Nachbarschaft, Räume, Emotionen: Interdisziplinäre Beiträge zu einer sozialen Lebensform [1. Aufl.] 9783839416532

Kann Nachbarschaft geplant, organisiert oder gar erzwungen werden? Welche Rechte, welche Verantwortung haben die Nachbar

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German Pages 246 Year 2014

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Table of contents :
Inhalt
Einleitung: Nachbarschaft in Theorie und Praxis
NACHBARSCHAFT: THEORETISCHE POSITIONEN
Allegro moderato – Adagio. Fürchte deinen Nächsten wie dich selbst!
Von der Schwierigkeit, seinen Nächsten zu lieben
Ist Nachbarschaft planbar? Zur Geschichte eines Schlüsselkonzepts in Sozialreform, Stadtplanung und Stadtsoziologie
GUTE NACHBARSCHAFT, SCHLECHTE NACHBARSCHAFT: FALLSTUDIEN
»Liebe deinen Nächsten«: Konfessionelle Feindseligkeit und Zusammenarbeit während der Reformation in Augsburg
Gefährliche Nachbarschaften: Bürgerliche Grenzwüsten bei Stifter und Keller
Zwangsgemeinschaften: Erzwungene Nachbarschaft im Lager und im Gefängnis (am Beispiel von Fedor Dostoevskij, Evgenija Ginzburg und Varlam Šalamov)
Privatsphäre, Nachbarschaft, Zusammenleben: (Post-)Sowjetische Kommunalwohnungen
Nachbarschaft und ›Gated Communities‹ im Bild der Angst
ANSTATT EINES NACHWORTS
Meine russischen Nachbarn
Autorinnen und Autoren
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Nachbarschaft, Räume, Emotionen: Interdisziplinäre Beiträge zu einer sozialen Lebensform [1. Aufl.]
 9783839416532

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Sandra Evans, Schamma Schahadat (Hg.) Nachbarschaft, Räume, Emotionen

Sandra Evans, Schamma Schahadat (Hg.)

Nachbarschaft, Räume, Emotionen Interdisziplinäre Beiträge zu einer sozialen Lebensform

Der Druck und die Übersetzungen wurden gefördert durch das DFGProjekt »Intime Texte, intime Räume« und EXC 16 »Kulturelle Grundlagen von Integration« der Universität Konstanz.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2012 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: »Open-Air-Konzert auf dem Flughafengelände« aus dem Umweltatlas der Stadt Braunschweig (Abb. 10/26). © die Stadt Braunschweig Lektorat & Satz: Katharina List und Schamma Schahadat Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1653-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Einleitung: Nachbarschaft in Theorie und Praxis Sandra Evans / Schamma Schahadat | 7

NACHBARSCHAFT : THEORETISCHE P OSITIONEN Allegro moderato – Adagio. Fürchte deinen Nächsten wie dich selbst!

Slavoj Žižek | 31 Von der Schwierigkeit, seinen Nächsten zu lieben

Zygmunt Bauman | 63 Ist Nachbarschaft planbar? Zur Geschichte eines Schlüsselkonzepts in Sozialreform, Stadtplanung und Stadtsoziologie

Jens Wietschorke | 93

G UTE NACHBARSCHAFT, SCHLECHTE N ACHBARSCHAFT : F ALLSTUDIEN »Liebe deinen Nächsten«: Konfessionelle Feindseligkeit und Zusammenarbeit während der Reformation in Augsburg

Emily Fisher Gray | 123 Gefährliche Nachbarschaften: Bürgerliche Grenzwüsten bei Stifter und Keller

Dorothee Kimmich | 141 Zwangsgemeinschaften: Erzwungene Nachbarschaft im Lager und im Gefängnis (am Beispiel von Fedor Dostoevskij, Evgenija Ginzburg und Varlam Šalamov)

Schamma Schahadat | 157

Privatsphäre, Nachbarschaft, Zusammenleben: (Post-)Sowjetische Kommunalwohnungen

Ilya Utekhin | 189 Nachbarschaft und ›Gated Communities‹ im Bild der Angst

Sandra Evans | 205

ANSTATT EINES NACHWORTS Meine russischen Nachbarn

Wladimir Kaminer | 233

Autorinnen und Autoren | 239

Einleitung: Nachbarschaft in Theorie und Praxis S ANDRA E VANS / S CHAMMA S CHAHADAT

»Der alte Mann Savva starb vor Aufregung. Den ganzen Winter lang hatte sein Nachbar wegen der Küche keine Ruhe gegeben« (»Помер старик Савва от волненья. Всю зиму не давал ему покоя жилец изза кухонной комнаты «).1 Dieses Zitat stammt aus der Kurzgeschichte Die Leningrader Chaussee (Leningradskoe šosse) aus dem Jahre 1932; geschrieben hat sie der sowjetische Schriftsteller Valentin Kataev, und sie ist ein gutes Beispiel für schlechte Nachbarschaft: Adol’f Mogučij (auf Deutsch: Adolf, der Mächtige), der ein Zimmer bei der Familie Panteleev gemietet hat, möchte keine Miete zahlen, und nach einem Streit mit dem Familienoberhaupt, Savva Panteleev, stirbt Savva. Mogučij wirft der Familie vor, sie sei nicht proletarischer Abstammung, womit er die ganze Familie zerstört, wie die Erzählung im Weiteren zeigt. Adol’f, der zugleich ein Nachbar und (wie sein deutscher Name markiert) ein Fremder ist, versucht, die Wohnung für sich zu bekommen, indem er seine Nachbarn denunziert. Nachbarschaft oszilliert zwischen dem Ideal einer friedlichen, sicheren, ähnlichen2 und glücklichen Gemeinschaft und der Wirklichkeit skandalöser Konfrontationen zwischen Individuen. Die Idee des Nach-

1

Ivan Kataev: Izbrannoe (Ausgewählte Werke), Moskva 1957, S. 206. – Alle Übersetzungen aus dem Russischen sind, wenn nicht anders angegeben, von den Vf.

2

Zur Ähnlichkeit s. den Beitrag von Dorothee Kimmich in diesem Band.

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barn ruft zugleich Vertrauen und Zugehörigkeit, aber auch Distanz, Fremdheit und Isolierung hervor. Mit ihrer konzeptuellen Nähe zu Verwandtschaft und Freundschaft nimmt Nachbarschaft eine Position zwischen diesen beiden ein und kann verschiedene Qualitäten dieser sozialen Verbünde (wie Liebe und Hass, Autonomie und Unterdruሷkkung oder Unabhängigkeit und Bedingtheit) miteinander kombinieren. Nachbarschaft hat – ähnlich wie Verwandtschaft und Freundschaft – einerseits das Potential, Unstimmigkeiten und Konflikte hervor zu bringen, und andererseits eine intensive Intimität zum Anderen zu erzeugen. In der heutigen Zeit gesteigerter Pluralisierung und Globalisierung muሷssen neue Konzepte von Nachbarschaft entworfen und Fragen hinsichtlich ihrer Realisierung gestellt werden, wie zum Beispiel: Kann Nachbarschaft geplant und organisiert werden? Kann Nachbarschaft erzwungen werden, d.h. gibt es unfreie Nachbarschaft? Welche Rechte und welche Verantwortung haben Nachbarn? Wie definiert man gute/schlechte, sichere/gefährliche, ideelle/tatsächliche und aktive /passive Nachbarschaft? Ist Nachbarschaft essentieller Bestandteil von Gemeinschaft, Gesellschaft, Demokratie? Wo liegt der Unterschied zwischen Gemeinschaft und Nachbarschaft? Wie wird der ideale Nachbar definiert? Die Anwesenheit von Nachbarn hat wiederholt zu Ausgrenzung und Verbannung geführt, war Beweggrund für Kriege oder fungiert als Triebkraft für das Fantasieren über lokale oder globale Nachbarschaft. Wie kann in der heutigen Zeit zunehmender Migration und Mobilität Nachbarschaftlichkeit oder Nachbarschaft bestimmt werden? Zusätzlich zu den räumlichen Dimensionen (Nachbarschaft als Nähe) werden im vorliegenden Band auch die emotionalen Folgen von Nachbarschaft berücksichtigt. Wie konstituiert sich die Beziehung zwischen Raum und Emotion?3 Tiefgreifende Veränderungen im urbanen Raum und im urbanen Wohnen haben auf das Verhalten und Denken der darin lebenden Nachbarn ebenso eingewirkt wie auf das architektonische Landschaftsbild. Im Rahmen des globalen Umbruchs ist es notwendig geworden, Konzepte von Nachbarschaft erneut zu betrachten und zu rekonzeptualisieren, besonders in Hinblick auf urbane Räume und Lebensarten und damit verbundene emotionale Erfahrungen.

3

Speziell mit der Beziehung zwischen Raum und Emotion befasst sich der Band von Gertrud Lehnert (Hg.): Raum und Gefühl. Der Spatial Turn und die neue Emotionsforschung, Bielefeld 2011.

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Wenn wir über Nachbarschaft reden, meinen wir in der Regel Menschen, die nebeneinander wohnen. Doch nicht nur Menschen können Nachbarn sein, sondern auch Worte oder Dinge, d.h. semiotische Systeme, die sich auf einer syntagmatischen Achse der Proximität und Kontiguität entwickeln, können in einer Nachbarschaftsbeziehung stehen. Im folgenden möchten wir drei Dimensionen von Nachbarschaft vorstellen: 1. 2.

3.

poetische Nachbarschaft, d.h. Metonymie und Kontiguität; Ideen von Nachbarschaft, vor allem die Idee der Gemeinschaft, die oft mit Nachbarschaft vermischt wird und eng mit ihr zusammen hängt; soziale Nachbarschaft im Kontext der urban studies, d.h. geplante oder realisierte Nachbarschaft von Menschen.

Wir werden uns also von einem allgemeinen semantischen Feld der Nachbarschaft hin zu einem konkreteren, realeren Kontext hin bewegen: Während poetische Nachbarschaft ein Zusammenleben in Hinsicht auf den Raum bezeichnet und die Gemeinschaft eine soziale Ordnung impliziert, meint eine enge Definition von Nachbarschaft »eine soziale Organisation von Nähe«.4 Nur eine reale, konkrete Nachbarschaft umfasst beide Seiten der Definition, die topographische und die soziale. Wenngleich die poetische Nachbarschaft in den folgenden Beiträgen kaum eine Rolle spielen wird, so bildet sie doch das Konzept der Nähe, des Nebeneinanders, exemplarisch ab und kann als strukturelles Paradigma für die Idee von Nachbarschaft verstanden werden. In der poetischen Dimension wird Nachbarschaft als Chance für ein Mehr begriffen, das sich gerade durch das Aufeinanderprallen dessen, was nicht unbedingt zusammen gehört, ergibt. Davon ausgehend soll am Schluss die Frage gestellt werden: »Ist Nachbarschaft heute noch möglich?«

4

Peter Klös: »Nachbarschaft: Neue Konzepte – alte Sehnsüchte?«, in: Heinz Schilling (Hg.): Nebenan und Gegenüber. Nachbarn und Nachbarschaften heute, Frankfurt a.M. 1984, S. 13-25, hier: S 18.

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1. P OETISCHE N ACHBARSCHAFT : M ETONYMIE UND K ONTIGUITÄT Folgt man Roman Jakobsons Kommunikationsmodell, das Beziehungen zwischen Zeichen entweder in absentia (in Form des Paradigmas) oder in praesentia (in Form des Syntagmas) bestimmt, dann verletzt die poetische Funktion dieses Prinzip: Die poetische Funktion, so Jakobson, verlagert das Prinzip der Äquivalenz von der Achse der Selektion auf die Achse der Kombination.5 Das heißt, dass Wörter (oder Laute oder Morpheme oder Sätze), die einander ähnlich sind, sich normalerweise in einer Beziehung des entweder – oder befinden, in einer Beziehung der Exklusion und der Substitution. In einem poetischen Text dagegen werden Zeichen, die sich in der Alltagssprache ausschließen, nebeneinander angeordnet. Nachbarschaft wird damit zu einem poetischen Prinzip. Ähnliche Zeichen geraten in einem poetischen Text in eine unverhoffte Nachbarschaft, geraten in eine Kontiguitäts-Beziehung. Kurt Schwitters Gedicht An Anna Blume (um 1919) führt dieses Prinzip beispielhaft vor; es ist das perfekte Beispiel, anhand dessen man Studierenden Jakobsons poetische Funktion erklären kann. Das zeigt sich bereits in den ersten Zeilen: »An Anna Blume 1. Oh, du Geliebte meiner 27 Sinne, ich liebe Dir! 2. Du, Deiner, Dich, Dir, ich Dir, du mir, --- wir? 3. Das gehört beiläufig nicht hierher! 4. Wer bist du, ungezähltes Frauenzimmer, Du bist, bist Du? 5. Die Leute sagen, Du wärest. […]«6

Das Gedicht ist voller Äquivalenzen, die poetisch in eine Nachbarschaft gezwungen werden; diese lassen sich auf den verschiedensten Ebenen des Gedichts beobachten: auf der Ebene der Semantik, des Reims, der Grammatik. Schon der Titel deutet eine Verschwendung von Lauten und Buchstaben an: »An Anna« benutzt das »an« (oder sein Palindrom »na«) drei Mal. Der zweite Vers konfrontiert die Lese-

5

Roman Jakobson: »Linguistik und Poetik [1960]«, in: ders.: Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921-1971, Frankfurt a.M. 1979, S. 83-121, hier: S. 94.

6

Kurt Schwitters: Das literarische Werk. Band 1: Lyrik, hg. von Friedhelm Lach, Köln 1998, S. 58.

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rin mit einem grammatischen Paradigma (du, deiner, dich, dir, ich dir, du mir), das in eine Beziehung topographischer Nähe gezwungen wird; Vers 4 und 5 wiederholen ein syntagmatisches Teilstück, das zunächst invertiert und dann leicht verändert wird (»du bist, bist du, du wärest«) – auch hier scheint es, als gäbe es zu viele Nachbarn, die eigentlich nicht zusammen treffen sollten. Seit Jakobsons Definition der poetischen Funktion haben sich die rhetorischen Tropen Metapher (paradigmatisch) und Metonymie (syntagmatisch) als die beiden zentralen Kategorien heraus gebildet, die einen Text strukturieren. Die Dominanz des einen oder des anderen Prinzips wurde – indem man Metapher und Paradigma dem Prinzip der Selektion zuschrieb und Metonymie und Syntagma dem der Similarität, der Ähnlichkeit – genutzt, um Epochen, Poetiken und Gattungen zu beschreiben: Roman Jakobson behauptet eine Dominanz der Metonymie für Prosa und eine Dominanz der Metapher für Lyrik,7 während Jurij Lotman aufgrund der beiden Pole Metapher und Metonymie eine Kulturtheorie entwickelt hat: Der paradigmatische Kulturtypus, so Lotman, positioniert sich außerhalb der Zeit; verschiedene Elemente, die einander ähnlich sind, werden auf verschiedenen Ebenen angeordnet. Der syntagmatische Kulturtypus dagegen imaginiert die Welt als eine Linie, die sich in der Zeit entfaltet; die Elemente in dieser Welt erlangen ihre Bedeutung ausschließlich dadurch, dass sie nebeneinander angeordnet sind.8 Die Romantik mit ihrer ewigen Suche nach Signaturen und Ähnlichkeiten wäre in Lotmans Typologie ein paradigmatischer Kulturtypus, während der Realismus, der versucht, die Welt in ihrer Ganzheit zu beschreiben und alles zu erfassen, was es in dieser Welt gibt, ein syntagmatischer Kulturtypus wäre – eine Kultur der Kontiguitäten, der Nachbarschaften. Auch die Postmoderne mit ihren Spuren (wie bei Derrida) und ihren Signifikantenketten (wie bei Lacan) ist eine Kultur, die sich mehr für Metonymien als für Metaphern interessiert. Viele poststrukturalistische Theoretiker konzentrieren sich auf die Differenz zwischen Metapher und Metonymie und auf die Grenze zwischen Signifikant und Signifikat. Paul de Man hat die These aufgestellt, dass es einen unlös-

7

Roman Jakobson: »Der Doppelcharakter der Sprache. Die Polarität zwischen Metaphorik und Metonymik«, in: ders.: Literaturwissenschaft und Linguistik. Bd. 1, hg. v. J. Ihwe, Frankfurt a.M. 1971, S. 323f.

8

Jurij Lotman: Stat’i po tipologii kul’tury, Tartu 1970, S. 58.

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baren Widerspruch gibt zwischen Metapher und Metonymie, der in der Unlesbarkeit (unreadability) des Textes mündet. In seiner Proust-Lektüre zeigt er, dass Á la recherche du temps perdu die Dominanz der Metapher über die Metonymie behauptet, d.h. die Selectio über die Kontiguität, die Nachbarschaft, dass diese Dominanz aber tatsächlich durch die Metonymie erreicht wird: »Eine rhetorische Lektüre der Passage enthüllt, daß seine figurative Praxis und seine metafigurative Theorie nicht konvergieren und daß die Behauptung der Vorherrschaft der Metapher über die Metonymie ihre Überzeugungskraft dem Gebrauch metonymischer Strukturen verdankt.«9

Die Metonymie, so de Man weiter, ist kontingent insofern, dass zwei Elemente sich nur zufällig treffen.10 Die Pointe in de Mans Argumentation ist das interpretative Ergebnis, dass Metaphern betrügerisch sind; sie geben vor, notwendig zu sein, während sie in der Tat genau so kontingent sind wie Metonymien, eine »zufällige Begegnung« zweier Elemente, und: »Die Beziehung zwischen dem buchstäblichen und dem figurale Sinn einer Metapher ist […] stets metonymisch.«11 Metonymie ist für de Man ehrlich, während die Metapher für ihn eine Trope der Verführung ist. Jacques Lacan zieht die Nachbarschaft vor, indem er sich auf die Grenze zwischen Signifikant und Signifikat konzentriert. Während de Saussure die Differenz zwischen den beiden Seiten des Zeichens radi-

9

Paul de Man: »Semiologie und Rhetorik«, in: ders.: Allegorien des Lesens, übers. v. Werner Hamacher/Peter Krumme, Frankfurt a.M. 1979, S. 31-50, hier: S. 45.

10 »Verglichen mit dieser zwingenden Kohärenz [der Metapher] würde die Kontingenz einer Metonymie, die bloß auf der zufälligen Begegnung zweier Entitäten beruhte, die sehr wohl für sich und in Abwesenheit der jeweils anderen existieren könnten, ihrer poetischen Kraft vollkommen beraubt.« Paul de Man: »Lesen«, in: ders.: Allegorien des Lesens, übers. von Werner Hamacher/Peter Krumme, Frankfurt a.M. 1979, S. 91-117, hier: S. 96. – An dieser Stelle wird die Ambivalenz der Nachbarschaft, auch der sozialen Nachbarschaft, besonders deutlich: Einerseits die Möglichkeit, ohne einander zu existieren, andererseits zeigt sich die »poetische Kraft«, die sich aus der zufälligen Begegnung ergeben kann. 11 De Man: »Lesen«, aaO., S. 104.

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kalisiert hat,12 verlagert Lacan seinen Fokus auf den Signifikanten, indem er das Signifikat als einen Effekt der Signifikantenkette definiert.13 Er verkehrt de Saussures Beziehung zwischen Signifikant und Signifikat, indem er den Signifikanten (S) über das Signifikat (s) erhebt: Signifikant über Signifikat (S/s), getrennt durch einen Balken. Die Metonymie verbindet ein Wort mit dem anderen, während die Metapher ein Wort durch das andere ersetzt; beide Handlungen aber finden für Lacan auf der Seite des Signifikanten statt.14 Dabei sieht Lacan die Signifikantenkette in beide Dimensionen ausgerichtet, in eine horizontale Linie (die Selektion bedeuten würde oder, in psychoanalytischer Terminologie, Verschiebung), Lacan nennt diese Dimension »mot à mot«, »Wort für Wort«;15 und in eine vertikale Linie, die ein Wort für ein anderes setzt (»un mot pour un autre«, »ein Wort für ein anderes16«). In beiden Fällen wird das eine Wort mit dem anderen in Beziehung gesetzt, entweder metaphorisch oder metonymisch. Wichtig ist, dass selbst die Metapher metonymisch mit dem »Rest der

12 Helga Gallas erklärt diese Radikalisierung der Differenz bei de Saussure sowie Lacans Weiterentwicklung dieses Ansatzes in ihrem Buch über Kleist: Helga Gallas: Das Textbegehren des ›Michael Kohlhaas‹. Die Sprache des Unbewußten und der Sinn der Literatur, Reinbek 1981. Darin Kapitel 2: »Die Kategorie des Signifikanten und die Entstehung von Bedeutung«, S. 35-61. 13 Samuel Weber schreibt dazu: »Damit wird der Begriff der Signifikation nicht mehr als Repräsentation gedacht, sondern als Artikulation. Die Sprache als Artikulation geht nicht von einer vorgeordneten Präsenz aus, sondern wird durch eine Differenz bestimmt, die erst nachträglich Identitäten […] als ihre Effekte produziert.« Samuel Weber: Rückkehr zu Freud. Jacques Lacans Ent-Stellung der Psychoanalyse, Frankfurt a.M./Berlin/Wien 1978, S. 28. Auch zit. bei Gallas: Das Textbegehren, aaO., S. 39. 14 S. dazu auch Gerda Pagel: Jacques Lacan zur Einführung, Hamburg 1999, S. 42f. 15 »Man erkennt daraus, daß die Verknüpfung von Schiff und Segel im Signifikanten statthat und nirgendwo sonst, und daß die Metonymie getragen wird von dem Wort für Wort dieser Verknüpfung.« Jacques Lacan : »Das Drängen des Unbewussten im Buchstaben oder die Vernunft seit Freud«, in: ders.: Schriften II, hg. v. Norbert Haas, Berlin 1991, 3. Aufl., S. 15-59, hier: S. 30. 16 Lacan: »Das Drängen des Unbewussten«, aaO., S. 32.

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Kette«17 verbunden ist, was bedeutet, dass in jedem Fall eine Beziehung der Nachbarschaft vorliegt. Sigmund Freuds Theorie des Unheimlichen stellt diese metonymische Verbundenheit des Wortes beispielhaft dar: das Unheimliche ist immer mit seinem Gegenteil verbunden, dem »Heimlichen«: »Also heimlich ist ein Wort, das seine Bedeutung nach einer Ambivalenz hin entwickelt, bis es endlich mit seinem Gegensatz unheimlich zusammenfällt. Unheimlich ist irgendwie eine Art von heimlich«, heißt es bei Freud.18 Die Gegensätze, ungleiche Nachbarn, fallen in ihrer (Un)Gleichheit zusammen.

2. G EMEINSCHAFT 1877 hat Henry Lewis Morgan sein Buch Ancient Society, Or: Researches in the Lines of Human Progress From Savagery Through Barbarism to Civilisation publiziert, in dem er verschiedene Gesellschaften in verschiedenen Entwicklungsphasen untersucht hat. Dabei hat er zwei Grundtypen des Zusammenlebens unterschieden: societas, die auf persönlichen Beziehungen begründet war, und civitas, deren Grundlage Recht und Besitz war. Morgans Untersuchungen bildeten im weiteren die Basis für Friedrich Engels’ Abhandlung Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats von 188419 und für Ferdinand Tönnies’ Konzept von Gemeinschaft und Gesellschaft (Gemeinschaft und Gesellschaft, 1887). Morgan fand sein Ideal der societas bei den Irokesen, die er erforschte; Ferdinand Tönnies entwickelte sein Gemeinschaftsideal auf eher abstrakte Weise. Gemeinschaft ist für Tönnies »ein positives Verhältnis«,20 das bestimmt ist durch »ein reales und organisches Leben«.21 Obwohl das Modell für diese Form der Gemeinschaft die Familie bildet als »Gemeinschaft des Blu-

17 Ebd. 18 Sigmund Freud: »Das Unheimliche (1919)«. in: ders.: Psychologische Schriften. Studienausgabe Band IV, hg. v. A. Mitscherlich u.a., Frankfurt a.M., S. 241-275, hier: S. 250. 19 Die Abhandlung trägt den Untertitel »Im Anschluß an Lewis H. Morgans Forschungen«. 20 Ferdinand Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie, Darmstadt 1991, S. 3. 21 Ebd.

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tes« und durch ihre »Einheit des Wesens«, kann diese »Gemeinschaft des Blutes« durch »Zusammenwohnen« in eine »Gemeinschaft des Ortes« ersetzt werden. Die höchste Form der Gemeinschaft aber ist für Tönnies die »Gemeinschaft des Geistes«, die bestimmt ist durch das »Miteinander-Wirken [...] im gleichen Sinne«.22 Während für Hegel die Grundopposition im Konflikt zwischen Familie und Staat bestand, eröffnet Tönnies eine antagonistische Beziehung zwischen der »wesentlich verbundenen« Gemeinschaft und der »wesentlich getrennten« Gesellschaft. Tönnies’ Buch ist gleichermaßen revolutionär und konservativ – revolutionär, weil es für die Gemeinschaft in Opposition zur Gesellschaft (zu Hegels Staat) eintrat, konservativ, weil es eine Art Proto-Kommunismus propagiert, der in der Vormoderne verortet wird.23 Fast fünfzig Jahre später antwortete Helmuth Plessner auf Tönnies’ Lob der Gemeinschaft mit einem Text, der dezidiert gegen die Gemeinschaft und damit auch gegen eine intime Nachbarschaft eintrat. In Kontext der Weimarer Republik mit ihrer »Verhaltenslehre der Kälte« (Helmut Lethen) plädiert Plessner gegen eine Beziehung der Nähe und fordert 1924 in Die Grenzen der Gemeinschaft eine Gesellschaft, deren Grundlage die Distanz ist, nicht die Nähe, sondern die Kälte, nicht die Authentizität, sondern die Maskerade begründet diese Gesellschaft. Für Plessner bedeutet die Gemeinschaft mit ihrem Verlust der Distanz in letzter Konsequenz, dass auch der Mensch selbst in seinem Dasein gefährdet ist.24 Den Hintergrund für Plessners Text bildete die aufkommende Nazi-Ideologie, die in einer »heroischen Gemeinschaftsbejahung«25 die »Ausgeschlossenen« versammelte.26 Plessners Buch ist

22 Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft, aaO., S. 12. 23 Diese Bemerkung über das revolutionär-konservative Paradox in Tönnies’ Entwurf stammt von Igor’ Smirnov (mündlich). 24 Helmuth Plessner: Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus, Frankfurt a.M. 2002 (Gesammelte Schriften V. Macht und menschliche Natur), S. 28: »Mit der gesinnungsmäßigen Preisgabe eines Rechts auf Distanz zwischen Menschen im Ideal gemeinschaftlichen Aufgehens in übergreifender organischer Bindung ist der Mensch selbst bedroht.« 25 Plessner: Grenzen der Gemeinschaft, aaO., S. 36. 26 Plessner: Grenzen der Gemeinschaft, aaO., S. 28.

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ein Buch gegen die »Radikalisierung der Gemeinschaft«,27 und sein schlagendstes Argument sieht so aus, dass eine wahre Gemeinschaft utopisch ist und niemals existieren kann: Erstens, so Plessner, kann die Öffentlichkeit niemals zerstört werden,28 zweitens kann der Körper, der egoistisch, also anti-gemeinschaftlich ist, niemals zugunsten des Geistes transzendiert werden,29 und drittens wird Gewalt in einer Gemeinschaft niemals aufhören, da die Gewalt Teil des menschlichen Körpers ist, und Gewalt braucht für ihre Disziplinierung und Kontrolle den Staat.30 Plessner kommt zu dem Schluss: »das Wesen steht der Gemeinschaft entgegen«;31 jede Gemeinschaft ist damit eine Illusion oder, schlimmer noch, eine Verführung. Für Plessner ist die Gemeinschaft eine Ideologie, die niemals Realität werden kann. Viele Jahrzehnte später argumentiert Zygmunt Bauman im Sinne Plessners gegen den Kommunitarismus, den er eher als Projekt denn als Realität ansieht. Während für Plessner die Gemeinschaft in der Ideologie der Nazis ein verführerisches Versprechen für die Ausgeschlossenen ist, begreift Bauman den Kommunitarismus als Reaktion gegen die zu-

27 Plessner: Grenzen der Gemeinschaft, aaO., S. 41. 28 Plessner: Grenzen der Gemeinschaft, aaO., S. 55. 29 Ebd. 30 Plessner: Grenzen der Gemeinschaft, aaO., S. 26. – René Girard sieht das Opfer in Das Heilige und die Gewalt (La violence et le sacré, 1972) als den Akt, der die Gesellschaft vor ihrer eigenen Gewalt bewahrt: »Das Opfer schützt die ganze Gemeinschaft vor ihrer eigenen Gewalt, es lenkt die ganze Gemeinschaft auf andere Opfer außerhalb ihrer selbst.« René Girard: Das Heilige und die Gewalt, übers. v. Elisabeth Mainberger-Ruh, Frankfurt a.M. 1992, S. 18. Zu Girards Theorie im Kontext der Gesellschaft s. auch Zygmunt Bauman, Flüchtige Moderne, übers. v. Reinhard Kreissl, Frankfurt a.M. 2003, S. 227-229. Bauman modifiziert Girards Argument insofern, als er die Frage untersucht, warum Gewalt sich wiederholt – seine Antwort sieht so aus, dass das gewalttätige Opfer zum Zwecke der Erinnerung immer wiederholt werden muss. Nicht nur schafft der ursprüngliche grausame Akt Gesellschaft, sondern indem dieser Akt in Form des Rituals ständig wiederholt wird, garantiert er den Fortbestand der Gesellschaft. Bauman nennt den Jugoslawien-Krieg der 1990er Jahre als Beispiel für seine Theorie (S. 230ff.). 31 Plessner: Grenzen der Gemeinschaft, aaO., 78.

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nehmende »Verflüssigung« (»fluidity«) der Moderne.32 Sowohl Plessner als auch Bauman aber sehen die Utopie der Gemeinschaft als die Folge anwachsender Isolierung und Distanz, von zu viel Individualismus, und beide stehen für das Individuum ein, für Distanz und gegen die Verführung einer wärmenden Gemeinschaft. Jean-François Lyotards These vom Ende der grands récits über Ursprung und Entwicklung scheint kommunitaristischen Ideen gegen Ende des 20. Jahrhunderts eine tröstende Hoffnung zu geben, die Tönnies, dem die Kommunitaristen sich zuwandten, in seinem revolutionär-konservativem Ideal versprach. Eine Gemeinschaftstheorie aus eher philosophischer als soziologischer Perspektive hat Jean Luc Nancy in Die undarstellbare Gemeinschaft (La communauté désoeuvrée, 1982) entworfen, wo er einen Dialog mit Georges Bataille führt. Nancy kontextualisiert die Gemeinschaft in einem komplizierten Feld von Subjekt, Tod, Sein und dem Politischen. Bataille, so Nancys Argument, sieht den Menschen in einer »gewaltsame[n] Logik des Getrennt-Seins«,33 doch nur eine Logik, die diesem »Getrennt-Sein« entgegen tritt, kann eine Gemeinschaft denken. Nancy nennt diese andere Logik »Ekstase«, was ein »Denken der Kunst, der Literatur und des Denkens selbst«34 meint. Die Gemeinschaft, so Nancy, ist einer der ältesten Mythen der westlichen Welt und hat real niemals existiert, wenngleich einflussreiche Denker wie Rousseau oder Hegel die Geschichte als eine Geschichte des Verlusts von Gemeinschaft gedeutet haben. Gemeinschaft in Nancys Konzept ist ein christliches Konzept, und der Körper Christi personifiziert die Idee der Gemeinschaft: Christus, der Menschgott, ist ein »deus communis«, der die Idee des Menschen ohne Trennungen verkörpert.35 Oder: die Idee des immanenten Menschen, wie Nancy – und auch Bataille – jenen Menschen nennt, der noch nicht von Gott getrennt ist. Nancys – und Batailles – Gemeinschaft transzendiert damit die Nachbarschaft: Ihre Gemeinschaft ist ein mystischer Zustand des Eins-Seins, eine »Erfahrung des Draußen, des Außer-Sich-Sein«.36

32 Bauman: Flüchtige Moderne, aaO., 200. 33 Jean-Luc Nancy: Die undarstellbare Gemeinschaft, übers. v. Gisela Febel /Jutta Legueil, Stuttgart 1988, S. 18. 34 Nancy: Die undarstellbare Gemeinschaft, aaO., S. 23. 35 Nancy: Die undarstellbare Gemeinschaft, aaO., S. 28. 36 Nancy: Die undarstellbare Gemeinschaft, aaO., S. 45.

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Neben diesem mystischen Modell schlägt Nancy noch ein politisches Konzept von Gemeinschaft vor: Das Politische hat die Funktion, den Menschen zur Kommunikation zu bewegen, denn Gemeinschaft im politischen Sinn bedeutet, dass das Subjekt mit anderen kommuniziert.37 Eine Gemeinschaft unterscheidet sich dadurch von einer Masse. Die Masse, die die Gemeinschaft feiert, zerstört die Gemeinschaft eben dadurch, dass sie das individuelle Subjekt in seinem Sein mit den anderen eliminiert – Nancy hat hier faschistische Masse im Sinn.38 Für Nancy ist das Denken der Gemeinschaft ein Paradox, gleichermaßen unterschiedlich (ein individuelles Subjekt) und gleich zu sein (Gemeinschaft). Dieses Paradox macht es fast unmöglich, Gemeinschaft zu realisieren. Gemeinschaft für Nancy ist damit mythisch (da sie nie existiert hat) und utopisch (da sie nie existieren wird) zugleich.

3. U RBAN S TUDIES : N ACHBARSCHAFT WIRKLICHE L EBEN

UND DAS

Gemeinschaft und Nachbarschaft sind Konzepte, die häufig synonym gebraucht werden, doch erfordert Nachbarschaft eine bestimmte topographische Ordnung, auf die die Gemeinschaft verzichten kann.39 Während die Gemeinschaft ein vor allem soziales, wenn auch oft utopisches oder philosophisches Modell ist, kombiniert das Konzept der Nachbarschaft soziale und spatiale (oder auch geographische) Aspekte; es ist – wie bereits oben zitiert – eine »soziale Organisation der Nähe«.40 Clarence Peters, eines der Gründungsmitglieder der »Regional Planning Association of America«, definierte Nachbarschaft im Jahre 1929 als »fractional unit that would be self-sufficient yet related to the whole.«41

37 Nancy: Die undarstellbare Gemeinschaft, aaO., S. 87. 38 Ebd. 39 William Peterman: Neighborhood Planning and Community–based Development. The Potential and Limits of Grassroot Action, Thousand Oaks 2000, S. 20. 40 Klös: »Nachbarschaft«, aaO., S. 18. 41 Zit. in Peterman: Neighborhood Planning, aaO., S. 15.

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Nachbarschaften von Menschen, die nahe bei einander in solchen »fractional units« oder Parzellen leben, können aus zwei unterschiedlichen Perspektiven untersucht werden: aus der Perspektive des Forschers, des Stadt-Ethnographen oder des urban ethnographer, der Nachbarschaften aufsucht, Stadtpläne zeichnet und herauszufinden versucht, was eine bestimmte Nachbarschaft ausmacht und was sie von anderen Nachbarschaften und Wohngebieten unterscheidet. Die andere Perspektive ist die des Stadtplaners oder Architekten – Nachbarschaft ist in diesem Fall ein (soziales) Projekt mit dem Ziel, ein Gemeinschaftsgefühl zu erzeugen.42 Beide Bewegungen, die ethnographische Beobachtung und die Stadtplanung, waren im 20. Jahrhundert eng miteinander verschränkt; sie lassen sich beide als die Folgen der Moderne und der damit einhergehenden Entwicklung in den Städten deuten. Während Schriftsteller die Stadt in ihren Romanen bereits seit dem späten 18. und dem frühen 19. Jahrhundert beschrieben haben, haben Soziologen (wie Georg Simmel oder Robert Ezra Park) oder Kulturtheoretiker (wie Walter Benjamin) erst im frühen 20. Jahrhundert begonnen, durch die großen Metropolen (wie London, Berlin oder Chicago) zu spazieren. Etwa zur selben Zeit haben Architekten und Stadtplaner versucht, das Wohnen in den Städten zu modernisieren und, wie die postrevolutionären Architekten in Sowjetrussland oder Bauhaus in Deutschland, Wohnviertel für ein besseres, gesünderes Leben entworfen. Beobachter und Bauleute haben die Städte in kleinere Segmente unterteilt, um mikroskopische Modellwelten der großen Stadt zu sehen, zu beschreiben oder zu bebauen. Wenn wir uns zunächst den Beobachtern zuwenden, dann ist die Chicago School of Urban Sociology das Modell für diesen Typus der urban studies; obwohl ihr Höhepunkt etwa in der Zeit von 1915 bis 1932 lag,43 wird die Chicago School auch heute noch als eine der ein-

42 Kurt D. Vierecke: Nachbarschaft. Ein Beitrag zur Stadtsoziologie, Diss. Aachen 1977, S. 11: Nachbarschaft setzt sich das Ziel, »eine gemeinschaftsbildende Kraft zu erzeugen«. 43 Zur Chicago School of Urban Sociology und zu ihrem Leiter, Robert Ezra Park, der für diesen Höhepunkt verantwortlich ist, s. Rolf Lindner: »Die Entdeckung der Stadtkultur: Die Chicagoer Schule der Stadtethnologie«, in: ders.: Walks on the Wild Side. Eine Geschichte der Stadtforschung, Frankfurt/New York 2004, S. 113-146.

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flussreichsten Schulen der urban studies angesehen. Sie funktionierte nach dem Prinzip: »Go everywhere, see everything, overhear everyone.«44 Während die Stadt für Robert Ezra Park,45 den Gründungsvater der Chicago School, wie auch für Simmel eine Synekdoche für die Gesellschaft als Ganzes ist, setzt sich diese Stadt doch aus kleineren sozialen Welten zusammen. Diese sozialen Welten, Nachbarschaften wie Little Italy oder die Lower North Side in Chicago, sind durch eine Interaktion zwischen ihrer physischen Struktur und ihrer kulturellen Ordnung gekennzeichnet. Nachbarschaften sind für Park »natürliche Räume«, die durch die Menschen, die dort wohnen, begründet sind: »Im Laufe der Zeit nimmt jedes Gebiet und jedes Viertel der Stadt etwas vom Charakter und von den Eigenschaften seiner Bewohner an. Jeder Stadtteil ist unausweichlich von den besonderen Empfindungen seiner Bevölkerung gefärbt.«46

The City, das Manifest der Chicago School aus dem Jahr 1925, bezeichnet Peterman als eine »theory of ›human ecology‹ in which the relationships between individuals, families, groups and institutions formed into a ›natural organization‹ based on their common location.«47

Der Stadtethnologe Ernest W. Burgess aus der Chicago School zum Beispiel teilte Chicago in fünf unterschiedliche Zonen ein, die er aufgrund von Lage und Berufsfeldern unterschied; er visualisierte die Zonen als konzentrische Kreise, die sich von innen nach außen anwuchsen: Zone I war der »zentrale Business-District«, Zone II die »TransitZone« mit Nachbarschaften (oder neighborhoods, wie es im amerikanischen Kontext vielleicht genauer ist), die sich aus Immigranten und

44 Lindner: »Die Entdeckung der Stadtkultur«, aaO., S. 114. 45 Auch in der Darstellung von Pounds Artikel und der Chicago School folgen wir Lindner: »Die Entdeckung der Stadtkultur«, aaO., S. 126f. 46 Robert E. Park: »The City: Suggestions for the Investigation of Human Behaviour in the City Environment«, in: ders./E.W. Burgess/R.D. McKenzie (Hg.): The City, Chicago 1925, S. 1-46; zit. nach: Lindner: »Die Entdeckung der Stadtkultur«, aaO., S. 126. 47 Peterman: Neighborhood Planning, aaO., S. 16.

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Slums zusammen setzten, Zone III umfasste die neighborhoods der »Emigranten der zweiten Generation« und »respektabler« Arbeiter, in Zone IV verortete er die amerikanische Mittelklasse, und Zone V war die Pendlerzone der Vororte oder »suburbia«. Diese Beschreibung von Chicago stellte eine Art »natürlicher« Verteilung der Arten in Hinsicht auf die Lokalisierung und den sozialen Status dar. Burgess’ Studie war charakteristisch für einen Typus der urban studies, der feste Einheiten nummerierte und, davon ausgehend, mental maps entwickelte.48 Neuere urban studies dagegen sehen Städte als Prozess an; so spricht Hartmut Haußermann von der »Prozesshaftigkeit von Urbanität«;49 betont wird auch die »fluidité urbaine«.50 Nachbarschaft erscheint aus dieser Perspektive als flexibles Konzept, das in den Augen einiger Stadtforscher über die räumlich basierte Definition hinaus geht. Bereits 1961 hat Jane Jacobs die Vorstellung von der idealen Nachbarschaft als »a cozy, inward-turned, self-sufficient urban village« kritisiert.51 Statt dessen sieht sie Dynamik als den zentralen Faktor an, der Menschen miteinander verbindet und ihnen zugleich erlaubt, sich zwischen den verschiedenen Räumen in der Stadt zu bewegen.52 Nachbarschaften (neighborhoods) verschiedener Größe, von

48 Thomas Hengartner: »Die Stadt im Kopf. Wahrnehmung und Aneignung der städtischen Umwelt«, in: Waltraut Kokot/Thomas Hengartner/Karin Wildner (Hg.): Kulturwissenschaftliche Stadtforschung. Eine Bestandsaufnahme, Berlin 2000, S. 87-105. 49 Hartmut Häußermann: »Urbanität«, in: Birgit Brandner/Kurt Luger/ Ingo Mörth (Hg.): Kulturerlebnis Stadt. Theoretische und praktische Aspekte der Stadtkultur, Wien 1994, S. 67-80, hier: S. 78. 50 So bei Colette Pètonnet: Espaces habités. Ethnologie des banlieus, Paris 1982. – Zu den verschiedenen Ansätzen in den urban studies siehe, z.B., Thomas Hengartner/Waltraud Kokot/Kathrin Wildner: »Das Forschungsfeld Stadt in Ethnologie und Volkskunde«, in: dies. (Hg.): Kulturwissenschaftliche Stadtforschung. Eine Bestandsaufnahme. Berlin 2000, S. 3-18; und, in demselben Band, Hengartner: »Die Stadt im Kopf«, aaO. 51 Jane Jacobs: The Death and Life of Great American Cities, Harmondsworth 1961, S. 115. 52 Z.B. Jane Jacobs: The Death and Life, aaO., S. 134, S. 136: »An interweaving, but different, set of relationships must grow up; these are working relationships among people, usually leaders, who enlarge their local public life beyond the neighborhoods of streets and specific organizations

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Straßenzügen über Bezirke bis hin zu Städten, die wirklich große Nachbarschaften sind, bezeichnet sie als »mundane organs of selfgovernment«53 und nicht als bestimmte Räume. Während die Chicago School Nachbarschaften beobachtete und beschrieb, waren die Architekten und Stadtplaner zeitgleich mit der Frage nach dem Wohnen befasst.54 In den 1920er Jahren verband in Sowjetrussland die dringliche Frage, wie der Neue Mann und die Neue Frau wohnen sollten, architektonische und anthropologische Projekte miteinander. Nach der Revolution benötigten vor allem die großen Städte Wohnraum, genauer: Wohnraum für Arbeiter.55 Der konstruktivistische Architekt Mojsej Ginzburg schreibt 1926 über eine »maximale Ökonomie der Quellen«, die auf eine »maximale Anzahl von Arbeitern« angewendet werden muss.56 Um ein Maximum an Raum für eine

or institutions and form relationships with people whose roots and backgrounds are in entirely different constituencies, so to speak. These hopand-skip relationships are more fortuitous in cities than are the analogous, almost enforced hop-and-skip links among people from different small groupings within self-contained settlements. […] Once a good, strong network of these hop-skip links does get going in a city district, the net can enlarge relatively swiftly and weave all kinds of resilient new patterns.« 53 Jacobs: The Death and Life, aaO., S. 114 54 Zum Wohnen in Ost und West s. Schamma Schahadat: »Wie zusammen leben? Wohnen in Ost und West im 20. Jahrhundert«, in: Annette Maechtel/Kathrin Peters (Hg.): die stadt von morgen. Beiträge zu einer Archäologie des Hansaviertels Berlin, Köln 2008, S. 244-255; zum Wohnen speziell in der Sowjetunion in den 1920er und 30er Jahren Schamma Schahadat: »Zusammenleben: Mensch und (Wohn)Raum im Russland der 1920er Jahre«, in: Ulrich Bröckling/Benjamin Bühler/Manfred Weinberg (Hg.): Disziplinen des Lebens, Tübingen 2004, S. 149-169. Zur Kommunalwohnung als sowjetische Wohnform s. Sandra Evans: Sowjetisch Wohnen. Eine Literatur- und Kulturgeschichte der Kommunalka, Bielefeld 2011. 55 Anatole Senkevitch Jr.: »The Sources and Ideals of Constructivism in Soviet Architecture«, in: Art into Life. Russian Constructivism 1914–1932, Seattle 1990, S. 169–212, hier: S. 187. 56 Mojsej Ginzburg: »Funkcional’nyj metod i forma« (Die funktionale Methode und die Form), in: Sovremennaja architektura 4 (1926), zit. nach Senkevitch: »The Sources and Ideals«, aaO., S. 187.

E INLEITUNG : N ACHBARSCHAFT

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maximale Anzahl von Arbeitern zu ermöglichen, wurden kommunale Wohnhäuser entworfen, die nicht nur Wohnraum schaffen sollten, sondern auch als ideologische Vervollkommnung eines neuen, kommunistischen Lebens galten. Eine maximale Anzahl von Menschen, die miteinander auf einem minimalen Raum lebten und kommunale Einrichtungen nutzten, würden Tönnies’ »Gemeinschaft des Geistes« auf ideale Weise realisieren. Während die russischen Wohn- und Stadtplaner neue Formen des (Zusammen-)Lebens entwarfen und diskutierten und dabei Argumente einbrachten, die sowohl die materiellen Notwendigkeiten als auch die Ideologie berücksichtigten, planten und entwickelten die westlichen Architekten das moderne Leben – 1925 präsentierte Le Corbusier seine unité d’habitation, seine »Wohnmaschine«, die 1947 in Paris gebaut wurde. Diskutiert wurde auch die »Wohnung für das Existenzminimum«,57 und in Deutschland entwickelten Peter Behrens, Mies van der Rohe, Walter Gropius und andere ein Programm für das »Neue Bauen« (1925-1930 in Berlin und Frankfurt),58 das, wie auch in Russland, für Arbeiter gedacht war, die aus den ländlichen Gegenden in die Städte gezogen waren, das Proletariat bildeten und unter fürchterlichen Lebensbedingungen hausten.59 Soziale und industrielle Veränderungen und Probleme sollten dadurch gelöst werden, dass die Lebensbedingungen verbessert wurden. 1933 forderte die Charta von Athen (CIAM) eine Unterteilung der Städte in Wohn- und Arbeitsbereiche. Die Reihe ließe sich weiter führen, new urbanism und gated communities als Reaktionen auf Globalisierung und auf eine zunehmende Sehnsucht nach »verlorenen Gemeinschaften« und nach »territorialer Harmonisierung«60 haben neue Formen und Entwürfe von Nachbarschaft hervorgebracht. Nachbarschaft ist – das sollte deutlich geworden sein – eine zentrale Organisationsform sowohl im realen Leben als auch in der Poetik und in der Sozial-, Kultur- und Geistesgeschichte. Konzepte wie Ähnlichkeit und Differenz, gute und schlechte Nachbarschaft, Nähe und Ferne, aber auch Utopie und Ideal, Skandal und Ver-

57 Thomas Elsaesser: »Die Kamera in der Küche: Werben für das Neue Wohnen«, in: Gertrud Koch (Hg.): Umwidmungen – architektonische und kinematographische Räume, Berlin 2005, S. 36-53, hier: S. 39f. 58 Elsaesser: »Die Kamera in der Küche«, aaO., 38. 59 Ebd. 60 Klös: »Nachbarschaft«, aaO., S. 21.

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brechen sind Topiken, die in literarischen, philosophischen, soziologischen und architektonischen Entwürfen immer wieder auftauchen.

4. I ST N ACHBARSCHAFT

HEUTE NOCH MÖGLICH ?

Ein soziokulturelles Pendant zum anfangs eingeführten guten Beispiel einer schlechten Nachbarschaft sind das Paar Seth und Merrie, die Nachbarn der Berglunds, den Protagonisten in Freedom, Jonathan Franzens neuestem biographischen Familienroman und Portrait des gegenwärtigen Amerika. Im folgenden wird eine nachbarschaftliche Beziehung in Ramsey Hill, einem Stadtviertel von St. Paul, Minnesota, beschrieben: »Once the old cigarette-butt issue had been resolved – Seth and Merrie admitted to having possibly exaggerated the summerlong tally of butts in the wading pool: to having possibly overreacted – they’d discovered in Carol Monaghan a rich source of lore about local Democratic politics, which Merrie was getting more involved with.«61

Wie das einleitende Beispiel demonstriert dieser Satz den banalen und existentiellen Pragmatismus, der nachbarschaftliche Beziehungen mitunter ausmacht. In beiden Beispielen reicht die Spanne des Pragmatismus von der nachbarschaftlichen Irritation über Zigarettenkippen bis hin zu politischen Interessen und illustriert daraus entstehende Machtverhältnisse. Allerdings nimmt das Existentielle jeweils unterschiedliche Bedeutung an: in dem Beispiel der schlechten, denunziatorischen Nachbarschaft nimmt die existentielle Abhängigkeit der Nachbarn untereinander einen destruktiven Charakter an, während sie im letzteren Beispiel eher produktive Dimensionen erlangen soll. Räumliche Nähe bedeutet meist auch soziale Nähe und mithin gemeinsame Interessen, konforme Verhaltensnormen und ähnliche Lebensstile, so dass man den selben Umständen, Nöten und Zwängen ausgesetzt und in der Bewältigung des Alltags aufeinander angewiesen ist. Mit dem Ausgangspunkt wirtschaftlicher Notwendigkeit, ähnlicher Interessen, sozialer Nähe und Unentrinnbarkeit entwickeln sich Normen nachbarschaftlichen Verhaltens.

61 Jonathan Franzen: Freedom, London 2010, S. 17.

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Soziale Beziehungen sind letztendlich signifikante Kräfte, die einen gesellschaftlichen Zusammenhang und zwischenmenschliche Bindungen herstellen. Die sozialräumliche Organisation nachbarschaftlicher Beziehungen sowie der Zusammenhang zwischen Nachbarschaft, Raum und Emotion werden in den folgenden Beiträgen untersucht. Auffallend ist dabei, dass die Beiträge primär die Herausforderungen und die negativen Aspekte des Nachbarseins beleuchten und dabei die Überschrift dieser Sektion, inwiefern gute Nachbarschaft möglich ist, zu negieren scheinen. Der erste Teil des Bandes ist der Theorie gewidmet. Die Beiträge von Slavoj Žižek und Zygmunt Bauman wählen das christliche Gebot »Liebe deinen Nächsten« als Ausgangspunkt für ihre Überlegungen zum Nachbar und zum Nachbarsein nehmen. Der Beitrag von Jens Wietschorke thematisiert, wie sein Titel andeutet, inwiefern Nachbarschaft planbar ist. Er bietet einen historischen Überblick über unterschiedliche Nachbarschaftskonzepte und über die stadtsoziologische Kritik von Nachbarschaftsideologien, um zu den Schluss zu kommen, dass Nachbarschaft nicht geplant werden kann, »weil sie auf sozialen Auswahlprozessen basiert und damit eine Form der Wahlverwandtschaft ist, die durch räumliche Nähe vielleicht begünstigt wird, die aber keinesfalls eine unmittelbare Folge des Beieinander-Wohnens ist.« Im zweiten Teil werden Fallstudien zu guter und schlechter Nachbarschaft präsentiert. Gute Nachbarschaft bedarf einer gewissen Homogenigät, wie z. B. Übereinstimmung im Lebensstil, in der normativen Orientierung, in den Interessen und der materiellen Lage. Auch räumliche Arrangements können nachbarliche Kontakte begünstigen. Emily Fischer Gray stellt die religiöse Nachbarschaft zwischen katholischen und lutheranischen Mönchen im Augsburger Heilig-KreuzViertel des 16. Jahrhunderts vor. Deutlich wird hier, dass trotz der beiderseitig verfolgten Tugend, seinen Nächsten zu lieben, und trotz der vermeintlichen Gemeinsamkeiten keine gute nachbarliche Beziehungen aufgrund der erzwungenen nachbarschaftlichen Kontakte entstehen konnten. Schamma Schahadat befasst sich in ihrem Beitrag mit Zwangsnachbarschaft oder extremer Nachbarschaft im Lager und im Gefängnis. Hierfür untersucht sie Texte von Fedor Dostoevskij, Evgenija Ginzburg und Varlam Šalamov. Die Nachbarschaft in extremis, die zugleich eine Zwangsgemeinschaft ist und in manchen Fällen zu einer

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Art »Zwangsfamilie« wird, konstituiert sich in den jeweiligen Texten unterschiedlich, indem verschiedene intime Räume entworfen werden, bei denen die Dynamik von Nähe und Distanz (oder auch: fehlender Distanz) bestimmte Formen von Nachbarschaft hervorbringen. Ein Paradebeispiel für erzwungene Nachbarschaft ist die sowjetische Kommunalwohnung, in der realer Wohnraummangel und ideologische Parolen sozialer Gleichheit aufeinanderprallen: sie ist ein Alptraum der Langeweile und Konformität, ein Nicht-Ort, herausgefallen aus der historischen Zeit. Ilya Utekhin veranschaulicht in seinem Beitrag psychopathologische Paradoxien der erzwungenen Nachbarschaft in der sowjettypischen Kommunalwohnung, die er anhand von unterschiedlichen Texten in Form von offiziellen und abgewandelten Regeln des Zusammenlebens, von Botschaften an die Nachbarn und am Beispiel eines wiederum denunziatorischen Briefes an die österreichische Botschaft analysiert. Ein weiteres historisches Beispiel wäre die künstliche Stadt Celebration, die Walt Disney im Süden Floridas gebaut hat – ein »Soziotop«, wie Peter Klös die Stadt nennt,62 der keine Geschichte und keine Möglichkeit für Veränderungen hat, ohne Aufteilungen oder Diversitäten. Celebration erscheint als ein Alptraum anderer Art als die sowjetische Kommunalwohnung. Von diesem Konzept der geplanten Künstlichkeit und Homogenität, die auf unheimliche Weise an die Kommunalwohnung erinnert, ist es nicht mehr weit zu den ghettoartige Mauern und Eingangstoren, die die Wohnstätten der Mittel- und Oberklasse von dem Rest der Stadt in gated communities abtrennen. Sandra Evans betachtet Gated Communities als Trans-Phänomen, als Artikulationsform soziohistorisch-kultureller und urbaner Vernetzungen, Vermengungen und Diskurse, die nicht nur Träger des kollektiven Gedächtnisses einer Gemeinschaft ist, sondern auch kollektiver urbaner Träume. Damit aus räumlicher Nähe eine gute Nachbarschaft werden kann, bedarf es sozialer Nähe. Dorothee Kimmich stellt in ihrem Beitrag zu gefährlichen Nachbarschaften Ähnlichkeit als innovatives kulturwissenschaftliches Konzept auf, das sie auf kulturelle und soziale Ähnlichkeit anhand zweiter kanonischer realistischer Texte überträgt. *****

62 Klös: »Nachbarschaft«, aaO., S. 18.

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Dafür, dass dieser Band zustande gekommen ist, möchten wir uns bei verschiedenen Menschen und Institutionen bedanken. Zunächst einmal bei den Autorinnen und Autoren, von denen einige im Sommer 2008 an der Universität Tübingen an einem englischsprachigen Workshop zum Thema »Neighborship« teilgenommen haben. Für die Möglichkeit, die Beiträge von Zygmunt Bauman, Slavoj Žižek und Wladimir Kaminer zu publizieren, bedanken wir uns bei Polity Press, beim Laika Verlag und bei der Verlagsgruppe Random House. Der Workshop und die Publikation wurden möglich gemacht durch die Finanzierung der DFG im Rahmen des Projekts »Intime Texte, intime Räume. Intimität und Nähe in der russischen Kultur«, das am Slavischen Seminar der Universität Tübingen gefördert wurde, sowie im Rahmen des Konstanzer Exzellenzclusters EXC 16 »Kulturelle Grundlagen der Integration« – vor allem bei den Konstanzer Kolleginnen und Kollegen möchten wir uns für die hervorragende Kooperation bedanken. Nicht zuletzt danken wir Katharina List und Katharina Zent für die redaktionelle Bearbeitung des Buches und dem transcript Verlag für Unterstützung und Geduld.

NACHBARSCHAFT: THEORETISCHE POSITIONEN

Allegro moderato – Adagio. Fürchte deinen Nächsten wie dich selbst!1 S LAVOJ Ž IŽEK

D IE P OLITIK

DER

ANGST

Der heutzutage vorherrschende Modus der Politik ist die postpolitische Biopolitik – ein staunenswertes Beispiel des Theoriejargons, den man jedoch unschwer zerpflücken kann. Das »Post-Politische« ist eine Politik, die von sich behauptet, sich vom alten ideologischen Ballast befreit zu haben und die sich stattdessen auf expertenbasiertes Management und Verwaltung konzentriert. »Biopolitik« bezeichnet die Tatsache, dass es das vorrangige Ziel ist, die Sicherheit und den Wohlstand des menschlichen Lebens zu regulieren.2 Es ist dabei ganz offensichtlich, dass diese beiden Sphären einander überschneiden: Wenn man sich erst einmal von den ideologischen Beweggründen distanziert hat, dann bleibt nur mehr die effiziente Verwaltung des Le-

1

Copyright und Abdruck mit freundlicher Genehmigung des LAIKA-Verlags. Auszug aus: Slavoj Žižek: Über die Gewalt – sechs abseitige Reflektionen, Hamburg: LAIKA 2011. Aus dem Englischen übersetzt von Dr. Andreas L. Hofbauer.

2

Zur Biopolitik vgl. Giorgio Agamben: Homo sacer, Frankfurt a.M. 2002; zur Post-Politik vgl. Jacques Rancière: Das Unvernehmen, Frankfurt a.M. 2001.

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bens übrig ... beinahe. Das heißt, dass mit der entpolitisierten, gesellschaftlich objektiven Expertenverwaltung und -administration und der Koordination der jeweiligen Interessen der Nullpunkt der Politik erreicht ist. Der einzige Weg, dieses Feld wieder mit Leidenschaft zu impfen, also die Menschen zu mobilisieren, besteht darin, Angst zu schüren; die konstitutive Grundlage der heutigen Subjektivität. Aus diesem Grund ist die Biopolitik eine Politik der Angst und sie konzentriert sich auf die Abwehrhaltung gegenüber möglicher Viktimisierung und Belästigung. Das ist es, was eine radikal emanzipatorische Politik von unserem derzeitigen Stand in der Politik trennt. Wir reden hier nicht von zwei verschiedenen Visionen oder Axiomatiken, sondern von einer Politik, die auf einem allgemeinen Set von Axiomen beruht, und einer Politik, die gerade diese konstitutive Dimension des Politischen zurückweist, da sie die Angst zum allgemeingültigen Mittel der Mobilisierung erklärt hat. Die Angst vor Einwanderern, die Angst vor der Kriminalität, die Angst vor gottloser sexueller Ausschweifung, die Angst vor einem allmächtigen Staat, der uns mit immer neuen Steuern belastet, Angst vor einer Umweltkatastrophe, Angst vor sexueller Belästigung. Die politische Korrektheit ist die beispielhafte liberale Form für eine solche Angstpolitik. Eine derartige (Post-)Politik hängt immer von der Manipulation eines paranoiden ochlos oder einer multitudo ab. Die Furcht erregende Massenkundgebung der Verängstigten. Deshalb war das Großereignis des Jahres 2006 auch die ausländerfeindliche Politik, die zu einem mainstream-Phänomen geworden war, da sie nun schließlich die Nabelschnur gekappt hat, die sie bislang mit dem Spektrum der extremen Rechten verbunden hatte. Von Frankreich bis Deutschland, von Österreich bis Holland finden es die jeweiligen Großparteien, getragen vom Geist des Stolzes auf ihre kulturelle und historische Identität, wieder akzeptabel darauf hinzuweisen, dass die Zuwanderer Gäste seien, die sich den kulturellen Werten des Gastlandes anzupassen hätten – »Das ist unser Land, wenn es Dir nicht passt – hau ab!« Die liberale Toleranz von heute gegenüber dem Anderen, der Respekt vor der Andersheit und die Offenheit dieser gegenüber, wird durch die obsessive Angst vor der Belästigung konterkariert. Kurz gesagt: Nichts auszusetzen am anderen, solange er sich mit seiner Anwesenheit nicht zu sehr eindrängt, solange dieser Andere also nicht wirklich der Andere ist ... Ebenso wie das Beispiel von der Schokolade

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als Abführmittel im vorangegangenen Kapitel3 fällt die Toleranz mit ihrem Gegenteil in eins. Meine Pflicht, mich dem Anderen gegenüber tolerant zu verhalten, bedeutet tatsächlich, dass ich ihm nicht zu nahe kommen und seine Kreise nicht stören soll. Mit anderen Worten soll ich seine Intoleranz respektieren, die er meiner übertriebenen Annäherung entgegenbringt. Was jetzt also als besonderes Menschenrecht in den spätkapitalistischen Gesellschaften auftaucht, ist das Recht, nicht belästigt zu werden, ein Recht, das es uns gestattet, einen sicheren Abstand zu den anderen zu wahren. Post-politische Biopolitik verfügt also über zwei Aspekte, die zwei entgegen gesetzten ideologischen Lagern entstammen. Da gibt es die Reduktion des Menschen auf das »nackte Leben«, die Reduktion zum Homo sacer, das so genannte heilige Wesen, dass das Objekt eines besonderen sorgenden Wissens ist, nichtsdestotrotz aller Rechte verlustig gegangen, wie die Häftlinge von Guantanamo oder die Opfer des Holocausts. Und dann gibt es den Respekt, den man dem verwundbaren Anderen entgegenbringt und der durch die Geisteshaltung einer narzisstischen Subjektivität, die das Selbst als etwas durch und durch Verletzliches erfährt, ins Äußerste getrieben wird. Das Selbst ist hier einer Unzahl möglicher »Belästigungen« ausgesetzt. Kann es einen empathischeren Gegensatz geben als den zwischen der Verwundbarkeit des Anderen und seiner Reduktion auf ein bloßes »nacktes Leben«, das vom administrativen Wissen verwaltet wird? Was aber, wenn diese beiden Ansätze derselben Wurzel entspringen? Was, wenn sie beide Kind derselben Geisteshaltung sind? Was, wenn sie beide in dem zusammenfallen, was man geneigt ist, für einen zeitgenössischen Fall des hegelianischen »unendlichen Urteils« zu halten, worin sich die Identität der Gegensätze behauptet? Was diese beiden Pole als gemeinsame Grundlage teilen, ist die Ablehnung irgendeiner höheren Sache; sie teilen die Vorstellung, dass das letzte Ziel des Lebens das Leben selbst ist. Aus diesem Grund gibt es auch keinen Widerspruch zwischen dem Respekt vor dem verletzlichen Anderen und der gleich-

3

[Im dem Kapitel, das in Žižeks Buch Über die Gewalt, aus dem der vorliegende Beitrag stammt, vorausgeht, verweist Žižek auf ein Laxativ aus Schokolade, für das in den USA mit der folgenden paradoxen Vorgabe geworben wird: »Sind Sie verstopft? Essen Sie mehr von dieser Schokolade!« Das heißt, das Ding selber ist das Mittel gegen die Gefahr, das von ihm ausgeht. – Anm. der Herausgeberinnen]

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zeitigen Bereitschaft, jede Folter zu rechtfertigen, den extremen Ausdruck also, Individuen als Homini sacer zu behandeln.4 In seinem Buch Das Ende des Glaubens verteidigt Sam Harris die Anwendung der Folter in Ausnahmefällen (doch natürlich verteidigt jeder, der die Folter verteidigt, diese nur als ein Mittel für Ausnahmefälle – wer wird schon ernsthaft für die Folter eines kleinen hungrigen Kindes eintreten, das einen Schokoriegel gestohlen hat). Seine Verteidigung gründet auf der Unterscheidung zwischen unserer instinktiven Abscheu, mit eigenen Augen Zeuge der Folter oder des Leiden eines Menschen zu sein, und unserem abstrakten Wissen über das Leiden der Massen. Es fällt uns um vieles schwerer eine Person zu foltern, als aus der Distanz heraus den Befehl zu erteilen, eine Bombe zu werfen, die den schmerzhaften Tod mehrerer tausend Menschen verursacht. Wir sind demnach alle in einer ethischen Täuschung gefangen, die mit den Täuschungen unserer Wahrnehmung einhergeht. Der letzte Grund für diese Illusionen besteht in unseren emotional-ethischen Reaktionen, die sich aus den uralten Instinktreaktionen der Sympathie für die Leidenden und das Leid, dessen Zeuge wir werden, speist, ungeachtet der Tatsache, wie immens sich auch unsere abstrakte Vernunft entwickelt hat. Es ist deshalb auch für die meisten unter uns weitaus mehr Abscheu erregend, jemanden aus nächster Nähe eine Kugel in den Kopf zu schießen als einen Knopf zu drücken, um damit tausend Menschen zu töten, die wir nicht zu sehen bekommen. »Angesichts dessen, was viele im Krieg gegen den Terror für dringend nötig halten, erschiene die Anwendung von Folter in gewissen Fällen nicht nur zulässig, sondern sogar erforderlich. Trotzdem scheint dies im Augenblick, ethisch gesehen, nicht akzeptabler zu sein, als dies früher der Fall war. Die Ursachen dafür sind wie ich glaube, ebenso neurologischen Ursprungs wie jene, die zur Mond-Illusion führen ... Ich glaube, die Zeit ist gekommen, zum Lineal zu greifen und es gegen den Himmel zu halten.«5

4 5

Vgl. Agamben: Homo sacer, aaO. Sam Harris: Das Ende des Glaubens, Winterthur 2007, S. 206. [Der zweite Satz in diesem Zitat fehlt in der deutschen Übersetzung. Mit »Mond-Illusion« ist der Umstand angesprochen, dass unserem Auge der Vollmond am Horizont größer erscheint, als der Vollmond über uns. Ein Lineal gegen den Himmel gehalten belehrt uns eines besseren. – Anm. des Übersetzers]

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Es wundert wenig, dass sich Harris auf Alan Dershowitz bezieht und dessen Rechtfertigung der Folter.6 Um diese durch die Evolution gestaltete Schwachstelle, nämlich das physische Schauspiel der Leiden anderer, auszuschalten, stellt sich Harris eine ideale »Folterpille« vor, ein perfekter Ersatz wie koffeinfreier Kaffee oder Coca Cola light. »[...] ein Medikament, das sowohl im Sinne eines Folterinstruments wie auch als Mittel zur Kaschierung der damit verbundenen Qualen dienen könnte. Die Pille würde vorübergehend zu einer Totallähmung sowie gleichzeitig zu Qualen eines solchen Ausmaßes führen, dass kein Mensch sich ein zweites Mal je wieder ihrer Wirkung aussetzen wollte. Man stelle sich vor, was wir Folterknechte dabei empfinden würden, wenn jeder festgenommene Terrorist, nachdem man ihm eine solche Pille verabreicht hätte, sich hinlegen würde, als hielte er nur ein Schläfchen, um beim Erwachen sofort alles zu gestehen, was er über die Machenschaften seiner Organisation weiß.«7

Schon die einleitenden Worte hier – »ein Medikament, das sowohl im Sinne eines Folterinstruments wie auch als Mittel zur Kaschierung der damit verbundenen Qualen dienen könnte« – führen die typische postmoderne Logik des Abführmittels aus Schokolade ein. Die Folter, die man sich dabei vorstellt, gleicht koffeinfreiem Kaffee – wir erreichen das gewünschte Ziel, ohne mit unerwünschten Nebeneffekten rechnen zu müssen. Im berüchtigten Serbski-Institut in Moskau, dem psychiatrischen Ventil des KGB, hatten sie eine solche Droge entwickelt, mit der Regimekritiker gefoltert wurden. Eine Injektion in die Herzgegend des Häftlings senkte seinen Puls ab und verursachte dadurch schreckliche Angst. Betrachtet man die Sache von außen, dann hatte es den Anschein, als würde der Häftling nur dösen, während er tatsächlich einen Albtraum erlebte. Harris hält sich nicht an seine eigenen Regeln, wenn er sich auf den 11. September konzentriert und Noam Chomsky kritisiert. Chomskys Punkt ist ja gerade, dass es scheinheilig sei, das abstrakte und anonyme Töten von Tausenden zu tolerieren, während man Fälle, bei denen es um Individuen geht, als Menschenrechtsverletzungen brandmarkt. Warum sollte Kissinger, der das Flächenbombardement von Kambodscha angeordnet hat, das den Tod von zehntausenden Men-

6

Harris: Das Ende des Glaubens, a.a.O., S. 199 f.

