „Die sexuelle Arbeitsteilung ist umso geringer, je weiter wir in die Vergangenheit hinabsteigen. Die Frau dieser entfernten Zeiten war keineswegs das schwache Wesen, das es mit dem Fortschritt der Moralität geworden ist. Prähistorische Knochenfunde bezeugen, dass der Unterschied zwischen der Kraft des Mannes und der der Frau relativ viel kleiner war als heute. Bis jetzt unterscheidet sich in der Kindheit und bis zur Pubertät das Skelett der beiden Geschlechter nicht wesentlich: seine Merkmale sind vornehmlich weibliche. Wenn man annimmt, daß die Entwicklung des Individuums verkürzt die Entwicklung der Gattung wiedergibt, kann man mit Recht schließen (…) daß in der weiblichen Form so etwas wie ein angenähertes Bild dessen gesehen werden kann, was anfänglich der einzige und allgemeine Typus gewesen war, von dem sich dessen männliche Spielart nach und nach abgespaltet hat“ (Durkheim 1992, S. 103 f.). Bei den „wilden Völkern“ hätten sich auch die Tätigkeitskreise überschnitten, seien Frauen gar politisch aktiv gewesen, in den Krieg gezogen und hätten an der Seite der Männer gekämpft: „Eines der Merkmale der Frau, das sie heute auszeichnet, die Sanftmut, scheint ihr ursprünglich nicht eigentümlich gewesen zu sein“ (ebd., S. 105). Auch sei die Ehe bei den „wilden Völkern“ praktisch nicht entwickelt gewesen. Aus lediglich äußerlichen, punktuellen oder kurzlebigen (sexuellen) Kontakten habe sich in modernen Gesellschaften eine rechtlich geregelte, intime, dauerhafte, oft sogar unlösbare „Verbindung zweier ganzer Existenzen“ (ebd., S. 106) entwickelt. Mit dieser „Verbindung zweier Existenzen“ hätten sich die „Funktionen des psychischen Lebens“ getrennt, nämlich die „Gemütsfunktion“ und die „Verstandesfunktion“ (ebd., S. 107). Mit der Trennung von Funktionen entstehe nicht einfach eine nur praktische (nützliche) Kooperation, sondern es entstehen auch entsprechende Gefühlskulturen und personelle Bindungen. Die häuslich-affektive Sphäre wird zum weiblichen Raum, die öffentliche dagegen ist Männern vorbehalten. In dieser Argumentation ist ‚der‘ Mann die treibende Kraft im Differenzierungs- und Zivilisierungsprozess. Nicht zuletzt deshalb bedarf er einer Sphäre der Ruhe und des Rückzugs am „häuslichen Herd“. Diese Trennung wirke bis in Anatomie und Physiologie hinein: Unter Berufung auf die Medizin und Anthropologie seiner Zeit hält Durkheim fest, dass Frauen und Männer sich in der allgemeinen Erscheinungsform (Größe, Gewicht) auseinander entwickelt hätten. Das Gehirn der Männer sei mit ihrer Spezialisierung auf die Verstandesfunktionen gewachsen, das Gehirn der Frauen habe sich dagegen mit der Konzentration auf die Gemütsfunktion zurückentwickelt (ebd., S. 107). Da „die Form des Ganzen“ (z. B. die Familie) die „Form der Teile“ (die Individuen) bestimmt, sieht Durkheim kein Problem darin, dass ‚die‘ Frau weniger am ‚Zivilisationsgetriebe‘ teilhat und wenig Gewinn aus diesem zieht. Er stellt auch ihre Subordination unter ‚den‘ Mann nicht in Frage, sondern sieht diese ähnlich wie Comte lediglich als eine selbst-

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läufige Folge ihrer Zentrierung auf das Familienleben. Frauen sind deswegen zwar weniger sozialisiert, auch bleibe bei ihnen „ein gewisser Zug primitiver Natur“ erhalten, jedoch habe das auch Vorteile: Frauen begehen nämlich „viermal weniger“ Selbstmord als Männer (ebd., S. 304). Ihr „Glück“ sei eben ein völlig anderes als das der Männer (ebd., S. 307). In den Studien zur Arbeitsteilung entwickelt Durkheim eine soziologisch konsequente Perspektive auf die Geschlechtertrennung. Deren Genese verortet er nicht in einer dem Gesellschaftlichen vorgelagerten Natur, sondern in einer immer weiter voranschreitenden Arbeitsteilung, die ein solches Eigenleben gewonnen hat, das sie ihrerseits anatomische und physiologische Entwicklungen beeinflusst. Die entscheidende Wirkung dieses Prozesses liege nicht in ihrem möglichen Nutzen für den Einzelnen, sondern darin, dass durch die Arbeitsteilung die mit den Geschlechtern geteilten Funktionen voneinander abhängig werden: „Wenn sich die Geschlechter überhaupt nicht getrennt hätten, wäre eine ganze Form des sozialen Lebens gar nicht entstanden (…); denn sie besteht in der Einrichtung einer Sozial- und Moralordnung sui generis. Individuen sind untereinander verbunden, die sonst unabhängig wären. Statt sich getrennt zu entwickeln, vereinigen sie ihre Anstrengungen“ (ebd., S. 108, Herv. dort). Durkheim sieht sehr wohl, dass Frauen aus ihrem häuslichen Wirkungskreis heraus zu treten beginnen und sich eine Frauenbewegung entwickelt, die eine Chance zur (qualifizierten) Erwerbstätigkeit fordert. Er folgert daraus aber nicht, dass Frauen und Männer nun wieder ähnlicher werden. Vielmehr würden bestimmte Bereiche – er nennt Kunst und Literatur – zu weiblichen Domänen, aus denen Männer sich zurückziehen, um sich stattdessen stärker „nutzbringenden Funktionen“ (z. B. der Wissenschaft) zu widmen. Für ihn liegt darin keine Rückkehr zur ursprünglichen Homogenität, sondern der „Beginn einer neuen Differenzierung“ (ebd., S. 107). An anderer Stelle betont er, dass „sicher“ keinerlei Veranlassung bestünde anzunehmen, „die Frau könnte in der Gesellschaft je dieselben Funktionen erfüllen wie der Mann“ (Durkheim 1990 [1897], S. 458). Gleichzeitig sagt er nicht, dass „der Gegensatz der Geschlechter ewig so bleiben muß“ (ebd.) – die Entwicklung schreite ja voran und Durkheim zufolge werde sie darauf hinauslaufen, dass die Geschlechter sich noch weiter unterscheiden, diese Unterschiede aber verstärkt sozial genutzt werden, so dass auch für Frauen eine aktivere und weniger auf die Familie begrenzte Lebensweise möglich werde. Damit verlöre die Differenzierung aber zugleich ihren „streng ordnenden Charakter“ (ebd., Fn. 16) und sei deshalb problematisch. In seiner empirischen Studie zum Selbstmord verschärft sich das Ungleichgewicht zwischen soziologischer Analyse und Rückgriff auf (normative) Geschlechterstereotype. Durkheim geht hier nicht mehr auf die Genese des sozialen Tatbestandes der Geschlechtertrennung ein, sondern sieht die Polarität der Eigenschaften und Fähigkeiten als gegeben an. Männer gelten ihm nun als sexuell getrieben, ohne dass dieser Sexualtrieb wie beim Tier periodisch umgrenzt ist: „Er will alles haben und nichts befriedigt ihn“ (Durkheim 1990, S. 311). Daher benötigt ‚der‘ Mann eine „heilsame Disziplin“. Diese sieht Durkheim in der monogamen Ehe gegeben, denn diese verpflichte ihn, sich an nur eine Frau zu binden, sie „weist dem Liebesbedürfnis ein genau bestimmtes Objekt zu und verbietet den Blick über den Horizont hinaus“ (ebd.). Zugleich gebe es für ihn aber in der „allgemeinen Sittenauffassung bestimmte Privilegien“, die ihr nicht zugestanden werden, etwa Seitensprünge und Bordellbesuche. Bei ‚der‘ Frau haben die sexuellen Bedürfnisse einen „weniger geistigen Charakter“ (ebd., S. 313), sie sei ein sehr viel „instinktiveres Wesen“ und brauche diesen

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Instinkten nur zu folgen, um „Ruhe und Frieden zu finden“ (ebd.). Sie bedürfe einer so strikten Reglementierung nicht – zugleich aber gebe es für sie keinen Ausweg, wenn die Ehe unbefriedigend oder gar unerträglich ist. Diese Konstruktion entwickelt Durkheim vor dem Hintergrund, dass die unterschiedlichen Suizidraten von Frauen und Männern deutlich mit ihrem ehelichen Status zusammen hängen: Verheiratete Frauen bringen sich dann häufiger um als allein stehende Frauen und verheiratete Männer, wenn keine Scheidung der Ehe möglich ist. Auch ist die Rate bei den allein stehenden Frauen zwischen 20 und 40 sehr viel niedriger als die der Männer in der gleichen Altersspanne. Durkheim folgert daraus, dass entgegen der landläufigen Meinung ‚der‘ Mann mehr von der Ehe profitiert als ‚die‘ Frau. Frauen profitieren dagegen von der Möglichkeit einer Scheidung: „Der eine braucht Zwang, der andere Teil Freiheit“ (ebd., S. 317). Gerade weil ihre Bedürfnisse „bescheidener“ seien, bringen die starren Regeln, die die Ehe ,der‘ Frau auferlegt „viel Last und wenig Nutzen“ (ebd.).6 Durkheims Werk ist in sich widersprüchlich: In den Studien zur sozialen Arbeitsteilung geht er noch nach den von ihm selbst aufgestellten Regeln der soziologischen Methode vor, indem er ohne Rückgriff auf psychologische oder physiologische Faktoren die Genese der Geschlechtertrennung analysiert und dann deren funktionalen Wert bestimmt. In der (empirischen) Untersuchung zum Selbstmord aber gilt ‚die‘ Frau als instinkt- und naturbestimmt, ‚der‘ Mann dagegen als durch die Gesellschaft geformt. Damit löst er die in der „sozialen Arbeitsteilung“ und den „Regeln der soziologischen Methode“ formulierten eigenen Ansprüche nicht ein. Er bleibt der normativen Kraft der Geschlechtertrennung verhaftet, anstatt sie als sozialen und moralischen Tatbestand zu analysieren. Im Hinblick auf die Kategorie Geschlecht entsteht so eine deutliche Spannung zu den grundlegenden theoretischen und methodischen Überlegungen. Diese Spannung wurde von ihm offenbar nicht bemerkt.

3.1.4

Georg Simmel (1858–1918)

Georg Simmel wurde in Berlin geboren, wo er auch bis 1914 (vier Jahre vor seinem Tod) lebte. Die Erfahrung der Metropole wird von vielen Biographen als wichtigster Einfluss auf seine Arbeit bezeichnet. Simmel bietet keine umfassende soziologische Theorie, sondern vor allem ‚Werkzeuge‘. Im Folgenden sollen zunächst einige Charakteristika dieses ‚Werkzeugkastens‘ dargestellt werden, um von dort aus zu sehen, wie er sie in denjenigen Schriften, in denen Geschlecht(szugehörigkeit) bei ihm thematisiert wird, selber nutzt oder auch ungenutzt lässt. Gerade weil er sich vergleichsweise ausführlich mit Geschlecht befasst hat, liegen dazu verschiedene Auslegungen vor, in denen jeweils unterschiedliche Gewichtungen vorgenommen wurden (z. B. Coser 1984; Tyrell 1986; Cavana 1991; Lichtblau 1992; Wobbe 1997; Witz 2001). Wir legen das Hauptaugenmerk nun darauf, inwieweit er selbst sein soziologisches Denken auf den Gegenstand Geschlecht bezieht.

6

Obwohl er das moralische Dilemma benennt, dass die Bedingungen, die eine sinkende Zahl der Selbstmorde bei Ehemännern zur Folge haben, gleichzeitig steigende Raten bei Ehefrauen hervorbringen (Durkheim 1990, S. 457), spricht er sich dennoch gegen jede Erleichterung von Scheidungen aus und hält an der Unauflöslichkeit der Ehe als einer „Religion des häuslichen Herdes“ fest. Es gebe keine andere Möglichkeit als „zwischen zwei Übeln das kleiner zu wählen“ (ebd.). Sein vermutlich auch aus dieser Haltung resultierender „Antifeminismus“ ist bereits mehrfach festgestellt worden (Lehmann 1995; Kandal 1988; Sydie 1987; Meuser 1998).

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Wechselwirkungen Auch Georg Simmel geht es um eine präzisere Bestimmung dessen, was den Gegenstand der neuen Wissenschaft ausmacht. „Gesellschaft“ ist es nicht, denn damit befassen sich auch viele andere Wissenschaften. Suchte Durkheim das Problem dadurch zu lösen, dass er „soziale Tatbestände“ als ein der Soziologie eigenes empirisches Feld auswies, so ging Simmel einen völlig anderen Weg: Sozialer Zusammenhalt ist bei ihm nur als Prozess vorstellbar, als Vergesellschaftung. Das dynamische Element ist der wichtigste Bestandteil seines Werkzeugkastens – quasi der Faustkeil, mit dem (fast) alles weitere Werkzeug erstellt wird: die Wechselwirkung. Die Wechselwirkung leitet Simmel aus der Beziehung zwischen Form und Inhalt her. Unter Inhalt fasst er Elemente wie „Trieb, Interesse, Zweck, Neigung, psychische Zuständlichkeit und Bewegung“ (Simmel 1908, S. 6), die sich dann in einer Form, z. B. Handel, Paarbildung, Sprache, Islam etc. ausdrücken. Beide entstehen gemeinsam: formlose Inhalte und inhaltslose Formen gibt es nicht. Entsprechend sind ‚Ursache‘ und ‚Wirkung‘ im Grundkonzept nicht voneinander zu trennen, sondern eben Wechselwirkung. Die vielfältigen Formen der Wechselwirkung werden bei Simmel am Beispiel von vielen einzelnen Aspekten des (sozialen) Lebens durchgespielt, z. B. an Über- und Unterordnung, Konkurrenz, Streit, Arbeitsteilung, Parteibildung oder den Fremden. Vergesellschaftung entsteht dadurch, dass sich subjektive (vorsoziale) Antriebe in Beziehungen zwischen Menschen realisieren, und Kultur besteht darin, dass Menschen ihre subjektiven Antriebe in einer Wechselwirkung mit Dingen realisieren. Gesellschaft ist also nichts anderes als die Summe aller Wechselwirkungen. Die Arbeiten Simmels lassen sich jedoch nicht auf die Frage nach der Vergesellschaftung von Individuen reduzieren: Seine Soziologie der Wechselwirkung ist zugleich auch eine Soziologie des Individuums. Simmel geht davon aus, dass Individuum und Gesellschaft miteinander entstehen: Das Individuum schält sich in dem Maße heraus, wie Gesellschaft entsteht. Dies lässt sich z. B. exemplarisch an der Kreuzung der sozialen Kreise zeigen: In diesem Denkmodell besteht eine ursprüngliche Gemeinschaft von Menschen in Form eines sozialen Kreises (bspw. trifft das für jedes Neugeborene zu). Der primäre, also eine Zeit lang einzige soziale Kreis, in dem sich ein Mensch aufhält, versorgt ihn mit allem, was in seinem Leben eine Rolle spielt: Lebenssicherung, Zuneigung, Schutz, Kommunikation. Auch in diesem simplen Gefüge, also z. B. der Familie, wird schon deutlich, dass nicht die einzelnen Menschen, sondern die Beziehungen zwischen den Menschen diesen Kreis schaffen. Mit der Erweiterung der sozialen Kreise werden neue zwischenmenschliche Beziehungen hergestellt und es müssen nicht mehr alle Bereiche in der Familie eingefangen werden: z. B. macht es nichts, wenn nicht alle Geschwister Fußball spielen wollen, wenn man dafür einem zweiten Kreis (z. B. einem Verein) beitreten kann. Die Geschwister fangen so an sich stärker zu unterscheiden, individueller zu werden, und zugleich ist diese Unterschiedlichkeit auch gewissermaßen Voraussetzung für die Erweiterung des Kreises – bspw. unterschiedlichen Vereinen beizutreten. Für Simmel ist also das Individuum nie nur Ergebnis sozialer Prozesse, sondern immer ein wenig Voraussetzung der Prozesse, aber auch nie ohne soziale Prozesse denkbar – es ist also immer auch Ergebnis. Dabei schält sich die einzelne Person umso weiter als Individuum heraus, je mehr sie von (ganz verschiedenen) gesellschaftlichen Einflüssen geprägt wird: „die Gruppen, zu denen der Einzelne gehört, bilden gleichsam ein Koordinatensystem derart, dass jede neu hinzukommende ihn genauer und unzweideutiger bestimmt“ (Simmel 1908, S. 312).

3.1 Geschlechtergleichheit im Horizont soziologischer Theorieentwicklung

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Die Vergesellschaftung beinhaltet, dass die wechselseitige Beziehung entpersönlicht wird, z. B. indem nicht mehr Mama und Papa die Nahrungslieferanten sind, sondern die Nahrung nun durch beliebige Funktionsträger (z. B. irgendeinen Pizzalieferdienst) bereitgestellt werden kann. Dieser Wechsel von persönlichen zu funktionalen Beziehungen führt dazu, dass das Individuum weniger von einzelnen Personen, dafür aber umso mehr von der Gesellschaft abhängig wird und so eine relative individuelle Freiheit gewinnt. Die Erweiterung sozialer Kreise „hebt zwar nicht die Bindung auf, aber sie macht es zur Sache der Freiheit, an wen man gebunden ist“ (ebd., S. 306). Das Individuum individualisiert und vergesellschaftet sich gleichzeitig, und das soziale Umfeld wird zugleich personenunabhängiger und ausdifferenzierter. Subjektive und objektive Kultur Bei der Beschäftigung mit Kultur kommt zur Wechselwirkung zwischen Individualisierung und Vergesellschaftung noch ein weiteres Element hinzu: Die Welt der Objekte bzw. die Objektivierung. Diese Objekte, z. B. Bücher, Musik, Kunst, aber auch Religion, Moden, Häuser und vieles mehr, sind nicht einfach ‚da‘, wie uns an diesen Beispielen offensichtlich erscheint, denn sie sind von Menschen gemachte Dinge. Gleichzeitig existieren sie aber unabhängig von dem Schaffensprozess und denjenigen, die sie geschaffen haben. Um diese Spannung einzufangen, führt Simmel die Unterscheidung zwischen subjektiver und objektiver Kultur ein. Kultur dient für Simmel der „Vervollkommnung von Individuen“ (Simmel 1911, S. 417). Sie ist der „Weg von der geschlossenen Einheit durch die entfaltete Vielheit zur entfalteten Einheit“ (ebd., S. 387). Unter der „Einheit“ versteht Simmel die Person. Ihre unerfahrenen Möglichkeiten, also das, was die Person alles sein könnte, ist die „geschlossene Einheit“. Im Schöpfungsprozess, z. B. im Briefeschreiben, Gärtnern, Schreinern oder Musizieren drückt der Mensch einerseits etwas von dem aus, was in ihm zuvor auch für sich selbst verschlossen war, und andererseits entwickelt er etwas in sich, das vorher gar nicht da war. Damit hat das Ding, das da geschaffen wurde, zunächst nur einen persönlichen Wert. Sobald sein Wert über diesen einzelnen subjektiven hinausgeht, entsteht ein objektiver bzw. Sachwert. Die Gesamtheit aller Objekte mit überpersönlichem Wert bezeichnet Simmel als die „objektive Kultur“. Die Persönlichkeit des Subjekts zu bereichern, sie ‚herauszuschälen‘, ist das, was Simmel als Sinn der Kultur sieht: Die „entfaltete Vielheit“ (die Objektivierung) hat dazu beigetragen, die „Einheit“ (das Subjekt) zu entfalten. Die Einheit ist deswegen ein für Simmel wichtiger Begriff, da er das In-Dividuum zwar normativ, aber nicht empirisch als ungebrochene Einheit sieht. Die verschiedenen sozialen Kategorien, Rollen, Fähigkeiten, Teilnahmen an unterschiedlichen sozialen Kreisen etc. können das Individuum regelrecht ‚fragmentieren‘. Hinzu kommt, dass das Objekt durch diesen Objektcharakter auch als etwas Fremdes, Eigenständiges dem Menschen gegenüber steht, das sich dem Menschen und seinem Zugriff entziehen kann. Insofern sieht Simmel in der Moderne auch eine „Krise“ bzw. „Tragödie der Kultur“: Die Moderne hält zwar eine enorme Menge an kulturellen Objekten bereit, die sich das Individuum aber nicht (mehr) in dem Maße zueigen machen kann. Trotz der Fülle an kulturellen Möglichkeiten können die individuellen Möglichkeiten daher unerfüllt bleiben. Was für die Menschen in der Moderne allgemein gilt, gilt nach Simmel für Frauen im Besondern.

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3 Moderne Zeiten

Geschlecht und das ‚Wesen der Frau‘ Georg Simmel sieht die Fragen, die durch die Frauenbewegung seiner Zeit aufgeworfen wurden, historisch begründet: „eine parteimäßige Differenz gegen die Männer, die die Interessensolidarität der Frauen untereinander betont, meldet sich in dem Augenblick, in dem – als Ursache oder als Wirkung davon – jene prinzipielle Andersheit des Seins und des Tuns, des Rechts und der Interessen den Männern gegenüber sich mindert“ (Simmel 1908, S. 336). Nicht nur Angleichung von Unterschieden – im Sinne eines Ausgleichs von Ungleichheit – und die Betonung von Unterschieden gehen gleichzeitig einher, auch die Wahrnehmung dieser Unterschiede ist für ihn Ergebnis ihrer Veränderung – womit er die grundlegende Paradoxie der Frauenbewegungen durchaus erkennt (vgl. Kap. 2.1.7). Bis dahin seien die Unterschiede „aufgrund der ungestörten Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern für die Praxis so selbstverständlich gewesen und so naiv hingenommen worden“ (Simmel 1985a [1902], S. 170), dass die Geschlechterunterscheidung in ihrer sozialen Relevanz erst durch die ‚Störung‘ der Frauenbewegung bewusst wird. Geschlecht erscheint Simmel also als ein wichtiges und aktuelles Thema, das er immer wieder aufgreift und von verschiedenen Seiten – psychologisch, soziologisch, ästhetisch, lebensphilosophisch – beleuchtet. Seine Beschäftigung mit Fragen nach Geschlecht lässt sich in drei Unterfragen unterteilen. Zum einen geht er – als Unterstützer der Frauenbewegung – auf Chancen und Rechte von Frauen ein. Dabei wird von ihm die Frage, ob die Forderungen der (bürgerlichen) Frauenbewegung berechtigt sind, klar bejaht (ebd.). Zum zweiten fragt er aus der Perspektive des Soziologen, inwiefern nicht nur die einzelnen Frauen von der Frauenbewegung profitieren, sondern inwiefern Kultur und Gesellschaft von Frauen im Allgemeinen und der Frauenbewegung im Besonderen verändert werden. Die Frauenbewegung, so seine Einschätzung, sei diejenige Bewegung, „die die Zukunft unserer Gattung vielleicht tiefer beeinflussen werde, als selbst die Arbeiterfrage“ (ebd., S. 160). Dabei rechnet er den Frauenbewegungen zu, dass sie nach einer ‚menschlicheren‘ Kultur und Gesellschaft streben (Simmel 1923, S. 26). Von der proletarischen Frauenbewegung distanziert er sich jedoch, da man in seinen Augen „an das Radikalmittel einer revolutionären Veränderung des Gesamtstandes so wenig glauben kann wie etwa an ein plötzliches Wunder vom Himmel her“ (Simmel 1985b [1896], S. 134). In der bürgerlichen Frauenbewegung dagegen sieht er eine Chance zu einem schrittweisen, kleinformatigen Wandel, der sich zu einem nachhaltigen Strukturwandel auswachsen könne (ebd.). Eine Bereicherung von Kultur und Gesellschaft nicht nur durch die Frauenbewegung, sondern durch Frauen insgesamt, sieht er vor allem darin, dass Frauen etwas einbringen, „was die Männer nicht können“ (Simmel 1911, S. 269). Dies ist für ihn eine ausführlichere Thematisierung wert, in der er nun auch nach ‚dem Wesen der Frau‘ sucht und durchaus eines findet, mit dem er sich die Frage beantwortet. Dies führt zur dritten Frage, mit der sich Simmel in Bezug auf Geschlechter in unterschiedlichen Schriften mehr oder weniger ausführlich und mehr oder weniger deutlich auseinandersetzt: Die Frage nach den Unterschieden zwischen den Geschlechtern, die uns im Folgenden beschäftigen wird. Für uns entscheidend ist dabei, inwieweit er sein soziologisches Denken heranzieht. Naheliegend wäre, dass er Geschlecht als eine Frage der Wechselwirkung zwischen der sozialen Herstellung der Unterscheidung und den sozialen Folgen derselben auffasst. Simmel legt sein Konzept der Wechselwirkungen hier nun aber anders an. Die erste zentrale Relation, die er aufmacht, ist die Relation der Geschlechter. ‚Das Männliche‘ und ‚das Weibliche‘ existieren in dem Sinne sozial zunächst nur in dieser Relation zueinander:

3.1 Geschlechtergleichheit im Horizont soziologischer Theorieentwicklung

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„Auf allen Gebieten des inneren Daseins wie auf denen, die aus dem erkennenden und handelnden Verhältnis der Innerlichkeit zur Welt erwachen, ergreifen wir den Sinn und den Wert eines einzelnen Elementes durchgängig in seinem Verhältnis oder als sein Verhältnis zu einem anderen Element – zu einem anderen, das seinerseits sein Wesen an jenem bestimmt“ (ebd., S. 215). In diesem Sinne ist Männlichkeit/Weiblichkeit eines der „großen Relationspaare des Geistes“ (ebd., S. 219) und damit kein naturwissenschaftliches, sondern ein geisteswissenschaftliches Thema. Damit ist in diesem Modell durchaus angelegt, dass Simmel Wechselwirkung als das jeder Vergesellschaftung zugrunde liegende Prinzip ursächlich für die Polarisierung der Geschlechter macht. Inwiefern diese Wechselwirkung aber Geschlecht als sozial-historisch gewordenes Differenzierungskriterium erklärt, ist damit noch nicht gesagt. Denn wie oben dargestellt, müssen vorsoziale Inhalte bzw. ‚unentfaltete Einheiten‘ auch schon ‚da‘ sein, um sich durch einen Bezug zwischen Inhalt und Form, zwischen Individuen, zwischen Individuum und Objekt etc. zu realisieren. Die Frage müsste also an Simmel angelegt lauten: Wo setzt er die Grenze zwischen dem, was in dieser Wechselwirkung an Geschlechterunterscheidung entsteht und was zuvor schon ‚da‘ war. Diese Frage können wir zunächst von dort aus beantworten, wo er sie eindeutig im Bereich des Sozialen verortet: „Hier gilt es zunächst als Tatsache festzustellen, dass die Kultur der Menschheit auch ihren reinen Sachgehalten nach sozusagen nichts Geschlechtsloses ist und durch ihre Objektivität keineswegs in ein Jenseits von Mann und Weib gestellt wird. Vielmehr, unsre objektive Kultur ist, mit Ausnahme ganz weniger Gebiete, durchaus männlich. (…) Daß man an eine, nicht nach Mann und Weib fragende, rein ‚menschliche‘ Kultur glaubt, entstammt dem selben Grunde aus dem eben sie nicht besteht: der sozusagen naiven Identifizierung von ‚Mensch‘ und ‚Mann‘“ (ebd., S. 280). Diese Feststellung, dass das Männliche als das Menschliche identifiziert wird, sieht Simmel nun nicht wie seinerzeit durchaus üblich, als Teil einer naturgegebenen Überlegenheit des Männlichen, sondern als Folge gesellschaftlicher Verhältnisse: „Dass das männliche Geschlecht nicht einfach dem weiblichen relativ überlegen ist, sondern zum AllgemeinMenschlichen wird, das die Erscheinungen des einzelnen Männlichen und des einzelnen Weiblichen gleichmäßig normiert – dies wird, in mannigfachen Vermittlungen, von der Machtstellung der Männer getragen“ (ebd., S. 201). Die hierarchische Dimension der Geschlechterunterscheidung verortet Simmel damit im Bereich des Sozialen. In der horizontalen Dimension, also der Unterscheidung in ‚Männliches‘ und ‚Weibliches‘, will er jedoch ‚das Weibliche‘ nicht in Bezug auf das Männliche erklären, sondern als etwas Eigenes: „Fast alle Erörterungen über die Frauen stellen nur dar, was sie [Frauen] in ihrem – realen, ideellen, wertmäßigen – Verhältnis zum Manne sind; keine fragt, was sie für sich sind“ (ebd., S. 209). Obwohl genau die Frage, wie Frauen in Relation zu Männern gedacht und gesetzt werden, eine Frage nach Wechselwirkungen sein könnte, kritisiert er hier eine solche Herangehensweise. Eine Offenlegung dieser Verhältnisse hat für ihn anders als für uns heutzutage kein kritisches Potential. Vielmehr sieht er die Relationierung selbst als Ergebnis einer Hierarchisierung, „weil die männlichen Normierungen und Forderungen eben nicht als spezifisch männliche, sondern als das Objektive und schlechthin allgemein Gültige gelten“ (ebd., S. 209). Simmel verlässt also den Pfad, Verhältnisse zwischen Männern und Frauen zum Ausgangspunkt für eine Bestimmung von Geschlecht zu machen, im Versuch, Frauen aus der Beurteilung und Normierung durch Männer zu emanzipieren. Indem er die Frage nach Ge-

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schlechterunterschieden aus den sozialen Beziehungen zwischen den Geschlechtern herauslöst, verlässt er aber zugleich auch die Möglichkeit, ‚Weiblichkeit‘ aus der Vergesellschaftung heraus zu bestimmen. Die bessere Möglichkeit, nun ein Wechselverhältnis zur Erörterung „des Weiblichen“ heranzuziehen, sieht er in dem Verhältnis zwischen Subjektivierung und Objektivierung, also in der Kultur. Da er aber hier ja nicht das weibliche Individuum (also Frauen), sondern „das Weibliche“ bestimmen will, geht er von dem aus, was für ihn empirisch als ‚typisch‘ weiblich sichtbar wird. So beantwortet er die Frage, was als „weiblicher Kulturwert“ verstanden werden könne, dadurch, dass er nur diejenigen Bereiche objektiver Kultur anführt, in denen Frauen zu seiner Zeit akzeptiert sind, bzw. die ihnen als Aufgaben zugewiesen werden: die Kunstformen des Romans, Theaters und des Tanzes etc., vor allem aber ‚das Haus‘, also Hausarbeit und Dekoration des Wohnraumes (vgl. Simmel 1985a [1902] und 1911). Diesen Elementen objektiver Kultur schreibt er nun Eigenschaften zu, die er dann als ‚weibliche‘ versteht, so dass die Charakteristika „des Weiblichen“ und dieser Kulturwerte per definitionem deckungsgleich sind. So leitet er z. B. Anmut und Vergänglichkeit aus den Kunstformen und der Hausarbeit her und versteht sie damit als dem „weiblichen Wesen“ entsprechend. Die Entwicklung, in deren Folge Frauen für ‚das Haus‘ zuständig wurden, beschreibt Simmel als Verschärfung der Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern im Zuge der Trennung von Markt und Hauswirtschaft. Statt einer Erklärung folgt jedoch: „Aus sehr naheliegenden Ursachen fällt der Frau die nach innen, dem Manne die nach außen gewandte Tätigkeit zu“ (Simmel 1900, S. 412). Alle von ihm so gesetzten Charakteristika „des Weiblichen“ führt er in einem Konzept zusammen. Er sieht sie als Teil dessen, dass Frauen „zentriert“ seien: „Es scheint, als könne der Mann seine Kraft eher in eine einseitig festgelegte Richtung fließen lassen, ohne seine Persönlichkeit dadurch zu gefährden (…). Diese männliche Fähigkeit, sich durch eine arbeitsteilige, keine seelische Einheit in sich tragende Leistung gerade deshalb sein persönliches Sein nicht zerreißen zu lassen, weil er die Leistung in die Distanz der Objektivität stellt – gerade diese scheint der weiblichen Natur zu mangeln (…). Denn wenn deren seelische Besonderheit überhaupt mit einem Symbol auszusprechen ist, so ist es dieses: daß ihre Peripherie enger mit ihrem Zentrum verbunden ist, die Teile mehr mit dem Ganzen solidarisch sind, als in der männlichen Natur“ (Simmel 1911, S. 159). Arbeitsteilung wird als dem „männlichen Wesen unvergleichlich viel adäquater als dem weiblichen“ verstanden, weil Arbeitsteilung der „weiblichen Zentrierung“ widerspreche – anders als die ungeteilte „Einheit“ der Haushaltstätigkeiten. Auch dass die ‚Produkte‘ der Hausarbeit (z. B. Sauberkeit, Ordnung oder Mahlzeiten) nicht von Dauer sind, sondern immer wieder neu hergestellt werden müssen, entspreche dem „weiblichen Wesen“, weil die „Objekte“ so nicht unabhängig vom Produktionsprozess weiter bestehen können. Umgekehrt widerspreche die Entäußerung in objektive Produkte, die ein Eigenleben gewinnen können, diesem „Wesen“ grundlegend. Die Objektivität der Kultur als solche ist für Simmel also bereits männlich. Zwischen der „Form des weiblichen Wesens“ und der objektiven Kultur bestehe eine „prinzipielle Diskrepanz“ (ebd., S. 294). Damit spricht er Frauen ein Stück weit die Möglichkeit ab, sich als Person über eine „entfaltete Vielheit“ zu entwickeln. Das „weibliche Wesen“ wird also grundsätzlich der von ihm als männlich identifizierten, arbeitsteiligen, sich objektivierenden, sich in verschiedenen sozialen Kreisen ausdifferenzie-

3.1 Geschlechtergleichheit im Horizont soziologischer Theorieentwicklung

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renden Kultur und Gesellschaft entgegen gesetzt. Damit hat „das Weibliche“ auch nur einen beschränkten Zugang zur Individualisierung. Im Zuge seiner Auseinandersetzung mit Geschlecht überträgt er die Zentriertheit „des Weiblichen“ immer weiter auf ‚die‘ Frau als Kollektivsubjekt. Dennoch werden „das weibliche Wesen“ und empirische Frauen von ihm nicht in eins gesetzt: Die von ihm formulierten Geschlechterunterschiede werden zwar von Beginn seiner Thematisierung an als kategoriale aufgefasst, sie gelten ihm jedoch auch in seinen späten Schriften nicht als allgemeingültig für jede Frau zu jeder Zeit. So erklärt er z. B. in Hinsicht auf die Sitte: „dem Wesen der Frau aber liegt sie an wie eine Haut, die Freiheit, die für den Mann tausendfach außerhalb der Sitte liegt, findet sie (alle singulären Ausnahmen dieses Typischen und Historischen zugegeben) in ihr, denn Freiheit heißt doch wohl, dass das Gesetz unseres Tuns Ausdruck unserer Natur ist“ (Simmel 1911, S. 215, Herv. d. V.). Diese Inkonsistenz zwischen ‚Natur‘ einerseits und einer nur sozialen und historischen ‚Typik‘, die die „singulären Ausnahmen“ ermöglicht, zieht sich durch Simmels gesamte Beschäftigung mit Geschlecht. Eine Fundierung von Geschlecht in der Natur findet sich (nur) an einer Stelle: der Sexualität. „Unzweifelhaft ist die physiologisch-sexuelle Beschaffenheit mit den unmittelbar von ihr ausstrahlenden psychischen Begleiterscheinungen und Trieben die Quelle auch der vergeistigsten und sublimiertesten Eigenheiten der weiblichen Seele“ (Simmel 1985a [1902], S. 169). So erklärt Simmel, dass ‚die‘ Frau „das sexuelle Leben schon sozusagen in sich hat, als das in sich beschlossene Absolute ihres Wesens“ (Simmel 1911, S. 231), während andererseits ‚der‘ Mann seine ‚Geschlechtlichkeit‘ nur im Geschlechtsakt habe. Über diese Entgegensetzung der (sexuell begründeten) Zentriertheit der Frauen und einer größeren Differenziertheit, die er dem Männlichen zuweist, macht er für Männer geltend, dass sie mehr an Frauen allgemein und Frauen mehr an einem bestimmten Mann interessiert sind (vgl. ebd., S. 206). Damit erklärt er (sich) seine eigene seit 1900 bestehende bigame Lebensform sowie die jeweilige Monogamie seiner Ehefrau und seiner Geliebten. Diese biographische Erklärung ist nicht unerheblich, da die Naturalisierung von Männlichkeit und Weiblichkeit, die er an dieser Stelle vollzieht, eben nicht konsistent ist mit anderen Aussagen über eine ‚Naturhaftigkeit‘ von Geschlechterunterschieden. Im Hinblick auf die Frage, inwiefern Geschlechterunterscheidungen sozial hergestellt werden oder natürlich gegeben seien, bezieht er sonst keine Stellung. Entsprechend ist ihm der Punkt, „ob dieser Verfassung [der Zentriertheit] eine innere Notwendigkeit und Unabänderlichkeit oder eine mögliche Fortentwicklung durch abgeänderte Lebensbedingungen zuzusprechen ist“ (Simmel 1890, S. 28 f.) bis zum Schluss nicht einer genaueren Beschäftigung wert bzw. sieht er die Frage als nicht beantwortbar: „Es lässt sich – bis Psychophysik und Ästhetik weiter fortgeschritten sind – nur tastend und beweislos darauf hinweisen, dass die Frau wohl ein anderes Verhältnis zum Raum hat als der Mann – was ebenso aus ihrer überhistorischen physisch psychischen Eigenart wie aus der historischen Beschränkung auf das Haus hervorgehen mag“ (Simmel 1911, S. 278). Zusammengefasst lässt sich sagen, dass Simmel Geschlecht anhand der aktuellen Situation der Geschlechter analysiert und daraus ‚das Wesen‘ der Geschlechter ableitet. Dabei überträgt er jedoch nicht sein Konzept der Wechselwirkungen auf seine Analyse zur Gleichsetzung von „Mann und Mensch“ (Simmel 1985a [1902] und 1911) auf der einen Seite und der historischen Beschränkungen von Frauen auf das Haus auf der anderen Seite (Simmel 1900

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3 Moderne Zeiten

und 1908). Konsistent zu seiner Theorie wäre es durchaus gewesen, Wechselwirkungen zwischen unterschiedlichen Zugangs- und Individualisierungschancen auf die Kategorie Geschlecht anzuwenden, z. B. herzuleiten, inwiefern das ‚Wesen‘ der Frau nicht per se zentriert ist, sondern Frauen als ‚unentfaltete‘ Einheiten zentriert sind, weil ihnen Möglichkeiten zur Entfaltung verwehrt werden, die aus der „historischen Beschränkung“ auf das Haus hervorgehen. Diese Frage wäre in seinem Denken durchaus naheliegend gewesen, da die Entstehung der Persönlichkeit in Wechselwirkung mit ihren Lebensumständen für ihn ein wichtiges Thema ist. Die Frage wird aber in Bezug auf Geschlecht im Verlauf der Werkgeschichte unterschiedlich gewichtet, in der „Soziologie“ von 1908 anders als in den kulturphilosophischen Schriften von 1911. Indem er Geschlecht über geschlechtliche Spezifika zu beschreiben versucht und damit Frauen bis in ihre Persönlichkeit, ihre Sexualität, ihre Fähigkeiten, Intellekt und Originalität hinein das Geschlecht einschreibt, schöpft er seinen soziologischen Zugang nicht aus und die spannende Frage nach wechselnden Ursachen und Wirkungen bleibt offen.

3.1.5

Max Weber (1864–1920) und Marianne Weber (1870–1954)

Marianne und Max Weber waren Zeitgenossen und gute Bekannte Georg Simmels. Insbesondere Marianne Weber verband eine Freundschaft mit G. Simmel, die gerade auch in einer verbindenden Haltung zur Gleichstellung der Geschlechter bestand. Sie antwortete beispielsweise auf Simmels „Weibliche Kultur“ mit dem Aufsatz „Die Frau und die objektive Kultur“ (1913). Max Weber unterstützte die emanzipativen Bestrebungen seiner Frau. Dass er dem Gegenstand Geschlecht wenig Aufmerksamkeit gewidmet habe, wird gelegentlich als eine „stillschweigende Arbeitsteilung“ des Ehepaares aufgefasst (Lichtblau 1992, S. 201). Max Webers soziologischer Nachlass hat zentrale Konzepte der Soziologie, ihre Methoden und vor allem ihr Selbstverständnis zumindest soweit geprägt, dass man sich zu ihnen verhalten muss (vgl. Kaesler 1999; Korte 2004). Insbesondere das Postulat der Werturteilsfreiheit bzw. Objektivität hat sich in weiten Bereichen der Soziologie durchgesetzt. Es bedeutet, dass man subjektive Wertungen aus der soziologischen Analyse ausklammern soll. Weber distanziert sich damit dezidiert von einer Sichtweise wie Durkheims, dass Wissenschaft herausfinden solle, was ‚gut‘ für die Menschen oder die jeweilige Gesellschaft sei. Die Werturteilsfreiheit bildet in Webers „verstehender Soziologie“ eine Einheit mit seinem Ansatz, ein Verständnis von Zusammenhängen anzustreben und das Handeln in den Vordergrund zu rücken: „Soziologie (im hier verstandenen Sinn dieses sehr vieldeutig gebrauchten Wortes) soll heißen: eine Wissenschaft, welche soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich erklären will“ (Weber 1922, S. 1). Hierin sind mehrere entscheidende Aspekte mehr oder weniger implizit enthalten: Weber versteht Handlungen und nicht Strukturen oder die Charakterisierung ganzer Gesellschaften (wie Marx, Comte und Spencer) als entscheidenden Gegenstand der Soziologie. Entsprechend schließt Weber direkt an diese Bestimmung von Soziologie eine Explikation seines Verständnisses von Handeln und vor allem sozialem Handeln an: „‚Handeln‘ soll dabei ein menschliches Verhalten (einerlei ob äußeres oder innerliches Tun, Unterlassen oder Dulden) heißen, wenn und insofern als der oder die Handelnden mit ihm einen subjektiven Sinn verbinden. ‚Soziales‘ Handeln aber soll ein solches Handeln heißen, welches seinem von dem oder den Handelnden gemeinten

3.1 Geschlechtergleichheit im Horizont soziologischer Theorieentwicklung

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Sinn nach auf das Verhalten anderer bezogen wird und daran in seinem Ablauf orientiert ist“ (ebd., S. 1).7 Die von ihm begründete „verstehende Soziologie“ zielt darauf ab, Ereignisse auf „subjektiv rationale“ Ursachen zurückzuführen, d. h. eine ihnen innewohnende Rationalität zu erfassen (Brock et al. 2002, S. 164). Rationalität grenzt Weber zum einen gegen Affekte ab und definiert sie zum Zweiten durch die Orientierung an einer bestimmbaren Beziehung zwischen Ursache und Wirkung. Auf die den sozialen Prozessen innewohnende Rationalität fokussiert sich Webers wichtigstes methodisches Hilfsmittel: die Bildung von „Idealtypen“. Typenbildung bedeutet, dass man bestimmte Muster, die in verschiedenen Ereignissen oder Handlungen deutlich werden, zusammenfasst, z. B. Hochzeiten, Taufen, Geburtstage etc. zum Typ der Feier. Webers „Idealtypen“ sind allerdings Typen, die in dieser ‚idealen‘ Form nicht empirisch anzutreffen sind (Weber 1922, S. 2). Weber differenziert bspw. (idealtypisch) Formen der Herrschaft in die „traditionale“, also auf Überlieferung beruhende, die „charismatische“, d. h. eine Herrschaft einzelner Persönlichkeiten, denen besondere Fähigkeiten zugeschrieben werden, und „rationale Herrschaft“. Letztere zeichnet sich durch „gesatzte Ordnungen“, aktenförmige Verwaltungsprozesse und auf formalen Qualifikationen beruhende Amtsausübungen aus. Im Laufe des historischen Rationalisierungsprozesses, dem er sich intensiv zuwendet, wurden die ersten beiden Formen zunehmend durch die rationale Herrschaft abgelöst. Bei allen Idealtypen der Herrschaft handelt es sich um eine legitimierte Form der Macht: „Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht. Herrschaft soll heißen die Chance, für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden“ (Weber 1922, S. 28). Vor dem Hintergrund der Weberschen soziologischen Sichtweise wollen wir nun untersuchen, inwiefern Weber der Kategorie Geschlecht eine soziologische Bedeutung zuschreibt, d. h. zum einen, inwiefern er es als Gegenstand soziologischer Betrachtung aufgreift und zum anderen, inwiefern er es im Bereich des Sozialen verortet. Männer, Menschen und Frauen im Werk von Max Weber Weber entwirft keine Theorie zu Geschlecht, er untersucht nicht, inwiefern z. B. geschlechterdifferenzierende Arbeitsteilung ein soziales Handeln darstellt. Stattdessen wird Geschlecht zu einer unabhängigen Variable, die er zur Untersuchung von Arbeitsleistungen als Erklärung heranzieht (Weber 1988 [1908/09], S. 163 ff.). Dies beruht jedoch nicht darauf, dass er Geschlechterunterscheidungen naturhaft und damit vorsozial begründet – auch nicht wie bei Simmel durch Sexualität. Sexualität wird bei Weber als eine Macht aufgefasst, die „neben den ‚wahren‘ oder ökonomischen und den sozialen Macht- und Prestigeinteressen“ zu den „universellsten Grundkomponente[n] des tatsächlichen Ablaufes menschlichen Gemeinschaftshandelns“ (Weber 1922, S. 344) zählt. Damit wird Sexualität bei Weber in sein Konzept sozialen Handelns einbezogen und die „geschlechtliche Liebe“ (ebd.) rückt bei Weber in den Blick, um die sozialen Auswirkungen der unterschiedlichen Bedeutungen von Sexualität 7

Zwei – durchaus erklärungsbedürftige – Aspekte werden dabei von Weber vorausgesetzt: dass Menschen sich aufeinander beziehen bzw. an einander orientieren und dass ein Sinn ‚da‘ ist. Ein Erklärungsansatz, wie der Bezug auf Andere entsteht, wird uns von G. H. Mead (vgl. Kap. 3.4.1) geboten. Die Frage, woher der von Weber vorausgesetzte Sinn kommt, ist der Punkt, an dem Schütz (vgl. Kap. 3.4.2) anschließt.

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3 Moderne Zeiten

in verschiedenen Religionen zu erklären. Damit – aber auch darüber hinaus – geraten Verhältnisse zwischen den Geschlechtern in den Blick, in dem Sinne, dass Weber beispielsweise erläutert, wie Prostitution in bestimmten Gesellschaften sozial und religiös eingebettet war (vgl. z. B. Weber 1972 [1920], S. 58), oder dass der Sündenfall Adams und Evas im Judentum als Begründung für „die Unterwerfung der Frau unter den Mann“ diente (Weber 1963 [1920], S. 418). Über Fragen der rechtlichen Stellung von Frauen (und dann i. d. R. auch Kindern) erläutert Weber die Besonderheiten der jeweiligen sozio-historischen Situationen und Entwicklungen. Die „patriarchale Herrschaft“, also die Herrschaft eines „Hausvaters“ über alle Mitglieder des Hauses wird als eine „traditionale Herrschaft“ thematisiert, die dem Idealtypus „einer auf Traditionsheiligkeit ruhenden Autorität“ besonders nahe kommt (Weber 1922, S. 681). Der Patriarchalismus wird bei Weber als ‚ursprüngliche‘ Herrschaftsform vorausgesetzt – die Frage, wie es zu einer Herrschaft von Männern über Frauen gekommen sei, wird über die Annahme einer ‚schwächeren Natur‘ von Frauen umgangen (vgl. Sydie 1987; Wobbe 2011). Von der patriarchalen Herrschaft ausgehend wird die Entwicklung nachgezeichnet, die zur Ausgliederung der Erwerbsarbeit aus dem Haus, zur Rationalisierung von Herrschaft und nicht zuletzt dazu führt, dass „Frau, Kinder, Sklaven persönlich und vermögensrechtlich eigne Rechte gewinnen“, sie also nicht mehr Eigentum des Hausherrn sind, sondern selber Eigentumsrechte erhalten (Weber 1922, S. 681 f.). In diesem Sinne werden Machtverhältnisse, Sexualverhältnisse, Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern – der „ältesten typischen Arbeitsteilung“ für Weber (ebd., S. 681) – Verwandtschaftsverständnisse (z. B. Matrilokalität, Patrilinearität) etc. einbezogen, um die jeweiligen sozialen Zusammenhänge deutend zu verstehen und zu erklären (ebd., S. 344 f.; vgl. auch ebd., S. 195 ff., S. 203 ff.). Weber schließt aus den historischen Verhältnissen nicht auf eine ‚Geschlechtstypik‘, geschweige dass er (wie Durkheim, Simmel oder Tönnies dies unterschiedlich durchgängig tun) aus ‚dem‘ Weiblichen und ‚dem‘ Männlichen Grundprinzipien des sozialen Lebens macht. Anders als diese stellt er aber auch nicht die Frage danach, inwiefern Geschlecht soziologisch zu erfassen sei. Webers Abstinenz hinsichtlich einer soziologischen Thematisierung von Geschlecht liegt damit weder darin begründet, dass er Geschlecht z. B. über Sexualität naturalisiere oder sich nicht mit Verhältnissen zwischen den Geschlechtern befasse, im Gegenteil: Die soziale Bedeutung und Stellung von Frauen sind für ihn ein wichtiger Baustein zum Verständnis von Religionen, Gemeinschaften, Kulturen etc. und damit ein Faktor, über den Weber soziale Zusammenhänge „ursächlich erklären“ kann. Die Zusammenhänge werden jedoch nicht in beide Richtungen beleuchtet: Geschlechter geraten nur als Mittel der Erklärung, und nicht als ihr Gegenstand in Webers Blick. Dabei reproduziert er genau das, was Simmel an der zeitgenössischen (wissenschaftlichen) Betrachtung von Frauen kritisierte (zu Simmels Kritik vgl. Kap. 3.1.4): Frauen kommen erstens bei Weber nur in ihrer Bedeutung für Männer vor, z. B. als Besitz-, Sexual- oder Liebesobjekte. Zweitens werden Männer mit Menschen gleichgesetzt. Wenn Weber bspw. von der „durch Weltflucht bedingte[n] Frauenscheu des Buddhismus“ (Weber 1972 [1920], S. 450) spricht, kann das nicht für buddhistische Frauen gelten. In Webers historischen Analysen wird das ‚Allgemeinmenschliche‘ mit derjenigen sozialen Wirklichkeit, wie sie nur für Männer galt, erläutert. So sind Männer einerseits durchgängig die zentralen Akteure in Webers Analysen, doch nicht als Männer: Ihr Geschlecht wird übersehen und genau deswegen übersieht Weber auch die soziale Relevanz von Geschlecht. Seine Befunde sind weder jenseits der Kategorie Geschlecht anzusiedeln, so dass sie für alle Menschen Gültigkeit bean-

3.1 Geschlechtergleichheit im Horizont soziologischer Theorieentwicklung

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spruchen könnten, noch trägt er diesem Umstand entsprechend Rechnung. Beispielsweise behandelt Weber die Figur des protestantischen Berufsmenschen ausführlich, ohne zu berücksichtigen, dass er damit immer einen Mann beschreibt. Die Frage, wie es sich in diesen Belangen für Frauen verhielte, stellt er sich nicht – im Gegenteil: „Wertlos ist der Artikel ‚Beruf‘ in der Realenzyklopädie f. prot. Theol. u. Kirche, der statt einer wissenschaftlichen Analyse des Begriffes und seiner Genesis allerhand ziemlich seichte Bemerkungen über alles mögliche, Frauenfrage u.dgl. enthält“ (Weber 1972 [1920], S. 75). Die Behandlung der Frauenfrage hier als Beispiel anzuführen, bedeutet, dass Weber davon ausging, dass er seinen Lesern damit deutlich die ‚Unwissenschaftlichkeit‘ des Artikels vor Augen führen könne. Eine Thematisierung der anderen Hälfte sozialer Wirklichkeit, nämlich der von Frauen, die sich das Recht auf Berufstätigkeit erstreiten mussten, deren Verdrängung aus der Erwerbsarbeit sogar mit der Entstehung des Berufes zusammenhing (vgl. Kap. 2.1.3 und 9.3.1), wird hier nicht nur ausgeblendet, sondern als wissenschaftlich uninteressant ausgeklammert. Max Webers Ehefrau Marianne Weber befasst sich – im Gegensatz zu ihrem Gatten – mit der Situation von Frauen zu ihrer Zeit umso ausführlicher und dies nicht zuletzt in ihrer Auseinandersetzung mit Georg Simmels Ansatz. Sie stützt sich hierbei auf Simmels Kritik und seine Analysen, kritisiert jedoch, dass ihm „unter der Hand“ aus dem empirischen Befund über Frauen eine Vorgabe gerate, wie Frauen sein sollen (Weber 1919 [1913], S. 98). Ihre Antwort darauf ist, die historische Gleichsetzung von Mann und Mensch dahingehend aufzuschlüsseln, dass sie eine jenseits des Geschlechts liegende Allgemeinmenschlichkeit annimmt: Dann bedeute „ein echter Mensch zu sein (…) auch für den Mann eine reichere Vollkommenheit als das Mannsein“ (Weber 1919 [1913], S. 133). Im Versuch Frauen nun am Allgemeinmenschlichen teilhaben zu lassen, gerät ihr Ansatz jedoch ebenfalls unter der Hand naturalisierend und normativ: Marianne Weber sieht in der Fähigkeit zur Mutterschaft eine besondere – und damit eben auch ‚geschlechtsspezifische‘ – Eignung von Frauen für besondere wissenschaftliche, berufliche oder allgemein kulturelle Nischen. Damit leitet sie aus der Mutterschaft Eigenschaften und Fähigkeiten her, die sie Frauen im Sinne einer ‚geistigen Mütterlichkeit‘ – einem Konzept der bürgerlichen Frauenbewegung – essentialisierend zuschreibt (Weber 1919 [1913]; vgl. zu Marianne Weber ausführlicher Wobbe 2008).

3.1.6

Zusammenfassung: Soziale Differenzierung – soziale Integration. Und Frauen!

Schon bei den Wegbereitern der Soziologie wurden die unterschiedlichen Wurzeln des Faches deutlich: naturwissenschaftliche Begründungsversuche traten neben sozial- und geschichtsphilosophische Traditionen und gingen bei Comte, Marx und Spencer sehr unterschiedlich gewichtete Allianzen ein. Innerhalb des jeweiligen Theoriegebäudes wurde Geschlecht bzw. die Geschlechtertrennung eingebunden in das (unterschiedliche) Verständnis von Gesellschaft als einem Naturzusammenhang. Dabei wurde Geschlecht zwar stets auf die Fortpflanzung der Gattung bezogen, die Art der inhaltlichen Bestimmung der Geschlechterdifferenz hatte damit aber wenig zu tun. Bei keinem der frühen Klassiker hatte Geschlecht bzw. die Geschlechtertrennung einen für den jeweiligen theoretischen Zugriff zentralen oder gar strategischen Stellenwert – wenn das Thema angesprochen wurde, dann wurden Frauen

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3 Moderne Zeiten

thematisch. Für die allgemeine Theorie war der Gegenstand Geschlecht peripher: Das Hauptgewicht lag auf der Identifizierung von „Naturgesetzen“ gesellschaftlicher Entwicklung. Träger gesellschaftlicher Entwicklung war ,der‘ Mann und dieser war nicht geschlechtlich gedacht, sondern gleichbedeutend mit dem Gattungswesen Mensch. Geschlecht war damit gleichzeitig unterschwellig relevant und per definitionem irrelevant. Die den frühen Klassikern folgende Generation von Soziologen hatte zum Ende des 19. Jahrhunderts veränderte Ausgangsbedingungen. •

Nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Entwicklung der Naturwissenschaften und auch der Evolutionsbiologie wird immer klarer, dass Gesellschaft etwas anderes als Natur ist, soziale Phänomene keinen Naturgesetzen folgen, sondern ihre Erforschung einen besonderen und eigenen Zugang benötigt. • Es wird nicht mehr der Versuch eines Gesamtentwurfs gesellschaftlicher Entwicklung (Stufenmodelle) unternommen und der Begriff der Gesellschaft verliert seinen Status als einfache Gegenstandsbestimmung der (neuen) Disziplin. Es wird stattdessen danach gefragt, wie „Gesellschaft“ überhaupt zu verstehen sei und es werden zunehmend Vielschichtigkeit und Widersprüchlichkeit gesellschaftlicher Prozesse wahrgenommen. • Der Fortschrittsoptimismus zerbricht, der die frühen Klassiker zu Beginn des 19. Jahrhunderts glauben ließ, dass sich die gesellschaftliche Entwicklung auf einen positiven Zielzustand hin bewege. Die „soziale Frage“ und mit ihr – wenn auch untergeordnet – die „Frauenfrage“ haben die Öffentlichkeit erreicht. Wirtschaftliche, politische und auch kulturell-geistige Umbrüche und Krisen sind unübersehbar, so dass gesellschaftliche Entwicklungen nicht mehr einseitig als „Fortschritt“ interpretiert werden können. Im Gegenteil treten kulturpessimistische oder zumindest -skeptische Analysen an die Stelle des Fortschrittsmythos. Vor diesem Hintergrund entsteht eine andere Art des Fragens: Was ist „das Soziale“, das Menschen zusammenhält? Wie ist angesichts der fortschreitenden Arbeitsteilung soziale Integration möglich? Ist soziale Differenzierung notwendig verbunden mit Entfremdung, Desintegration oder gar Verfall? Wie verhalten sich soziale Differenzierung und Individualisierung zueinander? Wie können Fehlentwicklungen vermieden oder strukturelle Probleme wie Sinn- und Wertverlust korrigiert werden? Mit diesen und anderen Fragen entsteht ein eigener Problembezug und mit ihm die Frage nach einem angemessenen methodischen Zugang zu sozialen Phänomenen. Mit den Möglichkeiten und Chancen einer eigenen soziologischen Erkenntnistheorie haben sich alle Klassiker befasst und so die heutige paradigmatische Vielfalt in der Soziologie begründet. Tönnies, Durkheim und Simmel lassen keinen Zweifel daran, dass die Geschlechtertrennung für moderne Gesellschaften einen zentralen Stellenwert hat, wobei es ihnen nicht primär um die Fortpflanzung der Gattung geht. Tönnies und Durkheim konzentrieren sich beide auf das Problem sozialer Ordnung und nehmen von daher den von Comte und Spencer gelegten Pfad auf, kritisieren aber sowohl deren Verkürzungen des Sozialen als auch ihren Analogieschluss von den Naturwissenschaften auf die Soziologie. Dabei halten sie beide daran fest, dass die Soziologie eine Erfahrungswissenschaft ist und sich auf konkrete empirische Phänomene bezieht. Sie stellen die Frage nach der sozialen Ordnung als eine Frage nach dem Verhältnis von Differenzierung und sozialer Integration bzw. von Differenzierung und Individualisierung.

3.1 Geschlechtergleichheit im Horizont soziologischer Theorieentwicklung

73

Bei F. Tönnies werden die Formen sozialer Verbundenheit (Gemeinschaft und Gesellschaft) wie die der individuellen Willensformen (Wesenwillen und Kürwillen) direkt und unmittelbar mit der Geschlechterpolarität parallelisiert. Die Geschlechterpolarität gilt mit ihrer jeweiligen vermeintlich biologischen und psychischen Ausprägung als naturhaft gegeben und benötigt bei F. Tönnies keine weitere Begründung. Insofern macht er „Geschlecht“ nicht zu einem Gegenstand soziologischen Denkens sondern zu einer Ressource für seine Analyse sozialer Grundformen. Anders bei Emile Durkheim: Für ihn ist die Geschlechterpolarität nicht in der „Natur“ begründet, er geht vielmehr von einer großen Ähnlichkeit der Geschlechter zum Anfang der Geschichte (bei den „wilden Völkern“) aus. Erst mit dem Übergang zur „organischen Solidarität“ in höher entwickelten Gesellschaften entstünden grundlegende Unterschiede – für ihn ist die Geschlechtertrennung daher prototypisch für den Prozess der sozialen Differenzierung und prototypisch für die Entwicklung von Gesellschaft als Moralzusammenhang. Dabei verwickelt er sich allerdings in erhebliche Widersprüche, weil er gleichzeitig in Frauen „naturhafte“, instinktgesteuerte Wesen sieht, die nicht oder in sehr viel geringerem Maße als ‚der‘ Mann durch die Gesellschaft geprägt sind. Faktisch übernimmt er in vielen Passagen die zeitgenössische Theorie der polaren Geschlechtscharaktere, wobei er sich in anderen Passagen eben davon abgrenzt und die Geschlechtertrennung als einen sozialen Tatbestand zu begründen versucht. Georg Simmel setzt zunächst völlig anders ein: Sozialer Zusammenhalt gründet für ihn nicht in fixierbaren sozialen Formen, sondern ist nur als Prozess vorstellbar. Nicht ‚Gesellschaft‘ ist sein Thema, sondern Vergesellschaftung und diese betrifft zunächst einmal Frauen und Männer gleichermaßen. Diese Vergesellschaftung geschieht jedoch vor dem Hintergrund des „großen Relationspaares“ Männlichkeit und Weiblichkeit, durch das die einzelnen Erscheinungen des Männlichen und des Weiblichen normiert werden. Das wäre ebenfalls eine genuin soziologische Annäherung, allerdings gilt auch für Simmel, dass er immer wieder auf einen als vorsozial gedachten physisch-psychischen Unterschied rekurriert, den er in der Sexualität verortet. Alle drei betonen, dass erst mit der gesellschaftlichen Differenzierung – sei es von Gemeinschaft zu Gesellschaft, mechanischer zur organischen Solidarität oder mit der Kreuzung sozialer Kreise und der Expansion „objektiver Kultur“ – das Individuum gesellschaftlich hervorgebracht wird und damit die Frage nach Autonomie und Heteronomie (Selbstbestimmung und Fremdbestimmung) des Individuums erst mit einem bestimmten Grad gesellschaftlicher Differenzierung entsteht. Individuelle Handlungsweisen und Wertorientierungen harmonieren nicht notwendig mit den Forderungen einer sozialen Ordnung, sondern können auch in Widerspruch zu diesen treten. Umgekehrt können Funktionsimperative sozialer Ordnungen gerade mit ihrer Durchdringung aller Lebensbereiche den Einzelnen auch völlig vereinnahmen. Aus heutiger Sicht hätte man annehmen können, dass gerade in diesem Zusammenhang die Geschlechtertrennung einen zentralen Gegenstand bildet – das ist aber nicht der Fall. Nur sehr indirekt spielt Geschlechtertrennung bei Durkheim, Tönnies und Simmel in diesen Zusammenhang mit hinein. Nach wie vor sind Abhandlungen zur Entwicklung, Dynamik, Differenzierung kein Kontext, in dem Geschlecht als Thema auftaucht. Implizit bleiben gesellschaftliche Differenzierung und Entwicklung ‚männlich‘, wodurch dann auch das Ergebnis männlich ist: das durch diese Prozesse hervorgebrachte Individuum. Der Einzige, der das explizit benennt, ist Georg Simmel. Er ist auch derjenige, der die „Männlichkeit der Kultur“ von der „Machtstellung der

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3 Moderne Zeiten

Männer“ getragen sieht und die Gleichsetzung des Männlichen mit dem „allgemein-Menschlichen“ als Problem anspricht. Bei Tönnies, Durkheim und auch bei Simmel steht ‚die‘ Frau für soziale Integration und Bindung. Damit steht sie auch – teils explizit, teils implizit – für Stillstand und nicht für (geistige) Entwicklung, tritt sogar in einen deutlichen Widerspruch zu Gesellschaft (Durkheim und Tönnies) bzw. zur „objektiven Kultur“ (Simmel), ermöglicht aber gerade dadurch die Integration der „männlich-dynamischen“ Seite. Was diese drei Klassiker jenseits der paradigmatischen Differenzen unterscheidet, ist ihre Bewertung und ihre Haltung zur „Frauenfrage“. Bei Ferdinand Tönnies steht ‚die Frau‘ für die Basis jeder gesellschaftlichen Entwicklung: die Gemeinschaft. Von daher erfolgt bei Tönnies eine Überhöhung der emotional-affektiven Qualitäten und eine Abwertung der geistig-bewussten Fähigkeiten von Frauen – eine Individualisierung von Frauen kann Tönnies nur als Bedrohung sozialer Integration sehen. Er sieht in der „Frauenfrage“ nicht den Wunsch von Frauen erwerbstätig sein zu dürfen, sondern ein kapitalistisches Übel, in dessen Folge sie zur Erwerbstätigkeit gezwungen sind und das zu überwinden sei. Die Wahrnehmung, dass Frauen für die soziale Integration von Gesellschaften von grundlegender Bedeutung sind, diese Wahrnehmung ist bei Emile Durkheim durchaus ähnlich. Eine wesentliche Voraussetzung für die Entwicklung von „mechanischer“ zur (höherwertigen) „organischen Solidarität“ sieht er darin, dass sich mit der Geschlechterdifferenzierung die „Gemütsfunktion“ und die „Verstandesfunktion“ voneinander getrennt hätten. Nur ist bei Durkheim gesellschaftliche Entwicklung und Differenzierung sehr viel positiver besetzt als bei Tönnies. Insofern sieht Durkheim, dass eben diese Trennung von Gemüts- und Verstandesfunktionen eine (geistige) Entwicklung der Frauen mehr oder weniger still stellt und so kann er sich für die fernere Zukunft eine aktivere Rolle der Frauen in der Gesellschaft vorstellen – allerdings nur in Bereichen, die Männer ihnen zugestanden bzw. überlassen haben. Georg Simmel dagegen bezieht sich positiv auf die (bürgerliche) Frauenbewegung. Er sieht in mehr Rechten für Frauen zum einen eine Frage der Gerechtigkeit, zum anderen aber auch eine Chance, Kultur und Gesellschaft zu bereichern – letzteres sieht er aber nur dann als gegeben an, wenn Frauen das tun, „was Männer nicht können“, sich also wie bei Durkheim innerhalb des Ergänzungstheorems bewegen. Gemeinsam ist den drei Autoren damit trotz tief greifender Differenzen und sehr unterschiedlich einsetzender Konturierung dessen, was Gegenstand und Methode der Soziologie sein soll, dass sie an der Polarität der Geschlechter als Grundlage des Sozialen festhalten, sie sogar normativ festschreiben. Der Gedanke einer „Gleichheit“ der Geschlechter wird explizit – z. T. durchaus massiv – abgewehrt. Das lässt darauf schließen, dass die Frauenfrage für die sich etablierende Soziologie durchaus nicht peripher war, sondern – wie Theresa Wobbe es formulierte – die hier diskutierten Fragen vielmehr „ins Herz der soziologischen Klärungsversuche über das Verhältnis von Tradition und Moderne, von Gemeinschaft und Gesellschaft, von sozialer Differenzierung und sozialer Integration“ trafen (Wobbe 1997, S. 13). Das Werk von Max Weber enthält zwar keinen Erklärungsansatz zur Geschlechterthematik, sein soziologischer Entwurf ist jedoch in zweierlei Hinsicht durchwoben von Geschlecht: Zum einen macht er Frauen durchaus zum Gegenstand seiner Betrachtung – dort, wo die Verhältnisse von Männern zu Frauen für Weber als Erklärungen für soziale Prozesse und Begebenheiten dienen können. Zum zweiten ist Geschlecht, wie es schon für die erste Generation der Klassiker galt, vor allem unterschwellig relevant: Das Allgemeinmenschliche wird z. B. in Hinsicht auf Berufstätigkeit, religiöse Handlungen, ökonomische oder politische Funktionen durch eine männliche Norm und Normalität repräsentiert. Anders als bei Durk-

3.2 Nationalsozialismus

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heim, Tönnies und Simmel ist es also gerade die Nicht-Beachtung der Kategorie Geschlecht, die zu dieser Präsenz von Geschlecht in Webers Werk führt. Es ist diesem Übersehen der Bedeutung des Geschlechts von Männern geschuldet, dass Weber viele Fragen offen lässt, denen er sich mit seinem soziologischen Konzept hätte nähern können. Denkanstöße und weiterführende Fragen: Die gerade vorgestellten Klassiker haben die aktuelle Soziologie wesentlich beeinflusst. Besonders Max Weber und Emile Durkheim werden Ihnen im Studium schon oft begegnet sein, wahrscheinlich aber kaum die verschiedenen Ansätze zu Geschlecht. Während bei Tönnies die Naturalisierung von Geschlecht eine wichtige Grundlage seiner Theorie von ‚Gemeinschaft und Gesellschaft‘ bildet, ist der Umgang mit der Kategorie Geschlecht bei Simmel, Weber und Durkheim widersprüchlich. • Wie können sie sich diese Widersprüchlichkeit erklären? • Was waren die besonderen Tücken und Schwierigkeiten, mit denen die hier vorgestellten Soziologen konfrontiert waren? • Mit welchem der vorgestellten theoretischen Entwürfe könnten Sie sich vorstellen, Geschlecht soziologisch auf den Grund zu gehen?

3.2

Nationalsozialismus

Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 endete die Weimarer Republik. Als Gegenbewegung zur Moderne stellte sich der Nationalsozialismus gegen alle demokratischen, liberalen und sozialdemokratischen Entwicklungen. Die Machtergreifung war daher verbunden mit einer tief greifenden Umgestaltung der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse in Deutschland. Sie traf auch die Universitäten und viele der sozialen Bewegungen – nicht zuletzt die Frauenbewegungen – im Kern. Mit der Machtergreifung wurden unter dem verharmlosenden Begriff der „Gleichschaltung“ in rascher Abfolge praktisch alle öffentlichen Aktivitäten in großen NS-Organisationen zusammengefasst und ihrem Reglement unterworfen. Interessenvertretungen einzelner Gruppen – z. B. Gewerkschaften oder Frauenverbände – wurden nicht geduldet, einzige Gegenwehr war die Selbstauflösung und Stilllegung der jeweiligen Organisation. Das hat der Bund deutscher Frauenvereine, in dem die Mehrzahl der für die Frauenemanzipation eintretenden Initiativen und Vereine organisiert war, dann auch getan: Er löste sich noch im Jahr 1933 selbst auf, um der „Gleichschaltung“ zu entgehen. Einige Frauenvereine traten dagegen der NS-Frauenschaft bei. Damit war die erste Welle der Frauenbewegungen in Deutschland zu Ende. Ziel der „Gleichschaltung“ war es, den als „Zerrissenheit des deutschen Volkes“ gedeuteten Pluralismus aufzuheben und alle Gruppierungen an die nationalsozialistische Partei anzubinden. Grundlegende Ideologie war die Idee der „Volksgemeinschaft“, eine Art magisches Kollektivsubjekt, dem das Leben des Einzelnen bedingungslos untergeordnet wurde. Unterfüttert wurde diese Ideologie durch einen ausgeprägten Rassismus und Antisemitismus. Das „deutsche Volk“ galt aufgrund seiner „arischen Herkunft und Rasse“ als höherwertig und überlegen, werde aber von Feinden umzingelt, welche die „arische Sitte und Kultur“ bedrohten. Ob Liberalismus oder Demokratie, Bolschewismus oder Kommunismus, „jüdische“ oder „internationalistische“ Gelehrsamkeit, Arbeiterbewegung oder eben Frauenemanzipation – all das „zersetze“ das „deutsche Volk“. Der Feinde waren damit viele. In diesem Spektrum

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3 Moderne Zeiten

hatten die Ablehnung jeglicher Frauenemanzipation und die Ankündigung einer „Lösung der Frauenfrage“ in der nationalsozialistischen Propaganda einen durchaus zentralen Stellenwert. Eine Unterschiede und Herrschaftsansprüche naturalisierende Geschlechterordnung war die Voraussetzung für eine ebenfalls naturalisierend gedachte „Volksgemeinschaft“.

3.2.1

Idealisierte Ungleichheit: die „Geschlechtsharmonie“

Bereits im Vorfeld der Machtergreifung lehnten die seit 1923 bestehenden nationalsozialistischen Frauenorganisationen die Forderung der bürgerlichen wie der proletarischen Frauenbewegung nach politischer und rechtlicher Gleichberechtigung ab und forcierten ein Geschlechtermodell, das die grundlegende Verschiedenheit von Frauen und Männern betonte. Beschworen wurde die „natürliche Ordnung“ einer „ursprünglichen Geschlechterharmonie“, die von der damaligen Leiterin der NS-Frauenschaft im Rückblick so zusammengefasst wird: „Mann und Frau sind von Anbeginn der Welt zwei verschiedene Wesen, mit ebenso verschiedenen Funktionen. Rein biologisch gesehen ist des Mannes Rolle zur Erhaltung des Geschlechts eine relativ kurzfristige, die der Frau eine ungleich längere, opfervollere. Sie birgt viele Monate die Zukunft des Volkes in ihrem Schoß (…) Des Mannes Aufgabe in einem gesunden Volk wird primär stets die schöpferische Tat sein, die der Frau das Gestalten, Behüten, Erhalten, Bewahren“ (Scholtz-Klink zit. nach Wagner 1996, S. 47). Mit der Annahme einer „natürlichen Ordnung“ ist i. d. R. die Annahme verbunden, dass Menschen darauf keinen Einfluss nehmen können. Wie konnte dann eine Entwicklung interpretiert werden, die – wie etwa im Verlaufe der Weimarer Republik – zu einer wahrnehmbaren Veränderung in Richtung einer größeren Gleichheit der Geschlechter geführt hatte? An dieser Stelle kommen Feindbilder ins Spiel: Marxismus und Liberalismus, Frauenbewegung und nicht zuletzt „die Juden“ hätten die „ursprüngliche Geschlechterharmonie“ zerstört und Zwietracht zwischen den Geschlechtern gesät. Insofern gelte es, die „natürliche Ordnung“ erst wieder zugänglich zu machen und dies könne nur in der (nationalsozialistisch geführten) „Volksgemeinschaft“ geschehen, wobei diese wiederum auf die harmonische Integration von „Männlichem“ und „Weiblichem“ angewiesen sei. „Emanzipation“ sei eine Erfindung des „jüdischen Intellekts“, eine „deutsche Frau“ habe diese nicht nötig (Hitler zit. nach Helwig 1997, S. 13). Aus dem oben aufgerufenen Zitat wird auch deutlich, dass die unterstellte „natürliche Ordnung“ direkt und unmittelbar aus der Gebärfähigkeit der Frauen abgeleitet wurde. Frauen wurden mithin nur als Mütter wahrgenommen und anerkannt. Erklärtes Ziel der NS-Politik und des NS-Frauenverbandes war es, Frauen auf den ihnen eigenen „weiblichen Bereich“ zu beschränken: Mutterschaft, Haushalt und wenn überhaupt, dann ‚weibliche‘ Berufe der Fürsorge, des „Behütens“ und „Bewahrens“. Dabei wurde die Unterordnung der „weiblichen Bereiche“ unter eine männliche Leitung immer schon mitgedacht: Männer trafen Entscheidungen, Frauen setzten diese im „weiblichen Bereich“ lediglich um. Geschlechtergrenzen wurden in alle Bereiche des Lebens eingeschrieben: Kinderlose Frauen galten nicht als „richtige“ deutsche Frauen. Stattdessen gab es Mütterkreuze und Ehestandsdarlehen, die durch die Geburt von Kindern getilgt werden konnten. Die Verfügbarkeit von Verhütungsmitteln wurde eingeschränkt, Paare aufgefordert, zahlreiche deutsche, „erbgesunde“ Kinder zu bekommen. Schwangerschaftsabbrüche bei „erbgesunden Familien“ waren verboten. Frauen, die den rassischen, sozialen und politischen Ansprüchen der NS-„Rassenhygieniker“ nicht genügten,

3.2 Nationalsozialismus

77

wurden dagegen genötigt, abzutreiben. Diese Frauen – Jüdinnen, Sinti, Roma, „fremdrassige“ (nicht-weiße) Frauen, aber auch („deutschblütige“) Prostituierte, Fürsorgeempfängerinnen, körperlich, geistig und sensorisch Behinderte und noch einige andere mehr – wurden bis zur Wertlosigkeit abgewertet oder sogar umgebracht. Mit propagandistisch groß angelegten, teilweise durch Übernahme militärischer Rituale gerahmten Veranstaltungen wie dem „Muttertag“ oder der Verleihung von „Mutterkreuzen“ wurde die Mutterschaft aus der privaten (familialen) Sphäre herausgerückt, zum Gegenstand öffentlichen Interesses erklärt und als Pflichtleistung gegenüber der ,Volksgemeinschaft‘ eingefordert. Die Geburtenrate stieg trotzdem nur geringfügig an; die vier-Kinder-Familie wurde nicht – wie angestrebt – zum gesellschaftlichen Normalfall (Nave-Herz 1989, S. 59). Viele bis 1933 von der Frauenbewegung erkämpften Rechte wurden zurückgenommen: Frauen verloren das passive Wahlrecht und die Zulassung zur Habilitation an Universitäten, sie durften nicht mehr zum Beruf als Richterin oder Rechtsanwältin zugelassen werden, sie wurden unter dem Vorwand des „Doppelverdienertums“ aus dem öffentlichen Dienst und aus den Betrieben herausgedrängt, sie durften im Gesundheitswesen keine leitenden Stellungen bekleiden, ihr Zugang zu Universitäten wurde auf zehn Prozent der Neuimmatrikulierten begrenzt und auch der Lohngleichheitsgrundsatz zwischen Männern und Frauen wurde aufgehoben. Politik war programmatisch Männersache – so wurde der Tatbestand, dass keine weiblichen Abgeordneten in die Parlamente entsendet wurden, explizit mit dem Hinweis begründet, „dass Dinge, die dem Mann gehören, dem Mann auch verbleiben müssen und dazu gehört die Politik und die Wehrhaftigkeit des Volkes“ (Goebbels zit. nach Nave-Herz 1989, S. 55). Der Ausschluss der Frauen aus der Politik wurde auch von den Repräsentantinnen der NSFrauenschaft bzw. des „Deutschen Frauenwerks“ unterstützt. Einige von ihnen versuchten, in der Andersartigkeit eine „Gleichwertigkeit“ zu begründen und eigene Zuständigkeiten für „Familienfragen, Krankenpflege und Wohlfahrt“ einzufordern, weil „der Frau und Mutter bestimmte Klarheiten eingeboren sind, die der Mann gar nicht haben kann“ (vgl. Wagner 1996, S. 136). Diese und vergleichbare Forderungen liefen im Parteiapparat jedoch ins Leere: „Der bewusst gewollte Männerstaat, nach dem Führerprinzip organisiert, brauchte die Frau nur wegen ihrer biologischen Funktionen; das Angewiesensein des Staates auf diese Funktionen allein verschaffte ihr Ansehen, reduzierte sie aber auch gleichzeitig auf einen rein biologischen Wert“ (Nave-Herz 1989, S. 57). Die mit Beginn der 40er Jahre entstandenen Notsituationen erzwangen dann jedoch vor allem in der Landwirtschaft und in der (Rüstungs)Industrie Maßnahmen, die auch vor der Geschlechtertrennung nicht Halt machten. Frauen wurden verstärkt in die Kriegswirtschaft einbezogen. Vor dem Hintergrund des skizzierten Frauenbildes war dies ideologisch schwer zu rechtfertigen. Trotzdem musste nun zu einem Handeln aufgefordert werden, dass der unterstellten „Natur der Frau“ in keiner Weise entsprach und gleichzeitig verkündet werden, dass Frauen daran keinen Schaden nehmen (vgl. Wagner 1996, S. 148 f.). So ließen sich zwar Arbeitsdienste in der Landwirtschaft noch mit dem Bild der „deutschen Bäuerin“ vereinbaren, aber sehr bald wurden Frauen in großer Zahl in der Rüstungsindustrie eingesetzt und zu Telefonistinnen, Fernschreiberinnen, Funkerinnen oder Flakhelferinnen ausgebildet. Darüber wurde in der öffentlichen Propaganda zunächst geschwiegen. 1944 wurde der „totale Kriegseinsatz“ auch von Frauen gefordert. In den „Mütterehrungsfeiern“ wurde nun auch der „Frau im Rüstungseinsatz“ gedankt – über die Inkompatibilität mit dem nationalsozialistischen Frauenbild wurde nicht mehr geredet.

78

3.2.2

3 Moderne Zeiten

Soziologie im Nationalsozialismus

Auch die Universitäten wurden „gleichgeschaltet“, was u. a. bedeutete, dass Juden, Homosexuelle und Andersdenkende aus dem Dienst entlassen und auch „nichtarische“ sowie politisch unliebsame Studierende aus der Universität vertrieben wurden. Studierende Frauen waren nicht willkommen. Neben der genannten Begrenzung der Immatrikulationen sollte der (für beide Geschlechter) verpflichtende Arbeitsdienst vor dem Studium Frauen abschrecken und sie von einer „ihrer Art gemäßen Lebensführung“ überzeugen. Studentinnen durften nicht mehr für Hochschulgremien kandidieren, die ohnehin sehr wenigen Stipendien konnten Frauen nur erringen, wenn sie sich für „frauliche Berufe“ entschieden hatten (z. B. Ärztin oder Lehrerin). Generell ließen die Maßnahmen gegen berufstätige Akademikerinnen (s. o.) ein Studium als wenig aussichtsreich erscheinen (vgl. z. B. Manns 1997). Die Soziologie war als ‚Wissenschaft von der Gesellschaft‘ von den Maßnahmen der Nationalsozialisten besonders betroffen: 1. Sie war (und ist) durch diesen Gegenstandsbezug politisch exponiert. Max Webers Forderung nach einer „Werturteilsfreiheit“ sozialwissenschaftlicher Forschung hatte ja nicht zufällig äußerst kontroverse Debatten ausgelöst. 2. Viele Soziolog/innen waren liberal oder sozialdemokratisch eingestellt und unterstützten die Weimarer Republik. 3. Etwa ein Drittel der Soziolog/innen waren jüdischer Herkunft. Man nimmt an, dass sich ca. zwei Drittel der an den damaligen Universitäten tätigen Soziologie-Professoren zur Emigration gezwungen sahen, entweder aus politischen Gründen oder weil sie als Juden verfolgt und bedroht wurden (Lepsius 1979, S. 26). Darüber hinaus musste auch eine große Zahl jüngerer Soziolog/innen das Land verlassen und ein Exil suchen, in dem sie überleben konnten oder um ihren akademischen Weg weiter zu verfolgen. Viele haben es nicht geschafft – sie wurden in Konzentrationslagern ermordet oder verloren auf der Flucht ihr Leben. Unter ihnen war auch Käthe Leichter (1895–1942), die 1918 bei Max Weber mit Auszeichnung promoviert und 1925 den Aufbau des Frauenreferates der Wiener Arbeiterkammer übernommen hatte (Schauer/van Dyk 2010, S. 110). Entgegen der vielfach vertretenen Ansicht, dass eine Soziologie im NS-Staat gar nicht möglich gewesen sei, „weil der rassistische Determinismus der nationalsozialistischen Weltanschauung das Gegenprogramm einer soziologischen Analyse darstellte“ (Lepsius 1979, S. 29), blieb jedoch auch im Nationalsozialismus eine Soziologie erhalten und wurde sogar ausgebaut. Die Deutsche Gesellschaft für Soziologie (DGS) wurde 1934 mehr oder weniger stillgelegt, wobei das „mehr oder weniger“ darauf hinweist, dass kein formeller Auflösungsbeschluss durch die Mitglieder erfolgte, aber auch keine Aktivität mehr verzeichnet wurde (Schauer/van Dyk 2010, S. 53). Gleichzeitig aber fand ein „Treffen deutscher Soziologen“ statt und es wurde ein öffentlichkeitswirksamer Kongress in Jena veranstaltet, in dem es um die „Neubestimmung der deutschen Soziologie“ ging. Mitte der 1930er Jahre stellte sich die Soziologie als eine „von Selbstbewußtstein erfüllte Disziplin dar, die weit von der Nischenexistenz einer verachteten Wissenschaft entfernt war“ (ebd., S. 79). Es entstanden eine Reihe neuer – auch außeruniversitärer – Sozialforschungseinrichtungen. Von einigen Autoren wird heute angenommen, dass aufgrund des erhöhten Bedarfs an sachgemäß erhobenen Daten über die soziale Wirklichkeit und die Förderung entsprechender empirischer Forschungsarbeiten sogar eine „umfassende Professionalisierung und Institutionalisierung der Soziolo-

3.2 Nationalsozialismus

79

gie als empirischer Wissenschaft“ unter der Herrschaft der Nationalsozialisten eingeleitet wurde (ebd., S. 85). Emigration war offensichtlich nicht die einzige Antwort von Soziologen auf das NS-Regime; nicht wenige versuchten, in Deutschland zu überleben. Einige gingen in die „innere Emigration“, wobei dieser Weg i. d. R. mit Sanktionen wie einem vorzeitigen Ruhestand (A. Weber), der Aberkennung der Pension (F. Tönnies) oder auch Publikationsverboten verbunden war. Andere sympathisierten mit der Ideologie und boten dem Regime ihre der Gemeinschaftsideologie verpflichteten Ideenlehre an, verstanden sich dabei aber nach wie vor als Intellektuelle und Wissenschaftler. Wieder andere ordneten sich bedingungslos der nationalsozialistischen Herrschaft unter, betrieben im Auftrag der Machthaber z. T. geheime empirische (Auftrags)Forschung etwa zu Raum- und Regionalfragen, zur Bevölkerungswissenschaft, zur Meinungsforschung oder zur Agrar- und Industriesoziologie. In und mit diesen empirischen Untersuchungen wurden auch Fragen bearbeitet, die für die nationalsozialistische Vernichtungsmaschinerie bedeutsam waren – als „administrative Hilfswissenschaft“ war die empirische Sozialforschung vielfältig einsetzbar. Es waren auch einige wenige Frauen unter den in Deutschland verbliebenen und z. T. sehr jungen Sozialwissenschaftler/innen. Dass es so wenige waren, ist weniger ihr Verdienst als vielmehr der oben beschriebenen Frauenideologie geschuldet, in der Frauen im öffentlichen Leben keinen Platz hatten und zu der Frauen durchaus nachdrücklich beigetragen hatten (vgl. dazu Wagner 1996). Nach 1945 kam es in Westdeutschland weder zu einem radikalen Bruch mit der in der NSZeit betriebenen Soziologie, noch zu einem in irgendeiner Weise bewussten Neubeginn, sondern zu einer bemerkenswerten Kontinuität. Bereits 1946 fand der erste Kongress der wiederbelebten „Deutschen Gesellschaft für Soziologie“ (DGS) statt, mit dem sich eine Strategie „kollektiven Beschweigens“ (Schauer/van Dyk 2010, S. 143) der Geschehnisse durchsetzte. Einzig Heinz Maus benannte damals das Versagen der Disziplin: „Es ist billig, heutigentags auf die Tyrannis der um Hitler zentrierten Machtgruppen zu zeigen und zu vergessen, daß man’s nicht tat, als es noch an der Zeit war. Das hieße freilich einzugestehen, daß die offizielle Soziologie versagt hat“ (Maus 1947 zit. nach Schauer/van Dyk 2010, S. 150). Die ins Exil verdrängten Sozialwissenschaftler fehlten für eine Weiterentwicklung der Soziologie in Deutschland nach 1945, denn nur wenige kehrten zurück. Die zu Beginn des Jahrhunderts entwickelten und bis 1933 an den Universitäten gepflegten Traditionen einer historischen und verstehenden Soziologie gingen so zunächst weitgehend verloren, da weder Personal noch entsprechend ausgebildete Nachwuchswissenschaftler/innen zur Verfügung standen. Hatte die in Deutschland entwickelte Soziologie bis 1933 einen international hohen Rang, so ging der in der NS-Zeit vollständig verloren. Mit Beginn der 40er Jahre bildeten sich die USA zu einem Zentrum der Soziologie aus. Dabei konnte auf die Arbeiten der Chicago Schule zurückgegriffen werden. Durchgesetzt hat sich jedoch der Strukturfunktionalismus Parsons’scher Prägung (vgl. Kap. 4.3), der auch und gerade im Deutschland der Nachkriegszeit zum dominierenden Paradigma wurde. Erst in den 1960er Jahren wurden andere Traditionen wieder verstärkt wahrgenommen, allen voran die „Kritische Theorie“.

80

3.3

3 Moderne Zeiten

„Kritische Theorie“: Wiederaufnahme marxistischer Denktraditionen

Viele Wissenschaftler hatten während der NS-Zeit in den USA Zuflucht gesucht, darunter auch jene, die in den Jahren der Weimarer Republik eine an Marx anknüpfende „kritische Gesellschaftstheorie“ entworfen hatten und sich dabei auch mit Max Webers Bürokratietheorie und der Geschichtsphilosophie Hegels auseinandersetzten. Ihr Überleben in den USA und ihre vergleichsweise frühe Rückkehr in das Deutschland der Nachkriegszeit (1950) kann für die Entwicklung der intellektuellen Kultur in der Bundesrepublik nicht hoch genug veranschlagt werden. Sie hatten eine hohe Medienpräsenz und die Namen von Max Horkheimer, Theodor W. Adorno und Herbert Marcuse8 waren von daher nicht nur Sozialwissenschaftler/innen und Philosoph/innen geläufig, sondern auch vielen gebildeten Zeitungsleser/innen. In ihrem Verständnis, mit der „kritischen Theorie“ eine fundierte Kritik der zeitgenössischen Gesellschaft zu ermöglichen, hatten sie sowohl für die Studentenbewegung der 68er Jahre als auch für die Frauenbewegung und die daraus entstehende Frauenforschung eine kaum zu überschätzende Bedeutung (vgl. Kap. 5.3). In seinem programmatischen Aufsatz „Traditionelle und kritische Theorie“ beschreibt Horkheimer das zu seiner Zeit dominierende Verständnis von Theorie („traditionelle Theorie“) als „aufgestapeltes Wissen in einer Form, die es zur möglichst eingehenden Kennzeichnung von Tatsachen brauchbar macht“ (Horkheimer 1988a [1937], S. 162). Die Gesellschaftswissenschaften seien zunehmend bestrebt, dem Vorbild der Naturwissenschaften nachzufolgen und verstünden sich als autonom und unabhängig von der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Es werde angenommen, über die Gültigkeit von Theorien allein aufgrund immanenter wissen8

Zu der Gruppe werden außerdem Walter Benjamin, Erich Fromm, Otto Kirchheimer, Siegfried Krakauer, Leo Löwenthal, Franz L. Neumann, Friedrich Pollock und Karl-August Wittvogel gezählt. Entstanden ist die „kritischen Theorie“ mit dem 1923 gegründeten „Institut für Sozialforschung“ in Frankfurt/Main. Felix Weil – Sohn eines reichen Unternehmers – hatte eine größere Geldsumme gestiftet und in Zusammenarbeit mit jungen marxistisch orientierten Wissenschaftlern die Universität Frankfurt überzeugen können, einen Lehrstuhl einzurichten, dessen Inhaber zugleich Direktor des Instituts war. Beabsichtigt war, angesichts der sozialistischen Revolution in Russland (Oktober 1917) und der Novemberrevolution 1918 in Deutschland einen Ort entstehen zu lassen, in dem die Marx’sche Tradition aufgenommen und jenseits der rigiden Interpretationen in den kommunistischen Parteien wissenschaftlich fruchtbar gemacht werden konnte. Das Marx’sche Werk war bis dahin ebenso wie wissenschaftliche Arbeiten aus der Arbeiterbewegung an den Universitäten kaum verbreitet. Zwar hatten sich gerade Soziologen (Tönnies, Simmel und auch Weber) oft implizit mit der Marx’schen Lehre auseinandergesetzt, aber sie hielten zu Marx eine kritische Distanz, die vermutlich durch die Geschehnisse im Verlauf der russischen Revolution noch verstärkt wurde. 1930/31 wird Max Horkheimer Direktor des Instituts und Professor für Sozialphilosophie an der Universität Frankfurt. Max Horkheimer hat sich selber nicht als Soziologe verstanden, sondern wollte den Gegensatz von philosophischer Theorie und fachwissenschaftlicher Einzeldisziplinen überwinden und schloss dabei an geschichtsphilosophische (Hegel) und gesellschaftstheoretische (Marx) Traditionen an. Die sich dynamisch entwickelnde Soziologie bot jedoch einen weiteren wichtigen Bezugsrahmen (vgl. dazu Habermas 2011). Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten wurde das Institut im März 1933 gewaltsam geschlossen, Professoren und Mitarbeiter mussten Deutschland verlassen, um ihrer Vernichtung zu entgehen, denn viele von ihnen waren Juden. Nicht zuletzt durch ihre Forschungen waren sie in politischer Hinsicht sensibilisiert und hatten eine eventuelle Emigration vorbereitet. In den USA konnten einige von ihnen ihre Arbeit fortsetzen. Theodor W. Adorno, der zunächst in England ein Exil gesucht hatte, stieß einige Jahre später zu ihnen. Nach der Rückkehr von Horkheimer und Adorno an die Universität in Frankfurt a. M. (1950) entstand das, was dann als „Frankfurter Schule“ bekannt wurde. Der Begriff „Schule“ ist insofern irreführend, als beide kein in sich geschlossenes Lehrgebäude hinterlassen haben, sondern eher eine Art zu denken, in der sich ein emanzipatorisches Erkenntnisinteresse mit einer grundlegenden Herrschafts-, Rationalitäts- und Wissenschaftskritik verband, die auch die eigene, wissenschaftliche Position einschloss.

3.3 „Kritische Theorie“: Wiederaufnahme marxistischer Denktraditionen

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schaftlicher Kriterien wie etwa der Widerspruchsfreiheit von Aussagen entscheiden zu können. Entsprechend werde zwischen dem So-Sein und dem Sein-Sollen strikt getrennt. Ein Beispiel dafür ist Webers Forderung nach „Werturteilsfreiheit“ (vgl. Kap. 3.1.5). Im Unterschied dazu bewahre die „kritische Theorie“ das philosophische Element in den Wissenschaften, „sie ist nicht irgendeine Fachhypothese, die im herrschenden Betrieb ihren Nutzen erweist, sondern ein unablösbares Moment der historischen Anstrengung, eine Welt zu schaffen, die den Bedürfnissen und Kräften der Menschen genügt. Bei aller Wechselwirkung zwischen der kritischen Theorie und den Fachwissenschaften (…) zielt sie nirgends bloß auf die Vermehrung des Wissens als solchem ab, sondern auf die Emanzipation des Menschen aus versklavenden Verhältnissen“ (ebd., S. 219). Danach gibt es keine „Theorie der Gesellschaft“, die nicht politische Fragestellungen und Interessen einschlösse, die sich in konkreter geschichtlicher Aktivität bewähren müssten. Während „traditionelle Theorien“ in ihrem Glauben an eine von der Gesellschaft unabhängige Wissensvermehrung am Erhalt der bestehenden Gesellschaftsordnung beteiligt seien, müsse „kritische Theorie“ in der Kritik der Gesellschaft über das Bestehende hinaus auf ein zukünftiges Mögliches weisen. Es reiche nicht aus, nur die Folgen oder die Rückwirkung der Theorie auf die Gesellschaft festzustellen (z. B. die Wirkung von Technologien), sondern es gehe darum, die Theorie aktiv auf eine Gesellschaftsveränderung zu beziehen. Bereits darin verändere „kritische Theorie“ gesellschaftliche Wirklichkeit und sei selbst eine Form gesellschaftlicher Praxis. Theorie und Praxis bilden in diesem Verständnis eine „dialektische Einheit“, d. h. sie bedingen und beeinflussen einander wechselseitig. Entscheidend für die wissenschaftliche Haltung ist dabei die Überzeugung, dass es nicht möglich sei, Erkenntnis und Kritik von außen an die Gesellschaft heranzutragen. Auch die eigene Erkenntnisperspektive verweise auf den gesellschaftlich-historischen Kontext, in dem sie entstanden ist. Nicht nur die Gegenstände und Tatsachen, die wahrgenommen und beobachtet werden können, sondern auch der wahrnehmende Mensch ist „geschichtlichen Charakters“ (ebd., S. 174). Deshalb ist auch die Kritik der Gesellschaft ein Teil dieser Gesellschaft. Daraus folgt, dass Kritik immer auch Selbstkritik heißen muss und eine permanente Reflexion auf eigene Forschungsvorhaben und Projekte eingefordert wird. Spätestens hier stellt sich nun aber die Frage nach dem Bezugspunkt für diese „Kritik“. Vereinfacht gesprochen, stellt die übergreifende Idee der „Vernunft“ einen solchen Maßstab für die Kritik bereit. Vernunft wiederum hat nicht zuletzt eine historische Dimension. Auf ihrer Grundlage kann gesellschaftliche Praxis auf ihre Vernünftigkeit hin befragt werden. Dabei erweist sich die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft als das zeitgenössisch gültige gesellschaftliche Gefüge als ein von Widersprüchen durchzogener herrschaftsförmiger Zusammenhang. Dieser tritt den Menschen in verselbständigter Form gegenüber, wird aber zugleich durch sie immer neu reproduziert. Damit sind nicht zuletzt Prozesse äußerer und innerer Vergesellschaftung der Individuen angesprochen, die dann vor allem bei Adorno ein zentrales Thema darstellen. Im Zentrum der Gesellschaftsanalyse und -kritik der „kritischen Theorie“ steht im Anschluss an Marx zunächst deren als grundlegend angesehene ökonomische Struktur. Diese ist im Kapitalismus gekennzeichnet als Klassenverhältnis. Mit diesem gehen Tendenzen zu einer „Entfremdung“ und „Verdinglichung“ des Menschen einher (vgl. Kap. 2.2.3). Horkheimer hebt dabei hervor, dass die Marx’schen Begriffe „Klasse, Ausbeutung, Mehrwert, Profit, Verelendung, Zusammenbruch (…) Momente eines begrifflichen Ganzen (sind), dessen Sinn nicht in der Reproduktion der gegenwärtigen Gesellschaft, sondern in ihrer Veränderung zum

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Richtigen zu suchen ist“ (ebd., S. 192, Herv. d. V). Anders als Marx bezieht Horkheimer aber die Phänomene des „Überbaus“ sehr viel stärker in seine Analyse gesellschaftlicher Verhältnisse ein und fragt nach der „Vermittlung“ von ökonomischen Prozessen, Wirtschaftskrisen und Bewusstseinsphänomenen. Allein aus der ökonomisch grundlegenden Struktur sei nicht zu erklären, warum sich etwa die Arbeiterklasse vergleichsweise bereitwillig in die nationalsozialistische Diktatur eingefügt habe.9 Einzelne gesellschaftliche Phänomene sollen mithin nicht isoliert betrachtet, sondern nur als Teil des gesellschaftlichen Ganzen untersucht werden. Die Orientierung an der gesellschaftlichen und historischen „Totalität“, i. e. der Organisation des gesellschaftlichen Gefüges als einem Ganzen, das in seiner Entwicklung bestimmten Strukturgesetzlichkeiten folgt, gehört neben der dialektischen Einheit von Theorie und Praxis zu den Hauptmerkmalen der „kritischen Theorie“. Dieser Anspruch gilt auch für die klassisch gewordenen Studien zu „Autorität und Familie“ (Horkheimer et al., 1988b [1936]). Im Zentrum des Interesses steht dabei nicht so sehr „die Familie“ als soziale Einheit (Institution), sondern vielmehr das Phänomen der „Autorität“ als eine im Individuum verankerte „Bejahung eines bestehenden Abhängigkeitsverhältnisses“ (ebd., S. 360). „Autorität“ wird als eine teils produktive, teils hemmende Triebkraft gesellschaftlicher Entwicklung betrachtet, die als solche nicht einfach „gut“ oder „schlecht“ ist, sondern ihren Stellenwert aus der Analyse der gesamtgesellschaftlichen Situation gewinnt. Ein Ausgangspunkt der Argumentation ist, dass die Familie in besonderem Maße dazu beiträgt, die Anerkennung von Autorität in der Persönlichkeitsstruktur zu verankern und damit Herrschaftsverhältnisse „im Inneren der Beherrschten selbst“ (ebd., S. 357) zu befestigen und zu sichern. „Die Familie besorgt (…) die Reproduktion der menschlichen Charaktere, wie sie das gesellschaftliche Leben erfordert und gibt ihnen zum größten Teil die unerlässliche Fähigkeit zu dem spezifisch autoritären Verhalten, von dem der Bestand der bürgerlichen Ordnung weitgehend abhängt“ (ebd., S. 388). Für unsere Betrachtungen ist dabei allerdings die grundlegendere Frage danach zentral, was die Autoren generell, und was sie in diesem spezifischen Zusammenhang unter „Familie“ verstehen. In der Perspektive der kritischen Theorie kann dies keine universale, gleichsam vorgesellschaftliche und ahistorische Größe sein. Entscheidend sind vielmehr die jeweiligen historischen Ausformungen, die primär ökonomisch bedingt als ein Teil der Entwicklung der Gesamtgesellschaft zu verstehen seien und sich mit ihr verändern. Arbeitsteilung zwischen Männern und Frauen sei dabei durch Männer zum Teil „grausam erzwungen“ worden (ebd., S. 348). Ein allgemeines Merkmal sei jedoch, dass Familien als „Geschlechtsverband zur Regelung der sexuellen Beziehungen“ (ebd.) bestünden. Das weist darauf hin, dass ähnlich wie bei anderen Autoren dieser Zeit die Fortpflanzung des Menschen den Ausgangspunkt einer gleichsam funktionalen Ableitung von Familie bildet. Geschlecht erscheint in dieser als universal (‚natürlich‘) gegeben und gesetzt. Die weit reichenden Teilungen und Formungen der Menschen in und zu Frauen und Männer(n) werden in der Folge zwar zum einen sichtbar als Ausdruck historisch konstituierter Verhältnisse, erscheinen aber zugleich als ‚objektive

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Um die historisch spezifischen Ausformungen von Persönlichkeiten und Subjektivität begrifflich einholen und in einen Zusammenhang mit der Gesellschaftsanalyse bringen zu können, wird die Psychoanalyse zu einem weiteren wichtigen Bezugspunkt der kritischen Theorie. Marxismus und Psychoanalyse sollen es ermöglichen, Vermittlungsmechanismen zwischen den Individuen als Handelnden und der Gesellschaft als ökonomischem Gesamtzusammenhang aufzudecken.

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Naturgegebenheiten‘. Das ist, wie gezeigt, gerade in der klassischen Moderne eine verbreitete Denkfigur. In den Studien zu „Autorität und Familie“ ist überwiegend von einem Typus von Familie die Rede, nämlich von deren bürgerlich-patriarchaler Ausprägung im Rahmen der damaligen Gegenwartsgesellschaft. Auf diese spezifische Form beziehen sich auch die empirischen Analysen der Untersuchung. Mit der bürgerlich-patriarchalen Familie sei einerseits ein herrschaftsförmig (patriarchal) strukturierter Sozialverband gegeben, durch den die nachwachsende Generation entsprechend der gesellschaftlichen Anforderungen in autoritäre Strukturen hinein sozialisiert wird. Andererseits aber habe sich mit der im Laufe dieser Entwicklung entstandenen „romantischen Liebe“ ein soziales Phänomen herausgebildet, „das den einzelnen in Gegensatz, ja zum Bruch mit der Gesellschaft treiben kann. Die keineswegs naturwüchsige, sondern historisch gewordene Verbindung von Sexualität und Zärtlichkeit, die Freundschaft und Treue, die bei den Menschen zur Natur werden, gehören mit zu jenen kulturellen Elementen, welche bei bestimmten gesellschaftlichen Entwicklungen eine eigene Rolle spielen können“ (ebd.). In diesen Sätzen drückt sich eine zweiwertige Einschätzung der bürgerlichen Familie aus. Diese Zweiwertigkeit hat ihre Grundlage darin, dass die Familie zum einen hinsichtlich der gesellschaftlichen Anforderungen funktional ist und sie zum anderen – gleichzeitig – eine Gegenwelt zu eben diesen Anforderungen darzustellen vermag. Aufgrund der ökonomischen Vormachtstellung des Vaters ist die Familie in dieser Epoche patriarchalisch strukturiert. Durch die Anerkennung dieser Autorität lerne die nachwachsende Generation auch den Anforderungen im „Außenbereich“ – der marktförmigen Ökonomie – zu entsprechen. Gleichzeitig aber ist der Binnenbereich familialer Beziehung nicht Teil dieser marktförmigen Ökonomie und ermöglicht dadurch „humane Qualitäten“ wie Intimität, Emotionalität und Nähe: „Im Gegensatz zum öffentlichen Leben hat jedoch der Mensch in der Familie, wo die Beziehungen nicht durch den Markt vermittelt sind und sich die Einzelnen nicht als Konkurrenten gegenüberstehen, stets auch die Möglichkeit besessen, nicht bloß als Funktion, sondern als Mensch zu wirken“ (ebd., S. 404). Diese Möglichkeit, in familialen Beziehungen „als Mensch“ zu wirken, sieht Horkheimer zum einen in der „Geschlechtsliebe“ begründet, zum anderen in der „mütterlichen Sorge“. Dabei benennt er den Preis, den ‚die‘ Frau in diesem Arrangement zu bezahlen hat, durchaus deutlich: Sie habe infolge ihrer Abhängigkeit in dieser patriarchalen Struktur „ihr eigenes Wesen verändert“, ihre eigene Entfaltung werde „dauernd gehemmt“ (ebd., S. 408). Zudem entstünde aus ihrer Abhängigkeit ein „physiologisches Interesse“, Ehrgeiz und Karrierestreben des Ehemannes zu fördern, da sein Erfolg auch ihre eigene ökonomische Sicherheit und die ihrer Kinder bedeute. In der späteren, nach dem Krieg veröffentlichten Schrift „Autorität und Familie in der Gegenwart“ (Horkheimer 1987 [1947]) hat sich diese Argumentation nicht grundlegend verändert. Für die Gegenwart gelte aber nun, dass Ehe und Familie ihre Bedeutung als „Gegenwelt“ verloren und ihre Sozialisationskraft eingebüßt hätten. Horkheimer betont hier erneut den Widerspruch der bürgerlichen Familie als „feudaler Institution“ (ebd., S. 377), die auf der ökonomischen Vorrangstellung und Macht des Vaters begründet war, sich aber in ihrer patriarchalen Form auch dann als physische und psychische Gewalt erhält, wenn diese materielle Grundlage geschwunden ist. Gleichzeitig problematisiert er den „Wandel in der Rolle der Mutter“, die eine „berufsmäßige“, rationale Einstellung zum Kind eingenommen habe: „Die Spontaneität der Mutter und ihre natürliche unbegrenzte Fürsorge und Wärme neigen zur Auflösung. (…) Die Frauen haben für ihre begrenzte Zulassung zur wirt-

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schaftlichen Welt des Mannes mit der Übernahme der Verhaltensschemata einer restlos verdinglichten Gesellschaft gezahlt. Die Konsequenzen reichen bis in die zartesten Beziehungen zwischen Mutter und Kind hinein“ (ebd., S. 386). Seine kritisch-abwehrende Haltung hinsichtlich einer Berufstätigkeit von Müttern findet hier ihre Legitimation und trägt in dieser Form zur grundsätzlichen Kritik kapitalistischer Verhältnisse bei. In der proletarischen Familie nämlich könne von einem „befriedigenden Eigenwert der privaten Existenz“ kaum die Rede sein: „Das Gesetz der großen Industrie vernichtet hier das gemütliche Heim, treibt nicht nur den Mann, sondern häufig auch die Frau zu einem schweren Dasein außerhalb des Hauses“ (ebd., S. 413). Es bleibt bei einer widersprüchlichen Einschätzung von Ehe und Familie: Die alte – bürgerliche – Form habe die Frauen unterdrückt, in der neuen aber habe „die moderne Rationalität diese ganze Sphäre durchdrungen“ (ebd., S. 382), ohne dass damit den Frauen Gerechtigkeit widerfahren würde. Dieser Grundgedanke – der Siegeszug moderner Rationalität und dessen zerstörerische Folgen – ist vor allem in der Studie zur „Dialektik der Aufklärung“ (Horkheimer/Adorno 1987 [1947]) entwickelt worden, eines der Schlüsselwerke der „kritischen Theorie“. Zwar stellen die Betrachtungen zur Arbeitsteilung zwischen Frauen und Männern und ihren Implikationen nur einen Nebenschauplatz dieser umfangreichen Studie dar, aber sie haben einige Jahrzehnte später eine ganze Reihe feministischer Arbeiten angeregt (z. B. Kulke 1985; Beiträge in Knapp 1998; Rumpf 1999). Ausgangspunkt ist die Überlegung, dass der Mensch sich mit der Aufklärung aus seiner „selbstverschuldeten Unmündigkeit“ (Kant) dadurch befreit habe, dass er eine durch Mythen (Götter und Geister) beherrschte Welt verlassen hat, denen der Einzelne schicksalhaft ausgeliefert war (vgl. Kap. 2.1.4). Stattdessen habe er sich Wissen über die Natur erarbeitet und der Vernunft im Umgang mit ihr den Weg geebnet. Diese auf Naturbeherrschung zielende Vernunft betrifft aber auch die eigene „innere Natur“: Hier heißt Naturbeherrschung Triebverzicht, Entsagung und Aufschub. Nur durch diese bildet sich der zweckgerichtete, „männliche Charakter“ des Menschen. (Männliche) Naturbeherrschung habe sich in Technologien und der Schaffung immer neuer Produktionsmittel entäußert, wende sich aber zunehmend gegen den Menschen. Denn um sie zu nutzen und zu beherrschen, bedarf es zum einen eines ständig wachsenden Apparates zur Organisation von Wissen und Technik. Mit dessen Verselbständigung entstehen neue Herrschaftsformen. Zum anderen bedarf es Menschen, die sich dieser Herrschaft unterwerfen und sich ihrer Freiheit und Souveränität berauben lassen. Menschen sehen sich in einer dem Mythos analogen Weise der ökonomischen Entwicklung, der Arbeitsteilung und darauf beruhenden Herrschaft schicksalhaft ausgeliefert. Aufklärung schlägt um in eine der Vor-Moderne vergleichbare Unfreiheit. ‚Der Mensch‘ ist auch hier ‚der Mann‘. ‚Die Frau‘ dagegen wird als Ergebnis des historisch entstandenen Herrschaftsverhältnisses gesellschaftlich „der Natur“ zugewiesen. Dies wurde v. a. möglich, da sie „durch Schwäche gebrandmarkt“ ist (Horkheimer/Adorno 1987, S. 133). Sie ist in besonderer Weise von sich selbst entfremdet, weil sie nach dem Begehren der Männer modelliert wird und in ihrer Individualität unentwickelt bleibt: „Die Frau ist nicht Subjekt. Sie produziert nicht, sondern pflegt die Produzierenden (…). Ihr war die vom Mann erzwungene Arbeitsteilung wenig günstig. Sie wurde zur Verkörperung der biologischen Funktion, zum Bild der Natur, in deren Unterdrückung der Ruhmestitel dieser Zivilisation bestand. Grenzenlos Natur zu beherrschen (…) war der Wunschtraum der Jahrtausende. Darauf war die Idee des Menschen in der

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Männergesellschaft abgestimmt. Das war der Sinn der Vernunft, mit der er sich brüstete. Die Frau war kleiner und schwächer, zwischen ihr und dem Mann bestand ein Unterschied, den sie nicht überwinden konnte, ein von Natur gesetzter Unterschied, das Beschämenste, Erniedrigendste, was in der Männergesellschaft möglich ist. Wo Beherrschung der Natur das wahre Ziel ist, bleibt biologische Unterlegenheit das Stigma schlechthin, die von Natur geprägte Schwäche zur Gewalttat herausforderndes Mal“ (ebd., S. 280). Das liest sich im Ergebnis durchaus ähnlich wie etwa oben schon bei H. Spencer (vgl. Kap. 2.2.4). Anders als dort wird aber hier Geschlecht insbesondere als Folge eines ‚der Frau‘ aufgezwungenen Herrschaftsverhältnisses betrachtet. Männliche Macht- und Überlegenheitsansprüche werden als solche sichtbar und problematisiert. Die Nähe der Frauen zur menschlichen Reproduktion (Generativität) sowie ihre aus der (erzwungenen) geschlechtlichen Arbeitsteilung folgenden nährenden, versorgenden und pflegenden Aufgaben in der Familie haben sie in eine Nähe zur „Natur“ gerückt und in einen Gegensatz zu den Orten gebracht, in denen „Geschichte gemacht“ wird. Ihre gesellschaftliche Stellung leite sich zwar aus dem gesellschaftlich relevanten Tauschverhältnis her, durch das die Familie mit der Gesellschaft verbunden sei: der Erwerbsarbeit des Mannes. Das mache sie zur Unterlegenen, der Autorität des Mannes Unterworfenen. Aber es sei gerade ihr Nicht-Einbezogensein in die Warenproduktion, ihre Distanz zu warenförmigen Tauschbeziehungen, in denen die Möglichkeit umfassenderer und alternativer menschlicher Beziehungspotentiale („humane Qualitäten“) sichtbar werde und im Rahmen von Familie potentiell erwachse. „Kritisch“ ist die Adorno/Horkheimersche Perspektive insofern nicht zuletzt darin, dass sich mit der intuitiven (eben nicht „vernünftigen“) mütterlichen Sorge, die die Entfaltung und das Glück der Anderen in den Mittelpunkt stellt, eine „Ahnung eines besseren menschlichen Zustandes“ herstellt, in der Beziehungen nicht durch Zwang und Autorität strukturiert sind: „In der Sehnsucht mancher Erwachsener nach dem Paradies ihrer Kindheit, in der Art, wie eine Mutter von ihrem Sohn, auch wenn er mit der Welt in Konflikt gekommen ist, zu sprechen vermag, in der bergenden Liebe einer Frau für ihren Mann sind Vorstellungen und Kräfte lebendig, die freilich nicht an die Existenz der gegenwärtigen Familie gebunden sind, ja, unter dieser Form zu verkümmern drohen, aber im System der bürgerlichen Lebensordnung selten eine andere Stätte haben als eben die Familie“ (ebd., S. 404). Insgesamt ergibt sich damit ein widersprüchliches Bild: Einerseits machen Horkheimer und Adorno in ihren Analysen die Institution Familie und die darin sich verfestigenden Formen der Geschlechtertrennung als ein Resultat herrschaftsförmig strukturierter historischer Prozesse sichtbar. Auf der anderen Seite werden in der Beschreibung der Familie und ihrer möglichen Zukunft hochgradig traditionelle Stereotype aufgerufen, die dem Missverständnis einer Essentialisierung und Naturalisierung des „weiblichen Sozialcharakters“ Vorschub leisten. Darin kann man ähnlich wie im Fall von Durkheim ein Indiz sehen, dass sie in ihrem theoretischen Denken sehr viel weiter waren als in ihrer lebensweltlichen Mentalität, sie also in dieser Hinsicht die eigene gesellschaftlich-historische Einbindung kaum reflektiert und damit die eigenen Ansprüche unterlaufen haben. Zwar sollen in der von Adorno später entwickelten Haltung einer „negativen Dialektik“ „Frauen“, „Männer“ und „Familie“ nicht „identitätslogisch“ gedacht werden, also ein Bewusstsein wach gehalten werden, dass die Begriffe nicht identisch mit den dadurch benannten Menschen sind. Dennoch finden sich im Hinblick auf den weiblichen „Sozialcharakter“ Ausführungen, die dieser Haltung nicht entsprechen,

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sondern „das Weibliche“ naturalisieren und letztlich wieder zu essentialisieren scheinen und sei es im Sinne einer romantisierenden Utopie. Die argumentative Grundfigur dazu bildet bei Adorno ähnlich wie bei Horkheimer die Diagnose, mit der zunehmenden Vergesellschaftung des Menschen und der Rationalisierung menschlicher Beziehungen werde das „irrational-naturwüchsige Element der familialen Ordnung“ zurückgedrängt (Adorno 1956, S. 117), für das nicht zuletzt ‚die‘ Frau steht. Dieser (bürgerlichen) Familie werde nun „die Rechnung präsentiert“. Diese beziehe sich zum einen auf die Unterdrückung der Frauen und Kinder und zum anderen auf das „ökonomische Unrecht“, i. e. die „Ausbeutung hauswirtschaftlicher Arbeit in einer sonst den Marktgesetzen gehorchenden Gesellschaft“ (ebd., S. 123). In diesem Prozess mögen sich die repressiven Züge der bürgerlichen Familie mildern, aber damit treten nicht automatisch freiere, weniger autoritäre Formen an deren Stelle. Auch lasse sich das, was in der Institution der bürgerlichen Familie „human“ sei, nicht dadurch konservieren, dass man ihre autoritären Züge ausmerze. Was aber folgt daraus? Es scheint in diesem auf Totalisierung angelegten Theoriekontext keine positive Aussage dazu möglich zu sein, wie eine gesellschaftliche Form menschlicher Reproduktion aussehen könnte, in der Frauen als gleichrangig anerkannt wären. Insofern muss offen bleiben, worin eine „Emanzipation“ der Frauen besteht, denn „Gleichrangigkeit“ lasse sich nicht in einer Gesellschaft verwirklichen, in der die „Menschheit nicht selbst mündig“ wäre. Eine „Emanzipation der Familie“ – und damit auch eine Emanzipation der Frauen – sei ohne die Emanzipation des Ganzen nicht möglich (ebd., S. 129). Diese Argumentation ist der bei Marx und Engels nicht unähnlich (vgl. Kap. 2.2.3), die die „Frauenfrage“ als „Nebenwiderspruch“ bezeichnet haben, der sich im Rahmen einer Umwälzung der Gesamtgesellschaft mehr oder weniger von selbst auflöse.

3.4

Ein anderer Denkrahmen für Geschlecht

3.4.1

George Herbert Mead (1863–1931)

George Herbert Mead war Amerikaner und lebte wie die bisher behandelten Autoren dieses Kapitels zur Zeit der vorletzten Jahrhundertwende. Sein Stellenwert als Klassiker in der Soziologie ist heute unbestritten; sich mit Mead zu beschäftigen ist – wie etwa Vester (2009, S. 139) schreibt – für Soziolog/innen „unentbehrlich“.10 Mead wird vielfach auch als einer der Begründer der „Chicago Schule“ bezeichnet, einem Forschungsprogramm, das sich vor allem in qualitativ-empirischen (ethnographischen) Studien mit den aus der rasanten Verstädterung und der multikulturellen Bevölkerung resultierenden sozialen Problemen in Chicago befasste. In seinem wissenschaftlichen Werk nimmt G. H. Mead kaum Bezug auf Geschlecht bzw. – wie in dieser historischen Phase eher üblich – auf Frauen. Er entwickelte mit seiner Theorie symbolischer Interaktion eine grundlegende Perspektive, die als ‚geschlechtsneutral‘ anzusehen ist und später für eine soziologische Analyse von Geschlecht fruchtbar gemacht wurde. 10

Mead verstand sich auch als Sozialreformer. Er setzte sich nachdrücklich für die Rechte der Frauen und der Schwarzen ein und votierte z. B. gegen eine Trennung der Geschlechter an der Universität Chicago (Aboulafia 1993; Diner 1978). Er arbeitete u. a. mit Jane Addams zusammen, einer der ersten Soziologinnen, die von außen kommend an der Universität Chicago lehrte, in Chicago ein gemeinwesenorientiertes Zentrum („Hull House“) gründete und dieses Engagement explizit als eine sozialreformerische Anwendung soziologischer Erkenntnisse verstand. Sie erhielt später als erste amerikanische Frau den Friedensnobelpreis.

3.4 Ein anderer Denkrahmen für Geschlecht

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In sein Werk gehen sehr verschiedene geistesgeschichtliche Strömungen ein: Mit dem Deutschen Idealismus und dem dazu konträren Behaviorismus setzte er sich kritisch auseinander, Pragmatismus und die Evolutionstheorie Darwins gaben den Rahmen für sein Denken vor. Wie Darwin geht Mead davon aus, dass Organismen sich ihrer Umwelt anpassen müssen, um zu überleben. „Anpassung“ aber ist kein einseitiger oder passiver Prozess, sondern wird durch den jeweiligen Organismus aktiv gestaltet. Dabei hat gerade auch im Falle von Menschen die Kooperation mit Artgenossen eine zentrale Bedeutung, denn allein, als isoliertes Individuum, wäre ‚der‘ Mensch nicht überlebensfähig (gewesen). Den Ausgangspunkt der Theorie bildet bei Mead daher nicht ein einzelmenschlicher Organismus, sondern eine kooperative Gruppe. Im Falle der Menschen sind Kooperation und Arbeitsteilung nicht wie etwa in Tiergesellschaften durch physiologische Arbeitsteilung (Bienen, Ameisen) oder auch durch instinktregulierte Formen des Zusammenlebens (Büffelherde) gewährleistet. Das Verhalten der Menschen ist vielmehr so wenig naturhaft festgelegt, dass die Art, wie sie sich an ihre Umwelt anpassen und diese aktiv gestalten, selber erklärungsbedürftig ist. G. H. Mead stellt die Frage, wie unter diesen Bedingungen gemeinsame Aktivitäten mit Artgenossen – Gruppenaktivitäten – überhaupt möglich werden. Wenn Kooperation weder physiologisch noch instinkthaft geregelt ist, dann muss sie auf Kommunikation basieren und kann nur Resultat eines Entwicklungsprozesses in der Gruppe der Artgenossen sein. Insofern bedingen sich von Anfang an Individuum und Gruppenaktivität wechselseitig, entsteht das sich seiner selbst bewusste Individuum mit der Gruppe wie die Gruppe mit den Individuen.11 Dabei werden biologische Gegebenheiten nicht ausgeblendet. Aber auch physiologische Impulse und Bedürfnisse wie Hunger und ‚Sexualtrieb‘ weisen einen gesellschaftlichen Charakter auf, da sie gesellschaftliche Situationen und Beziehungen für ihre Befriedigung voraussetzen (Mead 1968, S. 274). Insofern seien auch diese grundlegenden Impulse „soziophysiologisch“ (ebd.) und können nicht auf die Biologie eines einzelnen Organismus reduziert werden. Der „Sexual-“ oder „Reproduktionstrieb“ gehöre ebenso wie die Fürsorge der Eltern zu den fundamentalen sozio-physiologischen Impulsen und bilde eine zentrale Grundlage für die verschiedenen Typen und Formen des gesellschaftlichen Verhaltens. Die Familie könne als eine grundlegende Einheit der menschlichen gesellschaftlichen Organisation betrachtet werden, da durch sie die Vermehrung und Aufrechterhaltung der Gattung erfolge. Die für die Familie konstitutiven Beziehungen der Geschlechter folgen zwar aus „physiologischen Unterschieden“, diese implizieren aber keine weiteren Unterscheidungen: „Die einzelnen Menschen sind weitgehend identisch (…) vom Standpunkt der physiologischen Differenzierung zwischen den Geschlechtern aus gesehen, handelt es sich um Organismen, die im Grunde identisch sind“ (ebd., S. 279). Die menschliche Entwicklung steht mit der physiologischen Differenzierung nicht in Verbindung, sie hängt in der für sie eigenen, typischen Organisationsform vielmehr vom Einsatz der Hand im Umgang mit physischen Objekten ab und von der Entwicklung der Sprache in der Kommunikation (ebd., S. 284).

11

Damit argumentiert auch Mead gegen eine Vorstellung, wie sie etwa in Vertragstheorien zum Ausdruck kommt, dass zuerst die Individuen da waren und erst im zweiten Schritt Kommunikation und Kooperation entstehen. Der Grundfigur, dass sich Individuum und Individualität erst mit sozialer Differenzierung herausbilden, sind wir bereits bei Durkheim (mechanische/organische Solidarität) und Simmel (Kreuzung sozialer Kreise) begegnet. Mead setzt nun noch einmal grundsätzlicher ein und fragt nach dem Ursprung menschlicher Kommunikation bzw. menschlicher Kommunikationsfähigkeit.

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3 Moderne Zeiten

Kommunikation geschieht zunächst mit Hilfe von Gesten (Handzeichen, Körperhaltung, Gesichtsausdruck), durch die die Richtung des Handelns angezeigt wird. Im Verlauf der Evolution der menschlichen Gattung entwickeln sich vor allem aus den vokalen Gesten signifikante Symbole und damit die Sprache. Signifikant werden Symbole dann, wenn sie für Akteur und Adressat die gleiche Bedeutung haben – wenn z. B. jemand „Feuer“ oder „Hilfe“ ruft, dann kann er in sich die Haltung auslösen, die der Ruf bei anderen auslösen soll, also zu fliehen oder zu helfen. Dadurch werden die handelnden Individuen in die Lage versetzt, das Verhalten der jeweils anderen zu antizipieren, Erwartungen an das Verhalten der anderen auszubilden und das eigene Handeln darauf einzustellen. In dieser hier nur angedeuteten Grundstruktur symbolisch vermittelter kommunikativer Interaktionen ist die spezifisch menschliche Fähigkeit zur Rollenübernahme („taking the role of the other“) angelegt. Rollenübernahme heißt, dass sich der Handelnde in der Antizipation des Verhaltens des anderen auch dessen mögliche Antworten in der konkreten Handlungssituation vergegenwärtigen kann und vice versa. Ohne diese wechselseitige Übernahme der Perspektive des jeweils anderen wäre weder Kooperation möglich noch die Ausbildung dessen, was Mead „Geist“ (Mind) nennt, eine reflexive Intelligenz, durch die Menschen, bevor sie handeln, alternative Handlungsoptionen im Kopf durchspielen können. Einer der großen evolutionären Sprünge liegt darin, dass Handelnde mit der Übernahme der Perspektive der Anderen auch das eigene Verhalten zum Objekt machen können und in der Lage sind, sich selbst aus der Perspektive der Anderen zu betrachten. Diese grundlegende Fähigkeit, sich selbst zum Objekt machen zu können, ist an die Erfahrung von Kommunikation gebunden – hätte mich niemals jemand angesprochen, könnte ich mich nicht als jemand wahrnehmen, mit der man spricht und die deshalb auch mit sich selbst sprechen kann. Wenn ein Kind zur Welt kommt, so kann es nicht mehr als ein kleiner Schimpanse. Im Verlaufe seines Aufwachsens muss es in gewisser Weise den evolutionären Prozess in sich nachbilden, um eine Identität („self“) auszubilden und in dem jeweiligen gesellschaftlichen Rahmen handlungsfähig zu werden. Es muss von vergleichsweise einfach strukturierten Interaktionen auf der Basis einfacher Reiz-Reaktions-Beziehungen an immer komplexer werdenden sozialen Zusammenhängen teilnehmen und dabei zum einen das gesamte, in seiner Umwelt geltende Repertoire signifikanter Symbole (seine Muttersprache) und zum anderen die Fähigkeit zur Perspektivenübernahme erwerben. Beides hängt miteinander zusammen: Wenn ein Kind „ich“ zu sagen gelernt hat, weiß es, dass mit der Mutter oder dem Vater ein „Du“ gegeben ist und wird in seinen Spielen eben dieser Konstellation des „Ich und Du“ immer wieder Ausdruck verleihen und sie einüben. Mead nennt diese Phase „Play“ und meint damit, dass im Spiel des Kindes die Rollenmuster einzelner signifikanter Anderer (Mutter, Vater, Verkäufer, Ärztin etc.) ihm gegenüber nachgestellt werden, und es damit lernt, sich selbst aus der Perspektive dieser Anderen wahrzunehmen. Im „Game“, dem organisierten Wettspiel dagegen muss es die Rollen aller anderen Spielteilnehmer kennen, seine eigene Rolle in Relation zu diesen setzen und sich mit einem gemeinsamen Gruppenziel identifizieren. Es geht nicht mehr um Rollenmuster signifikanter Anderer, sondern um Haltungen eines „generalisierten Anderen“, die in das Innere des Kindes – in sein Denken, Fühlen und Handeln – übernommen werden. Mit dem „generalisierten Anderen“ der eigenen Familie, des Sportteams, der Schulklasse u. ä. ist ein Anfang gesetzt, sich auf immer größere soziale Einheiten mit immer allgemeiner werdenden Normen und Wertvorstellungen zu beziehen. In seiner abstraktesten Form kann der „generalisierte Andere“ verstanden werden als Gemeinschaft aller potentiell am kommunikativen Austausch beteiligten Menschen:

3.4 Ein anderer Denkrahmen für Geschlecht

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„Das Ideal der menschlichen Gesellschaft – das Ideal oder letzte Ziel des gesellschaftlichen Fortschritts des Menschen – ist die Errichtung einer universalen menschlichen Gesellschaft, in der alle Menschen eine vollkommene gesellschaftliche Intelligenz haben, so dass alle gesellschaftlichen Inhalte und Bedeutungen in ihrem jeweiligen Bewußtsein gleich gespiegelt werden – damit der Sinn jeder Handlung oder Geste des Einzelnen (…) für jedes andere Individuum, das darauf reagiert, gleich ist“ (ebd., S. 358 f.). Im Verlauf ihres Aufwachsens – ihrer Sozialisation – bilden Menschen ein „Self“ aus (im Deutschen in der Regel übersetzt mit „Identität“), durch das sie zunächst in einfachen, dann in immer komplexeren sozialen Situationen handlungsfähig werden. Mead spricht hier von zwei verschiedenen Phasen des „Self“ (der Identität) im Handlungsprozess, dem „I“ und dem „Me“. Unter dem „I“ versteht er das Prinzip spontaner Triebimpulse und Kreativität, unter dem „Me“ dagegen die Vorstellungen der anderen von mir und ihre Erwartungen an mich. Je mehr Bezugspersonen und Gruppenaktivitäten in das „Me“ eingehen, umso vielfältiger und differenzierter wird es. Es stellt das Individuum vor die Aufgabe, die verschiedenen Bilder, Erwartungen und Regeln in ein einheitliches Selbstbild zu integrieren. Im konkreten Handlungsprozess bringt vor allem das „I“ immer wieder überraschende Antworten auf die Anforderungen einer Situation hervor – letztlich, so schreibt Mead, können wir nie völlig sicher sein, wie wir handeln werden und ob und wie wir etwas Neues in die Situation einbringen werden (ebd., 217 f. und 247 f.). Aus dem Wechselspiel von „I“ und „Me“ im Handlungsprozess entsteht das „Self“ oder eben die „Identität“ der Person, ein selbst-bewusstes Subjekt, das sein Verhalten im Lichte verschiedener „generalisierter Anderer“ wahrzunehmen und zu regeln versteht: der Familie, Schule, Sportverein, Peer Groups, Nation bis hin zum Ideal einer universell gedachten Menschheit. Das ist durchaus kein konfliktfreier Prozess und es liegt auf der Hand, dass in das jeweilige „Me“ auch widersprüchliche Erwartungen eingehen, in modernen Gesellschaften etwa die an die Geschlechtszugehörigkeit einer Person geknüpften Erwartungen und Zuschreibungen. Diese sind aber nur für die jeweils gegebene historische Situation bzw. den historischen Prozess ihrer Entstehung zu rekonstruieren. Auch wenn Mead – wie zu Beginn dargestellt – die Geschlechterdifferenzierung physiologisch begründet sieht, so stellt sie keine Grundlage für „in der Natur“ angelegte, objektivierbare Verhaltenserwartungen dar. Der zentrale Ausgangspunkt der Meadschen Ethik liegt in dem Gedanken, „dass es weder eine sichere biologische Wurzel für moralisches Verhalten gibt, noch ein festes Wertsystem, an dem sich Handeln immer orientieren könne“ (Joas 1999, S. 183). Wenn man aus einem solchen Blickwinkel heraus Zuschreibungen und an die Geschlechtszugehörigkeit gebundene Verhaltenserwartungen und Normierungen in eine universalistische Perspektive hinein holt, so wird die Situation für eine ganze Reihe „moralischer Entdeckungen“ (ebd., S. 184) geöffnet. „Universalistische Perspektive“ muss dabei in dem oben skizzierten Sinn eines „Ideals der menschlichen Gesellschaft“ verstanden werden, in der es nicht einfach darum geht, alle möglichen Werte urteilsfrei nebeneinander zu stellen, „sondern ihr jeweiliges Recht zu ermitteln und sie unter dem Aspekt der Dienlichkeit für die Herstellung einer universellen Kommunikations- und Kooperationsgemeinschaft zu bewerten“ (ebd.). Das gilt auch und gerade für Einsatz und Folgen der Geschlechterdifferenzierung. In der Meadschen grundlagentheoretischen Fassung der Konstitution des Sozialen wird praktisch vollständig auf die Kategorie Geschlecht verzichtet und damit ein Weg geöffnet, deren Konstitution in sozialen Prozessen auf die Spur kommen zu können. Das haben einige

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3 Moderne Zeiten

Wissenschaftler/innen, auf die wir im nächsten Kapitel zu sprechen kommen, in der Nachfolge Meads dann auch getan.

3.4.2

Alfred Schütz (1899–1959)

Alfred Schütz wurde 1899 in Wien geboren, wo er bis zum Einmarsch der Nationalsozialisten (1939) bei einer Bank arbeitete und sich in seiner Freizeit mit Soziologie und Phänomenologie beschäftigte. Dort veröffentlichte er auch noch sein einziges Buch „Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt“ (1932). 1939 emigrierte die jüdische Familie nach New York, wo Schütz zunächst nebenberuflich am Institut for Social Research lehrte, bis er 1952 eine ordentliche Professur erhielt.12 Die Phänomenologie betrachtet – grob gesagt – die Welt als Erfahrungsraum von Menschen, d. h. von Lebewesen mit Bewusstsein. Die Frage, ob es eine im Alltagssinne natürliche Wirklichkeit gebe, die unabhängig von menschlicher Erfahrung bestünde, wird als unbeantwortbar zurück gewiesen: Nur die erfahrbare Wirklichkeit kann Gegenstand der Untersuchung sein. Daher setzt Schütz das, was im Alltag als ‚Natur‘ bezeichnet wird, immer in Anführungszeichen, um darauf hinzuweisen, dass Gegenstände ihre Bedeutung als Natur nur durch unsere Vorstellung erhalten. In Anlehnung an Husserl verwendet er den Begriff des Natürlichen für das, was im Bewusstsein als gegeben vorausgesetzt wird. Die jeweilige im Bewusstsein eines Individuums vorhandene Wirklichkeit bezeichnen Husserl und Schütz als dessen „Lebenswelt“. Innerhalb der Lebenswelt eines Individuums nimmt die alltägliche Lebenswelt, also die Alltagswelt, eine besondere Stellung ein. Zu ihr haben wir eine „natürliche Einstellung“, d. h. dass uns unsere alltägliche Lebenswelt als fragloses und unproblematisches „so ist es“ erscheint. In der Lebenswelt des Alltags findet ein gewöhnlicher, wacher Erwachsener nicht nur die Dinge als „schlicht gegeben“ vor, sondern begreift sie auch als diejenige Wirklichkeit, die er mit anderen Menschen teilt, in die er leiblich eingreifen kann und die auf ihn zurückwirkt – z. B. indem eine Mauer, die er einreißen will, Widerstand bietet. Die Wahrnehmung dieser Alltagswelt ist unsere „natürliche Weltanschauung“ – anders als bspw. der Traum, die Wahrnehmung einer doppelten Straßenlaterne bei Trunkenheit oder die Phantasie im kindlichen Spiel. Die natürliche Weltanschauung ist die Grundlage für alles, was wir als „Sinn“ verstehen. Der Sinn lässt sich aus unserer Wirklichkeit genauso wenig weg denken, wie die Gegenstände, auf die er sich bezieht, denn die „Sinnschichten“ unserer Wirklichkeit verwandeln „menschliche Körper in Mitmenschen“, ihre „Bewegungen in Handlungen, Gesten und Mitteilungen“ (Schütz/Luckmann 1975, S. 32). In unserer natürlichen Einstellung sind für uns in Bezug auf andere Menschen einige Annahmen stets vorausgesetzt. So gehen wir davon aus,

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„Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt“ ist eine Auseinandersetzung mit der Methodologie Max Webers. Er greift Webers Ansatz einer verstehenden Soziologie auf, kritisiert jedoch, dass Weber den „subjektiv gemeinten Sinn“, der das Handeln unter anderen Verhaltensweisen hervorhebt, nicht soziologisch zu fassen versuche. Schütz setzt mit seiner Theorie daher an der Frage an, wie ein Sinn entsteht und wie ein subjektiver Sinn intersubjektiv verstanden werden kann. Hierzu greift er vor allem auf die Phänomenologie Edmund Husserls (1859–1938) zurück. In seiner Zeit in New York beschäftigte sich Schütz intensiv mit G. H. Mead (vgl. Endreß 2006). Zu seinen bedeutendsten Schülern dieser Zeit gehören Harold Garfinkel, Peter Berger und Thomas Luckmann.

3.4 Ein anderer Denkrahmen für Geschlecht • •

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dass andere Menschen ebenso wie wir mit Bewusstsein ausgestattet sind, dass wir miteinander in „Wechselbeziehung und Wechselwirkung“ treten können (ebd., S. 31), • dass meine Wirklichkeit auch insoweit ihre Wirklichkeit ist, dass über diese und mittels einer gemeinsamen Welt eine Verständigung möglich ist, und • dass es eine gemeinsame „Sozial- und Kulturwelt“ gibt, die mir historisch vorgegeben erscheint, die mein „Bezugsrahmen“ ist, das heißt der Rahmen, innerhalb dessen ich etwas mit Sinn versehen kann. Diese Annahmen sind wichtige Voraussetzungen, denn nur dadurch sind wir in der Lage, subjektiv gemeinten Sinn als intersubjektiv geteilten Sinn zu verstehen (vgl. ebd., S. 29 ff.). Die Annahmen sind in der Generalthese der „Reziprozität der Perspektiven“ zusammen gefasst. Wir gehen im Alltag davon aus, dass Unterschiede in unseren jeweiligen natürlichen Weltanschauungen unbedeutend gegenüber der geteilten Weltsicht sind, dass wir die Dinge gleich sehen (können) und sich gleiche Handlungen anschließen können. Diese Reziprozität speist sich aus zwei Idealisierungen, zum einen hinsichtlich der Austauschbarkeit der Standpunkte und zum anderen hinsichtlich der Übereinstimmung der Relevanzsysteme. Ersteres bedeutet, dass wir davon ausgehen, dass der andere Mensch die Dinge so wahrnehmen würde wie wir, wenn er an unserer Stelle stünde und dass er dort auch stehen könnte. Zweiteres bedeutet, dass trotz individuell unterschiedlicher Relevanzsysteme (z. B. ob man Lust darauf hat zu lesen oder es nur aus Pflicht tut), ein grundsätzlich gemeinsames Relevanzsystem besteht, z. B. indem wir voraussetzen, dass dieses Buch zu lesen bilden soll, unabhängig davon, ob man gerade Lust darauf hat oder nicht. Diese (und weitere) Annahmen, die unsere natürliche Einstellung prägen, sind das, was wir über unsere Welt wissen. Der Wissensbegriff wird damit zu einer phänomenologischsoziologischen Kategorie. Er bezeichnet nicht das wissenschaftlich gesicherte oder ‚wahre‘ Wissen (so wie man das z. B. im Alltag benutzt, wenn man erklärt, früher habe man noch nicht gewusst, dass die Erde rund ist). Die Wissensvorräte, die aus unserer natürlichen Weltanschauung gerinnen, sind vielmehr selber konstitutiv an unserer Sicht auf die Welt beteiligt. Ebenso wie wir jetzt ‚wissen‘, dass die Erde rund ist, ‚wusste‘ man früher, dass sie eine Scheibe ist und Seefahrer richteten ihr Handeln daran aus. Auf solche Wissensvorräte zurück zu greifen, bedeutet also, die Lebenswelt so auszulegen, so zu interpretieren, dass wir einen Umgang mit ihr haben können. Das zweite Verfahren, mit dem wir uns die Welt ‚verständlich‘ machen, ist die Erfahrung. Erfahrung bedeutet, dass wir ein Erlebnis, das wir hatten, im Nachhinein deuten, denn wir können erst im Nachhinein ein erlebtes Ereignis von dem trennen, was vorher, nachher oder nebenher geschah. Diesem Erlebnis schreiben wir dann zu, dass es unter den gleichen Umständen wieder gleich ablaufen würde (Idealisierung des „undso-weiter“; Schütz/Luckmann 1975, S. 26). Der subjektiv gemeinte Sinn, den Schütz bei Webers Definition von Handlung nun zu präzisieren sucht, bedeutet, dass zwischen zwei Erfahrungen eine Verbindung hergestellt wird: „gemeinter Sinn eines Erlebnisses ist nichts anderes als eine Selbstauslegung des Erlebnisses von einem neuen Erleben her“ (Schütz 1981 [1932], S. 104). Das heißt, dass das, was man jeweils situativ tut, mit dem verglichen wird, was man als Erfahrung abgespeichert hat. Gemeinsamkeiten und Unterschiede, die man zwischen ihnen sieht, werden mit Bedeutung ausgestattet: a) Das war eine ähnliche Situation, b) in der habe ich das auch so gemacht (Idealisierung des „ich-kann-immer-wieder“) (Schütz/Luckmann 1975, S. 26). Das aktuelle eigene Handeln wird daher zum einen vom „Handlungsentwurf“ geleitet („um-zu“-Motiv: Wohin

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steuere ich mein Handeln?). Und zum Zweiten wird es von den Erfahrungen her begründet („weil“-Motiv: Was aus meiner bisherigen Erfahrung bringt mich dazu, es jetzt so zu tun?). Sinn entsteht also mit dem Handeln und verändert zugleich das Handeln. Um nun den Sinn der Handlungen anderer zu verstehen, zieht man zum einen das Ergebnis ihres Handelns heran („objektiver Sinn“), zum zweiten erwartet man aber die beiden Motive (i. e. „um-zu“ und „weil“) nicht minder bei seinem Gegenüber („subjektiver Sinn“). Um das Gegenüber zu verstehen, also für das „Fremdverstehen“, bedarf es jedoch der Vermittlung – man kann dem Gegenüber nur ‚vor den Kopf schauen‘. Das Gegenüber muss durch verständliche Zeichen (v. a. Sprache) seine Motive mitteilen. Durch das wechselseitige Abgleichen der jeweiligen Sinngebungen entsteht ein intersubjektiv geteilter Horizont. Die interaktiv geteilten, also sozialen Sinngebungen und die subjektiven werden von Schütz zwar analytisch in die eben vorgestellte Reihenfolge gebracht, er versteht sie aber als gleichzeitig: Wir werden schon in ein wechselseitiges Verstehen und Abgleichen hineingeboren, z. B. indem unsere Eltern unser Schreien über „um-zu“-Motive (vielleicht Hunger?) oder „weil“-Motive (schlechte Erfahrung mit Spinat?) zu deuten versuchen. Die intersubjektiven Erfahrungsmuster prägen damit unsere eigenen (Schütz 1981, S. 115 ff.; vgl. Endreß 2006). Die dritte Komponente, mit der wir uns den Umgang mit unserer Wirklichkeit ermöglichen, ist die Typisierung. Wir systematisieren unsere Erfahrungen, unsere Begegnungen, die Dinge (auch Menschen) um uns herum, indem wir sie mit Ähnlichen vergleichen. Z. B. ziehen wir bestimmte Ähnlichkeiten unter Lebewesen als Einordnung in einen so geschaffenen Typus „Vogel“ oder wir belegen bestimmte Ähnlichkeiten in erlebten Situationen als Typus „Seminar“ (Schütz/Luckmann 1975, S. 26). Die drei Komponenten: Erfahrung, Wissensvorräte und Typisierung schaffen die Grundannahmen in unserem alltäglichen Denken, dass die „Weltstruktur“ konstant und meine Erfahrungen gültig bleiben, sowie, dass ich auf die Welt einwirken kann. Diese drei Charakteristika meiner natürlichen Einstellung ermöglichen es mir, mich auf die Zukunft zu richten, d. h. die Ungewissheit alldessen, was noch vor mir liegt so einzufangen, dass ich trotzdem handlungsfähig bin (ebd., S. 240). Bisher wurde die alltägliche Lebenswelt immer aus der Perspektive des unmittelbaren Erlebens und seiner nachträglichen Auslegung und Einordnung betrachtet. Diese Perspektive dessen, was meinem Bewusstsein direkt zugänglich ist, das, was ich wahrnehme und dort, wo ich leiblich eingreifen kann, bezeichnet Schütz als die „Umwelt“. Diese grenzt er von der „Mitwelt“ ab: dem nur mittelbar zugänglichen Bereich (vgl. Schütz 1981). So ist bspw. ein Zeitungsartikel, den ich lese, Teil meiner Umwelt, die dort beschriebenen Auseinandersetzungen in der Bundesregierung sind es jedoch nicht – sie gehören zu der Mitwelt, bei der ich davon ausgehe, dass sie genauso existiert wie meine Umwelt, und dass sie den gleichen Regeln folgt (ich wäre überrascht, wenn dort Pinguine als Ghostwriter arbeiten). Mein Wissen über die Mitwelt ist also abgeleitet aus meinem Wissen über meine Umwelt. Anders als bei meiner Umwelt kann ich die Gegenstände, Abläufe und Menschen in der Mitwelt jedoch nicht in ihrer jeweiligen ‚Gänze‘ wahrnehmen, sondern nur typisiert: Ich habe eine nur typisierte Vorstellung von den Menschen, die in einer nur als Typus bestehenden Fabrik in mir nur typisiert vorstellbaren Prozessen meinen neu erworbenen Toaster hergestellt haben. Mein Toaster dagegen ist für mich konkret: Farbe, Form, Temperatur, beim ersten Runterfallen entstandene Macken usw. sind für mich erlebbar und stellen ‚den Toaster‘ dar. Der Unterschied zwischen dem unmittelbar erlebten und dem nur als Typisierung Angenommenen macht auch den Unterschied zu unseren Einstellungen gegenüber Menschen aus: Wir haben sowohl eine unmittelbare „Du-Einstellung“ und erleben in „Wir-Beziehungen“

3.4 Ein anderer Denkrahmen für Geschlecht

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andere Menschen direkt, als auch eine daraus abgeleitete „Ihr-Einstellung“, die sich auf all diejenigen bezieht, die für uns zwar relevant sind, die wir aber nicht erleben. So sind z. B. diejenigen, die dieses Buch lesen werden, zwar nicht Teil unserer Umwelt, sie sind aber in unserer Vorstellung als Studierende mit einem Interesse an Geschlechtersoziologie relevant. Im Schreiben dieses Buches wird die Ihr-Beziehung abgeleitet aus den Erfahrungen mit konkreten Studierenden, deren ‚Typiken‘ nun auf die Lesenden übertragen werden. Diese nur mittelbar zugängliche Dimension der Mitwelt und unsere abgeleiteten Ihr-Beziehungen sind für Schütz der Gegenstand der Soziologie. Gerade weil die Konzepte der Typisierung, des Nachvollziehens subjektiv gemeinten Sinns, die Auslegung von Erlebnissen ad post etc. für Schütz nicht nur soziologisch-methodische sind, sondern ein alltägliches Verhalten beschreiben, sind dies zugleich die Mittel der Soziologie, die alltägliche Lebenswelt als nur mittelbar zugängliche Mitwelt nachzuvollziehen. Nur so wird es möglich, im Weberschen Sinne soziales Handeln zu deuten und zu erklären (Schütz/Luckmann 1975, S. 23). Sind die oben genannten Prozesse, mit denen wir unsere Wirklichkeit „sinnhaft aufbauen“ selber Konstruktionsprozesse, so betreibt die Soziologie, die diesen Aufbau nachvollzieht eine „Konstruktion zweiter Ordnung“ (Schütz 1971, S. 68). Schütz hat sich mit den Konstruktionsprinzipien dieser Wirklichkeit auseinandergesetzt; die einzelnen Konstruktionen, mit denen Menschen ihre Wirklichkeit erzeugen, wurden in seinen wenigen hinterlassenen Schriften und der geringen Schaffenszeit Schütz’ kaum zu seinem Gegenstand. Dass er sich in seinem Werk auch nicht mit Geschlecht befasst (vgl. Meuser 2006), ist daher kaum verwunderlich. Ebenso wenig verwundert, dass an Schütz nicht nur Garfinkel einen Entwurf zur sozialen Bedeutung von Geschlecht anschließt, sondern auch in den Zeiten, in denen Schütz wieder in Vergessenheit zu geraten schien, die Auseinandersetzung mit Schütz genutzt wurde, um soziologische Theorien zu Geschlecht zu entwerfen (vgl. u. a. LevesqueLopman 1988; Lengermann/Niebrugge 1995). Sein Ansatz erlaubt es zu fragen, wie die Kategorie Geschlecht zum Bestandteil eines sinnhaften Aufbaus und zu einer Kategorie umfassender Typisierung wurde, ohne dass „Natur“ als Begründung herangezogen werden müsste. In einem aus dem Nachlass zitierten Gedanken sieht Endreß (2005) eine Andeutung dessen, welcher Thematik sich Schütz in einem längeren Leben noch gewidmet hätte: Schütz spricht davon, dass die Distribution von Wissen auf Basis einer politischen, ökonomischen und beruflichen Organisation verlaufe. Politische Organisation kann in seiner Aufzählung bezogen sein auf Dominanz, Gruppen, Status, Klassen, Geschlecht („gender“) und Alter (vgl. Schütz 1958, S. 202). Die Verwendung des Begriffs gender, der sich zu seinen Lebzeiten noch nicht durchgesetzt hatte, zeigt auf, dass er keine naturhafte Geschlechtlichkeit voraussetzt, sondern den Bezugspunkt in der intersubjektiven Herstellung von Wirklichkeit verortet.