7

Harris: Das Ende des Glaubens, a.a.O., S. 204

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schen verursachte, weniger kriminell sein als die Terroristen der Anschläge auf die Twin Towers? Der Horror des 11. Septembers wurde detailliert in allen Medien gezeigt, doch man verdammte al-Dschasira dafür, zu zeigen, wie es nach dem Bombardement von Falludscha dort aussah, und man beschuldigte sie, gemeinsame Sache mit den Terroristen zu machen. Indes haben wir es hier mit einer weit mehr beunruhigenden Aussicht zu tun. Die Nähe (zum gefolterten Subjekt), die Sympathie erzeugt und die Folter unakzeptabel macht, ist nicht bloß die physische Nähe zum Opfer, sondern es ist viel grundlegender die Nähe zum Nächsten, und zwar mit all dem Gewicht, den dieses Wort im judeochristlichen und freudianischen Kontext besitzt, die Nähe zu dem Ding, das, ganz gleich wie weit es entfernt ist, per definitionem immer »zu nahe« kommt. Worauf Harris mit seiner erträumten »Wahrheitspille« abzielt, ist nichts anderes als die Beseitigung des Nächsten. Das gefolterte Subjekt ist nicht länger unser Nächster, sondern ein Objekt, dessen Schmerz neutralisiert wurde, es ist auf einen Gegenstand reduziert, mit dem man gemäß eines rationalen Kalküls verfahren darf (so und so viel Schmerz ist zumutbar, wenn ein um so viel größerer Betrag an Schmerz vermieden werden kann). Es ist folglich bezeichnend, dass ein Buch, das sich für die Folter einsetzt, auch ein Buch ist, das den Titel Das Ende des Glaubens trägt – und zwar nicht in dem offensichtlichen Sinn eines »Du siehst jetzt, dass es nur unser Glaube an Gott ist, das göttliche Geheiß, deinen Nächsten zu lieben, der uns letzten Endes davor bewahrt, Menschen zu foltern!«, sondern es ist eine viel radikalere Botschaft. Ein anderes Subjekt (und damit das Subjekt als solches) ist für Lacan nicht etwas, das unmittelbar gegeben ist, sondern eine »Unterstellung«, etwas, das vorausgesetzt wird als ein Objekt des Glaubens – wie kann ich mir jemals sicher sein, dass das, was ich hier vor mir sehe, ein anderes Subjekt ist und nicht bloß eine flache biologische Maschine, der es an jeder Tiefe mangelt?

D AS N ÄCHSTEN -D ING Dieses vorausgesetzte Subjekt ist folglich kein anderes menschliches Wesen, mit einem reichen Innenleben voller persönlicher Geschichten, die es sich selbst erzählt, um eine bedeutungsvolle Erfahrung des Lebens zu erlangen, da eine solche Person kein Feind sein kann. »Ein

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Feind ist jemand, dessen Geschichte du nicht vernommen hast.«8 Es gibt kein besseres literarisches Beispiel für diese These als Mary Shelleys Frankenstein. Shelley tut etwas, das ein Konservativer niemals tun würde. Im zentralen Abschnitt ihres Buches erlaubt sie dem Monster, für sich selbst zu sprechen, die Geschichte aus seiner eigenen Perspektive zu erzählen. Diese ihre Wahl bringt die liberale Einstellung zur Freiheit der Rede radikal ins Spiel: jede Ansicht soll gehört werden. In Frankenstein ist das Monster kein »Ding«, kein schreckliches Objekt, dem sich niemand zu nähern wagt; es ist vollkommen subjektiviert. Mary Shelley dringt in sein Wesen ein und stellt die Frage, wie es ist, von der Gesellschaft gebrandmarkt, definiert, unterdrückt, ausgeschlossen, ja sogar physisch deformiert worden zu sein. Dem größten Verbrecher wird somit gestattet, sich selbst als das größte Opfer zu zeigen. Der monströse Mörder entdeckt sich selbst als ein zutiefst verletztes und verzweifeltes Individuum, das sich nach Kontakt und Liebe sehnt. Für diesen Vorgang gibt es allerdings eine klare Grenze. Ist man auch bereit zuzugeben, dass Adolf Hitler ein Feind war, nur weil man seine Geschichte nicht vernommen hat? In Lenin’s Tomb berichtet David Remnick von seinen Versuchen, während seines Besuchs in Moskau im Jahr 1988 Lazar Kaganovič zu treffen, das letzte überlebende Mitglied aus dem inneren Kreis um Stalin, der die Kollektivierungen zwischen 1929 und 1933 geleitet hatte und für unbeschreibliches Leid und Zerstörung verantwortlich war. Im Alter von über neunzig Jahren lebte er ein zurückgezogenes Leben in einer einsamen Wohnung. Was Remnick daran faszinierte, war die Begegnung mit einem wahrhaft bösen Menschen. »Stand Kaganovič immer noch zu seinen Taten? Ich wollte es wissen. Fühlte er sich schuldig oder schämte er sich? Und was dachte er über Gorbačev, den augenblicklichen Parteivorsitzenden? Doch das war es eigentlich nicht. In erster Linie wollte ich mit Kaganovič in einem Raum sein, sehen, wie ein böser Mensch aussah, ich wollte wissen, was er so tat, welche Bücher er besaß.«9

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Das ist das Motto der Living Room Dialogues on The Middle East. Zit. nach Wendy Brown: Regulating Aversions: Tolerance in the Age of Identity and Empire, Princeton 2006, S. 1.

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David Remnick: Lenin’s Tomb, New York 1993, S. 11.

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Was Remnick aller Wahrscheinlichkeit nach zu Gesicht bekommen hätte, hätte er mit seinen Bemühungen Erfolg gehabt, wäre ein gebrechlicher, mildtätiger alter Mann gewesen, der sich in seinen Träumen festgefahren hatte. Als in den 1960er Jahren Svetlana Stalin über Indien in die USA einwanderte, schrieb sie ihre Memoiren und präsentierte Stalin »von innen« als einen warmherzigen Vater und sich sorgenden Führer; und die meisten Massentötungen, die man ihm zuschrieb, hatten seine bösen Mitstreiter zu verantworten, allen voran Lavrentij Berija. Später schrieb dann Berijas Sohn Sergo seine Memoiren nieder und präsentierte seinen Vater als warmherzigen Familienmenschen, der nur Stalins Befehlen gehorcht und im Geheimen versucht hatte, den Schaden zu begrenzen. Georgij Malenkovs Sohn Andrej erzählte ebenfalls die Geschichte seines Vaters, des Nachfolgers Stalins, und beschrieb ihn als ehrlichen, hart arbeitenden Menschen, der immer um sein Leben fürchtete. Hannah Arendt hatte Recht: Diese Figuren sind keine Personifizierungen eines byronschen dämonisch Bösen; der Abstand zwischen diesen Alltagsgestalten und dem Schrecken, den ihre Taten zum Ausdruck brachten, war enorm. Die Erfahrung, die wir in unserem Inneren über unser Leben sammeln, die Geschichte, die wir uns selbst über uns erzählen, um unser Taten zu erklären, ist grundsätzlich eine Lüge – die Wahrheit liegt da draußen, sie liegt nirgendwo sonst als in diesen Taten selbst.10 Was das naive ethische Bewusstsein immer wieder überrascht, ist, dass es gerade dieselben Leute sind, die furchtbare Gewalttaten an ichren Feinden verüben, die auch eine warme Menschlichkeit zur Schau stellen können und sich sanftmütig um die Mitglieder ihrer eigenen Gruppe sorgen. Ist es denn nicht seltsam, dass derselbe Soldat, der unschuldige Zivilisten hinschlachtet, auch bereit ist, sein Leben für die eigene Einheit zu opfern? Dass der General, der die Erschießung von Geiseln befehligt hat, abends einen Brief an seine Familie schreiben kann, der voller Liebe ist? Diese Beschränkung unserer ethischen Ansprüche, die sich nur auf einen kleinen Kreis erstrecken, scheint unserer unwillkürlichen Einsicht zu widersprechen, dass wir doch alle Menschen sind, dieselben Hoffnungen hegen, dieselben Ängste und

10 Jeder, der an diesem Thema des Bösen interessiert ist, sollte zu dem Buch The Nazi Conscience (Cambridge 2003) von Claudia Koonz greifen. Es ist ein detaillierter Bericht über den ethischen Diskurs der Nationalsozialisten, der die eigenen Begründungen für ihre Taten offen legt.

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Schmerzen erleiden und daher alle berechtigt sind, diesen Respekt und diese Würde gegenseitig einzumahnen. Konsequenterweise verhalten sich diejenigen, die den Wirkkreis ihrer ethischen Belange einschränken, zutiefst inkonsistent, ja sogar »scheinheilig«. Um es mit Habermas zu sagen, haben sie sich in einen pragmatischen Widerspruch verstrickt, da sie die ethische Norm verletzten, die ihre eigene Sprechergemeinschaft aufrecht erhält. Dieselben grundsätzlichen ethischen Rechte denen zu verweigern, die außerhalb der Gruppe stehen, während man sie den Mitgliedern der eigenen Gruppe zugesteht, ist kein natürlicher Vorgang. Es ist eine Verletzung der spontan-ethischen Neigung. Und er umfasst brutale Unterdrückung und Selbstverleugnung. Als man dem ostdeutschen Soft-Dissidenten Stephan Hermlin nach dem Fall des Kommunismus den Vorwurf machte, er hätte in den 1950er Jahren in Texten und Gedichten Stalin gefeiert, reagierte er rabiat beleidigt und antwortet, dass damals der Name »Stalin« in Europa für Freiheit und Gerechtigkeit stand und nichts mit den schrecklichen Dingen zu tun gehabt hätte, die »im Geheimen« in der Sowjetunion stattgefunden haben. Eine solche Entschuldigung ist selbstverständlich allzu glatt und macht es sich einfach: Man braucht die Wahrheit des stalinistischen Terrors nicht zu kennen um zu ahnen, dass am Stalinismus etwas abscheulich falsch ist. Öffentlich zugängliche Texte – die offiziellen Berichte von den Schauprozessen, die Angriffe auf die Feinde, die verordneten Lobgesänge auf Stalin und andere Führer – hätten dafür ausgereicht. Auf gewisse Weise war alles, was man wissen musste, hier schon gesagt. Deshalb liegt die wahrhaft überraschende Scheinheiligkeit der kommunistischen Beobachter im Westen darin, dass sie die stalinistischen Beschuldigungen als wahre psychologische Fakten bezüglich der Beschuldigten selbst angesehen haben. In einem Brief vom 4. Mai 1938 berichtet Theodor Adorno Walter Benjamin über ein Gespräch, das er mit dem politisch nach links tendierenden Komponisten Hans Eisler in New York geführt hatte: »Mit großer Ruhe habe ich mir seine armselige Verteidigung der Moskauer Prozesse angehört; mit heftigstem Ekel die Witze, die er über die Ermordung Bucharins riß. Er gibt vor, diesen in Moskau gekannt zu haben; aber Bucharins

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Gewissen sei schon damals so schlecht gewesen, daß er ihm, Eisler, nicht in die treuen Augen habe blicken können.«11

Eislers psychologische Blindheit ist hier Schwindel erregend: Er missversteht Bucharins Entsetzen – seine Angst, mit Ausländern zusammenzutreffen, da er weiß, dass er observiert wird und kurz vor der Verhaftung steht – und deutet es als ein intimes Schuldeingeständnis aufgrund der stalinistischen Verbrechen. Wie können wir das also verstehen gemeinsam mit der Tatsache, dass die kulturellen Hervorbringungen im Hochstalinismus von vielen im Westen als der reinste Ausdruck authentischer Moralität verstanden wurde, die einen warmen Humanismus ausstrahlten und den Glauben an den Menschen (man erinnere sich an die Rezeption von Mark Donskojs Gorkij-Trilogie im Westen)? Vielleicht aber sollte man die Naivität der westlichen Mitreisenden über die Schrecken der stalinistischen Sowjetunion nicht tadeln und stattdessen eher eine deleuzianische Idee von einer kontingenten Serie entwickeln, die völlig ungleichartige Bedeutungen sich kreuzen und wechselseitig generieren lässt. So ähnlich wie in einer ScienceFiction-Geschichte, in der die Wissenschaftler eine Explosion, die in der Bibel für eine göttliche Botschaft gehalten wird, als die sichtbare Spur einer fürchterlichen Katastrophe entziffern, die eine prächtig gedeihende Zivilisation von Außerirdischen vernichtete. Das heißt, dass es schwer fällt zu akzeptieren, dass die Schrecken, aus denen heraus die Gorkij-Trilogie entstand, keineswegs die Authentizität ihres Effekts auf ein westliches und sogar ein russisches Publikum schmälerte. In dem Zusammenhang mit der Entführung des United Airlines Flug 93 und zwei weiterer Maschinen während ihres Fluges am 11. September ist es bezeichnend, dass das Wesentliche, das in den letzten Telefongesprächen der Insassen, die wussten, dass sie sterben würden, mit ihren nächsten Verwandten in den Worten »Ich liebe dich« zum Ausdruck kam. Martin Amis unterstreicht den paulinischen Ansatz, dass letzten Endes nur eines zählt: die Liebe. »Liebe ist ein abstraktes Substantiv, etwas nebulös. Und doch stellt sich die Liebe als etwas heraus, das als einziges in uns Bestand hat, wenn sich in der Welt das Unterste zu Oberst kehrt und alle Schirme schwarz werden.«12 Doch

11 Theodor W. Adorno/Walter Benjamin: Briefwechsel 1928-1940, Frankfurt a.M. 1994, S. 328. 12 Martin Amis: »All That Survives is Love«, in: The Times, 1. Juni 2006.

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auch hier bleibt ein Verdacht: Ist dieses verzweifelte Geständnis der Liebe nicht ein wenig geheuchelt, dieselbe Art von falscher Vorspiegelung, wie etwa dann, wenn man sich angesichts einer Gefahr oder der Wahrscheinlichkeit des Todes plötzlich wieder Gott zuwendet oder zu beten beginnt? Eine aufgesetzte opportunistische Aktion, die aus der Angst geboren wird und nicht wahrer Überzeugung entspringt? Warum sollte mehr Wahrheit in solchen Augenblicken am Werk sein? Ist es nicht vielmehr so, dass in solchen Augenblicken unser Überlebensinstinkt uns dazu bringt, unser Begehren zu verraten? In diesem Sinne sind Konversionen, die auf dem Sterbebett stattfinden, und Geständnisse der Liebe Opfer des Begehrens. Bestätigt durch zahlreiche Erinnerungen, haben viele der Verurteilten aus den stalinistischen Schauprozessen dem Erschießungskommando entgegengeblickt und dabei ihre Unschuld ebenso wie ihre Liebe zu Stalin hinausgeschrien, eine klägliche Geste, die darauf abzielt, ihr Selbstbild angesichts des großen Anderen rein zu waschen. Man ist verblüfft, wie in der persönlichen Korrespondenz zwischen Ethel und Julius Rosenberg beide abstreiten, sowjetische Agenten zu sein, und sich als die unschuldigen Opfer einer FBI-Verschwörung stilisieren, obgleich, zum Missvergnügen ihrer Verteidiger, neue Dokumente beweisen, dass zumindest Julius sehr wohl ein Spion war (wenn auch von weit geringerem Rang, als die Anklage ihm vorgeworfen hatte). Das Seltsame an der Sache ist, liest man die Privatkorrespondenz heute, dass man sogar dann, wenn man weiß, dass er ein Spion war, sich dennoch nicht des Eindrucks erwehren kann, dass er voller Ehrlichkeit spricht, so als ob Rosenberg sich selbst von seiner eigenen Unschuld überzeugt hätte. Diese Tatsache wird umso merkwürdiger, wenn man sich darüber hinaus vergegenwärtigt, dass sich in dem Fall, dass er tatsächlich an die Sowjetunion geglaubt hat, die Frage stellt, warum er nicht für diese hätte spionieren sollen und darauf auch durchaus hätte stolz sein dürfen? (Das bringt uns aus reinem Zufall zu etwas, das in der Tat einen ethischen Akt darstellen würde: Man stelle sich eine Ehefrau vor, die in den letzten Sekunden ihres Lebens ihren Ehemann anruft, um ihm zu sagen: »Ich wollte nur, dass du weißt, dass unsere ganze Ehe bloß Heuchelei war; ich konnte dich noch nie ertragen ... «) Diejenigen Linken im Westen, die in ihren Ländern heldenhaft und voller Aufrichtigkeit der antikommunistischen Hysterie trotzten, lieferten andere Beispiele für die Tragödie, die der Kalte Krieg war. Sie waren bereit, für ihre kommunistischen Überzeugungen ins Gefängnis

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zu gehen, wenn sie damit ein Zeichen für die Verteidigung der Sowjetunion setzen konnten. Ist es nicht gerade diese illusorische Beschaffenheit ihres Glaubens, der ihre subjektive Haltung so erhaben erscheinen lässt? Die miserable Wirklichkeit der stalinistischen Sowjetunion verleiht ihren inneren Überzeugungen eine zerbrechliche Schönheit. Das bringt uns zu einem radikalen und unerwarteten Schluss: Es reicht nicht angesichts dessen zu sagen, wir hätten es mit einer unangebrachten ethischen Überzeugung zu tun, mit einem blinden Vertrauen, das sich weigert, sich direkt mit der erbärmlichen und schrecklichen Wirklichkeit des Referenzpunktes ihrer eigenen Ethik zu konfrontieren. Wie, wenn gerade eine solche Blindheit, solch eine gewaltsam ausschließende Geste der Weigerung zu sehen, so eine Verleugnung der Wirklichkeit, solch eine fetischistische Haltung des »ich weiß sehr wohl, dass die Lage in der Sowjetunion eine schreckliche ist, doch ich glaube nichtsdestoweniger an den sowjetischen Sozialismus« die ureigenste Komponente jedweder ethischen Haltung wäre? Kant war sich dieses Paradoxons wohl bewusst, als er seine Begeisterung für die Französische Revolution in Der Streit der Fakultäten (1795) zum Ausdruck brachte. Die wahre Bedeutung der Revolution liegt nicht darin, was sich im Augenblick gerade in Paris abspielt – vieles davon war entsetzlich und es gab Ausbrüche mörderischer Leidenschaften –, sondern die begeisterte Resonanz, welche die Ereignisse in Paris bei den wohlwollenden Beobachtern in ganz Europa auslösten: »Die Revolution eines geistreichen Volks, die wir in unseren Tagen haben vor sich gehen sehen, mag gelingen oder scheitern; sie mag mit Elend und Greueltaten dermaßen angefüllt sein, daß ein wohldenkender Mensch sie, wenn er sie zum zweitenmale unternehmend glücklich auszuführen hoffen könnte, doch das Experiment auf solche Kosten zu machen nie beschließen würde – diese Revolution, sage ich, findet doch in den Gemütern aller Zuschauer (die nicht selbst in diesem Spiel verwickelt sind) eine Teilnehmung dem Wunsche nach, die nahe an Enthusiasm grenzt, und deren Äußerung selbst mit Gefahr verbunden war, die also keine andere als eine moralische Anlage im Menschengeschlecht zur Ursache haben kann.«13

13 Immanuel Kant: »Der Streit der Fakultäten«, in: ders.: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik, Bd. 1, Werkausgabe Bd. XI, Frankfurt a.M. 1997, S. 358.

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Will man das in die Sprache Lacans übersetzen, dann bedeutet das, dass das reale Ereignis, also gerade die Dimension des Realen, nicht in der unmittelbaren Wirklichkeit der gewaltsamen Ereignisse in Paris bestand, sondern darin, wie diese Wirklichkeit auf die Beobachter wirkte und welche Hoffnungen sie in ihnen auslöste. Die Wirklichkeit dessen, was sich in Paris ereignete, gehört zu der zeitlichen Dimension empirischer Geschichte; das erhabene Bild jedoch, das die Begeisterung hervorgebracht hat, gehört der Ewigkeit an ... Mutatis mutandis gilt dasselbe für die westlichen Verehrer der Sowjetunion. Die sowjetische Erfahrung, den »Sozialismus in einem Land aufzubauen«, brachte zweifellos »Leid und Gräuel« mit sich, doch nichtsdestotrotz erzeugte es in den Herzen der Beobachter (die selbst nicht unmittelbar in diesen Aufbau verwickelt waren) Enthusiasmus ... Die Frage, die sich hier stellt, ist folgende: Muss sich jede Ethik auf die Geste fetischistischer Verleugnung stützen? Muss nicht auch die allgemeinste Ethik irgendwo einen Strich ziehen und irgendeine Art des Elends ignorieren? Was ist mit den Tieren, die für unsere Ernährung geschlachtet werden? Wer unter uns wäre in der Lage, weiter Schweinekoteletts zu essen, nachdem er einmal eine Zuchtfabriken besucht hätte, wo die Schweine halb-blind sind und nicht einmal richtig laufen können, sondern nur gemästet werden, um anschließend auf den Schlachthof zu kommen? Und wie steht es, sagen wir, mit der Folter und dem Leiden von Millionen von Menschen, von denen wir zwar wissen, dass sie geschehen, vor denen wir aber lieber die Augen verschließen? Man stelle sich den Effekt auf einen Betrachter vor, der ein Snuff-Movie ansehen müsste, das zeigt, was sich auf der Welt tausende Male an jedem Tag ereignet: brutale Folter, das Herausreißen von Augen, das Zerquetschen von Hoden – diese Liste kann unmöglich vervollständigt werden. Wäre der Betrachter in der Lage, so weiterzumachen wie bisher? Ja – aber nur dann, wenn er oder sie auch dazu in der Lage wären, zu vergessen (in einer Art Akt, der den symbolischen Wirkungsgrad aussetzt), was er oder sie gesehen hat. Ein solches Vergessen beinhaltet jene Geste, die wir fetischistische Verleugnung genannt haben: »Ich weiß es, aber ich will nicht wissen, dass ich es weiß, und deshalb weiß ich es auch nicht.« Ich weiß es zwar, weigere mich aber, die volle Konsequenz dieses Wissens zu tragen, und deshalb kann ich so weiter machen, als wüsste ich es nicht. Es wird nun klar, dass jede Ethik von gerade dieser Geste der fetischistischen Verleugnung abhängt. Sogar die scheinbar offensichtliche

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Ausnahme, die buddhistische Ethik der Solidarität mit jedem Lebewesen, passt in dieses Bild. Letztlich ist das, was Buddha uns anbietet, eine verallgemeinerte Gleichgültigkeit – sie lehrt, wie man sich von zu viel Empathie abwenden kann. Aus diesem Grunde kann der Buddhismus sich so schnell in das Gegenteil dieser allumfassenden Barmherzigkeit verwandeln: Er verteidigt dann eine rücksichtslose militärische Haltung, etwas, was sich anschaulich am Beispiel des Zen-Buddhismus nachweisen lässt. Sich über diese Tatsachen zu wundern ist keine philosophische Haltung. Warum sollte man dasjenige, das scheinbar als Inkonsequenz erscheint, also als der Fehler, nicht alle Konsequenzen aus der eigenen ethischen Haltung berücksichtigt zu haben, nicht im Gegenteil als positive Bedingung der Möglichkeit auffassen? Was, wenn der Ausschluss einer solchen Form der Andersheit aus dem Bereich der ethischen Angelegenheiten nicht zur grundlegenden Geste der ethischen Allgemeinheit gehört? Sondern von ihr mit abhängig ist, so dass gilt, dass, je allgemeiner unsere explizite Ethik ist, desto brutaler auch der ihr zugrunde liegende Ausschluss? Zu der niemand ausschließenden Ethik der Christenheit (man denke an Paulus’ »Hier ist kein Jude noch Grieche ... hier ist kein Mann noch Weib«)14 gehört der grundsätzliche Ausschluss all derer, welche die Einschließung in die christliche Gemeinschaft verweigern. In anderen »partikularistischen« Religionen (und sogar im Islam, trotz seiner globalen Ausbreitung) gibt es einen Platz für andere. Sie werden toleriert, selbst wenn man verächtlich auf sie herabsieht. Das christliche Motto, dass alle »Menschen Brüder sind«, bedeutet ja auch, dass alle diejenigen, die sich nicht zu dieser Bruderschaft zählen, keine Menschen sind. In den frühen Jahren der Revolution im Iran spielte Khomeini mit demselben Paradox, als er behauptete, dass die iranische Revolution die humanste in der Geschichte sei: Nicht ein Mensch sei von den Revolutionären getötet worden. Als dann die überraschten Journalisten nachfragten, was es denn dann mit den Todesstrafen auf sich hätte, die in den Medien verkündet wurden, antwortet Khomeini in aller Ruhe: »Die, die wir da getötet haben, waren keine Menschen, sondern kriminelle Hunde.« Christen loben sich gerne selbst, dass sie die jüdische Idee vom auserwählten Volk hinter sich gelassen hätten und die Gesamtheit der Menschheit umfassen würden. Der Witz dabei ist, dass gerade sie es

14 [Galater 3;28. – Anm. des Übersetzers]

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sind, die darauf beharren, die von Gott Erwählten zu sein und einen bevorzugten Draht zu Gott zu haben, während die Juden die Menschlichkeit der anderen, die an die falschen Götter glauben, anerkennen, wohingegen der christliche Universalismus doch dazu neigt, alle Nichtgläubigen aus genau dieser Universalität der Menschlichkeit auszuschließen. Wie verhält es sich nun mit der entgegengesetzten Geste – wie sie von dem französischen Philosophen Emmanuel Lévinas vorgeschlagen wird –, die Behauptung der Gleichheit aufzugeben und sie durch den Respekt vor der Andersheit zu ersetzen? Es gibt, wie Sloterdijk gezeigt hat, eine entsprechende und weit aus mehr beunruhigende Dimension dieser lévinas’schen Figur des unberechenbaren Anderen, die unsere Aufmerksamkeit verdient.15 Und zwar ist das der unberechenbare Andere als Feind, als Feind, welcher der absolute Andere ist, nicht mehr der »ehrenhafte Feind«, sondern einer, dessen Ratschlüsse uns fremd sind und daher auch kein authentisches Zusammentreffen mit ihm in der Schlacht statthaben kann. Wenn Lévinas diese Dimension auch nicht im Sinn hatte, so machte es doch die radikale Uneindeutigkeit, der traumatische Charakter des Nächsten, leicht verständlich, wie diese Idee vom Anderen dafür den Boden bereitete (oder besser den Raum öffnete), ganz genau so wie dies Kant mit seiner Ethik für das diabolisch Böse getan hatte. So schrecklich es auch klingen mag, so ist doch Lévinas‘ Anderer der Abgrund der Andersheit, aus dem die ethische Forderung entspringt; zugleich aber auch die Quelle, aus der das Bild vom Juden stammt, das sich der Nazi von ihm macht, wenn er ihn sich als den Anderen-Feind vorstellt, der weniger-als-ein-Mensch ist. Wenn Freud und Lacan auf die grundlegenden Schwierigkeiten mit dem jüdisch-christlichen Gebot des »Liebe deinen Nächsten« hinweisen, dann tun sie das nicht mit dem üblichen kritisch-ideologischen Einwand, dass jede Idee von Universalität immer von partikularen Werten mitgeprägt ist und daher geheime Ausschlussverfahren impliziert. Sie machen einen viel wesentlicheren Einwand, wenn sie auf die Unvereinbarkeit von Nächstem und Universalität hinweisen. Was der Universalität widersteht, ist gerade die unmenschliche Dimension des Nächsten. Aus diesem Grunde erscheint die Position, geliebt zu werden, so grausam, gar traumatisch: Wenn ich geliebt werde, fühle ich unmittelbar die Lücke zwischen dem, was ich als bestimmtes Wesen

15 Vgl. Peter Sloterdijk: Zorn und Zeit, Frankfurt a.M. 2006, S. 134.

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bin, und dem abgründigen X in mir, das die Liebe verursacht. Lacans Definition der Liebe, »Lieben heißt geben, was man nicht hat ...«, muss daher um folgenden Halbsatz ergänzt werden: »... jemandem, der es nicht will.« Sind wir uns tatsächlich bewusst, dass das, was die berühmten Zeilen Yeats’ beschreiben, klaustrophobische Konstellationen sind? »Hätt’ ich des Himmels reich bestickte Tücher, bestickt mit Gold- und Silberfaden, die blauen, die dämmrigen und die dunklen Tücher, der Nacht und des Lichts und des Halbdunkels, so legt’ ich sie dir zu Füßen. Doch ich, der ich arm bin, habe nur meine Träume. Meine Träume breite ich aus vor deinen Füßen. Tritt sanft darauf, denn du trittst auf meine Träume.«16

Um es kurz zu sagen: Der französische Philosoph Gilles Deleuze hat es so zum Ausdruck gebracht: Si vous êtes pris dans le rêve de l’autre, vous-êtez foutu (Wenn du im Traum des anderen gefangen bist, dann bist du erledigt!); oder wie Neil Gaiman, der Autor der Graphic-Novel Sandman, in einer bemerkenswerten Passage anmerkte: »Hast du jemals geliebt? Fürchterlich, oder? Es macht dich so verletzlich. Es öffnet deine Brust, und es öffnet dein Herz und es bedeutet, dass jemand in dich eindringen kann und dich fertig machen. Du baust all diese Abwehrstellungen auf, du machst dir eine ganze Rüstung zurecht, dass dich niemand verletzten kann – und dann kommt so eine blöde Figur, die sich durch rein gar nichts von irgend einer anderen blöden Figur unterscheidet, und die spaziert herein in dein blödes Leben ... Und du gibst ihr ein Stück von dir. Dabei haben die nicht einmal danach gefragt. Eines Tages haben sie etwas Dämliches gemacht, zum Beispiel dich geküsst oder dich angelächelt, und mit einem Schlag ist dein Leben nicht mehr deins. Die Liebe nimmt Geiseln. Sie dringt in dich ein. Sie frisst dich auf und lässt dich in der Nacht weinend zurück; ein einfacher Satz wie ›Vielleicht sollten wir Freunde bleiben‹ wird zu einer Scherbe aus Glas, die dir tief ins Herz sticht. Es tut weh. Nicht nur in der Fantasie.

16 [William B. Yeats, Aedh Wishes for the Cloths of Heaven (1899); Übersetzung A.L.H.- Anm. des Übersetzers]

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Nicht nur im Geist. Es tut in der Seele weh, das ist ein Schmerz, der in dich rein greift und dich in Stücke reißt. Ich hasse Liebe.«17

Die letzten Jahre seines Lebens verbrachte der sowjetische Filmregisseur Andrej Tarkovskij in Stockholm und arbeitet an seinem Film Opfer. Man hatte ihm ein Büro in demselben Gebäude überlassen, in dem Ingmar Bergmann, der zu dieser Zeit noch in Stockholm lebte, auch das seine hatte. Wenngleich die beiden Regisseure tiefen Respekt voreinander hatten und sich gegenseitig schätzten, trafen sie einander niemals. Sie vermieden es vorsichtig, einander zu begegnen, so als ob ein unmittelbares Zusammentreffen zu schmerzhaft sein könnte und zum Scheitern verurteilt, gerade deshalb, weil ihre beiden Universen einander zu ähnlich waren. Sie entwickelten und respektierten ihren eigenen Kode der Diskretion.

D IE G EWALT

DER

S PRACHE

Warum also heute diese Angst vor dem Zuviel an Nähe des Anderen als Subjekt des Begehrens? Warum müssen wir den Anderen koffeinfrei machen, warum müssen wir ihm oder ihr die rohe Substanz des Genießens entziehen? Ich nehme an, dass das eine Reaktion auf den Fall der schützenden symbolischen Mauer ist, welche die anderen auf geeigneten Abstand gehalten hat. Was uns in unserer Kultur abgeht, wo sich die brutalen Selbstbekenntnisse mit der politisch korrekten Angst vor Belästigung abwechseln, ist eine Geisteshaltung, die Gore Vidal ausgezeichnet auf den Punkt bringt. Vidal gab einem primitiven aufdringlichen Journalisten, der ihn mitten ins Gesicht die Frage stellte, ob sein erster Sexpartner ein Mann oder eine Frau gewesen sei, die perfekte Antwort: »Ich war zu höflich, um danach zu fragen.« Nirgendwo wird der Zusammenbruch der schützenden Mauern der Zivilisation greifbarer als im Zusammenprall der verschiedenen Kulturen. Im Herbst 2005 wurde der Westen von einer Gewaltwelle in Bann geschlagen, die zur Besorgnis Anlass gab, dass es ganz buchstäblich zu einem Zusammenstoß der Kulturen kommen könnte. Grund dafür waren die weitreichenden Demonstrationen gegen die Karikaturen des

17 Vgl. das Originalzitat Neil Gaimans auf http://thinkexist.com/quotes/neil_gaiman.

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Propheten Mohammed, die in Jyllands Posten, einer auflagenschwachen dänischen Zeitung, erschienen waren. Das erste, was man hier anmerken muss – und es ist so offensichtlich, dass das regelmäßig übersehen wird –, ist die Tatsache, dass die Mehrzahl derjenigen, die gegen diese Karikaturen protestierten, diese niemals zu Gesicht bekommen haben. Dieser Umstand konfrontiert uns mit einem anderen, nicht ganz so gerne gesehenen, Aspekt der Globalisierung. Das »globale Dorf« der Information ist die Bedingung der Tatsache, dass etwas, das in einer obskuren dänischen Zeitung erschienen ist, zu gewaltsamem Aufruhr in weit entfernten muslimischen Ländern führt. Es hat den Anschein, als seien Dänemark und Syrien, Pakistan, Ägypten, Irak, Libanon und Indonesien Nachbarländer. Diejenigen, die unter Globalisierung die Möglichkeit verstehen, die gesamte Welt in einen Ort allgemeinen Austauschs von Informationen zu verwandeln, also zu einem Ort zu machen, an dem sich die ganze Welt zusammen findet, übersehen meistens die dunkle Seite diesen Vorschlags. Da der Nächste oder der Nachbar in der Mehrzahl der Fälle – wie dies schon Freud lange zuvor gemutmaßt hatte – ein Ding ist, ein traumatischer Eindringling, einer, dessen unterschiedliche Lebensweise (oder vielmehr seine Art, sein jeweiliges Genießen in seinen gesellschaftlichen Praktiken und Ritualen zu materialisieren) uns stört, also unsere eigene Welt aus dem Gleichgewicht bringt, wenn er uns zu nahe kommt, so vermag dies auch zu aggressiven Reaktionen führen, die diesen Unruhe stiftenden Eindringling los werden möchten. Wie Peter Sloterdijk gesagt hat: »Mehr Kommunikation bedeutet zunächst vor allem mehr Konflikt. «18 In diesem Sinne hat er auch Recht, wenn er feststellt, dass die Haltung des »Einander-verstehens« durch die Haltung des »Einander-aus-dem-Weg-gehens« ergänzt werden muss. Man muss daher auch eine geeignete Distanz wahren und zu einem neuen »Code der Diskretion« finden. Der europäischen Zivilisation fällt es leichter verschiedene Lebensentwürfe auf Grund dessen zu tolerieren, was ihr viele Kritiker als Schwäche oder Scheitern ankreiden, nämlich durch die Entfremdung des gesellschaftlichen Lebens. Entfremdung bedeutet auch, dass diese Distanz geradewegs in die soziale Struktur des Alltagslebens eingeschrieben ist. Selbst wenn ich Tür an Tür mit meinen Nachbarn lebe, so ignoriere ich sie dennoch in der Regel. Das gestattet mir, den ande-

18 Peter Sloterdijk: »Warten auf den Islam«, in: Focus, Oktober 2006.

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ren nicht zu nahe zu kommen, wenn ich mich in einem gesellschaftlichen Raum bewege und dabei verschiedenen äußeren, »mechanischen« Regeln gehorche, ohne in ihre Innenwelt hinein zu starren. Vielleicht muss man begreifen, dass zuweilen eine Dosis Entfremdung unerlässlich ist, will man friedlich zusammenleben. Manchmal ist die Entfremdung nicht das Problem, sondern die Lösung. Die muslimischen Massen reagierten nicht auf die MohammedKarikaturen an sich. Sie reagierten auf die komplexe Figur oder das Bild des Westens, den sie hinter der Haltung wahrzunehmen glaubten, die sich in diesen Karikaturen zum Ausdruck brachten. Diejenigen, die den Begriff »Okzidentialismus« als das Gegenstück zu Edward Saids »Orientalismus« vorschlagen, haben auf gewisse Weise Recht: In den muslimischen Ländern ist die Vorstellung vom Okzident ebenso verzerrt (wenn auch auf unterschiedliche Art und Weise), wie die Sicht auf den Orient vom Westen aus. Was in den Gewaltausbrüchen zum Vorschein kam, war ein Netz von Symbolen, Vorstellungen und Haltungen, darunter westlicher Imperialismus, gottloser Materialismus, Hedonismus und das Leiden der Palästinenser – und all das wurde den dänischen Karikaturen zugerechnet. Deshalb richteten sich die Hasskundgebungen zuerst auf Dänemark als einzelnem Land, dann auf Skandinavien, dann auf Europa und schließlich auf die ganze westliche Welt. Eine ganze Flut von Erniedrigungen und Frustrationen hatte sich in den Karikaturen verdichtet. Und eine solche Verdichtung ist, man sollte das nicht vergessen, eine basale Eigenschaft der Sprache, also des Konstruierens und Auferlegens eines bestimmten symbolischen Feldes. Diese einfache und nur allzu offensichtliche Überlegung zur Funktion der Sprache problematisiert die allgemein verbreitete Idee von der Sprache und der symbolischen Ordnung als Medium der Aussöhnung und Vermittlung, des friedvollen Zusammenlebens im Gegensatz zu einem gewalttätigen Medium der unmittelbaren und rohen Konfrontation.19 Mit der Sprache üben wir keine unmittelbare Gewalt aufeinander aus, sondern wir debattieren, tauschen Worte aus und ein solcher

19 Diese Sicht wird von Habermas vertreten (vgl. Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns, 2 Bände, Frankfurt a.M. 1995), ist jedoch auch einem bestimmten Lacan nicht fremd (vgl. Jacques: »Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psychoanalyse«, in: ders.: Schriften I, Berlin 1996, S. 71-170.)

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Austausch, selbst wenn er aggressiv ist, setzt ein Minimum an Anerkennung der anderen Partei voraus. Der Eintritt in die Sprache und der Verzicht auf Gewalt werden oftmals als zwei Aspekte ein und derselben Geste verstanden: »Das Sprechen ist die Grundlage und Struktur der Sozialisierung und darf als Absage an die Gewalt verstanden werden«, sagt uns eine Zeile aus einem Text, den Jean-Marie Muller für die UNESCO verfasst hat.20 Da der Mensch ein »sprechendes Tier« ist, bedeutet das, dass der Verzicht auf Gewalt den Menschen als solchen bestimmt. »In der Tat sind es die Prinzipien und Methoden einer Nicht-Gewalt [...], welche die Menschlichkeit von Menschen ausmachen, die Geschlossenheit und Sachlichkeit von moralischen Standards basieren zugleich auf Überzeugungen und dem Sinn für Verantwortung«,

so dass dem zu Folge die Gewalt nichts anderes als eine »radikale Pervertierung der Menschlichkeit ist«.21 Wenn also die Sprache mit Gewalt infiziert wird, dann geschieht das unter dem Einfluss von kontingenten »pathologischen« Umständen, welche die inhärente Logik der symbolischen Kommunikation entstellen. Wenn nun aber die Menschen gewalttätiger als die Tiere wären, gerade weil sie zu sprechen vermögen?22 Schon Hegel war sich bewusst, dass in der Symbolisierung einer Sache ein gewaltsames Moment schlummert, das der Mortifizierung gleichkommt. Diese Gewalt operiert auf verschiedenen Ebenen. Die Sprache simplifiziert das bezeichnete Ding und reduziert es auf ein einzelnes Merkmal. Sie zerlegt das Ding, zerstört seine organische Einheit und behandelt seine Teile und Eigenschaften so, als wären diese autonom. Sie setzt das Ding in ein Feld der Bedeutung ein, die der Sache selbst äußerlich bleibt. Wenn wir Gold »Gold« nennen, dann lösen wir gewaltsam das Metall aus dem natürlichen Gewebe heraus und investieren damit in unsere Träume von Reichtum, Macht, spiritueller Reinheit und so weiter, die

20 Jean-Marie Muller: Non-Violence in Education. http://portal.unesco.org/education/en/file_download.php/fa99ea234f4accb0 ad43040e1d60809cmuller_en.pdf. 21 Vgl. ebd. 22 Vgl. Clément Rosset: Das Reale. Traktat über die Idiotie, Frankfurt a.M. 1988, S. 146 ff.

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allesamt rein gar nichts mit der unmittelbaren Wirklichkeit des Goldes selbst zu tun haben. Lacan hat diesen Aspekt der Sprache in seiner Idee vom HerrenSignifikanten verdichtet, der »absteppt« und damit das symbolische Feld zusammenhält. Das heißt für Lacan – zumindest für seine Theorie der vier Diskurse, die er in den späten 60er Jahren entwickelt hat23 –, dass die menschliche Kommunikation in ihrer grundlegenden Form und bestimmenden Dimension keinerlei Raum für egalitäre Intersubjektivität bietet. Sie ist nicht »ausgeglichen«. Sie bringt die Teilnehmer nicht in symmetrische, wechselseitig verantwortliche Positionen, an denen sie denselben Regeln folgen und ihre Ansprüche vernünftig rechtfertigen. Das Gegenteil ist der Fall, wie Lacan mit seiner Idee vom Diskurs des Herrn nahe legt, der die erste (ursprüngliche, konstitutive) Form des Diskurses bildet. Jeder konkrete, »real existierende« Raum des Diskurses gründet letztlich in einer gewaltsamen Auferlegung eines Herren-Signifikanten, der im strengen Sinne »irrational« ist; er lässt sich nicht weiter vernünftig ableiten. Man kann nur sagen: »Das wird hier entschieden!« Wir sind also an einem Punkt, wo, um einen endlosen Regress zu unterbrechen, jemand sagen muss: »Es ist so, weil ich es sage!« An dieser Stelle hat Lévinas zu Recht auf den grundsätzlich asymmetrischen Charakter der Intersubjektivität verwiesen: Es gibt niemals eine ausgewogene Gegenseitigkeit, wenn ich einem anderen Subjekt begegne. Der Schein einer égalité wird diskursiv immer durch die asymmetrische Achse Herr-Knecht getragen, Träger des universellen Wissens vs. Objekt, Perverser vs. Hysteriker und so weiter. Das läuft natürlich dem herrschenden ideologischen Ansatz bezüglich des Themas Gewalt zuwider, der diese als »spontan« versteht, wie man das schön ausgeführt bei Mullers Text für die UNESCO findet, wo er einen halb-offiziellen programmatischen Status erhält.24 Muller setzt damit an, dass er die Unterscheidung zwischen »guter« und »schlechter« Gewalt zurückweist: »Es ist von grundlegender Bedeutung, dass man Gewalt auf diese Weise nicht als ›gut‹ qualifizieren kann. Wenn wir anfangen, zwischen ›guter‹ und ›schlechter‹ Gewalt zu unterscheiden, dann geht uns der richtige Gebrauch des

23 Zum Konzept der vier Diskurse vgl. Jacques Lacan: The Other Side of Psychoanalysis, New York 2006. 24 Vgl. Jean-Marie Muller, a.a.O.

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Begriffs verloren, und wir kommen in ein Durcheinander. Vor allem aber gilt, dass in dem Augenblick, wo wir ein Kriterium entwickeln, dass es uns erlaubt, von einer angeblich ›guten‹ Gewalt zu sprechen, es jeder von uns auch einfach finden wird, damit seine eigenen gewalttätigen Handlungen zu rechtfertigen.«

Doch wie kann man Gewalt vollständig verwerfen, wenn Kampf und Aggression Teil des Lebens sind? Der einfache Ausweg hieraus besteht darin, eine terminologische Unterscheidung einzuführen zwischen der »Aggression«, die eine »Lebens-Macht« ist, und der »Gewalt«, die eine »Todes-Macht« darstellt. Hier ist »Gewalt« dann keine Aggression als solche, sondern ein Exzess, der den normalen Lauf der Dinge stört, weil er immer mehr und mehr will. Die Aufgabe ist dann, diesen Exzess zu beenden. Nach Besitz und Macht zu streben ist insofern legitim, als dies dem Individuum erlaubt, sich gegenüber anderen unabhängig zu machen. Die Streitparteien in einem Konflikt entwickeln jedoch die natürliche Neigung, immer mehr zu wollen. Nichts ist ihnen genug und sie sind niemals zufrieden. Sie wissen nicht, wie sie sich selbst stoppen sollen; sie kennen ihr Limit nicht. Das Begehren will mehr, viel mehr, als gebraucht wird. »Es gibt immer eine gewisse Unendlichkeit im Begehren,« schrieb die französische Aktivistin Simone Weil.25 Anfänglich, weil die Individuen nach Macht streben, um nicht von anderen beherrscht zu werden. Doch wenn sie nicht vorsichtig sind, dann finden sie sich alsbald dabei wieder, die Grenze zu überschreiten, und nun versuchen sie, andere zu beherrschen. Die Rivalität zwischen Menschen kann nur überwunden werden, wenn ein jedes Individuum seine oder ihre Wünsche beschränkt. »Beschränktes Begehren«, schreibt Weil, »ist mit der Welt im Gleichklang; Begehren, welches das Unendliche umfasst, ist es nicht.«26 Dieser Ansatz verharrt entschieden in den vormodernen aristotelischen Koordinaten. Aufgabe ist es hier, das gute Maß des Begehrens zu finden. Die Moderne ist jedoch durch die Koordinaten der philosophischen Revolution Kants bestimmt, und hier ist der absolute Exzess das Gesetz selbst. Das Gesetz interveniert in die homogene Stabilität unseres lust-orientierten Lebens als die zertrümmernde Kraft einer

25 Vgl. Simone Weil: Œuvres complètes VI: Cahiers, Bd. 2, Paris 1997, S. 74. 26 Weil: Œuvres complètes VI, aaO., S. 325.

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absolut destabilisierenden »Heterogenität«. G. K. Chesterton stellte dasselbe fest, wenn er in seiner berühmten Verteidigung der Detektivgeschichten bemerkt, wie diese »in gewissem Sinne die Tatsache ins Bewußtsein [bringen], daß die Zivilisation selbst die sensationellste Lossagung und die romantischste Rebellion ist [...]. Wenn der Detektiv in einem Kriminalroman allein und mit fast wahnwitziger Furchtlosigkeit sich den Messern und Fäusten einer Diebsküche stellt, so hilft dies sicherlich, uns daran zu erinnern, daß dieser Agent sozialer Gerechtigkeit die eigentlich originelle und poetische Figur ist, während die Einbrecher und Wegelagerer nur als friedliche alte Konservative erscheinen, die in der altehrwürdigen Redlichkeit von Affen und Wölfen durchaus glücklich sind.«27

Wir haben es hier mit der elementaren Matrix des dialektischen Prozesses bei Hegel zu tun: Der äußere Gegensatz (zwischen dem Gesetz und der kriminellen Überschreitung des Gesetzes) wird in das Gegenteil verwandelt, gehört also zur Überschreitung selbst, nämlich zur Opposition von partikularer Überschreitung und absoluter Überschreitung, die dann als ihr Gegenteil erscheint – als absolutes Gesetz. Und genau dasselbe gilt auch für die Gewalt: Wenn wir etwas als einen Akt der Gewalt wahrnehmen, dann messen wir ihn an dem vorausgesetzten Standard einer »normalen«, nicht gewalttätigen Situation – und die höchste Form der Gewalt ist die Einführung eben dieses Standards, in Referenz zu dem wir etwas als »gewalttätig« bestimmen. Deshalb ist die Sprache selbst, als das Medium der Gewaltfreiheit und wechselseitiger Anerkennung, die unbedingte Gewalt. Mit anderen Worten ist es die Sprache selbst, die unser Begehren über die normalen Grenzen hinaustreibt und es in ein Begehren verwandelt, welches das »Unendliche beinhaltet«, es zu einem Streben macht, das nicht befriedigt werden kann. Was Lacan das Objekt a nennt ist genau das flüchtige »untote« Objekt, das Surplus-Objekt, welches das Begehren hinsichtlich dessen exzessiver und aus der Bahn werfender Aspekte verursacht. Diesen Exzess wird man nicht los. Er gehört dem menschlichen Begehren als solchem an. Paraphrasiert man nun Weil für die Moderne, dann können wir sagen, dass das »beschränkte Begehren im Gleichklang mit der Welt«

27 Vgl. Gilbert Keith Chesterton: »Verteidigung der Detektivgeschichten«, in: Jochen Vogt (Hg.): Der Kriminalroman I, München 1971, S. 97f.

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die Quelle unserer opportunistischen, anti-ethischen Haltung ist, und es unterstützt die Trägheit des Egoismus und die Suche nach Vergnügen, wohingegen das Gute durch das »Begehren, welches das Unendliche umfasst«, getragen wird, welches nach dem Absoluten strebt. Das lässt eine nicht reduzierbare Mehrdeutigkeit entstehen: Die Quelle des Guten ist eine Macht, welche die Koordinaten unserer festgestellten Existenz zertrümmert, eine destruktive Macht demnach, die vom Standpunkt unserer gefestigten, beschränkten Lebensform aus betrachtet nicht anderes als Böse erscheinen kann. Dasselbe gilt für die Sterblichkeit und die Unsterblichkeit. Dem traditionellen ideologischen Gemeinplatz zur Folge hängt die Unsterblichkeit mit dem Guten zusammen und die Sterblichkeit mit dem Bösen. Was uns gut macht ist unser Bewusstsein von der Unsterblichkeit (Gottes, unserer Seele, des erhabenen ethischen Strebens ...), wohingegen die Wurzel des Übels die Bezugnahme auf unsere Sterblichkeit ist (wir werden ohnehin alle sterben, deshalb spielt es eigentlich auch keine Rolle, greif dir, was du kriegen kannst, lass dich auf deine dunklen Launen ein ...). Wenn man diesen Gemeinplatz aber umkehrt und die Hypothese wagt, dass die ursprüngliche Unsterblichkeit das Übel ist? Das Böse ist dann etwas, das droht, immer wiederzukehren, eine gespenstische Dimension, die auf wundersame Weise ihre physische Vernichtung überlebt und uns immer wieder aufs Neue heimsucht. Deshalb besteht der Sieg des Guten über das Böse in der Fähigkeit zu sterben, die Unschuld der Natur wiederzuerlangen, Frieden zu finden, indem man sich der obszönen Unendlichkeit des Bösen entledigt. Man braucht sich nur an die klassische Szene aus alten Horrorfilmen erinnern: Wird ein Mensch, der von irgendeiner bösen Macht besessen ist – eine Besessenheit, die sich durch eine monströse Entstellung des Körpers bemerkbar macht – vom untoten Geist befreit, der von ihm Besitz ergriffen hat, dann erhält er die gleichmäßige Schönheit seiner Erscheinungsform zurück und er stirbt in Frieden. Deshalb muss Christus sterben – heidnische Götter, die nicht sterben können, sind die Verkörperungen des obszönen Bösen. Gut gegen Böse ist nicht Geist gegen Natur: Das ursprünglich Böse ist der Geist selbst, der die Natur gewaltsam aus den Fugen zwingt. Aus all dem muss man den Schluss ziehen, dass das echte menschlich Gute, das Gute, das sich über das natürlich Gute erhoben hat, letzten Endes die Maske des Bösen ist. Deshalb sagt uns vielleicht der Umstand, dass Vernunft (reason) und Rasse (race) im Lateinischen dieselbe Wurzel (ratio) haben, et-

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was: Die Sprache und nicht der primitive egoistische Anspruch ist die erste und größte Trennwand; gerade deshalb, weil es die Sprache ist, die es uns erlaubt, mit unseren Nächsten oder Nachbarn »in verschiedenen Welten leben« (zu können), wenn wir auch im selben Haus oder derselben Straße leben. Das bedeutet, dass die Gewalt keine sekundäre Verzerrung ist, sondern der ultimative Ausgangspunkt jeder spezifischen menschlichen Gewalt. Man nehme als Beispiel die antisemitischen Pogrome, die man als Platzhalter für alle rassistische Gewalt ansehen kann. Was die Täter unerträglich finden und was ihre Wut auslöst, also das, worauf sie reagieren, ist nicht die unmittelbare Anwesenheit von Juden, sondern die Figur oder das Bild vom »Juden«, das in ihrer Tradition zirkuliert und von dieser aufgebaut wurde. Der Dreh dabei ist selbstverständlich, dass der Einzelne nicht auf einfache Weise unterscheiden kann zwischen einem echten Juden und dem antisemitischen Bild von diesem: Dieses Bild überdeterminiert die Art und Weise, wie ich die echten Jude begreife, und darüber hinaus beeinflusst es auch noch die Juden selbst in ihrer Selbstwahrnehmung. Was einen echten Juden, den ein Antisemit auf der Straße trifft, für letzteren »unerträglich« macht, was der Antisemit versucht zu zerstören, wenn er ihn angreift, das wahre Ziel seiner Raserei ist diese phantasmatische Dimension. Man kann dasselbe Prinzip auf jeden beliebigen politischen Protest anbringen. Protestieren Arbeiter gegen ihre Ausbeutung, dann protestieren sie nicht einfach gegen eine bestimmte Realität, sondern eine Erfahrung ihrer realen Zwangslage erlangt durch Sprache Bedeutung. Die Wirklichkeit selbst in ihrem stupiden Bestehen ist niemals unerträglich. Die Sprache, ihre Symbolisierung, lässt sie erst dazu werden. Gerade dann also, wenn wir es damit zu tun bekommen, dass ein zorniger Mob Autos und Gebäude in Brand steckt, Menschen lyncht und so weiter, dann sollten wir niemals vergessen, was auf ihren Fahnen geschrieben steht, und auf die Worte hören, die ihre Taten begleiten und mit denen sie sich rechtfertigen. Heidegger war es, der dieses Merkmal auf einer formal-ontologischen Basis ausgearbeitet hat, als er das »Wesen« als Verb (»wesen«) las und damit eine nicht essentielle Idee des Wesens vorlegte. Traditioneller Weise bezieht man sich auf das »Wesen« als einen stabilen Kern, der die Identität eines Dings versichert. Für Heidegger hängt das »Wesen« vom historischen Kontext ab, von der epochalen Enthüllung des Seins, die sich in und durch die Sprache vollzieht. Er nennt sie das »Haus des Seins«. Seine Wen-

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dung vom »Wesen der Sprache«28 bedeutet nicht die »Essenz der Sprache«, sondern ihr »Wesen«, die Art und Weise wie sie Wesen als Werk der Sprache hervorbringt. »Die Sprache bringt Dinge ins Anwesen, die Sprache ›bewegt‹ uns, so dass sie für uns auf bestimmte Weise wichtig werden, sie schafft Wege, auf denen wir uns zwischen den Entitäten bewegen können und damit die Entitäten sich aufeinander beziehen können als die Entitäten, die sie sind ... Wir teilen eine ursprüngliche Sprache, wenn die Welt in der selben Art und Weise artikuliert wird, wenn wir ›auf die Sprache hören‹, wenn wir ihr erlauben, ›zu uns zu sprechen‹.«29

Wir wollen das ein wenig entschlüsseln. Für einen Christen des Mittelalters liegt das »Wesen« des Goldes in seiner Unbestechlichkeit und seinem göttlichen Glanz, der es zu einem »göttlichen« Metall macht. Für uns ist es eher eine flexible Ressource, die für industrielle Zwecke genutzt werden kann oder als Material einen bestimmten ästhetischen Reiz besitzt. Ein anderes Beispiel: Die Stimme des Kastraten war einmal die Stimme der Engel im Paradies; für uns heute ist sie bloß eine Monstrosität. Dieser Empfindungswandel wird durch die Sprache möglich. Er hängt vom Wandel unseres symbolischen Universums ab. In dieser »wesenden« Fähigkeit der Sprache ist eine grundlegende Gewalt am Werk. Unsere Welt erfährt eine neue Wendung, sie verliert ihre ausgewogene Unschuld, ein einzelner Farbton tönt das Ganze. Diese Operation wird vom politischen Denker Ernesto Laclau als Hegemonie bezeichnet, die der Sprache innewohnt. Wenn also Heidegger in seiner Einführung in die Metaphysik bei der Lektüre des berühmten Chorspruchs aus der Antigone vom »unheimlichen / ungeheuerlichen« Wesen des Menschen handelt, dann entwickelt er die Idee einer »ontologischen« Gewalt, die jede gründende Geste in der neuen gemeinsamen Welt der Menschen betrifft und die von Dichtern, Denkern oder Politikern geübt wird. Man sollte in diesem Zusammenhang immer im Blick behalten, dass diese »unheimliche / ungeheuerliche« Dimension letzten Endes die Sprache selbst ist:

28 [Im Original deutsch. – Anm. des Übersetzers] 29 Mark Wrathall: How to Read Heidegger, London 2005, S. 94f

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»Wir geben hier dem Wort Gewalttätigkeit einen wesenhaften Sinn, der grundsätzlich über die gewöhnliche Bedeutung des Wortes hinausreicht, gemäß der er meist soviel wie bloße Rohheit und Willkür meint. Die Gewalt wird dann aus dem Bereich her gesehen, in dem die Verabredung auf Ausgleich und gegenseitige Versorgung den Maßstab des Daseins abgibt und demgemäß jede Gewalt notwendig nur als Störung und Verletzung abgeschätzt ist [...] Der Gewalt-tätige, der Schaffende, der in das Ungesagte ausrückt, in das Ungedachte einbricht, der das Ungesehene erzwingt und das Ungeschaute erscheinen macht, dieser Gewalt-tätige steht jederzeit im Wagnis [...] Deshalb kennt der Gewalt-tätige nicht Güte und Begütigung (im gewöhnlichen Sinne), keine Beschwichtigung und Beruhigung durch Erfolge oder Geltung und durch die Bestätigung einer solchen [...] Der Untergang ist ihm das tiefste und weiteste Ja zum Überwältigenden [...] Solches wesentliche Ent-scheiden muß jedoch im Vollzug und im Aushalten gegen die ständig andrängende Verstrickung im Alltäglichen und Gewöhnlichen Gewalt brauchen. Die Gewalt-tat des so entschiedenen Ausrückens auf dem Weg zum Sein des Seienden rückt den Menschen aus dem Heimischen des gerade Nächsten und Üblichen heraus.30

Als solcher ist der Schaffende ein hypsipolis apolis;31 er steht außerhalb und über der polis mit ihrem ethos; er ist durch keinerlei Regeln der »Moral« gebunden (die nur eine Schwundstufe des ethos sind); nur als solcher vermag er eine neue Form des ethos begründen, des gemeinsamen Seins in einer polis ... Was hier natürlich mitschwingt ist der Topos der »illegalen« Gewalt, welche das Regelwerk des Gesetzes selbst erst einsetzt.32 Heidegger fügt freilich hastig hinzu, dass das erste Opfer dieser Gewalt der Schöpfer selbst ist, der mit dem Anbruch der neuen Ordnung, die er selbst gegründet hat, ausgelöscht werden muss. Die erste physische Zerstörung – wir wissen, dass, von Moses und Julius Cäsar angefangen, der Gründervater getötet werden muss. Doch es gibt auch den Sturz in den Wahnsinn, wie er großen Dichtern, wie Hölderlin oder Ezra Pound, widerfährt, die von der Macht ihrer

30 Martin Heidegger: Einführung in die Metaphysik, Tübingen, 4. Auflage, 1976, S. 115-128. 31 Sophokles: Antigone, Zeile 370. 32 Das Themengebiet dieser Gewalt wurde von Walter Benjamin und Carl Schmitt abgesteckt. Vgl. Walter Benjamin: »Zur Kritik der Gewalt«, in: ders.: Sprache und Geschichte, Stuttgart 1992, S. 104-131, und Carl Schmitt: Der Begriff des Politischen, München 1932.