3.4.3

Karl Mannheim (1893–1947)

Karl Mannheim wurde 1893 in Ungarn geboren, wo er auch studierte und promovierte. Seine intensive Beschäftigung mit Ideologie als Gegenstand einer Soziologie des Wissens speiste sich aus den Umständen seiner Zeit und seiner eigenen Biographie. Sowohl in Ungarn, als auch in Deutschland (er verbrachte 1914 ein Studiensemester in Berlin bei Simmel und zog 1919 nach Deutschland) prallen in dieser Zeit sehr kontroverse Ideologien spürbar aufeinander. In „Ideologie und Utopie“ (1929) beleuchtete er insbesondere Liberalismus, Konservativismus und Sozialismus. 1933 verdrängte eine weitere Ideologie den jüdischen Soziologen nach drei Jahren von seiner Frankfurter Professur: Mannheim musste vor dem Nationalsozia-

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lismus fliehen und erhielt eine Dozentur in London. Die Auseinandersetzung mit der Situation in Deutschland bestimmte von nun an seine Arbeit maßgeblich (vgl. Kettler/Meja 2006). Interessant für unseren Kontext ist Mannheim in dreierlei Hinsicht: Zum Ersten werden seine wissenssoziologischen und methodologischen Ansätze später – insbesondere ab den 1960ern – wieder aufgegriffen und gehen in Entwürfe mit ein, die uns in späteren Kapiteln (vgl. Kap. 4.4, 7.2 und 9.1) weiter beschäftigen werden. Zum Zweiten war der seit 1919 mit einer studierten Psychologin verheiratete Philosoph und Soziologe nicht nur der Lehrer, Förderer (und Vorgesetzte) des nur drei Jahre jüngeren Norbert Elias (vgl. Kap. 8.1.1), sondern auch vieler Doktorandinnen, unter ihnen Viola Klein, mit der wir uns im folgenden Kapitel befassen. Zum Dritten beschäftigt sich Mannheim an verschiedenen Stellen seines Werkes mit Geschlecht. Standortbedingtheit des Denkens K. Mannheims wissenssoziologischer Ausgangspunkt ist die Kritik an den (zeitgenössischen) Wissenschaften, die das Denken als individuellen Prozess vom sozialen Umfeld des Individuums getrennt verstehen (vgl. Hofmann 1996, S. 83). Die Individualität des Denkens ist, nach Mannheim, jedoch stark beschränkt: „[Das Individuum] spricht die Sprache seiner Gruppe; es denkt in der Art, in der seine Gruppe denkt. Es findet bestimmte Worte und deren Sinn zu seiner Verfügung vor, und diese bestimmen nicht bloß in weitem Ausmaß seinen Zugang zur umgebenden Welt, sondern offenbaren gleichzeitig, von welchem Gesichtspunkt aus und in welchem Handlungszusammenhang Gegenstände bisher für die Gruppe oder das Individuum wahrnehmbar und zugänglich sind“ (Mannheim 1985 [1929], S. 4). Mit diesen Sätzen fasst Mannheim die zentralen Gedanken, die die Wissenssoziologie auch heute noch tragen: Nicht nur ist das Denken mehr sozial denn individuell, weil das Individuum in Logiken und Worten seines Umfeldes denkt, vielmehr ist das Denken auch dahingehend ein soziales, dass es unseren Zugang zur sozialen Wirklichkeit bedeutet. Dieselbe Realität, die von Kommunisten und Konservativen so unterschiedlich beschrieben wird, wird von ihnen auch unterschiedlich erlebt und ist in dem Sinne auch eine unterschiedliche. Die Gegenstände ihres Denkens entstehen erst, indem sie sozial in den Wahrnehmungshorizont gerückt wurden und so nehmen sie, wie die Blinden, die aus unterschiedlichen Positionen einen Elefanten betasten, mal nur den Rüssel, mal nur ein Ohr wahr. Diese Standortbedingtheit des Denkens ist Mannheims Ausgangspunkt, um – in Anlehnung an Marx (vgl. Kap. 2.2.3) – der Frage nachzugehen, welche gesellschaftlichen Bedingungen historisch zu verschiedenen Denkweisen und letztlich zu spezifischen Weltanschauungen bzw. Ideologien geführt haben. Mannheim verwendet den Begriff der „Weltanschauung“ in seinen früheren (kultursoziologischen) Schriften und ersetzt ihn in „Ideologie und Utopie“ (1929) nahezu identisch durch den Begriff der „totalen Ideologie“ (vgl. Barboza 2009; Corsten 2010). Durch die Standortbedingtheit dieser Sichtweisen muss die Wissenssoziologie allen einen „radikalen Zweifel“ entgegenbringen, denn nicht nur „die gegnerischen, sondern prinzipiell alle, also auch der eigene Standort“ sind nicht ideologiefrei (Mannheim 1985, S. 70). Gehen wir noch einmal zu dem Beispiel des Elefanten, so erfolgte die Beschreibung „Ohr“ oder „Rüssel“ (statt „flacher Elefant“ oder „schlangenartiger Elefant“) aus dem Wissen, dass es sich nur um Körperteile handelt. Dieses Wissen setzt also bereits eine übergeordnete Perspektive voraus, aus der man den Elefanten in seiner Gänze wahrnehmen kann. Eine solche erkenntnistheoretische ‚Superposition‘, von der aus eine eindeutige Wirklichkeitserkenntnis

3.4 Ein anderer Denkrahmen für Geschlecht

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möglich wäre, wird von Mannheim abgelehnt. Mannheim setzt dagegen die Annäherung an die Wirklichkeit („dass der Gedanke sich auf seine reale Deckung hin auszuweisen habe“ ebd., S. 86) an die Stelle der Suche nach Wahrheit: „Alle Parteien suchen in ihrem Denken und Handeln diese Wirklichkeit, und es ist kein Wunder, wenn sie sich ihnen verschieden gibt“ (ebd.), eben der Elefant mal schlangenartig, mal flach erscheint. Das bedeutet, dass zwar einerseits keine Position die absolute Wahrheit für sich beanspruchen könne, aber dass andererseits jeder Standort auch ein Stück Wirklichkeit abbildet. Dies ließe sich als Relativismus verstehen – und wurde so auch kritisiert (vgl. Barboza 2009; Corsten 2010; Hofmann 1996). Mannheim will die Relativität jedoch zu einem methodologischen Relationismus führen lassen: Die Standortbedingtheit des Denkens bedeutet dann im ersten Schritt, dass die einzelnen geistigen Gebilde in ihrer Beziehung zu den jeweiligen Standorten verstanden werden können (und müssen) und im zweiten Schritt einen „dynamischen Relationismus“, i. e. ein Denken, „das sich nicht sofort festlegt, sondern die gewordenen und uns noch beherrschenden Spannungen in sich aufnimmt“ (Mannheim 1985, S. 87). Die Abweichungen und Widersprüche in den Wirklichkeitsauffassungen verschiedener Weltanschauungen bieten für Mannheim also die Möglichkeit, die einseitigen Sichtweisen von Ideologien zu überwinden. Er will die unterschiedlichen Standorte zueinander in ein Verhältnis stellen und mit diesen ihre Wirklichkeiten (z. B. „flacher Teil“ gutes Stück hinter „schlangenartiger Teil“) und so zu einem komplexen, wirklichkeitsgetreueren – wenn auch nie vollständigen – Gesamtbild („Elefant“) gelangen (ebd., S. 86–94). Als Frage stellt sich vor allem, wie eine Wissenssoziologie mit der Beschränktheit der einzelnen Weltanschauungen bzw. „totalen Ideologien“ methodologisch umgehen soll. Dokumentarische Methode Mannheim unterscheidet zunächst grundsätzlich zwei Herangehensweisen: „auf ‚Innenbetrachtung‘ beruhende Interpretationen“, das sind die „ideologischen“, und die „auf ‚Außenbetrachtung’“ beruhenden. Zur Ersten gehört die „immanente Betrachtung“: Man betrachtet das Phänomen nur in dem Sinnzusammenhang, in dem es selber steht – z. B. betrachtet man ein Kunstwerk als Kunst (was will uns dieses Kunstwerk sagen? Ist es hohe Kunst oder nur Kritzelei?). Die zweite Betrachtungsweise, die „genetische Betrachtung“, bedeutet, die Phänomene in ihrer Entstehung zu beleuchten. Ideologische Interpretation bleibt sie dann, wenn die Entwicklung nur innerhalb ihres eigenen Bedeutungshorizontes betrachtet wird. Sofern sie über diesen hinausgeht, also auf einer „Außenbetrachtung“ beruht, betrachtet man das Phänomen aus seinem sozialen, historischen und ökonomischen Entwicklungszusammenhang heraus. Letzteres lässt sich in zwei Unterfragen differenzieren. Die eine untersucht die Kausalzusammenhänge: Unter welchen Bedingungen ist es entstanden und so geworden, wie es jetzt ist? Die andere ist diejenige Interpretation, die den Sinn bzw. die Funktion des Phänomens in seinem Entwicklungszusammenhang („sinnvollen Seinstotalität“) zu verstehen versucht. Letzteres beinhaltet für Mannheim die höchste Form der Interpretation: die soziologische. Sie interpretiert „positivistisch“ den Sinn, der dem Phänomen in seinem gesellschaftlich-wirtschaftlichen Zusammenhang zukommt (z. B. welche Bedeutung hat dieses Kunstwerk für die Gesellschaft seiner Zeit?). Geistige Gebilde können also entweder innerhalb der sie hervorbringenden Weltanschauung interpretiert werden, indem man z. B. die Konsistenz bzw. Widersprüchlichkeit untersucht, oder genetisch, indem man fragt, unter welchen Bedingungen sie entstanden sind, welche und auch wessen Interessen damit verfolgt werden bzw. welche Funktion ihnen zukommt (vgl. Mannheim 1964b [1926]).

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Interpretationen erfolgen in unserem Alltag quasi automatisch: Wir nehmen Symbole, ob Schreie oder Kunstwerke zum einen in ihrer Gegebenheit wahr („objektiver Sinn“): ein Schrei wird als unangenehm laut oder schrill, ein Kunstwerk als schön oder bunt wahrgenommen. Zum Zweiten verstehen wir sie aber immer auch als Ausdruck von etwas, das für uns nicht zugleich direkt wahrnehmbar ist, sondern von uns interpretiert wird („Ausdruckssinn“): Beispielsweise kann der Schrei von uns als Ausdruck von Schmerz oder das Kunstwerk als Ausdruck einer künstlerischen Idee verstanden werden. Der dritte Sinn dagegen, der „Dokumentsinn“, wird von uns im Alltag häufig nicht wahrgenommen: Das jeweilige Symbol kann als Dokument einer übergreifenderen Weltsicht verstanden werden (vgl. Mannheim 1964a [1921/1922], S. 103 ff.). Auf Geschlecht bezogen hieße das beispielsweise, dass eine Beschreibung/Wahrnehmung von ‚Kreischen‘ vs. ‚Brüllen‘ als Zeugnis von weltanschaulich verankerten Geschlechterbildern verstanden werden kann – Frauen, die als hilflos und kindlich gelten vs. Männer, die aggressiv, offensiv und stark gedacht werden. Mit der dokumentarischen Methode schlägt Mannheim nun einen Weg vor, diese drei Sinnschichten zu erschließen. Den „objektiven Sinn“, also das ‚Ding‘ oder das Handeln so zu erfassen, wie sie direkt wahrnehmbar sind, ist ein notwendiger erster Schritt, aber nur der erste Schritt. Ihn nicht zu gehen, könnte dazu führen, ‚an der Sache vorbei‘ zu reden; es bei dieser „immanenten Betrachtung“ zu belassen, bedeutet aber seiner weltanschaulichen und daher auch historischen Bedingtheit ‚aufzusitzen‘. Bei der Analyse des „Ausdruckssinns“ geht es nun darum, den gemeinten bzw. intendierten Sinn herauszuarbeiten (und nicht einen eigenen Sinn hineinzuinterpretieren). Den gemeinten Sinn zu erfassen, fällt uns leichter, wenn wir im selben Weltanschauungshorizont stehen, z. B. im Seminar einen nach oben gestreckten Zeigefinger nicht als Hinweis verstehen, dass wir an die Decke schauen sollen, sondern dass jemand etwas sagen möchte. Der dritte Schritt bedeutet, das, was sich – über das Intendierte hinaus – in der Handlung oder dem Gegenstand dokumentiert, zu erfassen. Das sind die – von uns im selben Weltanschauungshorizont stets mitgewussten – Elemente, die sich aus dem Gesamtzusammenhang der Weltanschauung erklären. In unserem Beispiel hieße es, dass die Studierenden durch solche Wortmeldungen im Seminar z. B. eine Autorität der Lehrkraft annehmen (Mannheim 1964b, S. 400 f.; vgl. Barboza 2009; Corsten 2010). Geschlechter als soziale Gruppen In einer Rede, die Mannheim 1932 in Amsterdam hielt, erklärte er seine Zeit für die Zeit, in der sich Menschen – einzelne, aber vor allem soziale Gruppen – mehr denn je ihrer selbst bewusst werden. Mannheim zieht nun Parallelen zwischen den Intellektuellen, denen er die richtigen politischen Lösungen zutraut, die sich aber auch noch ihrer selbst bewusst werden müssten, und den für Gleichberechtigung kämpfenden Frauen. Beides sind für ihn wichtige soziale Gruppen, die sich nicht unter die von Marx begründete Klassentheorie (vgl. Kap. 2.2.3) subsumieren lassen, so dass hier die Geschlechterfrage auch nicht nur einen „Nebenwiderspruch“ zum Klassenkampf darstellt (Mannheim 1993; vgl. Kettler/Meja 1993). Ein entscheidendes Merkmal sozialer Gruppen ist eine gemeinsame Weltanschauung, ein gemeinsames Wissen um die Beschaffenheit der Welt. Frauen sind bzw. werden durch die Frauenbewegung in genau diesem Sinne eine soziale Gruppe. Ebenso wie sich das Proletariat emanzipiert habe aus der dominierenden bzw. scheinbar einzig wahren Sichtweisen der Herrschenden, so emanzipierten sich Frauen nun vom „männlichen axiomatischen Rahmen“, also einer bis dato unumstößlichen Sicht, die die dominante Gruppe (Männer) ihnen vorgab:

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„alle wussten, was ‚Frau‘ war, was man von ihr erwarten konnte und was sie sein sollte. Das heißt, im Laufe der Jahrhunderte waren es die Männer, die über sie nachgedacht haben, als ihr Partner, oder vielmehr ihr Gegner, die sich vorgestellt haben, wie sie sie haben wollen. Der entscheidende Punkt ist, dass der Mann die beherrschende Stellung besetzte und daher seine Gedanken äußern konnte, während der Frau ein Bewusstsein ihrer Selbst fehlte und sie seine Gedanken über sie als verbindliche Wahrheit annahm, sowohl in ihrem geistigen Leben als auch in ihrem alltäglichen Handeln“ (Mannheim 1993, S. 73, Übers. d. V.). Der hier wichtige Unterschied zu Weber und auch zu Simmel ist bei Mannheim, dass er die Frage, wodurch die Definition der Geschlechtergruppen entsteht, wissenssoziologisch beantwortet. Frauen und Männer werden in seiner Herangehensweise deswegen als zwei Gruppen gefasst, weil zwischen ihnen eine Machtdifferenz besteht, durch welche die gegnerische Gruppe ihre Ideologie durchsetzen kann. Die sozialen Gruppen werden also über Wissen und Deutungsmacht hergestellt. Die Frage „was sind Frauen?“ ist damit in erster Linie (wie die Frage, die ihn in diesem Vortrag in erster Linie beschäftigt: „was sind Intellektuelle?“) durch diejenigen zu beantworten, die sich als solche verstehen (eben Selbsterkenntnis). Die Klassenlage innerhalb der Gruppen ist dabei zusätzlich zu berücksichtigen. Grundsätzlich aber ist die Beantwortung der Frage offen für neue und ganz andere Definitionen als die ideologisch geprägte Antwort, die sich Männer ausgedacht und Frauen übernommen haben. Ein weiterer Unterschied zu den zuvor behandelten Klassikern, die auf Geschlecht eingehen, liegt in der Behandlung des Themas Familie: Von Comte bis Weber wurde die Familien- und Privatsphäre systematisch von gesellschaftlicher Dynamik getrennt und häufig der häusliche Bereich gegenüber der öffentlichen Sphäre ‚verklärt‘. Mannheim dagegen bezieht sich nun auf diese Trennung der Sphären als Beispiel für den historischen Wandel von Institutionen. Durch die Verlagerung der Produktion aus dem patriarchalen Haushalt (vgl. Kap. 2.1.3) sei eine zwiespältige Situation entstanden, die nun als „Krise der Familie“ diskutiert werde. Die reale Situation von Frauen habe sich durch die Sphärentrennung weit von den Verhältnissen der Erwerbsgemeinschaft des patriarchalen Haushaltes entfernt: Sie seien entweder, wie auch Männer, außerhalb des Hauses erwerbstätig (als Arbeiterinnen) oder nun als bürgerliche „Damen“ ‚arbeitslos‘ innerhalb des von der Produktion entleerten Privathauses. Nach wie vor orientierten sie sich aber an der „Ideologie der Häuslichkeit“, demnach Frauen ‚ins Haus‘ gehörten, nicht in Konkurrenz zu Männern treten sollten etc. In dieser Diskrepanz zwischen der überdauernden Ideologie und der veränderten Wirklichkeit sieht Mannheim nicht nur die Krise seiner Zeit, sondern den Veränderungsimpuls bei Institutionen, in denen nun neue Aufgaben(verteilungen) und neue ‚Frauenbilder‘ entstehen, die sich den veränderten Situationen anpassen. Dies führt zum dritten Aspekt, in dem Mannheim Geschlecht ebenfalls Aufmerksamkeit widmet: der interaktiven Herstellung von ‚Eigenschaften‘. Soziale Situationen und die Wahrnehmung von Personen werden – ebenso wie der Standort und das Denken – bei Mannheim als wechselseitig verbunden verstanden. Dabei bestimmt weniger die individuelle Wahrnehmung die soziale Situation, sondern vielmehr die soziale Situation die individuelle Wahrnehmung, indem sich die individuellen Wahrnehmungen mit der „sozialen Zirkulation von Wahrnehmungen“ verzahnen, die unter denjenigen stattfindet, „die eine soziale Situation konstituieren“ (Mannheim 1956, S. 44). Daran schließt er an, dass die Züge, die man einem Menschen zuschreibt, weniger aus der Person als aus der Situation zu erklären sind: „Persönlichkeitsmerkmale (…) sind nicht Attribute des Individuums als solchem, sondern vielmehr Aspekte seines Verhaltens in bestimmten Beziehungen“ (ebd., S. 46, Übers. d. V.). Mann-

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heim will hier also dezidiert nicht das Individuum und sein Handeln ins Zentrum stellen, sondern a) die genannte Zirkulation von Wahrnehmungen und b) „die komplementäre soziale Situation“ (ebd.). Inwiefern soziale Situationen einander ergänzendes Verhalten hervorbringen, belegt er unter anderem am Beispiel von Ehen: „Ehen erzeugen häufig solch eine funktionelle Polarität. Zum Beispiel bringt ein Mann, der verschwenderisch ist, oft Sparsamkeit als komplementäre Eigenschaft bei seiner Ehefrau hervor. Nichts würde gewonnen werden, einen so entstandenen Zug als ein Attribut der gesamten Persönlichkeit zu diagnostizieren. (…) Des Mannes leichtfertige Haltung in finanziellen Angelegenheiten und die Akzeptanz einer kompensatorischen Zurückhaltung durch die Frau sind vielmehr die ökonomischen Aspekte einer komplexen Rollenverteilung: Der Mann nutzt Vorrechte aus, die die Unterwerfung der Frau und ihre eingeschränkten Möglichkeiten in der ehelichen Situation bekräftigen“ (ebd., S. 47, Übers. d. V.). Auch hier will Mannheim die Situation nicht auf das Ökonomische beschränkt wissen, sondern führt erneut den Aspekt der Macht ein. Er verbindet diesen mit der sozialen Zirkulation der Wahrnehmung: Die soziale Wahrnehmung männlicher Vorrechte fließt in die (individuelle) Wahrnehmung des Paares ein, wer auf wessen Verhalten (nur) zu reagieren und dies zu kompensieren hat. Entsprechend sind Erwartungen, die an Frauen gerichtet werden, damit nicht naturhaft legitimiert und schon gar nicht auf ‚den weiblichen Geschlechtscharakter‘ oder ‚die weibliche Geschlechtsrolle‘ reduzierbar, sondern historisch, plural und situationsbedingt. Mannheim bezieht sich daher auch auf die kulturelle Variabilität der „geschlechtlichen Trennung von Rollen“ von Margaret Mead (vgl. Kap. 4.2.2) und nutzt den (bei ihm diffusen) Begriff der Rolle, um eine soziale und historische Gewordenheit der Erwartungen und Zuschreibungen an Frauen und Männer zu formulieren (Mannheim 1956, S. 50). Dies dekliniert er in Hinsicht auf Sexualität und Erotik durch. Die Trennung des Eros von der (bloßen) Sexualität sieht Mannheim in zwei entgegengesetzten und komplementären Rollen für Frauen reflektiert: die sich für den Märchenprinz ‚aufsparende‘ Jungfrau des Biedermeier einerseits, die die hehren Gefühle des „Eros“ bediente, und die Prostituierte andererseits, die allein der sexuellen Befriedigung dienen sollte. Beide Rollen zusammen sind nach Mannheim Teil einer „Männer-zentrierten Lebenssituation“ (ebd.) – auch hier also ist wie zuvor beim Beispiel des Ehepaars der Machtaspekt entscheidend. Frauen wurden (je nach Schicht) auf diese Männern dienenden Rollen aufgeteilt, während Männer stets die Möglichkeiten hatten, beides für sich zu nutzen. Im Gegensatz zu Simmel, der diese zwiespältige Bedeutung von Frauen für Männer im „männlichen Wesen“ verankerte, erklärt Mannheim: „Es ist klar, dass das, was als eine männliche Eigenschaft erscheinen mag, tatsächlich die personale Manifestation einer strukturellen Spaltung in einer historisch gewordenen Gesellschaft ist“ (ebd.). Das bedeutet, dass er die sozialen Verhältnisse für die unterschiedlichen Wahrnehmungen männlicher und weiblicher Eigenheiten heranzieht – eben als soziale Realitäten schaffende Ideologien. Nachdrücklich weist er darauf hin, dass die verschiedenen „Rollen“, die Männer und Frauen einnehmen (können), nicht an anatomische Unterschiede gebunden sind, also weder ‚naturbedingt‘ noch unabdingbar für die Individuen sind. In einer Vorlesung in den frühen 1930er Jahren gibt er seinen Studentinnen mit auf den Weg: „Jede Frau oder jedes Mädchen, die nicht der Tatsache ins Auge sieht, dass die moderne Gesellschaft (…) ihr Erleuchtung und Kultur gibt, während sie ihr ein Hand-

3.4 Ein anderer Denkrahmen für Geschlecht

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lungsfeld versagt, verfällt in Melancholie und andere psychische Leiden (…). Nur wer sich – als Frau – der Erfahrung gestellt hat, mal als ‚Dame‘ gemieden (ein Rückfall in die Vergangenheit) und mal als ein Konkurrent beiseite gestoßen zu werden, kann beginnen zu verstehen, dass eine soziale Situation keine Frage eines anatomischen Schicksals ist“ (Mannheim zit. nach Kettler/Meja 1993, S. 15, Übers. d. V.). Frauen als Studentinnen Die meisten Frauen, die in den 1920er und frühen 1930er Jahren in Deutschland an den ersten soziologischen Lehrstühlen studierten und promovierten oder sozialwissenschaftlich angelegte Forschungen betrieben, wurden durch das nationalsozialistische Regime von einer weiteren möglichen akademischen Karriere abgeschnitten. Unter ihnen fanden sich viele Jüdinnen, Sozialdemokratinnen und Frauenrechtlerinnen, die (im günstigeren Fall) vertrieben wurden bzw. emigrierten und nur selten in einem bald im Krieg befindlichen Land ihre wissenschaftlichen Interessen an Universitäten weiterführen konnten. In den Jahren vor 1933 jedoch war besonders in Frankfurt und dort vor allem bei Karl Mannheim und seinem Assistenten Norbert Elias ein hoher Anteil an Frauen unter den Studierenden des jungen Fachs (vgl. Honegger 1994, S. 74). In der Zeit seiner Frankfurter Professur für Soziologie betreute Mannheim viele Doktorandinnen zu sehr unterschiedlichen Themen (von der Kunst- und Kultursoziologie über Migration bis hin zur ‚Frauenforschung‘), von denen nur zwei ihre Promotionen in diesen drei Jahren, die er die Professur innehatte, abschließen konnten (ebd., S. 75 f.). Mannheims Wissens- und Kultursoziologie hat seine Studentinnen dazu beflügelt, dass sie in den Entwürfen (die durch den Einschnitt des Nationalsozialismus von ihren Promotionsvorhaben häufig das einzige blieben) Fragen zu Geschlecht nicht mit dem Verweis auf ‚Natur‘ oder ‚Wesen‘ von Frauen, sondern aus der gesellschaftlichen Bedingtheit des Denkens und der Kulturgebilde zu beantworten suchten.

3.4.4

Viola Klein (1908–1973)

Mannheims Gedanken über den Zusammenhang von Wissen und Geschlechterbildern sind zu einem wichtigen Teil aus dem Austausch mit seiner Londoner Doktorandin Viola Klein entstanden. Viola Klein wurde in eine jüdische Familie in Wien hineingeboren, wuchs jedoch größtenteils in Prag auf, wo sie auch studierte und zunächst in Sprachwissenschaften promovierte. Dabei entdeckte sie Schriften K. Mannheims für sich. Als sie 1938 ebenfalls nach England floh, finanzierte sie sich dort zunächst als Hausangestellte, konnte dann dank eines Stipendiums jedoch auch eine zweite Dissertation in Angriff nehmen. Sie wandte sich an den zur gleichen Zeit an der London School of Economy lehrenden Karl Mannheim, der ihre Arbeit zu „some theories of feminine attitudes and so-called character traits: a study of ideologies“ (1944) betreute. 1946 wurde die Arbeit mit dem Titel „The Feminine Character: History of an Ideology“ gedruckt. Das Buch wurde scharf kritisiert: Es war den britischen Kritikern zu ‚deutsch‘, Stil und gedankliche Schärfe galten als zu männlich (Punch 1946, S. 426 zit. nach Sayers 1989, S. xiii), der Inhalt als „militant feministisch“ (Hodson 1950, S. 50 zit. nach Sayers 1989, S. xiii, Übers. d. V.). Der wissenssoziologische Ansatz, um den es Klein ging, wurde in diesen Kritiken (gezielt) ignoriert.13 13

Eine Stelle im akademischen Betrieb blieb Viola Klein in der Nachkriegszeit, in der die männlichen Heimkehrer bevorzugt wurden, lange Zeit verwehrt. Sie forschte zur Frauenerwerbsarbeit, ohne jedoch den geschlech-

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„Der weibliche Charakter“ Der Untertitel dieses Buches „Geschichte einer Ideologie“ verrät, worum es Klein in erster Linie geht: Die Dissertation ist eine durchgängige Anwendung des Mannheimschen ideologiekritischen Ansatzes auf Geschlecht. Der wissenssoziologische Gedanke, dass wissenschaftliches Wissen von sozialen, historischen und persönlichen Elementen geprägt wird, wird für sie an dem Beispiel der Vorstellungen über Weiblichkeit gerade deswegen besonders deutlich, weil dieser Gegenstand hochgradig normativ besetzt ist und damit die Ideologien eine besondere Prägnanz im alltäglichen und wissenschaftlichen Leben erhalten. Zugleich bietet sich dieser Gegenstand aufgrund des historisch stattfindenden Wandels an, denn in veränderten sozialen Rahmenbedingungen, veränderten politischen, medizinischen und ökonomischen Bedingungen des Lebens von Männern und Frauen werden vorherrschende Ideologien, Traditionen, (Miss)Billigungen von Verhaltensweisen, etablierte Deutungshoheiten (insbesondere der Professionen) etc. beobachtbarer (Klein 1971 [1946], S. 1 ff.). Wie ihr Doktorvater K. Mannheim geht V. Klein davon aus, dass ein gesellschaftlich verankertes Wissen Realitäten nicht (nur) abbildet, sondern vielmehr schafft. Wissensbestände schlagen sich in verschiedenen kulturellen Mustern nieder und diese wiederum bilden „den Rahmen innerhalb dessen Persönlichkeiten sich entwickeln und an den sie sich auf die ein oder andere Weise anpassen müssen“ (ebd., S. 1, Übers. d. V.). Ihre Untersuchung solle, so stellt sie einleitend vor, zu einer Klärung der Vorstellungen von ‚Weiblichkeit‘ beitragen und untersuchen, „ob es Eigenschaften gäbe, die als typisch weiblich bezeichnet werden können, welche Eigenschaften dies seien und ob sie immer schon als Charakteristika von Frauen betrachtet worden seien“ (ebd., Übers. d. V.). Hierzu hat sie verschiedene zu ihrer Zeit sehr prominente Konzepte zum ‚weiblichen Geschlechtscharakter‘ betrachtet, die alle für sich wissenschaftliche Objektivität in Anspruch genommen haben. Im Einzelnen waren das Havelock Ellis (Biologie), Otto Weininger (Philosophie), Sigmund Freud (Psychoanalyse), Helen B. Thompson (Experimentelle Psychologie), L. M. Terman und C. C. Miles (Psychometrie), Mathias und Mathilde Vaerting (Geschichte), Margaret Mead (Anthropologie) und W. I. Thomas (Soziologie). Bei der Betrachtung der einzelnen Wissenschaftler/innen geht sie in mehreren Schritten vor: Zunächst arbeitet sie die jeweilige Vorstellung von Weiblichkeit aus den Konzepten heraus. Anschließend analysiert sie die Direktiven und Beschränkungen der einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen und der verwendeten Methoden. Im dritten Schritt befasst sie sich mit der historischen Situation und der persönlichen Geschichte der Wissenschaftler/innen. Ziel jedes Kapitels ist es, aufzuzeigen, welche Einflüsse auf die Konzepte einwirkten: So kann sie durch die Rekonstruktion der disziplinären, historischen und persönlichen Bedingtheit der jeweiligen Weltanschauungen auch die jeweilige ‚Einfärbung‘ der Weiblichkeitsvorstellungen kenntlich machen. Dabei nimmt sie, wie an der obigen Aufzählung zu sehen ist, weder die Naturwissenschaften noch die Soziologie aus ihrer Betrachtung aus. Ihr wissenssoziologisches Vorgehen soll im Folgenden an zwei ihrer Fallstudien nachgezeichnet werden.

tertheoretischen Ansatz weiter verfolgen zu können. Die berühmteste Studie Kleins ist das mit Alva Myrdal 1956 veröffentlichte Buch „Women’s Two Roles: Home and Work“, das wir in Kapitel 4.3.2 besprechen werden. 1964 erhielt V. Klein eine Professur in Reading (England) und publizierte nun intensiver zur Situation verheirateter, arbeitender Frauen. 1971, zwei Jahre vor ihrem Ruhestand und ihrem kurz darauffolgenden Tod, wurde „The Feminine Character“ neu aufgelegt und fand nun im angelsächsischen Raum in der Generation der Frauenbewegung der 70er Jahre recht großen Anklang (vgl. Lyon 2006).

3.4 Ein anderer Denkrahmen für Geschlecht

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Havelock Ellis (Biologie und Medizin) Der Arzt und Biologe Havelock Ellis (1859–1939) suchte in vergleichenden Forschungen biologische Belege für „unsere stärksten Überzeugungen“ (d. h. verbreitete normativ aufgeladene Vorstellungen) über Sexualität und Geschlechtlichkeit. Ganz im Sinne von Darwins Evolutionstheorie versuchte er dabei bisherige Entwicklungen nachzuzeichnen und zukünftige vorherzusagen. In Übereinstimmung mit einigen Konzepten, die wir bei Philosophen und Soziologen des 18. und 19. Jahrhunderts vorgestellt haben, sah auch Ellis ‚Weiblichkeit‘ im Vergleich zur ‚Männlichkeit‘ gekennzeichnet durch mehr Passivität, eine geringere Variationsbreite und eine größere Nähe zur Natur und zum Kindlichen. Ungewöhnlicher erscheint jedoch, dass er Frauen eine größere Affizierbarkeit (i. e. Ansprechen auf Reize) bei gleichzeitig geringerer Verletzlichkeit attestierte. Für ihn als Naturwissenschaftler hatten nur allgemeine Regeln Gültigkeit; relative Häufigkeiten reichten nicht aus. Je länger er aber nach spezifischen Charakteristika suchte, die er allen Mitgliedern einer Geschlechtsgruppe bescheinigen könne, umso weniger Ergebnisse konnte er liefern. Stattdessen entdeckte er in seinen Studien bei verschiedenen Personen und insbesondere in verschiedenen Kulturen immer wieder Gegenbeispiele, die einer universellen Übertragung von ihm so gefasster männlicher und weiblicher Eigenschaften widersprachen. So stellte er beispielsweise fest, dass seine Annahme einer größeren weiblichen Schamhaftigkeit recht vage ist, angesichts der kulturellen Unterschiede dessen, wofür man sich schämt oder nicht (Klein 1971, S. 40 ff.). V. Klein arbeitet heraus, wie Ellis’ Geschlechterbild mit seiner Selbstwahrnehmung und seinem Weltbild korrespondierten: In der von Ellis aufgebauten Spannung zwischen Weiblichkeit und Männlichkeit reflektiere sich eine innere Spannung, die er in autobiographischen Notizen festgehalten habe. Seine Notizen zeugten zudem von einer Sehnsucht nach alldem, was Natur und Weiblichkeit für ihn symbolisierten. Die größere Kindlichkeit der Frauen repräsentiere bei ihm, im Gegensatz zu Comte, Spencer, Tönnies oder Durkheim, eine höhere evolutionäre – sprich zivilisiertere – Stufe, so dass er eine positiv assoziierte Feminisierung des Menschlichen vorhergesehen habe. Sein Weltbild war „bestimmt durch seinen religiösen Glauben in die Natur, von seinem Begriff des Lebens als Spannung und seinem Begriff der Wahrheit als einer Mischung aus Gegensätzen. Es spiegelt zudem den vorherrschenden Optimismus seiner Zeit – die Überzeugung (…) dass, wenn sich alles selbst überlassen werde, es sich am Ende zum Besten wende“ (ebd., S. 51, Übers. d. V.). William Isaac Thomas (Soziologie) Der Soziologe W. I. Thomas (1863–1947) gehörte mit G. H. Mead zur Chicago Schule und damit zu den ersten Vertretern des interpretativen Paradigmas, zu dem auch die Ansätze Schütz’, Mannheims und Kleins zählen. Thomas ging davon aus, dass es einen ‚animalischen‘ Kern im Menschen gebe, um den herum sich verschiedene Schichten des Sozialen im Laufe der Menschheitsgeschichte angesammelt hätten. Den ‚biologischen Kern‘ der Geschlechterdifferenz sah er im unterschiedlichen Stoffwechsel von Männern und Frauen, ihrem unterschiedlichen Beitrag zur Fortpflanzung und dem unterschiedlichen „sexuellen Appetit“ (Thomas 1907 zit. nach Klein 1971, S. 147, Übers. d. V.). Thomas führt auf diese biologischen Grundlagen zurück, dass in frühen Stadien der Menschheitsentwicklung Sippen matrilokal organisiert gewesen seien. Erst mit vermehrter Mobilität hätten Männer aufgrund ihrer physischen – im Stoffwechsel begründeten – Überlegenheit die Vorherrschaft in der Gruppe erlangt: „Despotismus, Kasten, Sklaverei und die Unterwerfung der Frauen sind chronische Ausdrücke dieses Unterfangens“ (Thomas 1907, S. 93 zit. nach Klein 1971,

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3 Moderne Zeiten

S. 147, Übers. d. V.). Die von Thomas angenommenen körperlichen Unterschiede seien dann auch als Organisationsprinzipien auf die Arbeitsteilung angelegt worden. Männer hätten sich mehr in Arbeiten betätigt, die Kraft, Gewalt und Schnelligkeit verlangten (v. a. Krieg und Jagd), während Frauen sich mehr den ausdauernderen und dem Haus näheren Tätigkeiten zugewandt hätten. Die physischen Unterschiede seien dabei durch weitere Motive überlagert worden: „Primitive Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern war nicht eine Anordnung, die von den Männern diktiert wurde, sondern eine Gewohnheit, in die sowohl Männer als auch Frauen verfielen – anfangs durch ihre Unterschiede in der Organisation (…). Es gibt darüber hinaus eine Tendenz, dass sich Gewohnheiten stärker verfestigen als inhärent erforderlich – ein Mann, der irgendeine Frauenarbeit tut, wird nicht nur von Männern verachtet, sondern auch von Frauen“ (Thomas 1907, S. 140 zit. nach Klein 1971, S. 149, Übers. d. V.). Die menschlichen Bedürfnisse nach Regulationen und sozialer Stabilität, so liest Klein Thomas, führen dazu, dass sich Gewohnheiten einschleifen. Diese Gewohnheiten werden in dem Sinne zur Sitte, als ihre Einhaltung belohnt und Abweichungen davon sanktioniert werden. Aus den eingelebten Sitten und Gebräuchen folgt dann die ‚passende‘ Interpretation der Welt, d. h. es kommt zu sozial geteilten ‚Definitionen von Situationen‘. Nicht natürliche Faktoren, sondern die Wahrnehmung und Bewältigung von Situationen liegen der menschlichen Tätigkeit zugrunde und deshalb sehe Thomas in der sozial geteilten Definition der Situation eine zentrale Bedingung, die menschliches Zusammenleben erst ermögliche. Damit sei er dem wissenssoziologischen Ansatz Mannheims und Kleins recht nah. Wie diese betonte er, dass es nicht so sehr darauf ankomme, ob die jeweilige Definition ‚richtig‘ sei, vielmehr gelte: „if men define situations as real, they are real in their consequences“ (Thomas/Thomas 1928, S. 572; sogenanntes ‚Thomas-Theorem‘). Auf Kleins Gegenstand bezogen bedeutet das dann, wenn Frauen als ‚passiv und schutzbedürftig‘ definiert werden, sie in der Konsequenz so behandelt werden und damit die Definition Wirklichkeit wird. Solche Interpretationen werden an die nächste Generation weitergegeben, „auf eine Weise, die es nahezu unmöglich macht, die Situation anders wahrzunehmen“ (Klein 1971, S. 149, Übers. d. V.). Thomas ging davon aus, dass in frühen Zeiten Männern zugewiesen wurde, die Gemeinschaft vor kriegerischen Übergriffen und wilden Tieren zu schützen. Diese Tätigkeiten seien als die überlebenswichtigeren wahrgenommen und entsprechend gewürdigt worden, so dass Frauen Männer noch weiter dazu ermutigten, sich nur mit solchen (hoch bewerteten) Arbeiten zu befassen (Thomas 1907, S. 133 zit. nach Klein 1971, S. 150). Dabei habe sich mit der Zeit die Wertung männlicher Tätigkeit verfestigt und von ihren ursprünglichen Arbeiten gelöst: „Es ist interessant festzustellen, dass das soziale Ansehen der männlichen Arbeit (…) nach wie vor besteht, obwohl weder Löwen uns bedrohen, noch versteckte Feinde hinter Straßenecken lauern, und ein Großteil an Männer-Arbeit unaufregende, monotone Routinetätigkeit ist. Das Prestige, das in der frühen Gesellschaft mit der Qualität der Arbeit verbunden war, ist nun mit der überlegenen gesellschaftlichen Stellung von Männern verknüpft“ (Klein 1971, S. 151, Übers. d. V., Herv. i. O.). Thomas nahm an, dass die Produktion von Nahrungsmitteln und anderen Gütern zunächst von Frauen übernommen wurde, im Laufe der Jahrhunderte durch die Bedeutungszunahme der Produktion jedoch auf Männer übergegangen sei. Dies führte für Thomas zu dem, was

3.4 Ein anderer Denkrahmen für Geschlecht

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man zu seiner Zeit als ‚Weiblichkeit‘ wahrgenommen habe: Frauen seien nun ökonomisch abhängig von Männern und würden in höheren Gesellschaftsschichten darauf reduziert, diesen gefällig zu sein. Das habe sich jedoch nicht in allen Bereichen durchgesetzt: „Die schwere, starke, ausdauernde, geduldige, oft dominante Art, die man häufig in den unteren Klassen findet, wo allein Frauen immer noch wirtschaftlich betriebsam sind, ist wahrscheinlich ein gutes Beispiel dafür, wie die Frauen unserer Ethnie waren, bevor sie vom Mann auf einen Zustand des Parasitismus reduziert wurden, die in unseren mittleren und sogenannten höheren Klassen ihr körperliches, geistiges und moralisches Leben einschneidend beeinflusst hat“ (Thomas 1907, S. 231 zit. nach Klein 1971, S. 152, Übers. d. V.). Indem bereits Mädchen auf diese Art zu leben hin erzogen werden, wird die Wirkung vorgegebener Interpretationen von ‚richtiger Weiblichkeit‘ noch einmal verstärkt. Thomas ging davon aus, dass alle Unterschiede, die zu seiner Zeit zwischen Männern und Frauen in Hinsicht auf Verhalten und Intellektualität existierten, auf unterschiedliche Zugänge zu Wissensund Tätigkeitsbereichen zurückzuführen seien. Damit zeigte er auf, was Simmel nicht durchbuchstabiert hat: Wie die Begrenzung sozialer Kreise erst zu dem führt, was dann als ‚naturhafte‘ Weiblichkeit interpretiert wird. Er betonte aber auch an dieser Stelle, dass dies nicht nur durch die männliche Unterdrückung von Frauen aufrecht gehalten werde, sondern auch tief verankerte Gewohnheiten bei Frauen seien. So sei Bescheidenheit als weibliches Attribut von ihnen so internalisiert worden, dass die Eroberung geistiger Freiräume ihnen bereits als Anmaßung und Unbescheidenheit erscheinen müsse. Eine andere ‚moralische‘ Dimension sind negative Eigenschaften, die als ‚weibliche‘ gelten. Hier führte Thomas beispielsweise die List an: Diese sei weder bei Frauen noch bei Juden eine ‚natürliche Eigenschaft‘, sondern ein Verhalten, das daraus resultiere, dass diese Bevölkerungsgruppen „von Anerkennung und Teilhabe“ ausgeschlossen werden (Thomas 1907, S. 271 zit. nach Klein 1971, S. 155, Übers. d. V.). Viola Klein kritisiert, dass Thomas die Rolle von Religionen (insbesondere des Christentums), sexuellen Tabus und Fruchtbarkeitszauber nicht beleuchtet habe und seine biologischen Grundannahmen teilweise überholt seien. Insgesamt jedoch würdigt sie Thomas’ Ansatz als ein soziologisches Konzept, an das sich wissenssoziologisch gut anschließen lasse und das die Richtung weise, in der weitere Studien zur Erhellung der Frage, was ‚Weiblichkeit‘ sei, anschließen sollten. Gibt es ‚den weiblichen Charakter‘? Nach der Analyse der einzelnen oben genannten Konzepte fasst V. Klein die verschiedenen Eigenschaften, welche die einzelnen Wissenschaftler/innen als weibliche sehen, zusammen: Die Liste zeigt nur wenige Übereinstimmungen und führt dafür umso mehr verschiedene Charakterzüge auf. Klein resümiert, dass mit jedem weiteren Konzept, das man in die Untersuchung einbeziehen würde, immer neue sogenannte ‚weibliche‘ Eigenschaften hinzukämen – ‚den‘ Geschlechtscharakter inhaltlich zu bestimmen, ist also nicht möglich. Diese Gegensätze in den Weiblichkeitsvorstellungen nähmen durch die zeitliche Varianz noch weiter zu. Damit weist sie auf, inwiefern die sozio-historischen Verhältnisse bedingen, welches Wissen als ‚das richtige‘ gilt. Das entscheidende Ergebnis, dass sich aus dieser variationsreichen Auflistung schließen lasse, sei, dass die Vorstellung verbreitet ist, es gäbe ‚eine Weiblichkeit‘, die sich als eine Summe (irgendwie gearteter) psychologischer Eigenschaften fassen lassen müsse – wie und womit auch immer man sie fülle (Klein 1971, S. 168).

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In einem kursorischen Überblick von Aristoteles bis Nietzsche zeigt sie – ein halbes Jahrhundert bevor das wieder systematisch verfolgt wird (z. B. von Laqueur 1992) – den Weg vom Modell der Weiblichkeit als defizitärer Männlichkeit zum Modell der zwei entgegengesetzten Geschlechter auf. Nun (im 20. Jahrhundert) sieht sie ein neues Modell entstehen: Menschen würden nicht mehr als zwei in sich konsistente und einander entgegengesetzte Gruppen gefasst, sondern es werde verstärkt der Pluralität von Persönlichkeiten und menschlichen Eigenschaften Rechnung getragen. Das bedeute, dass in dieser dritten Phase Geschlecht in seiner Bedeutung zurücktrete – ein Gedanke, dessen Renaissance wir aktuell erleben (vgl. Kap. 9.5 und 9.6). Von den Einflüssen, unter denen sich die Persönlichkeiten ausbildeten, „ist Geschlecht nur eines. Soziale Klasse, religiöser Hintergrund, Alter, Hautfarbe, Berufung, familiäre Beziehungen, Früherziehung, Gelegenheiten zur Entwicklung, soziale Traditionen und Konventionen, individuelle physische und psychologische Dispositionen sind andere“ (Klein 1971, S. 170, Übers. d. V.). Angesichts dieser Vielfalt sozialer Dimensionen mache es keinen Sinn, anzunehmen, man könne ein Konzept von Weiblichkeit erarbeiten, in dem Eigenschaften empirischer Frauen aufgingen. Diejenigen als ‚weiblich‘ verstandenen Eigenschaften, die in mehreren – wenn auch eben nicht bei allen – der von ihr untersuchten Konzepte aufgeführt werden, betrachtet Klein nun noch in Bezug auf einen weiteren Aspekt. Sie fragt, inwiefern die Zuschreibung und Wahrnehmung dieser Eigenschaften ein Ergebnis von Herrschaftsverhältnissen seien. Sie regt an, das hierarchische Verhältnis in den Geschlechterbildern wie auch das Verhältnis empirischer Männer und Frauen mit den Verhältnissen zwischen anderen dominanten und benachteiligten Gruppen zu vergleichen. Exemplarisch zeigt sie an einzelnen Studien auf, inwiefern Weiblichkeitsbilder Bildern von Immigranten, Juden, Konvertiten, Farbigen etc. ähneln. Benachteiligte Gruppen würden bspw. stets ihrer jeweiligen Klassifikation bewusst gemacht werden: Sie sind nicht einfach Arbeiter, Ärzte oder Banker, sondern arbeitende Frauen, jüdische Ärzte oder farbige Banker. Indem sie in Interaktionen immer wieder auf diese Klassifikation verwiesen werden, entstehen erst in der (Selbst)Wahrnehmung die Gemeinsamkeiten der Gruppe(n). Verschiedene als ‚weibliche Eigenschaften‘ aufgeführte Verhaltensmuster ließen sich so durch Hierarchisierungen und Benachteiligungen erklären, die nicht nur im Verhalten der Benachteiligten Folgen zeitigten, sondern vor allem in der Wahrnehmung durch die herrschenden Gruppen. Auch Ellis’ Annahme, (die wir schon ähnlich bei Simmel fanden), Frauen seien mehr durch ihr Geschlecht bestimmt als Männer, während diese mehr „Individuen“ seien, wird von ihr damit erklärt, dass Benachteiligte mehr als Mitglied dieser Gruppe und weniger als Individuen wahrgenommen werden (ebd., S. 172 ff.). Auch dieser Gedanke wird uns Jahrzehnte später wieder begegnen.

3.4.5

Zusammenfassung: Geschlecht als Gegenstand sozialen Wissens

Die Klassiker, die wir in den vorausgegangenen Kapiteln (2.2 und 3.1) vorgestellt haben, hatten sich intensiv mit Fragen der sozialen Differenzierung und der gesellschaftlichen Entwicklung hin zur und in der Moderne befasst. Die zu ihrer Zeit aktuelle „Frauenfrage“ wurde in diese Betrachtungen eingefügt, wobei sie mehr oder weniger Raum einnahm. Geschlecht geriet immer (nur) dort in den Blick, wo es um Frauen ging: Fortpflanzungsfunktionen und/oder Sexualität wurden dabei – mehr oder weniger beabsichtigt – zu Begründungen für soziale Unterschiede zwischen Frauen und Männern. Auffällig war, dass die eigene theoretische Linie oft verlassen wurde, wenn ‚Geschlecht‘ (Frauen) thematisch wurde(n) und statt-

3.4 Ein anderer Denkrahmen für Geschlecht

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dessen eine Naturalisierung einsetzte, die dem eigenen soziologischen Ansatz nicht entsprach. Bei den jetzt vorgestellten Theoretiker/innen finden wir dies nicht. G. H. Mead und A. Schütz befassen sich in ihren Theorie-Entwürfen zwar nicht explizit mit Geschlecht. Dennoch sind ihre Fragestellungen nicht geschlechtsblind: Sie erklären nicht etwas ‚männliches‘ zu einem ‚allgemeinmenschlichen‘ Gegenstand, so dass Frauen ‚gesondert‘ behandelt werden (müssten). Vielmehr beziehen sich Meads, Schütz’ und Mannheims Konzepte auf grundlegende Prozesse zum Aufbau sozialer Wirklichkeit, die jenseits von Geschlecht zu verorten sind. In ihren Ansätzen ist die Offenheit für einen soziologischen Zugang zur Kategorie Geschlecht systematisch angelegt. Damit bieten sie einen anderen Rahmen, um Geschlecht in soziologische Denkgebäude einzubauen. Nur wenig später wurden die Möglichkeiten, ‚Geschlecht‘ neu zu denken, intensiv genutzt. Sie werden uns in den 1960er und 70er Jahren als Gegenbewegung zu den vorherrschenden, auf Comte, Weber und Durkheim aufbauenden Konzepten der ‚Geschlechtsrolle‘ wieder begegnen. G. H. Mead entwickelte mit seiner Theorie symbolisch vermittelter Interaktion jene grundlegende Konzeption von Intersubjektivität, in der mit Kommunikation und Perspektivenübernahme als wechselseitig aufeinander angewiesene Prozesse auch die Herausbildung von Identität einhergeht. Der Mensch lernt, sich aus der Perspektive anderer zu betrachten und erwirbt im selben Zuge die Kompetenz, das Verhalten anderer zu antizipieren. Bei dem phänomenologischen Ansatz A. Schütz’ ist genau dies die entscheidende Komponente: Der Mensch geht davon aus, dass sein Gegenüber ebenso mit Bewusstsein ausgestattet ist und an seiner Stelle die Dinge ebenso wahrnehmen kann. Im gemeinsamen Erleben und Abgleichen der Situation mit früheren Situationen, mit der intersubjektiven Validierung der Situation gewinnt der Mensch eine Sicht auf die Welt, die er nun als ‚die Wirklichkeit‘ erfasst – diese sozial entstandene Wahrnehmung ist dann seine „natürliche Weltanschauung“. Die Wirklichkeit ist insofern eine „objektive“, als sie widerständig sein kann – dies trifft auf Gegenstände (wie Häuser oder Bäume) nicht mehr zu als auf Interaktionen und Wahrnehmungen bzw. menschliche Gegenüber und Verhaltensmuster. Auch K. Mannheim und V. Klein erfassen ‚Wirklichkeit‘ als Produkt menschlichen Miteinanders. Sie fokussieren auf die unterschiedlichen Weltanschauungen, die sie (u. a.) als Ideologien erforschen. Mit der „dokumentarischen Methode“ wird von Mannheim die soziale Bedingtheit der Wissensbestände systematisch ins Zentrum der Aufmerksamkeit gestellt: Soziologische Forschung bedeutet für ihn, die soziohistorischen Bedingungskontexte zu untersuchen, unter denen die Bedeutungen, die wir Dingen zuweisen, entstanden sind. An dieser Stelle setzt auch V. Klein ein und betont die Bedeutung dieser sozialen Bedingungen auch für die Analyse sog. menschlicher Eigenschaften und Persönlichkeitsmerkmale. Gemeinsamkeiten dieser Perspektiven liegen darin, dass sie sich systematisch mit dem Aufbau sozialer Wirklichkeit(en) befassen und die Bedingungen des Menschseins hier verorten. Damit eröffnen sie neue Möglichkeiten, mittels des Sozialen auch ‚Geschlecht‘ zu untersuchen. Geschlecht wird in diesen Konzepten nicht auf Fortpflanzungsfunktionen reduziert, so dass auch keine über diese vermittelte Naturalisierung von Geschlecht Einzug hält. Auch wenn Mead und Schütz ihre grundlegenden Konzepte ebenso wenig an Geschlecht wie an anderen empirischen Gegebenheiten durchgespielt haben, ist bei beiden nichtsdestotrotz angelegt, die Geschlechterdifferenz als Ergebnis der von ihnen explizierten Prozesse zu erfassen. Weder werden von ihnen ‚naturbedingte‘ Grenzen der Emanzipationsbewegungen und des erlebten sozialen Wandels (Tönnies) gesteckt, noch werden Funktionserfordernisse der Gesellschaft (Comte, Durkheim) als Erklärung der sozialen Ungleichheit herangezogen.

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3 Moderne Zeiten

Kein „weibliches Wesen“ (Simmel) und auch keine romantisch verklärte „Bestimmung der Frau“ werden einer möglichen Angleichung der Geschlechter entgegengesetzt. Ob und wie physiologische Unterschiede zwischen den Geschlechtern eine Rolle spielen, wird offen gelassen, bzw. als (bisher) nicht beantwortbar verstanden. (Allein) die sozialen Dimensionen des „gender“ (Schütz) sind in der Anlage dieser Konzepte die entscheidenden Erklärungsmuster für die zu ihren Lebzeiten aktuelle Lage. Auch die Beschäftigung K. Mannheims mit dieser Frage ist auf wenige Aspekte reduziert, wobei von ihm Ergebnisse aus V. Kleins Untersuchungen einbezogen werden. Entscheidendes Element zur Erklärung von Unterschieden ist bei ihm die soziale Ungleichheit: Die Dominanz von Männern gegenüber Frauen sowohl als soziale Gruppen als auch in der ehelichen eins-zu-eins-Beziehung führt dazu, dass das, was Frauen für Männer seien sollen, zu Ideologien ausgeformt und durchgesetzt wird. Exemplarisch nimmt er hier die Ideologie der Häuslichkeit und Ideologien zur Sexualität und Liebe in den Blick. Eine potentielle Bedeutung physiologischer Unterschiede zwischen Männern und Frauen tritt vollständig zurück. Viola Klein schließt in ihren Analysen einerseits an Mannheims Wissenssoziologie an, andererseits aber auch an die von ihr ausführlich dargestellten Untersuchungen von W. I. Thomas. Dieser ließ biologische Unterschiede nur als Erklärung für früheste Entwicklungen des Menschen gelten. Auch für V. Klein besteht die Grundannahme, dass physiologische Differenzen bestehen und auch einen Effekt haben (können). Diese werden jedoch nicht als Erklärung für soziale Unterschiede, soziale Ungleichheit oder die empirischen Verhältnisse zwischen den Geschlechtern in der Moderne herangezogen. Es sind aus ihrer Perspektive vielmehr hierarchisierende Ideologien zu Geschlechtern, Sexualität und Liebe, eingewöhnte Verhaltensweisen, Frauen- und Männerbilder etc., welche Situationen, „Persönlichkeiten“ und Wissensbestände schaffen und physiologische Konstitutionen des Menschen weitgehend überlagern. Wissensbestände, Situationsdefinitionen und ‚Eigenschaften‘ sind zwar sozial verfestigt, aber sie sind vor allem sozio-historisch gewordene und daher veränderliche. Klein geht in ihrer Beschäftigung dann auch noch einen Schritt weiter. Sie fragt, inwiefern man von ‚der Weiblichkeit‘ sprechen könne. Sie geht davon aus, dass auch wissenschaftliche Ideen mit dem Anspruch auf Objektivität sozial und historisch bedingt sind. Sie schaffen eher Realität als diese abzubilden. Bereits die Annahme, dass es ‚Weiblichkeit‘ gebe, ist eine in solchen Konzepten geschaffene Vorstellung, und nicht eine Abbildung vorsozialer Wirklichkeit. Geschlechterunterschiede, so zeigt sie, sind in diesen Konzepten so unterschiedlich und vielfältig angedacht, dass sie vielmehr durch die sozialen und biographischen Standorte der Denker/innen als durch den Gegenstand des Denkens (empirische Frauen und Männer) erklärt werden können. Bereits sie regt daher an, weiter zu untersuchen, inwiefern empirisch konstatierte Unterschiede darauf zurückgeführt werden können, dass Männer und Frauen unterschiedlich wahrgenommen werden. Wenn solche Unterschiede Ergebnis sozialer Herrschaftsverhältnisse und unterschiedlicher sozialer Teilhabe sind, dann müssen sie sich als historisch und innerhalb von Geschlechtergruppen variabel herausarbeiten lassen. Die hier vorgestellten Ansätze wurden später aufgegriffen, um sich ‚Geschlecht‘ in einem soziologischen Zugang zu nähern. In den nächsten Jahrzehnten geraten sie allerdings zunächst ins Hintertreffen.

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Vertiefende Literatur: • • • •

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Aboulafia, Mitchell, Was George Herbert Mead a Feminist? in: Hypatia, Special Issue: Feminism and Pragmatism 8(2) (1993), S. 145–158. Gerhard, Ute, Illegitime Töchter. Das komplizierte Verhältnis zwischen Feminismus und Soziologie, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie. Sonderheft 38 (1998), S. 343–382. Gerhard, Ute et al. (Hrsg.), Klassikerinnen feministischer Theorie. Band 1: (1789–1919), Königstein/Taunus 2008. Gerhard, Ute, Feministische Perspektiven in der Soziologie. Verschüttete Traditionen und kritische Interventionen, in: Söffner, Georg (Hrsg.), Transnationale Vergesellschaftungen. Verhandlungen des 35. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Frankfurt am Main 2010, Wiesbaden 2012, im Erscheinen. Kettler, David, Volker Meja, Their ‚own peculiar way‘: Karl Mannheim and the rise of women, in: International Sociology 8(1) (1993), S. 5–55. Knapp, Gudrun-Axeli, Kritische Theorie. Ein selbstreflexives Denken in Vermittlungen, in: Becker, Ruth, Beate Kortendiek (Hrsg.), Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung. Theorie, Methoden, Empirie, 3. Aufl., Wiesbaden 2010, S. 190–200. Kuhn, Annette (Hrsg.), Die Chronik der Frauen, Dortmund 1992. Meuser, Michael, Geschlecht und Männlichkeit. Soziologische Theorie und kulturelle Deutungsmuster, Wiesbaden 2006. Nave-Herz, Rosemarie, Die Geschichte der Frauenbewegung in Deutschland, Opladen 1994. Sydie, Rosalind A., Natural women, cultured men. A feminist perspective on sociological theory, Vancouver 1994. Wagner, Leonie, Nationalsozialistische Frauenansichten. Vorstellungen von Weiblichkeit und Politik führender Frauen im Nationalsozialismus, Frankfurt am Main 1996. Wobbe, Theresa, Wahlverwandtschaften. Die Soziologie und die Frauen auf dem Weg zur Wissenschaft, Frankfurt am Main (u. a.) 1997. Wobbe, Theresa et al. (Hrsg.), Die gesellschaftliche Verortung des Geschlechts. Diskurse der Differenz in der deutschen und französischen Soziologie um 1900, Frankfurt am Main/New York 2011.

Denkanstöße und weiterführende Fragen: Viola Klein hat mit ihrer Arbeit massive Ressentiments ausgelöst. Obwohl sie ein fundiertes und durchdachtes Buch geboten hat, wurde es zu ihrer Zeit kaum gelesen. Heutzutage empfinden wir das als ‚ihrer Zeit voraus‘, dabei hatte 150 Jahre vor ihr und über 200 Jahre vor uns Theodor G. von Hippel ganz ähnliche Gedanken skizziert. Er hatte gegen Rousseau und Kant argumentiert. • Wo bestehen Ähnlichkeiten in den Argumentationen von v. Hippel und V. Klein, wo weichen sie voneinander ab? • Welche Parallelen und Unterschiede sehen Sie in den jeweiligen Denkhorizonten, vor deren Hintergrund Hippel und Klein ihre Argumentation entfalten? • Inwiefern haben sich die Positionen, gegen die v. Hippel und V. Klein argumentiert haben, heute in dem, was z. B. in den Medien über Geschlecht verbreitet wird, verändert? Oder sind es noch die gleichen?

108 •

3 Moderne Zeiten Wenn Sie sich heutige Zeitungs- oder Zeitschriftenartikel, die Geschlechterunterschiede thematisieren, anschauen, inwiefern können Sie V. Kleins Argumentation hier fruchtbar machen?

4

Die Idee der „Geschlechtsrollen“

Kapitelvorschau Es wird die Karriere eines Begriffs in der Öffentlichkeit und in der Soziologie nachgezeichnet. 1. In der Kulturanthropologie fällt die kulturelle Vielfalt auf, wie Geschlechtszugehörigkeit sozial relevant wird und was jeweils als ‚Geschlechterunterschied‘ gilt. 2. Parsons entwickelt ein Konzept der Aufgabenteilung in der Familie, mittels dessen er die Geschlechtertrennung als funktional notwendige Differenzierung erklärt. Das bleibt nicht unwidersprochen. 3. Zeitgleich zu der Entstehung und Verbreitung des Begriffs der ‚Geschlechtsrolle‘ entwickelt sich eine ganz andere Vorstellung von Geschlecht, die auf Mead, Schütz und Mannheim zurückgreift. Kaum ein sozialwissenschaftlicher Begriff hat eine derartige Verbreitung gefunden wie der Begriff der „sozialen Rolle“ und kaum ein Begriff die öffentliche Thematisierung von Geschlecht so geprägt wie der Begriff der „Geschlechtsrolle“. Diese Entwicklung ist erklärungsbedürftig, denn sie lässt sich nicht einfach auf einen innerwissenschaftlichen Prozess in der Soziologie zurückführen. Die Karriere des Rollenbegriffs begann im Amerika der 1930er Jahre in der Kulturanthropologie. In Deutschland verbreitete sich der Begriff erst nach dem zweiten Weltkrieg. In der Soziologie der BRD war er zunächst durchaus umstritten, in der DDR wurde er als ,bürgerlich‘ abgelehnt. In der Sozialpsychologie war der Begriff dagegen sehr bald etabliert und auch in der medialen Öffentlichkeit (Zeitungen, Zeitschriften, Rundfunk, Buchveröffentlichungen) wurde er vergleichsweise schnell aufgenommen. Wenn nun ein Begriff auf diese Weise in die Umgangssprache und auch in andere Wissenschaften wie z. B. die Pädagogik, Psychologie oder Ökonomie einwandert, dann verwundert es nicht, dass sich unterschiedliche Begriffsbestimmungen ausbilden und er auch unterschiedlich verwendet wird. Die diversen Bestimmungen und Verwendungen wirken wiederum auf die Soziologie zurück. Es entsteht damit eine hochkomplexe Gemengelage, die vor allem Verwirrung stiftet. Bezogen auf unseren Gegenstand werden wir uns dieser Gemengelage mit zwei Fragekomplexen nähern: 1. Die in der „Frauenfrage“ (vgl. Kap. 3.1.1) angesprochenen Probleme waren auch nach dem Krieg nicht gelöst. Zwar war die rechtliche und politische Situation verbessert (Wahlrecht), aber die ökonomische und soziale Situation blieben problematisch. Dennoch verschwand die „Frauenfrage“ aus der (medialen) Öffentlichkeit. Stattdessen kam zunehmend der Begriff der „Geschlechtsrolle“ in Gebrauch. Was hat diese Veränderung bewirkt? 2. Wie hat die Entwicklung in der Soziologie ausgesehen und in welcher Weise wird der Rollenbegriff auf „Geschlecht“ bezogen?

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4.1

4 Die Idee der „Geschlechtsrollen“

Historische Kontexte: Von der Frauenfrage zu Geschlechtsrollen

Die deutsche Nachkriegszeit war eine Zeit des Wiederaufbaus, des sogenannten „Wirtschaftswunders“ aber auch der „Geschichtsvergessenheit“: Eine Auseinandersetzung mit der jüngsten Vergangenheit, der Verfolgung und Vernichtung von Juden und Anders-Denkenden zur Zeit des Nationalsozialismus, des von Deutschland verursachten zweiten Weltkriegs etc. fand in dieser Zeit nicht statt (Mitscherlich/Mitscherlich 1967). Erst in der nächsten Generation erfolgte eine Auseinandersetzung mit diesen Themen und damit auch eine Auseinandersetzung mit der Elterngeneration (vgl. Kap. 5.1). In der Nachkriegszeit war die „Frauenfrage“ kein Thema von Bedeutung, obwohl die Lage vieler Frauen in Deutschland durchaus prekär war. Väter, Ehemänner und Söhne waren gefallen, in Gefangenschaft geraten, durch Kriegsverletzungen krank oder arbeitsunfähig, so dass oftmals Frauen die Familien ernähren mussten. In der kriegsbedingten Abwesenheit der Männer waren sie aber zugleich selbständiger und auch selbstbewusster geworden, ihre Vorstellungen über und Ansprüche an Beziehungen (zu Männern) hatten sich verändert – ebenso die zurückkehrenden Männer. In der Folge stiegen die Scheidungszahlen in den Jahren nach Kriegsende zunächst stark an. Ein weiteres Problem war, dass es für die damals jungen Frauen im heiratsfähigen Alter nicht genügend Männer gab. Die Heiratschancen standen schlecht, aber die Option, berufstätig und alleinstehend zu leben, war sozial noch kaum ausgebildet (zur Nachkriegssituation vgl. Sommerkorn 1988). Vor allem in den sich wirtschaftlich stabilisierenden westlichen Bundesländern begann man von politischer Seite aus relativ bald, Ehe und Familie als Institutionen zu restabilisieren und die „verlorengegangene Sittlichkeit und Wohlanständigkeit“ (vgl. Born et al. 1996, S. 67) wieder herzustellen. Gleichzeitig wurde im Grundgesetz der neu gegründeten Bundesrepublik im Artikel 3 der Passus aufgenommen: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“. Auch in der DDR wurde die Gleichberechtigung in der Verfassung verankert. Bemühungen, Frauen erneut auf die Familie zu verpflichten, waren oberflächlich betrachtet durchaus erfolgreich. Heirats- und Geburtenziffern stiegen, Scheidungsquoten und die Quote unehelicher Geburten fielen in den 1950er und 60er Jahren wieder ab. Die durchschnittliche Kinderzahl je Frau war in der Nachkriegszeit auf unter 2 Kinder gesunken, stieg dann in den 50er Jahren aber rasch an und erreichte 1965 einen Höhepunkt mit ca. 2,5 Kindern („BabyBoom“). Aus heutiger Sicht stellen sich die 50er und beginnenden 60er Jahre als eine Zeit der Restauration dar, in der familienbezogene Lebensmodelle und die sog. ,Hausfrauenehe‘ in einer historisch einmaligen Weise zumindest als Leitbild in allen Bevölkerungsschichten durchgesetzt war. Im Westen Deutschlands galt die ,berufstätige Mutter‘ als Problem, das ,Schlüsselkind‘ als Inbegriff der Verwahrlosung und Fremdbetreuung in Kinderkrippen als Gefahr für die kindliche Entwicklung. Sachliche Untersuchungen dazu gab es kaum (z. B. Pfeil 1961). Alleinstehende Frauen galten als „sitzengeblieben“, eine Erwerbstätigkeit von Frauen war grundsätzlich nur aufgrund ökonomischer Notwendigkeit akzeptiert. In der DDR sah man zwar in der Erwerbstätigkeit eine Chance für die Emanzipation der Frauen, doch auch hier blieb die Haus- und Familienarbeit in ihrer Zuständigkeit. Entgegen diesem Ideal-Bild einer einseitig und ausschließlich auf Familie bezogenen Lebensperspektive von Frauen, war die Berufsorientierung jedoch bereits bei den um 1930 geborenen Frauen vergleichsweise hoch, die Erwerbstätigkeit verheirateter Frauen und Müt-

4.1 Historische Kontexte: Von der Frauenfrage zu Geschlechtsrollen

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ter nicht allein ein Phänomen unterer Sozialschichten und auch die Problematik einer Vereinbarkeit von Beruf und Familie war nicht wenigen Frauen dieser Generation vertraut (Born et al. 1996). Aber zwischen dem faktischen Verhalten dieser Frauen (erwerbstätig zu sein) und ihrer Selbstthematisierung (familienorientiert zu sein) bestand eine große Diskrepanz: „Sozialer Wandel kommt hier (…) auf Samtpfoten daher, macht hinter der der Familie zugewiesenen Bedeutung die Erwerbsarbeit weitgehend unsichtbar“ (ebd., S. 281). Dennoch haben diese „Samtpfoten“ für die Töchtergeneration Spuren gelegt, die ihnen höhere Bildungsabschlüsse sowie generell eine selbstbestimmtere Lebensform ermöglichten. Dieses aus den Lebensverläufen von Frauen gewonnene Bild wird zusätzlich abgestützt, wenn man sich einige Entwicklungen in den 1950er und 60er Jahren vergegenwärtigt: In der Wirtschaft entwickelte sich in den sog. ,Wirtschaftswunder-Jahren‘ ein massiver Bedarf an Arbeitskräften. Nicht zuletzt durch Einrichtung von Teilzeitarbeitsplätzen wurden nun auch verheiratete Frauen und Mütter in die Erwerbsarbeit gelockt. Es entstanden regelrechte Frauenarbeitsbereiche (z. B. in der Textil- und Elektroindustrie). Hinzu kamen die ‚klassischen‘ Frauenberufe in Büro und Verwaltung sowie als Erzieherin, Krankenschwester, Hebamme, Fürsorgerin etc. In diesen Bereichen war die Erwerbstätigkeit von Frauen zumindest vor der Heirat bereits seit längerem selbstverständlich und sie boten nun zunehmend auch für verheiratete Frauen Erwerbsmöglichkeiten. Im Zuge der technischen Entwicklungen veränderten sich die häuslichen Arbeiten: Waschmaschine, Küchengeräte, Staubsauger erleichterten und beschleunigten die Hausarbeit. Viele Aufgaben, die ehemals ausschließlich in der Familie verortet waren, werden im Zuge des Ausbaus des Sozialstaats zunehmend durch andere Einrichtungen übernommen, z. B. Altersversorgung durch Rentenkassen, Krankheitsbehandlung durch das öffentliche Gesundheitssystem, Übernahme von Erziehungsaufgaben durch Kindergärten und Schulen, Angebote für Freizeitgestaltung oder auch die Versorgung älterer Menschen in Alters- und Pflegeheimen. Diese Einrichtungen haben Familien entlastet und Zeitfenster geöffnet. Gleichzeitig aber intensivierten sich familiale Beziehungen. Vor allem die Anforderungen an die Kinderbetreuung stiegen an, denn für viele Frauen waren Großfamilien oder Hauspersonal (z. B. Kindermädchen) nicht mehr verfügbar. Diese wenigen Stichworte zeigen bereits, dass unter der Decke des normativ durchgesetzten Familienbildes und der für diese Familienform konstitutiven Arbeitsteilung der Geschlechter eine ganze Reihe von Ungereimtheiten und Widersprüchen bestanden, die zwar noch nicht offen artikuliert wurden, aber dennoch nicht folgenlos geblieben sind. Als in Deutschland 1951 das Buch „Das andere Geschlecht“ von Simone de Beauvoir erscheint (in Frankreich 1949), in dem sie eine umfassende Analyse der Situation (weißer) Frauen in der westlichen Welt Mitte des 20. Jahrhunderts vorlegt, war die Reaktion im Unterschied zu Frankreich zunächst verhalten. In dem bekanntesten Satz des Buches: „Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es“ (1951, S. 265) weist sie alle Wesenszuschreibungen und „Natur-der-Frau“-Argumentationen als sachlich unbegründet zurück und eröffnet eine auch für sie selbst hoch-utopische Perspektive, in der Frauen ein von Männern ökonomisch und sexuell unabhängiges, selbstbestimmtes Leben führen können und als „Gleiche“ anerkannt sind. Sie eröffnet das Buch mit einem Satz, in dem sie das Thema „Frauen“ als „ärgerlich“ benennt, denn schließlich sei völlig unklar, welche Inhalte dem Wort „Frau“ entsprächen: „Was ist eine Frau?“ (de Beauvoir 1951, S. 8). In Biologie und Gesellschaftswissenschaften glaube

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4 Die Idee der „Geschlechtsrollen“

man längst nicht mehr an die Existenz von „unbeweglich fixierten Wesenheiten, aus der sich Charaktertypen wie ‚die Frau‘, ‚der Jude‘ und ‚der Neger‘ herleiten ließen“ (ebd.). Warum dann im alltäglichen Leben? Dennoch ließe sich nicht leugnen, dass es Juden, Schwarze und Frauen gibt, eine Frau sich so wenig über ihr Geschlecht hinwegsetzen könne wie ein Schwarzer über seine Hautfarbe (ebd., S. 10). Das Buch ist inzwischen zu einem der Schlüsseltexte der feministischen Bewegungen avanciert, in Frankreich wurde es in den 1950er Jahren „wie warme Semmeln“ verkauft und löste eine heftige Debatte aus. Manche bewunderten das Buch, bei vielen aber löste es Empörung aus und die Autorin wurde vielfach öffentlich angefeindet. Denn nicht nur das Buch war ein Skandal, sondern auch die Person, die es geschrieben hatte und in freier Liebe mit J. P. Sartre zusammenlebte (zur Rezeption vgl. Konnertz 2005). In Deutschland war die öffentliche Aufmerksamkeit zwar geringer, aber auch hier war Simone de Beauvoir als Lebensgefährtin von Sartre durchaus bekannt und ebenso umstritten wie ihr Partner. Buch und Person waren aber nun in der Welt und wiesen plastisch darauf hin, dass andere Lebensmodelle zumindest denkbar waren, eine „Frauenfrage“ für sich nicht existierte, sondern diese nur aus der Art der Relationierung der Geschlechter entstand. Für Teile der in dieser Zeit heranwachsenden Generation wurden Buch und Person Ende der 1960er Jahre zu einem wichtigen Bezugspunkt, um die unter der scheinbar heilen Oberfläche der Wirtschaftswunder-Jahre schlummernden Ungereimtheiten und Widersprüche aufzudecken. Auch der sog. „Kinsey-Report“ sorgte damals für kontroverse Debatten; diese 1954 (deutsch: 1954 und 1955) erschienene sozialstatistische Studie zum sexuellen Verhalten von Frauen und Männern in Nordamerika belebte auf Jahre hinaus Tages- und Wochenzeitungen. Zumindest in den USA erwiesen sich als „pervers“ angesehene sexuelle Praktiken als weit verbreitet und auch mit der ehelichen Treue nahmen es Männer und Frauen nicht allzu genau. Von vielen Befragten wurde die Frage nach homosexuellen Kontakten bejaht. Kinsey u. a. folgerten daraus, dass die hohe Variabilität sexuellen Verhaltens in der biologischen Spannweite der ‚menschlichen Natur‘ begründet sei und eine sozialmoralische Regulierung sexuellen Verhaltens dieser menschlichen Natur widerspreche. Diese Folgerung löste in Deutschland Abwehr aus (z. B. Schelsky 1955, S. 53 ff.), enttabuisierte das Thema jedoch gleichzeitig. Noch ein Jahr später (1956 [deutsch: 1960]) erschien das Buch von Alva Myrdal und Viola Klein „Women’s Two Roles: Home and Work“. Alva Myrdal, eine schwedische sozialdemokratische Feministin, hatte bereits in den 1930ern mit ihrem Ehemann zusammen ein familienpolitisches Konzept für die schwedische Regierung ausgearbeitet, das weitestgehend umgesetzt wurde. Nun – in den Fünfzigern – wollte Myrdal die Situation verheirateter Mütter in Schweden, Großbritannien, Frankreich und den USA vergleichen und trat dafür an Viola Klein heran (vgl. Kap. 3.4.4), deren quantitative Forschungen zu erwerbstätigen Frauen in Großbritannien ihr Interesse geweckt hatten. Klein und Myrdal lieferten damit die erste umfassende Studie, die das Erwerbsverhalten von Frauen beleuchtete. Kleins gründliche Auswertungen statistischer Daten, Myrdals Orientierung am schwedischen Wohlfahrtsstaatsmodell und der geteilte Anspruch, ein politisch umsetzbares Modell vorzustellen, führten zu einem Buch, das Feministinnen zu gemäßigt und der Wissenschaft zu praxisorientiert erschien. In der breiten Bevölkerung, der Tagespresse und vor allem in Frauenzeitschriften fand das Buch allerdings gerade deshalb Resonanz und wurde kontrovers diskutiert. In der Nachkriegszeit wirkte der sehr gemäßigte Feminismus noch radikal genug (vgl. Lyon 2006).

4.1 Historische Kontexte: Von der Frauenfrage zu Geschlechtsrollen

113

Myrdal und Klein argumentieren, dass erhöhte Lebenserwartung, verbesserter Lebensstandard und eine koordinierbare Familienplanung (Verhütung) zur Folge haben, dass sich die Bedeutung der „Familienphase“ im Leben der Frauen reduziere. Unter Bedingungen einer prosperierenden Wirtschaft sei es durchaus möglich, Mutterschaft und qualifizierte Berufstätigkeit zu vereinbaren. Dazu bedürfe es lediglich einer gewissen Flexibilität sowohl bei den Unternehmen als auch in den Familien. Sie entwerfen ein sog. „Drei-Phasen-Modell“, in dem eine Berufsausbildung und erste Berufstätigkeit vor der Familiengründung erfolgt, die eigentliche Familienphase auf die Aufzucht der Kinder beschränkt ist und Frauen dann in ihren Vierzigern (bzw. wenn die Kinder keine Vollzeitbetreuung mehr benötigen) erneut in den Beruf einsteigen. Diese Lösung wurde auch in Deutschland sehr bald normativ zum Programm erhoben. Auch wenn es sich empirisch so nicht hat realisieren können (Born/Krüger 1993), stellte es wichtige Weichen für eine immer selbstverständlicher werdende Berufstätigkeit von verheirateten Frauen und Müttern. Der deutsche Titel „Die Doppelrolle der Frau in Familie und Beruf“ weist zwei entscheidende Unterschiede zum englischen auf, die dem Konzept Kleins und Myrdals nicht entsprechen. Zum einen gehen die beiden Autorinnen nicht von ‚der Frau‘ aus, sondern sprechen im englischen Original immer von Frauen im Plural (und ohne direkten Artikel) und gehen auch von einer Pluralität an weiblichen Lebensentwürfen, -wünschen und nicht zuletzt -realitäten aus, wobei sie sich in ihrer Studie auf diejenigen Frauen konzentrieren, die sowohl Familie haben als auch berufstätig sein möchten. Zum zweiten wollen die Autorinnen auch nicht ‚die Geschlechtsrolle‘, sondern bestimmte Rollen, die eine bestimmte Gruppe an Frauen ausfüllen sollen und/oder wollen, in den Blick nehmen. Letzteres resultiert aus Kleins kritischer Auseinandersetzung mit Parsons’ Konzept der ‚sex-roles‘ (vgl. Kap. 4.3.2). In der Debatte um Lebensmodelle hatte die Rede von der „Doppelrolle der Frau“ bereits Ende der 1950er Jahre einen Platz gefunden, also noch bevor die „Geschlechtsrolle“ im engeren Sinne sich in der Öffentlichkeit verbreitete. Offensichtlich bot der Rollenbegriff eine griffige Metapher für beliebige Aussagen über ‚das Leben in der Gesellschaft‘. Sie entsprach der Erfahrung von Frauen und Männern, in arbeitsteilige Beziehungsgefüge gestellt zu sein und verschiedene Positionen so geschickt wie möglich kombinieren zu müssen, um für sich selbst das Optimale erreichen zu können. Zu der Verbreitung und Popularisierung des Begriffs der Rolle hat auch ein Essay von Ralf Dahrendorf mit dem Titel „Homo Soziologicus“ beigetragen, das zuerst 1958 erschien und inzwischen in der 17. Auflage vorliegt. In dem Essay diskutiert Dahrendorf vor allem Probleme, die sich aus einer Gegenüberstellung des Menschen als „Rollenträger“ mit einem als „frei“ gedachten Individuum ergeben. Damit traf er offenbar einen Nerv der Zeit. Auch wenn es von ihm selbst so nicht intendiert war, hat die durch das Essay ausgelöste Debatte um das Menschenbild dazu beigetragen, dass sich in der (medialen) Öffentlichkeit der Begriff als Metapher für die „Rollenhaftigkeit“ des Lebens in modernen Gesellschaften verselbständigen konnte. Das kam der sich ausbreitenden Rede von der „Frauen-“ und „Geschlechtsrolle“ durchaus entgegen. Diese sich ebenfalls immer stärker verselbständigende Denkfigur ermöglicht(e) es, dem gesellschaftlichen Aspekt im Leben von Frauen (und manchmal auch von Männern) Rechnung zu tragen, ohne auf eine biologische Verankerung ,des‘ Geschlechterunterschieds zu verzichten. Damit wird einerseits eine problemlose Kompatibilität zu dem sich seit dem 18. Jahrhundert entwickelnden Muster einer „Polarität der Geschlechtscharaktere“ hergestellt, andererseits aber dieses Muster nicht allein in der „Natur“ verankert, sondern für soziale Zuschreibungen geöffnet: Handeln in einer Rolle muss gelernt werden. Seit dieser Zeit

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4 Die Idee der „Geschlechtsrollen“

hat der Rollenbegriff eine „vorwissenschaftliche Relevanz“ (Gerhardt 1971, S. 17) erhalten, die vor allem in seiner ubiquitären Verwendung in den Medien zum Ausdruck kommt. Der Begriff der „Rolle“ wird bereits in den Texten einiger Klassiker (z. B. Spencer, Durkheim, Simmel) verwendet, hat dort aber noch keinen systematischen Stellenwert. Erste, in Theorieentwürfe integrierte Fassungen des Rollenbegriffs entstanden in der amerikanischen Kulturanthropologie zwischen 1930 und 1950 sowie zu Beginn des Jahrhunderts in den Arbeiten von George Herbert Mead („taking the role of the other“; vgl. Kap. 3.4.1). Aus diesen Ansätzen entwickelten sich in der Soziologie zwei sehr unterschiedliche Konzeptionen zum Begriff der „sozialen Rolle“.

4.2

Die Entdeckung der Kategorie Geschlecht im Kulturvergleich

In der amerikanischen Kulturanthropologie löste in den 1930er Jahren die „funktionale Methode“ die bis dahin dominierenden evolutionistischen Erklärungsweisen in der Nachfolge Spencers ab (vgl. Jonas 1980, S. 298 f.). Spencer hatte seiner Evolutionstheorie ein Organismusmodell zugrunde gelegt, in dem die einzelnen Teileinheiten einer Gesellschaft für das Ganze der Gesellschaft im gleichen Sinne Funktionen übernehmen wie etwa das Auge oder das Ohr für den menschlichen Organismus. Diese Organismusanalogie wird nun zunehmend zurückgewiesen, nicht aber der Gedanke der Funktionalität. An die Stelle des Organismusbegriffs tritt zunehmend der Begriff des „Systems“, der „Kultur“ oder auch der „Struktur“. Jedes kulturelle Objekt, jede Glaubenslehre, jede (wiederkehrende) Tätigkeit – z. B. die Zeremonie bei einer Eheschließung oder die Versammlung der Ältesten – könne nun daraufhin befragt werden, in welcher Beziehung sie zu dem umgreifenden Ganzen, der Struktur oder dem System einer Gesellschaft stehen und welchen Beitrag – welche Funktion – sie zu deren Erhaltung bzw. Kontinuität leisten. Die Struktur setzt also einen Zusammenhang zwischen Einheiten voraus, im Begriff der Funktion wird die Bindung der Teile an das Ganze einer Gesellschaft thematisiert. Struktur und Funktion stehen so in einer systematischen Beziehung zueinander. Im Kontext der Kulturanthropologie wird diese allgemeine Bestimmung nun vor allem im Hinblick auf die Methodik der Feldforschung weitergeführt und ermöglicht es, einzelne Phänomene in ihrem Stellenwert für den Bestandserhalt genauer zu analysieren. Anders als in der Völkerkunde des 19. Jahrhunderts geht es nicht mehr allein darum, Riten, Sitten, Religionen als solche zu beschreiben, sondern darum, deren Funktion für den Zusammenhalt des Ganzen zu bestimmen.

4.2.1

Ralph Linton (1893–1953)

Die Entwicklung der funktionalen Methode hat Ralph Linton u. a. mit der Konturierung der Begriffe „Status“ und „Rolle“ theoretisch vorangetrieben. Dieses Begriffspaar erlaubt es, von einzelnen Individuen in ihren konkreten Interaktionszusammenhängen zu abstrahieren und soziale Grundmuster zu identifizieren. Mit solchen Grundmustern, die allen Kulturen und allen Gesellschaften gemeinsam sind, wird ein „Kulturvergleich“ im engeren Sinne erst ermöglicht. Status und Rolle als analytische Begriffe zielen damit darauf ab, soziale Realität in unterschiedlichen Kulturen überhaupt erfassen zu können und nicht darauf, das reale Verhalten von Individuen in unterschiedlichen Kulturen darzustellen oder abzubilden. Entsprechend betont

4.2 Die Entdeckung der Kategorie Geschlecht im Kulturvergleich

115

Linton die Unabhängigkeit des jeweiligen kulturellen Systems von den konkreten (leibhaftigen) Mitgliedern dieses Systems. Sein Interesse ist es nicht, einzelne Statusrollen einzelner konkreter Individuen zu analysieren, sondern ihm geht es darum, diese Statusrollen als prinzipiell unabhängig von Motiven oder Neigungen der handelnden Personen auszuweisen. Die Individuen nehmen lediglich zu einer bestimmten Zeit in einem bestimmten sozialen Gefüge (System) einen bestimmten Platz als Mutter und Vater in der jeweiligen Familienform, bzw. Stammesältester oder Priesterin in der jeweiligen Gesellschaft ein. Diesen Platz definiert Linton als „Status“ oder auch als „Position“. Linton unterscheidet zwischen diesen beiden Begriffen (noch) nicht, in der weiteren Entwicklung steht dann „Position“ für den Platz, „Status“ dagegen für die Verortung des Platzes auf einer Rangskala von Prestige und Wertschätzung. Bei Linton ist der Platz oder der Status, den ein Individuum einnimmt und einnehmen kann, durch die Kultur vorgegeben und überdauert die einzelnen Individuen, die jeweils diesen Platz einnehmen. Der Status beinhaltet spezifische Rechte und Pflichten, die von dem Individuum wahrgenommen und aktiviert werden müssen. Die „Rolle“ ist insofern der „dynamische Aspekt eines Status: das, was ein Individuum tun muss, um sein Innehaben des Status zu bestätigen“ (Linton 1974, S. 67). Status und Rolle sind danach nicht voneinander zu trennen, es gibt keine Rollen ohne Status und keinen Status ohne Rollen. Im Begriff der Rolle geht es damit nicht primär um das tatsächliche Verhalten des Individuums, sondern um die erwarteten Verhaltensmuster. Der Schwerpunkt liegt damit auf der Aufdeckung der Beziehungen zwischen Individuen und ihrer jeweiligen Kultur und nicht auf der Untersuchung der (realen) Beziehungen der Individuen untereinander. Entsprechend bezeichnet der Terminus „Rolle“ die „Gesamtsumme der Kulturmuster (…), die mit einem bestimmten Status verknüpft sind. Er umfasst die Einstellungen, Wertbegriffe und Verhaltensweisen, welche die Gesellschaft sämtlichen Personen zuweist, die diesen Status innehaben“ (ebd., S. 66). In diesem Zusammenhang trifft Linton eine weitere wichtige Unterscheidung, die bis heute von Bedeutung ist: Zwar ist jeder Status mit einer bestimmten Rolle verknüpft, die verschiedenen Status aber unterscheiden sich danach, ob sie dem Individuum „zugeschrieben“ wurden („ascribed status“) – etwa aufgrund von Alter, Geschlecht oder Einheirat in bestimmte Familien – oder aber ob der Status durch den Nachweis von Fähigkeiten und Leistungen erworben wurde („achieved status“). In traditionellen Gesellschaften werden die Statusrollen mit der sozialen Herkunft überwiegend zugeschrieben, in modernen – differenzierten – Gesellschaften dagegen durch eigene Leistung erworben, da in deren Selbstverständnis der Zugang zu sozialen Positionen für alle Gesellschaftsmitglieder ‚gleich‘ ist oder sein soll. Linton geht von der Annahme aus, dass in einfachen Gesellschaften verschiedene Individuen in einem Sozialsystem den gleichen Status einnehmen und die Rolle entsprechend kennen und ausüben können – etwa den Status des „erwachsenen Mannes“ oder der „erwachsenen Frau“. Auch in einfachen Gesellschaften hat das Individuum aber i. d. R. mehr als einen Status inne und in der Ausübung der dazu gehörenden Rollen kann es zwischen den verschiedenen Anforderungen durchaus zu Widersprüchen und Konflikten kommen (z. B. „erwachsener Mann“ – „Krieger“ – „Familienoberhaupt“), die bei Linton dadurch umgangen und bewältigt werden (können), dass die verschiedenen Statuspositionen zu verschiedenen Zeiten aktiviert werden. Alles andere ist für Linton lediglich „Stoff für tragische Situationen“ (ebd., S. 69) und bevorzugtes Thema in der Literatur „höher differenzierter“ und „zur Selbstbeobachtung neigender Gesellschaften“ (ebd.). Bei ihm sind Konflikte zwischen verschiedenen Statusrollen oder Konflikte innerhalb einer Rolle noch kein wichtiges Thema. In der Weiterentwick-

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4 Die Idee der „Geschlechtsrollen“

lung des Rollenkonzepts in der Soziologie wird dagegen gerade diese Thematik der Rollenkonflikte zentral. Mit den Statuspositionen „erwachsene Frau“ und „erwachsener Mann“ ist ein weiteres Thema angesprochen, dem Linton gesondert nachgeht: den „Age and Sex Categories“ (Linton 1942). Klassifikationen nach Alters- und Geschlechts-Kategorie ließen sich in allen Gesellschaften feststellen – die Art, wie klassifiziert wird, differiere jedoch erheblich. Die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Alters-Geschlechts-Kategorie ist gewöhnlich Voraussetzung für die Übernahme sozial ausdifferenzierter Statuspositionen, wobei es Linton vor allem darum geht, dass „age-sex-categories“ eine Einheit darstellen und über die Möglichkeiten der Teilhabe an einer Kultur entscheiden: „Die Stellung des Einzelnen im Alters- und Geschlechtssystem bestimmt seine Teilhabe an der Kultur offenbar in stärkerem Maße als jede andere von ihm eingenommene Position“ (Linton, 1974, S. 64). Dabei stellt Linton heraus, dass die Universalität von „age-sex-categories“ nicht einfach biologische Fakten reflektiere, sondern eng verbunden sei mit kulturellen Faktoren. Die einzigen aus unserer Sicht vorgegebenen Eckdaten seien Geburt und Tod – und selbst hier gebe es Gesellschaften, die ungeborenem Leben oder auch den Verstorbenen einen Platz im kulturellen System einräumen. Die Anzahl der Alters-Geschlechts-Kategorien sei in verschiedenen Kulturen ebenso variabel wie die Wahl der jeweiligen Punkte im Lebenslauf, an denen Übergänge von einer Kategorie zur anderen vorgesehen sind. Hier gebe es eine erhebliche kulturelle Variation, was darauf hinweise, dass diese klassifikatorischen Systeme eine bestimmte Funktion für die Gesellschaft als Ganze haben (Linton 1942, S. 591). Linton nimmt an, dass zwar in allen Gesellschaften sieben Alters- und Geschlechtskategorien anerkannt sind (Kleinkind, Junge, Mädchen, erwachsener Mann, erwachsene Frau, alter Mann, alte Frau), darüber hinaus es aber eine Fülle weiter differenzierender Kategorisierungen gebe. Dabei – so schreibt er – unterscheiden sich Jungen und Mädchen vor der Pubertät hinsichtlich Kraft und Betätigung sehr wenig, sie wären durchaus fähig, praktisch ausnahmslos an den gleichen Kulturmustern teilzuhaben. Die getroffene Unterscheidung gehe vielmehr auf die Antizipation ihrer späteren Unterschiede als „erwachsene Frau“ und „erwachsener Mann“ zurück: Beide Geschlechter werden auf ihre jeweils spätere Statusposition hin „geschult“. Auch für alte Frauen und alte Männer gelte Ähnliches, dass sie nämlich von ihren physischen und psychischen Möglichkeiten nicht sehr verschieden seien, ältere Frauen sogar oft stärker und aktiver seien als gleichaltrige Männer. In vielen Gesellschaften sei daher für Frauen nach dem Klimakterium der Unterschied zwischen der männlichen und der weiblichen Statusrolle weniger ausgeprägt. Ihnen sei dann oft gestattet, an Zeremonien teilzunehmen, die früher für sie verboten waren oder aber in Familiengruppen wichtige Funktionen einzunehmen. Bezugspunkt für die verschiedenen Klassifikationssysteme sei zwar stets die Differenzierung zwischen „erwachsenem Mann“ und „erwachsener Frau“ und deren Positionierung im Familiensystem, aber wann dieser Übergang stattfinde, das sei kulturell außerordentlich heterogen und oft bei Frauen und Männern verschieden geregelt. So ließe sich im Kulturvergleich etwa eine Tendenz feststellen, im männlichen Lebenslauf mehr Altersgruppen zu unterscheiden als im weiblichen. Auch sei der Übergang der Mädchen in die Kategorie „erwachsene Frau“ nahezu durchgängig lebensgeschichtlich früher angelegt als der Übergang der Jungen zum „erwachsenen Mann“ und rituell weniger zu einer Statuspassage („rite de passage“) ausgebaut. Mitunter sei der Status der „erwachsenen Frau“ mit der Eheschließungszeremonie, mitunter aber auch mit der Geburt des ersten Kindes erreicht.

4.2 Die Entdeckung der Kategorie Geschlecht im Kulturvergleich

117

Alters-Geschlechts-Kategorie definieren nach Linton eine Art Koordinatensystem von Partizipationschancen und bestimmen nur in Verbindung miteinander die Kriterien, bestimmte Statuspositionen in einer Gesellschaft einnehmen zu können oder eben nicht. Eine solche Zuordnung erfolgt ohne Zutun der Individuen – sie erfolgt qua Zuschreibung („ascribed status“), bestimmt dann aber darüber, welche Statuspositionen überhaupt durch Anstrengung und Leistung erreichbar sind („achieved status“). Ist der Status z. B. der einer „erwachsenen Frau“, so schließt das in einigen Gesellschaften aus, zum Anführer eines Stammes bestimmt oder gewählt werden zu können. Linton spricht nicht von „Geschlechtsrollen“ (sex-roles), sondern von Alter und Geschlecht als sozialen Kategorien und verweist darauf, dass diese in lebenszeitlicher Perspektive ein unterschiedliches Gewicht erhalten, auch wenn sie in engem Bezug zu den Erwachsenenrollen der Geschlechter definiert werden. Diese vergleichsweise differenzierte Sicht auf „age-and-sex-categories“ wird in der Literatur zu „sex-roles“ im weiteren Verlauf zunächst ebenso wenig aufgegriffen wie die Trennung von Struktur- („status“) und Handlungsaspekt („role“). Stattdessen wird „sex-role“ sehr breit definiert, umfasst sowohl gesellschaftliche Erwartungen über die Art der Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern als auch Bündel von Erwartungen zu geschlechtsangemessenen Charaktereigenschaften, Neigungen, Fähigkeiten und Verhaltensweisen oder – noch etwas vager – Erwartungen dazu, als Mann „männlich“ und als Frau „weiblich“ zu sein.

4.2.2

Margaret Mead (1901–1978)

Sehr viel öfter als auf Lintons age-sex-categories wird in der Diskussion um „sex-roles“ auf eine frühe Studie der Kulturanthropologin Margaret Mead zurückgegriffen: „Sex and Temperament in Three Primitive Cultures“ (Mead 1969 [1935]). In dieser Studie stellt sie fest, dass die zu ihrer Zeit in den USA gängigen Geschlechterstereotype sich nicht in gleicher Weise bei den drei von ihr untersuchten Gesellschaften wieder finden lassen. Zwar gebe es in diesen Gesellschaften eine geschlechterbezogene Arbeitsteilung, aber in zwei der untersuchten Fälle seien Männer nach westlichem Maßstab „feminin“, Frauen „maskulin“ und in einem anderen sei kaum ein Unterschied zwischen den Geschlechtern festzustellen. Sie argumentiert im Rückblick auf diese Studie so, dass bei beiden Geschlechtern eine Vielfalt von Anlagen vorhanden sei, es eher ein Kontinuum von „weiblichen“ und „männlichen“ Eigenschaften gebe: „In jeder menschlichen Gruppe ist es möglich, Männer und Frauen auf einer Skala so anzuordnen, daß zwischen einer sehr maskulinen und einer sehr femininen Gruppe sich andere einschieben, die in die Mitte zu gehören scheinen, weil sie weniger von den angesprochenen Merkmalen zeigen, die für das eine oder andere Geschlecht kennzeichnend sind“ (Mead 1958, S. 102). Die meisten Personen würden sich in der Mitte dieses Kontinuums bewegen und sich von daher nur wenig unterscheiden. Aus dieser Vielfalt – diesem Kontinuum – heraus seien in den verschiedenen Kulturen bestimmte Temperaments- und Charakterzüge als „Norm“ auf ein Geschlecht bezogen. Zeigen Kinder, Jugendliche und Erwachsene das ihrer Geschlechtszugehörigkeit entsprechende Verhalten, so wird das positiv bewertet. Tun sie es nicht, wird das „Nicht-Tun“ negativ sanktioniert, das Individuum marginalisiert oder ausgeschlossen. Das entscheidende Argument bei Margaret Mead ist nun, dass ein Individuum, das diesbezüglich in einer Kultur negativ auffällt, in einer anderen völlig unauffällig leben oder sogar die Normierungen positiv erfüllen könnte. „Den“ Geschlechterunterschied gebe es nicht, Charakterzüge und Verhaltensweisen seien eben nicht über Geschlecht begründbar.

118

4 Die Idee der „Geschlechtsrollen“

Ihre Folgerung, dass persönliche Charakterzüge oder Verhaltensweisen nur genauso lose mit Geschlecht verbunden sind wie die Kleidung oder die Frisuren und es eine „überwältigende Evidenz“ gebe, dass entsprechende Unterschiede „sozial konditioniert“ seien (Mead 1969, S. 260), wurde sehr bald zu einem zentrale Argument gegen die nach wie vor in den westlichen Industrienationen verbreitete ‚Natur der Frau‘-Argumentation. Viola Klein, Karl Mannheim und viele andere würdigten Meads Studie als wegweisend. Vor allem in den USA der 1960er und 70er Jahre kam es in der Folge zu einem regelrechten Boom an Literatur zu „sex-“ bzw. etwas später „gender-roles“.

4.2.3

Claude Lévi-Strauss (1908–2009)

Standen die Arbeiten Lintons für eine (Weiter)Entwicklung der funktionalistischen Methode in der Kulturanthropologie, so gilt Lévi-Strauss als einer der Begründer des (französischen) Strukturalismus. Lévi-Strauss hatte sich intensiv mit Durkheim auseinandergesetzt und sich dabei nicht nur von ihm, sondern auch von der Soziologie scharf abgegrenzt (Lévi-Strauss 1967, S. 364). Anders als Comte oder Durkheim wollte er Kulturen in der ihnen eigentümlichen Perspektive betrachten und sie nicht in ein allgemeines (Entwicklungs)Schema pressen. Eine Unterscheidung nach „entwickelten“ oder „zivilisierten“ und „primitiven“ Kulturen lehnte er ab, keine Kultur sei einer anderen unter- oder überlegen. Entsprechend könne es auch keine „Rangordnung“ nach Entwicklungsstufen geben. Lévi-Strauss ging es vielmehr darum, auf der Grundlage der von ihm in seinen Feldforschungen zusammen getragenen Vielzahl von Dokumenten aus den unterschiedlichsten Kulturen Grundstrukturen von menschlichen Gesellschaften und des menschlichen Geistes herauszuarbeiten (zu einer allgemeinen Einführung vgl. z. B. den Beitrag von Meleghy 2007). War es bei Marx die ‚Arbeit‘, so ist es bei Lévi-Strauss die Erfindung von ‚Verwandtschaft‘, die den qualitativen Sprung vom Primaten zum Menschen ausmachte. Mit und durch Verwandtschaft entstehen Tauschsysteme und Tausch konstituiert Gesellschaften: „In jeder Gesellschaft geht der Austausch auf mindestens drei Ebenen vor sich: Austausch von Frauen; Austausch von Gütern und Dienstleistungen; Austausch von Mitteilungen. Infolgedessen bietet das Studium des Verwandtschafts-, das des Wirtschafts- und das des Sprachsystems gewisse Analogien“ (Lévi-Strauss 1967, S. 322). „Verwandtschaft“ gilt Lévi-Strauss als die grundlegendste aller gesellschaftlichen Strukturen, als „das Fundament auf dem die Gesellschaft entstand und auf dem Gesellschaft ruht“ (Meleghy 2007, S. 133). Dieser basale Charakter begründet sich vor allem daraus, dass LéviStrauss seine Analysen der kulturellen Organisation auf dem Prozess der Fortpflanzung der Gattung aufbaut. Insofern sind Menschen nie „abstrakte Individuen“, sondern kommen von vorneherein nur in der Zweiteilung von Frauen und Männern in den Blick. Verwandtschaftsund Heiratsregeln dienen dazu, den Austausch der Frauen zwischen den verschiedenen Gruppen in einer Gesellschaft zu sichern: „Die globale Tauschbeziehung, welche die Heirat bildet, stellt sich nicht zwischen einem Mann und einer Frau her, die beide etwas schulden und etwas erhalten, sondern zwischen zwei Gruppen von Männern, und die Frau spielt dabei die Rolle eines Tauschobjekts und nicht die eines Partners, zwischen denen der Tausch stattfindet. Dies trifft auch dann zu, wenn die Gefühle des jungen Mädchens berücksichtigt werden, wie es übrigens gewöhnlich der Fall ist. Indem sie der vorgeschlagenen Verbin-

4.2 Die Entdeckung der Kategorie Geschlecht im Kulturvergleich

119

dung zustimmt, beschleunigt oder ermöglicht sie die Tauschaktion; deren Natur jedoch vermag sie nicht zu verändern“ (Lévi-Strauss 1984, S. 189). Mit der Beschreibung dieser „Tauschbeziehung“ wird die Rangordnung der Geschlechter deutlich: Frauen sind lediglich das „Verbindungskabel“ (Rubin 2006, S. 83) in der durch die Tauschbeziehung errichteten sozialen Organisation und keine Partner. Grundlage für alle Heirats- und Verwandtschaftssysteme ist Lévi-Strauss zufolge das „Gesetz des reziproken Tausches“ und das Inzestverbot, das diesen reziproken Tausch anleitet. Sie existieren unabhängig vom Bewusstsein und haben als „Prinzipien des menschlichen Geistes“ universelle Geltung. Das Inzestverbot beinhaltet die Regel, dass ein Mann keine Frau heiraten darf, mit der er blutsverwandt ist. Wer zu diesem Kreis der „Blutsverwandten“ gehört, variiert zwischen den Kulturen erheblich, i. d. R. aber gehören die Mutter sowie Töchter und Schwestern dazu. Mit dem Inzesttabu ist sichergestellt, dass zwischen Familien und zwischen Gruppen ein (Aus)Tausch stattfindet und damit Sozialität entsteht. Mit der Ausbuchstabierung von Heiratsregeln weist Lévi-Strauss dann zum einen auf, dass „Blutsverwandtschaft“ sozial definiert wird, etwa wenn festgelegt wird, das „Parallelkusinen“ als Heiratspartnerinnen verboten, „Kreuzkusinen“ jedoch erlaubt sind.14 Zum anderen stellt er die These auf, dass die unterschiedlichen Heiratsgebote und Heiratsverbote sich auf die Stabilität der gesellschaftlichen Verhältnisse auswirken. Entscheidend sei aber in jedem Fall, dass Frauen „weggegeben“ werden: „Das Inzestverbot ist weniger eine Regel, die es untersagt, die Mutter, Schwester oder Tochter zu heiraten, als vielmehr eine Regel, die dazu zwingt, die Mutter, Schwester oder Tochter anderen zu geben. Es ist die höchste Regel der Gabe“ (Lévi-Strauss 1984, S. 643). Dieses Gebot des Hergeben-Müssens wird dadurch erträglich(er), dass die Reziprozitätsregel besagt, dass man etwas Gleichartiges oder Gleichwertiges zurückbekommt. In der grundlegenden Forderung, etwas herzugeben, steckt zugleich ein Verbot, sich (als Familie) selbst zu genügen. Auf diese Weise müssen sich Familien miteinander verbinden und können sich nicht aus sich selbst heraus reproduzieren. Inzestverbot und Frauentausch werden bei Lévi-Strauss zur Voraussetzung von Kultur, zu ihrem Ursprung. Denn mit der Errichtung von Verwandtschaftssystemen löst sich Kultur zugleich von der Biologie oder „Natur“: „Nichts wäre (…) falscher als die Familie auf ihre natürliche Grundlage zu reduzieren. Weder der Fortpflanzungstrieb noch der Muttertrieb, weder die affektiven Bindungen zwischen Mann und Frau, zwischen Vater und Kindern noch die Kombination aller dieser Faktoren erklären sie hinlänglich. (…) in allen menschlichen Gesellschaften ist die absolute Bedingung zur Schaffung einer neuen Familie die vorgängige Existenz zweier anderer Familien, die bereit sind, die eine einen Mann, die andere eine Frau aufzubieten, aus deren Ehe dann die dritte Familie entsteht, und so endlos fort. Mit anderen Worten, was den Menschen vom Tier unterscheidet, ist, dass eine Familie in der Menschheit nicht existieren könnte, wenn es nicht zuvor eine Gesellschaft gegeben hätte: eine Vielzahl von Familien, die die Existenz anderer Verbindungen als der der Blutsverwandtschaft anerkennen und einräumen, daß der natürliche Prozess der Filiation seinen Lauf nur als in den sozialen Prozess der Allianz integriert nehmen kann“ (Lévi-Strauss 1985, S. 93, Herv. d. V.). 14

„Parallelkusinen“ sind die Töchter der Schwester der Mutter und Töchter des Bruders des Vaters. „Kreuzkusinen“ sind Töchter des Bruders der Mutter und Töchter der Schwester des Vaters. Der Grad der Blutsverwandtschaft ist in unserem heutigen naturwissenschaftlichen Verständnis also der gleiche.

120

4 Die Idee der „Geschlechtsrollen“

Mit der Entwicklung der menschlichen Kultur verbunden ist die Entstehung des menschlichen Geistes, insbesondere die Entwicklung der Sprache. Für Lévi-Strauss sind die sich dabei entwickelnden Strukturen des Denkens durch universell wirkende Denkgesetze geprägt, nämlich durch das Denken in Gegensatzpaaren. Den grundlegenden Gegensatz stellt dabei die Opposition von „Kultur“ und „Natur“ dar. An diese binäre Opposition knüpfen sich weitere Gegensatzpaare, wobei Elemente, die auf derselben Seite stehen, unvermeidlich in einen Zusammenhang gebracht werden, also Kultur – Natur Menschliche Natur – tierische Natur Männlich – weiblich Solche Taxonomien sind Lévi-Strauss zufolge zwar im Einzelnen kulturell unterschiedlich ausgestaltet, die genannten Dichotomien lägen jedoch allem menschlichen Denken zugrunde. Die in Lévi-Strauss’ Werk implizit enthaltene Behauptung, dass es ohne Frauentausch keine Kultur gäbe, ist freilich „bestenfalls zweifelhaft“ (Rubin 2006, S. 85), weil Kultur ja per definitionem schöpferisch sei. Keinesfalls decke dieser Begriff die Vielzahl kultureller Manifestationen von Heiratsabschlüssen ab, in der auch Ehen zwischen Partnern (biologisch) gleichen Geschlechts möglich sind. Entsprechend strittig sei auch, ob der Terminus „Frauentausch“ in jedem Fall eine adäquate Beschreibung für die mit der Eheanbahnung und Eheschließung verbundenen sozialen Vorgänge ist, denn: „‚Frauentausch‘ ist eine Abkürzung für die Aussage, dass die sozialen Verhältnisse eines Verwandtschaftssystems festlegen, dass Männer bestimmte Rechte an ihren weiblichen Angehörigen haben und dass Frauen weder an sich selbst noch an ihren männlichen Angehörigen die gleichen Rechte haben“ (Rubin 2006, S. 86). Auch dann, wenn sich aus den kulturanthropologischen Studien herleiten ließe, dass Frauen in der Mehrzahl der Kulturen stärkeren Einschränkungen unterworfen werden als Männer, und ihnen seltener Kontrolle über ihre Sexualität zugestanden wird, so muss diese soziale Praxis in der Analyse nicht zwingend durch eine entsprechende Begrifflichkeit affirmiert werden. Man kann die Analyse auch kritisch wenden. Dazu kommt es jedoch bei LéviStrauss nicht und auch in der Rezeption seiner Arbeiten geschieht dies kaum. Spuren der Lévi-Strauss’schen Schlussfolgerungen finden sich in einer Vielzahl von Arbeiten, nicht nur in der direkten Auseinandersetzung mit der strukturalistischen Tradition (Foucault, Bourdieu), sondern auch im weiteren Umfeld der Soziologie bis in die Systemtheorie hinein.

4.3

Strukturfunktionalismus: Die Geschlechtsrolle kommt in die Soziologie

4.3.1

Talcott Parsons (1902–1979)

Der in der Soziologie wohl einflussreichste Beitrag Geschlecht mit dem Begriff der Rolle zu fassen, stammt von Talcott Parsons, was aber weniger an dessen intensiver Beschäftigung mit der Kategorie Geschlecht lag als vielmehr an seiner weltweit dominanten Stellung in der Soziologie der 1950er und 1960er Jahre. Er gilt als „moderner Klassiker“ (vgl. z. B. Brock et al. 2002), bis heute ist sein Werk ein wichtiger Bezugspunkt für die Entwicklung soziologischer Theorie. ,Geschlecht‘ wird nur in den familiensoziologischen Arbeiten bedeutsam und

4.3 Strukturfunktionalismus: Die Geschlechtsrolle kommt in die Soziologie

121

zwar in Form des Konzepts der „sex-roles“. In dieser Form hat es dann allerdings einen zentralen Stellenwert für die gesamte Theoriekonstruktion. Ausgangspunkt ist bei Parsons wie schon bei anderen vor ihm (Comte, Spencer, Durkheim), das Grundproblem sozialer Ordnung: Welche Bedingungen müssen erfüllt sein, um diese zu ermöglichen, welche, um sie zu sichern? Jeder Gesellschaft liegt das Handeln von Menschen zugrunde und diesbezüglich setzt Parsons voraus, dass schon das Handeln von Menschen als eine komplexe Ordnung betrachtet werden muss, eine Ordnung, die Strukturen und Regelmäßigkeiten ausweist. Eine Handlung wird niemals ohne Bezug auf eine konkrete Umgebung vollzogen, sie vollzieht sich in einer konkreten Situation. In dieser treten den Handelnden zum einen andere Individuen entgegen und zum anderen physische oder kulturelle Objekte. Die einen sind aktiv, sie begegnen den Handelnden selbst handelnd, während man von den anderen annimmt, dass sie stillhalten, passiv sind. In der jeweiligen Handlungssituation müssen sich nun die Handelnden orientieren und sich für bestimmte Handlungen entscheiden. An dieser Stelle tritt ein wichtiger Unterschied zu den interaktionstheoretischen Ansätzen in der Tradition von G. H. Mead auf: Während in diesen der Akzent in der Analyse auf der Wechselseitigkeit und auf dem „Dazwischen“ liegt, steht bei Parsons der Handlungsakt („action unit“) als solcher im Vordergrund. Er selbst nennt seine Handlungstheorie „voluntarisch“, betont darin, dass Handlungen auf individuellem Wollen beruhen und es die Handelnden sind, die sich für bestimmte Handlungen entscheiden (müssen). Wenn zwei Handelnde (ego und alter) aufeinander treffen – in Interaktion treten – so ergibt sich als Problem, dass beide Handelnde die Freiheit haben, zwischen verschiedenen Möglichkeiten zu wählen, wie sie sich verhalten und was sie in der jeweiligen Situation tun oder erreichen wollen. Daraus entsteht eine grundsätzliche Offenheit und Ungewissheit (Kontingenz) in der Situation. Darüber hinaus können Ego und Alter ihr Handeln von der Handlung des jeweils Anderen abhängig machen, so dass jeder Akteur beides ist: Handelnder und Objekt der Orientierung sowohl für sich selbst als auch für den Anderen. Jede soziale Ordnung, so Parsons, konstituiere sich unter den Bedingungen dieser „doppelten Kontingenz“ (Parsons et al. 1951, S. 16). Gleichzeitig vollzieht sich Handeln aber eben nicht in einem „luftleeren“, im Sinne eines sozial unstrukturierten Raumes, sondern orientiert sich an gesellschaftlich vorgegebenen Normen und Werten. Woher diese kommen, diese Frage verfolgt Parsons so wenig wie Durkheim oder Spencer. Sie sind einfach ‚da‘ – sie sind Bestandteil der sozialen Struktur einer Gesellschaft, die Parsons als „System von Beziehungsmustern zwischen Handelnden in ihrer Eigenschaft als Rollenträger“ definiert (Parsons 1968b [1945], S. 55). Wie der Kulturanthropologe Ralph Linton, fasst er den Bezug der Handelnden aufeinander in den Begriffen von Status und Rolle. „Status“ markiert den Ort (die Position) innerhalb eines sozialen Systems, „Rolle“ gibt an, was auf dieser Position zu tun ist. Mit Status und Rolle sind Verhaltenserwartungen vorgegeben, die Offenheit und Ungewissheit in sozialen Situationen minimieren, so dass damit die „doppelte Kontingenz“ überbrückt werden kann. Im Modell fallen die auf den Status bezogenen normativen Verhaltenserwartungen grundsätzlich mit den Bedürfnisdispositionen und Handlungsmotiven der Akteure zusammen. Diese grundsätzliche Übereinstimmung gilt als Bedingung sozialer Ordnung. Sie herzustellen ist Aufgabe der Familie. In der Familie muss die Sozialisation der nachwachsenden Generationen – von Parsons auch bezeichnet als „Invasion von Barbaren“ (Parsons 1951, S. 208) – in die Rollenstruktur der Gesellschaft erfolgen. Nur dann, wenn es hier zu Fehlanpassungen kommt, setzen Mechanismen sozialer Kontrolle (Sanktionen) ein.

122

4 Die Idee der „Geschlechtsrollen“

Die einzelnen Handelnden sind damit über Status und Rolle mit der umfassenden Sozialstruktur verbunden. Für die Orientierung in Rollenbeziehungen hat Parsons unter Bezugnahme auf Tönnies’ ‚Gemeinschaft und Gesellschaft‘ (3.1.2) ein System von Orientierungsalternativen entwickelt, das er „pattern variables“ nennt. Die Entscheidung, welche Orientierungsmöglichkeit die richtige und angemessene ist, muss die Handelnde treffen, damit die Situation einen für sie möglichst eindeutigen Sinn bekommt und sie in der jeweiligen Rollenbeziehung handlungsfähig ist: •

Universalismus versus Partikularismus: Geht es um eine besondere (partikulare), möglicherweise einzigartige Beziehung (z. B. eine Freundschaft) oder um eine Situation, in der ein Bezugsrahmen zugrunde gelegt wird, in dem allgemeingültige (universelle) Normen zum Tragen kommen (z. B. ein öffentliches Amt)? • Selbstorientierung versus Kollektivitätsorientierung: Kann der Handelnde vorrangig sein Eigeninteresse (z. B. den Wunsch nach einer Weltreise) verfolgen oder steht die Verpflichtung gegenüber der Gruppe/der Firma/der Gesellschaft im Vordergrund? • Leistungsorientierung versus Zuschreibung: Soll den nicht beeinflussbaren Eigenschaften einer Person (Alter, Geschlecht, Herkunft) mehr Bedeutung zukommen oder der Leistung, die von ihr erbracht wird? • Spezifität versus Diffusität: Geht es um funktional spezifische Erwartungen (z. B. an die Mechanikerin, die das Auto reparieren soll) oder sieht sich der Handelnde allgemeinen Erwartungen ohne konkreten Situationsbezug gegenüber (z. B. freundlich zu sein, gemeinsam Spaß zu haben)? • Affektive Neutralität versus Affektivität: Verlangt die Rolle eine Kontrolle der Gefühle oder ermöglicht sie, Gefühle zu äußern und auszuleben (es ist z. B. gleichgültig, ob die Mechanikerin Lust hat, das Auto zu reparieren, nicht aber, ob sie Lust hat, gemeinsam mit Freundinnen Spaß zu haben)? Neben den „pattern variables“ als Orientierungsalternativen in Handlungssituationen wird eine weitere, jetzt auf Handlungssysteme bezogene begriffliche Differenzierung eingeführt, die ebenfalls sehr bekannt geworden ist: das sog. AGIL-Schema, in dem vier Grundfunktionen benannt sind, die für den Bestand des Systems erbracht werden müssen und damit unerlässlich sind. Im Einzelnen sind dies: Adaption (Anpassung) Goal Attainment (Zielerreichung) Integration Latent Pattern Maintenance (Strukturerhaltung) Anpassung und Zielerreichung beziehen sich auf das Verhältnis nach außen, zur Umwelt des Systems, Integration und Strukturerhaltung dagegen nach innen. Ein System muss sich also in jeder nur möglichen Situation an seine Umwelt so anpassen, dass selbstgesetzte Ziele erreicht und verfolgt werden können. Um in der Umwelt Ziele verfolgen zu können, müssen Spannungen zwischen den Mitgliedern bewältigt, die innere, latente Ordnung der Gruppe aufrechterhalten und die Gruppe zu einem Ganzen integriert werden. Diesen grundlegenden funktionalen Erfordernissen muss sowohl im gesamtgesellschaftlichen System (Nationalgesellschaft) als auch in den Subsystemen wie Bildung (Schulen und Universitäten), Wirtschaft (Unternehmen) oder eben der Familie entsprochen werden, d. h. das AGIL-Schema kann sowohl der Untersuchung einer Gesellschaft zugrunde gelegt werden als auch der Untersu-

4.3 Strukturfunktionalismus: Die Geschlechtsrolle kommt in die Soziologie

123

chung der in ihr enthaltenen Gruppen, Organisationen und Institutionen und ist so vielfältig verschachtelbar. Bezogen auf das gesamtgesellschaftliche System entsprechen den vier Funktionserfordernissen vier unterschiedliche Subsysteme (vgl. Parsons 1971 zit. nach Jonas 1980, S. 316 f.). „Anpassung“ etwa bedeutet, dass Güter und andere Ressourcen (z. B. eine Infrastruktur) bereitgestellt werden müssen und darin eine Anpassung an die Umwelt erfolgt. Prototypisch hierfür ist das System ökonomischen Handelns: die Wirtschaft. „Zielerreichung“ heißt, dass zunächst festgelegt werden muss, welche Ziele angestrebt werden sollen. Diese Funktion fällt prototypisch dem politischen System zu. „Integration“ bedeute, dass ein innerer Zusammenhalt des Systems gewahrt werden muss, d. h. es muss ein Minimum an Verbundenheit und Solidarität bestehen. Hier liegt nach Parsons die besondere Bedeutung des kulturellen Systems (einschließlich der Rechtsordnung), aber auch des Erziehungssystems, in dem institutionalisierte Werte und Normen an die nachwachsende Generation vermittelt werden. „Latency“ oder „Latent Pattern Maintenance“ – Strukturerhaltung – weist darauf hin, dass in den Anpassungs-, Zielerreichungs- und Integrationsprozessen im System auch Spannungen entstehen, es daher in jeder Gesellschaft Institutionen geben muss, die für die Bewältigung von Spannungen zuständig sind. Prototyp dafür sei vor allem die Familie. Die Familie als soziales System muss nun ihrerseits den vier grundlegenden Funktionserfordernissen des AGIL-Schemas nachkommen, um Bestand zu haben. Genau an dieser Stelle wird im Parsons’schen Modell die Rollendifferenzierung in der Familie relevant, in der der jeweilige funktionale Beitrag zum Systemerhalt genau entlang der Linie der Geschlechtertrennung konzipiert ist. Entgegen einem oftmals geäußerten Vorwurf begründet Parsons die Geschlechtsrollen nicht in oder durch die Biologie, sondern bezieht sich auf Befunde der Kleingruppenforschung von Robert Bales. Die hier entwickelte Grundthese lautet, dass alle kleinen Gruppen sich in zwei Achsen ausdifferenzieren, einmal in der hierarchischen Dimension von Führung und Gefolgschaft und zum anderen in den Qualitäten „instrumenteller“ und „expressiver“ Funktionen. „Instrumentelle Funktionen“ werden durch Handlungen gewährleistet, in denen es primär um die Beziehungen der Gruppe nach außen geht und in denen damit die Elemente Anpassung („Adaption“) und Zielerreichung („Goal Attainment“) aus dem AGIL-Schema dominieren. „Expressive Funktionen“ werden dagegen durch solche Handlungen gewährleistet, die sich auf die internen Beziehungen der Gruppenmitglieder richten. Im AGIL-Schema entspricht dies den Dimensionen Integration („Integration“) und Strukturerhaltung („Latent Pattern Maintenance“). Die „Kernfamilie“ – bestehend aus Eltern und ihren Kindern – stellt in Parsons Sicht lediglich einen „Sonderfall“ kleiner Gruppen dar. Dieser – so glaubt er – sei universell, in allen Gesellschaften und zu allen Zeiten aufzufinden. Gekennzeichnet ist dieser Sonderfall dadurch, dass über die Generationenfolge die Achse Führung (Eltern) und Gefolgschaft (Kinder) realisiert wird und über Geschlecht die Achse „instrumentell-adaptive“ versus „expressiv-integrative“ Funktionen (Parsons 1968b [1954], S. 112). Durch erotische Anziehung und Befriedigung sexueller Bedürfnisse werde auf der Führungsebene zudem eine enge Koalition zwischen den Partnern hergestellt. Daraus ergibt sich für die Kernfamilie ein Vier-RollenModell: Vater (große Macht, instrumentell-adaptive Ausrichtung), Mutter (große Macht, expressiv-integrative Ausrichtung), Sohn (geringe Macht, instrumentell-adaptive Ausrichtung), Tochter (geringe Macht, expressiv-integrative Ausrichtung). Nur in dieser Grundform sind nach Parsons Familien in der Lage, Kinder so zu sozialisieren, dass sie den funktionalen Erfordernissen des Gesellschaftssystems auch entsprechen können (und wollen).

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4 Die Idee der „Geschlechtsrollen“

Diese strukturelle Konstellation begründet Parsons primär sozialisationstheoretisch (unter Rückgriff auf Freuds Psychoanalyse). Zwar könnten biologische Merkmale von Generation (Hilfs- und Schutzbedürftigkeit der Kinder) und Geschlecht (Fortpflanzung, Stillen der Neugeborenen) durchaus als „Bezugspunkte“ dieser Differenzierung gelten, aber „es spricht vieles dafür, dass die Geschlechtsrolle, die ja auch die psychologische Selbstkategorisierung mit einschließt, in viel größerem Maße erlernt werden muss, als man üblicherweise annahm“ (Parsons 1968b, S. 131). Erotik und Sexualität seien ebenfalls nicht auf die biologische Fortpflanzungsfunktion zu beschränken, sondern stellen selber ein „Symbol der Solidarität des Gattenpaares“ in der Verantwortung für die Familie dar (ebd., S. 115). Auch die für die Familie konstitutive Heterosexualität sei nicht einfach biologisch gegeben. In direktem Bezug auf die Schriften von Sigmund Freud betont Parsons hier die Bedeutung von Lernprozessen in der Entwicklung erotischer Interessen. Er deutet Freud so, dass „jedes normale Kind potentiell in der Lage ist, jeden beliebigen Typ der bekannten erotischen Orientierungen zu entwickeln: Homosexualität, Auto-erotik und Perversionen genau so gut wie die von uns als normal betrachtete Heterosexualität“ (ebd., S. 124, Herv. i. O.). Die Geschlechtsrollen-Kategorisierung ist im Parsons’schen Verständnis die „erste universalistische Orientierung, auf die das Kind stößt“ und von „fundamentaler struktureller Bedeutung für die Gesellschaft als Ganzes“ (Parsons 1968a [1954], S. 56). Mit der Geschlechtsrollen-Kategorisierung kommen neben der instrumentell-adaptiven und expressiv-integrativen Funktionsdifferenzierung auch die unterschiedlichen Wert- und Handlungsorientierungen („pattern variables“) ins Spiel: Die Familie ist auf Gegenseitigkeit gegründet, in ihr sind kollektive, partikularistische und askriptive, sowie diffuse und affektive Muster dominant. Etwas anders ausgedrückt: Familie stellt als soziales System einen Handlungsraum bereit, in dem das Rollenhandeln sich weniger an allgemeingültigen Leistungsnormen, sondern an konkreten sozialen Beziehungen orientiert, die auf der Zuschreibung von Statuspositionen beruhen, d. h. auf dem, was ein Handelnder ‚ist‘ und nicht auf dem, was er tut (leistet). Im Zentrum steht weniger das Eigeninteresse des Handelnden, sondern die Ausrichtung an den Interessen und den Belangen der Gruppe (Familie) als einer solidarischen Einheit. In der Familie geht es nicht an zentraler Stelle um gleiche Rechte und Pflichten für alle Mitglieder, sondern um Besonderheit oder gar Einzigartigkeit der jeweiligen Beziehung. Gefühlshafte (affektive) Motive sind ausdrücklich erlaubt und erwünscht. Die Erwartungen an das Handeln sind nicht auf einen bestimmten Aspekt konzentriert (funktional spezifisch), sondern eher allgemein an der jeweiligen Situation orientiert (diffus), nicht die Funktion des Handelnden im System steht im Vordergrund, sondern es geht tendenziell um die ‚ganze Person‘. Die Wert- und Handlungsorientierungen schließen sich zwar im Modell gegenseitig aus, in der Empirie geht es aber eher um ein Mehr oder Weniger als um ein Entweder-Oder: auch in der Familie gibt es Eigeninteressen, wird von den Einzelnen verlangt, Affekte zu kontrollieren und besteht der Anspruch, dass Kinder zwar altersangemessen, aber dennoch ‚gleich‘ behandelt werden. Wichtig sind vor allem die Abgrenzungen zum Berufssystem, in dem es primär um Leistung geht, die Statusposition durch eigene Anstrengungen erworben werden muss, Gefühle in den Hintergrund treten sollen etc. Für die weibliche und die männliche „Geschlechtsrolle“ werden diese Orientierungsmuster in der Familie in unterschiedlicher Weise relevant: Für den expressiv-integrativen (weiblichen) Part gelten sie in höherem Maße als für den instrumentell-adaptiven (männlichen), denn dieser (männliche) Part hat zugleich die Mittlerrolle nach außen inne.

4.3 Strukturfunktionalismus: Die Geschlechtsrolle kommt in die Soziologie

125

In modernen Gesellschaften – den USA der 1940er Jahre – ergeben sich nun spezifische Probleme der Geschlechtsrollen aus der Art der Einbindung der Kernfamilie in die umfassende Sozialstruktur. Hier habe sich eine „Isolierung der Kernfamilie“ hergestellt. Anders als in einfachen Gesellschaften sei diese nur noch in sehr geringem Ausmaß in das weitere Verwandtschaftssystem integriert. Auch würden Kinder beiderlei Geschlechts zunächst in den meisten Dingen grundlegend „gleich“ behandelt werden. Unterschiede in der Geschwistergruppe seien nicht primär auf die Geschlechtszugehörigkeit, sondern auf das Alter zurückzuführen. In den USA erfolge im gesamten Bildungssystem einschließlich des College-Studiums kaum eine Differenzierung nach Geschlecht, sondern primär eine Differenzierung nach individuellen Fähigkeiten, Leistungen und der Klassenzugehörigkeit. Erst in der auf einen Beruf hin ausgerichteten Ausbildung werde die Geschlechterdifferenzierung bedeutsam. Die Einbindung der Familie in die umgebende Sozialstruktur verlange anders als in einfachen Gesellschaften oder auch in bäuerlichen Traditionen eine Trennung zwischen der Berufsrolle und der Familien- bzw. Verwandtschaftsrolle in den gleichen Individuen (Parsons 1968b [1943], S. 103). Dadurch müssten sich diese Individuen in widersprechenden Wertund Orientierungsmustern bewegen (universalistisches Leistungsmuster versus partikularistisches Zuschreibungsmuster etc.). Für Parsons ist nur dadurch, dass die Zahl der statustragenden Berufsrollen in der Familie auf eine beschränkt ist, diese Trennung praktikabel, denn damit werde eine Konkurrenz zwischen Ehefrau und Ehemann ausgeschlossen, die sonst die Solidarität der Ehe zerstören würde (ebd.). Auf diese Weise bestimmt der Berufsstatus des Vaters den Status der gesamten Familie. Ihm komme in der Sozialisation der Kinder zudem die Funktion eines Mittlers zwischen partikularistischem Familiensystem und universalistisch ausgerichtetem Berufssystem zu. Diese Rollenstruktur sieht Parsons einerseits als grundlegend für den Bestand moderner Gesellschaften an, andererseits erwachsen daraus erhebliche Spannungen: Durch eben dieses „Aufrücken des beruflichen Status an die erste Stelle“ werde „die Ehefrau ihrer Rolle als Partner in einem gemeinsamen Unternehmen beraubt“ (ebd., S. 73), denn bei Frauen sei der Status mit der Heirat festgelegt, ihnen bleiben nur „Nützlichkeitsfunktionen in der Haushaltsführung“ als eine Art „Pseudo-Beruf“ (ebd.). Der zeitgenössischen Gesellschaft fehle insgesamt eine „klare Definition der weiblichen Erwachsenenrolle“ (ebd., S. 77), was „verbreitete Manifestationen eines neurotischen Verhaltens“ (ebd.) erwarten lasse. Trotz der konstatierten Spannungen hält Parsons an dem Glauben fest, dass zwischen expressiven und instrumentellen Rollenausformungen auf der Führungsebene der Familie keine Machtdifferenz bestehe: „Es gibt kein klar strukturiertes Dominanz-Subordinations-Muster. Jeder der beiden ist ein vollverantwortlicher ‚Partner‘, der ein Recht auf Mitsprache in Entscheidungen und auf menschliche Würde und darauf hat, ‚ernstgenommen zu werden‘“ (ebd., S. 105). Diesen Anspruch auf Gleichheit führt Parsons zurück auf das Muster der romantischen Liebe, das sich nicht mit Vorstellungen vereinbaren ließe, dass die Beziehung eines Mannes zu der „Frau, die er liebt“, mit der Ansicht zu vereinbaren ist, das diese „minderwertig“ sei und „nur dazu tauge, in Abhängigkeit von ihm zu leben“ (ebd.). Er übersieht, dass dieser auf „Liebe“ gegründete Gleichheitsanspruch mit der ökonomischen Abhängigkeit der Frauen kollidieren kann und – oft genug – auch kollidierte. An seinen familiensoziologischen Arbeiten wird deutlich, was es bedeutet, dem Grundprinzip Parsons zu folgen, nämlich ein Problem auf den Zustand des Systems als Ganzem systematisch rück zu beziehen – in diesem Fall: Familie und Geschlechtsrollenstruktur im Hinblick auf ihre Funktionalität für das Gesellschaftssystem zu beleuchten. Die in den

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4 Die Idee der „Geschlechtsrollen“

Dimensionen „instrumentell-adaptiv“ und „expressiv-integrativ“ differenzierten Geschlechtsrollen seien „strukturell der entscheidende Ausgangspunkt“ für weitere gesellschaftliche Differenzierungen (Parsons 1968a [1954], S. 61). Erst mit dem Erwerb der Geschlechtsrolle wird auch der Weg zur Übernahme differenzierterer Rollen innerhalb und außerhalb der Familie eröffnet (ebd., S. 56). Dabei komme der männlichen Rolle eine „größere strategische Bedeutung“ hierfür zu, da bei ihr die außerfamiliale Komponente „unvermeidlich mehr hervortrete“ (ebd., S. 61). Das ist eine sehr ähnliche Argumentation wie bei Durkheim, der in der geschlechtlichen Arbeitsteilung den Grundmechanismus für die Entwicklung „organischer Solidarität“ gesehen und dabei ebenfalls der männlichen Seite eine größere Bedeutung für die Gesellschaft zugewiesen hat. Die Rollenanalyse fällt bei Parsons sehr viel elaborierter aus und anders als oft unterstellt, blendet er Probleme und Rollenkonflikte nicht aus, erzeugt auf dieser Ebene also kein einfach harmonisierendes Bild. Dennoch folgt für ihn daraus kein Änderungsbedarf. Im Hinblick auf die „Funktionserfordernisse“ des Ganzen gibt es für ihn keinen anderen Weg und keine andere Lösung, als dass die Sozialisation der nachwachsenden Generation in einer Kernfamilie erfolgen müsse und in diesem Prozess deren Geschlechtsrollenstruktur übernommen und fortgeführt werde. In einem Nebensatz dieses in den USA 1942 und 1943 erstmals veröffentlichten Textes notiert Parsons eine „Tendenz zur Angleichung der Rollen der beiden Geschlechter“ (Parsons 1968b, S. 100), insbesondere im Hinblick darauf, dass Abhängigkeitsmomente in der weiblichen Rolle reduziert worden seien. Das schließe ein, dass erwachsene Frauen dem „männlichen Muster“ folgen und in direktem Wettbewerb mit Männern eine berufliche Laufbahn anstreben – diese Möglichkeit, so Parsons, bestünde zwar, würde bislang aber nur von einem „kleinen Bruchteil der Frauen“ verfolgt. Offensichtlich sei aber, dass eine „Verallgemeinerung dieser Möglichkeit tiefgreifende Wandlungen der Familienstruktur voraussetzt“ (ebd., S. 74). Dazu fehlt dann jede weitere Überlegung – wie Familienstrukturen gesellschaftlich funktional sein und trotzdem beide Geschlechter in das Berufssystem einbinden könnten, das geht offensichtlich über seine Denkmöglichkeit hinaus.

4.3.2

Viola Kleins Kritik an der Geschlechtsrolle

Im Gegensatz zu Parsons gehen Viola Klein und Alva Myrdal ein gutes Jahrzehnt später nicht davon aus, dass das Verfolgen einer beruflichen Laufbahn nur einen „kleinen Bruchteil“ von Frauen betreffe: Etwa ein Drittel der Erwerbstätigen in industrialisierten Ländern seien Frauen. Und auch die Zeiten, in denen sich Frauen zwischen Beruf einerseits und Familie andererseits entscheiden müssten, „jene Pioniertage“ erwerbstätiger Frauen, „sind jetzt vorbei“ (Myrdal/Klein 1960 [engl. 1956], S. 15). Klein sieht Parsons’ Geschlechtsrollenmodell als Versuch nicht nur einen Status Quo zu konservieren, sondern einen seit einem halben Jahrhundert überholten Status zu rehabilitieren (Klein, Brief an J. Z. Giele zit. nach Tarrant 2006, S. 146). Mit „Women’s two roles“ entwerfen Klein und Myrdal (auch) ein Gegenkonzept zu Parsons’ sex-roles. Die Autorinnen betonen, dass die Unterschiede innerhalb einer Geschlechtskategorie größer seien als die statistischen Unterschiede zwischen den Geschlechtern (Myrdal/Klein 1960, S. 19), eine statistische „Durchschnittsfrau“ ein Phantasma sei: „unter statistischen Gesichtspunkten sind die Frauen eine zu große und zu heterogene Gruppe, als dass man sie als eine Einheit behandeln könnte“ (ebd., S. 30). In diesem Buch sei daher nur dann von ‚der‘ Rolle von Frauen die Rede, wenn es um eine sozial beschränkte Sicht auf Rollen, die

4.3 Strukturfunktionalismus: Die Geschlechtsrolle kommt in die Soziologie

127

Frauen einnehmen dürfen, gehe. Diese Vorstellungen, welche Rollen Frauen zustehen sollen und von diesen eingenommen werden, resultieren aus derjenigen bürgerlichen Ideologie, die mit der Verlagerung der Erwerbsarbeit aus dem Haus entstand und Frauen auf das Haus beschränkte (vgl. Kap. 2.1). Gleichzeitig wird betont, dass „das städtische und ländliche Proletariat“ – also v. a. Arbeiterinnen und Bäuerinnen –, diese historische Zäsur nicht kannte, sondern das bürgerliche Ideal erst später als Zeichen sozialer Besserstellung angestrebt wurde (ebd., S. 17 f.). Das Buch „Women’s Two Roles“ soll dieser Ideologie und der aus ihr resultierenden Praxis etwas entgegen setzen: „Die Rückgewinnung der den Frauen verlorengegangenen Arbeitsgebiete ist ein langer und wechselvoller, noch keineswegs abgeschlossener Prozess. Bei diesem Vorgang werden die größten Schwierigkeiten dadurch verursacht, dass Denkgewohnheiten, die zu früheren Phasen (…) und oft auch zu besonderen Gesellschaftsschichten gehören, als absolute Maßstäbe auf Verhältnisse übertragen werden, für die sie nicht mehr anwendbar sind“ (ebd., S. 18). Mit ihrem Vorschlag eines Drei-Phasen-Modells argumentieren sie gegen die einseitige Ausrichtung von Müttern auf die nach innen gerichtete „expressiv-integrative“ Rolle in der Familie. Die Situation erwerbstätiger Mütter wird als Konflikt zweier ihr Leben dominierender (aber nicht der einzigen) Rollen verstanden – der Rolle als Mutter (und damit in eins gesetzt: für Hausarbeit zuständigen Ehefrau) einerseits und ihrer (wiederentdeckte) Rolle im Erwerbsleben andererseits. Nichtsdestotrotz verbleiben Klein und Myrdal hier – ganz anders als in Kleins 1971 neu aufgelegter Dissertation „The Feminine Character“ – ein Stück weit in der Argumentation des damals dominierenden funktionalistischen Paradigmas. Auch wenn sie den diskriminierenden Aspekt des dichotomen sex-role-Konzepts kritisieren und die Betonung darauf legen, was Frauen selber wünschen, wird eine funktionalistische Betrachtung bemüht, um Erwerbstätigkeit von Müttern zu legitimieren. In den von ihnen entwickelten politischen Konzepten bleibt die (primäre) gesellschaftliche Zuständigkeit, gesellschaftsfähigen Nachwuchs heranzuziehen, bei den Frauen, wobei Männer jedoch stärker in die Zuständigkeit für Haus und Familie eingebunden werden. Das bürgerliche Modell wird in diesem als politisch-realistisch veranschlagten Konzept also nur ein Stück weit aufgeweicht und nicht grundsätzlich infrage gestellt. Im Vorwort zu der zweiten Auflage (1971) von „The Feminine Character“ argumentiert Klein gegen eine eindimensionale Sicht auf ‚die‘ Geschlechtsrolle ‚der‘ Frau. Sie würdigt, dass die Rede von der ‚Geschlechtsrolle‘ statt vom ‚Geschlechtscharakter‘ der Erkenntnis Rechnung trage, dass Menschen nicht nur Organismen, sondern „Organismen in sozialen Situationen“ sind (Klein 1971, S. xlvi, Übers. d. V.). Mit Bezug auf psychologische Studien von J. L. und J. G. Hampson zu (physiologisch) Intersexuellen, verwendet V. Klein den Begriff der Geschlechtsrolle („sex rôle“) für die Geschlechtszuschreibung, d. h. ausschließlich für die soziale Geschlechtsklassifikation als ,Mann‘ oder ,Frau‘, die auch aus den physiologisch Intersexuellen sozial eindeutige Geschlechter macht. Sich selbst ‚als Mann‘ oder ‚als Frau‘ zu verstehen, bedeute dann, die zugeschriebene „sex rôle“ angenommen zu haben. In der zu der Zeit einsetzenden Ersetzung der „sex rôle“ durch „gender rôle“ wird für sie der Umstand, dass das zugeschriebene Geschlecht von der Physiologie abweichen kann, besser verdeutlicht. Eine inhaltliche Füllung der Geschlechtsrolle im Sinne einer ‚weiblichen Geschlechtsrolle‘ lehnt sie – im Gegensatz zu Parsons – ab. Auch für ‚die weibliche Rolle‘ gelte nach wie vor, was sie 1942 zum ‚weiblichen Charakter‘ herausgearbeitet habe:

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4 Die Idee der „Geschlechtsrollen“

„Als ich diese Studie unternahm, stellte ich mir die Fragen, a) gibt es so etwas wie ‚Weiblichkeit‘? (…) und b) falls ja, woraus besteht sie – in den Augen der Experten zu diesem Gegenstand? Am Ende meiner Untersuchung war die Antwort auf beide Fragen ein durchschlagendes ‚keine Ahnung‘. Heutzutage würde ‚Weiblichkeit‘ mit Begriffen der polymorphen ‚weiblichen Rolle‘ behandelt. Über deren innere Natur sind wir nicht klüger als früher. Unsere Unwissenheit mag einen höheren Grad an Bildung erreicht haben, aber sie ist nach wie vor in vollem Umfang da“ (ebd., S. xlvi, Übers. d. V.). Stattdessen spricht Klein hier wieder von weiblichen (und männlichen) Rollen im Plural und führt hierzu ihren Rollenbegriff ein. Dieser orientiert sich grob an M. Mead, deren eher vager Begriffsgebrauch von Klein ein Stück weit präzisiert wird: „Jedes Individuum besetzt als Mitglied einer stratifizierten Gesellschaft verschiedene soziale Positionen oder ‚Status‘, wobei in jeder dieser Positionen bestimmte Typen von Verhalten, d. h. ‚Rollen‘ von ihm erwartet werden“ (Klein 1971, S. xlv, Übers. d. V.). Entsprechend hebt sie auch hier wieder hervor, dass Frauen unterschiedliche Rollen einnehmen, die Rollen der Mutter, der Lehrerin, eines Schulmädchens oder der älteren Dame gänzlich unterschiedliche seien.