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eigenen poetischen Vision geblendet werden. Es ist interessant, dass an dem Punkt, wo der Chor in der Antigone den Menschen als die »unheimlichste / ungeheuerlichste« Erscheinung unter den Kreaturen beklagt, also ein Wesen des Übermaßes zu sein, ein Wesen, das alle Rahmen sprengt, gerade an einer Stelle erfolgt, nach dem aufgedeckt worden war, dass jemand Kreons Befehl missachtet und die Begräbnisriten durchgeführt hat.33 Was für den kühlen Charakter der zitierten Passage Heideggers spricht ist, dass er hier nicht allein eine neue Variante seiner üblichen Figur der Verkehrung liefert (das Wesen der Gewalt hat nichts mit ontischer Gewalt zu tun, also mit dem Leiden, den Kriegen, der Zerstörung etc., sondern das Wesen der Gewalt ruht im gewalttätigen Zug der Gründung eines neuen Wesensmodus – der Enthüllung des gemeinschaftlichen Seins – selbst). Implizit, aber doch klar erkennbar, zielt Heideggers Lektüre hier auf eine wesentliche Gewalt ab, welche die ontischen oder physischen Ausbrüche der Gewalt begründet (oder ihnen zumindest Raum gibt). Konsequenterweise sollten wir uns daher nicht gegen die Effekte der Gewalt, von denen Heidegger spricht, immunisieren, wenn er sie als bloß ontologische klassifiziert. Wenn sie auch als solche gewaltsam sind und eine bestimmte Enthüllung der Welt darstellen, so bringt dies auch eine gewisse gesellschaftliche Beziehung der Autorität ins Spiel. In seiner Interpretation des HeraklitFragments B 53 (»Krieg [polemos] ist aller Dinge Vater, aller Dinge König. Die einen erweist er als Götter, die anderen als Menschen, – die einen läßt er Sklaven werden, die anderen Freie«) berücksichtigt er ganz offen – und ganz im Gegensatz zu der Meinung derjenigen, die ihm vorwerfen, die »grausamen« Aspekte des Lebens in der griechischen Antike (Sklaverei etc.) außer Acht zu lassen – wie »Rang und Herrschaft« direkt mit dem Enthüllung des Seins in Zusammenhang stehen, wobei er auch eine direkte ontologische Begründung der Herrschaftsverhältnisse liefert: »Wenn man schon bisweilen heute allzu eifrig die Polis der Griechen bemüht, sollte man diese Seite nicht unterschlagen, sonst wird der Begriff der Polis leicht harmlos und sentimental. Das Rangmäßige ist das Stärkere. Deshalb ist das Sein, der Logos, als der gesammelte Einklang, nicht leicht und in gleicher Münze für jedermann zugänglich, sondern entgegen jenem Einklang, der je-

33 Vgl. Clément Rosset: Das Reale, aaO., S. 26f.

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weils nur Ausgleich, Vernichtung der Spannung, Einebnung ist, verborgen [...].34

Es gibt folglich ein direktes Bindeglied zwischen der ontologischen Gewalt und dem Stoff der gesellschaftlichen Gewalt (dem Ertragen aufgezwungener Herrschaftsverhältnisse), die der Sprache zugehörig sind. In ihrem Buch Amerika Tag und Nacht (1948) notiert Simone de Beauvoir: »Aber viele vom Rassenwahn Befangene kümmern sich nicht um wissenschaftliche Erkenntnisse und erklären hartnäckig: Auch wenn physiologische Gründe nicht ermittelt werden können, Tatsache ist, daß die Schwarzen minderwertiger als die Weißen sind. Es genügt durch Amerika zu reisen, um sich davon zu überzeugen.«35

Ihre diesbezügliche Ansicht zum Rassismus wurde hier allzu leicht missverstanden. In einem neulich erschienen Kommentar etwa behauptet Stella Sandford, dass »die Beauvoir durch nichts dazu berechtigt sei, ein solches Faktum der Minderwertigkeit zu konstatieren«: »Ausgehend von ihrer existenzialistisch-philosophischen Herkunft hätten wir eher erwartet zu hören, wie die Beauvoir über die Interpretation der bestehenden Unterschiede bezüglich der Begrifflichkeit von Minder- und Höherwertigkeit spricht [...] oder wenigstens auf den Fehler hinzuweisen, was es denn heißt Werturteile wie ›minderwertig‹ oder ›höherwertig‹ in Bezug auf angebliche Eigenschaften von Menschen zu fällen, und derlei nicht einfach als einen ›gegebene Tatsache zu bestätigen‹.«36

Keine Frage, was Sanford hier stört. Sie ist sich sehr wohl bewusst, dass Beauvoirs Feststellung einer faktischen Minderwertigkeit der Schwarzen auf etwas anderes abzielt als auf den Umstand, dass im

34 Heidegger: Einführung in die Metaphysik, a.a.O., S. 102. 35 Simone de Beauvoir: Amerika Tag und Nacht, Reinbek bei Hamburg 1988, S. 232. 36 Stella Sandford: How to Read Beauvoir, London 2006, S. 49. Dies unterschlägt allerdings ohnehin das, was bei Simone de Beauvoir auf diese ihre Passage folgt. [Die weiteren Ausführungen beginnen dort ja schon mit der Frage: »Aber was heißt: sein?« – Anm. des Übersetzers]

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amerikanischen Süden (nicht nur) zu dieser Zeit Schwarze von der weißen Mehrheit gesellschaftlich als Minderwertige behandelt wurden, weil sie dies in der Tat auch waren. Doch ihre kritische Lösung, die davon angetrieben wird, bloß jede rassistische Feststellung zur Minderwertigkeit der Schwarzen zu vermeiden, bedeutet gerade, diese Minderwertigkeit zu einer Frage der Interpretation zu relativieren und dem Urteil weißer Rassisten zu überlassen. Das ist eine Distanznahme zur Frage nach deren Sein. Doch was diese abschwächende Unterscheidung übersieht, ist die wahrhaft messerscharfe Dimension des Rassismus: Das »Sein« der Schwarzen (oder der Weißen oder von irgendjemanden sonst) ist ein sozio-symbolisches Sein. Wenn Schwarze von Weißen als minderwertig behandelt werden, dann macht sie das in der Tat auch zu solchen und zwar auf der Ebene ihrer sozio-symbolischen Identität. Mit anderen Worten ist die weiße rassistische Ideologie eine performative Leistung. Sie ist nicht bloß eine Interpretation, was Schwarze nun sind oder nicht, sondern eine Interpretation, die das Sein und die gesellschaftliche Existenz der interpretierten Subjekte bestimmt. Wir können nun ganz präzise den Grund angeben, warum Sandford und andere Kritiker von Simone de Beauvoir die Formulierung, dass Schwarze minderwertig seien, widersprechen: dieser Widerstand ist selbst ideologisch. Dieser Idee liegt die Angst zugrunde, dass man, geht man so weit, die innere Freiheit, Autonomie und Würde der menschlichen Individualität einbüßt. Deshalb insistieren diese Kritiker auch darauf, dass die Schwarzen nicht minderwertig sind, sondern nur durch die Gewalt, die ihnen der rassistische Diskurs aufzwingt, »minderwertig gemacht« werden. Das bedeutet dann, dass ihnen etwas zugemutet wird, das aber nicht bis in ihr Innerstes eindringt und sie in Folge dessen als freie und autonome Agenten ihrer Handlungen, Träume und Projekte Widerstand leisten können (und dies auch tun). Das bringt uns zurück an den Anfang dieses Kapitels – zum Abgrund, der unser Nächster ist. Wenn es auch so scheinen mag, dass es hier einen Widerspruch gibt zwischen der Art und Weise, wie ein Diskurs einerseits den Kern der menschlichen Subjektivität formt, und andererseits der Vorstellung, gerade dieser Kern sei der unauslotbare Abgrund jenseits der »Wand der Sprache«, so gibt es doch eine einfache Lösung für dieses scheinbare Paradox. Die »Wand der Sprache«, die mich für alle Zeit vom Abgrund des anderen Subjekts trennt, ist zugleich dasjenige, was den Abgrund aufklaffen lässt und ihn offen

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hält – gerade das Hindernis, das mich vom Drüben trennt, ist es, das diese Illusion eröffnet.

Von der Schwierigkeit, seinen Nächsten zu lieben1 Z YGMUNT B AUMAN

In seinem Aufsatz Das Unbehagen in der Kultur beschreibt Freud das Gebot, seinen Nächsten zu lieben wie sich selbst, als einen Grundsatz zivilisierten Lebens. Zugleich aber ist diese Idee der von der Kultur beförderten Logik des Egoismus und des Strebens nach Glück vollkommen entgegengesetzt und kann daher nur als »sinnvoll« akzeptiert, befürwortet und umgesetzt werden, wenn man sich in die theologische Mahnung schickt: credere quia absurdum – glaube es, weil es unvernünftig ist. Tatsächlich genügt es schon zu fragen: »Warum soll ich das? Was soll es mir helfen?«, um der Absurdität gewahr zu werden, die in der Forderung liegt, meinen Nächsten zu lieben – einfach, weil er mein Nächster ist. »Wenn ich einen anderen liebe, muß er es auf irgendeine Art verdienen [...] Er verdient es, wenn er mir in wichtigen Stücken so ähnlich ist, daß ich in ihm mich selbst lieben kann; er verdient es, wenn er so viel vollkommener ist als ich, daß ich mein Ideal von meiner eigenen Person in ihm lieben kann. [...]

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Bei diesem Text handelt es sich um eine gekürzte Fassung des Kapitels »On the Difficulty of Loving Thy Neighbor« aus Zygmunt Baumans Buch Liquid Love, Cambridge: Polity, S. 77-118. Abgedruckt mit freundlicher Genehmigung des Verlags. Aus dem Englischen übersetzt von Eva Engels und Jens Möller.

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Aber wenn er mir fremd ist und mich durch keinen eigenen Wert, keine bereits erworbene Bedeutung für mein Gefühlsleben anziehen kann, wird es mir 2

schwer, ihn zu lieben.«

Die Forderung erscheint umso ärgerlicher und sinnloser, da es umgekehrt kaum Hinweise dafür gibt, dass der Fremde, den ich lieben soll, mich auch liebt oder mir nur »die geringste Rücksicht [bezeugt]. Wenn es ihm einen Nutzen bringt, hat er kein Bedenken, mich zu schädigen, [...] zu verspotten, zu beleidigen, [...] seine Macht an mir zu zeigen«.3 Wozu also, fragt Freud, »eine so feierlich auftretende Vorschrift, wenn ihre Erfüllung sich nicht als vernünftig empfehlen kann?« Gegen alle Vernunft sei man versucht zu sagen: Es ist ein Gebot, »das sich wirklich dadurch rechtfertigt, daß nichts anderes der ursprünglichen menschlichen Natur so sehr zuwiderläuft.«4 Je unwahrscheinlicher die Befolgung einer Norm ist, mit desto größerem Nachdruck wird sie vertreten, und es gibt wohl kein Gebot, dessen Befolgung unwahrscheinlicher ist als das, seinen Nächsten zu lieben. Als der jüdische Schriftgelehrte Rabbi Hillel von einem potentiellen Konvertiten aufgefordert wurde, die Lehre Gottes in der Zeitspanne darzulegen, die der Fragesteller auf einem Fuß stehen konnte, verwies der Rabbi auf das Gebot der Nächstenliebe, das alle anderen in sich enthalte; dies sei die einzig mögliche und dabei erschöpfende Antwort. Sich diesem Gebot zu fügen bedeutet voller Vertrauen den entscheidenden Sprung ins Ungewisse zu wagen, durch den der Mensch aus dem Panzer seiner »natürlichen« Triebe, Instinkte und Neigungen heraus bricht, außerhalb der Natur und gegen sie Stellung bezieht und zu einem im Gegensatz zu den Tieren (und wie Aristoteles anmerkte, den Engeln) »unnatürlichen« Wesen wird. Das Gebot der Nächstenliebe anzunehmen ist die Geburtsstunde der Menschlichkeit. Bei allen anderen Formen menschlichen Zusammenlebens und unseren gezielt entwickelten oder nachträglich herausgearbeiteten Regeln handelt es sich nur um eine (immer unvollständige) Sammlung von Fußnoten zu dieser Vorschrift. Wenn dieses Gebot

2

Sigmund Freud: »Das Unbehagen in der Kultur«, in: ders.: Gesammelte Werke, Band XIV, Frankfurt a. M. 1999, S. 468.

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verworfen oder ignoriert würde, gäbe es keinen Grund, eine solche Sammlung anzufertigen oder nach ihrer Vollständigkeit zu fragen. Seinen Nächsten zu lieben mag einen Sprung ins Ungewisse erfordern, markiert aber die Geburtsstunde der Menschlichkeit. Zugleich bedeutet das den schicksalshaften Übergang vom einfachen Überlebenstrieb zur Moral. Diese Passage positioniert die Moral, vielleicht als conditio sine qua non, jenseits des Überlebens. Durch diese Beigabe wird das Überleben eines Menschen zum Überleben der Menschlichkeit des Menschen. »Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst« setzt die Selbstliebe implizit als ganz selbstverständlich gegeben voraus, also als etwas, das immer schon da ist. Selbstliebe ist eine Frage des Überlebens und bedarf keiner Gebote; andere (nichtmenschlichen) Lebewesen kommen auch sehr gut ohne Normen zurecht, besten Dank. Erst aufgrund der Nächstenliebe unterscheidet sich das Überleben des Menschen auf radikale Weise vom dem jeder anderen Spezies. Die bloße Verlängerung des physischen, körperlichen Lebens ist ohne diese Erweiterung und Überwindung der Selbstliebe noch kein spezifisch menschliches Überleben, durch das sich der Mensch vom Tier (und nicht zu vergessen von den Engeln) unterscheidet. Ebenso wie das Gebot seinen Nächsten zu lieben den natürlichen Instinkten radikal entgegensteht, stellt es auch das von der Natur gesetzte Verständnis des Überlebens in Frage und zugleich die Selbstliebe, die dieses Überleben garantiert. Es mag sein, dass die Nächstenliebe nicht automatisch aus dem Überlebenstrieb folgt – ebenso wenig aber kann man die Selbst-liebe daraus ableiten, die als Ausgangspunkt für die nachbarliche Liebe gewählt wurde. Selbstliebe – was heißt das eigentlich? Was liebe ich »an mir«? Wenn ich mich selbst liebe, was liebe ich dann genau? Wir Menschen haben mit unseren engsten, weniger engen und entfernten tierischen Verwandten bestimmte Überlebensinstinkte gemeinsam – aber wenn es um die Selbstliebe geht, trennen sich unsere Wege und wir sind allein. Es stimmt zwar, dass die Selbstliebe uns einen Grund gibt, um »am Leben zu hängen«, es in guten wie in schlechten Zeiten mit aller Macht zu bewahren, alles zu bekämpfen, was ein vorzeitiges oder abruptes Ende herbeizuführen droht, und sie hält uns an, so fit und kräftig wie möglich zu sein, damit uns dieser Widerstand gelingt. Anderer-

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seits haben unsere tierischen Verwandten in dieser Sache eine Meisterschaft erlangt, die jener der hingebungsvollsten Gesundheitsfanatiker und Fitnessfreaks unter uns Menschen in nichts nachsteht. Sie brauchen keine Ratschläge von Experten, um gesund und fit zu bleiben – ausgenommen sind hier Haus- und Nutztiere, die wir, ihre menschlichen Herren, um ihre natürlichen Instinkte gebracht haben, damit sie unserem Überleben mehr noch als ihrem eigenen dienen können. Und sie wissen ohne jedes Gebot der Selbstliebe, dass es richtig ist, sich gesund und fit zu halten. Zum (tierischen, körperlichen) Überleben bedarf es keiner Selbstliebe. Vielleicht ist es ohne sie sogar einfacher als mit ihr. Auch wenn der Überlebenstrieb und die Selbstliebe meist Hand in Hand gehen, so können sie dennoch auch in unterschiedliche Richtungen streben ... Zum Beispiel kann uns die Selbstliebe veranlassen, gegen das Weiterleben zu rebellieren. Sie kann uns anstacheln, die Gefahr zu suchen und Bedrohungen zu begrüßen, oder uns sogar dazu bringen, ein Leben, das unserer Liebe nicht gerecht wird und daher nicht lebenswert ist, zurückzuweisen. Unsere Selbstliebe beruht nämlich darauf, dass unser Selbst anderen als liebenswert erscheint. Wir lieben es, geliebt zu werden, oder zumindest darauf hoffen zu dürfen. Wir lieben es, ein der Liebe würdiges Objekt zu sein, als solches anerkannt zu werden und Beweise dieser Anerkennung zu erhalten. Kurz gesagt: Selbstliebe setzt voraus, dass wir geliebt werden. Wenn man uns die Liebe verweigert – ein Objekt zu sein, das der Liebe würdig ist –, erzeugt diese Verweigerung Selbsthass. Unsere Liebe zu uns selbst beruht auf der Liebe, die andere uns entgegenbringen. Wenn dazu Ersatzmittel eingesetzt werden, dann muss es sich dabei um – unter Umständen trügerische – Ebenbilder einer solchen Liebe handeln. Erst wenn andere uns lieben, können wir lernen, uns auch selbst zu lieben. Wie aber können wir sicher sein, dass man uns nicht als hoffnungslosen Fall abgeschrieben hat, dass wir auf Liebe hoffen können, ja mit ihr rechnen dürfen, dass wir ihrer wert sind und deshalb das Recht haben, uns genussvoll der amour de soi hinzugeben? Nur, wenn man mit uns spricht und uns zuhört, sind wir uns dieser Möglichkeit, geliebt zu werden, sicher, dann glauben wir daran und sind überzeugt, dass kein Irrtum vorliegt. Wenn man uns aufmerksam zuhört, mit einem Interesse, das die Bereitschaft verrät oder signalisiert, auf uns

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einzugehen, dann wissen wir, dass wir respektiert werden; dass das, was wir denken oder tun wollen, zählt. Wenn ich respektiert werde, folgt doch daraus, dass es »in mir« etwas geben muss, das nur ich den anderen zu bieten habe, oder nicht? Und ist es nicht offensichtlich, dass es solche anderen Personen geben muss, die meine Gaben zu schätzen wissen, und die dankbar wären, sie zu erhalten? Ich bin wichtig, und was ich denke und sage und tue ist auch wichtig. Ich bin keine Ziffer, die man einfach ersetzen oder weglassen könnte. Ich »bedeute etwas«, nicht nur mir selbst. Was ich sage, tue und bin, spielt eine Rolle – und nicht nur in meiner Einbildung. Wie immer die Welt um mich herum genau beschaffen sein mag, sie wäre ärmer, langweiliger und weniger vielversprechend, wenn es mich plötzlich nicht mehr gäbe oder ich fort ginge. Wenn hierauf die Angemessenheit unserer Selbstliebe beruht, dann bezieht sich das Gebot, seinen Nächsten zu lieben wie sich selbst (also davon auszugehen, dass der Nächste aus denselben Gründen geliebt werden will wie ich selbst), auf dessen Wunsch, als Träger eines einzigartigen, unersetzlichen und unentbehrlichen Wertes anerkannt und bestätigt zu werden. Das Gebot ermahnt uns anzunehmen, dass dem Nächsten tatsächlich ein solcher Wert zukommt – zumindest bis zum Beweis des Gegenteils. Unseren Nächsten zu lieben wie uns selbst würde dann bedeuten, den anderen in seiner Einzigartigkeit zu respektieren – den Wert unserer Unterschiede schätzen zu lernen, weil sie unsere gemeinsame Welt bereichern, verschönern und zur Fülle ihrer Versprechungen beitragen. […]5 In Die ethische Forderung vertrat Løgstrup6 eine eher optimistische Sichtweise der Natur des Menschen. »Es gehört zu unserem menschlichen Dasein, dass wir einander normalerweise mit natürlichem Vertrauen begegnen«, schrieb Løgstrup. »Es müssen schon besondere Umstände vorliegen, ehe wir einem Fremden von vornherein mit Argwohn gegenübertreten […]. Unter normalen Umständen dagegen glauben wir dem Fremden, was er sagt, und Zweifel an seinen Worten

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[Kürzungen des Originaltextes sind durch eckige Klammern markiert. – Anm. der Herausgeberinnen]

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[Knud Ejler Løgstrup, 1905-1981, war ein dänischer Philosoph, der gegen eine normregulierte Ethik argumentierte. – Anm. der Herausgeberinnen]

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stellt sich erst dann ein, wenn er uns einen besonderen Anlass dazu gibt. Von vornherein anzunehmen, dass jemand lügt, kommt uns nicht in den Sinn. Wir 7

müssen ihn erst beim Lügen ertappt haben.«

Løgstrup entwarf Die ethische Forderung in den acht Jahren, die seiner Hochzeit mit Rosalie Maria Pauly folgten und die er in einer kleinen und friedlichen Gemeinde auf der Insel Fünen verbrachte. Nach dieser Periode sollte er sein restliches Leben an der Universität von Aarhus Theologie lehren, und bei allem Respekt für die freundlichen und geselligen Einwohner dieser Stadt wage ich zu bezweifeln, dass er auf solche Ideen gekommen wäre, nachdem er sich dort niedergelassen hatte und als aktives Mitglied des dänischen Widerstandes den Realitäten der Kriegs- und Besatzungszeit ins Auge blickte. Die Menschen neigen dazu, ihr Weltbild aus dem Garn ihrer Erfahrung zu spinnen. Die gegenwärtige Generation mag das sonnige und heitere Bild einer vertrauensvollen und vertrauenswürdigen Welt weit hergeholt finden; es widerspricht ihren Alltagserfahrungen und dem, was sie täglich über menschliches Verhalten und sinnvolle Überlebensstrategien zu hören bekommen. Eher schon erkennen sie sich in den Handlungen und Geständnissen der Protagonisten so erfolgreicher und beliebter Fernsehshows wie Big Brother, Survivor und The Weakest Link wieder. Diese vermitteln eine ganz andere Botschaft: einem Fremden ist nicht zu trauen. Der Untertitel von Survivor bringt es auf den Punkt: »Traue niemandem.« Kenner und Liebhaber des RealityTV würden Løgstrups Urteil umkehren: »Es gehört zu unserem menschlichen Dasein, dass wir einander normalerweise mit Misstrauen begegnen.« Bei diesen Fernsehspektakeln, die Millionen von Zuschauern im Sturm erobert und ihre Phantasie vereinnahmt haben, handelte es sich um öffentliche Einübungen in die Entbehrlichkeit von Menschen. Sie boten Genuss und Warnung in einem, komprimiert zu einer Geschichte, deren Botschaft lautete: Niemand ist unentbehrlich, niemand hat das Recht auf einen Anteil an den Früchten gemeinsamer Anstrengungen, nur weil er oder sie zu irgend einem Zeitpunkt etwas zur Ernte beigetragen hat, und erst recht nicht aufgrund von Mitgliedschaft in einem Team. Das Leben ist ein raues Spiel für raue Leute, so lautete die Botschaft. Man muss immer wieder bei Null beginnen, frühere

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Knud Løgstrup: Die ethische Forderung, Tübingen 1989, S. 7.

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Verdienste zählen nicht, und der Wert eines Menschen erschöpft sich in den Erfolgen der zuletzt gespielten Runde. Jeder kämpft stets für sich allein, und wenn man sich auch zunächst zusammentun muss, um weiterzukommen, erst recht aber um zu gewinnen und all jene aus dem Weg zu räumen, die ein Hindernis sind, dann gilt das freilich nur, bis man diejenigen, mit denen man zunächst zusammen gearbeitet hat, einen nach dem anderen ausstechen und schließlich, besiegt und nicht länger nützlich, hinter sich lassen kann. Der Andere ist in erster Linie ein Konkurrent. Hinterrücks hebt er Fallen aus und legt sich auf die Lauer, nur darauf wartend, dass man stolpert und fällt. Um sich im Wettkampf zu behaupten und siegreich aus dem mörderischen Geschehen hervorzugehen, muss man auf Vorzüge aller Art zurückgreifen, angefangen von rücksichtslosem Durchsetzungsvermögen bis hin zur demütigen Selbstverleugnung. Aber unabhängig davon, welche Mittel konkret eingesetzt werden und welche Vorteile oder Schwächen letztendlich zu Sieg oder Niederlage führen, hat jede Geschichte des Überlebens das gleiche eintönige Motto: In einem Spiel auf Leben und Tod sind Vertrauen, Mitleid und Gnade (Løgstrup zufolge die höchsten Attribute der »souveränen Daseinsäußerung«) selbstmörderisch. Wenn man nicht härter und gewissenloser ist als alle anderen, machen sie einen ungeachtet eventueller Skrupel fertig. Wir sind zur düsteren Wahrheit der darwinschen Weltsicht zurückgekehrt: Überleben wird immer derjenige, der am besten angepasst ist. Oder besser: Überleben ist der ultimative Beweis der Angepasstheit. Wenn die jungen Leute von heute sich für Bücher interessieren würden, genauer gesagt für ältere Bücher, die nicht aktuell auf der Bestsellerliste stehen, würden sie dem bitteren, ganz und gar nicht heiteren Weltbild, das der russische Exilant und Sorbonner Philosoph Leon Shestov8 entworfen hat, wahrscheinlich mehr abgewinnen können: »Homo homini lupus ist einer der verlässlichsten zeitlosen moralischen Grundsätze. Wir fürchten stets den Wolf in unserem Nächsten. […] Wie armselig wir

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[Eigentlich Lev Šestov, 1866-1938, russischer Philosoph, der ab 1921 in Paris im Exil lebte. – Anm. der Herausgeberinnen]

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doch sind, wie schwach, wie leicht zu vernichten und zu zerstören! Wie sollten 9

wir uns da nicht fürchten! […] Wir sehen Gefahren wohin wir schauen!«

In Übereinstimmung mit Shestov und den zum gesunden Menschenverstand erklärten Lehren der Big Brother Shows würden diese jungen Menschen betonen, dass unsere Welt hart ist, gemacht für harte Leute: Sie wird von Individuen bevölkert, die sich nur auf ihre eigene Gerissenheit verlassen können und versuchen, sich gegenseitig auszutricksen und zu übertrumpfen. Jede Begegnung mit einem Fremden erfordert an erster, zweiter und dritter Stelle Wachsamkeit. Schulter an Schulter zusammen zu stehen und in Teams zu arbeiten ist sinnvoll, solange es uns hilft, unsere persönlichen Ziele zu erreichen; aber sobald diese Teams nichts mehr einbringen oder zumindest weniger Vorteile zu erwarten sind, als wenn man alle Verpflichtungen aufkündigt, gibt es keinen Grund, länger an ihnen festzuhalten. Für viele junge Menschen, die um die Jahrhundertwende geboren und aufgewachsen sind, wäre auch Anthony Giddens Beschreibung der »reinen Beziehung« vertraut und vielleicht sogar selbstverständlich. Die »reine Beziehung« ist heute die vorherrschende Form menschlichen Zusammenseins. Sie wird aufgrund »des Nutzens, den jede Person davon hat«, eingegangen und fortgesetzt »nur insofern, als beide Parteien glauben, daraus genügend Befriedigung ziehen zu können, um in der Beziehung zu bleiben«.10 Giddens zufolge ist die »reine Beziehung« von heute »nicht, wie die Ehe es einmal war, ein ›naturgegebener Zustand‹, dessen Dauer außer unter bestimmten extremen Bedingungen nicht in Frage gestellt wird. Es ist ein Merkmal der reinen Beziehung, dass sie von beiden Partnern und zu jedem beliebigen Zeitpunkt mehr oder weniger willkürlich beendet werden kann. Damit eine Beziehung eine Chance auf Dauer hat, ist Verbindlichkeit notwendig. Und doch riskiert jeder, der sich ohne Vorbehalt festlegt, langfristig 11

großes Leid, sollte die Beziehung beendet werden.«

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Leon Shestov: »All Things are Perishable«, in: Bernard Martin (Hg.): A Shestov Anthology, Athens/Ohio 1970, S. 70.

10 Anthony Giddens: The Transformation of Intimacy. Sexuality, Love and Eroticism in Modern Society, Cambridge 1992, S. 58, 137. 11 Ebd.

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Sich an andere zu binden wird zunehmend als Falle wahrgenommen, die es um jeden Preis zu vermeiden gilt, besonders wenn es ohne Vorbedingungen geschieht und ganz gewiss dann, wenn das Versprechen »bis dass der Tod uns scheidet, in guten wie in schlechten Tagen, in Reichtum und Armut« gegeben wird. Wenn junge Menschen etwas gut finden, sagen sie: »Das ist cool.« Das ist ein treffendes Wort, denn wie immer menschliche Handlungen und Beziehungen ansonsten beschaffen sein mögen, sollte man auf keinen Fall zulassen, dass sie sich erwärmen, und erst recht nicht, dass sie warm bleiben. Es ist OK, solange es cool bleibt, und was cool ist, ist OK. Wenn Sie wissen, dass Ihr Partner die Beziehung (sobald er meint, dass Sie Ihr Potential verloren haben, ihm Genuss zu verschaffen, und die Zukunft wenig Freude in Aussicht stellt oder ihm einfach das Gras anderswo grüner erscheint) jederzeit mit oder ohne Ihre Zustimmung beenden kann, dann ist es überaus riskant, starke Gefühle zu investieren. Bei einer solchen Investition und dem Ablegen eines Treuegelöbnisses handelt es sich um ein enormes Risiko: Sie machen sich dadurch von Ihrem Partner abhängig. (Wobei man anmerken sollte, dass jenes zunehmend abschätzig verwendete Wort Abhängigkeit genau das bezeichnet, worum es für Løgstrup ebenso wie für Lévinas bei moralischer Verantwortung für den Anderen geht.) Um noch Salz in die Wunde zu streuen: Ihre Abhängigkeit muss – infolge der »Reinheit« Ihrer Beziehung – nicht einmal auf Gegenseitigkeit beruhen. Sie sind also gebunden, während es Ihrem Partner freisteht zu gehen. Wie immer die Bindung, die Sie an Ort und Stelle hält, beschaffen sein mag, Ihren Partner kann sie nicht aufhalten. Die weitverbreitete, ja vorherrschende Überzeugung, dass alle Beziehungen »rein« sind – dass sie zerbrechlich sind, sich spalten und vermehren; dass sie stets vorläufig bleiben, »bis auf weiteres«, weil ihre Dauer durch die gewonnenen Vorteile begrenzt wird – kann schwerlich als Basis dienen, auf der Vertrauen wachsen und gedeihen kann. Lose und jederzeit widerrufbare Partnerschafen haben das Modell eines persönlichen Bundes »bis dass der Tod uns scheidet« ersetzt. Dieses war zu jener Zeit noch intakt (wenngleich zunehmend hässlicher Risse zu beobachten waren), als Løgstrup seinem Glauben an die »Natürlichkeit« und »Normalität« des Vertrauens zum Ausdruck brachte und davon ausging, dass die Suspendierung oder der Entzug von Vertrauen – und nicht etwa seine vorbehaltslose und spontane Ga-

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be – eine auf außergewöhnliche Umstände zurückzuführende und daher erklärungsbedürftige Ausnahme darstelle. Diese Brüchigkeit, Kränklichkeit und Verletzlichkeit persönlicher Beziehungen sind keineswegs die einzigen Merkmale unserer heutigen Verhältnisse, die die Glaubwürdigkeit von Løgstrups Annahmen untergraben. Eine neue Flüchtigkeit, Zerbrechlichkeit und systemimmanente Vergänglichkeit (die berühmte »Flexibilität«) prägen heute all jene sozialen Bindungen, die in ihrer Gesamtheit noch vor kurzer Zeit einen beständigen, verlässlichen Rahmen bildeten, innerhalb dessen ein festes Netz menschlicher Interaktionen gespannt werden konnte. Besonders stark und vielleicht am grundlegendsten wirken sich die Veränderungen auf das Arbeitsleben und die beruflichen Beziehungen aus. Angesichts der Tatsache, dass der Marktwert von Fertigkeiten schneller sinkt als diese erworben werden können, dass Qualifikationen relativ zu dem, was es gekostet hat, sie zu erwerben, beständig an Wert verlieren oder sich, lange bevor ihre vermeintlich lebenslange Garantie abläuft, in eine Art »negatives Eigenkapital« verwandeln, angesichts von Arbeitsplätzen, die ohne Vorwarnung verschwinden, und Lebenswegen, die sich in eine Serie zunehmend kurzfristiger Gelegenheitsprojekte auflösen, gleichen die Zukunftsaussichten heute eher dem planlosen Zickzackkurs intelligenter Raketen auf der Suche nach sich entziehenden, flüchtigen beweglichen Zielen als der anvisierten, festgelegten und vorhersagbaren Flugbahn eines ballistischen Projektils. Die heutige Welt scheint sich gegen das Vertrauen verschworen zu haben. Das Vertrauen mag zwar, wie Knud Løgstrup behauptet, immer noch eine natürliche Folge der »souveränen Daseinsäußerung« sein, doch sucht es umsonst nach einem Ankerplatz. Vertrauen ist dazu verurteilt, lebenslang enttäuscht zu werden. Individuen, Gruppen, Unternehmen, Parteien, Gemeinschaften, große Ideen oder Lebensmuster, die mit Autorität unser Leben lenken, vergelten nur selten unsere Hingabe, und sie zeichnen sich selten durch Verlässlichkeit oder Beständigkeit aus. Es fehlen Bezugspunkte, die so zuverlässig sind, dass betörte Orientierungssuchende sich an ihnen festhalten können und so von der ermüdenden Notwendigkeit befreit sind, permanent wachsam zu sein und bereits unternommene oder geplante Schritte immer wieder zu überdenken. Kein Orientierungspunkt hat eine längere Lebenserwartung als der jeweils Suchende, auch wenn sich dessen irdische Exis-

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tenz als über alle Maßen flüchtig erweist. Die Erfahrung des Einzelnen verweist stur auf das eigene Selbst als den vielversprechendsten Drehund Angelpunkt der so begierig ersehnten Dauer und Beständigkeit. In unserer angeblich so reflexionssüchtigen Gesellschaft hat das Vertrauen einen schlechten Stand. Ein nüchterner Blick auf die Tatsachen des Lebens offenbart ganz im Gegenteil die allgegenwärtige Unbeständigkeit von Regeln und die Zerbrechlichkeit aller Bindungen. Bedeutet das aber, dass Løgstrups Entschluss, seine Hoffnung auf Moralität in die spontane, endemische Tendenz zu setzen, anderen zu vertrauen, durch die ebenfalls endemische Unsicherheit, die unsere heutige Welt prägt, ad absurdum geführt wurde? Diese Annahme wäre durchaus plausibel – wäre da nicht die Tatsache, dass Løgstrup zufolge moralische Impulse niemals der Reflexion entspringen. Ganz im Gegenteil beruhe die Hoffnung auf moralisches Verhalten gerade auf einer präreflexiven Spontaneität: »Das Mitgefühl ist spontan, weil schon die geringste Störung, das geringste Kalkül, die geringste Ablenkung sie vollkommen zerstört, sie sogar in ihr Gegenteil, in Mitleidlosigkeit verwandelt.«12 Emmanuel Lévinas beharrt bekanntlich darauf, dass es sich bei der Frage: »Warum sollte ich moralisch gut sein?« (»Was springt dabei für mich heraus?«; »Was hat der andere für mich getan?«; »Warum sollte ich das machen, wenn es doch sonst niemand tut?«; »Kann sich nicht ein anderer darum kümmern?«) nicht um den Ausgangspunkt moralischen Verhaltens handelt, sondern um ein Zeichen seines Niedergangs; ebenso wie die Amoralität mit Kains Frage: »Bin ich denn meines Bruders Hüter?« ihren Anfang nahm. Løgstrup würde dem wohl zustimmen. Man kann »das Bedürfnis nach Moral« – eine Formulierung, die bereits in sich widersprüchlich ist, weil Moralität keine Befriedigung eines Bedürfnisses darstellen kann – oder auch nur die »die Ratsamkeit von Moral« nicht diskursiv begründen oder gar beweisen. Moralität ist nichts anderes als eine natürliche Erscheinungsform des Menschlichen – sie »dient« keinem »Zweck« und wird ganz sicher nicht von der Aussicht auf Profit, Ruhm, Annehmlichkeiten oder Selbstaufwertung geleitet. Es stimmt zwar, dass objektiv gute – also hilfreiche und nützliche – Taten häufig auf einem Kalkül des Handelnden beruhen, dem es vielleicht darum geht, die Gnade Gottes zu erlangen, Ruhm zu er-

12 Knud Løgstrup: After the Ethical Demand, Aarhus 2002, S. 26.

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ringen oder Absolution für sein skrupelloses Verhalten zu anderen Zeiten, solche Handlungen können aber eben aufgrund ihrer Motivation nicht als genuin moralische Handlungen bezeichnet werden. Løgstrup betont, dass bei moralischem Verhalten »Hintergedanken ausgeschlossen« sind. Diese »Abwesenheit von [amoralischen ebenso wie moralischen] Hintergedanken« macht gerade die Radikalität spontaner Lebensäußerungen aus. Das ist ein weiterer Grund, warum die ethische Forderung, moralisch gut zu sein – der »objektive« Drang, der aus der bloßen Tatsache folgt, dass wir am Leben sind und diesen Planeten mit anderen teilen – stumm ist und stumm bleiben muss. Da sich der »Gehorsam gegen die ethische Forderung« leicht zu einer Motivation für eine bestimmte Handlung (und damit deformiert und verzerrt) werden kann, ist es am besten, diese Forderung ganz zu vergessen und nicht im Blick zu haben: Ihre Radikalität »besteht in ihrer Aufforderung, sie überflüssig zu machen«.13 »Die Unmittelbarkeit zwischenmenschlicher Kontakte wird durch die unmittelbaren Daseinsäußerungen aufrecht erhalten«,14 sie braucht und duldet keinen anderen Halt. In praktischer Hinsicht bedeutet das: Auch wenn Menschen sich noch so sehr dagegen sträuben, mit ihren Entscheidungen und ihrer Verantwortung allein gelassen zu werden, liegt doch gerade in dieser Einsamkeit die Hoffnung auf ein moralisch geprägtes Zusammensein. Die Hoffnung wohlgemerkt, nicht aber die Gewissheit. Die Spontaneität und die Souveränität der Daseinsäußerung können moralisch richtiges und lobenswertes Verhalten keineswegs garantieren. Entscheidend ist jedoch, dass falsche und richtige Entscheidungen auf derselben Grundlage beruhen – ebenso wie der feige Drang, sich hinter dafür bestens geeigneten autoritären Regeln zu verstecken und der mutige Entschluss, Verantwortung zu übernehmen. Man kann sich nicht beharrlich um die richtige Entscheidung bemühen, ohne das Risiko in Kauf zu nehmen, eine falsche zu treffen. Weit davon entfernt, eine ernsthafte Gefahr für die Moral darzustellen (und Moralphilosophen als etwas Verwerfliches zu erscheinen), ist die Ungewissheit die eigentliche Heimstatt des moralischen Individuums und der einzige Boden, auf dem Moralität wachsen und gedeihen kann. Doch wie Løgstrup zu Recht betont, beruht die »Unmittelbarkeit zwischenmenschlicher Kontakte« auf den »unmittelbaren Daseinsäu-

13 Løgstrup: After the Ethical Demand, aaO., S. 28. 14 Løgstrup: After the Ethical Demand, aaO., S. 25.

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ßerungen«. Ich gehe hier von einer wechselseitigen Einflussnahme aus. Die »Unmittelbarkeit« scheint in Løgstrups Denken eine ähnliche Rolle zu spielen wie die »Nähe« in den Schriften von Lévinas. »Unmittelbare Daseinsäußerungen« werden durch diese Nähe oder durch die unmittelbare Präsenz eines anderen Menschen ausgelöst – und zwar einer schwachen, verletzlichen, leidenden oder hilfsbedürftigen Person. Was wir sehen, fordert uns heraus, zu handeln – um Hilfe zu leisten, Schutz zu geben, Trost zu spenden; um zu heilen oder zu retten. »Die souveräne Daseinsäußerung« ist eine weitere »nackte Tatsache« – ebenso wie Lévinas′ »Verantwortung« oder auch Løgstrups eigene »ethische Forderung«. Anders als die – lautlose, stets unterschwellig vorhandene, nie endende und vielleicht prinzipiell unerfüllbare – ethische Forderung ist die unmittelbare Daseinsäußerung immer schon erfüllt und vollständig ausgeführt; allerdings nicht aufgrund einer bewussten Entscheidung, sondern »spontan, unaufgefordert«.15 Eben aufgrund dieser Unwillkürlichkeit wird jener Daseinsäußerungen »Souveränität« zugesprochen. »Die souveräne Daseinsäußerung« kann als alternative Bezeichnung für eine Kombination von Martin Heideggers Befindlichkeit16 (einem wesentlich ontologischen Begriff) und der Stimmung (dem epistemologischen Reflex von »Befindlichkeit«) angesehen werden.17 Wir sind, so Heidegger, noch bevor wir irgendeine Entscheidung treffen können, bereits in der Welt und auf dieses In-der-Welt-Sein eingestimmt – wir sind mit Vorurteil, Vorhabe und Vorsicht gerüstet, all jenen Vermögen mit dem Präfix »Vor-«, die jedem Wissen vorausgehen und Bedingung seiner Möglichkeit sind. Die Heideggersche Stimmung steht aber in einer engen Beziehung zum Man – diesem »Niemand, dem alles Dasein […] sich je schon ausgeliefert hat«. »Zunächst ›bin‹ nicht ›ich‹ im Sinne des eigenen Selbst […] Zunächst ist das Dasein Man und zumeist bleibt es so.« Das »Dasein als das Man« ist seinem Wesen nach der Zustand der Konformität an sich, die sich ihrer selbst als Konformität nicht bewusst ist (und daher nicht mit dem sou-

15 Løgstrup: After the Ethical Demand, aaO., S. 14. 16 [Dieser und die im folgenden kursiv gesetzten Begriffe Heideggers sind im Original deutsch. – Anm. der Herausgeberinnen] 17 Martin Heidegger: Sein und Zeit, Tübingen 2006.

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veränen Entschluss zur Solidarität zu verwechseln ist). Solange es in Gestalt des Man auftritt, ist das Mitsein weder Schicksal noch Berufung, sondern Verhängnis. Dasselbe gilt für die Konformität der Auslieferung an das Man: Sie muss zunächst als solche entlarvt werden, bevor sie entweder zurückgewiesen und in einem Akt der Selbstbehauptung bekämpft oder als Lebensstrategie und Lebenszweck rückhaltlos angenommen werden kann. Auf der einen Seite spricht Løgstrup, indem er auf ihrer Spontaneität beharrt, Daseinsäußerungen einen »an sich«-Status zu, ähnlich dem von Befindlichkeit und Stimmung. Auf der anderen Seite jedoch scheint er die souveräne Daseinsäußerung mit der Zurückweisung eben dieser ursprünglichen, »natürlich gegebenen« Konformität zu identifizieren (er widerspricht vehement der »Vereinnahmung« souveräner Daseinsäußerungen durch die Konformität, ihrem »Versinken in einem Leben, wo ein Lebewesen ein anderes imitiert«), obwohl er sie ebenso wenig mit dem ursprünglichen Akt der Emanzipation des Selbst, dem Durchbrechen des Schutzschildes des an sich gleichsetzt. Er besteht darauf, dass »es keine ausgemachte Sache ist, dass die souveräne Daseinsäußerung sich durchsetzen wird«.18 Die souveräne Äußerung hat einen mächtigen Gegner: nämlich die »eingeschränkte« Äußerung, die von außen induziert wird, also nicht autonom, sondern heteronom ist. Genauer gesagt (und diese Formulierung entspricht Løgstrups Absicht vielleicht eher) handelt es sich um eine Äußerung, deren Motive (sobald sie als Ursachen verstanden oder besser missverstanden werden) auf externe Faktoren oder andere Handelnde projiziert werden. Aggression, Eifersucht und Neid werden als Beispiele solcher »eingeschränkten« Äußerungen angeführt. Ein hervorstechendes Merkmal ist in all diesen Fällen eine Selbsttäuschung, die darauf abzielt, die eigentlichen Handlungsgründe zu verschleiern. Zum Beispiel hat jemand »eine zu hohe Meinung von sich, als dass er den Gedanken akzeptieren könnte, etwas falsch gemacht zu haben, also versucht er, die Aufmerksamkeit auf aggressive Weise von sich abzulenken, indem er sich selbst als Opfer darstellt

18 Løgstrup: After the Ethical Demand, aaO., S. 3, 4.

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[...]. Wer Befriedigung darin findet, ein Opfer zu sein, muss Vergehen erfinden, um seine Genusssucht zu stillen.«19

Die selbstbestimmte Natur dieser Handlungen wird dadurch verschleiert, und der des ursprünglichen Vergehens angeklagte Andere steht nun als der eigentliche Täter da. Das Selbst bleibt passiv; es erleidet die Taten des Anderen, anstatt selbst aktiv zu werden. Einmal gefasst, scheinen solche Vorstellungen sich aus eigener Kraft anzutreiben und zu verstärken. Um nicht an Überzeugungskraft zu verlieren, müssen die unterstellten Vergehen als immer ungeheuerlicher und vor allem als nicht wieder gut zu machen dargestellt werden und die daraus entstandenen Übel als zunehmend grauenerregend und schmerzlich, damit das selbsternannte Opfer rechtfertigen kann, »als verständliche Reaktion« auf bereits erlittene oder »zur Abwendung« noch bevorstehender Kränkungen immer härteren Maßnahmen zu ergreifen. Die Autonomie »eingeschränkter« Handlungen muss fortwährend geleugnet werden. Aus diesem Grund stellen sie das größte Hindernis für jede Anerkennung der Souveränität des Selbst und alle entsprechenden Handlungsweisen dar. Diese selbstauferlegten Beschränkungen durch die Demaskierung und Diskreditierung der Selbsttäuschung, auf welcher sie beruhen, zu überwinden ist daher eine notwendige Voraussetzung dafür, der souveränen Daseinsäußerung, die sich vor allem in Vertrauen, Mitgefühl und Barmherzigkeit zeigt, freien Lauf zu lassen. In der Geschichte der Menschheit fiel die »Unmittelbarkeit der Präsenz« über weite Strecken mit einer möglichen und machbaren »Unmittelbarkeit von Handlung« zusammen. Unsere Vorfahren hatten, wenn überhaupt, nur sehr wenige Werkzeuge, die es ihnen erlaubten, über große Entfernungen hinweg gezielt zu wirken – zugleich waren sie aber höchst selten dem Anblick von menschlichem Leid ausgesetzt, das außerhalb der Reichweite der vorhandenen Werkzeuge lag. Die moralischen Entscheidungen, vor denen unsere Vorfahren standen, blieben fast vollständig innerhalb der Grenzen der Unmittelbarkeit, also im Raum der persönlichen Begegnungen und Interaktionen von Angesicht zu Angesicht. Die Entscheidung zwischen Gut und Böse konnte deshalb in allen relevanten Situationen von

19 Løgstrup: After the Ethical Demand, aaO., S. 1 f.

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der »souveränen Daseinsäußerung« angeregt, beeinflusst und im Prinzip sogar kontrolliert werden. Heute jedoch ist das Schweigen der ethischen Forderung betäubend wie nie zuvor. Sie ruft »souveräne Daseinsäußerungen« hervor und lenkt diese im Verborgenen; während aber diese Äußerungen ihre Unmittelbarkeit bewahrt haben, sind die Objekte, die sie auslösen und hervorlocken, in weite Ferne gerückt: Sie haben den Raum der Nähe und der Unmittelbarkeit lang hinter sich gelassen. Zusätzlich zu dem, was wir in unserer unmittelbaren Umgebung mit bloßem Auge zu sehen vermögen, sind wir nun täglich dem »vermittelten« Wissen von Leid und Grausamkeiten in der Ferne ausgesetzt. Heute können wir alle in die Ferne sehen, aber haben nur wenige haben Zugang zu Mitteln, um dort aktiv zu werden. Während das Elend, das wir nicht nur sehen, sondern auch mildern und überwinden konnten, uns vor moralische Herausforderungen gestellt hat, denen die souveräne Daseinsäußerung gerecht werden konnte (wenn auch nur unter größten Anstrengungen), wird die Ungewissheit, die alle moralischen Entscheidungen begleitet, durch die zunehmende Kluft zwischen dem, was uns (indirekt) bewusst gemacht wird, und dem, was wir (direkt) beeinflussen können, bis zu einem Punkt gesteigert, an dem unser ethisches Rüstzeug versagt – vielleicht auch versagen muss. Es ist verlockend, vor dieser schmerzvollen, vielleicht unerträglichen Einsicht unserer Ohnmacht zu fliehen. Die Versuchung, etwas von »schwer zu handhaben« in »außerhalb unserer Möglichkeiten« umzudeuten, ist allgegenwärtig und nimmt immer mehr zu ... »Je mehr wir uns von unserer unmittelbaren Umgebung absondern, desto mehr sind wir auf die Überwachung dieser Umgebung angewiesen [...]. In vielen Städten der Welt dienen Häuser heute dem Schutz ihrer Bewohner und nicht ihrer Integration in die Gemeinschaft«,20 beobachten Gumpert und Drucker. »Während die Stadtbewohner ihren Kommunikationsbereich in den internationalen Raum ausdehnen, schotten sie zugleich ihre Häuser mittels zu-

20 Gary Gumpert/Susan Drucker: »The Mediated Home in a Global Village«, in: Communication Research 4 (1996), S. 422-438.

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nehmend ›intelligenter‹ Sicherheitsinfrastrukturen vom öffentlichen Leben ab«,21

kommentieren Graham und Marvin. »In fast allen Städten der Welt findet man mittlerweile Räume, die mit anderen ›wertvollen‹ Orten im urbanen Raum oder über nationale, internationale und sogar globale Entfernungen hinweg auf komplexe Weise vernetzt sind. Zugleich jedoch lässt sich in solchen Zonen häufig ein Gefühl der Entfremdung von Lokalitäten und Menschen ausmachen, die einander zwar räumlich nah, aber sozial und ökonomisch weit voneinander entfernt sind.«22

Ein Abfallprodukt dieser neuen, auf totaler Vernetzung beruhenden Exterritorialität privilegierter städtischer Bereiche, in denen die globale Elite zu Hause ist, sind von dieser Entwicklung abgekoppelte und sich selbst überlassene Räume – Michael Schwarzers »Geisterbezirke«, in denen »Alpträume an die Stelle von Träumen treten und Angst und Gewalt alltäglicher sind als irgendwo sonst.«23 Politische Nulltoleranz-Maßnahmen und die Verbannung der Obdachlosen von Orten, an denen sie zwar ihren Lebensunterhalt verdienen, aber auch in aufdringlicher und verstörender Weise auf sich aufmerksam machen können, in Sperrbezirke, in denen ihnen beides unmöglich ist, stellen bequeme Möglichkeiten dar, jene Kluft unüberwindbar zu machen und das Risiko von Durchlässigkeit und Kontamination dieser homogenen Bereiche zu minimieren. Manuel Castells hat als erster auf die zunehmende Polarisierung und den allmählichen Abbruch jeder Verständigung zwischen den Lebenswelten dieser beiden Arten von Großstadtbewohnern hingewiesen: »Der Raum der Oberschicht bietet in der Regel Zugang zur globalen Kommunikation und zu ausgedehnten Netzwerken, die für Nachrichten und Erfahrungen aus aller Welt offen sind. Am anderen Ende des Spektrums finden sich segmentierte, oft auf ethnischer Zugehörigkeit basierende lokale Netzwerke, in

21 Stephen Graham/Simon Marvin: Splintering Urbanism, London 2001, S. 285. 22 Graham/Marvin: Splintering Urbanism, aaO., S. 15. 23 Michael Schwarzer: »The Ghost Wards: The Flight of Capital From History«, in: Thresholds 16 (1998), S. 10-19.

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denen Gruppenidentität die wertvollste Ressource zur Verteidigung von Eigeninteressen – und letztlich sogar des Daseins – ist.«24

In dieser Beschreibung werden zwei grundverschiedene, streng voneinander getrennte Lebenswelten einander gegenüber gestellt. Nur die zweite ist räumlich begrenzt und kann in herkömmlichen geographischen, konkreten und praktischen Begriffen erfasst werden. Die Bewohner der ersten Lebenswelt mögen zwar wie die übrigen an einem Ort sein, aber sie sind ihm nicht wirklich zugehörig – sicher nicht in ihrem Denken, aber auch körperlich hält sie nichts, wenn sie es nicht wollen, und oft wollen sie tatsächlich keine solche Bindung. Die Angehörigen der Oberschicht gehören den Orten, die sie bewohnen, nicht wirklich an, weil ihre Interessen anderswo liegen (oder vielmehr schweben). Es ist unwahrscheinlich, dass sie ein persönliches Interesse an der Stadt haben, in der sie leben, ein Interesse, das über den Wunsch hinausgeht, in Ruhe gelassen zu werden, um sich ganz ihren Freizeitaktivitäten hingeben zu können, und die Garantie, dass bestimmte Dienstleistungen, die für den täglichen Komfort (was auch immer man darunter verstehen mag) unentbehrlich sind, zur Verfügung stehen. Die Stadtbevölkerung ist nicht mehr – wie es einst der Fall war – für Fabrikbesitzer und Händler von Gütern und Ideen ein Bereich zum ›»Abgrasen« der Klientel des städtischen Raums, sie ist keine Quelle ihres Wohlstands und auch keine Gemeinschaft von Schutzbefohlenen, für die diese Angehörigen der Oberschicht Sorge und Verantwortung tragen. Darum stehen sie den Angelegenheiten »ihrer« Stadt gleichgültig gegenüber, denn sie ist nur ein Ort unter vielen anderen Orten, die aus der Perspektive des Cyberspace, ihrer eigentlichen, wenn auch virtuellen Heimstätte, alle gleichermaßen klein und unbedeutend wirken. Die Lebenswelt der Unterschicht ist das genaue Gegenteil davon. Sie wird vor allem dadurch bestimmt, dass sie von dem globalen Kommunikationsnetzwerk abgeschnitten ist, durch das die Angehörigen der Oberschicht miteinander in Verbindung stehen und auf das ihr Leben eingestimmt ist. Die Angehörigen der Unterschicht sind »zur Ortsgebundenheit verdammt« – deshalb kann und muss man davon ausgehen, dass ihre Aufmerksamkeit, ihre Träume und Sorgen sich ganz auf »lokale Probleme« richten werden. Für sie wird der Kampf ums Überle-

24 Manuel Castells: The Informational City, Oxford 1989, S. 228.

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ben und um eine anständige Stellung in der Welt innerhalb der Stadt, in der sie leben, geführt und manchmal gewonnen, aber meistens verloren. Bei dieser Kappung aller Verbindungen von der neuen Elite zum lokalen populus und bei der zunehmenden Kluft zwischen den Lebenswelten derer, die sich entzogen haben, und jener, die auf der Strecke blieben, handelt es sich um den wahrscheinlich fundamentalsten gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Umbruch, der mit dem Übergang von der »festen« zur »flüchtigen« Phase der Moderne verbunden ist. Das eben skizzierte Bild zeigt uns die Wahrheit und nur die Wahrheit – nicht aber die ganze Wahrheit. Gerade jener Aspekt, der für das zentrale (und langfristig vermutlich folgenreichste) Merkmal zeitgenössischen Stadtlebens am wichtigsten ist, wird ausgelassen oder heruntergespielt. Gemeint ist das enge Zusammenspiel von Globalisierungsdruck und der Art und Weise, wie ortsbasierte Identitäten ausgehandelt, geprägt und umgeformt werden. Es wäre ein schwerwiegender Fehler, aufgrund dieses »Ausstiegs« der Oberschicht die »globalen« und die »lokalen« Aspekte der gegenwärtigen Lebensverhältnisse und lebenspolitischen Maßnahmen jeweils in zwei getrennten und nur gelegentlich an den Rändern miteinander kommunizierenden Sphären zu verorten. In einer kürzlich veröffentlichen Untersuchung wendet sich Michael Peter Smith gegen die (seiner Meinung nach unter anderem von David Harvey und John Friedman vertretene) Gegenüberstellung »einer dynamischen, aber ortsunabhängigen Logik globaler ökonomischer Ströme« und eines »statischen Bilds von Örtlichkeit und lokaler Kultur«, das dann zum Ort des »In-der-Welt-Seins« »aufgewertet« wird.25 Für ihn kommt in Orten keineswegs eine »statische Ontologie des ›Seins‹ oder der ›Gemeinschaft‹« zum Ausdruck; es handelt sich vielmehr um »im Entstehen begriffene« dynamische Konstruktionen.

25 Michael Peter Smith: Transnational Urbanism. Locating Globalization, Oxford, S. 54-55. Vgl. außerdem John Friedman: »Where we stand: a decade of world city research«, in: P.L. Knox/P.J. Taylor (Hg.): World Cities in a World System, Cambridge 1995; David Harvey: »From space to place and back again: reflections on the condition of postmodernity«, in: J. Bird (Hg.): Mapping the Futures, London 1993, S. 3-29.

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In der Tat ist es nur in der ätherischen Sphäre der Theorie möglich, den abstrakten, »irgendwo im Nirgendwo« schwebenden Raum der globalen Akteure klar von dem greifbaren, ganz im Hier und Jetzt verorteten Zuhause der »Einheimischen« abzugrenzen und die verworrenen und ineinander verflochtenen Inhalte jener beiden Lebenswelten auseinander zu dividieren, abzuheften und, um jedes Durcheinander zu vermeiden, gewissermaßen in getrennten Fächern zu archivieren. Die Realität der Großstadt macht fein säuberliche Unterscheidungen dieser Art schnell zunichte. Elegante Theorien des urbanen Lebens und die scharfen Kontraste, auf denen sie beruhen, mögen ihren Erfindern große intellektuelle Befriedigung verschaffen, aber für Stadtplaner halten sie kaum praktische Hinweise bereit, und noch weniger eignen sie sich als Hilfestellung für Stadtbewohner in ihrem Kampf mit den Herausforderungen der Metropolen. Die Mächte, welche die Bedingungen unseres Handelns heute bestimmen, schweben im globalen Raum, während unsere politischen Institutionen im wesentlich immer noch ortsgebunden sind. Sie sind, wie auch vorher, lokal verortet. Diese Beschränkung urbaner politischer Institutionen auf lokale Fragen hat zum einen zur Folge, dass die Institutionen dort, wo das Schauspiel der Politik tatsächlich stattfindet, so gut wie keine und erst recht keine souveränen und effektiven Handlungsmöglichkeiten haben, und zum andern, dass es auf jener Spielwiese der wahren Machthaber, dem exterritorialen Cyberspace, an Politik mangelt. Im Rahmen der Globalisierung konzentriert sich die Politik im Bewusstsein der eigenen Möglichkeiten immer vehementer auf das Lokale. Ohne Zugang zum Cyberspace oder aus ihm vertrieben, begnügt sie sich zunehmend mit Angelegenheiten »innerhalb ihrer Reichweite«, also mit lokalen Themen und Nachbarschaftsbeziehungen. Meist scheinen uns solche Probleme die einzigen zu sein, bei denen wir etwas tun können – die wir beeinflussen, lösen, verbessern oder zumindest in neue Bahnen lenken können. Nur hier macht es einen Unterschied, ob wir eingreifen oder nicht, denn bei anderen Angelegenheiten, die wir als überregional erkennen, scheint es »keine alternativen Verlaufsmöglichkeiten« zu geben (oder zumindest werden Politiker und andere »Experten« nicht müde, uns das zu erzählen). Angesichts der völlig unzureichenden Mittel und Ressourcen, die uns zur Verfügung stehen, entsteht der Eindruck, dass die Dinge ohnehin ihren

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Lauf nehmen werden und dass unsere Handlungen und klugen Pläne nichts daran ändern können. Selbst Probleme, deren schwer zu durchschauende Quellen und Ursachen in weiter Ferne und auf der globalen Ebene zu verorten sind, werden nur aufgrund ihrer lokalen Auswirkungen zum Gegenstand politischer Auseinandersetzung. Die weltweite Luft- und Wasserverschmutzung wird erst dann zu einem politischen Problem, wenn ein Abladeplatz für Giftmüll in unserer unmittelbaren Nachbarschaft entsteht und dadurch zugleich beängstigend nahe und ermutigend greifbar wird. Die zunehmende Kommerzialisierung des Gesundheitswesens – offensichtlich eine Folge der ungezügelten Profitgier supranationaler Pharmakonzerne – wird erst dann zu einer politischen Angelegenheit, wenn ein örtliches Krankenhaus weniger Leistungen bietet oder die Altersheime und psychiatrischen Kliniken vor Ort nach und nach geschlossen werden. Die Bewohner von New York mussten selbst mit den Verwüstungen des weltweiten Terrorismus zurecht kommen, und ebenso ging es den Stadträten und Bürgermeistern anderer Städte, die für den Schutz von Individuen Verantwortung übernehmen mussten, deren Sicherheit nun von Kräften bedroht schien, die sich weit jenseits der Reichweite einer Stadtbehörde verschanzt hatten. Auch die weltweite Vernichtung von Lebensgrundlagen und die Entwurzelung von Bevölkerungsgruppen erscheinen erst durch farbenfrohe »Wirtschaftsflüchtlinge« in den vormals so eintönige Straßen am politischen Horizont ... Kurz gesagt: Städte sind zu Abladeplätzen für global verursachte Probleme geworden. Die Stadtbewohner und ihre gewählten Vertreter sehen sich zunehmend mit einer Aufgabe konfrontiert, die sie beim besten Willen nicht lösen können: lokale Antworten auf globale Fragen zu finden. Das erklärt auch jenes von Castells beobachtete Paradox »einer zunehmend lokalen Politik in einer immer stärker von globalen Prozessen strukturieren Welt«. Unsere Zeit ist geprägt von »ständigen Sinn- und Identitätsproduktion: meine Nachbarschaft, meine Gemeinschaft, meine Stadt, meine Schule, mein Baum, mein Fluss, mein Stück Strand, meine Kirche, mein Frieden, meine Umwelt«. »Dem globalen Wirbelwind schutzlos ausgeliefert, halten sich die Menschen an sich selbst.«26 Und je mehr sie sich »an sich selbst halten«, desto

26 Manuel Castells: The Power of Identity, Oxford 1997, S. 61, 25.

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mehr sind sie ausgeliefert und desto weniger sind sie in der Lage, ortsspezifische und damit vermeintlich eigene Sinnzuschreibungen und Identitäten zu entwickeln und für sich zu behalten – was ganz im Sinne der globalen Akteure ist, die keinen Grund haben, diese schutzlosen Menschen zu fürchten. Wie Castells an anderer Stelle andeutet, führt das Entstehen eines »Raums der Ströme« zu einer neuen (globalen) Hierarchie der »Beherrschung durch die Androhung des Rückzugs«. Dieser Raum kann sich »jeder lokalen Kontrolle entziehen« – wohingegen »der Raum der Orte fragmentiert und ortsgebunden ist, weshalb er jenen vielseitigen Raum der Ströme zunehmend machtlos gegenübersteht. Die einzige Möglichkeit, Widerstand zu leisten, besteht darin, diesen alles überflutenden Strömen keine Häfen zu bauen, – aber dann wird der nächste Ort einspringen, mit der Folge, dass rebellische Gemeinden übergangen und marginalisiert werden.«27 Die lokale und insbesondere die urbane Politik ist hoffnungslos überfordert – weit über das hinaus, was sie bewältigen oder leisten kann. Sie soll die Folgen einer außer Kontrolle geratenen Globalisierung abmildern und das mit Mitteln und Ressourcen, die aufgrund eben dieser Globalisierung erbärmlich unzureichend sind. Trotz der rasch voranschreitenden Globalisierung gibt es keine wirklich globalen Akteure. Auch wenn die Mitglieder unserer GlobetrotterElite über weltweiten Einfluss verfügen, kann das höchstens zu einer Erweiterung ihres Bewegungsradius führen. Wenn die Dinge brenzlig werden und sich die Umgebung ihrer Stadtresidenzen als zu gefährlich und unkontrollierbar erweist, können diese globalen Akteure wegziehen. Damit steht ihnen eine Möglichkeit offen, die ihren (räumlich) nächsten Nachbarn verwehrt ist. Die Option, Unannehmlichkeiten vor Ort aus dem Weg zu gehen, verschafft ihnen einen Grad an Unabhängigkeit, von dem andere Stadtbewohner nur träumen können; den Luxus vornehmer Gleichgültigkeit können andere sich nicht leisten. Tendenziell ist ihr Einsatz für städtische Angelegenheiten weit weniger umfassend und vorbehaltlos als das Enga-

27 Manuel Castells: »Grassrooting the Space of Flows«, in: J. O. Wheeler, Y. Aoyama, B. Warf (Hg.): Cities in the Telecommunications Age: The Fracturing of Geographies, London 2000, S. 20f.