4.3.3

Zusammenfassung: die „Geschlechtsrolle“ als Element der Sozialstruktur

In der Soziologie hat sich für die strukturfunktionalistischen Ansätze auch die Bezeichnung „normatives Paradigma“ eingespielt (Wilson 1973). Mit dieser Bezeichnung wird darauf abgestellt, dass es in den verschiedenen Ansätzen im Grundsatz stets um die an eine soziale Position (Status) gebundenen normativen Verhaltenserwartungen geht, die den Individuen vorgegeben sind und die vorschreiben, wie eine Position handelnd auszufüllen ist. Position (Status) und Rolle sind Teil der Sozialstruktur und Teil des kulturellen Systems geteilter Werte und Normen. Eine Position (ein Status) ist dabei stets mit anderen Positionen verknüpft, so dass sich die dazugehörigen Rollen wechselseitig aufeinander beziehen und beeinflussen. Der Schwerpunkt dieser Perspektive liegt damit auf der strukturellen Ebene – eben auf den sozialen Positionen (den Status) und deren Geflecht. Aus ihnen entstehen funktionale Anforderungen, denen das Verhalten der einzelnen Positionsinhaber entsprechen muss. Damit werden umgekehrt einzelne Individuen zu einem legitimen Gegenstand der Soziologie, was in dieser Form eine durchaus neue Entwicklung darstellt: Bislang ging es in den Großentwürfen zur soziologischen Theorie um allgemeine historische Prozesse der Differenzierung und Individualisierung, ohne dass die Einzelnen als Handelnde bedeutsam wurden. Die Begriffe Position/Status und Rolle fangen diese einzelnen Handelnden nun systematischer ein, auch wenn es primär um gleiches Verhalten verschiedener Einzelner in der gleichen Position geht. Dabei wird hier im Grundsatz unterstellt, dass Bedürfnisdispositionen, Haltungen und Einstellungen der Individuen den an die Statusrolle gebundenen gesellschaftlichen (normativen) Verhaltenserwartungen entsprechen, so dass Sanktionen nur im Ausnahmefall zum Einsatz kommen (müssen). Weiterhin ist in der wechselseitigen Bezugnahme der in verschiedenen, aufeinander bezogenen Statusrollen Handelnden eine Gegenseitigkeit (Reziprozität) von Erwartung und Bedürfnisbefriedigung unterstellt. Für ein solches wechselseitiges Aufeinander-Bezogen-Sein von Statusrollen ist die Familie nicht nur ein beliebtes, sondern geradezu paradigmatisches Beispiel. In den kulturanthropologischen Untersuchungen wurden all jene Theorien widerlegt, die ausgehend von isolierba-

4.3 Strukturfunktionalismus: Die Geschlechtsrolle kommt in die Soziologie

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ren Bedingungen wie der physischen Überlegenheit von Männern oder der Fertilität von Frauen eine Zuteilung von gesellschaftlichen Aufgaben an die Geschlechter vornahmen, sei es die gesellig-altruistische Bedeutung ‚der‘ Frau bei Comte oder der „naturwüchsigen“ Ausbeutung der Arbeitskraft von Frauen in den Urgesellschaften bei Marx und Spencer. Kern der sozialen Strukturen von einfachen Gesellschaften waren Verwandtschaftssysteme, die in ihrer konkreten Ausgestaltung und der Art, wie Positionen jeweils mit Alter und Geschlecht („agesex-categories“) verkoppelt waren, kulturell erheblich variierten. Einerseits lieferten diese kulturanthropologischen Untersuchungen Belege für ein soziologisches Verständnis von Geschlecht, wie es z. B. bei Durkheim und Simmel anformuliert war. Andererseits gingen sie aber auch weit darüber hinaus und stellten insofern auch eine Herausforderung für die Soziologie dar. Es bedurfte einer neuen Begründung für die in modernen Gesellschaften wirkenden Zuweisungsmechanismen. Diese werden nun immer weniger in der „Natur der Frau“ gesucht, sondern in „Funktionserfordernissen“. Grundlage für die Status- und Rollen-Differenzierung in der Familie wird die Trennung expressiv-integrativer und instrumentell-adaptiver Funktionen und ihre Zuweisung zu den Geschlechtern. Ehefrau – Ehemann, Mutter – Tochter, Mutter – Sohn, Vater – Tochter, Vater – Sohn sind über diese Funktionstrennung aufeinander bezogen und die Basis dessen, was in der strukturfunktionalistischen Soziologie nun als „Geschlechtsrolle“ thematisiert wird. Diese Funktionstrennung ist der Hintergrund für die mit den 1960er Jahren entstehende Flut von Untersuchungen und Veröffentlichungen zur „Doppelrolle der Frau“. A. Hochschild (1973) konstatiert in ihrem Überblick über die Forschungen zu „sex-roles“ in den 1960er Jahren, dass praktisch nur im Rahmen der Familiensoziologie Frauen zum Forschungsgegenstand wurden, während in anderen Themenbereichen der Sozialwissenschaften fast ausschließlich über Männer geforscht wurde. Das Problem sei, dass in den Forschungen zu „sexroles“ diese i. d. R. als unhinterfragte Grundlage eingeführt wurden, etwa wenn danach gefragt wurde, ob eine Erwerbstätigkeit der Mutter den Kindern schade. Wenn „sex-roles“ zu einem eigenständigen Forschungsgegenstand gemacht wurden, dann auf sehr unterschiedliche Weise.15 In der im engeren Sinne soziologischen Forschung entstand eine zunehmend kritische Auseinandersetzung mit der Parsons’schen Theorie einer unverzichtbaren Trennung von „instrumentellen“ und „expressiven“ Rollen in der Familie. Dabei wurde in einem funktionalistischen Bezugsrahmen die Frage gestellt, ob und wenn ja für wen diese Trennung „funktional“ sei (z. B. Komarovsky 1950, 1973). Bezogen auf Frauen zeige sich, dass diese in den USA zunehmend unter Spannungen und Überforderungen litten und unter diesem Gesichtspunkt die Trennung eher „dysfunktional“ sei. In der entsprechenden Debatte dominierte die Ansicht, dass das Dilemma nicht lösbar sei und auch nicht durch noch so elaborierte Handlungsstrategien der Frauen abgemildert werden könne. Der aus dem Widerspruch 15

So entstanden in den 1960er Jahren eine Reihe von (sozial-)psychologischen Forschungen zur Messung von Unterschieden zwischen den Geschlechtern (Eigenschaften, kognitive Fähigkeiten, Neigungen, Einstellungen etc.). Deren Ergebnisse bildeten eine Grundlage für die sog. „Nature-Nurture-Debatte“, also die Frage, welche der Eigenschaften, Fähigkeiten etc. als „angeboren“ gelten und welche als „anerzogen“ zu betrachten seien. Diese Gegenüberstellung entspricht dem Denken in polaren Mustern, (re)produziert die Kontrastierung von „Natur“ und „Kultur“ und glaubt, eine strikte Trennlinie zwischen ihnen errichten zu können. Irritationen entstanden in diesen Debatten nicht zuletzt dadurch, dass die in entsprechenden Experimenten und Untersuchungen gemessenen psychischen und kognitiven Unterschiede zwischen den Geschlechtern im Laufe der Zeit immer geringer wurden und damit der Schluss nahelag, dass sich die Geschlechter sehr viel ähnlicher sind, als bisher angenommen wurde (im Überblick: Hagemann-White 1984, S. 9–47; Gern 1992, S. 35 ff., zur grundsätzlichen Problematik der Messungen: Hagemann-White 1984, S. 42 ff.). Dennoch werden entsprechende Untersuchungen vor allem in der Psychologie auch heute noch durchgeführt.

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4 Die Idee der „Geschlechtsrollen“

von Familienverpflichtung und Erwerbsarbeit resultierende Konflikt sei gewissermaßen das „Opfer“, das moderne (industrialisierte) Gesellschaften den Frauen dafür abverlangen, dass sie ihnen die juristische Gleichstellung zugebilligt haben (Gerhardt 1988, S. 47). Noch sind in den 1960er und auch in den 70er Jahren wenig Ansätze erkennbar, die Zuweisung zu den Geschlechtsrollen auch nur ansatzweise in Frage zu stellen. Vielmehr wurde – wie Uta Gerhardt formulierte – in der Rezeption dieses Rollenbegriffs etwas zur Norm, was doch „analytisches Konstrukt“ sein sollte (Gerhardt 1988, S. 54 f.). Als analytisches Konstrukt aber trägt der Begriff der „Geschlechtsrolle“ die Frage nach der Legitimität der Zuschreibungen und Zuweisungen schon in sich.

4.4

Gegenbewegungen

Konnte man in den 1950er und 60er Jahren durchaus den Eindruck gewinnen, dass sich der Strukturfunktionalismus als ein Hauptparadigma in der Soziologie durchgesetzt hatte, so haben sich doch gleichzeitig – zunächst in seinem Schatten stehend – alternative theoretische Zugänge ausgebildet. Hintergrund hierfür sind vor allem die Arbeiten der „Chicago Schule“ (zu der G. H. Mead zählt; vgl. Kap. 3.4.1), in denen am Beispiel Chicagos empirisch gehaltvoll Prozesse der Entstehung sozialer Ordnung unter erschwerten Bedingungen (rasante Industrialisierung, extrem hohe Einwanderung) thematisch wurden. Nach dem zweiten Weltkrieg setzten Soziologen wie E. C. Hughes, H. S. Becker und H. Blumer diese Arbeit fort. Gleichzeitig wurden die Werke von A. Schütz und K. Mannheim verstärkt rezipiert (vgl. Kap. 3.4). In den späten 60er Jahren wird unter dem Sammelbegriff „interpretative Soziologie“ (Wilson 1973; Miebach 2010, S. 24) diese Gegenbewegung zu dem vorherrschenden „normativen Paradigma“ auch in Europa bekannt. Mit der Betonung, dass jede soziale Ordnung sich aktiver und kreativer Akteure verdankt, traf dieses Forschungsprogramm nun auf einen im Vergleich zu den 50er Jahren grundlegend veränderten Zeitgeist. Im „interpretativen Paradigma“ bekommt der Begriff der „sozialen Rolle“ einen völlig anderen Gehalt. Er wird nicht mehr primär auf soziale Positionen – den Strukturaspekt von Gesellschaften – bezogen, sondern auf die im Handlungsprozess realisierten Bedeutungen und das Wissen um diese Bedeutungen. Dieser andere Einsatz ist bereits in der Meadschen Figur des „taking the role of the other“ angelegt, der Fähigkeit zur perspektivischen Rollenübernahme. Dadurch wird ein Wechselspiel von Handeln und Reflexion möglich, in dem sich der konkrete Verlauf von Interaktionen erst mit den Handlungsprozessen herausbildet. Und auch bei Alfred Schütz und der von ihm begründeten phänomenologischen Soziologie stehen Wissens- und Relevanzstrukturen und darauf bezogene Typisierungen des Anderen, der Natur und der Sozialwelt im Zentrum.

4.4.1

Symbolischer Interaktionismus

Herbert Blumer, auf den die Bezeichnung „symbolischer Interaktionismus“ zurückgeht, benennt drei Prämissen, auf denen der Ansatz beruht. Die erste Prämisse besagt, dass Menschen wahrgenommenen Objekten gegenüber auf der Grundlage der Bedeutung handeln, die diese Objekte für sie besitzen. Die zweite Prämisse besagt, dass die Objekte diese Bedeutung nicht in sich tragen, sondern ihre Bedeutung in sozialen Interaktionen entsteht und aus ihnen hergeleitet werden kann. Die dritte Prämisse besagt, dass diese Bedeutungen nicht ein für

4.4 Gegenbewegungen

131

alle Mal festgelegt sind, sondern in der Auseinandersetzung mit den Objekten in einem interpretativen Prozess gehandhabt und abgeändert werden können (Blumer 1973, S. 81; vgl. auch das ‚Thomas-Theorem‘, Kap. 3.4.4). Unter „Objekten“ ist hier alles gefasst, was Menschen im alltäglichen Leben begegnet und auf ihre Wahrnehmung der Situation einwirkt, also nicht nur physische Gegenstände wie Bäume und Stühle, sondern auch Kategorien von Menschen, z. B. Freunde oder Feinde, Kinder oder Erwachsene, Frauen oder Männer. Auch Institutionen, wie Schule oder Amtsgericht, religiöse Glaubensinhalte, Leitbilder, rituelle oder standardisierte Handlungen anderer Personen gehören zu diesen Objekten der Wahrnehmung. Die drei Prämissen klingen vergleichsweise einfach, aber – wie Herbert Blumer schreibt – die „Bedeutung“ von all den Gegenständen und Objektivationen, die auf uns einwirken, wird nicht nur im Alltag, sondern auch in den Wissenschaften vielfach einfach hingenommen oder als „unbedeutend“ beiseitegeschoben. In der Mehrzahl der sozialwissenschaftlichen Theorien – damit sind nicht zuletzt Strukturfunktionalismus und Systemtheorie gemeint – widme man ihr keine explizite Aufmerksamkeit. Diese Soziologen stützen sich zwar auf Begriffe wie Position, Status, Rolle, Normen, Werte etc., um menschliches Verhalten zu erklären, fragten aber weder nach der Bedeutung, die solche „Dinge“ für die Menschen haben, noch danach, wie deren Bedeutung zustande gekommen ist. Als G. H. Mead die Grundzüge der Theorie symbolisch vermittelter Interaktion aus der Analyse des „social act“ entwickelte, lag sein Akzent vor allem auf der Pragmatik der Handlungssituation bzw. auf der kooperativen Problemlösung (vgl. Kap. 3.4.1). Die in der Nachfolge Meads im symbolischen Interaktionismus entstandenen Arbeiten legten dagegen den Schwerpunkt auf Prozesse des wechselseitigen Verstehens in der symbolisch vermittelten Interaktion und betonten die prinzipielle Interpretationsbedürftigkeit der in die Handlungssituation eingehenden Bedeutungen. Eindeutige (über Sprache vermittelte) signifikante Symbole seien im empirischen Alltag von Gesellschaftsmitgliedern eher eine Ausnahme. Grundproblem jeder kommunikativen Interaktion ist die Offenheit und Ungewissheit (Kontingenz) von Handlungen. Gerade weil Interaktionen symbolisch vermittelt sind, werden Unstimmigkeiten und Inkongruenzen in der Antizipation und Interpretation von Verhaltenserwartungen durch die Interaktionspartner unvermeidbar, denn „Symbole“ sind nicht mit dem damit Bezeichneten identisch, sondern grundsätzlich interpretationsbedürftig. Die Handelnden müssen ihre individuellen Erfahrungen und Absichten in allgemein gültigen Gesten und Symbolen ausdrücken. Inkongruenzen und Unstimmigkeiten in der Interpretation des Gesagten und Gemeinten sind daher ein konstitutiver Teil der Struktur von Interaktionen. Dieser Teil aber kann allein durch den Rückgriff auf normative, an die Statusrollen gebundene Verhaltenserwartungen nicht adäquat erfasst werden. So schreibt etwa Ralph Turner in direkter Abgrenzung zu dem strukturfunktionalistisch-normativen Rollenmodell: „Mit der Idee der Rollenübernahme verändert sich die Perspektive: es geht nicht mehr um den einfachen Prozess der Ausführung einer vorgegebenen Rolle, sondern darum, auf der Grundlage der Rolle, die einem von anderen zugeschrieben wird, das eigene Handeln zu entwerfen und zu verwirklichen. Der Handelnde nimmt nicht einfach einen Status ein, für den es einen wohlgeordneten Satz von Regeln oder Normen gibt; er ist vielmehr eine Person, die in einer Perspektive handeln muss, welche zum Teil durch seine Beziehungen zu anderen vorgezeichnet wird; das Handeln dieser Anderen ihm gegenüber reflektiert Rollen, die er identifizieren muss“ (Turner 1962 zit. nach Wilson 1973, S. 59).

132

4 Die Idee der „Geschlechtsrollen“

Voraussetzung erfolgreicher Interaktion ist danach zunächst einmal die Identifizierung der den Individuen in einer Handlungssituation zugeschriebenen Rollen und ihre (wechselseitige) Anerkennung. Turner geht damit nicht von hochgradig institutionalisierten Rollen aus, wie wir sie etwa in bürokratisierten Organisationen oder auch in der traditionellen Kernfamilie vorfinden, sondern eher von alltäglichen Begegnungen und Beziehungen. Die Interaktion zwischen einem Schalterbediensteten der Post und einer Kundin ist vergleichsweise einfach strukturiert, sie wird auch dann nur wenig komplexer, wenn es nicht um den Kauf von Briefmarken, sondern um eine Beschwerde der Kundin geht, dass ihr ein Paket nicht zugestellt wurde. Auch eine Beschwerde bleibt im Rahmen funktional zu bewältigender Aufgaben. Schwieriger wird es erst dann, wenn sich die gleichen Personen abends bei einem überschaubaren Fest begegnen und die Interaktion beiden Beteiligten noch in unangenehmer Erinnerung ist, sie einander aber nicht ignorieren können und ins Gespräch kommen müssen. Die Identifizierung der an die Beteiligten in diesem Kontext herangetragenen ‚Rollen‘ bleibt vergleichsweise offen und kann durch nachfolgende Ereignisse immer wieder Revisionen erfahren. Vielleicht entdeckt der Schalterbedienstete, dass er die Kundin des Nachmittags schon von früher her kennt, vielleicht fühlt er sich bemüßigt, im Gespräch zu verdeutlichen, welche weiteren Rollen er innehat (z. B. dass er gerade Vater geworden ist), vielleicht sogar, welche in seiner Vergangenheit von Bedeutung waren und welche er zukünftig erwartet (der Schalterdienst ist nur eine Zwischenstation, nicht sein Karriereziel). Ähnliches geschieht auf der anderen Seite. Im Laufe der Interaktion wird ausgehandelt, was an Informationen eingebracht, was zurückgehalten wird und welche Art von Beziehung sich herstellt. Turner stellt daher dem „role-taking“ ein „role-making“ zur Seite, eine aktive Ausgestaltung des Verhaltens auf der Grundlage der Wahrnehmung der Verhaltenserwartungen des Anderen. Dem individuellen Beitrag wird so in der Ausgestaltung von Interaktionen ein stärkeres Gewicht beigemessen, ohne diesen zu psychologisieren. Anders als im „normativen Paradigma“ geht es hier also nicht primär um die an eine Position (Status) gebundenen normativen Verhaltenserwartungen, sondern um vergleichsweise allgemeine kohärente Muster von Verhaltensweisen (Wilson 1973, S. 59), in denen wir das eigene Handeln und das der Interaktionspartnerin wahrnehmen und auf deren Grundlage wir die Richtung, die unsere Interaktion nehmen wird, in der konkreten Situation aushandeln. Dazu müssen wir die Situation definieren („Was geht hier vor?“) und dem Anderen anzeigen, in welcher Weise wir die Situation definieren und wie wir seine Hinweise, wie er die Situation definiert, bewerten (stimmen wir dieser zu oder lehnen wir sie ab?). Eine solche Sichtweise schließt nicht aus, dass Handlungssituationen in hohem Maße durch normative Verhaltenserwartungen vorstrukturiert sein können, etwa vor Gericht oder in der Berufsarbeit. Sie werden aber nicht als Regelfall betrachtet, sondern eher als ein Pol auf einem Kontinuum von normativ hochgradig geregelten bis hin zu normativ minimal geregelten sozialen Situationen. In all diesen Situationen aber unterstellen wir, dass Handelnde eine Absicht verfolgen oder eine bestimmte Haltung in und zu der Situation einnehmen, ihr Handeln also sinnvoll und in sich konsistent ist. Ohne diese Konsistenzannahme wäre ein Aushandlungsprozess ebenso wenig möglich wie eine Re-Interpretation des Handelns im Lichte nachfolgender Ereignisse (z. B. „da hab ich sie wohl falsch verstanden, sie meinte offenbar eigentlich …“). Diese allgemeine Erwartung, dass Handeln sinnvoll und konsistent zu sein hat, stellt im interpretativen Paradigma eine zentrale Grundlage für jedes ‚Rollenhandeln‘ dar, die nicht umgangen werden kann. Für einzelne, konkrete Verhaltensweisen wird dagegen ein vergleichsweise großer Handlungsspielraum angenommen. Dabei wird durchaus akzep-

4.4 Gegenbewegungen

133

tiert, dass in der Sozialstruktur institutionalisierte Status-Rollen auf das Handeln Einfluss haben, aber diese determinieren im Verständnis des symbolischen Interaktionismus soziales Handeln nicht. Eine solche Sichtweise hat auch Folgen für die empirische Forschung. Im Kontext des symbolischen Interaktionismus wurde von Anselm Strauss und Barney Glaser eine Methodologie qualitativer Sozialforschung – die „Grounded Theory“ – entwickelt, die dem Prozesscharakter und der Reflexivität sozialer Wirklichkeit gerecht zu werden vermag und statt der Prüfung theoretischer Aussagen die Entdeckung von Zusammenhängen (Theoriebildung) zum Ziel hat. Die „soziale Rolle“ als „kohärentes Muster von Verhaltensweisen“ zu bestimmen, ist erkennbar eine vergleichsweise ,weiche‘ Definition, aber sie macht sehr schön deutlich, dass im Handlungsverständnis des symbolischen Interaktionismus weder die rationale Verfolgung individueller Interessen noch die bloße Erfüllung vorgegebener Normen im Zentrum steht. Auch dann, wenn das Individuum ein Ziel rational verfolgen will, oder auch dann, wenn es allen Anforderungen und Normen nachkommen will, so muss es doch in jeder Situation generalisierte Bedeutungen interpretieren und auf den konkreten Handlungsprozess „herunter brechen“, um sein Handeln immer wieder auf den konkreten Verlauf der Interaktion einstellen zu können. Das würde selbstverständlich auch für die „Geschlechtsrolle“ gelten, die aber in dieser Debatte gar nicht thematisch wurde. In der interaktionstheoretischen Tradition ging es von vornherein nicht um „sex-roles“ im strukturfunktionalistischen Sinn (vgl. Kap 4.3.1), sondern eher darum, die gesellschaftliche Stellung von Frauen z. B. dort zu untersuchen, wo sie eine ,Minderheit‘ bildeten (z. B. in qualifizierten Berufen) oder jene Prozesse in den Blick zu nehmen, in denen es erkennbar um Macht-Differenzen zwischen Frauen und Männern ging. Dabei kam der Rollenbegriff kaum zum Tragen. Versucht man nämlich, die interaktionstheoretisch begründete ,weiche‘ Definition des Rollenbegriffs („kohärente Verhaltensmuster“) systematisch auf ,Geschlecht‘ zu beziehen, so merkt man relativ schnell, dass damit große Schwierigkeiten verbunden sind. E. C. Hughes schreibt schon 1945, dass in den hoch differenzierten Gesellschaften westlichen Typs mit ihren vielfältigen Kombinationen von „zugeschriebenen“ und „erworbenen“ Positionen „sex“ nicht einfach eine Rolle ist, sondern vielmehr ein Oberbegriff für viele sehr verschiedene Rollen. Er bezeichnet Geschlecht daher als „Masterstatus“ oder auch als „Superstruktur“ (Hughes 1971 [1945], S. 150), die in praktisch allen sozialen Interaktionen von Bedeutung sei, im Zugang zu Positionen wirksam werde und dort sehr oft neue Segregationen einleite, etwa wenn der Arztberuf zwar für Frauen zugänglich wird, sie aber nur in bestimmten Bereichen eine Anstellung finden. In den entsprechenden Forschungen der späten 1960er Jahre zeichnet sich bereits ab, dass es nicht allein Statusdifferenzen (Beruf und Familie) sind, die Männer von Frauen unterscheiden, sondern auch im Berufsbereich paternalistische Modelle die Beziehungen zwischen Frauen und Männern prägen (Hochschild 1973, S. 1019). Es zeigte sich, dass eine ganze Reihe allgemeiner Verhaltensregularien in Interaktionen (wer darf wen wann und wie ansprechen, wer darf anordnen, wer darf wen berühren, wer darf physisch mehr Raum einnehmen etc.) nach Geschlecht differieren (ebd. S. 1021). Die Ergebnisse dieser Studien wiesen eindrücklich darauf hin, dass Frauen i. d. R. eine untergeordnete Stellung einnehmen, Männer tendenziell im Vorteil sind. Diese Dimension aber ist über den Begriff der „sex-roles“ nicht zu fassen, sondern legt nahe, sich verstärkt mit deren Herstellung in Interaktionsprozessen und durch Interaktionsprozesse zu befassen.

134

4.4.2

4 Die Idee der „Geschlechtsrollen“

Ethnomethodologie

Sehr oft werden symbolischer Interaktionismus und Ethnomethodologie in einem Atemzug genannt. Das wird beiden nicht gerecht. Zwar richtet auch Harold Garfinkel (1917–2011) die Aufmerksamkeit auf „everyday activities“, i. e. praktisches, sich in konkreten Situationen vollziehendes, oft routinisiertes Alltagshandeln. In der Ethnomethodologie geht es aber weniger um kulturelle (sprachliche) Symbole und die sich auf ihrer Grundlage in sozialen Situationen herausbildenden kommunikativen Interaktionen, sondern vor allem darum, die (formalen) Methoden herauszufinden, mittels derer es den Mitgliedern einer Gesellschaft gelingt, Welt und Wirklichkeit um sich herum sinnhaft zu strukturieren (vgl. hierzu Kap. 3.4.2). Die Vorsilbe „Ethno“ verweist darauf, dass man sich in einer Art völkerkundlichen Haltung – i. e. der Haltung eines Fremden – der eigenen Kultur und Gesellschaft nähert und das selbstverständlich erscheinende Alltagswissen und Alltagshandeln unter die Lupe nimmt. Auch diesen Arbeiten liegt damit die Fragestellung zugrunde, wie soziale Ordnung möglich ist. Ein wichtiger kritischer Bezugspunkt der Ethnomethodologie ist die Parsons’sche Handlungstheorie (vgl. Kap. 4.3.1), von der sich Garfinkel unter Bezugnahme auf Alfred Schütz abgrenzt. Auch er geht davon aus, dass das Handeln von Menschen als eine komplexe Ordnung betrachtet werden muss. Er lehnt aber die Parsons’sche Antwort, dass diese Ordnung vor allem über die Internalisierung eines bestehenden Systems sozialer Normen und Werte gewährleistet wird, als unzureichend ab. Eine seiner gegen Parsons gerichteten Grundannahmen ist, dass die Bedingungen, unter denen Menschen im Alltag handeln, stets mehrdeutig sind, sich im Handlungsverlauf durch Entscheidungen der Handelnden modifizieren und eine Eigenlogik entwickeln, die nicht ohne weiteres prognostizierbar ist. Insofern ist es für Garfinkel eine offene Frage, wie Handelnde ihre Handlungen so koordinieren können, dass daraus ein sinnvoller Handlungsablauf entsteht. Er sagt nicht, dass Werte, Normen oder Regeln keine Bedeutung für die Herstellung sozialer Ordnung hätten, sondern dass erst dann, wenn diese von den Handelnden aktiv auf die jeweilige Situation bezogen werden, eine geordnete gesellschaftliche Wirklichkeit entsteht. Garfinkel hat diesen Prozess „ongoing accomplishment“ genannt, was J. Bergmann mit „Vollzugswirklichkeit“ übersetzt hat: Eine Wirklichkeit, die „von den Interagierenden in jedem Moment und jeder Situation ‚lokal‘ hervorgebracht wird. (…) Gesellschaftliche Tatbestände erhalten ihren Wirklichkeitscharakter ausschließlich über die zwischen den Menschen ablaufenden Interaktionen: nur im alltäglich-praktischen Handeln ‚ver-wirklicht‘ sich gesellschaftliche Wirklichkeit“ (Bergmann 2008b, S. 122, Herv. i. O.). Erst durch den methodischen und kompetenten Regelgebrauch der Gesellschaftsmitglieder entsteht die soziale Wirklichkeit als „objektive Wirklichkeit“, die wir unserem Handeln dann wieder zugrunde legen. Es geht also nicht einfach darum, normative (institutionalisierte) Verhaltenserwartungen auszufüllen, sondern darum, sich im jeweiligen Kontext ,angemessen‘ zu verhalten. Ob die vollzogene Handlung dann auch als ,angemessen‘ angesehen wurde, das wird häufig erst im Lichte nachfolgender Ereignisse deutlich, in dem sie dann gegebenenfalls auch völlig neu definiert werden kann. Diese „rückschauend-vorausschauende Sinnorientierung“ (Garfinkel 1973, S. 207) im interaktiven Austausch verweist nicht zuletzt auch darauf, dass eine Handlung ihren spezifischen Sinngehalt dadurch erhält, dass ein Zusammenhang zu anderen, bereits bekannten Situationen und den darin realisierten Mustern hergestellt und situativ abgeglichen wird.

4.4 Gegenbewegungen

135

Nicht Status und Rolle sind in dieser Sichtweise die entscheidenden Strukturen sozialer Wirklichkeit. Vielmehr sind es die jedem erwachsenen und vertrauenswürdigen Gesellschaftsmitglied („Bona fide members of the Society“, ebd., S. 189) zugänglichen Methoden, ihre Handlungen für andere verstehbar und erklärbar („accountable“) zu machen, die eine als geordnet erfahrene Alltagswirklichkeit hervorbringen. Der Begriff des „accounts“ bzw. der „accountability“ gehört in der Ethnomethodologie zu den zentralen Begriffen, er lehnt sich an Schütz’ Begriff der „Zurechnungsfähigkeit“ an, ist jedoch ein eigenes, intensiv diskutiertes Konzept. Im Kern geht es um den sich im Handeln der Gesellschaftsmitglieder selbst dokumentierenden „Prozess-des-Verstehens-und-sich-Verständlich-machens“ (Garfinkel zit. nach Bergmann 2008b, S. 125). Wenn Akteure Handlungen und Interaktionen ausführen und sich in alltäglichen Routine- und Problemsituationen verständigen – also z. B. eine Warteschlange bilden, als Patient mit der Ärztin über eine Diagnose sprechen, sich verabreden und die Frage lösen, was man gemeinsam unternimmt – dann werden eben jene für den „Prozessdes-Verstehens-und-sich-Verständlich-machens“ benötigten Kompetenzen aktiviert. Für die Gesellschaftsmitglieder ist dieses Tun in der Regel so selbstverständlich, dass sie dem keinerlei explizite Aufmerksamkeit widmen – aber durch welche Aktivitäten wird eine Ansammlung von Personen zu einer Warteschlange? Welche Aktivitäten machen ein Gespräch zu einem Ärztin-Patient-Gespräch und nicht zu einem seelsorgerischen oder freundschaftlichen? Wann wird aus einer Verabredung von Bekannten die Verabredung eines Paares? Die konstitutiven Merkmale der entsprechenden Handlungen werden von den Beteiligten „gesehen, bleiben aber unbeachtet“ (Garfinkel 1973, S. 193), d. h. sie sind handlungsleitend, werden von ihnen aber nicht zum Objekt der Betrachtung gemacht. Ethnomethodologen müssen in ihrer Forschungsarbeit – etwa in der Erhebung ethnographischen Materials, bei Aufzeichnungen von Gesprächen oder anderen Situationen – zunächst ebenfalls die alltagsweltlich eingespielten Methoden und Verfahren zugrunde legen, denn sonst könnten sie sich im Forschungsfeld nicht verständlich machen. In der Auswertung des Datenmaterials aber wird eine Beobachtungshaltung eingenommen, in der Vorwissen ausgeschaltet und versucht wird, am Beispiel von ganz normalen sozialen Szenen oder kommunikativen Abläufen die den beteiligten Akteuren selbst i. d. R. verborgenen Herstellungsleistungen von sozialer Wirklichkeit heraus zu destillieren. Um die dazu notwendige Distanzierung zu erleichtern, sind für die ethnomethodologische Forschung einige „Kunstgriffe“ (Bergmann 2008a, S. 58) entwickelt worden. Einer davon ist, dass vor eine intuitiv eingeführte Beschreibung des Verhaltens – z. B. „sie ist ärgerlich“ – ein „doing (being)“ gesetzt wird: „she is doing (being) angry“ (ebd., S. 61). Damit wird die Aufmerksamkeit systematisch auf das Tun bzw. auf die „Produktionspraktiken“ eines Verhaltens (ebd.) gelenkt. Dieser „Kunstgriff“ wird uns in einem späteren Kapitel noch einmal beschäftigen (Kap. 7.2.3). In der Perspektive der Ethnomethodologie sind Gesellschaftsmitglieder keine kulturellen ‚Trottel‘, die lediglich normativen Verhaltenserwartungen genügen und sich sozialen Zwängen unterwerfen, sondern sie gestalten auch dann, wenn sie routinisiert handeln, ihre Welt kompetent aus. Für Soziolog/innen sind solche selbstverständlichen, auf dem Alltagswissen beruhenden Handlungs- und Interaktionsabläufe „Zeichen-und-Zeugnisse-einer-sozialen-Ordnung“ (Garfinkel zit. nach Bergmann 2008b, S. 123). Eine konkrete Handlung kann verstanden werden als Dokument eines allgemeinen Musters. In Anlehnung an Karl Mannheim (vgl. Kap. 3.4.3) nennt Garfinkel (1973, S. 199) dieses Verfahren „dokumentarische Methode der Interpretation“. Zwischen Muster und Handlung besteht eine Beziehung wechselseitigen Verweisens: „Jede der beiden Seiten wird benutzt, um die je andere auszuarbeiten“ (ebd.).

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4 Die Idee der „Geschlechtsrollen“

Um sie anzuwenden, bedarf es möglichst unbearbeiteten empirischen Materials wie Videound Tonaufzeichnungen von ,natürlichen‘ (i. e. alltäglichen) Interaktionssituationen. Dieses Vorgehen wird sehr eindrücklich in einer Studie dokumentiert, die Garfinkel „Passing and the managed achievement of sex status in an ‚intersexed‘ person“ (Garfinkel 1967, S. 116) betitelt hat. Er beginnt diese Studie mit der Überlegung, dass in allen Gesellschaften der Wechsel von einem Status in einen anderen (z. B. von der Schülerin zur Studentin) kontrolliert und geregelt vor sich geht. Geht es um den „sex-status“, so erweisen sich diese Kontrollen als extrem restriktiv und rigide. Gelegenheiten zum Wechsel bieten nur einzelne Zeremonien, in denen er dann als „spielerisch“ und temporär begrenzt ausgewiesen ist und den Status, den eine Person in dieser Hinsicht sonst hat, nicht berührt. Da es sich – in der Terminologie Lintons – um einen „zugeschriebenen Status“ und nicht um einen erwerbbaren handelt, werden die rigiden Kontrollen gar nicht als Kontrolle erfahren. Sie sind schon in der Art und Weise der Geschlechtertrennung angelegt, i. e. in der Dichotomisierung von Frauen und Männern als vermeintlich „natürliche Einheiten“ der Gesellschaft. Ein Wechsel zwischen den beiden exklusiven Status ist nicht vorgesehen. Außer einer Änderung des Eintrags in der Geburtsurkunde gebe es keinen legitimen Pfad der Veränderung und wo er beschritten wird, löse er Befremden bei den „bona fide“-Mitgliedern aus, die ihren „sex-status“ als selbstverständlich gegeben annehmen und den der anderen auf Treu und Glauben unterstellen. Was geschieht unter diesen Bedingungen mit Personen, die in das Behandlungsprogramm einer psychiatrischen Klinik aufgenommen worden sind und die von dem grundlegenden Schema der Statuszuweisung in anatomischer Hinsicht abweichen – als inter- oder transsexuell? In jedem dieser Fälle standen die Personen vor dem Problem, dass sie den von ihnen gewählten „sex-status“ in dem Wissen erwerben mussten, dass eine Aufdeckung ihres vorher zugewiesenen Geschlechts sie in erhebliche psychologische, materielle und soziale Schwierigkeiten bringen würde. Die Arbeit, die in diesen Weg investiert wird und den Umgang mit den dabei auftretenden Problemen nennt Garfinkel „passing“. Dieser Prozess wird in der Fallstudie zu „Agnes“ minutiös rekonstruiert. Agnes war eine 19-jährige Frau, die als Junge aufwuchs und deren weibliche Figur begleitet war von einem normal entwickelten Penis und Hoden. Sie kam 1958 in das Behandlungsprogramm der Klinik. Wie sie erst im Nachhinein offen legte, war sie eine Mann-zu-Frau Transsexuelle. Die Fallstudie stützte sich vor allem auf Tonaufzeichnungen von Gesprächen zwischen dem behandelnden Arzt und Agnes, bei denen auch Harold Garfinkel anwesend war, daneben aber auch auf Beobachtungen und Ergebnisse medizinischer Untersuchungen. Garfinkel schildert seinen Eindruck folgendermaßen: „Agnes Erscheinung war überzeugend weiblich. Sie war groß, schlank, mit einer sehr weiblichen Form. Ihre Maße waren 96 – 63 – 96. Sie hatte langes, feines dunkelblondes Haar, ein junges Gesicht mit hübschen Zügen, Pfirsichhaut, keine Gesichtshaare, subtil gestaltete Augenbrauen und kein make-up außer Lippenstift. Bei ihrem ersten Erscheinen war sie mit einem engen Pullover bekleidet, der ihre dünnen Schultern betonte, ihre vollen Brüste und ihre schmale Taille. Ihre Füße und Hände, ein bisschen größer als man bei einer Frau vermutet, aber sonst nicht weiter bemerkenswert. Die Art und Weise sich zu kleiden, unterschied sich nicht von einem typischen Mädchen ihres Alters und ihrer sozialen Klasse. In ihrer Erscheinung war nichts exhibitionistisches, nichts geschmackloses, es war auch kein Hinweis auf eine extreme Betonung der Kleidung wie es häufiger bei Transvestiten zu finden ist oder bei Frauen mit einer Störung der sexuellen Identität. Ihre Stimme pendelte sich auf einem Alt-Level ein,

4.4 Gegenbewegungen

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war sanft, und ihre Aussprache hatte ein gelegentliches Lispeln ähnlich wie die gezierte Art bei feminin wirkenden männlichen Homosexuellen. Ihr gesamtes Benehmen war angemessen weiblich mit einer leichten Ungeschicklichkeit wie sie typisch ist für die mittlere Adoleszenz“ (Garfinkel 1967, S. 119, Übers. durch Verf.). Er schreibt weiter, dass eine ganze Reihe von medizinischen, physikalischen und endokrinologischen Untersuchungen durchgeführt wurden, die ergaben, dass sie neben Penis und Hoden auch ein männliches Chromosomenmuster hatte, nicht über Eierstöcke und Uterus verfügte, die Laborwerte von Blut und Urin sich innerhalb normaler Grenzen hielten, nur bei einigen Urinproben ein höherer Östrogenwert festgestellt wurde. Sie wurde als Junge mit normal erscheinenden Genitalien geboren, ihre Geburtsurkunde weist sie als männlich aus, bis zu ihrem 17. Lebensjahr wurde sie von allen als Junge wahrgenommen. Zu diesem Zeitpunkt begann der Prozess ihres „passings“, der sie in das Behandlungsprogramm der Klinik führte. Während der Gesprächssitzungen dominierte ein Thema: Agnes insistierte darauf, dass sie eine „natürliche“ und „normale“ Frau sei. Immer wieder sagte sie in den Gesprächen: „Ich habe mir immer gewünscht, ein Mädchen zu sein. Ich habe mich immer wie ein Mädchen gefühlt; ich bin immer ein Mädchen gewesen, aber die Umwelt hat mir irrtümlich das andere Ding aufgezwungen“ (ebd., S. 130, Übers. d. Verf.). Die Art ihrer Beschreibung, die Art, wie sie mit dem „Frau-sein“ befasst ist, wirft ein Licht darauf, welche Bedeutung diese Kennzeichnung als „natürlich und normal“ hat. Die Welt erscheint bevölkert mit Personen, die entweder Frauen oder Männer sind. Personen, die dies nicht sind, stehen in einem moralischen Kontrast zu ihnen, sind krank oder kriminell. Die Geschlechtszugehörigkeit wird auf diese Weise zu einer objektiven – institutionalisierten – Tatsache, was nichts anderes heißt, als dass sie zu einem „moral fact“, einer moralischen Tatsache wird. Agnes selbst unterstützte diese Sichtweise durch ihr Insistieren, eine „normale, natürliche Frau“ zu sein, eine Frau mit einem Penis, der ein ,Fehler‘ sei und daher korrigiert werden müsse. Mit der ca. ein Jahr nach Beginn der Gespräche stattfindenden Operation, die diesen ,Fehler‘ beseitigte, konnte sie zwar in physischer Hinsicht den Anforderungen ,Frau zu sein‘ entsprechen, aber sie musste nach wie vor in Interaktionen als ,Frau‘ bestehen (können). Entscheidend dafür war ihr Gespür für routinisierte Alltagspraktiken, die in „normalen“ Handlungsabläufen „gesehen aber nicht beachtet“ werden und die sie selbst lernen, also erwerben musste. Insofern war Agnes praktizierende Ethnomethodologin. Darin akzeptierte sie, dass ihr Anspruch auf den Status ,Frau‘ diskreditierbar war und sie ständig darauf zu achten hatte, dass diese für sie ‚richtige‘ Kategorisierung nicht von anderen bedroht wurde. Auf diese Weise war sie fortwährend damit befasst, sich als Frau darzustellen. „Passing“ war für Agnes nichts, was sie sich gewünscht hätte. Der Prozess erwies sich für sie als unausweichlich. Die Rekonstruktion dieser Prozesse dokumentiert wie kaum etwas anderes, wie voraussetzungsvoll das ,Frau sein‘ ist. Es bedeutet primär von anderen als ,Frau‘ wahrgenommen und behandelt zu werden, was wiederum voraussetzt, sich mittels verschiedener Methoden als Frau wahrnehmbar zu machen. Kleidung, Erscheinung, Bewegung, Tätigkeiten, Freundschaften, Wohnung, biographische Daten, Gesprächsverhalten, Wortwahl, Blickkontakte, all das muss „accountable“, i. e. dem ,Status Frau‘ zurechenbar sein. Agnes lehnte dabei jeden Vergleich mit Homosexuellen oder Transvestiten ab: „Ich will nicht auf diese Weise klassifiziert werden“ (ebd., S. 131). Sie stimmte mit den „Bona fide-Mitgliedern“ der Gesellschaft in ihrer Haltung vollständig überein, dass die Welt aus zwei und nur zwei

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4 Die Idee der „Geschlechtsrollen“

,natürlichen‘ Geschlechtern besteht. Sie erkannte sich nicht als „Ausnahme“ an, obwohl sie für den Beobachter ersichtlich eine solche darstellte. Garfinkel geht hier wie auch in anderen seiner Untersuchungen – den sog. „Krisenexperimenten“ – von der Annahme aus, dass wir dem, was in der gesellschaftlichen Normalität als selbstverständlich gilt, vor allem dann auf die Schliche kommen, wenn wir untersuchen, was geschieht, wenn wir diese Normalitätsvorstellungen und -erwartungen durchbrechen. Auf der Grundlage der Fallstudie Agnes kondensiert er grundlegende Annahmen, welche Merkmale „natural, normally sexed persons“ aus der Perspektive erwachsener Mitglieder („bona fidemembers“) der US-amerikanischen Gesellschaft aufweisen (müssen) (ebd., S. 124 ff.). Zentral ist, dass „normal“ hier vor allem heißt, in Übereinstimmung mit der Vorstellung zu leben, dass es „von Natur aus“ zwei und nur zwei Geschlechter gibt, Genitalien die essentiellen Zeichen dafür sind und die Geschlechtszugehörigkeit invariant ist, d. h. im Lebensverlauf nicht verändert werden kann. Diese Übereinstimmung ist eine moralische Angelegenheit. Personen, die damit nicht übereinstimmen, weichen von zentralen sittlichen Vorstellungen ab und insofern kommt dem ,sex-status‘ eine entscheidende Bedeutung in der Herstellung sozialer Ordnung zu. Darin enthalten ist die Verpflichtung zu einer entsprechenden Selbstdarstellung, in der die Zugehörigkeit als „Zeichen-und-Zeugnis-einer-sozialen-Ordnung“ (Garfinkel zit. nach Bergmann 2008b, S. 123) sichtbar gemacht wird. Der ,sex-status‘, so Garfinkel, ist für alle Angelegenheiten des alltäglichen Lebens in der Hinsicht relevant („omnirelevant“), dass mit ihm ein invarianter, i. d. R. unbemerkter und nicht hintergehbarer Hintergrund für die wechselnden, je aktuellen Szenen des Alltagslebens gegeben ist (Garfinkel 1967, S. 118).

4.4.3

Erving Goffman (1922–1982)

Erving Goffman steht für ein Programm, das so vielfältig ist, dass es sich einer einfachen Benennung entzieht. Mit seinen Forschungen zu Stigmatisierungsprozessen, totalen Institutionen, den „Vorder-“ und „Hinterbühnen“ alltäglichen Lebens wurde er auch einer breiteren Öffentlichkeit bekannt. E. Goffman wird dem interpretativen Paradigma zugerechnet und hat in seinem Forschungsstil ein so eigenes und unverwechselbares Profil entfaltet (Willems 2008), dass er nicht zuletzt deshalb als ein „Klassiker der zweiten Generation“ (Hettlage/ Lenz 1991) gilt. Goffman hat sich einerseits auf die mit G. H. Mead, W. I. James, A. Schütz, G. Simmel und M. Weber verbundenen Traditionslinien bezogen, setzte sich andererseits aber zugleich mit eher strukturbetonten Denkansätzen (insbesondere Durkheim, Mauss, Parsons) intensiv auseinander. Den symbolischen Interaktionismus kritisiert er, weil er viel zu vage sei und kein tragfähiges Regelkonzept habe, die Ethnomethodologie, weil diese die nichtsprachliche Dimension von Interaktionen und die subjektive Perspektive der Akteure in ihren Analysen zu wenig berücksichtige (Hettlage 1999, S. 190; Raab 2008, S. 50 f.). Goffman hat zwar im Laufe seines Lebens seine Schwerpunkte unterschiedlich gesetzt, die „innere Klammer“ (Raab 2008, S. 10) seines Werkes aber sehen wir in der Erforschung der sozialen Ordnung von Interaktionen als „Gegenstand in eigenem Recht“ (Goffman 1994, S. 55).16 16

In frühen Werken wie „Wir alle spielen Theater“ (1969) hat Goffman noch die Struktur des Selbst und dessen Strategien, Manöver, Täuschungsversuche, Imagepflege etc. in den Mittelpunkt gestellt, in seinen letzten Jahren („Rahmenanalyse“, „Interaktionsordnung“) aber überwog die Frage, wie sich im Alltag eine tragfähige „Normalität“ herstellen kann, auch wenn nicht mehr als eine heikle Balance in der Verständigung der Interaktionspartner erreichbar sei. Damit wandte sich auch Goffman immer stärker der grundlegenden Frage zu, wie Gesellschaft (soziale Ordnung) möglich ist. In seiner Antwort kommt er dem Simmelschen Konzept der

4.4 Gegenbewegungen

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In der Analyse der sozialen Ordnung von Interaktionen ist der grundlegende Forschungsgegenstand die „soziale Situation“. Diese ist dadurch definiert, dass zwei oder mehr Personen physisch präsent sind, sich wechselseitig wahrnehmen und aufeinander reagieren können (Goffman 1994, S. 55). Mit dem vergleichsweise schlichten Tatbestand „körperlicher KoPräsenz“ tritt eine zentrale „Grundbedingung des gesellschaftlichen Lebens“ zutage: die „folgenschwere Offensichtlichkeit“ des Individuums (ebd., S. 58). Sie stellt eine konstitutive und universelle Voraussetzung gesellschaftlichen Lebens dar. Alle anderen sozialen Situationen (Telefonieren, Chatroom, Videokonferenz) sind abgeleitete und eingeschränkte Varianten dieses grundlegenden Phänomens. Das bedeutet allerdings nicht, dass soziale Strukturen allein auf Interaktionsleistungen in sozialen Situationen zurückführbar wären. Von Goffman wird lediglich die Eigengesetzlichkeit der in sozialen Situationen wirksam werdenden Interaktionsordnung herausgearbeitet, makrostrukturelle Faktoren wirken über Schnittstellen („interfaces“) auf Interaktionen ein und umgekehrt. Beide Bereiche sind damit nicht strikt voneinander abgeschlossen, ihre Relation zueinander ist die einer „losen Koppelung“ (ebd., S. 85): „Soziale Strukturen ‚determinieren‘ nicht kulturell standardisierte Darstellungsformen, sie helfen lediglich aus einem verfügbaren Repertoire von Darstellungen auszuwählen“ (ebd., S. 83). Mit der „sozialen Situation“ als zentralem Forschungsgegenstand steht explizit nicht ein soziales System mit seiner Rollenstruktur als ein „Ganzes“ im Mittelpunkt, sondern vielmehr das Individuum als „Partizipationseinheit“. Entsprechend setzt Goffmans Rollentheorie grundlegend anders ein als die von Linton und Parsons. Letztere beschränkten sich auf die normativen Verhaltenserwartungen an Positionsinhaber, Goffman dagegen geht es um das faktische Rollenspiel der einzelnen Individuen in einem „situierten Aktivitätssystem“ (Goffman 1973, S. 109), etwa der Karussellfahrt eines Kindes oder einer von Chirurgen durchgeführten Operation in einem Krankenhaus. Dieses „Rollenspiel“ wird nicht einfach als eine Folge normativer Verhaltenserwartungen angesehen, sondern als eine Frage der Präsentation des Individuums in der und durch die Interaktion. Darin wird eine gewisse Abweichung von den normativen Verhaltenserwartungen („Rollendistanz“) zu einem Teil des Rollenspiels, um sich und den sozialen Anderen anzuzeigen, welche „Person“ hinter der Rolle steht (vgl. ebd., S. 129 f.). Ohne Individuen, ihre „physische Ko-Präsenz“ und die damit gesetzte Sichtbarkeit gäbe es keine soziale Situation – dennoch steht nicht das Individuum im Zentrum von Goffmans Interesse, sondern vielmehr die mit Eintritt in eine soziale Situation einsetzenden Wechselwirkungen zwischen den Handlungen der anwesenden Personen. Es sind zwar die Individuen, die Interaktionen ‚machen‘ – aber gleichzeitig ‚macht‘ die Interaktion in gewissem Sinn die Individuen. Interaktion in sozialen Situationen ist nicht einfach ein Medium, in dem gleichsam vorsozial gedachte oder sozial bereits vollständig geprägte Personen (etwa ‚als‘ Frauen oder Männer) mit- oder auch gegeneinander handeln, sondern stellt einen formenden Prozess eigener Art dar. Allein aus dem Umstand, dass Individuen interagieren, resultieren bestimmte Zwänge, die nicht von den Individuen beabsichtigt sind und über die sie nicht verfügen können. Goffman nennt hier als erstes den Zwang zur kategorialen und individuellen Identifikation (Goffman 1994, S. 59). Damit ist gemeint, dass wir zum einen das andere

„Wechselwirkung“ nahe (vgl. Kap. 3.1.4); in seinen Analysen vertieft, verfeinert und entwickelt er dieses Konzept weiter. Gleichzeitig schlägt er darin eine Brücke zu den diametral entgegen gesetzten Arbeiten Durkheims, insbesondere zu dessen Studien zur Funktion von Ritualen.

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4 Die Idee der „Geschlechtsrollen“

Individuum einer oder mehreren sozialen Kategorisierungen zuordnen (allgemein: Alter, Geschlecht, Ethnie, Klasse; spezifisch: Schüler/in, Nachwuchswissenschaftler/in, Handwerker/in etc.) und es zum anderen aber auch als ein besonderes, von allen anderen durch seine individuelle Identität unterschiedenes Individuum (Aussehen, Name, Stimme etc.) wahrnehmen. Weis sich ein Individuum in der Gegenwart eines anderen, entsteht weiter ein Zwang zur synchronisierten Koordinierung von Handlungen, sei es beim Einander-Ausweichen auf einer belebten Straße, dem „höflichen Ignorieren“ anderer im Wartezimmer oder der freudigen Begrüßung des erwarteten Gastes. In diese synchronisierte Koordinierung von Handlungen ist i. d. R. die Markierung persönlicher territorialer Ansprüche eingebunden, schließlich muss ein jedes Individuum, wo immer es sich befindet, „seinen Körper dabeihaben“ (ebd., S. 152) und damit die Fragen beantworten: Welchen Raum darf ich einnehmen? Welche physische Nähe ist angebracht? Welche Distanzregel gilt? Dass die Fragen in einer überfüllten Straßenbahn anders als in einer großräumigen Hotellobby beantwortet werden, zeigt, dass die territorialen Ansprüche nicht generell, sondern nur situativ ausgelotet werden können. In dem Moment, in dem ein anderer Mensch in der Situation wahrgenommen wird, wird nicht zuletzt ein Zwang aktualisiert, die eigenen Absichten kundzutun (z. B.: ich warte auf jemanden, ich freue mich über dein Kommen o. ä.), sowie ein Zwang zur Interpretation der entsprechenden Gesten des Gegenübers (z. B. ein leichtes Sich-Wegdrehen oder ein freundliches Nicken etc.). All diese Zwänge werden in alltäglichen sozialen Situationen i. d. R. nicht bemerkt, denn sie werden durch Interaktionsregulative gesteuert, die als unsichtbare Hintergrundannahmen wirken und nur dann bewusst werden, wenn ihnen nicht entsprochen wird – z. B. wenn eine Person statt einer Begrüßung beschimpft wird, wenn die üblichen Höflichkeitsrituale ausgesetzt scheinen, auf Fragen keine Antworten folgen etc. Solche Interaktionsregulative sind unverzichtbar, sie stellen eine Art „vertrauensbildende Maßnahmen“ (Hettlage 1999, S. 193) im Umgang miteinander dar. Mit der Herausarbeitung der in Interaktionen wirksam werdenden Zwänge wird paradoxerweise die prinzipielle Offenheit im sozialen Handeln ebenso wie seine dauerhaft zu bearbeitende Störanfälligkeit verdeutlicht. Goffman nimmt so nicht nur das wechselseitige Verstehen in gelingenden kommunikativen Interaktionen in den Blick, sondern ihn interessiert auch das Scheitern von Interaktionen, das durch Fehleinschätzungen, Missverständnisse, mangelndes Engagement, Gleichgültigkeit, übertriebenes „Eindruck-Schinden“ („impression management“) etc. beinahe genauso alltäglich ist wie eine gelingende Verständigung. Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund erklärt sich sein Interesse an den vielfältigen kleinen Alltagsritualen (wie z. B. Händeschütteln bei der Begrüßung) und den großen Zeremonien (wie z. B. Hochzeiten und Beerdigungen). Die erste Grundanforderung an die Akteure ist in diesem Zusammenhang das „richtige Benehmen“ (z. B. Kleiderordnung, Körperbeherrschung, Sprachcodes, Tischsitten), die zweite die „Ehrerbietung“, durch die dem Interaktionspartner Wertschätzung kommuniziert wird (vgl. Raab 2008, S. 66). Durch die kleinen alltäglichen Rituale wird ein zufälliges Zusammentreffen ebenso wie eine gezielte Begegnung von den Akteuren weitgehend unbemerkt strukturiert und eine grundlegende Verhaltenssicherheit auch dort ermöglicht, wo keine expliziten Regeln oder Gesetze gelten. Ohne sie wäre eine normale alltägliche Verständigung nicht möglich. Solche Ritualisierungen im Austausch der Akteure haben als Hintergrund, dass der (physischen) Ko-Präsenz verschiedener Akteure „Chancen wie auch Gefahren“ (Goffman 1994, S. 61) innewohnen. Das Individuum will sich in Interaktionen (sozialen Situationen) einerseits den jeweiligen kulturellen Regeln entsprechend so positiv wie möglich darstellen, ande-

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rerseits muss es sich vor den anderen schützen, ist als Individuum in einem basalen Sinne physisch, psychisch und sozial verletzlich. Es steht in einer ständigen „Aktivitätsspannung zwischen Gelassenheit und Alarmierung“ (Hettlage 1991, S. 124). Im Verhalten „Normalität“ zu produzieren, bedeutet dann vor allem auch, keine besondere Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, als jemand zu gelten, von dem keine Gefahr ausgeht und der zugleich fähig ist, sich selbst zu schützen: „Mead hatte nur darin unrecht, dass er glaubte, die einzigen relevanten Anderen wären diejenigen, die dem Individuum anhaltende und besondere Aufmerksamkeit zu schenken bereit sind. Es gibt jedoch noch andere Andere, nämlich jene, die ein Interesse daran haben, in ihm jemand zu finden, der nicht alarmierend ist und dem sie keine Aufmerksamkeit zu schenken brauchen, damit sie sich ungestört anderen Angelegenheiten zuwenden können. Das Individuum muss also teilweise für es selbst zu jemandem werden, dessen Erscheinungen die ihm gegenüberstehenden Anderen als normal ansehen können. Die Fähigkeit, als jemand zu erscheinen, der ohne Gefahr unbeobachtet gelassen werden kann, ist tief verwurzelt. Es gibt nichts, was tiefer, nur einiges, was genau so tief verankert ist“ (Goffman 1974, S. 367, Herv. i. O.). Diese Grundeinstellung hat zur Folge, dass Situationsdeutungen immer auch im Hinblick darauf erfolgen, ob alles in Ordnung ist oder Anlass zu Alarm besteht. Erster und entscheidender Impetus beim Eintreten in soziale Situationen ist daher die Frage: „Was geht hier eigentlich vor?“ (Goffman 1977, S. 16) „Ob sie nun ausdrücklich gestellt wird, wenn Verwirrung und Zweifel herrschen, oder stillschweigend, wenn normale Gewissheit besteht – die Frage wird gestellt und die Antwort ergibt sich daraus, wie die Menschen weiter in der Sache vorgehen“ (ebd.). Um „weiter in der Sache vorzugehen“ müssen Situationen definiert werden. Diejenigen, die sich in der jeweiligen Situation befinden, schaffen diese Definition jedoch i. d. R. nicht aus sich heraus und oft genug sind sie sich auch gar nicht einig, „was hier vor sich geht“, da sich ihre Perspektiven dramatisch unterscheiden können. Für die Tennisspielerin ist das Spiel auf dem Platz ein Spiel, für den Balljungen ist es Arbeit. Für Studierende ist die Abschlussprüfung eine Ausnahmesituation, für die Professorin dagegen gehören Prüfungen zur Routine. Dennoch finden die Beteiligten in der Regel zu einem ‚Arbeitskonsens‘. Dies geschieht dadurch, dass sie auf verschiedene „Rahmen“ zurückgreifen und Rahmungen vornehmen, durch die vorgezeichnet wird, welches Verhalten angemessen ist und welches als Alarm auslösend gilt. Eine Prüfung ist kein Happening und wenn es dazu umgestaltet wird, wissen alle Beteiligten, dass damit die Prüfung ungültig werden kann. In der Regel werden Rahmen und Rahmungen durch den sozialen Ort und den kulturellen Kontext mehr oder weniger nachdrücklich nahe gelegt. Im Kino wird eine größere physische Nähe zu dem (fremden) Sitznachbarn eher als normal angesehen als auf einer Bank im Park, der Redebeitrag eines Studierenden im Seminar wird anders gerahmt als der Redebeitrag in einer Prüfung oder in einer Talk-Show. Dabei können die Äußerungen sehr ähnlich sein. Rahmen, so lautet die Definition von Goffman, sind „Organisationsprinzipien für Ereignisse“ und für „unsere persönliche Anteilnahme an diesen“ (ebd., S. 19), mittels derer wir eine Definition der Situation vornehmen. Sie setzen ein kulturell geteiltes Wissen voraus, bedürfen aber der situativen Interpretation durch die beteiligten Individuen. Mit der „Rahmenanalyse“ wird eine ‚Gelenkstelle‘ zur Sozialstruktur bzw. zur Makroebene soziologischer Analyse geschaffen, die es erlaubt, in der Analyse sozialer Situationen an komplexere soziale Kontexte (Organisationen, Institutionen, soziale Milieus, makrostrukturelle Kategorien wie Schicht, ethnische Zugehörigkeit und Geschlecht) anzuschließen.

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Mit Goffmans Rahmenanalyse lernen wir zu verstehen, mit welchen Hilfsmitteln Menschen sich in ihrem Alltag zurechtfinden, wie sie Realitätsmodi (Ernst/Spaß, Wunsch/Wirklichkeit, Alltag/Festlichkeit, Realität/Fiktion) voneinander abgrenzen, wie sie – kurz gesagt – ,Sinn‘ herstellen können. Ein solches „Organisationsprinzip für Ereignisse und unsere persönliche Anteilnahme an diesen“ – einen Rahmen – stellt auch die Geschlechterordnung in unserer Gesellschaft dar. „Arrangement der Geschlechter“ Goffmans Studien zur Kategorie Geschlecht – „Gender and Advertisement“ (1976 [deutsch: 1981]) und „The Arrangement between the Sexes“ (1977 [deutsch: 1994]) – sind nach der Veröffentlichung der „Rahmenanalyse“ erschienen. In beiden Studien liegt der Schwerpunkt daher auf den vom individuellen Handeln abgelösten, in Interaktionsordnung und situativer Rahmung begründeten Formen und Prozessen der Interaktion. Explizit kritisiert Goffman das Verständnis, „Geschlecht“ sei ein „erlerntes Rollenverhalten“, da dieses Verständnis eher „gegen Erkenntnisse immunisiert“ (Goffman 1994 [1977], S. 105) habe, als dass es in irgendeiner Form von Nutzen gewesen wäre. Sozialwissenschaftler seien mit dem Phänomen genauso umgegangen wie alle anderen Menschen: „Sie stützen durch ihr eigenes Verhalten blindlings genau das, was wenigstens einige von ihnen hätten in Frage stellen sollen“ (ebd.). Goffmans Analysen zur Positionierung und zum Verhalten von Frauen im „Arrangement der Geschlechter“ wurden von den so angesprochenen zumeist ignoriert; aus feministischer Perspektive ist der Ansatz durchaus kontrovers diskutiert worden (z. B. Wedel 1978; Kotthoff 1994; Gardner 2000; West 2000). Ausgangspunkt für Goffmans Analyse der Geschlechtertrennung ist die „soziale Situation“ im oben verstandenen Sinne: eine räumliche und physische Ko-Präsenz von Individuen, so dass diese sich wahrnehmen und aufeinander reagieren können und müssen – sei es im Hinblick auf die Norm „höflicher Gleichgültigkeit“ oder die gegenseitige physische, psychische und soziale Verletzbarkeit. Nur über diesen Bezug wird die Formulierung „Arrangement der Geschlechter“ verständlich, die man hier als ‚Anordnung‘ der Geschlechter in sozialen Situationen verstehen kann. Diese wird im interaktiven Handeln, den alltäglichen Ritualen und zeremoniellen Sequenzierungen hergestellt. In unserem Alltagsverständnis glauben wir, dass mit Geschlecht als scheinbar biologisch vorgegebenem Unterschied eine dem Sozialen äußere, vermeintlich objektive Umwelt gegeben ist, die auf die Formen sozialer Organisation einwirke und sie beschränke. Stattdessen stellt Goffman nun die Frage, „was aus der Umwelt herausgefiltert oder in sie hineinprojiziert werden musste, damit die angeborenen Unterschiede zwischen den Geschlechtern, die es ja gibt, überhaupt irgendeine Bedeutung – in Wirklichkeit oder in der Vorstellung – bekommen konnten“ (Goffman 1994, S. 128). Mit dieser Formulierung wird deutlich, dass Goffman die interaktionstheoretische Prämisse, dass Objekte ihre Bedeutung nicht in sich tragen, sondern diese erst in der Interaktion von Menschen hergestellt wird (vgl. Kap. 4.4.1), systematisch auf das Objekt „Geschlechterdifferenz“ bezieht. Als „angeborene Unterschiede“ bezeichnet er den Dimorphismus der Genitalien sowie die alleinige Fähigkeit von Frauen zu menstruieren, Kinder zu gebären und sie zu stillen. Diese Unterschiede lieferten lediglich einen Ansatzpunkt für eine Differenzierung, aber damit sei noch keine Erklärung gegeben, wieso die geringen physiologischen Unterschiede derartige soziale Folgen zeitigen: „Etwas organisatorischer Aufwand wäre nötig, wenn auch unter modernen Bedingungen nicht allzu viel, wollte man die spürbaren sozialen Folgen dieser körperlichen

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Gegebenheiten verhindern. Industriegesellschaften können neue ethnische Gruppen verkraften, die beträchtliche kulturelle Unterschiede aufweisen, ebenso den ein Jahr oder länger dauernden Wehrdienst junger Männer, enorme Bildungsunterschiede, Wirtschafts- und Arbeitsmarktzyklen, die kriegsbedingte Abwesenheit von Männern jeder Generation, einschneidende jährliche Ferienperioden und zahllose andere Turbulenzen der öffentlichen Ordnung“ (Goffman 1994, S. 106). Warum ‚verkraften‘ sie dann nicht die vergleichsweise geringen biologischen Geschlechterunterschiede, sondern stellen „Frauen und Männer (…) in ziemlich unterschiedlichen Beziehungen zum öffentlichen Leben; dessen Risiken (…) aus strukturell tiefliegenden Gründen für Frauen sehr viel größer als für Männer“ sind (ebd., S. 157)? Die Gründe dafür liegen nicht in der Biologie, sondern seien Ergebnis der gesellschaftlichen Organisation. Die Frage ist also, wie die geringen biologischen Unterschiede zu Garanten einer solchen sozialen (öffentlichen) Ordnung werden konnten. Die Antwort darauf lautet: Es ist die „institutionelle Reflexivität“, durch die sichergestellt ist, dass Frauen und Männer sich in sozialen Situationen so anordnen (arrangieren), dass sie sich ihre „angeblich unterschiedliche Natur gegenseitig wirkungsvoll vorexerzieren können“ (ebd., S. 143). Grundlage hierfür ist die Zuordnung neugeborener Kinder zu der einen oder anderen „Geschlechtsklasse“, mit der eine ganze Identifikationskette abrufbar wird: Mann/ Frau, männlich/weiblich, er/sie, Junge/Mädchen. In dieser Zuordnung geht es ausschließlich um eine Zuordnung „durch das Ansehen des nackten Kinderkörpers“ (ebd., S. 107), i. e. eine alltagspraktische Handlung zur Identifizierung der sichtbaren (dimorphen) Genitalien. „Geschlechtsklasse“, so wie Goffman den Begriff verwendet, ist daher eine soziologische Kategorie, keine biowissenschaftliche. Die Einordnung in die eine oder andere Geschlechtsklasse stellt für Goffman einen „Prototyp sozialer Differenzierung“ (ebd., S. 108) dar. Sie ist lediglich ein erster Schritt in einem fortwährenden Sortierungsvorgang dar, der ein Leben lang andauert und zu einer der wichtigsten Quellen der Selbstidentifikation wird. Die Frage „Wer bin ich?“ verlangt einen Bezug auf die Geschlechtsklasse und diese muss vor sich selbst und vor anderen immer wieder ratifiziert werden. Das ist aber noch nicht alles: Mit den beiden Geschlechtsklassen entsteht eine Personenkategorie, von der man glaubt, dass sie durch biologische Merkmale und Eigenschaften definierbar ist. An die biologischen Merkmale werden andere nicht-biologisch bedingte Eigenschaften angeheftet (etwa Aktivität/Passivität, Rationalität/Emotionalität, Öffentlichkeit/Privatheit, etc.), so dass auf diese Weise das biologische Merkmal zu einem „Eimer [wird], in den die anderen Eigenschaften lediglich hineingeleert werden“ (ebd., S. 113). Ergebnis ist ein „umfassendes, geschlossenes Bündel von Glaubensvorstellungen“ (ebd., S. 106), ohne das die gesamte Ordnung keinen Sinn ergebe. Solche Glaubensvorstellungen sind Teil institutioneller Ordnungen. Institutionelle Ordnungen organisieren unser Wissen um die jeweils angemessenen Verhaltens- und Handlungsmuster. Sie basieren auf Klassifikationen, wie z. B. Alter, Geschlecht, Ethnie oder auch der Stellung im Berufssystem und initiieren diese fortwährend auf dem Weg ihrer Aktualisierung in Interaktionen. Es ist diese Rückbezüglichkeit, die Goffman mit dem Terminus „institutionelle Reflexivität“ anspricht. Sie bewirkt, dass die Anordnung der Geschlechter in sozialen Situationen „als natürliche Folge des Unterschieds zwischen den Geschlechtskategorien hingestellt (wird), obwohl sie tatsächlich mehr ein Mittel zur Anerkennung, wenn nicht gar zur Erschaffung dieses Unterschieds ist“ (ebd., S. 135).

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Beispiele dafür wären: •

Regeln der Paarbildung, denen zufolge der männliche Teil älter, größer, stärker, kompetenter, erfolgreicher, aktiver sein soll als der weibliche. In heterosexuellen Partnerschaften ist so für kleine Männer und für große Frauen die Partnersuche erschwert. • Geschlechterbezogene Arbeitsteilung, in deren Folge Frauen häusliche Verpflichtungen übernehmen, Männern die außerhäusliche, öffentliche Sphäre zukommt. Häusliche Verpflichtungen gelten als „der Natur des Mannes“ unangemessen, Bereiche der öffentlichen Sphäre sind Frauen verschlossen, Paarbildung daher notwendig: „Die Person, die ein Mann braucht, um entsprechend seiner ‚Natur‘ handeln zu können, ist genau die Person, die ihn braucht, um entsprechend ihrer ‚Natur‘ handeln zu können“ (ebd., S. 129). • Ein System von Höflichkeiten, in dem Frauen auf Standards der äußeren Erscheinung (sexuelle Attraktivität) verpflichtet werden und Männer gehalten sind, ihnen Wertschätzung und Ehrerbietung entgegenzubringen und sie vor Widrigkeiten zu beschützen. • Sozialisation in der Familie, in der sehr oft von den Eltern ein „Geschwisterpaar“ gewünscht wird und in der sich von Anfang an die häusliche Erziehung der beiden Geschlechter unterscheidet, wobei der Unterschied in der Ausrichtung jedoch als grundsätzliche „Eigenschaft der Kinder“ angesehen wird. • Parallele Organisation, in deren Folge die Geschlechter in der Öffentlichkeit periodisch voneinander abgesondert werden und so die binäre Klassifizierung erst erzeugen: Toilettenanlagen, Waschräume, Umkleidekabinen oder auch Damen- und Herrenabteilungen in Kaufhäusern, Clubs, Herrenzimmer etc. (ausführlich: Kap. 9.1.3). • Selektive Arbeitsplatzvergabe, in deren Folge Frauen am ehesten zu haushalts- bzw. körpernahen Berufen Zugang finden oder in Zuarbeits- und Assistenzfunktionen (als Büro- und Schreibkräfte) eingesetzt werden. Sehr oft spielen Standardvorstellungen „jugendlicher Attraktivität“ eine Rolle und tragen dazu bei, dass gerade im Falle überwiegend von Männern besetzter höherer Positionen die Zuarbeit häufiger durch jüngere und attraktivere Frauen erfolgt, als es eine Zufallsauswahl nahe legen würde. • Identifikationssysteme, in deren Folge sich zum einen Praktiken der Verortung entwickelt haben, die eine Typisierung der Geschlechter schon aus einiger Entfernung erlauben (Sexuierung der Frisuren, der Kleidung, der Körpergestalt, der Stimme) und zum anderen Praktiken der Benennung dessen, was wir auf diese Weise verortet haben: Eigennamen, Anreden, Pronomen. Auch die Medien können als Teil der „institutionellen Reflexivität“ angesehen werden. In „Geschlecht und Werbung“ zeigt Goffman am Beispiel der Darstellung von Frauen und Männern in verschiedenen Werbeformaten, dass sich Werbe-Designer eben jener genannten Elemente bedienen und fiktive Sozialwelten entwerfen, in denen es um „Idealbilder“ sozialer Beziehungen gehe und damit um nichts anderes als um „Hyperritualisierungen“. ReklameDesigner benutzen „das gleiche Repertoire von Darstellungen, das gleiche rituelle Idiom, dessen wir alle uns bedienen, die wir an sozialen Situationen partizipieren (…) Allenfalls konventionalisieren die Reklameleute unsere Konventionen, sie stilisieren, was bereits eine Stilisierung ist“ (Goffman 1981 [1976], S. 328). In der Beantwortung der sich in jeder sozialen Situation stellenden Frage: „Was geht hier eigentlich vor?“ kann mithin die Kategorie Geschlecht nicht ausgeschlossen werden, sie stellt oft genug selbst den Rahmen für die Organisation von Alltagserfahrungen. Anders als die funktionalistische Rollentheorie und auch anders als in Garfinkels Studie zu Agnes richtet sich Goffmans Blick in der Analyse dieses Rahmens gezielt auf Dominanz- und Subordina-

4.5 Zusammenfassung: Geschlecht im Alltagshandeln

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tionsverhältnisse, macht also systematisch die soziale Ungleichheit der Geschlechter zum Thema. Gleichzeitig lässt er keinen Zweifel daran, dass Frauen nicht einfach „Opfer der Verhältnisse“ sind, sondern beide – Frauen und Männer – als Akteure an der Herstellung dieser sozialen Ungleichheit beteiligt sind, wenn auch aus unterschiedlich privilegierten Positionen heraus. Aber Frauen seien die einzige unterprivilegierte Gruppe, die idealisiert, mythologisiert und teilweise – etwa in Ritualen der Höflichkeit und Ehrerbietung – sogar bevorzugt werde. Insofern seien sie „auf der Skala der ungerecht Behandelten“ wohl „nicht sehr weit unten“ zu verorten (Goffman 1994, S. 116). Sein Resümee dazu ist: „Das Geschlecht, nicht die Religion, ist das Opium des Volkes“ (ebd., S. 131).

4.5

Zusammenfassung: Geschlecht im Alltagshandeln

Mit dem Begriff der sozialen Rolle wird konzeptionell der Versuch unternommen, soziales Handeln mit komplexeren sozialen Kontexten und Formen zu vermitteln. Damit wird die Frage danach, wie soziale Ordnung möglich ist, in anderer und neuer Weise gestellt als es bei den Klassikern der Fall war. Gleichzeitig wird aber an diese in differenzierter Weise angeschlossen, so dass sich sowohl das jeweilige theoretische Profil des Begriffs sehr unterschiedlich darstellt als auch der Bezug auf „Geschlecht“. Etwas holzschnittartig können wir vier verschiedene Konzepte unterscheiden, in denen unterschiedliche Dimensionen sozialer Wirklichkeit angesprochen werden. a) Im Strukturfunktionalismus werden soziale Rollen (Status-Rollen) als aus Differenzierungsprozessen hervorgehende Strukturen konzipiert. Vor dem Hintergrund der theoretischen Entwürfe von Comte, Spencer und Durkheim werden diese aus Funktionserfordernissen eines gesellschaftlichen Ganzen abgeleitet und stellen unhintergehbare und situativ unbeeinflussbare Vorgaben sozialen Handelns dar. Dem/der Einzelnen als Träger/in einer StatusRolle begegnen sie als Bündel normativer Verhaltenserwartungen. Motivationsstrukturen (Bedürfnisdispositionen) und Orientierungsmuster der Akteure müssen diesen normativen Verhaltenserwartungen entsprechen, um soziale Integration – soziale Ordnung – zu gewährleisten. Diese werden primär in Prozessen familialer Sozialisation erworben; soziale Kontrollen (Sanktionen) haben lediglich die ergänzende Funktion, die jeweiligen normativen Verhaltenserwartungen sozial abzustützen. Der Bewegungsspielraum für eine differenzierte Betrachtung von ,Geschlecht‘ ist eingeschränkt, da dessen Stellenwert (ähnlich wie bei Comte und Durkheim) in seiner Funktionalität bereits vorausgesetzt ist, nämlich im Stellenwert der Familie bzw. der damit verbundenen Geschlechtsrollendifferenzierung („sex-role“). Diese ist im Denken des Strukturfunktionalismus von „fundamentaler struktureller Bedeutung für die Gesellschaft als Ganzes“ (Parsons 1968a, S. 56). Mit der Geschlechtsrollendifferenzierung wird sowohl die unverzichtbare instrumentell-adaptive und expressiv-integrative Funktionsdifferenzierung in der Familie gewährleistet, als auch die Internalisierung der unterschiedlichen Wert- und Handlungsorientierungen („pattern variables“) durch die nachwachsende Generation. Die Geschlechtsrollen („sexroles“) sind damit konsequent aus dem Sozialen hergeleitet und nicht in einer „äußeren“, dem Sozialen vorgelagerten Natur verortet. Gleichzeitig aber sind die Geschlechtsrollen auch als „Nicht-Natur“ keineswegs disponibel, sondern durch Funktionsimperative in vergleichbarer Weise determiniert, sowie dichotom und komplementär konzipiert.

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4 Die Idee der „Geschlechtsrollen“

Jenseits von Familie kommt dem ,Geschlecht‘ bzw. den ,Geschlechtsrollen‘ im Strukturfunktionalismus keine Bedeutung zu. Dabei wird durchaus gesehen, dass in modernen Gesellschaften und ihrer Trennung von Berufs- und Verwandtschaftssystemen mit den so fixierten Geschlechtsrollen einige Probleme – etwa sich widersprechende Bündel normativer Verhaltenserwartungen – sowohl für die Frauen- als auch für die Männerrolle verbunden sind. Für solche Probleme könne jedoch nur im Rahmen der Funktionsimperative nach einer Abmilderung gesucht werden, gelöst werden könnten sie nicht. Nicht zuletzt deshalb aber werden die in den Geschlechtsrollen gefassten normativen Zuschreibungen auf ihre Legitimität hin befragbar. In der in den USA beginnenden kritischen Forschung zu „sex-roles“ Ende der 1960er Jahre wird die Funktionalitätsargumentation „umgedreht“ in einen „reziproken Funktionalismus“, dass nämlich diese soziale Form gerade nicht „funktional“ ist, da sie sowohl in der Männer- als auch in der Frauenrolle mit zu großen Spannungen verbunden ist (z. B. Kamarovski 1950, 1973). Weitere zehn Jahre später – Ende der 70er Jahre – wird es in der politischen Frauenbewegung heißen, dass die Trennung der Geschlechtsrollen in der Familie nur für die Unterdrückung der Frauen, ihrem Ausschluss aus der Öffentlichkeit und die Aufrechterhaltung der Männerherrschaft „funktional“ sei (vgl. Kap. 5.2). b) Im zweiten Konzept wird die Realisierung sozialer Ordnung im alltäglichen Handeln („every-day-life“) zum primären Thema. Ausgehend von Untersuchungen zu Situationen sozialer Interaktion wird sowohl grundlagentheoretisch wie empirisch fundiert auf die Variabilität und Wandelbarkeit sozialer Strukturen verwiesen. „Soziale Rollen“ werden im symbolischen Interaktionismus und in den frühen Werken E. Goffmans gedacht als im kulturellen Wissen präsente, kohärente Verhaltensmuster, die erst im Handlungsprozess auf eine je konkrete Situation bezogen werden können und müssen. Betont wird hier die grundsätzliche Interpretationsbedürftigkeit von Verhaltenserwartungen in sozialen (kommunikativen) Interaktionen. Im Anschluss vor allem an G. H. Mead und A. Schütz wird die Herstellung und Kommunikation von Bedeutung und Sinn zentral. Das öffnet den Weg, Geschlecht nicht als „Rolle“ sondern vielmehr als „Masterstatus“ anzusehen, der in mehr oder weniger jedem konkreten Rollenhandeln wirksam wird, da mit ihm Zuschreibungen auf der Ebene von Verhaltenskonstanten verbunden sind. Damit können zugleich die historisch-spezifischen Konkretisierungen von Geschlecht aus den engen funktionalen Zusammenhängen (Familie) gelöst werden. Diese Perspektive bietet damit einen sehr viel größeren Spielraum für die Entdeckung von Kontingenz und der historischen und kulturellen Relativität von Geschlechtskonzepten, zeigt aber auch wie tief Geschlechterkonzepte im Alltagsverständnis und im Selbstbild bzw. der Selbstidentifikation der Handelnden verankert sind. c) Im dritten Zugang wird dieser Grundgedanke vertieft und radikalisiert durch die Untersuchung von Regelsystemen, mit deren Hilfe praktisch und permanent interaktiv soziale Ordnung hergestellt wird. In der Perspektive der Ethnomethodologie und der Goffmanschen Interaktionsordnung erscheint die jeweils konkrete und inhaltliche Ausgestaltung von Interaktionen als letztlich irrelevant, so dass dem Begriff der Rolle keine Aufmerksamkeit mehr zukommt. In beiden Ansätzen wird der Spielraum im Umgang mit ,Geschlecht‘ noch einmal vergrößert, da in dieser Perspektive generell die Offenheit als auch die Störanfälligkeit sozialer Ordnungen sichtbar gemacht wird. Das betrifft eben auch den Umgang mit ,Geschlecht‘. Der Begriff der ,Geschlechtsrolle‘ wird dezidiert abgelehnt, da mit diesem Konzept kein Erkenntnisgewinn verbunden sei. Interessant wird Geschlecht allein als Referenz von (auch auf Geschlecht hin) geordneten sozialen Praktiken der Herstellung sozialer Situationen. Diese Referenz wird auch hier nicht durch einen Bezug auf eine äußere, als ‚objektiv‘ ge-

4.5 Zusammenfassung: Geschlecht im Alltagshandeln

147

dachte ‚Natur‘ begründet, sondern durch ihren Status als eine im Alltagsleben gültige „natürliche Selbstverständlichkeit“. Auf diese Weise wird es möglich die Naturalisierung von Geschlecht zum Thema zu machen und damit sowohl den sozialwissenschaftlichen Blick für einen möglichen Wandel von Geschlechtskonzepten zu öffnen, als auch deren Persistenz („invarianter Hintergrund des Alltagslebens“) zu erklären. d) In der vierten Variante werden mit dem Verweis auf die „institutionelle Reflexivität“ und den „Rahmen“ von Interaktionen (Goffman) die zuletzt (unter b und c) genannten Überlegungen wieder anschließbar an (komplexere) soziale Kontexte, etwa Organisationen und Institutionen. Auf diese Weise wird nicht zuletzt das Missverständnis vermieden, Kontingenz sei gleichzusetzen mit Beliebigkeit und signalisiere eine einfache Verfügbarkeit und Veränderbarkeit des Sozialen. Soziale Ordnung besteht durchaus als reale Gegebenheit, drückt sich dabei in modernen Gesellschaften in multiplen Kulturalisierungen aus und wird zugleich permanent, nachhaltig und (etwa bei Irritationen) energisch (wieder)hergestellt. Eine einfache Funktionalisierung erscheint aus einer solchen dynamisierenden Sicht zu eng geführt. Die „lose Koppelung“ von Interaktionsordnung und Sozialstruktur, von der Goffman spricht, erfordert zwar Referenzen auf soziale Situationen übergreifende soziale Kontexte, sie lassen sich aber nicht aus diesen herleiten. In Bezug auf „Geschlecht“ stellen diese Kontexte (z. B. Familie, Organisationen der Erwerbsarbeit, Bildungsinstitutionen etc.) eher ein (semantisches) Repertoire von Situationsdefinitionen bereit, das in der konkreten Nutzung auch Freiheitsgrade für sozialen Wandel beinhaltet. Vertiefende Literatur: • • • • • • • •

Mead, Margaret, Sex and Temperament in Three Primitive Societies, New York 1969 [1935]. Parsons, Talcott, Alter und Geschlecht in der Sozialstruktur der Vereinigten Staaten, in: Ders., Beiträge zur soziologischen Theorie, Neuwied/Berlin 1964 [1942], S. 65–83. Garfinkel, Harold, Passing and the managed achievement of sex status in an intersexed person, in: Ders., Studies in Ethnomethodology, Englewood Cliffs/New Jersey 1967, S. 116–185. Kotthoff, Helga, Nachwort: Geschlecht als Interaktionsritual? in: Goffman, Erving, Interaktion und Geschlecht, Frankfurt am Main 1994, S. 159–194. Hirschauer, Stefan, Die soziale Fortpflanzung der Zweigeschlechtlichkeit, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 46(4) (1994), S. 668–692. Sydie, Rosalind A., Natural women, cultured men. A feminist perspective on sociological theory, Vancouver 1987. Goffman, Erving, Das Arrangement der Geschlechter, in: Ders., Interaktion und Geschlecht, Frankfurt am Main 1994, S. 105–158. Meuser, Michael, Geschlecht und Männlichkeit. Soziologische Theorie und kulturelle Deutungsmuster, 2. aktualisierte Aufl., Wiesbaden 2006 [1998], Kap. 2.

148

4 Die Idee der „Geschlechtsrollen“

Denkanstöße und weiterführende Fragen: Man kann sich eine ganze Reihe anderer biologischer Merkmale denken, die in eine binäre Opposition gebracht werden könnten: Blau- und braunäugige, großnasige und kleinnasige, rundäugige und schmaläugige, große und kleine Menschen. Nur im Fall der Hautfarbe (schwarz/weiß) ist es aber zu einer der Geschlechtertrennung vergleichbaren rigiden Dichotomisierung gekommen. In allen Fällen können wir aber statt einer binären Opposition von einem Kontinuum in der Ausprägung der Merkmale ausgehen. Ob physische Ausprägungen relevant gemacht werden und wie sie auf eine kategoriale Trennung reduziert werden, dafür bieten die Ausprägungen selbst keine Grundlage. An dem historischen Abriss konnten wir bereits erkennen, wie sich auch unsere Selbstverständlichkeiten wandeln: Die ‚Tatsachen‘ bei einigen ersten Klassikern, dass es der „Natur“ von Frauen widerspricht, sich in der Erwerbstätigkeit bewähren zu müssen, waren schon zu Parsons’, Garfinkels und Goffmans Zeiten nicht mehr plausibel und heutzutage kommt uns die „weibliche Tugend“ der Unterwürfigkeit, die Agnes noch als soziale Tatsache erlernen musste, absurd vor. Dass aber schon eine bloße Trennung Diskriminierung hervorbringen kann, zeigt der Film „blue eyed“ über Projekte der amerikanischen Lehrerin Jane Elliott, Blauäugige von Braunäugigen zu separieren, um für Rassismus zu sensibilisieren (Bertram Verhaag, Blue Eyed, Denkmal-Film, Deutschland 1996) a) Wie würden Sie reagieren, • wenn Mensaschlangen in „In“- und „Ausländer“ getrennt würden? • wenn an zwei nebeneinanderstehenden Telefonzellen Schilder angebracht würden, die nach Geschlecht trennen? • wenn Toiletten nach Hautfarbe sortiert würden? • wenn blauäugigen Menschen der Zugang zu öffentlichen Parkanlagen mit der Argumentation verboten wird, dass über ihre blauen Augen zu viel Licht in ihr Gehirn dringe und dieses schädige? b) Finden Sie weitere Beispiele für Trennungen und die hier verborgenen „moral facts“.

5

Zurück zum Anfang?

Kapitelvorschau Die Entstehung einer (soziologischen) Frauen- und Geschlechterforschung wird nachgezeichnet: 1. Wir zeigen auf, wie die Forderungen der Frauenbewegungen in den 1960er und 70er Jahren sich in einer Frauenforschung niederschlagen, die die androzentrische Wissenschaft auf den Prüfstand stellt. 2. Mit Bezug auf marxistische Theorien entstehen in den 1980er Jahren soziologische Konzepte, die geschlechtliche Ungleichheit in Gesellschaftstheorien einbinden. 3. In Anlehnung an das Sichtbarmachen von Frauen durch die Frauenforschung entsteht eine Forschung, die Männer als Männer und damit als ‚Geschlechtswesen‘ in den Blick nimmt.

5.1

Historische Kontexte: Aufbruchstimmung

Ende der 1960er Jahre war in der westlichen Welt eine radikale Aufbruchstimmung aufgekommen. Es entstanden eine ganze Reihe sehr verschiedener Bürgerrechts- und Alternativbewegungen: In den USA formierten sich antirassistische Bewegungen, in Frankreich fanden Arbeiterbewegung und Studentenbewegung zusammen, überall in den westlichen Ländern entstanden studentische Gruppen, die gegen den Vietnamkrieg, die Repressionen im SchahRegime des Irans, gegen die militärische Aufrüstung im „Kalten Krieg“, gegen das Vergessen des Faschismus, gegen die kapitalistische Wirtschaftsform und gegen autoritäre Strukturen und Repressionen (Notstandsgesetze) im eigenen Land protestierten und demonstrierten. Außerdem gab es die Kommunebewegung und die Kinderladenbewegung, die Gammler und die Hippies, die mit „Flowerpower“, langen Haaren, neuen Kunst- und Musikstilen, freier Liebe und Drogenkonsum einen neuen Lebensstil für sich in Anspruch nahmen. Zu Beginn der Protestwelle waren die verschiedenen Bewegungen noch nicht scharf gegeneinander abgegrenzt und es waren in allen Bereichen selbstverständlich auch Frauen präsent – allerdings nicht unbedingt als Wortführerinnen. Diese sehr verschiedenartigen Gruppierungen, Protest- und Alternativszenen aber bildeten den Hintergrund für die neuen – oder wie es heute heißt „zweite Welle“ – der Frauenbewegungen in den 1970er Jahren. Sie alle entstanden nicht aus dem Nichts, sondern reflektierten die sich in den 1960er Jahren abzeichnenden tief greifenden Veränderungen in Ökonomie, Politik, Öffentlichkeit, Kunst und Kultur. Auf internationaler politischer Ebene beherrschte der sog. „Kalte Krieg“ – der Konflikt zwischen den Westmächten und dem Ostblock – die Schlagzeilen der Medien. In Deutschland wurde 1961 in Berlin die Mauer gebaut, um eine „Republikflucht“ aus der DDR in den Westen zu verhindern. Damit war die Teilung Deutschlands für eine unabsehbare Zeit in Zement gegossen. Der ebenfalls 1961 stattfindende Eichmann-Prozess stellte eine wichtige Wende im

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5 Zurück zum Anfang?

Umgang mit der Vergangenheit dar: Er fand in allen Medien hohe Aufmerksamkeit und rief die Schrecken des Nationalsozialismus ins Gedächtnis. Die Judenvernichtung konnte nicht länger aus der öffentlichen Auseinandersetzung verdrängt werden. In Westdeutschland schwächte sich der wirtschaftliche Boom der Nachkriegszeit („Wirtschaftswunderjahre“) ab. Zu Beginn der 60er Jahre wurde in der BRD der „Bildungsnotstand“ ausgerufen. Es folgte eine Phase expansiven Ausbaus der weiterführenden Schulen und Hochschulen, von dem gerade Mädchen sehr profitierten. 1967 entstand in Westdeutschland die sog. „APO“, die außerparlamentarische Opposition. Die Auseinandersetzungen mit der Polizei und den etablierten Medien eskalierten. 1967 wurde der Westberliner Student Benno Ohnesorg bei einer Demonstration erschossen, 1968 kam es zu einem Attentat auf einen der Anführer der Studentenbewegung (Rudi Dutschke). Auch in den privaten Lebensformen zeichneten sich wichtige Veränderungen ab: In Westdeutschland trat 1958 das Gesetz über die Gleichberechtigung von Mann und Frau auf dem Gebiet des Bürgerlichen Rechts in Kraft. In diesem Gesetz wurde das Letztentscheidungsrecht des Ehemanns in allen Eheangelegenheiten ersatzlos gestrichen. Ebenso wurde das Recht des Ehemanns, ein Dienstverhältnis seiner Frau fristlos zu kündigen, aufgehoben und es wurden die väterlichen Vorrechte bei der Kindererziehung eingeschränkt (erst 1979 wurden sie vollständig beseitigt). Frauen durften außerdem nunmehr ihr in die Ehe eingebrachtes Vermögen selbst verwalten. Einige Jahre später wurde auch die Rechtsstellung lediger Mütter verbessert. In der DDR wurde 1965 das Familiengesetz verabschiedet, das eine gleiche Verantwortung beider Partner für die Haushaltsführung und im Falle der Scheidung keinen Versorgungsanspruch für (arbeitsfähige) Frauen mehr vorsah. In Westdeutschland kam 1961 die „AntibabyPille“ auf den Markt. Zunächst war sie nur für verheiratete Frauen verfügbar, diese Einschränkung wurde aber sehr schnell liberalisiert. Sexualität und Fortpflanzung konnten so weiter entkoppelt werden. In heterosexuellen Beziehungen entstanden damit neue Spielräume für Frauen und Männer. 1966 legte die Bundesregierung der BRD einen „Bericht über die Situation der Frauen in Familie, Beruf und Gesellschaft“ vor, in dem zwar konstatiert wird, dass sich das Leitbild für die Lebensführung aufgrund der längeren Lebensdauer und der geringeren Kinderzahl geändert habe, eine Erwerbstätigkeit aber dennoch als „Abweichung“ vom Normalfall gewertet wird: „Pflegerin und Trösterin sollte die Frau sein; Sinnbild bescheidener Harmonie, Ordnungsfaktor in der einzig verlässlichen Welt des Privaten“. Erwerbstätigkeit und gesellschaftliches Engagement sollte die Frau nur eingehen, „wenn die familiären Anforderungen es zulassen“ (von Sodan 1992, S. 529). Gleichzeitig stieg die Zahl erwerbstätiger Frauen mit Kindern unübersehbar an. 1969 kam es in der BRD zu einer ersten Reform des Gesetzes, das männliche Homosexualität bis dahin unter Strafandrohung stellte. Eine weitere folgte wenige Jahre später (1973). In der DDR waren männliche und weibliche Homosexualität bis 1968 ein Straftatbestand, beides wurde aber – soweit es um Beziehungen zwischen Erwachsenen ging – seit Ende der 50er Jahre nicht geahndet. Als letztes europäisches Land führte die Schweiz 1971 das Wahlrecht für Frauen ein – es sollte aber noch bis 1990 dauern, bis es in allen Kantonen durchgesetzt war. Diese Schlaglichter auf Ereignisse und Entwicklungen illustrieren ein wenig, in welchem Maße Spannungen bestanden zwischen Ost und West, Etablierten und Außenseitern, Schwar-

5.1 Historische Kontexte: Aufbruchstimmung

151

zen und Weißen, älteren und jüngeren Menschen und immer mehr auch zwischen Frauen und Männern. Man kann die Aufbruchstimmung dieser Zeit nicht linear aus ökonomischen, politischen und sozialen Entwicklungen herleiten, man kann aber auch nicht davon absehen: Die sozialen Bewegungen waren „Produkt und Produzent sozialen Wandels“ (Raschke zit. nach Gerhard 1995, S. 250, Herv. d. V.). Die Protest- und Alternativbewegungen waren nahezu durchgängig kapitalismuskritisch eingestellt, aber es ging ihnen auch noch um Anderes. Es ging ihnen um Lebensformen und Lebensstile, den Anspruch auf Selbstbestimmung, einen freieren Umgang mit Sexualität, eine neue, nicht-autoritäre Erziehung von Kindern, um Freiheit und Solidarität in einem durchaus emphatischen Sinne. Nicht nur die Schriften von Marx und Engels, auch die psychoanalytischen Schriften von Freud und Reich erlebten eine Renaissance. Die aus dem USamerikanischen Exil in das Frankfurter Institut für Sozialforschung zurückgekehrten Sozialphilosophen der „Kritischen Theorie“ wurden zu einem wichtigen Bezugspunkt der Theoriedebatten. Bis heute werden die „68er“ von den einen mystifiziert und glorifiziert, von anderen als Quelle aller gesellschaftlichen Fehlentwicklungen diskreditiert.

5.1.1

Eine neue Frauenbewegung entsteht

Angekündigt hatte sich die „neue Frauenbewegung“ mit dem berühmten Tomatenwurf auf einer Tagung des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) 1968, nachdem die männlichen Genossen über Beiträge von Frauen des „Aktionsrats zur Befreiung der Frau“ mehr oder weniger kommentarlos hinweggehen wollten. Die Hoffnungen der Frauen, von den allgemeinen Emanzipationsbewegungen zu profitieren, hatten sich nicht erfüllt. Sie klagten an, dass sie zwar Kaffee kochen und Flugblätter abtippen durften, ihre inhaltlichen Beiträge aber nicht ernst genommen würden. Ähnlich wie Ehefrauen oder „Rockerbräute“ hätten auch sie als Freundin eines der SDS-Männer nur einen ‚abgeleiteten Status‘. Ein kleiner Auszug aus der „Tomatenrede“: „genossen, eure veranstaltungen sind unerträglich. ihr seid voll von hemmungen, die ihr als aggressionen gegen die genossen auslassen müsst, die etwas dummes sagen oder etwas, das ihr schon wisst. die aggressionen kommen nur teilweise aus politischen einsichten in die dummheit des anderen lagers. warum sagt ihr nicht endlich, dass ihr kaputt seid vom letzten jahr, dass ihr nicht wisst, wie ihr den stress länger ertragen könnt, euch in politischen aktionen körperlich und geistig zu verausgaben, ohne damit einen lustgewinn zu verbinden. (…) warum kauft ihr euch denn alle den Reich? warum sprecht ihr denn hier vom klassenkampf und zu hause von orgasmusschwierigkeiten? ist das kein thema für den SDS? diese verdrängungen wollen wir nicht mehr mitmachen“ (Sander 1968 in Lenz 2008, S. 62). Damit war – noch eher implizit – eines der zentralen Themen der entstehenden Frauenbewegung benannt: die Trennung von Öffentlichem und Privatem und deren Zuordnung zu den Geschlechtern. Es war zu der Zeit sich primär antikapitalistisch verstehender sozialer Bewegungen noch unwidersprochen, dass eine „Befreiung der Frauen“ nur im Zusammenhang grundlegender Veränderungen gesamtgesellschaftlicher Verhältnisse erreicht werden könne, es in einem allgemeinen Sinn darum ging, die „bürgerliche Trennung“ von Privatleben und gesellschaftlichem Leben aufzuheben. Insofern distanzierten sich diese Gruppen von „bürgerlichen Emanzipationsbestrebungen“, in denen es nur um gleiche Möglichkeiten ginge, mit Männern zu konkurrieren. Aber es zeichnete sich auch schon ab, dass allgemeine gesell-

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5 Zurück zum Anfang?

schaftliche Veränderungen allein nicht ausreichten – dazu boten die realsozialistischen Länder genug Beispiele. So wurde konstatiert, dass dort patriarchale Formen in Ehe, Familie und Arbeitsleben nach wie vor aufrechterhalten wurden und Männer Machtpositionen in allen gesellschaftlichen Bereichen unter sich aufteilten. In den sich an die Tomatenwurf-Rede anschließenden Gründungen von Frauengruppen in vielen Städten der Bundesrepublik wurde zunehmend „das Patriarchat“ zu einem der zentralen Kampfbegriffe und mit ihm der Slogan „das Private ist politisch“. Patriarchat als „Kampfbegriff“ meint hier sehr allgemein die Herrschaft von Männern über Frauen (und Kinder) in allen sozialen Bereichen und ist nicht beschränkt auf den Bereich der Familie (zu versch. Definitionen und der Geschichte des Begriffs vgl. Cyba 2010). Die Ausbreitung von „Frauengruppen“ verstärkte sich Anfang der 70er Jahre mit der „Selbstanzeigungskampagne“ im Kampf gegen den Abtreibungsparagraphen (§218). Die in Frankreich begonnene und in Deutschland von Alice Schwarzer initiierte Kampagne basierte auf der in einer Illustrierten veröffentlichten Liste von Frauen, die sich selbst anklagten („Ich habe abgetrieben“). Viele Männer – unter ihnen viele Ärzte – solidarisierten sich („Ich war Komplice einer Abtreibung“). Nach dieser Veröffentlichung gründeten sich zahlreiche weitere Frauengruppen in der Bundesrepublik, die dies nicht allein als Unterstützung des Kampfes gegen den §218 verstanden, sondern als Schritt zu ihrer eigenen Emanzipation. Die Selbstbezichtigungskampagne löste eine neue autonome Frauenbewegung in West-Deutschland mit aus, die sich von den „etablierten Organisationen“ wie den Parteien, Gewerkschaften, Interessensverbänden (auch den Frauenverbänden) etc. distanzierte und übergreifende Organisationsstrukturen nach deren Muster ablehnte. Mit den anderen neuen sozialen Bewegungen verband sie eine „Frontstellung gegen den Staat“ (Gerhard 1995, S. 258). Männer waren aus diesen lockeren Gruppierungen, Veranstaltungen und Ereignissen explizit ausgeschlossen. Die Gruppierungen verstanden sich als Zusammenschlüsse von Frauen für Frauen (vgl. dazu Nave-Herz 1989, S. 69 f.; Lenz 2008, S. 71 f.). In der Folge wurden in vielen Städten sog. „Frauenzentren“ gebildet, die als Anlaufstelle für neue Interessentinnen fungierten und in denen sich Frauen zu themenbezogenen Arbeitsgruppen (Sexualität, Ehe und Familie, Schwangerschaft und Geburt, Gewalt in der Familie, Lohn für Hausarbeit, Märchen und Sagen, Theater und vieles andere mehr), zu Frauenfesten und zu Selbsterfahrungsgruppen trafen. Letztere Idee kam aus den USA, dort hießen sie „consciousness-raising-groups“ und hatten das Ziel, sich auf dem Weg der Auseinandersetzung mit den eigenen Gefühlen auch der eigenen (gesellschaftlichen) Situation bewusst zu werden. Relativ schnell kam es schon in der Gründungswelle von Frauenzentren zu Diskussionen mit sich der „linken“ (marxistischen) Szene zuordnenden Frauen, die diese Ausrichtung als „theorielos“ und „unpolitisch“ kritisierten, sich davon abgrenzten und z. T. gesonderte Gruppen bildeten (vgl. dazu Nave-Herz 1997, S. 42 f.). Der Kampf gegen den §218 endete nach vielen, auf verschiedensten Ebenen z. T. sehr heftigen Auseinandersetzungen 1976 mit dem sog. „Indikationsmodell“, das bis heute – in modifizierter Form – gültig ist. Die neue Frauenbewegung endete damit nicht: Sie nahm noch einmal Fahrt auf in der Gründung einer ganzen Reihe sog. „Frauenprojekte“. Am bekanntesten geworden sind die Frauenhäuser, in denen misshandelte Frauen und ihre Kinder Schutz vor gewalttätigen (Ehe)Männern fanden, Notruf und Beratungsstellen für vergewaltigte Frauen sowie Projekte gegen sexuellen Missbrauch von Mädchen. Im kulturellen Bereich wurden Frauenverlage, Frauencafés, Frauenbuchläden, feministische Zeitschriften (z. B. Emma), Frauenbands, Frauentheater, Frauenfilme, Frauenjahrbücher, Frauenkalender, Frau-

5.1 Historische Kontexte: Aufbruchstimmung

153

enreisen und vieles andere mehr gegründet (Lenz 2008, S. 97 ff.). Es entstand eine neue, auf Frauen bezogene, feministische Gegenkultur und es entstanden entsprechende auf die Öffentlichkeit gerichtete Informationskampagnen, die auch bei Frauen außerhalb der alternativen (autonomen) Szene Lern- und Bewusstwerdungsprozesse anstießen. In dieser Phase bestand zunächst eine bemerkenswerte Traditionsvergessenheit: Eine Verbindung zu „alten“ Frauenbewegungen der Jahrhundertwende wurde nur in Einzelfällen (z. B. Menschik 1971) hergestellt. Als 1975 Alice Schwarzes Buch „Der kleine Unterschied und seine großen Folgen“ erschien, wurde es innerhalb weniger Monate zum Bestseller. Sie stieß wie keine andere die Debatte um Sexualität an, in der zunehmend zwischen Sexualität, Fortpflanzung (Reproduktion) und Körperwissen unterschieden wurde. Schwarzer schloss explizit an Simone de Beauvoir an, allerdings mit einer kleinen, aber weitreichenden Veränderung. Hieß es bei Simone de Beauvoir „Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es“ (de Beauvoir 1951, S. 265), so machte Alice Schwarzer daraus: „Man kommt nicht als Frau auf die Welt, man wird dazu gemacht“ (Schwarzer 1975, S. 192). Durch diese Wendung werden Frauen zum passiven Opfer einer durch und durch patriarchalischen Gesellschaft, in der zwar auch Männer Opfer ihrer „Rollen“ sind, aber „Frauen sind noch die Opfer der Opfer“ (ebd., S. 180). Zu Beginn der Bewegung (1968) hatten Frauen zwar auch ihre Benachteiligung thematisiert, sich gleichzeitig aber als aktiv Handelnde, als widerständige Subjekte definiert. Auch in den 70er Jahren rang man – dem Zeitgeist der Alternativbewegungen entsprechend – um „Selbstbestimmung oder Autonomie“ sowohl in institutioneller wie in individueller Hinsicht (Gerhard 1995, S. 264). In institutioneller Hinsicht meint „Autonomie“ die Unabhängigkeit von bestehenden Organisationen und Parteien, in individueller Hinsicht meint „Selbstbestimmung“ die Befreiung von jeglicher Abhängigkeit und Bevormundung. Kämpfte die Frauenbewegung des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts um die gleichen Rechte wie Männer, insbesondere um den Zugang zur öffentlichen Sphäre sowie um das grundlegende Recht auf Bildung und (qualifizierte) Erwerbsarbeit, so waren diese Rechte für die Frauen der Nachkriegsgeneration weitgehend selbstverständlich. Mit der neuen Frauenbewegung wuchs zwar das Bewusstsein einer Diskrepanz zwischen dem Gleichberechtigungsversprechen, wie es im Grundgesetz der Bundesrepublik fixiert war, und der ungleichen Wirklichkeit im bundesrepublikanischen Alltag. Jedoch wurde „Gleichberechtigung“ tendenziell abgewertet zur „Emanzipation der Frau zum Mann“; stattdessen ging es nun in der Suche nach „Autonomie“ um die „Emanzipation der Frau zur Frau“ außerhalb der gegebenen Institutionen, um die Suche nach dem in patriarchalischen Strukturen verdeckten und verschütteten „wirklichen“ weiblichen Wesen (Gerhardt 1977; vgl. auch Lenz 2008, S. 116 ff.). Insbesondere die (internationale) Kampagne „Lohn für Hausarbeit“, in der die Hausarbeit als Arbeit überhaupt erst wieder sichtbar gemacht wurde (vgl. Kap. 9.3), löste dann aber grundlegende Debatten aus und führte tendenziell zu einer Spaltung der Bewegung entlang der Linien ‚Lohn für Hausarbeit‘ versus ‚Emanzipation durch Berufstätigkeit‘ (vgl. Lenz 2008, S. 150 f. sowie S. 155 ff.). Die Kampagne verstärkte die Diskussionen um die dem Differenzfeminismus der „alten Frauenbewegung“ durchaus ähnlichen Argumentationsfiguren, etwa dem (neuen) „Weiblichkeitsmythos“, der in Schwangerschaft, Geburt und Stillen die Besonderheit des Frau-Seins betonte und eine neue Welle der Biologisierung von Geschlechterunterschieden einzuleiten schien. Wichtige Beiträge zur Versachlichung sind mit dem Weg der Frauenbewegung in das Innere der Universitäten verbunden. Der Zugang zur höchsten Form von Bildung und Ausbildung –

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5 Zurück zum Anfang?

ein Hochschulstudium – war für Frauen zwar seit Beginn des 20. Jahrhunderts geöffnet, aber erst seit den 60er Jahren begannen sie, dieses Recht extensiv zu nutzen. Hier wich die anfängliche Traditionsvergessenheit allmählich der Einsicht, dass viele Themen und Streitpunkte feministischer Einmischung bereits zur Jahrhundertwende auf der Tagesordnung gestanden und offensichtlich nichts von ihrer Aktualität verloren hatten. Ein Startschuss dazu fiel auf der ersten „Sommeruniversität für Frauen“ in West-Berlin (1976), die nicht nur für Studentinnen, sondern für alle Frauen offen war und sich gezielt um einen Brückenschlag zwischen Frauenbewegung und Wissenschaft bemühte: „wir wollen hier das realisieren, was wir in der Frauenbewegung erfahren hatten: daß das Persönliche auch politisch – und wissenschaftlich! – ist und daß wir gemeinsam stark sind“ (Bock 1976 zit. nach Althoff et al. 2001, S. 20). Männer waren nicht zugelassen. Die Sommeruniversität kann als Geburtsort der „Frauenforschung“ betrachtet werden, die die Frauenbewegung in die Wissenschaften trug und in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS) 1979 schließlich zur Gründung der Sektion „Frauenforschung“ führte.

5.2

Frauenforschung als Frauenbewegung in der Wissenschaft

An den Universitäten und Hochschulen spielte die Auseinandersetzung mit den von Männern geprägten Wissenschaftsstrukturen von Anfang an eine zentrale Rolle. Zum einen wurde nun der in den siebziger Jahren verschwindend geringe Frauenanteil bei Lehrenden und Forschenden als Ausschluss von Frauen aus der Wissenschaft problematisiert. Zum anderen wurde aber auch in Frage gestellt, was und wie bislang geforscht worden war. Alle wissenschaftlichen Disziplinen wurden unter einen generellen Androzentrismusverdacht gestellt: Wenn der Beruf des Wissenschaftlers bis dahin faktisch nur Männern zugänglich war, dann, so war die Folgerung, beruhten auch die Denkansätze und Methoden auf Denkmustern und Wertorientierungen von Männern. Für diese Kritik hatte Simone de Beauvoir mit ihrem Buch „Das andere Geschlecht“ (1951) insofern wichtige Vorarbeiten geleistet, als sie die Gleichsetzung des „Allgemein-Menschlichen“ mit dem „Männlichen“ und die daraus folgende Besonderung von Frauen zum „Anderen“ aufgezeigt hatte. Diese Besonderung ließe nur Frauen als „Geschlechtswesen“ erscheinen, während der „Mann“ als „allgemeiner Mensch“ sich über die Geschlechtszugehörigkeit erhebe.17

17

Auch von einigen US-Amerikanerinnen sind diesbezüglich wichtige Vorarbeiten geleistet worden. Bereits Betty Friedan hatte mit ihrem Buch zum „Weiblichkeitswahn“ (1963 [deutsch 1970]) die Mystifizierung und gleichzeitige Reduzierung von Frauen anschaulich beschrieben: „Im Namen der Weiblichkeit wird ihnen nahegelegt, sich dem geistigen Erwachsenwerden zu entziehen (…). Tausende von Frauen, die durch ihre Umgebung auf ein biologisches Leben reduziert und (…) in ihrem bequemen Gefängnis gewiegt werden, haben eine Fehlentscheidung getroffen“ (1970, S. 204 f.). Sie forderte die völlige Gleichstellung von Frauen in allen gesellschaftlichen Bereichen. Kate Millett und Shulamith Firestone setzten mit ihren Arbeiten zu Beginn der 1970er Jahre anders ein und fragten nach den psychosexuellen Hintergründen der (Selbst-)Beschränkung von Frauen. Kate Millett beschrieb in ihrer Dissertation zur Politik des „Patriarchats“ („Sexual Politics“, 1968) die „Rollen“ von Mann und Frau als „Rangkategorien mit politischem Unterton“ und als „machtstrukturelle Beziehungen, aufgrund derer eine Gruppe von Menschen von anderen regiert wird“ (Millett 1982). Das Buch löste heftige Kontroversen aus, zugleich machte es den Begriff „Sexismus“ gesellschaftsfähig. S. Firestone („The Dialectic of Sex“, 1970) wanderte ebenfalls auf den Spuren der Patriarchatsforschung. Sie prangerte die „Tyrannei“ der biologisch verstandenen Familie an und trat nachdrücklich für Lebensstile ohne Fortpflanzungszwang ein. Für beide war Simone de Beauvoir ein wichtiger Bezugspunkt.

5.2 Frauenforschung als Frauenbewegung in der Wissenschaft

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Die Frage, welche Folgen die Gleichsetzung des Allgemeinen mit dem Männlichen habe, wurde zur Grundfrage der feministischen Wissenschaftskritik, denn damit ,halbiere‘ sich der Anspruch der Wissenschaften, etwas über ,die Menschen‘ oder ,die Natur‘ auszusagen. Wenn Wissenschaft und Forschung auf intersubjektiver Prüfung beruhe und für ihre Ergebnisse potenziell universelle Geltung beanspruche, dann sei dies mit dem Jahrhunderte langen Ausschluss von Frauen aus Wissenschaft und Forschung unvereinbar: „Das Bild der Realität, das die Wissenschaft vermittelt, ist nicht umfassend und vollständig und folglich auch nicht objektiv, sondern es reflektiert standortgebundene Beschränkungen, weil es von einem geschlechtsspezifisch selektiven Standort aus gewonnen ist“ (Klinger 2001 [1990], S. 32). Eine „feministische Forschung“ sei dagegen eben dadurch ausgezeichnet, dass sie sich an den Belangen von Frauen orientiere, eine Forschung von Frauen für Frauen durch Frauen sei. Vor diesem Hintergrund ließen sich viele als ‚geschlechtsneutral‘ geltende Forschungsergebnisse nicht halten – sie erwiesen sich vielmehr als ‚geschlechtsblind‘. Sie verschwiegen insbesondere die ungleiche hierarchische Positionierung der Geschlechter und den Machtaspekt in ihren Beziehungen. In zahlreichen Analysen wurde nun aufgewiesen, dass und wie die auf männliche Lebensmodelle zentrierten Sichtweisen die Entwicklung nicht nur der Geistesund Sozialwissenschaften prägten (z. B. Hausen/Nowotny 1986), sondern bis in die Klassifikationssysteme der Naturwissenschaften hinein wirkten (Fox-Keller 1986; Martin 1987; Schiebinger 1995). Für die entstehende Frauenforschung erwiesen sich drei „Entdeckungen“ als zentral (Hagemann-White 1988): •

Frauen kamen in kulturellen Bereichen wie Literatur, Kunst, Geschichte als Handlungssubjekte nicht vor. Sie waren und sie wurden unsichtbar gemacht (vgl. z. B. Weber, Kap. 3.1.5); • Unterdrückung, Zwang und Gewalt gegen Frauen herrschten vielfach gerade in der Privatsphäre, dem scheinbar vor öffentlichen Zumutungen geschützten – und dabei idealisierten – Bereich privater Lebensentscheidungen und Intimität (vgl. z. B. Comte, Kap. 2.2.2; Durkheim, Kap. 3.1.3; Parsons, Kap. 4.3.1); • Hausarbeit wurde nicht als Arbeit bewertet, sie ist unbenannte und unsichtbare Frauenarbeit, die die Freisetzung der Männer zur Erwerbsarbeit erst ermöglichte. In der historischen Trennung von häuslicher und öffentlicher Sphäre sei die Unterdrückung der Frauen begründet (vgl. Kap. 2.1.3). Die Frauenforschung verstand sich von Anfang an zwar als „interdisziplinär“ und als im Sinne der Frauenbewegung „praxisbezogen“, dennoch hat sich relativ schnell eine gewisse Arbeitsteilung herausgebildet: Die (wenigen) Naturwissenschaftlerinnen widmeten sich in aufklärerischer und politisch-praktischer Absicht der Wissenschaftsgeschichte der Naturwissenschaften, Kultur-Anthropologinnen der Entstehung des Patriarchats und der Suche nach matriarchalischen Gesellschaften, Philologinnen der Stellung und den verschwiegenen Beiträgen von Frauen in Kunst, Kultur und ihrem Ausblenden in der Sprache, Historikerinnen der bislang unsichtbaren Geschichte der Frauen und Sozialwissenschaftlerinnen dem „weiblichen Lebenszusammenhang“ (Prokop 1976) in der damaligen gesellschaftlichen Gegenwart. Dabei fanden die (wenigen) Arbeiten von Soziologinnen zur Situation von erwerbstätigen Müttern in der Bundesrepublik (Pfeil 1961), über die Bildungschancen von Mädchen oder über die „Wirklichkeit der Hausfrau“ (Pross 1969 und 1975) zunächst wenig Resonanz. Auch an die angloamerikanische Forschung zu „sex-roles“ (vgl. Kap. 4) wurde kaum ange-

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5 Zurück zum Anfang?

schlossen, die dort stattfindende Diskussion und Wende von „sex“ zu „gender“ wurde lange nicht wahrgenommen. Für diese Zeit gelten die „methodischen Postulate“ von Maria Mies (1978) als „unbestrittener Ausgangspunkt“ (Müller 2010, S. 340) für die Forschung von Frauen für Frauen. Konzipiert als gezielte Gegen-Methodologie zur männlich dominierten Forschung in den Sozialwissenschaften wird vor allem das Primat von Objektivität und Werturteilsfreiheit (vgl. Kap. 3.1.5) vehement abgelehnt. An seine Stelle soll eine bewusste Parteilichkeit treten, eine identifikatorische Nähe zu den Nöten und Wünschen der Erforschten und eine aktive Teilnahme an emanzipatorischen (verändernden) Aktionen. Die „Sicht von oben“ – so M. Mies – müsse einer „Sicht von unten“ weichen, die Forscherinnen sich mit den stets als unterdrückt gedachten Frauen solidarisieren. Politische Praxis habe Vorrang gegenüber der Wissenschaft. Ein wichtiger Bezugspunkt für die sozialwissenschaftliche Frauenforschung war gerade zu Beginn die kritische Diskussion des Begriffs „Arbeit“. Im Schulterschluss mit der Frauenbewegung und der Kampagne „Lohn für Hausarbeit“ wurde die Unsichtbarkeit und Minderbewertung der unentlohnten Reproduktionsarbeit in den Zusammenhang kapitalismuskritischer Analysen gestellt und ihre zentrale Bedeutung für die kapitalistische Produktionsweise herausgestellt (z. B. Werlhof 1978; Kontos/Walser 1979). Ein zweites wichtiges Thema – ebenfalls in enger Verbindung zur politischen Bewegung – war „Gewalt“: Die dort gestarteten Projekte und Initiativen waren ein wichtiger Ausgangspunkt dafür, gewaltförmige Strukturen gegenüber Frauen auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen jenseits von Ehe und Familie offen zu legen, z. B. Übergriffe am Arbeitsplatz, sexuelle Belästigung, Ausbeutung in der Prostitution, Frauenhandel, Missbrauch von Mädchen (im Überblick: Brückner 1997). Durchgängig wurde in diesen Kontexten „Gewalt“ explizit als Ausdruck männlichen Willens zur Unterdrückung von Frauen gedeutet. Frauen waren Opfer und Männer Täter im Gewaltgeschehen. Anders als in der politischen Frauenbewegung wurde weibliche Homosexualität in der sozialwissenschaftlichen Frauenforschung kaum thematisiert; Frauen waren mehr oder weniger selbstverständlich als heterosexuell gedacht (vgl. Mathes 2001, S. 15; Hark 2005). Nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Kritik an einer „Emanzipationslogik“, die allein in der Erwerbstätigkeit von Frauen einen Ausweg aus der Misere sah, entwickelten sich im weiteren Verlauf eine Vielzahl von Forschungsaktivitäten, in denen „weibliches Schreiben“, „weibliches Lesen“, „weibliche Sprache“ und „weibliches Sprechen“, „weibliches Arbeitsvermögen“, „weibliche Moral“, „weibliches Denken“ und einige andere ‚Weiblichkeiten‘ mehr entdeckt wurden. Aus heutiger Sicht können diese Studien so verstanden werden, dass als Reaktion auf die tradierte Zweitrangigkeit von Frauen versucht wurde, Weiblichkeit aufzuwerten, nicht Gleichbehandlung unter unveränderten (männlich geprägten) Bedingungen zu erreichen, sondern Eigenwert und mitunter auch Überlegenheit von Frauen aufzuweisen (zur Kritik: Gildemeister 1988). Auf diese Weise reproduzierten sie auch dort die traditionell konstatierte Polarität der Geschlechter, wo ihr Ziel deren Überwindung war. Auf der ganzen Linie wurde sowohl in der Wissenschaftskritik als auch in der praktisch engagierten Forschung das Rad in dem Sinne neu erfunden, dass ein „Gestus radikalen Neubeginns“ (Wetterer 1995, S. 333) herrschte, der in die Frage kumulierte, wie eine „feministische“ als ganz andere, als alternative Wissenschaft möglich wäre (ebd.; vgl. auch Brück et al. 1992). Dieser „Gestus radikalen Neubeginns“ bestimmte auch in der 1976 eingeleiteten und 1979 erfolgenden Gründung der Sektion „Frauenforschung in den Sozialwissenschaften“ in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS) die Debatte um das Selbstverständnis der Sektion. Vordergründig ging es den Gründungsmitgliedern zunächst vor allem um die Vernetzung

5.2 Frauenforschung als Frauenbewegung in der Wissenschaft

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der vielfältigen Aktivitäten: Kontaktmöglichkeiten sollten geschaffen und Gedankenaustausch ermöglicht werden. Eine Mitgliedschaft war auch Männern möglich. Explizit heißt es in einem der ersten Sektionsberichte, dass die Sektion es als ihre Aufgabe betrachte, „Frauenforschung im Zusammenhang existierender Wissenschaftsstrukturen zu entwickeln“ (Sektionsbericht zit. nach Mathes 2001, S. 7) und die Institutionalisierung der (feministischen) Frauenforschung weiterzuentwickeln. Gleichzeitig insistierten die Gründungsmitglieder darauf, dass „Frauenforschung“ nicht als eine „Bindestrichsoziologie“ im Sinne einer „Soziologie der Frau“ (miß)verstanden werden dürfe und solle, sondern sich in Theorie und Methodologie von den als androzentrisch kritisierten etablierten Sozialwissenschaften ablösen müsse. Dennoch löste die Sektionsgründung nicht nur in der Soziologie, sondern vor allem im weiteren Kontext der feministischen Forschung kontroverse Diskussionen aus. So wurde den Gründungsmitgliedern ein kritikloses „Akzeptieren gängiger Wissenschaftlichkeit“ vorgeworfen, sie übersähen, dass auch die Sozialwissenschaft in einer patriarchalischen Gesellschaft entstanden sei und daher auch selbst „patriarchalischen Charakter“ habe. Auch in der Forderung nach Chancengleichheit für Frauen werde die „patriarchalische Herrschaft nicht reflektiert, sondern lediglich das ‚sozialpolitische Verteilungskonzept‘ kritisiert“ (Rundbrief 2 1979 zit. nach Mathes 2001, S. 14 f.). Spätestens hier deutete sich damit an, dass eine feministische Frauenforschung viele Gesichter hat(te) und die weitere Entwicklung sowohl innerhalb der Sektion als auch in der Kommunikation nach außen recht kontrovers verlief. Dabei wurde die enge Verbindung zur politischen Bewegung stark gelockert, manchmal auch gekappt. Auch die Frauenforschung verstand sich nun insofern als „autonom“, als sie sich ihre Themen und Ziele nicht von der politischen Bewegung vorschreiben lassen wollte. Sie wurde von großen Teilen der Sektion zunehmend als kommunikativer Prozess mit offenem Ende verstanden, so dass theoretische Postulate auch wieder verworfen werden konnten und Lernprozesse möglich waren. Von dem Versuch, genuin „feministische Methoden“ zu entwickeln, verabschiedete sich die Forschung relativ bald (z. B. Diezinger et al. 1994). Die Theoriediskussion dagegen ging weiter und fand einen ihrer ersten Höhepunkte in der Gleichheits-/Differenz-Debatte der späten 1980er Jahre: „Menschenrechte haben (k)ein Geschlecht“ (Gerhard et al. 1990). Stimmen, die sich gegen vorschnelle Generalisierungen und die Simplifizierung in der „WirFrauen“-Rhetorik wandten, wurden mehr und sie wurden lauter. Weder könnten „Frauen“ zum Kollektivsubjekt erklärt werden, noch eigneten sich identitätspolitische Strategien zur Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse. Lauter wurden auch die Stimmen, die Einspruch dagegen erhoben, Frauen in erster Linie als Opfer zu verstehen. So argumentierte Frigga Haug, dass Frauen zwar durch die „Hausfrauisierung“ gesellschaftliche Lebensbereiche verschlossen sind, diese Einbindung aber ohne Gewalt und daher mit ihrer Einwilligung geschehe: „[I]ndem sie Mutterschaft und Ehe in dieser Weise wollen, zumindest heimlich wünschen und irgendwo anstreben, willigen die Frauen freiwillig in ihre Unterwerfung ein“ (Haug 1980, S. 646). Einige Jahre später schreibt Christina Thürmer-Rohr: „Wir sind Mittäterinnen geworden, wenn wir uns den Ergänzungsideen gefügt, nämlich komplementär zum ,männlichen‘ ein ,weiblich‘ beschränktes Verhaltensrepertoire entwickelt und praktiziert haben; ein Gegengewicht (…) wenn Frauen das männliche Individuum stützen und abschirmen, indem sie ihre Ressorts (…) so strukturieren, dass der Mann für seine Taten freigesetzt wird“ (Thürmer-Rohr 1987, S. 41 f.).

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5 Zurück zum Anfang?

Mit diesem Denken machten nicht zuletzt sie den Weg frei, nicht allein die Benachteiligung von Frauen zum Thema zu machen, sondern Geschlecht konsequent als relationale Kategorie zu betrachten. Dieser Weg war von einigen anderen schon relativ früh beschritten worden (vgl. Kap. 3.4.4, 4.4.2, 4.4.3, 7.2.2), jedoch wurde auf diese Arbeiten zunächst nicht zurückgegriffen.

5.3

Die Entdeckung des „Geschlechterverhältnisses“

Das bis heute wohl einflussreichste Konzept zu einer „Feministischen Soziologie“ ist eng mit dem Namen Regina Becker-Schmidt und der von ihr entwickelten Theoriefigur einer „doppelten Vergesellschaftung von Frauen“ verbunden. Sie gehört mit Ursula Beer und Ute Gerhard zu den bekanntesten Begründerinnen eines gesellschaftstheoretisch-feministischen Ansatzes, zu deren Grundüberzeugungen es gehört, dass die Hierarchisierung und die daraus folgende soziale Ungleichheit der Geschlechter nur im Zusammenhang übergreifender gesellschaftlicher Verhältnisse und Strukturen verstanden werden kann.

5.3.1

Ursula Beer: Arbeit und Generativität

Es lag (nicht nur) zu dieser Zeit durchaus nahe, sich auf die Marx’sche Theorie als einem gesellschaftstheoretischen Entwurf mit einem explizit kritisch-emanzipatorischem Anspruch zu beziehen, da dieser für eine solche Betrachtungsweise am ehesten Konzepte und Begriffe bereitstellte (vgl. Kap. 2.2.3 und 2.2.5). Die Frage, die die verschiedenen gesellschaftstheoretischen Ansätze eint(e), ist die Frage, wie die Klassentheorie von Marx und die Analyse des Geschlechterverhältnisses so verbunden werden können, dass beides – Klasse und Geschlecht – als bestimmende Momente eines gesellschaftlichen Gesamtzusammenhangs begriffen werden können, eben als Strukturkategorien. In der Frauenforschung – insbesondere der sog. „Hausarbeitsdebatte“ – war es bis dahin nicht gelungen, eine theoretisch schlüssige Verbindung von „geschlechtlicher Arbeitsteilung“ und „Arbeitsteilung im Klassenverhältnis“ zu erarbeiten. Umgekehrt war die „geschlechtliche Arbeitsteilung“ in den marxistischen Theorien kaum ein Thema und die ,Frauenfrage‘ nur ein „Nebenwiderspruch“ (vgl. Kap. 2.2.3). Die Benachteiligung der Frauen wurde hier als sekundäre, dem Klassenverhältnis (als „Hauptwiderspruch“) entspringende (und auf ihn zurückführende) soziale Ungleichheit und nicht als eigenständiges Herrschaftsverhältnis verstanden. Eine der Frauenforschung ,angemessene‘ Problemlösung dagegen sollte von der Annahme ausgehen, dass sich „Geschlechter- und Klassenantagonismus wechselseitig beeinflussen (würden), ohne aufeinander reduzierbar oder voneinander ableitbar zu sein. Patriarchalische und kapitalistische Unterdrückung und Ausbeutung werden als ein eng miteinander verzahntes System begriffen, dessen Ausprägungen sich gegenseitig stützen und die nicht isoliert voneinander existieren können“ (Beer 1984, S. 91). Zur Entwicklung dieses Grundgedankens wählt Ursula Beer einen historischen Zugang und fragt nach dem „Formwandel“ gesellschaftlicher Strukturen im Übergang vom (agrarisch geprägten) ständischen Feudalismus zur (industriellen) bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft (Beer 1990). In der Analyse dieses Umbruchs müsse sowohl die materielle Produktion als auch die generative Reproduktion berücksichtigt werden. Für die Erfassung der Strukturen der materiellen Produktion übernimmt sie den Marx’schen Begriff der „Produk-

5.3 Die Entdeckung des „Geschlechterverhältnisses“

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tionsweise“, für die der generativen Reproduktion prägt sie den als analog verstandenen Begriff „Bevölkerungsweise“. Dabei schließt sie an die Figur der „Produktion von Leben“ als „doppeltem Verhältnis“ in der „Deutschen Ideologie“ des ‚frühen‘ Marx (vgl. Kap. 2.2.3) und gleichzeitig an strukturalistische Marx-Interpretationen (Althusser und Godelier) an und weitet deren Begrifflichkeit auf die Geschlechterdimension aus: „Im Geschlechterverhältnis reproduziert sich ein Gesellschaftsgebilde generativ, überlagert von seinen Klassenbedingungen“ (Beer 1993, S. 18). Damit werden Arbeit und Generativität zu den Schlüsselbegriffen in ihrer Analyse des Formwandels im Übergang von der feudalistischen zur kapitalistischen Gesellschaft. Auf diese Weise kann sie die nicht-marktvermittelte (häusliche) Arbeit in ihre Analyse hinein holen. Am Beispiel der Entwicklung von Rechtsordnungen führt Beer aus, dass und wie in der agrarisch-handwerklichen Produktionsweise des Feudalismus sich ein „Primärpatriarchalismus“ ausgebildet hat, der vor allem auf dem Besitz von Grund und Boden beruhte, über den Frauen nicht in gleichem Maße verfügen konnten wie Männer. Die Herrschaft des männlichen Familienoberhauptes über Familie und Gesinde war in einer Weise rechtlich abgesichert, in der die Formen der Arbeitsteilung ebenso festgeschrieben waren wie die Kontrolle der Generativität (Heiratsverbote für besitzloses Gesinde). Den „Nutzen“ aus der Arbeitsund Gebärfähigkeit von Frauen zogen Männer, aber wie sie das tun konnten, das hing von ihrer Stellung im Eigentumsgefüge ab: „je besitzloser und eigentumsloser ein Mann, desto stärker seine Angleichung an die soziale Platzierung von Frauen des eigenen Standes“ (Beer 1990, S. 190). Mit dem Übergang zur industriell-kapitalistischen Produktionsweise veränderte sich die materielle Grundlage, auf der die Einheit von Familie und Erwerb beruhte. Die Trennung von Familie und Erwerb führte zwar dazu, dass das Gesinderecht und die Heiratsbeschränkungen obsolet wurden, nicht aber dazu, die ehe- und familienrechtlichen Bestimmungen zu verändern. Die Kontroll- und Machtbefugnisse von Männern (Vätern, Ehemännern und Söhnen) blieben erhalten, weiteten sich sogar auf Männer auch der besitzlosen Schichten aus und verankerten so das „Ernährermodell“ im Familienrecht. Die Verpflichtung von Frauen auf unentgeltliche (familienvermittelte) Arbeit wiederum schmälerte ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt und wertete ihre Arbeitskraft ab. Beer sieht darin eine „Kumulation von Benachteiligungen“, die Frauen in Verbindung mit ihrer Klassenlage erfahren. Entstanden sei ein „Sekundärpatriarchalismus“, der auf dem „Primärpatriarchalismus“ der ständisch-feudalen Gesellschaft aufruht und nicht umstandslos der kapitalistischen Produktionsweise angelastet werden könne, sondern auf einen „geschichtsübergreifenden Patriarchalismus“ verweise, der sich auch in den einstigen sozialistischen Gesellschaften erhalten habe: „Wahrscheinlich ist es Patriarchalismen aller Art geschuldet, wenn sich immer wieder Geschlechterungleichheit auf dem Arbeitsmarkt herstellt und sie fortgeschrieben wird. Mit Kapitalinteressen rein ökonomischer Art ist sie heute schwerlich begründbar“ (Beer 2010, S. 62). Zwar ändern sich die Muster und die Erscheinungsformen, aber die „Kumulation von Benachteiligungen“ bei Frauen bleibe grundsätzlich erhalten. Ein Problem dieser Analyse liegt darin, dass damit zwar begründet werden kann, warum die „gleichmachende“ Wirkung der kapitalistischen Produktionsweise (vgl. Kap. 2.2.3) nicht zum Zuge gekommen ist, aber nicht, wann und warum Frauen die Abhängigkeit und Benachteiligung akzeptier(t)en oder sich dagegen – wann, warum und mit welchem Erfolg – zur

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5 Zurück zum Anfang?

Wehr setz(t)en. Die Verbindung von Struktur und Handlung bleibt – trotz anderslautender Absichten – eine blinde Stelle. Ein weiteres Problem liegt darin, dass Geschlecht primär in Bezug auf „Generativität“ (Fortpflanzung) in den Blick genommen wird. Diese wird im Hinblick auf ihre gesellschaftliche Organisation und deren Folgen für das Geschlechterverhältnis ausbuchstabiert. Das erweitert zwar die Marx’sche Gesellschaftstheorie, bleibt darin aber zugleich dem Blick der Klassiker des 19. Jahrhunderts verhaftet: Wie dort wird die soziale Kategorie Geschlecht nicht zum Gegenstand soziologischer Forschung, sondern bildet die Grundlage der historisch gerichteten Analyse.

5.3.2

Ute Gerhard: Die Zweischneidigkeit des Rechts

Auch Ute Gerhard zielt mit ihren rechtshistorischen und rechtssoziologischen Untersuchungen auf das Geschlechterverhältnis im gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang zur Zeit des Übergangs vom „ständischen“ zum „bürgerlichen Patriarchalismus“. „Patriarchalismus“ meint hier keine überzeitliche soziale Konstante – so war er als „Kampfbegriff“ in frühen Stadien des Feminismus eingeführt – sondern eine spezifische Handlungsorientierung und ein spezifisches Herrschaftsgefüge. Dabei greift Gerhard zurück auf die Theorie Max Webers, der das Patriarchat als einen Typus „legitimer Herrschaft“ ansah und ihn der „traditionalen Herrschaft“ zuordnete (vgl. Kap. 3.1.5). Seine Legitimitätsgeltung bezieht dieser Herrschaftstyp aus dem „Alltagsglauben“ an „altüberkommene Ordnungen und Herrengewalten“ (Weber zit. nach Gerhard 1991, S. 421). Vorausgesetzt ist dabei die Duldung bzw. Mitwirkung der Beherrschten („freiwilliger Gehorsam“), hier der Frauen. Bei Max Weber fänden sich für diese Herrschaftsform nur Beispiele aus der „entlegenen Vergangenheit“, während Gerhard (unter Bezug auf Marianne Weber) sie als moderne Herrschaftsform und nicht als bloßes Relikt ständisch-feudaler Sozialorganisation versteht. In „Verhältnisse und Verhinderungen“ (1978) zeichnet sie die Entwicklung der Frauenarbeit, der Stellung der Frau in der Familie und ihre allgemeine Rechtsstellung im 19. Jahrhundert – dem Übergang zur bürgerlichen (modernen) Gesellschaft – nach. Ihre These dazu ist, dass der spezifisch bürgerliche Patriarchalismus der „modernen Gesellschaftsordnung systematisch eingeschrieben und zugleich von ihrem Anspruch her überholt“ sei (Gerhard 1991, S. 425). Seine wichtigsten Merkmale seien die geschlechtshierarchische Arbeitsteilung, die zentrale Bedeutung der bürgerlichen Familienform, die Benachteiligung der Frauen im Erwerbsleben, ihre politische Unterrepräsentanz und „schließlich die Dominanz einer patriarchalen Kultur, die in den gesellschaftlichen Normen, Recht, Symbolen, nicht zuletzt Sprache, Denken, Wissenschaft zum Ausdruck kommt“ (ebd., S. 426). Für die Gegenwartsanalyse wäre die Frage zu beantworten, inwieweit die aktuell vorfindliche Formation noch als „bürgerliche“ Gesellschaft angemessen beschrieben werden könne und ob – und wenn ja, inwieweit – die „modernisierte Moderne“ oder „Postmoderne“ grundlegende Veränderungen im Geschlechterverhältnis bewirkt habe. Dazu aber müsse zunächst einmal die Ausgangslage rekonstruiert werden, denn diese stelle im Hinblick auf die Kategorie Geschlecht in der Soziologie eine „systematische Leerstelle“ (ebd., S. 427) dar. Der Vorwurf bezieht sich vor allem auf zu dieser Zeit aktuelle Modernisierungstheorien, die – wenn sie es überhaupt thematisierten – mit dem Geschlechterverhältnis verbundene Ungleichheitslagen als „vormodern“ oder als „ständische Relikte“ betrachteten (vgl. Kap. 6.3). Gerhard geht davon aus, dass mit dem Übergang zur bürgerlichen Gesellschaft der ständische Patriarchalismus nicht nur seine materielle Basis verloren habe, sondern auch seine

5.3 Die Entdeckung des „Geschlechterverhältnisses“

161

Legitimation. Die mit der Aufklärung entstandenen Ideen von Gleichheit und Gerechtigkeit unterminierten den „Alltagsglauben“ an die überkommene Ordnung. Dem Legitimationsverlust wurde zunächst durch Konzepte einer naturhaften qualitativen Differenz begegnet, denen zufolge die Aufgabenzuweisung an die Geschlechter ihrer unterschiedlichen „Natur“ entsprach (vgl. Kap. 2.1.6). Auf diese Weise war eine neue Legitimation entstanden, über die Frauen von den bürgerlichen Rechten ausgeschlossen werden konnten. Stütze des bürgerlichen Patriarchalismus wurde nach Gerhard vor allem das Rechtsinstitut der „Geschlechtsvormundschaft“, das bewirkte, dass Frauen praktisch keine Rechtshandlung (Verlöbnis, Eheschließung, Vermögensregelungen, testamentarische Verfügungen etc.) ohne männlichen Beistand vornehmen konnten. Als „Sonderrecht“ sicherte das Familienrecht bis weit ins 20. Jahrhundert hinein die männliche Vormachtstellung in der Familie, die aber auf alle gesellschaftlichen Bereiche ausstrahlte, insbesondere auf den Arbeitsmarkt und das Berufssystem sowie allgemein auf Politik, Wissenschaft und Kultur. Gerhard sieht dahinter weniger „blind“ wirkende Strukturen am Werk, sondern das deutliche Interesse von Männern an der Sicherung ihrer Geschlechtsprivilegien. Vor diesem Hintergrund kritisiert Gerhard auch die Familiensoziologie, „die primär die Reproduktions- und Sozialisationsfunktion der Familie“, nicht aber den „Widerspruch zwischen bürgerlicher Freiheit und Gleichheit und den nur der Frau übertragenen familiären Verpflichtungen“ (Gerhard 1989, S. 75) thematisiere. Die „Natur-der-Frau-Argumentation“ wurde aber auch von der Mehrzahl der Frauen übernommen und die Geschlechterpolarität zum positiven Bezugspunkt der eigenen Identitätsvergewisserung gemacht (vgl. Kap. 3.1.1). Insofern waren auch Frauen an der Aufrechterhaltung männlicher Dominanz beteiligt. Dennoch war mit dem Gleichheitsversprechen der Aufklärung und dem faktischen Ausschluss aus bürgerlichen Rechten ein Widerspruch entstanden, der bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts (1848) Frauen für ihre bürgerlichen Rechte eintreten ließ und an dem sich Frauen immer wieder rieben. So gesehen ist das (bürgerliche) Recht eine „zweischneidige“ Angelegenheit; es steht zwischen Emanzipation und (patriarchalischer) Herrschaft, denn die konstituierenden Prinzipien des bürgerlichen Rechts – Freiheit und Gleichheit – sind grundsätzlich nicht mit der patriarchalisch begründeten Vorrangstellung des Mannes zu vereinbaren. Alle Frauenbewegungen waren daher immer auch Rechtskämpfe auf der Grundlage dieser Prinzipien des bürgerlichen Rechts, sie erschöpften sich darin aber nicht. Auch Gerhard arbeitet mit der Figur „des“ Geschlechterverhältnisses, das sich historisch und kulturell zwar unterschiedlich ausforme, aber als solches gegeben sei und die Grundlage ihrer Analyse bildet. Geschlecht ist für sie eine „analytische Kategorie“ (Gerhard 1989, S. 428), die wesentliche Strukturen des gegenwärtigen Gesellschaftssystems bestimmt. Vor diesem Hintergrund ist auch ihr Votum einer „Gleichheit auch in der Differenz“ (ebd., S. 429) zu verstehen, denn die Forderung nach Gleichberechtigung mache nur Sinn unter der Voraussetzung, dass Menschen verschieden seien.

5.3.3

Regina Becker-Schmidt: Doppelte Vergesellschaftung – doppelte Benachteiligung

Regina Becker-Schmidt zielt auf eine interdisziplinäre und integrative Theorie, „die alle Herrschaftsaspekte – psychogenetische, kulturelle, politisch-ökonomische, ideologische – berücksichtigt und ihre Interdependenzen untersucht“ (Becker-Schmidt 1987, S. 213). Das methodologische Kunststück liege darin, zu „synthetisieren ohne eindimensional zu systema-

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5 Zurück zum Anfang?

tisieren“ (ebd., S. 214). Das würde Becker-Schmidt vermutlich auch heute noch unterschreiben, aber nicht zuletzt dieser umfassende Anspruch macht es noch schwieriger als in den anderen Fällen, ihren Ansatz mit wenigen Sätzen zu umreißen, ohne ihn zu verkürzen. Ihr theoretischer Hintergrund ist die (ältere) „Kritische Theorie“ (vgl. Kap. 3.3) wie sie vor allem von Horkheimer und Adorno entworfen wurde. Deren zentrale Frage sieht sie darin, „welche Chancen die Verfasstheit industrieller Gesellschaften der Entstehung und Entfaltung von Subjektpotentialen lässt, in denen individuelle und kollektive Interessen zum Austrag kommen“ (Becker-Schmidt 1991, S. 383). Damit stellt sie das Spannungsfeld von Individuum und Gesellschaft in den Mittelpunkt ihrer Arbeit und nimmt eine subjekttheoretische Erweiterung im gesellschaftstheoretischen Zugang zu „Geschlecht“ vor. Auch die Kritische Theorie ist der Marx’schen Theorietradition verpflichtet, bezieht sich aber zugleich auf die Psychoanalyse. Das gilt auch für Becker-Schmidt. Sie schließt an Adornos Begriff der „Totalität“ an, der auf die Organisation des gesellschaftlichen Gefüges als „Ganzes“ verweise und Einzelphänomene nur mit Blick auf das Ganze als „strukturell vermittelte“ begreifen lasse. Diese „gesellschaftliche Totalität“ müsse solange als in sich widersprüchlich aufgefasst werden, wie menschliche Belange oder eben „Subjektpotentiale“ mit gesellschaftlichen Anforderungen im Konflikt stehen. Um die widersprüchliche Struktur zu erfassen, bedient sich Becker-Schmidt des Begriffspaares „Vergesellschaftung – innere Vergesellschaftung“ zur Beschreibung der objektiven und der subjektiven Seite der Integration von Individuen in das gesamtgesellschaftliche Gefüge: •

„Vergesellschaftung“ zielt auf die Mechanismen mittels derer die Subjekte in die sozialen Austauschprozesse hinein genommen werden (die Verwertung menschlicher Arbeitskraft, Lenkung der Konsumtion, aber auch Formen der Reproduktion im Privaten etc.). • „innere Vergesellschaftung“ bezieht sich auf die „Modellierung der psychischen und mentalen Persönlichkeitsstrukturen im kollektiven Ausmaß (Vergesellschaftung der Trieb- und Affektstruktur, der Denk- und Wahrnehmungsweisen, der Handlungsmuster und Erfahrungsweisen, ja: des Unbewußten“ (ebd., S. 387 f.). Dabei ist unterstellt, dass der sich entfaltende Kapitalismus alle Lebensbereiche durchdringt und das Überleben der Menschen davon abhängt, inwieweit sie sich in die dem Kapitalismus inhärente Tauschrationalität einfügen. Gleichzeitig distanziert sie sich insofern von der Marx’schen wie von der Kritischen Theorie als diese die gesellschaftlichen Verhältnisse im Kapitalismus allein auf die marktvermittelte Tauschrationalität und daraus resultierende Klassenverhältnisse zurückführen, das andere Herrschaftsgefüge – das des Patriarchats – aber gar nicht in den Blick nehmen. Indem beide auf die industrielle Produktionssphäre und die dort zu verortende Entfremdung des Menschen fixiert seien, übersehen sie, dass auch die Abtrennung der Privatsphäre (Familie) aus dem gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang Entfremdung durch Verengung, Vereinseitigung und Verzicht hervorbringt: „Durch Isolation und Vereinzelung wird das Individuum in den persönlichen vier Wänden der Einsicht darin beraubt, in welchen sozialen Zusammenhängen sich sein privates Tun eigentlich vollzieht“ (Becker-Schmidt 1983, S. 415). Den Folgen der Trennung von Familie und Erwerb sind Frauen in besonderer Weise ausgesetzt. Ihre Beschränkung auf die Privatsphäre beinhalte, dass ihre Arbeit von den Familienmitgliedern angeeignet werde und – wenn überhaupt – lediglich private Anerkennung erfährt. Öffentlich bleibe diese Arbeit unbewertet. Das ändere sich grundsätzlich auch dann nicht, wenn Frauen mit Familie berufstätig werden.