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gement derjenigen, die weniger Möglichkeiten haben, ihre lokalen Bindungen unilateral zu kappen. All das bedeutet jedoch nicht, dass die Mitglieder der global vernetzten Elite auf ihrer Suche nach »Sinn und Identität« – die sie genauso dringend brauchen und ersehnen wie alle anderen – den Ort, an dem sie leben und arbeiten, außer Acht lassen können. Wie alle anderen Menschen sind sie Teil der Stadtlandschaft, in die sich ihre Aktivitäten nolens volens einschreiben. Im virtuellen Raum mögen sie als globale Akteure umherschweifen, aber als handelnde Menschen sind sie tagein, tagaus an den physischen Raum gebunden, in dem sie operieren, und an eine Umwelt, die zugleich vorgegeben ist und im Zuge der menschlichen Sinn- und Identitätssuche ständig neu verarbeitet und definiert wird. Erfahrungen können Menschen nur an Orten machen und sammeln; dort teilen sie ihr Leben miteinander und versuchen, ihm einen Sinn zu geben, der wiederum weiterentwickelt, absorbiert und ausgehandelt werden muss. Orte sind Geburtsstätte und Gegenstand von menschlichem Sehnen und von Wünschen, auf deren Befriedigung wir unser Leben lang hoffen und deren Enttäuschung wir riskieren und allzu oft auch hinnehmen müssen. Die Städte der Gegenwart sind Schlachtfelder, auf denen globale Mächte und zähe lokale Bedeutungszuweisungen und Identitäten aufeinandertreffen, zusammenprallen, miteinander ringen und einen befriedigenden oder zumindest erträglichen Ausgleich suchen – eine Möglichkeit zu koexistieren, von der man sich dauerhaften Frieden erhofft, die sich aber in der Regel als bloßer Waffenstillstand erweist, als Zwischenkriegszeit, in der beschädigte Verteidigungsanlagen repariert und neue Kampfeinheiten aufgestellt werden. Die Entwicklungen in den Städten der »flüchtigen Moderne« werden nicht durch einen Einzelfaktor in Gang gesetzt und gelenkt, sondern durch diese Konfrontation. Und eins sollte klar sein: Jede Stadt ist von dieser Entwicklung betroffen, wenn auch nicht im selben Maße. Michael Peter Smith berichtet, wie er kürzlich bei seinem Aufenthalt in Kopenhagen innerhalb einer einzigen Stunde »an kleinen Gruppen von Immigranten aus der Türkei, Afrika und dem Nahen Osten« vorbeigekommen sei, sowie »mehrere verschleierte und unverschleierte arabische Frauen« gesehen, »Schilder in verschiedenen nichteuropäischen Sprachen« gelesen und »ein interessantes Gespräch mit einem irischen Barkeeper in ei-

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nem englischen Pub gegenüber vom Tivoli« geführt habe.28 Diese Felderfahrungen, so Smith weiter, hätten sich als nützlich erwiesen, als er, ebenfalls in Kopenhagen, einige Tage später einen Vortrag über transnationale Verbindungen gehalten habe und »ein Zuhörer behauptete, Transnationalismus sei ein Phänomen, das auf Städte wie New York und London zutreffen möge, jedoch für eher abgeschottete Orte wie Kopenhagen wenig Relevanz besitze.« Die jüngere Vergangenheit amerikanischer Städte ist voller Kehrtwenden – aber die Sorge um Sicherheit bleibt stets allgegenwärtig. So erfahren wir etwa in einer Studie von John Hannigan,29 dass die Bewohner US-amerikanischer Großstädte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts plötzlich eine panische Angst vor angeblich in den dunklen Winkeln der Innenstädte lauernder Kriminalität entwickelten, was zu einer Flucht der weißen Bevölkerung aus den Stadtzentren führte. Nur wenige Jahre zuvor waren diese Innenstädte Anziehungspunkte für enorme Menschenmengen geworden, die in den Zentren der Metropolen all jene Massenvergnügungen genießen wollten, die ihnen weniger dicht besiedelte Gegenden nicht bieten konnten. Ob nun diese Furcht vor Kriminellen wohlbegründet war oder ob es sich bei der plötzlichen Überhandnahme von Kriminalität um ein Produkt überhitzter Einbildungskraft handelte, sei dahingestellt; jedenfalls kam es zu ausgestorbenen Innenstädten, »schwindenden Zahlen von Vergnügungssuchenden und dem zunehmende Eindruck, dass Städte gefährlich sind«. So schrieb etwa 1989 ein anderer Autor über Detroit, die Straßen seien »nach Sonnenuntergang so leergefegt, dass man sich in einer Geisterstadt wähnt – wie es auch in Washington, D.C., der Hauptstadt, der Fall ist«.30 Hannigan stellte fest, dass sich dieser Trend gegen Ende des Jahrhunderts umkehrte. Nach vielen mageren Jahren, in denen die furchtsame Warnung »Bleib abends besser zuhause!« zu einer »Verödung« der Städte führte, kämpften Stadträte und Aktivisten gemeinsam darum, dass Innenstädte wieder Spaß machten und Vergnügungssuchende anzogen; und so kehrte »die Unterhaltungsindustrie in die Stadtzen-

28 Smith: Transnational Urbanism, aaO., S. 108, Fußnote 19. 29 John Hannigan: Fantasy City, London 1998. 30 B. J. Widick: Detroit: City of Race and Class Violence, Detroit 1989, S. 210.

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tren zurück« und ebenso die Tagesbesucher von außerhalb, in der Erwartung, dort »Aufregung, Sicherheit und etwas, was die Vorstädte ihnen nicht bieten konnten«, zu finden.31 Solche abrupten, hysterischen Kehrtwenden in der Geschichte der Städte in den USA sind vielleicht andernorts weniger ausgeprägt und häufig, dort, wo die stets unterschwellig vorhandenen Unsicherheiten und chaotischen Zustände nicht oder in geringerem Maße von ethnisch basierten Konflikten und Vorurteilen genährt werden als in US-amerikanischen Städten mit ihren schwelenden und zuweilen explodierenden ethnischen Feindschaften und Konkurrenzen. Aber auch die jüngere Geschichte vieler oder sogar der meisten europäischen Metropolen ist, wenngleich weniger ausgeprägt, von jener Ambivalenz von Anziehung und Abstoßung geprägt, dem Wechselbad von Liebe und Hass zum Großstadtleben. Stadt und gesellschaftlicher Wandel sind fast bedeutungsgleich. Veränderung ist das Wesen der urbanen Lebensweise. Um sie zu erklären, kann und sollte man auf Städte verweisen, und umgekehrt. Aber warum ist das so? Warum kann es nicht anders sein? Städte werden oft als Orte definiert, an denen Fremde aufeinander treffen, in nächster Nähe leben und über einen langen Zeitraum hinweg interagieren können, ohne ihre Fremdheit zu verlieren. Jane Jacobs hebt im Zusammenhang mit der Rolle, die Städte für die wirtschaftliche Entwicklung spielen, hervor, dass die schiere Dichte menschlicher Interaktionen bereits die wichtigste Ursache der charakteristischen urbanen Ruhelosigkeit darstellt.32 Stadtbewohner sind nicht unbedingt klüger als andere Menschen – weil aber so viele von ihnen auf so engem Raum zusammenwohnen, kommt es zu einer Konzentration von Bedürfnissen, und das wiederum führt dazu, dass Fragen aufgeworfen werden, die sich an anderen Orten nicht stellen, und dass Probleme entstehen, mit denen Menschen unter anderen Bedingungen nicht konfrontiert werden. Die Herausforderung, die dieser Umstand für die Erfindungsgabe darstellt, kann sie zu ungeahnten Höchstleistungen anregen. Das kann für die Bewohner von beschaulicheren Regionen, in denen weniger Chancen geboten sind, verlockend sein, und darum zieht das Großstadtleben immer neue Menschen an. Solche Neuan-

31 Hannigan: Fantasy City, aaO., S. 43, 51. 32 Vgl. Steve Proffitts Interview in: Los Angeles Times, 12. Oktober 1997.

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kömmlinge verfügen typischerweise »über eine frische Perspektive und bringen neue Lösungsansätze für alte Probleme« mit sich. Die jeweilige Stadt ist ihnen fremd, und Umstände, die von alteingesessenen Bewohnern nicht mehr wirklich wahrgenommen werden, weil sie so vertraut damit sind, können aus der Perspektive eines Fremden seltsam und erklärungsbedürftig erscheinen. Vor allem, wenn sie neu sind, erleben Fremde nichts in der Stadt als »natürlich« und nehmen nichts als selbstverständlich hin. Sie sind die Erzfeinde der Beschaulichkeit und der Selbstzufriedenheit. Obwohl ortsansässige Menschen über diesen Umstand nicht immer allzu begeistert sind, gereicht er ihnen letztendlich zum Vorteil. Vielleicht der großartigste und bereicherndste Aspekt des Großstadtlebens hängt mit den Möglichkeiten zusammen, die sich auftun, wenn bereits etablierte Mittel und Wege in Frage gestellt und gewissermaßen ins Kreuzverhör genommen werden. Michael Storper, ein Wirtschaftswissenschaftler, Geograph und Stadtplaner,33 führt die Energie und Kreativität, die dicht bevölkerten Städten typischerweise eigen ist, auf die Unsicherheit zurück, die aus den lose koordinierten und ewig wechselnden Beziehungen zwischen den Elementen komplexer Organisationen, zwischen Individuen sowie zwischen Individuen und Organisationen resultiert – und bei einer gewissen Bevölkerungsdichte und Enge der Wohnverhältnisse unumgänglich ist. Fremde sind keine Erfindung unserer Zeit – Fremde, die über einen langen Zeitraum hinweg und vielleicht sogar für immer fremd bleiben, hingegen schon. Vor der Moderne konnte niemand in einer typischen Stadt oder einem Dorf lange fremd bleiben. Manche Menschen wurden fortgejagt oder erst gar nicht durch die Stadttore gelassen, aber mit jenen, die hinzukommen und länger verweilen wollten und durften, machte man sich im Allgemeinen »vertraut« – sie wurden ausfragt und rasch »domestiziert« –, so dass sie ebenso wie andere Bewohner, nämlich auf eine persönliche Weise, in das Beziehungsnetzwerk aufgenommen werden konnten. Daraus ergaben sich bestimmte Konsequenzen, die sich deutlich von dem unterscheiden, was uns aus den überfüllten Städten der Gegenwart bekannt ist.

33 Michael Storper: The Regional World: Territorial Development in a Global Economy, New York 1997, S. 235.

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Was auch immer Städten in ihrer Geschichte widerfährt und so drastisch sich ihre räumliche Struktur, ihr Erscheinungsbild und ihr Stil im Laufe der Jahre und Jahrhunderte auch verändern mögen, ein Merkmal bleibt konstant: Städte sind Orte, an denen Fremde bleiben und sich bewegen, und das in unmittelbarer Nähe zueinander. Als fester Bestandteil des urbanen Daseins trägt die permanente und allgegenwärtige Präsenz von Fremden in Sicht- und Reichweite dazu bei, dass ein erhebliches Maß an ständiger Unsicherheit das Leben sämtlicher Stadtbewohner begleitet. Diese Präsenz, der man sich nicht für länger als einen kurzen Moment entziehen kann, ist eine nie versiegende Quelle der Angst und einer Aggression, die meist unter der Oberfläche schlummert, die jedoch immer wieder hervorbrechen kann. Jene stets unterschwellig vorhandene Furcht vor dem Unbekannten sucht verzweifelt nach geeigneten Ventilen. Aufgestaute Ängste entladen sich meist an einer bestimmten fremden Gruppe, die zum Inbegriff der »Fremdartigkeit« gemacht wird: Ihre Mitglieder verkörpern die Unvertrautheit und Undurchsichtigkeit der Lebenssituationen, die Vagheit der Risiken und Bedrohungen. Wenn die Einheimischen dann diese »Fremden« aus ihren Häusern und Geschäften verjagen, handelt es sich dabei um eine temporäre Austreibung des Schreckgespenstes der Ungewissheit; stellvertretend für jenes gefürchtete Monster verbrennen sie sein Abbild. Indem man sich vor »Asylbetrügern« und »Wirtschaftsflüchtlingen« verbarrikadiert, versucht man einer bereits schwankenden, unsteten und unvorhersehbaren Existenz Festigkeit zu verleihen. Was immer man den »unerwünschten« Fremden antut, kann aber nichts daran ändern, dass in der flüchtigen Moderne das Leben immer unberechenbar und launenhaft bleibt, und so ist die Erleichterung meist von kurzer Dauer, und die Hoffnungen, die man an die »harten und entschlossenen Maßnahmen« geknüpft hatte, werden ebenso schnell zunichte gemacht, wie sie geweckt wurden. Per definitionem ist der Fremde ein Mensch, über dessen handlungsleitende Motivationen wir höchstens spekulieren, ohne sie je wirklich kennen zu können. Immer, wenn über zukünftiges Verhalten und Vorgehen nachgedacht wird, ist der Fremde in allen Gleichungen die unbekannte Größe. Seine Gegenwart löst, selbst wenn er nicht zur Zielscheibe unverhohlener Aggressionen oder aktiver Ressentiments wird, Unbehagen aus, weil es fast unmöglich ist, den Erfolg und die Auswirkungen von Maßnahmen vorauszusagen.

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Stadtbewohner können sich nur schwer oder gar nicht der Erfahrung entziehen, ihren Lebensraum mit Fremden zu teilen, deren Nähe sie weder gesucht haben noch verdrängen können. Diese Nähe erfordert, einen modus vivendi entwerfen, austesten und immer wieder anpassen zu müssen, bis (hoffentlich) ein Weg gefunden wird, das Zusammenleben angenehm oder zumindest erträglich zu gestalten. Diese Notwendigkeit ist ein unabweisbares Faktum, wie man aber damit umgeht, können die Stadtbewohner täglich selbst bestimmen, indem sie aktiv werden oder passiv bleiben, ihre Routine beibehalten oder Neues wagen. […] Städte dienen heute als Mülldeponien für die ungeschlachten und deformierten Produkte der modernen Gesellschaft (und tragen zugleich selbst zur Anhäufung dieser Produkte bei). Auch wenn Architekten, Bürgermeister und Stadtberater mit noch so viel Kreativität an die Probleme herangehen, kann man den systemischen Widersprüche und Fehlfunktionen nicht mit Ansätzen gerecht werden, die in erster Linie oder sogar ausschließlich die Städte in den Blick nehmen. Probleme müssen dort angegangen werden, wo sie entstehen. Angesichts der riesigen Territorien, die den Schwierigkeiten, unter denen die Städte leiden, als Brutstätte dienen, versagen jedoch selbst Werkzeuge, die noch den größten Ballungsgebieten vollkommen angemessen sind. Sogar souveräne Nationalstaaten, die den größten und komfortabelsten Rahmen für jene demokratischen Verfahren bieten, welche die Moderne erfunden und umgesetzt hat, verfügen nicht über die notwendige Reichweite. Es geht hier in zunehmendem Maße um globale Räume, und bisher ist es uns nicht gelungen, Mittel demokratischer Kontrolle auszuarbeiten oder gar einzusetzen, die den Kräften, welche wir kontrollieren wollen, an Größe und Macht gewachsen wären. Zweifellos handelt es sich hierbei um eine langwierige Aufgabe, die sehr viel mehr Verstand und Ausdauer erfordert als eine Reformierung der Stadtgestaltung oder der architektonischen Ästhetik. Das bedeutet aber nicht, dass keine Anstrengungen unternommen werden sollten, solche Reformen durchzuführen, bis die Wurzeln des Übels in Angriff genommen und diese gefährlich ungezügelten Globalisierungstrends unter Kontrolle gebracht wurden. Im Gegenteil, denn Städte sind nicht nur Deponien global verursachte Ängste und Sorgen,

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sondern zugleich ein Experimentierfeld, auf dem Mittel und Wege erprobt werden können, um diese Unsicherheiten zu mildern und zu zerstreuen. Während sich auf globaler Ebene feindliche Nationen und Kulturen zum Teil als militärische Gegner gegenüberstehen, treffen in der Stadt individuelle Menschen aufeinander, sehen einander aus nächster Nähe, kommen ins Gespräch, lernen die Lebensweise des jeweils anderen kennen, handeln die Regeln ihres Zusammenlebens aus, kooperieren, gewöhnen sich früher oder später an die Gegenwart des anderen und lernen allmählich, seine Gesellschaft zu schätzen. Manchmal gehen Fremde, die ein solches – zugegebenermaßen ortsspezifisches – Training durchlaufen haben, im Anschluss mit sehr viel weniger Anspannung und Besorgnis an globale Fragen heran, weil sie erlebt haben, dass die Unvereinbarkeit von Kulturen letztendlich vielleicht überschätzt wird, dass Feindschaften nicht so unüberwindlich sind wie zunächst angenommen und dass Säbelrasseln nicht die einzige Strategie zur Lösung von Konflikten darstellt. In den Straßen der Städte erscheint ein Bemühen um Gadamers Verschmelzung der Horizonte weit weniger unrealistisch, wenngleich dieses Projekt nicht immer erfolgreich ist. Es wird eine gewisse Zeit dauern, bis wir mit der neuen globalen Situation umgehen und ihr wirkungsvoll entgegentreten können – wie jede Transformation des Menschseins, die einen grundlegenden Wendepunkt darstellte, Zeit gebraucht hat. Bei solchen Transformationen ist es unmöglich, der Geschichte vorzugreifen, sie vorauszusagen oder gar zu planen, welchen Weg sie gehen und was sich daraus ergeben wird (und man sollte es auch nicht versuchen). Sicher aber ist, dass es zu einer Konfrontation mit dem neuen Globalismus kommen wird. Dieser Prozess wird wahrscheinlich die Geschichte unseres Jahrhunderts, das gerade erst begonnen hat, in erheblichem Maße begleiten und bestimmen. Das kommende Drama wird in beiden Räumen zur Aufführung gebracht und in Szene gesetzt werden – im lokalen Rahmen und auf der Weltbühne. Die Schlussakte beider Stücke hängen untrennbar zusammen, und die Frage, ob sich die Menschen vor und hinter den Kulissen dieser Verknüpfung bewusst sind und in welchem Maße sie ihre Fähigkeiten und ihr Engagement in den Erfolg der jeweils anderen Aufführung investieren, wird von entscheidender Bedeutung sein.

Ist Nachbarschaft planbar? Zur Geschichte eines Schlüsselkonzepts in Sozialreform, Stadtplanung und Stadtsoziologie J ENS W IETSCHORKE

1. E INLEITUNG : N ACHBARSCHAFT ZWISCHEN RÄUMLICHER UND SOZIALER N ÄHE Nachbarschaft ist ein relationaler Begriff, der seine geläufige Bedeutung aus der Verknüpfung zweier Momente gewinnt: der räumlichen Nähe von Wohnstätten im etymologischen Wortsinne von »nachgebure«1 und der Vorstellung von mehr oder weniger intensiven sozialen Nahbeziehungen im unmittelbaren Wohnumfeld. In diesem Sinne wird Nachbarschaft meist verstanden als »eine soziale Gruppe, deren Mitglieder primär wegen der Gemeinsamkeit des Wohnortes miteinander interagieren«.2 Festzuhalten ist zunächst die klare Beschränkung dieses Begriffs auf konkrete räumliche Zusammenhänge, die man schon an seiner seltenen metaphorischen Verwendung ablesen kann: Während man z.B. sehr wohl von »geistiger Verwandtschaft« spricht, ist die

1

Der Nachbar als »nachgebure« ist schlicht und einfach der »Nahewohnende«. Vgl. Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, erarbeitet unter der Leitung v. Wolfgang Pfeifer, Berlin 1993, S. 906.

2

Bernd Hamm: Betrifft: Nachbarschaft. Verständigung über Inhalt und Gebrauch eines vieldeutigen Begriffs, Düsseldorf 1973, S. 18.

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Wendung »geistige Nachbarschaft« im Deutschen ungebräuchlich. So ist Nachbarschaft »nicht denkbar ohne ein naturales Element – die physische Nähe«. Aber »sie verliert wesentlich an Bedeutung, wenn sie nicht gleichzeitig durch funktionale Beziehungen bestätigt wird«.3 Die Wiener Architekten und Stadtforscher Marcus und Rüdiger Krenn, Mitglieder des eingetragenen Vereins »Urban Zapping«, haben die Spannung zwischen den beiden Bedeutungselementen von Nachbarschaft – der räumlichen und der sozialen Nähe – im Jahr 2004 zum Gegenstand eines bemerkenswerten Videoprojekts gemacht. Sie zeichneten in die Stadtpläne von Halle/Saale und Wien gerade Linien ein, die sie dann mit einer Videokamera abschritten. »Ist ein Gebäude im Weg, filmt man bis zur Wand. Im Gebäude geht es dann auf der Linie weiter, von einem Gebäude zum nächsten«.4 Auf diese Weise entstanden Videofilme, die das städtische Leben in seinem unmittelbaren räumlichen Nebeneinander abbilden. Im Wiener Lagebericht heißt es über das »Durchfilmen« des 2. Gemeindebezirks: »An der Ferdinandstrasse liegt das Elektrogeschäft E K. Durch einen Flur kommt man zur Hinterhofwohnung, dem Atelier C T. T malt Ölgemälde nach Fotografien von Bettina Rheims, er wohnt im Atelier, hat oben auf der Galerie sein Bett stehen und malt unten bei offenem Fenster. Durch den Hof geht es in die Wohnung von Herrn T, der gemütlich sein Wurstbrot verzehrt. Wand. Eine Dreier WG, es wird Englisch gesprochen, nach ca. 10 Minuten dann deutsch. Es sind Deutsche, zwei sind anwesend, ein Student, der sich in eine Engländerin verliebt hat, und ein Schriftsteller, der im Wettbüro arbeitet. Drei Wände. Der Hauswart danach hat zwei Töchter, die eine setzt sich nur gegen eine Belohnung auf die Couch. Wand. Großer Innenhof. Wand. Wohnung von Herrn A P dessen Wägelchen neben dem Haus steht. Er hat ein künstliches Bein und fährt deshalb mit dem Wägelchen durch die Stadt«.5

3

Werner Ziegenfuß (Hg.): Handbuch der Soziologie, Stuttgart 1956, zit. nach: Marcus Krenn/Rüdiger Krenn, »Über die Befindlichkeit einer Großstadt unter dem Aspekt des Durchfilmens«, in: Manfred Schrenk (Hg.): Proceedings of 10th International Conference on Information & Communication Technologies (ICT) in Urban Planning and Spatial Development and Impacts of ICT on Physical Space, Wien 2005, S. 541-545, hier: S. 545.

4

Krenn/Krenn: »Über die Befindlichkeit einer Großstadt«, aaO., S. 541.

5

Krenn /Krenn: »Über die Befindlichkeit einer Großstadt«, aaO., S. 544.

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Von den praktischen Schwierigkeiten dieses Vorhabens zeugt eine andere Passage, in der über das filmische Durchqueren eines Wiener Sozialbaus berichtet wird: »Frau F versteht nicht ganz, was wir wollen, und lässt uns rein, doch ihre Wohnung möchte sie nicht gefilmt haben. Guter filmischer Übergang zum jungen Liebespärchen S und S. Wand. Herr G. hat einen Gipsfuß. Seine Frau schläft gerade noch, wir mögen in einer Stunde wiederkommen; er möchte nicht mit aufs Bild. Wand. F G spricht nur türkisch. M ruft C T seinen türkischen Arbeitskollegen an und übergibt das Telefon an Frau G, sie wird überzeugt. Flur. Musiksolistin. Wand«.6

Was Marcus und Rüdiger Krenn mit ihrem originellen Schnitt durch den Stadtkörper anstreben, ist nicht nur eine »gesellschaftliche Momentaufnahme«,7 sondern auch eine neue Form der Reflexion über Nachbarschaft. Die Wand als Element der räumlichen Trennung wird in den Videosequenzen in ihrer Logik umgekehrt und zum verbindenden Element, das auf die räumliche Nähe der Nachbarn verweist. Zugleich wird das »Durchfilmen« zu einem Experiment, das die Nachbarn – im Sprechen über das Projekt, im gemeinsamen KonfrontiertSein mit der neuartigen Kulturtechnik des »Durchfilmens« – zusammenbringen soll. Am Ende des Projektberichts formulieren die Autoren denn auch einen Vorschlag, wie die sozialen Beziehungen der Nachbarn untereinander weiter intensiviert werden könnten: »Öffnen der Wände mit kleinen Fenstern schafft eine direkte Verbindung zum Nachbarn. Empfehlenswert anzubringen in den Aufenthaltszonen oder Fluren in einer Höhe von Nabel bis zum Kopf. Fördert die Kommunikation und die Anzahl der flüchtigen Begegnungen mit dem direkten Nachbarn. Dabei kann man das Fenster kurzerhand mit einem roten Vorhang versehen auch für Puppentheater nutzen. Auf beiden Seiten sollten Rollos angebracht sein, so dass man sich dem Einblick auch entziehen kann«.8

Diese Empfehlung zur »Förderung der Nachbarschaft« ist zwar erkennbar wenig ernst gemeint, macht aber die Problematik des Nach-

6

Ebd.

7

Krenn/Krenn: »Über die Befindlichkeit einer Großstadt«, aaO., S. 541.

8

Krenn/Krenn: »Über die Befindlichkeit einer Großstadt«, aaO., S. 545.

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barschaftsbegriffs deutlich, der auf der Verknüpfung räumlicher und sozialer Nähe basiert. In diesem Sinne ist die künstlerische Exploration des großstädtischen Alltags durch Krenn und Krenn auch als eine Versuchsanordnung zu begreifen, in deren Zentrum die Frage steht, ob man für eine funktionierende Nachbarschaft durch architektonische, planerische und künstlerische Interventionen etwas tun kann oder nicht. Garantiert die Öffnung der Wände soziale Kontakte? Ist Nachbarschaft als sozialer und emotionaler Zusammenhang, als belonging und togetherness,9 planbar und herstellbar? In dieser knappen Problemskizze möchte ich einige historische Beispiele geplanter und organisierter Nachbarschaft aus dem Zeitraum zwischen 1890 und 1930 vorstellen, um aufzuzeigen, wie sehr die dort umgesetzten Nachbarschaftskonzepte an eine bestimmte Vorstellung von sozialer und symbolischer Ordnung gebunden waren. In einem weiteren Schritt werde ich die stadtsoziologische Kritik an der Nachbarschaftsideologie skizzieren, wie sie seit den 1950er Jahren immer wieder formuliert worden ist. Nicht zuletzt die aktuelle Diskussion um das Nachbarschaftsparadigma in den Literatur- und Kulturwissenschaften lässt sich vor diesem Hintergrund besser verstehen.

2. K LASSENÜBERGREIFENDE N ACHBARSCHAFT IN DER S TADT ? D IE S ETTLEMENTBEWEGUNG Max Weber hat in Wirtschaft und Gesellschaft die Intensität nachbarschaftlicher Beziehungen durch den Hinweis auf gemeinsame Notund Interessenslagen begründet: So meint Nachbarschaft im Sinne Webers »ganz allgemein jede durch räumliche Nähe [...] gegebene chronische oder ephemere Gemeinsamkeit einer Interessenslage. [...] Der Nachbar ist der typische Nothelfer, und ›Nachbarschaft‹ daher Trägerin der ›Brüderlichkeit‹ in

9

Anthony P. Cohen, zit. in: Heinz Schilling: »Nachbarn und Nachbarschaften heute«, in: ders. (Hg.): Nebenan und gegenüber. Nachbarn und Nachbarschaften heute, Frankfurt a.M. 1997, S. 9-12, hier: S. 11.

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einem freilich durchaus nüchternen und unpathetischen, vorwiegend wirtschaftsethischen Sinne des Wortes«.10

Von einem ähnlichen Verständnis von Nachbarschaft als Hilfs- und Unterstützungszusammenhang ging bereits der US-amerikanische Sozialreformer und Menschenrechtler Stanton Coit aus, als er zu Beginn der 1890er Jahre seine Idee der »Neighbourhood Guild« entwickelte. Coits Gilde stellte den Versuch dar, ein klassenübergreifendes Prinzip gemeinschaftlich organisierter Selbsthilfe zu installieren: »The very name, Neighbourhood Guild, suggests the fundamental idea which this new institution embodies: namely, that, irrespective of religious belief or non-belief, all the people, men, women, and children, in any one street, or any small number of streets, in every working-class district in London, shall be organized into a set of clubs, which are by themselves, or in alliance with those of other neighborhoods, to carry out, or induce others to carry out, all the reforms – domestic, industrial, educational, provident, or recreative – which the social ideal demands«.11

Bei alledem war die Idee der »Neighbourhood Guild« eingebunden in ein politisch-soziales Programm zur »Zivilisierung« der unteren Schichten. Besonders hervorgehoben wurde dieser Aspekt in der deutschsprachigen Rezeption von Coits Denkschrift. Kurz nach der deutschen Erstveröffentlichung der Nachbarschaftsgilden im Jahr 1893 definierte Brockhaus’ Konversationslexikon die Gilden als »Vereinigungen, die den Zweck haben, einen Ausgleich der sozialen Gegensätze vorzubereiten und namentlich die untern Stände auf eine höhere Stufe der menschlichen Gesellschaft zu heben«.12

Einer solchen Idee folgte auch die Settlementbewegung, die sich ausgehend von England in den 1880er Jahren in den USA zu verbreiten

10 Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, Neu Isenburg 2005, S. 279f. 11 Stanton Coit: Neighbourhood Guilds: An Instrument of Social Reform, London 1892, S. 7. 12 »Nachbarschaftsgilden«, in: Brockhaus' Konversations-Lexikon, Band 12, 14. Aufl., Leipzig 1894, S. 135.

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begann und kurz vor dem Ersten Weltkrieg den deutschsprachigen Raum erreichte.13 Durch die Ansiedlung von Angehörigen der gebildeten Mittelschicht inmitten eines »working class district« wollte man die Härten der sozialen Segregation abmildern und die »two nations in a state« wieder in Kontakt zueinander bringen. Von den neu gegründeten »settlement houses« und »Volksheimen« sollte der Geist bürgerlicher Kultur ausstrahlen, wobei man sich allein schon von der sozialen Durchmischung »zivilisierende« Effekte auf die Arbeiterschaft versprach. Bewusst hergestellte Nachbarschaft war somit eines der Schlüsselkonzepte dieser Bewegung.14 So schildert Katherine C. Dewar die Idee der Settlements auf der Basis des Nachbarschaftsgedankens: »Ein Haus wird gemietet, ›Gebildete‹ jeder Richtung wohnen dort und gehen über Tag ihrem eigenen Beruf nach – sei es dem eines Arztes, eines Journalisten, eines Rechtsanwalts, eines Lehrers oder irgend einem anderen Beruf – und abends kehren sie zurück und sind Nachbarn, und als Nachbarn teilen sie Wissen und Erfahrung den Menschen mit, die in der Nachbarschaft wohnen, und werden ihnen Freunde«.15

Dewars Formulierungen zeigen, dass hier ein lebensweltlicher und emotional besetzter Lebenszusammenhang angestrebt wurde, der von

13 Für einen ersten Überblick zur Geschichte der Settlementbewegung vgl. Rolf Lindner (Hg.): »Wer in den Osten geht, geht in ein anderes Land« Die Settlementbewegung in Berlin zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik, Berlin 1997. In diesem Sammelband werden auch die beiden bekanntesten Einrichtungen in Großbritannien und den USA – nämlich die Settlements Toynbee Hall in London und Hull House in Chicago – vorgestellt. 14 Zur Settlementbewegung im Kontext der Geschichte des »Neighborhood Planning« vgl. z.B. die Darstellung von William M. Rohe/Lauren B. Gates: Planning with Neighborhoods, Chapel Hill 1985, S. 13-50. 15 Katherine C. Dewar: »Die Entwicklung der Settlements in den angelsächsischen Ländern«, in: Soziale Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost (Hg.), Nachbarschaftssiedlung in der Großstadt. Grundsätzliches aus der Arbeit der Sozialen Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost, Berlin 1929, S. 1-5, hier S. 1f.

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der räumlichen Nähe über die solidarische Nachbarschaft hin zu echter Freundschaft führen sollte.16 In Deutschland waren es vor allem zwei Institutionen, welche die Idee der Settlementbewegung umzusetzen versuchten: Das 1901 von Walter Classen gegründete Hamburger Volksheim und die 1911 ins Leben gerufene »Soziale Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost« (SAG) des Pastors Friedrich Siegmund-Schultze.17 Letztere war die wohl bekannteste Initiative der Settlementbewegung in Deutschland, aus dem ein deutschlandweites Netzwerk sozialer und volksbildnerischer Arbeit nebst Dependancen in Stettin, Halle, Leipzig, Breslau und anderen deutschen Städten hervorging.18 In ihrer Ausrichtung unterschieden

16 Vgl. zur Nachbarschaftsidee in der Settlementbewegung auch Rolf Lindner: »Vom Besucher zum Nachbarn. Eine kurze Passage durch die Geschichte der Liebesarbeit«, in: ders.: »Wer in den Osten geht, geht in ein anderes Land« Die Settlementbewegung in Berlin zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik, Berlin 1997, S. 15-25. 17 Vgl. zum Volksheim Hamburg die Darstellungen: Gerhard Günther: Das Hamburger Volksheim 1901-1922. Die Geschichte einer sozialen Idee, Berlin 1924; Dieter von Kietzell: »Das Hamburger Volksheim zwischen Settlement und Arbeiterbewegung. Über die Vermeidung von Solidarökonomie in sozialkultureller Arbeit«, in: Thilo Köck (Hg.): Solidarische Ökonomie und Empowerment. Jahrbuch Gemeinwesenarbeit 6, München 1998, S. 281-304; Andrew Lees: City, Sin, and Social Reform in Imperial Germany, Ann Arbor 2002, S. 255-286; Jennifer Jenkins: Provincial Modernity. Local Culture and Liberal Politics in Fin-de-Siècle Hamburg, Ithaca 2003, S. 88-114; dies.: »Social Patriotism and Left Liberalism: The Hamburg People’s Home, 1901-1914«, in: German History 21 (2003), S. 29-48; zur Sozialen Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost siehe: Adam Weyer: Kirche im Arbeiterviertel, Gütersloh 1971; Franz-Jakob Gerth: Bahnbrechendes Modell einer neuen Gesellschaft. Die Soziale Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost 1911-1940, Hamburg 1975; Rolf Lindner (Hg.): »Wer in den Osten geht«, aaO.; Jens Wietschorke: Arbeiterfreunde. Eine historische Ethnographie der »Sozialen Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost« 1911-1933, Diss. HU Berlin 2009. 18 Zur Bedeutung der SAG als Netzwerk der Volksbildungsarbeit in Deutschland vgl. Paul Ciupke: »Friedrich Siegmund-Schultze und die Volksbildung der Weimarer Zeit«, in: Heinz-Elmar Tenorth/Rolf Lindner/Frank Fechner/Jens Wietschorke (Hg.): Friedrich Siegmund-Schultze (1885-

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sich die nationalen Varianten der Settlementbewegung – die insgesamt eine internationale Bewegung war – durchaus in gewissen Punkten. So gingen die US-amerikanischen Settlements von anderen Problemlagen aus als die europäischen Vertreter dieses Modells. Vor dem Hintergrund der Zuwanderungs- und Integrationsproblematik einer »melting pot«-Gesellschaft wurde das Settlement in den USA immer auch als eine Form stadtpolitischer Intervention verstanden, die mit planerischen Diskursen korrespondierte. Patricia Mooney Melvin charakterisiert es daher als »a unique type of community organization that stressed a combination of preventive social work and neighbourhood reconstruction as the way to perfect city organization«.19

Nachbarschaft sollte in diesem Sinn zum Garanten der »organischen Stadt« werden, zu einem Remedium gegen Segregation und Entfremdung in der modernen Großstadt. Die in Deutschland eröffneten Settlement-Häuser hingegen waren weitaus weniger planungsorientiert und folgten vor allem einer Idee von sozialharmonischer Vergemeinschaftung und »praktischem Christentum«. Zwar beschrieb etwa Maria Siegmund-Schultze den Nachbarschaftsgedanken der SAG durchaus im Sinne einer sozialen Organisation des städtischen Nahraums: »Es sind mehr Nachbarschaften nötig, mehr planmäßige Gebilde in den Wohnvierteln der Menschen, von wo aus das neue Leben, insbesondere die Familie gestützt wird, ein Volkshaus, das den Heimatmittelpunkt bildet und Nachbarschaftsgeist ausströmt dorthin, wo Massen sich zusammendrängen«.20

1969). Ein Leben für Kirche, Wissenschaft und soziale Arbeit, Stuttgart 2007, S. 85-101. 19 Patricia Mooney Melvin: The Organic City. Urban Definition & Community Organization 1880-1920, Lexington 1987, S. 19. Vgl. dazu auch Robert Halpern: Rebuilding the Inner City. A History of Neighborhood Initiatives to Adress Poverty in the United States, New York 1995. 20 Maria Siegmund-Schultze: »Die Wohlfahrtspflege (im Rahmen der Großstadtsiedlung)«, in: Soziale Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost (Hg.): Nachbarschaftssiedlung in der Großstadt. Grundsätzliches aus der Arbeit der Sozialen Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost, Berlin 1929, S. 37-41, hier: S. 40f.

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Allerdings war Nachbarschaft in der SAG immer auch eine Formel für die idealisierte und religiös überhöhte Beziehung von Mensch zu Mensch, die als von sozialen Differenzen unabhängig gedacht wurde. Der SAG-Mitarbeiter August Oswalt schrieb 1929: »Die Idee der Nachbarschaft gründet [...] gerade darin, daß sie rein menschliche Beziehungen der Bei-einander-Wohnenden, unabhängig von Stand und Beruf, schaffen will«.21 Zuweilen gelangte man dabei zu einem erstaunlich radikalen, sozialethisch zugespitzten Verständnis von Nachbarschaft, in das die Kritik an der Klassengesellschaft offen einging und in dem der eigentliche Nachbar sogar am anderen Ende der Stadt – und damit am anderen Ende der Gesellschaft – gesucht wurde: »Mein wahrer Nachbar ist, auch wenn ich im Tiergartenviertel oder in Wannsee wohne, der Mensch, der in besonderer Weise das Opfer der gesellschaftlichen Kultur geworden ist, der ich mein Dasein verdanke. Alles Geistige, was mich beherrscht und erfreut, ist in dieser jetzigen Gestalt nur möglich auf der Unterschicht von Not und Laster […]. Wenn nicht Berlin-Nord oder -Ost so wäre, wie es ist, könnte Berlin-West nicht sein. […] Abgesehen von den tausend Beziehungen der Hausbesitzer, der Fabrikanten und der Genießer des Lebens, die mit den Opfern dieser ihrer Lebensformen in Berührung kommen oder aber die Berührung meiden – abgesehen davon, eine ungeheure Verknüpfung des Lebens der ganzen Gesellschaftsschichten: Keine Klasse ohne die andere, schließlich keine Luxusreligion der Dome und Kaiser-Gedächtniskirchen ohne die Religionslosigkeit der Masse am Schlesischen Bahnhof oder am Wedding«.22

In dieser Deutung wurde der »Nachbar« mit der christlichen Figur des »Nächsten« gleichgesetzt. Das Motto der SAG »Die Reichen müssen zu den Armen kommen!«23 war damit auch ein Programm von Barmherzigkeit und Nächstenliebe, in deren Geist sich Nachbarschaft erst

21 August Oswalt: »Zur Nachbarschaftsfrage«, in: Soziale Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost (Hg.): Nachbarschaftssiedlung in der Großstadt. Grundsätzliches aus der Arbeit der Sozialen Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost, Berlin 1929, S. 29-36, hier: S. 31. 22 Friedrich Siegmund-Schultze: »Neue Nachbarschaft«, in: Neue Nachbarschaft 11. Jg. Heft 2 (Jan./Feb. 1928), S. 1-7, hier: S. 5. 23 Gedicht von Gustav Schüler in der ersten Nummer der Nachrichten aus der Sozialen Arbeitsgemeinschaft (Jan. 1914), S. 1.

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herstellen sollte. Allerdings verbarg sich gerade in dieser Idee einer »Begegnung von Mensch zu Mensch« der normative Kern eines sozial und emotional verstandenen Nachbarschaftsbegriffs, der auf eine bestimmte Vorstellung von gesellschaftlicher Ordnung zurückverweist. Denn die sozialen Beziehungen in der Nachbarschaft wurden dezidiert als klassenübergreifende Beziehungen, als eine »Arbeitsgemeinschaft« von Akademikern und Arbeitern gedacht. So wollte man vor allem »die Erkenntnis fördern, daß in einem Volksorganismus eine Schicht auf die andere angewiesen ist«.24 Nachbarschaftliche Solidarität wurde als Sozialpartnerschaft im Rahmen einer hierarchisch organisierten Gesellschaft ausgelegt. In diesem Sinne sollten die Settlements, wie es der Hamburger Volksheimmitarbeiter Wilhelm Hertz formulierte, »Grundsteine« sein »zu Pfeilern, die durch die Gesellschaftsschichten hindurchgehen und sich zu einer tragkräftigen Verbindung von Oben und Unten ausbauen lassen«.25 Denn wirkliches »Volk« könne nur aus den Wechselbeziehungen seiner ständisch verfassten und durch »Führung« zusammengehaltenen Teile hervorgehen.26 Das Ziel der Gemeinschaftsbildung durch Nachbarschaft ist vor dem Hintergrund der kulturkritischen Zerfallsdiagnosen zu sehen, die in der SAG ebenso wie in einer fast unübersehbaren Zahl von Lebensund Sozialreformbewegungen gestellt wurden.27 Die Bandbreite reicht

24 Richard Rahn: »Akademisch-Sozialer Verein«, in: Neue Nachbarschaft 11. Jg. Heft 8 (August 1928), S. 150-152, hier: S. 151. 25 Wilhelm Hertz: »Die Entwickelung der Volksheimidee in der Praxis«, in: Das Volksheim in Hamburg. Bericht über das fünfte Geschäftsjahr 1905/06, Hamburg 1906, S. 5-15, hier: S. 15. 26 Sehr bezeichnend ist in diesem Zusammenhang Paul Natorps sprachgeschichtlich falscher Hinweis, dass der Begriff »Volk« wohl mit »Gefolgschaft« zusammenhänge, dass die Volksgemeinschaft also wesentlich auf dem »Verhältnis zwischen Führer und Gefolgschaft« basiere. Vgl. Paul Natorp: »Die Erziehung der Jugend zum Gemeinschaftssinn«, in: Akademisch-Soziale Monatsschrift 5. Jg. Heft 1 (April 1921), S. 1-7, hier: S. 5. 27 Zur Einordnung der SAG in die Gemeinschaftsprogrammatiken der zeitgenössischen Sozialpädagogik vgl. den Aufsatz von Wolfgang Schröer: »Soziale Arbeitsgemeinschaften und sozialistische Lebensgestaltung – Sozialpädagogische Gemeinschaftsvorstellungen nach dem Ersten Weltkrieg«, in: Joachim Henseler/Jürgen Reyer (Hg.): Sozialpädagogik und Gemein-

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dabei von der konservativen und christlichen Publizistik, die sich um die Einheit der nationalen Sittlichkeit und Kultur sorgte, über völkische und sozialhygienische Bewegungen bis hin zu sozialistischen Bestandsaufnahmen des Klassengegensatzes. Was den einen der gefährdete »Volkskörper«, war den anderen das »geistige Leben« deutscher Vergangenheit oder das »wahre« Christentum. Dabei stand die von Ferdinand Tönnies geprägte Dichotomie von »Gemeinschaft und Gesellschaft« mit vielen ihrer Implikationen im Zentrum der Kultur- und Zivilisationskritik und damit auch der frühen sozialökologischen und sozialpädagogischen Überlegungen rund um »Neighbourhood« und Settlement. Überhaupt bildete der Gemeinschaftsbegriff eine der wichtigsten Leitplanken des bürgerlich-konservativen Diskurses über die moderne Klassengesellschaft. Der Historiker Paul Nolte hat in seinem Überblick über die Leitideen gesellschaftlicher Ordnung im Deutschland des 20. Jahrhunderts ausführlich gezeigt, wie dominant dieser Begriff im Diskurs des späten Kaiserreichs, vor allem aber der Weimarer Republik war.28 Er gab den unterschiedlichsten »Einheitssehnsüchten« der Zeit einen Namen;29 vor allem aber wurde »Gemeinschaft« in Anlehnung an Tönnies zum »sozialideologischen Leitbegriff« einer »reaktionären Opposition gegen die moderne industrielle Gesellschaft«30 und damit zum normativen Gegenentwurf zur Klassengesellschaft. Die Rede von der »Volksgemeinschaft« war die konservative Antwort auf das Denken in Klassen.

schaft. Historische Beiträge zur Rekonstruktion eines konstitutiven Verhältnisses, Baltmannsweiler 2000, S. 88-101. 28 Vgl. Paul Nolte: Die Ordnung der deutschen Gesellschaft. Selbstentwurf und Selbstbeschreibung im 20. Jahrhundert, München 2000, S. 61-77, S. 159-187. 29 Nolte: Die Ordnung der deutschen Gesellschaft, aaO., S. 161. 30 Manfred Riedel: »Gesellschaft, Gemeinschaft«, in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Band 2, Stuttgart 1975, S. 801-872, S. 859; vgl. dazu auch die knappe Darstellung von Diethart Kerbs/Ulrich Linse: »Gemeinschaft und Gesellschaft«, in: Diethart Kerbs/Jürgen Reulecke (Hg.): Handbuch der deutschen Reformbewegungen 1880-1933, Wuppertal 1998, S. 155-159.

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Die Settlements im Arbeiterviertel waren im organizistischen Gesellschaftsbild der SAG die kleinsten Einheiten und zugleich die Ausgangspunkte der neuen »Volksgemeinschaft«: »Solche sozialen Arbeitsgemeinschaften sind nach unserer Meinung die Urzellen des neuen Deutschland«.31 »Gemeinschaft« war dabei prinzipiell als ein »personales Geschehen zwischen Ungleichen gedacht,32 als deren Träger das einzelne Subjekt, die einzelne Persönlichkeit fungierte.33 Dieses Konzept einer sozial gegliederten Assoziation von »Persönlichkeiten« richtete sich einerseits gegen alle Formen von Massenorganisation und Massendemokratie, andererseits auch gegen die »Mechanisierung« und »Atomisierung« der modernen kapitalistischen Arbeits- und Freizeitwelten, wie sie aus Sicht der bürgerlichen Kulturreform immer wieder beschrieben wurden. Darin artikulierte sich die »Rückwendung zur Anerkennung der Autorität in Ordnungen«.34 »Gemeinschaft« wurde – so der Soziologe Theodor Geiger 1931 – »zum Kampfruf jener Elemente des Bürgertums, die der sozialen Revolution mißtrauten, aber der angeblich erstarrten Formen überdrüssig waren, und von der jungen Generation eine Kulturwende erwarteten«.35 Im späten deutschen Kaiserreich bildeten denn auch »Gemeinschaften« aller Art, vom elitär-intellektuellen Zirkel über die esoterische Bruderschaft bis hin zur genossenschaftlichen Organisation und zur Siedlerkolonie ein

31 Friedrich Siegmund-Schultze: »Das neue Deutschland«, in: AkademischSoziale Monatsschrift 2. Jg. Heft 1/2 (April/Mai 1918), S. 1-4, hier: S. 2. Zum Gemeinschaftsbegriff im sozialpädagogischen Diskurs zwischen 1890 und den 1920er Jahren vgl. Joachim Henseler/Jürgen Reyer: »Zur Einleitung: Die Wiederentdeckung von ›Gemeinschaft‹ für die Historiographie der Sozialpädagogik«, in: dies. (Hg.): Sozialpädagogik und Gemeinschaft. Historische Beiträge zur Rekonstruktion eines konstitutiven Verhältnisses, Baltmannsweiler 2000, S. 1-21, bes. S. 4-10, und Hans Gängler: »Sozialpädagogisch inszenierte Gemeinschaften«, ebd., S. 204216. 32 Hermann Ringeling: »Gemeinschaft«, in: Theologische Realenzyklopädie Band 12, hg. v. Gerhard Krause/Gerhard Müller, Berlin/New York 1984, S. 346-355, S. 351. 33 Vgl. Theodor Geiger: »Gemeinschaft«, in: Alfred Vierkandt (Hg.): Handwörterbuch der Soziologie, Stuttgart 1931, S. 173-180, S. 177. 34 Ringeling: »Gemeinschaft«, aaO., S. 352. 35 Geiger: »Gemeinschaft«, aaO., S. 175.

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vielfach ausprobiertes Grundrezept gegen die sozialen Verwerfungen der hochkapitalistischen Moderne. Dabei war die konkrete Gemeinschaftsutopie der SAG auf einer dezidiert alltagskulturellen Ebene angesiedelt. Über den angestrebten nachbarschaftlichen Lebenszusammenhang heißt es bei August Oswalt: »Hier setzt der Nachbarschaftsgedanke an: Er will den Durchbruch des Allgemein-Menschlichen. Er setzt der Wahlgemeinschaft die Schicksalsgemeinschaft entgegen. Freud und Leid des täglichen Lebens, Geburt und Tod, das ganze Schicksal sollen die Nachbarn miteinander tragen und erleben. Z. B. der Rhythmus des Jahres, für den der Großstädter fern von der Natur und bei der Bedeutungslosigkeit des Kirchenjahres für die Meisten kein Gefühl mehr hat, soll als Allen Gemeinsames, der Willkür Entzogenes wieder spürbar werden«.36

Diese emphatische Konzeption einer gelebten und emotional gestützten Nachbarschaft, die erkennbar an die Gemeinschaftsideologie der Reformbewegungen und an Webers Verständnis von Nachbarschaft als »Brüderlichkeit« anknüpft, bildet gleichsam den Hintergrund, vor dem sich auch Architekten und Stadtplaner immer wieder Gedanken über die Planbarkeit nachbarschaftlicher Beziehungen gemacht haben. Im Folgenden soll daher ein Abriss zu den planerischen Bemühungen im Grenzbereich zwischen Sozialreform und Stadtplanung gegeben werden, der auch deren frühzeitig einsetzende Kritik seitens der Stadtsoziologie mit einschließt.

3. N ACHBARSCHAFT ALS P LANUNGSGRUNDLAGE : E IN K ONZEPT UND SEINE K RITIKER Die planerische Idee solidarischer Nachbarschaft auf der Grundlage einer klassenübergreifenden Kohabitation ist in Deutschland bereits von dem Stadtplaner und Ingenieur James Hobrecht entwickelt worden.37 Hobrecht konzipierte und idealisierte das klassische Berliner

36 Oswalt: »Zur Nachbarschaftsfrage«, aaO., S. 32. 37 Vgl. dazu die Hinweise im Standardwerk von Johann Friedrich Geist/ Klaus Kürvers: Das Berliner Mietshaus 1740-1862. Eine dokumentarische Geschichte der »von Wülcknitzschen Familienhäuser« vor dem Hambur-

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Mietshaus mit seiner baulichen Struktur aus Vorderhaus, Hinterhaus und Quergebäuden als nachbarschaftlichen Lebenszusammenhang von bürgerlichen und proletarischen Familien.38 Gerade dem Absturz der Arbeiterbevölkerung ins soziale Elend könne so wirksam vorgebeugt werden. So argumentiert Hobrecht in einer Denkschrift von 1868, dass in der sozial segregierten Stadt »die ärmere Klasse vieler Wohltaten verlustig geht, die ein Durcheinanderwohnen gewährt« – und er führt weiter aus: »Nicht ›Abschließung‹, sondern ›Durchdringung‹ scheint mir aus sittlichen und darum aus staatlichen Rücksichten das Gebotene zu sein. In der Mietskaserne gehen die Kinder aus den Kellerwohnungen in die Freischule über denselben Hausflur wie diejenigen des Rats oder Kaufmanns auf dem Wege nach dem Gymnasium. Schusters Wilhelm aus der Mansarde und die alte bettlägerige Frau Schulz im Hinterhause, deren Tochter durch Nähen oder Putzarbeiten den notdürftigen Lebensunterhalt besorgt, werden in dem I. Stockwerk bekannte Persönlichkeiten. Hier ist ein Teller Suppe zur Stärkung bei Krankheit, da ein Kleidungsstück, dort die wirksame Hilfe zur Erlangung freien Unterrichtes oder dergleichen, und alles das, was sich als Resultat der gemütlichen Beziehungen zwischen den gleichgearteten und wenn auch noch so verschieden situierten Bewohnern herausstellt, eine Hilfe, welche ihren veredelnden Einfluss auf den Geber ausübt«.39

ger Tor, der Proletarisierung des Berliner Nordens und der Stadt im Übergang von der Residenz zur Metropole, München 1980, S. 513-516. 38 Diese Mietshausstruktur mit besonders ausgedehnten Hinterhofkomplexen war tatsächlich ein Berliner Spezifikum. Vgl. ausführlich dazu Johann Friedrich Geist/Klaus Kürvers: Das Berliner Mietshaus 1862-1945. Eine dokumentarische Geschichte von »Meyer’s Hof« in der Ackerstraße 132133, der Entstehung der Berliner Mietshausquartiere und der Reichshauptstadt zwischen Gründung und Untergang, München 1984. Für einen kompakten vergleichenden Überblick im europäischen Kontext vgl. Peter Wiek: Das Hamburger Etagenhaus 1870-1914. Geschichte, Struktur, Gestaltung, Bremen 2002, S. 79-101, und Miron Mislin: »Die Entwicklung des Mietswohnhauses in der Industriestadt Berlin im Vergleich zu Paris und London«, in: Karl Schwarz (Hg.): Berlin: Von der Residenzstadt zur Industriemetropole, Band I, Berlin 1981, S. 305-317. 39 Zit. nach: Geist/Kürvers: Das Berliner Mietshaus 1740-1862, aaO., S. 513.

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Dieser Plan klassenübergreifender nachbarschaftlicher Organisation ging freilich selten auf, weil die sozialräumliche Segregation bei der tatsächlichen Belegung der Mietwohnungen letztlich ein stärkerer Faktor war als die geplanten Wohnungsgrößen: Die besser gestellten Familien zogen in die bürgerlichen Viertel anstatt in die Mietskasernen des Berliner Nordens und Ostens, die Hauseigentümer wohnten ebenfalls häufig nicht etwa in der Beletage ihrer eigenen Mietshäuser, sondern in anderen Stadtteilen. Die Berliner Praxis, auch die einstmals großen Vorderhauswohnungen in kleinere Wohneinheiten aufzuteilen – eine Praxis, welcher der flexible Berliner Hausgrundriss entgegenkam –, war also letztlich auch eine Reaktion auf das Scheitern der Hobrechtschen Idee. In den städtebaulichen Reformbewegungen um 1900, die sich gegen das Wohnen in den überbelegten Mietskasernenquartieren richteten, wurde das Konzept der Nachbarschaft dann mit der Idee der überschaubaren Siedlung verbunden: Dorf und Kleinstadt erschienen als Modelle eines sozial ausgleichenden und vergemeinschaftenden Wohnens in der Großstadt. Dörfliche Mikrostrukturen wurden als eine Art »mechanism for maintaining urban stability« eingesetzt.40 Als frühes Beispiel für solche Überlegungen kann die Gartenstadtidee des englischen Sozialreformers Ebenezer Howard gelten,41 ähnlich angelegt war Camillo Sittes 1889 formuliertes Konzept eines »Städtebaus nach künstlerischen Grundsätzen«, durch das der zeitgenössischen Großstadt – bei aller modern-funktionalen Ausrichtung ihrer Infrastruktur – die soziale Textur kleiner, überschaubarer Einheiten wiedergegeben werden sollte.42 In diesem Sinne empfahl Sitte un-

40 William Peterman: Neighborhood Planning and Community-Based Development. The Potential and Limits of Grassroots Action, London 2000, S. 16. 41 Einen kompakten Überblick über die Entwicklung der Gartenstadtidee liefert Clemens Zimmermann: »Wohnen als sozialpolitische Herausforderung. Reformerisches Engagement und öffentliche Aufgaben«, in: Jürgen Reulecke (Hg.): Geschichte des Wohnens Band 3. 1800-1918: Das bürgerliche Zeitalter, Stuttgart 1997, S. 503-636, insbes. S. 587-600. 42 Camillo Sitte: Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen, Wien 1889. Vgl. dazu auch die materialreiche Publikation von Karin Wilhelm/Detlef Jessen-Klingelberg: Formationen der Stadt. Camillo Sitte weitergelesen, Basel 2005.

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ter anderem Stadtgrundrisse mittelalterlicher Städte als Planungsgrundlage für die Gegenwart: Durch die Anlage kleiner Plätze sollten zentrale Institutionen der Gemeinde – Rathaus, Kirche, Schule – hervorgehoben werden. Eine sozial abgestufte Hierarchie der Bauformen sollte die symbolische Ordnung des Gemeinwesens abbilden; eine unregelmäßige Straßenführung zielte auf die Wiedergewinnung ästhetischer Anmutungsqualitäten sowie ein gewisses Gefühl von Geborgenheit. Die häufige Adaption dieses städtebaulichen Modells beim Bau von Werkssiedlungen legt nahe, dass es gerade die sozialharmonische Idealvorstellung von Nachbarschaft war, die Sittes Ideen für paternalistische Industrielle attraktiv machte. Über die kleinstädtische Nachbarschaftsatmosphäre ließ sich die »Werkgemeinschaft« von Arbeitgebern und Arbeitnehmern sinnfällig machen. Gleichzeitig diente die durchaus hohe Wohnqualität solcher Siedlungen auch einer sittlichmoralischen Beeinflussung der Arbeiterschaft durch »pädagogische« Architektur.43 Nachbarschaft wurde in diesem Zusammenhang zu einem erzieherischen Konzept, über das man – mit den Mitteln von Städtebau und Stadtplanung – »den Arbeiter zum Bürger machen« wollte.44 In seinem Hauptwerk Social Organization von 1909 stufte der USamerikanische Soziologe Charles Horton Cooley die Nachbarschaft als soziale »Primärgruppe« auf der Basis von Face-to-Face-Beziehungen ein und thematisierte diese erstmals theoretisch als einen emotionalen

43 Vgl. dazu u.a. Eduard Führ/Daniel Stemmrich: »Nach gethaner Arbeit verbleibt im Kreise der Eurigen«. Bürgerliche Wohnrezepte zur individuellen und sozialen Formierung im 19. Jahrhundert, Wuppertal 1985; Daniel Kurz: »›Den Arbeiter zum Bürger machen‹ – Gemeinnütziger Wohnungsbau in der Schweiz 1918-1949«, in: Günther Schulz (Hg.): Wohnungspolitik im Sozialstaat – deutsche und europäische Lösungen 1918-1960, Düsseldorf 1993, S. 285-304; Renate Kastorff-Viehmann: »Kleinwohnung und Werkssiedlung. Zur Erziehung des Arbeiters durch Umweltgestaltung«, in: Juan Rodriguez-Lores/Gerhard Fehl (Hg.): Die Kleinwohnungsfrage. Zur den Ursprüngen des sozialen Wohnungsbaus in Europa, Hamburg 1988, S. 221-241; Jens Wietschorke: »Die Straße als Miterzieher. Städtischer Raum und Sozialpädagogik im frühen 20. Jahrhundert«, in: Jahrbuch für Historische Bildungsforschung Band 14 (2008), S. 209-242, insbes. S. 228-233. 44 Kurz: »Den Arbeiter zum Bürger machen«, aaO.

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Zusammenhang.45 Mit dieser Definition lieferte Cooley – so Bernd Hamm – »einer romantisierenden Großstadtkritik«, welche die Rückkehr zu den geschlossenen sozialen Formen von Dorf und Kleinstadt forderte, »willkommene Argumente«.46 Aus einer dezidiert planerischen Perspektive schließlich konzeptualisierte Clarence Arthur Perry ab 1923 die »Nachbarschaftseinheit« als Grundlage städtebaulicher Überlegungen.47 Seine Idee bestand zwar vor allem in einem »technischen Organisationsschema« dessen, wie die kleineren Einheiten innerhalb großer Städte idealiter aussehen sollten, trotzdem waren aber auch in diesem Konzept »Meinungen über die Art und Intensität der Sozialbeziehungen zwischen den Bewohnern einer solchen Einheit [...] impliziert«.48 Auch damit war also eine Vorstellung von Nachbarschaft als sozialer und emotionaler Zusammenhang verbunden. Perrys Konzept wurde bis in die 1960er Jahre hinein immer wieder zur Planungsgrundlage für neu zu errichtende Stadtteile.49 Ausgehend davon wurde eine Nachbarschaft zu einer quantitativ bestimmbaren Bezugsgröße, die überschaubare soziale Nahwelten garantieren sollte. So galt in der US-amerikanischen Stadtplanung und dann auch in Europa lange Zeit ein Volksschulsprengel als Grundlage für die Bemessung einer Nachbarschaftseinheit. Bei der Übernahme dieses Planungskonzepts nach Europa wurde aber laut Elisabeth Lichtenberger »nicht beachtet, daß aufgrund der Finanzierung der Schulen aus der Realitätenbesteuerung das Sozialmilieu von amerikanischen Schulen weit homogener ist

45 Bernd Hamm: »Betrifft: Nachbarschaft«, aaO., S. 12. Zu Cooley vgl. in aller Kürze auch: Heinz Abels: Einführung in die Soziologie, Band 2: Die Individuen in ihrer Gesellschaft, 3. Aufl. Wiesbaden 2007, S. 259- S. 261; S. 188-191. 46 Hamm: »Betrifft: Nachbarschaft«, aaO., S. 12. 47 1923 trug Perry seine Idee der »neighbourhood unit« auf einem Treffen der National Community Center Association und der American Sociological Association erstmals öffentlich vor; im siebten Band des New Yorker Regionalplans von 1929 wurde sie dann im Detail ausgeführt. Vgl. in aller Kürze Chris Silver: »Perry, Clarence Arthur«, in: Roger W. Caves (Hg.): Encyclopedia of the City, New York 2005, S. 513-514. 48 Hamm, »Betrifft: Nachbarschaft«, aaO., S. 16. 49 Vgl. den Art. »Neigborhood Unit«, in: Arnold Whittick (Hg.): Encyclopedia of Urban Planning, New York 1974, S. 714-715.

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als anderswo. Eine derartige Nachbarschaft stellt daher eine lebendigere territoriale Interessen- und Kontaktgemeinschaft dar als die aus der städtebaulichen Retorte stammenden Gegenstücke in vielen europäischen Städten«.50

Unter anderem angestoßen durch solche Probleme der planerischen Praxis, geriet die zivilisationskritische Vorstellung von der Atomisierung der Gesellschaft in den Städten seit den 1950er Jahren in die Kritik.51 René König fasst die Ergebnisse dieser Diskussion im Handbuch der empirischen Sozialforschung folgendermaßen zusammen: »Der entscheidende Gesichtspunkt liegt darin, daß man ›Nahe-Bei-Wohnen‹ nicht mit Nachbarschaft verwechseln darf; letztere impliziert immer soziale Interaktionen, erstere ist in dieser Hinsicht neutral«.52

In Abgrenzung zu allen normativen – sozialpädagogischen wie stadtplanerischen – Konzepten von Nachbarschaft ist hier wesentlich, dass die beiden Aspekte von räumlicher und sozialer Nähe entkoppelt werden. Während die »Neighbourhood Guilds« ebenso wie die Settlements und die Ideen einer planbaren »Organic City« auf der Basis von Nachbarschaftseinheiten beide Dimensionen wie selbstverständlich aufeinander bezogen, gilt das Nebeneinander im Stadtraum nun nicht mehr als Voraussetzung nachbarschaftlicher sozialer Nähe und Solidarität. Vielmehr wird Nachbarschaft im sozialen, funktionalen und emphatischen Sinne nun zu einer dynamischen Kategorie, die auch an ein ganz anderes räumliches Muster – nämlich das Netzwerk – gebunden sein kann. So verstand man Nachbarschaft nun vor allem als »Ergebnis

50 Elisabeth Lichtenberger: Die Stadt. Von der Polis zur Metropolis, Darmstadt 2002, S. 107. 51 Vgl. etwa Svend Riemer: The Modern City: An Introduction to Urban Sociology, Englewood Cliffs 1951; Jane Jacobs: The Death and Life of Great American Cities, New York 1961. Elisabeth Pfeil nennt einen Amsterdamer Kongress über »Soziale Zusammenhänge in neuen Stadtteilen« im Jahr 1955 als einen wichtigen Wendepunkt im Diskurs über Nachbarschaft. Vgl. Elisabeth Pfeil, »Zur Kritik der Nachbarschaftsidee«, in: Archiv für Kommunalwissenschaften, 2. Jg. (1963), S. 39-54, hier S. 39. 52 René König: »Großstadt«, in: ders. (Hg.): Handbuch der empirischen Sozialforschung, Band 10. Großstadt, Massenkommunikation, Stadt-LandBeziehungen, Stuttgart 1977, S. 42-145, hier: S. 90.

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eines Auswahlprozesses im Rahmen eines relativ neutralen Bekanntschaftskreises«. Die Freiheiten, welche die Großstadt bietet, wurden somit als erweiterte Chance gesehen, aktive Nachbarschaft zu wählen.53 König geht sogar noch einen Schritt weiter und sagt: »Eine solche Vorstellung von Nachbarschaft in der Großstadt läßt sich also durchaus mit der Vorstellung von Distanz vereinen, ja, sie setzt diese geradezu voraus«.54 Die deutsche Stadtsoziologin Elisabeth Pfeil hat 1963 in einem informativen Überblicksaufsatz die Argumente zusammengestellt, die damals zur »Kritik der Nachbarschaftsidee« vorgebracht wurden. Auch hier wird deutlich, dass dieser Kritik vor allem ein neues Verständnis von städtischem Leben und Stadtkultur zugrundelag. Pfeil lässt noch einmal die kultur- und zivilisationskritischen Vorstellungen Revue passieren, auf denen die den Ideen geplanter Nachbarschaft basierten. Argumentiert wurde dort vor allem in sozialpsychologischen Kategorien: Großstädtisches Leben führe zu »Anonymität innerhalb der Masse, [...] Verlorenheit und Direktionslosigkeit, [...] Unbeteiligtheit und Heimatlosigkeit«.55 Mit der emphatischen Bezugnahme auf die Nachbarschaftsidee wollte man demgegenüber eine »neue Integration« erreichen – »aber schon der Begriff der Nachbarschaft enthüllt eine Rückwärtswendung, eine restaurative Vorstellung« rund um scheinbar verlorengegangene Werte wie »Nachbarlichkeit, Bürgersinn, Familienzusammenhang, Aufbau der Demokratie von unten her« – kurz: »Stabilität und Bindung«.56 Pfeil unterzieht diesen Verlustdiskurs einer Grundsatzkritik auf der Basis von Ergebnissen der neueren Stadtsoziologie – und sie fragt: »Soll und kann [...] der Großstädter sich verhalten wie ein Mensch in vorgroßstädtischen Verhältnissen?«57 Empirisches Material zur Beantwortung dieser Frage gab es genug: Unter den Bedingungen der Wohnungsnot nach dem Zweiten Weltkrieg waren sozial durchmischte Wohngebiete entstanden, von denen aber – so Pfeil – keine erkennbare gesellschaftliche Integrationsleistung ausgegangen sei. Vielmehr artikulierte sich ein »Unbehagen« vor allem »an den beiden sozialen Randlagen der Mieterschaft«, wo

53 König: »Großstadt«, aaO., S. 91. 54 Ebd. 55 Pfeil: »Zur Kritik der Nachbarschaftsidee«, aaO., S. 42. 56 Ebd. 57 Pfeil: »Zur Kritik der Nachbarschaftsidee«, aaO., S. 43.

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man in besonderer Weise »unter sich« sein wollte und bald die klassenübergreifenden Notstandsarrangements der Nachkriegssiedlungen verließ.58 Damit ist die Grundtendenz »natürlicher Segregation« benannt, die auch in der »nivellierten Mittelstandsgesellschaft« zu jeder Zeit ihre stadträumliche Dynamik entfaltet hat. Der städtische Raum strukturiert sich letztlich vor allem nach den Regeln sozialer Ungleichheit. Davon ausgehend, sprach sich auch der Soziologe Herbert Gans 1961 gegen den planerischen Anspruch einer sozialen Durchmischung im städtischen Nahbereich aus: »Population heterogeneity cannot be achieved until the basic metropolitan-area social problem is solved. This I believe to be the economic and social inequalities that still exist in our society, as expressed in the deprivations and substandard living conditions of the lowest socio-economic strata of the metropolitanarea population. […] The planner’s advocacy of hetero-geneity is in part a means for dealing with this problem; he hopes that the mixing of classes will iron out these inequalities. The intent is noble, but the means are inappropriate«.59

Dass man in den 1950er und 1960er Jahren Abschied nahm von einer kulturkritischen Vorstellung großstädtischen Lebens und der damit verbundenen Idee, ein lebenswertes städtisches Leben könne sich nur auf der Grundlage überschaubarer Strukturen nach dem Vorbild dörflicher und kleinstädtischer Siedlungen entfalten, wird in der Art und Weise deutlich, wie nun Offenheit, Diversität und selbstbestimmte Wahl zwischenmenschlicher Beziehungen betont werden. Nicht mehr die Forderung einer Rückbindung an kleine Einheiten traditionalen Lebens, sondern die bereits genannte Entkoppelung von konkretem Wohnumfeld und der Intensität sozialer Beziehungen wird zum Referenzpunkt des Stadtdiskurses, der nun vor allem die Freisetzung von

58 Pfeil: »Zur Kritik der Nachbarschaftsidee«, aaO., S. 45. 59 Herbert J. Gans: »The Balanced Community: Homogeneity or Heterogeneity in Residential Areas?«, in: Journal of the American Planning Association Vol. 27 (August 1961), S. 176-184, hier: S. 182.

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Möglichkeiten als Grundelement von Lebensqualität anerkennt.60 Damit setzt sich ein positiv besetztes Verständnis von Urbanität durch: »Man darf sich also das städtische Leben nicht derart vorstellen, daß örtliche Globalgruppen hierarchisch integriert würden in immer größere Gruppen und schließlich im Stadtganzen. Mit Recht hat Hans Paul Bahrdt gegen die Nachbarschaftsidee eingewandt, sie werde der Vielfalt und Beweglichkeit städtischen Lebens, das gerade auf der unvollständigen Integration beruhe, nicht gerecht. Es handelt sich eben nicht um eine nachbarschaftszentrierte, sondern eine familienzentrierte Gesellschaft. Der größeren Geschlossenheit des Familienlebens (Geschlossenheit gegenüber der näheren Umgebung) entspricht eine größere Offenheit gegenüber dem Gesamtraum der Stadt, eine vielfältigere Kontaktnahme außerhalb des eigenen Wohnbezirks (Diemer-Lindeboom). Die selektive Bestimmung des menschlichen Umgangs und seine größere räumliche Streuung ist aber nicht als ein Übel anzusehen, wie die Großstadtkritik es will. [...] Mit Recht bemerkte David Riesman gegenüber der Nachbarschaftsidee, daß es nicht gelingen werde, den Großstädter ›mit magischen Beschwörungen an einen Raum zu bannen‹, da es doch gerade das Wesen der Großstadt ausmache, daß man dort seinen Umgang in Freiheit wählen kann«.61

Allerdings blieb der »Umgang in Freiheit« in der Stadt stets beschränkt durch die ungleiche Verteilung ökonomischer Ressourcen. In diesem Sinne resümiert Elisabeth Pfeil, Nachbarschaft entstehe »dort, wo sie gebraucht wird«.62 Wer aber braucht Nachbarschaft? Eine naheliegende Antwort wäre der Verweis auf eben die unterprivilegierten Teile der Gesellschaft – und damit der Blick auf die klassischen Arbeiterviertel, die vielfach als Beispiele für intensive persönliche Kontakte

60 Mit dieser Einsicht wurde konsequenterweise auch die Vorstellung von der intakten dörflichen Nachbarschaft zunehmend brüchig, die Dorfgemeinschaft sogar kritisch als »Not- und Terrorzusammenhang« charakterisiert. Vgl. Utz Jeggle/Albert Ilien: »Die Dorfgemeinschaft als Not- und Terrorzusammenhang. Ein Beitrag zur Sozialgeschichte des Dorfes und zur Sozialpsychologie seiner Bewohner«, in: Hans-Georg Wehling (Hg.): Dorfpolitik. Fachwissenschaftliche Analysen und didaktische Hilfen, Opladen 1978, S. 38-53; dies.: Leben auf dem Dorf. Zur Sozialgeschichte des Dorfes und Sozialpsychologie seiner Bewohner, Opladen 1978. 61 Pfeil: »Zur Kritik der Nachbarschaftsidee«, aaO., S. 52. 62 Ebd.

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im unmittelbaren Wohnumfeld herangezogen wurden. Der Soziologe und Mitbegründer der »Chicago School«, Robert E. Park, hat hier von »natural areas« gesprochen, die von einer sozial und/ oder ethnisch relativ homogenen Bevölkerung bewohnt werden und die auf dieser Grundlage ein eigenes Ensemble traditionaler und posttraditionaler Verhaltensweisen und einen eigenen Stil und Geschmack entwickelt haben. Roderick McKenzie, der in der berühmten Programmschrift The City den sozialökologischen Ansatz der Chicago School erläutert hat, hat denn auch auf den Formierungsprozess solcher »natural areas« durch gleichsam magnetische Anziehungs- und Abstoßungsprozesse hingewiesen: »Each formation or ecological organization within a community serves as a selective or magnetic force attracting to itself appropriate population elements and repelling incongruous units, thus making for biological and cultural subdivisions of a city’s population«.63

Auf diese Weise bildet sich die Spezifik des Stadtviertels erst heraus – und damit auch das, was Rolf Lindner und Lutz Musner später die »Geschmackslandschaft« der Stadt genannt haben.64 In seiner berühmten Studie The Uses of Literacy beschreibt der Literatur- und Kulturwissenschaftler Richard Hoggart ein englisches Arbeiterviertel, das ihm zunächst »dunkel« und »niederdrückend« erschien, als »study in shades of dirty-grey«. »All day and all night the noises and smells of the district – factory hooters, trains shunting, the stink of the gas-works – remind you that life is a matter of shifts and clockings-in-and-out. The children look improperly fed, inappro-

63 Roderick McKenzie: »The ecological approach to the study of the human community«, in: Anthony Burgess/Roderick McKenzie/Robert E. Park (Hg.): The City, Chicago 1925, S. 63-79, hier: S. 78. 64 Rolf Lindner/Lutz Musner: »Kulturelle Ökonomien, urbane ›Geschmackslandschaften‹ und Metropolenkonkurrenz«, in: Informationen zur modernen Stadtgeschichte 1/2005, S. 26-37.

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priately clothed, and as though they could do with more sunlight and green fields«.65

Im Folgenden aber verschiebt sich plötzlich die Wahrnehmung des Stadtteils. Denn Hoggart wechselt nun – literarisch äußerst wirkungsvoll – aus der Perspektive des außenstehenden bürgerlichen Beobachters in die eines »Insiders«, der Einblick in die tatsächlichen sozialen Netze und Nahbeziehungen des Quartiers hat. Es lohnt sich, an dieser Stelle eine längere Passage aus Hoggarts Beschreibung zu zitieren: »To the insider, these are small worlds, each as homogeneous and well-defined as a village. […] Similarly, one knows practically eyerybody, with an intimacy of detail – that these people have a son who ›got on‹ or emigrated, that those have a daughter who went wrong or one who married away and is doing well; that this old man living alone on his pension shops at the horsemeat place in town and smokes a sixpenny mixture of herbs. […] This is an extremely local life, in which everything is remarkably near. […] Unless he gets a councilhouse, a working-class man is likely to live in his local area, perhaps even in the house he ›got the keys for‹ the night before his wedding, all his life. He has little call to move if he is a general labourer, and perhaps hardly more if he is skilled, since his skill is likely to be in a trade for several nearby works, or some only a tram ride away, provide vacancies. He is very unlikely to be the only one doing his kind of job in the area. He is more likely to change his place of work than his place of living; he belongs to a district more than to one works. He may have a cousin who teaches, married a girl in Nottingham and settled there; he may have a brother who met a girl in Scotland during the war and brought her down there. But by and large the family live near and have ›always‹ lived near: each Christmas Day they all go to tea at Grandma’s.«66

Sicherlich ist auch Hoggarts farbige und anrührende Beschreibung der »working-class-neighbourhood« nicht frei von sozialromantischen Vorstellungen von Nachbarschaft. Allerdings unterscheidet sich die politische Perspektive beträchtlich vom sozialreformerischen Nachbarschaftsverständnis, wie wir es etwa in der Settlementbewegung ken-

65 Richard Hoggart: The Uses of Literacy. Aspects of Working-Class Life With Special Reference to Publications and Entertainments, Harmondsworth 1957, S. 58f. 66 Hoggart: The Uses of Literacy, aaO., S. 59-62.

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nengelernt haben. Denn hier wird keine sozialpartnerschaftliche »Arbeitsgemeinschaft« der Klassen postuliert, sondern ein lebensweltlicher Zusammenhang skizziert, der in erster Linie auf den von Max Weber genannten gemeinsamen »Not- und Interessenslagen« basiert. In den Blick kommt ein Stadtviertel, in dem die Homogenität der Klassenlage für eine bestimmte Intensität nachbarschaftlicher Beziehungen sorgt. Dort herrscht ein Vergesellschaftungsmodus, den man mit Rolf Lindner als »erweitertes kinship-system« bezeichnen kann: als ein über Verwandtschaftsbeziehungen hinaus erweitertes Netzwerk, das auch »Affinalrelationen ein[schließt], die sich mit anderen Arten der Sozialbeziehungen wie Freundschaft, Nachbarschaft und Alterskameradschaft berühren und überschneiden«.67 Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund kommen Hartmut Häußermann und Walter Siebel in ihren stadtsoziologischen Überlegungen zur Nachbarschaftsidee in der Stadtplanung zu einem Schluss, wie ihn ganz ähnlich schon Elisabeth Pfeil und Herbert Gans in den 1960er Jahren gezogen haben: »Aktive Kontakte entstehen erst durch Interaktion – und diese orientiert sich stark an sozialer Homogenität: sozialer Status, Lebenszyklus, ethnische Zugehörigkeit, Religion usw. [...]. Unterschiedliche soziale Schichtzugehörigkeiten in räumlicher Nähe werden also immer nur eine geringe Intensität bei den Nachbarschaftsbeziehungen nach sich ziehen – womit sich die pädagogische Absicht des Nachbarschaftskonzepts konterkariert: In sozial homogenen Quartieren ist die Wahrscheinlichkeit intensiver Nachbarschaftsbeziehungen höher als dort, wo die geplant heterogene Zusammensetzung zu Toleranz oder Integration führen soll.«68

In seinen Thesen zur sozialen Differenzierung im Stadtraum hat Pierre Bourdieu dafür die Formel gefunden: »Es ist der Habitus, der das Habitat macht.«69 Und auch Bourdieu verweist auf die Probleme einer

67 Rolf Lindner: »Das Ethos der Region«, in: ders. (Hg.): Die Wiederkehr des Regionalen. Über neue Formen kultureller Identität, Frankfurt a.M. 1994, S. 201-231, hier: S. 218. 68 Hartmut Häußermann/Walter Siebel: Stadtsoziologie. Eine Einführung, Frankfurt a.M. 2004, S. 111-112. 69 Pierre Bourdieu: »Physischer, sozialer und angeeigneter physischer Raum«, in: Martin Wentz (Hg.): Stadt-Räume, Frankfurt a.M./New York 1991, S. 25-34, hier: S. 32.

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planerischen Perspektive, die auf die Intensität sozialer Beziehungen zielt: »In Frage zu stellen ist damit auch der Glaube, als ob die räumliche Annäherung oder, genauer, die Kohabitation von im sozialen Raum fernstehenden Akteuren an sich schon soziale Annäherung oder, wenn man will, Desegregation bewirken könne: Tatsächlich steht einem nichts ferner und ist nichts weniger tolerierbar als Menschen, die sozial fern stehen, aber mit denen man in räumlichen Kontakt kommt.«70

Eben darin liegt die soziale Wirkung des Habitus als Wahlverwandtschaft. So wird denn auch in der neueren Stadtplanung weitgehend darauf verzichtet, »Nachbarschaften« mit städtebaulichen Mitteln installieren zu wollen; eher kehrt man zurück zu Ideen, wie sie ursprünglich auch die historische Settlementbewegung – vor allem in den USA, wo das Thema Einwanderung im Vordergrund stand – motivierten: Es geht wieder mehr darum, »informelle soziale Netze unter den Nachbarn zu stärken«. Doch, so Walter Siebel: »Die Hoffnung, unter den problembeladenen Bewohnern könne sich eine tatkräftige Solidarität entwickeln, ist weitgehend Illusion, weil die Bewohner benachteiligter Quartiere unter sehr unterschiedlichen Problemen zu leiden haben«,71 die von Max Weber als Grundvoraussetzung für Nachbarschaft genannte Gemeinsamkeit der Interessenslage somit nicht gegeben ist. Vor dem Hintergrund dieser historischen Erfahrungen lässt sich auch die Debatte um heutige Einwanderungs- als Integrationspolitik besser verstehen. Denn auch hier wird häufig von einem starren Dogma einer sozialen und ethnischen Durchmischung ausgegangen, die an sich schon Integration befördern soll. Auch in diesem Zusammenhang haben Hartmut Häußermann und Walter Siebel kritische Fragen aufgeworfen und ein Argument vorgebracht, das stark an die frühere Diskussion um die Nachbarschaftsidee erinnert:

70 Bourdieu: »Physischer, sozialer und angeeigneter physischer Raum«, aaO., S. 32. 71 Walter Siebel: »Ist Nachbarschaft heute noch möglich?«, in: Daniel Arnold (Hg.): Nachbarschaft, München 2009, S. 7-13, zit. nach: www.reihenhaus.de/uploads/media/Essay_Prof._Siebel_Nachbarschaft.pdf (Zugriff am 17. Juni 2010).

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»Aber ist eine Politik forcierter Mischung überhaupt im Interesse der Minderheiten und fördert sie langfristig die Integration? Es gibt gute Gründe, diese Frage mit Nein zu beantworten. Die Dekonzentration zerstört informelle Netze oder verhindert bereits deren Aufbau. Damit werden die ökonomischen und sozialen Ressourcen der Migrantenhaushalte geschwächt und damit letztlich auch die psychische Stabilität ihrer Mitglieder. Eine ökonomisch, sozial und psychisch halbwegs gesicherte Existenz aber ist die Voraussetzung für gelingende Integration. Die Tatsache, dass man ausgeprägte Segregation gerade bei den Gruppen findet, die über besonders große Wahlfreiheit auf dem Wohnungsmarkt verfügen, weist darauf hin, dass es ein Bedürfnis nach Wahl der Nachbarschaft gibt. Weshalb wird dieses Interesse gerade bei den Angehörigen der Unterschicht oder den Zuwanderern für illegitim und störend befunden, obwohl diese doch besonders auf informelle soziale Netze angewiesen sind?«72

Während also Marcus und Rüdiger Krenn das Spannungsverhältnis von Nachbarschaft zwischen räumlicher und sozialer Nähe in ihrem Videoprojekt spielerisch-experimentell befragen, liefert die neuere Stadt- und Planungssoziologie einen relativ klaren Befund: Nachbarschaft kann deshalb nicht geplant werden, weil sie auf sozialen Auswahlprozessen basiert und damit eine Form der Wahlverwandtschaft ist. Diese wird durch räumliche Nähe vielleicht begünstigt, ist aber keinesfalls eine unmittelbare Folge des Beieinander-Wohnens: »Räumliche Nähe stiftet keine Nachbarschaft im Sinne sozialer Beziehungen.«73 Die zahlreichen historischen Versuche, durch eine geplante soziale und ethnische Durchmischung sozialen und emotionalen Zusammenhalt – also belonging und togetherness – zu erzielen, müssen insgesamt als gescheitert gelten, weil sie in ihrem sozialen Idealismus den wahren Grund dieser Wahlverwandtschaft verkannt haben: nämlich die grosso modo ähnliche soziale Position und den ähnlichen Erfahrungshintergrund der Menschen, die sich zu solidarischen Gruppen assoziieren. Auch aktuelle Wohn- und Bauprojekte zeigen, dass Nachbarschaft heute eher ein Produkt sozialer Homogenität als von Heterogenität ist.74 Darüber sollte freilich die konkrete Utopie nicht aufgege-

72 Häußermann/Siebel: Stadtsoziologie, aaO., S. 184. 73 Häußermann/Siebel: Stadtsoziologie, aaO., S. 112. 74 Vgl. Sabine Diemer: Neues Wohnen mit Nachbarschaft: Wohnprojekte von Baugruppen, Genossenschaften und Investoren, 2. Aufl., Düsseldorf 2009.

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ben werden, dass das Zusammenleben im städtischen Nahraum auch soziale Integration und emotionale Nähe fördern kann. Beispiele dafür gibt es genug. Doch sind solche Nachbarschaften kaum normativ planbar. Sie entstehen vielmehr prozessual und situativ nach den informellen Regeln von gelebter Erfahrung, Solidarität und – last but not least – Sympathie. Auch im Hinblick auf den aktuellen stadtpolitischen Integrationsdiskurs ist dieser Befund ernst zu nehmen.

GUTE NACHBARSCHAFT, SCHLECHTE NACHBARSCHAFT: FALLSTUDIEN

»Liebe deinen Nächsten«: Konfessionelle Feindseligkeit und Zusammenarbeit während der Reformation in Augsburg E MILY F ISHER G RAY

Konflikte zwischen Nachbarn stören die Ruhe in der Nachbarschaft. Aber die Probleme, die in den Augsburger Nachbarschaften im frühen 16. Jahrhundert auftraten, störten das Leben nicht nur; sie drohten auch das Leben im Jenseits unangenehm zu gestalten. In den 1520er Jahren fielen reformierende Prediger über die Stadt her, führten eine Vielzahl von neuen Ideen über angemessene religiöse Praktiken ein und verursachten dadurch tiefe Spaltungen innerhalb von Familien, von Haushalten und Nachbarschaften. Während diese religiösen Neuerungen sich zu unversöhnlichen Glaubensbekenntnissen verhärteten, zerstörten sie die Einheit der »sakralen Gemeinschaft«, deren kollektives gutes Benehmen für die Sicherung des weiteren Segen Gottes grundlegend war.1 Katholiken bezeichneten ihre reformierenden Nachbarn als Ketzer, und für die Protestanten folgten Katholiken heidnischem Aberglauben, der vom Papst aufrecht erhalten wurde. Mit dem Auftreten von alternativen Überzeugungen und Bräuchen drohte die Verurteilung nicht nur von verblendeten Individuen, sondern von der ganzen

1

Bernd Moeller: »Imperial Cities and the Reformation«, in: ders./H. C. Erik Midelfort/Mark U. Edwards (Hg.): Imperial Cities and the Reformation: Three Essays, Durham 1982, S. 66-67.

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Gemeinde. Trotz der fatalen Folgen von religiöser Zerrissenheit gelang es Augsburg nie, seine religiösen Gruppierungen zu versöhnen. Die Stadt wurde nach 1548 praktisch bikonfessionell und erkannte somit sowohl lutherische als auch katholische Konfessionen an. Heutige Augsburger rühmen sich ihrer Geschichte der religiösen Vielfältigkeit, aber für ihre frühen Vorgänger war dies ein wunder Punkt der Frustration und Scham.2 Der folgende Aufsatz befasst sich damit, wie es einer religiös-gespaltenen Augsburger Nachbarschaft – dem Heilig-Kreuz-Viertel – gelang, religiöse Räumlichkeiten miteinander zu teilen und den Frieden im 16. Jahrhundert zu wahren, und das in einer Zeit, als sich die konfessionelle Linientreue verhärtete. Als religiöse Anführer sich um den Andachtsraum im Augustiner Heilig-Kreuzkloster stritten, erkannten sie, dass es möglich war, zugleich »seinen Nächsten zu lieben« und seinen Feind zu hassen. »Gute Nachbarschaft«, als christliche Tugend von beiden Seiten geschätzt, bot Lutheranern und Katholiken eine Möglichkeit, ihre Ansprüche auf Wahrheit und Gerechtigkeit beiseite zu legen und Vereinbarungen über Zusammenarbeit im Interesse beider Seiten zu verhandeln – trotz (oder vielleicht gerade wegen) ihrer tiefen Antipathie. Als die Nachbarschaft am Heilig-Kreuz schließlich zusammenbrach, war es den weltlichen Behörden zuzuschreiben, die unangemessene Normen materieller Gerechtigkeit aufstellten und somit die Anreize für nachbarschaftliche Zusammenarbeit, von der die gesamte Gemeinschaft profitiert hatte, hinfällig machten. Das Scheitern des Nachbarschaftsprinzips führte zur Teilung des HeiligKreuzviertels in sich überlappende, parallele Gemeinden, die sich aber selten überschnitten.

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Die Heilig-Kreuz-Nachbarschaft von Augsburg liegt im nordwestlichen Viertel der Stadt. Im 16. Jahrhundert war sie der Sitz der respektablen mittelständischen Zunft und ihrer Familien. Nicht etwa reich, wie die Gegend um die St. Anna-Kirche, wo Kaufmannsfamilien wie die Fugger und Welser gelebt hatten, aber auch nicht arm wie das St.

2

Benjamin J. Kaplan: Divided by Faith: Religious Conflict and the Practice of Toleration in Early Modern Europe, Cambridge 2007, S. 143.

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Jakob-Viertel am östlichen Rand der Stadt. Im Heilig-Kreuz-Viertel lebten Nachbarn in der Regel nah beieinander, wobei verschiedene Familien häufig unterschiedliche Etagen im selben Haus bewohnten.3 Wie in anderen Stadtvierteln zu dieser Zeit trafen sich die Bewohner des Heilig-Kreuz-Viertels in den Straßen und Kneipen vor ihren Häusern und verkehrten miteinander.4 Sie tauschten Klatsch und Waren aus, hielten ein Auge auf Fremde und beaufsichtigten gegenseitig ihre Kinder und achteten auf deren Benehmen. Sie prangerten einander an, wenn sie betrunken waren, und übten Druck auf zuchtlose Paare in ihrer Mitte aus. Sie »stritten miteinander und halfen sich.«5 Vor der Reformation lag die Verantwortung für die kirchlichen Gottesdienste in der Pfarrei Heilig Kreuz bei den Augustiner-Mönchen des Heiligen Kreuzklosters, welche Messen und andere Sakramente für die Menschen der Pfarrgemeinde im angrenzenden Predigerhaus abhielten. Laienmitglieder der örtlichen Gemeinde Heilig Kreuz wechselten sich als Zechpfleger – Finanzverwalter – für das Kloster ab und verfügten über ein hohes Maß an Kontrolle über das Predigerhaus und dessen Einnahmen aus Mieten, Vermächtnissen und Kirchenspenden.6 Im Jahre 1525, als die Reformation in Augsburg wütete, wählte die örtliche Gemeinde einen protestantischen Zechpfleger am Heilig Kreuz und übernahm somit die Kontrolle des Predigerhauses zur Nutzung als eine protestantische Kirche.7 Sie bestimmten einen Prediger und begannen eine Tür-zu-Tür-Kollekte in der gesamten Heilig-Kreuz-

3

Michele Zelinsky Hanson: Religious Identity in an Early Reformation Community: Augsburg, 1517-1555, Boston 2009, S. 28.

4

Pascale Sutter: Von guten und bösen Nachbarn: Nachbarschaft als Beziehungsform im spätmittelalterlichen Zürich, Zürich 2002; B. Ann Tlusty: Bacchus and Civic Order: The Culture of Drink in Early Modern Germany, Charlottesville, 2001.

5

Bernd Roeck: Eine Stadt in Krieg und Frieden, Göttingen 1989, S. 331.

6

Rolf Kießling: Bürgerliche Gesellschaft und Kirche in Augsburg im Hochmittelalter. Ein Beitrag zur Strukturanalyse der oberdeutschen Reichsstadt, Augsburg 1971, S. 128; Horst Jesse: Geschichte der Evangelischen Kirche in Augsburg, Pfaffenhofen, 1983, S. 48.

7

EWA (Evangelisches Wesensarchiv, im folgenden: EWA) 873, Jakob Zechbuch.Brucker: Entwurf einer urkundenmäßigen Geschichte der Evangelischen Pfarrkirche zum Heiligen Creuz ..., Augsburg, 1753, S. 5.

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Pfarrei, um sein Gehalt zu bezahlen.8 Die Augustiner-Mönche protestierten, aber ohne Erfolg. Der Augsburger Stadtrat, dessen Meinung über die religiösen Neuerungen geteilt war, lehnte es ab einzugreifen. Eine evangelische Gemeinde aus dem Heilig-Kreuz-Viertel besetzte weiterhin die 1530er Jahre hindurch das Predigerhaus, als zwinglianisch-gesinnte Reformen durch die Stadt fegten, und die 1540er Jahre hindurch, als die katholische Messe verboten wurde und die Augustiner-Mönche ins Exil nach Dilligen flohen. Als die Mönche im Jahre 1548 nach dem katholisch-kaiserlichen Sieg im Schmalkaldischen Krieg zum Heilig Kreuz zurückkehrten, fanden sie eine große und lebendige Gemeinschaft von Protestanten vor, die noch immer fest im Predigerhaus saß. Die heikle Situation wurde durch die Nähe der katholischen Klosterkirche und des Predigerhauses, die innerhalb der Klostermauern nur durch einen schmalen Kirchhof getrennt unmittelbar nebeneinander standen, verschärft. »Die Zechpfleger haben sich die Kapelle im Kirchhof angeeignet«, beklagte sich der Augustiner Probst Bernhard; »sie halten Vorträge, Hochzeiten, Konfirmationen, und Kindestaufen nach ihrer eigenen Art und Weise ab, ohne zu sehen, dass [dieses Recht] nur mir und meinem Gotteshaus gehört.«9 Erschwerend kommt hinzu, dass die Protestanten die Kapelle während der Abwesenheit der Mönche vergrößert hatten und eine Hütte über einen Teil des Bereiches zwischen den beiden Kirchen gebaut hatten, so dass mehr Menschen an den protestantischen Predigten teilnehmen konnten. Die Situation im Jahre 1548 war ringsum angespannt, als sich Lutheraner und Katholiken im Heilig-Kreuz-Viertel zu Gottesdiensten in Kirchen trafen, die sich nur wenige Meter voneinander entfernt befanden. Probst Bernhard suchte durch mehrere Briefe an den Bischof und den Rat eine Wiedergutmachung für seine Beschwerden, während Zechpfleger Andreas Wolff und Wolfgang Prusch ihr Recht auf Kontrolle über das Predigerhaus verteidigten und den Zugang zum katholi-

8

EWA 873, S. 82-83, 152-8. Über die Sammlung berichtete auch Clemens Sender: Chroniken der deutschen Stadt, Bd. 23, S. 179: »da dem Hut in der pfarrvolck Das auffgenommen daselben zu ainem Prediger und ain jar 50 fl geben, und Haben solichs gelt von Haus zu Haus unter DEM pfarrvolck angelegt und gesamlet.«

9

Stadtarchiv Augsburg (im Folgenden StadtAA), Reichstadt Akten, Katholisches Wesensarchiv (im Folgenden KWA) A 381-2, 1548.

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schen Klosterglockenturm verlangten, um so die Glocken für den evangelischen Gottesdienst läuten zu können. Obwohl es nur ein Krieg der Worte war, war der Konflikt zwischen den beiden Kirchen im Heilig-Kreuz-Kloster schwerwiegend. Zwei Jahre zuvor geriet der protestantische Pfarrer des Heilig-Kreuz-Predigerhauses, Johannes Flenner, mit einem der katholischen Domherren in einen Streit, der bis zu dem Punkt eskalierte, dass der Domherr ein »kurzes Gewehr« aus seinem Gewand zog. Einem Passanten gelang es, den Domherren zu entwaffnen und eine mögliche Tragödie zu verhindern.10 Das kaiserliche Interim von 1548 veränderte die Zusammensetzung des Rates so, dass es zu einer drastischen Verringerung des Einflusses der evangelischlehnenden Zünfte im Vergleich zu katholisch Patriziern und Kaufleuten kam, aber der Rat musste noch immer eine mehrheitlich protestantische Bürgerschaft regeln.11 Sie zögerten, offiziell in die Verhältnisse am Heilig Kreuz einzugreifen und somit keine von beiden Seiten scheinbar zu bevorzugen. Die katholische und die lutherische Obrigkeit am Heilig Kreuz löste dieses Dilemma auf innovative Art und Weise. Sie einigten sich darauf, Eigentumsfragen und rechtmäßige Eigentumskontrolle außer Acht zu lassen und darauf, auf der Grundlage einer höheren – für beide annehmbaren – moralischen Norm zu verhandeln, einer Norm, die sie »gute Nachbarschaft« nannten.12 Probst Bernhard schrieb im Jahr 1548 an den Stadtrat, dass er »aus nachbarschaftlicher Freundschaft« heraus zustimmen könne, den Lutheranern die derzeitige Besetzung der Kirche und der Hütte zu erlauben. Die Lutheraner räumten ein Entgegenkommen unter ähnlichen Bedingungen ein.

10 J. F. Rein: Das gesambte Augspurgische Evangelische Ministerium in Bildern und Schriften von den ersten Jahren der Reformation Lutheri bis auf Anno 1748, Augsburg 1749, S. 29. 11 Vgl. Heinrich Lutz: »Augsburg und seine politische Umwelt, 1490-1555«, in: Gunther Gottlieb u.a. (Hg.): Geschichte der Stadt Augsburg, Stuttgart, 1984; Paul Warmbrunn: Zwei Konfessionen in einer Stadt. Das Zusammenleben von Katholiken und Protestanten in den paritätischen Reichstädten Augsburg, Biberach, Ravensburg und Dinkelsbühl von 1548 bis 1648, Wiesbaden 1983. 12 StadtAA, Reichstadt, KWA A 39 II, 1548.

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»Aus günstiger Neigung und guter Nachbarschaft hat [der Probst] zugelassen und bewilligt, eine Hütte auf unsere Kosten auf dem Kirchhof zu bauen, damit das Pfarrvolk, das so wenig in die Kirche passt, außerhalb derselben unter dieser Hütte trocken stehen und das Wort Gottes hören mag.«13

Der Stadtrat erkannte die nachbarschaftlichen Zugeständnisse des Probsts an, indem er dem Heilig-Kreuzkloster in einem amtlichen Schreiben versicherte, dass das Bauwerk auf Kosten der Stadt entfernt werden würde, sobald der Stadtrat es für nicht mehr notwendig empfände.14 Die Lutheraner stimmten zu, den Stadtrat als Schiedsgericht für die Notwendigkeit der Hütte anzuerkennen und sie auf eigene Kosten zu entfernen, falls dies erforderlich werden würde.15 Während der Zeit der religiösen Unsicherheit zur Zeit des Interims von 1548 wurde »gute Nachbarschaft« zu einer effizienten Grundlage für Verhandlungen zwischen Katholiken und Lutheranern am Heilig Kreuz. Nicht nur ermöglichte sie einen tragfähigen Kompromiss in der Frage der Hütte, sondern sie erlaubte den beiden Gemeinschaften, auch die Teilung des Kirchhofs und die Nutzung von verschiedenen Gebäuden auszuhandeln. Die Lutheraner wollten einen eigenen Glockenturm in dem Zwischenraum der beiden Kirchen errichten – ein Vorhaben, dem sich das Kloster entgegenstellte. Alsdann stimmte der Probst zu, den Lutheranern Zugang zum katholischen Kirchglockenturm zu erlauben, so dass lutherische Gemeindemitglieder zur Predigt herbeigerufen werden konnten. Der »guten freundlichen Nachbarschaft wegen und nicht von rechtswegen« sei ihnen dieses Privileg erlaubt, schrieb der Probst.16 Spätere Dokumente legen nahe, dass die Aufteilung der Messnerhütte auf ähnliche Weise geregelt wurde, wo in der Vereinbarung beide Antragsteller die rechtmäßige Kontrolle des Gebäudes aus guter Nachbarschaft heraus aufgaben.17 Der scheinbare Konfliktmangel über die Nutzung des Kirchhofes – ein Ort für katholische Prozessionen und evangelische Trauungen – legt nahe, dass auch hier nachbarschaftliche Planung, ähnlich wie bei der Nutzung der Glocken, die Grundlage für die Einigung darstellte.

13 StadtAA, Reichstadt, KWA A 39 II 1550.01.04 14 StadtAA, Reichstadt, KWA A 38 1-2, 1548. 15 StadtAA, Reichstadt, KWA A 39 II 1550.01.04 16 StadtAA, Reichstadt, KWA A 39 II, 1548. 17 StadtAA, Reichstadt, KWA A 39 II, 1632.

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Als Zeichen dafür, wie gute Nachbarschaft die verschiedenen Rechtsansprüche auf das Land regelte, teilten die beiden Gemeinden sich den Schlüssel für die Tür zum gemeinsamen, umstrittenen Kirchhof. Der eingezäunte Kirchhof konnte durch keinen anderen Eingang als durch diese Tür betreten werden, und die wichtigsten Türen sowohl der lutherischen als auch der katholischen Kirche öffneten sich direkt auf den Kirchplatz hinaus. Im Jahre 1557 bezahlte die Stadt für den Einbau einer neuen Tür und ließ Schlüssel sowohl für die Lutheraner als auch für die Katholiken anfertigen. Jede Seite nahm die nachbarschaftliche Tugend für sich in Anspruch: Der katholische Probst betonte, dass er dem lutherischen Kirchenwächter gnädig die Schlüssel überließ,18 die Lutheraner waren der gleichen Auffassung, weil sie dem Kloster den Schlüssel überließen.19 Dabei beschrieben beide Kirchen die Aufteilung der Schlüssel als eine Handlung, die auf guter Nachbarschaft basierte und die nicht als eine Anerkennung der Rechte des anderen zu sehen sei.

ANREIZE FÜR NACHBARSCHAFTLICHE Z USAMMENARBEIT Das Konzept der »guten Nachbarschaft« bekundete eine Idealvorstellung der christlichen Gemeinschaft. Jesus Christus’ Gebot »Liebe deinen Nächsten«, eine beliebte Botschaft bei Reformationspredigern, vereinte die politische und soziale Gemeinschaft mit der geistlichen Gemeinschaft der Kirche.20 Die Botschaft der Nachbarschaftlichkeit fand in Orten wie Augsburg Widerhall, deren Bewohner dieses Gefühl der gemeinsamen Identität und Verantwortung für ihre Mitmenschen teilten. Folglich stellte das christliche Konzept der Nachbarschaft nicht nur die Grundlage für die Beziehungen zwischen ungleichen oder feindseligen Parteien, sondern es bildete auch ein höheres moralisches Musterbeispiel. Als die lutherischen Kirchenpfleger und der katholische Probst am Heilig Kreuz das Prinzip der Nachbarschaft erwähnten, stellten sie es häufig einem Zustand der Gerechtigkeit, der Fairness

18 StadtAA Reichstadt, EWA 872, Tomus 2. 19 StadtAA Reichstadt, EWA 883, Tomus 3. 20 Lee Palmer Wandel: »Brothers and Neighbors: the Language of Community in Zwingli’s Preaching«, in: Zwingliana 17 (1988), S. 361-374.

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oder des Rechts entgegen. Die beiden Parteien handelten ihre Kompromisse aus, stellten ihre Forderungen ein und teilten ihre Räume »der guten Nachbarschaft wegen und nicht aus Gerechtigkeit heraus«. Diese Interpretation spiegelt die christliche Idealvorstellung wider, die im Neuen Testament zum Ausdruck gebracht wird. Die Bergpredigt lehnt das traditionelle Gesetz der Gerechtigkeit ausdrücklich ab, den Hass auf den Feind, und schärft den Christen stattdessen ein: »Liebet eure Feinde, segnet die, die euch fluchen, tut wohl denen, die euch hassen.«21 Die Liebe zum Nächsten, welche Jesus seinen Anhängern predigte, wurde nur von der Liebe zu Gott übertroffen22 und stellt ein alternatives, höheres moralisches Gesetz für den Umgang mit den Mitmenschen dar, wie er von guten Christen erwartet wurde. Trotz der Rhetorik, die beide Seiten anwandten, kann man nicht davon ausgehen, dass die Vereinbarung über die Zusammenarbeit zwischen der lutherischen und katholischen Obrigkeit am Heilig Kreuz altruistischer Natur war. Auch ist dies kein Beweis für religiöse Toleranz, die sich in Europa erst nach der verlorenen Hoffnung auf religiöse Einheit entwickelte.23 Katholische und lutherische Oberhäupter am Heilig Kreuz verabscheuten einander grundsätzlich und sie ärgerten sich über die Lage, welche sie in die Nähe des jeweils anderen zwang. Jeder fürchtete und widersetzte sich dem Einfluss des Anderen auf die Politik der Stadt und des Reiches.24 Jeder konfessionalisierte aufs Aggressivste die eigenen Anhänger und arbeitete darauf hin, Bekehrungen und Mischehen zu vermeiden.25 Auch wenn gute Nachbarschaft

21 Matthäus 5:43-44, Einheitsübersetzung. 22 Matthäus 22:39, Markus 12:31, Lukas 10:27. 23 S. Ole Peter Grell/ Robert Scribner (Hg.): Tolerance and Intolerance in the European Reformation, Cambridge 1996; Benjamin Kaplan: »Coexistence, Conflict, and the Practice of Toleration«, in: R. Po-chia Hsia (Hg.): A Companion to the Reformation World, Oxford 2005, S. 486-505; Randolph Head: »Religious Coexistence and Confessional Conflict in the Vier Dorfer: Practices of Toleration in Eastern Switzerland, 1525-1615«, in: John Laursen/Cary Nederman (Hg.): Beyond the Persecuting Society, Philadelphia 1997, S. 145-165. 24 Vgl. Warmbrunn: Zwei Konfessionen in einer Stadt, aaO., zur interkonfessionellen Beziehungen in Augsburg im späten 16. Jahrhundert. 25 Duane Corpis: »Mapping the boundaries of confession: space and urban religious life in the diocese of Augsburg« in: Will Coster/Andrew Spicer

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eine stabile Grundlage für das Zusammenleben am Heilig Kreuz schuf, machte sie die zugrunde liegenden Antagonismen nicht zunichte. Probst Bernhard beschrieb den Zustand der konfessionellen Koexistenz, die er ertragen musste, als »eine Belastung, die ich täglich leiden muss.«26 Wie Max Weber zeigte, erzeugt physische Nähe in einer Nachbarschaft eine Interessengemeinschaft zwischen Nachbarn, die sich aus pragmatischem, unsentimentalem Eigeninteresse bemühen, den Frieden und die gute Ordnung zu wahren.27 Von den nachbarschaftlichen Regelungen am Heilig Kreuz profitierten alle Parteien durch die Eindämmung des Konflikts (zumindest vorübergehend), und sie erlaubten jeder Seite, den Gottesdienst auf ihre eigene Art und Weise mit minimalen Beeinträchtigungen abzuhalten. Aber angesichts der Antipathie zwischen den beiden religiösen Gruppen, der Bedeutsamkeit der Erlösung, die auf dem Spiel stand, und der Abneigung der weltlichen Behörden sich einzumischen stellt sich die Frage, wie die beiden Seiten es schafften, einen solchen Kompromiss zu finden. Spieltheoretiker haben ein Modell dafür entwickelt, wie eine für beide Seiten vorteilhafte Kooperation zwischen antagonistischen, eigennützig-handelnden Akteuren bei fehlender Instanz entstehen kann. In dem Spielmodell »Gefangenendilemma« müssen zwei Personen entscheiden, ob sie bei einer Flucht aus dem Gefängnis zusammenarbeiten oder ob sie »sich absetzen« und einander verraten. Die Zusammenarbeit auf beiden Seiten ergibt das bestmögliche Ergebnis für beide Seiten, nämlich die Freiheit, aber sie erfordert gegenseitiges Vertrauen. Da ein Häftling, der den Fluchtplan des anderen preisgibt, potentiell geringere Vorteile davontragen kann, besteht kein Anreiz, einander zu verraten. Das nachteiligste Ergebnis würde sich ergeben, wenn beide Gefangenen den Plan preisgeben: niemand würde profitieren, beide würden bestraft werden. Das »Gefangenendilemma« ist als Modell für das Verständnis von Zusammenarbeit in verschiedenen

(Hg.): Sacred Space in Early Modern Europe, Cambridge 2005, S. 302325. 26 StadtAA Reichstadt, KWA A 38 1-2, 1548. 27 Max Weber: Economy and Society: an outline of Interpretive Sociology, übers. aus dem Dt. v. E. Fischoff, New York 1968. (Original: Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, 1922)

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Bereichen verwendet worden, von der internationalen Diplomatie bis hin zum Verhalten von Insekten.28 Im Heilig-Kreuz-Kloster nahmen die katholischen und die protestantischen Antagonisten die Kirchen und deren Land in Anspruch. Aber weiterhin auf die Gerechtigkeit ihrer Forderungen zu beharren – also die Zusammenarbeit zu verweigern – würde zu einem suboptimalen Ergebnis führen: Der Streit würde fortgesetzt werden, keine Seite könnte weiterhin mit Zuversicht den Gottesdienst abhalten, und beide Seiten könnten die Gebäude und Grundstücke in ihrer unmittelbaren Kontrolle verlieren. Die Bereitschaft zu Kompromissen und Verhandlungen könnte darauf hin deuten, dass die jeweilige religiöse Fraktion ihre absoluten Ansprüche auf Wahrheit und Recht aufgibt, und sie könnte die Ansprüche der jeweiligen Fraktion schwächen, vor allem, wenn die andere Seite »die Flucht ergreifen« oder die Verhandlungen verweigern würde. Das beste Ergebnis wären die gegenseitige Zusammenarbeit und Verhandlungen, was ermöglichen würde, die Gebäude und das Gelände zu teilen, bis es Theologen gelingen würde, das abendländische Christentum wieder zu vereinen – oder bis die Obrigkeit bestimmte, welcher Antragsteller Kontrolle über den Ort haben würde. Bemerkenswerterweise gelang es den Lutheranern und Katholiken am Heilig Kreuz, einander zu vertrauen und ihre Meinungsverschiedenheiten lange genug beiseite zu schieben, um ein Ergebnis zu erreichen, welches im Interesse beider stand. Das Gefangenendilemma zeigt, dass dieses Ergebnis, bei dem Vertrauen und Kompromiss erforderlich waren, durchaus mit der Feindseligkeit und Feindschaft, die jede Gruppierung der anderen gegenüber empfand, kompatibel ist. Paradoxerweise könnte die tiefe Feindschaft zwischen den beiden Parteien im Fall Heilig Kreuz in der Tat den spirituellen Wert, gute Nachbarschaft an den Tag zu legen, erhöht haben. Das höchste moralische Handeln, gemäß der Bergpredigt, wird von jenen veranschaulicht, die »Bösem nicht widerstehen: »…sondern wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann halt ihm auch die andere hin. Und wenn dich einer vor Gericht bringen will, um dir das

28 Das Gefangenendilemma wurde von Merrill Flood, Melvin Drescher und A. W. Tucker entwickelt. Ausführlich diskutiert wird es bei Robert Axelrod: The Evolution of Cooperation, New York 1984.

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Hemd wegzunehmen, dann lass ihm auch den Mantel. Und wenn dich einer zwingen will, eine Meile mit ihm zu gehen, dann geh zwei mit ihm.«29

Im christlichen moralischen Universum bestand die größte Tugend in der Passivität und Unterwerfung angesichts von Ungerechtigkeit. Den konfessionellen Antagonisten am Heilig Kreuz, die sich beide ungerecht behandelt und vom anderen unterdrückt fühlten, ermöglichte das Nachgeben einem Feind gegenüber im Namen des guten Nachbarschaftsprinzips, das Gefühl frommer Tugendhaftigkeit zu empfinden – proportional zur empfundenen Ungerechtigkeit der Lage. Folglich kann der konfessionelle Gegensatz zwischen der Obrigkeit der katholischen und evangelischen Gemeinden am Heilig Kreuz ihre Zusammenarbeit dadurch befördert haben, dass ein solches Handeln sie moralisch erhöhte. Es scheint beiden Seiten gleichgültig gewesen zu sein, dass der andere die gleiche Tugend in Anspruch nahm, als sie ihre Rechte im Namen der Nachbarschaft aufgaben.

D AS E NDE

DER

N ACHBARSCHAFT

Während des Interims von 1548-1555 schufen die Verhandlungen auf der Grundlag guter Nachbarschaft ein effektives System für die Aufteilung von umstrittenen Räumen und Gebäuden zwischen den einander antagonistisch gestimmten lutherischen und katholischen Kirchen. Aber es dauerte nicht lange, bis der Probst des Augustinerklosters aufgerufen wurde, erneut gute Nachbarschaft auszuüben. Die Hütte der lutherischen Kirche, der im Jahr 1548 für so viele Konflikte verantwortlich war, erwies sich für die Bedürfnisse der Gemeinde als unzureichend. Im Jahre 1561 baten lutherische Kirchenpfleger den Stadtrat, ihn durch einen größeren, permanenten Bau zu ersetzen.30 Andere Gesuche an den Stadtrat folgten, und das Baubüro fand sich an mehreren anderen Bau- und Reparaturprojekten auf dem Heilig-Kreuz-Kirchhof beteiligt.1561 wurde ein Kirchenflügel der Renovierung hinzugefügt, um die Sitzplatzkapazität in der Kirche zu erhöhen. Im Jahre 1570 bewilligte der Stadtrat den Bau eines separaten Wohnsitzes für den

29 Matthäus 5:39-42, Einheitsübersetzung. 30 StadtAA Reichstadt, KWA A 39 II.

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lutherischen Küster.31 Im Jahre 1572 kamen für die Kirchhofmauer neue Gitter und Dachrinnen dazu, ein neuer Fußboden im Keller des Predigerhauses sowie zwei Heizöfen und ein Fenster im Jahre 1590. Im Jahre 1593 bezahlte die Stadt die Reparatur des Wohnsitzes des lutherischen Predigers, dessen Dach einzubrechen drohte. Im Jahre 1600 wurde das Dach des Predigerhauses repariert, und drei Jahre später wurde der Steinfußboden im Inneren der Kirche ersetzt und die Sitzgallerie erweitert.32 All diese Projekte wurden auf Kosten der Stadt mit nur minimalen Beiträgen aus der lutherischen Gemeinde durchgeführt.33 Diese Reihe von Bauprojekten, die alle die Ausübung von Nachbarschaft auf katholischer Seite erforderten, ohne Zugeständnisse von den Lutheranern, führte die katholische Obrigkeit dazu zu bekräftigen, dass sie, sofern es nötig sein würde, aus der Vereinbarung aussteigen würden.34 Im Jahre 1594 stellte der Augustiner-Probst am HeiligKreuz-Kloster einen Arbeiter auf Kosten des Klosters ein, um Türen zu reparieren, welche von der Straße zu dem gemeinsamen Raum zwischen den beiden Kirchen führten. Als das Werk vollendet war, behielt der Probst alle Schlüssel für sich. Obwohl das Schloss an der Kirchhoftür weitgehend symbolischen Charakter trug – üblicherweise blieben solche Türen unverschlossen, sogar über Nacht –, hatte der Probst nun die Möglichkeit, den Lutheranern den Zugang zu ihrer Kirche zu verwehren.35 Der katholische Baumeister der Stadt stellte Ermittlungen

31 Eine Auflistung der Katholiken aus dem Jahre 1632, die die größeren Bauprojekte auf dem Gelände der Heilig-Kreuz-Kirche verzeichnete, vermerrkt, dass das Messnerhaus auf dem rechtmäßigen Gelände des Priorats gebaut wurde, »contra ius et fas«. In den Unterlagen sind keine Proteste aus der Zeit des Baus vermerkt. StadtAA Reichstadt, KWA A 39 II, 1632. 32 Siehe StadtAA Reichstadt, EWA 872 Tomus 2 und EWA 861 Tomus 1. 33 StadtAA Reichstadt, EWA 872 Tomus 2. 34 Wenn im Gefangenen-Dilemma-Spiel ein Häftling Signale aussendet, dass er aus dem kooperativen Arrangement aussteigen will, um seine persönlichen Interessen zu verfolgen, dann steigt die andere Partei fast immer ebenfalls aus. Vgl. Axelrod: The Evolution of Cooperation, aaO., »Einführung«. 35 StadAA Reichstadt, KWA A 38 1-2. In diesem Dokument geben die lutherischen Hüter des Heilig Kreuz das Beispiel des Doms unserer Lieben Frau

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an und schlussfolgerte, dass die Lutheraner kein Recht auf einen Schlüssel hatten, weil sie kein Recht auf das Land und die Gebäude hatten.36 Sofort verlangten die Katholiken in Übereinstimmung mit der ursprünglichen Vereinbarung die Zerstörung aller lutherischen Bauwerke.37 Angesichts scharfer Proteste von Seiten der lutherischen Fraktionen forderte der Stadtrat den Baumeister zweimal auf, seinen Bericht zu überdenken. Zweimal antwortete der Baumeister, dass er keine neuen Beweise erbracht hatte, um seine Schlussfolgerungen zu ändern.38 Selbst der Bischof von Augsburg bat eindringlich um Zurückhaltung und gab dem Probst den Ratschlag, die Sache auf sich beruhen zu lassen, um unnötige Streitigkeiten zu vermeiden.39 Schließlich gab der Stadtrat am 28. Dezember 1596 – zweieinhalb Jahre, nachdem der Streit über die Schlüssel begonnen hatte – eine Verordnung bekannt, die den lutherischen Kirchenwächtern am Heilig Kreuz einen Schlüssel zur Tür einräumte.40 Das Interim und der Friede von Augsburg führten dazu, dass der Stadtrat in religiösen Streitigkeiten neutral bleiben sollte, aber fast alle Maßnahmen des Rates – vom Bau der evangelischen Kirche im Jahre 1561 bis hin zur Lösung der zentralen Frage im Jahre 1596 – schienen zugunsten der Lutheraner geklärt worden zu sein. Diese scheinbare Bevorzugung zugunsten der lutherischen Seite könnte vom Versuch des Rates hergerührt haben, zwischen den beiden Konfessionen am Heilig Kreuz einen Zustand materieller Gleichheit herzustellen. Da sowohl das Luthertum als auch der Katholizismus offiziell anerkannte Konfessionen in Augsburg waren, genossen die beiden Kirchen den gleichen politischen Status. In materieller Hinsicht jedoch waren die

und der St. Ulrich-Kirche, die beide Kirchhöfe vor der Kirche besaßen und die beide Tag und Nacht ihre Pforten geöffnet ließen. 36 Das Original des Baumeister-Berichts an den Stadtrat fehlt, aber die Argumentation kann aus der Antwort auf diesen Bericht geschlossen werden. StadtAA Reichstadt, KWA A 38 1-2, 1594.05.10. 37 Auch hier fehlt die ursprüngliche Anfrage des Probstes, aber aus der Antwort darauf warden seine Forderungen deutlich. StadtAA, Reichstadt, KWA A 38 1-2, 6 / 1596. 38 StadtAA Reichstadt, KWA A 38 1-2, 1596.09.04.Siehe auch KWA A 38 1-2, 1596.07.02. 39 StadtAA Reichstadt, KWA A 38 1-2, 1594.07.02. 40 StadtAA Reichstadt, KWA A 38 1-2, 1596.12.28.

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Lutheraner und Katholiken am Heilig Kreuz eindeutig ungleich. Die Katholiken hielten ihren Gottesdienst in einer großen gotischen Kirche ab, welche im Jahre 1500 erheblich umgebaut worden war und genügend Platz für ein Dutzend Augustiner-Mönche und eine kleine katholischen Gemeinde bot.41 Die viel kleinere Kapelle der Lutheraner aus dem 13. Jahrhundert platzte dagegen aus allen Nähten. Der Stadtrat, der mit den nachbarschaftlichen Beziehungen zwischen den beiden Konfessionen beauftragt war, indem er Schadens- und Eigentumsfragen im Gleichgewicht hielt, befand sich in einer schwierigen Lage. Die Ausbesserungsarbeiten am lutherischen Gebäude, welche auf Kosten der Stadt durchgeführt wurden, könnten ein Versuch gewesen sein, den Zustand der lutherischen Gebäude in Einklang mit den katholischen zu bringen, wodurch Frieden und politische Gleichheit zwischen ihnen leichter zu bewahren war. Jedoch handelte der katholisch-dominierte Stadtrat somit unfair gegenüber dem katholischen Heilig-KreuzKloster, da Verbesserungen nur an den lutherischen Gebäuden auf dem Grundstück stattfanden und somit nur noch von den Katholiken abverlangt wurde, das Prinzip für gute Nachbarschaft über das Prinzip der Gerechtigkeit zu stellen. Die Regulierung von oben – ungeachtet dessen, wie gut es gemeint sein mag –, die den Frieden im angefochtenen religiösen Raum durch Gleichheit zu wahren versuchte, erwies sich in Fällen gemeinsamer religiöser Räumlichkeiten anderswo ähnlich unglücklich. Robert Haydens Studie über den geteilten Mahdi-Schrein in Indien hat gezeigt, dass die britische Kolonialregierung im 19. Jahrhundert, in der Bestrebung, den Frieden zwischen Muslimen und Hindus zu stiften, im angefochtenen Schrein einen Zustand strenger materieller und politischer Gleichheit verhängte. Dieses Handeln diente nur dazu, ein langjähriges Machtgleichgewicht (wenngleich dieses nicht ganz gerecht war) zwischen Muslimen und Hindus zu kippen. Die Hindus, eine weniger starke Gemeinschaft, die weniger Gebäude vom Schrein und der heiligen Orte kontrollierten, genossen einen unverhältnismäßigen und un-

41 Es ist unklar, wie viele Menschen die beiden Kirchen regelmäßig nutzten, aber es scheint, als hätten in jener Zeit nicht mehr als zwölf Mönche im Heilig-Kreuz-Kloster gewohnt. Auf die relative Größe der beiden Gemeinden kann man aus der Tatsache schließen, dass nur 10 % der Bevölkerung von Augsburg katholisch war und dass es dennoch mehr katholische als lutheranische Kirchen gab.

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fairen Vorteil von Seiten der kolonialen Regierungsgewalt. Dies führte zur Ressentiments innerhalb der örtlichen muslimischen Gemeinschaft und störte das friedliche Zusammenleben der gegensätzlichen religiösen Gruppierungen am Mahdi-Schrein.42 Ein paar Jahre nach dem Streit über die Schlüssel schlug die Baubehörde der Stadt zwei Türen in die Hütte des Predigerhauses, so dass lutherische Gemeindemitglieder direkt von der Straße in die Kirche gehen und den Kirchhof ganz umgehen konnten.43 Dies war eine von mehreren Maßnahmen, die ergriffen wurden, um die rivalisierenden Konfessionen physisch voneinander zu trennen: beginnend mit dem Bau einer separaten lutherischen Küsterresidenz und später mit dem Zugang für die Lutheraner zu ihrer eigenen Glocke am Heilig Kreuz. Der Friede von Westfalen im Jahre 1648 machte das Prinzip der guten Nachbarschaft überflüssig und beriet ihr ein Ende. Es wurden offizielle Grenzen und eine Besitzordnung von Grundstücken und Gebäuden geschaffen. Der Friede von Westfalen veränderte die Beschaffenheit des heiligen Ortes am Heilig Kreuz. Er umfasste nicht mehr zwei Kirchen, einen Kirchhof und mehrere Gebäude, somit einen Raum, der in seiner Gesamtheit von Lutheranern und von Katholiken in Anspruch genommen wurde und zwischen ihnen aufgeteilt wurde. Der Friede schaffte deutliche Grenzen und markierte die Trennlinie zwischen dem lutherischen Heilig Kreuz und dem katholischen Heilig Kreuz. Heilig Kreuz war nicht länger ein umstrittener Raum, der widerstrebend geteilt wurde, sondern wurde zu einem geteilten Ort.44 Die rege Zusammenarbeit, welche durch das Prinzip der guten Nachbarschaft ermöglicht worden war, funktionierte nicht mehr.

42 Robert Hayden: »Antagonistic Tolerance«, in: Current Anthropology 43 (2002), S. 212. 43 StadtAA Reichstadt, EWA 872 Tomus 2. 44 Das lutheranische Predigthaus wurde im 30jährigen Krieg zerstört und an derselben Stelle wieder aufgebaut. S. dazu Emily Gray Fisher: Good Neighbors: Architecture and Confession in Augsburg’s Lutheran Church of the Holy Cross, Dissertation, University of Pennsylvania 2004. Zu den sozialen Beziehungen zwischen Lutheranern und Katholiken nach 1648 s. Etienne François: Die unsichtbare Grenze. Protestanten und Katholiken in Augsburg 1648-1806, Sigmaringen 1991.

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S CHLUSSFOLGERUNGEN : F EINDSELIGKEIT ZWISCHEN N ACHBARN UND G ERECHTIGKEIT Eine Reihe von Gelehrten hat von der paradoxen Beziehung zwischen konfessioneller Feindseligkeit und konfessioneller Koexistenz während des ersten Jahrhunderts der Reformation Notiz genommen. Alexandra Walsham schrieb vom »Charitable Hatred« zwischen religiösen Sekten in England.45 Randolph Head hat darauf hingewiesen, dass die Beispiele von Simultankirchen in der Schweiz bestenfalls eine »widerwillige und vorübergehende Annahme einer unangenehmen Notwendigkeit darstellen«.46 Robert Hayden bezeichnet die spontane Zusammenarbeit zwischen Hindus und Muslimen in Südasien als »antagonistische Toleranz«.47 Wie das Gefangenendilemma und diese Beispiele zeigen, müssen Nachbarn einander nicht lieben, um friedlich zu koexistieren: Altruismus, Selbstlosigkeit und Toleranz sind keine notwendigen Voraussetzungen für Nachbarschaft. Am Heilig Kreuz schätzten Lutheraner und Katholiken sowohl die geistlichen als auch die weltlichen Vorteile von guter Nachbarschaft ausreichend, um sich dafür sogar über ihre tiefe Feindseligkeit im Konkurrenzkampf um Raum und Seelen hinwegzusetzen. Die gegenseitige Feindschaft zwischen den Konfessionen könnte die nachbarschaftliche Zusammenarbeit am Heilig Kreuz sogar ermutigt haben, da die Tugend des Gebots Jesus für die Christen, »deinen Nächsten zu lieben«, im Verhältnis zur Schwierigkeit seiner Ausübung steht. Warum also hat das Prinzip der Nachbarschaft ein Ende genommen? Die konfessionellen Feindseligkeiten, die ursprünglich zu seiner Notwendigkeit führten und seine Wirksamkeit eventuell sogar erhöht haben, waren nicht beigelegt worden. Die ursprünglichen nachbarschaftlichen Absprachen zwischen Lutheranern und Katholiken betonten, die Prinzipien der Gerechtigkeit und des weltlichen Rechts außer Acht zu lassen. Probst Bernhard und die lutherischen Zechpfleger führten miteinander Verhandlungen »aus guter Nachbarschaft, und keiner Gerechtigkeit« wegen und betonten, dass ihre Vereinbarungen »nicht von Rechts wegen« waren. Aber Lutheraner am Heilig Kreuz

45 Alexandra Walsham: Charitable Hatred: Tolerance and Intolerance in England, 1500-1700, New York 2008. 46 Head: »Religious Coexistence«, aaO., S. 97. 47 Robert Hayden: »Antagonistic Tolerance«, aaO., S. 212.