5.3 Die Entdeckung des „Geschlechterverhältnisses“

163

In dieser Kritik trifft sie sich mit U. Beer. Anders als diese wählt R. Becker-Schmidt jedoch keinen historischen, sondern einen empirischen Zugang und setzt bei den „Problemen lohnabhängig arbeitender Mütter“ (Projekttitel) ein. In diesem in den 1980er Jahren durchgeführten Forschungsprojekt wird davon ausgegangen, dass vor allem Frauen der Arbeiterklasse seit langem Grenzgängerinnen zwischen privatem und öffentlichem Bereich sind und Erwerbs- und Familienarbeit austarieren müssen. Die mit biographischen Interviews arbeitende Studie setzt an den entsprechenden Erfahrungen von Fabrikarbeiterinnen an und beleuchtet die unterschiedlichen Logiken in der zeitlichen und psychischen Beanspruchung in den beiden Arbeitsbereichen: In der Familie haben die Familienpflichten Vorrang, in der Erwerbsarbeit die Erfordernisse am Arbeitsplatz. Der zentrale Befund lautet: „Eines ist zuwenig – Beides ist zuviel“ (Becker-Schmidt et al. 1984). Darin drückt sich aus, dass die beiden Bereiche zwar voneinander abhängig sind, aber weder im Privaten noch in der Arbeitswelt diese Interdependenz berücksichtigt wird. „Es ist der Mangel der einen Sphäre, der die gegenteilige in bestimmten Aspekten positiviert; es sind die relativen Überschüsse der einen, die die Defizite der anderen wie im Vexierbild aufdecken“ (Becker-Schmidt 1983, S. 419). Aus der „zweiwertigen Beanspruchung“ folgen für die Frauen keine Vorteile – im Gegenteil: „Die Vergesellschaftung über zwei Arbeitsformen impliziert doppelte Diskriminierung. Frauen werden zur unbezahlten Hausarbeit verpflichtet, was zudem ihre gleichberechtigte Integration in das Beschäftigungssystem erschwert“ (Becker-Schmidt 2010, S. 67). Aber von der doppelten Einbindung gehen auch Impulse zur Veränderung aus, denn wenn Frauen und Männer zum Familienunterhalt beitragen, dann wird die auf dem „Allein-Ernährer-Modell“ beruhende traditionelle Legitimation der geschlechtlichen Arbeitsteilung brüchig. Aus dieser Untersuchung ist das Theorem der „doppelten Vergesellschaftung“ entstanden, das aber nicht einfach „Doppelbelastung“ meint, sondern eine Doppelung, die sich BeckerSchmidt zufolge aus dem gesamtgesellschaftlichen (herrschaftsförmigen) Strukturzusammenhang ergibt, in dem Frauen gegenüber Männern durchgängig benachteiligt seien, wobei diese Benachteiligung zwar durch die Klassenlage gebrochen, aber nicht beseitigt werde. In Manager-Ehen sind Frauen zwar in der Regel besser gestellt als in Arbeiterfamilien, aber innerhalb der jeweiligen Klasse sind Frauen Männern nachgeordnet. Ihre (durchgängige) Benachteiligung ergibt sich damit zum einen aus einer Geschlechterordnung, in der sich (vorindustrielle) patriarchalische Strukturen erhalten haben. Zum anderen folgt sie aus der Hierarchisierung von Funktionsbereichen in der kapitalistischen Gesellschaft (z. B. ökonomisch-technologische Bereiche über Familie und Bildung), in die unpersönliche, strukturelle Mechanismen der Diskriminierung eingelassen sind: „Die Hierarchisierung der gesellschaftlichen Sphären – vor allem die Dominanz des Erwerbsbereichs gegenüber der Institution Familie – spiegelt sich in der Hierarchie der Geschlechter wider. (…) Der Mann dominiert sowohl in der Erwerbssphäre als auch in der Familie, weil in beiden Sphären seine berufliche Arbeit die Verhältnisse und Beziehungen zwischen den Geschlechtern mitbestimmt. Die Minderbewertung der Hausarbeit gegenüber jeder wie auch immer professionalisierten Tätigkeit setzt sich fort in der Abwertung typischer Frauenlohnarbeit – diese wird in der Regel schlechter honoriert, weniger gefördert und gewerkschaftlich weniger geschützt“ (Becker-Schmidt/Knapp 1995, S. 10). Dabei bleibt die wichtigste Leistung der Frauen im Dunkeln. Indem sie zwischen Erwerbsund häuslicher Arbeit hin- und herpendeln, trifft sich in ihnen, was gesellschaftlich auseinander getreten ist: Privatsphäre und Öffentlichkeit.

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5 Zurück zum Anfang?

Der „doppelten Vergesellschaftung“ auf der Ebene des Gesellschaftsgefüges entspricht auf subjektiver Seite – der „inneren Vergesellschaftung“ – die „Doppelorientierung“ von Frauen, die in ihrem Leben und ihrem Lebenslauf beiden Dimensionen gerecht werden wollen. An dieser Stelle kommt die psychoanalytische Orientierung von Becker-Schmidt ins Spiel. Die Doppelorientierung und innere Widersprüchlichkeit ihrer sozialen Lage konfrontiere Frauen mit einer Vielzahl von Zerreißproben, denen Männer nicht ausgesetzt sind. Sie verlange auch einen neuen Blick auf Sozialisation und Identitätsbildung, da diese doppelte Orientierung bei Mädchen Ambivalenzen auslöse und von ihnen andere psychische Leistungen und Konfliktlösungen verlange, als sie von Jungen erwartet werden. Die durch gesamtgesellschaftliche Strukturen gesetzte („objektive“) Lage der Individuen findet damit ihre Entsprechung in deren Lebenserfahrungen, psychischen Verfasstheit und subjektiv entfalteten Potentialen: „Wir können von daher vermuten, dass das Handlungspotential, welches Bewegung in die veralteten Strukturen des Geschlechterverhältnisses (…) bringt, eher auf Seiten der Frauen als auf Seiten der Männer zu suchen ist“ (Becker-Schmidt 2010, S. 69).

5.3.4

Geschlechterverhältnis – Geschlechterverhältnisse

Das Theorem der „doppelten Vergesellschaftung des weiblichen Geschlechts“ hat eine Fülle von Untersuchungen in den verschiedensten Bereichen hervorgebracht, in der Arbeits- und Industriesoziologie, der Lebenslauf- und Biographieforschung, der Sozialstrukturanalyse ebenso wie in der (neueren) Familiensoziologie. Dabei geht es nicht mehr allein um die Lage und Perspektive von Frauen, vielmehr wird die Untersuchung des „weiblichen Lebenszusammenhangs“ systematisch in Beziehung gesetzt zu dem aller Benachteiligung zugrunde liegenden Geschlechterverhältnis: „Konturen gewinnt die soziale Situation des weiblichen Geschlechts erst, wenn die Art und Weise untersucht wird, in der die gesellschaftlichen Beziehungen zwischen ihm und dem männlichen Gegenpart in ihrem jeweiligen historisch-kulturellen Kontext geregelt sind“ (Becker-Schmidt 1993, S. 37). Und auch Ute Gerhard fasste die Entwicklung in der feministischen Forschung dahingehend zusammen, dass inzwischen ein „beinahe weltweites“ Einverständnis darüber bestehe, „daß nicht die ‚besondere‘ Situation der Frau, sondern das Verhältnis zwischen den Geschlechtern der Fokus ihrer Analyse ist“ (Gerhard 1994, S. 12). Gemeinsam ist den hier vorgestellten Ansätzen, dass Frauen und Männer als soziale Gruppen (bei Becker-Schmidt: „Genusgruppen“) gefasst werden, die gesellschaftlich zueinander in ein Verhältnis gesetzt werden, z. B. in ein Verhältnis der „Trennung und Hierarchisierung“ oder eines der „Egalität und Komplementarität“ (Becker-Schmidt/Knapp 1995, S. 18). Wenn in dieser Weise von zwei Genusgruppen ausgegangen wird, macht es Sinn, von „dem Geschlechterverhältnis“ zu sprechen, wobei der Singular anzeigt, dass es darum geht, die historisch und kulturell variierende Art der Relationierung dieser beiden Gruppen zu analysieren. Daran dass sie in ein Verhältnis gesetzt werden, ist in dieser Sichtweise nichts zu ändern und insofern liegt „Geschlecht“ sozialen Strukturen zugrunde bzw. ist ihnen vorgelagert. Das Geschlechterverhältnis ist nicht zu verwechseln mit Geschlechterbeziehungen: Diese können persönlich oder sachlich sein, man kann sich mögen oder auch nicht, kann sich suchen oder meiden. Geschlechterbeziehungen kann es nur im Plural geben, denn sie sind situativ vielfältig. Ihnen liegt das historisch jeweils durchgesetzte Geschlechterverhältnis zu-

5.4 Auch Männer bekommen ein Geschlecht

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grunde und gibt damit vor, was in den konkreten Beziehungen jeweils möglich oder unmöglich ist. Über die grundlegende Art der Relationierung – das Geschlechterverhältnis – entscheiden gesamtgesellschaftlich wirksam werdende Organisationsprinzipien, insbesondere die Organisation von Arbeit (Trennung von marktvermittelter Erwerbsarbeit und nichtmarktvermittelter reproduktiver Arbeit) und Generativität (Lebens- und Familienformen). Durch diese Organisationsprinzipien wird das Verhältnis der Geschlechter zu einem gesellschaftlichen Gliederungsprinzip, in das Macht, Herrschaft und Recht eingewoben sind. Inzwischen ist dieses vergleichsweise enge Verständnis von „dem Geschlechterverhältnis“ aufgeweicht und es wird zunehmend von „Geschlechterverhältnissen“ (im Plural) gesprochen, da verschiedene als „Strukturkategorien“ verstandene Einflussgrößen (Geschlecht, Klasse, Ethnie) in gesellschafts- und kulturspezifischer Weise zusammenwirken und somit vielfältige und sehr verschiedene Konfigurationen erzeugen. Zugrunde gelegt bleibt aber das Verständnis von Frauen und Männern als „Genusgruppen“, die in sich zwar nicht homogen sind, aber durch die gesamtgesellschaftlich wirksam werdenden „Organisationsprinzipien“ in das Herrschafts- und Machtgefüge einer Gesellschaft in unterschiedlicher Weise integriert sind. Die Zugehörigkeit zu einer Genusgruppe (Geschlecht) stellt sich in dieser Perspektive nach wie vor in einem grundsätzlichen Sinn als ein „sozialer Platzanweiser“ dar, als eine primäre Achse sozialer Ungleichheit, über die soziale Chancen zugewiesen werden.

5.4

Auch Männer bekommen ein Geschlecht

Grundlage für die Entstehung der Frauenforschung war der Vorwurf, alle bisherige Wissenschaft sei androzentrisch gewesen. Insofern könnte man folgern, dass die bisherige Wissenschaft von Beginn an „Männerforschung“ war: sie wurde von Männern gemacht und sie hatte implizit Männer zum Gegenstand, außer wenn es um Geschlecht (sprich: Frauen) ging (vgl. Morgan 1992). Als Frage drängte sich geradezu auf: „Wie männlich ist die Wissenschaft?“ (Hausen/Nowotny 1986). Das inzwischen ja bereits mehrfach angesprochene Problem dabei war, dass die bisherige Forschung zwar von Männern betrieben wurde, aber diese Forschungen sich nicht auf Männer als Männer richteten, sondern diese zu Repräsentanten des „Allgemeinmenschlichen“ machten (vgl. Kap. 2.1.5 ff. und 3.1.4 f.). Und insofern waren Männer als Männer kein Thema, denn das, was sie zu ,Männern‘ machte, blieb unsichtbar: ihre ,Männlichkeit‘. Diese ans Licht zu befördern, kann auch als ein Verdienst von Frauenbewegung und Frauenforschung gesehen werden, denn in ihrem Gefolge entwickelte sich in den 1970er Jahren vor allem in den angloamerikanischen Ländern eine sog. „Männerforschung“ („Men-Studies“), die dann einige Jahre später auch in Deutschland rezipiert wurde und entsprechende Forschungsarbeiten anregte (vgl. Hearn 1987; Morgan 1992; Connell 1999 [1995]; im Überblick: Meuser 2006, S. 78 ff.). Vorläufer waren die „sex-role-studies“ in den 60er Jahren (vgl. Kap. 4), die sich zwar überwiegend mit Frauen, aber doch auch mit Rollenstress und Rollenkonflikten von Männern befassten (im Überblick: Connell 1999, S. 39 ff.). Diesen Studien war in aller Regel die „Familienernährerrolle“ zugrunde gelegt, sie galt als „Herzstück der Männlichkeit“ (Connell 1999, S. 48). Dabei blieb die historische Genese dieses „Herzstücks“ unberücksichtigt, obwohl es eine vergleichsweise junge Erscheinung ist, die sich erst mit dem 19. Jahrhundert durchsetzte (vgl. Kap. 2.1.3). Außerdem war unterstellt, dass sich dann, wenn sich die „Frauenrolle“ verändere, quasi automatisch auch die „Männerrolle“ verändern müsse. Empirisch

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5 Zurück zum Anfang?

ist das kaum überprüft worden, aber in den wenigen Studien, die dazu vorliegen, erwies sich diese Unterstellung als zu schlicht gedacht (Pross 1978; Metz-Göckel/Müller 1986; Meuser 2006, S. 60). Als Grundproblem erwies sich dabei das Rollenkonzept selbst, das in der Psychologie nicht zwischen Erwartungen, Einstellungen und realem Verhalten unterschied und im Strukturfunktionalismus allein die Familie fokussierte. Die hier als „strukturnotwendig“ erachtete Trennung von „integrativ-expressiven“ und „adaptiv-instrumentellen“ Funktionen schrieb den Status Quo der Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern fest und blendete Macht, Herrschaft, Dominanz und Subordination aus (vgl. Kap. 4.3.1). In Frauenbewegung und Frauenforschung wurde der Begriff der ,Frauen-‘ und ,Männerrolle‘ anfänglich sehr oft verwendet, dann aber in dem eher vagen Sinn (vgl. Kap. 4.1), die Unterdrückung der Frauen in der ‚weiblichen Geschlechtsrolle‘ anzuzeigen. Als ein theoretisches Konzept wurde die ,Geschlechtsrolle‘ zunehmend abgelehnt, eben weil die Macht- und Herrschaftsdimension in ihm nicht repräsentiert war (z. B. Lopata/Thorne 1978). Stattdessen wurde zunächst der Patriarchatsbegriff favorisiert: Mit diesem Begriff schien die Allgegenwärtigkeit der Unterdrückung von Frauen gefasst werden zu können und die Untersuchungen konzentrierten sich darauf, die Folgen männlicher (patriarchalischer) Macht für weibliche Personen oder auch weibliche Kulturen auszuleuchten. Zugleich geriet damit aber auch in den Blick, dass auch (manche) Männer von „dem Patriarchat“ unterdrückt wurden. Bezogen auf die bundesdeutsche Debatte findet sich eine erste systematische Thematisierung von Männern als Männer in dem Band von C. Hagemann-White und M. Rerrich: „FrauenMännerBilder“ (1988). Diesem Buch ging ein intensiver Konflikt voraus, in welcher Weise Frauen Männer zum Forschungsgegenstand machen sollten bzw. welches Männerbild zugrunde gelegt werden sollte. Waren Männer (nur) potentielle Gewalttäter, Misshandler und Unterdrücker von Frauen oder waren sie potentielle Partner, die auch unter der „zerstörerischen Macht des Patriarchats“ leiden und Anteil an der „unteilbaren Menschlichkeit aller Menschen“ hätten (Gravenhorst zit. nach Mathes 2001, S. 24)? Damit stellte sich in einem grundsätzlichen Sinn als Frage, wann es sinnvoll und wie es möglich sei, „zwischen patriarchalen Strukturen, sexistischen Verhaltensweisen und konkreten Männern zu unterscheiden“ (Rerrich/Hagemann-White 1988, S. 2). Die Beiträge konzentrierten sich auf den Bereich privater Lebensformen und Beziehungen; der Bereich der Berufsarbeit und der Öffentlichkeit blieb (noch) unbearbeitet. Überwiegend blieben die Beiträge Polaritätsvorstellungen verhaftet und kamen zu unterschiedlichen Einschätzungen der Veränderungsfähigkeit und -willigkeit heterosexueller Männer. Allein der Beitrag von Hagemann-White stellt die Polarität grundlegend in Frage und fragt danach, inwieweit die Geschlechterverschiedenheit nicht selbst eine „soziale Konstruktion“ sei. Diese Frage läuft aber noch ins Leere. Parallel zu Frauenbewegung und Frauenforschung („women-studies“) entwickelte sich in diesen Jahren zunächst eine „Männerverständigungsliteratur“, in der Männer in einem primär psychologisierenden Bezugsrahmen als „Mängelwesen“ beschrieben wurden (Meuser 2006, S. 147 ff.): Sie seien z. B. gefühlsgehemmt, hätten Angst vor Frauen, seien aber auch zugleich süchtig nach ihnen. Ihre Phalluszentrierung führe zu einer Einschränkung sexuellen Erlebens, ihr Kontroll- und Machtstreben machten sie krank. „Kritische Männerforschung“ wollte daher ein anderes „Mann-sein“ ergründen, wobei zunächst – ähnlich wie in der Frauenforschung – ein enger Zusammenhang von Forschung und politisch emanzipativer sozialer Praxis postuliert wurde. In der Mehrzahl bezogen sich die verschiedenen Projekte zunächst positiv auf die feministische Forschung (Morgan 1992, S. 2) und oft haben sie deren Kritik

5.4 Auch Männer bekommen ein Geschlecht

167

am Patriarchat unterstützt. Trotzdem gab es auf feministischer Seite Vorbehalte dahingehend, dass ,Männerstudien‘ nichts anderes seien, als erneut männliche Dominanz in dem neuen Feld zu erringen und zu demonstrieren (Meuser 2006, S. 92). Der einfache Kampfbegriff „Patriarchat“ geriet sowohl in der Frauenforschung als auch in den „men-studies“ relativ bald in Misskredit, da dieser die historische Spezifik von Herrschaftsgefügen nicht erfassen konnte. In der Frauenforschung wuchs die Einsicht, dass – bezogen auf bürgerlich-moderne Gesellschaften – der Patriarchalismus lediglich eine und nicht die bestimmende Machtquelle in der Vergesellschaftung der Geschlechter (vgl. Kap. 5.3) darstellt. Der Blick auf das Geschlechterverhältnis bedeutete, dass die Besonderung des weiblichen nur im Vergleich mit dem männlichen Geschlecht sichtbar gemacht werden konnte und eine sich feministisch verstehende Theorie notwendig Annahmen über die männliche „Genus-Gruppe“ beinhaltete. Für die sich entwickelnden „men-studies“ wurden Machtverhältnisse in zwei Dimensionen relevant: Es galt, nicht nur die Unterdrückung von Frauen, sondern auch Dominanzverhältnisse unter Männern zu untersuchen. Ähnlich wie im Theorem der „doppelten Vergesellschaftung“ wurde versucht, Kapitalismus und Patriarchat in der Analyse zu verbinden, ohne das eine auf das andere zu reduzieren. Sehr bekannt geworden ist in diesem Zusammenhang die aus Großbritannien stammende Untersuchung von Jeff Hearn über Männer als „The Gender of Oppression“ (1987), der zufolge Männer in kapitalistischen Gesellschaften ihre Macht daraus beziehen, dass sie sich die reproduktiven Fähigkeiten von Frauen aneignen und ihre Arbeitskraft ausbeuten. Unterdrückt würden aber auch Mitglieder des eigenen Geschlechts, sei es in Kriegen, im Wettbewerb oder in Konkurrenzsituationen um Einfluss und Ressourcen. Diese Unterdrückung wird als Folge einer unpersönlichen und vielschichtigen Struktur von sozialen Beziehungen (Institutionen) zwischen Männern gesehen, durch die nicht nur Kontrolle über Frauen, sondern auch über Männer gewährleistet werde: „Wir Männer werden geformt und gebrochen durch unsere eigene Macht“ (Hearn 1987, S. 98, Übers. d. V.). Beispiele für solche „unpersönlichen Strukturen“ (Institutionen) sieht Hearn in der kulturellen Norm der Zwangsheterosexualität, in der rechtlichen Struktur der Vaterschaft, in den klassischen Professionen wie Medizin, Recht und Theologie sowie im Staat selbst. Für den einzelnen Mann ist die Zugehörigkeit zu der patriarchalen Struktur keine Frage der Wahl, er ist – ob er will oder nicht – ein „Agent der Unterdrückung“ (Hearn 1987 zit. nach Meuser 2006, S. 97). Von der Frauenforschung lange unbeachtet blieb das Konzept der „hegemonialen Männlichkeit“ von R. W. Connell, das inzwischen allerdings eine der zentralen Grundlagen der soziologischen Männlichkeitsforschung darstellt. Connell (1999) bezieht sich in vielen Punkten auf die Theorie P. Bourdieus (vgl. Kap. 8.2). Er geht von einer „doppelten Relation“ aus, in der sich „Männlichkeit“ herstellt: einmal im Verhältnis zu Frauen, zum anderen aber – gleichgewichtig – im Verhältnis zu anderen Männern. Damit ist bereits angedeutet, dass es „die“ Männlichkeit nicht gibt, sondern dass sich in der doppelten Relation stets verschiedene Formen ausbilden, eben „Männlichkeiten“. Wie Geschlechterverhältnisse sind auch Männlichkeiten in einem historischen Prozess entstanden. Bezogen auf heutige Männlichkeitsformen lässt Connell ihre Entstehung im 15. Jahrhundert beginnen mit Protestantismus, ersten kapitalistischen Wirtschaftsformen, Kolonialismus und nicht zuletzt einem kulturellen Bedeutungszuwachs des „ehelichen Haushalts“, durch den die „kulturelle Autorität der Zwangsheterosexualität“ (ebd., S. 206) massiv verstärkt wurde. Mit diesen Stichworten sind auch die Strukturen bezeichnet, die der entstehenden Geschlechterordnung zugrunde liegen: Macht, Produktion (Arbeitsteilung), libidinöses Begehren und symbolisch-kulturelle Reprä-

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5 Zurück zum Anfang?

sentationen. Mit diesen verschiedenen und vielschichtigen Strukturen sind unterschiedliche (Handlungs)Logiken verbunden, die sich gegenseitig beeinflussen und überlagern (können). In der sich unter diesen strukturellen Bedingungen errichtenden Geschlechterordnung stünden Frauen im Allgemeinen unter der Vorherrschaft von Männern, d. h. sie ist „patriarchalisch“. Das Patriarchat sei zwar eine „wuchtige Struktur“ (ebd., S. 84), aber es sei historisch entstanden und daher nicht universell. Und bei aller „Wuchtigkeit“ sind, so Connell, in dieser Struktur immer wieder Legitimationskrisen entstanden, die ihre Selbstverständlichkeit in Frage stellten. Legitimationsprobleme wurden jedoch praktisch ausschließlich in Bezug auf die soziale Stellung von Frauen diskutiert. Das habe dazu geführt, dass das Verhältnis von Männern untereinander übersehen wurde. Hier bilde sich stets ein Typus „hegemonialer Männlichkeit“ heraus, der in einer gegebenen Struktur des Geschlechterverhältnisses die bestimmende Position einnimmt, darin aber auch herausgefordert werden kann (ebd., S. 97): „Zu jeder Zeit wird eine Form von Männlichkeit im Gegensatz zu den anderen kulturell herausgehoben. Hegemoniale Männlichkeit kann man als jene Konfiguration geschlechtsbezogener Praxis definieren, welche die momentan akzeptierte Antwort auf das Legitimationsproblem des Patriarchats verkörpert und die Dominanz der Männer sowie die Unterordnung der Frauen gewährleistet (oder gewährleisten soll)“ (ebd., S. 98). „Hegemoniale Männlichkeit“ stellt eine Art kulturelles Leitbild dar, an dem sich Frauen und Männer orientieren. Connell weist immer wieder darauf hin, dass dieses Leitbild nicht starr, sondern an bestimmte Bedingungen geknüpft ist, etwa der, das sich zwischen kulturellem Leitbild und institutioneller Macht eine Entsprechung herstellt: „Die Führungsebenen von Wirtschaft, Militär und Politik stellen eine recht überzeugende korporative Inszenierung von Männlichkeit zur Schau, die von feministischen Angriffen und sich verweigernden Männern immer noch ziemlich unberührt scheint. Diese Hegemonie zeichnet sich weniger durch direkte Gewalt aus, sondern durch ihren erfolgreichen Anspruch auf Autorität“ (ebd., S. 98). Diese Verknüpfung von Autorität und Männlichkeit liege generell dem für westliche Gesellschaften geltenden Muster zugrunde und zwar gerade auch in der Verknüpfung von Männlichkeit und Erwerbsarbeit und dem daraus hergeleiteten Modell des Familienernährers. Wie dieses Muster Verhältnisse unter Männern strukturiert, arbeitet Connell anhand einer breit angelegten Studie zu männlichen Biographien und Selbstwahrnehmungen heraus. Faktisch könnten nur wenige Männer das Muster hegemonialer Männlichkeit in vollem Umfang realisieren. Die Mehrzahl könne ihm nicht entsprechen, verteidige es aber insbesondere gegenüber Frauen. Connell nennt dies „Komplizenschaft“ oder „komplizenhafte Männlichkeit“, weil diese Männer an der „patriarchalen Dividende“ teilhaben wollen, i. e. „dem allgemeinen Vorteil, der den Männern aus der Unterdrückung der Frauen erwächst“ (Connell 1999, S. 100). Explizit untergeordnet und unterdrückt sind dagegen homosexuelle Männer. Durch eine Vielzahl diskriminierender Praktiken geraten sie an „das unterste Ende der männlichen Geschlechterhierarchie“ (ebd., S. 99). Vor allem ihre symbolische Nähe zum Weiblichen bedrohe das Männlichkeitsideal. Von „marginalisierten Männlichkeiten“ spricht Connell auch dort, wo Geschlecht mit anderen sozialen Strukturen wie etwa Klasse und Ethnie interagiert. So könne ein schwarzer Spitzensportler in seinem Auftreten und seiner Lebensweise noch so sehr dem Vorbild „hegemonialer Männlichkeit“ entsprechen, sein Ruhm strahle dennoch nicht auf andere Schwar-

5.4 Auch Männer bekommen ein Geschlecht

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ze aus. Als marginalisiert gelten auch Männer, die dem hegemonialen Modell nicht entsprechen wollen, z. B. Hausmänner oder Männer in subkulturellen Lebensformen. Mit der Marginalisierung von Männern ist zugleich immer auch eine Ermächtigung anderer Männer verbunden, denn nur dadurch können hegemoniale Formen hegemonial werden. Die verschiedenen Männlichkeitstypen bezeichnen keine Eigenschaften oder gar den „Charakter“ von individuellen Personen, sondern sie bezeichnen (institutionell verfestigte) Handlungsmuster, die innerhalb eines veränderlichen Beziehungsgefüges entstehen: Hegemonie und Dominanz versus Unterdrückung und Komplizenschaft sowie Marginalisierung versus Ermächtigung werden als begrifflicher Rahmen verstanden, innerhalb dessen spezifische Formen von Männlichkeit analysiert werden können (ebd., S. 102). Wenn Connell schreibt, dass „Männlichkeit“ oder „Weiblichkeit“ durch das jeweilige Geschlechterverhältnis strukturierte „Konfigurationen von Praxis“ sind (ebd., S. 64 und S. 94), so sucht er darin nach einem Weg, am Beispiel der Analyse von Männlichkeiten das Verhältnis von Struktur und Handlung neu zu justieren. Die in das Geschlechterverhältnis eingelassenen Strukturen sind nicht starr, sondern historischen Brüchen und internen Widersprüchen ausgesetzt. Sie lassen sich auch nicht linear in Handlungen übersetzen, da die ihnen zugrunde liegenden Logiken sich überlagern. „Praxis“ – das Handeln von Menschen – kann sich aus diesen Strukturen aber niemals vollständig lösen, da mit ihnen bestimmte Bedingungen gegeben sind, über die sich Menschen nicht hinwegsetzen können. Zwischen dem, was in den gegebenen Strukturen möglich und was ausgeschlossen ist, liegt ein Spielraum, der von menschlicher Praxis gestaltet werden muss: „Praxis konstituiert und rekonstruiert Strukturen“ (ebd., S. 84). Damit wendet sich Connell explizit gegen jede Form von Determinismus, aber auch gegen den in manchen Formen der Männerbewegung vorfindlichen Voluntarismus. Seine eigene Position ist nicht immer eindeutig: Wenn er von „dem Geschlechterverhältnis“ als der jeder Praxis zugrunde liegenden Struktur spricht, dann geht er ähnlich wie die gesellschaftstheoretisch feministischen Ansätze davon aus, dass Frauen und Männer als soziale Gruppen dem Sozialen vorgängig sind. Gleichzeitig aber betont er immer wieder, dass Weiblichkeit und Männlichkeit in sozialen Prozessen hergestellt – konstruiert – werden und permanent um kulturelle Definitionsmacht gerungen werde. Vertiefende Literatur: • • • • • • • •

Becker-Schmidt, Regina, Gudrun-Axeli Knapp (Hrsg.), Das Geschlechterverhältnis als Gegenstand der Sozialwissenschaften, Frankfurt am Main/New York 1995. Beer, Ursula, Geschlecht, Struktur, Geschichte. Soziale Konstituierung des Geschlechterverhältnisses, Frankfurt am Main (u. a.) 1990. Connell, Robert W., Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlichkeiten, Opladen 1999. Gerhard, Ute, Verhältnisse und Verhinderungen. Frauenarbeit, Familie und Rechte der Frauen im 19. Jahrhundert, 4. Aufl., Frankfurt am Main 1989. Kuhn, Annette (Hrsg.), Die Chronik der Frauen, Dortmund 1992. Lenz, Ilse (Hrsg.), Die neue Frauenbewegung in Deutschland. Abschied vom kleinen Unterschied. Eine Quellensammlung, Wiesbaden 2008. Löw, Martina, Bettina Mathes, Schlüsselwerke der Geschlechterforschung, Wiesbaden 2005. Meuser, Michael, Geschlecht und Männlichkeit. Soziologische Theorie und kulturelle Deutungsmuster, Wiesbaden 2006.

170 • •

5 Zurück zum Anfang? Nave-Herz, Rosemarie, Die Geschichte der Frauenbewegung in Deutschland. Opladen 1994. Schmidtke, Michael, Der Aufbruch der jungen Intelligenz. Die 68er Jahre in der Bundesrepublik und den USA, Frankfurt am Main/New York 2003.

Denkanstöße und weiterführende Fragen: Die Entstehung der Frauen-, Männer- und Geschlechterforschungen war eng verknüpft mit den Bestrebungen, Geschlechterungleichheit und alte Geschlechterbilder aufzubrechen. Auch heute wird (wieder) kontrovers über Lohnungleichheit, ungleiche Chancen auf Spitzenpositionen in Erwerbsorganisationen, ungleiche Verteilung von Familienarbeit und einengende Normen für Männer und Frauen diskutiert. Oft werfen sich die jeweiligen Positionen gegenseitig vor, ideologisch eingefärbt zu diskutieren und jede Position reklamiert für sich, dass nur ihre Argumente wirklich vernünftig und gerecht seien. In diesem Kapitel haben wir Ihnen Umgangsweisen mit einem solchen ‚Paradigmenstreit‘ skizziert. • Welche Lösungen werden derzeit in politischen Arenen diskutiert? • Welche Vor- und Nachteile sehen Sie in politischer oder wissenschaftlicher Hinsicht in diesen Lösungen? • Inwiefern zeichnen sich neue und altbekannte Paradoxien und Widersprüche in den bisherigen Versuchen ab?

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Zwischen Parallelisierung und Kooptation

Kapitelvorschau Mit den 1990er Jahren etablierte sich die Frauen- und Geschlechterforschung in den Universitäten und mit ihr die Berücksichtigung von Geschlecht in verschiedenen speziellen Soziologien. Wir ziehen ein erstes Fazit: Was folgt aus der Aufdeckung ‚blinder Flecken‘ in der Soziologie? Wie verhalten sich Theorien sozialer Ungleichheit zur Ungleichheit der Geschlechter? Soll Geschlecht ein „Grundbegriff“ in der Soziologie sein oder (nur) Gegenstand einer weiteren speziellen Soziologie? Was bedeutet es, Geschlecht zu einem Gegenstand zu machen, der mit soziologischen Mitteln zu erforschen ist? Die im ‚Gestus radikalen Neubeginns‘ geforderte grundlegende Umgestaltung wurde in der Soziologie nicht realisiert. Statt einer „feministischen Revolution“ hat sich vielmehr eine Art Arbeitsteilung zwischen einer sich interdisziplinär verstehenden feministischen Wissenschaft und einer disziplinär organisierten Soziologie herausgebildet, in der die Grenzen aber unscharf blieben. Entlang dieser Grenzen sind in den letzten beiden Jahrzehnten vielschichtige Wechselbeziehungen entstanden. Ob nun Soziologie und Geschlechterforschung als „happy together“ (Degele 2003) gesehen werden, eine „gute Nachbarschaft“ angestrebt wird (Aulenbacher 2008), oder aber beide in ihrer aktuellen Gestalt als tendenziell unvereinbar (Hirschauer/Knapp 2006) gelten – allein die Tatsache, dass das Verhältnis zwischen Soziologie und Geschlechterforschung vergleichsweise häufig thematisiert wird, deutet darauf hin, dass es dabei um grundsätzliche Fragen geht, die in einem Buch, das als „Geschlechtersoziologie“ betitelt ist, nicht übergangen werden können. Wie in den vorigen Kapiteln wollen wir jedoch zunächst einige der gesellschaftlichen Entwicklungen ansprechen, die auf der einen Seite mit dazu beigetragen haben, den Blick auf „Geschlecht“ zu verändern und in denen sich auf der anderen Seite diese Veränderung des Blicks auch dokumentiert.

6.1

Historische Kontexte: Gleichstellung und Globalisierung

Im Jahr 1990 trug der von der Deutschen Gesellschaft für Soziologie veranstaltete Soziologiekongress den Titel „Die Modernisierung moderner Gesellschaften“. Als die Überschrift zu dem Kongress festgelegt wurde, waren bereits gravierende Umbrüche in der Sowjetunion sowie anderen sozialistischen Ländern des sog. „Ostblocks“ sichtbar. Die Vereinigung der beiden deutschen Staaten war jedoch nicht vorhergesehen worden. Die 1990er Jahre in Deutschland haben viel mit eben dieser „Wende“ zu tun. Auch die hinsichtlich einer breiten Mobilisierung bereits abflauende Frauenbewegung blieb davon nicht unberührt. Die Diskussion um Wege und Ziele einer „Frauenpolitik“ nahmen zu Beginn der 90er Jahre noch einmal Fahrt auf, denn mit der Wiedervereinigung standen sich zwei deutsche Familien- und

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6 Zwischen Parallelisierung und Kooptation

Arbeitsmarktpolitiken gegenüber: Für ostdeutsche Frauen war die gleichberechtigte Teilhabe am Arbeitsmarkt in der Verfassung der DDR verankert, ein flächendeckendes Kinderbetreuungssystem institutionalisiert, so dass die Möglichkeit einer ökonomischen Selbstständigkeit von Frauen nicht erst erkämpft werden musste. Eine „Hausfrauenehe“ war in der DDR nicht vorgesehen, auch wenn die familiale Arbeit im Haushalt nach wie vor überwiegend von Frauen erbracht wurde. In Westdeutschland dagegen war eine Berufstätigkeit von Müttern immer noch keineswegs selbstverständlich; weder Eltern noch Arbeitgeber waren darauf eingestellt und eine flächendeckende öffentliche Kinderbetreuung war im Westen nicht in Sicht. Zwar konnte ein stetiger Anstieg der Frauenerwerbstätigkeit verzeichnet werden, jedoch war das zugrundeliegende Modell i. d. R. das der „modernisierten Versorgungsehe“, i. e. der Ehemann ist vollzeitbeschäftigter Hauptverdiener, die Ehefrau ist in Teilzeit beschäftigt und „verdient dazu“ (vgl. Rosenzweig 2000). Der Einigungsvertrag der beiden deutschen Staaten (1990) enthielt den expliziten Auftrag, die Gesetzgebung zur Gleichberechtigung weiter zu entwickeln. 1994 wurde ein Zusatz zum Artikel 3 des Grundgesetzes verabschiedet: „Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Männern und Frauen und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin“ (Art. 3, Abs. 2 GG). Aus einer einfachen Prämisse („Männer und Frauen sind gleichberechtigt“) wurde damit ein den Staat verpflichtender Handlungsauftrag. Über eine Frauenquote für politische Ämter wurde schon vorher breit diskutiert. Die „Grünen“ beschlossen schon zu ihrer Parteigründung (1979) eine Quote von 50 Prozent für alle parteipolitischen Ämter, die Sozialdemokraten verabschiedeten 1988 eine Frauenquote von 40 Prozent und die Christdemokraten empfahlen 1996 ein Frauenquorum. Mit Beginn der 1990er Jahre waren auch die letzten Bastionen kolonialer Herrschaft gefallen. Reflektiert wurde diese Entwicklung in und mit dem „Postkolonialismus“ („postcolonial studies“), in dem versucht wurde (und wird), die Folgen der Kolonisierung nicht nur für die kolonisierten Länder, sondern auch bei den Kolonisierenden aufzudecken. Damit entstanden auch in der feministischen Diskussion neue Schwerpunkte, etwa die Frage, inwieweit die eigene Form der Thematisierung hegemoniale Ansprüche westlicher Frauen gegenüber den kolonialisierten reproduziere (vgl. Luig 1997). Bereits zum Ende der 1980er Jahre entstand das Schlagwort der „Globalisierung“. Der Begriff stammt aus den Wirtschaftswissenschaften und meinte dort zunächst lediglich die (zunehmende) internationale Verflechtung der Märkte. In den 90er Jahren wurde der Begriff dann kritisch gewendet und sowohl auf soziale Folgen der ökonomischen Globalisierung (Ausbeutung, Menschenhandel, Kinderarbeit) bezogen als auch auf globale Effekte einer durch Wirtschaftsinteressen verursachten Umweltzerstörung. Beklagt wurde auch die zunehmende Herrschaft global agierender Konzerne („global players“) und ein daraus folgender Machtverlust der Politik (vgl. Müller 2002). Tschernobyl und andere Umweltkatastrophen hatten generell das Bewusstsein für die Bedeutung der Ökologie geschärft. In Deutschland wurden nach einem ersten „Wiedervereinigungsboom“ weltwirtschaftliche Krisensymptome deutlich sichtbar. Vor allem in Ostdeutschland wurden ganze Industriezweige stillgelegt („abgewickelt“). Die Arbeitslosigkeit stieg auf eine bis dahin unbekannte Höhe (über 4 Mio.); auch davon waren die neuen Bundesländer stärker betroffen als der Westen. Die Auslagerung von Produktionen in sog. „Billiglohnländer“ verstärkte den Trend. Die andauernde Massenarbeitslosigkeit machte diskontinuierliche Erwerbsbiographien auch für Männer immer wahrscheinlicher. Neue Arbeitsplätze entstanden vor allem im Dienstleistungsbereich, einem bis dahin eher von Frauen frequentierten Bereich. Frauen waren im

6.1 Historische Kontexte: Gleichstellung und Globalisierung

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Osten von der Arbeitslosigkeit besonders stark betroffen, im Westen stieg dagegen die Zahl der erwerbstätigen Frauen an. Dieser Unterschied resultierte nicht zuletzt aus einem unterschiedlichen Selbstverständnis. Da Frauen im Osten für sich den Anspruch auf (Vollzeit)Erwerbstätigkeit selbstverständlich reklamierten, meldeten sie sich entsprechend auch dann als arbeitslos bzw. -suchend, als der Anspruch durch den schrumpfenden Arbeitsmarkt immer weniger eingelöst werden konnte (vgl. Rosenzweig 2000). In der (medialen) Öffentlichkeit erfuhren Frauen im Beruf verstärkte Aufmerksamkeit; es stand nicht mehr allein Familie im Mittelpunkt, sondern das Problem der ,Vereinbarkeit von Beruf und Familie‘ – für Frauen! Sinkende Geburtenraten – die durchschnittliche Kinderzahl lag 1990 noch bei 1,45 Kindern pro Frau, 2000 bei 1,37 und 2010 bei 1,29 (Statistisches Bundesamt 2011) – wurden zum einen mit der steigenden Erwerbstätigkeit von Frauen in Zusammenhang gebracht und zum anderen mit stetig wachsenden Scheidungszahlen, einer rapiden Zunahme von Einpersonenhaushalten („Singles“) sowie Alleinerziehenden. Diese Entwicklungen relativierten den Status der klassischen Kleinfamilie als ‚Normalform‘, lösten ihn aber nicht auf. Neue Formen von Primärbeziehungen und deren Verlauf wurden vielfach öffentlich diskutiert. Diese und ähnliche Entwicklungen vollzogen sich nicht allein in Deutschland und Europa. Generell setzte in weiten Teilen der Welt eine Bewegung ein, in der die soziale Ungleichheit der Geschlechter bzw. die Schlechterstellung der Frauen nicht mehr allein als ein „privates“, sondern als ein gesellschaftliches Problem definiert wurde (vgl. Heintz et al. 2001). Es entstanden übernationale Gleichstellungsstandards, für deren Durchsetzung zunehmend die Staaten verantwortlich gemacht wurden. So wurde etwa in der Öffentlichkeit und auch in der Entwicklungspolitik die Bedeutung von Frauen für Wirtschaft und Gesellschaft der sog. „Entwicklungsländer“ stärker thematisiert und darauf hingewiesen, dass von der Stärkung ihrer Rechte die gesamte Bevölkerung profitieren würde. In den 1990er Jahren wurde begonnen, in der Berichterstattung über das Kriegsgeschehen in Jugoslawien oder Ruanda Vergewaltigung zunehmend als Kriegsverbrechen anzusprechen. 2001 urteilte schließlich der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag, dass Vergewaltigung im Zusammenhang mit kriegerischen Aktionen als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ und Verstoß gegen die Genfer Konvention gilt. 2008 verabschiedete der UNSicherheitsrat eine Resolution, nach der sexuelle Gewalt in bewaffneten Konflikten zu einem eigenen Straftatbestand wird. Frauen waren und sind aber keineswegs nur Opfer (und schon gar nicht die einzigen). In der internationalen Militärkoalition von 1991 („Golfkrieg“) waren noch vergleichsweise wenige Soldatinnen im Einsatz. Nur einige Jahre später (1994) wurden in den USA die meisten der zu dieser Zeit noch bestehenden Beschränkungen für Frauen im Militär aufgehoben. Ähnliches vollzog sich einige Jahre später auch in anderen Ländern. Im Golfkrieg von 2003 waren bereits über 160 000 amerikanische Soldatinnen im Irak. Bereits seit den 80er Jahren wurden Terroranschläge islamistischer Gruppen auf Einrichtungen westlicher Staaten ausgeübt, die aber in der damaligen Öffentlichkeit noch keine breite Aufmerksamkeit fanden. Als Mitte der 1990er Jahre in Afghanistan die Taliban – eine radikal-islamische Gruppierung – die Macht erlangten, wurde die dort praktizierte Unterdrückung der Frauen sehr bald weltweit bekannt und angeprangert (anders als noch bei der Einführung der Scharia im Iran 1979). Nach dem Angriff auf das World-Trade-Center und das Pentagon am 11. September 2001 wurde unter Führung der USA in Afghanistan der „Krieg gegen den Terror“ begonnen. In den öffentlichen (medialen) Debatten über diesen Krieg wurde immer wieder auch die Unterdrückung der Frauen als ein Interventionsgrund genannt.

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6 Zwischen Parallelisierung und Kooptation

In westlichen Ländern ist mittlerweile vielfach eine diffuse Islamfeindlichkeit entstanden, in der ein Verweis auf die mangelnde Gleichberechtigung der Frauen selten fehlt. Entsprechend wird im Tragen eines Kopftuchs vielfach sehr schlicht ein Ausdruck der Unterdrückung von Frauen im Islam gesehen (Amir-Moazami 2007). Schließlich hatten und haben auch naturwissenschaftliche Entwicklungen Auswirkungen auf unsere Sichtweisen von Geschlecht. 1996 gelang es das erste Mal, ein Säugetier („Dolly“) per Klonierungsverfahren zu erzeugen. Technisch scheint es nun möglich zu sein, in der Erzeugung von Nachkommen auf leibhaftige Frauen und Männer zu verzichten. Wichtiger erscheint aber derzeit, dass in der Reproduktionsmedizin die In-Vitro-Fertilisation zu einem gängigen, routinemäßig eingesetzten Verfahren weiterentwickelt wurde. In der Folge entstanden „Wunschkindkliniken“ und mit ihnen Diskussionen über „Designer-Babies“. Mit der In-Vitro-Fertilisation besteht vermehrt die Möglichkeit, dass genetische und soziale Elternschaft auseinander fallen. Entwicklungen wie Eizellenspende, Samenspende, Leihmutterschaft und anderes verlang(t)en nach gesetzlichen Regelungen, die international sehr unterschiedlich ausfallen. Diese Entwicklungen sind im Fluss und mit ihnen die Frage nach den Grenzen dessen, was zwar machbar, aber nicht unbedingt erwünscht ist. In Deutschland und in vielen Ländern Europas wurden bereits zum Ausgang der 1980er Jahre landesweit in Kommunen, Landes- und Bundesbehörden einschließlich der Universitäten „Frauenbeauftragte“ eingesetzt, sowie Zielvereinbarungen für einen anzustrebenden Frauenanteil auf den unterschiedlichen Hierarchieebenen erstellt. Im Verlauf der 90er Jahre wurden diese in „Gleichstellungsbeauftragte“ umbenannt, z. T. stehen bis heute aber auch beide Bezeichnungen parallel nebeneinander. Neben einer allgemeinen Antidiskriminierungsarbeit und der diesbezüglichen Begleitung von Stellenbesetzungen konzentrierte sich deren Arbeit vor allem auf die Problematisierung der ,Vereinbarkeit von Familie und Beruf‘. Seit Ende der 90er Jahre soll mit der (europaweiten) politischen Strategie des „gendermainstreaming“ in sämtlichen politischen Planungen, Maßnahmen und Verfahren die ,Geschlechterperspektive‘ berücksichtigt und in Gleichstellungsmaßnahmen umgesetzt werden. Insgesamt hat sich die gesellschaftliche Stellung der Frauen auch durch verschiedene Gesetzgebungsverfahren sowohl auf der Ebene der Europäischen Union (Klein 2006; Wobbe/Biermann 2009) als auch auf nationaler Ebene (z. B. zur zweigeschlechtlichen Ausschreibung von Stellen, Antidiskriminierung, Namensfreiheit bei der Eheschließung, Anerkennung von Gewalt in der Ehe als Straftatbestand u.a.m.) verbessert. Seit 2001 werden Frauen in der Bundeswehr nicht mehr auf Musikcorps und Sanitätsdienst begrenzt, sondern können grundsätzlich in allen Bereichen dienen. In der Politik wurden (und werden) auf Landesebene Frauen zu Ministerpräsidentinnen gewählt, waren (und sind) in Bund und Land als Ministerinnen tätig. 2005 wurde mit Angela Merkel die erste Frau Bundeskanzlerin. Sieht man sich diese Entwicklungen in den letzten 20 Jahren an, so scheint es, dass die Gleichstellung der Geschlechter inzwischen den Status einer ordnungspolitischen Zielsetzung erhalten hat. Aber auch im Jahre 2012 wird für Deutschland und für die Europäische Union konstatiert werden, dass viele Ziele nach wie vor nicht erreicht wurden. So sind erwerbstätige Frauen zwar hoch qualifiziert, ihre Aufstiegschancen aber sind nach wie vor eingeschränkt („gläserne Decke“). In der Ausbildung sind Frauen auf nur wenige Dienstleistungsberufe konzentriert, sie sind überdurchschnittlich oft von prekären Beschäftigungsverhältnissen betroffen, sie verdienen nach wie vor etwa 20 Prozent weniger als Männer, ihre Repräsentanz in Führungspositionen von Wirtschaft, Wissenschaft, Öffentlichkeit und Politik entspricht nicht den seit Jahren gesetzten Zielvorgaben und nicht zuletzt gelten Hausarbeit

6.2 Institutionalisierung der Frauen- und Geschlechterforschung

175

und Kinderbetreuung auch heute noch als „Frauensache“ (vgl. Kap. 9.3). Sexuelle Belästigung und sexuelle Gewalt sind zwar ein Stück weit aus der Tabuzone genommen, aber damit noch nicht verschwunden. Neben Frauenbewegungen drängen seit den 1990er Jahren auch andere Bewegungen (wieder) verstärkt in die Öffentlichkeit: In immer mehr Städten der westlichen Welt wurde ein „Christopher-Street-Day“ initiiert, eine Demonstration von homosexuellen, queer und transgender Personen für das Recht auf ein Leben ohne Diskriminierung. Die Gleichberechtigung gleichgeschlechtlicher Paarbeziehungen hat sich zwar verbessert („eingetragene Lebenspartnerschaft“), ist aber weder rechtlich noch alltagsweltlich voll durchgesetzt. Dass diese und viele andere Fragen überhaupt erforscht werden können und die Befunde auch in die Öffentlichkeit gelangen, das verdankt sich nicht zuletzt der ebenfalls in den 1990er Jahren einsetzenden Institutionalisierung der Frauen- und Geschlechterforschung an den Universitäten und Hochschulen. Die wiederum hat von der zunehmenden Thematisierung von Geschlechterfragen profitierte. In deren Blick stellt sich die „Modernisierung moderner Gesellschaften“ vor allem als eine Modernisierung der Geschlechterungleichheit dar, i. e. als eine „Reproduktion althergebrachter Ungleichheiten im neuen Gewand“ (Hornung 2003, S. 144). Diese Einschätzung ist in der Soziologie durchaus umstritten.

6.2

Institutionalisierung der Frauen- und Geschlechterforschung

In ihren Anfängen in den 1970er Jahren verstand die Frauenforschung sich als Frauenbewegung in der Wissenschaft und war zunächst mit der Frauenbewegung außerhalb der Hochschulen eng verbunden (vgl. Kap. 5.1.1). Diese Verbindung war gemeint, wenn sich Seminare und Projekte, als „feministisch“ bezeichneten.18 Bezogen auf die Hochschulen wurde eine Doppelstrategie verfolgt: Einerseits ging es darum, Frauen in der „Normalwissenschaft“ sichtbar zu machen und bei Einführungskursen, Vorlesungen und mehr oder weniger allen thematischen Seminaren der Bindestrich-Soziologien die „Frauenperspektive“ einzuklagen. Schließlich ging (und geht) es bei allen soziologischen Veranstaltungen in irgendeiner Weise um das Zusammenleben von Menschen und diese Menschen waren (und sind) unterteilt in Frauen und Männer. Insofern konnte die Geschlechterproblematik überall zum Thema gemacht werden. Auf der anderen Seite sollte die „Normalwissenschaft“ transformiert werden und es wurde nach grundsätzlich neuen Formen von Wissenschaftlichkeit gesucht. Entsprechend dem Trend der Zeit sollten mit der Forderung nach Interdisziplinarität die herkömmlichen disziplinären Grenzen überwunden und ein problemorientierter statt eines an disziplinären Theorien und Methodologien orientierten Zugangs zu gesellschaftlichen Phänomenen ermöglicht werden. Außerdem wurde die Forderung nach „autonomen Frauenseminaren“ und -projekten erhoben, durch die Frauen in einer männerdominierten Umwelt eine Stimme bekommen sollten und in denen – in Fortführung der antiautoritären Bewegung – Selbstbestimmung und neue Umgangsformen erprobt, sowie ein Freiraum für neue Themen und In18

In den angelsächsischen Ländern wird der Bezug auf ‚feminism‘ in den Wissenschaften insofern anders verwendet, als es hier keine Konfliktlinien zwischen Werturteilsfreiheit und feministischer Forschung bezeichnet. Vielmehr wird ein ‚feminist approach‘ auch häufig mit einer analytisch-kritischen – auch interaktions- oder diskurstheoretischen – Perspektive verbunden verstanden, und auch dann verwendet, wenn Studien auf die soziale Konstruktion von Geschlecht abzielen und nicht (nur) auf Herrschaftsverhälntisse.

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6 Zwischen Parallelisierung und Kooptation

halte geschaffen werden sollten. Aus letzteren entstand eine Vielzahl von „autonomen Frauenprojekten“ außerhalb der Hochschulen (vgl. Kap. 5.1.1) und auch eine sehr rege außeruniversitäre, von Vereinen getragene Frauenforschung, durch die Archive angelegt, Projektideen generiert, Forschungsprojekte und Begleituntersuchungen durchgeführt wurden (eine Übersicht findet sich in Nave-Herz 1997, S. 52). Diese Doppelbewegung von Integration in die tradierten Disziplinen und gleichzeitiger Distanzierung von ihnen im Anspruch auf einen wissenschafts-revolutionären eigenständigen Zugang begleitet die Institutionalisierung der Frauen- und Geschlechterforschung bis heute. Auch wenn sich inzwischen ein „vielstimmiger und kontroverser Diskurs“ herausgebildet hat, so wird von einigen das gemeinsame Band in einem politisch-emanzipativem Anliegen gesehen, nämlich „das wissenschaftlichpolitische Interesse an der Verfasstheit von Geschlechterbeziehungen und die Kritik an allen Formen von Macht und Herrschaft, die Frauen diskriminieren“ (Becker-Schmidt/Knapp 2000, S. 7). In Bezug auf die Integration der Frauen- und Geschlechterforschung in die Disziplinen hatte die Soziologie eine Vorreiterrolle inne: Die erste Professur hierzu wurde 1982 an der Fachhochschule Fulda besetzt. In der Mehrzahl hatten die ausgeschriebenen Professuren eine allgemeine Denomination und einen entsprechenden Zusatz, eine sog. „Teildenomination“ für Frauen- und Geschlechterforschung bzw. „gender studies“ (zu den Anfangsjahren vgl. Bock/Landweer 1994). Eingeleitet wurde diese Entwicklung nicht zuletzt durch die Frauenforschungssektion der DGS (Deutsche Gesellschaft für Soziologie) (vgl. Kap. 5.2). Vor allem zu deren Beginn nahm die Diskussion über Gleichstellungsfragen und -instrumente in der Sektion breiten Raum ein und es entwickelten sich sehr bald Quotierungsforderungen. Insbesondere mit der durch die Sektion angeregten „Soziologinnen Enquete“ (Wetterer 1990) wurde das quantitative Missverhältnis zwischen den Geschlechtern zu einem bestimmenden Thema: 1988 standen einem Frauenanteil von 50 Prozent bei den Studierenden lediglich 7 Prozent bei den Professuren gegenüber, über die Hälfte der Hochschulen hatte gar keine Professorin für Soziologie. Anfang der 90er wird die Forderung nach „Frauenförderung“ vor allem in der Lehre vom Vorstand der DGS übernommen (vgl. Mathes 2001, S. 12). Die Institutionalisierung der Frauen- und Geschlechterforschung in den kultur-, sozial- und geisteswissenschaftlichen Disziplinen wurde zunehmend von landes- und bundespolitischer Seite gefordert und gestützt, auf wissenschaftlicher Seite traf sie eher auf Zurückhaltung, sei „mehr toleriert als wirklich akzeptiert“ (Lucke 1999, S. 31) worden. Lucke antizipierte eine Entwicklung, in der die Soziologie sich aufspalte in eine „(scheinbar geschlechtsneutrale) Männer- und eine (das Geschlecht explizit thematisierende) Frauenforschung“ (ebd.). Diese Prognose war nicht ganz falsch. Zum einen wurde das Thema „Geschlecht“ Frauen zugewiesen. Zum anderen aber wurden an das alltagsweltliche Frauenverständnis angelehnte Erwartungen nun an die Wissenschaftlerinnen im Rahmen der Organisation „Universität“ gestellt. So sollten z. B. mit der Berufung von Professorinnen auch die Verkehrsformen und Betreuungsverhältnisse in der Universität „weiblicher“ (im Sinne von emphatischer, unterstützender und persönlicher) gestaltet werden. Insgesamt führte die (politische) Unterstützung zu extrem widersprüchlichen und heterogenen Erwartungen an die neu eingerichteten Frauenforschungs-Professuren: •

Ähnlich wie anderen sozialen Bewegungen zugeordnete Wissenschaften (z. B. der Ökologie) sollten Frauenforscherinnen sowohl für die Politik als auch für die verschiedenen Medien Ansprechpartnerinnen für alle nur möglichen Frauenfragen sein,

6.2 Institutionalisierung der Frauen- und Geschlechterforschung • • •

177

die Fraueninitiativen außerhalb der Universität unterstützen, auch fachfremde Qualifikationsarbeiten zu Frauenfragen zumindest mitbetreuen, an den damals verbreiteten Podiumsdiskussionen teilnehmen, um die Perspektive ,der Frauen‘ zu vertreten, • in den Gremien der Universitäten den chronischen Frauenmangel ausgleichen • und natürlich innerhalb des eigenen Fachs den regulären Erwartungen an einen Lehrstuhl genügen. Diese heterogenen Erwartungen kumulierten in einem vagen Druck, möglichst verwertbare und einer breiten Öffentlichkeit vermittelbare Produkte in der Hinsicht zu erzeugen, wie denn nun die Situation von Frauen in Deutschland verbessert werden könne. Sehr oft wurden diese Professuren auch in eine starke Nähe zu den Gleichstellungsbeauftragten gerückt, gepaart mit der mehr oder weniger selbstverständlichen Erwartung, diese Funktion in den Institutionen auch faktisch zu übernehmen. Zusammen mit der wissenschaftskritischen Haltung machte gerade die oft mangelnde Abgrenzung zur Politik die Frauen- und Geschlechterforschung innerhalb der akademischen Soziologie verdächtig und nicht zuletzt deshalb glaubte man auch, sich mit deren Ergebnissen nicht auseinandersetzen zu müssen. Doris Lucke schreibt z. B. in ihrer Bestandsaufnahme „Männer, Frauen und die Soziologie“ (1999): „Unkenntnis in empirischer Frauenforschung und feministischer Theorie ist für Soziologen auch noch heutzutage karriereunschädlich und die Nichtzurkenntnisnahme der faktisch unübersehbaren einschlägigen Literatur nicht mehr als eine lässliche Sünde ohne drohenden Reputationsverlust oder kollegiale Absolutionspflicht, eine Wissenslücke, die im akademischen ‚small talk‘ gerade noch zum Kokettieren taugt und schon für ein spektakuläres ‚outsider-outing‘ unter Insidern nichts mehr hergibt“ (Lucke 1999, S. 34). Man hört aus diesen (und vielen anderen) Zeilen den Zorn, den viele Frauenforscherinnen nicht nur der ersten Stunde teilen, obwohl sie rein äußerlich betrachtet außerordentlich erfolgreich waren. Die einschlägigen wissenschaftlichen Verlage haben eigene Programmschwerpunkte für Geschlechterforschung bzw. „gender studies“, nahezu jede größere Universität hat mindestens eine entsprechende Professur, seit Ende der 1990er Jahre problematisieren fast alle großen Wissenschaftsverbände (z. B. Wissenschaftsrat, Hochschulrektorenkonferenz) und Wissenschaftsministerien das Missverhältnis zwischen der zunehmenden Qualifikation von Frauen und ihrer marginalen Präsenz in der Wissenschaft und denken mehr oder weniger laut über Auslesemechanismen und Förderkriterien bis hin zur „Frauen-Quote“ nach. Auch auf inhaltlicher Ebene (Forschungsprojekte, Evaluationen, Begleituntersuchungen) wird die Frauen- und Geschlechterforschung von Institutionen wie der Deutschen Forschungsgemeinschaft, großen Stiftungen (VW) und den Landes- und Bundesministerien akzeptiert und gefördert. Es haben sich ganz unterschiedliche Institutionalisierungsformen herausgebildet, solche auf Zeit wie (interdisziplinäre) Forschungsgruppen und Forschungsschwerpunkte, Graduiertenkollegs, aber auch einige auf Dauer (Forschungszentren, Kompetenzzentren). Dabei sind die Forschungsthemen wie die jeweils zugrunde gelegten theoretischen Paradigmata äußerst heterogen und nicht mehr auf einen Nenner zu bringen (vgl. dazu Aulenbacher et al. 2006). Anfang 2011 gibt es 27 Gender-Professuren in der Soziologie, davon 23 unbefristet. Überwiegend wird die Frauen- und Geschlechterforschung mit anderen Themenfeldern der Soziologie kombiniert. Acht der Professuren haben eine Volldenomination, weitere fünf weisen die

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6 Zwischen Parallelisierung und Kooptation

Frauen- und Geschlechterforschung als Schwerpunkt der Professur aus. In der Mehrzahl wurden sie als Ergänzungen zu bestehenden Arbeitsgebieten eingerichtet. In der Lehre gibt es seit einigen Jahren ein wechselndes Angebot von (interdisziplinären) Lehrveranstaltungen. Sowohl in den Bachelor- als auch in Master- und anderen weiterführenden Studiengängen können in einigen Hochschulen Geschlechterstudien als Schwerpunkt gewählt werden (vgl. Metz-Göckel 2008). Sieht man sich diese Bilanz an, so ist die naheliegende Folgerung, dass die Frauen- und Geschlechterforschung in der Wissenschaft angekommen ist. Sie kann zudem auf einen immer größeren Pool an hochqualifizierten und an einer wissenschaftlichen Tätigkeit interessierten Frauen zählen, denen die Institutionalisierung der Frauen- und Geschlechterforschung ein neues Berufs- und Karrierefeld geöffnet hat. Zum Ende der 90er Jahre schien ein wichtiger Anspruch von Frauenbewegung und Frauenforschung erfüllt zu sein: Frauenthemen und -erfahrungen – insbesondere im Bereich gesellschaftlich reproduktiver Arbeit – waren in die Sphäre der politischen und wissenschaftlichen Öffentlichkeit aufgenommen worden. Gleichzeitig war und ist aber nicht zu übersehen, dass ein Missverhältnis zwischen der rhetorischen Präsenz von Frauenthemen und -forderungen und der nach wie vor bestehenden sozialen Ungleichheit zwischen den Geschlechtern entstanden ist. Angelika Wetterer hat dies als „rhetorische Modernisierung“ bezeichnet (Wetterer 2003), in der das Wissen um diese soziale Ungleichheit immer mehr verschwindet. Mit der Institutionalisierung von Professuren in den Disziplinen und entsprechenden Studiengängen hat sich die Frauen- und Geschlechterforschung in starkem Maße disziplinär ausdifferenziert. Sie ist in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften eine andere als in den Philologien geworden, in der Kunstgeschichte eine andere als in naturwissenschaftlich orientierten Ansätzen. Dennoch wird häufig noch der Anspruch aufrechterhalten, Frauen- und Geschlechterforschung bzw. „gender studies“ hätten inter- bzw. transdisziplinär zu sein (vgl. z. B. Becker/Kortendiek 2008). In den entsprechenden Debatten drückt sich nicht zuletzt ein Generationenproblem aus: Während die „Gründungsgeneration“ vergleichsweise stark an diesem Anspruch festhält, scheinen gerade jüngere Frauen sehr oft primär an ihrer Herkunftsdisziplin orientiert zu sein. Für sie haben wissenschaftskritische Gegenentwürfe einer sich feministisch verstehenden, interdisziplinären Frauen- und Geschlechterforschung i. d. R. nicht mehr den gleichen Stellenwert. Zudem geht es oft um eine Ressourcensicherung – darin unterscheiden sich Wissenschaftlerinnen nicht von Wissenschaftlern. Die zunehmende Orientierung an ‚ganz normalen‘ akademischen und disziplinären Standards erzeugte im Binnendiskurs der Frauen- und Geschlechterforschung daher neue Fragen und neue Probleme: Inwiefern gibt es einen ‚Kitt‘, der diese Forschung quer zu den Disziplinen noch zusammenzuhalten vermag und davor schützt, in den Disziplinen zu verschwinden? Von der wissenschaftlichen Umwelt wurde (und wird) immer wieder die mangelnde Abgrenzung zur politischen Bewegung problematisiert – von manchen Teilen der Frauen- und Geschlechterforschung dagegen wurde (und wird) der Bezug auf den normativ-politischen Anspruch immer wieder eingefordert, eine Divergenz, die sich auch innerhalb der Geschlechterforschung spiegelt (vgl. z. B. die Diskussion zwischen G. A. Knapp und S. Hirschauer 2006). Im wissenschaftlichen Alltag von Universitäten ist das Verhältnis zwischen Forschung und Akteur/innen im politischen Raum (Frauen– und Gleichstellungsbeauftragte u. ä.) immer distanzierter geworden, nicht zuletzt da Gleichstellungspolitik auch zunehmend zum kritisch beleuchteten Gegenstand von Forschung wurde. Wie in der Soziologie selbst hat sich die Haltung einer systematischen Trennung von Wissenschaft und politischem Engagement mehr und mehr durchgesetzt und damit die Einsicht, dass wissenschaftliche Analyse, alltägli-

6.3 Kooptationen oder: Facetten einer „geschlechtssensibilisierten Soziologie“

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che Lebenspraxis und politisch-moralische Aktionen unterschiedlichen Erkenntnishaltungen folgen. Diese Trennung aber trifft die anfänglichen Ideale einer parteilichen, subjektive Erfahrungen ernst nehmenden und auf gesellschaftliche Veränderungen abzielenden „Frauenbewegung in der Wissenschaft“ (Frauenforschung) im Kern. Nun wird die Frage, ob es überhaupt noch eine „Frauenbewegung“ in diesem Sinne gibt oder ob sie nicht bereits Geschichte sei, bereits seit einiger Zeit unterschiedlich beantwortet (Gerhard 1995; Nave-Herz 1997; Lenz 2008). Nach wie vor besteht aber doch bei vielen in diesem Feld Tätigen der Anspruch, eine ‚besondere‘ Wissenschaft zu sein, die nicht in der disziplinären Struktur der Wissenschaften aufgeht. Insofern stellte sich in internen Diskussionen sehr bald die Frage, ob mit ihrer Institutionalisierung in den Kontext des Wissenschaftssystems nicht auch die kritische Kraft der Frauen- und Geschlechterforschung erschöpft sei. Diese Frage wird nicht zuletzt dadurch abgewehrt, dass in der internen Debatte der Anspruch auf eine eigene Grundbegrifflichkeit und teilweise auch auf einen eigenen Erkenntnismodus aufrechterhalten und mit dem Anspruch auf Inter- und Transdisziplinarität kombiniert wird. Daraus speist sich der Impuls, sich neben und manchmal auch gegen die Disziplinen zu stellen und eine eigene „transdisziplinäre Disziplin“ (Metz-Göckel 2008, S. 882) zu begründen. Dabei schwingt auch der Wunsch mit, im Anschluss an die frühe Frauenforschung (Forderung nach „Autonomie“) größere Freiheitsspielräume von akademisch-wissenschaftlichen Standards einzufordern als sie für gewöhnlich in Universitäten gelten.

6.3

Kooptationen oder: Facetten einer „geschlechtssensibilisierten Soziologie“

Sieht man sich aktuelle Einführungsbücher oder Lexika zur Soziologie an, so scheint „Geschlecht“ auf dieser Ebene inzwischen offensichtlich zu den dort aufgeführten „Haupt-“, „Grund-“ oder „Schlüsselbegriffen“ zu gehören. Als Stichwort steht „Geschlecht“ hier i. d. R. neben Alltag, Rolle, sozialem Handeln, Institution, Organisation oder Kultur etc., je nachdem, welcher Gliederungsidee die Herausgeber folgten. Dennoch wird vielfach beklagt, dass die Soziologie die Impulse der Frauen- und Geschlechterforschung nicht genügend aufgenommen habe. In dieser Klage wird häufig ein Vergleich zu anderen Disziplinen gezogen, etwa zu den Literaturwissenschaften oder auch zur Kulturanthropologie (z. B. Stacey/Thorne 1985). Dort seien sehr viel erfolgreicher feministische Neuformulierungen in die disziplinären Grundlagentheorien übernommen worden. Stacey und Thorne führen als Grund dafür an, dass dort schon relativ früh Frauen in der Forschung Fuß fassen konnten. Außerdem habe der Forschungsgegenstand selbst eine solche Übernahme erleichtert: Kleine, prä-schriftliche Gesellschaften, in denen das Zusammenleben wesentlich durch Verwandtschaft bestimmt sei, lenkten den Blick sehr viel eher auf die geschlechtliche Arbeitsteilung und deren strukturelle und symbolische Dimensionen. Nicht zuletzt deshalb sei hier der Weg von „bloßer Frauenzentriertheit“ hin zu einem „umfassenderen geschlechtsbezogenen und geschlechtsvermittelten (‚gendered‘) Verständnis aller Aspekte menschlicher Kultur“ (ebd. S. 121, Herv. d. Verf.) eher gangbar gewesen. Das sei in der Soziologie nicht zuletzt deshalb anders, weil hier Hindernisse auch in den Tücken des Objekts selbst lägen: „Komplexe zeitgenössische Gesellschaften können nicht als Ganze begriffen oder überhaupt studiert werden; gleichzeitig sind die potentiellen Quellen für zugängliche Daten überwältigend (…). Für gewöhnlich untersuchen Soziologen nur einen Teil und

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6 Zwischen Parallelisierung und Kooptation

häufig nur einen winzigen Ausschnitt dieser Welt. Wir brauchen Theorien, die uns helfen, diesen Teil innerhalb des Ganzen situieren zu können“ (ebd., S. 125). In dieser Problembeschreibung ist die Grundannahme enthalten, dass in einem feministischen Verständnis die Kategorie Geschlecht für den gesellschaftlichen Status Quo omnirelevant sei, alle Aspekte von Gesellschaft und Kultur betreffe. Die Annahme, Geschlecht sei ein grundlegender Ordnungsfaktor gerade auch moderner Gesellschaften, tritt in einen direkten Widerspruch zu jenen soziologischen Theorien, in denen davon ausgegangen wird, dass moderne Gesellschaften (rein) funktional differenziert sind. In funktional differenzierten Gesellschaften – so die Grundunterstellung – treten „vormoderne“ Differenzierungsformen wie etwa die nach sozialem Stand und Geschlecht in ihrer Bedeutung hinter andere Kriterien zurück. Dem Anspruch nach regeln vor allem Leistungskriterien den Zugang (Inklusion und Exklusion) zu allen gesellschaftlichen Teilbereichen. Es wird hier also mehr oder weniger explizit davon ausgegangen, dass die universalistische Ausrichtung von sozialen Funktionssystemen zu einem fortschreitenden Rückgang von sozialen Ungleichheiten führe, die an Zuschreibungen (askriptive Kriterien) wie die der Geschlechterdifferenz anknüpfen. Wenn es solche Ungleichheiten noch gebe, so seien diese lediglich als eine Art „traditionaler Restbestände“ vormoderner Differenzierungsformen anzusehen, auf die moderne Gesellschaften nicht angewiesen seien. Genau diese Haltung hatte zu der beklagten „Geschlechtsblindheit“ vieler soziologischer Analysen geführt. Diese Zeitdiagnose traf nicht nur in feministischen Arbeiten auf Widerspruch. Auch die Studien von Garfinkel und Goffman (vgl. Kap. 4.4) hatten sehr nachdrücklich aufgezeigt, dass in Interaktionen eine geschlechtliche Kategorisierung unvermeidlich ist, und dass mit dieser Kategorisierung in den untersuchten (westlichen) Gesellschaften Geschlechterarrangements und Verhaltenserwartungen verbunden sind, die status- und rollenübergreifend auf eine männliche Dominanz hin angelegt sind. Die widersprüchlichen Annahmen verdeutlichen zunächst einmal nicht mehr als die „multiparadigmatische Verfasstheit der Soziologie“ (Kaesler 2005, S. 15), in der keine Einigkeit besteht über eine „Kerntheorie“, die die unterschiedlichen Paradigmata integrieren könnte oder über eine „Grand Theory“ im Sinne eines unstrittigen theoretischen Systems, das alle Gesellschaften, deren historische Entwicklungen und alltäglichen Praktiken erfassen könnte. Diese multiparadigmatische Grundsituation gilt auch für die speziellen Soziologien – die sog. Bindestrichsoziologien –, die sich primär über einen Gegenstandsbezug definieren. Das jeweilige Paradigma bestimmt, in welcher Weise man sich dem jeweiligen Gegenstand nähert und wie er definiert und – etwa für empirische Untersuchungen – zugeschnitten wird. In vielen dieser speziellen Soziologien ist „Geschlecht“ inzwischen vor allem als sozialstatistische Variable integriert, etwa im Bereich der Familien- und Bildungssoziologie, der Arbeits-, Berufs- und Industriesoziologie oder auch im Bereich der Demographie, der Migration, Kindheit, Jugend und Alter, der Lebens(ver)laufsforschung, der Kommunikations- und Mediensoziologie, der Forschung zu Organisationen, Professionen und Professionalisierung und vielen anderen mehr. Frauen und Männer zu zählen, sie als Gruppen zu vergleichen und dann entweder zu geschlechterdifferenzierten Befunden zu kommen oder eine Geschlechterindifferenz des jeweils untersuchten Phänomens zu konstatieren, ist anders als noch in den 70er Jahren heute sehr weit verbreitet. Insgesamt hat die Berücksichtigung von Geschlecht als sozialstatistische Variable dazu geführt, dass wir inzwischen über eine Vielzahl von Informationen über die Folgen der Geschlechtertrennung verfügen. Insbesondere die politiknahe Forschung – z. B. der „Genderreport“ – versorgt uns kontinuierlich mit Daten zur Bildungsbeteiligung und zur geschlechtlichen Segre-

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gation des Arbeitsmarktes, zu Berufswahlen und Berufseinmündungen, „gender-gaps“ in der Entlohnung, prekären Beschäftigungsverhältnissen, Alterssicherung und vielem anderen mehr. Sehr oft hat sich in diesen Kontexten sogar das Konzept der „Geschlechtsrollen“ erhalten. Die Dimensionen von Macht, Herrschaft und Konflikt im Verhältnis der Geschlechter bleiben so nach wie vor weitgehend ausgeklammert. Bei Geschlecht als sozialstatistischer Variable (Frauen/Männer zählen) bleibt es bei einer Auffassung, der zufolge weibliche und männliche Individuen ein Geschlecht ‚haben‘, das sie voneinander trennt. Geschlecht wird zu einem dichotom skalierten Merkmal, an das sich Annahmen zu Eigenschaften, Fähigkeiten, Tätigkeiten, Einkommen, psychischen Profilen, Sexualität etc. anheften: Individuen werden zu Merkmalsträgern. Damit ist Geschlecht als eine binär verfasste Differenz gesetzt und nicht selten werden Erklärungsversuche der Ergebnisse aus Alltagsannahmen über geschlechtliche ‚Eigenschaften‘ gespeist. Die Einsicht, dass Geschlecht nur aus der Relation von ‚männlich‘ und ‚weiblich‘ entsteht, geht dabei verloren und Geschlecht wird reifiziert, d. h. zu einem ‚Ding‘ (lat. res) gemacht. Entsprechend kann Geschlecht als eine in sozialen Praktiken wirksam werdende soziale Kategorie und als gesellschaftliches Organisationsprinzip von Erfahrung („Masterstatus“, „Geschlechterrahmen“) nicht erfasst werden. Ansätze, die feministische Kritik in gesellschaftstheoretische Ansätze zu integrieren, erfolgten vor allem in Teilen der politischen Soziologie und der Soziologie sozialer Ungleichheit. So wurde als Reaktion auf die Frauenforschung bereits 1991 die Forderung nach einer „bis in die Grundbegriffe hinein geschlechtssensibilisierten Soziologie“ (Kreckel 1991, S. 371) formuliert. In dem Untertitel „Können askriptive Merkmale eine vernünftige Gesellschaftstheorie begründen?“ (ebd.) schwingt auf der einen Seite Skepsis mit, andererseits wird im Text durchaus nachdrücklich konstatiert, dass die bis dahin bestehende Geschlechterindifferenz in der Ungleichheitsforschung einem Erkenntnisfortschritt nicht dienlich ist. Die Soziologie sozialer Ungleichheit befand sich zu dieser Zeit selbst in einer Phase grundlegender Umorientierung. In der empirischen Sozialstrukturanalyse ging man ebenso wie in klassentheoretischen und schichtungstheoretischen Arbeiten davon aus, dass Einkommen und sozialer Status sich an der (erworbenen) Position in der Erwerbsarbeit festmache und die soziale Lage von Familie und Haushalt sich aus der Erwerbsposition herleite. Dieses vertikale Sozialstrukturmodell wurde zunehmend als unzureichend empfunden. Es wurde ergänzt durch die Vorstellung einer „horizontalen Disparität von Lebensbereichen“, da nicht allein die über das Erwerbssystem vermittelte Verteilung von Einkommen über Lebenslagen entscheide, sondern auch wohlfahrtsstaatliche Leistungen wie Bildung, Wohnen, Kultur, Verkehr, Gesundheit etc. (die Diskussionen im Überblick: Berger/Hradil 1990). Die Begriffe „Schicht“ oder „Klasse“ eigneten sich in dieser Sicht immer weniger dazu, die Struktur moderner Gesellschaften zu erfassen. Sie wurden zunehmend ergänzt durch Forschungen zu sozialen Milieus und zu Lebensstilen. Auch wenn Erwerbspositionen und ökonomischen Aspekten nach wie vor eine große Bedeutung zukommt, so sind seitdem in der (empirischen) Sozialstrukturanalyse und in den Theorien sozialer Ungleichheit die Bedeutung von sozialstaatlichen Leistungen und die Bedeutung von sozio-kulturellen Aspekten verstärkt berücksichtigt worden. Einer der bekanntesten Protagonisten dieses Wandels ist Ulrich Beck und seine Theorie einer „reflexiven Modernisierung“, der zufolge Menschen aus traditionalen Klassenbindungen gelöst werden. Bildungsexpansion, Anhebung des materiellen Lebensstandards, sozialstaatliche Institutionen und einiges andere mehr forcierten eine zunehmende Individualisierung der Lebensführung bei nach wie vor bestehender sozialer Ungleichheit. Durch diese Individualisierung seien

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sich Menschen über ihre Abhängigkeit vom Arbeitsmarkt und sozialstaatlichen Institutionen immer weniger bewusst (Beck 1986, S. 116 ff.). Vermutlich nicht zuletzt angeregt durch die Arbeiten von Elisabeth Beck-Gernsheim zur Frauenforschung (z. B. 1983) setzte sich U. Beck vergleichsweise ausführlich mit dem Stellenwert von Geschlecht in der (bundesdeutschen) Gegenwartsgesellschaft auseinander. Mit den Emanzipationsbewegungen der Frauen brächen – so die These – die „Widersprüche“ einer „im Grundriß der Industriegesellschaft halbierten Moderne“ (Beck 1986, S. 118) auf. Damit ist gemeint, dass Frauen einen „Zwitterstatus“ in der modernen Gesellschaft einnehmen; ihre Lage sei zum einen „ständisch“, weil die Zuweisung von Haus- und Familienarbeit „qua Geburt und Geschlecht“ geregelt wird, andererseits „modern“, weil diese in der konkreten Form (Verpflichtung auf Familienarbeit als „Hausfrau“ versus Verpflichtung von Männern auf Erwerbstätigkeit in der „Ernährerrolle“) erst mit der Industriegesellschaft als „deren Produkt und Fundament“ (ebd., S. 178) entstanden sei. Durch Bildungsangleichung und zunehmende Erwerbstätigkeit von Frauen werden die Diskrepanzen zwischen (formalem) Gleichheitsversprechen und faktischer Ungleichheit immer offenkundiger und führen zu einem Prozess, den Beck/Beck-Gernsheim als „nachholende Individualisierung“ von Frauen bezeichnet haben, darin aber unter Bezugnahme auf das Theorem der „doppelten Vergesellschaftung“ (vgl. Kap. 5.3.3) nachdrücklich kritisiert wurden (z. B. Gottschall 2000). Da offensichtlich nicht nur die Grenzen zwischen Klassen und Schichten, sondern auch die Geschlechterverhältnisse in Bewegung geraten waren, lag es nahe, nun auch die „private Gegenwelt von Familien- und Geschlechterbeziehungen in die gesamtgesellschaftliche Strukturanalyse“ einzubeziehen (Kreckel 1991, S. 377). Dabei bestand ein sehr weitgehender Konsens darin, dass diese „private Gegenwelt“ der ökonomischen Sphäre nachgeordnet ist und kaum über strategiefähige Ressourcen zur Durchsetzung eigener Interessen verfügt. Nicht zuletzt darin liege die soziale Ungleichheit der Geschlechter begründet. Zugleich aber wurde auch deutlich, dass „Familie“ immer weniger als homogene Grundeinheit der Sozialstrukturanalyse und Ungleichheitsforschung gelten kann, in der allein der (männliche) Haushaltsvorstand über die Positionierung im gesellschaftlichen Schichtungsgefüge bestimme. Von feministischer Seite wird diesbezüglich kritisiert, dass diese zeitdiagnostischen Arbeiten zur sozialen Ungleichheit sich faktisch ausschließlich an der kapitalistischen Wirtschaftsform festmach(t)en und die geschlechtliche Ungleichheit nach wie vor im Bereich des „Privaten“ verorten oder aber das Geschlechterverhältnis lediglich als „Organisationsprinzip zur Vermittlung von entgeltlichter und unentgeltlichter Arbeit“ begreifen (Aulenbacher 2008, S. 17). Geschlechtssensible Soziologie – so das Argument – „kann das von ihr empirisch aufgezeigte Zusammenspiel von kapitalistischen und androzentrischen Arrangements theoretisch nicht einholen“ (ebd.), bleibe „bei einer Kapitalismusanalyse unter besonderer Berücksichtigung von Geschlecht stehen“ (ebd.). Ein Dissens liegt nach Aulenbacher vor allem in der Frage, ob „das Geschlechterverhältnis“ als „Konstituens“ der kapitalistischen Gesellschaftsformation gilt oder aber (nur) als dessen historische Voraussetzung, dessen Fortdauer im Kapitalismus ein „ständisches Relikt“ oder vielleicht auch noch eine „feudale Grundlage“ darstelle, jedoch nicht vom Kapitalismus erzeugt worden sei. Die jeweilige Einschätzung impliziere unterschiedliche Epocheneinteilungen und letztendlich würde eine feministische Diagnose die „Geschichte neu schreiben“ müssen (ebd.; ähnlich auch schon Gerhard 1991). Die Kritik insistiert auf einer „feministischen Gesellschaftstheorie“, in der Geschlecht bzw. das Geschlechterverhältnis als eine gesellschaftliche Zentralkategorie verstanden wird, die der Herausbildung sozialer Ungleichheit zugrunde liegt. In neueren Arbeiten wird die Kategorie

6.3 Kooptationen oder: Facetten einer „geschlechtssensibilisierten Soziologie“

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Geschlecht ergänzt und erweitert um Rasse/Ethnizität und Klasse als gesellschaftlichen Strukturgebern (Klinger et al. 2007), wobei eine konkrete Bestimmung, wie diese Strukturgeber zusammenhängen, allerdings weitgehend unerforscht ist (ebd., S. 36 f.). Ein zentrales Problem in der geschlechtsbezogenen Ungleichheitsforschung liegt in dem Dilemma, einerseits den übergreifenden und umfassenden Charakter der Benachteiligung von Frauen in modernen Gesellschaften aufzuweisen und gleichzeitig der faktischen Heterogenität der Lebenslagen von Frauen zu entsprechen, die bei aller Benachteiligung keine „homogene Gruppe“ bilden. Unübersehbar ist, dass Geschlechterverhältnisse bereits seit einiger Zeit „ordentlich in Unordnung“ geraten sind und ihre ehemals unbestrittene Ordnungsfunktion für moderne Gesellschaften nachdrücklich in Zweifel gezogen werden muss (Heintz 2001, S. 9). Nicht zuletzt der von Bettina Heintz 2001 herausgegebene Band zur „Geschlechtersoziologie“ zeigt wie kaum ein anderer auf, wie diffizil Forschungen zur Ungleichheit der Geschlechter geworden sind. Es haben sich sehr verschiedene „Formen und Intensitätsgrade geschlechtlicher Differenzierung“ herausgebildet, die es immer schwerer machen, die Frage zu beantworten, ob es eine „Ordnungsstruktur der Unordnung“ (ebd., S. 10) gebe: „Es gibt Bereiche, in denen die Geschlechterungleichheit nahezu unverändert fortbesteht (Bsp. Einkommen, Verteilung der Hausarbeit, sexuelle Gewalt), andere, in denen die Unterschiede zwischen den Geschlechtern praktisch verschwunden sind (Bsp. Bildungsgrad, Recht) und dritte schließlich, in denen die Ungleichheiten konditional sind, d. h. abhängig von spezifischen Bedingungskonstellationen (Bsp. Erwerbsverhalten, religiöse Bindung)“ (ebd., S. 9). Ihre Problemdiagnose läuft darauf hinaus, dass auf der normativen Ebene eine „Semantik der Gleichheit“ die aus dem 19. Jahrhundert stammende „Semantik der Differenz“ abgelöst habe. Das bedeutet, dass grundsätzlich der Anspruch auf „Gleichberechtigung“ akzeptiert werde und man nicht mehr auf „wesensmäßige Unterschiede“ zurückgreife, um Frauen aus bestimmten Bereichen auszuschließen. Auch sei der Anspruch auf gesellschaftliche Teilhabe durch Berufstätigkeit, Wahlrecht und Bildung grundsätzlich verwirklicht. Gleichzeitig aber bestehe eine „Persistenz geschlechtlicher Ungleichheit“, insbesondere hinsichtlich der Zuständigkeit von Frauen für die Haus- und Familienarbeit und ihrer eingeschränkten Berufschancen. Diese Entwicklung wird von Heintz (2008 [zuerst mit Nadai 1998]) als „De-Institutionalisierung der Geschlechterdifferenz“ bezeichnet, was nicht bedeutet, dass die Geschlechterdifferenz keine Bedeutung mehr habe, sondern lediglich, dass sie sozial nicht mehr auf die gleiche Weise reproduziert werde (vgl. Kap. 9.6). Wenn man sich im „Unterschiede machen“ nicht mehr auf eine normativ abgesicherte „Semantik der Differenz“ beziehen könne und explizite geschlechterdifferente Regelungen etwa im Recht oder im Zugang zu gesellschaftlichen Bereichen wegfallen, dann werde – so die These – soziales Handeln, das sich auf die Differenz bezieht und diese aktualisiert, tendenziell begründungspflichtig. Die Gründe für die „Persistenz geschlechtlicher Ungleichheit“ seien daher in Interaktionen und in vordergründig geschlechtsneutralen Arrangements wie z. B. dem Angebot von Teilzeitarbeit oder an Präsenz gebundene Aufstiegsregelungen zu suchen. Mit dieser These einer „De-Institutionalisierung der Geschlechterdifferenz“ wird versucht, die Befunde aus der Mikrosoziologie in eine eher makrosoziologische Perspektive zu integrieren. Ihr Fazit ist, dass „die Geschlechterdifferenz kein einheitliches Ordnungsprinzip

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6 Zwischen Parallelisierung und Kooptation

mehr ist, sondern in ihrer Bedeutung in vielen Fällen situationsspezifisch gebrochen und durch Kontextfaktoren mediatisiert ist“ (Heintz 2001, S. 16). Damit wird sowohl die Vorstellung einer „Omnirelevanz“ von Geschlecht zurückgewiesen, als auch die Annahme, dass Geschlecht lediglich ein askriptives Merkmal sei, dem in funktional differenzierten Gesellschaften keine Bedeutung zukomme. Mit dem Verweis auf „Kontextfaktoren“ stellt sich die Frage, wann, wo und wie Geschlecht relevant (gemacht) wird und ob in diesen Prozessen eine „Ordnung in der Unordnung“ zu finden sei. Das aber ist eine primär empirische Frage und kann nicht durch den Rückgriff auf „Geschlecht als Strukturkategorie“ beantwortet werden, sondern nur durch konkrete Untersuchungen auf unterschiedlichen Ebenen des Sozialen (Interaktion, Institution, Organisation, nationale und globale gesellschaftliche Kontexte) und deren mehr oder weniger losen Verkoppelungen. Nicht zuletzt durch die Globalisierung von Arbeits-, Dienstleistungs- und Heiratsmärkten wird deutlich, dass Mikro- (soziales Handeln und Interaktion) und Mesoebene (Institution und Organisation) durch übergreifende soziale Prozesse tangiert werden, ohne durch sie determiniert zu sein. An dieser Debatte um unterschiedliche Bedingungskonstellationen wird deutlich, dass das, was Stacey/Thorne (1985) forderten – in Untersuchungen von Teileinheiten einen systematischen Bezug zu einem „Ganzen“ herzustellen – immer weniger einlösbar ist. Auch ohne auf „die Postmoderne“19 zu verweisen, ist das, was „das Ganze“ sein soll, immer weniger greifbar. In der Soziologie werden stattdessen aus unterschiedlichsten theoretischen und methodischen Perspektiven immer mehr unterschiedliche Ausschnitte sozialer Wirklichkeit thematisch. Dieser Zustand aber ist nicht negativ, sondern grundsätzlich positiv zu bewerten, weil sich in ihm die Vielgestaltigkeit sozialer Wirklichkeit ausdrückt und die Fähigkeit der Soziologie, Veränderungen wahrzunehmen und analytisch zu durchdringen. Das betrifft auch die Kategorie Geschlecht.

6.4

Zwischenfazit: Ist Geschlecht ein „Grundbegriff“ der Soziologie?

In dem Slogan der Frauenbewegung, „das Private ist politisch“, ging es von Anfang an darum, persönliche Erfahrung und persönliches Erleben als gesellschaftlich erzeugt zu begreifen und nicht als ein „privates“ oder gar „biologisches Schicksal“. Insofern lag der sich entwickelnden Frauenforschung eine genuin sozialwissenschaftliche Haltung zugrunde. Für viele lag es damals nahe, in der Skandalisierung der Benachteiligung von Frauen zunächst an marxistisch-sozialistische Positionen zur „Frauenfrage“ anzuschließen und die Frage nach dem Stellenwert von Hausarbeit als Frage nach Macht und Herrschaft von Männern über Frauen (Patriarchatstheorien) zu stellen. Andere schlossen – mitunter ohne es zu bemerken – an die bürgerlichen Traditionen der Differenztheorie (Polarisierung, Ergänzung, Mütterlichkeit) an. Insgesamt aber stieg auch in der Frauenforschung das Kontingenzbewusst19

Die Bezeichnung „Postmoderne“ ist in der Soziologie weniger verbreitet, auch wir werden sie nicht verwenden. Sie ist vor allem in den Literatur- und Kulturwissenschaften gängig: Mit der ursprünglich aus der Architektur stammenden Bezeichnung werden die Vorstellung „großer Erzählungen“ wie die eines „Projekts der Moderne“ ebenso abgelehnt wie vereinheitlichende Begriffe und Kategorien. Stattdessen wird die Vielheit und Vielfalt sozialen Lebens hervorgehoben, die Buntheit von Sprachspielen gegenüber dem totalisierenden Anspruch großer narrativer Diskurse. In der Soziologie wird eher von der „zweiten Moderne“, der „modernisierten Moderne“ oder der „Reflexiven Moderne“ gesprochen, um zu verdeutlichen, dass in der gesellschaftlichen Entwicklung sowohl Kontinuitäten als auch (Um-)Brüche das Bild bestimmen

6.4 Zwischenfazit: Ist Geschlecht ein „Grundbegriff“ der Soziologie?

185

sein, i. e. die Wahrnehmung der (irritierenden) Vielfalt, in der sich Geschlechtertrennungen sozial und kulturell manifestieren, der Eindruck von Wandelbarkeit und Dynamik, durch die traditionelle Legitimationen und Geltungsansprüche obsolet werden. Diese Steigerung des Kontingenzbewusstseins drückte sich u. a. darin aus, dass immer weniger von „sex“ und immer mehr von „gender“ die Rede war, eine Entwicklung, die in Amerika bereits in den 1970er Jahren stattfand, den deutschsprachigen Diskurs aber erst im Rahmen der Konstruktivismusdebatte in den 90er Jahren erreichte (vgl. Kap. 7). In Bezug auf die Soziologie wurden durch die Frauenforschung blinde Flecken aufdeckt, neue Fragestellungen aus Erfahrungen von Frauen generiert, etwa die Frage nach der Bedeutung der Hausarbeit oder auch die nach Gewalt in privaten Beziehungen (vgl. Kap. 5.2). Insofern hat die feministische Forschung der Soziologie wichtige Impulse gegeben und so Korrekturen und Weiterentwicklungen initiiert. Dennoch wird von feministischer Seite nachdrücklich beklagt, dass eine grundlegende Neuorientierung in der Soziologie ausgeblieben ist (z. B. Stacey/Thorne 1985; Lucke 1999; Aulenbacher 2008). In der Beziehung zwischen (feministischer) Frauen- und Geschlechterforschung und der Soziologie scheinen damit Konflikte durch die Art des jeweiligen Zugangs zu den zu untersuchenden Phänomenen angelegt zu sein. Dies drückt sich u. a. auch in der Ablehnung aus, in der Geschlechterforschung eine ‚normale‘ spezielle Soziologie zu sehen. Statt dessen wird der Anspruch erhoben, dass die Konsequenz aus der Aufdeckung eines impliziten Androzentrismus in vielen (aber nicht allen) soziologischen Theorien gewesen wäre, „Geschlecht“ zu einem Grundbegriff in der soziologischen Theorie zu machen, wobei „soziologische Theorie“ stets als „Gesellschaftstheorie“ adressiert wird. Das ist, wie wir gezeigt haben, keine für alle soziologischen Theorien zutreffende Beschreibung. Bereits Simmel und Weber haben diese Gegenstandsbestimmung für die Soziologie zurückgewiesen, andere haben sich auf grundlagentheoretischer Ebene mit der Konstitution des Sozialen im Zusammenleben von Menschen befasst (Mead, Schütz, Mannheim vgl. Kap. 3.4). In ihren Anfängen, hat die Soziologie unübersehbar selbst zur Durchsetzung der Polarisierung der Geschlechter und dem Ausschluss der Frauen aus der Öffentlichkeit beigetragen. Wenn Comte und Spencer etwa die Frage nach der Möglichkeit sozialer Ordnung in den Vordergrund gestellt haben, so haben sie gleichzeitig – dem „bürgerlichen Zeitgeist“ entsprechend – Geschlecht und Geschlechterdifferenzen stets und nahezu ausschließlich mit Blick auf Fortpflanzung und die soziale Ordnung der (patriarchalen) Familie als einer Grundeinheit des Sozialen thematisiert, in der nicht nur Kinder, sondern vor allem auch Männer zivilisiert werden. In der Dynamik gesellschaftlicher Entwicklung – dem „Fortschritt“ oder der „sozialen Evolution“ – kam Frauen dagegen keine Bedeutung zu. Familie war wie die Gesellschaft selbst als eine „natürliche Ordnung“ gedacht und „naturgesetzlich“ geregelt (vgl. Kap. 2.2). Die marxistisch-sozialistische Tradition hatte zwar Anknüpfungspunkte für die Kritik von Macht und Herrschaft im Verhältnis der Geschlechter geboten, aber auch hier ist Geschlecht – Frauen – primär auf (familiale) Reproduktion (Fortpflanzung) bezogen und nicht auf gesellschaftliche Entwicklung durch Arbeit (Produktion) (vgl. Kap. 2.2.3). Die Zentrierung auf den Binnenbereich der Familie blieb grundsätzlich auch bei Durkheim, Tönnies und Simmel erhalten, nicht aber das Verständnis von Gesellschaft als eines Naturzusammenhangs. Gesellschaft ist etwas anderes als „Natur“ und insofern kommt es z. B. bei Durkheim zu deutlichen Ansätzen einer Entnaturalisierung von Geschlecht, auch wenn er sie in seinen empirischen Analysen selbst nicht eingelöst hat. Die Geschlechtertrennung galt bei ihm als grundlegendes Beispiel der gesellschaftlichen Entwicklung von der mechanischen

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6 Zwischen Parallelisierung und Kooptation

zur organischen Solidarität und als Voraussetzung dafür, dass „der Mann“ zur treibenden Kraft im gesellschaftlichen Zivilisierungs- und Differenzierungsprozess werden konnte (vgl. Kap. 3.1.3). Auch in der Soziologie der 1950er und 60er Jahre war mit dem (an Durkheim anschließenden) Strukturfunktionalismus als „normativem Paradigma“ Geschlecht in Form von „Geschlechtsrollen“ erneut allein auf die Familie bezogen, nun vor allem in Hinsicht auf deren Sozialisationsfunktion. Hier wurde die Geschlechtertrennung explizit allein aus den Funktionserfordernissen des Sozialen hergeleitet, der sexuelle Dimorphismus galt lediglich als ein Anhaltspunkt für die Zuweisung unterschiedlicher sozialer Funktionen. Für Parsons konnten sich einzelne Inhalte von Geschlechtsrollen durchaus verändern, nicht aber das Prinzip der Differenzierung in „expressiv-integrative“ und „instrumentell-adaptive“ Funktionen. Das hat bei ihm den systematischen Grund, dass die Gesellschaft entsprechend differenziert ist und diese Differenzierung irgendwo gelernt werden muss. Die Parsons’sche Systemtheorie hat sich in der Comte-Durkheim’schen Tradition noch auf „Gesellschaft“ als ein „Ganzes“ bezogen. Dieser Bezug hat sich in anschließenden Theorien zwar grundsätzlich verändert, aber die Parsons’sche, auf Familie bezogene Konstruktion von Geschlechtsrollen schimmert in vielen (auch sich feministisch verstehenden) Untersuchungen durch (z. B. Chodorow 1985; Gilligan 1984). Auf der anderen Seite stehen die sich in der Marx’schen Tradition verortenden Gesellschaftstheorien, insbesondere die „Kritische Theorie“, die sich auf Gesellschaft als einer „Totalität“ beziehen und Geschlecht – Frauen – dann aber ebenfalls primär im Hinblick auf Familie zum Thema machen. So gesehen ist den beiden in den 60/70er Jahren dominierenden Richtungen trotz tiefgreifender Differenzen im theoretischen Zugang zu „Gesellschaft“ gemeinsam, dass „Familie“ als eine homogene Einheit der jeweiligen Analyse zugrunde gelegt wird und deshalb Frauen als „Geschlechtswesen“ in den (soziologischen) Blick geraten sind. Die Eingrenzung von Frauen auf Familie ist von der Frauen- und Geschlechterforschung nachdrücklich kritisiert worden – gleichzeitig bleiben sie aber darin z. T. selbst gefangen, indem in ihren Analysen zu „dem Geschlechterverhältnis“ Generativität und die Familienbezogenheit von Frauen ein systematischer Bezugspunkt bleiben. So weist Becker-Schmidt den von Kreckel eingebrachten Gedanken zurück, dass auch Männer „doppelt vergesellschaftet“ seien, weil auch sie mit den aus der Trennung von öffentlicher Berufssphäre und privater Familiensphäre resultierenden unterschiedlichen Logiken konfrontiert seien, es ihnen aber im Beharren auf dem „patriarchalen Erbe“ (noch) gelänge, sich von den entsprechenden Ambivalenzen zu entlasten (Kreckel 2004 [1992], S. 268 ff.). Den Grundgedanken, dass alle Gesellschaftsmitglieder in dieses Spannungsverhältnis einbezogen sind, lehnt Becker-Schmidt mit dem Argument ab, dass Frauen davon „anders betroffen sind als Männer“ (Becker-Schmidt/Knapp 2000, S. 50 und S. 58). Dort, wo nicht ‚die Gesellschaft‘ im Zentrum der Erkenntnisbemühungen stand, sondern die Theorien noch einmal eine Ebene ‚darunter‘ einsetzten und nach der Konstitution des Sozialen fragten, haben sich die Autoren mit der Geschlechterfrage vermutlich nicht zuletzt deshalb kaum explizit befasst, weil ‚Familie‘ für sie nicht in gleichem Maße thematisch wurde (Mead, Schütz, Mannheim). Ihre Theorien haben aber in späteren Jahren viel dazu beigetragen, Geschlecht zu einem Gegenstand (und nicht mehr zur Grundlage) soziologischer Analysen werden zu lassen. Ein Beispiel dafür ist die heute zu Unrecht fast vergessene Arbeit von Viola Klein. Vor allem in der Kritik des normativen durch das interpretative Paradigma (vgl. Kap. 4.4) entstanden unter Bezug auf Mead, Schütz und Mannheim entscheidende Arbeiten zur Grundlegung eines genuin soziologischen Blicks auf Geschlecht, in der nicht mehr ‚Fa-

6.4 Zwischenfazit: Ist Geschlecht ein „Grundbegriff“ der Soziologie?

187

milie‘ die Grundeinheit bildete, sondern konsequent die Geschlechterdifferenzierung als solche zum Objekt soziologischer Forschung wurde. Vor allem Harold Garfinkel und Erving Goffman legten zentrale Grundlagen für die Entwicklung einer Perspektive zur „sozialen Konstruktion von Geschlecht“, die in den 1990er Jahren in Soziologie und Frauenforschung hoch kontroverse Debatten auslöste (vgl. Kap. 7.1.5). In dieser Perspektive kann es keine dem Sozialen vorgelagerte Arbeitsteilung geben und auch kein vorsoziales (z. B. geschlechtliches) Selbst. Objekte (z. B. Geschlecht, Familie) bzw. Situationsdefinitionen (z. B. ein gemeinsames Frühstück) tragen ihre Bedeutungen nicht einfach in sich, sondern diese entstehen aus sozialen (kommunikativen) Interaktionen, verfestigen sich durch Institutionalisierung, sind aber grundsätzlich interpretationsbedürftig und veränderbar. Sprache ist in dieser Perspektive kein einfaches, transparentes Medium von Kommunikation, sondern transportiert auch Autorität, Macht und soziale Ungleichheit. Gleichzeitig aber können Autorität, Macht und soziale Ungleichheit nur im Medium der Sprache thematisiert und problematisiert werden. So gesehen haben soziologische Denkweisen Möglichkeiten bereitgestellt, die in einer sehr grundlegenden Weise mit traditionellen Vorstellungen von Geschlecht brechen. Auch in einer solchen Perspektive werden indes Reproduktion (Generativität) und (Hetero) Sexualität nicht irrelevant. Sie wurden in den meisten Gesellschaften in irgendeiner Form institutionalisiert, ebenso wie eine Form von Familie – nicht notwendig eine Zeugungsfamilie –, in der die Sozialisation der Nachkommen stattfindet. Nicht zuletzt deshalb geriet bei der Untersuchung ‚einfacher‘ (vorschriftlicher) Gesellschaften, in der Familien- und Verwandtschaftsbeziehungen zentral sind, die Geschlechterdimension sehr viel schneller in den Blick. Bezogen auf moderne (komplexe) Gesellschaften aber geht es darum, dieses soziale Gefüge nicht grundbegrifflich vorauszusetzen, sondern es empirischen Analysen und theoretischen Reflexionen zugänglich zu machen. Was ist ‚eine Frau‘, die hochqualifiziert kontinuierlich außer Haus arbeitet und z. B. als Außenministerin einen Staat nach außen vertritt? Was ist ‚Elternschaft‘, wenn die Kinder von 8 Uhr bis 17 Uhr und manchmal auch nachts außer Haus von professionellen Erzieher/innen betreut und erzogen werden? Was ist eine ‚Ehe‘, wenn sie nicht nur heterosexuelle Paare vereint? Mit der Forderung nach Geschlecht als einem Grundbegriff ist daher implizit die Frage angesprochen, welche Theoriearchitektur gemeint ist. Geschlecht im Rahmen von Ungleichheitstheorien zu thematisieren, in denen diese Kategorie – gemeinsam mit Nationalität, ethnischer Zugehörigkeit, sozialer Klasse, sexueller Orientierung, Generationslagerung und Alter – als Verwerfungslinie identifiziert wird, über die sich soziale Ungleichheit herstellt, ist eine wichtige Perspektive, aber es ist eben nur eine. Eine andere Perspektive liegt darin, in Theorien zur Konstitution des Sozialen die Frage zu verfolgen, wie Gesellschaft möglich ist bzw. wie Menschen überhaupt zusammenleben können. Die verschiedenen Zugänge siedeln ihre Grundbegriffe auf sehr unterschiedlicher Ebene an und gerade Grundlagentheorien zum Sozialen werden nicht über einen Bezug auf Gegenstände gebildet, sondern eher in Bezug auf die einer Gegenstandsbildung zugrunde liegenden Vorgänge, wobei die Paradigmata sich durch unterschiedliche Fokussierungen (Handlung – Arbeit – Interaktion/Kommunikation – System) unterscheiden. Was in der Debatte um eine „geschlechtssensibilisierte Soziologie“ demnach weitgehend fehlt, ist weniger ein „Grundbegriff Geschlecht“, sondern eine Rezeption und Fortschreibung der soziologischen Theorietraditionen, in denen und mit denen es möglich ist, „Geschlecht als Gegenstand“ mit soziologischen Mitteln zu erforschen. Mit den diesbezüglich aktuellen Versuchen, im Anschluss an klassische Positionen theoretische Fassungen von und zu Geschlecht zu entwickeln, werden wir uns in den nächsten Kapiteln be-

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6 Zwischen Parallelisierung und Kooptation

schäftigen. Die ‚normale‘, alltagsweltliche Selbstevidenz ist dabei denen, die sich forschend mit diesem Gegenstand befassen, i. d. R. gründlich abhanden gekommen. Vertiefende Literatur: • • • • •



Gottschall, Karin, Soziale Ungleichheit: Zur Thematisierung von Geschlecht in der Soziologie, in: Becker, Ruth, Beate Kortendiek (Hrsg.), Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung, 3. erweiterte Auflage, Wiesbaden 2010, S. 201–209. Beck, Ulrich, Elisabeth Beck-Gernsheim, Das ganz normale Chaos der Liebe, Frankfurt am Main 1990. Degele, Nina, happy together: Soziologie und Gender Studies als paradigmatische Verunsicherungswissenschaften, in: Soziale Welt 54 (2003), S. 9–29. Hirschauer, Stefan, Gudrun-Axeli Knapp, Wozu Geschlechterforschung? Ein Dialog über Politik und den Willen zum Wissen, in: Aulenbacher, Brigitte et al. (Hrsg.), FrauenMännerGeschlechterforschung. State of the Art, Münster 2006, S. 22–63. Aulenbacher, Brigitte, Auf gute Nachbarschaft? Über Bewegungen im Verhältnis von Soziologie und Geschlechterforschung, in: Hofbauer, Johanna, Angelika Wetterer (Hrsg.), Soziologie und Geschlechterforschung, Österreichische Zeitschrift für Soziologie 33(4) (2008), S. 9–27. Schwinn, Thomas, Ist ‚Geschlecht‘ ein soziologischer Grundbegriff? Ansprüche und Grenzen der Gender- und Frauenforschung, in: Östereichische Zeitschrift für Soziologie 33(4) (2008), S. 28–44.

Denkanstöße und weiterführende Fragen: Wir haben Ihnen in den vorherigen Kapiteln vor allem Theorieentwürfe vorgestellt und dabei auch stets deren Terminologie. Begriffe sind das wichtigste Handwerkszeug in der Soziologie und daher sind präzise Definitionen immer wieder zentral. Die einzelnen Begriffe stehen jedoch nicht im luftleeren Raum: Theoretische Entwürfe stellen Begriffe in Bezüge zueinander, stellen eine hierarchische und eine funktionale Ordnung zwischen ihnen her. Welche Begriffe dabei als Grundbegriffe gelten, welche abgeleitete Begriffe sind, inwiefern ein Begriff den Stellenwert des ‚Werkzeugs‘ oder (nur) des zu bearbeitenden ‚Materials‘ erhält, ist entscheidend für das Theoriegebäude. Dabei haben wir Ihnen auch gezeigt, dass die jeweiligen Werkzeuge mehr oder weniger geeignet waren (aber auch: mehr oder weniger genutzt wurden), das Thema Geschlecht zu bearbeiten. Rekapitulieren Sie die bisherigen Theorien: • Wie wurde Zweigeschlechtlichkeit dort jeweils genutzt: als Werkzeuge zur Beantwortung soziologischer Fragen oder als Gegenstand? • Welche (anderen) Werkzeuge boten die jeweiligen Theorien?

7

Zweigeschlechtlichkeit als Problem

Kapitelvorschau In der Frauenforschung wächst angesichts der irritierenden Vielfalt, in der sich Geschlechtertrennungen historisch und kulturell manifestieren, das Kontingenzbewusstsein. Wir skizzieren die Debatte um die ,soziale Konstruktion von Geschlecht‘ und stellen anschließend die diesbezüglichen theoretischen Ansätze im Einzelnen vor.

7.1

,Sex‘ und ,gender‘

Innerhalb der im engeren Sinne feministischen Debatte, aber auch in Teilen der Sozialwissenschaften entstand zunächst in den USA und etwas später auch in Europa eine grundlegende Kritik an allen Ansätzen, die von der Geschlechterdifferenz ausgingen und die Unterdrückung von Frauen in den Mittelpunkt stellten. So wurde etwa von schwarzen und minorisierten (z. B. lesbischen) Frauen(gruppen) kritisiert, dass der westliche feministische Diskurs nur „weiße, heterosexuelle Mittelschichtfrauen“ zum Gegenstand habe und deren Erfahrungen verallgemeinere. Erfahrungen und Interpretationen „anderer“ Frauen und ihre besondere soziale Lage würden auf diese Weise verschwiegen und unsichtbar gemacht. Statt von einem einheitlichen Kollektiv der Frauen auszugehen, seien deshalb verstärkt (soziale) Differenzen unter Frauen zu berücksichtigen (vgl. Becker-Schmidt/Knapp 2000 sowie Kap. 9.5). Diese Kritik war als solche nicht neu: Schon Hedwig Dohm (1874) hatte die Vorstellung, das „die Frauen“ eine Art Kollektiv bilden, als unangemessene „Versämtlichung“ und „gewaltförmige Gleichformung“ bezeichnet, eben weil eine solche Vorstellung Verschiedenheit und Vielfalt, Differenz und Eigensinn von Frauen unterschlage. Etwa 100 Jahre später stand die „Versämtlichung“ nun erneut auf dem Prüfstand. Der Forderung, Differenzen unter Frauen wahrzunehmen und in den Analysen zu berücksichtigen, schien zunächst die sich in den USA bereits zu Beginn der 1970er Jahre immer stärker durchsetzende Unterscheidung von ,sex‘ und ,gender‘ Genüge zu tun. Auf den ersten Blick war mit dieser Unterscheidung ein Weg geöffnet, die sozialkulturelle Bedeutungsaufladung der Geschlechterkategorien von den im engeren Sinne körperlichen Geschlechtsmerkmalen abzulösen und damit eine Verschiebung in der Gewichtung ,natürlicher‘ versus ,kultureller‘ Faktoren einzuleiten. In der sex/gender-Unterscheidung bezog sich die Kategorie ,sex‘ nun allein auf das „biologische Geschlecht“ (Anatomie, Physiologie, Morphologie, Hormone und Chromosomen). Die Kategorie ,gender‘ dagegen zielte auf das „soziale Geschlecht“ im Sinne der sozialen und kulturellen Prägung von Verhaltenserwartungen, Eigenschaftszuschreibungen, Tätigkeiten und darauf bezogenen sozialen Positionierungen. Den Weg dazu hatten nicht zuletzt kulturanthropologische Forschungen wie etwa die von Margaret Mead gewiesen, die schon in den 1940er und 50er Jahren die Vielfältigkeit kultureller Wirklichkeiten von Geschlecht in das gesellschaftliche Bewusstsein gehoben hatten

190

7 Zweigeschlechtlichkeit als Problem

(vgl. Kap. 4.2.2). Die Vielfalt dessen, welche Verhaltensweisen, Aktivitäten und Eigenschaften als „typisch weiblich“ oder „typisch männlich“ galten, wurde von Margaret Mead so interpretiert, dass persönliche Charakterzüge genauso lose mit Geschlecht verbunden seien wie Kleidung und Frisuren, die Unterschiede zwischen den Geschlechtern also „sozial konditioniert“ seien (Mead 1969, S. 260). Auch die verschiedenen Untersuchungen zu ,sex-roles‘ dieser Zeit wiesen immer stärker darauf hin, dass ,sex‘ allein für die Erfassung der sozialen Positionierung von Frauen und Männern nicht ausreiche (vgl. Kap. 4). Die Unterscheidung von ,sex‘ und ,gender‘ ist nicht in den Sozialwissenschaften, sondern in der Sexualwissenschaft der 1950er Jahre entstanden. Dort zielte sie darauf ab, die Möglichkeit eines Auseinandertretens von körperlichem (anatomischem) Geschlecht und (sozialer) Geschlechtsidentität benennen zu können. Das soziale Geschlecht (gender) sei nicht notwendig von dem biologisch-anatomischen Geschlecht (sex) abhängig, sondern könne auch allein durch Erziehung zugewiesen werden (Money et al. 1955; Stoller 1968). Beispiele dafür stammten aus der Arbeit mit Transsexuellen und Hermaphroditen, vor allem aber aus dem Umgang mit ,intersexuell‘ geborenen Kindern (vgl. Kap. 9.4.1). In diesen Überlegungen wurde die Zweiteilung der Menschheit nicht angezweifelt: Dem sex/gender-Modell liegt einerseits das Wissen zugrunde, dass die Erscheinungsweisen von Geschlecht außerordentlich vielfältig sind. Andererseits wird diese Vielfalt erneut auf zwei und nur zwei zu unterscheidende Geschlechter zurückgeführt. In der Frauenbewegung und -forschung in den USA wurde das sex/gender-Modell schon sehr früh benutzt, um gegen die in Öffentlichkeit, Politik und Wissenschaft verbreitete Rede von der „Natur der Frau“ Stellung zu beziehen. Die soziale Ordnung und insbesondere die Ungleichheit der Geschlechter wurden nicht als eine Folge der körperlichen Differenzen gesehen, sondern in den Kontext soziokultureller Normierung gestellt. Faktisch wurde damit eine strikte Trennlinie zwischen Biologie (sex) als ,Natur‘ und ,gender‘ als ,Kultur‘ gezogen, wobei die Biologie (Natur) als unveränderlich und statisch galt, die kulturellen Ausprägungen dagegen als kulturell und historisch spezifisch und daher wandelbar. Aus Frauenbewegung und Frauenforschung wanderte der Begriff in die Sozialwissenschaften ein. War in den 1960er Jahren in den entsprechenden Forschungen noch völlig ungebrochen von ,sex-roles‘ die Rede, wenn es um Frauen oder – selten um Männer – im Hinblick auf ihre Stellung in der Familie ging, so war seit Anfang der 70er Jahre fast nur noch von „gender-roles“ die Rede, ohne dass sich damit das Thema, geschweige die Denkweise verändert hätte. Das sex/gender-Modell bot die Möglichkeit, alle Frauen über das biologische Geschlecht in einer Kategorie zusammenzufassen, zugleich aber Unterschiede zwischen ihnen anzuerkennen und nicht zu ignorieren oder gar zu negieren. Im Englischen wurde durch die Begriffe ,female‘ und ,male‘ die biologisch verankerte Trennung (sex) angesprochen, mit ,feminine‘ und ,masculine‘ dagegen die Dimension der soziokulturellen Prägung (gender). Im Deutschen haben wir keine vergleichbare Trennung. Hier behilft man sich mit der Unterscheidung von ,biologischem‘ und ,sozialem‘ Geschlecht sowie mit der von ,Weiblichkeit‘ und ,Männlichkeit‘ vs. ,Frauen‘ und ,Männer‘. Im deutschsprachigen Raum hatten sex und gender zunächst keinen zu der angelsächsischen Debatte vergleichbaren Stellenwert. Hier stritt man zu dieser Zeit um „Differenz und Gleichheit“ (vgl. Kap. 5.1.1), wobei in dieser Diskussion noch sehr viel stärker als im sex/genderModell von einem Kollektivsubjekt ‚Frau‘ ausgegangen wurde, i. e. von der Annahme, dass qua Geschlechtszugehörigkeit Fähigkeiten, Eigenschaften oder auch Interessen entwickelt und ausgeprägt werden, die allen Frauen gemeinsam sind und über die die Geschlechter

7.1 ,Sex‘ und ,gender‘

191

eindeutig voneinander getrennt werden könnten. Auch hier wurde jedoch die Argumentation, „Biologie sei Schicksal“, und die (soziale) Stellung der Frau sei Ausdruck ihrer ,Natur‘, nachdrücklich abgewehrt. Nicht ,Natur‘ sondern ,Sozialisation‘ galt als ,Ursache‘ für die beobachtbaren Geschlechterunterschiede. Implizit war die sex/gender-Trennung daher in der Gleichheits-/Differenz-Debatte durchaus enthalten, denn in ihr ging es auch darum, durch den Abbau von soziokulturellen Normierungen und Benachteiligungen mehr „Gleichheit“ zu erreichen. Als Problem kristallisierte sich jedoch immer mehr heraus, dass Gleichheit im gängigen Verständnis i. d. R. als bloße „Angleichung an die Mannesstellung“ (Gerhard 1994, S. 24) interpretiert und als solche abgelehnt wurde. Ein beiden Geschlechtern übergeordneter Bezugspunkt für einen Vergleich – ein Tertium comparationis – aber stand (und steht) nicht zur Verfügung. Ein solches ,Tertium comparationis‘ wäre im ,der Mensch‘ – dieser aber wird männlich gedacht. Die Diskussion um Gleichheit und Differenz verstrickte sich daher zunehmend in dem Paradox, dass die Geschlechterdebatte von Anfang an – seit der Aufklärung – begleitete, dass nämlich die Betonung der Differenz genau das verfestigt, was Ausgangspunkt der Kritik war: Die Besonderung der Frauen zum „anderen Geschlecht“ und ihr Ausschluss aus dem „Allgemeinmenschlichen“. Auch hier wurde ähnlich wie im sex/genderModell der Tatbestand der Zweigeschlechtlichkeit nicht angezweifelt und der Körper zur ‚biologischen‘ oder ‚natürlichen‘ Grundlage, die als solche einem sozialwissenschaftlichen Zugang weitgehend entzogen war.

7.1.1

Auch „sex“ ist Kultur

Diese Denkweise erzeugte jedoch immer mehr Unbehagen. Zweifel an einer (neuen) Essentialisierung ‚der‘ Differenz, die Nicht-Reflexion des Verhältnisses von Natur und Kultur sowie der Protest gegen das Unsichtbarmachen der Differenzen unter Frauen ließen neue Fragen entstehen, Fragen, in denen die Polarisierung und die Binarität der Kategorie selbst zum Thema gemacht wurden. Wie kommt es zu dieser Zweiteilung der Menschheit? Und ist diese Zweiteilung wirklich so natürlich und universell gültig, wie in den bisherigen Diskussionen unterstellt wurde? Genährt wurde dieses Unbehagen von einer ganzen Reihe soziologischer, historischer und kulturanthropologischer Arbeiten, in denen aufgewiesen wurde, dass auch der Körper und das sog. „biologische Geschlecht“ (sex) durchaus historischen und kulturellen Definitionen unterliegen. Dennoch haben im deutschsprachigen Raum erst Anfang der 1990er Jahre vor allem zwei Publikationen eine „diskursive Explosion“ (BeckerSchmidt/Knapp 2000, S. 67) ausgelöst: Judith Butlers „Das Unbehagen der Geschlechter“ (1991 [1990]; vgl. Kap. 7.3.2) sowie der Aufsatz „Wie Geschlechter gemacht werden. Die soziale Konstruktion der Zweigeschlechtlichkeit und ihre Reifizierung in der Frauenforschung“ (Gildemeister/Wetterer 1992). Letzterer hätte vermutlich nicht die gleiche Aufmerksamkeit erfahren, wenn nicht durch das Buch von Judith Butler eine gezielte (politisch motivierte) Provokation in die Welt gesetzt worden wäre, die der sozialen Bewegung der Frauen den Boden zu entziehen schien: Feminismus und feministische Politik dürfe sich nicht auf Frauen als „Kollektivsubjekt“ beziehen, da die Kategorie „Frau“ lediglich eine Verdinglichung herrschender Geschlechterbeziehungen darstellen (zur Debatte: Feministische Studien, 2/1993). Bezogen auf den deutschsprachigen Raum gebührt Carol Hagemann-White das Verdienst, diese Wendung angestoßen zu haben. Bereits mit dem Aufsatz „Wir werden nicht zweigeschlechtlich geboren …“ (1988) gab sie der feministischen Diskussion einen grundlegend

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7 Zweigeschlechtlichkeit als Problem

neuen Impuls, der jedoch erst im Kontext der „diskursiven Explosion“ aufgegriffen wurde. Mit der Formulierung nahm sie einen viel gelesenen Buchtitel der damaligen Zeit auf: „Wir werden nicht als Mädchen geboren – wir werden dazu gemacht“ (Scheu 1977). Darin ging es der Autorin um den Nachweis, dass durch die „geschlechtsspezifische Sozialisation“ von Mädchen und Frauen Unterschiede zwischen den Geschlechtern entstünden und es sich bei „weiblichem Verhalten“ um „bloß anerzogene“ Verhaltensstile handele. Diesem Titel diente wiederum Simone de Beauvoirs Satz „Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es“ (de Beauvoir 1951, S. 264) als Hintergrund. In beiden Formulierungen stand das Gewordensein im Mittelpunkt der Betrachtung. Diese Betonung des Werdens und Gewordenseins richtete sich explizit gegen die Annahme biologisch oder natürlich bedingter Geschlechtsunterschiede. Die Geschlechtertrennung als solche war weder bei Simone de Beauvoir noch in den Arbeiten zur „geschlechtsspezifischen Sozialisation“ ein Thema – im Gegenteil: Sie bildete die Grundlage für diese Arbeiten. Mit ihrer Formulierung „Wir werden nicht zweigeschlechtlich geboren …“ setzte Hagemann-White sehr viel grundsätzlicher ein als die Frage nach dem „Gewordensein“ von Frauen (und Männern) zunächst nahe gelegt hatte. Ihr ging es um die Frage, wie das zweigeschlechtliche Klassifikationssystem im Sozialisationsprozess erworben und angeeignet wird. Dahinter steht auch die Frage: In welcher Weise wird die Definition der Zweigeschlechtlichkeit vollzogen und sozial durchgesetzt? „Die Geschlechterdifferenz“ wird damit selber zu einem erklärungsbedürftigen Phänomen. Vor diesem Hintergrund konnten gängige, vor allem aus Biologie und Medizin stammende Erklärungsmuster überprüft und durch kulturanthropologische und historische Untersuchungen relativiert werden.

7.1.2

Grenzen biologischer Erklärungen

Seit dem 19. Jahrhundert wird die grundsätzliche Verschiedenheit der weiblichen Körper in Biologie und Medizin herausgestrichen: Frauen sind „anders“ (vgl. Kap. 2.1.6). Dabei ist mit Ausnahme der Zeugungsorgane und -hormone das physische Grundmaterial von weiblichen und männlichen Körpern ziemlich gleich. Dennoch hält sich der Glaube an die „biologische Verursachung“ von Geschlechterunterschieden und Geschlechterungleichheit außerordentlich hartnäckig. Eine genaue Sichtung der biologischen Literatur zeigt auch heute, dass Biologie und Medizin keineswegs einlösen, was das Alltagsbewusstsein und mit ihm manche Sozialwissenschaftler/innen als Vorgabe unterstellen: dass es zwei und nur zwei Geschlechter gibt, die in Eigenschaften, Fähigkeiten und Personenprofilen einander polar gegenüberstehen. Als Beleg für diese weitreichende Behauptung wird i. d. R. auf die Bedeutung der Zeugungsorgane und der Fortpflanzung verwiesen (vgl. Kap. 9.4). Buchstabierte man diese Behauptung aus, so müsste eine auf der geschlechtlichen Fortpflanzung (und dem sexuellen Dimorphismus) beruhende konsequent biologische Definition von Geschlecht folgende Elemente enthalten: „geeignete Sexualorgane, geeignete sekundäre und tertiäre Geschlechtsmerkmale, geeignetes Verhalten, um die Erwachsenenrolle zu lernen, die Fähigkeit, einen Partner anzuziehen, die Fähigkeit, den Geschlechtsakt adäquat und hinreichend oft durchzuführen, die körperliche Fähigkeit zur Befruchtung, die Fähigkeit lebende Kinder zu gebären und deren Leben zu erhalten“ (Wellner/Brodda 1979 zit. nach HagemannWhite 1984, S. 32).

7.1 ,Sex‘ und ,gender‘

193

Nach einer solchen Definition aber bliebe wahrscheinlich ein Viertel der Bevölkerung ohne Geschlechtszuordnung. Bezieht man die Geschlechterdefinition allein auf die körperlichen Merkmale, dann entwerfen Biologie, Physiologie und Endokrinologie ohnehin ein sehr viel differenzierteres Bild, demzufolge es eher eine Vielzahl an Geschlechtern gäbe. Chromosomengeschlecht, Keimdrüsengeschlecht, morphologisches Geschlecht und Hormongeschlecht erweisen sich weniger als entgegengesetzte, einander ausschließende Bestimmungsgrößen, sondern eher als Kontinua, die jeweils eher ein ‚mehr oder weniger‘ als ein ‚entweder/oder‘ nahelegen. Zudem stimmen die verschiedenen Faktoren, die zur Bestimmung des biologischen Geschlechts herangezogen werden können, weder notwendig miteinander überein noch sind diese Dimensionen in ihrer Wirkungsweise unabhängig von der jeweiligen Umwelt. So hat etwa Fausto-Sterling schon in den 1980er Jahren aufgezeigt, dass zum einen beide Geschlechter sogenannte „männliche“ und „weibliche“ Hormone hervorbringen und dass zum anderen die zur Erklärung von Verhaltensunterschieden in Anspruch genommenen Hormone sensitiv auf soziale Situationen reagieren, so dass die jeweilige soziale Situation die Hormonausschüttung ebenso beeinflusse wie der Hormonspiegel das jeweilige Verhalten (Fausto-Sterling 1988 [1985]; Palm 2010; Ebeling 2006b). Auch bei der kritischen Durchsicht (sozio)biologischer und verhaltensethologischer Literatur stellen sich Unklarheiten und Widersprüche ein: Oft wird aus „statistisch signifikanten Unterschieden“ auf reale Unterschiede im Verhalten der Geschlechter geschlossen. Dabei wird in jedem Statistikkurs den Studierenden beigebracht, dass auch statistisch signifikante Unterschiede keineswegs eindeutige Aussagen über die soziale Realität beinhalten. Jede Zweiteilung einer großen Stichprobe wird mit großer Wahrscheinlichkeit irgendwelche Unterschiede aufdecken – ganz gleich ob nach Geschlecht, Nord-Süd-Differenz, blond oder brünett, blauoder braunäugig kontrastiert wird. Weitaus interessanter als die Prüfung statistischer Befunde aber ist die Frage, warum gerade in dem mit der Kategorie Geschlecht angesprochenen Verhaltensbereich die menschliche Plastizität und Anpassungsfähigkeit an verschiedene Umwelten geringer sein soll als in anderen (Verhaltens)Bereichen. Vor allem in den soziobiologischen Arbeiten werden grundlegende Erkenntnisse der sozialen Anthropologie systematisch ausgeklammert. Anstelle von Instinktentbundenheit und der für die Menschwerdung grundlegenden Intersubjektivität (vgl. Kap. 3.4.1) wird dann, wenn es um das Verhalten der Geschlechter geht, von hormongesteuerten, auf die Fortpflanzung der Gattung bezogenen Verhaltensstilen gesprochen. Es wird i. d. R. nicht einmal versucht, zu erklären, warum diese Verhaltensbereiche als weniger kulturell geformt gelten sollen als andere – vielmehr ist beim Thema „Geschlechterunterschiede“ der unvermittelte Sprung in die Steinzeit und den dort angeblich evolutionär verankerten Verhaltensprogrammen sehr verbreitet. Das sagt aber nichts darüber aus, ob er auch angemessen ist. Die These einer linearen Evolution geschlechtstypischen Verhaltens oder die einer genetischen Vererbbarkeit ist de facto empirisch nicht zu überprüfen: Mit ihrer Geburt treten Menschen in ganz unterschiedliche Umwelten ein und werden in ihrem Verhalten durch diese Umwelt geformt und geprägt. Untersuchungen weisen immer wieder auf, dass Unterschiede zwischen den Geschlechtern sehr viel geringer ausgeprägt sind als Unterschiede innerhalb eines Geschlechts (so schon HagemannWhite 1984; Nunner-Winkler/Wobbe 2007). Lässt man die Ergebnisse der kritischen Überprüfung biologischer und medizinischer Befunde Revue passieren, so stellt sich als Einsicht ein, dass es „keine zufrieden stellende humanbiologische Definition der Geschlechtszugehörigkeit (gibt), die die Postulate der Alltags-

194

7 Zweigeschlechtlichkeit als Problem

theorien einlösen würde“ (Hagemann-White 1988, S. 228). Und selbst wenn es sie gäbe: Was wäre ihr Status hinsichtlich ihrer Bedeutung für das Zusammenleben von Menschen? Es gibt ja eine Reihe ‚natürlicher‘ Unterschiede – Größe, Körperbau, Augen- und Haarfarbe, Nasenformen – an die sich keine oder nur eine sehr geringe soziale Bedeutung geheftet hat. Für das mit dem „sexuellen Dimorphismus“ verbundene (soziale) Gleichheitstabu, demzufolge Frauen und Männer verschieden zu sein haben, gibt es keine Entsprechung.

7.1.3

Kulturelle Variationen der Geschlechterklassifikation

Schon mehrfach haben wir auf kulturanthropologische Forschungen verwiesen, die die große Spannweite dessen, was mit ,weiblich‘ und ,männlich‘ gemeint sein kann, sehr anschaulich werden lassen. Das ist aber noch nicht alles. Zwar kennen wir keine Kultur, die sich nicht der Geschlechterunterscheidung bedient, aber in anderen Kulturen sind sehr viel differenziertere Formen institutionalisiert, die nicht in der einfachen Dichotomie männlich/weiblich aufgehen. Für deren Mitglieder gibt es Möglichkeiten, die Grenzen der Sub-Kategorien ‚weiblich‘ und ‚männlich‘ zu überschreiten. Im interkulturellen Vergleich enthüllt sich eine Vielfalt, in der nicht nur die inhaltliche Füllung der Kategorien weiblich/männlich hochgradig variabel ist, sondern auch die binär-polarisierende Gestalt. Andere Kulturen kennen nicht nur zwei, sondern auch drei oder vier Geschlechter, z. B. die ,Berdache‘ in nordamerikanischen Indianergesellschaften, Hirjas in Indien, ‚Ladyboys‘ (kathoeys) in Thailand, Xaniths in Oman, ‚Mannfrauen‘ in Albanien u. v. m. (Herdt 2003; Roscoe 2000; Schröter 2002). Die Studien dazu zeigen, dass sich die Unterscheidungen nicht auf anatomisch-physiologische Unterschiede beziehen müssen, sondern die Art des Tätigseins in den Vordergrund gestellt werden kann. Wenn z. B. die primäre Bestimmung von Männlichkeit darin liegt zu jagen oder zu kämpfen, dann ist die Person, die primär diesen Tätigkeiten nachgeht, männlich, auch wenn ihre Anatomie sie in unserem Sinne als ‚weiblich‘ ausweisen würde. Das ist für uns schwer vorstellbar: Bspw. muss ein Mann sozial gerade dann als Mann erkennbar sein, wenn er ‚weibliche‘ Arbeiten verrichtet, z. B. im Kindergarten als Erzieher mit kleinen Kindern umgeht. Ein Mensch mit physiologisch männlichen Merkmalen, dessen Geschlechtsdarstellung uneindeutig ist, würde in der Regel abgelehnt werden und vermutlich gar keine Stelle als Erzieher finden. Geschlechtskategorien gelten dort, wo die Art des Tätigseins für die Geschlechtseinteilung entscheidend ist, nicht als zeitlich konsistent. So können z. B. Frauen nach der Menopause in den Männerstatus eintreten (Behrend 1988). Gerade in vielen (sog. einfachen) Gesellschaften erweist sich Geschlechtszugehörigkeit im Lebenslauf als sehr viel komplexer organisiert, als wir es uns vorstellen können (vgl. Kap. 9.1.2). Auch Geschlechtswechsel sind möglich: So kann eine anatomische Frau nach entsprechenden Zeremonien zum Mann werden, eine andere Frau heiraten und Kinder haben, die qua Status gemeinsame Kinder sind. Lässt man diese Ergebnisse Revue passieren, so zieht sich durch die kulturanthropologischen Forschungen vor allem die Erkenntnis, dass nicht nur ,gender‘, sondern auch ,sex‘ nicht an ein biologisches Substrat gebunden sind und dass es ‚die‘ menschliche Physis ‚an sich‘ nicht gibt. Menschliche Physiologie erweist sich vielmehr als deutungsoffen und ist – empirisch nachweisbar – mit sehr unterschiedlichen Bedeutungen und mit sehr unterschiedlichem Sinn zu belegen (im Überblick: Ortner/Whitehead 1981; Kessler/McKenna 1978).

7.1 ,Sex‘ und ,gender‘

7.1.4

195

Historizität der Kategorie Geschlecht

Auch historische Untersuchungen weisen in diese Richtung und stützen die Befunde der Kulturanthropologie. So hatte z. B. Thomas Laqueur (1992) in Bezug auf die medizinische Anatomie der Antike und des Mittelalters herausgearbeitet, dass zu diesen Zeiten, also über 2000 Jahre, das „Eingeschlechtmodell“ vorherrschend war, in dem Frauen als anatomisch „umgekehrte“, minderwertige Männer konzipiert waren. Die weiblichen Genitalien wurden als nach innen gewendete Version der männlichen angesehen, darin waren sie den männlichen unterlegen, als solche aber ,gleich‘. Frauen wurden damit als graduell unterschiedlich und nicht qualitativ different angesehen. Dieses hierarchische Geschlechtermodell wurde gebrochen durch die Zugehörigkeit zu einem Stand: So war ein adliger Mann einer adligen Frau in sozialer, rechtlicher und moralischer Hinsicht näher (und ähnlicher) als einem Mann aus der Bauernschaft oder dem dritten Stand. Innerhalb des Standes waren Männer Frauen übergeordnet. Das war jedoch rechtlich und moralisch begründet und nicht ‚biologisch‘. Nicht zuletzt deswegen konnten im Mittelalter und der frühen Neuzeit Hermaphroditen – heute nennt man sie „intersexuell“ – ihre Geschlechtszugehörigkeit wählen. Voraussetzung war lediglich, dass sie den entsprechenden sozialen Platz einnahmen und die daran gerichteten Erwartungen vollständig erfüllten. Die Verankerung von Geschlecht in einem biologisch verstandenen Körper machte diese Praxis unmöglich: Eine eigene Wahl war ihnen nun nicht mehr möglich, stattdessen entschieden nun medizinische ‚Experten‘ über ihre ,wahre‘ Geschlechtszugehörigkeit (Barbin/Foucault 1998). Wie wir in den Anfangskapiteln beschrieben haben, entstanden erst parallel zur europäischen Aufklärung Vorstellungen einer in der Natur begründeten Polarität, einer grundlegenden, nicht zu überbrückenden qualitativen Differenz der Geschlechter (vgl. Kap. 2.1). Der Wechsel vom ‚eingeschlechtlichen‘ Modell zum ‚Zweigeschlechtermodell‘ der Neuzeit, in dem ‚die Frau‘ als grundsätzlich unterschiedlich vom Mann gedacht wird, kann dabei nicht einfach auf wissenschaftliche Entdeckungen und besseres wissenschaftliches Wissen zurückgeführt werden. Vielmehr forcierten komplexe, ineinander verflochtene gesellschaftliche und kulturelle Prozesse diesen Wandel im europäischen Kontext. Claudia Honegger (1991) zeigt detailliert auf, wie zwischen 1750 und 1850 in den Humanwissenschaften (vor allem in Medizin und Anatomie) eine „Theorie der Frau“ entsteht und mit ihr eine normativ aufgeladene Theorie der Geschlechtertrennung, in deren Zentrum die Gebärfähigkeit steht. „Psychische Eigenthümlichkeiten“ werden hier unmittelbar aus dem Somatischen abgeleitet: „Alles, was wir an dem wahren Weibe Weibliches bewundern und verehren, ist nur eine Dependenz des Eierstocks“ (Virchow zit. nach Honegger 1991, S. 210; vgl. auch Kap. 2.1.6). Die soziale Vorstellung einer Geschlechterpolarität wurde nicht nur in die Wissenschaften, die sich mit Menschen beschäftigten, hineingetragen. Londa Schiebingers Fallstudien zur Klassifikation von Pflanzen und Tieren im 18. Jahrhundert (1995 [1993]) analysieren detailliert, wie gesellschaftliche Metaphern in die wissenschaftliche Analyse der „Natur“ hineingewandert sind (vgl. Kap. 3.1.1). Liest man die wissenschaftshistorischen Arbeiten von Donna gewandert sind Haraway zur Primatenforschung (1989; 1995), in der konzeptionell die Grenzlinien zwischen Mensch und Nicht-Mensch, Kultur und Natur ausgelotet werden, so zeigt sich auch hier die Historizität der jeweiligen „großen Erzählungen“. Haraways Ergebnis ist, dass die lange Zeit gültige These „‚männlicher‘ kulturschaffender Aktivität und ‚weiblicher‘ naturnaher Passivität“ sich weder dazu eigne, Theorien zu Geschlecht und Sexualität zu untermauern noch dazu, allgemeine evolutionäre Prozesse zu erfassen. Diese und noch eine

196

7 Zweigeschlechtlichkeit als Problem

ganze Reihe anderer Untersuchungen wiesen sehr nachdrücklich darauf hin, dass sich das Wissen über und die Konzeption von Geschlecht im historischen Verlauf immer wieder verändert hat. Selbst das Körperempfinden, also die Art und Weise, wie der eigene Körper (und damit auch Geschlechtlichkeit) erfahren wird, variiert in Raum und Zeit (Duden 1987).

7.1.5

Konstruktion von Geschlecht: eine Idee – viele Stimmen

In der Soziologie, so wird gesagt, gehöre es zum „common sense“ anzunehmen, dass die Geschlechterdifferenz „sozial konstruiert“ sei (Hirschauer 1994, S. 668). Aber was ist damit gemeint? Bei näherem Hinschauen erweist sich dieser „common sense“ als recht brüchig, denn oft werden mit diesem Theorem lediglich unterschiedliche Rollenerwartungen an Frauen und Männer angesprochen, vor deren Hintergrund Fähigkeiten und Eigenschaften stereotypisiert wahrgenommen werden. Dazu braucht es nicht unbedingt Soziologie: Auch für den Durchschnittsbürger ist unmittelbar einsichtig, dass Lippenstift, Make-up und Barbie-Wahn ebenso wenig wie das Kopftuchgebot zur ‚Natur der Frau‘ gehören, sondern kulturelle Variationen in der Ausgestaltung von Geschlechterbildern sind. Es hat mit dem Grundgedanken einer sozialen Konstruktion von Geschlecht jedoch nichts zu tun. Entscheidend ist hier vielmehr, dass die Geschlechtertrennung selbst zu einem erklärungsbedürftigen Phänomen geworden ist. Wie ist es zur sozial so folgenreichen Zweiteilung der Menschen in ‚Frauen‘ und ‚Männer‘ gekommen und wie stellt sich diese Zweiteilung tagtäglich neu her? Zu dieser Frage haben sich in den letzten beiden Jahrzehnten sehr unterschiedliche theoretische Perspektiven entwickelt (vgl. Gildemeister 2009). Von ihrer Theoriearchitektur sind sie durchaus verschieden aufgebaut; auf dieser Ebene haben interaktionstheoretische und diskurstheoretische Zugänge etwa wenig gemein. Dennoch gibt es zwischen ihnen nicht nur Unterschiede, sondern auch einige gemeinsame Ansatzpunkte. Implizit oder explizit geht es in diesen Ansätzen darum, die Frage nach der Relationierung von Natur und Kultur in Bezug auf die Kategorie Geschlecht neu aufzuwerfen. Mehr oder weniger durchgängig wird die Vorstellung angegriffen, eine im Körperlichen begründete Zweigeschlechtlichkeit (,sex‘) sei die ‚natürliche‘ Grundlage der Geschlechtertrennung. Auch die der binären Geschlechtertrennung implizite Ausgrenzung und Pathologisierung anderer als heterosexueller Formen von Sexualität wird (mehr oder weniger) ausdrücklich problematisiert. Im Zentrum der Kritik steht durchgängig die der bisherigen Frauenforschung zugrunde liegende Vorstellung eines mimetischen Verhältnisses von ,sex‘ und ,gender‘. Mimetisch heißt, dass hier unterstellt wurde, dass den zwei ,sexes‘ auch zwei und nur zwei gender entsprechen – eben das Weibliche und das Männliche. Eine Kontingenz zwischen biologisch bestimmtem sex und kulturell erzeugtem gender ist nicht vorgesehen: Eine Person mit weiblicher Geschlechtszugehörigkeit (female sex) kann nur eine weibliche Geschlechtsidentität (gender) ausbilden, eine Person mit männlicher Geschlechtszugehörigkeit (male sex) nur eine männliche. Überkreuzungen und Zwischenformen galten als pathologisch. Die Ablehnung eines solchen mimetischen Verhältnisses von sex und gender lenkt die Aufmerksamkeit systematisch darauf, dass dieser Gegenstand so wie andere Gegenstände der Sozialwissenschaften auch sinnhaft strukturiert ist und es jenseits dieser sinnhaften Strukturierung kein Geschlecht ‚an sich‘ gibt. In den konstruktionstheoretischen Ansätzen geht es also zunächst vor allem darum, dass es unzulässig ist, von nur einem Punkt auszugehen (sex). Vielmehr müsse in der Analyse von sex und gender das Spannungsfeld mehrdimensionaler, wechselseitig interdependenter Be-

7.1 ,Sex‘ und ,gender‘

197

züge thematisch werden. Damit wird in einem grundsätzlichen Sinne die Trennung von Natur und Kultur dahingehend problematisiert, dass es unmöglich sei, das eine ohne das andere zu betrachten, da sie einander wechselseitig konstituieren. Eine Folgerung ist, dass es eine einfache, ‚natürliche‘, von der Dimension des Sozialen freie Wahrnehmung und Betrachtung des Körpers nicht geben kann: Der Körper ist nur als wahrgenommener sozial relevant. Das bedeutet umgekehrt aber nicht, dass das Körperliche nur sozial sei – das ist ein weit verbreitetes Missverständnis in der Rezeption der These einer sozialen Konstruktion von Geschlecht. Gemeint ist vielmehr, dass aus am Körper verorteten Genitalien noch keine Geschlechter und insbesondere noch keine Geschlechterordnung entsteht, sondern erst aus einer Geschlechterordnung heraus Genitalien mit Bedeutung aufgeladen und zu „Geschlechtszeichen“ werden können. Daher wird die alleinige Konzentration auf „gender“ in der Frauenund Geschlechterforschung auch kritisiert, denn hier hatte sich „sex“ zu einer Art Leerstelle entwickelt, so als ob menschliche Anatomie und Physiologie keinerlei Bedeutung für das soziale Schicksal einer Person habe. Nur weil Körperlichkeit und Leiblichkeit erst gar nicht zum Thema gemacht wurden, konnte zwischen dem Reich der „Natur“ und dem der „Kultur“ eine so strikte Trennlinie gezogen werden (Scott 2001). Der Grundgedanke in den konstruktionstheoretischen Ansätzen ist also vergleichsweise schlicht und er ist im Grunde auch nicht neu. Diese Art der Thematisierung – die Art der Relationierung von „Natur“ und „Kultur“ – kann vielmehr auf eine lange Tradition in der Anthropologie und der Soziologie zurückblicken. Wenn wir weder zweigeschlechtlich geboren werden noch eine äußere Welt die Teilung in zwei Geschlechter erzwingt, was geschieht dann in diesem Prozess sozialer Konstruktion? Mit diesen Fragen verabschieden wir uns •

von dem Denken in Unterschieden, in dessen Folge wir annehmen, dass mit einer physiologischen Unterscheidung eindeutig benennbare Fähigkeiten, Eigenschaften und Motivationen verbunden sind, • von der Annahme, Geschlecht sei ein Merkmal, das ‚in‘ der Person verankert ist und das in einer direkten (kausalen) Beziehung zur sozialen Verortung dieser Person steht, • von dem Glauben, dass die Geschlechterunterscheidung ‚in der Natur‘ begründet ist und empirisch zu konstatierende Unterschiede zwischen Personen dadurch erklärt werden können. Wir erwarten von unseren Leser/innen, dass sie bereit sind, diese Denkgewohnheiten auszusetzen und wissen dabei durchaus, dass eine solche Erwartung immer noch eine Zumutung für das ‚normale‘ alltagsweltliche Wissen ist. Diese Art der Zumutung hat freilich einen erkenntnistheoretischen Horizont und wer sich auf wissenschaftliches Arbeiten einlässt, dem wird sie nicht erspart bleiben. Es scheint zu den Bedingungen des Mensch-Seins zu gehören, dass Menschen sich auf Grund bestimmter Wertungen ein Bild von der Wirklichkeit schaffen, dann aber verleugnen, zu dieser Konstruktion (diesem Bild) auch nur einen Beitrag geleistet zu haben. Stattdessen wird das Produkt der menschlichen Erfindungsgabe als ‚objektiv gegeben‘ vorgestellt. Erst dann, wenn die mehr oder weniger zerbrechlichen Konventionen des Denkens nicht mehr als solche, nämlich als Konventionen, erkennbar sind, sondern sie in der ‚Natur‘ begründet werden können, scheint diesem Bedürfnis nach Objektivierung Genüge getan (vgl. dazu ausführlich z. B. Douglas 1991). Solche eingebildeten Gewissheiten gab und gibt es viele. Insbesondere die Sozial- und Kulturwissenschaften sind seit ihren Anfängen damit befasst, Licht in dieses Dunkel zu bringen, indem sie den Beitrag des Menschen zu in Weltbildern und in der ‚Natur‘ verankerten ,unumstößlichen‘ Gewissheiten explizit

198

7 Zweigeschlechtlichkeit als Problem

machen. Das einzig Neue, das in den letzten beiden Jahrzehnten diesbezüglich geschehen ist, ist, dass diese Perspektive systematisch auf die Kategorie Geschlecht bezogen wurde. Die wissenschaftlichen Werkzeuge waren dafür seit geraumer Zeit vorhanden – das zeigen nicht zuletzt die bisher dargestellten Ansätze. Aber sie mussten aufgegriffen, auf den Gegenstand bezogen und darin Gehör finden. Diese Bedingungen waren offensichtlich im deutschsprachigen Raum erst mit den 1990er Jahren gegeben. Erst zu dieser Zeit konnte Geschlecht aus der mehr oder weniger reflexartigen Bindung an Familie gelöst werden und auch die Beziehung zwischen Geschlecht und Generativität neu formuliert werden: Nicht die angenommene Gebärfähigkeit ist die Grundlage für einen separierten und Frauen tendenziell benachteiligenden Status, sondern die Modi der Konstruktion von Geschlecht machen die „Vermutung der Möglichkeit des Gebärens“ zu einer Frauen benachteiligenden Größe (vgl. Lorber 1991, S. 356). Die überlieferte Vorstellung einer Welt von zwei und nur zwei Geschlechtern reicht aber immer weniger aus, um die sich vollziehenden Veränderungen und Umbrüche in der sozialen Wirklichkeit sowie die auf diese soziale Wirklichkeit bezogenen Veränderungsimpulse adäquat zu erfassen. Denkanstöße und weiterführende Fragen: Medizinsoziologische Studien zeigen, dass mit Zulassung eines neuen Medikaments und der Werbung dafür die dazu passenden Diagnosen deutlich ansteigen. Sehen Sie hier Parallelen zur Zweigeschlechtlichkeit?