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entdeckten schließlich, dass es für ihre geringfügigen Interessen günstig war, die (weltliche) Obrigkeit an Bauprojekten zu beteiligen. Im Gefangenendilemma basiert die Entscheidung der Parteien darüber, ob man in der Zukunft einander vertrauen und zusammenarbeiten sollte, oft auf bisherigen Erfahrungen. Die Katholiken am Heilig Kreuz kooperierten weiterhin und handelten nach dem Prinzip der guten Nachbarschaft, sogar als die Lutheraner anfingen »auszuscheren«, wobei sie den guten Willens der Katholiken ausnutzten, um für sich selbst eine bessere Lage zu schaffen. Infolge dessen begannen auch die Katholiken auszuscheren, ließen die Schlüssel ändern und bestanden erneut darauf, dass Konflikte im Kloster zum Heiligen Kreuz von den Behörden auf der Grundlage von Recht und Gerechtigkeit entschieden werden würden und nicht durch das Nachbarschaftsprinzip. Die physische Teilung des religiösen Ortes am Heilig Kreuz war der Vorläufer für die Teilung der Nachbarschaft. Eine »unsichtbare Grenze« entwickelte sich nach 1648 zwischen Lutheranern und Katholiken, die im Heilig-Kreuz-Viertel und in Augsburg lebten. Sie teilten die gleichen Straßen, hatten aber selten Umgang miteinander. Basierend auf religiösen Spaltungen entstanden zwei parallele Kulturen.48 Mit dem Auseinanderfallen bzw. Verstummen der Nachbarschaft am Heilig Kreuz wurde auch das Prinzip der guten Nachbarschaft hinfällig.

48 François: Die unsichtbare Grenze, aaO.

Gefährliche Nachbarschaften: Bürgerliche Grenzwüsten bei Stifter und Keller D OROTHEE K IMMICH

I.

E INLEITUNG : N ACHBARN

SIND SICH ÄHNLICH

Die literaturwissenschaftliche Reflexion über »Nachbarschaften« soll hier im Kontext einer kulturtheoretischen Überlegung vorgenommen werden. Überlegungen zu Nachbarschaft sind Teil einer Theorie der Grenze, der Abgrenzung, der Feindschaft, berühren aber auch Modi der Kommunikation, der Assimilation und der Annäherung; es gibt dabei soziologische, ethnologische, psychologische und kulturwissenschaftliche Aspekte. Ich möchte mich dem Thema hier mit einem kulturwissenschaftlichen Zugang und mit Hilfe von literarischen Beispielen nähern. Dabei soll es nicht in erster Linie um Praktiken der Abgrenzung und Differenzierung gehen, die nachbarschaftliche Verhältnisse notwendigerweise implizieren, sondern vielmehr um die Frage, wie Annäherung, Assimilation und Ähnlichkeit verhandelt und in gelingender bzw. scheiternder Weise als nachbarliche Strategien eingesetzt werden. »Ähnlichkeit« soll dabei zunächst als eine kulturtheoretische Kategorie vorgestellt und anschließend im Zusammenhang mit modernen Raumtheorien verhandelt werden. Am Schluss stehen die Beispiele, die die literarische Reflexion auf Ähnlichkeit im Kontext von erzähltem Raum und nachbarschaftlichen Konflikten reflektieren. Ein Denken in »Ähnlichkeiten« ist keine absolut neue Idee, und selbstverständlich handelt es sich nicht um einen unbesetzten Begriff.

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Ganz im Gegenteil: Prominente Autoren von der Antike bis zur klassischen Moderne haben an zentralen Stellen ihrer Werke die Bedeutung von Ähnlichkeit als Erkenntnis leitender Idee – und Praktik – hervorgehoben.1 Allerdings wurde diese Tradition bisher im Rahmen der aktuellen Diskussionen über Kulturkonzepte nicht wieder aufgegriffen. »Ähnlichkeit« soll also hier nicht als ein neues Paradigma, wohl aber als ein innovatives Modell der Analyse eingeführt werden.2 Zunächst einmal werde ich dazu auf einige Thesen von Bruno Latour zurückgreifen, dann aber meine Überlegungen vor allem an Autoren der klassischen Moderne entwickeln, darunter Freud, Simmel, Warburg, schließlich auch an literarischen Beispielen, die ich zu Gründungstexten der bürgerlichen Moderne zählen möchte, an Novellen von Gottfried Keller und Adalbert Stifter. Sie verhandeln Ähnlichkeit ganz konkret im Kontext von nachbarschaftlichem Verhalten. Latours wissenschaftshistorisch fundierte Revision der Moderne macht deutlich, dass naturwissenschaftliche Paradigmen nicht alleine konstitutiv sind für modernes Denken, auch wenn dies die meisten Selbstbeschreibungen der Moderne nahezulegen scheinen. »Wir sind

1

Vgl. Gerald Funk/Gert Mattenklott/Michael Pauen: »Einleitung der Herausgeber«, in: dies. (Hg.): Ästhetik des Ähnlichen. Zur Poetik und Kunstphilosophie der Moderne, Frankfurt a.M. 2001, S. 7-34, hier: S. 7.

2

Vgl. Anil Bhatti: »Heterogenität, Homogenität, Ähnlichkeit«, in: Andrea Allerkamp/Gérard Raulet (Hg.): Kulturwissenschaften in Europa – eine grenz überschreitende Disziplin? Münster 2010, S. 250-256; ders.: »›...zwischen zwei Welten schwebend...‹. Zu Goethes Fremdheitsexperiment im ›West-östlichen Divan‹«, in: Hans-Jörg Knobloch / Helmut Koopmann (Hg.): Goethe. Neue Ansichten, Würzburg 2007, S. 103-121; ders.: »Der Orient als Experimentierfeld. Goethes ›Divan‹ und der Aneignungsprozess kolonialen Wissens«, in: Goethe-Jahrbuch 2009, Göttingen 2010, S. 115-128. Vgl. auch: Wolfgang Welsch: »Transculturality: The Puzzling Form of Cultures Today«, in: Mike Featherstone/Scott Lash (Hg.): Spaces of Culture. City, Nation, World, London/New Delhi 1999, S. 194-213; Albrecht Koschorke: »Wie werden aus Spannungen Differenzen? Feldtheoretische Überlegungen zur Konfliktsemantik«, in: Heinz Fassmann /Wolfgang Müller-Funk/Heidemarie Uhl (Hg.): Kulturen der Differenz – Transformationsprozesse in Zentraleuropa nach 1989. Transdisziplinäre Perspektiven, Göttingen 2009, S. 271-286.

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nie modern gewesen«3, so lautet der mittlerweile zur Formel gewordene Titel. Latours These, dass die Moderne sich gar nie wirklich durchgesetzt habe, dass die Unterscheidung zwischen modernen und vormodernen Kulturen eine Selbsttäuschung der Moderne sei, beruht auf seiner Analyse der großen heuristischen »Trennungen«, wie sie die moderne Wissenschaft vornimmt. Die Einteilung in Natur und Gesellschaft, Subjekt und Objekt, Mensch und Maschine führe zu einer Anzahl an Fehlschlüssen, die als direkte Konsequenz die Fehldiagnosen eines Endes der Geschichte und des Endes der Metaphysik nach sich zögen. Die Modernisierung wird im Gegenzug bei Latour als ein wesentlich komplexerer Prozess der Ausdifferenzierung von Diskursen beschrieben. Überraschend ist dabei, dass Ausdifferenzierung gerade nicht nur nach dem Modell der Differenz, sondern auch nach dem der Ähnlichkeit funktionieren kann. Dies gilt insbesondere im Verhältnis von Mensch und Ding.4 Latour knüpft mit seinen Überlegungen dabei einerseits an Michel Foucaults Charakterisierung der Ähnlichkeit als vormoderner Episteme an, geht aber andererseits in seinen Beobachtungen und Thesen über Foucault hinaus.5 Er versucht, eine revidierte »Ordnung der Dinge« vorzulegen und mit Hilfe von aktuellen Überlegungen die Ähnlichkeit zu »rehabilitieren«. Die moderne Kulturtheorie und vor allem die Kulturanthropologie erarbeitet also Ansätze, die das Verhältnis von Moderne und Imagination, Natur und Kultur, Mensch und Ding nicht dichotom, sondern angemessen komplex beschreibbar machen sollen. Alle Aspekte werden in den literarischen Verhandlungen von nachbarschaftlichem Verhalten aufgegriffen: Die Nähe von Natur und Kultur, die Annäherung von Mensch und Ding, die Assimilation von eigen und fremd und zugleich die Gegenbewegung zu jeder dieser Tendenzen. Besonders relevant erweist sich die Annäherung von Moderne und Magie im ethnologischen und psychoanalytischen Diskurs.

3

Bruno Latour: Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, Frankfurt a.M.1998.

4

Vgl. dazu Dorothee Kimmich: Die lebendigen Dinge der Moderne, Konstanz 2011.

5

Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt a.M. 1974, S. 46.

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II. M AGISCHE B ERÜHRUNGEN Man muss den Beginn einer Kritik von radikalen Differenzverfahren nicht erst mit Latour ansetzen, sondern kann sich durchaus schon auf die Theoretiker der ersten Moderne bis 1930 berufen. Schon hier finden sich vergleichbare Thesen: Sie setzen bei der anthropologischen Erforschung von magischen Praktiken an. Man wird dabei etwa auf die prominente Funktion verweisen können, die Magie, Animismus und die so genannte »Allmacht der Gedanken« in Sigmund Freuds Kulturtheorie einnehmen. Freud erinnert seine Leser in Totem und Tabu etwa daran, dass das praktische Bedürfnis, sich der Welt zu bemächtigen, von den einen als »Magie« verstanden werde, für die anderen aber eben die Grundzüge von Kultur oder Technisierung darstellten. »Ich würde es vorziehen«, so bemerkt Freud dazu kritisch, »es […] der Technik zu vergleichen«.6 Freud rekurriert bei seinen Vergleichen auf ethnologisches Material und zitiert vor allem James G. Frazer, der die Bemächtigung von Welt und Natur durch den Vollzug von »ähnlichen Gesten« als »imitative« oder auch »homöopathische« Magie bezeichnet.7 Das heißt, sie funktioniert nach dem Prinzip: »Similia similibus curant.«8 Dabei führt er Magie auf die Gesetze der Ideenassoziation zurück, und zwar jeweils auf deren fundamentale Verknüpfungsregeln: Ähnlichkeit – also Analogie – und Berührung – also Kontiguität. Einen ganz ähnlichen Ansatz des Kulturvergleichs und Abgleichs von Moderne-Konzepten verfolgt auch Aby Warburg mit seinem Buch über das Ritual des Schlangentanzes, der ebenfalls als eine Form der »homöopathischen Magie« bezeichnet werden kann: »Uns erscheint das Nebeneinander von fantastischer Magie und nüchternem Zwecktun als Symptom der Zerspaltung; für den Indianer ist es nicht schizoid, im Gegenteil, ein befreiendes Erlebnis der schrankenlosen Beziehungsmöglichkeit zwischen Mensch und Umwelt.«9

6

Sigmund Freud: Totem und Tabu. Gesammelte Werke Bd. 9, hg. v. Anna Freud, Frankfurt a.M. 1968, S. 87.

7

Freud: Totem und Tabu, aaO., S. 87.

8

Dieter Harmening: Wörterbuch des Aberglaubens, Stuttgart 2005, S. 285.

9

Aby Warburg: Schlangenritual. Ein Reisebericht, mit einem Nachwort v. Ulrich Raulff, Berlin. 1992, 4. Auflage, S. 10.

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Wenn Warburg dazu kommentiert, es handle sich um »getanzte Kausalität«,10 insistiert er ebenso auf der Ähnlichkeit moderner technischer und vormoderner magischer Praktiken wie Freud, der Magie und Technik auf dem Feld der Kulturanalyse nicht grundsätzlich unterscheiden möchte. Auch von Freud wird Magie dabei in einen Zusammenhang mit Assoziationsprinzipien gestellt. Es gibt für ihn Magie durch Imitation, solche durch Berührung oder Teilhabe oder durch Kontiguität (etwa an einem Körper durch das Entwenden eines Haares etc.). Die Art und Weise, wie der Zauber übertragen werde, geschehe nicht durch das Prinzip der Kausalität, sondern durch Assoziation. Auffällig sei, so Freud weiter, dass »die beiden Prinzipien der Assoziation – Ähnlichkeit und Kontiguität – in der höheren Einheit der Berührung zusammentreffen. Kontiguitätsassoziation ist Berührung im direkten, Ähnlichkeitsassoziation solche im übertragenen Sinne.«11 Freud, Frazer und Warburg sind selbstverständlich keine naiven Anhänger magischer Praktiken, sie glauben nicht an Geister und machen auch keine Werbung für homöopathische Medizin, aber sie weisen auf die Unsicherheit und Brüchigkeit moderner Welterklärung hin: Kausalität, Naturgesetze, Technik und Werkzeuggebrauch scheinen nur eine oberflächliche Sicherheit zu bieten, die man aber aus Vorsicht oder besser aus Klugheit noch mit anderen Praktiken unterstützen sollte, dazu gehört das Denken in Ähnlichkeiten. Wäre dem so, dann könnte man – mit Latour – behaupten, dass Moderne und NichtModerne eben nicht grundsätzlich voneinander geschieden sind, sondern eben auch mehr oder weniger Ähnliches vorweisen können. Alle genannten Autoren sind also interessiert an den relevanten Spuren des Vormodernen im Modernen – oder anders ausgedrückt: Sie sind interessiert an der Latourschen Frage, wie modern wir eigentlich sind. Noch anders formuliert, sind diese Autoren beschäftigt mit der radikaleren Frage, ob wir denn überhaupt so modern sein sollten, wie wir behaupten zu sein, und ob die Grenzen zwischen »modern« und »nicht-modern« nicht fließender sein könnten. Ähnlichkeit spielt hier in einer doppelten Perspektive eine Rolle: Es gibt mehr Ähnlichkeit zwischen modern und vormodern als zunächst angenommen; und diese

10 Warburg: Schlangenritual, aaO., S. 54. Vgl. dazu Erhard Schüttpelz: Die Moderne im Spiegel des Primitiven. Weltliteratur und Ethnologie 18701960, München 2005. 11 Freud: Totem und Tabu, aaO., S.91.

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Ähnlichkeit liegt genau in dem Bereich, den man ein »Denken in Ähnlichkeiten« nennen könnte. Damit schwingt in allen Texten neben der Beschreibung von fremden Kulturzuständen auch eine kritische Befragung der eigenen Kultur mit. Diese eher implizit als explizit gestellte Frage gilt dabei sowohl der praktischen als auch der wissenschaftlichen und eben auch der ethischen Leistungsfähigkeit moderner Welterklärung. Fassen wir hier kurz zusammen: Ähnlichkeit wird von den genannten Autoren reflektiert im Zusammenhang mit Grundfragen moderner Welterklärung. Dabei gilt sie zunächst als Kriterium vormodernen Denkens und magischer Praktiken. Bei näherem Hinsehen stellt sich heraus, dass das eigentliche Interesse aber vielmehr den Anteilen dieses Denkens und dieser Praktiken an der modernen Episteme gilt. Wir können schließen, dass die zitierten Autoren den Eindruck haben, die moderne, vor allem auf Kausalität basierende Welterklärung erfasse nicht alle Phänomenbereiche, darunter vor allem den zentral wichtigen der Beziehung des Menschen zu seinen Dingen und zu seinem Ort in der Welt. Es handelt sich um eine Art von Wissen, das präzise und diffus zugleich, fremd und vertraut, traditionell und aktuell, unmittelbar und doch unbegreiflich zu sein scheint. Durch diese Charakterisierung ist es offenbar für ganz bestimmte Funktionen oder Kommunikationssituationen qualifiziert. Meine Vermutung ist, dass es sich hier um ein Denken oder ein Konzept handelt, das für Situationen vorgesehen ist, in denen das Verstehen, oder besser »hermeneutisches« Verstehen, versagt; das also dort Kommunikation ermöglicht, wo es eigentlich keine geben kann. Noch einmal anders formuliert: Ich denke, dass es hier nicht nur darum geht, zu beschreiben, wie die Anderen, die Fremden, die Nicht-Modernen, die Primitiven denken, sondern vielmehr, wie man denken und handeln muss, um sich mit den Anderen zu verständigen, also mit dem Neurotiker, dem Irren, dem Wahnsinnigen, dem Nachbarn oder auch mit den Dingen, den Wilden und mit Kindern. Es geht um die spezifische Leistungsfähigkeit des Denkens in Ähnlichkeiten, die sich ganz offenbar auf einem Feld des Umgangs mit dem Fremden – und damit dem historisch, kulturell, biographisch, geschlechtlich oder normativ Fremden – ausweist.

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III. I M N IEMANDSLAND DER ÄHNLICHKEITEN : D ER R AUM ZWISCHEN DEN N ACHBARN Nun wird uns die Frage beschäftigen, wie genau eine solche kommunikative Praxis der Ähnlichkeiten den Umgang mit dem Fremden strukturieren und beeinflussen könnte. Ich möchte dabei auf zwei Texte zur Raumtheorie von Georg Simmel zurückgreifen. Die Verortung der »Ähnlichkeit« im Kontext der modernen Raumtheorie macht deutlich, dass Ähnlichkeit oft im Zusammenhang mit räumlicher Nähe verhandelt wird. Die Emergenz von ähnlichen Phänomenen wird oft der Berührung zugesprochen – dies verweist auf die Verwandtschaft zur Idee der Kontiguität im Bereich des Magischen – oder der räumlichen Nachbarschaft. Nachbarschaft thematisiert Ähnlichkeit, instrumentalisiert sie oder entlarvt eben auch trügerische Ähnlichkeiten, die sich als unbrauchbar oder sogar gefährlich erweisen. Es geht einmal um Simmels Über räumliche Projektionen sozialer Formen (1903)12 und um seinen Text Exkurs über den Fremden (1908).13 Beide Male geht es um Raum und um Fremde. Der Fremde, so Simmel, ist derjenige, der »heute kommt und morgen bleibt«,14 der also Teil der Gemeinschaft, der »neighbourhood« wird. Die dadurch entstehende spannungsvolle Einheit von Nähe und Ferne bestimmt das Verhältnis des Fremden zu den nicht Fremden, deren Nachbar er trotz allem wird: Es sei eine »Wechselwirkungsform«15 Die Fremden sind meist Händler, oft sind es die Juden. Fremde sind keine typischen »Bodenbesitzer« und haben keinen fixierten Platz im Raum. Besonders wichtig ist Simmel die Objektivität, die Fremde gegenüber den Beziehungen der Nicht-Fremden entwickeln können.

12 Georg Simmel: »Über räumliche Projectionen socialer Formen«, in: ders.: Aufsätze und Abhandlungen 1901-1908, Bd. 1 (Georg Simmel Gesamtausgabe, Bd. 7), hg. v. Rüdiger Kramme/Angelika Rammstedt/Otthein Rammstedt, Frankfurt a. M. 1995, S. 201-220. 13 Georg Simmel: »Exkurs über den Fremden«, in: ders.: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung (Georg Simmel Gesamtausgabe, Bd. 7), hg. v. Otthein Rammstedt, Frankfurt a.M. 1992, S. 764-771. 14 Simmel: »Exkurs über den Fremden«, aaO., S. 764. 15 Simmel: »Exkurs über den Fremden«, aaO., S. 765.

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»Man kann Objektivität auch als Freiheit bezeichnen. Der objektive Mensch ist durch keinerlei Festlegung gebunden, die ihm seine Aufnahme, sein Verständ16

nis, seine Abwägung des Gegebenen präjudizieren könnten.«

Das Fremdsein bekommt – übrigens ebenso wie bei Siegfried Kracauer, der dabei von »Exterritorialität« spricht – einen existentiellen Status, der sowohl moralische als auch wissenschaftsethische Aspekte einschließt und so gewissermaßen den Fremden vom Paria zum eigentlichen »Helden« werden lässt. Im letzten Abschnitt der Abhandlung Über räumliche Projektionen sozialer Formen wird von Simmel eine Idee entwickelt, die diesen Status des Fremden nicht nur für den Wandernden reserviert, sondern einen Raum entwirft, in dem alle diesen Status haben und daher die Ökonomie von Nähe und Ferne noch einmal variiert wird. Es geht zunächst ganz konkret um Grenzwüsten, um Gebiete, die zur Sicherung des eigenen Terrains um ein Land gezogen werden. Neben der Absicherung durch Abtrennung stellen diese Bereiche aber zudem einen Raum der Neutralität und Objektivität her, in dem Begegnungen stattfinden können, die es sonst nirgends gäbe: »Eine unabsehbare Zahl von Beispielen zeigt uns Gebiete, auf denen Verkehr, Entgegenkommen, schlichte Berührung zwischen gegensätzlichen Parteien möglich ist, derart, daß hier der Gegensatz nicht zu Worte kommt, ohne daß er doch aufgegeben zu werden braucht, daß man sich zwar aus den Grenzen, die uns sonst vom Gegner scheiden, hinausbegibt, aber ohne in die seinen überzutreten, sondern sich vielmehr jenseits dieser Scheidung hält.«17

Entscheidend ist hier die Formulierung, dass man sich zeitweise und zu einem speziellen Zweck jenseits dieser Scheidung in »eigen« und »fremd« aufhalten kann und dass dadurch bestimmte Konflikte, Streit und Feindschaften suspendiert werden können. Es handelt sich um eine zeitweise »Berührung«, die aber nicht als »Verstehen« bezeichnet wird. Selbstverständlich kann dies zum Zwecke des Handels geschehen, aber auch an anderen Orten sieht Simmel das gegeben: So etwa in besonderen Sphären der Geselligkeit, in Kirchen, in Kunst oder in der Wissenschaft; und dies im ganz konkreten Sinne ihrer Gebäude so wie

16 Simmel: »Exkurs über den Fremden«, aaO., S. 767. 17 Simmel: »Über räumliche Projectionen socialer Formen«, aaO., S. 219.

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im übertragenen Sinne. So ist z.B. eine Universität nicht nur ein Ort der Forschung, sondern im Simmelschen Sinne ein »Niemandsland«, also auch ein Ort der sozialen Aushandlung von Differenzen und Ähnlichkeiten zwischen Gruppen und Individuen, die sich im alltäglichen, außeruniversitären Leben feindlich gesinnt sein könnten. Es geht nicht darum, sich zu verstehen, sondern nur darum, sich zu verständigen. Es geht, wie Simmel sagt, um die praktische Verwertung der Neutralität des Raumes.18 Simmel entwirft gewissermaßen eine Theorie der gelingenden Nachbarschaft unter der Prämisse, dass sie keine Grenzen, sondern Niemandsländer schafft. Dabei wäre es sinnlos, mit Kriterien des »Eigenen« und des »Fremden« zu arbeiten. Vielmehr muss man am Ort »jenseits der Scheidungen« lernen, statt in Identitäten und Differenzen in Ähnlichkeiten zu denken. Mithilfe von Gabriel Tardes Theorie der Nachahmung19 ließe sich dieser Simmelsche Ansatz noch weiterschreiben zu einer umfassenden Kulturtheorie, die auch ästhetische Produktion, insbesondere Theater, Tanz und Malerei, umfassen würde. Bei Tarde findet sich nicht nur ein Konfliktvermeidungsmodell, sondern auch ein Konzept, wie gesellschaftlicher und kultureller Fortschritt unter den Bedingungen einer »Theorie der Praxis der Ähnlichkeiten« zu denken wäre. Im zweiten Kapitel seiner Gesetze der Nachahmung, das überschrieben ist »Die sozialen Ähnlichkeiten und ihre Nachahmung«, entwickelt Tarde eine Soziologie, die auf der Mess- und Beschreibbarkeit von Nachahmung, Imitation und Variation bzw. Differenz besteht. Nachahmung und Variation führen zu einer graduellen Abstufung von Differenzen oder genauer: zu kulturellen und sozialen Ähnlichkeiten.

18 Vgl. Simmel: »Über räumliche Projectionen socialer Formen«, aaO., S. 218. 19 Gabriel Tarde, Gabriel: Die Gesetze der Nachahmung, Frankfurt a.M. 2003 (franz.: Les lois de l'imitation [1890]). Vgl. Bruno Latour /Vincent Lépinay: Die Ökonomie als Wissenschaft der leidenschaftlichen Interessen, Frankfurt a.M. 2010, bes. S. 17.

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IV. N ACHBARN BLEIBEN SICH FREMD Als literarische Beispiele sollen zwei kanonische realistische Texte dienen: Gottfried Kellers Romeo und Julia auf dem Dorfe (1856)20 und Adalbert Stifters Katzensilber (1853)21. In beiden geht es um alltägliche Katastrophen. Einmal, bei Keller, um den Niedergang zweier Familien, die, ursprünglich wohlsituiert und miteinander befreundet, durch bittere Feindschaft, Wahnsinn, Trunksucht, wirtschaftlichen Ruin und am Ende den Tod ihrer Kinder jedoch vernichtet werden. Stifters Text ist etwas wohltemperierter und erzählt von einem Hagelsturm und einer Feuersbrunst, wobei jeweils niemand zu Schaden

20 Gottfried Keller: »Romeo und Julia auf dem Dorfe«, in: ders.: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe Bd. 4: Die Leute von Seldwyla. Erster Band, hg. v. Walter Morgenthaler, Basel 2000, S. 74-159; Terence M. Holmes.: »›Romeo und Julia auf dem Dorfe‹. The Idyll of Possessive Individualism«, in: John L. Flood u.a. (Hg.): Gottfried Keller. 1819 – 1890, Stuttgart 1991, S. 67-80 (Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik 256); Alexander Honold: »Vermittlung und Verwilderung. Gottfried Kellers ›Romeo und Julia auf dem Dorfe‹«, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 78/3 (2004), S. 459-481; Michael Titzmann: »›Natur‹ vs ›Kultur‹: Kellers ›Romeo und Julia auf dem Dorfe‹ im Kontext der Konstituierung des frühen Realismus«, in: ders. (Hg.): Zwischen Goethezeit und Realismus. Wandel und Spezifik in der Phase des Biedermeier, Tübingen 2002, S. 441-480 (= Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, 92). 21 Adalbert Stifter: »Katzensilber«, in: Bunte Steine (Journalfassungen), hg. v. Helmut Bergner, Stuttgart. 1982, S. 241-316 (Werke und Briefe. Historisch-kritische Gesamtausgabe, hg. v. Alfred Doppler/Wolfgang Frühwald, Bd. 2,2). Vgl. auch: Christian Begemann: Die Welt der Zeichen. StifterLektüren, Stuttgart/Weimar 1995; ders.: »Adalbert Stifter und die Ordnung des Wirklichen«, in: ders.: Realismus. Epoche – Autoren – Werke, Darmstadt 2007, S. 63-84; Cornelia Blasberg: Erschriebene Tradition. Adalbert Stifter oder das Erzählen im Zeichen verlorener Geschichten, Freiburg 1998; Eva Geulen: Worthörig wider Willen. Darstellungsproblematik und Sprachreflexion in der Prosa Adalbert Stifters, München 1992; Katharina Grätz: Musealer Historismus. Die Gegenwart des Vergangenen bei Stifter, Keller und Raabe, Heidelberg 2006.

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kommt, weil sich eine mädchen- und märchenhafte Retterin der potentiellen Opfer annimmt und rechtzeitig eingreift. In beiden Texten wird dabei der Umgang mit dem Fremden oder genauer sogar mit den Fremden zu einem zentralen Thema. Bei Keller handelt es sich dabei um den so genannten »schwarzen Geiger«, einen wohnsitzlosen Musiker, der seinen Anspruch auf ein Stück Land nicht geltend machen kann, weil ihm die Bürger der Stadt das Bürgerrecht nicht zuerkennen wollen. Bei Stifter ist es das fremde, familienlose und offenbar ebenfalls wohnsitzlose »nussbraune« Mädchen, das als Retterin, aber auch als Herausforderung des familialen Friedens begegnet. Wüsste man es nicht besser, so könnte man annehmen, dass Gottfried Keller den Beginn seiner Novelle geschrieben hat, um Gabriel Tardes Theorien zur Nachahmung und Ähnlichkeit zu illustrieren. Die beiden Bauern Manz und Marti pflügen zusammen auf ihren Feldern, nebeneinander, zur gleichen Zeit, im gleichen Rhythmus, sie machen zusammen Pause, und ihre Kinder, Vrenchen und Sali, bringen zusammen im Leiterwagen das Vesper. Das soziale Leben scheint eine naturanaloge Ordnung zu haben. Die winzige Variation, die in diese Analogie eingespielt wird in dem Moment, als der erste den Pflug an dem Grundstück ansetzt, das ihre beiden Äcker trennt und als Grenzwüste zwischen beiden Feldern unbebaut liegt, ist gewissermaßen der genuine Akt der Kultivierung von brachliegendem Land. Es ist grundsätzlich die Art Variation des immer Gleichen, die eigentlich den Fortschritt hervorbringen soll. Hier aber ist der Akt der Kultivierung ein Verbrechen, ein Diebstahl. Der schwarze Geiger, dem das Grundstück eigentlich gehört, was die Bauern auch wissen, ist Georg Simmels Fremder, der heute kommt und morgen bleibt, er ist wohnsitzlos und rechtlos, beschrieben wird er wie ein Zigeuner oder ein Jude.22 Er

22 Herbert Uerlings: »›Diesen sind wir entflohen, aber wie entfliehen wir uns selbst?‹: ›Zigeuner‹, Heimat und Heimatlosigkeit in Kellers ›Romeo und Julia auf dem Dorfe‹«, in: Ulrich Kittstein (Hg): Poetische Ordnungen. Zur Erzählprosa des deutschen Realismus, Würzburg 2007, S. 157-185; Herbert Uerlings: »Fremde Blicke : zur Repräsentation von »Zigeunern« in der Schweiz seit dem 19. Jahrhundert (Gottfried Keller, Carl Durheim, Mariella Mehr)«, in: Iulia-Karin Patrut (Hg.): Fremde Arme – arme Fremde. »Zigeuner« in Literaturen Mittel- und Osteuropas, Frankfurt am Main u.a

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lebt in einer nicht vollkommen fremden und ja schließlich auch räumlich nahen Welt (nämlich nur etwas außerhalb der Dorfes), die der Welt der Bauern und Bürger durchaus analog ist. So lange es innerhalb der Welt von Manz und Marti den leeren, wüsten Raum gab, dieses Niemandsland, auf dem übrigens auch die Kinder spielen – und zwar wirklich freudianische Doktorspiele und animistische Praktiken veranstalten –, scheint das sensible Gleichgewicht von Fremden und Einheimischen trotz aller Ungerechtigkeit, trotz der gegenseitigen Verachtung, trotz der sozialen Spannungen einigermaßen ausbalanciert zu sein. In dem Moment, in dem sich die »Kultur«, der Pflug, die Furche, die »Linie«, die »Zeile«, alle Gebiete, den gesamten Raum, alles Wissen und Verhalten aneignet, zeigt das Schicksal seine Krallen und die Familien gehen in Irrsinn, Sucht und Wahn unter, weil sie sofort beginnen, sich um das Land zu streiten. Es geht hier dezidiert um die Aneignung von Raum, um Kultivierung im ursprünglichen Sinne des Wortes, um Kolonialisierung und Inbesitznahme von Boden; und es geht dabei um die Frage, wie man mit den Fremden, die bleiben, aber doch nicht sesshaften werden, umzugehen hat. Die Antwort lautet, dass sie einen realen und einen symbolischen Raum haben müssen. Dabei kann dieser Raum gerade deshalb fremd und wüst bleiben. Es war das Niemandsland, das die Vorstellung einer möglichen Verständigung aufrechterhalten hat, und es ist die Gier und die Brutalität der Schweizer Bauern, die ihre Welt für die einzig mögliche halten und darin eingehen. Die Nachbarn werden zu Feinden, weil sie die Nachbarschaft zu den Fremden nicht aushalten konnten. Die Gier hat die sensible Balance der Nachbarschaften aus dem Gleichgewicht gebracht. Auch bei Stifter geht es – wie in fast allen seinen Texten – um Kultivierung von Raum und dessen Rückgewinnung durch die Natur bzw. um die Frage, wie kultiviert diese Natur dann ist.23 Auf den ersten Sei-

2007, S. 143-202. (GGR-Beiträge zur Germanistik, 3 / Inklusion, Exklusion, 3). 23 Gerhard Plumpe: »Zyklik als Anschauungsform historischer Zeit«, in: Jürgen Link (Hg.): Bewegung und Stillstand in Metaphern und Mythen: Fallstudien zum Verhältnis von elementarem Wissen und Literatur im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1984, S. 201-222; Wolfgang Preisendanz: »Die Erzählfunktion der Naturdarstellung bei Stifter«, in: Wirkendes Wort 16

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ten von »Katzensilber«24 lesen wir langwierige und ausführliche Beschreibungen einer gesamten Hofanlage im Gebirge, vom Bau der verschiedenen Gewächshäuser, vom Pfropfen der Obstbäume, von Terrassenanlagen und Windschutz etc. Kontrastiert wird dies durch die Erzählungen von der wilden Berglandschaft rund um den Hof. Sie ist nicht nur gefährlich, sondern vor allem der Ort, an dem sich all die unheimlichen Legenden und Sagen abspielen, die die Großmutter den drei Kindern bei verschiedenen Wanderungen erzählt: Wir haben also zweimal Natur, einmal die der Großmutter und dann die des Vaters der Kinder. Einmal treffen sie bei einem Ausflug in die Berge dann ein »nussbraunes« Mädchen in Jungenkleidern, das nicht spricht und sich kaum nähert. Auf den folgenden rund vierzig Seiten wird nun die allmähliche Annäherung des Kindes an die Familie beschrieben, gewissermaßen Schritt für Schritt und Wort für Wort, Kleidungsstück für Kleidungsstück, bis sie am Ende als Adoptivkind bei der Familie lebt. Die verschiedenen Mitglieder der Familie zeigen dabei ähnliche, aber doch unterscheidbare Verhaltensweisen, die von der ganz im Glauben befangenen Passivität der Großmutter bis zur rational geleiteten Aktivität des Vaters reichen. Die Mutter entwickelt nach anfänglichem Scheitern eine erfolgreiche Praxis, indem sie sich einfach anzieht wie ihre älteste Tochter und auch nicht mehr fragt, sondern nur noch handelt, als sei das Mädchen eben irgendein weiteres Kind. Die Mutter imitiert die Praxis der Kinder, setzt sie aber zu Erziehungszwecken ein.

(1966), S. 407-418; W. G. Sebald: Die Beschreibung des Unglücks. Zur österreichischen Literatur von Stifter bis Handke, Frankfurt a.M. 1994. 24 Milan Uhde: »Adalbert Stifter. Nachbarschaft, Zusammenhänge, Verfehlungen«, in: Johann Lachinger (Hg.): Adalbert Stifter 2000 – »Grenzüberschreitungen«, Linz 2004, S. 9-15; Sven Halse: »Begegnungen mit ›dem großen Anderen‹. Fremderfahrung und kulturelle Identität in Stifters ›Bunten Steinen‹«, in: Stifter-Jahrbuch 15 (2008), S. 9-22; Stefani Kugler: »Katastrophale Ordnung. Natur und Kultur in Adalbert Stifters Erzählung ›Katzensilber‹«, in: Ulrich Kittstein (Hg.): Poetische Ordnungen. Zur Erzählprosa des deutschen Realismus, Würzburg 2007, S. 121-141; Juliane Vogel: »Stifters Gitter. Poetologische Dimensionen einer Grenzfigur«, in: Sabine Schneider (Hg.): Die Dinge und die Zeichen. Dimensionen des Realistischen in der Erzählliteratur des 19. Jahrhunderts, Würzburg. 2008, S. 43-58.

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Unterbrochen wird dieser Prozess von zwei Ereignissen: Einmal rettet das wilde Mädchen die Kinder und die Großmutter vor einem Hagelsturm, indem sie aus Zweigen eine Schutzhütte baut, dann rettet sie den kleinen Bruder aus dem brennenden Haus. Beide Male hat im Grunde die Großmutter versagt, einmal hat sie den Rückweg zu spät angetreten, dann die Tür des Kinderzimmers aus Angst vor Dieben verschlossen. Das märchenhafte Weltbild der Großmutter ist also sicherlich nicht zuverlässig. Enttäuschend ist aber auch der Versuch des Vaters, nach dem Sturm oben im Wald eine Schutzhütte zu bauen: Sie wird den Kindern erstens bald langweilig und zweitens bricht die neuerliche Gefahr, das Feuer, eben dann mitten im Hof aus, und zwar, als er gerade unterwegs ist. Die rationalen Maßnahmen des erfolgreichen Naturkultivierers wirken ebenso naiv angesichts der Kontingenz von Naturereignissen wie die Gebete der Großmutter; dies wird dabei genauso deutlich wie bei seinen vergeblichen Versuchen, die Familie bzw. die Eltern des nussbraunen Mädchens ausfindig zu machen. Vollkommen irrationales und vollkommen rationales Verhalten gegenüber der Natur versprechen also als extreme Varianten keinen Erfolg. Beide machen den Fehler, dass sie Natur nicht als – in Maßen – fremd akzeptieren. Einmal wird sie in den Geschichten dämonisiert, das andere Mal verharmlost durch die technische Urbarmachung. Das positive Modell ist aber offenbar das der spielerischen Assimilation, das die Kinder betreiben. Die – auch im Text – langwierige Annäherung, die Praxis der allmählichen gegenseitigen Gewöhnung, die stumme Verständigung durch Gesten und vor allem durch Essen verlangen zugleich einen Respekt, der nie die Grenzen des Möglichen überschreitet: Das Betreten des Hauses etwa oder eine Übernachtung werden von den Kindern erst ganz zum Schluss ins Auge gefasst. Nicht nur dieses Gespür für die Distanz, für die Abstinenz bei Fragen nach Herkunft und Familie, sondern vor allem das Risiko, sich selbst zu binden, werden ständig erwähnt. Die Kinder hängen sehr an dem nussbraunen Mädchen; vielleicht weil sie immer ahnen, dass sie nicht bleiben wird. Der Schluss ist überraschend: In dem Moment, in dem die Kinder erwachsen, oder besser junge Frauen und geschlechtsreif werden, passiert etwas Unerwartetes: Es ertönt angeblich »ein Ruf« (man hatte den Satz vorher in einer Geschichte der Großmutter gehört), das Mädchen weint (wie die Frau in der Sage) und verschwindet: »Sture Mure ist

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tot, und der hohe Felsen ist tot«, soll der Wald gerufen haben, so sagt es das Mädchen, macht sich auf den Weg und kommt nie wieder. Der Satz bleibt rätselhaft. Das soll er auch. Man kann ihn in Verbindung bringen mit einer Vorarlberger Sage, in der es um wandernde Waldgestalten geht. Dies hilft ebenso wenig zum Verständnis wie Stifters eigene Aussage, das Mädchen sei eine Zigeunerin. Sie ist vielmehr Simmels Fremde, die kommt und bleibt – und wieder geht. Die Wunde, die sie hinterlässt, wird jahrelang »immer heißer«. Die Geschichte, so scheint es, erzählt auf verschiedenen Ebenen die Begegnung mit dem Fremden, wobei das Verhältnis von Kultur und Natur eher eine Untergruppe dieser Dichotomie bildet. All die verschiedenen Dichotomien werden allerdings gerade nicht als strikte Gegensätze inszeniert, sondern in Form von Übergängen, Graustufen, Zwischenstadien beschrieben; so wie es zwischen den Extremen von Großmutter und Vater viele andere Zwischenformen des Umgangs mit Natur gibt, ist auch das Mädchen mal eher fremd, mal eher vertraut, mal eher Junge, mal eher Mädchen, mal eher wild, mal eher zugehörig. Die Mutter lernt durch die Imitation der Kinder, die Kinder durch die Imitation des Mädchens, das Mädchen lernt sogar schreiben und lesen durch die Imitation der anderen Kinder. Nachahmung, Ähnlichkeit und Variation sind auch hier die Modelle einer – relativ – stabilen Entwicklung. Nachahmung und praktische Formen einer alltäglichen Kommunikation führen zu einer Form nachbarschaftlichen Auskommens, das eine gewisse Stabilität garantiert, aber nicht störungsfrei ist. Als Tabu bleiben allerdings Herkunft und Zukunft, Anfang und Ende: Die Ursprungsfamilie des Kindes ist und bleibt unbekannt; und wenn sie in das Alter kommt zu heiraten, muss sie verschwinden. Sesshaftigkeit bleibt ihr verwehrt, und was sie zurücklässt, ist Sehnsucht. Der Umgang mit dem Fremden wird beschrieben als eine Reise durch Niemandsländer aller Art, vorsichtiges Überschreiten von Schwellen und die Konstruktion von Übergangszonen. Sobald diese fixiert werden, etwa durch eine Hochzeit, greift das Verdikt der Trennung. So würde ich sagen, dass – anders als die meisten Interpreten das sehen – der Hof als Ganzes mit all seinen Bewohnern und den angrenzenden Gebieten durchaus ein gelungenes Experiment im Sinne eines nachbarschaftlichen Umgangs mit den Fremden ist – eben bis zur drohenden Hochzeit und zur endgültigen Sesshaftigkeit.

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V. S CHLUSS »Nachbarschaft« gilt in einer der ersten deutschen Soziologien, in Ferdinand Tönnies’ Gemeinschaft und Gesellschaft (1887)25 als Unterkategorie der »Gemeinschaft«, als Teil einer dauerhaften und nicht wechselnden Zwecken unterworfenen Lebensform: Tönnies unterscheidet drei Arten der Gemeinschaft, die »des Blutes«, die Verwandtschaft, die »des Ortes«, der Nachbarschaft, und die »des Geistes«, der Freundschaft. Alle drei Gemeinschaftsformen haben eine örtliche Konnotation: Die Verwandtschaft ist dem Haus zugeordnet, die Nachbarschaft dem Dorf, die Freundschaft der Stadt. Die städtische Freundschaft erfährt bei Tönnies die größte Wertschätzung, weil sie die größte Wahlfreiheit impliziert. Nachbarschaft und Verwandtschaft dagegen haben noch eine interessante Interdependenz, die nur in den literarischen Texten deutlich wird. Aus Nachbarschaft kann Familienzugehörigkeit werden. Die flexible Balance zwischen Nachbarn, die sensible Ökonomie von Nähe und Distanz kann durch familiale Bindungen destabilisiert werden. Nachbarschaftliche Praktiken leben offenbar von einer Praxis des Zwischenraums, in dem sich das aushandeln lässt, was sonst keinen Platz haben kann: Sexualität, Magie, Aberglaube, Angst, Entfremdung und Tod. Der Raum der Nachbarschaft markiert – im konkreten Sinne des Ortes und im Sinne des sozialen Verhaltens – den Raum einer Flexibilität mittlerer Reichweite; denjenigen zwischen familialer Determination und freundschaftlicher bzw. anonymer Freiheit. Räume, die Verhaltensweisen einer Flexibilität mittlerer Reichweite verlangen, konnotieren auch Theorien mit einer Differenzierungsschärfe mittlerer Reichweite. Dazu gehört der Begriff der Ähnlichkeit zweifellos. Raumtheorie, Soziologie, das Konzept der Ähnlichkeit und die Geschichten vom Nachbarn kommentieren sich hier gegenseitig.

25 Ferdinand Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie, Darmstadt 2005.

Zwangsgemeinschaften: Erzwungene Nachbarschaft im Lager und im Gefängnis (am Beispiel von Fedor Dostoevskij, Evgenija Ginzburg und Varlam Šalamov) S CHAMMA S CHAHADAT

Im Jahr 1846 hat Dostoevskij die Bekanntschaft von Michail Petraševskij gemacht, einem Intellektuellen und Anhänger Fouriers, der die Demokratisierung Russlands zum Ziel hatte und einen geheimen politischen Kreis um sich versammelte. Wenige Jahre später, 1849, wurde dieser Kreis von der Geheimpolizei gesprengt; es folgte ein Prozess, in dem Dostoevskij zum Tod durch Erschießen verurteilt wurde. Eine Hinrichtungsaktion wurde inszeniert und in letzter Sekunde abgebrochen, Dostoevskij wurde begnadigt und zu vier Jahren Lagerhaft in der sibirischen Stadt Omsk verurteilt. 1854 wurde er aus dem Lager entlassen und bis 1859 zum Strafdienst als Soldat nach Semipalatinsk versetzt.1 Bereits während seiner Haftzeit hatte Dostoevskij ein »sibirisches Heft«, »sibir’skaja tetrad’«, geführt, in das er eine Art »Gefängnisfolk-

1

Zu diesen biographischen Informationen s. zum Beispiel Wolfgang Kasack: Dostojewski. Leben und Werk. Frankfurt a.M./Leipzig 1998, S. 1727.

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lore« notierte.2 Das erste Kapitel der Aufzeichnungen aus dem Totenhaus (Zapiski iz mertvogo doma) erschien in der Wochenzeitschrift Russkij mir (Die russische Welt), zeitgleich zu den Aufzeichnungen eines anderen ehemaligen Verbannten und Häftlings,3 die – als eher publizistischer Text – als Ergänzung zu der literarischen Publikation Dostoevskijs gelesen wurden. Dostoevskij verschriftlicht in den Auzeichnungen seine eigenen Erfahrungen als Gefangener eines Straflagers; sein Buch ist eine Art Urtext für spätere Lagerbücher, zum Beispiel für Nikolaj Jadrincevs Die russische obščina im Gefängnis und in der Verbannung4 (Russkaja obščina v tjur’me i v ssylke) von 1872 und für Anton Čechovs Die Insel Sachalin (Ostrov Sachalin) von 1890. In der Beschreibung des Lagers bei Dostoevskij spielt die Beziehung zwischen den Gefangenen sowie speziell die Beziehung des Protagonisten Gorjančikov zu den Gefangenen eine wesentliche Rolle, wobei Gorjančikov als Adliger aus der üblichen Klientel des Lagers heraussticht. Gerade die Passagen, die die Gefangenen-Gemeinschaft abbilden, sind für das Thema Nachbarschaft interessant, da sie einen ganz speziellen, extremen Nachbarkeitstypus vorstellen, jenen der Zwangs-Nachbarschaft. Im Lager oder im Gefängnis befinden die Bewohner sich in einem bestimmten Raum, der insofern ein extremer Raum ist, als die Bewohner nicht freiwillig hier sind; sie können ihn – und damit auch ihren Nachbarn – nicht verlassen.5 Wenngleich man sich auch in einer ›normalen‹ Nachbarschaft seine Nachbarn nur bedingt aussuchen kann, so kann man räumliche Nähe und Distanz zu diesen in gewissem Maße selbst bestimmen, anders als der Gefangene,

2

S. hier und im folgenden V. A. Tunimanov: Tvorčestvo Dostoevskogo,

3

F. L’vov: Vyderžki iz vospominanij ssyl’no-katoržnogo (Auszüge aus den

1854-1862, Leningrad 1980, S. 67ff. Erinnerungen eines Verbannten), s. dazu Tunimanov: Tvorčestvo Dostoevskogo, aaO., S. 67-156. 4

Diesen Text hat Susi Frank analysiert; sie hat auch die Verbindungen zu Dostoevskij und zu Čechov heraus gearbeitet: Susi Frank: »Dostoevskij, Jadrincev und Čechov als ›Geokulturologen‹ Sibiriens«, in: Susi Frank/ Erika Greber u.a. (Hg.): Gedächtnis und Phantasma. Festschrift für Renate Lachmann, München 2001, S. 32-47.

5

Der extreme Charakter des Raums wird dadurch verstärkt, dass die russischen und sowjetischen Lager sich in der Regel durch extreme klimatische Verhältnisse auszeichnen.

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der an seine Mitgefangenen, sei es konkret oder metaphorisch, gekettet ist. Wie die ›gewöhnlichen‹ Nachbarschaften sind auch die Gefängnisund Lagernachbarschaften soziale Verbünde. Eine dritte Parallele – neben der Nähe und dem Sozialen – liegt in dem ambivalenten Charakter der Nachbarschaften: eine freiheitliche Nachbarschaft oszilliert zwischen der Utopie einer harmonischen Gemeinschaft und einer skandalösen Realität mit Streit und Auseinandersetzungen. Eine ganz ähnliche Ambivalenz lässt sich auch in der Zwangsnachbarschaft feststellen: Es ist eine Gruppe eher unfreiwillig zusammen gewürfelter Individuen, denen die Gemeinsamkeit von außen auferlegt wurde – durch das begangene Verbrechen bzw., im Fall der Stalinistischen Lager, durch das Schein-Verbrechen –, die aber durch die Situation mehr oder weniger zu einer Gemeinschaft zusammen wachsen. Eine quasiutopische Realität erwächst damit aus der skandalösen Realität (sofern man das Verbrechen oder die Anklage des Verbrechens als Skandal begreift). Im Folgenden möchte ich mich am Beispiel dreier Texte mit der Zwangsnachbarschaft befassen, die zugleich eine Zwangsgemeinschaft ist und zum Teil zu einer Art »Zwangsfamilie« wird. Räumliche, soziale und emotionale Elemente spielen dabei ineinander, und es soll gezeigt werden, wie diese Nachbarschaft in extremis funktioniert: im sibirischen ostrog Mitte des 19. Jahrhunderts, im Stalinistischen Lager und im Stalinistischen Gefängnis6 im 20. Jahrhundert: 1.

6

In Aufzeichnungen aus dem Totenhaus von 1860 verschriftlicht Dostoevskij seine eigenen Erfahrungen als Gefangener eines Straflagers in einem fiktionalem Dokument. Der Raum, den Dostoevskij beschreibt, ist ein Raum an der geographischen Peripherie, in dem sich aufgrund der Zwangsnähe besondere soziale Beziehungen herausbilden, eine alternative Gemeinschaft mit quasi-familiären Bindungen, die einen bestimmten Verhaltenskodex erfordert.

Obwohl das Lager und das Gefängnis unterschiedliche Räume sind, so fallen sie doch gleichermaßen unter die Kategorie der Zwangsnachbarschaft bzw. Zwangsgemeinschaft. Im weiteren werde ich zwar zwischen Lager und Gefängnis differenzieren, aber dennoch überschneiden sie sich auch in vielen Punkten, so dass der Gefängnis- und Lagertopos, der in Kapitel 1 des Aufsatzes behandelt wird, zu großen Teilen zusammen fällt.

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2.

3.

Varlam Šalamov schildert in seiner Lagerprosa Erzählungen aus Kolyma (Kolymskie rasskazy) die totale Grenzerfahrung eines »nackten Lebens«. Šalamov hat insgesamt 17 Jahre in Gefangenschaft verbracht, einen Großteil davon in Kolyma, einer Region im äußersten Nordosten der Sowjetunion, die unter dem Begriff des »Archipel Gulag« durch Aleksandr Sol’ženicyn bekannt geworden ist. Die extreme physische Situation, in der die Gefangenen sich durch die extreme Kälte und den Hunger befinden, führt dazu, dass Nachbarschaft auf ihren räumlichen Befund reduziert ist und keinerlei soziale Folgen hat: Šalamov präsentiert eine Zwangsnähe, die sich durch ihre emotionale Leere auszeichnet. In Gratwanderung (Krutoj maršrut) von 1967 beschreibt Evgenija Ginzburg in Form von autobiographischen Aufzeichnungen ihre 18 Jahre andauernde Gefangenschaft in Stalinistischen Gefängnissen und Lagern. Der Gefängnisraum, den Ginzburg schildert, ist noch stärker abgeschlossen als der Lagerraum, und es ist ein Raum der Frauen.

Dabei ist zu berücksichtigen, dass es sich um – wenngleich autobiographische fundierte – literarische Vertextungen des Zwangsraums handelt. In jedem der Texte wird ein unterschiedlicher intimer Raum entworfen, bei dem Nähe und Distanz (oder auch: fehlende Distanz) bestimmte Formen von Nachbarschaft etablieren. Dostoevskijs Protagonist wird Teil einer Verbrecher-Familie, in denen alternative ethische Regeln gelten; bei Evgenija Ginzburg entwickelt die Protagonistin als Intellektuelle und Gefangene quasi-verwandtschaftliche Gefühle zu ihren Mitgefangenen, die häufig aus einem ähnlichen sozialen Umfeld kommen, wobei die Besonderheit darin besteht, dass es sich um eine Gemeinschaft der Frauen handelt. Anders bei Šalamov, wo das Erzähler-Ich auf sich selbst zurück geworfen ist. Šalamovs Erzählungen, die die Grenzerfahrung des Menschen ins Extreme beugen, sind eine Absage an Dostoevskijs Lager-Familie; Šalamovs Ich ist entweder allein oder aber Teil einer Gemeinschaft der Toten. Nachbarschaft, Familie und Gemeinschaft sind drei Beziehungsstrukturen, die einander zum Teil überlappen und bei denen räumliche Nähe und soziale Organisation unterschiedlich gewichtet sind. Für die soziale Struktur lässt sich Ferdinand Tönnies’ Beschreibung von Gemeinschaft nutzen; Tönnies hat 1886 die Gemeinschaft als positive Verbindung gegen die Gesellschaft als Zwangs-Verbindung gestellt:

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Die Gemeinschaft, so Tönnies, ist ein »positives Verhältnis«,7 sie zeichnet sich aus durch ein »reales und organisches Leben«.8 Vorbild für diese Gemeinschaft ist die Familie, die Gemeinschaft des Blutes (»Einheit des Wesens«), diese kann umgewandelt werden in eine Gemeinschaft des Ortes (»Zusammenwohnen«), eine Nachbarschaft, und – dies ist für Tönnies die höchste Form der Gemeinschaft – in eine Gemeinschaft des Geistes (»Miteinander-Wirken [...] im gleichen Sinne«).9 In Gefängnissen und Lagern bilden sich aus Zwangs-Nachbarschaften, die Gemeinschaften des Ortes im Sinne Tönnies’ sind, häufig »Gemeinschaften des Geistes«, die die Familie ersetzen. Bevor die drei Texte in Hinsicht auf die Darstellung der Zwangsnachbarschaft untersucht werden, soll jedoch der Gefängnisraum als ein extremer Raum in Hinsicht auf Gemeinschaft, Nachbarschaft und Familie betrachtet werden und mit der Frage nach den emotionalen Bindungen und der (Zwangs-)Intimität verknüpft werden.

1. D ER G EFÄNGNISRAUM

ALS EXTREMER

R AUM

In der literatur- und kulturwissenschaftlichen Betrachtung wird dem Gefängnisraum eine markante Bedeutung für die Konstruktion des (sozialen, kulturellen) Anderen zugeschrieben; der Anglist Frank Lauterbach spricht von der Teilhabe des literarischen Gefängnisraums für »the fashioning of collective subject positions« und sieht die InnenAußen-Dichotomie als Grundopposition für komplexere »kulturelle Klassifizierungen«.10 Diese Ansätze knüpfen an Michel Foucaults Konzept vom Heterotopos, vom anderen Ort, an. Foucault selbst hat in Überwachen und Strafen eine weitere Dimension des Gefängnisraums eingebracht: Für ihn ist das Gefängnis der Raum der Disziplinierung,

7

Ferdinand Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der

8

Ebd.

9

Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft, aaO., S. 12.

reinen Soziologie, Darmstadt 1991, S. 3.

10 Frank Lauterbach: »Textual Errands into the Carceral Wilderness: Prison Autobiographies and the Construction of Cultural Hegemonies«, in: Monika Fludernik/Greta Olson (Hg.): In the Grip of the Law. Trials, Prisons and the Space Between, Frankfurt a.M./Berlin/Bern u.a. 2004, S. 127-143, hier: S. 135.

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der »guten Abrichtung«,11 der utopische Ort eines perfekten »Justizapparats«, »um die Individuen anzuordnen, zu fixieren und zu klassifizieren, um das Höchstmaß an Zeit und das Höchstmaß an Kräften aus ihnen herauszuholen, um ihre Körper zu dressieren, ihr ganzes Verhalten zu codieren, sie in einer lückenlosen Sichtbarkeit festzuhalten.«12 Ausgehend von Foucaults biopolitischem Ansatz, der die Disziplinierung des Einzelnen im Kontext der staatlichen Macht aus der Perspektive der »Technologien des Selbst« ins Zentrum stellt, geht Giorgio Agamben in seiner Untersuchung über das Konzentrationslager einen etwas anderen Weg: Während Foucault von einem rationalen Rechtsstaat ausgeht, der das Bedürfnis hat, seine Bürger in ein funktionierendes Staatengebilde durch Strafvollzug einzubinden und zu diesem Zweck zu disziplinieren, verknüpft Agamben Totalitarismus und Biopolitik miteinander. Agamben kombiniert zwei Theorien, die sich mit dem Menschen und seiner Disziplinierung befasst haben: Foucaults schon genannte Biopolitik, die dieser in seinen Büchern zur Psychiatrie und zum Gefängnis, in Der Wille zum Wissen, aber vor allem aber auch in seinen Vorlesungen zur Biopolitik13 entwickelt hat, und Hannah Arendts Buch The Human Condition (dt. Vita activa. Vom tätigen Leben), wo Arendt die zunehmende Bedeutung des biologischen Menschen für die Massengesellschaft untersucht. Dieser Mensch beugt sich dem »Despotismus der Mehrheit«; das politische Handeln des Menschen (die vita activa) rückt dabei in den Hintergrund. Hannah Arendt hat ihr Modell vom (politisch) tätigen Menschen nicht mit ihrem Totalitarismus-Buch verknüpft;14 Agamben schlägt diese Brücke

11 Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, übers. v. Walter Seitter, Frankfurt a.M. 1976, S. 255. 12 Foucault: Überwachen und Strafen, aaO., S. 295. 13 Auf Der Wille zum Wissen und die Vorlesungen zur Biopolitik (Michel Foucault: Die Geburt der Biopolitik. Geschichte der Gouvernementalität II. Vorlesungen am Collège de France 1978-1979, hg. v. Michel Sennelart, übers. v. Jürgen Schröder, Frankfurt a.M. 2004) verweist Agamben explizit: Giorgio Agamben: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt a.M. 2002, S. 12f. 14 Bei Agamben: Homo sacer, aaO., S. 13f., heißt es: »Daß ihre [Hannah Arendts] Forschungen praktisch ohne Nacfolge geblieben sind und Foucault sein biopolitisches Feld ohne Bezug auf sie hat eröffnen können, zeugt von den Schwierigkeiten und den Widerständen, die das Denken in

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zwischen Foucaults Biopolitik, Arendts Beobachtung einer zunehmenden Bedeutung des biologischen anstelle des politischen Menschen sowie ihrer Totalitarismus-Theorie. Die »souveräne Macht«, so Agambens These, braucht den biologischen Körper, um ihre Macht zu etablieren und zu bestätigen.15 Während Foucault dabei eine historische Perspektive einnimmt, sieht Agamben seine Theorie des biopolitischen Menschen als ewiges Problem der Menschheit, das mit dem Konstrukt des homo sacer seinen Anfang nimmt. Für jene Texte, mit denen ich mich im weiteren befassen werde, ist Agambens Ansatz insofern relevant, als er die Vernichtungsstrategien totalitärer Systeme betrachtet, die nicht primär – wie das von Foucault dargestellte Modell – rational auf die Disziplinierung und Inklusion devianter Staatsbürger aus sind. Sowohl in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als auch in den 1930er Jahren waren das zaristische und das Stalinistische System auf die Exklusion ausgerichtet, um ein System aufrecht zu erhalten, das zunehmend nach dem Prinzip der »großen Familie« funktionierte und die Mitglieder ausschloss, die dieser großen Familie entfremdet waren oder als solche erschienen. Absolutistische oder totalitäre Systeme etablieren häufig familiäre Gesellschaftsstrukturen, die eine »Tyrannei der Intimität« (Richard Sennett) nach sich ziehen; das private Leben wird im politischen Raum zu einem öffentlichen Projekt.16 Norbert Elias’ These, dass der Umgang des Menschen mit dem Menschen im Zivilisationsprozess zunehmend an Distanz gewinnt,17 wird in totalitären Gesellschaften außer Kraft ge-

diesem Bereich zu gewärtigen hat. Und gerade diesen Schwierigkeiten ist wahrscheinlich […] die sonderbare Tatsache geschuldet, daß Hannah Arendt in The Human Condition keinerlei Anschlüsse an die tiefgehenden Analysen herstellt, die sie zuvor der totalitären Macht gewidmet hat […].« 15 Agamben: Homo sacer, aaO., S. 16. 16 Intimität und Macht sind in der russischen Kultur zusammenzudenken. Das gilt für das Genre der Geburtstagsoden, die die Dichter im 17. und 18. Jahrhundert an die Zaren richten, für das erste Hoftheater, das Aleksej Michajlovič 1672 einrichtet, für die familiäre Beziehung, die Nikolaj I. zu seinen Untertanen pflegt, und es gilt auch für den öffentlichen Raum im Stalinismus, der durch die Inszenierung Stalins als pater patriae die gesamte Gesellschaft als eine große Familie erscheinen lässt. 17 Norbert Elias: Über den Prozeß der Zivilisation: Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, 2 Bde., Frankfurt a.M. 1997.

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setzt: Im kollektiven Wohnen, in der Utopie vom staatlichen Kollektivkörper, in der Ideologie der Gesellschaft als einer großen Familie, die einander alles gesteht und nichts verheimlicht, in Massenkundgebungen und im Gesamtkunstwerk wird in einem fort Nähe propagiert. Dem Einzelnen wird die Distanz genommen, Intimität und Nähe werden zum Zwang. In Distanz ist einzig der Souverän, der der Masse zwar in Form von Symbolen, Ritualen und ästhetischen Repräsentationen nahegebracht wird, aber dennoch unerreichbar fern ist. Modell für die intime Nähe im Staat war die Familie, wobei an dieser Stelle die Beziehung zwischen Gemeinschaft, Familie und Nachbarschaft geklärt werden muss: Alle drei Beziehungsmodelle greifen sowohl in der zaristischen als auch in besonderem Maße in der Stalinistischen Kultur ineinander. Die Selbstinszenierung des Zaren und später Stalins als pater patriae bzw. otec otečestva (Vater des Vaterlandes) gibt eine Familienstruktur vor, die speziell im Stalinismus zu einem intrikaten Beziehungsnetz zwischen Liebe, Macht und ödipalem Begehren führt. Parallel zu diesem staatlich vorgegebenen Familienmodell entwerfen die Radikalen der 1860er Jahren die Gemeinschaft im Sinne Tönnies’ (als »Gemeinschaft des Geistes«) als Gegenmodell zur degenerierten Familie.18 In den 1930er Jahren, als die »große Familie« zunehmend Zwangscharakter annahm, wurde die Differenz zwischen Gemeinschaft und Familie irrelevant, die sowjetische Ge-

18 Diese Kritik an der Familie findet sich natürlich überall in Europa in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, wie beispielhaft an den EhebruchRomanen deutlich wird; die an der Familie ausgerichtete Psychoanalyse Sigmund Freuds führt diese Symptome einer nicht mehr funktionierenden traditionellen Familie zu ihrem logischen Ende (s. dazu z.B. Peter Gay: Schnitzler’s Century. The Making of Middle-Class Culture 1815-1914, New York 2002). Der russische Roman, der den Ersatz der Familie durch die Gemeinschaft als Modell vorgibt, ist Nikolaj Černyševskijs Was tun? (Čto delat’ ?) von 1863. Ein Roman, der die Krise der Familie in ihrer ganzen Katastrophe vorführt, ist Dostoevskijs Brüder Karamazov (Brat’ja Karamazovy, 1879/80), s. hierzu die äußerst erhellende Interpretation von Riccardo Nicolosi: »Das Blut der Karamazovs. Vererbung, Experiment und Naturalismus in Dostoevskijs letztem Roman«, in: Matthias Schwartz/ Wladimir Velminski/Torben Philipp (Hg.): Laien – Lektüren – Laboratorien. Wissenschaften und Künste in Russland 1850-1950, Berlin 2008, S. 147-180.