7.2

Interaktive Erzeugung von Geschlecht

Interaktionen stellen im Rahmen des interpretativen Paradigmas der Soziologie die kleinsten Bausteine des Sozialen dar, gewissermaßen seine molekulare Struktur. Nicht das einzelne Individuum mit seinen Motiven, Handlungsentwürfen und real vollzogenen Handlungen steht hier im Mittelpunkt, sondern soziale Situationen, d. h. das, was geschieht, wenn zwei oder mehrere Personen gleichzeitig anwesend sind, die sich wechselseitig wahrnehmen und damit auf einander reagieren (müssen). Wenn diese Reaktionen nicht wie bei Tieren genetisch vorgeformt sind, dann besteht in jeder Situation ein Überschuss an Möglichkeiten, der nach Abstimmung verlangt. Dies geschieht über die symbolisch vermittelte Interaktion (vgl. dazu ausführlich Kap. 3.4.1 und 4.4). Interaktion erweist sich bei näherem Hinsehen als ein sehr voraussetzungsreicher und störanfälliger Prozess. Anders als im Alltagsverständnis geht es nicht einfach darum, dass Einzelpersonen als Frauen oder als Männer in Kontakt treten und dann mit- oder auch gegeneinander handeln. Stattdessen wird Interaktion als ein formender Prozess eigener Art verstanden, als eine „Realität sui generis“, in der spezifische Zwänge und Regeln wirksam werden, die nicht aus anderen Dimensionen sozialer Realität hergeleitet werden können. Entsprechend liegt in der Analyse sozialer Interaktionen ein zentraler Schlüssel zur Analyse sozialer Wirklichkeit. Geschlecht kommt im Kontext der Interaktionstheorien nicht primär als historisch gewordenes Phänomen in den Blick, sondern als etwas, das in alltäglicher sozialer Praxis im Medium der Interaktion hergestellt oder eben ‚konstruiert‘ wird. Viele diesbezügliche Erkenntnisse sind aus der Erforschung des Geschlechtswechsels bei Transsexuellen gewonnen worden (Garfinkel 1967; Kessler/McKenna 1978; Hirschauer 1993; Lindemann 1993). Transsexuelle befinden sich für die ‚normalen‘ Betrachter/innen in einem Gegensatz zu den grundlegenden

7.2 Interaktive Erzeugung von Geschlecht

199

Selbstverständlichkeiten des Alltags, dass die Geschlechtszugehörigkeit angeboren ist und sich naturwüchsig in der Lebensgeschichte realisiert und dabei nicht verändert werden kann. In diese scheinbar einfache Unterstellung sind drei Annahmen eingelassen (Kessler/McKenna 1978, S. 113): • •

es gibt zwei und nur zwei Geschlechter (Dichotomizitätsannahme); die Geschlechtszugehörigkeit ist am Körper ablesbar; essentielle Zeichen sind die Genitalien (Annahme der Naturhaftigkeit); • die Geschlechtszugehörigkeit gilt von der Geburt bis zum Tod, Abweichungen sind krankhaft oder (Theater)Spiel (Konstanzannahme). Transsexuelle scheinen diese Grundannahmen in Frage zu stellen. Sie wollen ihr ‚angeborenes‘ Geschlecht wechseln, sie betreiben diesen Wechsel nicht als Spiel oder Spaß und er ist auch keine Krankheit. Transsexuelle bewegen sich damit in einer Ausnahmesituation, die es Soziolog/innen erst ermöglicht, die für ein ‚normales‘ Alltagsleben konstitutiven Regeln und Methoden sichtbar werden zu lassen. Sowohl Prozesse der Darstellung als auch Prozesse der Zuweisung von Geschlecht vollziehen sich in der Phase des Wechsels in einer Art Zeitlupe und können überhaupt erst dadurch beobachtet und analysiert werden. Genau das macht die theoriestrategische Bedeutung der Transsexuellenforschung aus, in der es um nicht weniger als die Frage geht, wie der alltagsweltlich eingespielte „zweigeschlechtliche Erkennungsdienst“ (Tyrell 1986) operiert und welche Methoden wir anwenden, um eine zweigeschlechtliche Welt zu erzeugen.

7.2.1

Geschlecht als Darstellungsleistung

In der Fallstudie „Agnes“ untersuchte Harold Garfinkel (1967) den Prozess ihres „Passing“, i. e. jenen Prozess, in dem sie von ihrer Geburtsklassifikation ,männlich‘ zu der von ihr angestrebten Geschlechtszugehörigkeit ,weiblich‘ gelangt (vgl. Kap. 4.4.2). Einer der zentralen Verdienste dieser Studie liegt darin, die Unnachgiebigkeit und Widerständigkeit der sozialen Wirklichkeit gegenüber allen Versuchen aufzuzeigen, diesen Prozess des „Passing“ zu normalisieren oder in alltäglichen Abläufen zu routinisieren. Aus dieser Widerständigkeit folgert Garfinkel, dass eine identifizierbare Geschlechtszugehörigkeit („sexual status“) für alle alltäglichen Abläufe („daily affairs“) „omnirelevant“ ist. Damit ist gemeint, dass eine identifizierbare Geschlechtszugehörigkeit einen „invarianten, aber unbemerkten Hintergrund“ in den wechselhaften Situationen des alltäglichen Lebens darstellt. Sie ist damit latent in faktisch allen alltäglichen Abläufen gegenwärtig. Garfinkel zeigte in der Studie minutiös auf, was Agnes zu ihrer Zeit lernen musste, um so auftreten, handeln und sprechen zu können, dass sie in alltäglichen Situationen als weiblich „durchgehen“ konnte. Neben einer angemessenen Erscheinungsweise (Kleidung, Figur, Frisur, Make Up, Accessoires) musste sie die Fähigkeit erwerben, in ihren Bewegungen, in ihrem Sprechen, in ihrem gesamten Verhalten der angestrebten Kategorisierung als Frau so zu entsprechen, dass sie keinen Verdacht erregte. Dabei ging es nicht um einzeln trainierbare Verhaltensweisen, sondern um komplexe ineinander verwobene und aufeinander verweisende Muster von Weiblichkeit und Männlichkeit, die in jeweils situationsadäquater Weise im praktischen Handeln und Verhalten realisiert werden mussten. Agnes musste kontinuierlich die entsprechenden Praktiken zunächst wahrnehmen, sie musste sie analysieren und dann als ein Tun erlernen, ohne dass die anderen etwas von diesem Prozess – wahrnehmen, analysieren, umsetzen – mitbekommen. Dabei geht es in diesen Mustern von Männlichkeit

200

7 Zweigeschlechtlichkeit als Problem

und Weiblichkeit auch um asymmetrische Positionierungen in der Beziehung der Geschlechter. Agnes lernt, dass in der amerikanischen Mittelschicht der 1950er und beginnenden 60er Jahre Zurückhaltung, Dienstbarkeit und Subordination als ‚weibliche‘ Qualitäten gelten. Garfinkels Analyse des Prozesses von Agnes’ „Passing“ ist auf ihre Darstellungsleistungen bzw. auf ihren kontinuierlichen Erwerb von sozialen Praktiken für eine kompetente Darstellung konzentriert. Der Begriff der Darstellung lenkt die Aufmerksamkeit darauf, dass soziale Wirklichkeit nicht nur sprachförmig, sondern auch bildförmig verfasst ist, Handeln in Interaktionen immer auch eine „Schauseite“ hat: „Die soziale Ordnung wird auch gezeigt, d. h. in Darstellungen vollzogen“ (Hirschauer 1993, S. 39), so dass den Teilnehmern auch stets eine Wirklichkeit vor Augen geführt wird. Anders als primär sprachliches Wissen, durch das vor allem kognitive Funktionen (Erkennen, Begründen, Erklären etc.) gesteuert werden, unterläuft das Bild oft jene bewussten Wahrnehmungsprozesse und erzeugt eine „Anschaulichkeit und Augenfälligkeit sozialer Ordnung (…), die ungleich realitätsmächtiger ist, als es Diskurse sein können: über das, was sich zeigt, braucht man nicht zu sprechen“ (Hirschauer 1994, S. 673), eben: Das sieht man doch! Situativ angemessene Darstellungen sind damit nicht allein an ein „mentales Wissen“ gebunden, sondern an ein „praktisches Wissen“, an „körperliche Routinen“ (ebd.). Die Arbeiten von Garfinkel zu „Agnes“ haben eine wichtige Grundlage dafür gelegt, Alltagsvorstellungen von Geschlecht in Frage zu stellen. Dennoch hat sich zu Beginn der 1990er Jahre in den USA eine durchaus heftige Diskussion entwickelt, in der es u. a. um die „Komplizenschaft“ Garfinkels in dem Passing-Prozess von Agnes ging. Der Vorwurf lautete, dass Garfinkel selbst sich in der Haltung eines „männlichen Gegenübers“ zu Agnes verhalten, diesen Prozess aber nicht in seine Analyse einbezogen habe. „They all were passing“ schreibt etwa Rogers (1992), um darauf hinzuweisen, dass Garfinkel durch sein „männliches Verhalten“ ihr ihre Darstellung von Weiblichkeit erst ermöglicht habe. Diesen Vorwurf hat Zimmerman zurückgewiesen: „They were all doing gender, but they weren’t all passing“ (1992). „Passing“ beinhalte das Risiko der Aufdeckung und des Scheiterns, dem der Wissenschaftler nicht ausgesetzt gewesen sei. Bei dieser Diskussion wird übersehen, dass es nicht sein Ziel war, eine soziologische Geschlechtertheorie zu entwickeln. Diese Aufgabe haben sich erst die an ihn anschließenden Studien gestellt.

7.2.2

Attributionen von Geschlecht

Darstellungsleistungen müssen entziffert werden. In der weiteren Entwicklung der interaktionstheoretisch begründeten Ansätze hat daher die Geschlechterattribution in Interaktionen besondere Aufmerksamkeit gefunden. Dabei geht es zunächst nicht um Interaktion als solche, sondern um Symbole und Wissensbestände, die in Geschlechterattributionen verwendet werden. Dazu ein Beispiel: „Die Sache erinnert mich an einen Besuch in einem Computerladen vor einigen Jahren. Die Person, die meine Fragen beantwortete, war offensichtlich fachlich versiert. Ich konnte sie/ihn nicht als eine Frau oder einen Mann identifizieren. Wonach habe ich geschaut? (1) Barthaare: Sie/er war glatthäutig, aber einige Männer haben wenig oder gar keine Gesichtsbehaarung (das variiert nach ethnischer Zugehörigkeit: Indianer und Schwarze haben oft keine). (2) Busen: Sie/er trug ein loses Hemd, das von den Schultern herabhing. Und wie viele Frauen, die sich an ihre Adoleszenz in den 50er Jahren zu ihrer eigenen Beschämung erinnern, sind Frauen oft flachbrüstig.

7.2 Interaktive Erzeugung von Geschlecht

201

(3) Schultern: Seine/ihre waren schmal und rund für einen Mann, breit für eine Frau. (4) Hände: Lange und schlanke Finger, die Gelenke ein bisschen groß für eine Frau, klein für einen Mann. (5) Stimme: Mittlere Ebene, nicht ausdrucksstark für eine Frau, in keiner Weise übertrieben hoch wie es manchmal bei schwulen Männern vorkommt. (6) Sein/ihr Verhalten mir gegenüber: Es gab kein Zeichen, aus dem ich lesen konnte, ob die Person das gleiche Geschlecht hatte oder nicht. Es gab auch überhaupt keinen Hinweis, dass er/sie wusste, dass seine/ihre Geschlechtszugehörigkeit schwierig zu bestimmen war und obwohl ich es gern hätte wissen wollen, tat ich während wir über Computerpapier redeten alles, solche Fragen vor ihm/ihr zu verbergen, um ihn/sie nicht in Verlegenheit zu bringen. Ich ging, ohne die Geschlechtszugehörigkeit der Verkaufskraft herausgefunden zu haben und ich war (als Kind meiner Kultur) verwirrt über diese unbeantwortete Frage“ (Diane Margolis, persönliche Mitteilung, zit. nach West/Zimmerman 1987, S. 133 f., Übers. d. Verf.). Die meisten von uns kennen solche oder vergleichbare Situationen: Wir fühlen uns zutiefst irritiert, wenn eine Zuordnung nicht möglich erscheint. Es ist überaus peinlich, eine Person ,falsch‘ kategorisiert zu haben, da wir annehmen, dass eine falsche Kategorisierung oder allein schon nachzufragen äußerst beleidigend ist. In alltägliche Situationen ist die Erwartung eingelassen, dass wir eine angemessene visuelle Darstellung erwarten dürfen und umgekehrt der andere sich darauf verlassen kann, dass wir imstande sind, die (visuellen) Zeichen kompetent zu entziffern. Erst wenn diese Entzifferung nicht auf Anhieb gelingt, erst dann schauen wir wie im obigen Beispiel nach Indikatoren wie Bartwuchs, Busen, Körperbau, Stimme etc. Wenn D. Margolis sich noch nach „einigen Jahren“ (!) an diese Situation erinnert, so erinnert sie sich vermutlich vor allem an das Unbehagen, in welche Verlegenheit sie und die Verkaufskraft gekommen wären, wenn diese ihre Irritation bemerkt hätte. Nicht zuletzt daran wird vor allem der normative Charakter der sozialen Unterscheidungspraxis deutlich, der eben daraus folgt, dass eine eindeutige Geschlechtszugehörigkeit weniger einen de facto natürlichen als vielmehr einen „moralischen Tatbestand“ (vgl. Kap. 4.4.2) darstellt. Das Grundproblem dieser und vergleichbarer Situationen liegt darin, dass die im Alltagsdenken ,essentiellen Merkmale‘ – die Genitalien – ja in der Regel nicht sichtbar sind. Sie werden verdeckt und wir glauben fest, aus anderen Indikatoren schließen zu können, welche Genitalien der Mensch vor uns hat. Wir erwarten also, dass die Anderen uns interpretierbare Hinweise geben, ihre Geschlechtszugehörigkeit somit darstellen. Dazu liegen, wie am Beispiel oben deutlich wird, eine ganze Reihe von Hilfsmitteln bereit, die diese Darstellung übernehmen – Kleidung und Frisur, Stimme, Gesicht, aber auch Schmuck, Brillen, Parfüm, Farben, Tätigkeiten, Berufe, Werkzeuge und vieles andere mehr bekommen ein Geschlecht. Sie dienen als Ersatz, der uns glauben macht, die entsprechenden Genitalien existierten. Die Person bekommt so „kulturelle Genitalien“ zugewiesen (Kessler/McKenna 1978, S. 153). Offensichtlich basiert die Zuordnung zu einem Geschlecht also nicht auf einem einfachen „Sehen“, sondern stellt einen komplexen interaktiven Prozess dar, an dem sowohl die Person beteiligt ist, die die Zuordnung vornimmt als auch die, die zugeordnet wird. Gesteuert wird dieser Prozess durch das soziale Wissen über Geschlecht: Es gibt zwei und nur zwei Geschlechter, die naturhaft gegeben sind und im Lebensverlauf nicht verändert werden können. In dem Beispiel der Verkaufssituation im Computerladen wird nur eine Perspektive expliziert, die der Betrachterin. Sie könnte noch sehr viel mehr Indikatoren heranziehen, ohne dass sie sich ihrer Zuordnung wirklich sicher sein könnte: Ist die Verkaufskraft auch im Bereich der Hardware fachlich (technisch) kompetent? Geht sie in ihrer Freizeit einer ‚männli-

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7 Zweigeschlechtlichkeit als Problem

chen‘ oder ‚weiblichen‘ Sportart nach, hat sie ein ‚männliches‘ oder ‚weibliches‘ Hobby? Hat sie männliche oder weibliche Sexualpartner? Nicht einmal die Antwort auf die Frage, ob die Person männliche oder weibliche Genitalien hat, würde die Frage abschließend klären, ob wir es nun mit einem Mann oder einer Frau zu tun haben. Ist nämlich aufgrund anderer Indikatoren eine Attribution erfolgt, so wird die Zuordnung in der Regel auch dann nicht verändert, wenn sich neue Informationen einstellen, wir z. B. erfahren, dass die Person bezogen auf die Zuordnung über die ‚falschen‘ Genitalien verfügt. Ein zu einer weiblichen Erscheinung nicht passender Penis kann dann z. B. als ,Missbildung‘ interpretiert werden und als ein Geburtsfehler gelten. Ob wir es mit einem Mann oder einer Frau zu tun haben, entscheidet sich im Verlauf der Interaktion, wobei die spontane ,selbstevidente‘ Zuordnung zu Beginn von besonderer Bedeutung ist. „Gender“ – so sagt ein transsexueller Mann – „ist ein Anker. Wenn Leute einmal entschieden haben, was du bist, dann interpretieren sie alles, was Du tust, in diesem Licht“ (Kessler/McKenna 1978, S. 6, Übers. d. V.). In ihren Forschungen haben Kessler/McKenna versucht, diesen Attributionsprozess aufzuschlüsseln: Was tun wir, wenn wir jemanden als Frau/Mann einordnen? Die Attribution – so die Autorinnen – sei so grundlegend, dass daran abgelesen werden könne, in welcher Weise die Definition der Zweigeschlechtlichkeit vollzogen und sozial durchgesetzt wird. Sie nahmen damit an, dass es durch die Untersuchung des Attributionsprozesses möglich sei, die Methoden, durch die wir eine Welt von zwei und nur zwei Geschlechtern konstruieren, sichtbar zu machen (ebd., S. 18). Diese These wird in dem von ihnen angewandten 10-Punkte-Spiel besonders anschaulich entfaltet. In diesem Spiel soll eine Versuchsperson durch 10 Fragen herausfinden, welches Geschlecht eine Person ‚hat‘, die sich die Versuchsleiterin ausgedacht hat. Die Versuchsleiterin beantwortet alle Frage nur mit „ja“ oder „nein“, die Proband/innen müssen nach jeder Antwort eine Vermutung über die Geschlechtszugehörigkeit der ausgedachten Person äußern und diese Vermutung begründen. Der Trick dabei war: Diese ausgedachte Person hatte kein Geschlecht, die „ja – nein“ Antworten der Versuchsleiterin folgten einer vorher festgelegten Reihenfolge. Jeder Versuch, durch die Reihenfolge der Fragen ein konsistentes Bild der Person zu erzeugen, wurde so durchkreuzt. Trotzdem kamen nur zwei von über 40 teilnehmenden Probanden zu dem Schluss, es müsse sich bei der ausgedachten Person um einen Hermaphroditen oder eine Transsexuelle handeln, alle anderen fanden zu einer abschließenden Einschätzung, d. h. sie erzeugten trotz offenkundiger Inkonsistenzen eine sinnhafte Zuordnung: Es ist ein Mann/es ist eine Frau. Von dem Moment an, in dem eine Zuordnung erfolgte, setzte der oben beschriebene Prozess ein: Alle anderen Antworten wurden im Lichte dieser Annahme interpretiert und es wurde auch dort ‚Sinn‘ erzeugt, wo gravierende Widersprüche auftraten. Die einzigen Fragen, die ausgeschlossen wurden, waren: „Ist es eine Frau?“ und „Ist es ein Mann?“. Fragen nach den Genitalien wären daher möglich gewesen. In dem Experiment fragten jedoch nur sehr wenige nach den Genitalien. Es stellte sich heraus, dass die Frage nach den Genitalien als gleichbedeutend mit der Frage nach der Geschlechtszugehörigkeit angesehen wurde. Dabei hatte die Information über einen Penis offenbar eine andere Bedeutung als die über eine Vagina: „Penis ist gleichbedeutend mit männlich, aber Vagina ist nicht gleichbedeutend mit weiblich“ (ebd., S. 177, Übers. d. Verf.). Auf der Grundlage dieser Beobachtung stellten Kessler/McKenna in einer weiteren quasiexperimentellen Studie bei der von ihnen untersuchten Population (Frauen, Männer und Kinder in den USA der 1970er Jahre) fest, dass von ihren Probandinnen und Probanden keine positiven Merkmale genannt wurden, deren Fehlen zur Einstufung als „Nicht-Frau“ (Mann)

7.2 Interaktive Erzeugung von Geschlecht

203

führen würde. Umgekehrt werde aber eine Person nur dann als ,weiblich‘ wahrgenommen, wenn ,männliche‘ Zeichen abwesend sind. Kessler/McKenna folgerten daraus, dass Frauen nicht als ,Vagina-Besitzerinnen‘ wahrgenommen werden, sondern als „Penis-Lose“. Im Attributionsprozess hielten wir zuerst nach ,männlichen‘ Merkmalen Ausschau – ihnen werde eine größere „Offensichtlichkeit“ zugesprochen. Erst wenn diese fehlten, käme es zur Zuordnung ,weiblich‘. Frauen würden damit als ,Nicht-Männer‘ wahrgenommen, Männer aber nicht als „Nicht-Frauen“ und so folgerten die Autorinnen: „In der sozialen Konstruktion von Geschlecht ist ‚männlich‘ die primäre Konstruktion“ (ebd., S. 159, Übers. d. V.). Unterschwellig ist also mit der Geschlechterklassifikation eine Wertung verbunden, die sich in alltäglichen Interaktionen auf vielfältige Weise realisiert. Diese liege nicht „in der Natur der Sache“ – wir konstruieren vielmehr Geschlecht so, dass den als männlich geltenden Charakteristika eine „größere Offensichtlichkeit“ zugesprochen wird. Da die „essentiellen Merkmale“ im Alltag ohnehin verborgen sind, geht es in der Interaktion allein um die Annahme, dass eine Person über diese Merkmale verfüge („kulturelle Genitalien“). Die Attributionsmuster selbst sind in sich hoch flexibel: So können Frauen etwa durchaus ,unweiblich‘ sein, das mache sie aber noch nicht zu ,Nicht-Frauen‘. Das Gleiche gilt grundsätzlich für Männer. Frauen können aber eher Elemente aus dem männlichen Darstellungsrepertoire übernehmen, ohne ihren Geschlechtsstatus als Nicht-Männer zu gefährden. Für Männer dagegen ist der Radius enger: Als ,Mann‘ übersehen oder verwechselt zu werden, werde i. d. R. in stärkerem Ausmaß als beleidigend erfahren. Entsprechend werde eine solche Verwechselung nach Möglichkeit vermieden. Im Umkehrschluss würde die Folgerung dann lauten, dass Männer abhängiger sind von der Anerkennung ihres Geschlechtsstatus (vgl. dazu Hirschauer 1993, S. 64). Alltagspraktisch drückt sich das z. B. darin aus, dass Frauen zwar Hosen und Anzüge tragen können, ein Mann im Kleid oder Kostüm für uns immer noch recht merkwürdig wirkt. Mit der Aufschlüsselung des Attributionsprozesses haben Kessler/McKenna die Untersuchung Garfinkels zu Agnes erweitert und einen grundlegenden Modus der sozialen Konstruktion von Geschlecht aufgedeckt. In der reflexiven Entzifferung von „kulturellen Genitalien“ gelten „männliche“ Insignien als offensichtlicher, Personen werden im Zweifelsfall eher der männlichen als der weiblichen Seite zugeordnet. Andererseits – darauf weist Stefan Hirschauer hin – ist es schwerer, sich als Mann darzustellen und eine entsprechende Geltung zu erlangen (ebd., S. 64). Ist die Zuordnung aber einmal getroffen, können nahezu alle zusätzlichen Informationen so gefiltert werden, dass sie trotzdem ‚passen‘ und Sinn ergeben. Die Geschlechtszugehörigkeit wird auf der Grundlage von Zeichen konstruiert, die aber nur deshalb Zeichen sind, weil wir immer schon wissen, dass unser Gegenüber entweder eine Frau oder ein Mann sein muss. Die machtvollste Ressource im Prozess der Geschlechterattribution ist daher das soziale Wissen um die Zweipoligkeit der Geschlechterklassifikation. Unsere Wahrnehmung und unser Handeln ist darauf eingestellt, dass die Geschlechtszugehörigkeit natürlich, dauerhaft und unveränderlich ist und so kommen wir nur bei sehr gravierenden ‚Fehlern‘ in der Darstellung auf die Idee, jemand sei gar nicht das, was er/sie ‚vorgebe‘ zu sein. Der Interaktionsprozess gewinnt damit eine eigene Dynamik und wenn Transsexuelle gelernt haben, sich in Interaktionen auf diese Unterstellung der Naturhaftigkeit des einmal zugeordneten Geschlechts zu verlassen, dann lässt die Anspannung nach, sich durch Fehler in der Darstellung verraten zu können. Mit dem von Kessler/McKenna in den Mittelpunkt gestellten Attributionsprozess ist unzweifelhaft eine zentrale Dimension in der sozialen Konstruktion von Geschlecht benannt wor-

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7 Zweigeschlechtlichkeit als Problem

den. Die These jedoch, dass die Methoden der Attribution gleichbedeutend seien mit den Methoden, durch die wir eine Welt von zwei und nur zwei Geschlechtern erzeugen, wurde durch spätere Studien zurückgewiesen (Hirschauer 1993; Lindemann 1993). Nicht zuletzt durch die quasi-experimentelle Anordnung ihrer Untersuchung sei der Stellenwert der Darstellungsleistung für den Interaktionsverlauf – seine Dynamik – nicht genügend berücksichtigt worden. Die Darstellung müsse selbstvergessen und selbstevident ablaufen, um die Darstellung nicht als Darstellung kenntlich werden zu lassen (Hirschauer 1993, S. 47). Erst durch die kunstvolle Erzeugung von ‚Natürlichkeit‘ kann die Unterstellung greifen, dass es von ‚Natur‘ aus zwei und nur zwei Geschlechter gebe. Dabei sind Darstellungen auch in Attributionen enthalten: Wenn eine Identifizierung nicht auf Anhieb gelingt und eine direkte Ansprache über einen Namen oder eine Anrede fehlt, dann können beide Seiten nur aus der Art der Behandlung, die sie von dem je anderen erfahren, schließen, ob sie als gleich- oder gegengeschlechtlich gelten – Geschlecht ist damit in der Interaktion situiert (ebd., S. 49).

7.2.3

„Doing gender“

Candace West und Don H. Zimmerman beziehen sich in ihrem viel rezipierten Aufsatz „Doing Gender“ wie S. Kessler und W. McKenna ebenfalls auf Garfinkel und das von ihm im Anschluss an Mead, Schütz und Mannheim entwickelte Verständnis sozialer Wirklichkeit als einem sich stetig durch soziale Handlungen hindurch vollziehenden Prozess („Vollzugswirklichkeit“). Entsprechend definieren sie auch „Gender“ als eine routinehafte, methodische und sich wiederholende Vollzugswirklichkeit („a routine, methodical, and recurring accomplishment“ (West/Zimmerman 1987, S. 136). Mit der Theoriefigur des „doing gender“ wird der konstruktive Charakter auf Geschlecht bezogener sozialer Abläufe stärker herausgestellt. Im praktischen Vollzug („practical accomplishment“) der Geschlechterunterscheidung stellen wir in unserem alltäglichen Handeln Unterschiede her und fragen i. d. R. nicht danach, ob diese Unterschiede nun „natürlich“ oder „biologisch“ begründet sind. Haben sich die aus der Geschlechterunterscheidung folgenden Unterschiede aber einmal eingespielt, so werden sie im Falle einer Nachfrage oder einer Irritation als Beweis für die „Natürlichkeit“ der Geschlechterunterscheidung herangezogen. Dieser reflexive Zirkel liegt faktisch jeder „sozialen Konstruktion von Wirklichkeit“ zugrunde. In dem Kapitel zur Ethnomethodologie (Kap. 4.4.2) wurde ausführlicher dargelegt, wie im interaktiven Austausch von Gesellschaftsmitgliedern eine Handlung ihren spezifischen Sinngehalt dadurch erhält, dass ein Zusammenhang zu anderen, bereits bekannten Situationen und den darin realisierten Mustern hergestellt und situativ abgeglichen wird („rückschauendvorausschauende Sinnorientierung“ Garfinkel 1973, S. 207). Um diesen Prozess, wie soziale Aktivitäten getan werden, analytisch besser erfassen zu können, ist in der ethnomethodologischen Forschung der „Kunstgriff“ (Bergmann 2008a, S. 58) entwickelt worden, vor eine intuitiv eingeführte Beschreibung des Verhaltens einer Person (z. B. „sie ist ärgerlich“ – „she is angry“) ein stärker distanzierendes „doing“ zu setzen: „she is doing (being) angry“. Damit wird die Aufmerksamkeit systematisch auf das Tun bzw. auf die „Produktionspraktiken“ eines Verhaltens gelenkt (ebd., S. 61). Diesen Kunstgriff wenden nun auch West/Zimmerman an, wenn sie „doing gender“ verstehen als eine „gebündelte Vielfalt sozial gesteuerter Tätigkeiten der Wahrnehmung, der Interaktion und der Mikropolitik, welche bestimmte Handlungen mit der Bedeutung versehen, Ausdruck weiblicher oder männlicher ‚Natur‘ zu sein“ (West/Zimmerman 1987, S. 126, Übers. d. V.).

7.2 Interaktive Erzeugung von Geschlecht

205

An die Stelle der sex/gender-Unterscheidung tritt bei ihnen eine dreigliedrige Fassung: •

„sex“: die Geschlechtsklassifikation aufgrund sozial vereinbarter anatomischer Merkmale, die direkt nach der Geburt vollzogen wird und damit auch die gesetzliche Geschlechtszugehörigkeit festschreibt; • „sex-category“: die soziale Zuordnung zu einem Geschlecht in alltäglichen Interaktionen aufgrund der sozial geforderten Darstellung einer Erkennbarkeit zur einen oder anderen Kategorie. Diese muss der Geschlechtsklassifikation nicht entsprechen; • „gender“: die intersubjektive Validierung in Interaktionsprozessen durch ein (situations)adäquates Verhalten im Lichte normativer Vorgaben. In dieser Neufassung werden diese drei Dimensionen analytisch als unabhängig voneinander gedacht, praktisch verweisen sie aufeinander: Von der Geschlechtskategorie wird im Alltag auf die (vermeintliche) Geschlechtsklassifikation geschlossen und die Verhaltensanforderung des dazu ‚passenden‘ doing gender definiert. Mit dem Konzept von West und Zimmerman öffnet sich ein Weg, ‚Natur‘ als kulturell gedeutete in die soziale Konstruktion von Geschlecht hineinzuholen. Es bewahrt vor dem Missverständnis, Geschlecht sei etwas, das ein Individuum habe und das im alltäglichen Handeln nur seinen Ausdruck findet. Stattdessen wird die Geschlechtszugehörigkeit konsequent als ein durch „Tun“ (zumeist routinisierte und selbstvergessene Praktiken) in sozialen Situationen erworbenes Merkmal verstanden. Man hat ein Geschlecht nur in dem Sinne, dass man es für andere hat (Hirschauer 1993, S. 53 f.). Diese anderen müssen die in Anspruch genommene Geschlechtskategorie immer wieder validieren, sie ist nicht selbstverständlich. In der Konsequenz ist dann Geschlecht kein Merkmal von Individuen, sondern ein Element, das in sozialen Situationen entsteht und von Individuen lediglich hervorgebracht wird. Der Vorteil dieses Ansatzes liegt darin, dass der Blick systematisch darauf gelenkt wird, wie Menschen im Umgang mit anderen Menschen sowohl ihr eigenes Geschlecht als auch das ihrer Interaktionspartner erzeugen und auf welche Ressourcen sie dabei zurückgreifen können. Damit geraten primär interaktive Prozesse und institutionelle Arrangements ins Visier der Forschung. Für die sich in der ethnomethodologischen Tradition verortenden Untersuchungen stellen Institutionen Ressourcen in Interaktionsprozessen dar und werden nicht selbst zum Gegenstand, d. h. diese Studien konzentrieren sich darauf, wie in jedem Moment und jeder Situation Gesellschaftsmitglieder ihre soziale Wirklichkeit durch alltäglich-praktisches Handeln lokal hervorbringen. Das bedeutet nicht, dass es keine gesellschaftlichen Tatbestände (Institutionen) gibt, auf die zurückgegriffen wird, sondern nur, dass sie ihren Wirklichkeitscharakter erst durch das praktische Tun von Menschen erlangen (vgl. Kap. 4.4.2). Auf das Wechselspiel von Verfestigung (Objektivierung) und Interaktion werden wir später ausführlich eingehen (Kap. 9.1). Statt auf Institutionen richten die ethnomethodologischen Studien ihren Blick verstärkt auf „accountability“ (Zurechenbarkeit; vgl. Kap. 4.4.2). Das „Tun“ von Personen wird danach beurteilt, ob es den Anforderungen der jeweiligen Situation entspricht, so dass Verhaltenssicherheit entstehen kann. In diese Anforderungen und Erwartungen ist die bipolare Geschlechterklassifikation bereits eingelassen, so dass die Frage nach der Situationsangemessenheit des Verhaltens immer auch eine Frage danach ist, ob das Verhalten und Handeln der Person dem in Anspruch genommenen Geschlechtsstatus zugerechnet werden kann – oder aber nicht. Eine Person muss also stets als Frau oder als Mann ihr Verhalten und Handeln in den jeweiligen Situationen verantworten. Für eventuelle Abweichungen von situationsbezogenen Er-

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7 Zweigeschlechtlichkeit als Problem

wartungen sollten „gute Gründe“ angegeben werden können. Das bedeutet, dass eine Person nicht dann einem Geschlecht zugewiesen wird, wenn oder weil sie entsprechende Merkmale aufweist und sich entsprechend verhält, sondern der Prozess verläuft anders herum. Ihr Handeln und Verhalten wird auf der Grundlage einer Zuordnung zu einer Geschlechtskategorie eingeschätzt und bewertet, wobei – wie in anderen alltäglichen Situationen auch – Ausnahmen, Ungereimtheiten und Brüche bewältigt werden müssen. Wenn wir diese „Zurechenbarkeit“ („accountability“) in den Mittelpunkt stellen, dann wird auch klarer, was es bedeutet, dass Geschlecht nicht etwas ist, was eine Person ein für alle Mal „hat“, sobald ihr die Geschlechtsklassifikation zugewiesen wurde, sondern Geschlecht ein Element darstellt, das in und mit der sozialen Organisation als „Halbfertigteil“ (Hirschauer 1994, S. 680) vorgegeben ist und von den Interagierenden ver-lebendigt und ver-wirklicht werden muss. In dieser Anforderung, dass Personen in all ihrem „Tun“ auf den in Anspruch genommenen Geschlechtsstatus verpflichtet werden können, scheint zum einen die Annahme Garfinkels auf, Geschlecht sei ein „omnirelevanter Hintergrund“ für das alltägliche Geschehen. Zum anderen wird darin deutlich, dass die situativen Bedingungen und Umstände entscheidend dafür sind, was als „angemessenes“ Verhalten und Handeln angesehen werden kann. In einer Notsituation, in der eine Frau ‚mannhaft‘ einer Bedrohung begegnet, wird ihr Verhalten anders wahrgenommen als dann, wenn sie in ihrem Beruf ‚wie ein Mann‘ Konkurrenten ausschaltet. Ein Mann, der in der Elternzeit sein Kind tagtäglich ‚mütterlich‘ versorgt, wickelt und herzt, wird anderes erleben als ein Mann, der in seinem Aussehen einem eher ‚weiblichen‘ Schönheitsideal nachstrebt. Aus der grundsätzlich bestehenden Verpflichtung, dem in Anspruch genommenen Geschlechtsstatus im Verhalten und Handeln zu entsprechen, folgt weiter, dass diese auch in Anspruch genommen werden kann, das „Tun“ der Personen in anderen Situationen zu legitimieren oder zu diskreditieren. Die wehrhafte Frau wird gut daran tun, sich in anderen Situationen passiv-anlehnend zu verhalten, der Mann, der Elternzeit genommen hat, wird dafür sorgen, dass er nicht auch noch in weiblicher Aufmachung gesehen wird – es sei denn, er will provozieren. Vor diesem Hintergrund stellten West/Zimmerman (1987, S. 135) angesichts der bereits zu ihrer Zeit nicht zu übersehenden Prozesse sozialen Wandels die Frage, inwieweit ein „doing gender“ vermieden werden kann („can we ever not do gender?“) und kamen dabei zu dem Schluss, dass dies nicht möglich sei. Solange eine Gesellschaft zweigeteilt ist und soziale Beziehungen auf der Grundlage einer als ,natürlich‘ und ,essentiell‘ angesehenen Differenz zwischen Frauen und Männern organisiert seien, solange sei „doing gender“ unvermeidlich. Diese Einschätzung hat immer wieder Kritik provoziert (vgl. Kap. 9.6). In einem Rückblick auf die Rezeption ihres Konzepts betonen West/Zimmerman (2009) jedoch den für jede ethnomethodologische Analyse zentralen Stellenwert eines empirischen Vorgehens: Im „doing gender“ sollte kein Beitrag zu einem „Theoriekanon“ gesehen werden, sondern vor allem ein Instrument oder Werkzeug für empirische Analysen, in denen die alltäglichen Prozesse und Kontexte der Herstellung von Geschlecht zum Gegenstand werden. Durch diese Analysen werde dann unvermeidlich auch der Blick für mögliche Transformationen in Prozessen sozialen Wandels geöffnet. Die empirischen Studien ihrer Zeit haben die Praxis der Geschlechterunterscheidung – das „doing gender“ – vor allem mit dem Verfahren der Konversationsanalyse untersucht, d. h. durch die minutiöse Rekonstruktion sprachlichen Handelns (z. B. Fishman 1978; West/ Zimmerman 1983; Kotthoff 1988). Aus heutiger Sicht liegt eine Unzulänglichkeit dieser Analysen darin, dass sie das Problem einer externen Beobachtung nicht zufrieden stellend

7.3 Diskursive Erzeugung von Geschlecht

207

gelöst haben. Das, was untersucht werden soll – „doing gender“ als situative „Vollzugswirklichkeit“ („practical accomplishment“) – wird nicht nur vorausgesetzt, sondern von der Forscherin/dem Forscher in der Interaktion mit dem Untersuchungsfeld auch selbst hergestellt. Forschende und Beforschte sind ja als Frauen oder Männer erkennbar. Darauf hatte schon die Kontroverse um die Fallstudie „Agnes“ nachdrücklich hingewiesen. Für alle Analysen des „doing gender“ besteht damit das Problem und die Herausforderung, die eigenen, oft nicht bewussten Annahmen über „Unterschiede“ der Geschlechter zu kontrollieren und zu reflektieren. So hat z. B. Ruth Ayaß (2008, S. 67 ff.) eine konversationsanalytische Re-Analyse zum empirischen Material von Pamela Fishman durchgeführt, in der sie zeigt, an welchen Stellen deren Analyse zu kurz greift.

7.3

Diskursive Erzeugung von Geschlecht

Diskurstheoretische Ansätze zu Geschlecht stellen keine originär soziologischen Herangehensweisen dar. Ihren Ursprung haben sie vielmehr in der Philosophie Michel Foucaults (1926–1984) und dem darauf aufbauenden feministischen Ansatz der Philosophin und Rhetorik-Professorin Judith Butler (*1956).

7.3.1

Michel Foucault: Diskurse, Sexualität und Macht

Das Konzept des Diskurses, wie es M. Foucault entwickelte, ist eine wissensanalytische Figur und bezieht sich – ähnlich wie die soziologische Phänomenologie A. Schütz’ oder die Wissenssoziologie K. Mannheims – auf die alltagsweltlichen, sozial entstandenen Wissensbestände und -formen. Außerhalb der wissenschaftlichen Verwendung verstehen wir unter einem Diskurs zumeist so etwas wie ein Gespräch. Gespräche bzw. Kommunikation insgesamt zählen jedoch in der Diskurstheorie zu den „diskursiven Praktiken“, d. h. zu denjenigen Praktiken, in denen Diskurse entstehen, abgerufen und weitergetragen werden, sie sind jedoch mit dem Diskurs nicht identisch. Ein Diskurs wird vielmehr als eine abstrakte „Aussage“ verstanden, die durch „Äußerungen“ konkretisiert wird. Dabei können verschiedene sprachliche und nonverbale Äußerungen die gleiche Aussage, i. e. den gleichen Diskurs transportieren. Betrachten wir beispielsweise die Phase, in der die Zweigeschlechtlichkeit erfunden wurde (vgl. Kap. 2.1), mit einem diskurstheoretischen Blick, so ist „Männer und Frauen sind verschieden“ eine „Aussage“ bzw. ein Diskurs, der sich in unterschiedlichen „Äußerungen“ zeigt: bspw. in der „Sonderwissenschaft vom Weibe“, in philosophischen Traktaten wie Rousseaus „Sophie“, in der Fremd- und Selbstwahrnehmung und -beschreibung von bürgerlichen (und anderen) Frauen dieser Zeit. Es wurde in Kapitel 2.1 verdeutlicht, dass dieses ‚Wissen‘ um die Zweigeschlechtlichkeit auf unterschiedliche Weise sozial konstruiert wurde; nichtsdestotrotz erscheint es als nur ‚abgerufenes‘ und – mehr oder weniger unumstößlich – gültiges Wissen. Inwiefern dieses ‚Wissen‘ jenseits seines sozialen Geltungsanspruches ‚wahr‘ ist oder nicht, war für uns nicht die Frage. Ebenso wenig ist es dies für die Diskurstheorie: Weil die Diskurse als wahr gelten, haben sie soziale Bedeutung und schaffen ‚Fakten‘, als ob sie wahr wären. Auch wenn Foucault den Diskursbegriff nicht allein in Hinsicht auf sprachliche Praktiken entwickelt hat, so bezieht er ihn letztlich selber überwiegend auf sprachliche Aussagen. Für die Summe aller sprachlichen und nicht-sprachlichen, z. B. gegenständlichen Elemente so-

208

7 Zweigeschlechtlichkeit als Problem

zialer Wirklichkeit entwickelt er später den Begriff des „Dispositivs“. Darunter ist eine Art ‚soziale Infrastruktur‘ zu verstehen, „ein heterogenes Ensemble aus unterschiedlichsten Elementen, die (…) auf ein Gesamtziel hin organisiert sind und zusammen wirken“ (Keller 2008, S. 93). Foucault verwendet den Begriff des Dispositivs für Inhalt („was“), Art („wie“) und Funktion („wozu“) dieser Infrastruktur. Letzteres bedeutet nicht, dass ein Dispositiv zu einem bestimmten Zweck geschaffen wurde, sondern dass es einen Handlungsbedarf deckt, indem es sich als ‚nützlich‘ erweist. Ein solches Dispositiv ist bspw. das „Sexualitätsdispositiv“ (Foucault 1983 [1976]). Seine Vorgehensweise, Dispositive und Diskurse zu analysieren, fasst Foucault mit den Begriffen der „Archäologie“ und der „Genealogie“. Ersteres bedeutet, dass er „Kenntnisse, philosophische Ideen und Alltagsansichten einer Gesellschaft, aber auch ihre Institutionen, die Geschäfts- und Polizeipraktiken oder die Sitten und Gebräuche“ (Foucault 2001, S. 645) wie ‚Relikte‘ einer jeweiligen Epoche betrachtet, denen ein Wissen implizit ist, dass man durch den Vergleich herausarbeiten kann. Mit Genealogie bezeichnet er das Vorgehen, die Entwicklung („Genese“) sozialer Phänomene zu rekonstruieren. Foucault zeigt auf, wie Körperdiskurse, das Sexualitätsdispositiv, Machtverhältnisse, Ordnungen etc. historisch entstanden sind, die sich in unserer Zeit als ‚wahre Diskurse‘ etabliert haben. Sie gelten als vermeintlich sicheres Wissen um die Beschaffenheit der Welt und prägen so unsere soziale Wirklichkeit. Die Entstehung des Sexualitätsdispositivs entwickelt Foucault in „Der Wille zum Wissen“ anhand verschiedener zeitgeschichtlicher Dokumente. An ihnen weist er nach, wie im 18. und 19. Jahrhundert Sexualität erfunden wurde: Praktiken wurden nun mit Diskursen aufgeladen; sie wurden (vor allem wissenschaftlich) in Sprache gefasst und über diese Versprachlichung erhoben, katalogisiert, analysiert und beurteilt. Es entstanden ‚gute‘ und ‚schlechte‘, ‚gesunde‘ und ‚kranke‘ Sexualitäten. In dieser Kategorisierung wirkten verschiedene Diskurse, Institutionen und (vor allem diskursive) Praktiken daraufhin, ehelichen, erwachsenen, heterosexuellen Koitus mit einem dominanten männlichen Part als (alleinige) allgemeine Praxis zu etablieren. So entstand Heterosexualität erst, indem Personen, die nicht (nur) heterosexuelle Akte vollzogen, als homosexuell kategorisiert wurden: „Die neue Jagd auf die peripheren Sexualitäten führt zu einer Einkörperung der Perversionen und einer neuen Spezifizierung der Individuen. Die Sodomie – so wie die alten zivilen oder kanonischen Rechte sie kannten – war ein Typ von verbotener Handlung, deren Urheber nur als ihr Rechtssubjekt in Betracht kam. Der Homosexuelle des 19. Jahrhunderts ist zu einer Persönlichkeit geworden, die über eine Vergangenheit und eine Kindheit verfügt, einen Charakter, eine Lebensform, und die schließlich eine Morphologie mit indiskreter Anatomie und möglicherweise rätselhafter Physiognomie besitzt. Nichts von all dem, was er ist, entrinnt seiner Sexualität“ (Foucault 1983, S. 58, Herv. i. O.). Ebenso wie bei homosexuellen Handlungen nun ein ‚homosexueller‘ Charakter, Körper und eine ebensolche Biographie unterstellt, gesucht, erfunden und behandelt wurden, wurden auch alle anderen Abweichungen als ‚pervers‘ klassifiziert und „psychiatrisiert“. Weibliche Körper wurden „hysterisiert“, i. e. Frauen wurde – wie den Homosexuellen – in Gänze ihre Sexualität in den Körper eingeschrieben. Kindliche Sexualität wurde pädagogisiert und Fortpflanzung „sozialisiert“. Damit wurde Sexualität auf der einen Seite zu einem gesellschaftspolitischen Gegenstand, zur „Bio-Politik“. Auf der anderen Seite wurde sie auf diese Weise zu einem Teil der ‚Persönlichkeit‘, d. h. nach und nach zum ‚innersten‘ und ‚wahrhaftigsten‘

7.3 Diskursive Erzeugung von Geschlecht

209

Selbst eines Menschen erklärt, wie wir dies z. B. in der Psychoanalyse Freuds am Ende des 19. Jahrhunderts finden. Mit all diesen Prozessen wurde wissenschaftlich, institutionell und letztlich in alltäglichen Praktiken Sexualität kontrolliert und zur Kontrolle einsetzbar. Diese „Bio-Macht“, also die soziale Kontrolle von Sexualität und Fortpflanzung, fiel nicht zufällig mit der Industrialisierung, der Sphärentrennung und der Erfindung der Zweigeschlechtlichkeit zusammen. Die Verbindung mit der Zweigeschlechtlichkeit, die Bedeutung, welche die Hysterisierung weiblicher Körper als ‚Beweis‘ für die ‚Andersartigkeit‘ von Frauen einnahm, bleibt bei Foucault jedoch unterbelichtet. Er konzentriert sich auf die Bedeutung für die Moderne, den (entstehenden) Kapitalismus, die industrielle Produktion u. ä. Auch wenn mit Diskursen vor allem sprachliche Praktiken verbunden sind, übergeht Foucault die körperliche Dimension des Sozialen nicht. Im Gegenteil behandelt er die Diskursivierung und die soziale Formung des Körpers ausführlich: Die Diskursivierung ist – wie bei der Sexualität – zunächst eine Verwissenschaftlichung des Körperlichen, die als Körperdiskurse in das Alltagsdenken Einzug halten. Diesen Prozess hat Foucault vor allem in „Die Geburt der Klinik“ für das Frankreich des späten 18. Jahrhunderts aufgezeigt. Auch hier wird – wie bei Sexualität – etwas sozial ‚eingefangen‘. Im nun entstehenden Körperdiskurs wird nicht mehr religiös, sondern medizinisch-anatomisch „der Tod ständig beschworen, erlitten und zugleich gebannt“ (Foucault 1976, S. 208). Die Diskursivierung und ihre Auswirkungen auf die Selbstwahrnehmung der medizinisch Untersuchten sind jedoch nicht die einzige Form sozialer Kontrolle. Das Modell des Panoptikums, das Foucault in „Überwachen und Strafen“ (1977) entwirft, verdeutlicht eine andere Form: die Disziplinierung der Körper. Gefangene sind für potentielle Beobachter im Überwachungsturm jederzeit sichtbar, während sie selbst diese Beobachter nicht sehen und daher nicht wissen können, ob jemand sie gerade beobachtet. Sie ‚disziplinieren‘ sich, indem sie sich stets so verhalten, als ob sie beobachtet würden – d. h. sie übernehmen die Kontrolle, die der Turm letztlich nur symbolisiert, selbst: „Derjenige, welcher der Sichtbarkeit unterworfen ist und dies weiß, übernimmt die Zwangsmittel der Macht und spielt sie gegen sich selber aus; er internalisiert das Machtverhältnis, in welchem er gleichzeitig beide Rollen spielt; er wird zum Prinzip seiner eigenen Unterwerfung“ (Foucault 1977, S. 260). Entgegen einer marxistisch orientierten Ideologiekritik – wie sie auch in Frankreich in den 1960er und 1970er Jahren Sozialphilosophie und Soziologie dominierte –, in welcher Wissen von Machtverhältnissen befreit werden müsse, um sich frei (und wahrheitsgetreu) entwickeln zu können (vgl. Keller 2008 und Kap. 5), geht Foucault davon aus, „daß Macht und Wissen einander unmittelbar einschließen; daß es keine Machtbeziehung gibt, ohne daß sich ein entsprechendes Wissensfeld konstituiert; und kein Wissen, das nicht gleichzeitig Machtbeziehungen voraussetzt und konstituiert“ (Foucault 1977, S. 39). In Hinsicht auf Sexualität wurde das bereits kurz angesprochen: Der „Wille zum Wissen“, das heißt die Diskursivierung von Sexualität führt zu ihrer Kontrolle, in der nicht nur Männer über Frauen(körper) Kontrolle ausüben, sondern auch ein Staat über seine Bevölkerung („Bio-Politik“), indem er ihre Fortpflanzungstätigkeit durch Verrechtlichungen (z. B. Sorgerecht, Alimente, behördlich festgehaltene Erzeugerschaft), Förderprogramme wahlweise zur Verhütung (v. a. bei sogenannten ‚sozial Schwachen‘) oder zur Zeugung (z. B. Kinder- und Erziehungsgeld) u. ä. beeinflusst. Macht ist sexuellen Beziehungen ebenso immanent wie der Ökonomie. Das Wissen und die Macht über und in der Sexualität sind also zwei untrennbare

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7 Zweigeschlechtlichkeit als Problem

Seiten derselben Medaille. Anders als in den meisten machtkritischen Konzepten, ist bei Foucault aber Macht nicht nur stets in allen sozialen Verhältnissen präsent, sondern auch produktiv insofern, als sie etwas hervorbringen kann. Er betont daher, das Macht immer auch ‚Können‘, bzw. ‚Vermögen‘ bedeutet. So bringt Disziplinierung und Kontrolle bspw. auch von Sexualität ein gesteigertes Maß an Soziabilität hervor; sie sind wichtige Voraussetzung für neue Formen von Arbeit in einer industrialisierten Gesellschaft und darüber auch dessen, was wir als Wohlstand bezeichnen. Foucault befasst sich mit Geschlecht(lichkeit) nicht nur implizit in den drei Bänden zu „Sexualität und Wahrheit“, indem er dort das im Französischen zweideutige Wort „sexe“ – also Geschlecht und Sexualität – verwendet und auf diese Weise seine Aussagen über Sexualität immer auch als Aussagen über Geschlecht zu lesen sind. Dezidiert thematisiert er Geschlecht als Wendung vom Ein- zum Zweigeschlechtermodell (vgl. Kap. 2.1) in der Einleitung zu den Tagebüchern von Herculine Barbin aus dem 19. Jahrhundert, die von Foucault entdeckt wurden. Während im ‚Eingeschlechtmodell‘ Hermaphroditen (Zwitter) im Erwachsenenalter eine (endgültige) Wahl zu treffen hatten, welches Geschlecht sie sozial leben wollten, wurde mit dem Zwei-Geschlechter-Modell der „Pseudo-Hermaphrodismus“ kreiert. Im alten Diskurs hatten alle Menschen die gleichen Anlagen; sie trugen in unserem (vom zweigeschlechtlichen Denken geprägten) Verständnis beide Geschlechter in sich – Hermaphrodismus war so nur eine besonders prägnante Form dieses Mischungsverhältnisses. Im neuen Diskurs grundsätzlicher – physisch/biologisch bedingter – Andersartigkeit war Intersexualität nicht mehr denkbar. Nun ‚hatten‘ Zwitter ein ‚wahres‘ Geschlecht, das nicht aus ihrer eigenen Wahl folgen konnte. Vielmehr war es alleiniges Recht (und Pflicht) medizinischer ‚Expertise‘, dieses ‚wahre‘ Geschlecht am Körper zu entschlüsseln. Foucault macht darauf aufmerksam, dass, obwohl Intersexualität heutzutage nicht mehr als biologische Unmöglichkeit gesehen wird, nichtsdestotrotz der Glaube weiter fest besteht, es gäbe ein ‚wahres‘ Geschlecht hinter einer intersexuellen ‚Fassade‘.

7.3.2

Judith Butler: Performativität und Materialisierungen

Judith Butler greift M. Foucaults Diskurstheorie kritisch auf und wendet den Ansatz in den 1980er Jahren auf Geschlecht an. Ebenso wie die interaktionstheoretischen Ansätze kritisiert sie die impliziten Annahmen des sex/gender-Modells. Dieses gehe von einer naturhaften, vorsozialen Geschlechtlichkeit aus, die (unterschiedliche) soziale bzw. kulturelle „Geschlechtsidentitäten“ hervorbringe. Zum einen folge diese Trennung darin der cartesianischen Trennung von Geist und Körper, die aber selber ein (wissenschaftlicher) Diskurs sei und damit einer diskurstheoretischen Betrachtung nicht vorausgesetzt werden dürfe. Zum anderen beinhalte die Trennung einen Männer auf- und Frauen abwertenden Diskurs: Weiblichkeit wurde mit Körper und Natur gleichgesetzt, die vom Geist – und der damit gleichgesetzten Männlichkeit – beherrscht werden solle (vgl. auch Kap. 2.1). Ebenso wie bei Foucault ist für Butler nicht nur die produktive Macht von Diskursen, sondern vor allem auch ihre ordnende Funktion von Bedeutung. Indem die ‚Dinge‘ ihre Wirklichkeit aus übergreifenden Diskursen heraus erhalten, stehen sie in einem sprachlichen Bezug zueinander. Sie erhalten einen ‚Platz‘ im Diskurs, einen Bezug zur Aussage des Diskurses und durch diesen Bezug erst ihren ‚Sinn‘. Beispielsweise entsteht sowohl im biblischen Diskurs der Schöpfungsgeschichte, als auch in dem aufklärerischen Diskurs der Menschenrechte der Mensch als Gattungswesen. Durch den jeweiligen Bezugspunkt (Gott oder

7.3 Diskursive Erzeugung von Geschlecht

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Vernunftbegabung) erhält der Mensch seinen Sinn – im ersten Fall als „Ebenbild Gottes“, im letzteren über die Menschenwürde. Er wird durch explizite Abgrenzung (z. B. Tiere oder unbelebte Materie) und durch Bestimmungen (z. B. „macht Euch die Erde untertan“) in konkrete Verhältnisse zu anderen so entstandenen ‚Dingen‘ gestellt. Im Diskurs wird also eine geordnete Wirklichkeit hergestellt, die uns Orientierung gibt und dadurch handlungsfähig macht. In Butlers Ansatz geht es nun darum, die herrschenden Diskurse darauf hin zu befragen, welche Ordnung, welche Wirklichkeit sie schaffen. Neben Foucault bezieht sich Butler auf J. L. Austins (1979) Sprechakttheorie. „Performative Sprechakte“ sind diejenigen Sprechakte, in denen das Aussprechen schon die Handlung ist. Im Gegensatz z. B. zu Neujahrsvorsätzen, bei denen Sagen und Tun zweierlei sind, sind performative Sprechakte wie Eheschließungen, Gesetze, Freispruch oder Entschuldigungen bereits das ‚Tun‘. Sich entschuldigen bedeutet nichts anderes als es zu sagen, und ebenso ist der Gesetzestext die Handlung, durch die etwas legal oder illegal wird. Diese performativen Sprechakte sind allerdings nicht aus sich selbst heraus Handlungen, sondern nur, weil sie als „Konventionen“ anerkannt sind. Konventionen bestehen in Kontexten, in denen die Performativa ihre Bedeutung als Handlung auch zugesprochen bekommen. Sich zu entschuldigen kann bspw. in Kontexten, in denen ein Duell als ‚Genugtuung‘ Konvention ist, nicht funktionieren; ein Freisprechen von Schuld kann nur durch im jeweiligen Kontext autorisierte Personen erfolgen (z. B. durch einen Priester bei der Beichte oder durch eine Richterin im Gerichtssaal), die nicht übertragbar sind: Ein Priester kann nicht von juristischer Schuld freisprechen und eine Richterin nicht die Absolution von Sünden erteilen. Die performativen Sprechakte sind dabei sowohl abhängig als auch unabhängig vom Individuum. Abhängig sind sie insofern, als sie nur von Individuen ausgesprochen (oder aufgeschrieben) werden können. Unabhängig sind sie zugleich dadurch, dass sie nicht an das Individuum gehaftet sind und auch nicht von diesem in jedem Sprechakt ‚neu erfunden‘ werden. Vielmehr sind Historizität und Überindividualität konstitutiv für die Konventionen. Die jeweiligen Kontexte, die sprachlichen Rituale, die Sprechweisen und nicht zuletzt die einzelnen Wörter mit ihren Bedeutungen existierten vor dem individuellen Sprechakt, bestehen unabhängig von dem spezifischen Individuum, das als Priester oder Richterin die Performativa ausübt. Ein wichtiger performativer Sprechakt ist die Benennung von Personen („Anrufung“). Dies reicht vom (individuellen) Namen, über Geschlechtstitel (,Herr‘ oder ,Frau‘), Beleidigungen oder Kosenamen bis hin zum allgemeinen ,Du‘ oder ,Sie‘. Die „Anrufung“ von Personen, z. B. als „Johanna“ oder „Memet“ versieht die Personen mit sozialen Kategorien. Durch die in Deutschland gesetzlich vorgeschriebene Geschlechtseindeutigkeit von Vornamen und eine kulturelle Konnotation eines Namens werden „Johanna“ und „Memet“ zu einer deutsch(sprachig)en Frau und einem türkisch(sprachig)en Mann. Mit diesen Performativa entstehen für Butler vergeschlechtlichte Identitäten, denn indem wir auf solche „Anrufungen“ reagieren, uns eben angesprochen fühlen – und sei es auch abwehrend –, akzeptieren wir sie als eine potentielle ‚Beschreibung‘ der eigenen Person. Sie werden Teil „subjektiver Identität“. ‚Identität‘ meint auch hier nicht etwas, was wir ‚ursprünglich‘ in uns haben, unmittelbar erleben und so aus uns selbst entwickeln können. Vielmehr ist bereits die moderne Vorstellung (oder das Dispositiv) eines autonomen, mit sich identischen „Subjekts“ für Butler (und Foucault) ein Ergebnis historischer Prozesse, das auf das Individuum als Norm einwirkt: Ein Mensch muss ein Subjekt sein. Die individuelle „Subjektivation“ entsteht sozial durch

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7 Zweigeschlechtlichkeit als Problem

unterschiedliche „Anrufungen“, in denen „Identitätskategorien“ enthalten sind (z. B. Geschlecht oder Ethnizität), sowie durch deren Akzeptanz oder Zurückweisungen. Identitätskategorien sind nicht freistehende Begriffe, sondern in diskursiven Zusammenhängen verortet. Sie enthalten erstens Normen und richten damit Erwartungen an uns, so zu sein. Zweitens werden sie gegen andere Kategorien abgegrenzt. Die Anrufung als ,Frau‘ oder ,türkisch‘ beinhaltet zugleich die Bezeichnung als Nicht-Mann oder als nicht-deutsch, so dass unsere Möglichkeiten eingeschränkt werden. Kategorisierungen beinhalten also nicht nur einen Zwang, wie man sein soll, sondern auch einen Ausschluss, wie man nicht sein kann. Hinzu kommt, dass die Kategorien in diejenige hierarchische Ordnung eingelassen sind, die im Diskurs hergestellt wird. ,Frau‘ bzw. ,türkisch‘ werden den Kategorien ,Mann‘ bzw. ,deutsch‘ untergeordnet. Die Subjektwerdung bzw. die „diskursive Identitätserzeugung“ bedeutet also, dass die Frage „wer bin ich?“ bereits bei den Namen beginnend nur innerhalb von Diskursen beantwortet werden kann. In diesen Diskursen sind soziale Normen und Machtdimensionen immer schon enthalten, denen gemäß wir kategorisiert werden, Erwartungen anpassen und uns aufgrund der vorherrschenden Vorstellung des „Subjekt-Seins“ suggerieren: So sind wir ‚wirklich‘. Butler verwendet „gender“ als Identitätsbegriff, als „Geschlechtsidentität“. Allerdings füllt sie diese Kategorie nicht (affirmativ) inhaltlich wie etwa die Differenztheoretikerinnen. Eine ‚weibliche‘ Identität gibt es bei Butler nicht. Was Frauen ausmache, was allen Frauen gemeinsam sei, lässt sich nicht herausfiltern und andere Identitätskategorien addieren sich auch nicht einfach zum ‚Frau-Sein‘ hinzu, sondern stellen eine ganz andere Identität her: Das (Selbst)Verständnis einer Arbeiterin ist ein anderes als das einer Akademikerin, eine 60 Jahre alte Arbeiterin hat eine ganz andere Identität als eine zwanzigjährige usw. Die zentrale Frage Butlers ist nun, wie Geschlechtsidentität (gender), Sexualität und biologisches Geschlecht (sex) zusammenhängen. Der alltagsweltliche Glaube besagt, dass Geschlechtsidentität und Sexualität von einem Geschlechtskörper vorgegeben und alle drei Dimensionen von Natur aus unmittelbar miteinander verbunden seien. Dieser dominante Diskurs wird von Butler als entscheidende diskursive Setzung unter die Lupe genommen: Wie entsteht und vor allem erhält sich dieser alltagsweltliche Glaube? Wie schaffen Diskurse und Konfigurationen die Phänomene erst, die unseren Begründungen und Erklärungen vorauszugehen scheinen? Wie schaffen sprachlich hergestellte und in die Sprache eingelassene Normen eine Welt von zwei und nur zwei Geschlechtern, die in einem Über- und Unterordnungsverhältnis gedacht werden und in einen sexuellen Bezug zueinander gestellt werden? Sowohl dieser sexuelle Bezug – die Heterosexualität – als auch die Überordnung des „Männlichen“ über dem „Weiblichen“ sind für Butler diskursiv hervorgebracht und vor allem normativ. Damit sind sie auch mehr als Sprache; sie sind soziale ‚to do’s‘. Wegen dieser Normativität spricht sie von Zwangsheterosexualität und Phallogozentrismus, die sie als miteinander verbundene „Machtregime“ versteht. „Wie bringt die Sprache selbst die fiktive Konstruktion des ‚Geschlechts‘ hervor, die diese verschiedenen Machtregime trägt? Welche Kontinuitäten zwischen Geschlecht (sex), Geschlechtsidentität (gender) und Begehren werden in der Sprache unterstellter Heterosexualität suggeriert?“ (Butler 1991 [engl.: 1990], S. 10). Die alltagsweltliche Verbindung von gender, sex und Begehren wird von Butler zur „Zwangsordnung“ erklärt. Nicht zuletzt deswegen ist die sex/gender-Trennung der falsche Weg, um einem Determinismus zu entgehen. Ihr fehlt ein entscheidendes Erklärungspoten-

7.3 Diskursive Erzeugung von Geschlecht

213

tial. Denkt man nämlich die Trennung von kulturellem und biologischem Geschlecht konsequent durch, gibt es keine logische Begründung, warum einer (vermeintlich) binären Körperlichkeit auch nur zwei kulturelle Geschlechtsidentitäten gegenüberstehen, oder warum eine Geschlechtsidentität ,Mann‘ nicht auch mit einem weiblichen Körper ausgestattet sein kann (ebd., S. 22–25). Wäre die Geschlechtsidentität, wie die Alltagslogik suggeriert, biologisch determiniert, dann könnte es weder Unsicherheiten noch Abweichungen geben. Ebenso wenig können ‚biologisches‘ und ‚kulturelles‘ Geschlecht unabhängig voneinander verstanden werden. Vielmehr entstehen für Butler die beiden alltagsweltlichen Geschlechtskategorien aus der sprachlich hergestellten Kohärenz zwischen sex, gender und Begehren. Diese Kohärenz ist nicht den Sinneswahrnehmungen zugänglich, sondern wird von unserem Denken hineingelegt. Das bezeichnet Butler mit dem Begriff der „intelligiblen Geschlechtsidentitäten“. Unser alltägliches Verständnis von Geschlecht besteht nur in dem mittels Sprache sozial hergestellten und nicht überprüfbaren Glauben an eine Übereinstimmung von sex, gender und Begehren. Insofern haben wir es mit einer sozial anerkannten Konstruktion von gender zu tun (ebd., S. 36 ff.). Butler erklärt daher, dass die ganze „Zwangsordnung“ von Heterosexualität, sex und gender auf ihre diskursiven Ursprünge hin untersucht werden müsse: Wann und wie sind die (wissenschaftlichen) Diskurse entstanden, die uns glauben machen, es gäbe zwei naturbedingte, sexuell aufeinander verwiesene Geschlechter? Wie wird die Kohärenz zwischen Begehren, Geschlecht und Körpern hergestellt? Sie widmet sich vorrangig der zweiten Frage und beantwortet diese über „Performativität“, „Naturalisierung“ und „Zwangsheterosexualität“. Im Alltagsdenken ist Geschlecht etwas, das man hat. Bei Butler hingegen ist Identität – Subjektivation und die darin eingelassene Geschlechtsidentität – eine Leistung. Für „Subjekt“ oder „Geschlechtsidentität“ (wie auch für Körper; vgl. Kap. 9.4.1) gilt, dass Butler diesen diskursiven Erzeugnissen nicht wie Foucault eine (mehr oder minder) eigenmächtige Antipode vordiskursiver Identität oder Leiblichkeit (z. B. sex) gegenüber stellt, an welcher sich Diskurse reiben oder auch brechen können. Dennoch sind auch bei ihr die diskursiven Zwänge nicht deterministisch. In Butlers Konzept handelt es sich z. B. bei Subjekt-Status und Geschlechtsidentitäten um „Idealisierungen“, deren Erreichen stets Aufgabe ist – es ist also die diskursive Erzeugung selbst, die sich als widerständig erweist und nicht eine (irgendwie geartete) vordiskursive Wirklichkeit. Die Kategorien ,Frau‘ oder ,Mann‘ sind ebenso idealisierte Identitätskategorien, die sich im Subjektivationsprozess als unser scheinbar ‚ursprüngliches‘ Ich darstellen und zugleich (doch nur) Idealisierungen sind, die von uns stets eine Annäherungsleistung an das ,Frau-Sein‘ bzw. ,Mann-Sein‘ verlangen. Damit ist Geschlecht für Butler eine performative Leistung, also etwas, das nur dann besteht, wenn es immer wieder hergestellt wird. Performativität ist nicht ein „vereinzelter oder absichtsvoller ‚Akt‘“, sondern „die ständig wiederholende und zitierende Praxis, durch die der Diskurs die Wirkungen erzeugt, die er benennt“ (Butler 1995, S. 22). Diesen Prozess bezeichnet Butler auch als „Imitation“ und verdeutlicht ihn am Beispiel des temporären Geschlechtswechsels in der Travestie. So wie Travestiekünstler/innen das ‚andere‘ Geschlecht nachahmen, so ahmen wir auch im Alltag stets die von anderen vorgelebten und von Medien vermittelten Idealisierungen von ,Frau-Sein‘ und ,Mann-Sein‘ nach. Wie kommt es aber dann, dass Geschlecht gerade nicht performativ erscheint, sondern als etwas, das man per se habe und eine außerdiskursive Realität besitze? Diese Annahme verweist auf „Naturalisierungen“, d. h. auf das biologische Geschlecht. Das biologische Geschlecht ist bei Butler nicht ein natürliches, sondern ein naturwissenschaftli-

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7 Zweigeschlechtlichkeit als Problem

ches Geschlecht. Naturwissenschaften konstruieren eine vordiskursive Wirklichkeit, die sie vermeintlich nur entschlüsseln und nicht herstellen, so dass sie auf diese Weise sich selbst ‚Objektivität‘ zuschreiben. Diese naturwissenschaftliche Sichtweise wird auch für den Körper geltend gemacht: Chromosomen, Hormone, Anatomie erscheinen als etwas, das wir ‚haben‘ und durch Naturwissenschaften lediglich ‚entdeckt‘ wird. In einer diskurstheoretischen Sichtweise wird stattdessen im historischen Vergleich deutlich, wie wissenschaftliche Diskurse entstehen und vergehen (konnten), wie sie von gesellschaftlichen Ideen und Normen hervorgebracht und geprägt wurden (vgl. Kap. 2.1). Wäre Geschlecht nämlich tatsächlich eine lediglich naturhafte Gegebenheit, so bedürfte es kein Handeln. Eltern müssten ihren Kindern dann nicht sagen, „das tun Jungen nicht“ oder „das ist nichts für Mädchen“. Auch müsste uns Mode nicht erst zeigen, wie Frauen oder Männer auszusehen haben. In unserem sprachlich hergestellten Verständnis von „Person“ und „Persönlichkeit“ wird vielmehr vorausgesetzt, dass eine Identität ,normalerweise‘ nicht in sich brüchig sein kann. Entsprechend wird jede Person infrage gestellt, die die unterstellte Kohärenz von sex, gender und Begehren nicht aufweist (Butler 1995, S. 37–39). Die Unterstellung, dass Geschlecht per se gegeben ist, verlangt also eine stete aktive Reproduktion von Geschlechtsidentitäten. Die Selbstzuschreibung des naturwissenschaftlichen Diskurses, eine vordiskursive Natur nur zu beschreiben, wiederum verlangt eine Verschleierung dieser Herstellung. Performative Akte werden so gedeutet, dass sie die ‚Naturhaftigkeit‘ nur zeigen. Obwohl das Tun einiges an Arbeit erfordert, bspw. das Enthaaren von Frauenbeinen, gezieltes Training um weibliche oder männliche Körperformen zu erlangen, die richtige Kleidungsauswahl, Frisuren, Sprechweisen oder Bewegungen etc., muss das Tun so wirken, als sei es sich selbst ausdrückende ‚Natur‘ und sich selbst ausdrückende ‚Innerlichkeit‘ (ebd., S. 204–206). Eine vergleichsweise häufig an Butler gerichtete Kritik zielt vor allem auf eine vermeintliche Beliebigkeit und Instabilität ‚bloß‘ konstruierter Geschlechter. Butler wehrt diese Kritik durch den Verweis auf den Zwangscharakter der hegemonialen (i. e. herrschenden) Diskurse ab. Da diese sich als ‚Wahrheit‘ etabliert haben, sind Menschen nicht nur gezwungen, sich entsprechend zu verhalten, sondern sich auch selbst gemäß dieser Diskurse wahrzunehmen. Dieser Zwang wird häufig nicht einmal als solcher erlebt, denn die Wirkmacht der Diskurse beruht darauf, dass sie als selbstverständlich richtig (‚wahr‘) empfunden werden. Butler sieht „Zwangsheterosexualität“ als die Klammer, die diese Kohärenz aufbaut, die Diskurse prägt und sie hervorgebracht hat. Mit diesem Begriff, den sie von Adrienne Rich übernimmt, bezeichnet sie die alltägliche soziale Erwartung, dass alle Menschen ihr Begehren auf ein ihnen entgegen gesetztes Geschlecht richten, und dass jede Abweichung negiert und/oder pathologisiert wird. So, wie Foucault es für das Sexualitätsdispositiv allgemein herausgearbeitet hat, suggeriert nach Butler die Zwangsheterosexualität, dass das Subjekt bis ins Innerste – seiner Identität ebenso wie seines Körpers – durch das gegengeschlechtliche sexuelle Begehren gekennzeichnet sei. Dieser Diskurs wird dadurch abgestützt, dass Sexualität in eins gesetzt wird mit reproduktiven Funktionen. Diese privilegieren Heterosexualität nicht nur gegenüber anderen Sexualitäten, sondern suggerieren, dass Sexualität diese eine spezifische ‚natürliche‘ Funktion habe. Reproduktion ist jedoch in den meisten Situationen nicht der Grund, Sexualität auszuleben. Der Verweis auf Reproduktion ist vielmehr eine diskursive Strategie, um Heterosexualität zu naturalisieren und normativ festzuschreiben. Indem Heterosexualität auf diese Weise zur scheinbar einzigen ‚echten‘ Sexualität wird, werden Menschen heterosexuell gemacht. Schon Kindern wird (zukünftige) Heterosexualität

7.3 Diskursive Erzeugung von Geschlecht

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zu- und eingeschrieben, so dass diese sich stets selbst reproduziert und die Naturalisierung von Heterosexualität weiter fortgeschrieben wird. Heterosexualität wiederum dient nun als Begründung für die Existenz von zwei und nur zwei Geschlechtern: Die eigene Geschlechtlichkeit entsteht erst in der Heterosexualität durch die Abgrenzung zu einem „gegensätzlichen“ Geschlecht, das eine „in seiner Struktur parallele, aber entgegengesetzte innere Kohärenz“ von sex, gender und Begehren bewahrt (ebd., S. 45). Indem also ein entgegengesetztes Geschlecht konzipiert wird, das ebenso die Einheit von Körper, Identität und Begehren zu haben scheint, und in allem dem eigenen Geschlecht nicht nur entgegengesetzt, sondern auch komplementär, also ergänzend verstanden wird, werden zugleich Zweigeschlechtlichkeit und die Zwangsordnung von sex, gender und Begehren wie von selbst bestätigt: Es ‚ist‘ ja dann immer so, dass aus der eigenen Identität das Begehren folgt, dieses Begehren sich auf den anderen Körper und die andere Identität richtet, damit also das Begehren dem Körper zu folgen scheint und so fort. Heterosexualität ist dabei nicht minder eine Idealisierung als Geschlechtsidentität und sex, der man sich stets annähern, die man aber nie vollständig erreichen kann. Ob in einer heterosexuellen Partnerschaft oder als Single muss die eigene Heterosexualität immer wieder durch Performation oder performative Sprechakte („z. B. ich steh’ auf …“) hergestellt werden. An dem Buch „Unbehagen der Geschlechter“ wurde immer wieder kritisiert, Butler übersehe die real gegebene Körperlichkeit des Menschen (vgl. Duden 1993; Lindemann 1993; Lorey 1993; Maihofer 1995). Darauf hat Judith Butler in ihrem Buch „Körper von Gewicht“ reagiert, in dem sie die Verschränkung von Diskursivität und Materialität ausführlicher thematisiert. Entgegen der Lesart ihrer Kritiker/innen sieht sie Körper nicht als ‚Text‘, sondern als „Konfiguration“. Mit diesem Begriff bezeichnet sie die Materialisierung von Diskursen, also eine jeweils bestimmte Form materieller Wirklichkeit, die von Diskursen so hervorgebracht wurde. Für die moderne Welt gilt, dass sich die naturwissenschaftlichen Diskurse in unterschiedliche Dimensionen des Sozialen und des Körperlichen eingelagert haben und immer neu einlagern. Dadurch prägen sie erstens unsere Wahrnehmung und wir sehen, hören, riechen, fühlen Frauen anders als Männer. Zweitens beurteilen wir Menschen nach diesen Diskursen, nicht nur indem wir sie differenzieren, sondern z. B. auch, indem wir Abweichungen von unseren Normen als Anomalitäten und Monstrositäten etc. verurteilen. Zum dritten lagern sie sich in unsere Körper ein: Da wir unsere Körper mit dem eingefärbten Blick der Norm (z. B. ist der Busen zu klein, sind die Hüften zu dick etc.) sehen, beginnen wir etwas an ihnen zu ändern (bspw. mit entsprechender Kleidung, Sport oder Diäten, Schminke oder Operationen). Jungen fangen dann bspw. frühzeitig an, sich zu rasieren, um den Bartwuchs zu forcieren als ‚Beweis‘ für ihre Männlichkeit und ‚beweisen‘ damit, dass Männer Bartwuchs haben. Zum vierten sind diese Materialisierungen in unsere Institutionen eingelagert z. B. durch geschlechterdifferenzierende (Schul)Sportarten oder eine chirurgische Manipulation der Genitalien von intersexuellen Neugeborenen (Butler 1995, S. 22 ff.). Mehr noch als Foucault, der in einem vorsprachlichen Körper immer auch einen Widerstand gegen und ein mögliches Korrektiv diskursiver Erschaffungen von Wirklichkeit sieht, versteht Butler den Diskurs als die einzige wirklichkeitsschaffende Kraft, der sich auch eine – potentiell – vorsprachliche Körperlichkeit nicht entgegensetzen oder entziehen kann. Ein nicht-sprachlicher Zugang ist bei Butler auch für die eigene Leiblichkeit nicht vorstellbar. ‚Hunger‘, ‚Verliebtsein‘, ‚Wut‘ o. ä. sind nicht einfach Gefühle, die mit einem Begriff beschrieben werden, sondern werden erst durch die Begriffe, durch die Einordnung dieser

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7 Zweigeschlechtlichkeit als Problem

Begriffe in ein Sprachsystem und durch den Rekurs auf Diskurse, in denen sie Sinn erhalten, hervorgebracht. Was wir ‚fühlen‘, ist Ergebnis dessen, was wir ‚ausdrücken‘ können, das heißt dessen, was uns sprachlich an Wirklichkeit zur Verfügung gestellt wird. Eine nicht über Konfigurationen als „materialisierten Diskursen“ vermittelte Wirklichkeit ist für uns nicht zugänglich. Unsere Körper und unsere Wahrnehmungen der Körper sind immer schon sprachlich eingefärbt. Das gilt eben auch für Geschlecht: Die entsprechenden Konstruktionen haben sich normativ verfestigt, wurden „naturalisiert“, materialisieren sich, wirken – wie eingangs an den „Anrufungen“ erläutert – auf unsere Selbst- und Fremdwahrnehmung ein und schreiben damit die vermeintlich ‚sich selbst ausdrückende Natur‘ der Geschlechtsidentitäten zirkulär fort.

7.3.3

Das Aufbrechen der heterosexuellen Matrix

Butlers Buch „Das Unbehagen der Geschlechter“ („Gender Trouble“) löste in den 1990er Jahren heftige Kontroversen aus. Einerseits geriet das Buch in scharfe Kritik (z. B. Benhabib 1993; Lorey 1993; Duden 1993; Landweer 1994; Maihofer 1995 u. v. m.), sowohl in den theoretischen Dimensionen, deren wichtigsten wir oben genannt haben, als auch in praktischer Hinsicht: Die scheinbare ‚Vertextlichung‘ des Körpers, eine vermeintliche Übersozialisierung des Subjekts und die angebliche Willkürlichkeit des Konstrukts gender wurden – entgegen Butlers Intention – als Vorschub einer Entpolitisierung gewertet. Die ‚innerste‘ Subjektivität und daraus resultierende Handlungsfähigkeit, eine dem Subjekt zugängliche ursprüngliche weibliche Körperlichkeit, die Annahme einer manifesten Unterdrückung von Frauen und nicht zuletzt eine vorsoziale Gemeinsamkeit von Frauen erschienen als unumgängliche Ausgangspunkte feministischer Aktion. Insbesondere in der älteren Generation der Frauenforschung, die feministische Wissenschaft zur politischen Umsetzung betrieben wissen wollte, stieß Butler auf Ablehnung (kritisch dazu: Hark 2005, S. 304; Villa 2010, S. 147). Auf der anderen Seite wurde das Buch jedoch regelrecht gefeiert und hat eine Flut an wissenschaftlichen Arbeiten in den unterschiedlichsten Bereichen hervorgebracht. Insbesondere in den Sprach- und Literaturwissenschaften wird der sprachphilosophische Ansatz Butlers mittlerweile häufig genutzt, um Geschlechterfragen zu untersuchen. Aber auch in der Soziologie wurde und wird auf Butler Bezug genommen. Die Kopplung von (Hetero)Sexualität und Geschlecht wird in keinem Ansatz so konsequent durchdacht wie bei Butler. So naheliegend diese Verbindung für die Frage der Zweigeschlechtlichkeit ist, so wird die heterosexuelle Paarordnung doch im Alltagsdenken immer wieder zur Begründung von zwei und nur zwei Geschlechtern herangezogen. Butler ist daher nicht zuletzt ein wichtiger Ausgangspunkt der – ebenfalls in verschiedenen Disziplinen angesiedelten – Queer Studies (s. u.). Weitere wichtige Gegenstände, die mit Butlers Ansatz häufig angegangen werden, sind gerade diejenigen, auf die sich die meiste Kritik fokussierte. ‚Körper‘ und ‚Subjekt‘ sind in Butlers Betonung ihrer diskursiven Formung nicht (mehr) nur Gegenstände von Medizin bzw. Psychologie, sondern werden stärker in den Blick von Soziologie und Geschichte gerückt: Wie sind in historischen (sozialen) Prozessen Körper und Subjekte entstanden? Eine der wichtigsten deutschen Rezipient/innen Butlers in der Soziologie ist Paula-Irene Villa. Ihr Buch „Sexy Bodies“ (Villa 2000) ist schon fast ein Klassiker in der Geschlechtersoziologie. Villa zieht neben Butler noch verschiedene andere, dezidiert soziologische Ansätze heran. So zeichnet sie den Weg nach, den Butler selber nicht weiter beschritten hat, wie der zweigeschlechtliche Diskurs zur Materialität (geschlechtlicher) Körper werden kann. Die

7.3 Diskursive Erzeugung von Geschlecht

217

Verinnerlichung, das ‚Einverleiben‘ von Normen verleiht diesen eine besondere Authentizität, weil sie als ‚unmittelbar‘ erlebt werden. Diskurstheorie beschreibt aber nicht nur eine spezifische Theorie, sondern auch eine methodische Orientierung. Diskursanalysen in Anlehnung an Foucault und Butler sind längst wichtiger Teil eines wissenssoziologischen Forschungsprogramms, das sich mit der Entstehung, Verbreitung und Durchsetzung vorherrschender Diskurse auseinandersetzt. Diskurse sind nicht beobachtbar oder direkt abfragbar. Diskursanalytische Verfahren bringen daher ihren Gegenstand erst hervor. Sie schälen aus einer Vielzahl von Texten und Artefakten diese überspannenden Aussagen heraus, anhand derer sie auf Diskurse schließen können. Das können wissenschaftliche oder alltägliche Diskurse sein, die z. B. über Interviews und Gruppendiskussionen herausgearbeitet werden, sowie medial, literarisch oder künstlerisch vermittelte Diskurse (Bublitz 2007). Zur diskurstheoretischen Auseinandersetzung mit wissenschaftlichen Diskursen liegen in der Geschlechtersoziologie bspw. H. Bublitz’ „Genealogie und Archäologie der Geschlechterdifferenz“ (1998) sowie S. Harks „Dissidente Partizipationen. Eine Diskursgeschichte des Feminismus“ (2005) vor. Bublitz analysiert wissenschaftliche Diskurse, die um 1900 eine ‚Schwächung männlicher Identitäten‘ und ‚Verweiblichung‘ der Männer beklagen, und zeigt auf, wie sich diese in den Veränderungen der Moderne widerspiegeln, d. h. in einer Zeit, in der sich Frauen zunehmend politische, ökonomische, wissenschaftliche und kulturelle Zugänge erkämpften (Bublitz 1998). Sabine Hark zeigt mit ihrem Titel bereits an, wie sie die Entwicklung des „akademisch gewordenen Feminismus“ interpretiert: als abweichende Teilnahme, also weder ‚drin‘ noch ‚außen vor‘. „Wissenschafttreiben“ sei deshalb „politische Aktivität, weil es stets darum geht, wer welche Geschichte(n) erzählen kann und welchen Geschichten die Autorität zukommt, das Feld ‚angemessen‘ zu repräsentieren“ (Hark 2005, S. 37). Feministische Narrationen (i. e. solche wissenschaftlichen „Geschichten“) mussten sich erst den Platz erobern, Frauen- und Geschlechter-Geschichte neu schreiben zu dürfen und dominante Diskurse zu überschreiben. Hark kritisiert dabei das Vorherrschen heterosexueller Diskurse in der Frauen- und Geschlechterforschung. Queer Studies Der Begriff der ‚Heteronormativität‘ hat mittlerweile den Begriff der ‚Zwangsheterosexualität‘ abgelöst. Er wurde von Michael Warner (1991) geprägt, um aufzuzeigen, dass Heterosexualität in unserer Gesellschaft mehr ist als eine sexuelle Orientierung oder ein sexuelles Verhalten. Sie ist eine ‚Lesart‘ des Sozialen, die alles ihrer Logik gemäß sortiert und bewertet. Heteronormen lenken Kindergartenspiele (vgl. Kap. 9.2), nicht weniger als naturwissenschaftliche Beobachtungen (vgl. Kap. 9.4.2), sie schreiben eine zweigeschlechtliche Normalität fort, in der sie auch Hierarchien zwischen Geschlechtern festigen und legitimieren (vgl. Warner 1991; Hennessy 2000; Wagenknecht 2007). Mit den Queer Studies wird Heteronormativität ‚dekonstruiert‘, indem ihre Untersuchungen dort ansetzen, wo die Heteronormen ‚sichtbar‘ werden. D. h. es wird der Weg ‚rückwärts‘ gegangen: Von dem alltäglichen selbstverständlichen Erleben (oder der Kunst, Literatur, Architektur, Wissenschaft …) aus wird das jeweilige Verhalten auf die ihm unterliegenden Annahmen hin untersucht und diese weiter auf ihnen zugrunde liegende Normen und Vorstellungen etc. Dies geschieht zumeist dort, wo Norm(alität)en brüchig werden. Darauf bezieht sich der englische Begriff „queer“. Er ist eine im (englischsprachigen) Alltag genutzte, an sich ab-

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7 Zweigeschlechtlichkeit als Problem

wertende Bezeichnung alldessen, was im Deutschen mit ‚pervers‘ oder ‚abartig‘ bezeichnet würde, v. a. Trans-, Homo-, Bi- und Intersexualität. Die politische Bewegung, die sich auch nach wie vor unter dem Kürzel „LGBIT“ (für Lesbian, Gay, Bi-, Inter-, Transsexual) für eine Öffnung beschränkender Geschlechter- und Sexualitätsnormen einsetzt, identifiziert sich jedoch seit den 1990er Jahren zunehmend selbst mit der Bezeichnung ‚queer‘. Wie bei den Begriffen ‚schwul‘ und ‚lesbisch‘ wurde mit der Selbstaneignung des Begriffs dieser aufgewertet – als Beleidigung greift er so zunehmend ins Leere. Unter der erstmals von Teresa de Lauretis (1991) eingeführten Bezeichnung ‚Queer Studies‘ wird die Selbstaneignung nun noch weitergetrieben, indem ‚queer‘ nicht nur wissenschaftlich definiert und gefüllt wird, sondern es auch darum geht, Definitionsmacht über das ‚Normale‘ zu gewinnen. Genau damit ‚verqueren‘ sie Heteronormativität. Im Alltagsdenken werden ‚abweichende‘ Sexualitäten und geschlechtliche Identität unter Bezugnahme auf das Schema der heterosexuellen Zweigeschlechtlichkeit ‚erklärt‘. Homosexuelle werden als Abweichungen von ‚richtigen‘ Männern/Frauen verstanden und homosexuellen Paaren wird unterstellt, dass sie die heterosexuellen Schemata einer ‚männlichen‘ und einer ‚weiblichen Rolle‘ im Paar kopieren würden. Indem die Queer Studies nun Heterosexualität zu ihrem Forschungsgegenstand machen, zeigen sie auf, wie allein schon Fragen danach, woher Homosexualität komme, ob es z. B. genetisch sei oder auf einer frühkindlichen Erfahrung beruhe, Heterosexualität zur selbstverständlichen Norm machen. Ein sehr frühes Beispiel für diese ‚Verquerung‘ ist Martin Rochlins „Heterosexual Questionnaire“ von 1972: „1. Was denken Sie, hat Ihre Heterosexualität verursacht? 2. Wann und wo haben Sie entschieden, dass Sie ein/e Heterosexuelle/r sind? 3. Kann es sein, dass es nur eine Phase ist, aus der Sie raus wachsen werden? (…) 5. Wissen Ihre Eltern, dass Sie hetero sind? Wissen es Ihre Freunde und wie haben sie reagiert? 6. Wenn Sie nie mit einer Person des gleichen Geschlechts geschlafen haben, kann es sein, dass Sie vielleicht nur eine/n gute/n homosexuelle/n Partner/in brauchen? 7. Warum bestehen Sie darauf, Ihre Heterosexualität zur Schau zu tragen? Können Sie nicht einfach sein, wer Sie sind und darüber schweigen? (…) 10. Überproportional häufig geschieht Kindesmissbrauch durch heterosexuelle Täter. Halten Sie es für sicher Ihre Kinder heterosexuellen Lehrern anzuvertrauen? (…)“ (Rochlin 1972, Übers. d. V.). Queer Studies haben also – wie die Frauen- und Geschlechterforschung – zwei Wurzeln: a) ein politischer Aktivismus, der nach wie vor besteht, da Homosexualität in den meisten Ländern nicht rechtlich gleichgestellt ist, in vielen Ländern homosexuelle Handlungen verboten und teilweise sogar mit der Todesstrafe bedroht sind (für die rechtliche Situation in Deutschland siehe Kap. 5.1 und 6.1). b) die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Geschlecht – neben Butler und de Lauretis gelten noch Gayle Rubin und Eve Sedgewick als Quellen der Queer Studies. Der Anschluss an Butler liegt zum einen nahe, da ihre Theorie diese doppelte Verortung bereits in sich trägt und zum zweiten, weil Geschlecht (insbesondere Zweigeschlechtlichkeit) in ihrem Ansatz an Bedeutung verliert. Während im traditionell feministischen Denken das Inklusionsmerkmal ‚Frau-Sein‘ hochgehalten wird, besteht ‚queer‘ gerade darin, „stabile Identitätskategorien“, „Felder der Zugehörigkeit und des Ausschlusses, der Normalität und der Abweichung“ abzulehnen (Engel 2005, S. 262 ff.). Die Queer Studies zielen also gerade nicht darauf ab, eine positive Identitätspolitik als ‚Schwule‘, ‚Lesben‘, ‚Intersexuelle‘ etc. zu begründen, sondern darauf, über „VerUneindeutigungen“ (Engel 2005) zwei „Machtregime“ aufzubrechen:

7.3 Diskursive Erzeugung von Geschlecht • •

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Normalisierungsmacht, die darauf beruht Sortierungen und Kategorisierungen vorzunehmen, mit denen das ‚Richtige‘ und das ‚Abweichende‘ definiert werden (vgl. hierzu auch Kap. 9.4.2), Hierarchisierungen, wie z. B. Rassismus, Sexismus und Homophobie.

Die beiden Machtregime sind nicht identisch, jedoch miteinander verschränkt, da Hierarchien häufig über Normalisierungsmacht und Abweichungsdefinition legitimiert werden. Am Beispiel der sogenannten ‚Homoehe‘ lässt sich aufzeigen, dass diese Machtregime jedoch auch gegeneinander verschoben sein können. Die Normalisierungsmacht besteht in einer „staatlichen Heteronormativität“ (Raab 2011). Wollen Homosexuelle ihre Paarbeziehung im ähnlichen Maße anerkannt bekommen, so müssen sie sich den Heteronormen der monogamen, sexuellen, unterhaltspflichtigen, behördlich regulierten Zweierbeziehung unterwerfen. Auf diese Weise steigen sie in der hierarchischen Differenzierung von Paarbeziehungen gegenüber denjenigen Homosexuellen auf, die sich dem Machtregime der Normalisierung nicht beugen (Raab 2011, S. 323). Die höhere hierarchische Position ist hier also damit ‚erkauft‘, dass die Normalisierungsmacht der Anderen anerkannt und bestärkt wird.

7.3.4

Nancy Fraser: Kritische Theorie und Dekonstruktion

Für eine sich explizit feministisch verstehende Geschlechtertheorie bietet nach wie vor die ‚kritische Theorie‘ wichtige Anschlussmöglichkeiten. Eine der Positionen, die sowohl an die kritische Theorie anschließt als auch an diskurstheoretische Figuren der Dekonstruktion, ist die von Nancy Fraser, Professorin an der New School for Social Research in New York. Kritische Theorie und Dekonstruktion als unvereinbare Alternativen zu betrachten, hieße „falsche Gegensätze“ (Fraser 1993, S. 59) aufzumachen und die feministische Theorie um wesentliche Einsichten zu bringen. Seit einigen Jahren ist Nancy Fraser vor allem mit ihrer Theorie der Geschlechtergerechtigkeit einem größeren Publikum bekannt geworden (vgl. z. B. Honneth/Fraser 2003). Entsprechend ihrer Orientierung an der „Kritischen Theorie“ geht es Fraser nicht um einzelne Phänomene in der sozialen Ungleichheit der Geschlechter, sondern um die Verfasstheit einer Gesellschaft, in der die Kämpfe gegen die Unterordnung von Frauen zu einem wichtigen Motor sozialen Wandels geworden sind. Diese Verfasstheit insgesamt in den Blick zu nehmen, bedeute Herrschafts- und Unterdrückungsverhältnisse aufzudecken und jene Arbeiten, die diese Zusammenhänge weniger erhellen als verdunkeln, als „ideologisch“ zu kritisieren. Es bedeute außerdem, Perspektiven für eine Praxis zu entwickeln, welche die Emanzipation benachteiligter Gruppen zum Ziel hat. Immer wieder hat sie betont, dass eine feministische Theorie in diesem Sinne normative Urteile fällen und emanzipatorische Alternativen angeben können muss (z. B. Fraser 1993). Vor diesem Hintergrund stellt sie an Jürgen Habermas als einem der bedeutendsten Vertreter der neueren kritischen Theorie die Frage, inwieweit seine Theorie dazu beitragen kann, diese Ziele zu realisieren (Fraser 1992). Nun wurde für die neuere kritische Theorie schon mehrfach konstatiert, dass sie insofern in der Tradition der älteren verbleibt, als auch hier die gesellschaftliche Verortung von Frauen primär in Bezug auf die Familie erfolgt. Familie wird einerseits in einen Bezug zur Produktions- und Tauschsphäre gestellt, da der Familienunterhalt erwirtschaftet werden muss, andererseits aber steht die Familie als Raum intimer Beziehungen dieser entgegen (vgl. Kap. 3.3). So schreibt z. B. Habermas an einer jener sehr wenigen Stellen, an denen er sich diesem Problem zugewendet hat:

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7 Zweigeschlechtlichkeit als Problem

„Im übrigen verfügen die Frauen aus dem historischen Erbe der geschlechtlichen Arbeitsteilung, der sie in der bürgerlichen Kleinfamilie unterworfen waren, über Kontrasttugenden, über ein zur Männerwelt komplementäres, der einseitig rationalisierten Alltagspraxis entgegengesetztes Wertregister“ (Habermas 1981, S. 579). Obwohl Nancy Fraser in anderer Hinsicht an die Habermas’sche Theorie anschließt, kritisiert sie, dass eben diese Sichtweise Habermas dazu führe, dass er den geschlechtlichen Subtext in den von ihm entwickelten Modellen übersehe. In seiner Gegenüberstellung von materieller Produktion und symbolischer Reproduktion, Lebenswelt und System, Öffentlichkeit und Privatheit komme der Geschlechtszugehörigkeit keine Bedeutung zu. Damit aber habe er den „patriarchalen Charakter“ des ökonomischen und administrativen Systems des Spätkapitalismus nicht sehen können und auch der durch Geld und Macht vermittelte Charakter männlicher Herrschaft in der häuslichen Sphäre spätkapitalistischer Lebenswelten sei theoretisch nicht eingefangen worden (Fraser 1992, S. 137). In dieser Kritik unterscheidet sich Fraser auf den ersten Blick nicht grundsätzlich von der Kritik, die z. B. Becker-Schmidt an der älteren kritischen Theorie geäußert hat. Frasers Ansatz wurde aber von Becker-Schmidt nachdrücklich zurückgewiesen (Becker-Schmidt 2001). Auch Fraser sieht indes die für Frauen nachteilige Trennung einer „männlichen Öffentlichkeit“ von einer privatisierten, „weiblichen“ Kinderaufzucht in „dem Geschlechterverhältnis“ begründet. Aus dieser Gegenüberstellung der Geschlechter als Großgruppen folgt dann auch, dass für sie die männliche Herrschaft ebenso wie der Geschlechterkampf sozial allgegenwärtig sind (Fraser 1993, S. 147). Wie kann diese Argumentation mit dem Ansatz einer „Dekonstruktion von Geschlecht“ zusammengebracht werden? Nancy Fraser schließt explizit an Butlers Kritik der Naturalisierung und Essentialisierung von Geschlecht an, sie übernimmt die Argumentation eines grundsätzlich kontingenten, performativ konstruierten Charakters dessen, was als ,Inhalt‘ für Geschlechtsidentitäten konstitutiv ist (ebd., S. 151). Damit verkürzt sie freilich die Rezeption um eine entscheidende Dimension: Es geht ihr nicht um Geschlecht als Gegenstand, sondern um kontingente, mit Geschlechtszugehörigkeiten nicht zwingend verkoppelte kulturelle Bedeutungen. Aus ihrer Sicht trägt der diskurstheoretische Ansatz nicht weit genug, weil er „zu dürftig für feministische Zielsetzungen ist“ (ebd., S. 153). Er sei lediglich geeignet für die „Mikroebene, für das Innersubjektive und die Geschichtlichkeit der Geschlechterbeziehungen“, nicht aber für die „Makroebene, für das Intersubjektive und das Normative“. Dafür stehe nach wie vor die „kritische Theorie“. Damit nimmt sie zumindest auf der Theorieebene die im Butlerschen Ansatz enthaltene Provokation nicht auf und will diese auch nicht aufnehmen. Ihr geht es vielmehr explizit darum, einen „nichtpuristischen, eklektischen, neopragmatistischen Ansatz zu entwickeln“ (ebd., S. 147), mit dem normative Fragen gestellt und beantwortet werden können. Diesen normativen Fragen wendet sie sich in ihrer Theorie der Geschlechtergerechtigkeit explizit zu und verbindet die verschiedenen Theorieelemente zu einem zweidimensionalen Modell von Gerechtigkeit, dass sowohl eine Umverteilung materieller Ressourcen als auch Achtung und Anerkennung umfasst, ohne das Eine auf das Andere zu reduzieren. Normativer Kern ist die „partizipatorische Parität“ oder „gleichberechtigte Teilhabe“: „Damit die partizipatorische Parität möglich werden kann, müssen (…) wenigstens zwei Bedingungen erfüllt sein. Zum einen muß die Verteilung materieller Ressourcen die Unabhängigkeit und das „Stimmrecht“ der Partizipierenden gewährleisten. Dies will ich die objektive Bedingung partizipatorischer Parität nennen. Diejenigen Formen und Ebenen ökonomischer Abhängigkeit und Ungleichheit, die die Parität der Beteili-

7.3 Diskursive Erzeugung von Geschlecht

221

gung erschweren, schließt sie von vornherein aus. (…) Die zweite Bedingung verlangt dagegen, daß institutionalisierte kulturelle Wertmuster allen Partizipierenden den gleichen Respekt erweisen und Chancengleichheit beim Erwerb gesellschaftlicher Achtung gewährleisten. Dies will ich die intersubjektive Bedingung partizipatorischer Parität nennen. Dies schließt institutionalisierte Normen aus, die einige Gruppen und die mit ihnen verbundenen Qualitäten systematisch herabsetzen“ (Fraser 2003, S. 55, Herv. dort). Als Grundproblem der Forderung nach „gleichberechtigter Teilhabe“ stellt sich die Frage, welche Ansprüche auf Umverteilung berechtigt sind und welche Forderung nach Anerkennung legitim ist – und welche illegitim. Fraser löst auch diese Frage über den Bewertungsstandard der „partizipatorischen Parität“; jede Forderung kann und muss daran bemessen werden, ob die vorliegenden Bedingungen Menschen daran hindern, als Ebenbürtige am Gemeinschaftsleben teilzunehmen (ebd., S. 58). Ihr Hauptaugenmerk liegt darauf, die aus einer feministischen Theorie in diesem Sinne ableitbaren legitimen Ansprüche auf soziale Gleichheit und legitimen Forderungen nach Anerkennung miteinander zu verbinden und in Einklang zu bringen. Dass Umverteilung und Anerkennung in den von ihr in den Blick genommenen hochmodernen Gesellschaften in einem Spannungsverhältnis stehen, macht Fraser an vier Differenzierungslinien deutlich: Klasse, Rasse (Ethnizität), Gender und Sexualität. Auch wenn Fraser die Trennung der Differenzierungslinien als analytische versteht und davon ausgeht, dass im realen Leben die Linien nie isoliert auftreten, sondern sich stets kreuzen, so übergeht sie damit doch einen der zentralen Punkte in der Butlerschen Theoriekonzeption, dass Zweigeschlechtlichkeit und Heterosexualität miteinander verbunden sind. Bei Klasse und Sexualität lägen die Dinge „einfach“: In dem einen Fall (Klasse) gehe es eindeutig um Umverteilung materieller Ressourcen, in dem anderen um Anerkennung von sozial verachteten Formen sexueller Orientierung. In beiden Fällen wären „affirmative“ – systemimmanente – Lösungsmöglichkeiten denkbar, durch die lediglich die Folgewirkungen ungerechter gesellschaftlicher Verhältnisse ausgeglichen werden, aber auch solche, die über den aktuellen Status hinausweisen und als „transformative“ bezeichnet werden, weil durch sie die Voraussetzungen dieser Verhältnisse verändert werden können. In Bezug auf Sexualität gilt ihr eine „oberflächliche Neuzuteilung von Respekt“ etwa in der Ermöglichung der „Schwulenehe“ als immanent-affirmativ, die Dekonstruktion der Heteronormativität hin zu einer gründlichen Umstrukturierung von Anerkennungsverhältnissen als transformativ. Bei „Rasse“ (Ethnizität) und „Gender“ aber lägen die Dinge komplizierter, hier gehe es um „dilemmatische Differenzierungen“. Rasse/Ethnizität und Gender seien „zweiwertig“: für sie müsse sowohl eine Politik der Umverteilung als auch eine Politik der Anerkennung wirksam werden. In diesen beiden Kategorien würden Menschen sowohl unter ökonomischer als auch kultureller Ungerechtigkeit leiden (vgl. ebd., S. 32). ,Gender‘ wird von ihr explizit als ökonomisch verankertes Unterscheidungskriterium gesehen, als ein grundlegendes Organisationsprinzip des (spätkapitalistischen) Wirtschaftssystems, das die für Frauen nachteilige Unterscheidung von bezahlter Erwerbsarbeit und unbezahlter Familienarbeit hervorbringe und ihre Benachteiligung in der Erwerbsarbeit (Geschlechtersegregation) verursache. Gender durchdringe aber auch die Interpretations- und Bewertungsschemata unserer Kultur und privilegiere dabei „Männlichkeit“. Diese Schemata – so die Argumentation – seien weitgehend unabhängig vom ökonomischen System und bedürfen anderer Strategien. In der Diskussion dieser „anderen“ Strategien wehrt sie die Anerkennung von Differenz (z. B. einer spezifisch ‚weiblichen Identität‘) als Grundlage für eine Gruppenidentität ‚der‘

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7 Zweigeschlechtlichkeit als Problem

Frauen nachdrücklich ab; das Ziel läge gerade nicht in der Anerkennung einer Differenz, die zur Grundlage einer Separierung von Frauen aufgrund benennbarer Eigenschaften, Fähigkeiten oder Werthaltungen benutzt werden könne. Auch müssten die „Differenzen unter Frauen“ entlang anderer Achsen sozialer Ungleichheit (Klasse, Rasse, Sexualität) im Blick behalten werden. Ziel ist daher vielmehr einen – Frauen nur zugeschriebenen – „Gruppenstatus“ und mit ihm jene institutionalisierten kulturellen Wertmuster, die eine „gleichberechtigte Teilhabe“ verhindern, abzuschaffen, und sich für solche Wertmuster einzusetzen, die eine Teilhabe fördern. Für diese Strategie steht das Modell der „universellen Betreuungsarbeit“. Hinter diesem Modell steht die Überlegung, dass eine Gleichstellungsstrategie, die allein darauf abziele, Frauen in die Erwerbsarbeit zu integrieren, diese lediglich an das „männliche Lebensmodell“ anpasse. Andererseits würde eine Gleichstellung der von ihnen unbezahlt erbrachten Betreuungsarbeit etwa durch einen „Familienlohn“ nur die Differenz auf der Grundlage eines naturalisierenden Geschlechterkonzepts festschreiben und damit ebenfalls die männliche Dominanz bestätigen. Im „Modell der universellen Betreuungsarbeit“ geht es dagegen an zentraler Stelle darum, dass Männer dazu gebracht werden, ihren Anteil an unbezahlt erbrachter Haus- und Betreuungsarbeit zu übernehmen. Damit werden die in spätkapitalistischen Gesellschaften typischen Lebensmuster von Frauen (Beruf und Familie) zum Standard und zur Norm gemacht. Nur so sei es möglich, die einseitige Zuweisung des reproduktiven Bereichs an Frauen aufzubrechen und damit sowohl Ressourcen umzuverteilen als auch Anerkennungschancen. Etablierte Muster sozialer Wertschätzung bzw. Geringschätzung würden so unter Druck geraten und Frauen und Männer sich in ihren Aufgaben und Verantwortlichkeiten ähnlicher werden. Als Utopie scheint eine Welt auf, in der auf der Grundlage sozialer Gleichheit „laufend neue Konstruktionen von Identität und Differenz frei gebildet und rasch wieder dekonstruiert werden“ (Fraser 2001, S. 60). Erst damit würde auf allen Ebenen – der gesellschaftlichen Praxis ebenso wie in den darauf gerichteten Theorien – Geschlecht als eine Kategorie sozialer Ordnung obsolet werden. Für Nancy Fraser steht geschlechtliche Ungleichheit im Mittelpunkt ihrer Überlegungen. Aus dem Butlerschen Entwurf nimmt sie zwar deren Essentialisierungskritik auf, bezieht diese dann aber vor allem auf „Inhalte“ der Mann/Frau-Kategorisierung, wobei sie zu diesen „Inhalten“ auch den Zwang zur Heterosexualität zählt. Sie arbeitet also eher mit der Geschlechterunterscheidung als diese selbst zu einem Gegenstand zu machen. Nancy Fraser geht es in der Rezeption der verschiedenen Theorien weniger um eine Weiterentwicklung der jeweiligen Theorie, sondern primär darum, verschiedene Theorien als eine Art Werkzeugkasten zu benutzen, um eine politische Theorie zu entwickeln, die für verschiedene Dimensionen sozialer Wirklichkeit offen ist und die Problematik der sozialen Ungleichheit der Geschlechter nicht verkürzt. Vertiefende Literatur: • • • •

Butler, Judith, Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt am Main 1991. Fausto-Sterling, Anne, Gefangene des Geschlechts? Was biologische Theorien über Mann und Frau sagen, München (u. a.) 1988. Foucault, Michel, Sexualität und Wahrheit. Band 1: Der Wille zum Wissen, Frankfurt am Main 1983. Fraser, Nancy, Axel Honneth, Umverteilung oder Anerkennung? Frankfurt am Main 2003.

7.3 Diskursive Erzeugung von Geschlecht •

• • • • • •

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Gildemeister, Regine, Angelika Wetterer, Wie Geschlechter gemacht werden. Die soziale Konstruktion der Zwei-Geschlechtlichkeit und ihre Reifizierung in der Frauenforschung, in: Knapp, Gudrun-Axeli (Hrsg.), TraditionenBrüche: Entwicklungen feministischer Theorie, Freiburg im Breisgau 1992, S. 201–254. Hirschauer, Stefan, Die soziale Konstruktion der Transsexualität. Über die Medizin und den Geschlechtswechsel, Frankfurt am Main 1993. Kessler, Suzanne J., Wendy McKenna, Gender. An Ethnomethodological Approach, New York 1978. Lorber, Judith, Gender-Paradoxien, Opladen 1999. Schiebiger, Londa, Am Busen der Natur. Erkenntnis und Geschlecht in den Anfängen der Wissenschaft, Stuttgart 1995. Villa, Paula-Irene, Judith Butler, Frankfurt am Main (u. a.) 2003. West, Candace, Don H. Zimmerman, Doing Gender, in: Gender & Society 1 (1987), S. 125–151.

Denkanstöße und weiterführende Fragen: Die beiden hier vorgestellten Ansätze sind die wohl verbreitetsten zur Erklärung einer sozialen Konstruktion von Geschlecht – ihre jeweiligen Vorzüge liegen in unterschiedlichen Bereichen. Die Diskurstheorien werden vor allem in Wissenschaften genutzt, die sich mit (mehr oder weniger) signifikanten Symbolen auseinandersetzen, also z. B. mit Sprache und sprachlich verfassten Gegenständen wie Belletristik oder wissenschaftlicher Literatur, mit Artefakten wie der Architektur oder Bildern. Der interaktionstheoretische Zugang dagegen befasst sich vor allem – wie der Name sagt – mit Interaktionen, also mit sozialen Situationen, in denen selbstredend auch kommuniziert wird. Beide Zugänge beschäftigen sich mit dem, was uns im Alltag selbstverständlich erscheint, so dass sie vor allem Irritationen sozialer Normalität nutzen, um Selbstverständlichkeiten herauszuarbeiten. Entwerfen Sie nach dem Vorbild des „heterosexuellen Fragebogens“ von Rochlin ein paar Fragen, die Zweigeschlechtlichkeit erfragen. • Welche Dimensionen der Zuschreibung von Geschlecht sind hierbei zu berücksichtigen? • Wie ließe sich das als „Krisenexperiment“ gestalten? • Welche ‚Reparaturen‘ der Irritation könnten Befragte oder Beforschte daraufhin anwenden?

8

Neuerschließen soziologischer Theorien

Kapitelvorschau In dem Maße, wie die Geschlechterforschung in den 1990er Jahren in den universitären Disziplinen verankert wird, wird neben einer interdisziplinär ausgerichteten Forschung auch die Anbindung an die Fachtheorien vorangetrieben. Weitere soziologische Theorien werden auf ihr Erklärungspotential für Geschlechterfragen überprüft. Vor allem für Fragen nach Beharrlichkeit und Wandel von Geschlechterunterschieden und geschlechtlicher Ungleichheit werden in den hier vorgestellten Ansätzen Antworten gesucht.

8.1

Figurationssoziologie

8.1.1

Vom Fremd- zum Selbstzwang

Norbert Elias (1897–1990) gehört zur Generation A. Schütz’ und K. Mannheims, wurde jedoch erst ab den 1960er Jahren auch nach und nach in Deutschland rezipiert. Er studierte Medizin und Philosophie – eine Kombination, die sein Menschenbild prägte – und wandte sich anschließend in Heidelberg der Soziologie zu. 1930 ging er mit Mannheim nach Frankfurt. In seiner Habilitationsschrift über „Die höfische Gesellschaft“ baute er zum einen seine Überlegungen zu historischen und sozialen Entwicklungen menschlicher Empfindungen und Wahrnehmungen aus und entfaltete einen zweiten entscheidenden Grundgedanken seiner Theorie: die Bedeutung von Machtverhältnissen. Hier stehen nunmehr nicht (machtvolle) Akteure im Mittelpunkt der Betrachtung, sondern soziale Beziehungen innerhalb von Gesellschaften, bzw. – wie er das nennt – „Figurationen“. 1933 floh Elias nach England, wo er spät (1954) seine erste Professur erhielt (vgl. Korte 1997; 2004, S. 156f.). In seinem Hauptwerk „Über den Prozess der Zivilisation: Soziogenetische und Psychogenetische Untersuchungen“ (1939 [1937]) befasst sich N. Elias mit einem Gegenstand, der uns schon bei Marx, Comte und Spencer begegnete: der Suche nach einem Entwicklungsprinzip europäischer Gesellschaften. Elias geht dies allerdings von einer gänzlich anderen Warte aus an und mit recht ungewöhnlichem empirischen Material: alten Benimmbüchern. Er analysiert die jeweiligen sozialen Verhaltensstandards der verschiedenen Epochen und erschließt soziohistorische Bedingungen, auf die dieses Verhalten verweist. Dabei bezieht er explizit zwei Prozesse aufeinander, die er im Untertitel benennt: die Psychogenese des Individuums und die Soziogenese in der Staatenbildung. Grundlegende These ist, dass die Monopolisierung von Gewalt durch den modernen Staat zusammen mit der Zivilisierung des Individuums entstand, so dass die Gefahr des einen Individuums für das andere einer Kontrolle durch gesellschaftliche Regelungen zugeführt wurde. Zum entscheidenden Element der sozialen Kontrolle wird die Selbstbeherrschung, d. h. die „Wandlung des Trieb- und Affekthaushaltes“ (Elias 1939a, S. 171).

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8 Neuerschließen soziologischer Theorien

Der Prozess der Monopolisierung hat sich zum ausgehenden Mittelalter so weit entwickelt, dass vom 13. bis 18. Jahrhundert autokratische Staaten entstanden. Immer weniger Herrschende standen an der Spitze eines Netzes abhängiger Vasallen und Höflinge. Mit den zunehmenden Abhängigkeiten zwischen den Menschen hatten die Handlungen der Einzelnen auch weiterreichende Konsequenzen für das gesamte Gefüge („Verlängerung der Handlungsketten“). In diesem Prozess entstand ein größeres Reglement und gleichzeitig ermöglichte dieses Reglement diesen Prozess auch erst, denn je dichter die Abhängigkeitsverhältnisse geknüpft waren, umso vorhersehbarer musste das Handeln, umso verlässlicher der Umgang werden. Mit der Monopolisierung stiegen die Chancen der Herrschenden, Regeln auch durchzusetzen und zu überwachen (Elias 1939b). Reglements über das Zusammenleben der Menschen folgen (sofern sie sich durchsetzen) einer Entwicklung, die für Elias drei Generationen umspannt und jeweils im Adel begann. Die erste Generation weist ein bestimmtes Verhalten auf, z. B. am Tisch zu rülpsen. In der zweiten Generation wird dieses Verhalten nun reguliert (man soll nicht rülpsen) und Abweichungen werden sanktioniert. In der dritten Generation geht der Fremdzwang in einen Selbstzwang über. Es ist Teil der Selbstwahrnehmung, dass man nicht rülpst und keine Frage einer externen Bestrafung mehr. Der gleiche Prozess entspinnt sich ab dieser Generation nun auch im Lebenslauf eines Einzelnen: Das Individuum kommt als Baby auf die Welt, das noch ‚Bäuerchen‘ machen soll und darf. Im Laufe des Älterwerdens wird dies nun sanktioniert und letztlich so internalisiert, dass man, selbst wenn man alleine ist, ein Rülpsen unterdrückt. Nicht nur das Rülpsen gehört zu denjenigen ‚natürlichen‘ Körperäußerungen, die im Laufe des Zivilisationsprozesses reglementiert wurden, die „Trieb- und Affektkontrolle“ betrifft die ‚natürlichen Bedürfnisse‘ wie z. B. das Essen in besonderem Maße. Dieses wurde zu einem sozialen Ereignis stilisiert, d. h. hier finden wir mit den Tischmanieren die größte Verfeinerung der alltäglichen Sitten. Weitere „natürliche Funktionen des Menschen“, wie z. B. Ausscheidungen (auch Spucken und Schnäuzen), Sexualität, Körpergerüche etc. wurden dagegen aus dem öffentlichen Bereich verdrängt und mit Ritualen und Sprachregelungen versehen, die die tabuisierten Bereiche schützen. Scham- und Peinlichkeitsschwellen stiegen, d. h. emotionale Reaktionen auf das eigene Verhalten (Scham) und das Verhalten anderer (Peinlichkeit) regulier(t)en nun immer mehr Verhaltensweisen (Elias 1939a). „Es scheiden sich mit anderen Worten im Leben der Menschen selber mit der fortschreitenden Zivilisation immer stärker eine intime oder heimliche Sphäre und eine öffentliche Sphäre, ein heimliches und ein öffentliches Verhalten voneinander. Und diese Spaltung wird den Menschen so selbstverständlich, sie wird ihnen dermaßen zur zwingenden Gewohnheit, dass sie ihnen selbst kaum noch zum Bewußtsein kommt“ (Elias 1939a, S. 355). Der zweite Bereich, der neben den sog. „natürlichen Funktionen“ reguliert wurde, waren die Affekte. Insbesondere Gewalt und die bereits erwähnte Sexualität wurden immer stärkeren Kontrollen unterworfen mit der Folge, dass v. a. Aggressionen und sexuelle Lust sowohl im öffentlichen Bereich immer mehr zurücktraten, als auch im eigenen Empfinden stärker unter Kontrolle gehalten wurden (Elias 1939a). Wir merken das heute z. B. daran, dass uns pädophile Erregung widerlich und abstoßend erscheint, Bestrafungen wie Peitschenhiebe oder Handabhacken keine Schaulust, sondern Abscheu und Gräuel bei uns hervorrufen. Der Zivilisationsprozess ist für Elias nicht (und wohl eher niemals) abgeschlossen. Er ist der umfassende soziale Prozess europäischer bzw. westlicher Gesellschaften, der in anderen Formen in anderen Kulturen ebenfalls stattfindet. Dieser Prozess, also gesellschaftlicher

8.1 Figurationssoziologie

227

Wandel, ist für Elias der ‚Normalzustand‘. Aufgabe der Soziologie ist für ihn daher, ‚IstZustände‘ nur in ihrem Gewordensein zu betrachten, d. h. Entwicklungsprozesse zu untersuchen. In der steten Entwicklung sieht er eine „immanente Ordnung des Wandels“ (Elias 1970, S. 200): Der Wandel ist weder auf spezifische, ihm vorgeschaltete Ursprünge oder Urheber als Motoren zurückzuführen, sondern entwickelt sich allein aus den in ihm entstehenden Verflechtungen heraus stets weiter, noch verläuft er zufällig in bestimmte Richtungen, sondern weist (Selbst)Strukturierungen auf. Diese immanente Ordnung besteht in der Figurationssoziologie in den zu untersuchenden Strukturen: „Das Zusammenleben von Menschen in Gesellschaften hat immer, selbst im Chaos, im Zerfall, in der allergrößten sozialen Unordnung eine ganz bestimmte Gestalt. Das ist es, was der Begriff Figuration zum Ausdruck bringt“ (Elias 2006 [1986], S. 101). Figurationen statt ‚Gesellschaft‘ In der Betrachtung des Zivilisationsprozesses entfaltet Elias auch sein theoretisches Konzept: die Figurationssoziologie. Indem er die Prozesshaftigkeit des Sozialen betont, wird nun bei ihm Persistenz und Stabilität erklärungsbedürftig: Wie kommt es, dass wir bestimmte Muster als beharrlich erleben? Dazu verwendet Elias Begriffe wie Beziehungsgeflecht, Machtbalance und vor allem „Figuration“. Unter einer Figuration lassen sich ganz allgemein die Beziehungen, die Menschen miteinander verbinden, verstehen. Die Menschen sind ‚nur‘ Knotenpunkte, an denen das Netz ihrer Beziehungen gespannt wird. Der Begriff der Figuration kann dabei ganze Gesellschaften umfassen, aber auch situative Zusammenkünfte, wie z. B. ein Seminar. Menschen haben damit stets gleichzeitig Teil an verschiedenen Figurationen. So sind Studierende Mitglieder von Seminaren, Vereinen, ihrer Familie, und sie sind aufgrund ihrer Staatsbürgerschaft, Religionszugehörigkeit oder ,social media‘-Präsenz an weiteren Figurationen beteiligt. Auf diese Beziehungsgeflechte greifen sie ein Stück weit zurück, d. h. sie finden in ihnen ein stabiles Element, das ‚da‘ ist, wenn sie online oder wählen gehen, andererseits ist es nur ‚da‘, indem sie an den Prozessen beteiligt sind, die diese Beziehungsgeflechte darstellen. Eine jede ‚Ist-Situation‘ ist dabei stets (vorläufiges) Ergebnis dieser Prozesse und erklärt sich daher nur aus den Verflechtungen heraus. Figurationen sind in dieser Hinsicht als Wirkungszusammenhänge zu verstehen. Das macht Elias’ Konzept der Interdependenzen aus. Monopolisierung bspw. bedeutet, dass sich Figurationen verdichten, Interdependenzen sich dahingehend verändern, dass einer immer mehr von anderen und die anderen immer mehr von diesem einen abhängig werden, während zuvor mehrere von anderen und andere von mehreren abhängig waren. Die Betrachtung von Figurationen ermöglicht es, diese Verschiebungen im Gefüge der Abhängigkeiten zu untersuchen, während sich das Grundprinzip wechselseitiger Abhängigkeit wie ein ‚Naturgesetz‘ durch die unterschiedlichen Figurationen hindurch erhält (Elias 1939b, S. 324 ff.). Wechselseitige Abhängigkeiten sind bei Elias verbunden mit relativer Autonomie. Weder Abhängigkeit noch Unabhängigkeit können jemals absolut sein. Sie sind – in verschiedenen Beziehungen unterschiedlich gewichtete – Elemente ein und derselben Relation. Dasselbe gilt für Individualisierung und soziale Verflechtung: „Ich-“ und „Wir-Orientierungen“ sind aufeinander bezogene, unterschiedlich austarierte Bewegungen auf der gleichen Achse, die nicht in ihren jeweiligen Extrempolen realisierbar wären. Ein wesentliches Merkmal dieser Interdependenzen, also ein Merkmal der Beziehungen, ist Macht. Macht ist damit nicht eine Ressource, die ein Mensch hat, wie unsere Alltagssprache

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8 Neuerschließen soziologischer Theorien

suggeriert. Vielmehr ist Macht Bestandteil einer jeden wechselseitigen Abhängigkeit und bedeutet daher immer eine Machtbalance, also ein Verhältnis relativer Macht: „Machtgewichte [sind] sehr ungleich verteilt. Aber ob die Machtdifferentiale groß oder klein sind, Machbalancen sind überall vorhanden, wo eine funktionale Interdependenz zwischen Menschen besteht“ (Elias 1970, S. 94). So besteht zwischen Eltern und Kindern nicht einfach ein Machtgefälle, in dem die Eltern über ihre Kinder verfügen (z. B. indem sie die Erziehungsgewalt ausüben können), sondern auch andersherum ist das Verhältnis ‚machtvoll‘. Das merken junge Eltern in jeder Nacht, in der sie von dem Kind qua Schreien genötigt werden, aufzustehen und sich zu kümmern. Wie die Macht gewichtet ist, ist eine Frage der Konstellationen, in denen sie sich befinden. In diesem Beispiel Elias’ ist die Gewichtung der Macht, die ein Kind über die Eltern hat, abhängig davon, welcher Wert dem Kind beigemessen wird, also eine Frage, wie (kleine) Menschen, Eltern-Kind-Verhältnisse etc. in den jeweiligen historischen, kulturellen und individuellen Kontexten verstanden und bewertet werden (vgl. ebd., S. 93 ff.). Ein besonderes Machtgefälle stellt die Situation der Etablierten-Außenseiter-Konstellation dar. Anhand dieser zeigte Elias auf, wie sich Gruppenverhältnisse entwickeln, die unabhängig von Beziehungen zwischen Einzelnen bestehen, sich auch auf unbekannte Mitglieder der eigenen oder fremden Gruppe beziehen und dabei Gruppen als scheinbar homogene hervorbringen können. Dieser These liegt eine Studie von Elias und Scotson (1990 [engl.: 1965]) zugrunde, die in einem Vorort Leicesters durchgeführt wurde. Zwei Personengruppen, die sich in Bildung, Berufsstatus (Arbeiter), in ethnischer Herkunft o. ä. nicht unterschieden, standen sich dort gegenüber. Die Gruppe, die die Abgrenzung vollzog, wohnte lediglich länger an diesem Ort als die andere. Im Aufeinandertreffen der beiden Gruppen war die etablierte(re) Gruppe den Zugezogenen gegenüber in einem Machtvorteil. Ein wichtiger Faktor hierzu war vor allem ihre größere Kohäsion, d. h. sie waren bereits miteinander verflochten, während die neu Hinzukommenden sich erst nach und nach (untereinander) hätten vernetzen müssen. „Ihr stärkerer Zusammenhalt gibt einer solchen [i. e. etablierten] Gruppe die Möglichkeit, soziale Positionen mit einem hohen Machtgewicht für die eigenen Leute zu reservieren, was seinerseits ihren Zusammenhalt verstärkt, und Mitglieder anderer Gruppen von ihnen auszuschließen“ (Elias/Scotson 1990, S. 12). Dank des sich so reproduzierenden Ungleichgewichts konnte die machtvollere Gruppe ihre Vorstellungen über sich und die anderen durchsetzen. Das eigene Selbstbild ist Elias zufolge ohnehin zumeist positiver als das Bild, das man von anderen hat (Fremdbild); das Erleben der eigenen Dominanz führt noch zusätzlich dazu, dass sie von sich meinen „sie seien in Hinsicht auf ihre menschlichen Qualitäten besser als die anderen“ (ebd., S. 7). Das sich so selbst zugeschriebene „Gruppencharisma“ korrespondiert mit einer „Gruppenschande“ auf der anderen Seite. Entscheidend ist hier ebenfalls, dass die Machtdifferenz und hier insbesondere die Differenz in der Deutungsmacht von der abgewerteten Gruppe akzeptiert wird. Die Außenseiter beteiligen sich an der Verfestigung des Ungleichgewichts, indem sie die Wertungen mittragen und sich das Fremdbild der anderen als Selbstbild aneignen. Sie sind daher weniger daran interessiert sich gegenüber den anderen zu behaupten, als dass sie vielmehr Anstrengungen unternehmen, um zu ihnen zu gehören.

8.1 Figurationssoziologie

8.1.2

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Geschlechter und Geschlechterverhältnisse in Figurationen

1986 veröffentlicht N. Elias einen Artikel zu Machtverhältnissen zwischen den Geschlechtern unter dem Titel „Wandlungen der Machtbalance zwischen den Geschlechtern: Eine prozeßsoziologische Untersuchung am Beispiel des antiken Römerstaats“. Indem sich Elias – als nun auch in Deutschland geachteter Theoretiker – mit einem Thema auseinandersetzt, das in der Frauen- und Geschlechterforschung intensiv diskutiert wird, bietet er selber seine Theorie als Bezugspunkt für ihren Gegenstand an, würdigt darüber hinaus mit seinem Beitrag diesen Gegenstand und zeichnet so die Frauen- und Geschlechterforschung als ernstzunehmendes soziologisches Betätigungsfeld aus. In dem Aufsatz erklärt Elias zunächst, warum er den Gegenstand der Geschlechterverhältnisse mit dem Begriff der Machtbalance verbindet. Mit einer Machtbalance verbinde man zwei Parteien, die „sich bis an die Zähne bewaffnet gegenüber stehen“ (Elias 1986b, S. 423). Dieses Bild sei für die Geschlechter eher unüblich. Jedoch, so gibt er zu bedenken, wird bspw. in (alten) indischen Bräuchen eine Vormachtstellung der Männer kanonisiert, die so in den „Selbstzwang“ übergegangen seien, dass sie nur auf das Risiko, die Selbstachtung zu verlieren, abgelegt werden könnten, auch wenn es bspw. mitten in London eher irritierend wirke, wenn eine Frau nicht neben ihrem Ehemann läuft. Sich diesem Phänomen über das Konzept einer Machtbalance zu nähern, erscheint ihm aber auch gerade deswegen spannend, weil in Europa eine zwiespältige Situation herrsche. Frauen seien einerseits Männern untergeordnet, andererseits seien Höflichkeitsrituale verinnerlicht, denen gemäß sich Männer gegenüber Frauen so verhalten wie gegenüber ihnen Höherstehenden. Elias nennt Begrüßungsregeln, die bis hin zum für Herrschende vorbehaltenen Handkuss reichten oder die Regel, einer Dame die Tür zu öffnen und sie zuerst durchgehen zu lassen. Für die Untersuchung der Frage der Ausbalancierung der Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern wendet er sich der Situation der römischen Antike zu – nicht, wie zu erwarten gewesen wäre, den Frauenbewegungen des 20. Jahrhunderts. Dies begründet er damit, dass wir nicht davon ausgehen sollten, dass sich die Verlagerung der Machtgewichte linear von einer völligen Ungleichgewichtung hin zu einem stärkeren Gleichgewicht vollzogen hätte. Vielmehr sei dieser Prozess in Schüben und mit Gegenbewegungen vonstattengegangen, aus deren Analyse man auch auf Bedingungen aktueller Schübe und Gegenbewegungen schließen könne. In der römischen Antike habe die Emanzipation der Frauen Ausmaße erreicht, die nur durch entsprechende Revisionen wieder zu der späteren Unterordnung führen konnten. Den Emanzipationsprozess in der römischen Antike zeichnet Elias anhand der Gleichstellung in der Ehe nach, wobei er die Prozesse von einer vollständigen Unterordnung von Frauen als Besitztum über die Änderungen im gelebten Eherecht bis hin zu einer über die Ehe hinausreichenden Gleichheit im Umgang zwischen den Geschlechtern verfolgt. „[E]in vergleichsweise hohes Niveau von wohltemperierter Selbstkontrolle – mit einem Wort: ein Zivilisationsschub gehörte zu den Voraussetzungen, die das Aufkommen und Fortbestehen mehr egalitärer Formen der Geschlechterbeziehungen im alten Rom ermöglichten. Ich glaube, Ähnliches gilt mutatis mutandis auch von unserer Zeit“ (Elias 1986b, S. 448). Elias beginnt seine Analyse der römischen Emanzipation mit einer kurzen Charakterisierung der Ausgangssituation, in der wir sein Verständnis von Geschlecht entdecken können. Als ‚anthropologische‘ Vorannahme setzt er eine physische Überlegenheit von Männern gegenüber Frauen voraus. Diese sei jedoch nicht per se eine Erklärung für die soziale Über- bzw.

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8 Neuerschließen soziologischer Theorien

Unterordnung, sondern nur aufgrund der Bedeutung, die physische Auseinandersetzungen in der Frühzeit gespielt hätten. In den Figurationen verschoben sich so die Machtgewichte. Die physisch Überlegeneren etablierten sich in diesen Auseinandersetzungen als sozial höher Stehende und bekamen dadurch, dass gewaltvolle Auseinandersetzungen entsprechend anerkannt waren, diesen Status auch zugewiesen: „Es war also nicht die relative physische Schwäche der Frauen per se, die für die großen Machtunterschiede zwischen Männern und Frauen und für die daraus folgende soziale Unterlegenheit der letzteren verantwortlich war, sondern die Struktur einer Gesellschaft, in der von allen menschlichen Fähigkeiten Muskelkraft und Kampfvermögen die wichtigste soziale Funktion hatten“ (ebd., S. 431). Kultur und Natur nicht voneinander getrennt zu denken, bedeutet also bei Elias, dass als natürlich gegeben angenommene Unterschiede sozial mit Bedeutung aufgeladen werden – darauf greifen Liebsch und Klein, wie wir im Folgenden sehen werden, zurück. Anders als uns dies bei Goffman begegnete, entstehen jedoch nicht erst zwei kategorial differenzierte Gruppen in diesem Prozess, sondern werden von Elias vorausgesetzt: „Einzelne Frauen mochten stärker als einzelne Männer sein. Als soziale Gruppe betrachtet, waren die Frauen den Männern an körperlicher Stärke und dem zugehörigen Wissen um die eigene Stärke unterlegen“ (ebd., S. 430). Wieso, wenn einzelne Frauen doch stärker waren als Männer, in dieser historischen Konstellation nicht die wesentlich logischere Entwicklung folgte, dass zwei geschlechtsunabhängige Gruppen starker und schwacher Menschen entstanden, kann Elias uns hiermit nicht erklären. Weiterführungen – Entwicklungen des Geschlechterverhältnisses 1977 veröffentlicht Theweleit sein zweibändiges Werk „Männerphantasien“. Er setzt sich mit der Generation Männer auseinander, die im Wilhelminischen Reich geboren wurden und sich nach dem ersten Weltkrieg dem Nationalsozialismus anschlossen. Für die jungen Männer in den 70er Jahren ist das ein (noch) recht präsenter Typus ‚Mann‘. Die psychoanalytisch orientierte Darstellung Theweleits eines zugleich von Macht und Angst geprägten männlichen Selbstverständnisses und dessen ambivalentem Verhältnis zu Frauen, demnach erstere letztere zugleich zu besitzen und zu vernichten trachten, wird für viele Männer der jüngeren Generation ein Ankerpunkt, um sich bewusst mit Männlichkeitsbildern auseinander zu setzen und sich gegen diese Form der Männlichkeit abzugrenzen. Da Theweleit sich mit der Verbindung psychischer und sozialer Prozesse befasst, bieten sich Elias’ Konzeptionen durchaus an. Theweleit greift darauf auch zurück; es ist somit ein erster, allerdings nicht systematischer Ansatz, Geschlechterforschung – hier Männlichkeitsforschung – mit Elias’ Zivilisationstheorie zu konzeptualisieren. Ende der 1980er bis Anfang der 90er Jahre wird Elias zunehmend aufgegriffen: In den Niederlanden erscheint Stolk und Wouters Buch zu „Frauen im Zwiespalt. Beziehungsprobleme im Wohlfahrtsstaat“ (deutsch: 1987). In Deutschland werden z. B. von O. König in „Nacktheit. Soziale Normierung und Moral“ (1990) und G. Klein in „FrauenKörperTanz. Eine Zivilisationsgeschichte des Tanzes“ (1992) nun Elias’sche Konzepte systematisch auf Männer-, Frauen- und Geschlechterforschung angewandt. Die Frage, was Geschlecht ist, steht hier jedoch nicht im Mittelpunkt. Anlässlich Elias’ 100. Geburtstages 1997 regen Gabriele Klein und Katharina Liebsch mit einem Tagungsband an, seine Theorie stärker in die Geschlechterforschung einzubeziehen.

8.1 Figurationssoziologie

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Dass Zweigeschlechtlichkeit ein soziales Konstrukt ist (vgl. Kap. 7), wird mit den Formulierungen Hagemann-Whites, den Butlerschen und interaktionstheoretischen Ansätzen (u. a. West/Zimmerman 1987; Hirschauer 1994) vorausgesetzt. Diese Perspektive bedürfe der Antworten, wie Zweigeschlechtlichkeit hergestellt wird. Klein und Liebsch stellen dies mit Elias als Frage nach der „historischen Konstruktion der Zweigeschlechtlichkeit“ (Liebsch/Klein 1997, S. 7, Herv. d. V.). Dabei fokussieren sie auf Elias’ Zivilisationstheorie – also die soziologische Betrachtung einer historischen Entwicklung und regen an, der Frage nachzugehen, „wie und wodurch die ‚Naturalisierung‘ der Geschlechterbeziehungen, das heißt die kulturelle Festschreibung von Frauen und Männern auf scheinbar naturhafte Eigenschaften und antagonistische Lebensbereiche, historisch und sozial möglich wurde“ (ebd., S. 13). In dieser Nutzung der Elias’schen Zivilisationstheorie werden v. a. Entwicklungen einzelner Aspekte des sozialen Lebens untersucht, die wie Puzzleteile das Bild der historischen Konstruktion der Zweigeschlechtlichkeit auffüllen sollen. So wird z. B. untersucht, wie Essen, literarische Gattungen, Sport oder Sexualbeziehungen historisch geschlechtlich aufgeladen wurden und damit Unterschiede zwischen Geschlechtern herstell(t)en (vgl. die Beiträge ebd.). Andere Autor/innen beziehen sich vor allem auf Elias’ Figurationssoziologie; ihnen geht es primär um Zeitdiagnosen mittels der Elias’schen Konzepte der Verflechtungen, Interdependenzen, Machtbalancen etc. Annette Treibel versteht die Figurationssoziologie als das „theoretische Substrat der Zivilisationstheorie“ (Treibel 2009, S. 133). Auf der einen Seite wird also Elias’ Vorgehensweise fortgeführt und seine Zivilisationstheorie um die Dimension der Zweigeschlechtlichkeit erweitert; auf der anderen Seite wird sein Theoriegebäude für die Beantwortung geschlechtersoziologischer Fragestellungen genutzt. Geschlechterforscher/innen, die sich auf Elias beziehen, verbindet jedoch zumeist eines: Sie bieten kaum Theoretisierungen der Kategorie Geschlecht mittels Elias’ Konzepten an, sondern beleuchten eher Geschlechterverhältnisse oder das Geschlechterverhältnis (vgl. u. a. Barzantny 2008; Kunze 2005; Wouters 2004). In der Figurationssoziologie werden von denjenigen, die sie nutzen, vor allem drei Vorteile gegenüber anderen Ansätzen gesehen, die wir im Folgenden vorstellen wollen: Erstens würden Persistenz und Wandel in Geschlechterverhältnissen erklärbar und ließen sich zudem zueinander in ein beschreibbares Verhältnis stellen. Zum Zweiten verbiete sich in Elias’ Modellen das Denken in Polaritäten, so dass die Möglichkeit bestehe, Dualismen aufzubrechen, statt die Analyse durch sie einengen zu lassen. Der dritte Aspekt ist die Verbindung zwischen ‚äußeren‘ und ‚inneren‘ Prozessen, wie sie von Elias in seiner Zivilisationstheorie systematisch entwickelt wurde. Persistenz und Wandel Elias nimmt stets einen größeren Zeitraum in den Blick (bspw. auch die römische Antike, wie wir sahen), während sich Arbeiten zur Frauen- und Geschlechterforschung vor allem auf den Umschwung der Geschlechterbeziehungen im bürgerlichen Geschlechtermodell um 1800 („Sattelzeit“) fokussierten (vgl. Kap. 2.1). Elias geht es dagegen weniger darum, Brüche zu untersuchen, als vielmehr Kontinuitäten in langfristigen Entwicklungen aufzuzeigen. Kurze Schübe oder auch Gegenbewegungen zu den großen Tendenzen erscheinen hierdurch relativiert. Die Naturalisierung, die Laqueur (1992) und Honegger (1990) ab dem 17. Jahrhundert beschreiben, sei aus dieser Perspektive betrachtet nur ein „für einen bestimmten zivilisatorischen Teilprozess charakteristischer ‚Schub‘ von Zivilisierung“ (Liebsch/Klein 1997, S. 29 f.). Einzelne vergleichsweise kurze Abschnitte in spezifischen Bereichen, z. B. Entwicklungen

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8 Neuerschließen soziologischer Theorien

im Sport innerhalb von fünf Jahrzehnten oder Veränderungen in der Vorstellung von Ehe, ließen sich mit seiner Zivilisationstheorie adäquater danach bewerten, ob es sich nur um kurzfristige Schwankungen handle, die im langfristigen Prozess letztlich unbedeutend sein werden oder ob sich damit Tendenzen erfassen lassen, die den Zivilisationsprozess in diesen Bereichen sozialen Lebens fortschreiben. Mit Elias könne aber nicht nur zwischen langfristigen Entwicklungen einerseits und kurzfristigen Schwankungen andererseits differenziert werden, auch die Verbindung von Strukturen und Handlungen, die die Gleichzeitigkeit von Persistenz und Wandel erkläre, sei hier berücksichtigt. Wenn sich soziale Normen innerhalb von drei Generationen in Figurationen einlagern, so gelte dies auch für die längst fest verankerte Zweigeschlechtlichkeit. „Zivilisierung zur Zweigeschlechtlichkeit“ verstehen die Autorinnen daher als „Prozess des Handelns“, der die zweigeschlechtliche Ordnung immer schon voraussetzen kann, weil sie in die Figuration eingelassen ist und daher „die zweigeschlechtliche Figurationsordnung auch dann nicht antastet, wenn die geschlechtstypischen Verhaltensweisen informeller und offener werden, sich eine ‚Verringerung der Kontraste, Vergrößerung der Spielarten‘ [(Elias 1939)] zwischen den Handlungs- und Verhaltensweisen von Männern und Frauen vollzieht“ (ebd., S. 32 f.). Damit sprechen sie Entwicklungen der letzten Jahrzehnte an, wie z. B. dass sich Geschlechterunterschiede im Erwerbsverhalten, beim Essengehen (wer bestellt, wer zahlt), beim Autofahren u. v. m. verringern, oder dass es zu Pluralisierungen von Männer- und Frauenbildern und Geschlechterbeziehungen kommt (z. B. in den Über- und Unterordnungsverhältnissen in Paarbeziehungen oder Arbeitsverhältnissen). Solche Entwicklungen werden in Anlehnung an Elias also zum einen auf ihre Bedeutung für längerfristige Prozesse befragt und hier durchaus auch Prognosen gewagt. Sie werden dabei (noch) nicht als Auflösungsprozesse der zweigeschlechtlichen Ordnung gefasst, sondern durch sie relativiert, da diese in stabilere Strukturen eingelassen ist als einzelne Handlungen und Verhaltensweisen. Nichtsdestotrotz ist „Zweigeschlechtlichkeit im figurationssoziologischen Sinne (…) dynamisch, das heißt historisch entstanden, Bestandteil des Prozesses der Zivilisation und mit dem Wandel der Figurationen auch veränderbar“ (ebd., S. 32). Es ist die Zählebigkeit, welche durch die Drei-Generationen-Regel betont wird. Auflösung der Dualismen in „Relationierungen“ Im Elias’schen Denken müssen Frauen stets in den historisch jeweils herausgebildeten Geschlechterbeziehungen gedacht werden. Deren Veränderungen wiederum müssen im Zusammenhang mit Zivilisationsprozessen, v. a. mit Regulierungen und Verlagerungen der „Triebkräfte und Affekte“ analysiert werden. Für alle Charakterisierungen von Figurationen (Macht/ Ohnmacht oder Abhängigkeit/Autonomie) gelte, dass sie stets ihr ‚Gegenstück‘ mit sich führen, immer ein Mehr oder Weniger und niemals ein Entweder/Oder sein können. Dichotomien wie z. B. Mann/Frau, Natur/Kultur, Gesellschaft/Individuum, Körper/Psyche etc. sind also nicht nur stets in Relation zueinander (i. e. relational) zu verstehen, weil sie immer nur in Interdependenzen existieren, sie sind auch nie als absolute Phänomene sondern immer als relative Ausprägungen, als zusammengehörige Aspekte desselben Phänomens zu verstehen (Liebsch/Klein 1997, S. 16). Die Frage, ob bestimmte Geschlechterunterschiede Natur oder Kultur seien, kann sich so nicht stellen: Das Soziale und die Natur des Menschen gehen Hand in Hand, es ist menschliche Natur sozial zu sein und seine natürliche Anlage sich zu zivilisieren (ebd., S. 16 und S. 29). Fragen nach „nature or nurture“, Gleichheits-/DifferenzDiskussionen, ‚sex/gender‘-Differenzierungen sind in dieser Sichtweise obsolet. Darin wird

8.1 Figurationssoziologie

233

die Anschlussfähigkeit an das „doing gender“-Konzept (vgl. Kap. 7.2.3) oder an Butlers diskurstheoretische Formulierung (vgl. Kap. 7.3.2) gesehen. Statt von polaren Dichotomien stets vom Ausbalancieren in Hinsicht auf Macht, Lust/Unlust, Formalisierung/Informalisierung, Zwang/Freiheit, Abhängigkeit/Autonomie etc. auszugehen, wird genutzt, um vielschichtige Phänomene in soziohistorische Bedingungskonstellationen einzubetten. So analysiert bspw. Hilger (1997) mit Elias’ Konzept den Geburtenrückgang in Deutschland. Die Verschiebung von Machtbalancen zugunsten von Frauen sei durch die Kontrolle der Reproduktion möglich geworden und forciere sie zudem. Frauen könnten durch geringere Kinderzahl freier über sich, ihre Körper und ihre Zeit verfügen, die neu gewonnene Freiheit wiederum führe dazu, dass sie sich weniger als Mütter und Ehefrauen verstünden (ihr Selbstbild verändere sich dadurch) und daher sich auch seltener für (weitere) Kinder entschieden. Die dafür sowohl vorausgesetzte, als auch aus ihr entstandene Autonomie steht wiederum in einem wechselseitigen Bedingungsverhältnis zur stärkeren Informalisierung und dem Übergang von Fremdzwängen in Selbstzwänge. Sie forderten nun mehr Entscheidungen auf individueller Ebene ein, insbesondere bezogen auf das Ausleben von Sexualität in Zeiten nach der „sexuellen Revolution“ und die Regulation der Empfängnis durch entsprechende Verhütungsmittel. Viele Studien schließen an Elias’ Ansatz an, indem sie Ungleichheitsverhältnisse zwischen Männern und Frauen über das Konzept der Machtbalancen analysieren. Eine konkretere Form der Machtbalance – das Etablierten-Außenseiter-Verhältnis – wird bspw. von Barzantny (2008) angewandt, um zu untersuchen, inwiefern Mentoring an einem Uni-Klinikum Chancen für Frauen auf wissenschaftliche Karrieren verbessert. Da Männer in der Medizin sowohl historisch als auch aktuell nach Positionen etablierter sind als Frauen, erscheinen Frauen als die ‚Eindringlinge‘, gegen die sich die ‚Alteingesessenen‘ abgrenzen, so dass eine Etablierten-Außenseiter-Konstellation entsteht. In dieser Abgrenzung wird das Machtungleichgewicht durch Stereotype, „bis hin zu Stigmatisierungen und Biologisierungen“ verfestigt und legitimiert, so dass Personen statt als einzelne Wissenschaftler/innen stets als Mitglieder der einen versus der anderen Gruppe wahrgenommen werden. Die Gruppe der Etablierten wird dabei von beiden beteiligten Gruppen stets aufgewertet – nicht, gegen sie zu rebellieren, sondern von ihnen anerkannt zu werden, ist das Ziel. Da jedoch das „Gruppencharisma“ bzw. die „Gruppenschande“ das gleiche Verhalten mit unterschiedlichen Wertungen belegt, ist eine Überschreitung dieser Grenze unmöglich. Das Ungleichgewicht wird so nur noch verstärkt und reproduziert sich praktisch selbst. Dieser dann selbstläufige Prozess könnte allerdings durch Solidarisierung unter den Außenseiterinnen (wie z. B. im Mentoring) ausgebremst werden. Damit könnten Deutungsmacht und Verteilung von Positionen nach und nach zu ihren Gunsten umgewendet werden. „Psycho- und soziogenetische“ Verknüpfungen Elias’ Konzeption des Zivilisationsprozesses verbindet die ‚äußeren‘, d. h. historischen und sozialen Prozesse (Zivilisation), stets mit den ‚inneren‘ (Zivilisierung): Die Verinnerlichung sozialer Normen bringt Empfindungen wie Scham oder Abscheu hervor. Die „psychische Verankerung der Geschlechterdifferenz“ (Liebsch/Klein 1997, S. 9) wird daher in den Ansätzen, die sich auf Elias beziehen, stets betont. Die Autorinnen sehen hier die Möglichkeit mit einem doppelten Bezug – Handeln und Verinnerlichung – der zweigeschlechtlichen Ordnung auf die Spur zu kommen. Die Zivilisierung zur Geschlechtlichkeit wird als korrespondierende Entwicklung auf der Ebene des Individuums zur gesellschaftlichen Entwicklung des

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zweigeschlechtlichen Zivilisationsprozesses verstanden. Auf diese Weise ließe sich erklären, wie die in Figurationen eingelassene Zweigeschlechtlichkeit ‚weibliche‘ und ‚männliche Ichs‘ hervorbringe, die Geschlechtlichkeit sich also in der Selbstwahrnehmung verankere und damit selber wiederum die zweigeschlechtliche Ordnung erzeuge (vgl. ebd., S. 15 und S. 32 ff.). Bereits Elias hatte darauf hingewiesen, dass Muster der Ungleichheit von Männern und Frauen internalisiert werden, „sich tief in die Persönlichkeitsstruktur von Männern wie Frauen eingesenkt“ hätten (Elias 1987, S. 15). Das „verinnerlichte Selbstbild“ (Hammer 1997, S. 70) ist so Ergebnis sozialer Prozesse über mindestens drei Generationen; ‚psychologische‘ und vermeintlich ‚naturhafte‘ Unterschiede würden damit sozial erklärbar. Dies wird bspw. in Hinsicht auf Sport oder Sexualität thematisiert, Bereiche, die das leibliche Empfinden besonders berühren und in denen deutlich wird, wie Selbstwahrnehmungen durch Normen beeinflusst werden (vgl. u. a. Pfister 1997; Wouters 1997; 2004). Wouters (2004) konzentriert sich auf die „Lustbalance“ von Sex und Liebe: Im 19. Jahrhundert sei Frauen ein liebesorientiertes, Männern ein lustorientiertes Verhältnis zu Sexualität zugeschrieben worden. Dies habe sich seit Ende des 19. Jahrhunderts mit der Entwicklung vorehelicher heterosexueller Beziehungen („Dating“) langsam bis hin zu einer Entkopplung von Sex und Liebe(sbeziehung) entwickelt, die in der sexuellen Revolution ihren Höhepunkt gefunden habe. Im Zuge dessen seien geschlechtsdifferente Zugangsweisen zu Sexualität brüchig geworden und damit auch geschlechtsdifferentes Erleben von Sexualität. Für Frauen sei lustorientierte Sexualität in den Horizont des individuellen Erlebens gerückt. Auch für die Stabilisierung von Ungleichheit wird dieser doppelte Bezug auf soziale Prozesse und Verinnerlichung herangezogen. Die Geschlechterstereotype, wie Barzantny sie bei den Medizinern herausgearbeitet hat, die Frauen als ungeeignet für akademische Karrieren erscheinen lassen, bestehen nicht nur in Fremdbildern der Etablierten: „Auch die Außenseiterinnen selbst vertreten in starkem Maße konventionelle Geschlechterstereotypen, was nach Elias wenig überrascht. Einerseits scheint die Einnahme einer bestimmten Perspektive, sei es die Selbstmarkierung als ‚Sonderfall‘ oder auch gerade wieder die Leugnung des Ausnahmestatus als Frau, Bedingung dafür zu sein, sich zu den Etablierten, zumindest zu den sich etablierenden Außenseiterinnen zählen zu dürfen, andererseits kommt es nach Elias in Phasen des gesellschaftlichen Wandels zumeist zur Gleichzeitigkeit verschiedener Selbstbilder (…), die im Widerspruch zueinander stehen können und dazu führen, dass die Außenseiterin nicht nur gegen äußere Widerstände, sondern auch gegen innere ankämpfen muss“ (Barzantny 2008, S. 246 f.). Die Entwicklung der Gleichberechtigung kann aus dieser Perspektive insgesamt als Kampf zwischen den Geschlechtern und in den Individuen verstanden werden (Treibel 1997). Ein recht prominentes Beispiel dafür, wie der Zivilisationsprozess emotionale Kontrolle in Figurationen und individuelle Wahrnehmungen einlagert, bietet J.-C. Kaufmanns Analyse des „Oben-Ohne-Sonnens“ von Frauen. Nackte, sexuell aufgeladene Körperteile öffentlich zeigen zu können, weist darauf hin, dass die Selbstkontrolle sexueller Regungen weit fortgeschritten ist. Kaufmann (1996) deutet daher dieses Sonnenbaden nicht als Zeichen der Lockerung des Zivilisationsprozesses, sondern als weitere Stufe zunehmender Affektkontrolle. „Wenn sich Frauen am Strand ausziehen, ist das, was sie zeigen (lackierte Fußnägel, rasierte Achselhöhlen, enthaarte Leisten) sorgfältig bearbeitet (…). Wenn sich Männer

8.2 Habitus und soziale Praxis

235

und Frauen vollständig ausziehen, wie in Nudisten-Camps, unterliegen sexuelle Gefühle strengster Selbstbeschränkung“ (Kaufmann 1996, S. 29). Noch sind Fremdzwänge nicht vollständig in Selbstzwänge übergegangen und verschiedene interaktive Mechanismen sanktionieren das ‚falsche‘ Zeigen und Betrachten weiblicher Brüste am Strand, wobei Fremd- und Selbstzwänge darauf hinwirken, dass der erotische Blick in einen ästhetischen übergeht und eine zunehmende Normierung des weiblichen Körpers zur Folge hat.

8.2

Habitus und soziale Praxis

8.2.1

Sozialer Raum und soziale Praxis

Pierre Bourdieu (1930–2002) gehört zu den wichtigsten neueren Theoretikern der französischen Soziologie. Er stammt aus einfachen Verhältnissen und engagierte sich zeitlebens gegen soziale Ungleichheit, wobei er stets betonte, dass wissenschaftliche Ergebnisse frei von politischen Interessen generiert werden müssten. Seine akademische Karriere führte ihn bis zu einer Professur am Collège de France, der führenden französischen Wissenschaftseinrichtung. Er gehörte somit schon früh zu den anerkanntesten und in seinem Heimatland auch über die Wissenschaft hinaus berühmten Soziologen. Sein politisches Engagement erstreckte sich, wie er selbst schreibt, auch auf die Solidarität mit der Frauenbewegung. Zu einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Geschlecht kam es jedoch erst in den 90er Jahren. Diese fand ihren Niederschlag in einer Schrift, die er „Die männliche Herrschaft“ betitelte (1998 [deutsch: 2005]). Bereits bevor Bourdieu sich dieses Themas selber ausführlicher annahm, wurden einzelne Konzepte von ihm in der Frauen- und Geschlechterforschung (mehr oder weniger zusammenhängend) angewandt. Besonders das Konzept des „Habitus“, aber auch seine „Praxeologie“ und seine Konzepte sozialer Stratifikation fanden Eingang. Nur wenige entwickeln geschlechtersoziologische Fragen mit Bourdieu systematisch weiter, so etwa Beate Krais, Irene Dölling, Steffani Engler und Michael Meuser. Bourdieu entwickelte seine Perspektive aus einer konstruktiven Abgrenzung gegen den strukturalistischen Ansatz C. Lévi-Strauss’ (vgl. Kap. 4.2.3). Für Bourdieu bedeutete die Abgrenzung auch einen Perspektivenwechsel: Er wollte an fremde Kulturen nicht als Ethnologe herangehen, sondern einen soziologischen Ansatz entwickeln. Nicht die besondere Fremdheit anderer Kulturen schien ihm augenfällig, sondern vielmehr die unerwartete Vertrautheit (vgl. Barlösius 2006). Einer seiner Ausgangspunkte war daher, dass vertraute Muster im Fremden sichtbarer werden können als in der eigenen Kultur. Diese Annahme begründete sein Vorgehen – von ihm selbst als „methodischer Kunstgriff“ bezeichnet – am Bespiel einer Ethnographie der kabylischen Gesellschaft aus den 1960er Jahren die „symbolischen Strukturen eines androzentrischen Weltbildes“ aufzudecken. In dieser und auch in anderen Forschungsarbeiten lehnt Bourdieu es explizit ab, in der Perspektive des Forschers eine den Beforschten überlegene Position zu sehen. Statt ‚von oben herab‘ will er deren Perspektive ‚von innen‘ herausarbeiten und sucht dabei weniger nach Regeln und Strukturen als vielmehr nach der sozialen Praxis. Dieser eher methodische Ansatz hat theoretische Implikationen: Regeln und Strukturen aus der Sicht ‚von oben‘ zu suchen, bedeutet für Bourdieu eine Perspektive einzunehmen, die im alltäglichen Handeln nicht gegeben ist. Im Alltag sehen wir die Dinge von unserem individuellen Standort aus als ‚um

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uns herum‘. Dieses ‚um uns herum‘ eines jeden einzelnen Gesellschaftsmitgliedes verbindet sich für Bourdieu zum „sozialen Raum“, in dem jedes Mitglied eine Position innehat. Diese Position ‚hat‘ es aber nicht einfach so, sondern vielmehr entsteht der soziale Raum durch die wechselseitigen Positionierungen innerhalb von Gesellschaften. Der soziale Raum kann bei Bourdieu weder auf ‚Handlung‘ reduziert werden, noch geht es dabei allein um ‚soziale Strukturen‘. Er schlägt eher ein Verständnis des sozialen Raumes vor, das (nicht zufällig; Bourdieu 1985, S. 72) an Elias’ Figurationen erinnert: „Insoweit die zur Konstruktion des Raumes herangezogenen Eigenschaften wirksam sind, lässt sich dieser auch als Kräftefeld beschreiben, das heißt als Ensemble objektiver Kräfteverhältnisse, die allen in das Feld Eintretenden gegenüber sich als Zwang auferlegen und weder auf die individuellen Intentionen der Einzelakteure noch auf deren direkte Interaktionen zurückführbar sind“ (ebd., S. 10, Herv. i. O.). Damit grenzt sich Bourdieu sowohl gegen strukturalistische Reduktionen ab als auch gegen Interaktions- oder Akteurstheorien. Sein Anspruch ist es, eine Verbindung zwischen den beiden theoretischen Paradigmen zu finden, den er dadurch einzulösen versucht, dass er in der Analyse sozialer Phänomene „von der Regel zur Strategie, von der Struktur zum Habitus“ (ebd., S. 72, Herv. i. O.) übergeht. Strategien sozialer Praxis statt Regeln zu untersuchen, bedeutet für ihn, die Dimension der Zeit zu berücksichtigen: Forschung sammelt i. d. R. Daten, so dass Prozesse und ihre Ergebnisse bei der Analyse gleichzeitig vorliegen. Der Eindruck, dass Regelhaftigkeiten und Strukturen das Handeln prägen, dass Handlungen logisch und systematisch auf bestimmte Ergebnisse zugesteuert wären, suggeriert, dass man in der alltäglichen Praxis ebenso ‚vom Ende her‘ gehandelt hätte. In der Praxis kennen wir jedoch die Ergebnisse des Handelns nicht, die einzelnen Abläufe entwickeln sich sukzessive, wir können nur strategisch auf gewünschte Ergebnisse abzielen und dabei zukünftige Rahmenbedingungen unter der Annahme bisheriger Erfahrungen antizipieren. Eine nachträgliche Systematik von Strukturen und Regeln erscheint nur als nachträglich hineingelegte, nicht aber als Erklärung für die konkreten Abläufe, denn die „Logik der Praxis ist (…) logisch bis zu jenem Punkt, an dem Logischsein nicht mehr praktisch wäre“ (Barlösius 2006, S. 34). Wenn aber nicht Regeln und Strukturen, sondern eine (beschränkt logische) Praxis einzelner Akteure Gegenstand einer soziologischen Analyse sein soll, drängt sich die Frage auf, wie Regelmäßigkeiten des Sozialen entstehen und gefasst werden können. Wie können wir erklären, wenn etwa Menschen mit ähnlichem Bildungsgrad auch ähnlichen Freizeitaktivitäten nachgehen (Bourdieu 1993, S. 109), bestimmte Gruppen also ohne Absprache ähnliche Verhaltensweisen aufweisen? Diese Frage beantwortet Bourdieu, indem er der Verortung im sozialen Raum, also dem Standort eines Individuums, von dem aus es die Welt wahrnimmt, ein Korrespondum zuordnet, das die ‚soziale Haut‘ des Individuums darstellt: den Habitus. Habitus, Milieu und soziale Felder Der Habitus ist „leibhaft gewordene Geschichte“ (Bourdieu 1985, S. 69): „Der Leib ist Teil der Sozialwelt, wie die Sozialwelt Teil des Leibes ist“ (ebd.). Mit diesem Konzept geht er über die Annahme der Verinnerlichung (Internalisierung) von Normen und Werten hinaus und zielt auf deren Inkorporierung ab, darauf, dass gesellschaftliche Prozesse sich in den Körper einschreiben. Dies sind zum einen (körperliche) Routinen wie das Binden von Schnürsenkeln, das wir alle eher ‚in den Fingern‘ haben als im Kopf, oder das Ausweichen nach rechts bei Entgegenkommenden, über das wir selten groß nachdenken. Zum zweiten ist dies die „hexis“, also das, was sich im Laufe eines Lebens im Körper ‚einzeichnet‘, z. B.

8.2 Habitus und soziale Praxis

237

Gesichtszüge wie Lach- oder Sorgenfalten, stärkere Muskeln bei entsprechender körperlicher Betätigung, Rückenschmerzen bei sitzenden Tätigkeiten etc. Und zum dritten ist dies die „doxa“: Sie ist die Sicht auf die Welt vom jeweiligen (sozial zugewiesenen) Standort im sozialen Raum aus. Hier lehnt sich Bourdieu an Husserl und Schütz an und versteht die „doxa“ im Sinne deren „natürlicher Weltanschauung“ (vgl. Kap. 3.4.2), also derjenigen Sichtweise, die wir als selbstverständlich und schlicht gegeben annehmen. Diese Weltanschauung ist für Bourdieu ebenso wie für Schütz sozial entstanden und nicht eine endgültig abgeschlossene Weltsicht sondern im Fluss. Sie erweitert sich stetig durch die Sichtweisen in „sozialen Feldern“. Soziale Felder sind für Bourdieu „objektivierte Geschichte“ (ebd.), i. e. Teilbereiche von Gesellschaften wie z. B. Wirtschaft, Sport, Wissenschaft etc. In diesen Teilbereichen gelten unterschiedliche Spielregeln, unterschiedliche Anforderungen und Zugangswege bzw. -beschränkungen, aber eben auch unterschiedliche Sichtweisen. Diese Sichtweisen sind zusammen mit dem Feld sozial hervorgebracht worden. Dass jedoch das Feld ein Produkt menschlicher Handlungen ist, wird vergessen, stattdessen stattet die „Illusio“, i. e. die feldspezifische Sichtweise, die Akteure im Feld mit einem (vermeintlichen) Wissen um seine Wirklichkeit, seine Bedeutung und seine Geltungen aus. Anders als z. B. in Schütz’ Sinnprovinzen, die als abgeschlossene in sich Geltung haben, geht es bei Bourdieu um ein „im Kampf aktualisiertes Geltendmachen von Sinn“ (Bohn/Hahn 2007, S. 299). In den verschiedenen Feldern können Akteure unterschiedlich positioniert sein, z. B. kann eine College-Football-Spielerin im Sport eine recht hohe Position einnehmen, während sie im wissenschaftlichen Feld eine sehr niedrige haben kann. Auch wenn jeder Mensch letztlich einen individuellen Habitus entwickelt, so werden durch die soziale Einprägung Gemeinsamkeiten generiert: solche die alle Menschen einer Gesellschaft teilen (z. B. das Wissen um die Geister der Ahnen, oder eben das Wissen darum, dass es keine Geister gebe) und solche, die Gruppen differenzieren, wie z. B. die Einprägung der Geschlechtszugehörigkeit, auf die wir nachher ausführlich zu sprechen kommen. Bourdieu sieht die für den Habitus entscheidende Differenzierung in der Klassenstruktur einer Gesellschaft. Mit der Zugehörigkeit zu einer „sozialen Klasse“ verbinden sich spezifische, von den anderen Klassen unterschiedene Lebensweisen und Wissensgehalte. Auf Seiten der Akteure korrespondiert die Klassenzugehörigkeit mit bestimmten Lebensstilen und Umgebungen, die Bourdieu als „Milieus“ bezeichnet. Milieu beschreibt bei Bourdieu das jeweilige soziale Umfeld, an das der Habitus qua Klassenzugehörigkeit „vorangepasst“ ist. Dessen „Dispositionen“ werden auf diese Weise verstärkt, so dass er vor Krisen und Infragestellungen geschützt ist. Dem „Hysteresis-Effekt“ (i. e. Trägheitseffekt) des Habitus folgend, bewegen sich die verschiedenen Klassen daher überwiegend in den jeweils korrespondierenden Milieus. Milieu und Habitus verstärken sich dadurch gegenseitig. Der Habitus ist also nicht nur die Einprägung von Gesellschaft und damit die Verkörperung des Sozialen, sondern er wirkt selber auf das Soziale (zurück). Er ist das „Erzeugungsprinzip“ der sozialen Praxis, d. h. das, was im Habitus eingelagert ist, sind die Fähigkeiten, Wissens- und Erfahrungsbestände, auf die ein Mensch zurückgreifen kann, um Strategien zu entwerfen und Handlung und Sinn zu generieren. Das Spiel und die Einsätze In verschiedenen Milieus und Feldern werden Kompetenzen, Wissen, Güter und Beziehungen vermittelt und genutzt. Da sie ihren Inhaber/innen bessere Chancen im Feld verleihen,

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8 Neuerschließen soziologischer Theorien

spricht Bourdieu in allen Fällen von „Kapital“. Das ökonomische Feld beschreibt Bourdieu als das dominanteste und so hat „ökonomisches Kapital“ gegenüber den anderen Kapitalsorten eine gewisse Vormachtstellung. Beim ökonomischen Kapital handelt es sich um materielle Ressourcen, die insbesondere im wirtschaftlichen Feld eine Besserstellung ermöglichen und sich dort gewinnen und/oder vermehren lassen. Es lässt sich aber auch in andere Felder (z. B. die Wissenschaft) übertragen, wo es ebenfalls eine wichtige Ressource bildet, und es lässt sich, z. B. wenn es für Nachhilfe, Abendkurse oder Studiengebühren eingesetzt wird, auch in „kulturelles Kapital“ umwandeln, z. B. in Bildung. Andersherum hoffen wir, dass unsere Leser/innen das kulturelle Kapital, das sie im Studium erworben haben, in ökonomisches umwandeln können, indem sie ihre Qualifikationen zur Erwerbsarbeit einsetzen. Das „soziale Kapital“ bezeichnet die sozialen Beziehungen und Netzwerke, über die ein Mensch verfügt – z. B. die Herkunftsfamilie. Auch dieses lässt sich nutzen, um ökonomisches oder kulturelles Kapital zu gewinnen und Eltern legen dem Nachwuchs mit dem sozialen auch ökonomisches und kulturelles Kapital ‚in die Wiege‘. Mit entsprechenden Netzwerken im Berufsleben lassen sich bessere Stellen ergattern und sie bieten Zugänge zu weiteren kulturellen Gütern oder Wissen, z. B. indem sie ihre Erfahrung weitergeben, wie man sich am besten für Elite-Universitäten bewirbt. Die drei Grundkapitalarten verbinden sich zu Anerkennung und Macht, die einem Menschen aufgrund seines sozialen, kulturellen und ökonomischen Kapitals in einer Gesellschaft zukommen. Das „symbolische Kapital“ wird als Ausdruck dieser gesellschaftlichen Stellung – des „Renommees“ – genutzt, wahrgenommen und z. B. durch Kleidung und Lebensstil veranschaulicht (vgl. Bourdieu 1985). In Hinsicht auf die sozialen Felder war bereits von „Spielregeln“ die Rede. Bourdieu behandelt die Verhaltensweisen in den Feldern in der Metapher des Spielens in einem Casino. Die Kapitalarten sind die Einsätze der Spielenden, die sie zu vermehren suchen. Je besser sie mit den Spielregeln vertraut sind, je mehr Kapital sie zum Einsatz bringen und je geschickter sie dies nutzen können, umso größer können ihre Gewinne ausfallen. Jedes Feld ist ein anderer Tisch mit unterschiedlichen Mitspielenden bzw. Gegner/innen und mit anderen Spielregeln: „Gleich Trümpfen in einem Kartenspiel, determiniert eine bestimmte Kapitalsorte die Profitchancen im entsprechenden Feld“ (ebd., S. 10). Man kann die unterschiedlichen Spiele unterschiedlich gut beherrschen, nichtsdestotrotz hat jemand, der beim Roulette viel gewonnen hat, dank dieser Kapitalerhöhung auch beim Black Jack bessere Chancen zu gewinnen. In diesem Bild ist immer ein gutes Stück Zufall und Glück mitbestimmend. Bourdieu erklärt mit dieser Metapher, dass es eine Bedeutung hat, mit welcher Kapitalausstattung man ein Feld betritt, ohne eine schlichte kausale Verknüpfung herzustellen. Es gehört allerdings sehr viel mehr Glück und Geschick dazu, mit geringen Mitteln große Gewinne zu erzielen. Entsprechend sieht er Chancengleichheit zwischen den verschiedenen Klassen in unseren Gesellschaften als eine Illusion (Bourdieu 1983). Dabei betont er, dass die „geschlechtsspezifischen Merkmale (…) ebenso wenig von den klassenspezifischen zu isolieren [sind] wie das Gelbe der Zitrone von ihrem sauren Geschmack: eine Klasse definiert sich wesentlich auch durch Stellung und Wert, welche sie den beiden Geschlechtern (…) einräumt. Darin liegt begründet, warum es ebenso viele Spielarten der Verwirklichung von Weiblichkeit gibt wie Klassen und Klassenfraktionen“ (ebd., S. 185).

8.2 Habitus und soziale Praxis

8.2.2

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Geschlecht als soziale Praxis

Die Beschäftigung mit Geschlecht sieht Bourdieu, der sich lange Zeit hauptsächlich mit Klassenstrukturen als Formen sozialer Ungleichheit in modernen Gesellschaften befasst hat, als eine logische Folge seiner Forschung an. Sie setzt erst vergleichsweise spät ein, dann aber erscheint ihm „die männliche Herrschaft“ als „das Beispiel schlechthin“ für die „paradoxe Unterwerfung“ unter eine bestehende Ordnung – paradox, weil die soziale Ordnung auch dann selbstverständlich respektiert wird, wenn sie „die unerträglichsten Lebensbedingungen“ mit sich bringt (Bourdieu 2005, S. 7). Bourdieus Ansatz ist ein Konzept zur Rekonstruktion der Konstruktionsprozesse von Geschlecht, insofern es ihm darum geht, „die Prozesse zu enthüllen, die für die Verwandlung der Geschichte in Natur, des kulturell Willkürlichen in Natürliches verantwortlich sind“ (ebd., S. 8, Herv. i. O.). Bourdieu legt sein Konzept, Körper als gesellschaftlich geformt zu verstehen, auch auf die Unterscheidung der Geschlechter an. Er kritisiert daher eine Forschung, die z. B. nach psychologischen Unterschieden suche oder diese gar in ihrer Untersuchung voraussetze. Insbesondere problematisiert er, dass Forschung z. T. Unterschiede unkritisch aus der „Umgangssprache“ übernähme, da in der Umgangssprache auch Wertungen enthalten sind. Eine von Differenzen ausgehende Forschung übersähe die „Überlappungen“ der Verteilung zwischen den Geschlechtern von der „Sexualanatomie bis zur Intelligenz“ (ebd., S. 11). Dieses Übersehen selbst ist Teil des Prozesses der Konstruktion zweier unterscheidbarer Geschlechter: „Das Zusammenspiel der biologischen Erscheinungsformen und der höchst realen Auswirkungen, die eine lang andauernde kollektive Arbeit der Vergesellschaftung des Biologischen und der Biologisierung des Gesellschaftlichen in den Körpern und in den Köpfen gehabt hat, hat eine Verkehrung der Beziehung von Ursachen und Wirkungen zur Folge. Es lässt eine naturalisierte gesellschaftliche Konstruktion (die ‚Geschlechter‘ als vergeschlechtlichter Habitus) als Naturfundiertheit der willkürlichen Teilung erscheinen, die sowohl der Wirklichkeit als auch der Vorstellung von der Wirklichkeit zugrunde liegt und die sich zuweilen auch der Forschung aufzwingt“ (ebd., S. 11). Sein Ansatz ist es nicht – wie z. B. bei Goffman oder Garfinkel – zuerst danach zu fragen, wie die Unterschiede alltäglich hergestellt werden, um danach ihre hierarchische Dimension zu beleuchten. Er geht den Weg vielmehr andersherum: Eine Hierarchisierung ist bei ihm die Grundlage für die Praxis der Differenzierung. In diesem Verständnis bedeutet männliche Herrschaft zu analysieren für Bourdieu, zu verstehen, wie sich Dominanz-/UnterordnungsPrinzipien sozial so verfestigen, dass sie als „Natur“ der Geschlechter erscheinen. Die Art und Weise, wie diese Ordnung alltäglich hergestellt, anerkannt, als ‚natürlich‘ bewertet und verfestigt wird, bezeichnet er als „symbolische Gewalt“. Die Prozesse, mit denen die Differenzierung hergestellt, legitimiert und im Alltag reproduziert wird, vollziehen sich empirisch gleichzeitig: Sie sind nur analytisch zu trennen. Doch diese analytische Trennung zeigt erst den ‚Kreislauf‘ auf, wie Zweigeschlechtlichkeit in der sozialen Praxis hervorgebracht wird, die eine soziale Ordnung aufbaut, die sich dann wieder im Habitus niederschlägt, der wiederum soziale Praxis hervorbringt usw. Bourdieu entfaltet sein Konzept anhand der von ihm intensiv beforschten kabylischen Gesellschaft, d. h. anhand von uns fremden Sichtweisen, Legendenbildungen und Traditionen, die Frauen und Männern alltäglich unterschiedliche soziale Plätze zuweisen.

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8 Neuerschließen soziologischer Theorien

Bei den Kabylen wird – wie auch bei uns – Welt begriffen, indem sie in Gegensatzpaaren verstanden und diese mit Wertungen versehen werden. Beispielsweise bilden auch bei uns Licht/Dunkelheit, Sonne/Regen, hoch/niedrig etc. jeweils ein polar gedachtes positiv/negativ-Paar. Die Wertung ist das Entscheidende: Elemente, die sonst nur unvermittelt nebeneinander existieren könnten, wie z. B. hell und dunkel neben hoch und niedrig, werden über die jeweilige Wertung miteinander ‚logisch‘ verbunden (z. B. hell mit hoch, dunkel mit niedrig). Nur durch die Verkopplung der Elemente gemäß ihrer Wertungen erhalten die Dichotomien soziale Bedeutungen. Denn nun werden Tätigkeiten, Eigenschaften, Positionen und Personen mit der gleichen Wertung jeweils miteinander assoziiert: Höher bewertete Tätigkeiten dürfen nur von höherstehenden Personen ausgeübt werden, und ihnen kommen positiv bewertete Gegenstände und Eigenschaften zu. Die Trennung in zwei Geschlechter alleine hätte also für Bourdieu noch keine Ausdifferenzierung in Weiblichkeit und Männlichkeit zur Folge. Nur durch die Hierarchisierung kann ein Gegensatzpaar mit Charakteristika, Tätigkeiten etc. versehen werden, und erst dadurch entsteht eine soziale Relevanz von Geschlecht. Die Verbindungen z. B. von hoch und Mann, niedrig und Frau werden nachträglich als natürliche und richtige gedeutet, indem sie z. B. mit körperlichen Aspekten ‚begründet‘ und Legenden gebildet werden: So wird ‚hoch‘ z. B. vom erigierten Penis ‚abgeleitet‘, obwohl genauso die weiblichen Brüste die Assoziation mit ‚hoch‘ begründen könnten. In Legenden werden dann z. B. Positionen beim Koitus mit diesen Assoziationen normativ ‚erklärt‘ und in Artefakte eingelassen: ein Hausgiebel, bei dem ein Balken auf einer Gabel liegt, wird zum Symbol für den Mann erklärt, der zwischen den nach oben gespreizten Beinen der Frau liegt, und so wird an jedem Haus die ‚richtige‘ Positionierung der Geschlechter verbildlicht. Damit dient es wiederum der ‚Begründung‘, denn dass das Haus instabil würde, wenn die Gabel umgedreht wäre, ist eine Warnung an alle, die die ‚richtige‘ Ordnung verkehren wollen. Die unterschiedliche Wertung wird also nun in Legenden und Symbolen aus den zu Natur erklärten Verbindungen der einzelnen Elemente hergeleitet. Durch die bipolaren Wertungen ist es möglich, alle Elemente der Wirklichkeit in zwei Klassen einzuteilen, „mit dem Effekt, dass alle Gegenstände der Welt und alle Praktiken nach Unterscheidungen klassifiziert werden, die sich auf den Gegensatz von männlich und weiblich zurückführen lassen“ (ebd., S. 57). Die „doxa“ (im Habitus eingelagerte, alltägliche Weltsicht) legitimiert Vorschriften, Rechte und Pflichten, mit denen sie zeitgleich entstanden ist. Sie ist dem Verhalten damit nicht einfach vorgelagert, schon gar nicht ließen sich Praktiken aus ihr erklären. Sie ist vielmehr Teil der Entstehung dieser Praktiken und Teil der Entstehung gesellschaftlicher Ordnung. Die Zweigeschlechtlichkeit, die wir alltäglich erleben – dass uns Menschen (nahezu) immer als das eine oder andere Geschlecht begegnen – ist bei Bourdieu entsprechend die Inkorporierung dieser hierarchischen Polarisierung: „Die für die gesellschaftliche Ordnung konstitutiven Einteilungen, und genauer, die zwischen Geschlechtern instituierten sozialen Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse prägen sich allmählich in zwei verschiedene Klassen von Habitus ein. Und zwar in Gestalt gegensätzlicher und komplementärer hexis und in Form von Auffassungsund Einteilungsprinzipien“ (ebd., S. 57, Herv. i. O.). Anders gesagt: Die inkorporierte Ordnung prägt sich zum einen körperlich aus in Form von vergeschlechtlichten Gesten, Gesichtsausdrücken, Körperhaltungen, Körperformungen, Be/Enthaarungen, Gangarten etc., die Männer- und Frauenkörper unterschiedlich werden lassen. Die geschlechtliche Ordnung ist also, wie Hirschauer das mit Bezug auf Bourdieu nennt, „in den Körper geschrieben“. Und zugleich bedeutet dieses ‚Einverleiben‘ der Ordnung, dass

8.2 Habitus und soziale Praxis

241

verschiedene Perspektiven gemäß ihrer sozialen Positionierung entstehen: Personen erleben den sozialen Raum dann ‚als Frau‘ oder ‚als Mann‘ und so wird Gesellschaft „durch Körper geschrieben“ (Hirschauer 1994, S. 673). Mit der Habitualisierung, also mit der Einlassung der geschlechtlichen hierarchischen Ordnung in Wahrnehmung und körperlichen Ausdruck vollendet sich bei Bourdieu eine Seite der Naturalisierung und Verfestigung der sozialen Ordnung – die Seite der Formung vergeschlechtlichter Akteure. Die andere Seite der Medaille ist die Reproduktion der sozialen Ordnung durch solche ‚bis ins Mark‘ vergeschlechtlichten Akteure. Diese Seite beschreibt Bourdieu mit der „männlichen Herrschaft“ und dem wichtigsten Modus ihrer Aufrechterhaltung, der „symbolischen Gewalt“, die durch beide Gruppen der Beteiligten – Herrschende und Beherrschte – reproduziert wird. „Die symbolische Kraft ist eine Form von Macht, die jenseits allen physischen Zwangs unmittelbar und wie durch Magie auf die Körper ausgeübt wird. Wirkung erzielt diese Magie nur, indem sie sich auf Dispositionen stützt, die wie Triebfedern in die Tiefe der Körper eingelassen sind“ (Bourdieu 2005, S. 71). Die symbolische Ordnung der hierarchisierten Dichotomie ist also in den Habitus als einer Art ‚Speicher‘ sozialer Ordnung eingelassen und bringt Dispositionen hervor, aus denen soziale Praxis entspringt. Dass beide ‚Parteien‘ die symbolische Ordnung verinnerlicht haben, in der Männern ein Frauen übergeordneter Platz zugewiesen wird, ist für Bourdieu die entscheidende Antwort auf seine zweiteilige Frage, wie eine so willkürliche und benachteiligende Ordnung a) anerkannt und fortgeführt wird, b) ohne dass es einer Verabredung der sozialen Gruppen zu diesem Verhalten bedarf: Sie reproduziert sich durch die Inkorporierung im Habitus ‚wie von selbst‘. Als symbolische Gewalt bezeichnet er nun die Prozesse, die die symbolische Ordnung der Geschlechterhierarchie reproduzieren. ‚Symbolisch‘ versteht er im Sinne einer Codierung des Sozialen, die von uns ‚entziffert‘ werden kann, nicht anders als wir Ampeln oder Verkehrsschilder ‚lesen‘ können, und uns ihren Ansagen fügen, weil sie uns die richtigen Anweisungen zu geben scheinen, um im Straßenverkehr glatt und unversehrt durchzukommen. Ebenso werden symbolische Platzanweisungen, „die verbalen und nonverbalen Indizien für die symbolisch herrschenden Positionen“ (ebd., S. 64) im sozialen Raum ‚gelesen‘ und in Handlungen reproduziert. Diese in soziale Prozesse eingelassenen Symbole scheinen wie das Beispiel des Hausgiebels oder die grüne/rote Ampel die Hierarchie aber nun nicht mehr herzustellen, sondern zu begründen: Die grüne Ampel ‚begründet‘, dass man fahren durfte und im Fall eines Unfalls ‚Recht‘ hat. Dass Bourdieu hier von „Gewalt“ spricht, bezieht sich darauf, dass dadurch Unterdrückungsverhältnisse hergestellt und gesichert werden. Dabei bezieht er Arbeitsteilung als einen Aspekt mit ein: Durch die Arbeitsteilung kommen Frauen sowohl in Beziehungen als auch auf dem Arbeitsmarkt die undankbareren Aufgaben zu und werden von diesen auch „gewählt“. Er bezieht aber auch – wie Goffman – bspw. die Paarbildungsregeln mit ein, nach denen Frauen sich ältere, größere und erfolgreiche Männer „wünschen“. Diese „Wünsche“ entstehen nicht (allein) daraus, dass sie sich den „Wünschen“ von Männern nach ihnen unterlegenen Frauen fügten, geschweige daraus, dass Frauen ein Unterordnungsbedürfnis hätten. Sie entstehen dadurch, dass die Wahrnehmungen anderer von ihnen als Paar stets mitberücksichtigt werden. Solche sozial geteilten „Wahrnehmungs- und Bewertungsschemata (…) verlangen stillschweigend und zwingend, dass bei einem Paar der Mann, zumindest dem Anschein

242

8 Neuerschließen soziologischer Theorien

nach und nach außen, die herrschende Position inne hat. Um seinetwillen, also um seiner Würde willen, die sie ihm a priori zuerkennen und die sie allgemein anerkannt sehen wollen, aber auch um ihrer selbst, um ihrer eigenen Würde willen, können die Frauen nur einen Mann wollen und lieben, dessen Würde durch den Umstand, dass er sie sichtlich ‚überragt‘, klar bezeugt ist“ (ebd., S. 68). Es sind also dieselben Symbole der Herrschaft, die den einzelnen Akteur/innen Symbole bieten, mit denen sie sich als Individuen und Paare im sozialen Raum ‚richtig‘ positionieren können und soziale Anerkennung finden können. Sich nicht sichtbar unterordnen zu wollen, hätte also keine Auf- sondern eine soziale Abwertung zur Folge. Da es dabei auch um die eigenen „Wahrnehmungs- und Bewertungsschemata“ geht, gilt dies nicht nur für die Wahrnehmung und Bewertung durch andere sondern auch für die Selbstwahrnehmung.

8.2.3

Geschlechter in sozialer Praxis

Was bereits für Anschlüsse an Elias galt, wird noch deutlicher bei Bourdieu: Die geschlechtersoziologische Wendung Bourdieuscher Theorie gibt es nicht. Wir können die unterschiedlichen Bezüge auf Bourdieu grob in zwei Gruppen unterteilen: diejenigen, die wie Bourdieu selbst sein Theoriekonzept möglichst umfassend auf Fragen der Geschlechterforschung anwenden, und diejenigen, die einzelne ‚Bausteine‘ seiner Theorien nutzen, wie z. B. Habitus, soziale Praxis oder die Spielmetapher. Für die Frage, der sich dieses Buch widmet, ist vor allem die Achse entscheidend, auf welcher Analyseebene die Anschlüsse einsetzen. Wie wir oben gezeigt haben, nutzt Bourdieu selber seinen Ansatz für die Frage, wie Geschlecht zu einer Kategorie des Sozialen wird. Anders als bei Elias und in einer figurationssoziologischen Geschlechterforschung (vgl. Kap. 8.1.2) besteht hier also der Anspruch, eine Theorie der Geschlechterdifferenzierung zu entwickeln, die nicht auf Butler oder „doing gender“ zurückgreift. Besonders häufig findet sich jedoch die Nutzung Bourdieuscher Konzepte auf einer Analyseebene oberhalb der Frage nach der sozialen Erzeugung von Zweigeschlechtlichkeit bei der Frage nach der Konstruktion von Männlichkeit(en) und – etwas seltener – von Weiblichkeit(en). Die bei Bourdieu angelegte Herangehensweise, soziale Prozesse im Konzept des sozialen Raumes zu analysieren, bedeutet, dass die Betrachtung des Sozialen immer verflochten ist mit sozialer Positionierung – also Fragen sozialer Ungleichheit. Diese Verflechtung band Bourdieu, wie oben gezeigt, in die Frage nach der sozialen Relevantsetzung von Geschlecht ein. Sie wird ebenso in Konzepten zur Konstruktion von Männlichkeit(en) und Weiblichkeit(en) nicht ausgeblendet. Besonders in den Fokus geraten sie dort, wo Zweigeschlechtlichkeit, Männlichkeit(en) und Weiblichkeit(en) vorausgesetzt werden und stattdessen die Geschlechterverhältnisse als Machtverhältnisse zum Forschungsgestand werden. In diesem Punkt – der herausragenden Bedeutung, die der Macht im Sozialen zugewiesen wird – treffen sich diskurs- und figurationssoziologische Ansätze mit den Herrschaftsanalysen nach Bourdieu. Männer- und Männlichkeitsforschung Insbesondere in der Männer- und Männlichkeitsforschung finden wir den Ansatz Bourdieus prominent. Bourdieu selbst expliziert, dass die wichtigsten sozialen Felder – Ökonomie, Politik, Wissenschaft – nicht nur primär Männern zugewiesen und von diesen besiedelt werden, sondern vor allem, dass sie ihnen Raum bieten zur Dar- und Herstellung von Männlichkeit. Sie sind Felder „ernster Spiele“, in denen sich Männer gegenüber Frauen profilieren und

8.2 Habitus und soziale Praxis

243

untereinander Rangordnungen ausfechten (Bourdieu 2005 [1998]). Männer- und Männlichkeitsforschung, die an Bourdieu anschließt, behandelt daher nicht nur (und oft nicht primär) Geschlechterverhältnisse, also die Abgrenzungsmodi von Männern zu Frauen, sondern betrachtet besonders Verhältnisse zwischen Männern (Connell 1999; Meuser 2006). Diese Fokussierung ist auch außerhalb einer Bourdieuschen Lesart nicht ungewöhnlich (z. B. Steinert 1997; Budde 2007), liegt sie doch bereits historisch auf der Hand: Während Frauen seit der Entwicklung des Zweigeschlechtermodells über die Naturalisierung zu ‚Geschlechtswesen‘ per se gegen Männlichkeit abgeriegelt wurden, wurden Männer nicht über ihr Geschlecht ‚versämtlicht‘, sondern in Abgrenzungen untereinander über Berufe, politische, soziale oder ökonomische Macht etc. definiert. Männlichkeitsforschung, die sich auf die Rangordnung unter Männern konzentriert, schließt – mehr oder weniger kritisch – an dieses Charakteristikum sozialer Konstruktion von Männlichkeit an. In der Diskussion wird den „ernsten Spielen“ eine doppelte Bedeutung für die Geschlechterordnung – also für die Abgrenzung von Männern zu Frauen – zugewiesen. Zum einen sind sie die Orte, an denen Männer Status und Kapitalien erlangen. Frauen – das erläutern sowohl Connell als auch Bourdieu – werde hier häufig nur der indirekte Anschluss darüber gewährleistet, dass sie sich einen Mann mit Status- und Kapitalausstattung zum Ehemann wählen können. Sie bekämen den indirekten Zugang allerdings unter der Voraussetzung, dass sie sich einem entsprechenden Ehemann zu- bzw. unterordnen. Der Ausschluss aus den ernsten Spielen werde damit symbolisch ‚kompensiert‘ im Zuge der Anwendung symbolischer Gewalt. Die zweite Bedeutung, die den ernsten Spielen zur Aufrechterhaltung der Geschlechterordnung zukommt, wird v. a. in Zeiten der Umwälzungen der Geschlechterordnung beleuchtet: Homosoziale Orte, also Orte, in denen Männer Statusverteilungen ‚unter sich‘ ausmachen können, sind Rückzugsorte, an denen sie „habituelle Sicherheit“ gewinnen können. Die „habituelle Sicherheit“, die der Umgang in der homosozialen Gruppe bedeutet, kann dann zum Ausschluss anderer Männer und v. a. von Frauen dienen, z. B. indem diese nur als Köchinnen im Zeltlager akzeptiert werden, oder indem Frauenfußball – ohne in Diskussion mit fußballspielenden Frauen treten zu müssen – als ‚kein richtiger‘ Fußball abgewertet werden kann (Straub 2006, S. 218 f.). Gerade in Zeiten, in denen die dominante Position von Männern in Begegnungen mit Frauen angefochten erscheint, in denen Männer in privaten Beziehungen mit Ansprüchen egalitärer Partnerschaften konfrontiert sind bzw. sich diese auch zueigen machen, gerade in diesen ‚unsicheren‘ Zeiten bieten die homosozialen Räume eine Rückversicherung altbekannter Muster männlicher Dominanz. Anders als bei einer zwischengeschlechtlichen Niederlage verlieren sie hier nur gegen Männer und noch nicht ihre ‚Männlichkeit‘ (vgl. Meuser 2007). Die wichtigste Funktion für habituelle Sicherheit im Konzept der hegemonialen Männlichkeit (Connell 1999) wird der Heterosexualität zugewiesen. Straub (2006) zeigt auf, dass in Schwulengruppen zwar auch Abgrenzungen gegen Frauen ‚nach unten‘ erfolgen, jedoch mehr Männlichkeiten gleichberechtigt nebeneinander entwickelt werden können. Im Konzept der Hegemonie verbinden sich Entscheidungsmacht, Rationalitätsorientierung und Heterosexualität. Durch die habituelle Sicherheit normativer, eingespielter sexueller Orientierung werden Geschlecht und Sexualität aus dem Bewusstsein gedrängt und qua Heterosexualität auf Frauen verlagert. Frauen füllen nun die Geschlechts- und Sexualfunktionen aus, so dass Männlichkeit nicht mehr über diese, Weiblichkeit dafür über nichts anderes definiert wird. Die (heterosexuelle) Männlichkeit kann also nun anders definiert werden. Dies geschieht mit den Konzepten der Rationalität und Entscheidungsmacht, so dass zugleich Männlichkeit per

244

8 Neuerschließen soziologischer Theorien

definitionem für ‚übergeschlechtlich‘ erklärt wird. Aus den Dimensionen der Rationalität und Entscheidungsmacht hegemonialer (heterosexueller) und übergeschlechtlicher Männlichkeit entsteht ein Vorherrschaftsanspruch, der vermeintlich im Interesse des Gemeinwohls liegt. Hegemoniale Männlichkeit wird also etabliert, indem Männlichkeit mit allgemeinen (modernen) Gütekriterien von Herrschaft gegen Weiblichkeit abgegrenzt wird (Hermann 2004). Geschlechterverhältnisse und Ungleichheiten Die „ernsten Spiele“ bzw. die in der Geschlechterordnung eingelagerte Männlichkeit der dominanten Felder werden nicht nur zur Rekonstruktion von Männlichkeit und zur Analyse von hierarchisch abgestuften Männlichkeiten genutzt. Der Weg wird auch ‚andersherum‘ gegangen, indem gezeigt wird, dass scheinbar ‚geschlechtsneutrale‘ Felder, in denen Frauen vermeintlich nur aus Gründen scheiterten, die mehr in ihnen als im Feld zu suchen seien, eben nicht eine geschlechtsneutrale Vorstellung von Machtverteilung beinhalten. Die Feldlogiken („Illusio“) und „Spielregeln“ selbst seien so angelegt, dass Frauen qua Geschlecht die Teilnahme am Wettbewerb abgesprochen werde. Implizit würden Frauen im ‚Duellieren‘ um die ehrenvollsten Plätze als nicht „satisfaktionsfähig“ verstanden (Rademacher 2002, S. 134). Entscheidend in der Argumentation ist hier, dass ungleiche Chancen sich nicht an vermeintliche Eigenschaften, an Stereotypisierungen im Feld oder gar an Verhaltensweisen von Frauen oder Männern anhaften, sondern an die Dichotomisierung als solche. Spitzenpositionen in Wirtschaft, Politik und Wissenschaft werden als Domänen von Männern Frauen vorenthalten. Die Konstruktion eines der Position entsprechenden Männerbildes und eines Frauenbildes, das Frauen als inadäquat erscheinen lasse, folge der Zuteilung und gehe ihr nicht voraus. Entsprechend passe sich eher das Männerbild veränderten Anforderungen an die Spitzenpositionen an (z. B. mehr ‚Softskills‘), als dass die Veränderungen Chancen für Frauen eröffneten. Betont wird in diesen Ansätzen, die Geschlechterdifferenzierung(en) untersuchen, dass der Ausgangspunkt ‚das Feld‘ ist und nicht die Akteure im Feld oder ihre Handlungen. Männer und Frauen positionieren sich im Feld gemäß der Spielregeln und Feldlogiken bzw. müssen sich gegen diese ‚auflehnen‘. Scheitern und Erfolg liegen damit nicht primär in der individuellen Verantwortung, sondern werden von den Feldlogiken vorbestimmt (vgl. für die Wirtschaft u. a. Ernst 1999; Hartmann 2002; für die Wissenschaft u. a. Krais 2000; Zimmermann 2000; Engler 1993, 2001). Im Rückgriff auf Bourdieu können Brüche zwischen Überzeugungen und Praxis ebenso zum Gegenstand der Forschung werden wie die wechselseitigen Einflüsse von Doxa und sozialer Praxis, die im Habitus ihren Brennpunkt haben. Eine prominente Studie, in der das Auseinanderklaffen zwischen Praxis und Überzeugungen und die ‚Heilungsarbeit‘ dieser Kluft thematisiert wird, ist eine Studie von Burkart und Koppetsch (1999) zur Teilung von Familienarbeit. Sie differenzieren zwischen Leitvorstellungen, „die Spielregeln festlegen und Begründungsmuster anbieten“ (Koppetsch/Burkart 1999, S. 19) und der Praxis, „die sich, als teilweise latente, häufig prä-reflexive, routinisierte Handlungsformen und implizite Strategien dem Bewußtsein von Akteuren zumindest teilweise entziehen“ (ebd., S. 23). Leitvorstellungen eines egalitären Verhältnisses zwischen Männern und Frauen können im Alltag (unbemerkt) durch traditionelle Arbeitsteilungen unterlaufen werden und Letztere darüber hinaus auch verschleiern. Umdeutungsprozesse passen dann Praxis und Vorstellungen in der Wahrnehmung der Akteure an. Auch in Hinsicht auf das doppelzügige Verhältnis von Herrschaft – dem „stillschweigenden Einverständnis“, mit dem Frauen die männliche Herrschaft unterstützen einerseits, symbolischer und materieller Gewalt, also einem gewissen Zwang

8.2 Habitus und soziale Praxis

245

andererseits – werden Brüche in den Blick genommen: Die Zählebigkeit der Herrschaft speist sich aus der Einlassung der symbolischen und materiellen Gewalt in soziale Felder, so dass ein Aufkündigen des „stillschweigenden Einverständnisses“ sich nicht sozial durchzusetzen vermag. Dies lässt sich nicht auf einer makrosozialen, sondern nur auf der Ebene der Praxis im Alltagshandeln – z. B. von Paaren – nachvollziehen, z. B. indem die „freiwillige Unterwerfung“ von Frauen nun vielmehr durch Männer eingeworben werden muss, als ‚Tauschgut‘ prekär werde und daher im Wert steigt (vgl. Behnke/Liebold 2001). Ein weiterer Aspekt, der bei der Erforschung von Geschlechterverhältnissen mit Bourdieu betont wird, ist die Verortung der Praxis im sozialen Raum, also das Wechselverhältnis von sozialer Positionierung und Praxis. Koppetsch und Burkart binden die „sozialstrukturellen Ermöglichungsbedingungen“ (Koppetsch/Burkart 1999, S. 21) in die Untersuchung ein, i. e. die „milieuspezifischen sozialen Bedingungen, die den Spielraum des Handelns abstecken“ (ebd.; ähnlich auch Frerichs/Steinrücke 1994). Mit dieser Perspektive (vertikaler) sozialer Differenzierung zeigen sie auf, dass Leitvorstellungen und Praxis zu familiärer Arbeitsteilung und Geschlechteregalität nach Milieu differieren. Von dem Geschlechterverhältnis könne also mit Bourdieu nicht gesprochen werden. „Klasse“ oder allgemeiner die soziale Lage brechen eine bi-polare Konzeption von Geschlechtern auf: „Ausgehend von der Erkenntnis, dass Konstruktionen von ‚Weiblichkeit‘ und ‚Männlichkeit‘ milieuspezifisch variieren (vgl. auch Frerichs 2000), werden Geschlechterverhältnisse als soziale Strukturierungszusammenhänge dargestellt, die in wechselseitiger Abhängigkeit mit den Lebensstilen, sozialen Lagen und Weltbildern der Milieus stehen. (…) [Weiblichkeiten und Männlichkeiten] entstehen nicht im luftleeren Raum, sie wurzeln in den jeweiligen Lebenslagen der Milieus und werden im Kontext institutioneller Einbindungen in Familie und Beruf hervorgebracht. Milieuspezifisch verschieden sind auch die symbolischen Auseinandersetzungen um die Dominanzordnung im Geschlechterverhältnis“ (Koppetsch 2001, S. 112). Damit wird die Verbindung von Klasse und Geschlecht, die neuerdings auch unter dem Stichwort der Intersektionalität diskutiert wird (vgl. Kap. 9.5), in Anknüpfung an Bourdieu bereits seit den 1990er Jahren diskutiert (Frerichs 2000). In seinem Konzept des sozialen Raumes werde systematisch die Verwobenheit verschiedener Dimensionen des Sozialen zusammengedacht, sie ergebe in ihren Schnittpunkten die soziale Positionierung. Diese Verwobenheit „existiert praktisch“ (Dölling/Krais 2007, S. 20) in zweierlei Weise über das ‚doppelseitige‘ Verhältnis des Sozialen: „in den Sachen und in den Köpfen“ (Bourdieu/ Wacquant 1996, S. 161), d. h. in der verdinglichten sozialen Ordnung im Feld und in der inkorporierten sozialen Ordnung im Habitus. Beiden Konzepten sei immanent, dass in ihnen alle Dimensionen des Sozialen zusammen innerhalb eines Akteurs oder einer Situation wirken (vgl. Dölling/Krais 2007). Dies wird nicht nur, aber insbesondere für das Verhältnis von Klasse und Geschlecht deutlich gemacht. Dabei wird nicht angenommen, dass man auf eine Klassenlage die Geschlechtszugehörigkeit einfach aufaddieren könne. Es müsse vielmehr von wechselseitigen Verschränkungen ausgegangen werden, in denen Geschlecht und Klassenlage in unterschiedlicher Weise sozial bedeutsam werden können: „Einige, z. B. die durch die neueren Dienstleistungsberufe geprägten Milieus, können ihre soziale Position durch eine Modernisierung im Geschlechterverhältnis verbessern, da durch die Aufwertung der Stellung der Frau der Gesamtumfang des dem Haushalt zur Verfügung stehenden kulturellen, sozialen und ökonomischen Kapitals erhöht werden kann. Für andere Milieus nimmt dagegen eine klare geschlechtsspezifi-

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8 Neuerschließen soziologischer Theorien

sche Arbeitsteilung eine wichtige Funktion bei der Reproduktion der sozialen Lage ein“ (Koppetsch 2001, S. 113). Dölling und Krais sehen hier die Chance, auch aktuelle Umwälzungen der Geschlechterverhältnisse und weitere „Modernisierungsdynamiken der bürgerlichen Gesellschaft“ (Dölling/ Krais 2007, S. 22) im wechselseitigen Bezug zu analysieren und zu fragen, wie die „über die Geschlechterordnung vermittelte gesellschaftliche Strukturierung (…) mit den Verschiebungen in der Klassengliederung, mit dem Umbau des Sozialstaats und den Verschiebungen der Machtverhältnisse im globalen Maßstab“ zusammenhängen (ebd., S. 14).20

8.3

Theorie der Strukturierung

8.3.1

Strukturierungen

Der 1938 geborene Brite Anthony Giddens verbindet wie Bourdieu Soziologie und politische Aktivität, im Gegensatz zu diesem jedoch ‚von oben‘, z. B. als Berater des früheren britischen Premier Tony Blair. Diese Verbindung bedeutet zum einen, dass Giddens vor allem Zeitdiagnosen liefert, um so politische Empfehlungen und Voraussagen treffen zu können. Zum zweiten verfolgt er eine eher ‚emanzipative‘ sozialwissenschaftliche Konzeption und ist nicht zuletzt deswegen für feministische Entwürfe anschlussfähig. In diesem Zusammenhang wurden vor allem zwei seiner Beiträge zur zeitgenössischen Soziologie aufgegriffen, die Theorie der Strukturierung und die Institutionenanalyse. Erstere stellt einen sozialtheoretischen Entwurf dar, in den sowohl Gesellschaftstheorien, insbesondere von Marx, Weber und Parsons eingehen, als auch Entwürfe des interpretativen Paradigmas, insbesondere Goffmans und Garfinkels. Wie auch die in diesem Kapitel zuvor genannten Soziologen verfolgt Giddens’ Theorie den Anspruch zwischen Strukturen und Handlungen zu vermitteln und den Dualismus von ‚Mikro-‘ und ‚Makrotheorien‘ zu überwinden (vgl. Lamla 2003). Zentral ist dabei der Aspekt der „Dualität von Struktur“: Handlungen individueller Akteure stehen gesellschaftlichen Strukturen nicht gegenüber, sondern sie setzen sich wechselseitig voraus. Intelligente, kompetente („knowledgeability“) und das bedeutet auch autonome, entscheidungsfähige („capability“) Akteure bringen ‚Gesellschaft‘ – und dabei Strukturen – hervor, tun dies jedoch, wie Giddens in expliziter Anlehnung an Marx (vgl. Kap. 2.2.3) erläutert, im Rahmen (historisch) vorgegebener Strukturen. Diese Doppelheit aktiver Produktion und gleichzeitiger Reproduktion von Strukturen durch Handelnde kennzeichnet „soziale Praxis“ für Giddens. Sie stellt die Schnittstelle individueller Handlungsfähigkeit („Agency“) und Struktur dar. Konstitutiv für soziale Praxis ist zum einen, dass sie einer raum-zeitlichen (An)Ordnung unterliegt und zum zweiten, dass handelnde Individuen sowohl intentional Handlungen vollziehen, als auch ‚nur‘ Strukturen ausführen und dies oft sogar gleichzeitig. Dies geschieht beispielsweise in Sprechakten: Dass wir etwas sagen und was wir mitteilen, ist eine (weitgehend) freie und eigene Leistung, zu der wir aber auf vorgegebene Ressourcen und Regeln

20

Die Frage, ob Geschlecht eine „Strukturkategorie“ sei, wird innerhalb einer Bourdieuschen Linie kontrovers diskutiert. Engler erklärt gegen die o.g. Einschätzung: „Als vergeschlechtlichte, in den Habitus eingelagerte Sicht der Welt ist Geschlecht nicht als Strukturkategorie zu konzeptualisieren, die man mit anderen soziologischen Kategorien kombinieren kann. Als Dimension des Sozialen ist das Klassifikationsschema Geschlecht Bestandteil der sozialen Ordnung und der von uns verwendeten Ordnungsschemata“ (Engler 2010, S. 261).

8.3 Theorie der Strukturierung

247

zurück greifen, v. a. auf Grammatik und Vokabular. Solche Konventionen, die dem subjektiven Bewusstsein vorausgehen, sind damit zwar nicht Teil des „diskursiven Bewusstseins“, das sich bspw. mit dem Inhalt der Rede auseinander setzt, aber Teil des „praktischen Bewusstseins“. Dieses alltägliche know-how, die entlastenden Routinen, „habitualisiertes Wissen“, das bloße Ausführen vorgegebener Muster sind wichtige Bestandteile unseres alltäglichen Lebens und dabei eben nicht stets bewusst – nur so können sie Entlastung bieten. Nichtsdestotrotz ist unser „praktisches Bewusstsein“ in der Lage auf Nachfrage Handlungsmotive anzuführen, nicht weil es (genau) diese zuvor gab – sie weichen sogar oft von den ursprünglichen Motiven ab –, sondern weil der Mensch zur Reflektion bzw. zur „Rationalisierung“ fähig ist. Die „Rationalisierung“, also die nachträgliche Begründung unreflektiert vollzogener Handlungen ist notwendig, weil wir uns gegenseitig als zurechnungsfähige Akteure („accountability“) voraussetzen müssen, damit wir miteinander interagieren können. Nicht nur die Handlungsmotive sind den Handelnden oft unzugänglich, auch unübersichtliche Handlungsbedingungen und vor allem unbeabsichtigte Handlungsfolgen erschweren es Akteuren in soziale Abläufe steuernd einzugreifen. Die Strukturen, auf die wir zurückgreifen, unterteilt Giddens in Ressourcen – Handlungsmittel, wie Vokabeln oder Werkzeuge – und Regeln, d. h. Anweisungen, wie diese Mittel eingesetzt werden können (wie z. B. Flexionsregeln oder Bedienungsanleitungen). Die Regeln ermöglichen eine effiziente und somit entlastende Nutzung der Ressourcen, aber sie erzwingen i. d. R. nicht einen Weg. Auch wenn Strukturen das Handlungsrepertoire eingrenzen, eröffnen sie i. d. R. mehrere Handlungsmöglichkeiten, für oder gegen die sich individuelle Handelnde entscheiden müssen. Bspw. müssen wir, um uns verständlich zu machen, zwar bekannte Wörter im Deutschen verwenden, aber davon gibt es etwa eine halbe Million. Dass man auch etwas anders machen könnte, ist ein wichtiger Baustein für Giddens’ Strukturationstheorie. Dadurch widerspricht die Reproduktion sozialer Strukturen für Giddens nicht seinem Verständnis individueller Autonomie: Subjektivität bilde sich erst durch die verschiedenen Entscheidungen aus, so dass das intelligente Individuum, dessen Handlungsfähigkeit Strukturen hervorbringt, selber Produkt dieser Strukturen ist. Denn auch die Entscheidungen werden auf der Basis von „Kontextwissen“ gefällt, dem sozial geprägten Wissen über Handlungsfolgen, -bedingungen und Rationalisierungen, das den Individuen in der jeweiligen Situation zu eigen ist und ihnen für die Situation relevant erscheint. Das „could have done otherwise“ bedeutet Handlungsautonomie auf der Seite des Individuums, die eine von drei Komponenten (neben Ressourcen als Systemeigenschaft und Herrschaft als Strukturierungsprinzip) bei Giddens darstellt, aus denen sich Machtverhältnisse zusammensetzen.

8.3.2

Strukturierung der Geschlechterunterscheidung

Die Theorie der Strukturierung wird Ende der 1980er/Beginn der 1990er Jahre aufgegriffen, um einen soziologischen Zugang zur Kategorie Geschlecht auszuarbeiten, wobei kritisiert wird, dass dies bei Giddens fehle. Einen wichtigen Ansatz liefert die Niederländerin Joan Wolffensperger (1991); sie zeigt die Vorzüge der Strukturationstheorie in Abgrenzung zu zwei zu dieser Zeit verbreiteten Erklärungsmustern auf. In dem einen Muster wird Segregation z. B. im Wissenschaftsbetrieb darüber erklärt, dass Frauen entweder aus biologischen Gründen, aus Familienpflichten heraus oder aufgrund ‚falscher Wahl‘ in numerisch weiblichen Wissenschaften landeten bzw. aus denselben Gründen keine Karriere machen würden. In diesen Ansätzen, in denen mit dem Verhalten von

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8 Neuerschließen soziologischer Theorien

Frauen argumentiert wird, fehlt für Wolffensperger Entscheidendes: Interaktionen, Strukturen, Machtverhältnisse und nicht zuletzt Männer. Die Erklärung über ‚falsche Wahl‘ verlaufe zudem nach dem Prinzip „blame the victim“, das Heranziehen biologischen oder sozialen ‚Schicksals‘ zementiere das Stereotyp weiblicher Passivität und Hilflosigkeit. So oder so: Das Erklärungsmuster reproduziere auf Seiten von Männern, in der Politik und bei Organisationen eine Haltung, wonach es nicht an diesen Akteuren läge, etwas zu ändern, denn Biologie, Schicksal oder eigene Schuld von Frauen liegen außerhalb des Handlungsspielraums genannter Akteure. Wolffensperger versteht dieses Erklärungsmuster daher weniger als eine wissenschaftliche Antwort darauf, wie Geschlechterunterschiede zu verstehen seien, als vielmehr als Teil derjenigen sozialen Praxis, in der „vergeschlechtlichte Strukturen“ („engendered structures“) reproduziert werden, i. e. Strukturen, in denen Frauen und Männer unterschiedliche Plätze einnehmen, Geschlechterstereotype im Kontextwissen eingelagert sind, Handlungsmacht („Agency“) unterschiedlich verteilt wird, sowie Regeln und Ressourcen Geschlechterdifferenzen zugunsten eines Geschlechts herstellen und nutzbar machen. Das zweite Erklärungsmuster ist die (Über)Betonung von Strukturen. In diesen Ansätzen, so Wolffensperger, erscheinen Menschen als „Zombies“ (Wolffensperger 1991, S. 91), die den Strukturen nur folgen, in ihnen selber aber nicht aktiv werden und also auch nichts verändern können. Dieses Erklärungsmuster widerspricht Erfahrungen in und mit den Frauenbewegungen. In denjenigen Ansätzen, die die Handlungsfähigkeit (von Frauen) hineinholen wollen, aber dennoch ‚das System‘ für Geschlechterungleichheit verantwortlich machen, wird eine Kluft zwischen Struktur und Handeln aufgemacht. Dann erklärt sich aber nicht, wie ‚das System‘ praktisch Wirkung entfalten kann, wenn nicht durch Umsetzung in Handlung. Die Theorie der Strukturierung bietet für Wolffensperger eine Chance, die Produktion und Reproduktion von Geschlechterunterschieden zu untersuchen und dabei Strukturen, Handlungsfähigkeit, Kontexte, Interaktionen und Machtverhältnisse in Bezug zu einander zu setzen. Giddens hat dies als Strukturierungsmodus bei Klassen aufgezeigt.21 Danach herrschen innerhalb einer Klasse bestimmte Werte und ein bestimmtes Wissen um „richtiges Handeln“ vor, was dazu führe, dass sich Klassen selbst reproduzieren. So geht bspw. die Mittelklasse davon aus, dass Leistung zu ökonomischem Erfolg führe. Diese Denkweise beruht darauf, dass die Mittelklasse nicht wie die Oberklasse Kapital oder wie die Unterklasse Arbeitskraft als ökonomische Ressource einsetzt, sondern Qualifikation (formale Bildung), die mit dem entsprechenden Engagement erreichbar und einsetzbar ist. Die Sicht, Leistung lohne sich, wird von der Mittelklasse aber gerade nicht als klassenspezifisch interpretiert, sondern als allgemeingültig, und gerade dadurch reproduzieren sie die Klassengrenzen. Die Akteure setzen für den sozialen Aufstieg auf Leistung statt auf Kapital (das sie nicht haben) und können daher die Grenze nach oben nicht durchbrechen. Zugleich reproduzieren sie soziale Vorurteile, wenn sich Menschen aus der Arbeiterklasse nicht durch Leistung nach oben arbeiten (Giddens 1984 [1973]). In der Arbeiterklasse selbst entstehen unintendierte Handlungsfolgen der Klassenreproduktion daraus, dass in ihrer ‚Klassenkultur‘ einer frühen finanziellen Unabhängigkeit hohe Bedeutung zukommt. Eine langfristige Investition in Bil21

Klassen sind durch unterschiedliche Machtverteilungen in Marktbeziehungen gekennzeichnet. Eine Abgrenzung zwischen Klassen nimmt Giddens mit Weber dann vor, wenn zwischen verschiedenen sozialen Lagen kaum oder keine Mobilität (also Auf- oder Abstieg) erfolgt. Klassen(grenzen) sind strukturiert durch Muster der Lebensführung, Orte (z. B. Arbeitsstätten und Wohnorte) und Kontrollformen, die zusammen Klassenkulturen hervorbringen. Diese erzeugen dann erst diejenigen Strukturen, in denen die unterschiedlichen Machtverteilungen in den Marktbeziehungen entstehen.

8.3 Theorie der Strukturierung

249

dung widerspricht diesem Wert. Die ‚Bildungsferne‘, die der Unterklasse von der Mittelklasse vorgeworfen wird, scheint sich dann zu bestätigen (Giddens 1988, [1984]). Wolffensperger (1991) legt dieses Muster nun auch auf die (Re)Produktion von Geschlechterunterschieden an. Geschlechterunterscheidungen, die bei ihr (wie bei Bourdieu) hierarchisch gedacht werden, sind Ressourcen und Regeln, die in der sozialen Praxis aktiviert werden, wodurch Geschlecht im Handeln reproduziert, aber auch verändert werden kann. Legitimation, Bedeutung („signification“) und Herrschaft sind „Strukturierungsprinzipien“. Über das Ineinandergreifen dieser Strukturierungsprinzipien werden nicht nur vergeschlechtlichte Strukturen, sondern auch Geschlecht (re)produziert. Beispielsweise zeigte Forschung ihrer Zeit auf, dass schulische Erfolge und Misserfolge geschlechterdifferenzierend erklärt wurden. Während bei Jungen gute Noten auf Intelligenz, schlechte auf Faulheit zurück geführt wurden, wurden bei Mädchen gute Leistungen auf Fleiß und schlechte auf mangelnde Intelligenz zurückgeführt. Lehrkräfte, die in dem schulischen Setting über strukturell höhere Macht verfügten, konnten dieses nach Geschlecht unterschiedene Maß an Schüler/innen anlegen und damit in der sozialen Praxis aktivieren. Dabei legten sie zugleich den Schüler/innen diese geschlechterunterscheidende Bedeutung nahe. Für die Kinder und Jugendlichen lagen so die Geschlechterunterscheidungen als aktivierbare Ressourcen bereit, deren Reproduktion reibungslos funktionierte und daher entlastend wirkte. In dem Kontext, in dem das (zunächst) gleiche Handeln von Jungen und Mädchen unterschiedlich „rationalisiert“ wurde, wurde Fleiß sozial niedriger, Intelligenz höher bewertet und belohnt: „Wo auf Geschlechterstereotype zurückgegriffen wird, werden auch die Folgen vergeschlechtlicht produziert: Gefühle der Unsicherheit bei Frauen und Selbstbewusstsein bei Männern. Eine ‚weibliche Identität‘ taucht auf und erweist sich im Verlauf als unvereinbar mit Intelligenz“ (Wolffensperger 1991, S. 104, Übers. d. V.). Durch die Reproduktion im Handeln der Beteiligten wird also auch die Hierarchisierung der Geschlechterunterscheidung reproduziert, und die Unterschiede erscheinen nun nicht mehr sozial konstruiert, sondern ‚geschlechtstypisch‘. Auf diese Weise wird die Unterscheidung legitimiert. Die strukturierenden Faktoren, Interaktionen, Kontexte sowie Vergeschlechtlichungen der Normen, Herrschaft, Ressourcen und Handlungskompetenz (zusammengefasst: der Machtverhältnisse) werden ausgeblendet, der Konstruktionsprozess wird unsichtbar und damit stabilisiert. Geschlechterdifferenzierende Wissensbestände sind so in der sozialen Praxis verschränkt mit Ungleichheit und der Legitimation von Geschlechterunterschieden, so dass „vergeschlechtlichte Strukturen“ und Geschlecht gleichzeitig reproduziert werden.

8.3.3

Veränderte Geschlechterverhältnisse – veränderte Zeiten

Giddens selber hat die Geschlechterdifferenzierung (bisher) nicht zum Gegenstand gemacht. 1994 findet sich in „Jenseits von Links und Rechts“ (deutsch: 1997) eine systematische Berücksichtigung von Geschlechterverhältnissen, genauer gesagt der Frauenbewegung, die Giddens – ähnlich wie Simmel etwa 100 Jahre zuvor – als „einflussreicher (…) als etwa die traditionelle Arbeiterbewegung“ (Kießling 1988, S. 294) einschätzte. Hier geht es also nicht um die Konstruktionsmodi von Geschlecht, sondern um die „Wirkung der Kategorie Geschlecht“ (Kahlert 2008, S. 13) auf heutzutage beobachtbare Strukturen und Praktiken, genauer auf institutionalisierte – i. e. auf Dauer gestellte – Praktiken. In seiner Zeitdiagnose

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8 Neuerschließen soziologischer Theorien

analysiert er, wie sich die vier institutionellen Dimensionen der Moderne herausgeschält haben, wie diese sich mit der Globalisierung ausdehnen, aber auch selber verändern. Diese vier sind 1. Kapitalismus: ein auf Akkumulation von Kapital, Lohnarbeit und Wettbewerb gestütztes Wirtschaftssystem; 2. Industrialismus: die „Umgestaltung der Natur“ und „Schaffung der ‚gestalteten Umwelt‘“, durch Maschinen und Ausbeutung natürlicher Ressourcen herbeigeführte Veränderungen in der Warenproduktion, dem Transport, der Kommunikation und dem „häuslichen Leben“; 3. Militarismus: die neuzeitliche Monopolisierung und Auf-Dauer-Stellung der Gewaltmittel in Form von nationalstaatlichen Armeen (statt Vasallen zu verpflichten); 4. Überwachung: die „Aufsicht über die Tätigkeiten der Untertanen“ im Nationalstaat, die sowohl unmittelbar durch entsprechende (Verwaltungs)Apparate oder mittelbar z. B. durch Informationskontrolle erfolgen kann (Giddens 1995 [1990], S. 75–91). Veränderungen in den Institutionen führt Giddens insbesondere auf soziale Bewegungen zurück, die er jeweils den Institutionen zuordnet: Die Arbeiterbewegung versteht er als die entscheidende Gegenmacht zum Kapitalismus, die ökologische Bewegung stellt den Industrialismus infrage, der Militarismus wird durch die Friedensbewegung angefochten und die Überwachung vor allem durch Demokratisierungsbewegungen und Bewegungen zur (Rede)Freiheit. Quer zu den institutionellen Dimensionen verlaufe die Frauenbewegung, wie Giddens in einer Fußnote zu „Konsequenzen der Moderne“ (1995) erwähnt. In die Moderne, so erklärt Giddens vier Jahre später, sind auch Re-Traditionalisierungen (gegenüber der Aufklärung) eingelassen, unter denen er explizit diejenigen in Hinsicht auf „Familie, Geschlechterrollen und Sexualität“ hervorhebt, in denen „die Frauen fest ans Haus gebunden, die Trennung der Geschlechterrollen verstärkt und gewisse Vorschriften für ‚normales‘ sexuelles Verhalten verstärkt wurden“ (Giddens 1997, S. 24). Nicht nur diese Konservativismen bis hin zu Fundamentalismen (ebd., S. 25 ff.) werden vom Feminismus bzw. den Frauenbewegungen infrage gestellt, sondern, so vermutet Giddens, „Grundelemente des Geschlechterverhältnisses“ (Giddens 1995, S. 199). Das Infragestellen reicht aber auch über das Geschlechterverhältnis hinaus: „[D]as Nachdenken über Geschlecht und seinen Einfluss auf die Strukturierung von Grundmerkmalen der Personenidentität (…) stehen in enger Verbindung mit dem Thema des Selbst als eines reflexiven Projekts, denn alle Individuen erhalten im Zuge der Lernprozesse, durch die das Selbst sich entwickelt und anschließend gestützt oder modifiziert wird, eine Geschlechtsorientierung“ (ebd.). Geschlecht ist für Giddens damit zwar kein ‚natürliches‘ Merkmal von Personen, sondern ein erworbenes, er bleibt aber doch recht nah an der Vorstellung Parsons, dass sich „Geschlechterrollen“ im Zuge der Sozialisation an Personen haften und nicht in sozialer Praxis hergestellt werden. Dementsprechend richtet sich die Frage, wie Geschlecht in aktuelle und zukünftige gesellschaftliche Entwicklungen hinein spielt, für ihn auf Geschlechter- und damit Machtverhältnisse (Giddens 1997, S. 42) sowie auf Rollenverteilungen und Geschlechterbilder. Dies dekliniert er nun für alle von ihm betrachteten Aspekte der Moderne durch, bspw. indem er darstellt, welche Geschlechterrollen und -verhältnisse in der Konzeption des NeoLiberalismus vorherrschen (ebd., S. 64) oder wie die „patriarchalische Familie“ im Sozialstaat vorausgesetzt und gestützt wurde (ebd., S. 113).

8.3 Theorie der Strukturierung

251

Der Kapitalismus wird in Giddens Augen wesentlich durch eine geschlechtliche Arbeitsteilung getragen, in deren Folge Frauen die unbezahlte (Haus)Arbeit zugewiesen wird. Giddens vermutet, dass die Frage der Arbeitsteilung in Hinsicht auf unbezahlte Familien- und Hausarbeit den Konflikt zwischen den Geschlechtern noch verschärfen wird, und dieser Konflikt daher letztlich – vor z. B. Klassen- und Generationenkonflikten – der sozial folgenreichste sein wird. Wichtiger aber noch als die geschlechtertrennende Teilung bezahlter und unbezahlter Arbeit, erscheint ihm eine andere Aufspaltung: Mit den kapitalistischen Arbeitsformen entstand eine Trennung des sozialen „sittlichen Gewebes“ von der Erwerbssphäre und diese Trennung wirkte sich so aus, dass „[die] Frauen (…) zu ‚Spezialistinnen der Liebe‘ (wurden), während die Männer die Verbindung verloren zu den emotionalen Ursprüngen einer Gesellschaft, in der die Arbeit als Götze verehrt wurde. (…) Der Produktivismus (…) setzte eine ‚Schattenwirtschaft‘ voraus, in der rein ökonomische Werte im Grunde geringgeschätzt und abgelehnt wurden“ (ebd., S. 239). Mit anderen Worten war die kapitalistische, arbeitsteilige, und ‚entfremdete‘ Produktion, die sich zum „Produktivismus“ (zu einem Selbstzweck des intensiven Produzierens) steigert, nur möglich, indem eine Hintergrundversorgung gewährleistet war, in der dann Werte wie ‚Liebe‘ von Frauen produziert wurden. Diese „Schattenwirtschaft“ wird durch das Eindringen der Frauen in die Erwerbssphäre und ihre ‚Weigerung‘, die „emotional befrachteten Aufgaben zu erfüllen“, prekär. Giddens sieht dadurch das kapitalistische und industrialistische System durchaus infrage gestellt: „Der Zusammenbruch des männlichen Arbeitsmusters ist wahrscheinlicher als der umfassende Einstieg der Frauen in Beschäftigungen männlichen Stils. (…) Bislang sehen die meisten Männer zwar noch ein vollständiges Berufsleben voraus oder rechnen mit einem Leben ganztägiger Arbeit, aber selbst wenn sie es eifrig wünschen, wird sich diese Erwartung für viele als unrealistisch erweisen. (…) Die Fragen lauten jetzt anders: Beschäftigung unter welchen Bedingungen? Und in welchem Verhältnis sollte die Arbeit zu den übrigen Lebenswerten stehen?“ (ebd., S. 240). In den neueren Diskussionen z. B. um Elternzeit, Teilzeit für Führungspositionen und dem Ruf nach mehr „Familienfreundlichkeit“ in Erwerbsorganisationen – die in den Medien gerade nicht mehr nur für Frauen diskutiert werden – kann man diese von Giddens antizipierte und von der Frauenbewegung gezündete Sprengkraft für die bisher selbstverständliche unternehmerische Nutznießung der „Schattenwirtschaft“ erkennen. Für die Dimension des Militarismus spielt nach Giddens Geschlecht ebenfalls eine Rolle. Der Militarismus sei historisch mit einem Ideal von Männlichkeit verschränkt, das in dieser Form durch die Friedensbewegungen infrage gestellt worden sei. Die (militärische) Tugend der ‚Mannhaftigkeit‘ habe sich in verschiedene Vorstellungen von (unmilitärischer) ‚Männlichkeit‘ aufgelöst. Militarismus versteht Giddens allerdings vor allem als Gewalt von Männern gegen andere Männer (ebd., S. 315 f.). Zwischen den Geschlechtern („Patriarchat“) ist die Dimension der Überwachung und mit ihr die latente Gewalt, also die bloße Möglichkeit einer Gewaltanwendung wichtiger, als die tatsächliche: „Die Macht der Männer über die Frauen hat deshalb so lange bestanden, weil sie legitimiert wurde durch unterschiedliche Geschlechterrollen, mit diesen verknüpfte Werte und eine geschlechtsbezogene Trennung zwischen privater und öffentlicher Sphäre“ (ebd., S. 318). Gewalt gegen Frauen, so Giddens, ist innerhalb des Patriarchats eine (direkte) Sanktion bzw. eine (indirekte) Reaktion gegen eine „partielle Zerrüttung“ (ebd., S. 320) dieser Machtverhältnisse, bspw. durch das Eindringen der Frauen in die öffentliche Sphäre. Die Überwachung bezog Frauen als Kontrolleurinnen ihrer selbst und anderer Frauen mit ein.

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8 Neuerschließen soziologischer Theorien

Frauen wurden ‚gespalten‘, indem die Einhaltung der strengen sittlichen Maßstäbe, die an Frauen angelegt wurden, mit entsprechender Anerkennung belohnt wurde. Frauen erhielten so die Möglichkeit sich gegenüber anderen Frauen aufzuwerten. Die Sexualität versteht Giddens mit Foucault (vgl. Kap. 7.3.1) als wichtigsten Gegenstand der Überwachung. „Um es knapp zu formulieren: die Legitimation des Patriarchats beruhte auf der (…) Trennung zwischen der tugendhaften Frau und der Hure, die den Sanktionen des Staates unterworfen wurde“ (ebd., S. 319 f.). Die Frauenbewegungen haben hier in Giddens Augen für unsere Zeit die weitreichendste Veränderung geschaffen, indem sie den „Zwangscharakter der männlichen Sexualität“, d. h. Phallozentrismus und Unterwerfung weiblicher Sexualität offen gelegt und angefochten haben (Giddens 1993 [1992], S. 11). Der Anspruch an Egalität in Paarbeziehungen und von dort ausgeweitet auf die verschiedenen Generationen in der Familie, Selbstkontrolle der Reproduktion und Befreiung weiblicher Sexualität werden – zwei Jahrzehnte nachdem Giddens dies in „Wandel der Intimität“ darlegt – im Alltagsverständnis als wichtige Indikatoren für Demokratisierung und Freiheitsbestrebungen verstanden und so bspw. als Maßstäbe an die arabischen Revolutionen angelegt.

8.4

Systemtheorie

8.4.1

Kommunikation und „Person“

Niklas Luhmann (1927–1998) kam erst nach einer Tätigkeit als Jurist in den 1960er Jahren mit der Soziologie, genauer mit T. Parsons Strukturfunktionalismus (vgl. Kap. 4.3.1) in Berührung, dem wichtigsten Ausgangspunkt seiner Systemtheorie. Nach Luhmann bilden „soziale Systeme“ den Gegenstand der Soziologie. Systeme lassen sich holzschnittartig charakterisieren, • • •

als in sich abgeschlossen und nach außen abgegrenzt („Innen/Außen-Differenz“), wobei innerhalb von Systemen „Operationen“ ablaufen, die das System aufrechthalten (z. B. bei „organischen Systemen“ Stoffwechselprozesse, Blutkreislauf, Atmung etc.), und deren Abläufe aufeinander bezogen sind.

Soziale Systeme haben mit „organischen“ (Lebewesen) und „psychischen Systemen“ (Bewusstsein) gemein, dass sie „autopoietisch“ sind: Sie halten sich aus sich selbst heraus ‚am Laufen‘ – anders als z. B. Maschinen, die jemand bedienen muss. Nur „psychische“ und „soziale Systeme“ sind „sinnverarbeitend“. In „psychischen Systemen“ sind die „sinnhaften“ Operationen etwa Wahrnehmung und Denken, in sozialen Systemen ist dies die Kommunikation (Luhmann 1986). ‚Das Soziale‘ wird bei Luhmann von einer benennbaren ‚Trägerschaft‘ gelöst, d. h. von denjenigen, welche die Kommunikation praktizieren, die das soziale System konstituiert. Visuelle Reize, Laute, körperlich präsente Menschen, Handlungen, Wahrnehmungen, menschliches Bewusstsein etc. sind für Luhmann nur die Umwelt des Sozialen. Ein soziales System ist jedoch „strukturell gekoppelt“ an das „psychische“ ebenso wie ein „psychisches System“ an das „organische“ – ohne Körper kein Bewusstsein, ohne menschliches Bewusstsein keine menschliche Gesellschaft: „So verläßt sich jede Kommunikation, ohne eingreifen zu können, auf die Aufmerksamkeits- und Aufzeichnungskapazitäten der teilnehmenden Bewußtseinssysteme“ (Luhmann 1995, S. 153). Wieso Luhmann zwischen Kommunikation und den Trägern dieser Kommunikation so scharf trennt, lässt sich durch die Gegenstandsbegrenzung verschiedener Disziplinen plasti-

8.4 Systemtheorie

253

scher machen. Der Ruf „Baum fällt!“ wird in der Physik als Schallwellen relevant, die Aussage dagegen gehört nicht in die Physik, sondern in deren Umwelt – nämlich in die geisteswissenschaftliche Fakultät –, für die Linguistik verhält es sich genau umgekehrt. Kommunikation im Sinne Luhmanns besteht weder in der Schallwelle noch in der Aussage, sondern darin, dass es jemand aufgenommen und verstanden hat. Dies setzt Schallwellen und Aussagen zwar praktisch voraus, doch das sprichwörtliche ‚Rufen im Walde‘ ist noch keine Kommunikation, es ist noch nicht sozial. Auf ihre kommunikative Funktion lassen sich bei Luhmann dann auch Handlungen und Artefakte (wie Schilder oder Zäune) für soziologische Fragestellungen reduzieren, z. B. ist ein nach unten gerichteter Daumen soziologisch irrelevant, wenn er nicht verstanden wurde und „Anschlusskommunikation“ ermöglicht. Kommunikation beruht auf „Selektionen“ der „Mitteilung“ (also ob und wenn ja, was mitgeteilt wird), der „Information“ (der kommunikative Gehalt der Mitteilung) und des „Verstehens“ (das was bei Ego ankommt, unabhängig davon, ob es das ist, was Alter mitteilen wollte). In Luhmanns funktionalistischem Verständnis von Gesellschaft ‚funktioniert‘ Gesellschaft durch funktionale Differenzierung. Sie ersetze in modernen Gesellschaften Platzanweisungen aufgrund zugeschriebener Merkmale – also auch die nach Geschlecht – und sozialer Herkunft wie in tradierten Systemen sozialer Ungleichheit. Zur Analyse moderner Gesellschaften unterscheidet Luhmann drei „Systembildungsebenen“: „Gesellschaft“, „Organisation“ und „Interaktion“. Durch die funktionale Differenzierung entstehen auf jeder dieser Ebenen verschiedene einzelne soziale Systeme und Subsysteme. Die Interaktionsebene wird auch bei Luhmann durch Anwesenheit (bzw. „kommunikative Verfügbarkeit“) definiert und damit durch die Möglichkeit, dass sich „psychische Systeme“ wechselseitig wahrnehmen. Organisationen sind durch Mitgliedschaftsregeln definiert und gehören i. d. R. einem Subsystem an, z. B. Wirtschaft, Politik, Recht o. ä. Die Systembildungsebene „Gesellschaft“ ist definiert über „kommunikative Erreichbarkeit“, die für Luhmann im Zuge der Globalisierung nur noch als ‚Weltgesellschaft‘ und nicht als nationalstaatlich differenzierbare Gesellschaften vorstellbar ist (Luhmann 1975). Auf der Systembildungsebene Interaktion wird in unserem Zusammenhang das relevant, was Luhmann „Person“ nennt. Anders als im Alltagsverständnis ist „Person“ nicht etwas, was ein Mensch ‚ist‘. Das, was im Alltag unter Person verstanden wird, ist zumeist das, wozu wir „ich“ sagen – das ist bei Luhmann aber das psychische System, auf das auch alle oben genannten Charakteristika von Systemen zutreffen (hier spricht auch Luhmann vom Individuum). „Personen“ sind dagegen keine Systeme, sondern „Identifikationen“ (ebd., S. 146 f.), sie sind eine sinnhafte Unterscheidung des sozialen Systems: „Eine Person ist dann nicht einfach ein anderer Gegenstand als ein Mensch oder ein Individuum, sondern eine andere Form, mit der man Gegenstände wie menschliche Individuen beobachtet“ (ebd., S. 148, Herv. d. V.). Wie „Rolle“ ist „Person“ also etwas, was aus dem sozialen System heraus und nicht vom individuellen Bewusstsein her beschrieben wird. Eine „Rolle“ bezieht sich auf eine Funktion in einem Subsystem, die jemand ausübt (z. B. Erzieher ist eine Rolle im Bildungssystem). Wie „Rolle“ ist „Person“ ein Bündel an Erwartungen, aber nun nicht eine funktional sondern eine „individuell attribuierte Einschränkung von Verhaltensmöglichkeiten“ (ebd., S. 148). Anders gesagt: die „Person“ ist all das, aber auch nur das, was in der Kommunikation relevant werden kann, was „für weitere Kommunikation hervorgehoben und bereitgestellt, was interessant, weiter klärbar, eventuell auch bezweifelbar ist“ (ebd.). Die „Person“ des Gegenübers entsteht aus der kommunikativen Erfahrung von „Ego“ mit „Alter“, wobei Generalisie-

254

8 Neuerschließen soziologischer Theorien

rungen entstehen und entsprechend übertragen werden können, z. B. in Form von sozialen Kategorien und Stereotypen. Die Form „Person“ besteht aus internen und externen Erwartungen: Interne Erwartungen kann man als situationsbezogene verstehen, sie speisen sich aus dem Verständnis der aktuell ausgeübten Rolle meines Gegenübers. Beispielsweise kann eine interne Erwartung sein, dass der Erzieher die Arbeit mit Kindern genießt. Externe Erwartungen dagegen stammen aus anderen Zusammenhängen, z. B. aus anderen Subsystemen. Beispielsweise nehme ich an, dass derjenige, den ich als Erzieher erlebe, auch noch Hobbies, Freundschaften und vielleicht eine Beziehung pflegt. Dann wäre eine externe (und hier der internen widersprechende) Erwartung bspw., dass er sich auf den Feierabend freut. In der „Person“ kommen diese Erwartungen zusammen.

8.4.2

Wo spielt Geschlecht (noch) eine Rolle?

Luhmanns Position zu Geschlechterfragen schlug sich in dem polemischen Aufsatz „Männer, Frauen und George Spencer Brown“ (2003 [1988]) nieder, der nicht dazu gedacht war, eine soziologische Thematisierung von Geschlecht zu beflügeln. Anders also als die zuvor in diesem Kapitel behandelten Theoretiker/innen sieht Luhmann geschlechtliche Ungleichheit eher als überwunden und eine Beschäftigung mit Geschlecht nicht weiter anschlussfähig an seine Theorie. Luhmann warf „der Frauenbewegung“ vor: „Sie verlangt Gleichheit, ohne akzeptieren zu können, daß dies Postulat seine eigene Grundlage, die Unterscheidung, verschluckt“ (Luhmann 2003, S. 55). Damit hat Luhmann indes gerade die Komplexität verkannt, die inzwischen im Anschluss an ihn untersucht wird, nämlich die Frage, wo Gleichheit und wo Unterscheidungen stattfinden und wie sich die beobachtbare „Kontingenz“ erklären lässt. Die Frage danach, wie Geschlecht sozial relevant wird, wird im systemtheoretischen Ansatz nicht zu einer Theorie zusammengeführt. Stattdessen wird i. d. R. auf den konstruktionstheoretischen Ansatz des „doing gender“ zurückgegriffen (z. B. Nassehi 2003; Weinbach 2004). Ebenso wie bei den anderen Ansätzen in diesem Kapitel wird aber davon ausgegangen, dass die Konstruktionstheorien Butlers und der Interaktionstheorie nicht in der Lage seien, Mikro- und Makroebene zu verbinden und dies nun von der jeweils vorgelegten Theorie bewältigt werden könne. Weinbach (2004; 2007) geht mit Luhmann davon aus, dass die funktionale Differenzierung sich auf der Ebene der Gesellschaft durchgesetzt und veraltete (also zugeschriebene statt erworbene) Platzanweiser wie Geschlecht vollständig verdrängt habe. Hier sei also Geschlechterdifferenzierung gänzlich irrelevant geworden. Von dort aus senke sich diese jedoch erst nach und nach auch auf die Ebene der Organisation ab, die dann erst auf die Ebene der Interaktion Einfluss nehmen könne. Mit dieser zeitlichen Versetzung könne der Befund erklärt werden, dass Geschlecht als ein ‚vormodernes Relikt‘ im Alltag durchaus noch Platzanweisungsfunktion in Interaktionen entfalte, aber gleichzeitig eine „De-Institutionalisierung“ (Heintz/Nadai 1998) stattfinde (vgl. Kap. 6.3). Dass Geschlecht sich auf der Interaktionsebene (nach wie vor) als empirisch relevant erweise, entfaltet Weinbach über die Bedeutung der „Person“ in den Kommunikationsprozessen. In die Erwartungen, die sich als Form „Person“ bündeln, können auch geschlechterdifferente externe – von dem gegebenen Kontext unabhängige – Erwartungen einfließen. Dabei handelt es sich für Weinbach um Geschlechterstereotype: „Die Struktur, die im Kern zwischen männlichen und weiblichen Personenstereotypen zu unterscheiden erlaubt, nennen wir Geschlechtsrolle“ (Weinbach 2004, S. 90). Mit dem Begriff der „Geschlechtsrolle“ will sie

8.4 Systemtheorie

255

darauf hinweisen, dass es sich nicht um ‚typische‘ Verhaltensweisen handele, sondern um ‚typische‘ Erwartungen. Auch dann, wenn Männer und Frauen die gleichen Rollen einnehmen (z. B. als Lehrkräfte), wenn also dem Geschlecht keine Funktion im Subsystem (Bildung) zukommt, können „Geschlechtsrollen“ als externe Erwartungen relevant werden. Z. B. können Erwartungen an Strenge, Autorität, Empathie oder Sensibilität abgerufen werden und die jeweilige „Person“ mit ausmachen. Den wichtigsten Unterschied in den „Geschlechtsrollen“ sieht Weinbach darin, dass die „Geschlechtsrolle“ von Männern offener dahingehend sei, dass die an sie gestellten Erwartungen aus „selbst selegierten“ Rollenverpflichtungen und eben nicht aus der „Geschlechtsrolle“ stammen, während Frauen „gleichsam qua Natur zugewiesene externe Rollenverpflichtungen unterstellt“ werden (ebd., S. 89 f.). Die von ihr hier angenommenen „Rollenverpflichtungen“ entstammen der familialen Arbeitsteilung. An Frauen – so ihre These – werden Erwartungen gestellt, die aus den „Rollen“ Mutter und ‚Hausfrau‘ resultieren. Aus diesen unterschiedlichen externen Erwartungen ergeben sich unterschiedliche Chancen auch in anderen sozialen Subsystemen und könnten dort – z. B. als Frage zeitlicher Verfügbarkeit – relevant werden. Über die (auch aussetzbare) Identifikation des Individuums („psychisches System“) mit der „Person“ – also dem, was andere an Erwartungen an dieses Individuum herantragen – werde die „Geschlechtsrolle“ auch zur „Geschlechtsrollenidentität“. Aus der wiederum speise sich, so Weinbach, geschlechtlich unterschiedliches Aneignungsverhalten und damit „geschlechtstypische“ Verhaltensweisen, die dann wiederum auf der Interaktionsebene geschlechterstereotype Erwartungen entstehen lassen können (ebd., S. 39 ff.). Einschränkungen der Bedeutung von Geschlecht auf der Systembildungsebene der Interaktion lassen sich von zwei unterschiedlichen Richtungen ausmachen. Weinbach (2007) betont die „funktionalen Interaktionsbedingungen“, die Geschlecht verdrängen können. Dort, wo (‚geschlechtslose‘) „Rollen“ die Interaktionserwartungen prägen, werden diejenigen Erwartungen, die eine geschlechtlich differenzierte „Person“ ausmachen, weniger abgerufen bzw. benötigt, um Kommunikation zu gewährleisten. Je weniger andersherum für eine Situation funktional festgelegte Erwartungen bestehen, umso eher können die „Person“ und die darin sozial eingelagerten Geschlechterstereotype Bedeutung erlangen. Dies könne Brüche zwischen funktionalen Differenzierungen in Organisationen und der Persistenz von geschlechtlicher Ungleichheit erklären. Nollmann (2007) engt die Bedeutung, die Geschlecht in Interaktionen zukommen kann, von der anderen Richtung aus ein: In Intimbeziehungen trete Geschlecht gerade deswegen in den Hintergrund, weil die „Person“ als individuelle in den Vordergrund trete und verallgemeinernde Unterscheidungen verdränge. In modernisierungstheoretischen Ansätzen wie Luhmanns wird davon ausgegangen, dass in Gesellschaften (und in Subsystemen wie der Familie), die nicht funktional differenziert sind, eine „Vollinklusion der Person“ gegeben sei. Nur in diesen, so die These, führten dann askriptive Merkmale wie Geschlecht zu sozialen Platzierungen. In modernen Gesellschaften sei aber nur noch eine „Teilinklusion“ gegeben – Platzierung finde daher nicht über „personenbezogene Merkmale“ statt. Nollman stellt dies infrage: Gerade die „Vollinklusion der Person“ in Familie und persönlichen Beziehungen kann die Bedeutung von Geschlecht reduzieren, wogegen die „Teilinklusion“ in funktionalen Zusammenhängen hierfür noch kein Garant sei. Die Frage, wieso Geschlechterdifferenzierungen immer noch an Personen herangetragen werden, versucht Nassehi zu lösen, indem er die (körperliche) Sichtbarkeit von Geschlecht heranzieht: „Wo Personen als Personen vorkommen (…) werden sie als solche sichtbar, und

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8 Neuerschließen soziologischer Theorien

wo sie sichtbar werden, treten sie immer als Männer und als Frauen auf“ (Nassehi 2003, S. 90). Die Unterscheidung zwischen Männern und Frauen sei jedoch – wie jede binäre Unterscheidung – asymmetrisch aufgebaut: die Sichtbarkeit von Geschlecht sei vorrangig eine Sichtbarkeit von Weiblichkeit, während sich Männer dieser „Eigenschaft“ der Unterscheidung entziehen könnten (also auch hier: geschlechtslos werden). Die „Sichtbarkeit“ von Geschlecht will auch Nassehi nicht an einem ‚Naturkörper‘, sondern an einem naturalisierten Bild festmachen. Nicht „dem Wahrgenommenen“, also dem „materiellen Substrat“ des „Körpers“, sondern „der Wahrnehmung“ entstamme die zweigeschlechtliche Ordnung, wobei festzuhalten sei „dass das Sichtbare eben nichts ist, sondern nur jenem Blick erscheint, der sich von jener Sichtbarkeit affizieren lässt“ (ebd., S. 98). Die (im Sehen hergestellte) Sichtbarkeit hat in unserem Denken jedoch eine besondere Plausibilität (vgl. auch Kap. 9.4.1), die einer Naturalisierung der zweigeschlechtlichen Ordnung Vorschub leiste. Auf diese Weise reproduziert sich das Bild wieder selbst und man(n) nimmt Frauen (mehr als Männer) dann über eine so entstandene „Körpernatur“ wahr (ebd., S. 102). Die Frage, wie Verkörperung und Blick zusammen kommen, wird von Nassehi jedoch letztlich nicht gelöst. Die (an Butler herangetragene) Frage bleibt unbeantwortet: Wie wird die Kategorie Geschlecht körperlich? Der Vorwurf, den Runte (1994) Luhmann macht, Geschlecht werde damit dann doch in das „organische System“ zurück verwiesen, wird so nicht entkräftet. Denn letztlich setzt Nassehi die „Asymmetrie zwischen Männern und Frauen“ voraus und damit, dass Geschlecht doch ‚irgendwie‘ der sozialen Unterscheidung vorausgehe (Nassehi 2003, S. 101 f.).

8.5

Zusammenfassung: Persistenz und Wandel

Das Aufkommen des Begriffs „gender“ im angelsächsischen Raum und die Debatte um Gleichheit oder Differenz in Deutschland (vgl. Kap. 7.1) waren der Paradoxie, die dem Konstrukt der Zweigeschlechtlichkeit seit seiner Entstehung in der Aufklärung inne wohnt (Kap. 2.1.7), nicht nur geschuldet. Mit ihnen wurde die Paradoxie vielmehr wieder an die Oberfläche befördert. Mit Rückgriff auf Theorien der 1960er und 1970er Jahre entstanden zwei Konzepte, die ‚unterhalb‘ dieses Widerspruchs ansetzten und diesen nutzten, um den Konstruktionscharakter von Geschlecht aufzuzeigen (vgl. Kap. 7). Sie setzten vor allem an den Brüchen an, die sich aus der Paradoxie heraus in Alltag und Wissenschaft herstellten und die immer wieder mit einigem Aufwand moralisch, rechtlich, medizinisch o. ä. ‚geheilt‘ bzw. möglichst im Vorfeld verhindert werden müssen. Einige Beispiele dafür sind •

aufwendige medizinische und psychologische Behandlungen, durch die die vermeintlich ‚natürliche‘ Zweigeschlechtlichkeit bei inter- und transsexuellen Menschen erst erzeugt werden muss; • die Erziehung von Kindern, die vermeintlich aus der Physis folgende Vorlieben in Hinsicht auf Spielzeug oder Lieblingsfarben erst erlernen müssen; • sich aus der ökonomischen Abhängigkeit lösende Frauen, denen eine ‚Vermännlichung‘ zugeschrieben wird; • oder ein Sexualverhalten, das durch Sanktionierungen eingefordert wird. Dort, wo diese Brüche mit soziologischen Mitteln angegangen und analysiert wurden, konnten der Anschein von Natürlichkeit entlarvt und die im Alltag selbstverständlichen sozialen Konstruktionsprozesse sichtbar werden.

8.5 Zusammenfassung: Persistenz und Wandel

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Parallel zu dem sich im deutsch- und englischsprachigen Raum zunächst getrennt entwickelnden Unbehagen an der Geschlechterdifferenz (bzw. der analogen sex/gender-Trennung) etablierte sich die Frauen- und Geschlechterforschung in den Universitäten – nicht wie zu Beginn anvisiert fachübergreifend, sondern innerhalb der verschiedenen Disziplinen mit entsprechend in diesen Disziplinen geschultem und von diesen geprägtem Personal (vgl. Kap. 6). Das waren zumeist Frauen, die ihre wissenschaftlichen Karrieren in diesem neuen Bereich und zugleich in ihrer ‚Heimatdisziplin‘ vorantreiben wollten. Die Anbindung der Frauen- und Geschlechterforschung an die sogenannten ‚grand theories‘ war damit insbesondere in der multiparadigmatischen Soziologie eine Frage der Positionierung im Wissenschaftsfeld. In den 1990er Jahren bahnte sich daher eine vollkommen andere Ausrichtung an, als diejenigen vor Augen hatten, die die Frauen- und Geschlechterforschung aus der Taufe gehoben haben: •

Vorgehensweise: Hatten die Frauenforscherinnen der 1960er/70er Jahre das wissenschaftliche ‚Establishment‘ noch abgelehnt und dabei Sozialtheorien zum Gegenstand der Kritik aus der Geschlechterforschung gemacht, so wollte die neue Generation der Geschlechtersoziolog/innen vielmehr die soziologische Beschäftigung mit Geschlecht etablieren, indem sie Geschlecht zum Gegenstand der Sozialtheorien machten. Die in Kapitel 5.3 vorgestellten Ansätze zu „Geschlecht als Strukturkategorie“ von Beer, Gerhard und Becker-Schmidt können in dieser Sicht als ein erster Vorstoß verstanden werden, den ‚Gestus radikalen Neubeginns‘ in der Frauenforschung mit einer disziplinären Ausrichtung zu verbinden. • Zielsetzung: Die ersten Frauenforscherinnen hatten die politische Verwertbarkeit in den Vordergrund gestellt – nun wurde die politische Ausrichtung zu einer offenen Frage. Erklärtes Ziel war vielmehr eine wissenschaftliche Weiterführung bzw. genauer: die Entfaltung von übergreifenden theoretischen Konzepten. • Fragestellungen: Nicht zuletzt aufgrund der Etablierung einer ‚Geschlechtssensibilisierung‘ in Politik und Wissenschaft ging es nicht mehr primär um die Sicht ‚von Frauen‘ bzw. um das Sichtbarmachen von Frauen. Es galt vielmehr, Zeitdiagnosen zu Geschlechterverhältnissen zu erarbeiten und Erklärungen für soziale Phänomene zu entwickeln, die eng mit der Geschlechterunterscheidung verbunden waren bzw. in denen Geschlecht relevant (gemacht) wurde, z. B. die zunehmende öffentliche Problematisierung einer „Vereinbarkeit“ von Beruf und Familie. Diese Veränderungen waren damit nicht nur Ergebnis einer zunehmenden institutionellen Anbindung und Etablierung, sondern z. T. auch deren Ursache bzw. verstärkten diese. Für die Bezüge auf Sozialtheorien wurde (und wird) nicht primär auf die Klassiker zurückgegriffen (vgl. Kap. 2.2 und 3.1), sondern vor allem auf aktuelle Theorieentwicklungen, die in unterschiedlicher Weise an die Klassiker anknüpfen. Diejenigen, die diese theoretischen Ansätze maßgeblich entwickelt haben – N. Elias, P. Bourdieu, A. Giddens, N. Luhmann – lebten zu dieser Zeit (zumindest noch) und sie nahmen die zweite Welle der Frauenbewegung und die Entstehung einer universitären Frauen- und Geschlechterforschung auch wahr. Außer Luhmann – der die Platzanweisungsfunktion von Geschlecht für überwunden hielt – standen diese Soziologen der soziologischen Thematisierung von Geschlecht positiv gegenüber und machten unterschiedlich intensive Ansätze, ihre eigenen Theorien ebenfalls auf den Gegenstand Geschlecht zu beziehen. Zum Teil blieben sie dabei hinter der Analyseschärfe zurück,

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8 Neuerschließen soziologischer Theorien

die diejenigen entwickelten, die mit ihren Ansätzen arbeiteten (Giddens vs. Wolffensperger). Zum Teil drangen sie auch tiefer in die Materie (Bourdieu). Gemeinsam ist den Ansätzen, dass ‚das Rad‘ in beiderlei Hinsichten nicht neu erfunden wird. Sie knüpfen nicht nur an Sozialtheorien, sondern auch an bereits bestehende Geschlechterforschung bzw. gender studies an und sowohl die These von „Geschlecht als Strukturkategorie“ als auch die Konstruktionstheorien Butlers und der Interaktionstheorie bilden dabei wichtige Bezugspunkte. Allerdings wird in der Rezeption diesen beiden Konstruktionstheorien unterstellt, dass sie die Verbindung von Handlung und Strukturen bzw. Mikro- und Makroebene nicht (oder nicht befriedigend) herstellen könnten. Die vorgestellten Theorien dagegen seien in der Lage dieses vermeintliche Defizit zu überwinden. Inwiefern ihre Vorschläge letztlich eine (bessere) Lösung darstellt, lassen wir an dieser Stelle offen. Soziologische Theorie entwickelt sich nicht kumulativ, sie ist aber auch nicht beliebig. Mit welchen Ansätzen gearbeitet wird, ist immer auch eine Folge dessen, welche Fragen gestellt werden und die sind (und waren) durchaus unterschiedlich. Andersherum ist an die hier vorgestellten geschlechtersoziologischen Entwürfe die Frage zu stellen, inwiefern sie eigene Konzeptionen entwerfen, die die Kategorie Geschlecht soziologisch verorten, die Konstruktion der Zweigeschlechtlichkeit theoretisch fassen und Konstruktionsmodi systematisch aufschlüsseln können. In der Figurationssoziologie wird Zweigeschlechtlichkeit als historische Konstruktion verstanden, die nicht auf eine ‚Natur der Geschlechter‘ zurückgeführt werden könne. Geschlecht wird als zweigleisiger Prozess verstanden: als Zivilisierung einerseits, d. h. als ‚innerer‘ Prozess, in welchem sich männliche und weibliche Persönlichkeitsstrukturen im Individuum ausbilden und als „Prozess des Handelns“ (Zivilisation), der die soziale „Ordnung der Zweigeschlechtlichkeit“ in Figurationen einlagert. Beide Prozesse bedingen einander, ebenso wie die Prozesse und die eingelagerten Ordnungen einander wechselseitig hervorbringen. Das u. a. von Liebsch und Klein (1997) erklärte Potential der Figurationssoziologie, damit die Konstruktion von Zweigeschlechtlichkeit theoretisch zu konzeptionalisieren, ist bisher jedoch nicht eingelöst worden. Die Analysen verbleiben auf der Ebene von Geschlechterverhältnissen und setzen entweder wie Elias eine naturhafte Zweigeschlechtlichkeit voraus oder verbinden ihre Ansätze mit interaktions- oder diskurstheoretischen Konstruktionstheorien. Bourdieu dagegen legt einen Ansatz vor, die Konstruktion von Geschlecht als soziale Praxis zu konzipieren. Demnach erschließen Menschen sich ihre Umwelt, indem sie Gegensatzpaare bilden, die in eine hierarchische Ordnung und damit in eine Verbindung zu anderen Gegensatzpaaren gebracht werden. Die so geschaffene ‚Ordnung der Dinge‘ wird zur Weltsicht („doxa“) verfestigt, indem sie als verbindliche Anleitung sozialer Praxis verankert und symbolisch repräsentiert wird. Die Praxis bestätigt diese Ordnung und hinterlässt ihre ‚Spuren‘ in Form „leibgewordener“ (Habitus) und „objektivierter“ Geschichte (Feld), die ein ‚Ausscheren‘ aus dieser Ordnung nicht nur praktisch erschweren, sondern auch nicht nahe legen. Die Ordnung erscheint vielmehr als ‚natürlich‘ gegebene. In Anschluss an Bourdieus Theorie wird jedoch selten darauf abgezielt, die Konstruktionsmodi von Zweigeschlechtlichkeit aufzuspüren. Sehr viel häufiger geht es darum, hierarchische Verhältnisse zwischen und innerhalb von Geschlechtsgruppen aufzuschlüsseln. Zur Theorie der Strukturierung liegt von Joan Wolffensperger ein Entwurf vor, der die Konstruktion von Geschlecht zum Thema macht. Ähnlich wie im Ansatz von Bourdieu und in Goffmans Konzept institutioneller Reflexivität wird der Prozess in den Blick genommen, wie Zweigeschlechtlichkeit im Handeln hergestellt wird, sich in Strukturen einlagert, die wiede-

8.5 Zusammenfassung: Persistenz und Wandel

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rum im Handeln reproduziert werden. Ähnlich dem Habitus bei Bourdieu bietet das „praktische Bewusstsein“ ein ‚selbstverständlich‘ gewordenes Wissen, auf das Individuen zurückgreifen können. Die Handlungen bringen die Unterschiede zwar erst hervor; indem sie dem „diskursiven Bewusstsein“ jedoch entzogen sind und in den „Rationalisierungen“ als Handlungsmotive dem Handeln nun vorauszugehen scheinen, werden sie naturalisiert. Anders als Wolffensperger nutzt Giddens seinen theoretischen Entwurf nicht, sich der Zweigeschlechtlichkeit soziologisch zu nähern, sondern um aufzuzeigen, wie die Geschlechterverhältnisse und ihre Veränderungen in die institutionellen Dimensionen der Moderne eingelassen sind und sozialen Wandel hervorbringen. In der Systemtheorie wird keine eigenständige Konzeption vorgelegt, wie Geschlecht sozial konstruiert wird. Die Modi, über die im Alltag Geschlechterdifferenzen abgerufen werden und die sich in der „Person“ (sowohl im Fremd- aber auch im Selbstbild) verankern, werden über das „Sehen“ (Nassehi) oder die Funktionalisierung als „Geschlechtsrolle“ (Weinbach) thematisiert. Der „Blick“ und die „Geschlechtsrollen“ setzen die Zweigeschlechtlichkeit jedoch schon voraus. Die Konzepte können (wollen vielleicht auch) nicht erklären, warum zwei und nur zwei einander ausschließende Geschlechter in unserer sozialen Wirklichkeit bestehen, da es für sie primär um die Frage geht, inwiefern Geschlechterunterscheidungen (noch) für soziale Ungleichheit relevant sind. Die Frage, inwiefern Geschlecht in Machtverhältnisse, soziale Platzanweisungen, insgesamt in soziale Ungleichheit eingelassen ist und wie sich dies verändere, behandeln alle hier vorgestellten Theorien. Keiner dieser Ansätze geht davon aus, dass die zweigeschlechtliche Ordnung, in der Männer Frauen übergeordnet seien, konstant bleiben wird. Sie fragen alle danach, wie der Wandel, aber auch wie Zählebigkeiten der Geschlechterverhältnisse systematisch erfasst werden können. Fragen des Ausblendens von Geschlecht („undoing gender“ vgl. Kap. 9.6) werden zwar angesprochen, eine Konturierung findet jedoch nicht statt. Für diejenigen Ansätze, die eine eigenständige Konstruktionstheorie bieten, liegen hierzu u. W. noch keine Konzepte vor, und diejenigen Ansätze, die keinen eigenständigen Entwurf zur Konstruktion von Zweigeschlechtlichkeit verfolgen, verbleiben auf der Ebene der Geschlechterverhältnisse und der hier eingewobenen Frage nach der sozialen Ungleichheit. Vertiefende Literatur: • • • • •

Klein, Gabriele, Katharina Liebsch, (Hrsg.), Zivilisierung des weiblichen Ich, Frankfurt am Main 1997. Bourdieu, Pierre, Die männliche Herrschaft. Frankfurt am Main 2005. Dölling, Irene, Beate Krais, Ein alltägliches Spiel. Geschlechterkonstruktion in der Sozialen Praxis, Frankfurt am Main 1997. Kahlert, Heike, Giddens’ Projekt einer Institutionenanalyse der Moderne in seiner Bedeutung für die Frauen- und Geschlechterforschung, in: Zeitschrift für Frauenforschung & Geschlechterstudien 26(3+4) (2008), S. 7–22. Weinbach, Christine (Hrsg.), Geschlechtliche Ungleichheit in systemtheoretischer Perspektive, Wiesbaden 2007.

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Denkanstöße und weiterführende Fragen: Die soeben vorgestellten Theorien befassen sich alle insbesondere mit Diagnosen unserer Zeit und aktuellen Veränderungen. Zum Teil (und mehr oder weniger explizit) behandeln sie dies auch in Verbindung mit anderen Dimensionen sozialer Ungleichheit. In Kapitel 2.1.1 hatten wir aufgezeigt, wie in Zeiten, in denen der soziale Stand die Lebensrealität von Menschen in nahezu umfänglicher Weise prägte, die Geschlechterordnung der Standesordnung untergeordnet war: Arbeiterinnen und Bäuerinnen hatten eine Lebensrealität, die sie mit Männern derselben sozialen Lage wesentlich mehr verband als mit (gut)bürgerlichen Frauen. Ebenfalls hatten wir gezeigt, dass die Zugänge zu Bildung, politischer Teilhabe und finanziellen Ressourcen wesentlich vom Stand abhängig waren. Dies hat sich im 18. und 19. Jahrhundert gravierend verändert: Die Zweigeschlechtlichkeit war zu einem entscheidenden Merkmal sozialer Differenzierung geworden. • Wie sieht das in den verschiedenen Theorien der heutigen Zeit aus? • Welche Dimensionen des sozialen Wandels werden hier in den Vordergrund gestellt? • Wo sehen Sie ein Wiederaufleben oder Residuen (‚Restbestände‘) aus den vorherigen Jahrhunderten?

9

Die Vergeschlechtlichung sozialer Wirklichkeit

Kapitelvorschau Die soziale Konstruktion von Geschlecht ist kein einmaliger Akt, sondern ein vielschichtiger Prozess, der verschiedene Dimensionen sozialer Wirklichkeit berührt. Wir zeigen die zentralen Elemente der Reproduktion von Geschlecht im Alltag und der Verankerung im sozialen Wissen auf und stellen die Frage, inwiefern auch ein Aussetzen und „Vergessen“ von Geschlecht möglich ist.

9.1

Institutionalisierung: Geschlecht als selbst tragende Konstruktion

Immer wieder wird kritisiert, dass mit dem Theorem des „doing gender“ keine Antwort auf die Frage möglich ist, wie die soziale Ungleichheit der Geschlechter in der übergreifenden Ordnung des Sozialen verankert und begründet ist. Stattdessen – so die Kritik – löse sich die soziale Wirklichkeit der Geschlechter auf in eine „frei flottierende Konstruktion“ (Lindemann 1993), in der sowohl die Körperlichkeit als bedeutungskonstituierende Praxis keinen Platz habe als auch von gesellschaftlichen Strukturen abgesehen werde, durch die Individuen hochgradig ungleichen Lebensbedingungen ausgesetzt sind (vgl. auch Kap. 8).22 Oberflächlich gesehen ist dieser Vorwurf nicht ganz falsch, aber er trifft den Ansatz nicht, denn dieser zentriert sein Erkenntnisinteresse konzeptionell auf die unmittelbare face-to-face Interaktion als einer eigenständigen Analyseebene ohne zu behaupten, dass dies die einzige sei. Auch in dieser Perspektive ist indes eine „frei flottierende Konstruktion“ ohne soziale Vorgaben in einer objektivierten sozialen Wirklichkeit nicht denkbar. Gerade hier wird ja betont, dass die Zweigeschlechtlichkeit selbst ein objektivierter sozialer Tatbestand – eine Institution – ist und eben dadurch zur machtvollsten Ressource im „doing gender“ werden kann. Diesem Charakter als „sozialem Tatbestand“ wird aber in dem Aufsatz von West/Zimmerman nicht als solchem nachgegangen. Weder seine historische Genese noch die Frage, wie sich dieser soziale Tatbestand angesichts tiefgreifenden sozialen Wandels auf Dauer stellen konnte und bis heute in die Ordnung des Sozialen eingeschrieben ist, sind Gegenstand des Artikels. 22

Lindemann will an dieser Stelle die Kopplung der sozial bedingten Wahrnehmung von Welt (zu der auch der Körper zählt) mit der manifesten Welt herstellen, indem sie auf Plessners „exzentrische Positionalität“ zurückgreift. Mit diesem Begriff ist gemeint, dass der Mensch sich selbst als ‚Ich‘ reflektieren kann (ähnlich wie Mead, Kap. 3.4.1), wobei Plessner explizit auf die körperliche Gegebenheit des Menschen abzielt: Der Mensch ist einerseits Teil der körperlichen Welt durch seinen Körper, in dem er ‚gefangen‘ ist, anderseits kann er sich als von der Umwelt verschiedenes ‚Ich‘ wahrnehmen. Mit dieser doppelten Verortung in und ‚neben‘ der materiellen Welt, lässt sich nach Lindemann das Verhältnis zwischen der körperlichen Dimension des Geschlechts und der sozialen Konstruktion präziser bestimmen.

262

9 Die Vergeschlechtlichung sozialer Wirklichkeit

Für diese Fragen bedarf es des Einbezugs einer weiteren Ebene der Erzeugung sozialer Wirklichkeit, nämlich der Ebene der Institutionen bzw. der Institutionalisierung. Auf den Begriff der Institution und den der Institutionalisierung sind wir im Verlauf des Buchs immer wieder gestoßen. Er gehört zu den zentralen, aber auch facettenreichsten Begriffen in der Soziologie, umfasst Phänomene auf der Mikroebene (z. B. Inzesttabu, Ehe und die schwäbische Kehrwoche) ebenso wie Phänomene auf der Makroebene (z. B. Vertrags- und Verwaltungsformen, Herrschaftsformen, Asyl). Mit „Institution“ und „Institutionalisierung“ ist ein Phänomen angesprochen, dass faktisch in jeder soziologischen Analyse relevant wird, soweit diese sowohl der Kontingenz und Wandelbarkeit sozialer Ordnungen als auch ihrer Stabilität und Beharrungskraft gerecht werden wollen. Ein Problem liegt wie auch bei einigen anderen soziologischen Begriffen (z. B. dem der „sozialen Rolle“) darin, dass in den verschiedenen Theorietraditionen unterschiedliche Definitionselemente zum Tragen kommen. Wird in der Durkheimschen Tradition eher die „Außenhaftigkeit“ und der „Zwangscharakter“ von Institutionen betont, so wird in der Meadschen Tradition stärker darauf abgestellt, dass auch Institutionen auf Handlungen gründen und veränderbar sind. Wir schließen hier an die interaktionstheoretisch begründete Wissenssoziologie und den dort entwickelten Zugang zur „sozialen Konstruktion der Wirklichkeit“ (Berger/Luckmann 1969) an, in dem Institutionen und Institutionalisierung einen, wenn nicht den zentralen Stellenwert haben. Denn hier geht es zum einen um die Frage, wie soziale Ordnung als kollektiv produzierte zustande kommt, zum anderen aber darum, wie sie Menschen als objektiv erfahrbare Ordnung gegenübertritt und ihr Verhalten kontrolliert: „Wie ist es möglich, dass menschliches Handeln (…) eine Welt von Sachen hervorbringt?“ (Berger/Luckmann 1969, S. 20). Der Prozess der Institutionalisierung gründet zunächst auf der Macht der Gewohnheit („Habitualisierung“). Zur Institution werden Gewohnheiten aber nur dann, wenn gewohnheitsmäßige (habitualisierte) Handlungsmuster reziprok (wechselseitig) typisiert werden und jede(r) weiß, dass bestimmte Handlungen auch nur von bestimmten Handelnden ausgeführt werden können, dürfen oder sollen (zum Begriff der Typisierung vgl. Kap. 3.4.2). Recht können nur Richter/innen sprechen, Examen muss man bei Prüfungsberechtigten ablegen, ein Herr sollte einer Dame beim durch-die-Tür-gehen den Vortritt lassen. Oft – aber nicht immer – sind solche habitualisierten Verhaltensmuster auch mit Macht durchsetzt bzw. transportieren Macht. Gerade weil sie aber auf Gewohnheiten beruhen, wird der Machtaspekt selten explizit (gemacht). Die entsprechenden Wissens- und Orientierungssysteme sind den Akteuren i. d. R. so selbstverständlich, dass sie selbst kaum noch wahrgenommen werden. Damit ist zugleich ein weiteres allgemeines Element von Institutionen und Institutionalisierung angesprochen: das Unsichtbarwerden des Offensichtlichen. Jede/r weiß es – aber die Beteiligten wissen oft nicht, dass sie es wissen. In diesem Unsichtbarwerden entfaltet sich die soziale Wirksamkeit von Institutionen (Douglas 1991, S. 161). Legitimationsbedarf entsteht vor allem dann, wenn gewohnheitsmäßig eingespielte Handlungs- und Verhaltensmuster an neue Generationen weitergegeben werden. In diesem Prozess entstehen Erklärungen und Rechtfertigungen bis hin zu hoch entwickelten Theorien zur „Natur“ des jeweiligen Phänomens. Auch dies ist eine Eigentümlichkeit in der sozialen Konstruktion von Wirklichkeit, dass wir nämlich etwas nur dann für „wirklich“ halten, wenn wir es in der „Natur der Sache“ verankern können und es gerade nicht als gesellschaftlich erzeugtes Konstrukt erkennbar ist (vgl. Douglas 1991, S. 241). Dafür sind nicht zuletzt Geschlecht und auch Familie ein gutes Beispiel. Theorien zur „Natur der Frau“ und zur „Natur der Familie“ füllen viele Meter Bibliotheksregal. Je mehr dazu aber geschrieben wird oder

9.1 Institutionalisierung: Geschlecht als selbst tragende Konstruktion

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werden muss, umso klarer wird, dass hier ein Legitimationsverlust eingetreten ist, die für Institutionen zentrale Selbstverständlichkeit verloren gegangen ist und wir derzeit (noch) nicht wissen, was an ihre Stelle tritt. Indem jede Interaktion auf der Typisierung von Handlungsmustern und der Klassifikationen von Handelnden beruht, verweist sie gleichzeitig notwendig und unvermeidbar auf institutionelle Ordnungen. Typisierung und Klassifikation sind eingelassen in umfassende Wissenssysteme und eine Vielzahl institutioneller Arrangements. Sie entstehen also einerseits aus sozialem Handeln und gehen diesem aber ebenso als eine Art normativer Erwartungsfahrplan voraus, machen also im Grundsatz bestimmte Verhaltensweisen und Handlungen erwartbar. Auf diese Weise repräsentieren sie die Handlungsperspektive der Beteiligten und zugleich die der einzelnen Handlung entzogene („objektive“) Ebene der „sozialen Struktur“.23 Mit diesem interaktionstheoretisch begründeten Verständnis von Institution und Institutionalisierung nähern wir uns nun von einer anderen Seite dem sozialen Phänomen der Zweigeschlechtlichkeit, indem wir dessen durchschlagende – vergeschlechtlichende – Wirkung im Alltag verfolgen. Dabei wird die Zweigeschlechtlichkeit als institutionalisiertes Muster und Geschlecht als eine durch und durch soziale Kategorie begriffen. Gleichzeitig wird von uns betont, dass allein die Aussage „Geschlecht ist eine soziale Konstruktion“ dann keinen großen Erkenntnisgewinn beschert, wenn nicht aufgewiesen werden kann, wie sich die Kategorie Geschlecht in soziale Ordnungen einschreibt und differente (ungleiche) Lebenslagen generiert. Neben dem Berger/Luckmannschen Institutionenverständnis beziehen wir uns dabei auf die von E. Goffman entwickelte Figur einer „institutionellen Reflexivität“ (vgl. Kap. 4.4.3), die in der soziologischen Geschlechterforschung inzwischen auf vielfache Weise aufgegriffen und weitergeführt wurde (Hirschauer 1994; Maihofer 1995; Wetterer 2003). Mit der Figur der „institutionellen Reflexivität“ wird ähnlich wie im Begriff der Institutionalisierung bei Berger/Luckmann noch einmal explizit gemacht, dass die Ordnung des Sozialen nicht aus einer Gegenüberstellung von Individuum und Gesellschaft verstanden und erklärt werden kann, und dass eine einfache Opposition von ‚innerer‘ Handlungsorientierung und ‚äußeren‘ institutionellen (gesellschaftlichen) Bedingungen keinen Erkenntnisgewinn beinhaltet. Beides bedingt und durchdringt sich wechselseitig, so dass soziale Ordnungen einerseits offen für Veränderungen sind und andererseits ein erhebliches Beharrungsvermögen aufzuweisen vermögen. Institutionelle Muster determinieren das individuelle Handeln und Verhalten also nicht, aber sie initiieren eine immer neue Aktualisierung von Klassifizierungen, Typisierungen und Handlungsmustern. Diese stellen eine Art „Halbfertigteile“ (Hirschauer 1994, S. 680) bereit, die situativ angepasst und dabei erhärtet oder auch rekonfiguriert werden (können). Nichts anderes ist mit dem Terminus des „ongoing accomplishment“ („andauernde Hervorbringung“) gemeint: eine andauernde, das soziale Grundmuster der Zweigeschlechtlichkeit situativ variierende Wiederholung, durch die sich eine Eigenstabilisierung eben dieses Musters der Geschlechtertrennung herstellen und zu einer „selbsttragenden sozialen Konstruktion“ (Hirschauer 1994, S. 672, Herv. i. O.) werden kann.

23

Dieses interaktionstheoretisch gefasste Institutionenverständnis wird von Theorien zur Makroebene der Gesellschaft kritisiert, da aus deren Sicht nicht alle Strukturvorgaben des Handelns aus Interaktionen entstehen, etwa der Warentausch, das Geld, die Arbeitsteilung oder das Entstehen autopoietischer Systeme. Dort, wo sich Geschlechtertheorien auf dieser Ebene bewegen, wird i. d. R. der Aspekt der Reproduktion von Gesellschaften stark gemacht und das Geschlechterverhältnis in den Mittelpunkt gestellt (vgl. Kap. 5.3 und 6.2).

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9.1.1

9 Die Vergeschlechtlichung sozialer Wirklichkeit

Typologien von Akteuren

In praktisch allen Untersuchungen zur interaktiven Konstruktion von Geschlecht wird auf den Bezugspunkt der Zweigeschlechtlichkeit als kognitivem Wissenssystem hingewiesen: Seit der Aufklärung gilt die ‚qualitative Differenz‘ – das ‚Anders-sein‘ – zwischen den Geschlechtern als Basis für die jeweilige kulturelle Ausprägung (vgl. Kap. 2.1). Dieses binäre Modell liegt auch der klassischen sex/gender-Trennung zugrunde und wurde von historischen Studien, von diskurstheoretischen Analysen und von den interaktionstheoretisch begründeten Untersuchungen immer wieder zurückgewiesen (vgl. Kap. 7.2). Dennoch hat es im Alltag und auch in vielen wissenschaftlichen Disziplinen kaum an Geltungsanspruch eingebüßt. Den entsprechenden Untersuchungen liegt die Zweiteilung immer schon zugrunde und mit ihr die Überzeugung, dass die Geschlechtszugehörigkeit von Menschen eindeutig an den Genitalien ablesbar ist, ein Leben lang andauert und nicht verändert werden kann (vgl. Kap. 7.2.2). Mit der Unterscheidung sind zwei und nur zwei Geschlechtsklassen gesetzt, denen Eigenschaften, Fähigkeiten, Ausdrucksformen und vieles weitere mehr zugeordnet werden. Erving Goffman hatte diese Denkweise als „Eimerlösung“ kritisiert. Durch sie wurden Personenkategorien geschaffen, die primär durch biologische Aspekte definiert und auch als auf diese Weise definierbar betrachtet werden: „Haben wir uns erst einmal auf die Definition einer Klasse von Personen geeinigt, in unserem Fall auf die des Geschlechts, dann erscheint uns leicht jedes passende Etikett, das wir ihren Mitgliedern anheften (…) zur Charakterisierung, Symbolisierung und erschöpfenden Abbildung dieser Klasse angemessen. So erklärt man eine Eigenschaft zum Eimer, in den die anderen Eigenschaften lediglich hineingeleert werden“ (Goffman 1994, S. 113). Dass Genitalien erst dadurch zu Geschlechtszeichen werden, kann damit erfolgreich ausgeblendet werden, so dass die Zweiteilung nicht mehr als gesellschaftliches Produkt erkennbar ist, der Konstruktionsprozess unsichtbar wird und schon die Frage nach dem Herstellungsprozess Irritationen auslöst. Die Persistenz dieses Modells trifft zusammen mit der Naturalisierung von Familie bzw. der der Naturalisierung heterosexueller Paarbeziehungen (vgl. Kap. 9.4.2). Dabei speist sich die binäre Geschlechterdifferenzierung nicht primär aus der Reproduktionslogik, denn diese hätte weder eine lebenslange Geltung noch eine unmittelbare Identifizierbarkeit verlangt. Dadurch, dass die Definition des ‚Personals‘ der Familie dieser selbst vorgelagert ist und aus Frauen und Männern Mütter und Väter macht, wirken diese Bestimmungen jedoch auf die Institution selbst zurück. Familie als Institution stellt ein Regulativ dar für das Zusammenleben, die Kooperation und Kommunikation von Frauen und Männern als Eltern, Großeltern, Tanten, Onkel etc.: „Keine andere ‚Lebensordnung‘ macht sich die Unterscheidung von Männern und Frauen so nachhaltig zu eigen, wie dies Verwandtschaftsordnungen tun. Den Geschlechterdualismus hat jedes Verwandtschaftssystem in sich aufgesaugt und die Geschlechterdifferenz ist Implikat an den Heirats- und Eheregeln, am Inzesttabu so gut wie an der Blutsverwandtschaft. Generations- und Geschlechtsbestimmungen sind Kernelemente der Verwandtschaftsterminologie. Zwar sind (…) Kindschaftsverhältnisse ‚geschlechtlich ungebunden‘: eine Mutter kann als ‚ihre Kinder‘ so gut Töchter haben wie Söhne; gleichwohl sind die Positionen, die das Verwandtschaftssystem fixiert, fast immer geschlechtlich spezifiziert. Typisch gibt es sie gegengeschlechtlich

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paarweise: Vater und Mutter, Bruder und Schwester usw., und entsprechend gibt es kaum eine definitive Verwandtschaftsrelation, die nicht über Gleichgeschlechtlichkeit bzw. Gegengeschlechtlichkeit mit befindet. Der Ehe und Elternschaft kommt hier ein Sonderstatus zu: Für sie wird, da sie reproduktionsbezogen mit einem Sexualprivileg ausgestattet ist, spezifisch gegengeschlechtlich rekrutiert; hier muss ein Mann eine Frau oder eine Frau einen Mann suchen; hier kommt nur Gegengeschlechtlichkeit in Frage“ (Tyrell 1986, S. 674 f., Herv. dort). Allein durch diese Konstrukte wird Familie inhaltlich konkret. Sie definiert und ordnet, was Männer und Frauen ‚sind‘ nicht zuletzt durch eine auf die Geschlechter bezogene Arbeitsteilung und das hier eingelagerte „Gleichheitstabu“ (Rubin 2006 [1975], S. 78): Frauen und Männer haben in allem, was sie tun, verschieden zu sein. Diese Normierung ist auch die Grundlage dafür, dass jede(r) für sich allein als ‚essentiell unvollständig‘ gilt. Nur zusammen als Paar – als ‚Mann und Frau‘ – gelten sie als vollständig, und jeder Ansatz zu einer Spezialisierung in dieser Relation kann als ‚geschlechtstypisch‘ ausgewiesen werden. So hat Goffman darauf hingewiesen, dass die Paarbildungsregeln in westlichen Gesellschaften – nach denen Männer größer, älter, stärker und statushöher als die Partnerin zu sein haben – zur Folge haben, dass eine unterschiedliche Ausprägung von Körpergröße und physischer Stärke dargestellt und zu einem ‚Beweis‘ scheinbar kategorialer Unterschiede zwischen den Geschlechtern gemacht wird. Durch selektive Partnerwahl, geschlechterbezogene Arbeitsteilung und entsprechende Interaktionsregeln könne eine Komplementarität hergestellt werden, die es beständig ermöglicht, dass sich „Frauen und Männer ihre angeblich unterschiedliche ‚Natur‘ gegenseitig wirkungsvoll vorexerzieren können“ (Goffman 1994, S. 143). Das bedeutet, dass auf dem Wege der Aktualisierung der in den Handlungsmustern enthaltenen Typologien von Akteuren (Mutter/Vater, Tochter/Sohn, Bruder/Schwester etc.) permanent Klassifizierungsprozesse initiiert werden, durch die Geschlecht immer neu in Szene gesetzt wird. In der Naturalisierung von Geschlecht und Familie liegt ein entscheidendes Element „institutioneller Reflexivität“, in deren Folge genau jene Definitionselemente erzeugt und auf Dauer gestellt werden, die angeblich der Institutionalisierung zugrunde liegen. Auch heute noch erscheint uns die Verquickung von Geschlechterdifferenz und Familie so selbstverständlich, dass sie nicht weiter befragt wird. Auch die soziologische, pädagogische und psychologische Familienforschung trägt in vielfacher Weise dazu bei, diese Sichtweise weiter zu verfestigen und zu reifizieren. Interessanterweise ändert sich auch dann wenig, wenn wir zur Kenntnis nehmen müssen, dass es kulturell verschiedene Geschlechtersysteme gibt und dort auch andere Vorstellungen von Ehe und Verwandtschaft (vgl. Kap. 7.1.3). Auch, wenn aktuell inzwischen viele Staaten gleichgeschlechtliche Eheschließungen ermöglichen, so zeigt die immer wieder aufflammende Diskussion über den „besonderen Schutz von Ehe und Familie“ (GG Art. 3, Abs. 2), dass es mit der Anerkennung anderer Familienformen noch nicht so weit her ist und alternative Modelle noch keine Breitenwirkung entfaltet haben. Insofern ist die Frage, woher Impulse zu einer Veränderung kommen könnten, von besonderem Interesse. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich nämlich nicht nur eine Kongruenz, sondern auch eine „partielle Inkongruenz“ von Verwandtschafts- und Geschlechterklassifikation (Tyrell 1986, S. 475), aus der heraus zwischen ihnen Spannungen und Inkompatibilitäten entstehen können. Verwandtschaftspositionen sind relational, sie dienen dazu, Individuen als „zusammengehörig“ zu verknüpfen. Verwandtschaft, so Tyrell, stifte Beziehungen besonderer Zusammengehörigkeit, wobei i. d. R. zwischen ‚engerer‘ und ‚entfernterer‘ Verwandtschaft unterschieden

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9 Die Vergeschlechtlichung sozialer Wirklichkeit

werde. Im Gegensatz dazu wirke die Geschlechterklassifikation trennend; sie ist unabhängig davon, ob die Beteiligten verwandt sind. Insofern erscheine Verwandtschaft als ein gegenläufiges Prinzip zur Geschlechterdifferenzierung. Beide aber produzierten Kontakt- und Interaktionspräferenzen in der jeweiligen Kategorie. Die Zugehörigkeit zu einem Verwandtschaftssystem beinhalte generationelle und geschlechtliche Rangordnungen, dagegen bedeutet die Zugehörigkeit zu einem Geschlecht zunächst Gleichheit innerhalb der jeweiligen Kategorie. In gleichgeschlechtlichen Gesellungsformen ausgebildete Loyalitätsnormen können in Konkurrenz zu verwandtschaftlichen Verbindlichkeiten treten, auch werde tendenziell eine Vertiefung gegengeschlechtlicher Kontakte blockiert. Vor allem Männer verfügten über gleichgeschlechtliche Zusammenkünfte wie Militär, traditionelle studentische Verbindungen, Vereine etc. Frauen dagegen – darauf hatte schon G. Simmel aufmerksam gemacht – seien durch die Arbeitsteilung an das Haus gebunden (gewesen) und dadurch seien gleichgeschlechtliche Assoziationen lange Zeit behindert worden. Genau hier habe die Frauenbewegung eingesetzt und mit der Forderung nach „praktischer Solidarität“ unter Frauen auch Druck auf die Formen gegengeschlechtlichen Zusammenlebens – Ehe und Familie – ausgeübt, gleichzeitig aber die Differenz von gleich- und gegengeschlechtlich erneut bestärkt.

9.1.2

Alter, Lebenslauf, Biographie

Alter, Lebenslauf und Biographie beziehen sich auf die Dimension der Lebenszeit. Ähnlich wie Geschlecht gilt auch das Alter als ‚natürlich‘, i. e. durch biologische Abläufe bedingt. Nicht zuletzt die Befunde aus der Kulturanthropologie haben jedoch den Grad ihrer sozialen Strukturierung und Institutionalisierung deutlich gemacht (vgl. Kap. 4.2.1). Sichtbar wurde hier auch, dass Alter und Geschlecht als basale Klassifikationen nicht gegeneinander isolierbar sind, sondern nur in enger Verbindung miteinander vorkommen. Dabei gilt in unserem Kulturkreis die Geschlechtszugehörigkeit im Lebensverlauf als unveränderlich (konstant) während sich das Alter beständig ändert und mit ihm die Altersstufen, denen ein Individuum zugerechnet wird. Mit der Alterseinteilung werden i. d. R. Entwicklungsphasen benannt und ein Altersstatus zugewiesen, durch den z. B. geregelt wird, was ein Individuum darf und was nicht, so dass sich bis hin zur letzten Lebensphase stets ein ‚nicht mehr‘ und ein ‚noch nicht‘ herstellt (z. B. Robin ist kein Baby mehr, aber noch kein Schulkind, Kim ist kein Kind mehr, aber noch kein Teenager etc.). Die Geschlechtszugehörigkeit dagegen gilt als stabil und unveränderlich. Das je nach Geschlecht erwartete Verhalten variiert jedoch mit dem Altersstatus. Die kulturanthropologische Forschung hat inzwischen vielfach aufgewiesen, dass die soziale Relevanz der Geschlechtszugehörigkeit sich in den einzelnen Lebensphasen durchaus unterschiedlich darstellen kann. Insofern trägt die Vorstellung nicht weit, dass Geschlecht als unverlierbar angesehenes ‚Merkmal‘ einfach da sei. Vielmehr bedarf es kultureller Regelungen und Ressourcen, um diese ‚Eigenschaft‘ konstant und dauerrelevant zu machen. Wir sind es gewohnt, dass die geschlechtliche Zuordnung von Neugeborenen „durch das Ansehen des nackten Kinderkörpers, insbesondere der Sicht auf die Genitalien“ geschieht. Darin ähnelt sie derjenigen, die „bei Haustieren vorgenommen wird“ (Goffman 1994, S. 107). Diese Zuordnungspraxis verweist darauf, dass die Klassifikation ihrem sozialen Sinn nach nicht primär an der Generativität orientiert ist. Sie erzeugt die Halbierung der Gattung in weiblich/männlich gerade auch in jenen Fällen, in denen Menschen ihren reproduktiven Part (noch) nicht leisten können, wollen oder dürfen. Die soziale Organisation der Generativität bzw. der Reproduktion der Gattung würde weder eine lebenslange Geltung noch eine

9.1 Institutionalisierung: Geschlecht als selbst tragende Konstruktion

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sofortige Erkennbarkeit der Geschlechtszugehörigkeit notwendig machen. Im Unterschied zu unserer Zuordnungspraxis wird in jenen Kulturen, in denen nicht Genitalien primäre Bedeutungsträger sind, der Status von Kindern geschlechtlich neutralisiert. Hier wird der Altersstatus dominant, eine Trennung der Geschlechter setzt dann z. B. erst mit der (strikten) Separierung von Mädchen nach deren erster Menstruation ein (vgl. Tyrell 1986, S. 471 f.). Die bei uns mit der Geburt erfolgende Klassifikation leitet dagegen einen fortwährenden Sortierungsvorgang ein, der das gesamte Leben andauert. Die enge Verzahnung von Alter und Geschlecht lässt für beide Geschlechter unterschiedliche Lebensphasen entstehen, die in allen uns bekannten Gesellschaften in je spezifischer Weise periodisiert werden, wobei in gering differenzierten Gesellschaften oft nur zwei Phasen angenommen werden – Kindheit und Erwachsenenstatus – und diese Phasen durch geschlechterdifferente Übergangs- und Initiationsriten miteinander verknüpft werden. Für moderne Gesellschaften westlicher Prägung geschieht die Verknüpfung der verschiedenen altersstrukturierten Lebensphasen dadurch, dass die Abfolge der verschiedenen Lebensphasen am chronologischen Alter orientiert ist. Kindheit und Jugend werden durch Schulzeit und Ausbildung strukturiert, das Erwachsenenalter durch Erwerbsarbeit und Familie und ‚das Alter‘ wird durch Erreichung des Rentenalters markiert. Mit dieser „Institutionalisierung des Lebenslaufs“ (Kohli 1985) sind nicht nur rechtliche und wirtschaftliche Regelungen für die verschiedenen Lebensalter verbunden (z. B. die Schulpflicht oder das Wahlrecht etc.), sondern es sind auch soziale Typisierungen entstanden, die Verhaltensspielräume abstecken. Die Formulierungen wie „Dazu bist du noch zu jung“ oder „Bist du dafür nicht etwas zu alt?“ weisen auf diese z. T. durchaus rigiden Vorgaben hin. Mit der „Institutionalisierung des Lebenslaufs“ sind nicht nur formelle Ablaufstrukturen entstanden, sondern auch Unterscheidungen zwischen ‚typischen‘ und ‚abweichenden‘ Lebensläufen. Mit der Institutionalisierung werden Kriterien, Normierungen und Bewertungen für ein ‚richtiges‘, ‚erfolgreiches‘ oder eben ein ‚verfehltes‘ Leben geschaffen. Lange Zeit galt es als selbstverständlich, dass Lebensläufe systematisch nach Geschlecht differenziert sind und Lebensläufe von Männern durch die Erwerbsarbeit, Lebensläufe von Frauen dagegen durch Familienarbeit bestimmt werden. Dabei war der Status erwachsener, verheirateter Frauen primär durch den Erwerbs-Status des Ehe-Mannes geprägt (vgl. Kap. 4.1), eine eigene, die soziale Stellung tragende Erwerbsarbeit war nicht vorgesehen. Wenn (verheiratete) Frauen erwerbstätig wurden, dann war das nur vor dem Hintergrund ökonomischer Zwänge legitimierbar. Ihr vom Ehemann abgeleiteter gesellschaftlicher Status wurde (und wird) auch im Alter relevant: Für Hausfrauen gab (und gibt) es keinen institutionalisierten Ruhestand, der zwischen aktiver Phase der Erwerbsarbeit und einer Phase der Nicht-MehrErwerbstätigkeit unterscheidet. Sie erwarben keinen Rentenanspruch, waren (und sind) verwiesen auf die „Witwenrente“. Das alles hat sich in den letzten Jahrzehnten gravierend verändert. Die Berufsorientierung von Frauen hat sich veralltäglicht und eine Erwerbstätigkeit auch von Müttern ist weitgehend selbstverständlich geworden, so dass sich Lebensläufe von Männern und Frauen statistisch gesehen zunehmend angleichen. Doch trotz zunehmender Angleichung setzt in den Lebensläufen von Frauen mit der Geburt eines Kindes vielfach eine „Re-Traditionalisierung“ ein, i. e. sie geben ihre Berufstätigkeit auf oder reduzieren die Arbeitszeit. Für beide Geschlechter gilt, dass institutionalisierte Ablaufmuster mit der je eigenen Lebenssituation, mit eigenen Wünschen, Ressourcen und Kompetenzen ausbalanciert werden müssen.