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meinschaft wurde im Stalinistischen System und auch in der Stalinistischen Ästhetik als Familie inszeniert19 – die devianten ›Familienmitglieder‹ wurden exkludiert, d.h. entweder erschossen oder ins Lager verbannt. Nachbarschaft kommt als räumliche Kategorie ins Feld; sie wird von oben eingesetzt, um durch Zwangsnähe die neue, große Familie hervorzubringen. Das gilt speziell für die geplanten, häufig nicht umgesetzten Kommunehäuser20 und auch für die Kommunalwohnungen, in denen Menschen unterschiedlichen sozialen Standes auf engem Raum miteinander (und häufig auch gegeneinander) wohnten.21 In den Gefängnissen und Lagern bildeten sich aufgrund der Nähe, der erzwungenen Nachbarschaft, Beziehungen heraus, deren Gemeinsamkeit weder auf Abstammung noch auf geistiger Nähe, sondern lediglich auf der Topographie begründet war. Quasi-familiäre Bindungen entstanden in diesem Zwangs-Raum aufgrund des emotionalem Vakuums, das durch den Verlust der ›echten‹ Familie entstanden war. Wenn Nachbarschaft als eine Kombination sozialer und spatialer Elemente gedacht wird, dann wird die soziale Ähnlichkeit den Gefangenen aufgrund der spatialen Zwangssituation aufgezwungen. Was eigen und fremd, was ähnlich und different ist, wird im Akt des Strafens willkürlich festgelegt, speziell in einem rechtlosen System, das sich – zum Beispiel in Schauprozessen – nur den Anschein der Rechtsordnung gibt. Speziell das Stalinistische Strafsystem zielte nicht nur auf die Exklusion des Anderen, sondern in der Epoche der Schauprozesse, in den 1930er und 40er Jahren, vor allem auch auf die Exklusion jener, die eigentlich das Eigene und keineswegs das Andere des Systems bildeten: verdienter Parteifunktionäre, treuer Gesinnungsgenossen, Intellektueller; Stalin eliminierte nach und nach die gesamte alte Garde der Bol’ševiki, die ja seine ursprüngliche politische Ge-

19 S. dazu Katerina Klark [Katharina Clark]: »Stalinskij mif o ›velikoj sem’e‹« (Der Stalinistische Mythos von der »großen Familie«), in: Ch. Gjunter [Hans Günther]/Evgenij Dobrenko: Socrealističeskij kanon, SanktPeterburg 2000, S. 785-797. 20 S. dazu Schamma Schahadat: »Zusammenleben: Mensch und (Wohn)Raum im Russland der 1920er Jahre«, in: Ulrich Bröckling, Benjamin Bühler, Marcus Hahn u.a. (Hg.): Disziplinen des Lebens, Tübingen 2004, S. 149-169. 21 S. dazu Sandra Evans: Sowjetisch wohnen. Eine Literatur- und Kulturgeschichte der Kommunalka, Bielefeld 2011.

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meinschaft bzw. ›Familie‹ gebildet hatten. Zum Anderen, Abjekten wurden die Opfer des Stalinistischen Systems durch ein irrationales, geradezu phantastisches Justizsystems, in dem die Täter von einem Moment zum nächsten zum Opfer werden konnten, erst gemacht. Das Ziel der Lager und Gefängnisse war nicht die Disziplinierung, sondern die zwangsweise Schaffung eines Arbeiters, der seinen Status als politisches Subjekt verloren hatte.22 Die Logik dieses Strafsystems war ein anderes als das der Foucault’schen Disziplinierung: Es war die Logik des Sündenbocks, wie René Girard sie in Das Heilige und die Gewalt (La violence et le sacré, 1972) beschrieben hat. Darin begreift Girard Krise und Gewalt als das Ergebnis von Ununterscheidbarkeit: Je ähnlicher die Rivalen einander werden, die gemeinsam ein Objekt begehren, desto konfliktreicher, so das Argument, wird die Situation. Ordnung aber, so Girard, erfordert Unterschiede: »Ordnung, Frieden und Fruchtbarkeit gründen auf kulturellen Unterschieden. Nicht die Unterschiede, sondern deren Verlust bewirken die wahnwitzige Rivalität.«23

Ununterscheidbarkeit führt zur »Opferkrise«. Gewalt ist ansteckend, mimetisch. Das gemeinsam begehrte Objekt im paranoiden System des Stalinismus ist die Macht. Diese Krise löst, so Girard, der Sündenbock, der stellvertretend für die Gemeinschaft geopfert wird und diese in den Zustand der Ordnung zurück führt. Indem ein Sündenbock ausgewählt wird, wird Andersheit geschaffen, die Gewalt wird nach außen getragen und zugleich im Opferritual kontrolliert. Das Opfer hat bei Girard die Aufgabe, die Gesellschaft zu stabilisieren, indem es eine mimetische Krise inszeniert und diese Opferung zu einer Lösung führt; Chris Fleming spricht in diesem

22 Zum Konzept der Arbeit in den 1920er, 30er Jahren in der russischen Kultur, speziell zum Bezug zwischen Arbeit und Literatur s. Nadežda Grigor’eva: Anima laborans. Pisatel’ i trud v Rossii 1920-30ch godov (Anima laborans. Der Schriftsteller und die Arbeit in Russland in den 1920er, 30er Jahren), Sankt-Peterburg 2005. 23 René Girard: Das Heilige und die Gewalt, Frankfurt a.M. 1992, S. 78.

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Zusammenhang vom »re-enacting the sacred«.24 Girard geht hier von einer sozialen Funktion eines religiösen Akts – des Opferrituals – aus. Dabei ist für Girard die Idee der Substitution, des Ersatzes, der Schlüssel zum Verständnis des Opferrituals. »Nach Girard setzt alle menschliche Gesellschaft den Sündenbockmechanismus voraus. Ohne das begründende Verbrechen kein Mythos, keine Religion, keine Kultur, keine soziale, rechtliche, politische Ordnung.«25

Mithilfe von Foucault, Arendt, Agamben und Girard kann versucht werden, das Funktionieren des russischen bzw. sowjetischen Gefängnisses und Lagers zu erklären. Diese Theoretiker definieren das Gefängnis als Ort der Biopolitik und der Disziplinierung (Foucault), bestimmen die Entindividualisierung und zunehmende Relevanz des biologischen Menschen an Stelle des zoon politikon für die moderne Massengesellschaft (Arendt), binden Biopolitik und das Lager aneinander (Agamben) und beschreiben die Bedeutung des Sündenbocks für die Gesellschaft (Girard). Damit sind die Voraussetzungen sowie die Funktion des Gefängnisses zumindest in Grundzügen genannt. Der literaturwissenschaftlich-kulturwissenschaftliche Blick auf die literarische Darstellung des Gefängnisses geht davon aus, dass das Gefängnis in der Literatur der Raum des kulturell Anderen, Ausgeschlossenen ist, der der symbolischen Ordnung Stabilität garantiert; überhaupt erscheint das Gefängnis – ähnlich wie das Exil, der Wahnsinn etc. – Metapher für das Anders-Sein, die Besonderheiten der conditio humana.26 Dennoch erfordern die totalitären Strafräume des Stalinismus einen etwas anderen Blick, denn sie schließen nicht das Andere, sondern das Eigene aus. Die Opfer sind Kommunisten, nicht die Gegner des Kommunismus. Was mich im Folgenden interessiert, ist aber die Frage, wie jener andere Raum, das Lager bzw. das Gefängnis, als Gemeinschaftsraum

24 Chris Fleming: René Girard. Violence and Mimesis, Cambridge/Malden 2004, S. 9. 25 Ruth Groh: »Zum Problem der Entscheidung bei Carl Schmitt und René Girard«, in: Bernhard Dieckmann (Hg.): Das Opfer – aktuelle Kontroversen. Religions-politischer Diskurs im Kontext der mimetischen Theorie, Münster 2001, 157-180, hier: S. 158. 26 S. dazu Lauterbach: »Textual Errands into the Carceral Wilderness«, aaO.

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funktioniert, als Raum der Zwangs-Nähe und Zwangs-Nachbarschaft.27 Im Ausnahmeraum des Gefängnisses bzw. Lagers bilden sich andere soziale Beziehungen heraus; die Extreme eines engen, vollgestopften Raums (wie zum Beispiel in Dostoevskijs Aufzeichnungen aus einem Totenhaus [Zapiski iz mertvogo doma]) oder die Situation der Einzelhaft (wie zum Beispiel in Evgenija Ginzburgs Gratwanderung [Krutoj maršrut]) verändern die Beziehung des eingesperrten, entrechteten Subjekts zu sich selbst und zu den anderen. Die Zwangs-Nähe erzeugt eine Zwangs-Intimität, und der andere Raum bringt eine andere Gemeinschaft hervor. Das Gefängnis und das Lager sind nicht nur andere Räume, sondern intime Räume einer alternativen Gemeinschaft, deren Intimität auf der Deformation alltäglicher sozialer Beziehungen beruht. An deren Stelle treten soziale Beziehungen in extremis. Die Analyse der drei Texte wird sich auf die Frage konzentrieren, wie der extreme Raum und die extreme Gemeinschaft, die durch diesen Raum gebildet wird und ihrerseits auf den Raum zurück wirkt, interagieren. Die genauere Bestimmung dieses Gefängnis- und Lagerraums als anderer Raum, als Raum der Disziplinierung, als Raum des biopolitischen Körpers und als Raum der (missbrauchten) Macht werden den Hintergrund für die Analyse bilden. Die drei Texte setzen diese Situation auf unterschiedliche Weise literarisch um: Dostoevskij als eine literarische Mystifikation mit einem fiktiven Herausgeber, Šalamov in Form einer ästhetischen Prosa, die zwischen dem Ich-Erzähler und die Erlebnisse eine emotionale Distanz schiebt, die ein Schreiben nach dem Gulag erst zu ermöglichen scheint, und Ginzburg in Form persönlicher Memoiren.

27 Nachbarschaft beruht – wie Gemeinschaft – auf dem Prinzip der Freiwilligkeit; s. dazu z.B. William Peterman: Neighborhood Planning and Community-Based Development. The Potential and Limits of Grassroots Action, Thousand Oaks 2000, S. 17: »although the concept of neighborhood as a ›village‹ within a larger urban agglomeration of places may have ancient historical antecedents, its planning roots are likely more recent and are associated with the creation of middle- and upper-middle-class residential havens where lifestyles and property values could be protected.«

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2. F EDOR D OSTOEVSKIJ , A UFZEICHNUNGEN DEM T OTENHAUS : E INE DEGENERIERTE F AMILIE VON V ERBRECHERN

AUS

Für den Raum des ostrog – so die russische Bezeichnung für das Straflager - sind zwei Merkmale von Bedeutung: Es ist ein Raum an der Peripherie, und es ist ein intimer Raum, genauer: ein Raum, der zwangs-intimisiert ist. Der Weg vom Zentrum in die Peripherie beginnt bei Dostoevskij mit dem fiktiven Vorwort eines fiktiven Herausgebers, der – so die Geschichte – die Aufzeichnungen eines Mannes namens Gorjančikov gefunden hat, eines Mannes, der seine Frau im ersten Jahr der Ehe aus Eifersucht getötet hatte und seine Strafe im ostrog verbüßte. Die Bewegung in den peripheren Raum hinein geht schrittweise vor sich: »In den entfernten Rändern Sibiriens, in der Steppe, den Bergen oder den undurchdringlichen Wäldern trifft man selten auf kleine Städte ...« »В отдаленных краях Сибири, среди степей, гор или непроходимых лесов, попадаются изредка маленькие города ...«28

Und: »Hier war eine eigene Welt, die keiner anderen ähnlich war, hier herrschten eigene Gesetze, man trug eigene Kleidung, hatte eigene Sitten und Gebräuche, ein lebendiges Totenhaus, ein Leben – wie nirgendwo, und die Leute waren speziell.« »Тут был свой особый мир, ни на что не похожий, тут были свои особые законы, свои костюмы, свои нравы и обычаи, и заживо Мертвый дом, жизнь – как нигде, и люди особенные.«29

28 Fedor Michajlovič Dostoevskij: Zapiski iz mertvogo doma (Aufzeichnungen aus dem Totenhaus), Leningrad 1972, S. 5. (Polnoe sobranie sočinenij v 30 tt. T. 4. ) – Die Übersetzungen aus dem Russischen sind, wenn nicht anders angegeben, von mir, Sch.Sch. 29 Dostoevskij: Zapiski iz mertvogo doma, aaO., S. 9.

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Die Ränder Sibiriens, eine »eigene Welt«, »ein lebendiges Totenhaus«, »ein Leben wie nirgendwo« – der Gang ins Lager erscheint als Gang ins Totenreich. Sibirien, das hat Susi Frank30 bereits gezeigt, ist zwar einerseits – vom russischen Zentrum her gedacht – das Andere oder auch das Eigene-Fremde für das russische Selbstverständnis, andererseits ist es semantisch und axiologisch ambivalent. Das bedeutet, dass Sibirien, je nachdem, ob es aus der Perspektive des Zentrums oder der Peripherie gedeutet wird, positiv oder negativ wahrgenommen wird. Im 17. Jahrhundert erschien Sibirien als ein nicht nur geographischer, sondern auch als kultureller Raum, in dem Veränderung möglich ist, wovon der »Ur-Text für die russische Verbannungsliteratur«,31 die Vita des Protopopen Avvakum (Žitie Avvakuma) zeugt. Diese Schrift zog eine Massenauswanderung der Altgläubigen nach sich und entwarf Sibirien als einen Raum der Freiheit, der – an der Peripherie gelegen – nicht den vom Zentrum vorgegebenen Normen unterworfen ist, sondern eine eigene Kulturproduktion ermöglicht. Andererseits wird Sibirien in der russischen Literatur von Helden bevölkert, die – zumindest teilweise – bereits aus der symbolischen Ordnung der russischen Kultur ausgeschlossen sind; Susi Frank nennt als Beispiele den Verbannten und den Kosaken. Damit erlangt Sibirien einen doppelten Status als Raum der Freiheit (für diejenigen, die freiwillig an den Rand des Imperiums gehen, um sich der offiziellen Ordnung zu entziehen) und als Raum des Zwangs, der nicht verlassen werden darf (für diejenigen, die dorthin verbannt werden). Diese Ambivalenz zwischen Zwangsraum und Freiraum spiegelt sich auch in Dostoevskijs Aufzeichnungen aus dem Totenhaus, denn in diesem Raum entstehen alternative, positive Gemeinschaften. Glaubt man Jurij Lotmans Behauptung von der besonderen semiotischen Kraft der Peripherie im Vergleich zum statischen Zentrum,32 dann wird das sibirische Lager zu

30 In dem folgenden Abschnitt über die Sibirien-Imaginationen orientiere ich mich an Susi Frank: »Sibirien: Peripherie und Anderes der russischen Kultur«, in: Aage A. Hansen-Löve (Hg.): »Mein Russland«. Literarische Konzeptualisierungen und kulturelle Projektionen, München 1997, S. 357-381, hier: S. 367-376. (Wiener Slawistischer Almanach, Sonderband 44) 31 Susi Frank: »Sibirien«, aaO., S. 369. 32 Yuri M. Lotman: »The Notion of Boundary«, in: ders.: Universe of the Mind. A Semiotic Theory of Culture, übers. v. Ann Shukman, Bloomington/Indianapolis 1990, S. 131-142, hier: S. 134.

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einem Ort von kultureller Bedeutungsproduktion, die dem Zentrum verwehrt ist. Es kommt zur »Aufweichung, Relativierung oder Entgrenzung der eigenen Identität«.33 Zunächst aber erscheint die Welt des Lagers dem Neuankömmling als eine Welt des Schreckens, als »Totenhaus«, was nicht unwesentlich mit der vom Lager vorgegebenen Zwangs-Intimität zusammen hängt: »Zum Beispiel hätte ich mir keinesfalls vorstellen können, was daran so schrecklich und quälend ist, dass ich in den zehn Jahren meines Lagerlebens nicht einmal, nicht eine Minute allein sein würde. Während der Arbeit immer im Konvoi, zu Hause mit 200 Kameraden, und kein einziges Mal, kein einziges Mal – allein!« »Например, я бы никак не мог представить себе: что страшного и мучительного в том, что я во все десять лет моей каторги ни разу, ни одной минуты не буду один? На работе всегда под конвоем, дома с двумястами товарищей и ни разу, ни разу – одни!«34

Ist Intimität ein positiver Wert, der die Grenzen zwischen dem Ich und dem Anderen überwindet, die Distanz minimiert und das Einswerden zwischen dem Ich und dem Anderen impliziert – George Bataille hat diese Distanz- und Differenzlosigkeit in seiner Théorie de la réligion als intime Beziehung zu Gott beschrieben –, werden Zwangs-Nähe und Zwangs-Intimität als Bedrohung wahrgenommen. Das Haus der Zweihundert ist kein Zuhause, es ist nicht, wie Gaston Bachelard über das Haus schreibt, »unser Winkel der Welt, […] unser erstes All […] ein Kosmos. Intimität.«35 Andererseits bringt diese Zwangs-Nähe – und hier wird das Potential dieses sibirischen Heterotopos sichtbar – eine ganz besondere Gemeinschaft hervor; die erzwungene Nachbarschaft macht aus der Gemeinschaft des Ortes eine Quasi-Familie, die durch die Nähe und durch die vergleichbaren Biographien, die sich, begründet auf einem Verbrechen, von einer Norm-Biographie unterscheiden, zusammen geschweißt wird.

33 Susi Frank: »Sibirien«, aaO., S. 372. 34 Dostoevskij: Zapiski iz mertvogo doma, aaO., S. 11. 35 Gaston Bachelard: Poetik des Raums, Berlin/Wien 1975, S. 36-41.

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»Vom ersten Blick an konnte man eine deutliche Gemeinschaft in dieser seltsamen Familie bemerken; selbst die schroffsten, originellsten Persönlichkeiten, die unwillentlich über die anderen herrschten, versuchten, sich in den allgemeinen Ton dieses Lagers einzufügen.« »С первого взгляда можно было заметить некоторую резкую общность в этом странном семействие; даже самые резкие, самые оригинальные личности, царившие над другими невольно, и те старались попасть в общий тон всего острога.«36

Dabei hängt die »seltsame Familie« ganz besonderen Normen und Verhaltensweisen an; ein Häftling, der gegen diese Normen verstößt, wird ausgeschlossen. Zu einem Paradox wird der Familientopos in dem Fall eines Vatermörders – dieser wird von der »seltsamen Familie« der Gefangenen nicht deshalb geächtet, weil er seinen Vater ermordet hat, also die ursprüngliche Familie, die »Gemeinschaft des Blutes«, wie es bei Tönnies heißt, beschädigt hat, sondern weil er den Mord nicht zugegeben hat: dieses Verhalten wird von den anderen Gefangenen als »körperliche und moralische Hässlichkeit« (»какоенибудь телесное и нравственное уродство»)37 angesehen. Die neue Zwangs-Familie erfordert also bestimmte Verhaltensweisen, die anderen Regeln unterliegt als in der alten, ursprünglichen Familie – nicht der Vatermord ist das Verbrechen, sondern die (scheinbare) Scham darüber.38 (Scheinbar deshalb, weil sich später herausstellt, dass der Sohn dieses Verbrechen gar nicht begangen hat.) Werden im alltäglichen Umgang die Formen gewahrt und bestimmte Verhaltensnormen eingehalten, so findet am Festtag eine Loslösung von diesen statt: Kurz vor Weihnachten dürfen die Häftlinge ein Bad nehmen, und die Banja, viel mehr noch als das Lagerleben allgemein, zeichnet sich aus durch eine extreme körperliche Nähe:

36 Dostoevskij: Zapiski iz mertvogo doma, aaO., S. 12. 37 Dostoevskij: Zapiski iz mertvogo doma, aaO., S. 16. 38 Andrea Zink hat gezeigt, dass sowohl der Leser als auch die Gefangenen das Verbrechen, ist es einmal gestanden, »vergessen«: »Dostejewskij blendet den Zusammenhang von Strafe und tat weitgehend aus«. Andrea Zink: »›Die Arrestanten waren die reinsten Kinder‹ – Zur Rechtfertigung des Verbrechens in Dostojewskijs Aufzeichnungen aus einem Totenhaus«, in: Dostoevsky Studies, New Series, Vol. IX (2005), S. 115-134, hier: S. 117.

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»Als wir die Tür zur Banja selbst öffneten, dachte ich, wir seien in die Hölle geraten [...] Auf dem ganzen Boden war nicht eine Handbreit Platz, überall saßen gekrümmt die Häftlinge [...] Die rasierten Köpfe und die durch den Dampf roten Körper der Häftlinge wirkten noch hässlicher. Auf den vom Dampf weich gewordenen Rücken treten die Narben, die von früheren Schlägen mit der Peitsche oder mit dem Stock stammen, besonders deutlich hervor, so dass all diese Rücken jetzt erneut verletzt aussahen. Fürchterlich waren die Narben!« »Когда мы растворили дверь в самую баню, я думал, что мы вошли в ад [...] На всем полу не было местечка в ладонь, где бы не сидели скрючившись арестанты [...] Обритые головы и распаренные докрасна тела арестантов казались еще уродливее. На распаренной спине обыкновенно ярко выступают рубцы от полученных когда-то ударов плетей и палок, так что теперь все эти спины казались вновь израненным. Страшные рубцы!«39

Es gibt keine schützende Kleidung mehr; in der Banja als Höllenraum kommt es zur totalen Intimität: Der Raum lässt keine Distanz, keine Differenzen, keine Individualität zu. Die Banja lässt das Lager nicht nur als peripheren Raum erscheinen, sondern vor allem auch als einen Raum der Extreme, der sich auszeichnet durch eine extreme Hitze, extreme Nähe, extreme Hässlichkeit. Kurz zusammengefasst: Das Lager bei Dostoevskij ist zum einen ein Raum an der äußersten Peripherie, der anderen Gesetzen gehorcht, und es ist ein Raum, der aufgrund mangelnder Distanz und Differenziertheit eine Zwangs-Intimität erzeugt. Im Verbrechen, meist die Tötung, sind Täter und Opfer einander zu nahe gekommen, eine Grenze wurde überschritten; die Strafe ist ein jahrelanges Zu-Nahe-Sein, die Unmöglichkeit einer Grenze zwischen dem Ich und dem Anderen. Aus den Menschen, die einander zu nahe sind, entwickelt sich eine »seltsame Familie«, die zugleich eine Art Hölle erlebt. Dieser Lagerraum entspricht im wesentlichen den Foucaultschen Kategorien der Disziplinierung; es ist ein Raum des Anderen, des Devianten, der Delinquenten, die in die Ordnung zurück geholt werden sollen. Und – und das ist wichtig im Vergleich zu Evgenija Ginzburgs Aufzeichnungen –: Es ist ein Männerraum.

39 Dostoevskij: Zapiski iz mertvogo doma, aaO., S. 98.

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Der Sibirjake Nikolaj Jadrincev schreibt gegen Dostoevskijs Sibirien- und Lagerbild an;40 für ihn ist das sibirische Lager, der ostrog, ein utopisches Modell natürlicher Reintegration der Verbrecher – ein »Modell der disziplinierenden Reintegration«.41 Das Lager erscheint Jadrincev als eine Art paradiesischer Urzustand – anders als für Dostoevskij, der das Lager als Entsprechung der Hölle sah –; im Lager fand er eine ursprüngliche (mythisierte) russische Gemeinschaft vor, die obščina. Diese Gemeinschaft ist, wie auch bei Dostoevskij, eine Familie, aber keine »seltsame Familie«, sondern eine »Lagerfamilie«: jeder ist »ein Mitglied der Lagerfamilie«, »член острожной семьи«.42 Jadrincev beschreibt diese Gemeinschaft wie folgt: »Die Struktur dieser Gemeinschaft und der Geist ihres sozialen Interesses, ihr Benennen des Individuums, die klugen Gemeinschafts-Gesetze, die gleichmäßige Verteilung der Rechte, Pflichten und Schuldigkeiten – all das trägt das Zeichen eines im Volk begründeten Talents und seiner Weltanschauung in sich.« »Состав этой общины и дух социального интереса, поглошение ею личности, остроумные ощинные установления, равномерное распределение прав, обязанностей и повинностей, – все в ней носит печать народнаго таланта и миросозерцания.«43

Jadrincev geht hier von der Natürlichkeit des Gemeinschaftssinns aus; eine Gemeinschaft, so Jadrincev, bedarf keiner Disziplinierung von außen, sie diszipliniert sich selbst. Dieses Konzept erinnert sowohl an slavophile Ideen von der Ursprünglichkeit und Natürlichkeit des russischen Volkes als auch an Rousseaus Natürlichkeits-Utopie. Jadrincev entwirft den Gefangenen als einen moralischen Menschen: Die Gefangenen sind kindlich naiv, immer ehrlich, kennen keine Lüge.44 Es ist

40 Ich beziehe mich im folgenden auf die Untersuchung von Susi Frank: »Dostoevskij, Jadrincev und Čechov«, aaO., S. 40ff. 41 Frank: »Dostoevskij, Jadrincev und Čechov«, aaO., S. 41. 42 Nikolaj Jadrincev: »Istorija tjuremnoj obščiny i ee obščinnye učreždenija«, in: ders.: Russkaja obščina v tjur’me i ssylke, Sankt-Peterburg 1872, S. 142-188, hier: S. 142. 43 Jadrincev: »Istorija tjuremnoj obščiny«, aaO., S. 144. 44 Jadrincev: »Istorija tjuremnoj obščiny«, aaO., S. 182.

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die Natürlichkeit des Lagers, so Jadrincev, die diesen »edlen Gefangenen« hervorbringt. Das westliche Strafsystem dagegen kritisiert er: »Die Natur des Menschen konnte sich unter Einschränkungen nur auf hässliche Weise zeigen« (»Природа человека при стеснениях могла проявиться только уродливым образом«).45 Die Folge eines disziplinarischen Gefängnisse ist, so Jadrincev, eine pathologische Entwicklung gesellschaftlicher Krankheiten im alten (und im westlichen) Gefängnissystem. Der Schock der Zwangs-Nähe bei Dostoevskij weicht bei Jadrincev einem positiven Gefühl der Nähe; nicht höllische Hitze, wie in Dostoevskijs Banja, wird uns vorgeführt, sondern emotionale Wärme, wobei die räumliche Kategorie in eine emotionale übersetzt wird. Das Ergebnis ist eine Familie, deren Mitglieder als »edle Gefangene« dem »edlen Wilden« entsprechen, sie sind moralisch gut und daher nicht hässlich, sondern schön.

3. V ARLAM Š ALAMOV : D ER NACKTE M ENSCH Die Stalinistischen Straflager – ebenso wie die deutschen Konzentrationslager – bilden eine neue Phase in der Entwicklung des zoon politikon, Hannah Arendt schreibt dazu: »The supreme goal of all totalitarian governments is not only the freely admitted, long-range ambition to global rule, but also the never-admitted and immediately realized attempt at the total domination of man.«

Und: »The concentration camps are the laboratories in the experiment of total domination.«46 Damit erlangt das Lager, das sich bei Dostoevskij durch Peripherie und Zwangs-Intimität ausgezeichnet hat, eine neue Qualität: der Lagerraum wird als total(itär) bestimmt, und die »totale Herrschaft über den Menschen« nimmt eine vertikale Per-

45 Jadrincev: »Istorija tjuremnoj obščiny«, aaO., S. 184. 46 Beide Zitate finden sich auch bei Agamben: Homo sacer. aaO., S.127f.; sie stamen aus Hannah Arendt: »Social Science Techniques and the Study of Concentration Camps«, in: dies.: Essays in Understanding 1930-1954, hg. v. Jerome Kohn, New York/San Diego/London 1994, S. 232-247, hier: S. 240.

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spektive an – ging es Dostoevskij um die horizontale Linie, die Beziehung zwischen den Strafgefangenen, blickt Hannah Arendt auf die Relation zwischen den Herrschenden und den diesen unterworfenen Menschen. Varlam Šalamov, der insgesamt 17 Jahre in stalinistischen Lagern verbracht hat, stellt in seinen Erzählungen aus Kolyma 47 ein Ich dar, das nicht – wie bei Dostoevskij – in eine, wenngleich »seltsame« Gemeinschaft eingebunden ist, sondern das in einer Erfahrung des Extrems – Hunger, Kälte – auf sich selbst reduziert ist. Die einzige Gemeinschaft, die für Šalamovs Gefangenen eine Option ist, ist eine Gemeinschaft der Toten. Der Raum, in dem Šalamovs Ich sich befindet, ist ein extremer Raum: »Die Region um den gleichnamigen Fluss Kolyma ist eine der rauesten in ganz Russland. Die Temperaturen fallen in den Wintermonaten unter minus 50 Grad und ein eiskalter Wind weht über die sibirische Steppe, so dass sich selbst die Natur an den täglichen Kampf gegen diese widrigen Bedingungen angepasst hat. Für die in die dortigen Lager verbannten Arbeiter war allein die Verschikkung in diese Umstände eine Höchststrafe, an die es sich schmerzhaft anzupassen galt […] Unter diesen unmenschlichen Bedingungen mussten die Opfer des stalinistischen Terrors Zinn, Uran und Gold abbauen. In die steinernen Gräben der Bergwerke wurde Wasser gespült, um die Erdschichten Stück für Stück von dem ewigen Eis zu befreien. In dieser, schnell zur eiskalten Schlacke erstarrenden Brühe mussten die Zwangsarbeiter stundenlang schuften. Festes Schuhwerk, dichte Kleidung, ausreichende Nahrung, medizinische Versorgung – das alles gibt es nicht.« 48

Bewohner dieses extremen Raums ist der »nackte Mensch«, wie Agamben ihn beschreibt, ein Produkt, in dem die souveräne Macht – oder, in diesem Fall: die totalitäre Macht – die Verbindung zwischen Natur und Kultur, zwischen zoe und bios schafft.49 Der Souverän vereinnahmt den Menschen in seiner biologischen Verfasstheit (zoe) und in seinem politischen und gesellschaftlichen Sein (bios); indem er ihn

47 Die Erzählungen aus Kolyma in der Übersetzung von Gabriele Leupold, herausgegeben von Franziska Thun-Hohenstein, sind auch von der deutschen Kritik intensiv rezipiert worden. 48 Thomas Hummitzsch, http://www.glanzundelend.de/Artikel/schalamow.htm (Zugriff 29.3.2011). 49 Agamben, Homo sacer, aaO., S. 190.

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im Lager »außerhalb der Rechtsprechung«50 positioniert, erlangt der Souverän, der »töten kann, ohne einen Mord zu begehen«,51 die totale Macht: »Nicht das einfache natürliche Leben, sondern das dem Tod ausgesetzte Leben (das nackte oder das heilige Leben) ist das ursprüngliche politische Element.«52 Die poetische Konstruktion des literarischen Raums bei Šalamov ist bedingt durch die »natürliche« Bedingtheit dieses Raums, d.h. durch den Einbruch der Natur in diesen Raum. Schnee, Regen, Kälte bestimmen diesen Raum: »Wir bohrten auf neuem Gelände den dritten Tag. Jeder hatte eine eigene Schürfgrube, und in drei Tagen war jeder einen halben Meter tief gekommen, mehr nicht. Den Dauerfrostboden hatte noch niemand erreicht, obwohl Brechstangen wie Hacken auf der Stelle instand gesetzt wurden […]. An allem war der Regen schuld. Es regnete den dritten Tag ohne Unterbrechung. […] Wir waren längst nass, ich kann nicht sagen, bis aufs Hemd, denn wir besaßen kein Hemd.« »Мы бурили на новом полигоне третий день. У каждого был свой шуфр, и за три дня каждый углубился на полметра, не больше. До мерзлоты уще никто не дошел, и кайла заправлялись без всякой задержки […]. Все дело было в дожде. Дождь лил третьи сутки, не переставая. […] Мы давно были мокры, не могу сказать до белья, потому что белья у нас не было.« 53

Die Erzählung Trockenration (Suchim pajkom) zeigt dieses Zurückgeworfensein des Menschen auf die physische Verfasstheit des Gefangenen (Schwäche, Hunger) im extremen Raum. Vier Gefangene haben sich freiwillig gemeldet, um im Wald eine Schneise zu schlagen; die Attraktivität liegt darin, dass sie sich vom Lager entfernen und zu viert in einer Hütte wohnen dürfen. Zu diesem Zweck bekommen sie eine bestimmte Nahrungsration mit. Allerdings erreichen sie nur 10%

50 Agamben, Homo sacer, aaO., S. 91. 51 Agamben, Homo sacer, aaO., S. 93. 52 Agamben, Homo sacer, aaO., S. 98. 53 Varlam Šalamov: Kolymskie rasskazy, London 1978, S. 42-46. Deutsche Übersetzung: Warlam Schalamow: Durch den Schnee. Erzählungen aus Kolyma I, hg. v. Franziska Thun-Hohenstein, übers. v. Gabriele Leupold, Berlin 2007, S. 40.

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der Norm, die für das Holzschlagen angesetzt ist, und das Essen reicht nicht aus. Bevor sie wieder zurück ins Lager müssen, hängt sich einer der Gefangenen auf. In dieser Erzählung wird der Mensch auf seinen Körper reduziert; dieser wird zum Maßgeber aller menschlichen Eigenschaften: »[...] in den Augen der Regierung und ihrer Vertreter ist der physisch starke Mensch besser, unbedingt besser, moralischer, wertvoller als der schwache Mensch – als der, der aus einem Graben nicht 20 Kubikmeter Boden in einer Schicht ausheben kann. Der erste ist moralischer als der zweite.« »[...] в глазах государства и его представителей человек физически сильный лучше, именно лучше, нравственнее, ценнее человека слабого – того, что не может выбросить из траншеи двадцать кубометров грунта за смену. Первый моральнее второго.«54

Die Physis bestimmt, was gut, moralisch, wertvoll ist. Während in Dostoevskijs »Totenhaus« die periphere Lage und die Raumnot die Gemeinschaft hervorgebracht hat, so ist der extreme Raum bei Šalamov, der durch Kälte, Unwirtlichkeit und die »unmenschlichen Bedingungen« gezeichnet ist, ein Raum, der jede Art von Gemeinschaft unmöglich macht; das einzige, was bleibt, ist räumliche Nähe, ohne jeden emotionalen oder sozialen Effekt: »Freundschaft entsteht weder in der Not noch im Unglück. Jene ›schwierigen‹ Lebensumstände, die, wie uns die Märchen der Literatur erzählen, unbedingte Voraussetzungen für die Entstehung von Freundschaft sind, sind einfach nicht schwierig genug. Wenn Unglück und Not die Freundschaft der Menschen zusammenschweißt oder erzeugt, dann heißt das, dass die Not nicht extrem und das Unglück nicht groß genug ist. Der Kummer ist nicht ausreichend schwer und tief, wenn man ihn mit Freunden teilen kann. In wahrer Not erkennt man nur seine eigene seelische und körperliche Festigkeit an, zeigen sich die Grenzen der eigenen ›Fähigkeiten‹, der physischen Ertragbarkeit und der moralischen Kraft.« »Дружба не зарождается ни в нужде, ни в беде. Те ›трудные‹ условия жизни, которые, как говорят нам сказки художественной литературы, яв-

54 Varlam Šalamov: Kolymskie rasskazy, aaO., S. 57.

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ляются обязательным условием возникновения дружбы, просто недостаточно трудны. Если беда и нужда сплотили, родили дружбу людей – значит, это нужда – не крайняя и беда – не большая. Горе недостаточно остро и глубоко, если можно разделить его с друзьями. В настоящей нужде познается только своя собственная душевная и телесная крепость, определяются пределы своих «возможностей», физической выносливости и моральной силы.«55

Damit schreibt Šalamov gegen Dostoevskij an, denn »wenn Unglück und Not die Freundschaft der Menschen zusammenschweißt«, dann sind Unglück und Not für Šalamov noch nicht groß genug – die Situation, der die Strafgefangenen in Kolyma ausgesetzt sind, reduziert ihn auf »nur seine eigene seelische und körperliche Festigkeit«, auf die eigenen Grenzen. In den Straflagern von Kolyma ist die einzige Gemeinschaft, die bleibt, eine Gemeinschaft der Toten, was wiederum an Dostoevskijs »Totenhaus« erinnert. In der Erzählung Requiem (Nadgrobnoe slovo) wird diese Gemeinschaft der Toten aufgerufen; die Erzählung beginnt mit »Alle sind gestorben« (»Все умерли ...«) und wird strukturiert durch den immer wieder auftretenden Refrain »Gestorben ist …« (»Umer«): »Nikolaj Kazimirovič Barbé ist gestorben«, »Jos’ka Rjutin ist gestorben«, »Dmitrij Nikolaevič Orlov ist gestorben« usw. (»Умер Николай Казимирович Барбэ«, »Умер Иоська Рютин«, »Умер Дмитрий Николаевич Орлов«),56 und zu jeder Person wird eine Episode erinnert. Das Ergebnis ist eine Ansammlung von Toten, die ihre eigene Familie bilden. Auch hier wieder findet sich das nackte Leben, ein Leben ohne echte Differenzen, wo der Tod wie das Leben ist – einen Ausnahmezustand, der die Norm ist.

4. E VGENIJA G INZBURGS G EFÄNGNISAUFZEICH NUNGEN – E INE G EMEINSCHAFT DER F RAUEN Evgenija Ginzburg, die 1904 geboren wurde und 1977 starb, war überzeugte Kommunistin, als sie 1937 im Zuge der Stalinistischen Säube-

55 Šalamov: Kolymskie rasskazy, aaO., S. 65f. 56 Šalamov: Kolymskie rasszkazy, aaO., S. 265.

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rungen verhaftet wurde. Dass sie auch nach ihrer Rehabilitierung 1955 ihre ideologische Position nicht aufgab, führte dazu, dass sie heftig kritisiert wurde. Zugleich ist Gratwanderung (Krutoj maršrut) einer der ersten Texte mit Lagererinnerungen einer Überlebenden des GULAG; bereits 1960 kursierte der Text in sowjetischen Untergrundkreisen als Samizdat(Selbstverlag)-Abschrift.57 Rückt mit dem Gefängnis ein im Vergleich zum Lager neuer »anderer Raum«, ein anderer Heterotopos, in den Fokus,58 dann unterscheiden sich die Aufzeichnungen von Evgenija Ginzburg von Dostoevskij und Šalamov zudem dadurch, dass es sich um die Aufzeichnungen einer Frau handelt. Männer und Frauen wurden in den Gefängnissen getrennt untergebracht und kommunizierten durch die Wände; im Lager begegneten sie sich auch physisch, was nicht selten zu Gewalttätigkeiten, genauer: zu Vergewaltigungen führte. Ginzburgs Erfahrungen im Gefängnis sind stark geprägt durch die Gemeinschaft der Frauen. Der Raum in Dostoevskijs Aufzeichnungen aus dem Totenhaus ist ein peripherer, intimer Raum; der Raum bei Šalamov ist ein extremer Raum, in dem eine Intimität oder Nähe nur möglich ist zu den Toten. Bei Ginzburg treffen wir auf einen geschlossenen Raum, in dem die physischen, materiellen Gefängnismauern eine zentrale Rolle spielen, sei es als Begrenzung oder als Grenze, die durch Klopfzeichen überschritten werden kann. »The Politics of space are always sexual«, schreibt die Architekturtheoretikerin Beatriz Colomina59 über die Interaktion zwischen Körper und Raum. Dieser Satz impliziert die (politische) Macht des Raums, auf den der Körper (sei er weiblich oder männlich) reagieren muss. Der geschlossene Raum des Stalinistischen Gefängnisses ist – wie auch das Lager – ein extremer Raum, doch anders als bei Šalamov geht es weniger um die physische als um die psychische Tortur; der physische Terror ereilt Ginzburg später im Lager. Anhand von Ginzburg lässt sich die Gratwanderung verfolgen, der das Ich, das sich ei-

57 Franziska Thun-Hohenstein: Gebrochene Linien. Autobiographisches Schreiben und Lagerzivilisation, Berlin 2007, S. 87f. 58 Im Folgenden wird der 1. Teil der Aufzeichnungen im Zentrum stehen, der im Gefängnis spielt, bevor Ginzburg ins Lager verlegt wurde. 59 Beatriz Colomina: »Introduction«, in: dies. (Hg.): Sexuality and Space, New York 1992, ohne Seitenangabe.

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nerseits bewahren will, andererseits aber auf die Bedingungen des Raums einlassen muss, ausgesetzt ist. Evgenija Ginzburg musste die extrem luxuriösen Lebensbedingungen der Partei-Nomenklatur gegen den ›monastischen‹ Gefängnisraum eintauschen; diesen Raumwechsel überlebte sie durch Reden und Lesen, durch eine enge Verbindung mit ihren Mitgefangenen. Retrospektiv schreibt sie: »1937, als all das mit mir geschah, war ich nur wenig älter als 30. Jetzt bin ich über 50. Zwischen diesen beiden Daten liegen achtzehn Jahre, die ich DORT verbracht habe.« »В 1937-м, когда все это случилось со мной, мне было немножко за тридцать. Сейчас – больше пятидесяти. Между этими двумя датами пролегло восемнадцать лет, проведенных ТАМ.«60

»TAM« / DORT ist ein Gegenraum zum normalen Leben, das für Ginzburg das kommunistische Leben ist. Der Titel ihrer Memoiren über den GULAG markiert die Grenze zwischen diesen beiden Bereichen: Krutoj maršrut, Gratwanderung. Franziska Thun-Hohenstein sieht nicht nur Ginzburgs Biographie als Gratwanderung an, sondern auch ihr Schreiben, das sie als »narrative Gratwanderung« bezeichnet, die sich durch »rhetorische Besonderheiten, in erster Linie die ästhetischen Verfahren, die auf Effekte von Distanz (zum Erlebten wie zum vergangenen Ich) bzw. Nähe (zum intendierten idealen Leser) abzielen«, auszeichnen.61 Das autobiographische Ich schreibt gegen ein »wir« an, dem es ursprünglich angehörte. Das erzählende Ich ist gleichermaßen Innen und Außen; als es bzw. sie verhaftet wurde, empfindet sie Erstaunen, »изумление«: »Viele verschiedene Gefühle quälten mich in jenen Jahren. Doch das grundsätzliche, bestimmende Gefühl war Erstaunen« (»Много разных чувств терзало меня за эти годы. Но основным, ведущим было чувство изумления«).62 Thun-Hohenstein verweist darauf, dass Erstaunen den Akt der Beobachtung impliziert und damit Distanz. Das russische Wort »izumlenie« meint wörtlich »außerhalb des Verstandes sein«, anders als die semantische Alternative »udivlenie«, die im russi-

60 Evgenija Ginzburg: Krutoj maršrut, Moskva 1990, S. 4. 61 Thun-Hohenstein: Gebrochene Linien, aaO., S. 89. 62 Ginzburg: Krutoj maršrut, aaO., S. 4.

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schen das Wunder (divo) enthält – nicht das Wunderbare wird in diesem Erstaunen mitgedacht, sondern der Schock angesichts dessen, was beobachtet wird.63 Doch zurück zum weiblichen Raum: Laura Mulvey, die den Raum aus kinematographischer Perspektive behandelt, verbindet in einem Aufsatz über Interieurs und Sexualität das Interieur mit dem Rätsel der weiblichen Psyche und bezeichnet das eine wie das andere als die »Topographie einer verführerischen Oberfläche« (»topography of a seductive surface«).64 Der weibliche Raum ist also mit dem Intimen und Privaten verbunden im Gegensatz zum Öffentlichen und Sozialen, mit dem Geheimnis im Gegensatz zum Sichtbaren. Bevor Ginzburg verhaftet wurde, führte sie ein aktives gesellschaftliches und politisches Leben und war sehr sichtbar: Sie unterrichtete Geschichte der KP an der Universität von Kazan’, war mit einem hohen Parteibeamten verheiratet und hatte eine zentrale Stellung im Schriftstellerverband von Kazan’ inne. Mit ihrer Verhaftung nahm dieses öffentliche Leben ein abruptes Ende. Ich werde mir zunächst den Bruch zwischen ›vorher‹ und ›nachher‹ anschauen und dann Ginzburgs zentrale Metapher des Klosters analysieren, die sie einsetzt, um das Gefängnis zu beschreiben. Der erste Teil der Memoiren ist auf eben diesen Bruch in Ginzburgs Biographie begründet, die ihr Leben in ein »normales« Leben vor der Verhaftung und die »Hölle«, »ад«, unterteilt, die sie danach erfuhr.65 Dieser Bruch ist offensichtlich, wenn sie über sich selbst redet, über andere Menschen, aber auch über den Raum. Das erste Kapitel, das die Zeit »danach« behandelt, heißt »Der Keller im ›Schwarzen See‹«, »Подвал на черном озере«. Der »Schwarze See« ist ein Park in Kazan’: »Das Territorium des Parks wurde für verschiedene Ausstellungen genutzt, und im Winter fuhr man hier Schlittschuh« (»территория сада использовалась для различных выставок, а зимой здесь был каток«).66 Nachdem der NKVD in ein Gebäude umzog, das

63 Thun-Hohenstein: Gebrochene Linien, aaO., S. 106. 64 Laura Mulvey: »Pandora. Topographies of the Mask and Curiosity«, in: Beatriz Colomina (Hg.): Sexuality and Space, New York 1992, S. 53-73, hier: S. 56. 65 »Und das hier ist die Hölle selbst« (»А вот и сам ад»): Ginzburg: Krutoj maršrut, aaO., S. 36. 66 Ginzburg: Krutoj maršrut, aaO., S. 35.

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dem Park gegenüber lag, erlangte der »Schwarze See« eine neue Bedeutung bzw. erfuhr eine semantische Verschiebung: Während der Name »Schwarzer See« vorher Freizeit, Fröhlichkeit und Familien evoziert hat (»каток«, das Schlittschuhlaufen, erinnert an lachende Kinder und flirtende Paare, zum Beispiel an Kitty, Vronskij und Levin aus Anna Karenina), hat er nun eine neue Bedeutung: »Das Wort erlangte denselben Sinn wie die ›Lubjanka‹ in Moskau« (»Слово приобрело тот же смысл, что ›Лубянка‹ для Москвы«).67 Der Bruch zwischen »vorher« und »nachher« verläuft genau durch den Namen dieses Ortes. Das Kloster ist die zentrale Metapher, die Ginzburg auf die verschiedenen Gefängnisse anwendet, in denen sie ihre Haftzeit verbringt.68 »Jedes Kloster hat seine eigenen Regeln« (»В каждом монастыре свой устав«), schreibt sie.69 Wie sehen diese Regeln aus? Zunächst einmal wird die Novizin, sobald sie die Schwelle überschreitet, von allem befreit, das sie an ihr früheres Leben außerhalb der Zelle erinnern könnte. Die Zeit hält an, was in Gratwanderung durch Ginzburgs Uhr symbolisiert wird, die an dem Tag ihrer Verhaftung zu funktionieren aufhört.70 Während die Zeit ihren Wert verliert, erlangt der Raum eine überwältigende Realität, mit der die Gefangenen zurecht kommen müssen. Kloster bedeutet: sich hinter dicken Wänden befinden, in Distanz zur Welt außerhalb, unter Gleichgeschlechtlichen zu sein, zu schweigen. Das Kloster ist der Ort, in den Frauen sich zurück ziehen – oder in den sie weggesperrt werden –, wenn sie in der äußeren Welt keinen Erfolg haben, in der Welt der Männer; das zeigt sich an Hamlets Wor-

67 Ginzburg: Krutoj maršrut, aaO., S. 36. 68 Im »Schwarzen See«, Lefortovo und das Butyrka-Gefängnis mit dem Pugačev-Turm in Moskau, das Gefängnis Korovniki in Jaroslavl’. 69 Ginzburg: Krutoj maršrut, aaO., S. 67. 70 »Plötzlich, unerwartet, geben sie mir meine Uhr zurück. Sie war seit jenem denkwürdigen Tag nicht aufgezogen worden. Sie zeigt immer noch 2 Uhr am 15. Februar 1937 an. Das Datum meines Untergangs. Denn alles, was danach kam, war mein Herumirren in der Hölle nach meinem Tod« (»Мне вдруг неожиданно возвращают часы. Они не заводились с того памятного дня. Они все же показывают 2 часа дня 15 февраля 1937 года. Дата моей гибели. Ведь все, что шло потом, это были посмертные блуждания в аду«, Ginzburg: Krutoj maršrut, aaO., S. 66).

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ten, die er an Ophelia richtet: »Get thee to a nunnery« (Hamlet, Akt III.1), oder an den Frauenfiguren in Čechovs Dramen, wenn sie es nicht schaffen, geheiratet zu werden, wie Var’ja im Kirschgarten (Višnevyj sad). Das Kloster zeichnet sich aus durch Askese, weibliche Solidarität und Keuschheit. Dieselben Eigenschaften können wir in der Gefängniszelle finden: Askese meint den Verzicht auf weltliche Dinge, die den Gefangenen weggenommen werden, und es bedeutet eine extreme Reduktion des Raums.71 Ginzburg beschreibt ihre Zelle in Lefortovo: »Bis heute kann ich mir die kleinste Unebenheit oder den kleinsten Kratzer auf diesen Wänden vorstellen, wenn ich die Augen schließe […] Und bis heute erinnere ich mich an die Sehnsucht meines ganzen Körpers, an jene Verzweiflung der Muskeln, die mich erfasste, wenn ich mit meinen Schritten den Raum abmaß, der mir jetzt zum Leben gegeben war.« »Я до сих пор, закрыв глаза, могу себе представить малейшую выпук лость или царапину на этих стенах […] И до сих пор помню ту тоску всего тела, то отчаяние мышци, которое охватывало меня, когда я мерила шагами отведенное мне теперь для жизни пространства.«72

Der Raum, den sie für ihr Leben hat, ist ein Teil ihres Körpers geworden, hat sich in ihr Körpergedächtnis eingeschrieben. Anders aber als im Kloster haben die Frauen in den Gefängniszellen sich diesen Ort nicht ausgesucht, und sie haben keinen spirituellen

71 Das neue Leben ist das Gegenteil des alten, welches voller Dinge war: Die Krankenschwester, die Ginzburg untersucht, als sie zum »Schwarzen See« kommt, sagt zu ihr: »Welchen Paragraphen hat man Ihnen verpasst, hm? Nun, den gegen die Sowjetunion? Ich weiß es doch – Sie sind die Aksenova, die Frau des Vorsitzenden des Stadtrats? Hat Ihnen das etwa nicht gereicht? Das Auto, und die Datscha auf Staatskosten, und die Kleidung, alles aus Kommissionsgeschäften?« (»Что вас заставило-то, а? Ну, против Советской власти что вас заставило? Ведь я знаю – вы Аксенова, предгорсвета жена. Чего же вам еще не хватало? И машина, и дача казенная, и одежда-то, поди, все из комиссионных?«, Ginzburg: Krutoj maršrut, aaO, S. 67). 72 Ginzburg: Krutoj maršrut, aaO., S. 123.

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Grund dafür, dass sie hier sind. Sie müssen ihre eigenen Überlebensstrategien entwickeln: sie reden miteinander, und sie reden sehr viel: »Wir redeten bis zu zwanzig Stunden pro Tag. Wir wurden heiser davon. […] Es erfüllte dich das stolze Bewusstsein, dass du ein Mensch bist, der eine zusammen hängende Rede beherrscht, dass du zu einer Kommunikation mit einem anderen Menschen fähig bist. Innerhalb kürzester Zeit lernte ich nicht nur alles bis ins kleine Details über den Lebensweg von Julia selbst, sondern auch die Biographien all ihrer Verwandten bis zum dritten Grad.« »Мы говорили по двадцать часов в сутки. Охрипли. /.../ Переполняло гордое соознание, что ты человек, владеющий связной речью, способный к общению с другим человеком. За короткоое время я изучила до мельчайших деталей не только жизненный путь самой Юли, но и биографии всех ее роднственников третьего колена.«73

Das Reden über die Außenwelt war eine Reaktion auf den Ausschluss aus der äußeren Welt. Da die Frauen keine Möglichkeit hatten, sich innerhalb einer Zelle voneinander abzugrenzen, verbanden sie sich miteinander und produzierten eine Atmosphäre emotionaler Wärme. Diese Gefängnis-Intimität erinnert an Dostoevskij, an die »seltsame Familie« und die »besondere Welt«, die er in seinen literarischen Aufzeichnungen beschreibt. Ganz ähnlich verwandeln sich die Frauen im Gefängnis für Ginzburg in eine Art Familie. So schreibt sie über Ljama, ihre erste Zellennachbarin: »An dem Tag erlebte ich zum ersten Mal jene Art von seelischen Qualen, die Gefängnisabschiede mit sich bringen. Es gibt keine emotionalere Freundschaft als die, die das Gefängnis hervor bringt […] Jene mitleidlosen Hände, die mir die Kinder, den Mann, die Mutter genommen hatten, nahmen mir jetzt meine liebe Schwester Ljama.« »В этот день я впервые столкнулась с той разновидностью душевной муки, которую приносят тюремные расставания. Нет более горячей дружбы, чем та, что создается тюрьмой. [...] Те же безжалостные руки, которые

73 Ginzburg: Krutoj maršrut, aaO., S. 129f.

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отобрали у меня детей, мужа, мать, отнимают теперь милую сестричку Ляму.«74

Die Fremde wird im Gefängnis zunächst zur Freundin, dann zur Schwester, und sie ersetzt die verlorene Familie. Das vierte Merkmal des Klosters, neben Abgeschlossenheit, Askese und der weiblichen Gemeinschaft, ist die Keuschheit. Im Gefängnis sind die meisten Männer, denen die Frauen begegnen, monströse Offiziere, die sie verhören, und mehr oder weniger freundliche Aufseher. Die Frauen stellen aber auch indirekte Beziehungen zu männlichen Mitgefangenen her, zum Beispiel dadurch, dass sie sich durch das Klopfen an der Wand mithilfe eines Geheimalphabets verständigen. Es geht darum, Informationen auszutauschen und einander zu unterstützen. Später, im GULAG, begegnen Männer und Frauen sich auch physisch. Ginzburgs Memoiren enthalten ein Kapitel über Liebe und Sexualität im GULAG (»In den Sträuchern der«, »Ветерок в кустах шиповника«).75 Während die Beziehung zu Männern im Gefängnis eine freundschaftliche war – zu jenen Männern, von denen man durch eine Gefängniswand getrennt war –, wird sie im Lager durch Prostitution und Vergewaltigung bestimmt; Liebe gibt es nicht: In Kolyma, so sagten [viele unserer Kameraden], kann es keine Liebe geben, weil sie hier in Formen ausgeführt wird, die für die menschliche Würde beleidigend sind. »На Колыме, говорили [многие наши товарищи], не может быть любви, потому что она проявляется здесь в формах, оскорбительных для человеческого достоинства.«76

74 Ginzburg: Krutoj maršrut, aaO., S. 65. 75 Zu Liebe im GULAG s. Franziska Thun-Hohenstein: »Liebe im GULAG. Zwangsnähe und Intimität als Thema der russischen Lagerprosa«, in: Nadežda Grigor’eva/Schamma Schahadat/Igor’ P. Smirnov (Hg.): Nähe schaffen, Abstand halten. Zur Geschichte der Intimität in der russischen Kultur, Wien 2005, S. 419-438. (Wiener Slawistischer Almanach, Sonderband 62). 76 Ginzburg: Krutoj maršrut, aaO., S. 279.

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Ein Grund dafür war die Tatsache, dass es für die Liebe keinen Raum gab, dieser bot sich nur für sexuelle Begegnungen: »Liebe in den Lagern von Kolyma – das sind schnelle, gefährliche Begegnungen in irgendwelchen Ecken ›für die Produktion‹, in der Tajga, hinter einem schmutzigen Vorhang in irgendeiner ›freien Baracke‹. Und immer mit der Angst, erwischt und öffentlich gebrandmarkt zu werden.« »Любовь в колымских лагерях – это торопливые опаснейшие встречи в каких-нибудь закутках ›на производстве‹, в тайге, за грязной занавеской в каком-нибудь ›вольном бараке‹. И всегда под страхом быть пойманным и выставленным на публичный позор.«77

Im Lager von Kolyma gibt es keine Privatheit, man ist immer sichtbar, und wenn man sich dieser Sichtbarkeit entzieht, wird man dafür bestraft, dass das Intime ausgestellt, gebrandmarkt wird. In den drei Texten, die ich untersucht habe, finden sich die Protagonisten und Protagonistinnen an Orten wieder, die jenseits von Gut und Böse positioniert sind, an einer Art moralischem Nullpunkt. Was in den Fokus rückt, ist die Gemeinschaft, genauer: die Nachbarschaft, oder noch genauer: die Zwangs-Nachbarschaft. Nachbarschaft erfordert Nähe, in diesem Fall Zwangs-Nähe, und aus dieser Zwangs-Nähe, die räumlich begründet ist, ergeben sich drei unterschiedliche Varianten von Nachbarschaft (räumlich), Gemeinschaft (nach Tönnis: »geistig«) und Quasi-Familie: Dostoevskijs räumliche Zwangsnähe resultiert in einer »seltsamen Familie«, Šalamovs »nackter Mensch« akzeptiert einzig eine Gemeinschaft der Toten, und Ginzburg entwirft eine Gemeinschaft der Frauen, die nicht nur durch den realen Ort (das Gefängnis), sondern auch durch die gesellschaftliche Exklusion aus einem ›normalen‹ Alltagsleben bedingt ist. Nähe und Distanz, Raum, gender und Gemeinschaft gehen in den literarischen Darstellungen je unterschiedliche Koalitionen ein.

77 Ginzburg: Krutoj maršrut, aaO., S. 278f.

Privatsphäre, Nachbarschaft, Zusammenleben: (Post-)Sowjetische Kommunalwohnungen1 I LYA U TEKHIN

Tanja, eine dreiundzwanzigjährige Studentin, fand eines Tages eine Nachricht von ihrer Zimmernachbarin Elena auf ihrem Badezimmerschränkchen. Sie teilte sich mit der etwas über sechzigjährigen Elena in einer siebenköpfigen Kommunalwohnung2 im Herzen von St. Pe-

1

Im englischen Original: »Order of privacy in neighbors’ interaction: The case of the communal apartments in the USSR«. Aus dem Englischen übersetzt von Eva Engels und Jens Möller.

2

[Die sowjettypische »Zwangswohngemeinschaft« oder Kommunalwohnung (auf Russisch kommunal'naja kvartira, kurz kommunalka) löste die mit der Industrialisierung einhergehende Wohnungsnot im urbanen Raum und ermöglichte die parallel stattfindende postrevolutionäre Alltagsumgestaltung im Sinne der neuen sowjetischen Lebensweise. Was die Kommunalwohnung einzigartig unter den (früh)industriellen Arbeiterquartieren macht, sind nicht nur die unmenschliche Dichte einander fremder Menschen, die von sozialen und gesundheitlichen Missständen geprägten Wohnverhältnisse, der Zwangscharakter des Zusammenlebens von Menschen unterschiedlichster Herkunft etc., sondern sie zeichnet sich zudem aus durch die extreme Ideologisierung, Politisierung und Kollektivisierung des Alltags. Aus dem Provisorium zur Lösung der Wohnraumkrise wurde ein permanenter lebensweltlicher Ausnahmezustand, der die Rolle der Sozialisations- und Disziplinierungsinstanz übernahm. Eine Mehrheit der ur-

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tersburg Küche, Bad und andere Räume. Die nicht direkt an Tanja adressierte Botschaft (zu sehen im Virtual Museum of Everyday Life3) war sorgfältig auf die Lasche einer Zigarettenschachtel geschrieben, und fast schon elegant anmutend gold-orange eingerahmt. Sie lautete: »Meine Damen und Herren! Bitte hängen Sie keine intimen Kleidungsstücke (Unterwäsche etc.) an der Wäscheleine auf. Sie können diese in Ihren Zimmern auf den Heizungsrohren oder dem Heizkörper trocknen. Sie befinden sich hier nicht im Arbeiterschlafsaal einer Kolchose, sondern in einer Wohnung im Zentrum von St. Petersburg.«

Obwohl die Nachricht nicht unterschrieben war, konnte jeder in der Wohngemeinschaft die Verfasserin an ihrer Handschrift identifizieren, da sie bereits andere Hinweise und Ankündigungen von Elena gesehen hatten. Obwohl Elena erst Mitte der 1990er Jahre eingezogen war und daher nicht als alteingesessen bezeichnet werden konnte, lebte sie von allen Bewohnerinnen schon am längsten in der Wohnung. Im Gegensatz zu den anderen Bewohnerinnen, die sich nur für ihre Studienzeit eingemietet hatten – in der Nachricht wurden zu Unrecht auch Herren angesprochen, obwohl sie alle weiblich waren –, war Elena auf Dauer dort wohnhaft und Eigentümerin ihres Zimmers. Aus diesen beiden Gründen ging sie in Übereinstimmung mit den traditionellen Regeln des kommunalen Wohnens davon aus, das Sagen zu haben und den

banen Sowjetgesellschaft gestaltete ihren Alltag in dieser Wohnform, auch in der späten Sowjetzeit. Noch heute gibt es Kommunalwohnungen, die mitunter gesellschaftliche und institutionelle Aufgaben übernehmen, indem sie unter anderem beispielsweise die soziale Funktion eines Altersheims übernehmen. – Anmerkung der Herausgeberinnen.] 3

Sofern nicht anders vermerkt, finden sich dieser Aufsatz und die darin angesprochenen Dokumente bereits im Internet; sie sind als ein Teil des Virtual Museum of Every Day Life, »Communal Apartment« unter http://kommunalka.colgate.edu veröffentlicht. Die hier beschriebene Nachricht kann unter: documents > Notes Left for Neighbors > Don’t hang up your underwear! eingesehen werden. In diesem virtuellen Museum stehen außerdem Informationen zu Gemeinschaftswohnungen als einer urbanen Wohnart in der Sowjetunion zur Verfügung.

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anderen Bewohnerinnen Anweisungen oder Ratschläge geben zu können. Die Verfasserin dieser Nachricht verwendet »Bildung« und »Kultur« als Unterscheidungsmerkmale, durch die sich eine Wohnung im Zentrum von St. Petersburg von einem Schlafsaal für Wanderarbeiter oder auf einer Kolchose unterscheidet. Bei einem Blick in die Zimmer wäre auch klar zu erkennen gewesen, dass es sich bei den Bewohnerinnen keineswegs um solche Arbeiter handelt.4 In Kommunalwohnungen wird gewöhnlich nicht gegen das Aufhängen von Unterwäsche im gemeinsamen Badezimmer protestiert (Abb. 1).

Abb. 1: Diese Eimer und Behälter im Waschraum der Kommunalka gehören unterschiedlichen Bewohnern (2005)

4

Im oben erwähnten virtuellen Museum sind einige der hier erwähnten Zimmer und Personen zu sehen, letztere in Verbindung mit ihrem wirklichen Namen. Weil aber manche von ihnen immer noch in denselben Wohnverhältnissen leben und ihre Daten nur unter der Bedingung freigegeben haben, dass ihre Identität geschützt wird, wurden ihre Namen in diesem Aufsatz und in einigen Ausstellungskommentaren verändert, um zu verhindern, dass die Menschen, von denen einige der hier thematisierten Notizen verfasst wurden, in den Videos identifiziert werden können.