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9 Die Vergeschlechtlichung sozialer Wirklichkeit

Dabei sind Differenzen zwischen individuellen Ansprüchen und institutionellen Vorgaben (Ablaufstrukturen) in gewissem Sinne „chronisch“, so dass individuelle Lebensgeschichten der institutionalisierten Vorstellung vom Lebenslauf immer nur annähernd entsprechen und nicht in einer standardisierten Form (wie bei einer Bewerbung) aufgehen. Nicht zuletzt der Umgang mit solchen und ähnlichen Diskrepanzen hat (zunehmend) zu einer „Biographisierung“ des Lebenslaufs geführt. Biographie meint dabei die individuelle Lebensgeschichte oder Lebensbeschreibung, in der der eigene Lebenslauf zum Thema gemacht wird. Das geschieht nicht allein im expliziten Schreiben von „Memoiren“, sondern ist ein alltägliches Geschehen. Biographische Kommunikationen finden z. B. verstärkt in Phasen des Kennenlernens statt, aber auch in nachbarschaftlichen Kontakten, Gesprächen mit dem Pfarrer oder auf einer langen Reise im Zugabteil. Lebensläufe sind einander nicht zuletzt durch die Institutionalisierung von Ablaufmustern tendenziell ähnlich. Biographien aber unterscheiden sich: Jede Biographie ist anders, auch wenn sie sich in vergleichbaren Ablaufmustern und vergleichbaren (historischen) Erfahrungshorizonten realisiert. Dennoch repräsentieren Biographien (Lebensgeschichten) nicht einfach die ,subjektive Seite‘ eines ‚objektiven Ablaufs‘, sondern folgen ihrerseits bestimmten, kulturell vorgegebenen Mustern der Selbstthematisierung. Jede Lebenserzählung und -beschreibung richtet sich ja an einen Zuhörer, sei es der Nachbar, eine Interviewerin oder auch ein größeres Publikum. In der Regel versuchen wir ein sozial anerkennungsfähiges Leben zu präsentieren oder aber Verständnis für Brüche und Inkonsistenzen zu erlangen. Dabei machen wir vielfache Anleihen an kulturell überlieferten Formen, z. B. an Erzähltraditionen, Vorbildern oder zur Norm stilisierten Lebenshaltungen. Wir folgen damit einem „kulturellen Wissensvorrat“ über Biographien, so dass man auch von einer institutionalisierten Praxis der Biographisierung sprechen kann. Lebenslauf und Biographie haben in Bezug auf Geschlecht also zwei Seiten, die sich wechselseitig verstärken. Auf der einen Seite liegt die Geschlechtszugehörigkeit mit dem Moment der Geburtsklassifikation dem jeweiligen Lebenslauf und der Biographie zugrunde, da damit der „fortwährende Sortierungsvorgang“, von dem Goffman sprach, eingeleitet wird. Gleichzeitig – auf der anderen Seite – sind es nicht zuletzt die Muster des Biographischen selbst, durch die die Geschlechtszugehörigkeit zu einem organisierenden Element in der Lebensgeschichte wird und kaum „vergessen“ werden kann. Dieser wechselseitigen Verstärkung wollen wir im Folgenden kurz nachgehen. Mit der Geburtsklassifikation verbunden ist ein differenziertes System von Eigennamen (Vornamen), die – zumindest in Deutschland verpflichtend – die Geschlechtszugehörigkeit kenntlich machen und im Grundsatz lebenslang gelten. Sie fixieren so die Geburtsklassifikation über die Zeit. Schon die einfache Anrede der Person erzeugt eine kontinuierliche Aktualisierung in kommunikativen Interaktionen. Insofern verwundert es nicht, dass Geschlecht sehr bald im Lebenslauf zu einer zentralen Dimension der Selbstidentifikation wird (vgl. Kap. 9.2). In das biographische Gedächtnis schreiben sich eine Vielzahl von Szenen und Ereignissen ein, die wir mit unserer Geschlechtszugehörigkeit verknüpfen: Kinderspiele, Freundschaften, Feste und vieles andere mehr. Angehörige, Freundinnen, Lehrer, Sporttrainerinnen, Vorgesetzte und Arbeitgeberinnen haben sich auf einen weiblichen oder männlichen Menschen bezogen, und diese oft lange währenden Beziehungen und Begegnungen sind ebenfalls ein Teil des biographischen Wissens um die eigene Person. Insofern kann man mit Recht davon ausgehen, dass im biographischen Gedächtnis ein „Trägheitsmoment“ liegt (Hirschauer 1994, S. 683), durch das sich im „doing gender“ über die situative Bindung hinaus eine Stabilität auf das Geschlecht verweisender sozialer Praktiken herstellt.

9.1 Institutionalisierung: Geschlecht als selbst tragende Konstruktion

269

Mit Bezug auf tradierte Lebenslaufstrukturen haben sich zudem Erwartungen an „Normalbiographien“ von Männern und Frauen herausgebildet, die immer noch als eine Art kulturelles Gedächtnis wirksam sind. Danach war es lange Zeit selbstverständlich, dass für Männer ein primärer Bezug auf die Erwerbsarbeit lebenslaufstrukturierende Bedeutung hatte, während für Frauen galt, dass sie bereits in der Ausbildung ein Ende oder eine Reduktion der Erwerbstätigkeit antizipierten, weil ein Wechsel in die Familie als selbstverständlich galt. Diese Lebenslaufmuster sind zwar inzwischen sehr viel ausdifferenzierter und in dieser einfachen Form kaum noch vorzufinden, aber im kulturellen Gedächtnis bleiben diese „Normalbiographien“ von Frauen und Männern erhalten und bieten eine Folie, um Abweichungen zu konstatieren, zu problematisieren, zu bearbeiten oder zu normalisieren. Biographien sind damit sehr viel mehr als einfache Beschreibungen ‚geschlechtstypischer‘ Lebensgeschichten, sie haben ihrerseits Anteil an der sozialen Konstruktion von Geschlecht. Die oben erwähnten Muster des Biographischen bergen in sich eine geschlechterdifferenzierende soziale Strukturierung, der in biographischen Kommunikationen kaum auszuweichen ist (vgl. Dausien 2001). Eine Person, die über ihr Leben erzählt, ohne dabei (implizit) die eigene Geschlechtszugehörigkeit zu kommunizieren, würde uns vermutlich ähnlich irritieren wie die Verkaufskraft im Computershop aus Kapitel 7.2.2. Diese Konstruktion von Geschlecht findet in biographischen Entwürfen der Jugendzeit ebenso statt wie in bilanzierenden (rückblickenden) Erzählungen im Alter. Immer geht es um Bilder des eigenen Lebens und damit um Bilder und Konzepte des eigenen Selbst. Diese entstehen im Laufe der Lebensgeschichte, steuern aber auch deren Aneignung (Gildemeister/Robert 2008).

9.1.3

Parallelisierung und periodische Separierung

Die Differenzierung nach Geschlecht ist nicht nur in Eigenschaftszuschreibungen, Namensgebungen, dyadischen Beziehungen (Freundschaften, Paarbildung), Umgangskonventionen, Lebensläufen und Biographien eingeschrieben, sondern auch in kulturelle Objekte und Tätigkeiten, z. B. in Kleidungsstücke, Schuhe, Taschen, Parfüm, Deos, Frisuren, Fahrräder, Sportarten, Hobbies, Bücher, Spielzeuge, Farben, innerhäusliche und außerhäusliche Tätigkeiten, Gesten, Körperhaltungen, Stimme, Handschriften, Orte, Räumlichkeiten und in vieles andere mehr (vgl. Kirkham 1996). Diesen Vorgang, Objekten und Tätigkeiten ein Geschlecht zu verleihen, werden wir im folgenden „Vergeschlechtlichung“ nennen und dabei immer wieder ins Gedächtnis rufen, dass das richtige Erkennen des Geschlechts von Objekten und Tätigkeiten zu den grundlegenden Kompetenzen gehört, die Gesellschaftsmitglieder voneinander erwarten. Ohne deren Kenntnis wäre im Attributionsprozess eine eindeutige Geschlechterunterscheidung kaum möglich, da ja – wie wir oben dargestellt haben – die Genitalien als ‚entscheidende‘ Insignien der Geschlechtszugehörigkeit i. d. R. verdeckt sind. Sie können daher im Alltag nicht zur Zuordnung herangezogen werden. Mit der Vergeschlechtlichung von Objekten und Tätigkeiten ist ebenso wie mit Namen und Pronomen ein kulturelles Zeichensystem eingerichtet, das es erlaubt, „auch Unsichtbares ‚eindeutig‘ zu erkennen“ (Hirschauer 1993, S. 32). Diese Vergeschlechtlichung ist ein Teil der sozialen Beziehungen und als solche auf allen Ebenen alltäglichen Lebens präsent, sie gehört zu dem Bereich des Selbstverständlichen wie die Geschlechtertrennung selbst. Zugleich ermöglicht sie diese, stabilisiert sie über die Zeit und initiiert weitere Unterscheidungen. Gleichzeitig ist diese Vergeschlechtlichung von Objekten und Tätigkeiten offen für Veränderungen. So hat etwa das Kleidungsstück Hose heute keine ausschließlich männliche Ge-

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9 Die Vergeschlechtlichung sozialer Wirklichkeit

schlechtsbedeutung mehr. Aber auch heute noch wird dessen Aneignung durch Frauen als „Emanzipationsakt“ thematisiert. „Die Hosen anhaben“ ist immer noch ein geflügeltes Wort, um Durchsetzungsfähigkeit und Dominanz in sozialen Beziehungen anzuzeigen. Zudem werden selbst die gleichen Hosen dadurch nach Damenhosen und Herrenhosen getrennt, dass sie in verschiedenen Abteilungen verkauft werden. Auch Tätigkeiten haben ihr Geschlecht verändert: Aus dem Sekretär ist die Sekretärin geworden und für Männer ist es nicht mehr undenkbar, ein Baby zu wickeln (vgl. Kap. 9.3). An dieser Stelle soll uns zum einen der räumliche Niederschlag der Vergeschlechtlichung von Objekten und Tätigkeiten beschäftigen und zum anderen die daraus folgende (periodische) Separierung der Geschlechter, die es erlaubt, zwischen homosozialen (gleichgeschlechtlichen) und heterosozialen (verschiedengeschlechtlichen) Räumen und Begegnungen zu unterscheiden. Bereits mehrfach haben wir auf die mit der Klassifikation in „weiblich“ oder „männlich“ verbundene Erwartung unterschiedlicher Verhaltens- und Erscheinungsweisen verwiesen, durch die ein stabiles Auseinanderhalten der Geschlechter bereits gewährleistet wäre. Das soziale Arrangement einer parallelen Organisation in der Vergeschlechtlichung von Objektwelten, Räumen und Tätigkeiten erzeugt aber auch dort eine Geschlechtertrennung, wo beide das Gleiche tun, nur eben an unterschiedlichen Orten: z. B. nach Männern und Frauen getrennte Sanitäranlagen für den Toilettengang (statt der simpleren Unterscheidung zwischen Urinalen und Kabinen), verschiedene Umkleidekabinen und Duschen in Sportstätten, nach Geschlecht getrennte sportliche Wettbewerbe, Herren- und Damenabteilungen und -umkleiden in Kaufhäusern, Männer- und Frauenstationen in Kliniken, Jungen- und Mädchen-Schlafsäle, getrennte Bereiche in Friseursalons u. v. m. Auch diese räumlichen Arrangements folgen der Vorstellung einer Andersartigkeit der Geschlechter und lassen Gleichheit in der jeweiligen Kategorie und Differenz zur anderen entstehen. Die kulturell unterschiedlich weit getriebene Separierung hat zusammen mit der Zuschreibung von ‚geschlechtstypischen Eigenheiten‘ zentrale Implikationen für die soziale Praxis, denn nur dadurch entsteht ein (periodischer) Wechsel von geschlechtsgleichen und geschlechtsheterogenen Räumen und Begegnungen. Dieser Wechsel verstärkt die soziale Präsenz der Unterscheidung und stimuliert Kontakt- und Interaktionspräferenzen zwischen Geschlechtsgleichen. Gegengeschlechtliche Interaktionen erhalten tendenziell einen Sonderstatus. Traditionell waren diese verengt auf die Sozialform der heterosexuellen Beziehung (Ehe) und der damit verbundenen Verwandtschaftssysteme. Bis heute sind viele Gesellungsformen explizit oder implizit durch die Geschlechterkomponente (mit)bestimmt: z. B. Kaffeeklatsch und Herrenabende, Männer- oder Frauencliquen oder Verabredungen befreundeter Paare, die dann schwierig werden, wenn nach einer Trennung nur eine Person übrig bleibt. Und bis heute gilt eine Freundschaft zwischen einer Frau und einem Mann immer dadurch bedroht, dass von einer Seite ‚mehr‘ gewünscht werden könnte. Mit der aus der Geschlechtertrennung folgenden Unterscheidung von gleich- versus gegengeschlechtlichen Interaktionen ist die Geschlechterdifferenz in die Interaktionsstruktur als solche eingebaut. Die Differenz kann hier als „Mitgliedschaftskategorie“ oder als „Relationskategorie“ wirksam werden. „[Der Einbau in die Interaktionsstruktur] schafft einen Rahmen im Sinne Goffmans, durch den das gesamte Interaktionsgeschehen als Durchführung einer Geschlechterbeziehung konnotiert werden kann. Dieser Rahmen besteht (…) darin, dass die Geschlechtergrenze entweder zwischen den Teilnehmern oder um sie herum verläuft. Ein solcher Rahmen stiftet auch in der Interaktion Fremder sofort mögliche Anknüpfungs-

9.1 Institutionalisierung: Geschlecht als selbst tragende Konstruktion

271

punkte einer primordialen ‚Bekanntschaft‘: Man ist sich unvertraut, kann die daraus entstehende Komplexität aber mit einem Blick auf bereitliegende Interaktionsschemata reduzieren. Gleichheit und Verschiedenheit von Geschlecht bietet je spezifische Möglichkeiten, aus Fremden Bekannte zu machen“ (Hirschauer 2001, S. 220). Nach innen schafft die Geschlechterklassifikation als „Mitgliedschaftskategorie“ zunächst Gleichheit: Männer sind sich darin gleich, dass sie nicht Frauen sind und vice versa. Gleichzeitig bildet diese Gleichheit nach innen den Ausgangspunkt für Vergleichbarkeit und Konkurrenz. Es gibt erfolgreiche Frauen, sportliche Frauen, schöne Frauen, häusliche Frauen und erfolgreiche, sportliche, schöne und häusliche Männer, wobei die Gewichtung der einzelnen Bewertungsstandards für die Geschlechter sehr unterschiedlich ist. Erst diese Standards aber erzeugen Typisierungen von ‚unrichtigen‘ Frauen oder Männern, die den Kriterien nicht im gewünschten Maß entsprechen, z. B. als Frau primär nach Macht im öffentlichen Raum zu streben oder als Mann klein, unsportlich und häuslich zu sein. Georg Simmel zufolge (vgl. Kap. 3.1.4) zählte bei Frauen „Schönheit“, bei Männern dagegen „Bedeutendheit“ zu den zentralen Bewertungsdimensionen und wenn man die Darstellungen in den Medien verfolgt, scheint sich daran wenig geändert zu haben. Beiden Geschlechtern sind die Standards für das jeweils andere Geschlecht bekannt. Ihre praktische Anerkennung etwa in der Partnerwahl trägt mit dazu bei, dass sich die entsprechenden Bilder von ‚richtigen‘ Frauen und ‚richtigen‘ Männern wie von selbst immer neu reproduzieren können (vgl. Kap. 4.4.3 und 8.2.2). Als Mitgliedschaftskategorie ist Geschlecht ein Einfallstor für kulturelle Stereotype dazu, wie Frauen und Männer ‚sind‘. Als „Relationskategorie“ setzt Geschlecht Teilnehmer über ihre Geschlechtszugehörigkeit in die Relation von gleich oder verschieden zueinander und legt darin Gruß- und Umgangsformen nahe (z. B. Händeschütteln, angedeutete Umarmung, Wangenküsschen, Schulterklopfen, ‚Abklatschen‘), die Wahl von Gesprächsthemen oder auch die Art der Blickkontakte (vgl. Hirschauer 2001, S. 221). Bezogen auf gegengeschlechtliche Interaktionen werden eine Vielzahl sozialer Abläufe durch entsprechende Interaktionsskripte geregelt: Wer zuerst durch die Tür geht, wer wem das „Du“ anbietet, wer sich im Restaurant zuerst hinsetzen darf, wer wen zum Tanz auffordert oder wer das sinkende Schiff zuerst verlassen darf und soll (ebd., S. 223). Mit der Separierung und der Etablierung unterschiedlicher Bewertungsstandards können weibliche und männliche Sozialwelten sehr weit auseinander treten. Auch die Kontakte zwischen ihnen können auf ein Minimum reduziert werden. Das hat zwei auf den ersten Blick widersprüchliche Folgen: Einerseits kann durch Interaktionsskripte und die entsprechenden Rahmungen Fremdheit zwischen Unbekannten soweit reduziert werden, dass Umgangskonventionen greifen und Interaktionen in vertrautem Fahrwasser verlaufen. Andererseits kann zwischen Vertrauten – etwa einem Ehepaar – aus der Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Sozialwelten ein Gefühl der Fremdheit entstehen. Dem wird im Alltagsdenken etwa mit der Figur der ‚zwei Hälften‘ Rechnung getragen, dass nämlich ein Geschlecht allein unvollständig (defizitär) ist und der Ergänzung durch das andere bedarf. Mit dem Ergänzungstheorem in der sozialen Konstruktion von Geschlecht ist eine grundlegende Fremdheit zwischen den Geschlechtern immer schon mitgedacht und so verwundert es nicht, dass die Abgrenzung vom anderen Geschlecht bereits in sehr früher Kindheit beginnt und sich in unterschiedlicher Form durch die verschiedenen Lebensphasen zieht. Sie scheint konstitutiv für die Aneignung der eigenen Geschlechtlichkeit und damit unverzichtbar zu sein (vgl. Kap. 9.2). Der Einbau der Geschlechterunterscheidung in soziale Strukturen erschwert Übertritte in die jeweils andere Welt bis hin zur Unmöglichkeit und auch dort, wo Bewegung in die Grenzzie-

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9 Die Vergeschlechtlichung sozialer Wirklichkeit

hungen gekommen ist, bleibt i. d. R. eine grundlegende Unsicherheit bestehen, welche Regeln und Bewertungsstandards wann und wo gelten und wann und wo nicht. Vergeschlechtlichte Objektwelten, Umgangskonventionen und Sequenzierungsregeln halten die Unterscheidung beständig wach und lassen in den Akteuren gerade dann eine hohe Sensibilität für die sozialen Praktiken der Verortung und Benennung – das „Identifikationssystem“ im Goffman’schen Sinn – entstehen, wenn sich soziale Arrangements verändern und Grenzen durchlässiger werden. Zugleich wächst unter diesen Bedingungen das Bewusstsein für die Brüchigkeit dieses Systems. Ob und unter welchen Bedingungen es ausgesetzt, unterlaufen oder vielleicht auch einfach vergessen werden kann, das wird uns im Abschnitt zum „undoing gender“ (vgl. Kap. 9.6) beschäftigen.

9.2

Aneignungsprozesse: Geschlecht als Bildungsaufgabe

In einer Gesellschaft, in der die Zweipoligkeit der Geschlechterklassifikation für alle Mitglieder durchgesetzt ist, ist diese als Quelle der Selbstidentifikation wichtig und ernst zu nehmen. Geschlechterkategorien werden unvermeidlich zu einem wichtigen Teil der „Identität“ einer Person. Damit ist hier zunächst nicht mehr gemeint, als dass die Zweipoligkeit der Geschlechterklassifikation eine gewisse „Innenrepräsentanz“ erhalten muss, was nur dadurch gelingen kann, dass jedes Kind ‚seinen‘ Platz in der klassifikatorischen Ordnung einnimmt und sich damit die gesamte Ordnung zu eigen macht. Mit der Selbstkategorisierung als Mädchen oder Junge entsteht zugleich ein Differenzbewusstsein zum anderen Geschlecht. Damit öffnet sich in der Wahrnehmung von sozialen Situationen und sozialen Beziehungen eine Schere: Sind die Anwesenden gleichgeschlechtlich, also ‚wie ich‘ oder gehören sie zur anderen Seite und verkörpern ‚die Differenz‘? Indem in der Selbstkategorisierung ein Bezug auf die, die mir ‚gleich‘ sind, hergestellt wird, erfolgt die Ausbildung von Geschlechtsidentität stets als „Ko-Identität“ mit ‚Gleichgeschlechtlichen‘ (Tyrell 1986, S. 469) und ist darin auf ein gemeinsamkeitsstiftendes ‚Wir‘ der Geschlechtsgleichen angewiesen. ‚Geschlecht‘ ist dabei keine statische Kategorie, sondern realisiert sich in Lebenslauf und Biographie prozessual, d. h. es besteht zwar eine lebenslange Einsortierung und Selbstklassifikation, die Art, wie Geschlecht relevant wird, ist jedoch von Lebensphasen und konkreten Kontextbedingungen vor Ort abhängig. Der häufig genutzte Begriff der „geschlechtsspezifischen Sozialisation“ wird dem nicht gerecht. Geschlecht und Geschlechtlichkeit des Menschen sind selber die Dimensionen, die angeeignet werden müssen und stellen nicht die Grundlage des Sozialisationsprozesses dar (vgl. Gildemeister 1988; Dausien 1999). Gehen wir davon aus, dass ein Kind bei einem heterosexuellen Elternpaar groß wird, so ist es vom Tag seiner Geburt an in die Form der Geschlechterdifferenzierung einbezogen, die das Elternpaar ihm vorlebt. Auf die Paarförmigkeit und die Naturalisierung von Familie als Grundmodell sozialer Differenzierung sind wir bereits mehrfach eingegangen (vgl. Kap. 4.3, 4.4.3 und 9.1). In diesem Abschnitt geht es nun darum, dass jedes Kind in unserer Kultur vor der Aufgabe steht, zu lernen, dass es seiner Alterskategorie entsprechend sich selbst und anderen die eigene Geschlechtszugehörigkeit anzeigen können muss (vgl. auch Cahill 1986; Kessler/McKenna 1978). Dazu muss es lernen, dass es nur das eine oder das andere ist, es muss lernen, dass man sein Geschlecht nicht verlieren kann, es aber immer wieder situativ neu herzustellen ist und es muss herausfinden, was es bedeutet, ein ‚richtiger Junge‘ oder ein

9.2 Aneignungsprozesse: Geschlecht als Bildungsaufgabe

273

‚richtiges Mädchen‘ zu sein. Nicht zuletzt deshalb bezeichnet Rabe-Kleberg Geschlecht als „elementares Bildungsprojekt“ der Kindheit (Rabe-Kleberg 2005, S. 139). Die entsprechenden Forschungen zeigen, dass mit dem Moment, in dem ein rudimentäres Bewusstsein der eigenen Geschlechtszugehörigkeit entstanden ist (etwa im Alter von zwei bis drei Jahren), ein Kind nicht zuletzt dadurch zum Sozialisator seiner selbst wird, dass es die Menschen seiner Welt in Männer und Frauen einteilt und sich selbst in einen Bezug dazu als ‚gleich-‘ oder ‚andersgeschlechtlich‘ stellt. Dabei hat der Spracherwerb eine zentrale Bedeutung: Der Geschlechtsdualismus ist in den Bauplan der Sprache (Grammatik) eingelassen, so dass im alltäglichen Sprachgebrauch die Differenz beständig wach gehalten wird und dafür sorgt, dass wir Unterschiede zwischen den Geschlechtern nicht mehr nicht sehen können. Ihre Bedeutung ist kaum zu überschätzen, ohne Sprache wäre die „kognitive Dividierung der Menschenwelt in immer nur männliche und weibliche Menschen“ nicht denkbar (Tyrell 1986, S. 462) und eine adäquate Selbst- und Fremdkategorisierung nicht möglich: „Geschlechtsidentität gibt es nur in sprachlicher Fassung“ (ebd.). Insofern überrascht es nicht, wenn im Kindergarten – der Altersphase von 3 bis 6 Jahren – Kinder sich rigoros auf ‚geschlechtsangemessenes‘ Verhalten hin kontrollieren und sich in dieser Hinsicht als ausgesprochen intolerant erweisen. Es ist oft beobachtet worden, dass Kinder früh bestrebt sind, nicht mehr als ‚Baby‘ zu gelten. Dann haben sie nur die Chance schon ein großes Mädchen oder schon ein großer Junge zu sein. Aus dem Kindergartenalltag heraus können sie vielfältige Unterschiede zwischen Mädchen und Jungen angeben: Mädchen tragen Kleider, Jungen Hosen, Mädchen haben lange Haare, spielen mit Puppen und mögen Schmuck, Jungen haben kurze Haare, spielen in der Bauecke und mögen Autos. Die Unterscheidung erfolgt aufgrund von Farben und Formen der Kleidung, von Frisuren und anderen sozialen Symbolen (Gildemeister/Robert 2008, 63 f.). Dieser Prozess der Aneignung findet dann einen ersten Abschluss, wenn gelernt wurde, dass die Geschlechtszugehörigkeit sich auch dann nicht ändert, wenn die sozialen Symbole ausgetauscht werden, ein Mädchen ein Mädchen bleibt, auch wenn sie kurze Haare hat und gerne draußen rumtobt. Mit diesem Schritt werden die sozialen Symbole abgelöst von jenem kategorialen Denken, in dem Geschlecht nicht nur als einfache binäre Unterscheidung, sondern als ‚natürlicher Tatbestand‘ zu sehen gelernt wird, der im Lebensverlauf nicht verändert werden kann. Auch wenn Kinder im Hinblick auf die Geschlechterunterscheidung hochgradig sensibilisiert sind und die Geschlechterkategorie in dieser Phase zu einem, wenn nicht dem zentralen Erleben und Handeln steuernden Schema wird, so sind in den verschiedenen Einrichtungen der Kinderbetreuung doch markante Unterschiede im Umgang mit der Kategorie zu finden. Ausmaß und Intensität der Geschlechtertrennung differiert von Kindergarten zu Kindergarten, von Region zu Region und von Land zu Land. Dabei ist einerseits plausibel, dass die institutionelle und interaktive Segregation im Kindergarten eng mit der im jeweiligen gesellschaftlichen Kontext geltenden Geschlechtertrennung und Geschlechterungleichheit zusammenhängt. Andererseits haben sich mitunter Einrichtungen auch dann als interaktiv hoch segregiert erwiesen, wenn im Umfeld Gleichheitsvorstellungen hochgehalten werden, etwa in amerikanischen Kindergärten der gehobenen Mittelschicht.24

24

In ihrer interkulturell vergleichenden Untersuchung haben Aydt und Corsaro (2003) gezeigt, dass und wie Spiele und Kommunikation der Kinder in diesen Kindergärten immer wieder um das Thema „marriage and babies“ kreisen, ihre Gespräche häufig darum gingen, wann, wen und wie sie heiraten und wie viele Kinder sie in ihrem späteren Leben haben werden. Der Focus ihrer „peer culture“ sei darauf gerichtet, jede gegenge-

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9 Die Vergeschlechtlichung sozialer Wirklichkeit

In der Schulzeit verliert die Geschlechtszugehörigkeit einerseits ihre zentrale Bedeutung. Durch die mit der Schule gesetzten neutralisierenden Optionen (Anerkennung aufgrund von Leistung) kann Geschlecht zu einer „ruhenden Ressource“ (Faulstich-Wieland et al. 2004) werden. Andererseits ist Geschlecht über körperliche Inszenierungspraktiken (Kleidung, Frisur etc.) visuell allgegenwärtig. Dabei ist – wie schon im Kindergarten – der Spielraum für Jungen enger gezogen als für Mädchen, werden Grenzüberschreitungen auf ihrer Seite härter von Gleichaltrigen sanktioniert als bei Mädchen (vgl. Budde 2007). Auch in der Schule bieten sich zahlreiche Einsätze für eine Geschlechterunterscheidung und die zumindest periodische Trennung von Mädchengruppen und Jungengruppen. Im Kontext altershomogener Gruppen (Jahrgangsstufen) und der Universalisierung der Schülerrolle bzw. der hier eingelassenen Leistungsbewertung stellt die Geschlechtertrennung die einfachste Chiffre von Unterscheidung und Zugehörigkeit dar. Die Grenzziehung kann damit immer neu aktiviert werden und aus losen Aggregaten von Jungen und Mädchen werden dann mit den Jungen und den Mädchen eindeutig voneinander getrennte Gruppen (vgl. Thorne 1993, S. 65). Außerhalb der Schule können dagegen stärker altersgemischte soziale Formen wie Familie oder Nachbarschaft relevant werden, die andere Integrationsmodi ermöglichen – im Fall der Nachbarschaft etwa über räumliche Nähe. Dabei bilden Mädchen und Jungen in diesem Alter nicht, wie vielfach angenommen, „eigene Kulturen“ aus (Breidenstein/Kelle 1998). Die Bedeutsamkeit der unterschiedlichen Praktiken von Mädchen und Jungen liegt vielmehr darin, „dass die Abgrenzung von den je anderen erst das eigene möglich macht oder: konstituiert“ (Kelle 1999, S. 320). Die unproblematische Zuordnung zu einem Geschlecht hat vor allem einen sozial entlastenden Effekt. Die über Geschlecht vermittelte Form der Zugehörigkeit geschieht automatisch und stellt keine eigene Entscheidung dar, weswegen man dafür auch nicht verantwortlich gemacht werden kann. Zugleich ist damit eine jederzeit aktivierbare Ressource für Identifikation und Distinktion gegeben. Dabei erweisen sich viele Praktiken der Unterscheidung bei näherem Hinsehen als weitgehend inhaltsleer. Sie stellen lediglich ein formales Sortierungsprinzip dar, etwa um Spielgruppen zu bilden, in denen Mädchen gegen Jungen antreten. Zumindest in der Schulzeit erweist sich damit ‚Geschlechtsidentität‘ jenseits der oben benannten körperlichen Inszenierungspraktiken als vergleichsweise unbestimmt. Sie bekommt vor allem dann Konturen, wenn die selbstverständliche Geltung der Zugehörigkeit in Frage gestellt wird, etwa wenn ein Junge mit langen Haaren verspottet, als „transsexuell“ oder „schwul“ bezeichnet wird. An letzterem wird deutlich, dass die Zuordnung zur männlichen Geschlechtskategorie noch nicht automatisch mit der Zuerkennung von ‚Männlichkeit‘ im sozialen Sinne verbunden ist. Wie vor allem Connell in seinem Modell der „hegemonialen Männlichkeit“ herausgearbeitet hat (vgl. Kap. 5.4), müssen sich Jungen bzw. Männer in einer doppelten Hierarchie verorten: einer abgestuften Binnenhierarchie unter Männern und der Herausstellung von Überlegenheit (Dominanz) aller Männer gegenüber allen Frauen. Weiblich ist alles, was „nicht-männlich“ ist, „männlich“ aber nur das, was „nicht-nicht-männlich“ ist, d. h. die eigene Verortung im Kreis „richtiger Männer“ (Jungen) ist stets gefährdet. In vielen Untersuchungen ist herausgeschlechtliche Freundschaft als „romantic in nature“ zu definieren, so dass Beziehungen zwischen einem Mädchen und einem Jungen sehr schnell zum Ziel neckender Bemerkungen wurden und deshalb von den Kindern eher vermieden wurden (Aydt/Corsaro 2003, S. 1322). Dies ist aber kein universelles Merkmal vorschulischer Gleichaltrigenkultur; die empirischen Befunde zu anderen Kindergärten in anderen sozialen Kontexten fielen durchaus anders aus. Man kann daraus folgern, dass bereits die vorschulische Gleichaltrigenkultur durch das jeweilige Milieu des Wohnumfeldes geprägt wird.

9.2 Aneignungsprozesse: Geschlecht als Bildungsaufgabe

275

stellt worden, dass die Differenz vor allem von der Jungen- bzw. später von der Männerseite aus geltend gemacht und Separierung und Segregation forciert werden. Vor diesem Hintergrund wird die interne Hierarchie ausgefochten. Die Zugehörigkeit zur Kategorie der Mädchen ist weniger bedroht; ihre interne Hierarchisierung bemisst sich aber oft an der von der Gruppe wahrgenommenen Attraktivität für das ‚andere Geschlecht‘. Wie schon im Kindergarten erweisen sich auch in der Jugendphase die Grenzen bei Mädchen als weniger strikt gezogen und die Konturen von „Geschlechtsidentität“ vielfältiger (vgl. Budde/FaulstichWieland 2005; Tervooren 2006). Mit der kontrastiven Gegenüberstellung von ‚den‘ Mädchen und ‚den‘ Jungen ist jederzeit die Möglichkeit gegeben, in der Thematisierung der Geschlechtszugehörigkeit, einen „Modus der Fremdheit in Bezug auf das andere Geschlecht zu aktivieren“ (Breidenstein/Kelle 1998, S. 269). Vor allem in den vielfältigen Spielen rund um das Thema „Verliebtheit und Paarbildung“ wird das ‚andere‘ Geschlecht als das ‚unbekannte‘ inszeniert. Die künstliche Befremdung kann als eine wichtige Grundlage für die erotische Aufladung der Geschlechterdifferenz gesehen werden. Dieser Befund weist eine deutliche Parallele zu den oben zitierten Ergebnissen der Kindergartenstudie auf, der zufolge die stärkste interaktive Segregation dort beobachtet wurde, wo die heterosexuelle Paarbildung im Zentrum der Kommunikation der Kinder stand (Aydt/Corsaro 2003). Die in der Folge beobachtete Tendenz einer wechselseitigen Vermeidung lässt eben jene Stilisierung von Fremdheit entstehen, die in der weiteren Schulzeit zwar durchaus ausgesetzt werden kann, aber lebenslang aktualisierbar bleibt und im Erwachsenenalter eine Erklärung für die Erfahrung letztlich unüberbrückbarer Fremdheit in der sozialen Nähe der Paarbeziehung anbietet (Gildemeister/Robert 2008, S. 197). Bei alldem sollte jedoch nicht übersehen werden, dass die empirischen Studien nahezu durchgängig darauf hinweisen, dass mit dem universalisierenden Lern- und Leistungsbezug in der Schule Potentiale einer Neutralisierung der Geschlechterdifferenz angelegt sind (Budde/Faustich-Wieland 2005, S. 51). Die Studien zeigen aber auch, dass sich eine solche Begrenzung der Bedeutung von Geschlecht nicht von allein realisiert, sondern einer aktiven Gestaltung durch institutionelle Regeln und das Handeln der Lehrenden bedarf. In Adoleszenz und Postadoleszenz wird die Geschlechtszugehörigkeit erneut dramatisiert: Partnersuche und Berufseinmündung (vgl. Kap. 9.3) lassen Fragen nach der ‚richtigen‘ Weiblichkeit und der ‚richtigen‘ Männlichkeit erneut aufleben. Im Alltagswissen wird ein enger Zusammenhang zwischen körperlicher Reifung (der sog. Pubertät) und dem Eintritt in die Jugendphase gesehen. Von den Sozialwissenschaften wird dagegen ein solches Zusammenfallen schon seit langem abgelehnt (z. B. van Gennep bereits 1909). Physiologische Entwicklungsphasen sind nicht identisch mit der sozialen Strukturierung der Adoleszenz. Für moderne westliche Gesellschaften gilt, dass hier an Jugendliche die implizite und explizite Anforderung gestellt wird, ein heterosexuelles und der Geschlechtszugehörigkeit entsprechendes Selbstverständnis zu entwickeln sowie auf eine kontinuierliche, den weiteren Lebenslauf strukturierende Erwerbstätigkeit hin zu wirken (Lehre, Studium). Dafür haben sich in diesen Gesellschaften Schutz- und Schonräume ausgebildet, in die allerdings mit Geschlechterbildern und Geschlechterdifferenzierungen verknüpfte kultur-, klassen- und schichtbezogene Unterschiede eingewoben sind. Für moderne Gesellschaften gilt, dass sich im Verlauf der Adoleszenz zwar ein relativ präzises Bewusstsein sozialer Ungleichheit auf der Ebene ökonomischer Ressourcen und der damit verknüpften Optionen für die eigene Entwicklung herausbildet, ein Bewusstsein darüber, dass auch Geschlecht eine Dimension sozialer Ungleichheit darstellt, dagegen kaum

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9 Die Vergeschlechtlichung sozialer Wirklichkeit

ausgeprägt ist. Es dominiert eine „Rhetorik der Gleichheit“. Das ist insofern nicht weiter verwunderlich, da ja zum einen Mädchen in Bildungsinstitutionen praktisch gleichgezogen haben bzw. bei höheren Schulabschlüssen sogar den größeren Anteil stellen. Zum anderen erhalten Mädchen Anerkennung durch die heterosexuell normierten Umgangsformen, welche diskriminierende Mechanismen in anderen Bereichen verschleiern (Goffman 1994). Selbstkonzepte, Wertorientierung, Zukunftskonzepte haben sich im Jugendalter bereits seit einiger Zeit stark angeglichen. Jugendliche beiderlei Geschlechts werden mit einer Vielzahl von Lebens- und Darstellungsmöglichkeiten von Weiblichkeit und Männlichkeit konfrontiert, einem eher verwirrenden Angebot, über das Wünsche geweckt werden, das aber auch Verunsicherungen entstehen lässt. ‚Die‘ jungen Frauen oder Männer gibt es nicht, sondern eine Vielfalt unterschiedlicher Lebensentwürfe, die über die Kategorie Geschlecht nicht (mehr) auf einen Nenner zu bringen sind. Auch ist die Aneignung von Geschlecht bzw. die Ausbildung einer Geschlechtsidentität mit der Adoleszenz nicht abgeschlossen. Im Erwachsenenalter hängt es inzwischen in hohem Maße von der gewählten Lebensform sowie den Berufs- und Organisationskulturen ab, ob und wenn ja, wann und wie Geschlecht jenseits der Klassifikation als solcher relevant (gemacht) wird. Im Alter verliert das ‚andere Geschlecht‘ nicht nur an Bedeutung, sondern es scheint generell das Geltendmachen der Differenz als ein Geltendmachen von „Anders-sein“ zurückzutreten. Es hat den Anschein, dass die Aneignung von Geschlecht zunehmend durch Mehrschichtigkeit, Widersprüchlichkeit und Unabgeschlossenheit vieler Prozesse gekennzeichnet ist und man sich vor einer vorschnellen Vereindeutigung hüten sollte. Auch Menschen des westlichen Kulturkreises beziehen sich in den verschiedenen Altersstufen inzwischen offenbar in einer durchaus unterschiedlichen Intensität auf die grundsätzlich erwartete Dauerrelevanz ihres Geschlechts. Sie können, sollen und wollen zu unterschiedlichen Zeitpunkten mal mehr und mal weniger als weiblich oder männlich wahrgenommen werden. Neben die Einübung in „doing gender“ tritt die zunehmende Erkenntnismöglichkeit der Relativität dieser Handlungsmuster. Das weist nicht zuletzt noch einmal darauf hin, dass Geschlecht zwar nach wie vor eine wichtige Quelle der Selbstidentifikation ist, aber nicht in der „Geschlechtseigenschaft“ oder der „Geschlechtsidentität“ aufgeht. Ebenso wie kulturelle Ressourcen eine Dauerrelevanz herstellen können, können auch Sozialräume entstehen, in denen die Geschlechtszugehörigkeit zwar nach wie vor zu erkennen gegeben werden muss, sie gleichzeitig aber in ihrer sozialen, wie auch in ihrer Identitätsrelevanz zurücktreten kann.

9.3

Geschlechterdifferenzierende Arbeitsteilung

9.3.1

‚Männliche‘ Arbeit – ‚weiblicher‘ Liebesdienst

Unser heutiges Verständnis von ‚Arbeit‘ ist geprägt von der Notwendigkeit der Arbeit für die Allgemeinheit (das, was erledigt werden muss) und für das Individuum (Beschäftigung und Gelderwerb). Letzteres ist recht neu: Jahrhundertelang galt Arbeit nur als Last, als Strafe Gottes für den Sündenfall des Menschen – im Paradies gab es keine Arbeit – und als (gottgewolltes) Distinktionsmerkmal zwischen den unteren, arbeitenden Ständen und den oberen, nicht arbeitenden. Erst mit der von Luther geprägten Formel des „Berufs“, die besagte, dass nicht nur klerikale oder schöngeistige Tätigkeiten, sondern z. B. auch das Handwerk eine „Berufung“ seien, entwickelte sich im 17. und 18. Jahrhundert eine Umkonnotation von

9.3 Geschlechterdifferenzierende Arbeitsteilung

277

Arbeit. Diese Umkonnotation erfasste nicht alle Felder der Arbeit und tut dies auch bis heute nicht. Sie beschrieb zunächst nur das, was als bürgerliche, städtische „Berufe“ bezeichnet wurde. Dabei entstand nicht nur eine Abgrenzung zu bäuerlichen Arbeiten, zu Tagelöhnertätigkeiten oder auch den dann entstehenden proletarischen Arbeiten, sondern vor allem auch zu ‚weiblichen‘ Tätigkeiten. Wie wir in Kapitel 2.1 eingeführt haben, ging das Erstarken des Bürgertums mit der Sphärentrennung einher. Die Berufs- und Arbeitsrollen, die sich mit der Industrialisierung noch weiter ausbreiteten, waren durch jeweils spezifische Kompetenzprofile und organisationsspezifische Zweckbezüge definiert. Die Person trat – bildlich gesprochen – ‚hinter‘ die Berufsrolle und war als solche im Rahmen der Organisationen tendenziell austauschbar. Zugleich bildeten die kompetenzbasierten Berufsrollen jedoch die Grundlage für die Ausbildung einer differenzierten Individualität. Die Kompetenz hierzu galt als ‚typisch männlich‘. Berufliches Handeln wurde so als ein qualifiziertes, spezifisch gekonntes Tun von anderen Tätigkeiten und Handlungsfeldern abgegrenzt, insbesondere von der alltäglichen häuslichen Daseinsfürsorge. Das, was Frauen im Hause tun, galt nicht (mehr) als kompetenzbasierte Arbeit, sondern als das, ‚was Frauen sind‘, d. h. es bedurfte dazu keiner Fähigkeiten, die von der Person erst erlernt und angeeignet werden mussten und dadurch von ihr als „Kompetenzprofil“ ablösbar waren (Gildemeister/Robert 2008). Geschlecht, Tätigkeit und Person fielen in eins: Die bürgerliche Vorstellung von Weiblichkeit war definiert über häusliche Tätigkeiten und diese waren definiert über ‚Weiblichkeit‘. Die Frauen der Zeit konnten dieser doppelten Zuschreibung kaum entkommen. Mit ihr war die Chance zur Individualisierung durch Differenzierung – wie sie für Männer galt – still gestellt. In legitimatorischer Überhöhung wurde diese Konstruktion auch als „Nicht-Entfremdung“ oder gar als „moralisch höherer Ort“ angesprochen (kritisch: Rabe-Kleberg 1993). Der ‚Liebesdienst‘ von Frauen – ihre „Berufung“ – war anders als die ‚männliche‘ Tätigkeit sich selbst Lohn genug, also keiner Entlohnung wert. Lange Zeit fiel aus diesen Gründen ‚weibliche‘ Arbeit auch aus dem wissenschaftlichen Arbeitsbegriff heraus. Die Kritik daran ist seit Beginn der Geschlechterforschung eine ihrer Grundlagen, denn nicht zuletzt durch die Nicht-Anerkennung von häuslichen Tätigkeiten als Arbeit und ihre Rückverweisung in die ‚Natur der Frau‘ konnte die Hierarchisierung der Geschlechter immer neu erzeugt und legitimiert werden. Erst in den 1980er Jahren setzte sich die feministische Perspektive in der Arbeitssoziologie durch, auch unentlohnte Hausund Familienarbeit als Arbeit zu fassen (vgl. Mikl-Horke 2000; Edgell 2008; Voß 2010). Dieses in westlichen Industrienationen verankerte Grundmuster wird auch heute noch mit dem Begriff der „geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung“ zu erfassen versucht, wobei der Begriff der „Spezifik“ ein an das (biologische) Geschlecht gebundenes oder sogar dadurch verursachtes Phänomen suggeriert. Dem Gegenstand angemessener ist die Benennung als „geschlechterdifferenzierende Arbeitsteilung“ (Gildemeister/Robert 1999) oder auch „geschlechterkonstituierende Arbeitsteilung“ (Wetterer 2002, S. 3), in der die Ausgestaltung als ein Ergebnis sozialer Prozesse gefasst wird und nicht den Ausgangspunkt markiert, so dass die spezifische Form der Arbeitsteilung einen eigenständigen Stellenwert in der sozialen Konstruktion von Geschlecht erhält. Die geschlechterdifferenzierende Arbeitsteilung ist so tief in die Strukturierung gesellschaftlicher Abläufe (und damit in unser Denken) eingebrannt, dass in der Geschlechterforschung von einem mit der Arbeitsteilung auf das Engste verbundenen „Gleichheitstabu“ gesprochen wird:

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9 Die Vergeschlechtlichung sozialer Wirklichkeit

„Die Arbeitsteilung nach Geschlecht kann insoweit als ‚Tabu‘ gesehen werden: als Tabu gegen die Gleichheit von Männern und Frauen, als Tabu, das die Geschlechter in zwei sich gegenseitig ausschließende Kategorien aufteilt (…). Die Arbeitsteilung ist auch ein Tabu gegen geschlechtliche Verbindungen, die anders sind als die, die aus einem Mann und einer Frau bestehen, und schreibt somit heterosexuelle Ehen vor“ (Rubin 2006 [1975], S. 87). Mit der Klassifikation ist gleichzeitig die Rechtfertigung verbunden, Frauen einen bestimmten Platz im gesellschaftlichen Gefüge zuzuweisen. Dabei genügt ein Blick in die kulturvergleichende Forschung, um aufzuweisen, dass zwar als Begründung für die Zuweisung stets ‚die Natur‘ herangezogen wird, die Grundlage der Klassifikation aber keineswegs in der ‚Natur der Sache‘ angelegt ist. Vielmehr wird sie durch die Art der Arbeitsteilung begründet, die wiederum eine zentrale Bedeutung für den jeweiligen Modus der sozialen Konstruktion von Geschlecht hat. So haben etwa die Männer in Kamerun die gesamte schwere Feldarbeit den Frauen überlassen, „weil nur Frauen und Gott in der Lage sind, etwas wachsen zu lassen“ (Douglas 1991, S. 108). Ist die Zweiteilung der Menschheit und mit ihr das „Gleichheitstabu“ als soziales Ordnungsprinzip institutionalisiert und als Rahmen für die Organisation von Erfahrungen etabliert, so lagern sich an die Grenzlinie immer neue Zuschreibungen von Eigenschaften und Fähigkeiten an, ohne dass wir diesen Prozess als solchen noch wahrnehmen. Solche Grenzlinien existieren nicht nur in ‚den Köpfen‘, sondern sie werden stabilisiert durch soziale Praxis und durch Strukturbildungen, die den Handelnden dann als ‚objektive‘ Bedingung des Handelns entgegentreten. Das vielzitierte Problem einer ‚Vereinbarkeit‘ von Familie und Beruf bei Frauen (!) resultiert genau daraus und darauf bezogene Veränderungen brauchen viel Zeit. Denn die Grenzlinien zu überschreiten oder zu durchkreuzen ist mit einer i. d. R. tief greifenden Verunsicherung verbunden, mit einem Verlust an Selbstverständlichkeit der entsprechenden lebensweltlichen Formen. Andererseits gilt, dass gerade weil solche Zuschreibungen und Grenzziehungen aus dem Strom sozial kommunikativen Handelns erwachsen, sich auch neue Verhaltensmöglichkeiten eröffnen und Handlungsspielräume entstehen können, die den Glauben an die ‚Natur der Sache‘ zumindest brüchig werden lassen.

9.3.2

‚Frauenberufe‘ – ‚Männerberufe‘

Der geschlechterdifferenzierende Konstruktionsmodus über Arbeitsteilung bildete zugleich das Denkgefängnis, in dem sich weite Teile der ersten (bürgerlichen) Frauenbewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts verfingen. Indem sie die „soziale Mütterlichkeit“ ins Zentrum der Versuche stellten, einen Zugang zur Sphäre der Berufsarbeit zu erringen (vgl. Kap. 3.1.1), waren sie im Hinblick auf die Schaffung sogenannter Frauenberufe sehr erfolgreich. Aber damit wurden Frauen tendenziell auch in anderen Berufen auf diese vermeintlichen Qualitäten festgelegt. Kennzeichnend für diese Frauenberufe war jedoch weniger eine besondere Nähe zur ‚Mütterlichkeit‘, sondern mehr, dass sie einen fließenden Übergang zwischen der Vorherrschaft des Vaters und der des Ehemannes ermöglichten, indem die jungen Frauen stets männlichen Vorgesetzten zuarbeiteten als Sekretärinnen, Krankenschwestern, Arzt-, Anwalts-, Apotheken- und weitere Helferinnen. Seit der vorletzten Jahrhundertwende entwickelten sich praktisch im gesamten Bereich der Erwerbsarbeit strukturanaloge Arbeitsteilungen, wurden Frauen auf Tätigkeiten verwiesen, die als ‚hausarbeitsnah‘ klassifiziert wurden, auch wenn diese Klassifikation viel Phantasie

9.3 Geschlechterdifferenzierende Arbeitsteilung

279

erforderte (Klewitz et al. 1989). Nicht die in der „geistigen Mütterlichkeit“ gebündelten ‚weiblichen Fähigkeiten‘ stellten die Grundlage für die Schaffung von Frauenarbeitsbereichen dar, sondern anders herum: Arbeitsbereiche bekamen nun ein Geschlecht, sie wurden ‚vergeschlechtlicht‘ (gendered) und dadurch für Frauen zugänglich. Die vergeschlechtlichte und vergeschlechtlichende Arbeitsteilung kann in besonders plastischer Weise am Beispiel der Entstehung ‚männlicher‘ Professionen und ‚weiblicher‘ Semiprofessionen illustriert und sichtbar gemacht werden (vgl. z. B. Wetterer 2002; Gildemeister/Robert 2009; Gildemeister 2007). Mit dieser Trennung wanderte das Konstrukt des Weiblichen als ‚ganzheitlich-integrativ‘ und ‚synthetisierend‘ auch in die Berufswelt ein. Diese Figur tauchte erneut in den Anfängen der Frauenforschung auf: E. Beck-Gernsheim und Ilona Ostner prägten auf der Grundlage ihrer Untersuchung von Pflegeberufen den Begriff des „weiblichen Arbeitsvermögens“ (Ostner 1978; Beck-Gernsheim 1983), der bereitwillig von Medien und Politik aufgenommen wurde. In der Frauen- und Geschlechterforschung wurde er dagegen stark kritisiert. Er hat heute einen lediglich historischen Stellenwert. Die in dem für uns selbstverständlichen Modus der sozialen Konstruktion von Geschlecht verankerte Arbeitsteilung stellt bis heute eine der zentralen institutionellen Grundlagen für den Arbeitsmarkt dar, i. d. R. jedoch ohne als solche explizit zu werden. Eine ‚Gleichstellung von Frauen‘ ist in diesem Modus nicht vorgesehen, in gewisser Weise gar nicht denkbar: Solange Frauen und Familienarbeit zusammengedacht werden und die ‚naturwüchsige‘ Synthetisierung von Arbeit und Person in die Berufssphäre verlängert wird, bleibt eine Hintergrundstruktur bestehen, die Gleichstellungsbemühungen konterkariert. Auch wenn die rigide Trennung von ‚männlicher‘ Erwerbs- und ‚weiblicher‘ Hausarbeit seit über hundert Jahren durchbrochen ist, wird diese dem Konstruktionsmodus immanente ungleiche Wertung ‚männlicher‘ und ‚weiblicher‘ Arbeit in der Form von „gender status beliefs“ (Ridgeway 2001, S. 256 f.) immer wieder wirksam: Selbst unter gleichen Ausgangsbedingungen wird Männern i. d. R. eine höhere berufliche Kompetenz zugeschrieben (ebd.). Arbeit wird zu einem zentralen Medium in der Geschlechtsdarstellung und zwar auch in deren Vermeidung: Durch die „systematische Pflege von kleinen praktischen Idiotien“ (Hirschauer 1994, S. 689) gelingt es so manchen Männern, Tätigkeiten im Haushalt als ‚weiblich‘ und damit für sich als ‚wesensfremd‘ darzustellen. Wie im Folgenden zu zeigen sein wird, hat sich diese Hintergrundstruktur zwar in der Folge eines tiefgreifenden Strukturwandels der Arbeit in ihrer Relevanz relativiert, aber sie hat sich bislang nicht verabschiedet. Dieser (umstrittene) Strukturwandel von Arbeit wird in mehrfacher Hinsicht für Geschlecht relevant. Zum einen ‚wandert‘ Arbeit und wandern Arbeitskräfte so, dass Nationalität und Ethnizität geschlechterdifferenzierende Arbeitsteilung z. T. verstärken (z. B. indem Hausarbeit von Migrantinnen übernommen wird und gering entlohnte ‚Frauenarbeiten‘ zu Arbeiterinnen in China wandern), aber auch konterkarieren (z. B. indem westliche, weiße Frauen höher entlohnte Tätigkeiten als männliche Migranten oder Arbeiter in Indien besetzen). Unter dem Stichwort der „Entgrenzung von Arbeit“ wird diskutiert, dass die Trennung zwischen Erwerbs- und Privatsphäre aufweiche. Hier werden einerseits Chancen für Frauen (bei einer selbstverständlichen Zuweisung von Familienarbeit) Vereinbarkeitsprobleme zu lösen in der Tele- bzw. Heimarbeit oder über Betriebskitas, andererseits Risiken durch den Anspruch auf stete Verfügbarkeit und durch Zunahme von Geschäftsreisen gesehen. Der dritte Aspekt, der hier relevant ist, ist die sogenannte „Subjektivierung von Arbeit“. Hierunter wird verstanden, dass das Zurücktreten der Person hinter die Funktion nun aufgelöst wird: Die Person soll in die Funktion hineingeholt werden. Dabei werden systematisch Stereotype herangezogen, die

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9 Die Vergeschlechtlichung sozialer Wirklichkeit

‚Personen‘ ökonomisch abrufbar machen sollen, v. a. in Form ‚weiblicher soft skills‘. Nicht zuletzt ist „Prekarisierung von Arbeit“ ein wieder intensiv diskutiertes Phänomen, bei dem v. a. Frauen in Niedriglohnsektoren, 400 Euro Jobs oder als sog. HartzIV-Aufstockerinnen arbeiten (Frey 2007; Kratzer/Sauer 2007; Gottschall/Voß 2003; Dörre 2007).

9.3.3

Arbeitsmarkt, Beruf, Ausbildung

Seit der Entstehung von ‚Frauenarbeitsplätzen‘ mit der Industrialisierung – was Simmel 1902 noch begrüßte – hat sich eine stabile Geschlechtersegregation auf dem Arbeitsmarkt hergestellt. Frauen und Männer arbeiten in unterschiedlichen Branchen, Berufen, Tätigkeitsbereichen und nicht zuletzt in unterschiedlichen hierarchischen Positionen. Bei näherer Betrachtung fällt auf, dass vorwiegend von Frauen ausgeübte Berufe sehr viel weniger Erwerbschancen bieten, sie i. d. R. schlecht bezahlt sind und kaum Weiterbildungs- und Aufstiegsoptionen offerieren („Sackgassenberufe“).25 Auch bei formal gleicher Qualifikation erhalten Frauen vielfach eine niedrigere Entlohnung und nach wie vor ist die Bezahlung in überwiegend von Männern besetzten Bereichen höher als in frauentypischen Berufen (Achatz 2008). Im Jahr 2011 lag der durchschnittliche Brutto-Stundenlohn in Europa bei Frauen um 17% niedriger als bei Männern, in Deutschland um 23% (IAB 2012). Das Phänomen der Geschlechtertrennung auf dem Arbeitsmarkt und in den Berufen wird nicht nur in der Geschlechterforschung, sondern auch in der Politik und inzwischen sogar in der Wirtschaft beklagt. Die Begründungen, warum dieser Zustand als schlecht bewertet wird, differieren: Die einen argumentieren politisch, dass sich mit der Segregation die soziale Ungleichheit zwischen den Geschlechtern reproduziere, die anderen ökonomisch, dass damit ein Fachkräftemangel vorprogrammiert sei. In der historischen Entwicklung hat sich das Ausmaß der Segregation über Jahrzehnte hinweg als weitgehend stabil erwiesen (Willms-Herget 1985, S. 220), nicht aber die konkreten Trennlinien zwischen den Berufen. Diese haben vielfach ihr Geschlecht gewechselt, so dass aus Männerberufen Frauenberufe wurden (z. B. vom Sekretär zur Sekretärin, vom Volksschullehrer zur Grundschullehrerin, vom Apotheker zur Apothekerin etc.) oder auch Frauen aus von ihnen eingenommenen Bereichen wieder verdrängt wurden (z. B. aus der Informatik). Solche Prozesse eines Geschlechtswechsels von Berufen währen bis heute. So spricht man inzwischen z. B. von einer ‚Feminisierung‘ der Medizin, weil der Anteil der Studierenden weit über die 50%-Marke gerückt ist. Eine ähnliche Entwicklung gibt es auch in den juristischen Berufen. Das Interessante ist: Faktisch sind diese Berufsfelder inzwischen tendenziell ‚geschlechtsintegriert‘, d. h. der Anteil der Männer liegt zwischen 40 und 60%. In der Außen- und Binnenwahrnehmung aber scheinen steigende Frauenanteile nach wie vor bedrohlich zu sein, weil damit eine Entwertung (De-Professionalisierung) beruflicher Arbeit befürchtet wird (vgl. dazu auch Reskin/Roos 1990). Die Verschiebungen zeigen, dass das jeweilige Geschlechtslabel nicht an die konkreten Tätigkeiten gebunden ist, sondern Berufe und Berufsschneidungen (i. e. welche Tätigkeiten 25

Als segregierte Berufe gelten solche Berufe, in denen der Anteil des jeweils anderen Geschlechts unter 30% liegt. In einigen Studien wird die Grenze bei 20% gesetzt. Alle anderen Berufe gelten als integriert. Das Ausmaß der Segregation wird i. d. R. mit dem „Dissimilaritätsindex“ gemessen. Dieser gibt an, wie viele Frauen oder Männer den Beruf wechseln müssten, damit eine Gleichverteilung erreicht wird. Der Indexwert schwankt in den letzten Jahrzehnten um 5.8, d. h. es müssten 58 von 100 Frauen bzw. Männern den Beruf wechseln, um eine paritätische Verteilung herzustellen (vgl. dazu auch Achatz 2008, 115f.).

9.3 Geschlechterdifferenzierende Arbeitsteilung

281

zum Berufsprofil gezählt werden und welche nicht) vielmehr ein Ergebnis der oben skizzierten Vergeschlechtlichung (gendering) von Arbeit sind, die im Effekt dazu führt, dass diese Arbeit den Handelnden als ‚weiblich‘ oder ‚männlich‘ entgegentritt, von ihnen als solche wahrgenommen wird und erneut mit Leben gefüllt wird. Dieser Prozess kann sehr gut am Beispiel der Berufsfindung von Jugendlichen illustriert werden. Eine Berufsausbildung ist heute für beide Geschlechter selbstverständlich. Wer nicht in eine Berufsausbildung oder ein Studium eintritt, gilt als Problemfall. Waren Mädchen und Jungen in der Schule noch zusammen, so trennen sich die Wege der Geschlechter mit dem Eintritt in eine Berufsausbildung. Im Jahr 2010 verteilten sich über 75 Prozent der weiblichen Auszubildenden auf 25 Dienstleistungsberufe (BMBF 2011, S. 22). Sie ‚wählen‘ einen Frauenberuf, z. B. medizinische Assistenzberufe, Krankenpflege, Erzieherin, Friseurin, sowie verschiedene Verkaufs- und Büroberufe. Einige dieser Berufsabschlüsse werden in sog. „berufsqualifizierenden Vollzeitschulen“ erworben, für die es bei den ‚Männerberufen‘ kaum ein Äquivalent gibt, denn für diese wird überwiegend im sog. „dualen System“ ausgebildet (Krüger 2001). Junge Männer bewegen sich in einem erheblich breiteren Berufsspektrum, wobei ‚Männerberufe‘ noch stärker segregiert sind als ‚Frauenberufe‘, d. h. der Frauenanteil ist geringer als in Frauenberufen der Männeranteil. Dabei stellt die einmal eingeschlagene Richtung eine Weichenstellung für den gesamten Lebensverlauf dar (Born/Krüger 2001; Trappe/Rosenfeld 2001). Die jungen Frauen und Männer geben den von ihnen mehrheitlich gewählten Berufen also ihr Geschlecht, machen sie zu ‚Frauen-‘ oder ‚Männerberufen‘. Gleichzeitig aber validieren diese jungen Frauen und Männer die eigene Geschlechtszugehörigkeit durch die Berufswahl, denn diese findet ja auf der Grundlage des geschlechterdifferenzierten Arbeitsmarktes statt. Durch diesen werden Handlungsoptionen bereitgestellt, die entweder ergriffen oder aber dezidiert zurückgewiesen werden müssen. Eine Entscheidung ‚gegen den Strom‘ bedeutet, eine exponierte Position in einem Minderheitenstatus einzunehmen und einer Tätigkeit nachzugehen, die dem jeweils anderen Geschlecht zugerechnet wird. Vor dem Hintergrund des oben skizzierten Konstruktionsmodus im Verhältnis von Arbeit, Person und Geschlecht, demzufolge bei Frauen die Metapher der ‚Naturwüchsigkeit‘ zum Einsatz kommt, bei Männern dagegen die der ‚Kompetenz‘, gerät eine ‚falsche‘ Berufseinmündung u.U. zur Bedrohung des Geschlechtsstatus. Männer tendieren daher dazu, sich im Berufsleben stärker abzugrenzen als Frauen (vgl. z. B. Heintz 1997). Gerade in der Adoleszenz, in der auch die Berufsfindung stattfindet, ist der (mehr oder weniger implizite) Bezug auf die Gruppe der Geschlechtsgleichen wichtig. Für die Berufswahl kommt noch die Bekanntheit eines Berufs hinzu: Wen man in der sozialen Nahwelt in verschiedenen Berufen arbeiten sieht, stellt wichtige Weichen. Optionen gegen den Strom zu ergreifen, heißt dagegen, nicht der Normalform zu entsprechen und Grenzen auszutesten. Dabei erleben junge Frauen heute zwar, dass sie geradezu bewundert werden, wenn sie einen ‚männertypischen‘ Beruf erlernen, aber sie gehen davon aus, dass diese Berufswahl und die damit verbundenen Konnotationen (Techniknähe, Lärm- und Schmutzresistenz) sie potentiell in eine Außenseiterinnenposition bringen und mit einem Rechtfertigungs- und Begründungsdruck verbunden sind (Gildemeister 2009). Bis heute kommt es gerade in den Berufsfindungsprozessen immer wieder zu einer Re-Traditionalisierung im Verhältnis von Beruf und Geschlecht, über die sich auch die Differenz der Geschlechter herstellt, ohne dass die Handlungsträger merken, dass diese Differenz eine Folge der Differenzierung ist.

282

9 Die Vergeschlechtlichung sozialer Wirklichkeit

In populärwissenschaftlichen Ansätzen wird vielfach davon ausgegangen, dass die Entscheidung für frauentypische Berufe verknüpft ist mit Erwartungen, Familienverpflichtungen besser als in anderen Berufen entsprechen zu können (z. B. Hakim 1999). Das ist von den objektivierbaren Bedingungen wie Arbeitszeiten, Präsenzpflicht, Wiedereinstiegsmöglichkeiten etc. mehr als fraglich (vgl. Crompton/Harris 1999). Es setzt darüber hinaus voraus, Mädchen und junge Frauen würden bei der Berufswahl der Familienplanung entsprechenden Stellenwert einräumen. Dies ist nicht der Fall (vgl. Cornelißen/Gille 2005). Politische Programme, konventionellen Berufswahlen entgegen zu steuern (z. B. „girls day“, „Neue Wege für Jungs“ u. a.), zeigen bislang nicht viel Wirkung. Das hat unterschiedliche Gründe; einer davon ist, dass Geschlecht dort tendenziell überfokussiert wird und es ihnen i. d. R. nicht gelingt, Berufsfindung von der Geschlechtszugehörigkeit zu lösen und Zugang zur Person der Teilnehmenden zu finden (vgl. Schmid-Thomae 2012).

9.3.4

Organisationen: Gleichzeitigkeit von Gleichheit und Differenz

Die in Ausbildungsberufe, Branchen und (Teil)Arbeitsmärkte eingelassene und sie zugleich erzeugende Geschlechtertrennung verschärft sich noch einmal, wenn Organisationen in den Blick genommen werden (vgl. Achatz 2008, S. 122 ff.). Dass dort die gemessene Segregation höher als auf dem gesamten Arbeitsmarkt ausfällt, hat mehrere Ursachen. Der ‚Arbeitsmarkt‘ ist letztlich ein virtuelles Konstrukt, während Organisationen ganz praktische, räumlich manifeste Gebilde sind, in denen Arbeitsverträge, Arbeitsplätze und Tätigkeiten bestehen. Die meiste Berufsarbeit wird also erst in Organisationen konkret. Die Zuschneidung von Berufen lässt sich an Ausbildungsinhalten nachvollziehen, die in Form von Prüfungsordnungen, Curricula, Ausbildungsordnungen etc. geregelt sind. Innerhalb von Organisationen differenzieren sich Berufstätige aber nun nicht nur nach Berufen, sondern horizontal und vertikal nach Tätigkeitsbereichen, die sich in Stellenbeschreibungen niederschlagen. Bspw. sind „Controller“, „Managerin“, „Personalreferentin“ und „Assistent“ in den meisten (größeren) Erwerbsorganisationen zu finden, sie sind aber keine (Ausbildungs)Berufe, sondern Jobs bzw. Stellen. Zum Teil bedeutet das, dass Tätigkeiten quer zu Berufen liegen – in den vier genannten Tätigkeiten finden sich z. B. unterschiedliche kaufmännische oder akademische Ausbildungen wieder. Sie bedeuten aber häufig auch eine zusätzliche Untergliederung von Berufsausübungen (hier z. B. des/der Betriebswirt/in). Neben der sogenannten horizontalen Differenzierung sind Stellen in Organisationen auch vertikal differenziert, in denen Personen mit gleichen Berufen auf unterschiedlichen Positionen sitzen (und dann ist es empirisch seltener die Managerin mit dem Assistenten). Eine Ursache der höheren Segregation ist also, dass zusätzlich dazu, dass berufliche Segregationen in Organisationen hineingetragen werden (denn dort ‚entstehen‘ keine neuen Ingenieurinnen gegenüber dem Arbeitsmarkt), die organisationale Arbeitsteilung kleinteiliger ist als die gesamtgesellschaftliche. Unterschiedliche Stellen/Arbeitsplätze sind innerhalb desselben Berufsprofils mit unterschiedlichen Privilegien ausgestattet. Hier können die gleichen Prozesse, die bei der Vergeschlechtlichung von Berufen eine Rolle spielen, nun also noch zusätzlich auf Arbeitsstellen Auswirkungen haben: •

Nicht nur in der vertikalen Segregation, sondern auch die in der sogenannten horizontalen Segregation differenzierten Tätigkeitsbereiche können mit unterschiedlichem Status versehen sein. Statuszu- oder -abwanderungen, die zu einer Vergeschlechtlichung von Berufen beitragen, können in Hinsicht auf Stellen und Tätigkeitsbereiche in Organisatio-

9.3 Geschlechterdifferenzierende Arbeitsteilung

283

nen noch einfacher und zügiger Effekte zeitigen, weil hier die bei Berufen vorgeschalteten formalen Ausbildungen wegfallen. • In Organisationen werden nicht nur Arbeit, sondern vor allem Arbeitende konkret wahrnehmbar und sichtbar. Spielt schon in der Ausbildungswahl die Sichtbarkeit von gleichgeschlechtlichen Berufsausübenden eine zentrale Rolle, so drängt sich in Organisationen die Sichtbarkeit des Personals geradezu auf und signalisiert den Arbeitskräften, ob sie in einen Bereich ‚passen‘. Dies gilt sowohl in Hinsicht auf horizontale Segregationen, also z. B. auf Team- oder Werkshallenebene, als auch in vertikaler. Ely (1995) zeigt bspw. auf, dass bei Mitarbeiterinnen eine Orientierung ‚nach oben‘ umso unwahrscheinlicher ist, je weniger Führungskräfte gleichen Geschlechts in der Organisation sind. Die zweite Ursache höherer Segregation liegt in der Ambivalenz ‚rationaler‘ Rekrutierungsprozesse und des normativen Person-Stelle-Passungsverhältnisses. Bei Organisationen – anders als bei der Berufsfindung – sind Andere an Entscheidungsprozessen unmittelbar beteiligt. In die eigene Berufsfindung spielen zwar viele Einflüsse anderer hinein; die Entscheidung für welche Ausbildung sich eine Person bewirbt, fällt aber letztlich eben diese Person. Sobald aber Organisationen ins Spiel kommen, kommen dann andere Entscheidungsträger zum Zug (bspw. ob die Bewerbung angenommen wird). Bei Headhunting oder Beförderungen kann sich das sogar soweit umdrehen, dass der wichtigste Teil der Entscheidung ohne die Person abläuft, um die es geht. So kann sie z. B. oft kaum aktiven Einfluss darauf nehmen, für eine Beförderung vorgeschlagen zu werden. Für diese Rekrutierungsprozesse gilt die in sich problematische Norm: Stellenbesetzungen und Beförderungen sollen ‚rational‘ erfolgen. Als rational gilt es, die beste Person für die Stelle zu erhalten. Dabei werden einerseits explizit askriptive Merkmale wie Geschlecht, Ethnizität, Hautfarbe, (sexuelle) Attraktivität, Körpergröße, Religion, soziale Herkunft usw. als irrationale Kriterien und als dysfunktional abgelehnt. Gleichzeitig können diese Kategorien jedoch hinterrücks wieder herein kommen, da auf ein Passungsverhältnis zwischen Stelle und Person abgehoben wird. Die zur Stelle ‚passende Persönlichkeit‘ liegt aber nicht wie die formale Qualifikation als Zertifikat vor. Sie muss vielmehr aus den Bewerber/innen irgendwie ‚herausgelesen‘ bzw. in sie hinein interpretiert werden. An dieser Stelle kann Geschlecht implizit relevant werden. Zum einen bietet sich ein Abgleich mit der vorherigen Stellenbesetzung an – eine ‚ähnliche‘ Persönlichkeit zu haben, wird eher Personen unterstellt, die das gleiche Geschlecht wie der/die Vorgänger/in haben. Zum zweiten können sich Stereotype einschleichen (Wilz 2002). An dieser Stelle kann dann auch wiederum die eingangs aufgeführte Geschlechterdifferenzierung zwischen kompetenzbasierter Berufsarbeit und ‚naturhaft‘ gegebenen Fähigkeiten greifen. Das bedeutet dann, dass Männern eher sachliche Distanzierung und Leistungsorientierung zugeschrieben wird und damit das Potential sich auch in neue Aufgaben und Herausforderungen einzuarbeiten – also Karriere zu machen. Die immer neue Herstellung von Segregation trotz Gleichheitsbekundung hat so auch damit zu tun, dass die Wahrnehmung und Bewertung von ‚Leistung‘ nicht allein durch sachlogische Kriterien bestimmt wird, sondern die Geschlechtszugehörigkeit jenseits des Sach- und Zweckbezuges beruflichen Handelns doch wieder zum Tragen kommt. Diese Wahrnehmung wird auch durch die Form der Darstellung beeinflusst, etwa durch „impression management“ (Goffman; Kap. 4.4.3) im Kontext der jeweiligen Organisation. Im „impression management“ kann Geschlecht zu einer bisweilen spielerisch inszenierten oder auch strategisch verwendeten symbolischen Ressource werden, die eigene Leistung ins rechte Licht zu setzen

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9 Die Vergeschlechtlichung sozialer Wirklichkeit

und gleichzeitig den nach Geschlecht differierenden Erwartungen Genüge zu tun. In beiden Dimensionen öffnet sich ein Einfallstor für alte und neue Segregationen. Unterschiedliche Studien untersuchen, welche Rahmenbedingungen den Einfall von Geschlechterstereotypen befördern und welche ihn tendenziell verhindern. Grundsätzlich gilt, dass auf Stereotype eher als Notlösung zurückgegriffen wird, wenn andere Auswahlkriterien nicht hinreichend zwischen den Bewerbungen differenzieren. Offene Diskriminierung findet immer seltener statt, vielmehr hat sich eine Egalitätsnorm in Organisationen eingebürgert – auch wenn sie nicht selten noch ein unerfüllter „Egalitätsmythos“ ist (Funder et al. 2006). In dem Nebeneinander von Differenz und Gleichheit stellen Männer die Norm bzw. ‚das Neutrale‘ dar, das durch Frauen kontrastiert wird. Durch Frauen ist die Trennung zwischen Beruf und Privatem in Organisationen der Erwerbsarbeit erst sichtbar geworden. Nur vor dem Hintergrund, dass Männer als Norm gelten, werden nun an Weiblichkeit geknüpfte körperliche und persönliche Bedürfnisse, Familienpflichten etc. überhaupt als organisationsrelevante Themen gefasst und können daher ‚familienfreundliche Maßnahmen‘ als Beitrag zur Gleichstellung erscheinen (Nentwich 2004; Hericks 2011). Ein wichtiger und häufig untersuchter Faktor für die (Re)Produktion von Stereotypen ist die Minderheitensituation. Die erste Untersuchung hierzu stammt von Rosabeth M. Kanter (1977), die den Begriff des „Tokenism“ hierfür prägte. Zwischen einer Mehrheit und einer Minderheit werden über mehrere Schritte Grenzen gezogen („boundary hightning“), die die Unterscheidung herbeiführt und sozial bedeutsam werden lässt. Das Verhalten der einzelnen Mitglieder der Minderheit ist wesentlich sichtbarer als das der einzelnen Mitglieder der Mehrheit („visibilty“), und unterliegt daher auch eher Beurteilungen, die dann inhaltlich gefüllt werden, indem das ‚fremde‘ Verhalten dem eigenen entgegengesetzt dargestellt wird („polarization“). Darüber werden zwei jeweils in sich homogene und einander ausschließende Gruppen konstruiert. Die Mitglieder der Minderheit werden nun zu ‚Tokens‘, das heißt zu Stellvertretungen für die Gruppe der ‚Anderen‘ gemacht. Letzten Endes können sich die Mitglieder der Minderheit diesem Bild, das von ihnen erstellt wird, nicht entziehen („assimilation“). Dies kann je nachdem, welche Gruppe die Minderheit ist, positive oder negative Effekte haben. Statushöhere Gruppen (wie Weiße oder Männer) werden eher mit positiven Vorurteilen konfrontiert, z. B. Männer in der Krankenpflege, denen „mehr Professionalität“ zugeschrieben wird (Heintz et al. 1997, S. 108 ff.). Statusniedrige Gruppen werden eher mit negativen Zuschreibungen zu kämpfen haben – z. B. Ingenieurinnen, denen von ihren männlichen Kollegen zwar nicht der Sachverstand jedoch das nötige „Gefühl“ für die technischen Geräte abgesprochen wird (Cockburn 1988, S. 193 ff.). Auch dann, wenn formell gilt, dass allein Qualifikation zählt und Geschlecht keine Rolle spiele, müssen die Akteure mit der unübersehbaren Geschlechtszugehörigkeit der eigenen und der anderen Person einen Umgang finden. Für Frauen in Männerdomänen bedeutet das, paradoxe Anforderungen zu bewältigen: Sie müssen zunächst einmal den Erwartungen an ihre Geschlechtszugehörigkeit nachkommen, um sie dann in ihrem beruflichen Handeln zurücktreten lassen zu können. Tun sie das nicht, werden sie diskreditierbar; sie gelten als für den Aufstieg im Unternehmen ungeeignete ‚falsche‘ Frauen oder „verkleidete Männer“ (Gildemeister et al. 2003, S. 56; vgl. auch Schlamelcher 2011, S. 297 f.).26 26

Ein sehr anschauliches Beispiel für die heikle Balance von „doing“ und „undoing gender“ (vgl. Kap. 9.6) liefert auch Regina Halmich, mehrfache Weltmeisterin im professionellen Boxen, einer traditionell mit Männlichkeitsattributen belegten Sportart. In ihren öffentlichen Auftritten hat sie stets ihre weibliche Geschlechts-

9.3 Geschlechterdifferenzierende Arbeitsteilung

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Zunehmend werden die Probleme, die sich aus einer Minderheitenposition ergeben, auch von Männern thematisiert, dann etwa, wenn sie als Erzieher im Kindergarten arbeiten und von Müttern und Kolleginnen auf ihre „männlichen“ Aufgaben festgelegt werden (Kraft und Autorität einsetzen, Disziplin durchsetzen, männliches Vorbild abgeben). Haben sie diesen Beruf jedoch gerade deshalb gewählt, weil sie dem Modell hegemonialer Männlichkeit nicht entsprechen wollten, dann finden sie sich in der schwierigen Situation wieder (Sargent 2005), in der Frauendomäne mit ihrer Kompetenz auch ihre Männlichkeit aberkannt zu bekommen. Vor allem in (großen) Organisationen findet sich bis heute eine (vertikale) Segregation, in der Männer hochrangige Positionen einnehmen, während in den dienenden und zuarbeitenden Funktionen Frauen arbeiten, über die Goffman Ende der 1970er Jahre schrieb, dass sie in der Regel „jünger und attraktiver sind, als es eine Zufallsauswahl ergeben würde“ (Goffman 1994 [1977], S. 136). Gerade Organisationen stehen inzwischen unter hohem öffentlichen Druck, diese Geschlechterungleichheit abzubauen. Vor dem Hintergrund einer faktischen Angleichung in den Qualifikationen und Kompetenzen von Frauen und Männern und sogar einem ‚Überholen‘ von Mädchen bei Bildungsabschlüssen ist in Organisationen der Erwerbsarbeit eine offene Konkurrenz zwischen Männern und Frauen möglich geworden – diese offene Konkurrenz ist ein historisch neues, aber aktuell durchgängig präsentes Phänomen und mit ihm wird sich in Arbeitsteilungen noch sehr viel ändern.

9.3.5

Verflechtungen

In den letzten Jahrzehnten sind im Zuge vielfältigen sozialen Wandels die Geschlechtergrenzen durchlässiger geworden. Dennoch ist ein weites Spektrum sozialer Ungleichheit erhalten geblieben. Trotz und z. T. sogar wegen der Gleichstellung hat das „Gleichheitstabu“ kaum an Bedeutung verloren: Jede Gleichstellungsarbeit ist mit dem grundlegenden Dilemma konfrontiert, dass sie einerseits an empirischen Geschlechterungleichheiten und damit an der in die alltägliche Praxis eingelassenen Unterscheidung von Männern und Frauen ansetzen muss, andererseits sie eben diese Differenzierung nach Geschlecht hinterfragen und darauf abzielen sollte, die Differenzierung sozial bedeutungslos werden zu lassen. Letzteres aber ist dann nicht möglich, wenn der spezifische Modus der sozialen Konstruktion von Geschlecht in seinen Tiefenschichten erhalten bleibt, i. e. eine symbolische Ordnung, in der die soziale Klassifizierung zu einer der ‚Natur‘ wird. Deren Kern wiederum ist eine Naturalisierung der heterosexuellen Paarbeziehung und ein Verständnis von „Familie“ als Zentrum des „Privaten“ und Gegenpol zur Erwerbsarbeit (vgl. Kap. 9.1.2). Heute würde es niemandem mehr einfallen, diesen Bereich des Privaten als ‚Nicht-Arbeit‘ zu kennzeichnen; es gilt vielmehr die Unterscheidung von bezahlter und unbezahlter Arbeit. Geblieben ist die ungleiche Verteilung der unbezahlten Arbeit zwischen Männern und Frauen, die sich unter anderem in einer Tendenz zur Teilzeitbeschäftigung von Frauen niedergeschlagen hat. Diese ungleiche Verteilung ist in viele gesellschaftliche Abläufe und Funktionslogiken von Institutionen, wie Kindergärten, Schulen, Krankenhäuser oder Bürgerämter auch eingebaut: Stets wird unterstellt, dass eine Person zu Hause ist, die sich „kümmert“ (vgl. Krüger 2001). Das müssen keine Frauen sein – es wird jedoch nach wie vor eher erwartet und auch so gelebt. Nicht die Diffezugehörigkeit betont, etwa indem sie sich im Boxring in kurzem Flatterröckchen und knappem, glänzend goldenem Oberteil sehr ‚sexy‘ präsentierte und im Interview mit Freund als heterosexuell und familienorientiert. Im Ring aber wurde von Kommentatoren das präzise harte Zuschlagen und ihr aggressives Angriffsverhalten gelobt und positiv hervorgehoben, Verhaltensweisen, die klassisch Männern zugeschrieben werden.

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9 Die Vergeschlechtlichung sozialer Wirklichkeit

renz der Geschlechter, sondern diese ungleiche Verteilung unbezahlter Arbeit ist es, die das Problem der Vereinbarkeit als ein Problem von Frauen erzeugt und darin wiederum auf den zugrunde liegenden Modus der sozialen Konstruktion von Geschlecht verweist. Dabei ist der Veränderungsdruck sowohl in der Erwerbsarbeit als auch im Bereich privater Lebensformen groß. Inwieweit sich hier ein Prozess der „Entgrenzung“ von Arbeit und Leben (Jurzcek 2008) vollzieht, das Verhältnis sich sogar dahingehend umkehrt, dass „die Firma zum Zuhause wird und zu Hause nur Arbeit wartet“ (Hochschild 2002, Untertitel), das ist bislang nicht abschließend zu beurteilen. Trotz vieler Hochglanzbroschüren zur „work-lifebalance“ werden tendenziell immer noch solche Arbeits- und Lebensstile belohnt, in denen das ‚Private‘ der Erwerbsarbeit einfach dadurch nachgeordnet wird, dass ihm sehr viel weniger Zeit eingeräumt wird. Diese Option steht deutlich häufiger Männern offen und wird auch deutlich häufiger von Männern gewählt – allerdings werden hier auch andere Differenzen relevant: Schicht, ethnische Zugehörigkeit und Alter, die in Kombination mit Geschlecht ein hochgradig differenziertes Bild des Zusammenhangs von Arbeit und ‚Leben‘ ergeben.

9.4

Prozesse der Naturalisierung

9.4.1

Körper

Die Frage, der sich dieses Buch widmet – wie Geschlecht soziologisch gefasst wird und werden kann –, beinhaltete immer eine Grenzziehung zwischen dem, was als unveränderlich gegeben und dem, was als sozial und kulturell variabel gesehen wurde. Dabei haben wir gezeigt, wie sich die Grenze von ‚Gott-gegebenem‘ zur ‚Natur der Sache‘ verschob. Schon die Klassiker bemühten sich um eine Entnaturalisierung des Sozialen auch in Hinsicht auf Geschlecht. Doch bis hin zum sex-gender-Modell unterlag den Konzepten zumeist ein latenter Biologismus. Mit den Konstruktionstheorien haben wir Ansätze an der Hand, die Geschlecht gänzlich ohne naturale Elemente thematisieren und stattdessen die kulturelle Deutung von ‚Natur‘ in den Prozess sozialer Konstruktion hinein holen. Im Alltagsdenken wird vor allem bei den Themen Körper, Sexualität und Fortpflanzung nach wie vor davon ausgegangen, dass die Geschlechterdifferenz der Natur zuzuordnen ist. Wir haben – so glauben wir – zwei körperlich verschiedene Geschlechter, die unterschiedliche sexuelle Ausstattungen haben, so dass ein Mann und eine Frau zusammen zur Kinderzeugung notwendig sind. Die Eizelle und das Spermium, die zur Fortpflanzung notwendig erscheinen, sind in diesem Denken die unhintergehbare natürliche Bedingung von Geschlecht. Sie erscheinen als eine unumstößliche Erklärung für die Naturhaftigkeit von Geschlecht, selbst dort, wo die sozialen Auswirkungen – z. B. unterschiedliche Zuschreibungen kognitiver Fähigkeiten, vermeintlich psychologische Unterschiede etc. – heutzutage nicht mehr in dieser ‚Natur‘ verortet werden. Dieses Denken ist einerseits so selbstverständlich, dass selbst in der Geschlechtersoziologie die Themen Körper, Sexualität und Fortpflanzung in ihrem Kern häufig den Naturwissenschaften überlassen werden. Zugleich schimmert hier die Parallele zur sex/gender-Trennung auf: Wenn Menschen in Eizellen- oder Spermienproduzierende getrennt werden mit der Begründung, dass die Fortpflanzung nun mal beim Menschen nur ‚zweigeschlechtlich‘ funktionieren könne, dann ist auch hier der Verdacht eines latenten Biologismus angebracht. Wir wollen uns diesem Thema aus zwei Richtungen annähern: In der einen Richtung werden wir wissenschaftskritische Analysen zur naturwissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung vorstel-

9.4 Prozesse der Naturalisierung

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len. In der zweiten Richtung weiten wir bestehende soziologisch-konstruktionstheoretische Ansätze dahingehend aus, dass wir fragen, wie Körper, Sexualität und Fortpflanzung im sozialen Raum Bedeutung bekommen, denn wir erleben Eizellen, Spermien oder Chromosomen ebenso wenig wie Gallenbläschen, den Hades, Einhörner oder Gott. Wissenschaftliche Konstruktionen biologischer Zweigeschlechtlichkeit Seit den späten 1980er und frühen 1990er Jahren wurden in den ‚Life Sciences‘ (Medizin, Biologie, Paläontologie, Biochemie usw.) feministisch-kritische Studien vorgelegt, die aufzeigten, dass dem sozial geteilten Verständnis einer ‚natürlichen Zweigeschlechtlichkeit‘ naturwissenschaftliche Belege fehlen. Vielmehr sind die Forschenden in den Naturwissenschaften an der sozialen Konstruktion von Geschlecht und an Naturalisierungen ihres Alltagsglaubens beteiligt (vgl. Kap. 7.1.2 sowie Fox-Keller 1986; Fausto-Sterling 1988; Haraway 1989; Martin 1987; Honegger 1991; Laqueur 1992; Schiebinger 1995 u. v. m.). Der Objektivitätsanspruch der Naturwissenschaften beruht in erster Linie auf der Reproduzierbarkeit der Ergebnisse von Beobachtung und Experimenten. Der Versuchsaufbau vorab sowie die Interpretationen im Anschluss sind jedoch geleitet von Theorien und Interessen: „Einschlüsse und Auslassungen, Interpretationen und Verallgemeinerungen sind keine Wahrheiten, sondern Entscheidungen im Forschungsprozess“ (Schmitz/Ebeling 2006, S. 13). Die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse sind so vom sozialen und moralischen Kontext ihrer Entstehung beeinflusst und beschränkt. Das hatte bereits Viola Klein aufgezeigt (vgl. Kap. 3.4.4). Vor allem Foucault hat darauf hingewiesen, dass sie als wissenschaftliche Diskurse wieder auf das Alltagsdenken zurückwirken (vgl. Kap. 7.3.1). Heutzutage gehört bspw. die ‚naturwissenschaftliche Tatsache‘ zur Allgemeinbildung, dass die ‚letzte Instanz‘, an der sich entscheidet, welches der zwei Geschlechter ein Mensch ‚wirklich‘ (also z. B. auch konträr zu den sichtbaren Genitalien) hat, der Chromosomensatz XX oder XY sei. Diese einander gegenüber gestellten Buchstabenkombinationen sind längst so alltägliche Symbole für die Geschlechtszugehörigkeit geworden, dass sie als Toilettenschilder eine irritationslose Zuordnung ermöglichen könnten. Das in die Wissenschaft hineingetragene Alltagsdenken wirkt in den Alltag nun in der modifizierten Form als ‚naturwissenschaftliche Erkenntnisse‘ zurück und stattet so Diskurse doppelt mit Legitimität aus. Zum einen ist die Legitimität eine Folge der Deutungsmacht der Naturwissenschaften. In unserer sozialen Wirklichkeit ist seit der Aufklärung der Rekurs auf die unmanipulierte Natur an die Stelle des Willen Gottes gerückt (vgl. Kap. 2.1.4). Zugleich sind die Diskurse aber dadurch legitimiert, dass die wissenschaftlichen Diskurse anschlussfähig an das alltägliche Denken sind, da sie ihm entstammen. Ein (wissenschaftliches) Ergebnis, das dem Alltagsverstand nicht logisch erscheint und der vorherrschenden Moral widerspricht, wird eher als ‚falsch‘, ‚ideologisch verzerrt‘ und/oder ‚unwissenschaftlich‘ angezweifelt, als eines, welches das alltägliche Denken bestätigt, wie gerade die Geschlechterforschung zur Genüge feststellen muss. Die Kompatibilität mit dem (wissenschaftlichen) Mainstream bzw. den herrschenden (Lehr)Meinungen ist schon innerhalb der Wissenschaften eine wesentliche Voraussetzung für den Erfolg einer Erkenntnis. Sie spielt aber noch mehr für die Rezeption durch populärwissenschaftliche Medien eine wichtige Rolle, da diesen Handhabe und Kenntnis wissenschaftlicher Überprüfbarkeit fehlen.27 27

Beispielsweise ist es aktuell im Alltagsdenken verbreitet, Geschlechterunterschiede mit vermeintlich „geschlechtsspezifisch konstituierten“ Gehirnen zu rechtfertigen (Voss 2010, S. 232). Eine Studie, die solche Un-

288

9 Die Vergeschlechtlichung sozialer Wirklichkeit

Die Reproduktion von zwei und nur zwei Geschlechtern, so weist H. Voss auf, ist für die gesamte westliche Kulturgeschichte in naturphilosophischen und -wissenschaftlichen Betrachtungen ein entscheidender roter Faden, auch wenn es zu jeder Zeit alternative Entwürfe gab. Auch bei aktuellen Forschungen zeigen wissenschaftskritische Studien auf, wie in Theoriebildungen, Forschungsansätzen und -förderungen auch dann zweigeschlechtliche Modelle favorisiert wurden und werden, wenn neuere Erkenntnisse eine Abkehr von simplifizierenden, dichotomen (und statischen) Modellen deutlich nahe legen. Auch die neue, vermeintlich klare, dichotome und leicht zu merkende Begründung, dass ‚geschlechtsspezifische‘ Chromosomen mit dem simplen Schema von XX und XY der Zweiteilung zugrunde liegen, hält einer Überprüfung nicht stand. Eine kritische Betrachtung des aktuellen Forschungsstandes zur genetischen Geschlechtsentwicklung weist vielmehr auf, „dass sich ‚Geschlecht‘ individuell und im Vergleich mehrerer Individuen vielgestaltig ausprägt“ (Voss 2010, S. 319). Für weitere Dimensionen der Geschlechtsbestimmung gilt ähnlich, dass Geschlecht eher als „Kontinuum ohne festgelegte Grenzen“ erfasst werden kann (Schmitz/Ebeling 2006, S. 22). Die sozial zu verstehenden Diskurse der „Life Sciences“ wirken jedoch nicht nur als Vorstellungen über die Beschaffenheit der Welt in die soziale Wirklichkeit zurück, sondern auch als Praktiken. Bei Mensch, Tier und Pflanze werden ihre Erkenntnisse, z. B. in der Landwirtschaft, bei der Ernährung oder medizinischen Behandlung angewandt. So werden beispielsweise naturwissenschaftliche Vorstellungen von exklusiver Zweigeschlechtlichkeit durch chirurgische Manipulationen und Hormonbehandlungen bei Trans- und Intersexuellen praktisch sozial wirksam. Der medizinisch-operative Eingriff erfolgt im Falle der Intersexualität i. d. R. bereits an Neugeborenen und das heißt ohne deren Zustimmung. Eine Operation ohne Zustimmung der Betroffenen ist jedoch nur dann gesetzlich zulässig, wenn sie einer ‚Heilung‘ dient. Im Falle der ‚Behandlung‘ von Intersexualität ist dies nicht damit begründbar, dass Intersexualität eine Beeinträchtigung der Gesundheit darstelle – dies ist nur in sehr wenigen Fällen überhaupt ein mögliches, späteres Risiko. Zudem zeitigen Operationen und hormonelle ‚Behandlung‘ häufig sogar negative Effekte für Gesundheit und Sexualempfinden. Auch eine potentielle Beeinträchtigung späterer Fortpflanzungsfähigkeit kann durch eine frühzeitige Operation nicht verhindert werden. Die Begründung für die Operation folgt also nicht den gängigen Auslegungen des Begriffs ‚Heilung‘, sondern einer ‚Sonderregel‘, die sich vor allem darin begründet, dass diejenigen, deren Verhalten durch das Gesetz geregelt wird, die Grundlagen dieses Gesetzes selber bestimmen: Die Berechtigung einer medizinischen Behandlung wird durch die medizinische Definition von Intersexualität als vermeintliche ‚Störung‘ legitimiert (vgl. Lang 2006, S. 238; Klöppel 2010). Diese Einordnung als „Störung“ ist aber eben nicht medizinisch, sondern soziologisch bzw. diskursanalytisch als Prozess der „Normalisierung“ und „Normierung“ (Foucault) erklärbar. Grundlage ist eine statistische Verteilung: z. B. haben mehr Menschen mit Labien einen Uterus, als Menschen, deren Labien zu einem Skrotum zusammengewachsen sind. Aus dieser statistischen Verteilung des mehr/weniger – und nicht des entweder/oder – werden dann ‚Normalfälle‘ konstruiert. Alle diejenigen körperlichen Phänomene, die häufiger miteinander auftreten, werden zu einer Klasse zusammengefügt. Sie bekommen dann das Label ‚männliterschiede als ‚biologisch gegebene‘ zu belegen scheint, ist eine psychologische Studie von Baron-Cohen et al. (2000). Bereits Neugeborene sollen demzufolge nach Geschlecht unterschiedliche soziale oder technische Interessen aufweisen. Diese Studie wurde und wird in vielen Medien, wie z. B. der New York Times oder dem Guardian zitiert (Walter 2011), obwohl sie an dem Maßstab naturwissenschaftlicher Objektivität scheitert: In Studien anderer Forschenden ließen sich ihre Ergebnisse nicht reproduzieren (Spelke 2005).

9.4 Prozesse der Naturalisierung

289

che‘ oder ‚weibliche‘ Geschlechtsteile. Dadurch wird das gleichzeitige Auftreten aller Körperphänomene, die das gleiche Label tragen, zur ‚Normalität‘, sie scheinen ‚logisch‘ zusammenzugehören. Die Normalität wird sozial, moralisch (z. B. ‚richtig‘ und ‚gut‘), ästhetisch (z. B. ‚harmonisch‘) etc. aufgeladen und darüber zur ‚gesunden‘ Entwicklung erklärt (Klöppel 2010, S. 100 ff.). Diese Normalisierung ist nicht universell, so wird bspw. in Indien oder Australien neben „male“ und „female“ auch ein drittes Geschlecht behördlich anerkannt: „other“ bzw. „X“. Im Februar 2012 hat der deutsche Ethikrat auf eine Anfrage der Bundesregierung auch für Deutschland die Anerkennung eines dritten Geschlechts empfohlen. Die Herstellung von Bewertungsmaßstäben ist neben der Zweiteilung der Gattung das andere Element, das durchgängig unsere westliche Naturbetrachtungen prägt. Unabhängig vom Erklärungsmodell wurde und wird ‚Weibliches‘ als un(ter)entwickelt gegenüber ‚Männlichem‘ dargestellt. Über die Jahrhunderte hinweg wurde diese Annahme nach und nach, z. B. für ‚weibliche‘ Körper, Skelette, Genitalien, Keimdrüsen, Eizellen/Spermien, Hormone, Gehirne und Gene aufgestellt, überprüft und musste letztlich immer wieder revidiert werden. Diese Abwertung, ‚Weibliches‘ sei gegenüber dem ‚Männlichen‘ in der Entwicklung zurückgeblieben, finden wir auch aktuell noch in verschiedenen Hinsichten. Beispielsweise wurde bis zu den 1990er Jahren davon ausgegangen, dass die genetische Entwicklung weiblicher Embryonen in diesem Stadium verharre, sich nur die männlichen weiterentwickelten (Voss 2010, S. 308 ff.). Und wir finden diese Entwicklungsdifferenz in normativen KörperKonzepten wie Schönheitsidealen reproduziert: eine ‚Verkindlichung‘ von Frauen – Körperformen und Gesichtszüge sollen denjenigen von Mädchen zu Beginn der Pubertät entsprechen – einerseits und eine ‚volle Entwicklung‘ zum erwachsenen, ‚reifen‘ Mann andererseits (Zurstiege 1998, S. 150 ff.; vgl. auch Degele 2004). Die Annahmen einer ‚höheren Entwicklung‘ aller als männlich klassifizierten körperlichen und sozialen Phänomene dien(t)en der Begründung, als ‚aktiver‘, ‚stärker‘, ‚besser‘ zu gelten. So waren sich in der Antike widersprüchliche Theorien darin einig, dass zwar Frauen und Männer Samen hätten, der ‚weibliche‘ jedoch unterentwickelt und dem ‚männlichen‘ unterlegen sei, weswegen es nicht zu einer Selbstbefruchtung kommen könne, sondern der stärkere männliche Samen zur Kindererzeugung benötigt werde (Voss 2010, S. 84 f.). Das Risiko der Selbstbefruchtung wurde im Laufe der Jahrtausende ausgeschlossen und es kam 1827 zur Entdeckung der Eizellen. Statt der unterschiedlich starken Samen – je nach theoretischer Position hatten Männer entweder den einzigen fruchtbaren oder zumindest den überlegeneren – wurden nun also zwei gleichermaßen notwendige Bestandteile zur Fortpflanzung angenommen. Die Gleichberechtigung, die man hieraus hätte ableiten können, wurde jedoch wieder konterkariert. Befruchtung wurde nun im Sinne der Eroberung einer Frau durch einen Mann beschrieben: Eine aktive und gegenüber den anderen Konkurrenten ‚siegreiche‘ Samenzelle dringt in eine passive Eizelle ein (vgl. Martin 1991). Bei allen Schwankungen und Widersprüchen im Laufe der Jahrtausende, wurde also in der westlichen naturphilosophischen/-wissenschaftlichen Betrachtung 1. das Muster der Zweiteilung von Geschlecht gegenüber durchaus gegebenen, konkurrierenden Deutungen stets bevorzugt, auch wenn z. B. zu Beginn des 20. Jahrhunderts vor allem Sexualwissenschaftler für die Einführung ‚sexueller Zwischenstufen‘ bzw. eines dritten Geschlechts plädierten, um der Vielfältigkeit sexuellen Begehrens und sexuellen Verhaltens gerecht zu werden (z. B. Hirschfeld 1918);

290 2. 3.

9 Die Vergeschlechtlichung sozialer Wirklichkeit stets eine Legitimation der Ungleichheit zwischen Männern und Frauen gleichen Standes (!) in sie hineingelesen – auch wenn die Reichweite der Unterschiede historisch variabel war; und eine Entwicklung von makroskopischen Erklärungsmodellen zu mikroskopischen vollzogen, d. h. die körperlichen Phänomene, an denen eine v. a. vertikal differenzierte Zweigeschlechtlichkeit festgemacht wird, wurden zunehmend den Blicken aller entzogen und auf nur noch mit (Elektro)Mikroskopen erkennbare und damit von Experten beurteilbare Phänomene beschränkt. Auf diese Weise wurde Kritik an der naturwissenschaftlichen Konstruktion von Zweigeschlechtlichkeit und Ungleichheit zunehmend erschwert (Voss 2010, S. 235).

Körper als Handlungsträger – soziale Verkörperungen von Geschlecht Stefan Hirschauer hat die verschiedenen Theorien zum Verhältnis von Körper und Gesellschaft danach unterteilt, ob in ihnen Gesellschaft ‚auf‘, ‚in‘ oder ‚durch‘ den Körper geschrieben werde (Hirschauer 1994, S. 673). Die wissenschaftskritischen Betrachtungen, die wir oben vorgestellt haben, zeigen auf, wie wissenschaftliche Theorien Erklärungsmodelle konstruieren, mit denen sie moralische, politische, insgesamt alltagsweltliche Vorstellungen auf den Körper schreiben, die sie von ihm vermeintlich nur abgelesen haben – so, wie wir an den Genitalien die Geschlechtszugehörigkeit abzulesen meinen. Garfinkel, Goffman, Foucault, Elias, Bourdieu u. a. entwickelten Konzepte, wie sich gesellschaftliche Prozesse in Körpern manifestieren. Verhaltensregeln, Normen, Idealvorstellungen werden so inkorporiert, dass sie uns als ‚natürlich‘ und ‚angeboren‘ erscheinen. Dass Geschlecht in den Körper ‚eingeschrieben‘ ist, zeigt sich an körperlichen Routinen, wie ‚weiblichen‘/‚männlichen‘ Gangarten, Sprechgeschwindigkeiten, Gesichtszügen und -ausdrücken, Körperformen, ihrer Herstellung (v. a. durch Kleidung) etc. Sie reduzieren erheblich Unsicherheiten im Entziffern für erwachsene, vollsozialisierte und geübte Mitglieder dieser Gesellschaft. Zugleich geben sie uns Sicherheit für die Darstellung. Diese körperlichen Routinen sind es, mittels derer wir wiederum Geschlecht durch den Körper schreiben. Unsere Verkörperungspraxis von Geschlecht ist so ‚eingefleischt‘, dass daraus eine zugleich ‚selbstvergessene‘ und wirkmächtige Darstellungsmöglichkeit erwächst (vgl. Hirschauer 2008): 1. Wie die Biographie (vgl. Kap. 9.1.2) wirkt der Körper als ‚Gedächtnis‘ – was in ihm an Routinen, aber auch an ihm (z. B. als ‚gestählte‘ oder ‚weiche‘ Figur, als ‚zarte‘ oder ‚wettergegärbte‘ Haut) gespeichert ist, muss im Gegensatz zur Handlung oder zum Text nicht mehr aktiv hervorgebracht werden. 2. Der Köper wirkt als ein ‚Display‘, das parallel zur sprachlichen Informationsvermittlung kommunizieren kann. Dieses Display ist – sobald wir vis-a-vis sind – stets ‚an‘ und daher ‚ablesbar‘ (Hirschauer 2008, S. 980). Dies gilt auch für die Akustik: eine ‚weibliche‘ oder ‚männliche‘ Stimme hält das Geschlecht ‚vor Ohren‘, ohne dass man es z. B. über Geschlechtstitel (Herr/Frau) benennen oder daran erinnern müsste. 3. Gegenüber einer Erzählung hat der Körper zusätzlich den Vorteil eines höheren ‚Wahrheitsanspruchs‘. Wie bei der biblischen Geschichte des ungläubigen Thomas, kann für uns das Sichtbare und vor allem auch das gegenständlich Ertastbare im Gegensatz zu dem Erzählten keine Lüge und wesentlich weniger eine Täuschung sein. Die Verkörperung von Geschlecht ist nicht nur eine Aufgabe, wenn die Genitalien im Alltag unsichtbar und irrelevant sind. Auch bei nackten Körpern und damit sichtbaren Genitalien sind es körperliche Praxen, die Genitalien erst geschlechtlich aufladen und so ein Körperge-

9.4 Prozesse der Naturalisierung

291

schlecht herstellen. Ein häufiger Modus ist die Scham, mit der unsere Genitalien zur Intimzone werden. Dass kleine Kinder Genitalien nicht mit der gleichen Bedeutung als ‚Geschlechtsorgane‘ ausstatten wie Erwachsene, korrespondiert damit, dass sie diese Scham erst erlernen müssen. Dabei müssen sie auch lernen, dass sie ihre Genitalien nicht notwendig immer vor Fremden verbergen müssen, aber doch zumeist vor dem ‚anderen‘ Geschlecht. Die Geschlechtertrennung z. B. in Umkleidekabinen oder Toiletten ist nicht das Ergebnis dieses Lernprozesses, also die ‚Antwort‘ auf Scham, sondern vielmehr die institutionalisierte Rahmung, die zu diesem Lernprozess führt und die Scham zur Folge hat bzw. hervorbringt. Das Verdecken und Verstecken der so konstruierten ‚Blöße‘ und nicht die Blöße selbst ist die Grundlage für das ‚doing sex classification‘ – sei es durch Badehosen am Strand, entsprechende Positionierungen beim Urinieren im Freien oder durch Sitz- und Liegepositionen in der gemischten Sauna, die Genitalien vor Blicken schützen (vgl. Hirschauer 1994). Ebenso sind aber auch hier nicht einseitige Darstellungspraxen, sondern Interaktionen entscheidend: In der Sauna gezielt den Blick nicht auf die gegengeschlechtlichen Genitalien zu richten, bestätigt die Bedeutung als Geschlechtsinsignien. In einem Setting, in dem Nacktheit ‚ungezwungen‘ sein soll, z. B. in der gemischten Sauna oder am FKK-Strand, stellt sich die Anforderung an die Erwachsenen genau umgekehrt zu dem, was Kinder lernen mussten. Während letztere mit der Scham erlernt haben, Genitalien als Geschlechtsorgane zu verstehen, müssen Erwachsene bei gemeinschaftlicher, asexueller Nacktheit lernen und üben, die Genitalien an Bedeutung verlieren zu lassen. Das bedeutet, sie müssen diese – im Gegensatz zu der bedeckten oder versteckten ‚Blöße‘ – ohne Unterschied ‚des Geschlechts‘ wahrnehmen.

9.4.2

Sexualität

In Hinsicht auf Sexualität lassen sich – genau wie bei Geschlecht – ein historischer Wandel und eine kulturelle Vielfalt feststellen, die aufzeigen, dass es ‚die Sexualität‘ nicht gibt, geschweige eine ‚natürliche‘ Sexualität. Was alles unter Sexualität fällt und was nicht, welche Handlungen oder auch nur Gedanken als ‚sexuell‘ gelten oder nicht, ist hoch variabel. Der Begriff bezeichnet einen sehr diffusen sozialen Komplex, der in verschiedenen Wissenschaften, verschiedenen Altersstufen, verschiedenen Kulturen etc. sehr unterschiedlich gefüllt wurde und wird. Die gleichen Handlungen können mal als sexuell, mal als asexuell gelten (Hericks/Schmid-Thomae 2012). In der Biologie wurden bspw. Handlungen, die als homosexuell bei Menschen galten und damit eine Zeit lang als moralisch fragwürdig, per definitionem aus dem Tierreich verbannt. Als ‚natürliche‘ Sexualität wurde nur der heterosexuelle Koitus aufgefasst – entsprechend ‚fand‘ man bei Tieren (möglichst) nur diesen. Als gleichgeschlechtliches Sexualverhalten wurde nur Analpenetration zwischen männlichen Tieren angesehen – per definitionem gab es also keine weibliche Homosexualität. Beispielsweise wurde es als „Begrüßung“ aufgefasst, wenn weibliche Bonobo die Klitoris aneinander reiben, oder Oral-Verkehr wurde als „Ernährung“ eingestuft. Dass z. B. auch lesbisches Verhalten oder gleichgeschlechtliche Paare, die gemeinsam Junge aufziehen, wahrgenommen und so auch bezeichnet werden, hat sich erst im letzten Jahrzehnt etabliert (Bagemihl 1999; Ebeling 2006a). In der jüdisch-christlichen Tradition ist bis zur Neuzeit – grob zusammengefasst – heterosexuelle eheliche Sexualität die sozial und rechtlich abgesicherte Form von Sexualität. Davon abweichende Formen galten als ‚Sodomie‘ – also als Sünde, wobei einige der ‚abweichenden‘ Formen auch unter Strafe gestellt wurden. Ab dem 18. Jahrhundert änderte sich neben

292

9 Die Vergeschlechtlichung sozialer Wirklichkeit

und mit der Bedeutung von Geschlecht auch die Auffassung von Sexualität deutlich. Nun setzte ihre Naturalisierung ein, im Zuge derer der Koitus gegenüber anderen Formen mittels des Rekurses auf die Fortpflanzung zur (einzigen) ‚gesunden‘ und ‚richtigen‘ Sexualform erklärt wird. Andere Formen wurden pathologisiert – von der Selbstbefriedigung, die 1712 die Bezeichnung „Onanie“ erhielt bis zur gleichgeschlechtlichen Beziehung, die 1869 mit dem medizinischen Fachbegriff „Homosexualität“ versehen wurde. Beides war zuvor nur als Handlung thematisch: Gleichgeschlechtliche Sexualität auszuüben wurde ebenso wenig wie sich selbst zu befriedigen im 17. Jahrhundert als eine ‚Veranlagung einer Person‘ verstanden. Im 18. Jahrhundert änderte sich dies: Die sexuellen Verhaltensweisen wurden nun ‚dem Onanisten‘ und ‚dem Homosexuellen‘ in die Persönlichkeit eingeschrieben (vgl. Laqueur 2008; Foucault 1983; vgl. Kap. 7.3.1): „Der Sodomit war ein Gestrauchelter, der Homosexuelle ist eine Spezies“ (Foucault 1983, S. 58). Der gravierendste Umschwung fand jedoch auch hier in Hinsicht auf die Geschlechter statt. Während Jahrhunderte lang Frauen als sexuell unersättliche Wesen galten (weswegen sie stärkeren Beschränkungen unterworfen werden müssten), brachen sich im 18. Jahrhundert erste Ansätze Bahn, Frauen als sexuell uninteressiert zu deuten. Diese Perspektive setzte sich im 19. Jahrhundert nach und nach – wenn auch nicht unumstritten – durch und begründete nun aber nicht eine schärfere sittliche Ordnung für Männer, sondern legitimierte im Gegenteil, warum sie mehr Freiheiten bräuchten. In dem 1886 zuerst erschienen langjährigen Standardwerk zu Sexualität erklärt Krafft-Ebing die sexuellen Unterschiede von Männern und Frauen als ‚ungestümen männlichen Trieb‘ einerseits und einer weiblichen ‚Unlust‘ andererseits. Frauen, die Spaß an sexuellen Aktivitäten hatten, wurden nicht als lebender Gegenbeweis zu dieser These verstanden, sie galten in dieser Lesart vielmehr als ‚krank‘ und ‚verkommen‘. Dementsprechend mussten insbesondere masturbierende Frauen ‚geheilt‘ werden – zur Not, indem ihnen die Klitoris entfernt wurde (Laqueur 1989). So wie es uns bei Rousseau, Comte oder Spencer bereits begegnete, wurden diese Annahmen über die unterschiedlichen weiblichen und männlichen Naturen weniger empirisch als moralisch begründet: Die Welt würde zum Bordell, wenn Frauen ebenso lustvoll Sexualität erlebten wie Männer; Ehe und Familie würden undenkbar (Krafft-Ebing 1886 zit. nach Lenz/Funk 2005). Die zuvor als alltäglich angesehenen sexuellen Handlungen, die mehr oder weniger sozial und rechtlich erwünscht waren, wurden Gegenstand naturwissenschaftlicher Forschung und in ‚gesundes‘ und ‚krankes‘ Sexualverhalten eingeteilt. Die Naturalisierung von Sexualität ist also Produkt und Produzent einer Verwissenschaftlichung von Sexualität. Mit dem naturwissenschaftlichen Deutungsmonopol geht einerseits eine Diskursivierung von Sexualität einher (Foucault 1983). Gleichzeitig aber wird insbesondere im Bürgertum Sexualität aus der alltäglichen Öffentlichkeit herausgezogen (Elias 1939a). Während im naturwissenschaftlichen Rahmen immer intensiver geforscht und darüber gesprochen wurde, wurde sie im Alltag immer schambesetzter und versteckter. Dies zeigt sich z. B. in der Sprache über Sexualität: Eine alltägliche Sprache gibt es kaum. Sprechen über Sexualität zieht sich entweder auf die lateinischen Begriffe der Medizin zurück (z. B. Vulva, Vagina, Fellatio oder Penis) oder in metaphorische bzw. uneindeutige Begriffe (z. B. Scheide, Glied, miteinander schlafen). Eindeutige, deutsche Begriffe dagegen gelten zumeist als vulgär (z. B. Pimmel oder ficken). Sexuelle Skripte – ein interaktionstheoretischer Zugang Sexualität ist inzwischen Gegenstand vieler Wissenschaften. Eine soziologische Bezugnahme auf Sexualität erfolgte lange Zeit überwiegend (und auch heute noch gelegentlich) über einen

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medizinisch-psychoanalytischen Diskurs, der auch wesentlich das Alltagsdenken über Sexualität prägt. Im Zentrum dieses Diskurses standen ‚sexuelle Triebe‘ deren Verhältnis zum Sozialen wie ein ‚Dampfkochtopf‘ (Weeks 1984) verstanden wurde. Die ‚unbändigen Triebe‘ müssten von sozialen Zwängen im Zaum gehalten, in geordnete Bahnen gelenkt oder gar ‚abgelenkt‘ werden, z. B. indem sexuelle Energien in industrielle Produktivität flössen (diese Sicht begegnet uns z. T. auch noch bei Foucault oder Elias; kritisch hierzu: Gagnon/Simon 1973, 2005; Rubin 2003 [1984]; Rahman/Jackson 2010). Stattdessen hat sich seit den 1960ern (sehr langsam) eine dezidiert soziologische Perspektive entwickelt. In dieser wird erforscht, inwiefern Sexualität selbst ein Ergebnis sozialer Prozesse ist, welche sozialen Faktoren Sexualität nicht nur unterbinden, sondern auch hervorbringen, z. B. Paarbeziehungen oder sozial prädestinierte Zeiten und Orte, so dass „die Nacht miteinander verbringen“ oder „miteinander ins Bett gehen“ synonym für sexuelle Aktivitäten stehen können. Es gibt Altersphasen, in denen ‚es‘ sich (nicht) ‚gehört‘ – also entweder verboten oder hochgradig sozial erwünscht ist. Und es gibt normative Vorstellungen darüber, wie Sexualität geschieht, so z. B. das Primat des Koitus, die Normen des Orgasmus, der Lust, der Selbstbestimmtheit etc. (vgl. z. B. Wrede 2000; Lautmann 2002; Rahman/Jackson 2010; Hericks/Schmid-Thomae 2012). Diese vielfältigen Vorstellungen, institutionalisierten Verhaltensweisen und mehr, werden von Gagnon und Simon in den 1960er und 70er Jahren im Anschluss an die Chicago School und dem ebenfalls von Mead beeinflussten Literaturwissenschaftler Kenneth Burke mit dem Begriff der „sexuellen Skripte“ gefasst. Der Begriff Skript wendet sich sowohl gegen eine voluntaristische Perspektive, wie z. B. im ‚rational choice‘-Konzept, als auch gegen eine sozial-deterministische Perspektive, die insbesondere klassischen Institutionalismen, die an Durkheim anknüpfen, angelastet wird. Ein Skript ist ein soziales Muster, das individuellen Sichtweisen, Verhalten, (Selbst)Wahrnehmungen unterliegt und ihnen eingefahrene Bahnen bietet, so dass es wahrscheinlich ist, dass diese Skripte wieder reproduziert und weiter stabilisiert werden. Gleichzeitig muss es hierzu jedoch – wie bei einem Theater- oder Musikstück – stets übersetzt werden in Handlungen, Aussagen oder Interpretationen, wobei es situativ verändert, individuell angepasst, interaktiv modifiziert wird und sich letztlich auch historisch wandelt. Nicht zuletzt kann ein Skript auch ausgesetzt oder umgangen werden, auch wenn dies – wie beim Weg durchs Unterholz – anstrengender und gefahrvoller ist als den ‚vorgezeichneten Weg‘ einzuschlagen. Sexuelle Skripte werden von Gagnon und Simon (1974) auf drei Ebenen verortet: Zum einen auf der soziokulturellen Ebene (also einer Makroebene), auf der „cultural narratives“ bestehen – dies entspricht dem, was wir bisher als Diskurse kennengelernt haben. Die zweite Ebene ist die Interaktionsebene auf der „interpersonale Skripte“ wirken. Hier geht es um institutionalisierte Verhaltensweisen, die dann als (a)sexuelle Handlungen relevant werden. Bei Gagnon und Simon wird dann noch eine dritte, sozusagen ‚kleinere‘ Analyseebene wichtig: die innerpersonalen oder „intrapsychic scripts“. Diese Ebene zielt auf die Dimension der „Identität“, bzw. des „Self“ im Sinne G. H. Meads. Diese Dimension ist – weit mehr als für Geschlecht – bei Sexualität entscheidend. Hatten wir für Geschlecht gezeigt, dass die Körperlichkeit ein wesentlicher Gegenstand einer Theoretisierung von Geschlecht ist, kommt bei Sexualität noch die Leiblichkeit bzw. das ‚Leiberleben‘ hinzu. Das Begriffspaar Körper und Leib hat sich etabliert für die Differenzierung zwischen einem von außen z. B. mit Augen und Ohren oder medizinischen Apparaten wahrnehmbaren Objekt ‚Körper‘, das z. B. Knochen, Zellen und Synapsen hat, und einem nur vom Subjekt erlebten Leib, der Hunger,

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9 Die Vergeschlechtlichung sozialer Wirklichkeit

Müdigkeit, Nervosität, Lust und Unlust, Spaß oder Verliebtsein in sich spürt. Bei Sexualität ist – anders als bei Geschlecht – gerade nicht der Körper (z. B. das Anschwellen der Genitalien) die entscheidende Dimension, sondern der Leib. An sexuellen Wünschen, Vorlieben, Begehren, Erfüllung etc. machen wir ‚unsere‘ Sexualität, d. h. die Wahrnehmung eines sexuellen ‚Ich‘ fest. Diese jedoch können unabhängig von körperlichen Zeichen stattfinden. Unter Rückgriff auf das Konzept des reflexiven Selbst nach Mead (vgl. Kap. 3.4.1) streichen Gagnon und Simon heraus, dass die Selbstwahrnehmung ebenfalls sozialen Skripten unterliegt, die in mein eigenleibliches Spüren Eingang finden – ohne es zu determinieren. Das eigenleibliche Spüren von sexueller Lust oder Unlust, Hingezogensein oder Abstoßung ist damit ebenso Gegenstand und Ergebnis sozialer Prozesse, wie die Handlungs- und Verhaltens, Sicht- und Interpretationsweisen. Die drei analytisch unterschiedenen Skriptebenen beeinflussen sich wechselseitig, sie bilden zusammen ein komplexes Bild, in dem alle Dimensionen des Sexuellen schlüssig zusammengebracht werden können, ohne den Rückgriff auf psychoanalytische oder biologistische Erklärungsmuster zu benötigen: „Der Bereich der Sexualität ist vielleicht genau jenes Feld, in dem das Soziokulturelle am umfassendsten über das Biologische herrscht“ (Gagnon/Simon 1973, S. 15, Übers. K. Voss). Die Verbindung von Sexualität und Geschlecht Die Zusammenhänge von Sexualität und Geschlecht liegen im Alltagsdenken ‚auf der Hand‘: Sexualität ist das, was Männer und Frauen zusammenbringt. Andersherum ließe sich auch sagen: Es ist das, weswegen Männer und Frauen unterschieden werden. Längst ist es heutzutage ein Gemeinplatz, dass es auch homosexuelle Menschen gibt, wie auch immer gut oder schlecht man das je nach politischer Couleur finden mag. Nichtsdestotrotz ist Heterosexualität ein zentrales Element zur alltagsweltlichen Begründung von Zweigeschlechtlichkeit. Die Konstruktion einer dominanten Heterosexualität wird unter dem Begriff der Heteronormativität erforscht (vgl. Kap. 7.3.3). Aus interaktionstheoretischer Perspektive wird das ‚doing heterosexuality‘ als Teil des doing gender aufgefasst (z. B. Rahma/Jackson 2010; Kitzinger 2005). Auf ein inadäquates, ‚falsches‘ doing gender wird i. d. R. gerade nicht mit Aberkennung von Männlichkeit/Weiblichkeit, also mit der Aberkennung des Geschlechtsstatus reagiert, sondern mit der Aberkennung von Heterosexualität. Einem effeminiert wirkenden Mann wird unterstellt, schwul zu sein, eine burschikose Frau gilt als lesbisch. Über das ‚falsche‘ doing gender wird die ‚falsche‘ sexuelle Orientierung quasi naturhaft eingeschrieben, i. S. v. „man merkt doch, dass der schwul ist“. Heterosexualität wird aber nicht nur mit dem richtigen doing gender einfach zugeschrieben, es ist auch ein eigenes ‚doing heterosexuality‘, das vor allem in der Adoleszenz zu einem wichtigen Bestandteil des doing gender wird. Bereits in Kapitel 4.2.1 haben wir auf die enge Verbindung von sex- und age-categories verwiesen. Bezogen auf die Adoleszenz verläuft die Differenzierung nicht nur zwischen Mann und Frau und einem zeitlichen Vorläufer Mädchen/Junge, sondern zwischen Junge und Mann, Mädchen und Frau. Die Erlangung der Geschlechts-Alters-Kategorie ‚Mann‘ statt der Kategorie ‚Junge‘ verläuft zentral über die Darstellung von Heterosexualität (vgl. u. a. Jösting 2005; Tervooren 2006). Diese muss nicht notwendig Sexualverkehr beinhalten, sondern kann bspw. durch den Besitz heterosexuell-pornographischer Hefte oder Filme dargestellt werden. In einem alltäglichen doing heterosexuality Erwachsener ist ein so expliziter Verweis auf Sexualität, wie z. B. über Pornographie, i. d. R. nicht notwendig. Doing heterosexuality lässt sich in Konversationsanalysen (z. B. Kitzinger 2005) oder interaktionstheoretischen Studien

9.4 Prozesse der Naturalisierung

295

auch nicht nur dort finden, wo Paarbeziehungen thematisch werden. Es zeigt sich in vielfältigen alltäglichen gegen- und gleichgeschlechtlichen Begegnungen (vgl. auch Kap. 9.1.3). Beispielsweise geschieht doing heterosexuality, wenn männliche Kollegen ihren Kolleginnen Komplimente über ihre Figur machen. Gleichzeitig aber fungiert ein ‚undoing sexuality‘ dann als doing heterosexuality, wenn in dem jeweiligen Kontext sexuelle Kontakte nicht erwünscht sind. Dies kann bei gleichgeschlechtlichen Personen darin bestehen, dass Berührungen, Blickkontakte und Blicke auf den Körper geradezu demonstrieren, dass hier ‚nichts Sexuelles‘ besteht: Die gleichgeschlechtliche Interaktion wird dann gerade mittels Körperlichkeit als dezidiert asexuell markiert. Dagegen wird Sexualität zwischen gegengeschlechtlichen Kolleg/innen demonstrativ ‚gebannt‘ durch die Vermeidung von Berührungen, durch die Selbstkontrolle von Blicken auf den Körper oder bei Blickkontakten. Wie bei der Verhüllung der ‚Blöße‘ (vgl. Kap. 9.4.1) wird der Geschlechtskörper der Personen wieder relevant durch die Tabuisierung des Körperlichen. Die Verhinderung von Sexualität macht also auf die ‚Gefahr‘ des Sexuellen aufmerksam – so wie ein Damm auch bei Ebbe die Gefahr einer Sturmflut vor Augen führt. Und durch die Kopplung an die Gegengeschlechtlichkeit wird diese ‚latente‘ sexuelle Aufladung dann als Heterosexualität relevant (vgl. Hericks 2011). Mit doing heterosexuality wird die heterosexuelle Normalität immer wieder hergestellt und – bei Irritationen durch Homosexualität – wieder repariert. Doing heterosexuality ist Teil des ‚richtigen‘ doing gender, es bietet aber über die bloße Darstellung von Geschlechtszugehörigkeit hinaus noch eine Darstellung von Zweigeschlechtlichkeit, indem es den Bezug der zwei Geschlechter aufeinander und die dafür notwendige Unterscheidung der beiden herstellt. Damit verschärft doing heterosexuality das doing gender. Es ‚zwingt‘ gegen- und gleichgeschlechtliche Interaktionspartner/innen in die hierzu passende Verhaltensweise – unabhängig von deren sexuellen Orientierung. Dann ist ein ‚Outing‘, also eine homosexuelle Orientierung offen zu legen, eine Störung der selbstverständlichen Verhaltenserwartungen, die, wie jede Störung zu Irritationen und Verärgerung führen kann (vgl. Kap. 4.4.2). Sexualität ist eine der (wenigen) Dimensionen, in denen wir auch im Alltag die Geschlechtseinteilung anhand der Genitalien („sex classification“) und nicht nur anhand der Geschlechtskategorie („sex category“) als „kulturelle Genitalien“ mittels Kleidung, Frisur, Figur etc. herstellen (vgl. Kap. 7.2). Die umfassendste Relevantsetzung von ‚Geschlechtsorganen‘ geschieht zwar in der Fortpflanzung, da dort die ‚Funktionsfähigkeit‘ der Organe die Geschlechtszugehörigkeit validiert; die Nutzung der Organe zur Fortpflanzung nimmt aber biographisch kaum Zeit in Anspruch. Die Nutzung dieser Körperteile als Ausscheidungsorgane ist wesentlich häufiger – sie werden dabei aber viel seltener geschlechtlich aufgeladen. Während wir allein auf der Toilette sitzen, machen wir kaum die Geschlechtszugehörigkeit relevant. Dasselbe gilt zumeist auch für die Selbstbefriedigung: Die Genitalien als Sexualorgane zu nutzen, impliziert nicht notwendig, sie als Geschlechtsinsignien relevant zu machen. Indem aber in unserem Kulturkreis Zweigeschlechtlichkeit an diesen Organen festgemacht wird, werden sie als Geschlechtsorgane relevant gemacht, sobald wir uns auf sexuelle Interaktionen ausrichten. Dann ist es einer heterosexuellen Frau nicht egal, ob eine Person mit der Geschlechtskategorie Mann eine Vulva hat, oder einer lesbischen Frau, ob die andere lesbische Frau einen Penis aufweist. Die organische Ausstattung des Gegenübers soll der eigenen sexuellen Ausrichtung angepasst sein. Die heterosexuelle Orientierung wird in sexuellen Interaktionen durch das Primat des Koitus gegenüber der homosexuellen sozial zusätzlich privilegiert. Er wird zur ‚normalen‘ bzw. zu ‚der‘ Form sexuellen Verkehrs erklärt. Dies geschieht zum einen, indem Begriffe wie

296

9 Die Vergeschlechtlichung sozialer Wirklichkeit

„Sex“, „miteinander schlafen“ oder „vögeln“ gleichgesetzt werden mit dem Koitus, wenn nicht explizit gemacht wird, dass eine andere sexuelle Interaktion gemeint ist (z. B. vorab klar ist, dass es um homosexuellen Verkehr geht). ‚Normal‘ wird es aber auch, indem heterosexuelle Personen, die nicht Koitus (bevorzugt) praktizieren, als ‚unnormal‘ gelten (vgl. Gavey et al. 1999). Dies wirkt als „intrapsychic script“ (Gagnon/Simon 1974) auf die Selbstwahrnehmung zurück, im Sinne eines „ich bin nicht normal, wenn ich das nicht will“. Dementsprechend müssen im Alltag nicht Begründungen für den Koitus, sondern für die Ablehnung des Koitus gesucht werden, bspw. die Menstruation, psychische Probleme, Angst vor Schwangerschaft o. ä. (vgl. Gavey et al. 1999). Neben der Kennzeichnung als ‚normal‘ dient insbesondere die Zuschreibung als ‚natürlich‘ dazu, das Primat des Koitus herzustellen und zu legitimieren. Zum einen geschieht dies über die Konstruktion einer ‚naturgewollten‘ Passung männlicher und weiblicher Sexualanatomie: „so sind wir halt gebaut“ (Interviewzitat, ebd., S. 41, Übers. d. V.). Zum zweiten wird Fortpflanzung als Begründung herangezogen, obwohl die meisten sexuellen Interaktionen nicht deswegen stattfinden, sondern im Gegenteil eine Fortpflanzung oft mit aufwendigen Mitteln verhindert wird. Dieser Widerspruch, dass Fortpflanzung zur Naturalisierung des Koitus herangezogen wird, obwohl sie nur sehr selten erwünschter Effekt ist, wird durch eine alltagsweltliche Vorstellung eines ‚Fortpflanzungstriebs‘ überbrückt: „das ist die Art, wie wir uns fortpflanzen (…), also muss es irgendwie ’ne instinktive Sache sein, das zu machen“ (Interviewzitat, ebd., S. 39, Übers. d. V.).

9.4.3

Fortpflanzung

Fortpflanzung wird nicht nur alltagsweltlich zur Erklärung des Koitusprimats, der ‚Notwendigkeit‘, ‚Überlegenheit‘ und ‚Natürlichkeit‘ von Heterosexualität und zur Begründung, warum es zwei exklusive Geschlechter gebe, herangezogen. Auch in naturwissenschaftlichen Konzepten wird eine vermeintliche Notwendigkeit der Geschlechterdifferenzierung über Fortpflanzung begründet. Grob skizziert wird Fortpflanzung unterteilt in ungeschlechtliche, eingeschlechtliche und zweigeschlechtliche. Dort wo, wie beim Menschen, eine zweigeschlechtliche Fortpflanzung stattfindet, wird zwischen ‚weiblichen‘ und ‚männlichen‘ Keimzellen – also Eizellen und Spermien – unterschieden, deren Zusammenwirken zur Fortpflanzung notwendig ist. Geschlechter anhand der zur Fortpflanzung befähigenden unterschiedlichen Keimzellenproduktion zu unterscheiden, erscheint auch zunächst nicht unsinnig, allerdings wird Geschlecht auch in der Biologie gerade nicht so unterteilt: Die Unterscheidung der Geschlechter wird zwar hier – ebenso wie beim Koitus – über Fortpflanzung legitimiert, aber nicht auf Fortpflanzungsunterschiede bezogen. Vielmehr werden die Geschlechter – je nach Forschungsgebiet – nach anderen Kriterien unterschieden, z. B. anhand von Genitalien, Hormonen oder der sogenannten Sexualdimorphie, wie der unterschiedlichen Gefiederfärbung von Vögeln. Die Fortpflanzungsfunktionen werden dann erst von diesen Differenzierungskriterien vermeintlich abgeleitet, d. h. sie werden als Begründung für die Geschlechterunterscheidung herangezogen, auch wenn eine Fortpflanzungsbefähigung der jeweiligen Lebewesen nicht nachgewiesen oder sogar widerlegt ist. Geschlechterunterscheidung und die Untersuchung der Fortpflanzung sind so auch in den Naturwissenschaften voneinander abgekoppelt. Eine Differenzierung allein nach der Fortpflanzungsfunktion müsste eine andere als die zweiteilige Geschlechterdifferenzierung nahelegen, da sie diejenigen, die keine der beiden Keimzellenproduktionen aufweisen, separat betrachten müsste. Stattdessen werden sie jedoch als „Fertilitätsstörungen“ thematisiert (vgl. Voss 2010, S. 317; vgl. auch Kap. 7.1.2).

9.4 Prozesse der Naturalisierung

297

Fortpflanzungstheorien werden also der sozialen Annahme der Zweigeschlechtlichkeit angepasst und nicht Geschlecht aus der Fortpflanzung heraus erklärt. Dies zeigt sich auch dort, wo eingeschlechtliche Fortpflanzungen stattfinden, sogenannte „Jungfernzeugungen“. Der alten Befürchtung, Frauen könnten sich (sogar bei der Fortpflanzung) von Männern unabhängig machen, wird terminologisch so entgegengearbeitet, dass reinen ‚Weibchenarten‘ ‚pseudoheterosexuelle‘ Verhaltensweisen unterstellt werden. Damit wird das Zweigeschlechtermodell auf eine eingeschlechtliche Gattung angelegt und im Zuge dessen diese als mangelhaft gegenüber ‚echter‘ Heterosexualität dargestellt (Ebeling 2006a, S. 62 f.). Kinderzeugen, Kinderkriegen Im sozialen Alltag ist die Kopplung von Fortpflanzung und Geschlecht nicht weniger komplex. Wir können diese zunächst zweiteilen: Es gibt Teile der Fortpflanzung, für die im heutigen alltagsweltlichen Verständnis zwei Geschlechter notwendig sind und Teile, für die es nur Frauen braucht. Rein ‚weiblich‘ sind Schwangerschaft, Gebären und Stillen. Zu den ‚zweigeschlechtlichen‘ Anteilen zählen heutzutage die Kinderzeugung und -erziehung. Eine Erziehung durch die beiden leiblichen Elternteile wird von vielen als ‚das Beste fürs Kind‘ gesehen (vgl. Correll 2010) und auch Rechtsprechungen hinsichtlich des Umgangs des leiblichen Vaters mit dem Kind entsprechen häufig dieser Vorstellung von Kindeswohl. Doch auch dort, wo die leibliche zweigeschlechtliche Elternschaft in den Hintergrund tritt (z. B. Samenspende, Halbwaisen) wird betont, dass Kinder ‚role models‘ beider Geschlechter bräuchten. So wird beispielsweise begründet, warum verstärkt um junge Männer für die Kindergartenerziehung geworben werden müsse. Fertilisation gilt im Alltagsverständnis als Prozess, der nicht weniger natürlich verläuft als z. B. die Verdauung. Diese Alltagsannahme ist allerdings nur durch Ausblenden und Verschleiern von Widersprüchen möglich, denn um die ‚Natürlichkeit‘ dieses Prozesses herzustellen, wird er im Gegensatz zu unserer Verdauung gesetzlich geregelt. Diese Regelungen verbieten die Leihmutterschaft, erlauben nur heterosexuellen Paaren bei ‚nachgewiesener Unfruchtbarkeit‘ Möglichkeiten der künstlichen Befruchtung, und auch dort nur in einem bestimmten Alter und in einem bestimmten Umfang. Präimplantationsdiagnostiken sind vergleichsweise strikt geregelt. Die gesetzlichen Ge- und Verbote zur künstlichen Befruchtung in Deutschland streben in Hinsicht auf die Zeugung das Ideal der Natürlichkeit an, zu dem zentral die Zweigeschlechtlichkeit gehört. Ganz anders ist dies beim Gebären. Während die Option, ob man zeugen wolle oder nicht, weitgehend (zumindest) dem heterosexuellen Paar überlassen bleibt, ist die Frage, ob man gebären will, weder eine Frage des Paares, noch einfach die Wahl der schwangeren Frau: Es gibt gesetzliche Regelungen (§§ 218–219), die eine Verhinderung, dass es zur Geburt kommt, deutlich begrenzen. Das Ideal ist hier aber nicht der ‚natürliche‘ Verlauf bis hin zur Geburt, sondern der ‚medizinisch optimale‘: Während beim Zeugen jegliche medizinischfachliche Zuhilfenahme eine Ausnahme bzw. eine Notoption darstellt und die meisten Zeugungen ohne sie zustande kommen, ist für jede Schwangerschaft und Geburt medizinischfachliche Betreuung Pflicht und in den sogenannten „Mutterschafts-Richtlinien“ geregelt. Dieser Teil der Fortpflanzung ist derjenige, der zugleich die intensivsten gesetzlichen Eingriffe aufweist und dennoch als derjenige gilt, in dem es am meisten auf ein planendes, verantwortungsvolles und nicht austauschbares Individuum ankommt: die sogenannte ‚biologische Mutter‘. Bei diesem Teil der Fortpflanzung herrscht also eine widersprüchliche Gleichzeitigkeit vermeintlich individueller Entscheidungen einzelner Frauen einerseits und

298

9 Die Vergeschlechtlichung sozialer Wirklichkeit

des ‚Rechts‘ eines umfassenden gesellschaftlichen Zugriffs auf diese Frauen andererseits. Diese Gleichzeitigkeit zeigt sich nicht nur in den gesetzlichen Regelungen zum Schwangerschaftsabbruch, sondern vor allem in (medialen) Diskussionen und (sozialwissenschaftlichen) Erhebungen zur demographischen Entwicklung, die nicht an der Zeugungsrate pro heterosexuellem Paar, sondern an der Geburtenrate „pro Frau“ festgemacht wird, wobei alle Frauen in einer bestimmten Altersklasse gezählt werden, unabhängig davon, ob diese Frauen fortpflanzungsfähig sind und ebenso unabhängig davon, ob Frauen ober- und unterhalb dieser Altersklasse Kinder gebären bzw. geboren haben (Schmidt 2009). Dementsprechend ist auch Kinderlosigkeit ein ‚Frauenproblem‘, obwohl mehr Männer als Frauen kinderlos sind; d. h. es wird von Frauen mit zunehmendem Alter erwartet, dass sie Gründe aufweisen können, warum sie keine Kinder haben. Begründungen für Kinder sind (außer bei Teenagern) nicht notwendig (Correll 2010, S. 264 ff.). Ein zusätzlicher Grund, warum die Kinderlosigkeit von Männern weniger medial und politisch problematisiert wird, mag in der sozialen Schichtung der Kinderlosen liegen. Während vor allem hochgebildete Frauen kinderlos sind, sind es bei Männern insbesondere niedrig gebildete (ebd., S. 284). In weiten Teilen der westlichen Welt besteht die Bevölkerungspolitik im Zentrum aus zwei Komponenten: Aus einer restriktiven Migrationspolitik einerseits und der Förderung von Geburten Inländischer andererseits, die gezielt (ökonomische) Anreize für einkommensstarke Gruppen setzt (Kaufmann 2002). Dies lässt sich als Politik „stratifikatorischer Reproduktion“ (ebd., S. 294) bezeichnen: Nicht soziale Mobilität, also Aufstiegschancen, sondern Fortpflanzung soll hier der Vermehrung höherer und Reduktion niedrigerer Schichten dienen. Kinderlosigkeit gering gebildeter und ökonomisch unterprivilegierter Männer kann in diesem Sinne auch als politisch erwünscht gelten. Denkanstöße und weiterführende Fragen: Die Untersuchungen, auf die wir uns im letzten Unterkapitel – sowie zu Beginn dieses Buches und in Kapitel 7.1 – bezogen haben, gehören zur ‚Wissenschaftskritik‘. Dies bezeichnet eine Unterdisziplin insbesondere in der Philosophie; aber auch in der Soziologie und einigen anderen Wissenschaften – z. B. Naturwissenschaften – sind dazu Professuren eingerichtet worden. Mit Wissenschaftskritik ist also dezidiert nicht gemeint, dass von außen – z. B. aus religiösen oder esoterischen Motiven – Wissenschaft als solche infrage gestellt wird. Entsprechend kommen die Bewertungskriterien in der Wissenschaftskritik aus den Wissenschaften selbst und werden nicht von außen an sie herangetragen. Die Wissenschaftler/innen forschen und konzeptionalisieren ihre Ergebnisse auf den Grundlagen und mit den Maßstäben, auf denen auch ihre ‚Gegenstände‘ fußen. • Wenn Sie das Buch – vor allem die genannten Kapitel – rekapitulieren: Worin liegt der besondere Gewinn dieser Wissenschaftskritik für die Geschlechtersoziologie? • Andersherum: Mit Blick auf die Wissenssoziologie, wie wir sie z. B. mit A. Schütz, K. Mannheim und V. Klein vorgestellt haben (Kap. 3.4.2–3.4.4), welche Chancen bietet die Soziologie für die Wissenschaftskritik?

9.5 „Doing difference“

9.5

299

„Doing difference“

Schon Viola Klein hatte darauf hingewiesen, dass Menschen nicht nur in Frauen und Männer eingeteilt werden, sondern sie auch unterschiedlichen Altersklassen und Generationen, sozialen Schichten, ethnischen Gruppen, Regionen und Religionen angehören (vgl. Kap. 3.4.4). Geschlecht ist daher ohne Zweifel nur eine unter vielen anderen sozialen Kategorien, die auf Lebenslagen und Lebensführung einwirken.28 Seit dem Beginn der Frauen- und Geschlechterforschung aber ist es eine hochkontrovers diskutierte Frage, ob Geschlecht in dieser Hinsicht eine dominante Teilungsdimension darstellt. Ausgangspunkt für diese Debatte war vor allem die Unzufriedenheit schwarzer Feministinnen zu Beginn der Frauenbewegungen in den USA. Sie beklagten, dass hier Geschlechterfragen ausschließlich aus der Perspektive weißer Mittelschichtfrauen diskutiert werden, die als für alle Frauen gültige gesetzt sei. Damit wurde innerhalb des Feminismus das reproduziert, was in Bezug auf Männer kritisiert wurde: dass sich eine Gruppe als unhinterfragbare Norm versteht, von denen andere als Abweichungen interpretiert werden bzw. an die sie sich anpassen müssen. Die Lebenslage farbiger Frauen aber werde weit mehr durch „race“ und „class“ bestimmt, als durch ihr Geschlecht. Die Debatte hat sich seitdem gravierend verändert, denn aus dieser Unzufriedenheit heraus haben sich immer neue Ansätze entwickelt, das Zusammenspiel der unterschiedlichen sozialen Kategorien zu untersuchen. Aktuell ist diese Frage in die Metapher der „Intersektionalität“ gebracht worden, die inzwischen zu einem neuen „Paradigma“ in der interdisziplinären Frauen- und Geschlechterforschung stilisiert worden ist (kritisch: Bürmann 2009). Die in den Anfängen verwendeten Vorstellungen einer „Mehrfachunterdrückung“ im Sinne einer additiven oder auch multiplikativen Aufschichtung von Unterdrückung durch die Dimensionen Hautfarbe, Klasse und Geschlecht hat inzwischen theoretisch differenzierteren Sichtweisen Platz gemacht. Dennoch bleibt auch in der Rede von „Schnittmengen“, „Überkreuzungen“ oder „Überschneidungen“ eine Vorstellung lebendig, dass die soziale Positionierung des Menschen in eine Art Sektoren einzuteilen ist. Die Bezeichnung Intersektionalität geht auf eine Definition der Juristin K. Crenshaw zurück, die das Verhältnis von Klasse, ‚race‘/Ethnizität und Geschlecht „anlog to traffic in an intersection, coming and going in all four directions“ beschrieben hat (Crenshaw 1991, S. 57). Die sich auf dieses Konzept beziehenden Ansätze sind so vielfältig, dass inzwischen von „Intersektionalitäten“ die Rede ist. In den letzten Jahren wurde der Begriff zu einer Art Passepartout, das zu mehr Komplexität in 28

Ethnizität und Nationalität sind wie Zweigeschlechtlichkeit eine Erfindung des 18./19. Jahrhunderts. Auch hier wurde im Zuge des Gleichheitsgedankens die Legitimation von Machtverhältnissen – bspw. der Sklaverei und der Kolonialisierung – brüchig. Die religiöse Differenzierung (Christen vs. Heiden) wurde zunächst durch die Idee der sittlichen Überlegenheit – Zivilisiertheit, Kultur(völker) vs. Natur(völker) – abgelöst, und daran eine ‚natürliche‘ Überlegenheit angebunden. Dazu wurden ‚Merkmale‘, die im Vergleich zu Menschenaffen eine Weiterentwicklung der europäischen ‚Rassen‘ gegenüber asiatischen, indigenen, arabischen und vor allem afrikanischen ‚beweisen‘ sollten, herausgestrichen (z. B. die Schädelform), die zugleich herangezogen wurden, um eine physisch bedingte geistige Überlegenheit von Männern gegenüber Frauen zu ‚belegen‘ und so dazu dienten, Frauen und Farbige europäischen Männern unterzuordnen. Merkmale, die dagegen geeignet gewesen wären, eine Weiterentwicklung von Frauen und/oder Farbigen gegenüber Männern zu unterlegen, z. B. Lippenfülle oder geringe Behaarung, wurden nicht berücksichtigt. Dass wir heutzutage den Schwerpunkt auf die Hautfarbe legen, war dagegen lange kein Kriterium: Sie galt als klimatisch und kulturell veränderbar im Laufe eines Lebens oder weniger Generationen. Ebenso wie die ‚naturwissenschaftlichen Belege‘ der Unterlegenheit von Frauen, waren auch die Befunde hinsichtlich Ethnizität nicht unumstritten, politisch favorisierte konnten sich jedoch durchsetzen und einem Sozialdarwinismus wie der Nazi-Ideologie Weg bahnen (Müller 2003).

300

9 Die Vergeschlechtlichung sozialer Wirklichkeit

der feministischen Analyse Mut macht, ohne Aussagen darüber zu machen, wie das geschehen soll (vgl. dazu Knapp 2008, S. 138). Umstritten ist vor allem, ob die Analyse der sozialen Positionierung sich nun auf diese drei Dimensionen – race, class and gender – beschränken soll oder ob nicht doch noch weitere Unterdrückungs- und Benachteiligungsverhältnisse thematisch werden müssten, z. B. sexuelle Orientierung, Alter, Generation, körperliche Attraktivität, religiöse Bindungen, Behinderung und noch einige mehr. Als Problem erweist sich dabei, dass soziale Stellung (‚class‘) und ethnische Zugehörigkeit (‚race‘) nicht in gleichem Maße wie Geschlecht binär verfasst sind, sondern eine Vielzahl von Abstufungen enthalten und insofern die Bestimmung, was sich da wie überschneidet, theoretisch und methodisch kaum einzuholen ist. Außerdem sind soziale Klassen und Ethnien sehr oft mit räumlicher Segregation verbunden, im Fall von Geschlecht aber sind Männer und Frauen durch die heterosexuelle Paarförmigkeit sozialer Wirklichkeit unmittelbar aufeinander bezogen. Frauen sind zwar in „krassem Gegensatz“ zu Männern definiert, doch sie bilden – wie Goffman es formulierte – „mit ihren Mannsbildern eine Koalition gegen den ganzen Rest der Welt“ (Goffman 1994, S. 118). In der Frage, wie viele Unterscheidungen in die Analyse Eingang finden sollen, finden wir in der im engeren Sinne soziologischen Geschlechterforschung unterschiedliche Lösungen. Vor allem Vertreter/innen einer gesellschaftstheoretischen Orientierung setzen allein auf „Rasse – Klasse – Geschlecht“ als die entscheidenden „Strukturkategorien“ für eine Analyse sozialer Ungleichheit (z. B. Knapp 2008; Degele/Winker 2008; vgl. auch Kap. 5.3). In einer eher diskurstheoretischen Tradition werden sehr viel weitläufigere symbolische Repräsentationen aufgegriffen und einer detaillierten Analyse zugeführt. Auch der interaktionstheoretische Ansatz des „doing difference“, auf den wir im Folgenden näher eingehen werden, hat sich zunächst auf die Teilungsdimensionen „race – class – gender“ konzentriert, ohne das weiter zu begründen (Fenstermaker/West 1995). Es ist aber zu vermuten, dass dies vor allem den damaligen feministischen Diskussionen – der Kritik am „white-middle-class-bias“ – geschuldet war (vgl. Ayaß 2008, S. 17). Im „doing difference“ wird die ethnomethodologische Perspektive – wie sie im „doing gender“ entwickelt wurde – auf den Herstellungscharakter sozialer Ungleichheit ausgedehnt. Das primäre Interesse lag auf der Identifizierung solcher Mechanismen und Prozesse, durch die ‚soziale Ungleichheit‘ als Ergebnis zustande kommt, nicht aber auf dem Ergebnis als solchem oder dessen Folgen. Deswegen wurde zunächst sehr allgemein nach „doing difference“ gesucht, ohne es von vornherein als etwas zu verstehen, dass es abzuschaffen gelte. Differenz allein sei kein Problem. Es sei vielmehr zu fragen, wie „Differenz“ in soziale Ungleichheit transformiert werde. Diese Herangehensweise hat sehr viele Missverständnisse und auch viel (berechtigte) Kritik provoziert, insbesondere hinsichtlich der scheinbar ahistorischen und dekontextualisierten Argumentation (vgl. Symposium 1995). Die Autorinnen haben diese Kritik aufgenommen (Fenstermaker/West 2001) und ihren Ansatz weiter geführt. Geblieben ist ihr Ausgangspunkt, dass jeder Versuch scheitern muss, den Stellenwert von Geschlecht isoliert zu erfassen. Denn dabei werde nicht bedacht, dass Geschlecht gleichzeitig mit Ethnizität und sozialer Klasse hervorgebracht wird: „Erst wenn man die Konstruktion von Geschlecht, Klasse und Ethnie als simultane Prozesse begreift, wird es möglich zu erkennen, dass die Relevanz dieser Ordnungsmuster je nach Interaktionskontext variieren kann (…). Um das Verhältnis zwischen individueller und institutioneller Praxis als auch zwischen den verschiedenen Ungleichheitsformen besser zu verstehen, schlugen wir vor, die aktive Herstellung von

9.5 „Doing difference“

301

Differenz – ‚the doing of difference‘ – in den Mittelpunkt zu rücken“ (Fenstermaker/ West 2001, S. 237, Herv. i. O.). Das bedeutet einmal, dass keine grundsätzliche Hierarchie zwischen den verschiedenen Teilungsdimensionen angenommen wird und die Frage nach der Relevanz der Kategorie Geschlecht ausschließlich empirisch zu beantworten ist. Zum anderen wird nachdrücklich deutlich gemacht, dass es nicht, wie vielfach unterstellt (z. B. von Degele/Winker 2008), um die Analyse der (interaktiven) Konstruktion individueller Identität geht, sondern um die Identifizierung sozialer Ordnungsmuster. Akteure kommen also nicht als individuelle Identitäten in den Blick, sondern als Vermittler institutioneller Praxis. „Doing difference“ zielt explizit auf die Frage der Vermittlung von Handlung und Struktur, von Makro- und Mikroebene in der Soziologie. Auch historisch gewachsene Strukturen sozialer Ungleichheit können sich nur im Verlauf von Interaktionen verwirklichen; keine dieser gesellschaftstheoretisch als „Strukturkategorien“ benannten Phänomene sind statische Gebilde, sondern sind – ebenso wie „Geschlecht“ – nur prozessual zu verstehen. Darauf weisen die historische Variabilität von Unterscheidungs- und Ungleichheitsformen ebenso hin wie soziale Umbrüche und soziale Bewegungen. Sozialer Wandel könne nur angemessen verstanden werden, wenn „soziale Ungleichheit konsequent als Ergebnis der permanenten Hervorbringung durch die Akteure im Verlauf von Interaktionen“ begriffen werde (Fenstermaker/West 2001, S. 244, Herv. i. O.). Damit verschiebt sich im Vergleich zu Sozialstrukturanalysen die Aufmerksamkeitsebene: Nicht Wirkungen und Folgen sozialer Ungleichheit sollen belegt, sondern die ihr zugrunde liegenden Konstruktionsprozesse aufgedeckt werden. Grundlegend für jede konkrete Analyse von Interaktionen und Interaktionssequenzen ist das Prinzip der Zurechenbarkeit („accountability“) (vgl. Kap. 7.2.3). „Accountability“ bedeutet, dass das Handeln eines Akteurs nur im Lichte der normativen Erwartungen verstanden werden kann, die an ihn als Angehörigen einer bestimmten Schicht, Ethnie oder Geschlechtskategorie gerichtet werden. Nur durch ein solches In-Beziehung-Setzen kann Bedeutung und Sinn des jeweiligen ‚Tuns‘ von Akteuren erschlossen werden. Die normativen Erwartungen sind ihrerseits Teil umfassenderer Vorstellungen sozialer Ordnung bzw. der ‚Natur der Dinge‘, die auf einen gemeinsamen Ursprung zurückverfolgt werden können, „nämlich auf spezifische institutionelle und kollektive Praktiken bei der ‚natürlichen‘ (und deshalb ‚rechtmäßigen‘) Zuweisung materieller und symbolischer Ressourcen. (…) Tatsächlich bezieht die aktive Herstellung von Differenz Bedeutung und Macht aus der Spezifik des jeweiligen institutionellen und kollektiven Kontexts. Bei der Hervorbringung von Differenz stellt das Prinzip der ‚accountability‘ die treibende Kraft dar; die Merkmale der normativen Ordnung bilden den Inhalt, und die soziale Interaktion ist das Medium. Das Ergebnis sind die sozialen Unterschiede, die wir in den westlichen Gesellschaften beobachten“ (Fenstermaker/West 2001, S. 245). Fenstermaker und West betonen auch in diesem Zitat, dass in alltäglichen Interaktionsabläufen Menschen bestrebt sind, Dinge und Personen ihrer ‚wahren Natur‘ gemäß zu beschreiben und zu beurteilen, wobei diese ‚wahre Natur‘ jedoch auf der Zuordnung zu sozialen Kategorien beruht. Indem die Mitglieder einer Gesellschaft ihr Handeln danach ausrichten, bestätigen und reproduzieren sie eben diese darauf aufgebaute soziale Ordnung als ‚normal‘ und ‚natürlich‘ und machen den Herstellungsprozess unsichtbar. Nun werden jedoch nicht alle Differenzierungsformen und daraus resultierenden sozialen Ungleichheiten in gleichem Maße mit ihrer ‚Naturhaftigkeit‘ begründet; soziale Positionie-

302

9 Die Vergeschlechtlichung sozialer Wirklichkeit

rungen im System sozialer Schichtung etwa wurden im Mittelalter und der frühen Neuzeit als ‚gottgewollt‘ angesehen, waren also religiös hergeleitet und wurden im Zuge der Aufklärung nicht mit dieser Nachhaltigkeit naturalisiert und essentialisiert wie Ethnizität und Geschlecht. Auch in diesen Dimensionen hat die Rückverweisung auf Natur in den letzten Jahren erheblich an Erklärungskraft eingebüßt. Erst mit dem damit verbundenen Verlust ‚natürlicher Evidenz‘ können Hautfarbe und Geschlecht in aller Konsequenz als sozial hergestellte Differenzen erkannt und in ihren Folgen politisiert werden, obwohl bereits seit einiger Zeit in Bezug auf beide Dimensionen Emanzipations- und Befreiungsbewegungen bestehen. Welche Konsequenzen sich aus dieser Verschiebung für die Analyse des „doing difference“ ergeben, ist im Einzelnen kaum absehbar. Eine Begründung, warum man sich auf die drei Kategorien „race-class-gender“ begrenzen sollte, erwächst daraus auf jeden Fall nicht.

9.6

„Undoing gender“

9.6.1

„Can we ever not do gender?“

Wir haben dieses Kapitel „Die Vergeschlechtlichung sozialer Wirklichkeit“ genannt, um deutlich zu machen, dass Geschlecht nicht als ein Merkmal von Individuen zu verstehen ist. Stattdessen haben wir aufgezeigt, wie Geschlechter in sozialen Prozessen differenziert werden und diese Differenz dann in soziale Strukturen so eingeschrieben wird, dass sie als unhintergehbare Zuschreibung jedes Individuum erfasst. Wo sie aufgerufen wird, tritt sie als „Totalunterscheidung“ (Biermann 2007) auf: Niemand kann ihr entkommen, niemand sie überwinden. Selbst in den Versuchen des Unterlaufens – z. B. in der Travestie oder Transsexualität – und bei bi-, hetero- oder homosexuellen Menschen stellt die Differenzierung in zwei einander ausschließende Geschlechter den Bezugspunkt dar. Und obwohl es inzwischen weite Bereiche der Öffentlichkeit erreicht hat, dass es ‚andere‘ Menschen gibt, die sich der Zweiteilung nicht fügen können oder wollen, erschüttert das die alltagsweltliche Wahrnehmung der Einteilung in zwei Geschlechter nicht. Von dieser Unterscheidung der Geschlechtskategorien („sex-category“) ist ihre Bedeutung in alltäglichen Prozessen, z. B. für die Berufswahl, Freundschaften, Paarbeziehungen, soziale Ungleichheit etc. zu unterscheiden. Aus der Darstellung und Wahrnehmung von Personen allein als ‚Mann‘, ‚Frau‘ wurde vielfach die Folgerung gezogen, Geschlecht sei „omnirelevant“ und ein andauernder Bestandteil jeder menschlichen Aktivität („ongoing accomplishment“). Entsprechend lautet die Antwort auf die Frage „can we ever not do gender?“, dass es unvermeidbar sei, solange Menschen in eine der beiden Kategorien eingeteilt würden (West/Zimmerman 1987, S. 157). Ähnlich wurde auch aus anderen theoretischen Positionen heraus argumentiert, dass Geschlecht über verschiedene Gesellschafsformationen hinweg ein „Platzanweiser“ war und ist und in keiner Weise an Bedeutung verloren habe (z. B. Knapp 2001). Diese Position wird in diesem Buch nicht vertreten: Für uns folgt aus der Allgegenwart (Omnipräsenz) der Geschlechterunterscheidung nicht deren Omnirelevanz. Etwas anders ausgedrückt: Die Zuordnung zu einem Geschlecht beansprucht zwar lebenslange Geltung und in sozialen Situationen besteht ein Zwang zur wechselseitigen Kategorisierung. Damit ist aber nicht gesagt, dass die Geschlechterunterscheidung in jeder Lebensphase und in jeder Situation auch den gleichen Stellenwert – die gleiche Relevanz – hat. Vielmehr steigt unter bestimmten Bedingungen deren kontextuelle Kontingenz an, d. h. Geschlecht kann in einer

9.6 „Undoing gender“

303

Situation hochrelevant sein (z. B. bei der Paaranbahnung in der Bar) und in einer anderen in ihrer Bedeutung deutlich zurücktreten (z. B. beim Moderieren einer Nachrichtensendung). In Internetkommunikationen ist es sogar möglich, die Geschlechtszugehörigkeit gar nicht erst thematisch werden zu lassen. So ist es z. B. im Forum zu einer Koch- oder Gartenseite gleichgültig, ob „Zwiebelfan“ männlich oder weiblich ist, d. h. hier ist in die Situation als solche keine Geschlechterunterscheidung eingelassen. Wir werden im Zusammenhang „kontextueller Kontingenz“ zwei Fragekomplexen nachgehen, einmal der Frage nach dem Verblassen und Aufweichen von Geschlechterunterschieden und zum anderen der Frage, ob wir die Geschlechterunterscheidung aussetzen können. Beides ist analytisch voneinander zu scheiden, empirisch aber eng miteinander verschränkt.

9.6.2

Kontextuelle Kontingenz: Aufweichen von Geschlechterunterschieden

Die Annahme kontextueller Kontingenz leuchtet im Hinblick auf „Geschlechtsunterschiede“ vergleichsweise problemlos ein. Heute wird in sehr viel geringerem Ausmaß als noch vor 50 Jahren auf ‚Wesensunterschiede‘ und Fähigkeiten im Sinne eines ‚Geschlechtscharakters‘ rekurriert. Moderne Gesellschaften sind keine ‚gender-Gesellschaften‘ in dem Sinne, dass die Geschlechtszugehörigkeit die Art der Lebensführung determiniere. Die Annahme, Geschlecht sei nach wie vor durchgängig ein ‚Platzanweiser‘, übersieht, dass im Zuge der Institutionalisierung von Gleichstellung die Kategorie Geschlecht auch an Ordnungsfunktionen verloren hat (Heintz 2001). Teilhabechancen in Wirtschaft, Wissenschaft, Politik und Kultur sind nicht mehr an die Geschlechtszugehörigkeit gebunden. Soziale Ungleichheit zwischen den Geschlechtern wird nicht mehr als ‚normale Folge‘ des Geschlechterunterschieds gesehen, sondern gilt im Gegenteil als begründungsbedürftig und illegitim. Insofern ist dem Ausschluss von Frauen der formelle institutionelle Boden entzogen worden und Geschlechterunterschiede haben an kulturellem Sinn verloren. Ihre Kontingenz wurde offensichtlich. Bettina Heintz und Eva Nadai (1998) haben dies als „De-Institutionalisierung der Geschlechterdifferenz“ bezeichnet und gleichzeitig betont, dass damit nicht automatisch ein Bedeutungsverlust von Geschlecht einhergehe. Vielmehr haben sich die Reproduktionsbedingungen verschoben: Statt institutionell abgesichert zu sein, müsse die Differenz nun im Handeln der Akteure relevant gemacht werden. Das wichtigste Medium in der Reproduktion der Geschlechterdifferenz seien nicht mehr selbstevidente Institutionen, sondern Interaktionen (vgl. Kap. 6.3). Versuchen wir aber Interaktionen aufzuschlüsseln, so stellt sich soziale Praxis eben nicht so dar, dass die Kategorie Geschlecht stets interaktiv eindeutig bedeutsam gemacht wird (vgl. dazu Kelle 2001). In der Analyse entsprechender sozialer Situationen versuchen wir zunächst einmal zu identifizieren, inwieweit sich an die Geschlechtszugehörigkeit normative Verhaltenserwartungen heften, über die Geschlechterunterschiede immer wieder neu hergestellt und validiert werden können. Jenseits der Erwartung unmittelbarer visueller Erkennbarkeit der Geschlechtszugehörigkeit wird es aber immer schwieriger, solche normativen Verhaltenserwartungen dann eindeutig zu identifizieren, wenn die Tätigkeitssphären der Geschlechter nicht getrennt sind, in ähnlichen Berufen gearbeitet wird und man gemeinsam Marathon läuft. Als Wahrnehmungsfolie bleibt Geschlecht aufgrund der Visualisierung latent bestehen, aber es bietet keinen Hintergrund mehr, in jeder Situation für Verhaltenssicherheit zu sorgen.

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9 Die Vergeschlechtlichung sozialer Wirklichkeit

Die Kategorie „Geschlecht“ ist hier immer stärker in Konkurrenz zu einer normativ gesetzten Individualität(serwartung) geraten, und ein Ende des Prozesses scheint nicht in Sicht. In den 1950er Jahren war es noch selbstverständlich, dass Frauen einen Ehemann suchen, der ihnen Status, Einkommen und Ansehen garantiert. Zwar galt die romantische Liebe als Grundlage der Ehe, aber das störte die Partnerwahl nach diesem Muster nicht (vgl. Born et al. 1996). Es war als solches allgemein akzeptiert, auch wenn es sich nicht immer realisieren ließ. Partnerwahl heute dagegen gilt als ein ausschließlich individuelles Geschehen, das ganz und gar auf individuellen Vorlieben und Sehnsüchten beruht. Wenn eine heterosexuelle Frau betont, auf große Männer zu stehen, dann gilt der Hinweis darauf, dass dies doch das normale heterosexuelle Paarbildungsmuster ist, sehr schnell als Beleidigung. Allein der Verweis auf ein soziales Muster scheint die Individualität als Person in Frage zu stellen und wird deshalb nachdrücklich von sich gewiesen. Die Konkurrenz von Individualitätsanspruch und Geschlecht verdeckt einerseits häufig, dass sich die Kategorie Geschlecht immer noch als Wahrnehmungsfolie und Verhaltenserwartung Bahn bricht, andererseits aber werden mit und durch diese Konkurrenz auch Widersprüche und Hybridisierungen möglich. Hybridisierung meint die Kombination von Merkmalen oder Attributen, die ursprünglich klar voneinander unterschiedenen Seiten angehörten und in die eine Bewertungsasymmetrie eingelassen ist, wie eben im Fall von ‚weiblich – männlich‘. Hybridisierung geschieht, wenn bspw. der Kampfstil einer Weltmeisterin im Boxen respektvoll als aggressiv, kampffreudig und knallhart beschrieben wird, der einzigen Frau im Vorstand eines DAX-Unternehmens Führungsstärke oder der Kanzlerin ein ‚natürlicher Machtinstinkt‘ bescheinigt wird, einem Grundschullehrer Geduld, Sanftmut und Einfühlungsvermögen in Kinder attestiert wird oder einem Vater ein ‚instinktives Wissen‘, ob das Babygeschrei jetzt Hunger oder Müdigkeit bedeutet. Mit traditionellen ‚Geschlechterunterschieden‘ hat das wenig zu tun – sie scheinen bis zur Unkenntlichkeit aufgeweicht. Trotzdem wird die binäre Geschlechterklassifikation aufrechterhalten. Was geschieht z. B. in dem Satz eines Boxtrainers in einem Film über Frauenboxen: „Frauen lieben es, hart zuzuschlagen. Sie lächeln dann“? Für den Hörer treten Geschlechtsklassifikation und Verhalten hier zunächst auseinander und werden im Schlusssatz auf überraschende Weise ‚versöhnt‘: Lächeln gilt als eine jener Verhaltensweisen und Umgangskonventionen, die im „doing gender“ von Frauen einen hohen Stellenwert haben, aber i. d. R. in einem Gegensatz zu hartem Zuschlagen stehen. Je mehr Geschlechter pluralisiert sind, Grenzgänger/innen entstehen, Biographien zwischen verschiedenen Bereichen oszillieren und Hybridbildungen Raum geben, umso weniger Raum gibt es für Stereotypisierungen und konventionalisierte Umgangsformen. Damit kann sich in Interaktionen der Druck auf die Akteure deutlich verringern, den oder die jeweils anderen auf ihren Geschlechtsstatus festzulegen. Damit kann dann auch die Bestimmung der Relation als gleich- oder gegengeschlechtlich (vgl. Kap. 9.1.3) in den Hintergrund treten, ein Konsens darüber entstehen, dass die Geschlechtszugehörigkeit der in dieser konkreten Situation Anwesenden nichts zur Sache tut. Damit würde der Sinn der Geschlechtertrennung verfallen, sie würde trivialisiert: „Geschlechter werden nur dann unterschieden, wenn dies einen Unterschied macht. Je mehr soziale Konsequenzen die Geschlechterunterscheidung aber tragen soll, desto schwieriger wird das Durchhalten der Unterscheidung. Und umgekehrt: Je weniger Konsequenzen die Unterscheidung hat, desto konsequenter kann unterschieden werden, aber desto mehr schwindet auch das Interesse, sie überhaupt zu machen“ (Hirschauer 2001, S. 233).

9.6 „Undoing gender“

305

Wenn aber das Interesse schwindet, die Unterscheidung „überhaupt zu machen“, dann geht es nicht mehr allein um Unterschiede zwischen den Geschlechtern, sondern um die Praxis des Unterscheidens, d. h. darum, dass die Annahme zweier essentiell verschiedener Geschlechter ausgesetzt werden kann.

9.6.3

„Yes we can“ – das Aussetzen der Geschlechterunterscheidung

Dass die Frage nach der Praxis des Unterscheidens überhaupt in dieser Form soziologisch gestellt wird und gestellt werden kann, ist ein historisch neues Phänomen. Die meisten Klassiker (vgl. Kap. 2.2 und 3.1) haben faktisch zur Naturalisierung von Unterschieden beigetragen. Auch in der Soziologie nach dem zweiten Weltkrieg wurde die Frage nicht gestellt, denn die vollzog sich ohnehin weitgehend „unter Absehung des Geschlechts“ (Heintz 2001, S. 9) bzw. reduzierte diese Dimension sozialer Wirklichkeit auf das Feld der Familiensoziologie, die selber nicht selten zur Naturalisierung von Familie beitrug. Die Frauenforschung der 1970er und 1980er Jahre war verstrickt in die Frage um Differenz oder Gleichheit: Wie kann eine ‚Gleichberechtigung‘ von Frauen erreicht werden, die nicht lediglich eine „Angleichung an die Mannesstellung“ beinhalte, sondern der wie auch immer gearteten „Differenz“ Rechnung trage (Gerhard et al. 1990). Auch diejenigen, die in der Soziologie der Idee einer „sozialen Konstruktion von Geschlecht“ und der Figur des „doing gender“ den Weg gebahnt haben (z. B. Garfinkel 1967; Goffman 1994 [1977]; Kessler/McKenna 1978; West/Zimmerman 1987), haben auch vor einem entsprechenden historischen Hintergrund weitgehend selbstverständlich mit der Annahme der „Omnirelevanz“ gearbeitet. Erst mit Beginn der 1990er Jahre wurde zunächst in den USA, dann auch in Europa immer nachdrücklicher die „Dekonstruktion“ der Geschlechterdifferenz eingefordert und begonnen über „degendering practices“ nachzudenken, über ein gesellschaftliches Leben ohne geschlechtliche Differenzierung (z. B. Lorber/Farrell 1991; Butler 1991; Lorber 2005). Entsprechend unvertraut, fremd und irritierend ist es noch, wenn die Kontingenzannahme nun auch dahingehend ernst genommen wird, dass gefragt wird, ob und wie auch die Geschlechterunterscheidung ausgesetzt werden kann. Welche Spielräume haben Interaktionsteilnehmer in unterschiedlichen situativen Kontexten, die Unterscheidung von Personen nach Geschlecht so konturlos werden zu lassen, dass sie für eine trennscharfe Personenkategorisierung mit sozialen Konsequenzen nicht mehr taugt? Dieser Frage hat sich vor allem Stefan Hirschauer (1994, 2001) mit dem Konzept des „undoing gender“ genähert. Auch wenn, wie Goffman so treffend schreibt, ein Individuum, wo immer es sich befindet und wohin auch immer es geht, „seinen Körper dabei haben muß“ (Goffman 1994, S. 152), und Geschlecht im alltagsweltlichen Wissen primär als Körpergeschlecht definiert ist, so ist es doch eine empirische Frage, ob und vor allem wie die jeweilige Zugehörigkeit aktiviert wird. Hirschauer kritisiert am „doing gender“ die Annahme, dass es sich dabei um einen permanent stattfindenden, andauernden Konstruktionsprozess handele und betont stattdessen die Diskontinuität: „Der Prozess der Geschlechterkonstruktion besteht aus Episoden, in denen Geschlecht in sozialen Situationen auftaucht und verschwindet“ (Hirschauer 1994, S. 677). Die Annahme ständiger Herstellung von Geschlecht („ongoing accomplishment“) sei vor allem dadurch zustande gekommen, dass die ersten Forschungen am Beispiel von Transsexuellen stattfanden und dabei übersahen, dass die Geschlechtszugehörigkeit für Transsexuelle in der Tat dauerthematisch ist, solange sie befürchten, durch Kleinigkeiten in Aussehen und Verhalten aufzufallen und sich zu verraten. In anderen alltäglichen sozialen

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9 Die Vergeschlechtlichung sozialer Wirklichkeit

Situationen gilt das gerade nicht: Die Geschlechtszugehörigkeit ist für die Anwesenden selbstverständlich, ihre Geschlechtsdarstellungen sind selbstvergessen. Diese Selbstvergessenheit und ihre Selbstverständlichkeit (die Sichtbarkeit der jeweiligen Geschlechtszugehörigkeit) stellt eine zentrale Voraussetzung dafür dar, dass die Geschlechterklassifikation auch in den Hintergrund treten, sogar „sozial vergessen“ (Hirschauer 2001, S. 208) bzw. zur einmal registrierten und dann abgelegten „Karteileiche“ werden kann (Hirschauer 1994, S. 679). Eine andere scheint darin zu liegen, dass erst mit den oben beschriebenen Widersprüchen und Hybridisierungen Probleme ‚richtiger‘ Zuordnung zu einer Geschlechterkategorie wahrgenommen werden und dadurch Klassifikationsprobleme entstehen können. Dieses Phänomen hat eine historisch neue Ausdehnung dadurch erreicht, dass die Unterscheidung sozial, rechtlich und ökonomisch konsequenzenloser und damit uninteressanter wurde. Faktisch wird mit „undoing gender“ und „degendering practices“ das Problem „Gleichheit und Differenz“ erheblich entschärft: Wenn eine Unterscheidung immer weniger soziale Konsequenzen hat, so löst sie sich zwar nicht auf, aber sie kann sich inhaltlich so weit entleeren, dass auch das tertium comperationis als solches an Bedeutung verliert und damit auch die Identifizierung „des Menschen“ mit dem (kulturell) „Männlichen“. „Undoing gender“ bedeutet damit nicht ‚Geschlechtslosigkeit‘. Vielmehr wird nach wie vor betont, dass für Personen in Bezug auf die Kategorie Geschlecht ein grundlegender „Ausweiszwang“ (ebd., S. 215) besteht. Jede und jeder müssen in ihrer Geschlechtszugehörigkeit erkennbar sein, geschlechtlich nicht klassifizierbare Personen sind nicht vorgesehen. Ebensowenig ist eine explizite Inszenierung von Nicht-Weiblichkeit oder Nicht-Männlichkeit gemeint. Eine solche Inszenierung wäre das Gegenteil der Inanspruchnahme von Neutralität. Beides betont in der Ablehnung eben die Kategorisierung, die abgelehnt wird und führt zu entsprechenden Typisierungen wie etwa „Mannweiber“, „falsche Frauen“, „Tunten“ oder „Warmduscher“ – sie sind keine ungeschlechtlichen Personen, sondern „geschlechtliche Unperson[en]“ (Hirschauer 1994, S. 679). „Undoing gender“ meint dagegen eher ein NichtNotiznehmen, Ruhenlassen oder auch ein Absehen von der Geschlechtszugehörigkeit der eigenen und der anderen Person(en). Es lässt sich als eine Art „höflicher Unaufmerksamkeit“ (Goffman 1974) verstehen, vergleichbar mit der normativen Verhaltenserwartung, dass sich Personen auf dem Gehweg nur kurz zur Kenntnis nehmen, so dass sie nicht aufeinander prallen, aber dann ein Desinteresse, eben Gleichgültigkeit aneinander signalisieren. Obwohl das Konzept des „undoing gender“ aus einer Kritik an den theoretischen Grundlagen zum „doing gender“ entstanden ist, ist es nur in Grenzen möglich, Spielräume der Neutralisierung im „undoing gender“ oder auch Spielräume für ein explizites „de-gendering“ theoretisch dingfest zu machen. Das Konzept lebt vielmehr davon, dass die Kontingenz der Geschlechterklassifikation in sozialen Situationen empirisch erfahren wird und sich nur in der sozialen Praxis (Empirie) entscheidet, ob eine initiale Geschlechterunterscheidung auf Grund solcher Insignien wie Kleidung, Frisur und Aufmachung im weiteren Verlauf der Interaktion aktualisiert wird oder aber in den Hintergrund tritt und neutralisiert wird. Methodisch liegt genau darin die Herausforderung: „Es gibt keine Positivität der Unterlassung“ (Hirschauer 1994, S. 678). Wie können wir sehen, was wir nicht tun? Im Falle der Minderheiten in einem Beruf kann ein „doing gender“ im Effekt zu einem „undoing gender“ im Sinne eines Neutralitätsgewinns führen, d. h. erst wenn die „normale Geschlechtszugehörigkeit“ von den anderen ratifiziert wurde, kann auf deren Irrelevanz bestanden werden (vgl. Kap. 9.3.4). Einen solchen „Umweg“ in Rechnung stellen zu müssen, verdeutlicht einmal mehr, dass wir es empirisch mit einem hochkomplexen Phänomen zu tun

9.6 „Undoing gender“

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haben. Angesichts der Verankerungen der Zweigeschlechtlichkeit in den Tiefenstrukturen der Interaktion ist gerade das Aussetzen, das Ruhenlassen der Geschlechterunterscheidung äußerst voraussetzungsvoll. Es geht zumindest derzeit (noch) nicht von allein. Ruhenlassen und Entdramatisierung verlangen sowohl eine institutionelle Infrastruktur als auch von Seiten der Akteure eine hohe Kontextsensibilität und die Bereitschaft, auf vergeschlechtlichende Praktiken zu verzichten, eine entsprechende Aktualisierung nicht aufzunehmen, leer laufen zu lassen, zu trivialisieren. Chancen dafür gibt es genug: Wie viele andere soziale Kategorien dient auch die Sortierung nach Geschlecht vor allem in ersten Begegnungen zur Verhaltensorientierung, während sie bei zunehmender Bekanntheit (und Vertrautheit) durch eingespielte Verhaltensmuster zurücktreten kann. Je weniger man auf Geschlecht zur Verhaltensorientierung angewiesen ist, je konkreter sich Verhaltensangebote z. B. auf Funktionen beziehen, umso häufiger könnten wir ‚undoing gender‘ erleben, z. B. an der Supermarktkasse oder bei der Bestellung im Schnellimbiss. Das Konzept des „undoing gender“ sensibilisiert uns für die Möglichkeit einer sozialen Wirklichkeit, in der eben diese Differenzierung keinen Unterschied mehr macht. Die mit dem Gleichheitsgrundsatz verbundenen Egalitätsnormen schaffen zunehmend eine institutionelle Infrastruktur, in der Geschlechtszugehörigkeit zurücktreten kann. In vielen schulischen oder universitären Leistungen kommt zumindest programmatisch die Geschlechtszugehörigkeit nicht zum Tragen (Zensuren, Zeugnisse) und bei Blindbewerbungen oder ‚Blindtests‘ kommt sie erst gar nicht zum Einsatz. „Undoing gender“ vollzieht sich damit nicht jenseits der Geschlechterdifferenzierung. Es geht vielmehr darum, auszuloten, wo Einsatzpunkte zu finden sind, Dimensionen benannt werden können, die die binäre Unterscheidungsstruktur relativieren und vervielfältigen, so dass Mehrschichtigkeit und Widersprüchlichkeit von Grenzziehungen zwischen den Geschlechtern ebenso wahrgenommen werden können wie die Schwierigkeit, die oft bereits in Anspruch genommene Geschlechtsneutralität auch real herzustellen. Beides öffnet den Blick dafür, dass Geschlecht akteursbezogen, interaktiv und auch von der sozialen Infrastruktur her in unterschiedlicher Weise relevant gemacht wird und sich dabei auch unter der Hand die Form der Unterscheidung wandeln kann. So kann aus einer binär-polarisierenden Unterscheidung, in der der Zwang zur Eindeutigkeit keinen Übergang zwischen den beiden Seiten erlaubt, eine mehrgliedrige Unterscheidung mit drei oder mehr Seiten werden (vgl. dazu Wille 2007), durch die „Differenzen in der Differenz“ (ebd., S. 52) freigesetzt und sichtbar (gemacht) werden. Eine Möglichkeit dazu wird seit langem in der Verschränkung der binären Geschlechterunterscheidung mit anderen, nicht binär strukturierten sozialen Kategorisierungen bzw. „Achsen der Differenz“ (Schichtungsstrukturen, ethnische Zugehörigkeit, sexuelle Orientierung, Alter) gesehen, wobei diese situativ die Unterscheidung nach Geschlecht durchaus überlagern können (vgl. dazu auch Kap. 9.5). Wenn wir zum Schluss dieses Buches festhalten, dass in den verschiedenen und vielfältigen Prozessen sozialen Wandels der letzten 200 Jahre Spielräume entstanden sind, in denen nicht nur Inhalte von Geschlechtsunterschieden, sondern auch die Form der Unterscheidung selbst geöffnet werden kann, dann liegt darin vor allem eine empirische Herausforderung für die Geschlechtersoziologie: Welche Unterscheidungsstrukturen werden aktualisiert, wie werden sie konkretisiert, wann wird einer Unterscheidung nicht mehr entsprochen, wo findet gar keine mehr statt? Ein Problem dabei ist, dass wir diese Räume erst sehen lernen müssen, auch wenn sie uns mitunter direkt vor Augen liegen. Das verlangt, auf die beliebten Frauen/ Männer Vergleiche weitgehend zu verzichten und uns auf neuem Niveau dem Prozess der

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9 Die Vergeschlechtlichung sozialer Wirklichkeit

Unterscheidung zuzuwenden. Das Buch dazu wird aber wohl erst in einigen Jahren geschrieben werden können. Vertiefende Literatur: • • • • • •

Douglas, Mary, Wie Institutionen denken, Frankfurt am Main 1991. Gagnon, John H., William Simon, Wie funktionieren sexuelle Skripte? in: Schmerl, Christiane et al. (Hrsg.), Sexuelle Szenen. Inszenierung von Geschlecht und Sexualität in modernen Gesellschaften, Opladen 2000, S. 70–95. Hirschauer, Stefan, Das Vergessen des Geschlechts. Zur Praxeologie einer Kategorie sozialer Ordnung, in: Heintz, Bettina (Hrsg.), Geschlechtersoziologie. Sonderheft 41 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, S. 208–235. Lorber, Judith, Breaking the bowls. Degendering and feminist change, New York (u. a.) 2005. Ridgeway, Cecilia L., Interaktion und die Hartnäckigkeit der Geschlechter-Ungleichheit in der Arbeitswelt, in: Heintz, Bettina (Hrsg.), Geschlechtersoziologie. Sonderheft 41 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychlogie, Opladen 2001, S. 250–275. Wetterer, Angelika, Arbeitsteilung und Geschlechterkonstruktion. Eine theoriegeschichtliche Rekonstruktion, in: Aulenbacher Brigitte, Angelika Wetterer (Hrsg.), Arbeit. Perspektiven und Diagnosen der Geschlechterforschung, Münster 2009, S. 42–63. Denkanstöße und weiterführende Fragen: Ein Auszug aus einem Beobachtungprotokoll während der Mittagspause in einem Konzern: „Fahrzeuge und ihre technischen Details wurden häufig diskutiert. So z. B. als Frau Mende, Frau Krüger und Herr Shaboa sich über Limousinen unterhielten, dabei Fahrverhalten, Technik und Werteverfall ihrer Dienstwägen beurteilten. Shaboa erzählte Krüger, dass er keine Ahnung habe, wie er die Uhr bei seinem Wagen einstellen könne. Sie antwortete gespielt arrogant: ‚Herr Shaboa, das geht doch über das Navigationssystem. Das steht doch alles im Handbuch! Soll ich Ihnen da mal eine technische Hilfestellung geben?‘ Alle lachten (Shaboa ist technischer Spezialist, Mende und Krüger haben eine betriebswirtschaftliche Vorbildung)“ (Hericks 2011, S. 187). • Was ist der Witz an dieser Geschichte? • Variieren Sie die Geschichte – tauschen Sie Geschlechter, Berufe und Themen aus – wann ist es (noch) lustig, wann ist es beleidigend?

10

Schluss: Denkgefängnisse unserer Zeit

Im Rückblick auf die letzten gut zwei Jahrhunderte haben wir die Errichtung und langsame Durchdringung von ‚Denkgefängnissen‘ nachgezeichnet. Auch wenn die Konstruktionstheorien entscheidende Mauern eingerissen haben, sind wir nichtsdestotrotz auch ‚Kind unserer Zeit‘ und werden uns wohl von nachfolgenden Generationen unsere Denkgefängnisse aufzeigen lassen müssen. Einige Schranken, denen wir unterlegen sind, können wir allerdings erahnen, da sie sich als historisch immer wiederkehrende Probleme erweisen, die nach wie vor nicht gelöst sind. Bei anderen können wir die Tücken erahnen, weil es schon einmal anders war: So ist die rigide Trennung von Männern und Frauen im binären ZweiGeschlechter-Modell historisch relativ neu und hat ein über viele Jahrhunderte gültiges Modell abgelöst, in dem Frauen von Männern nur graduell unterschieden wurden und sie nicht als zwei grundsätzlich differente Spezies der Gattung angesehen wurden. Neben der Frage, ob das Zwei-Geschlechter-Modell (empirisch) überholt ist, was folgt und ob neue Modelle eine ‚echte‘ Alternative bieten, begründen sich Denkgefängnisse aus der Paradoxie, die mit der Erfindung des Gleichheitsgedankens entstand, sowie aus der Art und Weise, wie das Verhältnis von Natur und Gesellschaft gefasst wird. So hat es eine lange Tradition, Natur im Kontrast zu Gesellschaft zu denken, in der Natur das ‚(Vor)Gegebene‘ zu sehen, das von dem gesellschaftlich ‚Gemachten‘ klar unterschieden werden kann. Im Alltagsdenken ist Natur stets das ‚Andere‘ zur Gesellschaft und gilt gerade in westlich-säkularen Gesellschaften oft als letzte Instanz für die Interpretation der Welt. Dabei ist der basale Dualismus von Natur und Kultur (Gesellschaft) durch die Allgegenwart kulturell-technischer Artefakte (Infrastruktur, Instrumente/Werkzeuge, Düngemittel, aus Hybriden erzeugtes Saatgut, Apparate/Maschinen etc.) und Medien (Kommunikationswesen) vielfach implodiert, da immer weniger eindeutig bestimmt werden kann, was daran ‚natürlich gegeben‘ und was ‚künstlich gemacht‘ ist. Sie sind längst zur ‚zweiten Natur‘ geworden. Gleichzeitig ist ein Unbehagen an dieser Entwicklung entstanden, wird in technologischen (gesellschaftlichen) Entwicklungen eine Gefahr für die ‚erste Natur‘ gesehen und diese als bedroht und schützenswert betrachtet. Und bei kaum einem anderen Thema entsteht ein solcher Sog, auf eine vermeintlich ‚erste Natur‘ zu verweisen, wie bei Geschlecht. Der Verweis auf Natur hat zwei Aspekte: zum einen die Geschlechtertrennung als ‚natürliche‘ Zweigeschlechtlichkeit und zum anderen, dass Frauen in die Nähe der Natur gerückt werden, Männer dagegen für Geist und Kultur stehen. Der sich beim Thema Geschlecht nahezu selbstläufig herstellende Rückbezug auf Natur lässt sich so auf ein bestimmtes Denkmuster zurückführen, in dem Natur und Körper gleichgesetzt werden, diese Körper ‚von Natur aus‘ ein Geschlecht ‚haben‘ und damit Frauen als Nicht-Männer angesprochen sind. Gerade weil Geschlecht immer wieder als ‚natürliche‘ Grundlage menschlichen Lebens gedeutet wurde und wird, ist es umso wichtiger, sich klar zu machen, dass sich Auffassungen zum Verhältnis von Natur und Gesellschaft im Laufe der Jahrhunderte grundlegend geändert haben. Eine Geschlechtersoziologie kommt daher nicht umhin, das Verhältnis natürlicher

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10 Schluss: Denkgefängnisse unserer Zeit

Grundlagen des menschlichen Lebens zur gesellschaftlichen Herstellung und Deutung von Natur zu reflektieren. Der Gedanke, dass Natur nur als gesellschaftlich gedeutete für diese Aufgabe herangezogen werden kann, ist nicht nur dem Alltagsdenken vergleichsweise fremd. Dieser Gedanke stellt eine wichtige Linie dar, über die sich die von uns vorgestellten Ansätze trennen lassen: Diejenigen, die ‚Natur‘ in die (proto)soziologische Analyse hereinholen, bieten die Möglichkeit die Unterscheidung nach Geschlecht selbst in den Blick zu nehmen. Wo dies nicht geschieht, sind sehr unterschiedliche Vorstellungen zum Verhältnis von Natur und Geschlecht entstanden, in denen eine breite Palette zwischen Idealisierung und Rohmaterial, zwischen bearbeitbar und Schicksal, zwischen geheimnisvoll und zweckmäßig usw. zum Tragen kommt. Wir haben das Buch mit einigen wichtigen Autoren der Aufklärung begonnen, die das Verhältnis von Mensch und Natur vor dem Hintergrund der Auflösung religiöser Deutungsmacht neu zu bestimmen begonnen haben. Nur wenige haben hier wie Th. G. v. Hippel die menschliche Auslegung und Gestaltung dessen, was Natur sei, berücksichtigt. In der dominierenden Vorstellung trat die Natur unhinterfragt als ‚Ratgeber‘ auf, und die Ideale gesellschaftlicher Ordnung wurden nun aus ihr abgeleitet wie zuvor aus der Bibel. Natur schien bei diesen Autoren (z. B. Rousseau oder den Anthropologen) sinnhaft geordnet. In diesen Idealen war auch das Verhältnis der Geschlechter geregelt. Es galt als ‚von Natur aus‘ komplementär, wobei ‚die‘ Frau die Ergänzung war, ‚dem‘ Mann dagegen der Status des allgemeinen Menschen – des Individuums – zukam. Diese Position lagerte sich zunehmend in (selbstverständliche) Wissensbestände ein und beeinflusste so die nachfolgenden Denker. In der frühen Phase der Soziologie wurde Gesellschaft selbst als ‚Naturverhältnis‘ verstanden, wobei das Naturverständnis erheblich differierte. Comte sah in der Soziologie eine Naturwissenschaft nach dem Bilde der Physik, das heißt in ihr galten „Naturgesetze“, für Marx und Engels dagegen schien es Aufgabe des Menschen, sich von „Naturgesetzen“ gesellschaftlicher Entwicklung zu befreien. Geschlecht war in beiden Konzepten gleichbedeutend mit Frauen. Bei dem einen (Comte) wurden sie durch das Ideal der Liebe zu Garantinnen von „Humanität“ überhöht, von den anderen (Marx und Engels) tendenziell zu ‚Opfern‘ des Kapitalismus erklärt, da die Arbeiterinnen der Familie ‚entzogen‘ würden. Im 19. Jahrhundert hielt die Evolutionsbiologie Einzug in die Soziologie. Spencer, der die Soziologie mit der Evolution verknüpfte und in der Differenzierung und Arbeitsteilung den entscheidenden Motor für den Fortschritt sah, ließ Frauen weitgehend außen vor: Ihr Auftrag zur Prokreation ließ eine dem Mann vergleichbare Differenzierung nicht zu. Er war aber hier schon zögerlich, was eine weitere gesellschaftliche Entwicklung („in ferner Zukunft“) ermöglichen könnte. Ebenso wie Marx und Engels sah er durchaus Chancen, dass sich die alleinige Beschränkung von Frauen auf Haus und Familie auflöse. Für Spencer war hier aber nicht die befreiende Wirkung des Kommunismus, sondern Bildung der entscheidende Motor. Mit Durkheim, Weber und Simmel setzte eine Entnaturalisierung von Gesellschaft ein. Gesellschaft ist etwas anderes als Natur und da es nun nicht mehr um die Entwicklung einer neuen wissenschaftlichen Perspektive, sondern um die Institutionalisierung als ein eigenständiges Fach an den Universitäten ging, schien gerade die Abgrenzung von Biologie und Psychologie notwendig. Vor allem Georg Simmel arbeitete heraus, dass Soziologie als neue Disziplin nicht einen eigenen Gegenstand beanspruche (‚Gesellschaft‘), sondern diesen mit vielen anderen Wissenschaften teile. Das Besondere der Soziologie läge vielmehr in ihrer einzigartigen Perspektive: der Vergesellschaftung durch Wechselwirkungen. Webers Analyse der „Entzauberung“ der Welt betraf auch das Verhältnis von Gesellschaft und Natur: In der

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wissenschaftlichen Beobachtung, der Technisierung und Rationalisierung habe die Natur ihren ‚Sinn‘ als geordnetes Ganzes verloren, den sie in mythologischen/kosmologischen Weltdeutungen noch hatte. ‚Natur‘ spielte im Denken dieser Klassiker kaum noch eine Rolle – weder sahen sie in Gesellschaft ein Naturverhältnis, noch sahen sie in der Natur das ‚Andere‘ von Gesellschaft. Auch war Natur kein Gegenstand soziologischer Analyse. Diese Selbstbeschränkung trug mit dazu bei, dass sie – anders als Tönnies – Geschlecht (Frauen!) nicht umstandslos in der ‚Natur‘ verorteten, sondern erhebliche Anstrengungen machten, die Geschlechtertrennung soziologisch zu reflektieren, sei es als ein erster Schritt in die „organische Solidarität“ (Durkheim), als „Gegensatzpaar des Geistes“ (Simmel) oder über die „patriarchale Herrschaft“ (Weber). Aber gerade weil sie das Verhältnis zur Natur nicht soziologisch angingen, konnten sie ihr eigenes Programm letztlich nicht einlösen und so wurden hinterrücks in ihren Abhandlungen Frauen (und nur Frauen) dann wieder durch ihre vorsoziale ‚Natur‘ bestimmt. Mit G. H. Mead, Schütz und Mannheim wurde ein Denken möglich, das ‚Natur‘ als gedeutete wieder in die Soziologie zurückholt, indem sie die Grundformen der (sprachlich vermittelten) Welterfassung und Wirklichkeitsinterpretation zu ihrem Gegenstand machten. Damit wurde auch Geschlecht einer neuen Thematisierung zugänglich, die zwar nicht von ihnen geleistet wurde, aber die mit ihren Instrumenten möglich geworden war, welche bereits von V. Klein genutzt wurden. ‚Natur‘ existiert in diesen Entwürfen nur als soziale Konstruktion, in der zugleich auch die Grenzen des Sozialen zur Natur definiert werden, etwa in den Überlegungen zur „menschlichen Natur“ und dem, was diese an Sozialität ein- oder ausschließt. Viola Klein machte die Deutung von Natur bezogen auf Geschlecht in einer Zeit zum Gegenstand ihrer wissenssoziologischen Analyse, in der sich das (in der Aufklärung noch offene) Verständnis von Geschlecht als naturhafte Zweigeschlechtlichkeit voll durchgesetzt hatte. Dass sie dieses Denkgefängnis ihrer Zeit zu durchbrechen vermochte und (nicht von ungefähr) zu ähnlichen Ergebnissen wie Hippel kam, beruhte darauf, dass sie mit der Wissenssoziologie und der dokumentarischen Methode Hilfsmittel an der Hand hatte, mit denen sie festgemauerte Alltagsannahmen grundlegend in Frage stellen konnte. Mit dem sich nach dem zweiten Weltkrieg ausbreitenden Konzept der „Geschlechtsrollen“ wurden die Grenzen im Verhältnis von Natur und Gesellschaft zwar zugunsten einer sozialwissenschaftlichen Erörterung von Geschlecht verschoben, sie wurden jedoch als solche kaum in die Frage hineingenommen. Bei Linton und M. Mead wurde zwar die kulturelle Vielfalt von „Geschlechts-Alters-Kategorien“ bzw. „sex roles“ aufgewiesen, die Perspektive, dass hier Deutungen von Natur vorliegen, wurde jedoch nicht systematisch aufgegriffen und weiter verfolgt. Bei Lévi-Strauss und Parsons wurde Fortpflanzung und daraus resultierend gedachte Verwandtschaft vorausgesetzt; erst die Organisation dieser Verwandtschaften – bei Parsons reduziert auf die Kleinfamilie – wurde dann Gegenstand der kultur- und sozialwissenschaftlichen Betrachtung. In Parsons’ Konzept der Geschlechtsrollen ist die Zweigeschlechtlichkeit als funktional notwendige in die Sozialorganisation eingebaut. Seine (konservativen) Bemühungen, die Geschlechtsrolle von Frauen im Familienbezug zu definieren, können nicht als rein analytisch verstanden werden, sondern – wie V. Klein kritisierte – als ‚Restauration‘ einer Aufgabenverteilung zwischen Männern und Frauen, die bereits zu seiner Zeit nicht mehr so problemlos über ‚Natur‘ begründbar war. Hier können wir also eine deutliche ‚Grenzverschiebung‘ zwischen ‚natürlicher Bestimmung‘ und ‚gesellschaftlichen Erfordernissen‘ konstatieren.

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Aus Richtung der Frauenbewegungen wurde die Grenze ebenfalls verhandelt, doch hier ist das Ziel die Abschaffung ‚des Patriarchats‘. Dabei wurde jedoch nicht die Gestaltbarkeit von Natur in den gesellschaftlichen Wandel einbezogen. Vielmehr wurde von Teilen eine „weibliche Natur“ wiederbelebt, die – nun in ihrem Sinne umgedeutet – das Ideal einer gleichberechtigten und zugleich anderen Lebensweise als der ‚männlichen‘ mit der Unanfechtbarkeit des ‚Natürlichen‘ versehen sollte. Die Verhandlungen an dieser Grenze wurden innerhalb der frühen Frauenforschung ausgefochten, während sie sich zugleich mit Grenzziehungen auseinandersetzen musste, die außerhalb der Frauenbewegung aktiviert wurden und immer wieder die ‚natürliche Bestimmung‘ zur Familie aufriefen. Der Schritt aus der Überhöhung des ‚Weiblichen‘ hin zur Analyse des „Geschlechterverhältnisses“ vollzog sich primär im Bezug auf eine ‚kritische Gesellschaftsanalyse‘. Dabei musste das Klassenverhältnis gegen das Geschlechterverhältnis abgewogen werden. Zum einen wurde dies mit Bezug auf den jungen Marx verfolgt, der die Produktion von Lebensmitteln und die Erzeugung von Leben als gesellschaftliches Verhältnis bestimmte. Auf dieser Grundlage machte Ursula Beer Arbeit und Generativität zu Schlüsselbegriffen ihrer Analyse. Zum anderen erfolgte ein Rückbezug auf die ‚Kritische Theorie‘, wobei sich die Autorinnen davon distanzierten, dass Horkheimer und Adorno in ihren Arbeiten Frauen gesellschaftlich der ‚Natur‘ zugewiesen und in einen Gegensatz zu den Orten gerückt hatten, an denen ‚Geschichte gemacht‘ werde: der zweckgerichteten Naturbeherrschung. Ihr Ausgangspunkt ist, dass im Kontext dieser Organisationsprinzipien patriarchale Herrschaftsmechanismen zu sozialstrukturell ungleichen Lebenschancen von Frauen und Männern als biologische Ausprägungen der Spezies Mensch („Genusgruppen“) führen. Auch hier wird die Zweigeschlechtlichkeit damit in der Biologie (Natur) verortet, die Geschlechterverhältnisse aber sind allein der sozialen Organisation geschuldet. Bei der Unterscheidung von sex und gender ging es nicht um Geschlechterverhältnisse, sondern um die Vielfalt der Ausprägungen von ‚Männlichkeit‘ und ‚Weiblichkeit‘ auf der Grundlage einer biologisch-anatomischen Zweiteilung der Menschheit. Die Zweiteilung in weiblich und männlich galt als ‚natürlich‘, Weiblichkeit und Männlichkeit aber wurden allein als kulturelle Handlungsmuster verstanden. Mit ihnen reproduziere sich vielfach eine männliche Dominanzkultur, die Frauenwelten ausgrenze und unsichtbar mache. Hier wurde damit versucht, der – kulturell verstandenen – Weiblichkeit Gehör und Raum zu verschaffen, wobei sich bald zeigte, dass es sehr viele Weiblichkeiten gibt, die so ohne weiteres nicht auf einen Nenner (im Sinne eines politischen Handlungssubjekts) zu bringen sind. Während die letztgenannten Entwürfe Natur ebenso wenig als Gegenstand sozial- und kulturwissenschaftlicher Betrachtung gefasst hatten wie die Klassiker, waren doch seit den Entwürfen von G. H. Mead, Schütz, Mannheim und Klein (darauf Bezug nehmende) weitere Konzepte entstanden, die den Gedanken, dass wir Natur immer nur als gedeutete erfassen können, aufgriffen und systematisch auf Geschlecht angewandt hatten. Die Ansätze von Garfinkel (1967), Goffman (1994 [1977]; 1981 [1976]) und Kessler/McKenna (1978) zeigten nicht nur mit verschiedenen Verfahren auf, wie wir Natur auslegen, sondern vor allem, dass und in welchem Ausmaß wir bereit und imstande sind Widersprüche und Ungereimtheiten vor uns liegender Phänomene in unser soziales Deutungsschema der Zweigeschlechtlichkeit zu integrieren. Gerade in Bezug auf Geschlecht konnte so aufgezeigt werden, dass die Natur nicht nur ausgelegt wird, sondern überlagert wird von unseren Deutungsschemata, so dass dann auch bestimmte Körperformen als ‚unnatürlich‘ korrigiert werden – sei es die Gleichzeitigkeit von Agnes’ Busen und Penis oder sei es, dass die Bandbreite der Körpergrö-

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ßen von Personen beiderlei Geschlechts in der Paarbildung auf eine vermeintlich ‚natürliche‘ Differenz zwischen den Geschlechtern hin ‚korrigiert‘ wird.29 In der an die klassischen Untersuchungen anschließenden Forschung wurde vor allem der Prozesscharakter und die Kontextgebundenheit der Vergeschlechtlichung hervorgehoben und die Aporie der sex/gender-Trennung herausgearbeitet: Weder ist ein Körper mit männlichen Genitalien (sex) notwendig auf eine männliche Geschlechtsidentität (gender) bezogen, noch ist durch die anatomische Morphologie (sex) festgelegt, dass es zwei und nur zwei Geschlechtsidentitäten (gender) geben kann. Die Vorannahme, dass biologisches und soziales Geschlecht binär verfasst seien, wurde als latenter Biologismus des sex/gender-Modells offengelegt. Damit wurde grundsätzlich verweigert, die Zweigeschlechtlichkeit in der ‚Natur des Menschen‘ anzusiedeln. Vielmehr wurde jetzt verstärkt darauf insistiert, dass es sich um kulturell gedeutete Natur handelt und im Verlauf der Geschichte unterschiedliche Deutungen Geltung erlangten. Seit den Konstruktionstheorien wird diese These zum Programm:30 West und Zimmerman, Butler (und viele, die mit ihren Gedanken weiter arbeiteten) zeigten auf, dass die Geschlechterdifferenzierung in die der Alltagsannahme entgegengesetzte Richtung verläuft: In die ‚Natur‘ wird hineininterpretiert, was sozial entstanden und reproduziert wird. Naturalisierungsprozesse werden damit seit Anfang der 1990er Jahre systematisch zum Gegenstand, 200 Jahre nachdem Hippel darauf hingewiesen hat: „denn der Grund aller Behauptungen wird aus der Natur genommen, einer Urkunde, die das mit allen Urkunden gemein hat, daß ein Jeder, was er darin sucht, auch darin findet“ (Hippel 1828 [1792], S. 32). Dieser knappe Durchgang zeigt noch einmal pointiert auf, dass ‚Natur‘ nicht einfach das dem Sozialen Vorgängige oder das ‚Außen‘ von Gesellschaft ist, sondern in der Deutung die Grenze von Natur und Gesellschaft in ständiger Bewegung ist. Wir verstehen es als genuine Aufgabe einer Geschlechtersoziologie, herauszufinden, unter welchen Bedingungen gesellschaftliche Deutung von Natur aus ihrer Unsichtbarkeit heraustreten kann. Die Frage nach Geschlecht lädt wie kaum eine andere zu einer Reflexion dieser Grenze ein, weil Geschlecht auf alltagsweltlichen Naturalisierungsroutinen beruht und habituell verkörpert ist, so dass hier die Formung menschlicher Natur vergleichsweise offen zutage tritt. Nicht zuletzt deswegen blicken wir auf zwei Jahrhunderte der Auseinandersetzung um die ‚Natur der Geschlechter‘ zurück. Wann immer wir die Unterscheidung von Natur und Gesellschaft treffen, so entsteht darin ein Bild von Natur, in dem bereits eine erste gesellschaftliche Auseinandersetzung mit Natur enthalten ist. In diesem Bild reproduziert sich zugleich Gesellschaft: Zum einen wäre ohne Gesellschaft eine solche Unterscheidung nicht möglich und zum anderen gehen in dieses Bild normative Vorstellungen zum ‚Lauf der Dinge‘ ein, die sich im Zuge der Auseinandersetzung mit ‚Natur‘ auch verschieben und verändern können. Zur Zeit zeichnet sich vor allem in der Wissenschaft, aber auch zunehmend in den Medien eine Veränderung vom Zweigeschlechtermodell zum Kontinuitätsmodell ab, indem ein ‚dazwischen‘ entpathologisiert und normalisiert wird. Eine Lösung für die Frage nach der gesellschaftlichen Verortung und Bewertung liegt darin indes auch nicht: Auf diese Weise wer29 30

Diese Paarbildungsregel entstand ebenfalls im Bürgertum der Sattelzeit. Frauen waren in Paaren bis dahin nicht nur zufällig mal größer als Männer, die Haarmode des Adels führte sogar dazu, dass fast alle adeligen Frauen ihre Gatten deutlich überragten (Gieske 1998). In diesen Thematisierungen von Geschlecht, die auf die Unterscheidungen abzielen, sind Generativität bzw. ‚Familie‘ keine zentralen Themen. Darin zeigt sich, dass die Familie gerade nicht der Ausgangspunkt der Unterscheidung, sondern vielmehr ihr Ergebnis ist, der einen sozialen Apparat an Wissen, Arrangements und Praktiken voraussetzt, um letztlich als ‚natürlich‘ erscheinen zu können.

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den die ‚richtige‘ Männlichkeit/Weiblichkeit als Pole des Kontinuums wieder neu idealisiert (und naturalisiert). Während um 1900 die ‚biologische‘ Natur die Richtung vorgab, die man nicht anstreben musste, sondern die man höchstens ‚verfehlen‘ oder ‚bekämpfen‘ konnte und dann dies mit Krankheit büßen musste, ist jetzt ähnlich wie zu Zeiten Rousseaus und Kants diese ‚Natur‘ wieder anzustreben. Wir sind heute (wieder) in einem Denken des „Mach was aus dir“ angelangt, in dem der einzelne Mensch selbst Herr/in über die eigene Natur ist, dies aber auch als Handlungsauftrag hat. Die Alternativen lauten: Man kann sich gehen lassen, oder sich aktiv ‚optimieren‘. Das bezieht sich gerade auf die Geschlechter, zu denen in Medien, Werbung und alltäglichen Abgleichen mit anderen Frauen/Männern aufgezeigt wird, wie man sich zur ‚perfekten‘ Frau bzw. zum ‚perfekten‘ Mann verändern kann – hier wird Geschlecht zur Arbeit. Andere Modelle, wie sie im Zuge der Diskussion zu Intersektionalität oder zu Verbindungen von Geschlecht und Klasse entstehen, hätten keine Kontinuität, sondern eher eine ‚Tabellenförmigkeit‘ zur Folge, in der dann aber Geschlecht als unumstrittene Zweigeschlechtlichkeit bestehen bleibt. Gerade in der letzten Zeit mehren sich jedoch Beiträge die ein „Jenseits“ im Titel tragen: Jenseits der Geschlechterdifferenz, jenseits der Geschlechterverhältnisse, jenseits der Geschlechterordnung, jenseits der traditionellen Paarbeziehung oder auch: „Was kommt nach der Gender-Forschung?“ (Casale/Rendtorff 2008). Diese Titel sind stets mit einem Fragezeichen versehen. Es gerät offenbar immer mehr in den Blick, dass die soziale Wirklichkeit der Geschlechterunterschiede so eindeutig nicht mehr ist. Die Fragezeichen in den Titeln – und auch die Art der Antworten – zeugen davon, dass wir ein ‚Jenseits‘ nach wie vor nicht denken können, sondern die Aufteilung der Welt in Zwei trotz Kontinuitätsmodell und Intersektionalität ein Denkgefängnis par Excellence darstellt. Aus diesem Denkgefängnis auszubrechen, kann aber nicht bedeuten, Geschlecht zu ignorieren. Denn dann kämen wir wieder an den Punkt, auf den wir z. B. bei Max Weber hingewiesen haben, dass hier Menschen zu Männern gemacht werden. Geschlechtsblindheit führt – wie aktuell in Diskussionen zum Postfeminismus und in der Abwehr von Frauenquoten31 deutlich wird – zu diesen Verallgemeinerungen von Männern zum Allgemeinmenschlichen und ist nicht identisch mit „undoing gender“. Wie kommen wir also zu einer Entdramatisierung von Geschlecht, ohne dabei blind für die selbstverständlichen Denkschemata zu sein? Mit dieser Frage sind wir wieder zurück auf den Anfang verwiesen, denn damit sprechen wir die grundlegende Paradoxie an, die uns ebenfalls durch das Buch hindurch begleitet hat. Wir sind bei dem Paradox gestartet, das mit dem Gedanken der Gleichheit der Menschen entstand. Wenn man nicht mehr ‚gottgegebene‘ Unterschiede akzeptiert, dann wird jegliche soziale Ungleichheit fraglich, auch die der Geschlechter. Die Antworten boten eine Bandbreite, die wir auch heute in der Thematisierung von Geschlecht gespiegelt sehen: Einerseits wurde die Möglichkeit aufgezeigt, dass Geschlecht gesellschaftlich irrelevant sein könnte. Andererseits wurde die ‚gottgegebene‘ Unterordnung von Frauen unter Männer nun mit einer vermeintlich moralisch notwendigen und ‚naturgegebenen‘ kategorialen Verschiedenheit von Männern und Frauen legitimiert. Daraus folgte das Paradox, dass gleichzeitig die Gleichheit der Menschen beschworen, der Mensch aber männlich gedacht wurde, dem eine komplemen-

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Hier werden heutzutage seltener Unterschiede zwischen Männern und Frauen (z. B. Frauen wollen Karriere weniger) bemüht, als vielmehr konstatiert, dass dadurch Geschlecht über Qualifikation gestellt werde – d. h. es wird davon ausgegangen, dass Geschlecht sonst keine Rolle spiele. In der Diskussion – ob in der Ablehnung oder in der Befürwortung – werden Frauen wieder als ‚das Andere‘ vom ‚Allgemein-Menschlichen‘ gesetzt.

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täre ‚Weiblichkeit‘ entgegengesetzt wurde. Dies bedeutete für die Frauenbewegungen seit Olympe de Gouges, Mary Wollstonecraft u. v. m. die widersprüchliche Anforderung, auf diese Differenz Bezug nehmen zu müssen und auf Gleichheit zu pochen. Darin verstrickten sich auch die Befürworter/innen der (bürgerlichen) Frauenbewegung um die Wende zum 20. Jahrhundert. Mit Vorstellungen wie der ‚geistigen Mütterlichkeit‘, wie sie von Marianne Weber beworben wurden oder den ‚unspezialisierten‘ Tätigkeiten, die Simmel z. B. in der Hausarbeit oder dem Tanz sah, wurden Lösungsversuche unternommen, die jedoch wieder die kulturellen und gesellschaftlichen Aufgaben von Frauen als das ‚Andere‘ zu den ‚allgemeinmenschlichen‘ Leistungen definierten – auch wenn Simmel durchaus erkannt hatte, dass das ‚Männliche‘ mit dem ‚Allgemeinmenschlichen‘ gleichgesetzt wurde. Diejenigen, die dagegen konservative Lebensmodelle legitimieren oder restaurieren wollten, hatten mit dieser Paradoxie nicht zu kämpfen: Sie mussten vielmehr den Widerspruch zwischen ihren Vorstellungen und Geschlechterbildern einerseits und dem sozialen Wandel bzw. der sozialen Wirklichkeit andererseits überbrücken. Die drastischste Form dieser Denkweise war der Nationalsozialismus. Wie ein Ausschluss von Frauen aus der öffentlichen Sphäre und ihre Reduktion auf Familie ‚naturgegeben‘ sein kann, wenn zugleich Frauen zunehmend in die öffentlichen Bereiche hineindrängen, bedurfte der Erklärung und diese wurde mit den ‚Schwächungen‘ des ‚Volkskörpers‘ durch ‚Feinde des deutschen Volkes‘ geliefert. Die zweite Welle der Frauenbewegungen versuchte mit der Paradoxie umzugehen, indem sie eine bloße ‚Angleichung an die Mannesstellung‘ ablehnte. Die Forderungen auf gleiche Teilhabe wurden mit einer anderen, neuen Gesellschaftsordnung verknüpft, die das vorherrschende (männliche) Normalbild überwinden sollte. Daher wurde zum einen von der daran anschließenden Frauenforschung der „Androzentrismus“ kritisiert, der durch eine ‚andere‘ Sicht ergänzt werden müsste – womit wiederum die Differenz zum ‚Männlichen‘ herausgestrichen wurde. Zum anderen traf sich die Frauenforschung im Hinterfragen der Gesellschaftsordnung mit der kritischen Theorie. Diese wurde dann auch selbst in der Hinsicht kritisiert, dass sie gesellschaftliche Verhältnisse auf die marktvermittelte Tauschrationalität und daraus resultierenden Klassenverhältnisse reduziert und dabei das patriarchalische Herrschaftsgefüge vernachlässigt habe. In der kritischen Theorie wurde also die Sphäre, auf die Frauen verwiesen waren, aus dem ‚Allgemeinmenschlichen‘ ausgelassen und so letzteres wieder als ‚männlich‘ reproduziert. Die Lösung der Theoretikerinnen von „Geschlecht als Strukturkategorie“, welche die gesamtgesellschaftlich wirksam werdenden Organisationsprinzipien im Hinblick auf Arbeit und Generativität ins Zentrum stellen, verfangen sich damit aber nicht minder in der Paradoxie: Sie beharren auf der Verschiedenheit, die z. B. in einer ‚doppelten Vergesellschaftung‘ von Frauen bestünde und lösen damit Männer und Männlichkeit nicht aus dem Bereich, den sie als Allgemeinen weiter fortschreiben. Mit der Männlichkeitsforschung erhält die Paradoxie eine andere Nuance: Männer werden zum einen danach bestimmt, was Frauen für sie bedeuten (nicht was sie für Frauen bedeuten). Das ist eine Denkfigur, die uns schon bei Max Weber begegnete, der Frauen als Besitzund Sexualobjekte für Männer thematisierte. Zum anderen werden Männlichkeiten aus der Analyse der Verhältnisse zwischen Männern herausgearbeitet, womit Frauen ebenso wenig zu den Menschen zählen, die soziale Ordnungen entstehen lassen. Der Widerspruch hat sich seit den ersten Frauenbewegungen verschoben: Immer mehr ‚Charakteristika‘ der Geschlechter wurden der ‚natürlichen‘ Differenz entzogen, immer mehr tritt Gleichheit in den Vordergrund. Er zieht sich aber auch heute noch durch viele Bereiche hin-

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durch, z. B. in geschlechtsblinden, aber eben nicht-neutralen Gesellschaftstheorien oder in verschiedenen Teilsoziologien, wenn Differenzen vorausgesetzt werden, um sie dann in der dichotomisierten Geschlechtsvariable als ‚Merkmal‘ abzufragen. Am offenkundigsten ist er dort, wo Geschlecht mit Frauen gleichgesetzt wird, z. B. Körpersoziologie dann als Geschlechterforschung zu verstehen, wenn es um Frauenkörper geht. Die grundsätzlich andere Herangehensweise, die Unterscheidung und nicht die Unterschiede in den Blick zu nehmen, sitzt dieser Paradoxie nicht auf. Sie kann diesen Widerspruch systematisch berücksichtigen und ihn zur Erforschung von Geschlecht nutzen – eine praktische Auflösung folgt daraus jedoch auch noch nicht. Wir erleben aber – neben wiederkehrenden Wellen einer Dramatisierung – durchaus eine praktische Auflösung. Während in (Alltags)Theorien Widersprüche bestehen können, selten auffallen und noch seltener angesprochen werden, die Legitimationsmuster zur Verschiedenheit der Geschlechter in dieser Hinsicht sehr flexibel sind, kann soziale Praxis explizite Widersprüche nur sehr begrenzt verdauen: Um handlungsfähig zu sein, müssen wir uns immer wieder zwischen widersprüchlichen Anforderungen entscheiden,32 in ‚Theorien‘ dagegen können Widersprüche wesentlich problemloser nebeneinander bestehen. Bspw. sind sowohl die Alltagsannahmen verbreitet, dass Männer härter im Nehmen seien und ihre Körper stärker riskieren, als auch dass sie größere Hypochonder seien und weniger Schmerzen aushielten als Frauen. In der Praxis dagegen realisiert sich eine Mischung von mehr oder weniger schmerzempfindlichen Menschen unterschiedlichen Geschlechts. Die praktische Auflösung – dass Geschlecht situativ irrelevant gemacht werden kann – haben wir unter dem Begriff des „undoing gender“ vorgestellt (Hirschauer 1994, 2001). Die Gleichzeitigkeit von Relevantsetzung und Irrelevantsetzung wird in der soziologischen Geschlechterforschung in den letzten Jahren zunehmend einzufangen versucht. Sie begegnet uns auf allen Ebenen – Makro, Meso und Mikro. Vielfach stellt sie sich als eine Diskrepanz zwischen den Ebenen dar. So zum Beispiel, wenn Gesetze von Geschlecht absehen, die Lebensrealität der von den Gesetzen Betroffenen jedoch nicht und dann beispielsweise weit mehr Männer als Frauen in Gefängnissen sitzen. Oder sie erweist sich als Diskrepanz von Handlung und Kontexten: bspw. wenn der Kontext hochgradig vergeschlechtlicht ist (wie z. B. Fußball-WM),33 die Handlungen dagegen nicht, etwa wenn sich gleichgeschlechtliche Fans weinend in den Armen liegen. Die latenten Hintergründe, die ein ‚undoing gender‘ ermöglichen, bestehen nicht nur in der Absicherung einer unproblematischen Zuordnung („sex category“), sondern auch in ebenso absichernden Wissensbeständen, die wie Sicherungsleinen beim Bergsteigen erst dazu führen, dass man sich die Freiheit nimmt, die Steilwand zu erklimmen. Unangefochtene Wis32 33

Es gibt durchaus Möglichkeiten, widersprüchliche Anforderungen auch in der Praxis einzufangen – ansonsten wäre die Zweigeschlechtlichkeit nicht noch heute so präsent. Zur Erfassung, wie Praxis mit Paradoxien umgeht, bietet sich das Modell der Entkopplung an (Hericks 2011). Dabei muss weder Exklusivität noch numerische Dominanz von Männern sichergestellt sein. Dass auch Frauen beim Public-Viewing dabei sind, ins Stadion gehen oder sogar spielen, stellt die ‚Männlichkeit‘ von Fußball nicht infrage. „Fußball“ und die „Fußball-WM“ sind automatisch Herrenfußball. Was allerdings diesen Kontext gefährdet, ist Homosexualität: Wie wir beim Konzept des „doing heterosexuality“ dargestellt haben, verlaufen die selbstverständlichen Herstellungen von Gleichgeschlechtlichkeit auch über die Ausgrenzung von Homosexualität, indem Berührungen desexualisiert interpretiert werden. Dies erklärt auch die aktuell in den Medien zu verfolgende massive Abwehr gegen Homosexualität und Homosexuelle im Herrenfußball. Ganz anders verhält es sich mit weiblicher Homosexualität im Frauenfußball aufgrund der Männlichkeit von Fußball. Dort erscheint es als ein (weiterer) ‚Beweis‘, dass fußballspielende Frauen keine ‚richtigen‘ Frauen sind.

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sensbestände zur Geschlechterordnung engen Handlungsräume also nicht nur ein, sie bieten auch Sicherheiten, die es z. B. geschlechtlichen Minderheiten ermöglichen, sich ‚frei‘ in gegengeschlechtlichen Domänen zu bewegen. So erklärt sich z. B., dass in den 1980er Jahren Männer, deren Ehefrauen Hausfrauen waren, im Arbeitsumfeld weniger kritisch gegenüber der Zunahme an Kolleginnen eingestellt waren, als Männer deren Ehefrauen ebenfalls erwerbstätig waren (Wharton/Baron 1987), oder eine der ersten praktizierenden Rechtsanwältinnen befand, dass ein Talar sich wunderbar als Umstandskleid eignete und die männlichen Kollegen stets bemüht gewesen seien, ihre Stillzeiten bei der Terminvereinbarung zu berücksichtigen (Gildemeister et al. 2003, 85 ff.). Und ‚reaktionäre‘ Maßnahmen, wie z. B. das in Russland diskutierte Verbot von abwertend ‚Schwulen-Propaganda‘ genanntem öffentlichem Eintreten für gleiche Rechte Homosexueller, können wir als Zeichen dafür verstehen, dass selbstverständliche Wissensbestände in ‚Gefahr‘ geraten sind und man versucht, sie gegen die Zeichen der Zeit zu ‚retten‘. Die Vielschichtigkeit dieser widersprüchlichen Gleichzeitigkeit ist nicht mit einfachen Modellen einzufangen, die ersten Versuche hierzu sind eher tastend (vgl. Heintz/Nadai 1998; Wilz 2002; Gildemeister et al. 2003; Nentwich 2004; Weinbach 2004; Hericks 2011). Wenn wir es heute tagtäglich schaffen, unsere soziale Umwelt in Männer und Frauen aufzuteilen und uns selber zuzuordnen, dann sehen wir in der Regel nur das, was wir zu sehen erwarten und nicht unbedingt das, was als soziale Wirklichkeit entstanden ist, nämlich eine nahezu unbegrenzte Vielheit und Vielfalt gerade in Bezug auf die Kategorie Geschlecht. In dieser Dimension sind heute eher Brüche und Ungereimtheiten als eine Eindeutigkeit von ‚gleich sein‘ und ‚anders sein‘ zu konstatieren, und dementsprechend lassen sie sich nicht mehr auf einen Nenner bringen, schon gar nicht auf den der ‚Natur‘. Solche Widersprüchlichkeiten wahrzunehmen, bietet uns vielmehr die Chance unseren Denkhorizont systematisch zu hinterfragen und vielleicht sogar nach und nach – in kleinen Schritten – zu durchbrechen.

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Personenregister Aboulafia, Mitchell 86, 107 Achatz, Juliane 280, 282 Addams, Jane 86 Adorno, Theodor W. 80, 84–86, 162, 312 Althoff, Martina 154 Althusser, Louis 159 Arni, Caroline 28 Aulenbacher, Brigitte 171, 177, 182, 185 Austin, John L. 211 Ayaß, Ruth 207, 300 Aydt, Hilary 273, 275 Bachofen, Johan Jakob 33 Badinter, Elisabeth 12 Bagemihl, Bruce 291 Bales, Robert 123 Barbin, Herculine 195, 210 Barboza, Amalia 94, 96 Barlösius, Eva 235, 236 Baron-Cohen, Simon 288 Barzantny, Anke 231, 233, 234 Bäumer, Gertrud 50 Beauvoir, Simone de 111–12, 153, 154, 192 Bebel, August 49, 56 Beck, Ulrich 181 Becker, Howard 130 Becker, Ruth 178, 188 Becker-Schmidt, Regina 161–64, 169, 176, 186, 189, 220, 257 Beck-Gernsheim, Elisabeth 182, 188, 279 Beer, Ursula 33, 43, 163, 169, 257, 312 Behnke, Cornelia 245 Benhabib, Seyla 216 Benjamin, Walter 80 Berger, Peter A. 181 Berger, Peter L. 262, 263 Bergmann, Jörg R. 134, 135, 204 Bernays, Marie 52 Biermann, Ingrid 174, 302 Blair, Tony 246 Blumer, Herbert 130 Bock, Gisela 154 Bock, Ulla 176 Bohn, Cornelia 237 Born, Claudia 111, 113, 281, 304 Bourdieu, Pierre 120, 235–46, 244, 249, 257, 258, 259, 290 Breidenstein, Georg 274, 275

Brock, Ditmar 69, 120 Brodda, Klaus 192 Brück, Brigitte 156 Brückner, Margrit 156 Bublitz, Hannelore 217 Budde, Jürgen 243, 274, 275 Burkart, Günter 244–45 Burke, Kenneth 293 Butler, Judith 191, 210–17, 218, 220, 222, 231, 233, 242, 254, 256, 258, 305, 313 Cahill, Spencer 272 Casale, Rita 314 Cavana, Maria Luisa P. 61 Choderow, Nancy 186 Cockburn, Cynthia 284 Comte, Auguste 4, 22, 23, 24–28, 28, 34, 35, 36, 38, 39–43, 57, 58, 59, 68, 71, 72, 97, 101, 105, 118, 121, 129, 145, 155, 185, 225, 292, 310 Condorcet, Marie Jean 21 Connell, Robert W. 165, 167–69, 169, 274 Connellan, Jennifer 288 Correll, Lena 297, 298 Corsaro, William A. 273, 275 Corsten, Michael 94, 96 Coser, Lewis A. 61 Crenshaw, Kimberly 299 Crompton, Rosemary 282 Cyba, Eva 152 d’Héricourt, Jenny 28, 43 Dahrendorf, Ralf 113 Darwin, Charles 23, 35, 87, 101 Dausien, Bettina 269, 272 Degele, Nina 171, 188, 289, 300, 301 Descartes, René 13 Diezinger, Angelika 157 Diner, Steven J. 86 Dohm, Hedwig 50, 189 Dölling, Irene 235, 245, 246, 259 Dörre, Klaus 280 Douglas, Mary 197, 262, 278 Doyé, Sabine 18 Duden, Barbara 196, 215, 216 Durkheim, Émile 4, 52, 56–61, 62, 68, 70, 72– 75, 85, 101, 105, 114, 118, 121, 126, 138, 145, 155, 185, 262, 293, 310 Dutschke, Rudi 150

342 Dyk, Silke van 78, 79 Dyrenfurth, Gertrud 52 Ebeling, Smilla 193, 287, 288, 291, 297 Edgell, Stephen 277 Eggen, Bernd 49 Eichmann, Adolf 149 Elias, Norbert 52, 94, 99, 225–33, 236, 242, 257, 258, 290, 292, 293 Elliott, Jane 148 Ellis, Havelock 101, 104 Ely, Robin J. 283 Endreß, Martin 90, 92, 93 Engel, Antke 218 Engels, Friedrich 4, 23, 28–32, 33–34, 39–43, 56, 86, 151, 310 Engler, Steffani 235, 244, 246 Ernst, Stefanie 244 Farrell, Susan A. 305 Faulstich-Wieland, Hannelore 274, 275 Fausto-Sterling, Anne 193, 222, 287 Fenstermaker, Sarah 300–302 Firestone, Shulamith 154 Fishman, Pamela 207 Foucault, Michel 51, 120, 195, 207–10, 210, 211, 213, 214, 215, 222, 252, 287, 288, 290, 292, 293 Fox-Keller, Evelyn 155, 287 Fraser, Nancy 219–22, 222 Frerichs, Petra 245 Freud, Sigmund 51, 100, 124, 151, 209 Frevert, Ute 8, 9, 10–12, 10, 12, 19, 20, 43, 51 Frey, Michael 280 Friedan, Betty 154 Fromm, Erich 80 Fuchs-Heinritz, Werner 25 Funder, Maria 284 Funk, Heide 292 Gagnon, John H. 292–94, 308 Gardner, Carol Brooks 142 Garfinkel, Harold 5, 90, 93, 134–38, 144, 147, 180, 187, 198, 199–200, 203, 204, 206, 239, 246, 290, 305, 312 Gavey, Nicola 296 Geiger, Theodor J. 52 Gennep, Arnold van 275 Gerhard, Ute 43, 46, 49, 52, 56, 107, 152, 153, 157, 160–61, 164, 169, 179, 182, 191, 257, 305 Gerhardt, Marlies 153 Gerhardt, Uta 114, 130 Gern, Christiane 129 Giddens, Anthony 246–52, 257, 258, 259 Gieske, Sabine 313 Gildemeister, Regine 156, 191, 196, 223, 269, 272, 273, 275, 277, 279, 281, 284, 317 Gille, Martina 282

Personenregister Gilligan, Carol 186 Gnauck-Kühne, Elisabeth 52 Godelier, Maurice 159 Goebbels, Joseph 77 Goffman, Erving 5, 138–45, 146–47, 180, 187, 230, 239, 241, 246, 258, 263, 264, 265, 266, 268, 270, 276, 283, 285, 290, 300, 305, 306, 312 Gottschall, Karin 182, 188, 280 Gouges, Olympe de 2, 14, 18, 20, 21, 315 Gravenhorst, Lerke 166 Grimm, Jakob und Wilhelm 23 Gumbrecht, Hans Ulrich 46 Habermas, Jürgen 80, 219, 220 Hagemann-White, Carol 1, 155, 166, 191, 193, 231 Hahn, Alois 237 Hakim, Catherine 282 Haller, Albrecht von 19 Halmich, Regina 284 Hammer, Heike 234 Hampson, Joan G. und John L. 127 Haraway, Donna 195, 287 Hark, Sabine 43, 156, 216, 217 Harris, Fiona 282 Hartmann, Michael 244 Haug, Frigga 157 Hausen, Karin 8, 19, 43, 155, 165 Hearn, Jeff 165, 167 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 80 Heintz, Bettina 173, 183–84, 254, 281, 284, 303, 305, 317 Heinz, Marion 18 Helwig, Gisela 76 Hennessy, Rosemary 217 Herdt, Gilbert 194 Hericks, Katja K. 284, 291, 293, 295, 316, 317 Hermann, Anett 244 Hettlage, Robert 138, 140, 141 Hilger, Marie-Elisabeth 233 Hippel, Theodor Gottlieb von 5, 14–16, 16, 18, 21, 43, 50, 107, 310, 311, 313 Hirschauer, Stefan 5, 147, 171, 178, 188, 196, 198, 200, 203, 204, 205–6, 223, 231, 240, 263, 268, 269, 271, 279, 290–91, 304, 305–7, 316 Hirschfeld, Magnus 51, 289 Hitler, Adolf 76, 79 Hochschild, Arlie Russel 129, 133, 286 Hodson, C. B. S. 99 Hofmann, Wilhelm 94, 95 Honegger, Claudia 8, 19, 28, 43, 47, 99, 195, 231, 287 Honneth, Axel 219, 222 Horkheimer, Max 80–86, 162, 312 Hornung, Ursula 175

Personenregister Hradil, Stefan 181 Hughes, Everett C. 130, 133 Humboldt, Alexander von 13 Husserl, Edmund 90, 237 Israel, Joachim 29 Jackson, Stevi 293, 294 James, William I. 138 Joas, Hans 89 Jonas, Friedrich 114, 123 Jösting, Sabine 294 Jurzcek, Karin 286 Kaesler, Dirk 68, 180 Kahlert, Heike 249, 259 Kandal, Terry R. 38, 51, 52, 61 Kant, Immanuel 13, 14, 16, 17–18, 59, 84, 107, 314 Kanter, Rosabeth M. 284 Kaufmann, Franz Xaver 298 Kaufmann, Jean-Claude 234 Kelle, Helga 274, 275, 303 Keller, Reiner 208, 209 Kempf, Rosa 52 Kessler, Suzanne J. 194, 198, 199, 201, 202–4, 223, 272, 305, 312 Kettler, David 94, 96, 99, 107 Kießling, Bernd 249 Kirchheimer, Otto 80 Kirkham, Pat 269 Kitzinger, Celia 294 Klein, Gabriele 230–31, 231, 232, 233 Klein, Uta 174 Klein, Viola 4, 46, 94, 99–104, 105, 106, 107, 112–13, 118, 126–28, 186, 287, 298, 299, 311 Klewitz, Marion 279 Klinger, Cornelia 155, 183 Klöppel, Ulrike 288, 289 Knapp, Gudrun-Axeli 84, 107, 163, 164, 169, 171, 176, 178, 186, 188, 189, 191, 300, 302 Kohli, Martin 267 Komarovsky, Mirra 129 König, Oliver 230 Konnertz, Ursula 112 Kontos, Silvia 156 Koppetsch, Cornelia 244–45 Korte, Hermann 68, 225 Kortendiek, Beate 178, 188 Koselleck, Reinhart 8, 23 Kotthoff, Helga 142, 147, 206 Krafft-Ebing, Richard von 51, 292 Krais, Beate 235, 244, 245, 246, 259 Krakauer, Siegfried 80 Kratzer, Nick 280 Kreckel, Reinhard 181, 182, 186 Krüger, Helga 113, 281, 285 Krünitz, Johann Georg 10, 11, 12 Kuhn, Annette 107, 169

343 Kulke, Christine 84 Kunze, Jan-Peter 231 Kuster, Friederike 17 Lamla, Jörn 246 Landweer, Hilge 176, 216 Lang, Claudia 288 Lange, Helene 50 Laqueur, Thomas W. 8, 14, 21, 43, 47, 51, 104, 195, 231, 287, 292 Lautmann, Rüdiger 293 Lehmann, Jennifer M. 61 Leichter, Käthe 78 Lengermann, Patricia M. 93 Lenz, Ilse 152, 153, 169, 179 Lenz, Karl 138, 292 Lepenies, Wolf 27 Lepsius, Richard 78 Lerner, Gerda 47 Levesque-Lopman, Louise 93 Lévi-Strauss, Claude 118–20, 235, 311 Lichtblau, Klaus 61, 68 Liebold, Renate 245 Liebsch, Katharina 230–31, 231, 232, 233, 258, 259 Lindemann, Gesa 204, 215, 261 Linton, Ralph 5, 114–17, 118, 121, 136, 139, 311 Lopata, Helena Zaniecki 166 Lorber, Judith 198, 223, 305, 308 Lorey, Isabell 215, 216 Löw, Martina 169 Löwenthal, Leo 80 Lucke, Doris Mathilde 176, 177, 185 Luckmann, Thomas 90–92, 90, 262, 263 Luhmann, Niklas 252–54, 255, 256, 257 Luig, Ute 172 Luther, Martin 276 Lyon, E. Stina 100, 112 Maihofer, Andrea 215, 216, 263 Mannheim, Karl 52, 93–99, 100, 101, 102, 105, 106, 109, 118, 130, 135, 185, 186, 204, 207, 225, 298, 311, 312 Manns, Heide 78 Marcuse, Herbert 80 Margolis, Diane 201 Martin, Emily 155, 287, 289 Marx, Karl 2, 4, 23, 28–33, 36, 39–43, 56, 68, 71, 80, 81, 86, 94, 96, 118, 129, 151, 158, 160, 162, 186, 225, 246, 310, 312 Mathes, Bettina 156, 157, 169, 176 Maus, Heinz 79 Mauss, Marcel 138 Mayr, Ernst 13, 23 McKenna, Wendy 194, 198, 199, 201, 202–4, 223, 272, 305, 312

344 Mead, George Herbert 4, 52, 69, 86–90, 101, 105, 107, 109, 114, 121, 130, 131, 138, 141, 146, 185, 186, 204, 261, 262, 293, 311, 312 Mead, Margaret 98, 117–18, 128, 147, 189, 311 Meja, Volker 94, 96, 99, 107 Menschik, Jutta 153 Metz-Göckel, Sigrid 166, 178, 179 Meurer, Bärbel 45, 51, 52, 56 Meuser, Michael 52, 56, 61, 93, 107, 147, 165, 166, 167, 169, 235, 243 Michels, Robert 52 Miebach, Bernhard 130 Mies, Maria 156 Mikl-Horke, Gertraude 277 Miles, Catharine Cox 100 Mill, Harriet Taylor 50 Mill, John Stuart 50 Millett, Kate 154 Mitscherlich, Margarete und Alexander 110 Money, John 190 Morgan, David H. J. 52, 165, 166 Morgan, Lewis H. 33 Müller, Christa 156 Müller, Klaus 172 Müller, Marion 299 Müller, Ursula 166 Myrdal, Alva 100, 112–13, 126–28 Nave-Herz, Rosemarie 49, 77, 107, 152, 170, 176, 179 Nentwich, Julia C. 284, 317 Neumann, Franz L. 80 Niebrugge, Jill 93 Nowotny, Helga 155, 165 Ohnesorg, Benno 150 Ortner, Sherry B. 194 Ostner, Ilona 279 Otto-Peters, Louise 49 Palm, Kerstin 193 Pareto, Vilfredo 52 Parsons, Talcott 5, 79, 109, 113, 120–26, 126, 127, 129, 134, 138, 139, 145, 147, 155, 186, 246, 250, 252, 311 Pfeil, Elisabeth 110, 155 Pfister, Gertrud 234 Plessner, Helmuth 261 Poinsard, Jeanne-Marie-Fabienne 28 Pollock, Friedrich 80 Prokop, Ulrike 155 Pross, Helge 155, 166 Quetelet, Adolphe 24 Raab, Heike 219 Raab, Jürgen 138, 140 Rabe-Kleberg, Ursula 273, 277 Rademacher, Claudia 244 Rahman, Momin 293 Raschke, Joachim 151

Personenregister Reich, Wilhelm 151 Rendtorff, Barbara 314 Rerrich, Maria S. 166 Reskin, Barbara 280 Rich, Adrienne 214 Ridgeway, Cecilia L. 279, 308 Robert, Günther 269, 273, 275, 277, 279 Rochlin, Martin 218, 223 Rogers, Mary F. 200 Roos, Patricia A. 280 Roscoe, Will 194 Rosenbaum, Heidi 9, 10, 12 Rosenfeld, Rachel A. 281 Rosenzweig, Beate 172, 173 Rousseau, Jean-Jacques 14, 16–17, 27, 42, 107, 207, 292, 310, 314 Roussel, Pierre 19 Rubin, Gayle 43, 119, 120, 218, 265, 278, 293 Rumpf, Mechthild 84 Rupp, Marina 49 Salomon, Alice 50 Sander, Helke 151 Sargent, Paul 285 Sartre, Jean-Paul 112 Sauer, Dieter 280 Sayers, Janet 99 Schauer, Alexandra 79 Schelsky, Helmut 112 Scheu, Ursula 192 Schiebinger, Londa 47, 155, 195, 287 Schiller, Friedrich 12 Schippers, Heinrich 47 Schlamelcher, Ulrike 284 Schmidt, Daniel 298 Schmid-Thomae, Anja 282, 291, 293 Schmidtke, Michael 170 Schmitz, Sigrid 287, 288 Scholtz-Klink, Gertrud 76 Schröter, Susanne 194 Schütz, Alfred 4, 52, 69, 90–93, 101, 105, 109, 130, 134, 135, 138, 146, 185, 186, 204, 207, 225, 237, 298, 311, 312 Schütze, Yvonne 12 Schwarzer, Alice 152, 153 Scotson, John L. 228 Scott, Joan Wallach 20, 21, 43, 197 Sigusch, Volkmar 51 Simmel, Georg 4, 52, 61–68, 68, 69, 70, 71, 72– 75, 80, 87, 93, 97, 98, 103, 104, 106, 114, 129, 138, 185, 249, 266, 271, 280, 310, 315 Simon, William 292–94, 296, 308 Sodan, Kristine von 150 Sommerkorn, Ingrid 110 Spelke, Elisabeth S. 288

Personenregister Spencer, Herbert 4, 23, 35–39, 39–43, 44, 54, 57, 68, 71, 72, 85, 101, 114, 121, 129, 145, 185, 225, 292, 310 Stacey, Judith 179, 184, 185 Steinert, Heinz 243 Steinrücke, Margareta 245 Stolk, Bram van 230 Stoller, Robert J. 190 Straub, Ingo 243 Sydie, Rosalind A. 52, 70, 107, 147 Tarrant, Shira 126 Terman, Lewis M. 100 Tervooren, Anja 275, 294 Theweleit, Klaus 230 Thomas, Dorothy Swaine 102 Thomas, William Isaac 100, 101–3, 106 Thompson, Helen B. 100 Thönnessen, Werner 46 Thorne, Barrie 166, 179, 184, 185, 274 Thürmer-Rohr, Christina 157 Tönnies, Ferdinand 4, 52, 53–56, 70, 72–75, 79, 80, 101, 105, 122, 185, 311 Trappe, Heike 281 Treibel, Annette 231, 234 Turner, Ralph 131 Tyrell, Hartmann 61, 199, 265, 267, 272, 273 Vaerting, Mathias und Mathilde 100 Vaux, Clotilde de 27 Vester, Heinz-Günter 86 Villa, Paula-Irene 216, 223 Voß, Gerd-Günter 277, 280 Voss, Heinz-Jürgen 288, 289, 290, 296 Voss, Katharina 294 Wacquant, Loïc D. 245 Wagenknecht, Peter 217 Wagner, Gerhard 27 Wagner, Leonie 76, 77, 79, 107

345 Walser, Karin 156 Warner, Michael 217 Weber, Alfred 79 Weber, Marianne 52, 68, 71, 160, 315 Weber, Max 2, 4, 9, 52, 68–71, 74, 78, 80, 81, 90, 91, 93, 97, 105, 138, 155, 160, 185, 246, 248, 310, 314, 315 Wedel, Janet M. 142 Weeks, Jeffrey 293 Wehler, Hans-Ulrich 45 Weil, Felix 80 Weininger, Otto 100 Wellner, Uli 192 Werlhof, Claudia von 156 West, Candace 201, 204–7, 223, 231, 261, 300– 302, 302, 305, 313 Wetterer, Angelika 156, 176, 178, 191, 223, 263, 277, 279, 308 Whitehead, Harriet 194 Wille, Katrin 307 Willems, Herbert 138 Willms-Herget, Angelika 280 Wilson, Thomas P. 128, 130, 131, 132 Wilz, Sylvia Marlene 283, 317 Wittvogel, Karl-August 80 Witz, Anne 61 Wobbe, Theresa 46, 52, 61, 70, 71, 74, 107, 174, 193 Wolffensperger, Joan 247–49, 258 Wollstonecraft, Mary 14, 18, 21, 43, 50, 315 Wouters, Cas 230, 231, 234 Wrede, Birgitta 293 Zetkin, Clara 49, 56 Zimmerman, Don H. 200, 201, 204–7, 223, 231, 261, 302, 305, 313 Zimmermann, Karin 244 Zurstiege, Guido 289

Sachregister Abhängigkeit 31, 57, 83, 125, 126, 153, 159, 182, 220, 226, 227, 228, 232, 233, 245 -sverhältnis 82, 226 Abstammung 8, 9, 14, 54 Abtreibung 152 accountability 135, 137, 205, 206, 301 action unit 121 Adel 9, 11, 226 Adoleszenz 137, 200, 275, 276, 281, 294 Affekt 51, 69, 122, 124, 162, 225, 226, 232, 234 Affirmativität 221 agency 246, 248 AGIL-Schema 122, 123 Agnes 136, 137, 138, 144, 148, 199, 200, 203, 207, 312 Aktivität 16, 26, 42, 78, 81, 143, 195, 217, 246, 302 Allgemeiner Mensch 16, 65, 70, 71, 74, 105, 154, 165, 191, 314, 315 Alltag 11, 90, 91, 96, 131, 134, 142, 153, 178, 179, 199, 203, 213, 217, 223, 235, 239, 244, 253, 254, 256, 259, 261, 263, 264, 269, 290, 292, 295, 296, 297 -shandeln 134, 245 -ssprache 227 -sverständnis 13, 142, 146, 198, 252, 253, 287, 297 -swelt 8, 90, 135, 175, 176, 188, 197, 199, 207, 212, 213, 290, 294, 296, 297, 302, 305, 313 -swissen 134, 135, 275 Alter 32, 42, 93, 104, 110, 115, 117, 121, 122, 125, 129, 136, 140, 143, 180, 187, 266, 267, 269, 273, 274, 276, 286, 297, 298, 300, 307 Lebens- 26, 267 -skategorie 272 -sversorgung 111 Alters-Geschlechts-Kategorie 5, 116, 117, 129, 294, 311 Anatomie 23, 25, 59, 189, 194, 195, 197, 208, 214, 239, 296 Andere generalisierte 88 signifikante 88 Androzentrismus 5, 149, 154, 157, 165, 182, 185, 235, 315 Anpassung 35, 36, 37, 47, 87, 122, 123

Anrufung 211, 216 Anthropologie 18, 38, 55, 59, 100, 179, 193, 197 Antike 8, 195, 229, 231, 289 Antisemitismus 75 Arbeit 26, 27, 29, 30, 31, 32, 33, 34, 41, 42, 50, 51, 54, 55, 56, 102, 118, 141, 153, 155, 156, 159, 162, 163, 165, 178, 182, 185, 187, 210, 239, 251, 254, 276, 277, 279, 280, 281, 283, 285, 286, 312, 314, 315 Frauen- 33, 34, 49, 55, 102, 155, 160, 172, 279, 280 Haus- 5, 34, 49, 66, 86, 111, 127, 152, 153, 155, 156, 158, 163, 174, 183, 184, 185, 251, 278, 279, 315 Lohn- 30, 32, 34, 163, 250 -sbereich 11, 33, 34, 111, 163, 279 -sform 11, 163, 251 -skraft 29, 30, 34, 49, 129, 159, 162, 167, 248 -ssoziologie 164, 180, 277 -steilung 2, 5, 6, 10, 11, 12, 15, 19, 27, 29, 31, 32, 33, 34, 35, 36, 39, 42, 43, 56, 57, 59, 60, 61, 62, 64, 66, 68, 69, 70, 72, 82, 84, 85, 87, 102, 111, 117, 126, 144, 155, 158, 159, 160, 163, 166, 167, 171, 179, 187, 220, 241, 244, 245, 246, 251, 255, 265, 266, 277, 278, 279, 282, 285, 310 Teilzeit- 111, 172, 183, 251, 285 Arbeiterbewegung 28, 49, 53, 56, 75, 80, 149, 249, 250 Arbeiterfrage 56, 64 Arbeitsvermögen, weibliches 156, 279 Archäologie 208, 217 assimilation 284 Attribution 200, 202, 203, 204, 269 Aufklärung 2, 3, 6, 13, 14, 20, 21, 22, 23, 24, 25, 26, 31, 47, 51, 84, 161, 191, 195, 250, 256, 264, 287, 310, 311 Außenhaftigkeit 58, 262 Außenseiter 150, 228, 233, 234, 281 Ausweiszwang 306 Autonomie 16, 73, 153, 179, 227, 232, 233, 247 Autopoiesis 252, 263 Autorität 70, 82, 83, 85, 96, 167, 168, 187, 217, 255, 285 Baby-Boom 110

348 Basis 30 Begehren 84, 167, 212, 213, 214, 215, 289, 294 Begriffsgeschichte 8 Behaviorismus 87 Benachteiligung 32, 104, 153, 158, 159, 160, 163, 164, 183, 184, 191, 221, 300 Beruf 11, 71, 76, 77, 78, 111, 113, 125, 126, 133, 150, 154, 173, 174, 201, 206, 222, 243, 245, 257, 277, 278, 280, 281, 282, 284, 285, 306 -sfindung 281, 282, 283 -sschneidung 280 -stätigkeit 11, 71, 74, 84, 113, 153, 172, 183, 267, 281 Betrachtung genetische 95 immanente 95 Betreuungsarbeit, universelle 222 Bevölkerungsweise 159 Bewegung, soziale 46, 75, 80, 149, 150, 151, 152, 153, 169, 173, 175, 176, 182, 191, 250, 251, 301, 302 Bewusstsein 2, 28, 30, 36, 40, 46, 55, 58, 82, 85, 90, 91, 92, 97, 105, 119, 172, 189, 192, 243, 247, 249, 252, 253, 259, 272, 273, 275 Differenz- 272 Geschichts- 46 Beziehung funktionale 63 persönliche 63 Wir- 92 Bibel 14, 16, 310 Bildung 2, 10, 11, 19, 39, 50, 52, 122, 128, 153, 163, 181, 183, 228, 238, 248, 249, 255, 260, 310 Bindestrich-Soziologie 157, 175, 180 Biographie 93, 168, 208, 266, 268, 269, 272, 290, 304 Biographisierung 268 Erwerbs- 172 -forschung 164 Normal- 269 Biologie 7, 13, 16, 22, 23, 37, 46, 47, 87, 100, 111, 119, 123, 143, 190, 191, 192, 193, 248, 287, 291, 296, 310, 312 Biologisierung 153, 233, 239 Bio-Politik 208, 209 Bona-fide-Mitglieder 135, 136, 137, 138 boundary hightning 284 Bund deutscher Frauenvereine 49, 75 Bundesrepublik 80, 110, 152, 153, 155 Bürgertum 3, 9, 10, 11, 12, 18, 24, 45, 49, 277, 292 Bürokratie 80 capability 246 Chancengleichheit 157, 221, 238

Sachregister Chicago School 52, 53, 79, 86, 101, 130, 293 Chromosom 137, 189, 193, 214, 287, 288 cultural narratives 293 DDR 109, 110, 149, 150, 172 Decke, gläserne 174 De-Institutionalisierung 183, 254, 303 Dekonstruktion 219, 220, 221, 305 Deutsche Gesellschaft für Soziologie 78, 176 Deutscher Idealismus 87 Dialektik, negative 85 Dichotomizitätsannahme 199 Dienstleistung 118, 172, 174, 184, 245, 281 Differenz 21 Innen/Außen- 252 natürliche 313, 315 qualitative 38, 43, 161, 195, 264 quantitative 39 Semantik der 183 sexuelle 21 Differenzfeminismus 153 Differenzierung 5, 8, 12, 16, 17, 29, 35, 36, 39, 60, 72, 73, 74, 87, 109, 116, 122, 124, 125, 128, 129, 142, 180, 183, 186, 219, 221, 232, 237, 239, 240, 245, 255, 260, 269, 272, 277, 281, 282, 293, 294, 296, 301, 302, 307, 310 funktionale 253, 254 Geschlechter- 17, 19, 37, 38, 74, 89, 125, 187, 242, 244, 249, 254, 255, 264, 266, 272, 275, 283, 285, 296, 305, 307, 313 -skriterium 37, 47, 65 soziale 72, 73, 74, 104, 143 Diffusität 122 Dimorphismus, sexueller 142, 186, 192, 194 Diskontinuität 305 Diskriminierung 51, 127, 148, 163, 168, 174, 175, 176, 276, 284 Diskurs 12, 21, 176, 178, 185, 189, 191, 192, 200, 207, 208, 209, 210, 211, 212, 213, 214, 215, 216, 217, 287, 288, 293 -analyse 217 -theorie 5, 196, 207, 210, 214, 242 Display 290 Dispositiv 208, 211 Dissimilaritätsindex 280 Distinktionsmerkmal 10, 276 Disziplinierung 209, 210 Dividende, patriarchale 168 doing difference 6, 300, 301, 302 gender 200, 204, 206, 207, 233, 242, 254, 261, 268, 294, 295, 300, 304, 305, 306 heterosexuality 294, 295, 316 Doppelbelastung 163 doxa 237, 240, 244, 258 Drei-Phasen-Modell 113, 127 Dreistadiengesetz 25, 41

Sachregister Dualismus, cartesianischer 210 Dynamik, soziale 25, 26, 27 Egalität 164, 252 -smythos 284 -snorm 284, 307 Ehe 11, 27, 34, 42, 49, 51, 54, 59, 60, 61, 83, 84, 110, 119, 125, 150, 152, 156, 157, 174, 187, 229, 232, 262, 265, 266, 267, 270, 292, 304 -frau 11, 12, 61, 67, 98, 125, 127, 129, 151, 172, 233, 317 -mann 8, 11, 12, 83, 112, 125, 129, 150, 172, 229, 243, 267, 278, 304 Eigentum 31, 34, 70, 159 Privat- 29, 33 -sordnung 34 -srecht 70 -sverhältnisse 29 Eimerlösung 264 Ein-Geschlecht-Modell 14, 195 Einheit 10, 40, 54, 63, 66, 68, 82, 87, 116, 124, 126, 159, 186, 215 dialektische 81, 82 Einstellung Du- 92 Ihr- 93 natürliche 90 Emanzipation 13, 16, 29, 34, 76, 81, 86, 110, 152, 153, 161, 219, 229 Embryo 289 Emotionalität 12, 83, 143 Empathie 12, 255 engendered structures 248 Entfremdung 29, 72, 81, 162, 277 Entgrenzung 279, 286 Entwicklung -sgeschichte 23, 29 -sgesetz 28, 57 -sprozess 36, 87, 227 -szusammenhang 95 Entzifferung, reflexive 203 Erfahrungswissenschaft 72 Erotik 98, 124 Erwartung externe 254 innere 254 Erwerb -sarbeit 2, 11, 12, 32, 48, 49, 50, 56, 70, 71, 85, 111, 127, 130, 147, 153, 155, 163, 165, 168, 181, 221, 222, 238, 267, 269, 278, 284, 285, 286 -seinkommen 11 -stätigkeit 11, 48, 50, 55, 60, 74, 110, 111, 127, 129, 148, 150, 156, 173, 182, 267, 269, 275 Erzeugungsprinzip 237

349 Erziehung 11, 12, 13, 16, 17, 49, 50, 58, 104, 111, 123, 144, 150, 151, 190, 209, 228, 256, 297 Essentialisierung 85, 191, 220, 222 Etablierte 228, 233, 234 Ethnizität 183, 212, 221, 279, 283, 299, 300, 302 Ethnomethodologie 134, 135, 138, 146, 204 Evolution 35, 37, 41, 88, 193 -sbiologie 47, 72, 310 -sgesetz 35, 37, 39 soziale 37, 185 -stheorie 23, 35, 38, 41, 87, 101, 114 Exklusion 180 Familie 26, 82, 87, 97, 264 Klein- 31, 173, 220, 311 -narbeit 6, 110, 163, 170, 172, 182, 183, 221, 244, 267, 277, 279 -nernährer 49, 165, 168 -nplanung 113, 282 -nsoziologie 129, 161, 164, 305 Felder, soziale 237, 238, 242, 244, 245 Feldlogik 244 Feminismus 20, 21, 112, 160, 191, 217, 250, 299 Figuration 225, 227, 230, 232, 234, 236, 258 -ssoziologie 227, 231, 232, 242, 258 Form 62 Forschung, feministische 155 Fortpflanzung 2, 7, 15, 19, 31, 33, 34, 38, 41, 42, 43, 71, 72, 82, 101, 118, 119, 124, 147, 150, 153, 160, 185, 192, 193, 208, 209, 286, 287, 288, 289, 292, 295, 296, 297, 298, 311 -sfunktion 8, 10, 19, 104, 105, 124, 296 -sorgan 15, 19 -szweck 8 Fortschritt 23, 25, 26, 35, 39, 42, 59, 72, 89, 185, 310 Frankfurter Schule 4, 80 Frau -enbewegung 2, 4, 5, 21, 22, 45, 46, 48, 49, 50, 51, 60, 64, 71, 74, 75, 76, 77, 80, 96, 112, 146, 149, 151, 152, 153, 154, 155, 156, 161, 165, 166, 171, 175, 178, 179, 184, 190, 229, 235, 248, 249, 250, 252, 254, 257, 266, 278, 299, 312, 315 -enfrage 31, 34, 46, 48, 49, 52, 56, 71, 72, 74, 76, 86, 104, 109, 110, 112, 158, 176, 177, 184 -enhaus 152 -enverband 76 Frauenforschung 4, 5, 80, 99, 149, 154, 155, 156, 157, 158, 165, 166, 167, 175, 176, 177, 178, 179, 181, 182, 184, 185, 187, 188, 189, 190, 191, 196, 216, 257, 279, 305, 312, 315

350 und Geschlechterforschung 3, 5, 32, 149, 171, 175, 176, 177, 178, 179, 185, 186, 197, 217, 218, 229, 230, 231, 235, 257, 279, 299 Freiheit 14, 18, 20, 21, 22, 27, 36, 39, 47, 61, 63, 67, 84, 121, 147, 151, 161, 179, 233, 250, 252, 292, 316 Fremdverstehen 92 Freundschaft 68, 83, 122, 135, 137, 268, 269, 270, 274, 302 Funktion 83, 84, 95, 114, 116, 123, 124, 125, 139, 145, 177, 208, 210, 214, 230, 243, 246, 253, 255, 279 -alität 114 expressive 123 Gemüts- 59, 74 instrumentelle 123 -strennung 39, 129 Verstandes- 59, 74 game 88 Gattung 3, 14, 19, 23, 26, 29, 33, 38, 41, 42, 43, 59, 64, 71, 72, 87, 88, 118, 193, 266, 289, 297, 309 Gebärfähigkeit 76, 159, 198 Geburt 19, 76, 116, 152, 153, 182, 193, 199, 205, 209, 267, 272, 297 -enkontrolle 51 -enrate 77, 173, 298 Gefühl 17, 26, 54, 55, 271, 284 -skultur 59 Gegensatz, psychologischer 55 Geist 17, 27, 48, 88, 210, 309 Gemeinschaft 53, 54, 56, 62, 73, 74, 75, 88, 102, 122 gender mainstreaming 174 status beliefs 279 studies 176, 177, 178, 258 Genealogie 208, 217 Generation 4, 11, 36, 38, 53, 72, 74, 83, 100, 102, 110, 111, 112, 121, 123, 124, 126, 138, 143, 145, 153, 178, 187, 216, 225, 226, 230, 232, 234, 251, 252, 257, 262, 264, 266, 299, 300, 309 Generativität 85, 159, 160, 165, 186, 187, 198, 266, 312, 313, 315 Genese 60, 61, 165, 208, 261 Psycho- 225 Sozio- 225 Genitalien 18, 137, 138, 142, 143, 195, 197, 199, 201, 202, 203, 215, 264, 266, 267, 269, 287, 289, 290, 291, 294, 295, 296, 313 kulturelle 201, 203, 295 Genusgruppe 164, 165, 312 Geschichte 5, 8, 15, 21, 23, 28, 29, 30, 33, 40, 41, 42, 51, 73, 85, 100, 101, 152, 155, 179,

Sachregister 182, 216, 217, 236, 237, 239, 258, 290, 312, 313 Geschichtsauffassung, teleologische 28, 40 Geschichtsvergessenheit 110 Geschlecht drittes 289 Geschlechterdifferenzierung 4, 6, 12, 15, 21, 27, 42, 60, 61, 71, 72, 73, 77, 85, 109, 123, 136, 142, 148, 180, 185, 186, 189, 192, 195, 196, 263, 269, 270, 273, 274, 280, 282, 291, 304, 309, 311, 314 Geschlechtergerechtigkeit 219, 220 Geschlechterharmonie, ursprüngliche 76 Geschlechterverhältnis 2, 4, 5, 6, 16, 41, 158, 159, 160, 161, 164, 165, 167, 168, 169, 182, 183, 186, 220, 229, 231, 242, 243, 245, 246, 249, 250, 257, 258, 259, 263, 312, 314 -scharaktere 19, 55, 56, 73, 113 -sidentität 190, 196, 210, 211, 212, 213, 214, 215, 216, 220, 255, 272, 273, 274, 275, 276, 313 -sneutralität 45, 307 Gesetz 17, 24, 41, 47, 58, 67, 84, 119, 140, 150, 172, 174, 211, 288, 316 Eigengesetzlichkeit 40, 58, 139 Familien- 150 -mäßigkeit 13, 14, 19, 24, 25, 26, 37, 40, 41 Geste 89 Gewalt 5, 83, 102, 152, 155, 156, 157, 168, 173, 174, 175, 183, 185, 225, 226, 241, 251 materielle 244, 245 symbolische 239, 241, 243 Gleichberechtigung 56, 76, 96, 110, 150, 153, 161, 172, 174, 175, 183, 234, 289, 305 Gleichheit 9, 14, 15, 17, 18, 20, 21, 22, 26, 38, 43, 47, 74, 76, 125, 161, 183, 190, 221, 222, 229, 254, 256, 266, 270, 271, 276, 278, 284, 305, 306, 314, 315 Gleichheits-/Differenz-Debatte 157, 191 natürliche 14 rechtliche 14 -sgedanke 14, 15, 16, 309 -stabu 194, 265, 277, 278, 285 Gleichschaltung 75 Gleichstellung 15, 34, 50, 51, 68, 130, 154, 174, 222, 229, 279, 284, 285, 303 Gleichzeitigkeit 21, 232, 234, 297, 312, 316, 317 Globalisierung 172, 184, 250, 253 Grand Theory 180 Grounded Theory 133 Grundgesetz 110, 153, 172 Gruppe, soziale 96, 106, 164, 169, 230 Gynäkologie 19 Habitualisierung 241, 262

Sachregister Habitus 235, 236, 237, 239, 240, 241, 242, 244, 245, 258, 259 Handeln, soziales 68, 69, 93, 133, 145, 183, 184 Handlungsakt Siehe action unit Harmonie 26, 57, 150 Hausfrau 12, 155, 157, 182, 255, 267, 317 -enehe 110, 172 Hausgemeinschaft 10, 11 Hegemonie 168, 169, 243 Herkunft, soziale 11, 283 Hermaphrodismus 190, 195, 202, 210 Herrschaft 5, 8, 20, 32, 42, 45, 54, 56, 69, 70, 76, 79, 80, 82, 84, 85, 104, 106, 152, 157, 158, 159, 160, 161, 162, 163, 165, 166, 167, 172, 176, 181, 184, 185, 219, 220, 240, 241, 242, 244, 247, 249, 262, 315 charismatische 69 männliche 146, 220, 235, 239, 244 moderne 160 patriarchale 70, 311, 312 rationale 69 traditionale 69, 70, 160 Heterogenität 35, 36, 183 Heteronormativität 217, 218, 219, 221, 294 Heterosexual Questionnaire 218 hexis 236, 240 Hierarchie 9, 163, 168, 174, 217, 219, 241, 274, 301 Hierarchisierung 65, 104, 158, 163, 164, 219, 239, 240, 249, 275, 277 Historizität 40, 43, 46, 195, 211 Höflichkeit 144 Homo Soziologicus 113 Homoehe 219 Homogenität 35, 36, 60 Homophobie 219 Hormon 1, 189, 192, 193, 214, 288, 289, 296 Hull House 86 Humanität 27, 310 Hybridisierung 304, 306 Hysteresis-Effekt 237 Hysterie 208, 209 I 89 Idealisierung 12, 51, 91, 213, 215, 310 Idealtypus 69, 70 Identifikation 139, 143, 253, 255, 274 Selbst- 143, 146, 268, 272, 276 -ssystem 144, 272 Identität 85, 88, 89, 105, 136, 140, 157, 161, 164, 211, 212, 213, 214, 215, 217, 218, 221, 222, 249, 250, 272, 293, 301 Ideologie 4, 30, 31, 33, 38, 45, 75, 79, 93, 94, 95, 97, 98, 100, 105, 106, 127, 159 Deutsche 32 -kritik 4, 100, 209 totale 94

351 Illusio Siehe Feldlogik Imitation 213 impression management 140, 283 Individualisierung 63, 67, 68, 72, 74, 128, 181, 227, 277 nachholende 182 Industrialisierung 9, 45, 130, 277, 280 Inhalt 62 Inklusion 180, 218 Teil- 255 Voll- 255 Insignie 203, 269, 291, 295, 306 Instinkt 27, 38, 39, 54, 60, 61, 73, 87, 193, 296, 304 Institut für Sozialforschung 52, 80, 151 Institution 27, 82, 83, 85, 86, 163, 179, 184, 261, 262, 263, 264 -alisierung 78, 157, 175, 176, 177, 178, 179, 187, 262, 263, 265, 266, 267, 268, 303, 310 -enanalyse 246 Integration, soziale 25, 72, 74, 76, 122, 123, 145, 162, 163, 176, 274 Intelligenz 88, 89, 239, 249 Intelligibilität 213 Interaktion 121, 131, 132, 133, 139, 142, 146, 184, 187, 198, 200, 202, 203, 204, 205, 207, 253, 254, 255, 261, 263, 270, 295, 296, 301, 306, 307, 308 -sordnung 138, 139, 142, 146, 147 symbolische 86, 131 Interdependenz 161, 163, 227, 231, 232 funktionale 228 interface 139 Internalisierung 134, 145, 236 Interpretationsbedürftigkeit 131 Intersektionalität 6, 245, 299, 314 Intersubjektivität 90, 92, 93, 105, 155, 193, 205, 220 In-Vitro-Fertilisation 174 Inzesttabu 119, 262, 264 Irritabilität 19 Judentum 70 Jungfernzeugung 297 Kabylen 235, 239, 240 Kapital 30, 32, 238, 248, 250 kulturelles 238 ökonomisches 238 soziales 238 symbolisches 238 Kapitalismus 9, 30, 32, 33, 81, 151, 156, 158, 159, 162, 163, 167, 182, 209, 220, 250, 251, 310 Karriere 1, 83, 99, 109, 177, 178, 233, 234, 235, 247, 257, 314

352 Kategorie Mitgliedschafts- 270, 271 Relations- 270, 271 Struktur- 158, 165, 184, 246, 257, 258, 300, 301, 315 Kindergarten 194, 217, 273, 274, 275, 285, 297 Kindheit 12, 26, 42, 59, 85, 180, 208, 267, 271, 273 Kinsey-Report 112 Klasse 20, 28, 30, 34, 81, 93, 103, 104, 125, 136, 140, 158, 159, 165, 168, 181, 182, 183, 187, 221, 222, 237, 238, 240, 245, 246, 248, 251, 264, 275, 288, 299, 300, 314 Arbeiter- 10, 30, 48, 82, 163, 248 Geschlechts- 143, 264 -nbewusstsein 49 -nkampf 30, 34, 96, 151 -nlage 97, 159, 163, 245 -nstruktur 237, 239 -ntheorie 96, 158, 181 -nverhältnis 81, 158, 162, 312 Klassifikation 47, 54, 57, 104, 116, 143, 195, 263, 266, 267, 272, 278 Geburts- 199, 268 Geschlechts- 127, 203, 205, 206, 265, 266, 270, 271, 272, 276, 304, 306 -ssystem 116, 155, 192 Klerus 9 Klimakterium 116 knowledgeability 246 Kohärenz 213, 214, 215 Kohäsion 228 Koitus 51, 208, 240, 291, 292, 293, 295, 296 Kollektivsubjekt 67, 75, 157, 190, 191 Kolonialismus 167, 172 Post- 172 Kommunikation 62, 87, 88, 105, 146, 157, 187, 207, 250, 252, 253, 254, 255, 264, 268, 269, 273, 275, 303 Anschluss- 253 -sdichte 57 -sfähigkeit 87 -sgemeinschaft 89 -ssoziologie 180 -swesen 309 Kommunismus 56, 75, 310 Konfiguration 215, 216 Konsens 26, 51, 182, 304 Konsistenzannahme 132 Konstanzannahme 199 Konstruktion zweiter Ordnung 93 Kontingenz 2, 4, 40, 41, 121, 131, 146, 147, 196, 254, 262, 303, 305, 306 -bewusstsein 185, 189 doppelte 121 kontextuelle 302, 303

Sachregister Konvention 104, 144, 197, 211, 234, 247, 282 Umgangs- 269, 271, 272, 304 Konversation -sanalyse 206, 207, 294 -slexika 8, 12, 19, 48, 50 Kooperation 5, 35, 59, 87, 88, 89, 264 Kopplung 216, 240, 261, 295, 297 Ent- 234, 316 lose 139, 147, 184 strukturelle 252 Körper 19, 35, 90, 140, 191, 192, 195, 196, 197, 199, 208, 209, 210, 213, 214, 215, 216, 232, 233, 236, 239, 240, 241, 252, 261, 286, 289, 290, 293, 295, 305, 309, 313, 316 -entwicklung 32 Krankheit 19, 20, 22, 111, 199, 314 Kreise, soziale 62, 63, 66, 73, 87, 103 Krieg 4, 37, 56, 59, 83, 99, 102, 109, 110, 143, 149, 167, 173 erster Welt- 50, 230 Golf- 173 kalter 149 Nachkriegszeit 79, 80, 99, 110, 112, 150 -seinsatz 77 -swirtschaft 77 Vietnam- 149 zweiter Welt- 45, 109, 110, 130, 305, 311 Krisenexperiment 138, 223 Kritische Theorie 4, 45, 53, 79, 80, 81, 162, 186, 219, 220, 312 Kultur 17, 45, 48, 62, 63, 64, 65, 66, 67, 73, 74, 75, 80, 98, 114, 115, 116, 117, 118, 119, 120, 129, 134, 149, 155, 160, 161, 179, 180, 181, 190, 191, 194, 195, 196, 197, 201, 221, 230, 232, 235, 272, 303, 309 -anthropologie 5, 109, 114, 117, 118, 120, 121, 128, 129, 189, 191, 192, 194, 195, 266 -gebilde 99 -muster 115, 116 objektive 63, 65, 66, 68, 73, 74 -soziologie 94, 99 Sub- 169 -vergleich 5, 114, 116, 278 weibliche 66, 68, 166 Kürwille 53, 54, 55, 73 Latent Pattern Maintenance 122, 123 Leben -sunterhalt 11, 33, 48 -swelt 85, 90, 91, 92, 93, 220, 278 Lebenslauf 116, 164, 194, 226, 266, 268, 269, 272, 275 institutionalisierter 267 Legitimation 3, 14, 18, 20, 21, 27, 38, 84, 161, 163, 168, 185, 249, 252, 290, 316 -sbedarf 262 -sverlust 161, 263

Sachregister Leib 54, 236, 293 -erleben 293 -lichkeit 197, 213, 215, 293 Leitbild 9, 10, 18, 47, 51, 110, 131, 150 bürgerliches 9, 10, 11, 24 kulturelles 168 Leitvorstellung 11, 18, 42, 244, 245 LGBIT 218 Liebe 12, 18, 20, 27, 38, 41, 42, 69, 83, 85, 106, 112, 125, 149, 234, 251, 304, 310 -sdienst 277 Life Science 288 Macht 2, 5, 8, 9, 20, 26, 27, 30, 32, 33, 39, 42, 69, 83, 85, 98, 123, 133, 165, 166, 167, 168, 173, 176, 181, 184, 185, 187, 209, 220, 227, 228, 230, 232, 233, 238, 241, 242, 249, 251, 262, 271, 301 -balance 227, 228, 229, 231, 233 bürgerliche 12 Deutungs- 97, 228, 233, 287, 310 -differential 228 -gefüge 7, 165 kulturelle 9 ökonomische 9, 243 politische 9, 45 produktive 210 -regime 212, 218, 219 -verhältnis 6, 19, 167, 208, 209, 225, 229, 242, 246, 247, 248, 249, 250, 251, 259 -verlust 9, 172 -zuwachs 9 Männlichkeit 42, 56, 65, 67, 73, 101, 104, 165, 167, 168, 169, 190, 194, 199, 210, 215, 221, 230, 240, 242, 243, 244, 245, 251, 274, 275, 276, 285, 294, 306, 312, 314, 315, 316 hegemoniale 167, 168, 243, 244, 274, 285 komplizenhafte 168 marginialisierte 168 -sforschung 167, 230, 242, 243, 315 -sideal 168 Markt 66, 83, 150 Marxismus 76, 82 Masterstatus 133, 146, 181 Me 89 Medizin 13, 19, 20, 23, 46, 47, 51, 59, 167, 192, 195, 216, 225, 233, 234, 280, 287, 292 Mehrfachunterdrückung 299 Menschenrechte 14, 19, 50, 157, 210 Mentoring 233 Methode dokumentarische 96, 105, 135, 311 feministische 157 funktionale 114 historische 23 Mikropolitik 204 Milieu 141, 181, 237, 245

353 Militarismus 250, 251 Mind 88 Mitteilung 253 Mittelalter 45, 48, 53, 195, 226, 302 Mitwelt 92, 93 Moderne 45, 46, 63, 75, 83, 84, 104, 106, 160, 182, 209, 217, 250, 259 reflexive 184 zweite 184 Modernisierung 171, 175, 245, 246 reflexive 181 rhetorische 178 -stheorie 160, 255 Monogamie 67 Monopolisierung 225, 226, 227, 250 Moral 2, 3, 8, 12, 13, 15, 17, 19, 20, 22, 26, 46, 47, 51, 56, 58, 59, 61, 73, 89, 103, 137, 138, 156, 179, 195, 230, 256, 277, 287, 289, 290, 291, 292, 314 -gebote 58 moral fact 137, 148 -ordnung 58, 60 -philosophie 18 Sexual- 51 Motiv „um-zu“- 91 „weil“- 92 Muskelkraft 32, 230 Mutter 27, 38, 54, 77, 83, 85, 88, 110, 115, 119, 123, 127, 128, 129, 264, 265, 297 -kreuz 77 -rolle 83, 255 -schaft 12, 14, 21, 50, 71, 76, 77, 113, 157 -tag 77 Mütterlichkeit 12, 42, 50, 184, 278 geistige 50, 71, 279, 315 Mutterschafts-Richtlinien 297 Narration 217 Nationalsozialismus 4, 45, 53, 75, 78, 94, 99, 110, 150, 230, 315 Natur -alisierung 19, 21, 46, 47, 67, 75, 85, 105, 147, 213, 215, 220, 231, 241, 243, 256, 264, 265, 272, 285, 292, 296, 305 -begriff 13, 20, 47 -beherrschung 84, 85, 312 der Frau 32, 77, 118, 129, 190, 196, 262, 277 -gesetz 1, 25, 27, 35, 40, 41, 46, 47, 72, 185, 227, 310 -haftigkeit 199 Natur-Nurture-Debatte 232 -wissenschaft 1, 13, 15, 18, 22, 23, 24, 37, 47, 57, 65, 71, 72, 80, 100, 101, 119, 155, 174, 178, 214, 215, 217, 286, 287, 288, 290, 292, 296, 298, 310 -wüchsigkeit 31, 51, 83, 86, 129, 199, 279, 281

354 Netzwerke, soziale 238 Neuzeit 8, 13, 48, 195, 250, 291, 302 Norm 74, 117, 130, 142, 167, 211, 215, 217, 222, 268, 283, 284, 293, 299 -ensystem 57 Leistungs- 124 Rechts- 58 Normalisierung 288 -smacht 219 Normalität 74, 138, 141, 217, 218, 223, 289, 295 -svorstellung 138 Normierung 65, 190, 230, 235, 265, 288 Objektivierung 63, 66, 197, 205 Ökonomie 41, 83, 109, 149, 209, 242 Omnipräsenz 302 Omnirelevanz 138, 180, 184, 199, 206, 302, 305 ongoing accomplishment 134, 263, 302, 305 Ordnung immanente 227 komplexe 121 soziale 6, 22, 25, 72, 73, 121, 130, 134, 138, 139, 145, 146, 147, 185, 190, 200, 222, 239, 241, 245, 246, 262, 263, 301 symbolische 241, 285 Organisation parallele 270 -sform 26, 29, 31, 34, 87 ökonomische 34 soziale 7, 26, 27, 36, 37, 39, 40, 119, 142, 160, 206, 266, 311, 312 Organisation.-sform 33 Organismus 19, 25, 26, 27, 35, 40, 41, 57, 87, 114 Orientierung Doppel- 164 Kollektivitäts- 122 Leistungs- 122 Selbst- 122 Paar -beziehung 175, 219, 232, 252, 264, 275, 285, 293, 295, 302, 314 -bildung 62, 144, 269, 275, 304, 313 -bildungsregeln 241, 265 Panoptikum 209 Paradigma interpretatives 5, 45, 101, 130, 132, 138, 186, 198, 246 normatives 128, 130, 132 Parität, partizipatorische 220 Partikularismus 122 passing 136, 137, 199, 200 Passivität 16, 17, 101, 143, 195, 248 Passungsverhältnis 42, 283 Pathologisierung 20, 22, 51, 196, 214, 292, 313 Patriarchalismus 70, 159, 167 bürgerlicher 160, 161 Primär- 159

Sachregister Sekundär- 159 ständischer 160 Patriarchat 152, 154, 155, 160, 162, 166, 167, 168, 251, 252, 312 -stheorie 184 pattern variables 122, 124, 145 Performative Sprechakte 211, 215 Performativität 213 Person 253 Persönlichkeit 18, 56, 63, 66, 68, 69, 82, 98, 100, 104, 106, 208, 214, 283, 292 -smerkmale 97, 105 -sstruktur 82, 162, 234, 258 Phallogozentrismus 212 Phallozentrismus 252 Phänomenologie 4, 90, 91, 105, 130, 207 Philosophie 14, 16, 24, 26, 39, 47, 100, 207, 225, 298 Sozial- 13, 23, 24, 40, 80, 209 Physik 13, 20, 22, 23, 24, 40, 253, 310 Meta- 18 soziale 24 Physiologie 19, 23, 59, 127, 189, 193, 194, 197 Platzanweiser, sozialer 165, 254, 302, 303 play 88 Polarisierung 16, 17, 65, 184, 185, 191, 240 Pornographie 294 Positivität 24, 306 Postmoderne 160, 184 Pragmatismus 87 Praxeologie 235 Praxis, soziale 120, 239, 241, 242, 246, 258, 270, 278, 303, 316 Prekarisierung 280 Prestige 69, 102, 115 Primärbeziehung 173 Produktion 33, 42 materielle 158, 220 Produktivkräfte 29, 30, 33 -smittel 29, 30, 84 -spraktiken 135, 204 -sprozess 32, 33, 66 -sverhältnis 9, 29, 30, 31, 34, 42 -sweise 30, 33, 156, 159 Professionalisierung 78, 180, 280 Professur 90, 93, 99, 100, 176, 177, 178, 225, 235, 298 Proletariat 55, 84, 96, 127, 277 Prostitution 51, 70, 156 Psychoanalyse 82, 100, 124, 162, 209 Psychologie 58, 129, 166, 216, 310 Pubertät 59, 116, 275, 289 Qualität, humane 83, 85 Queer Studies 216, 217, 218 Quote 110, 172, 177, 314 Quotierung 176

Sachregister Rahmen 21, 43, 45, 56, 88, 91, 96, 100, 105, 141, 142, 144, 147, 270, 278, 292 -analyse 138, 141, 142 Rahmung 141, 142, 271, 291 Rangordnung 118, 119, 243, 266 Rassismus 75, 78, 148, 219 Rationalisierung 69, 70, 86, 247, 259, 311 Rationalität 45, 69, 84, 143, 243 Tausch- 162, 315 Raum homosozialer 243, 270 sozialer 236, 241, 242, 245, 287 Realität sui generis 58 Realitätsmodi 142 Rechte bürgerliche 15, 18, 49, 50, 161 politische 38, 50 Reflexivität, institutionelle 143, 144, 147, 258, 265 Reiz-Reaktions-Beziehungen 88 Relation 41, 64, 65, 88, 139, 167, 181, 227, 232, 265, 271, 304 Relationismus dynamischer 95 methodologischer 95 Relativismus 95 Relevanzsystem 91 Religion 2, 9, 20, 25, 27, 58, 61, 63, 70, 103, 114, 145, 227, 283, 299 Reproduktion 33, 34, 38, 42, 81, 82, 85, 86, 153, 159, 162, 175, 185, 187, 214, 233, 241, 246, 247, 248, 249, 252, 261, 263, 266, 288, 298, 303 generative 158 symbolische 220 Reservearmee, industrielle 32 Ressource 6, 73, 203, 227, 238, 248, 261, 274, 283 ruhende 274 Restauration 110, 311 Revolution feministische 5, 171 französische 16, 20, 22, 24, 48 industrielle 30 sexuelle 233, 234 Reziprozität 128, 262 der Perspektiven 91 Ritual 77, 139, 211, 226 Alltags- 140, 142 Höflichkeits- 140, 145, 229 role-making 132 role-taking 132 Rolle 98, 113, 114, 115, 120, 121, 122, 126, 146, 179, 253, 254 Arbeits- 277 Frauen- 146, 165

355 Geschlechts- 5, 98, 105, 109, 113, 117, 121, 124, 125, 126, 127, 129, 130, 133, 145, 146, 166, 181, 186, 254, 255, 259 Männer- 146, 165, 166 männliche 126 soziale 133, 145, 146, 262 weibliche 126, 127, 128, 218 Rollen -distanz 139 -konflikte 116, 126 -spiel 139 -übernahme 88, 130, 131 -verteilung 98, 250 Romantik 47, 106 Routine 135, 141, 247, 290 körperliche 200, 236, 290 Säkularisierung 9, 27 Sanktion 58, 79, 121, 128, 145, 251, 252 Sattelzeit 8, 13, 231 Säugetier 47, 55, 174 Scham 17, 101, 226, 233, 291, 292 Schattenwirtschaft 251 Scheidung 61, 110, 150, 173 Schlüsselkind 110 Schöpfungsgeschichte 7, 210 Schule 80, 89, 111, 122, 131, 150 Hoch- 150, 154, 175, 176, 178 Segregation 133, 247, 273, 275, 280, 282, 283, 284, 300 berufliche 282 Geschlechts- 181, 221, 280 horizontale 282, 283 vertikale 282, 285 Selbst -anzeigungskampagne 152 -befriedigung 292, 295 -kategorisierung 124, 272 -mord 57, 60, 61 -vergessenheit 306 Selektion 253 self 88, 89, 293 Sensibilität 19, 255, 272 Separierung, geschlechtliche 222, 267, 270, 271, 275 sex category 205, 316 -category 295 classification 291, 295 roles 117, 121, 127, 129, 133, 145, 146, 155, 165, 311 status 136 sex-gender-Modell 189, 190, 205, 264, 286, 313 Sexismus 154, 219 Sexualität 2, 16, 17, 22, 51, 59, 67, 68, 69, 70, 73, 83, 98, 101, 104, 106, 120, 124, 150, 151, 152, 153, 181, 187, 195, 196, 208, 209, 210,

356 212, 214, 216, 221, 222, 226, 233, 234, 243, 250, 252, 286, 291, 292, 293, 294, 295 Hetero- 124, 156, 167, 208, 212, 213, 214, 215, 217, 218, 221, 222, 243, 276, 285, 294, 295, 296, 297 Homo- 51, 78, 112, 124, 137, 150, 156, 168, 175, 208, 218, 219, 291, 292, 294, 295, 296, 302, 316, 317 Inter- 127, 190, 195, 210, 215, 218, 288 -sdiskurs 50, 51, 209 -sdispositiv 208, 214 Trans- 136, 190, 198, 199, 202, 203, 256, 274, 302, 305 Sexualorgan 14, 18, 192, 295 Sinn 93, 122, 142, 143, 146, 202, 203, 210, 216, 237 Ausdrucks- 96 Dokument- 96 intersubjektiv gemeinter 90, 91 intersubjektiv geteilter 91 objektiver 92, 96 -schichten 90, 96 sozialer 92, 266, 274 subjektiv gemeinter 91, 93 -verarbeitung 252 -zusammenhang 95 Situation soziale 97, 98, 99, 109, 139, 141, 142, 147, 164, 193, 198 Skripte 293, 294 Interaktions- 271 interpersonale 293 sexuelle 293 social act 131 Sodomie 208, 291 Solidarität 26, 39, 56, 57, 59, 87, 123, 124, 125, 151, 235, 266 mechanische 57 organische 57, 59, 73, 74, 126, 186, 311 Sommeruniversität für Frauen 154 Sonderwissenschaft vom Weibe 46, 207 Sozialforschung, empirische 52, 79 Sozialisation 89, 121, 124, 125, 126, 144, 145, 161, 164, 186, 187, 191, 192, 250, 272 Sozialismus 49, 56, 93 Sozialistischer Deutscher Studentenbund 151 Sozialpolitik 35, 53, 157 Sozialstruktur 122, 125, 128, 133, 141, 147, 245, 312 -analyse 5, 164, 181, 182, 301 Soziologie feministische 158 verstehende 68, 69, 79, 90 Soziologinnen Enquete 176 Spezifität 122 Sphärentrennung 11, 12, 18, 27, 45, 97, 209, 277

Sachregister Spiele, ernste 242, 243, 244 Sprache 36, 37, 47, 62, 87, 88, 92, 94, 120, 131, 155, 156, 160, 187, 208, 212, 213, 223, 273, 292 Sprechakttheorie 211 Staat 48, 78, 152, 167, 172, 181, 187, 209, 219, 225 National- 250, 253 Sozial- 111, 181, 246, 250 Stand, sozialer 8, 11, 180, 195, 260 Statik, soziale 25, 26, 40, 41 status achieved 115, 117 ascribed 115, 117 Status -passage 116 -position 115, 116, 117, 124 sozialer 8, 20, 114, 115, 116, 121, 125, 128, 129, 131, 132, 136, 137, 151, 181, 194, 198, 230, 243, 267, 282, 304 Stereotype 85, 233, 244, 254, 271, 279, 283, 284, 304 Geschlechter- 18, 60, 117, 234, 248, 249, 254, 255 Stigmatisierung 138, 233 Störanfälligkeit 140 Stratifikation, soziale 235 Struktur 114 -ationstheorie 246, 247 Dualität von 246 -funktionalismus 5, 35, 79, 128, 129, 252 -ierungsmodus 248 -ierungsprinzip 249 soziale 2, 30, 121, 129, 139, 146, 164, 168, 182, 236, 245, 246, 247, 263, 266, 269, 271, 275, 302 vergeschlechtlichte 248 Subjekt 63, 84, 89, 211, 212, 213, 214, 216, 293 -ivation 211, 213 -ivierung 66, 279 -potential 162 Subordination 59, 125, 145, 166, 200 Symbole, signifikante 88, 131, 223 Symbolischer Interaktionismus 130, 131, 134 System Berufs- 124, 125, 126, 143, 161 Bildungs- 125, 253 -bildungsebene 253 soziales 252, 253 -theorie 35, 120, 131, 186, 252, 259 Wirtschafts- 221, 250 Tatbestand moralischer 61, 201 natürlicher 273 sozialer 60, 73, 261 soziologischer 58

Sachregister Tausch 118, 119 Taxonomie 120 Tertium comparationis 191 Theoriearchitektur 187 Thomas-Theorem 102, 131 Tier 55, 60, 102, 119, 120, 211, 288 Tokenism 284 Tomatenwurf-Rede 152 Totalität 82, 162, 186 Tradition 2, 54, 57, 71, 74, 79, 80, 100, 104, 120, 121, 125, 133, 184, 185, 186, 197, 205, 219, 239, 262, 291, 300, 309 -svergessenheit 153, 154 Transformativität 221 Transvestit 136, 137 Trieb 17, 26, 27, 51, 62, 67, 84, 89, 162, 225, 226, 232, 292, 293 Typisierung 92, 93, 130, 144, 262, 263, 267, 271, 306 Typologie 265 Überbau 30, 82 Überwachung 209, 250, 251 Umverteilung 220, 221 Umwelt 35, 36, 87, 88, 92, 93, 122, 123, 137, 142, 175, 178, 193, 250, 252, 253, 258, 261, 317 -bedingungen 36 Unaufmerksamkeit, höfliche 306 undoing gender 259, 272, 284, 306, 307, 314, 316 sexuality 295 Ungleichheit, soziale 21, 105, 145, 173, 178, 180, 182, 187, 219, 222, 235, 259, 260, 275, 285, 301 Universalismus 122 Universität 9, 50, 53, 75, 77, 78, 79, 80, 86, 99, 122, 153, 154, 171, 174, 175, 176, 177, 178, 179, 238, 257, 310 Unterschiede natürliche 26 soziale 19, 104, 106, 301 Utilitarismus 26 Utopie 86, 93, 94, 222 Variable, sozialstatistische 180 Vaterschaft 54, 167 Verfassung 21, 67, 110, 172 Verflechtung 172, 227, 231, 242 Vergeschlechtlichung 42, 249, 269, 270, 281, 282, 302, 313 Vergesellschaftung 2, 3, 26, 31, 42, 43, 62, 63, 65, 66, 73, 86, 162, 163, 167, 239, 310 doppelte 158, 163, 164, 167, 182, 315 innere 81, 162, 164 Verhältnis, mimetisches 196 Verhütungsmittel 76, 233 Vernunft 14, 17, 23, 25, 27, 47, 56, 81, 84, 85, 211

357 Versämtlichung 50, 189 Verstand 26, 37, 41 Vertragstheorie 26, 87 Verwandtschaft 31, 70, 118, 179, 187, 265, 311 Bluts- 119, 264 -ssystem 119, 120, 125, 129, 146, 264, 266, 270 -sverhältnis 10, 12 Volksgemeinschaft 75, 76, 77 Vollzugswirklichkeit 134, 204, 207 Vorname 211, 268 Wahlrecht 50, 77, 109, 150, 183, 267 Wandel, sozialer 3, 28, 105, 111, 147, 151, 206, 219, 259, 260, 261, 285, 301, 307, 315 Wechselwirkung 62, 63, 64, 65, 67, 68, 81, 91, 139, 310 Weiblichkeitsmythos 153 Weimarer Republik 50, 75, 76, 78 Weltanschauung 78, 94, 95, 96, 237 natürliche 90, 91 Werbung 144, 198, 314 Wert 33 funktionaler 61 -system 89 -vorstellung 88 Werturteilsfreiheit 2, 68, 78, 81, 156, 175 Wesen der Frau 12, 17, 18, 64, 66, 67, 68, 99, 106, 153 des Mannes 12, 66, 98 Geschlechts- 16, 17, 18, 67, 149, 154, 186, 243 -wille 53, 54, 55, 73 Wiedervereinigung 171 Wirtschaftswunder 110, 111, 112, 150 Wissen 8, 25, 178, 196 Kontext- 247 praktisches 200 -sbestände 4, 12, 100, 105, 106, 200, 207, 249, 316, 317 -schaft 2, 5, 7, 9, 13, 19, 21, 22, 23, 24, 25, 36, 39, 40, 44, 45, 52, 57, 60, 62, 68, 78, 79, 107, 112, 149, 154, 155, 156, 160, 161, 165, 171, 174, 175, 177, 178, 179, 190, 216, 217, 235, 237, 238, 242, 244, 256, 257, 287, 298, 303, 313 -ssoziologie 4, 94, 95, 97, 99, 100, 102, 103, 106, 207, 217, 262, 298, 311 -ssystem 7, 8, 263, 264 Wissenschaftskritik 80, 156, 298 feministische 155 work-life-balance 286 Zentralkategorie, gesellschaftliche 182 Zeremonie 114, 116, 136, 140, 194 Zirkel, reflexiver 204

358 Zivilisation 39, 84, 225, 226, 227, 229, 230, 231, 232, 233, 234, 258 Zivilisierung 225, 231, 232, 233, 258 Zusammenhalt, gesellschaftlicher 56 Zuschreibung 15, 89, 98, 104, 113, 117, 122, 124, 130, 146, 180, 223, 270, 277, 278, 284, 286, 296, 302 Zwang Fremd- 226

Sachregister Selbst- 226 -sheterosexualität 167, 212, 213, 214, 217 Zweigeschlechtlichkeit 2, 18, 47, 53, 188, 191, 192, 196, 198, 202, 207, 209, 215, 216, 218, 221, 223, 231, 232, 234, 239, 240, 242, 256, 258, 259, 260, 261, 263, 264, 287, 288, 290, 294, 295, 297, 307, 309, 311, 312, 313, 314, 316 Zwischenstufe, sexuelle 51, 289