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Normalerweise sind die entsprechenden Wäscheleinen, die samt dort aufgehängter Kleidung im virtuellen Museum auf einer Reihe von Abbildungen zu sehen sind, eben genau der Ort zum Trocknen von Wäsche und werden von allen Mitbewohnern verwendet. Der Umgang mit »intimen Kleidungsstücken« entspricht im Grunde dem innerhalb einer Familie, obwohl die Bewohner sich in anderer Hinsicht wie Fremde verhalten. Der von ihnen bewohnte und geteilte Raum ist transparent, und das heißt, dass man Dinge voneinander weiß, die gewöhnlich nur engen Verwandten bekannt sind. Die Mitbewohner sind stets als stille Beobachter direkt vor der Zimmertür präsent. Sie erkennen einander am Klang ihrer Schritte und wissen über den Tagesablauf der Anderen Bescheid. Sie können sehen, dass ein bestimmter Nachbar zu Hause ist, weil seine Pantoffeln nicht vor seiner Zimmertür stehen, und dass ein anderer unterwegs ist, weil sein Türgriff nach unten zeigt, was bedeutet, dass die Tür verschlossen ist. Was sie voneinander wissen, beschränkt sich nicht nur auf die Alltagsroutine, sondern umfasst viele Aspekte des Lebens: die berufliche Tätigkeit der Nachbarn, ihre Gewohnheiten, Familienbeziehungen, Vorlieben, Abneigungen und Ansichten im Allgemeinen. Eine der für das Projekt befragten Personen drückte das so aus: »Alles ist sichtbar. Und das macht einen Teil dessen aus, was wir sind. Weil man unter den Blicken aller aufwächst, weiß man, dass man jeden Tag von anderen Menschen bewertet wird: wie man sich anzieht, wo die Mutter arbeitet, wer zu Besuch kommt, was man isst, ob man Freizeit hat, was man wäscht, welche Art von Unterwäsche man auf der Wäscheleine trocknet.«5

Gemeinschaftsräume führen zwangsläufig dazu, dass Aktivitäten und Zustände auf eine Weise zur Schau gestellt werden, die in einem anderen Kontext peinlich wäre. Frauen haben Bade- oder Hausmäntel an und manchmal ein Handtuch um den Kopf geschlungen. Männer tauchen im Flur und in der Küche (etwa, wenn sie sich dort waschen) im Unterhemd oder sogar mit freiem Oberkörper auf. Abends oder nachts kann es geschehen, dass ein männlicher Mitbewohner nur mit einem Handtuch bekleidet vom Bad zurück in sein Zimmer geht. Wenn ein Bewohner der Kommunalwohnung in einem solchen Zustand auf ei-

5

Il’ja Utechin [Ilya Utekhin]: Očerki kommunal'nogo byta [Essays über den Alltag in der Kommunalwohnung], Moskau 2004, S. 110.

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nen der anderen trifft, dann wird das nicht als Verletzung der Privatsphäre betrachtet. Bestimmte Aktivitäten müssen notgedrungen unter den Blicken der Anderen stattfinden, weil es keine andere Möglichkeit gibt. So wird etwa die Küche oft zum Zähneputzen und zum Waschen oder Färben der Haare verwendet. Das bedeutet, dass man gewohnt ist, sich gegenseitig ohne Make-up oder Kosmetik zu sehen. In der Kommunalwohnung sind alte Bademäntel und Trainingshosen üblich – also Kleidung, in der man sich »Außenseitern« auf der Straße oder bei der Arbeit nicht zeigen würde. Trotzdem empfand niemand es als merkwürdig, in der Wohnung in der Gegenwart von Zimmernachbarn oder vor der Kamera so zu erscheinen. Im Gegenteil, trägt man einen Anzug oder putzt man im Flur Schuhe, so veranlasst das die Anderen zu fragen, was man vorhat. An der Wäscheleine wird also gewöhnlich kein Anstoß genommen. Tatsächlich kann es für die Bewohner von Gemeinschaftswohnungen eher zum Problem werden, Unterwäsche in den privaten Zimmern zu trocknen: »Aber hier werden doch Gäste empfangen!« Diese Gäste können sich zwar auch in der Küche und im Badezimmer aufhalten, aber diese Räume werden nicht mit einer einzelnen Person in Verbindung gebracht und darum fühlt sich niemand wegen der dort aufgehängten Wäsche unbehaglich. Die privaten Zimmer werden daher zwar auch zum Aufhängen von Wäsche verwendet, aber nur, wenn keine Gäste erwartet werden, oder nur solche, bei denen es einem nichts ausmacht, wenn sie die Wäsche sehen. Vor diesem Hintergrund konnte Elenas Ermahnung an ihre Mitbewohnerinnen von diesen kaum ernst genommen werden: Sie war nicht autorisiert, ihnen Vorschriften zu machen, und die anderen ließen den selbsterhobenen Führungsanspruch nicht gelten. Zumal sie nicht die Funktion der offiziellen Wohnungswartin oder kvartupolnomochennyj inne hatte. Die »Regeln zur Nutzung von Wohnräumen«6 besagen, dass die meisten Fragen des Zusammenlebens »durch Übereinkunft der Bewohner« entschieden werden sollten. Dennoch muss es jemanden geben, der die Einhaltung dieser Regeln überwacht und der autorisiert ist,

6

Vgl. zu diesen Regeln Utechin: Očerki, aaO., S. 227-231; sie sind außerdem im virtuellen Museum unter documents > Rules and regulations > Rules for the use of residential premises zu finden. [Das gilt auch für die weiteren im Text genannten Zitate der Regeln und wird im Folgenden nicht extra erwähnt.]

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sie in konkreten Situationen zu interpretieren und durchzusetzen. Darum wird vorgeschrieben, dass durch eine Wahl, an der alle Bewohner teilnehmen, eine Person bestimmt wird, die die Leitung übernimmt. Dieser so genannte Wohnungswart soll die Wohngemeinschaft in Verhandlungen mit der Hausverwaltung repräsentieren und zugleich Vertreter der Verwaltung innerhalb der Wohnung sein. Zu den Aufgaben dieser Person gehört es auch, sicher zu stellen, dass anfallende Rechnungen pünktlich bezahlt werden, auf Ruhestörungen wirksam zu reagieren sowie die regelmäßigen Treffen der Bewohner zu planen und zu leiten. Dazu kommt die Schlichtung von Konfliktsituationen, bevor eine Eskalation dazu führt, dass man vor dem Genossengericht erscheint, die Polizei hinzuzieht oder gar ein ordentliches Gerichtsverfahren droht. Natürlich verfügen nicht alle Menschen in Kommunalwohnungen über die notwendigen sozialen Fähigkeiten für eine so anspruchsvolle Tätigkeit. Die Konfliktbewältigungs- und Überwachungsfunktion der Wohnungswarte wurde in den letzten Jahrzehnten des sowjetischen Regimes immer stärker eingeschränkt. Gegen Ende des 20. Jahrhunderts beschränkte sich ihre Tätigkeit zumeist auf das Dokumentieren des Stromverbrauchs der einzelnen Bewohner und das Aufhängen einer entsprechenden Liste, und selbst das konnte auch abwechselnd von allen oder einigen der Bewohner übernommen werden. In der oben beschriebenen Gemeinschaftswohnung gab es tatsächlich keinen Hauswart, und diese sowie andere Aufgaben, wie etwa das Bodenputzen, wurden von allen Bewohnerinnen der Reihe nach ausgeführt. Es gab auch keine an den Wänden angebrachten Vorschriften oder Regeln, die das Aufhängen von Unterwäsche im Bad verboten hätten. Zimmernachbarn berufen sich in ihren meist in der Küche geführten Auseinandersetzungen auf den gesunden Menschenverstand oder auf Traditionen, und sie appellieren an das Gewissen der Anderen; zudem können sie sich als ultima ratio auf die »Regeln zur Nutzung von Wohnräumen« berufen. Als wäre das nicht genug, stellen sie aber oft zur Ergänzung der offiziellen Vorschriften weitere Regeln auf – was auch dazu dienen kann, ihren eigenen Vorstellungen von Ordnung einen offiziellen und verbindlichen Anstrich zu geben. Diese Strategie lässt sich gut an dem folgenden Beispiel einer selbstverfassten Regel

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erkennen. In den offiziellen »Regeln zur Nutzung von Wohnraum« aus dem Jahr 19637 heißt es: »Von 11 Uhr nachts bis 7 Uhr morgens soll in den Wohnungen Ruhe herrschen. In dieser Zeit ist die Verwendung jeglicher Lautsprecher nur gestattet, wenn der Geräuschpegel so niedrig ist, dass die Nachbarn nicht gestört werden.«

Im Rahmen meiner Feldforschung in St. Petersburg bin ich auf ein Beispiel selbst geschriebener »Verhaltensregeln für die Gemeinschaftswohnung«8 gestoßen, deren erster Satz ganz klar auf diese Formulierung verweist: »Von 7 Uhr morgens bis 11 Uhr nachts soll Ruhe herrschen. Musik und Fernseher sollen tagsüber nur von der betreffenden Person, nicht aber von den Nachbarn gehört werden können.«

Diese vom Wohnungswart unterschriebenen selbstverfassten Regeln heben also hervor, dass die Nachbarn auch tagsüber ebenso wenig gestört werden möchten wie zwischen elf Uhr abends und sieben Uhr morgens. Trotz dieser Bestimmung, dass die Zimmerlautstärke nicht überschritten werden darf, kann es aber zu Meinungsverschiedenheiten darüber kommen, ob außerhalb des Zimmers wirklich etwas zu hören ist oder nicht, und deshalb muss man festlegen, wie diese Vorschrift in der konkreten Situation anzuwenden ist. Außerdem sind die offiziellen Regeln in vielerlei Hinsicht zu allgemein gehalten, weil natürlich die verschiedenen Konfigurationen von Problemen und zwischenmenschlichen Beziehungen in spezifischen einzelnen Wohnungen nicht berücksichtigt werden können. In den selbstverfassten Vorschriften finden sich dementsprechend manchmal detaillierte Anweisungen für bestimmte Aktivitäten, die sich konkret als Konfliktquelle erwiesen haben, wie etwa das Putzen der Wanne im gemeinsamen Bad. Andererseits gibt es typische Probleme, die eine Quelle von Konflikten und öffentlichen Eklats sind. In diesem Zusammenhang möchte ich einen Ausschnitt aus den »Regeln zum Toi-

7

Diese Regeln waren in den späten 1990er Jahren noch im Gebrauch.

8

Utechin: Očerki, aaO., S. 232.

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lettengebrauch« anführen, der als Teil einer ethnographisch höchst interessanten Kunstinstallation von Ilya Kabakov veröffentlicht wurde: »1. In der Toilette ist entsprechend den Regeln höchste Reinlichkeit und Hygiene zu wahren. […] 3. Aus Rücksicht gegenüber den Zimmernachbarn und anderen Personen ist es verboten, die Toilette länger als eine bestimmte Zeit zu besetzen. 4. Alle Bewohner müssen sich bei der Reinigung der Toilette pünktlich an den in der Küche angebrachten Plan halten. […] 6. Die Verwendung der Toilette von Menschen, die nicht in der Wohnung wohnen (etwa Verwandte, Gäste der Bewohner), muss genau überwacht werden und mit eventuellen Verletzungen der Hygiene in der gemeinsamen Toilette muss streng verfahren werden.«9

Natürlich steht in diesen Zeilen nichts, was für einen guten Mitbewohner grundsätzlich neu wäre, aber die Tatsache, dass die Regeln an der Wand angebracht sind, ermöglicht es, in Diskussionen mit Mitbewohnern (oder deren Besuchern), die gegen die Normen verstoßen, auf die geschriebenen Regeln an der Wand zu verweisen. Hier sollte erwähnt werden, dass Mitbewohner oft gezwungen sind, die Privatsphäre der Anderen zu verletzen, wenn diese die Toilette, das Bad oder das gemeinsame Telefon länger in Beschlag nehmen, als es üblich und allgemein akzeptiert ist. Auch in vielen anderen Zusammenhängen wird der jeweiligen Vorstellung von Ordnung – und ebenso natürlich der gerechten Verteilung von Ressourcen – offensichtlich Vorrang vor der Privatsphäre zugesprochen. Dieser Umstand wird auch oft ausgenutzt. So werden die Gemeinschaftsräume in diesen Wohnungen – wie während des sozialistischen Regimes auch der Arbeitsplatz – manchmal für Propaganda genutzt. Am Arbeitsplatz haben kommunistische Aktivisten ein mögliches Fehlverhalten von Mitgliedern des Arbeitskollektivs in Informationsmaterial, auf Plakaten und Wandzeitungen in satirischer Form veröffentlicht. In Gemeinschaftswohnungen ist diese Tendenz zwar weniger ausgeprägt, aber immer noch deutlich genug erkennbar, so dass Ilya

9

Ilya Kabakov: In the Communal Kitchen. New Documents and Materials, Paris 1993, S. 177.

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Kabakov Plakate und Ankündigungen dieser Art in seine Ausstellungen aufnehmen konnte.10 Aber auch mithilfe von scheinbar privaten Nachrichten wird in Gemeinschaftsräumen versucht, auf das Verhalten von Nachbarn einzuwirken. Sehen wir uns eine weitere Nachricht von Elena aus der bereits beschriebenen Wohngemeinschaft an. In einer Woche, in der Elena an der Reihe war, die Wohnung zu putzen, bekam Tanja eine Nachricht von Elena, die das Thema Sauberkeit betraf. Dieses Mal war die Nachricht direkt an Tanja adressiert und von Elena unterschrieben, aber sie befand sich nichtsdestotrotz in einem Gemeinschaftsraum, so dass jeder die folgenden Zeilen auf einem aus einem Schulbuch gerissenen Stück Papier lesen konnte: »Tanja, ich habe gestern, am 8. Dezember, das Bad geputzt. In Deiner Ecke saß auf dem weißen Badezimmerschränkchen eine (große) schwarze Kakerlake. Da muss etwas getan werden. Alles in dem Schränkchen muss in Behälter gepackt werden. (In Läden kannst du Schachteln in verschiedenen Größen finden.) Die Außenseite des Schränkchens muss geputzt werden. Ebenso alle Fächer. Im untersten Fach lag ein Haufen schmutziger Wäsche (die ich in eine Plastiktüte gepackt habe). Außerdem musst Du alles von der Wand wegrücken, um das Kakerlakennest zu finden. Ich hoffe, dass Dir das Problem nun klar ist. Andernfalls werden die Kakerlaken überall im Badezimmer herumkriechen. Ich habe auch auf der Ablage über der Spüle ein paar gesehen. Bis jetzt sind es nur ein paar wenige hier und da, aber bald…! Es tut mir leid, ein solches Thema ansprechen zu müssen, aber was soll ich tun. Das war der letzte Tropfen… Kakerlaken. Sie tauchen dort auf, wo es Schmutz gibt. Wenn nur eine Person in dieser Wohnung wohnen würde, dann würde sie sich um all das kümmern, aber weil wir mehrere sind, wird nichts getan… Nun gut, Du verstehst schon, was ich sage. Du musst alles aus dem Weg räumen und die ganze Ecke putzen … Die Anderen werden in den anderen Ecken dasselbe tun.«

10 Sowohl unter Ilya Kabakovs Material als auch in unserem Museum befinden sich auch Ankündigungen anderer Art, etwa eine Ankündigung über das Wohltätigkeitskonzert einer berühmten Opernsängerin. Solche Veranstaltungen gehörten für die sowjetischen Aktivisten zu ihrer Arbeit (oder Berufung, wenn sie das »kulturelle Niveau« ihrer Zimmernachbarn »anhoben«), aber in den heutigen Kommunalwohnungen kommen sie sehr viel seltener vor. Wenn eine solche Aktivität stattfindet, dann geht sie meistens auf das persönliche Interesse eines Bewohners oder einer Bewohnerin zurück, der oder die sich selbst präsentieren möchte.

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In Russland versucht man gern, andere Menschen zu erziehen, ihr Verhalten zu überwachen und es an bestimmten moralischen oder rechtlichen Normen zu messen. Das ist sogar auf der Straße zwischen Fremden zu beobachten; gewöhnlich glaubt die jeweils ältere Person, das Recht oder sogar die Pflicht zu haben, die jüngere zu ermahnen. In Kommunalwohnungen führt diese Tendenz zu Praktiken, die der »Erziehung« der Mitbewohner dienen und deren Effektivität durch Öffentlichkeit noch gesteigert wird. Das ist verstärkt der Fall, wenn es um Dinge geht, die für die ganze Gruppe relevant sind – etwa Kakerlaken in der Wäsche. Wenn der Anlass schwerwiegend genug zu sein scheint, kann es zu einem Eklat in der Gemeinschaftsküche kommen.11 Hier z.B. eine Notiz, um die Bewohner auf Fragen der Sicherheit hinzuweisen: »Es ist ein Verbrechen gegen alle Bewohner dieser Wohnung – DIE TÜR IM VERBRECHERISCHEN ST. PETERSBURG NICHT mit dem oberen Schloss ZU VERRIEGELN!!! Das untere Schloss kann mit einem Nagel geöffnet werden. Wie können Sie vergessen, das obere Schloss zu verriegeln!!! Auch wenn Sie den Müll raus bringen, ist es notwendig, das obere Schloss zu verriegeln.«

Diese Beispiele und die Beobachtungen, wie die Bewohner unterscheiden, was ihres ist, was Allgemeinbesitz ist und was niemandem gehört, wie ihre Körperpflegepraktiken aussehen und wie ihr privates Leben organisiert ist, illustrieren inwiefern Privatheit in einer Kommunalwohnung besonders ist. Das Private oder die Privatsphäre wird in verschiedenen Kulturen auf unterschiedliche Weise konstituiert, indem festgelegt wird, was die Unverfügbarkeit des Individuums ausmacht. Dabei geht es oft um Funktionen und um das Aussehen des Körpers, um Territorien, um Eigentum oder um jene Gedanken und Gefühle, die ein Individuum für

11 Vgl. einen Text, der einer Bewohnerin, deren Sammlung bei Kabakov ausgestellt wird, zugeschrieben wird (in Kabakov: In the Communal Kitchen, aaO., S. 107): »54. Blaue Frauenhose. Heute Morgen hat Stepanova ihre Hose über Valja Prokof’ evas Tisch gehängt und diese nahm sie ab und legte sie absichtlich vor die Wohnungstür, so dass man sich an ihr die Schuhe abputzen konnte. Und sie sagt, dass die Hose auf ihren Tisch getropft hat. 16.V.64.« Vgl. die typologische Analyse dieses Verhaltens bei Utechin: Očerki, aaO.

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sich behalten will. Die Organisation des Innenraums und der dort befindlichen Gegenstände bringt das Verständnis von Privatsphäre der jeweiligen Kultur zum Ausdruck. Das Private kann unter anderem durch Zäune, Wände, Abschirmungen, Fenster (sowie Vorhänge) und Türen (mit Schlössern und Riegeln) markiert werden. Solche Barrieren verhindern, dass andere (vor allem Fremde) in einen Raum eindringen, den wir als den unseren betrachten, und sich Informationen über uns aneignen. Ein Umschlag, der einen Brief vor den Blicken anderer verbirgt, leistet dasselbe, ebenso wie Regeln der Höflichkeit und des angemessenen Verhaltens, die uns daran hindern, anderen nachzuspionieren und hinter ihrem Rücken über sie zu reden, oder Gesetze, die vor einer Selbstbelastung schützen und die Vertraulichkeit von Gesprächen mit Geistlichen und Ärzten sicherstellen. In überfüllten U-Bahnen sind Menschen gezwungen, die Privatsphäre anderer zu missachten, aber meist verhalten sich Opfer und Täter, als ob diese Übergriffe nicht persönlich gemeint wären.12 Sie steigen aus und sehen sich nie wieder. Mitbewohner treffen sich hingegen jeden Tag in der Küche oder wenn sie gemeinsam für das Badezimmer oder die Toilette anstehen. Bis vor kurzem gab es im Russischen kein Wort für den Bereich des Privaten. Der relativ neue Begriff »privatnost’« ist vor allem im juristischen Sprachgebrauch zu finden und nicht in alltäglichen Gesprächen. Das Adjektiv »privat« konnte entweder als »častnyj« (meist im Zusammenhang mit Geschäften, Eigentum oder einem Individuum, das für sich und nicht als Teil einer Organisation handelt) oder »ličnij« (persönlich) übersetzt werden. Zur Sowjetzeit wurden im Russischen zwei Wörter als Gegensatzpaar behandelt: »častnyj« war abwertend – das Gegenteil von »sozial/gemeinschaftlich« –, während »ličnyj« (persönlich) als wertneutral verstanden wurde. So war etwa »persönliches Eigentum« erlaubt, während »Privateigentum« entweder ganz verboten war oder strengen Einschränkungen unterlag. »Privater Besitz von Produktionsmitteln« war illegal. Wenn Wohnungen, Autos oder Datschas persönliche Gebrauchsgegenstände darstellten, wurden sie als »ličnyj« klassifiziert;

12 Vgl. den von Erving Goffman geprägten Begriff der »civil inattention«, der »höflichen Unaufmerksamkeit«: Erving Goffman: Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag, München 2011 (engl. Original: The Presentation of Self in Everyday Life, 1959).

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wenn man aber versucht, aus ihnen Profit zu ziehen, fielen sie mit großer Wahrscheinlichkeit unter die Kategorie des illegalen »častnyj«-Eigentums. In der sozialistischen Gesellschaft aber mussten alle Produktionsmittel gemeinschaftliches (also Staats-)Eigentum sein. Weil die Privatsphäre in Wohngemeinschaften ein ständiger Quell zum Teil erheblicher Probleme war, wurde es immer wieder notwendig, Worte für dieses Phänomen zu finden. Das lässt sich auch in dem folgenden Beschwerdebrief von 1960 beobachten. Nach einer Scheidung lebte der Beschwerdeführer weiter mit seiner Exfrau und seiner noch schulpflichtigen Tochter zusammen. Er versuchte, mit Hilfe eines Wandschirms einen eigenen Raum abzustecken, aber seine Exfrau unterband diese Bemühungen mit verschiedensten Strategien. Er dagegen nennt in seinem Brief sein Bedürfnis nach »alltäglicher Abgeschiedenheit«.13 Die Privatsphäre kann auch in Fällen, die zunächst Eigentumsfragen zu betreffen scheinen, eine unterschwellige Rolle spielen. So beschuldigte etwa ein Mann bei seiner Ankunft auf seiner Datscha einen Mitbewohner der Plünderung: Aus einer Streichholzschachtel, die er auf seinem Küchentisch liegen gelassen hatte, waren einige Streichhölzer verschwunden. Der Diebstahl war für ihn ohne große Mühe erkennbar, da er vor seiner Abfahrt im letztjährigen Sommer die noch übrigen Streichhölzer gezählt hatte. Als der Übeltäter sich schuldig bekannte und eine ganze Schachtel als Wiedergutmachung anbot, lehnte der Geschädigte diese Lösung ab. Er warf die neue Schachtel aus dem Fenster und rief: »Ich will deine verdammten Streichhölzer nicht, ich will nur, dass meine Sachen in Ruhe gelassen werden.« Hier zeigt sich, worum es wirklich geht, nämlich um die Privatsphäre und ihre durchlässigen Grenzen. Wenn man in einer solchen Atmosphäre des Verdachts, des Neids und der Überwachung ständig den Blicken der anderen Bewohner ausgeliefert ist und einen Teil seiner Habe in öffentlichen Räumen exponieren muss, dann können bestimmte Cha-

13 Il’ja Utechin [Ilya Utekhin]: »Proiski postoronnogo (Iz materiala po žilišnomu voprosu)« [Die Klagen des Fremden (Aus dem Material zur Wohnungsfrage)], in: Lev Gudkov: Obraz vraga [Das Bild des Feindes], Moskau 2005, S. 230-247.

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rakterzüge eher zum Tragen kommen, und zuweilen entwickeln sich ganz spezifische Psychopathologien.14 Hier gilt es zu beachten, dass es sich dabei nicht um Eigenschaften von Individuen handelt, sondern um Merkmale eines bestimmten Kommunikationszusammenhangs: Nachbarn können sich, selbst wenn sie wollen, dem Miteinander nicht entziehen. Die Teilhabe an einer nachbarschaftlichen Gemeinschaft und die gemeinsamen Interessen lassen Beziehungssysteme entstehen, in denen Opfer und Täter immer wieder ihre Rollen tauschen und dabei voneinander abhängig sind. Als letztes Beispiel will ich einen russischen Denunzianten-Brief aus dem 21. Jahrhundert anbringen. Eine Frau aus einer Kommunalwohnung im Zentrum von St. Petersburg schickte, so seltsam das anmutet, folgenden Brief an ein ausländisches Konsulat. »An den Generalkonsul von Österreich Von S.N.A., wohnhaft ... [die Adresse sowie private und berufliche Telefonnummern sind angegeben] Sehr verehrter Generalkonsul, ich bin gezwungen, mich aufgrund der im Folgenden beschriebenen Umstände an Sie zu richten. Frau M.S.N. lebt mit mir in einer Kommunalwohnung (Adresse oben angegeben). Schon seit geraumer Zeit geht Frau M.S.N. keiner regelmäßigen Arbeit nach, sie hat mir gegenüber unerfüllte finanzielle Verpflichtungen, sie stört den Alltagsablauf in der Gemeinschaftswohnung immer wieder, indem sie etwa nach elf Uhr nachts im betrunkenen Zustand und in Begleitung von Fremden nach Hause kommt. Sie hat außerdem Drohungen gegen mich ausgesprochen. Frau M.S.N. hat promiske sexuelle Beziehungen mit Ausländern, die sie als finanzielle Quellen für ihren Lebensunterhalt nutzt. Am 18. September 2003 musste ich feststellen, dass einige Gegenstände, die mir gehören, aus den Gemeinschaftsräumen der Wohnung verschwunden waren. Ich habe den Verdacht, dass sie von Frau M.S.N. gestohlen wurden, weil

14 Vgl. für eine Untersuchung solcher paranoider Wahnvorstellungen Ilya Utekhin: »Toward a Semiotic Analysis of ›Dwelling Place Paranoids‹: Some Cultural Determinants of a Psychopathology«, in: E. Tarasti (Hg.): Understanding / Misunderstanding. Contributions to the Study of the Hermeneutics of Signs, Helsinki 2003, S. 522-527. (Acta Semiotica Fennica XVI)

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es keine Zeichen eines Einbruchs gab. Am 19. September 2003 habe ich deswegen die Polizei gerufen. Sie haben einige fremde Menschen, die sich zu diesem Zeitpunkt in unserer Wohnung aufhielten, in Gewahrsam genommen, und auf der Polizeistation Nummer 7 im Zentrum von St. Petersburg wurde gegen Frau M.S.N. Anzeige erstattet. Gegenwärtig ist Frau M.S.N. dabei, ihr Zimmer in der Gemeinschaftswohnung zu verkaufen, und versucht, ein Ausreisevisum zu erhalten. Ich bitte dringend darum, dass die oben erwähnten Umstände berücksichtigt werden, sollte Frau M.S.N. sich bei Ihnen für ein Ausreisevisum bewerben. Zu Ihren Diensten, S.N.A.«

Solche Denunziationen von Nachbarn waren für die Zeit des sowjetischen Regimes typisch. In diesem Brief, der offizielle Anschreiben zum Vorbild nimmt, sehen wir eine für jene Zeit charakteristische Aufzählung von Sünden. Wir können nicht beurteilen, inwieweit diese Informationen den Tatsachen entsprechen. Es gibt durchaus Menschen, die stehlen, betrunken nach Hause kommen und Prostitution betreiben. In einer kleinen Wohnung kann es schwierig sein, sich gegen eine solche Zimmernachbarin durchzusetzen. In der Sowjetunion wurde es als Zeichen eines schwerwiegenden moralischen Mangels betrachtet, keiner regelmäßigen Arbeit nachzugehen: Wer nicht arbeitet, lebt auf Kosten anderer. »Promiske sexuelle Beziehungen« ist auch eine typisch sowjetische Formulierung, da Promiskuität vor allem im Fall von Frauen scharf verurteilt wurde und da Verstöße gegen die Sexualmoral als Sache der Gemeinschaft galten. So konnten etwa Fragen der ehelichen Untreue von den so genannten Genossengerichten aufgegriffen werden, in denen Laien zwischenmenschliche Konflikte verhandelten, die zu Hause oder am Arbeitsplatz aufkamen, wobei gegen solche Störenfriede mit Gruppendruck und sozialen Sanktionen vorgegangen wurde. Da in diesem Brief an keiner Stelle konkret auf Österreich eingegangen wird, liegt die Vermutung nahe, dass entsprechende Schreiben auch an andere Konsulate in St. Petersburg geschickt wurden. Seltsamerweise ist nicht von einem Visum für die Einreise, sondern für die Ausreise die Rede. Russische Bürger brauchen kein »Ausreisevisum«, um aus dem heutigen Russland nach Österreich oder in irgendein anderes Land zu reisen. Dieser Fehler ist aber sehr vielsagend: Obwohl die Verfasserin ihre Mitbewohnerin hasste, wollte sie sie nicht verlie-

PRIVATSPHÄRE, NACHBARSCHAFT, ZUSAMMENLEBEN | 203

ren. Zum einen wollte sie eine eventuelle glückliche Zukunft der Nachbarin im Ausland verhindern, andererseits erschwerte sie es ihr aber auch, auszuziehen, weil das Privatleben der anderen ein notwendiger Teil ihrer täglichen Lebenswelt ist.

Nachbarschaft und ›Gated Communities‹ im Bild der Angst S ANDRA E VANS

»Si vous êtes pris dans le rêve de l’autre, vous êtes foutu«1 – »Wenn Sie im Traum des Anderen gefangen sind, sind Sie verloren«, beteuert Gilles Deleuze. Diese (alp-)traumhafte Vorstellung möchte ich als Ausgangspunkt für meine Überlegungen zum Konzept des Nachbarn und Nachbarschaft nehmen, speziell in Bezug auf ›Gated Communities‹.2 Mithilfe ausgeprägter Überwachungsanlagen und -kameras so-

1

Gilles Deleuze: »Qu’est-ce que l’acte de creation?«, in: ders.: Deux régimes de fous. Textes et entretiens 1975-1995, hg. v. David Lapoujade, Paris 2003, S. 9-30, hier: S. 25.

2

›Gated Communities‹ sind umzäunte und mit aufwändigen Sicherheitsanlagen bewachte Wohnkomplexe, in denen sich tendenziell finanziell abgesicherte Gleichgesinnte vom Rest der Gesellschaft absondern. Gated Communities gibt es an den unterschiedlichsten Orten dieser Welt und in allen großen Metropolen, an Orten, die eine große Vielfalt, eine hohe Kriminalitätsrate, schlechte Infrastruktur und eine immer breiter werdende Kluft zwischen Arm und Reich aufweisen. Alle diese Faktoren tragen zum enormen Wachstum von ›Wohlstandsghettos‹ bei, und obwohl es Gated Communities auch im nicht-urbanen Raum gibt, so sind sie dennoch mit den gesellschaftlichen Prozessen des Städtischen eng verbunden. Die primären Beweggründe, in eine Gated Community zu ziehen, unterscheiden sich je nach Region: In Ländern wie Südafrika, Pakistan und Libanon führt oft die reale Bedrohung durch die wachsende Kriminalität dazu, sich für

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wie intrusiver Regelungen soll neben der Immobilie stets der Traum einer kleinstädtischen Nachbarschaftlichkeit gesichert werden. Primär wird eine allgemeine Verunsicherung mit der Furcht vor Kriminalität in einer immer komplexer und pluralistischer werdenden Gesellschaft verbunden. Bilder und Vorstellungen einer kleinstädtischen, vertrauenswürdigen Nachbarschaft werden Bildern und Vorstellungen urbaner Kriminalität gegenübergestellt, die ein positives, nostalgisches und letztendlich Sicherheit versprechendes Gefühl auslösen sollen.3 Ein ausgeprägtes Sicherheitsbedürfnis und eine damit einhergehende Sicherheitsinfrastruktur sowie ausgeklügelte Regelungen überwachen das bedrohliche Andere im Außen wie im Innen, und halten dabei gleichzeitig Nachbarn auf überschaubare Distanz. Letztendlich sind Gated Communities Mikrokosmen eines urbanen Traums, sozioräumliche Konstrukte auf der Suche nach einer besseren (Lebens-) Welt, in denen sich Nachbarn tatsächlich in den Träumen anderer (Nachbarn) befinden. Hinsichtlich des Soziotops von Gated Communities, in dem Sicherheitsvorkehrungen wie Kameras das unmittelbare Umfeld, inklusive der Nachbarn, überwachen, wird Žižeks Überlegung, inwiefern Verfremdung und eine gewisse Distanz im Zwischenmenschlichen eine grundlegende Voraussetzung für ein friedliches Mit- und Nebeneinander ist, relevant. Hierzu schreibt er: »One of the things alienation means is that distance is woven into the very social texture of everyday life. Even if I live side by side with others, in my normal state I ignore them. I am allowed not to get too close to others. I move

ein Leben hinter Mauern zu entscheiden; in Indien ist es die mangelhafte Infrastruktur, und in den USA existiert wiederum ein großes Bedürfnis nach Kontrolle. Einen umfangreichen Überblick zum Phänomen und Wesen von Gated Communities bieten Edward J. Blakely und Mary Gail Snyder in ihrem Buch Fortress America. Gated Communities in the United States, Washington/D.C. 1997; Setha Low: »The Edge and the Center: Gated Communities and the Discourse of Urban Fear«, in: American Anthropologist 103.1 (2001), S. 45-58. 3

Vgl. Zygmunt Bauman: Community: Seeking Safety in an Insecure World, Cambridge 2001.

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in a social space where I interact with others obeying certain external ›me4

chanical‹ rules, without sharing their inner world.«

Eine maßgebliche Voraussetzung urbaner Interaktionssituationen ist die immanente Distanz im Alltag und in den zwischenmenschlichen Beziehungen – erst die Möglichkeit, sich über externe Strukturen vom Inneren des Anderen zu distanzieren, ermöglicht das Zusammenleben. Es ist eine meiner Hauptannahmen, dass das Modell der Gated Communities eine immer wichtiger werdende Lebensform sich pluralisierender urbaner Räume ist, die dennoch in oder gerade durch ihre Exklusivität das Interne mit dem Externen sowie das Lokale mit dem Globalen verflicht. In dieser Hinsicht ist diese Lebensform in gewisser Weise ein Trans-Phänomen, indem sie eine Artikulationsform soziohistorisch-kultureller und urbaner Vernetzungen und Vermengungen ist. Sie fungiert als Träger nicht nur für das kollektive Gedächtnis, sondern auch für kollektive urbane Träume – sie verbindet das Erfahrene mit dem Erfundenen auf unverbindliche Weise. Als Bedingungsfeld für Alltagserfahrungen verdichten sich in dieser Lebensform nicht nur Lebensstile und Sozialisationsprozesse, sondern auch ökonomische, soziale und kulturelle Konflikte sowie Wandlungsprozesse einer sich globalisierenden und pluralisierenden Gesellschaft. Gated Communities inkorporieren unterschiedliche gesellschaftliche Diskurse und Narrative, die vor dem Hintergrund der Angst aufschlussreiche Einblicke in zwischenmenschliche wie gesellschaftliche Verhältnisse innerhalb und außerhalb der Mauern ermöglichen.

D AS U NZUGÄNGLICHE

IMAGINIEREN

Zwar haben Architektur und die gebaute Welt eine kaum zu überschätzende Wirkung auf die städtische Lebenswelt, dennoch sind das Imaginäre und die unsichtbare Stadt ebenfalls nicht zu unterschätzen. Mauern, die diese Gated Communities umgeben, nehmen in der gebauten Umwelt eine bestimmte lokale sozio-kulturelle Bedeutung an. Im Allgemeinen stehen die Mauern der Gated Communities für Si-

4

Žižek, Slavoj: »Fear Thy Neighbor as Thyself!«, in: ders.: Violence: Six Sideways Reflections, New York 2008, S. 59. S. auch die deutsche Übersetzung in diesem Band, S. 29-59.

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cherheit und Wohlstand, Exklusion und Exklusivität: konzeptuelle Impulse, die einen maßgeblichen Einfluss auf die Vorstellungswelten Einzelner haben. In diesem Zusammenhang übernimmt die Mauer eine doppelte Funktion, indem sie einerseits den Blick von Außen bricht und andererseits als Leinwand dient, auf die kollektive Vorstellungswelten einer intakten Nachbarschaftlichkeit projiziert werden. Auf der Suche nach dem damit einhergehenden Vertrauten und nach nachbarschaftlichem Gemeinschaftssinn versuchen Bewohner von Gated Communities, ein in der Vergangenheit verhaftetes Kleinstadtgefühl, in dem jeder jeden kennt und in dem alle miteinander vertraut sind, künstlich herzustellen: »It’s an artificial setting here, but you’re creating that environment which duplicates what Middle America used to be back when you had small towns.«5 In gewisser Weise wird hier die in den Gated Communities hergestellte Vorstellungswelt mit einer entsprechenden Gefühlswelt untermauert. Einige Bewohner mögen dieses Kleinstadtgefühl in ihrer Kindheit erfahren haben, aber das Eigentliche, was Bewohner von Gated Communities im Nachbarsein vereint, ist eine vermeintlich gemeinsame Vorstellung von diesem Vertrauen einflößenden Kleinstadtgefühl sowie dazugehörige Bilder und Regelungen und damit verknüpfte Werte und (Selbst-)Einschränkungen. Was das artifizielle und duplizierte Umfeld anbelangt – Duplizieren und Kopieren ist letztendlich eine Form von (Ver-)Sicherung – so hat zum Beispiel im amerikanischen Kontext die Unterhaltungsindustrie, und hier besonders Walt Disney, maßgeblich zur tiefgreifenden Umgestaltung des amerikanischen Bewusstseins beigetragen: »Disney reconceptualized the amusement park as a full imaginative experience, a theme park, rather than a series of diversions, and just as his animation 6

revised graphic design, his park eventually revised urban design.«

Verdeutlicht wird hier nicht nur das Zusammen- und Wechselwirken des Artifiziellen und des Wirklichen, sondern inwiefern imaginierte und erfundene Welten an Dominanz gewinnen können und die Vor-

5 6

Blakely/Snyder: Fortress America, aaO., S. 63. Neal Gabler: Walt Disney: The Triumph of the American Imagination, New York 2007, S. xiii; Hervorhebung im Original.

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stellung über eine physische Form selbst bestimmen.7 Dazu hat Disney, mehr als jeder andere amerikanische Künstler, die Beschaffenheit und Bedingungen der Wunscherfüllung definiert und im großen Stil Amerika und der Welt vorgeführt: »[…] how one could be empowered by fantasy – how one could learn, in effect, to live within one’s own illusions and even to transform the world into 8

those illusions.«

Im übertragenen Sinne verkörpern Gated Communities diese Illusion im Innen, die allerdings erst durch die Strukturen und die Abgrenzung vom Außen entstehen kann. Hier bedingen die gebaute und die imaginierte Umwelt einander, falten und entfalten sich im Deleuz’schen Sinne.9 Der Rückzug in kollektive, individuelle und mitunter virtuelle Lebenswelten repräsentiert eine Reaktion auf eine überwältigende unbestimmte bzw. unbestimmbare Wirklichkeit, lässt aber gleichzeitig die dadurch entstehende Abhängigkeit zwischen Nachbarn bedrohlich werden. Anstatt sich mit dieser indeterminierten Welt auseinanderzusetzen, werden alternative, vermeintlich schützende Räumlichkeiten und Gemeinschaftsentwürfe aufgesucht und Illusionen bzw. verfälschte wirkliche Wahrnehmungen geschaffen. Mit einer zunehmenden Medialisierung wird es möglich und üblich, auf der Suche nach Stabilität und Sicherheit in virtuellen Räumen und Welten zu leben, so dass die Unterscheidung zwischen dem Wahren und dem Fiktionalen immer

7

Vgl. Hana Wirth-Nesher: »Impartial Maps: Reading and Writing Cities«, in: Ronan Paddison (Hg.): Handbook of Urban Studies, London u.a. 2001, S. 52-66.

8 9

Gabler, Walt Disney, a.a.O., S. xv. Bei Leibniz entdeckt Deleuze die Wendungen vom »Falten und Entfalten«, vom »Ein- und Auswickeln« und entwickelt daraus eine barocke Metaphysik: Der Perzeptionsprozess erzeugt Falten in der Seele, und das Materielle seinerseits ist in äußerlichen Faltungen organisiert. Den Unterschied zwischen dem Seelischen und Leiblichen bzw. dem Imaginären und dem Materiellen oder dem Erfundenen und dem Erfahrenen markiert also eine Falte, die ein Verhältnis reiner Äußerlichkeit und zugleich eine Verbindung beschreibt. Vgl. Gilles Deleuze: Die Falte. Leibniz und der Barock, Frankfurt a.M. 2000.

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schwieriger wird, ein Oszillieren, welches medial wie virtuell produktiv werden kann. Bereits um die Wende zum 20. Jahrhundert hat der Kulturwissenschaftler Aby Warburg in seinem Werk Das Schlangenritual diese Produktivität thematisiert. In seinen Aufzeichnungen zum Schlangenritual der Hopi Indianer beschäftigt er sich mit der Wirkungskraft von Symbolen und Bildern, speziell in der Bewältigung und Rationalisierung von Angst. Er versteht Gefühle der Angst als eine treibende Kraft der Ideen- und Bildergeschichte, wobei er damit kulturelle Prozesse in kausaler Weise mit dem Bedürfnis verknüpft, diese Ängste zu bannen und letztendlich zu überwinden. Mit dieser Strategie der Angstbewältigung werden innere Gemütsbewegungen mithilfe des Symbolischen im Bild nach außen gebracht, sie werden sichtbar und für andere erfahrbar und in diesem Sinne medial produktiv. Somit herrscht laut Warburg eine multimediale und -dimensionale sowie wechselseitige Beziehung zwischen dem Internen und dem Externen. Diese wechselseitige Beziehung hat unterschiedliche kulturelle Artikulationsformen, die sich nicht nur in der gebauten Welt wieder finden lassen, sondern entsprechend auch in die Literatur eingebunden sind, so dass eine vergleichbare Beziehung zwischen dem Extraliterarischen und Literarischen entsteht. Im Folgenden werde ich das Augenmerk auf die literarische Manifestation dieser wechselseitigen, auf Angst basierenden Beziehung richten, wobei ich das (transformierte) Imaginäre – als verfälschte wirkliche Wahrnehmung, welche maßgeblich mit dem Außen verbunden ist – mit dem Traum und damit einhergehenden Bildern10 gleichsetze. Anhand von T.C. Boyles Roman The Tortilla Curtain (1995; dt. América) und Claudia Piñeiros Las viudas de los jueves (2005; dt. Die Donnerstagswitwen), die beide das urbane Phänomen der Gated Communities behandeln und einen Einblick in das nachbarschaftliche Leben innerhalb der Mauern ermöglichen, möchte ich die Verbindung des Erfahrenen mit dem Erfundenen und die Angstbewältigung durch das Schaffen von Bildern analysieren. In welcher Beziehung stehen die

10 Es sind mentale Bilder der (Um-)Welt Einzelner, die die eigenen sowie die Verhaltensweisen anderer Einzelner leiten und ihnen Bedeutung zukommen lassen. Vgl. Nan Ellin (Hg.): Architecture of Fear, Princeton 1997; Daniel Freeman/Jason Freeman: Paranoia: the 21st-Century Fear, Oxford 2008.

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Bilder mit dem Imaginären und welche Funktion übernehmen diese im Gegensatz zur Wirklichkeit? Der entscheidende Unterschied zwischen den Texten liegt darin, dass T.C. Boyle in seinem Roman das Einwandererproblem aufgreift und Claudia Piñeiro in ihrem Roman eher auf die innergesellschaftliche räumliche Fragmentierung eingeht – ein Umstand, der womöglich auf das Jahrzehnt, welches die beiden Romane voneinander trennt, zurückzuführen ist. Ein weiterer, für diese Untersuchung relevanter Unterschied ist, dass in Boyles Roman die Protagonisten den Traum von einer besseren Gemeinschaft bzw. Nachbarschaft noch haben. Im Gegensatz dazu sind die Bewohner der Gated Community in Piñeiros Roman in einem Alptraum gefangen, dem sie nicht entkommen können. In diesem Zusammenhang interessiert mich primär das Ineinanderwirken von Erfahrenem und Erfundenem im Zeichen des kollektiv erfahrenen urbanen (Alp)Traums und damit einhergehende bedrohliche Abhängigkeiten, die in den ausgewählten Texten archiviert und veranschaulicht werden.

D EFENSIVER U RBANISMUS »›I’m afraid,‹ América said [...]«11 Diese Aussage von América Rincón, der Frau des illegalen Immigranten Cándido, ist bezeichnend nicht nur für die prekäre Situation, in der sich Einwanderer generell in einem fremden Land befinden, sondern auch für eine sich fragmentierende und von Angst und Unsicherheit geprägte Gesellschaft. T.C. Boyles Roman The Tortilla Curtain (dt. América, 1995) erzählt die Geschichte zweier Protagonistenpaare, die sich jeweils auf der anderen Seite des im Titel benannten Vorhangs befinden, der die amerikanische Gesellschaft scheidet. Der Name der mexikanischen Protagonistin ist genauso schwanger mit Bedeutung wie der Körper der jungen Braut. Im Wesentlichen enthüllt der Name América die enge Verwicklung der beiden Paare bzw. der süd- und nordamerikanischen Kulturen. Cándidos Vermählung mit América und die darauf folgende Umsiedelung nach Amerika soll ein besseres Leben für seine zukünftige Familie ermöglichen. Bevor sie sich als legale Einwanderer integrieren

11 T.C. Boyle: The Tortilla Curtain, New York 1995, S. 285.

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können, müssen sie sich allerdings noch als illegale Zuwanderer in einem Canyon neben einer Gated Community verstecken. Delaney und Kyra sind das amerikanische Gegenpaar, welches in dieser Gated Community wohnt: er ist ein passionierter Naturfreund, der Kolumnen für ökologische Zeitschriften schreibt, und sie eine obsessive Immobilienmaklerin. Ihre Ehe symbolisiert die Vereinigung von Ökologie und Ökonomie, ein wichtiger Aspekt in der Handlung des Romans, der damit die unwiderrufliche Interdependenz der beiden (Delaney und Kyra aber auch der beiden Paare) aufzeigt: Natur und Chaos im Gegensatz zu einer ›zivilisierten‹ Kultur und Ordnung. Die Verflechtung der beiden Aspekte spiegelt sich im Roman in der Wahl der Topanga12 Gated Community als Wohnort, in der weder die Natur noch die Stadt als Ort der Kultur fern sind. Beide Paare eint einiges, denn letztendlich befinden sich beide auf der Suche nach einem guten Leben bzw. einer guten Nachbarschaft. Was sie zusätzlich zusammenschweißt ist die Angst und, im übertragenen Sinne, die Angst voreinander. Diese Angst hat allerdings weitere Quellen: sie haben genauso Angst vor dem wirtschaftlichen Abstieg wie vor desaströsen Naturereignissen, die in ähnlicher Weise unkontrollierbar scheinen. Beide Formen der Angst durchdringen die sozialen Schichten und werden in zwischenmenschlichen wie gesellschaftlichen Verhältnissen und entsprechenden architektonischen und kulturellen Artikulationsformen widergespiegelt, besonders in Bezug auf die Integration Anderer und die eigene bzw. gesellschaftliche Desintegration.

12 Die Gegend wurde von den Tongva Indianern Topanga genannt, was so viel wie ›ein hoch erhobener Ort‹ bedeutet. Bezeichnenderweise schreibt Millicent Borges-Accardi in ihrer Kritik zu Shakespeares A Midsummer Night’s Dream, der an diesem Ort aufgeführt wurde: »[...] our Canyon, full of thick vegetation, winding roads and steep cliffs with a natural outdoor amphitheater, is the perfect marriage of environment and play between the Will Geer Theatricum Botanicum and Shakespeare's A Midsummer Night's Dream. Topanga means ›a place above,‹ a name given to our area by the Tongva (a tribe once found in the mountains near Los Angeles), so it seems a perfect setting for a fanciful, ethereal dream.« Borges-Accardi, Millicent: »A Dream within a Dream«, in: The Santa Monica Mountains News and Arts Publication, Vol. 34 No. 15 7/29/2010 – 8/11/2010, (http://www.topangamessenger.com/Articles.asp?SectionID=2&ArticleID =4029 [Zugriff: 28.02.2011])

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Die Rahmenhandlung dreht sich um die Konstruktion einer Mauer, die die Gemeinschaft umgeben und absichern soll – vom eigentlichen ›gating‹ der Gemeinschaft, der Gated Community –, innerhalb derer Delaney und Kyra wohnen und außerhalb derer Cándido und América ihr Lager aufgeschlagen haben und sich verstecken. Jack, der Nachbar von Delaney und Kyra, befürwortet die Konstruktion einer Mauer, die er dadurch für gerechtfertigt hält, dass sie Sicherheit und Selbstschutz gewährleiste. Er verteidigt die Ummauerung mit der folgenden Äußerung: »Do you have any idea what these people are costing us, and not just in terms of crime, but in real tax dollars for social services?«13 Obwohl Jack versichert, liberal-demokratische Ansichten zu vertreten, verkündet er jedoch im gleichen Zuge, dass die Gesellschaft nicht mehr die gleiche sei, die sie einmal gewesen sei. Um zum ursprünglichen Zustand der Gesellschaft zurückzukehren, müsse die Grenze zu Mexiko geschlossen werden. Indem er die Ummauerung der Gemeinschaft befürwortet, nimmt Jack in gewisser Weise die Politik in die eigene Hand und zieht somit (s)einen die Gesellschaft scheidenden Vorhang in der eigenen Nachbarschaft. Soziale Komplexität und Fragmentierung werden durch die rasant zunehmende Pluralisierung der Gesellschaft verschärft. In Boyles Roman fährt Delaney aus Versehen Cándido mit dem Auto an und verletzt ihn dabei schwer. In dieser zufälligen Begegnung kreuzen sich zwei vollkommen unterschiedliche Lebenswege, was die Schicksale der beiden Männer und folglich der beiden Paare zusammenschweißt. Delaney, der bis dato die Auseinandersetzung mit Immigration und Integration vermeiden konnte, kommt in diesem Moment mit dem Thema unmittelbar in Kontakt und muss sich mithin die akute Frage stellen, inwiefern die eigene Gemeinschaft ummauert werden soll. Der von ihm verletzte Mexikaner forciert die bewusst oder unbewusst vermiedene Auseinandersetzung mit dieser Problematik. Scham und Ärger durchdringen Delaneys Gefühle der Schuld, es sind ambivalente Gefühle. Claudia Piñeiro bringt es auf den Punkt, wenn sie in einem Interview für die deutsche Übersetzung ihres Romans behauptet, dass die Bewohner der gehobenen Mittelklasse in Gated Communities »eine unverzeihliche Schuld auf sich geladen [haben]. Sie [wollen] nicht sehen, in welcher Situation sich die Menschen in ihrer Umgebung befinden. […]

13 Boyle: The Tortilla Curtain, a.a.O., S. 102.

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Wenn man von einer wirtschaftlichen Situation profitiert, schaut man lieber 14

nicht so genau hin.«

Delaney scheint es, als ob der angefahrene Mexikaner in seinen Körper und dazu in seine Gedanken eingedrungen ist: »all he cared about was this Mexican, the man who’d invaded his life like some unshakable parasite, like some disease.«15 Sein unterdrücktes Gefühl der Schuld taucht immer wieder auf, unerwartet und unverhofft, und erinnert ihn an den Unfall und an seinen privilegierten Status in der Gesellschaft – und das nicht nur in Form eines Gefühls, sondern auch in der konkreten Person Cándidos: Delaney begegnet ihm in regelmäßigen Abständen. Seine erste Reaktion auf eine solche Begegnung ist der Wunsch: »to see this dark alien little man crushed and obliterated, out of his life forever.«16 Sein Leben scheint nicht mehr das gleiche zu sein, das es einmal war; um zu diesem Zustand zurückkehren zu können, müsste der Mexikaner verschwinden. Es kommt zu Missverständnissen und Fehlinterpretationen, die aufgrund der gegenseitigen Unfähigkeit, diese zu kommunizieren, verschärft und perpetuiert werden. In ihrer Konsequenz eskaliert die Angst vor dem Anderen. Und obwohl sich Delaney selbst als liberal-denkender Mensch einschätzt, wird er zunehmend radikaler, mit Hang zum Rassismus. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, warum Delaney zum Rassisten wird. Entwickelt er rassistische Züge, weil er sein eigenes Schuldgefühl aus der Welt schaffen will? Weil er unfähig ist, sich mit dem Mexikaner und entsprechend mit dem brisanten Thema der Immigration und Integration adäquat auseinanderzusetzen? Weil er seinen Lebensstandard ›sichern‹ möchte und deswegen bald in einer Gated Community wohnen wird? Die Herkunft der Angst und der gefühlten Bedrohung bleibt beim Einzelnen oft unbegründet oder ist eine Fehlinterpretation. In seinem Roman beschreibt Boyle die Angst, die auf beiden Seiten eines trennenden Vorhangs erfahren und erfunden wird. Was er aber auch beschreibt, ist der zögerliche Versuch, die andere Seite zu verstehen. Ein Beispiel hierfür ist Cándidos Einschätzung seiner Lage in den Augen

14 Piñeiro, »Der Mörder ist noch unter uns. Claudia Piñeiro über Die Donnerstagswitwen«, in: dies., Die Donnerstagswitwen, a.a.O., S. 314. 15 Boyle: The Tortilla Curtain, a.a.O., S. 332. 16 Boyle: The Tortilla Curtain, a.a.O., S. 105.

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der Anderen, als er versehentlich ein verheerendes Feuer gelegt hat, was niemand wusste, allerdings: »If they didn’t know he’d started the fire personally, they all suspected it and where there was once tolerance and human respect, where there was the idea of community and a labor exchange and people to support it, now there was only fear and resentment.«

17

Es ist diese Angst und das Ressentiment, welche die explosiven Verhaltensweisen von Delaney hervorbringen und dann wie der von Cándido versehentlich gelegte unkontrollierbare Waldbrand wüten: Delaney war »hungover and contrite. He’d all but started a riot, and the thought frightened him.«18 Er erinnert sich an die Zeit in seiner Jugend, als er selber an Anti-Atom-Protesten teilnahm und es ihm schien, als ob die ganze Welt gegen ihn und seine Mitdemonstranten sei. Er bleibt diesem Gedankengang verhaftet und sinniert: »Well, he was one of them now. He was the hater, he was the redneck, the racist, the abuser. There was no evidence that those men had a thing to do with the fire [...] As sober as he was, as ashamed and repentant, he couldn’t suppress a flare of outrage at the thought – hiking, the son of a bitch – but then, he asked himself, would he have felt the same way if the men walking up the road had 19

been white?«

Hier veranschaulicht Boyle das innerliche Oszillieren zwischen Nähe und Distanz und zwischen Innen und Außen: Delaney schwankt zwischen Selbsterkenntnis, Hass und selbstkritischem Ergründen, denn er setzt den Kampf gegen »seinen« Mexikaner trotz der selbstkritischen Einsicht fort, da er diesem die Schuld an vielen Ereignissen in seinem Leben zuschreibt. Soziologische Studien belegen, dass vornehmlich Fremde und Außenseiter für Verbrechen verantwortlich gemacht werden, obwohl die Mehrheit der Verbrechen von Menschen begangen wird, die ihre Opfer

17 Boyle: The Tortilla Curtain, a.a.O., S. 328. 18 Boyle: The Tortilla Curtain, a.a.O., S. 290. 19 Ebd.

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kennen.20 Auch wenn die eigene Nachbarschaft eine vergleichsweise hohe Verbrechensrate aufweist, tendieren Menschen dazu, ihre eigene Umgebung und Nachbarschaft als sicherer einzuschätzen als andere Stadtteile: Vertrautheit erzeugt ein Gefühl der Sicherheit und das Unbekannte genau das Gegenteil, nämlich Bedrohtheit. Die Angst vor Kriminalität ist also oftmals eine Projektion, wie die amerikanische Soziologin Sally Engle Merry beobachtet: »[C]rime serves as an idiom for expressing and legitimating the fear of the strange and the unknown. Such fears often focus on populations that are racially, culturally and economically distinct.«

21

Das durch projizierte Angst legitimierte Verbrechen veranschaulicht Boyle im Roman durch die von außen mit Graffiti besprühte Mauer der Topanga Gated Community, nachdem diese letztlich errichtet wurde. Subjektiv erfahrene, ambivalente innere Gemütsbewegungen der Angst werden von Delaney objektiviert und veranschaulichend nach außen gebracht. Delaney projiziert seine der Legitimation dienende Vorstellung auf die Mauer, denn sein erster Impuls ist es, den bzw. die Mexikaner für die Tat zu verdächtigen. In der Annahme, dass die Mauer ein weiteres Mal besprüht werden wird und um den Täter zu stellen, konstruiert Delaney ein kompliziertes System einer mit Stolperdraht versehenen Kamera vor der inzwischen mit Farbe übermalten Mauer. Mithilfe der Kamera will er Bilder erzeugen, die seine eigenen Vorstellungsbilder untermauern sollen. Er versucht seine Angst zu bannen, indem er innere Gemütsbewegungen mithilfe eines Beweisbildes nach außen befördert. Das erste Mal löst tatsächlich sein Mexikaner versehentlich die Kamera aus und schaut Delaney mit der unbesprühten Mauer im Hintergrund aus dem von Delaney ›entwickelten‹ Bild verdutzt an. Mit diesem Beweis, der eben nicht das beweist, was er beweisen soll, weiß Delaney schlicht nichts anzufangen. Er bleibt determiniert, die Schuld des Mexikaners zu beweisen. Nach ein paar Tagen ist dann endlich die Mauer wieder mit Graffiti

20 Vgl. Barry Glassner: The Culture of Fear: Why Americans are Afraid of the Wrong Things, New York 1999; Setha Low: Behind the Gates: Life, Security, and the Pursuit of Happiness in Fortress America, London 2003. 21 Sally Engle Merry: Urban Danger: Life in a Neighborhood of Strangers, Philadelphia 1981, S. 85.

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besprüht und die Kamera entsprechend ausgelöst. Wie schon zuvor entwickelt Delaney die aufgenommenen Bilder in der Dunkelkammer seines Nachbarn Jack. Dieses Mal dringt er allerdings ohne das Wissen Jacks in seine Wohnung ein, um in Erwartung der Materialisierung seiner Vorstellungsbilder schnellstmöglich Zugang zur Dunkelkammer zu bekommen. »Delaney felt like a thief. But then he was in the darkroom, the film in the tank, and that calmed him [...].«22 Delaney überschreitet hier die häusliche Grenze seines Nachbarn, was generell als kriminelle Handlung geahndet wird. Obwohl Jack Delaneys Grenzüberschreitung, die im Sinne der Gemeinschaft ist, sicherlich befürworten würde, fühlt sich Delaney dennoch als Dieb. Außerdem ist bezeichnend – in Einklang mit meiner These –, dass Delaney seine Bilder zwar selber entwickelt, dies aber in der Dunkelkammer seines Nachbarn Jack verrichtet. Die Dunkelkammer symbolisiert hier den (T)Raum des Nachbarn, und in diesem (T)Raum fühlt Delaney sich wohl. Dabei stellt sich die Frage, in wessen (T)Raum er sich eigentlich befindet? Ist es sein eigener schuldgetränkter Alptraum, in dem er „seinen“ Mexikaner immer wieder verletzt? Oder ist es der zukunftsträchtige, auf die Mauer projizierte urbane Traum seines Nachbarn Jack, dem er sich als Nachbar verpflichtet fühlt? Oder ist dieser spezifische Traum der einzige Raum, in dem ein verbindliches gemeinschaftliches bzw. nachbarschaftliches Gefühl zustande kommen kann, wobei dieses Gefühl im geschützten Raum des Traums letztendlich unverbindlich bleibt? Gleichwohl fühlt er sich gut, denn »Delaney was sure of what he was going to get this time he barely registered the reversed images on the negatives – there was something there, shadowy 23

figures, a blur of criminal activity [...].«

Dieser Ausschnitt veranschaulicht den Ablauf der Projektion von Angst und Verbrechen und prophezeit regelrecht den negativen und umgekehrten Ausgang seiner Vorstellungen. Zwar sieht er schattige Figuren und ein unklares verbrecherisches Geschehen, als er allerdings das Bild ›entwickelt‹, kann er nur schwer seinen Augen glauben: Der enthüllte Verbrecher ist Jack Junior.

22 Boyle: The Tortilla Curtain, a.a.O., S. 345. 23 Boyle: The Tortilla Curtain, a.a.O., S. 346.

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Bezeichnend in diesem Zusammenhang ist Boyles Verwendung des Begriffes »curtain« bzw. Vorhang im Titel des Romans. Im topographischen Sinne scheidet der Vorhang die Gesellschaft, geographisch markiert er die Grenze zwischen einem inneren und äußeren Raum. Aus einer ästhetischen Perspektive ver- und umhüllt der Vorhang zwar, zugleich enthüllt er aber auch. In den Künsten, speziell in der Malerei, im Theater, aber auch im Film kennzeichnet der Vorhang den Übergang vom realen Raum, in dem sich der Betrachter befindet, und dem fiktiven Raum der Kunst und des Künstlichen. Boyles Mauer entspricht durch ihren Charakter und ihre Funktion einem Vorhang: wie der Vorhang im Theater das Bühnenbild zuerst verhüllt, enthüllt er, wenn man ihn zur Seite zieht, das Innen, und die Träume von Delaney und Jack. In Reaktion auf die als Enttäuschung erfahrene Enthüllung räumt Delaney die Ausrüstung in der Dunkelkammer fast genauso systematisch weg, wie er auch den bildlichen Beweis aus dem Weg räumt: »[...] he dropped the negatives on the contact sheet and balled the whole thing up in a wad and buried it deep in the trash. That Mexican was guilty, sure he 24

was, guilty of so much more than this.«

Die Bewohner distanzieren sich also nicht nur bewusst von ihrem Umfeld, sondern auch von einer als bedrohlich empfundenen Realität. Durch das gemeinsame Verdrängen einer demnach als bedrohlich erfahrenen Wirklichkeit ›entwickelt‹ sich eine gewaltige gegenseitige Abhängigkeit zwischen den Bewohnern. Delaney fühlte sich unwohl (awkward) bei der ganzen Aktion, aber »in a sense the whole community was depending on him – there might be ten thousand Mexicans camped out there is the chaparral waiting to set the canyon 25

on fire.«

Was passiert jedoch, wenn Mauern bzw. Grenzen aufgrund von unkontrollierbaren natürlichen Ereignissen verschwinden und Chaos überhand nimmt? Hierfür gibt Boyle eine mögliche Antwort. Delaney folgt Cándido schließlich zu seiner Baracke im Canyon mit einer Pis-

24 Ebd. 25 Boyle: The Tortilla Curtain, a.a.O., S. 320.

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tole in der Hand, um ihn zu ermorden. In diesem Moment stürzt eine Sturzflut herab und reißt Delaney, Cándido und América sowie ihr gemeinsames Kind mit sich. Cándido und América werden erst unter Wasser gezogen, können sich aber schlussendlich auf das Dach eines Gebäudes retten. Cándido fragt sie, wo ihr mittlerweile zur Welt gekommenes Neugeborenes ist: »She didn’t answer, and he felt the cold seep into his veins, a coldness and a weariness like nothing he’d ever known. The dark water was all around him, water as far as he could see, and he wondered if he would ever get warm again. He was beyond cursing, beyond grieving, numbed right through to the core of him. All that, yes. But when he saw the white face surge up out of the black swirl of the current and the white hand grasping at the tiles, he reached down 26

and took hold of it.«

Es war Cándido, der Delaney die Hand gereicht hat, obwohl mit der Sturzflut sein Kind und im übertragenen Sinne seine Zukunft unterging. Er reicht ihm die Hand, um ihn aus dem lebensbedrohlichen Chaos zu retten. In diesem Moment, wie beim ersten unverhofften Aufeinandertreffen – beides bedrohliche Interdependenz schaffende Momente – haben sie sich direkt in die Augen geschaut, ohne ein (ver)sicherndes Medium wie z.B. die Mauer oder das Bild als Schutz. Boyle übergibt Cándido die Macht, in einer bedrohlichen Situation der Angst Herr zu werden und als Agent die aus den Fugen geratene Ordnung wieder herzustellen. In seinem literarischen Schaffen und über die Wirkungskraft des Symbolischen und des Bildes stellt Boyle eine gewisse Stabilität her, indem Humanität unter inhumanen Zuständen literarisch erzeugt und gezeigt wird. Boyle hinterlässt den Leser mit diesem hoffnungsvollen Bild, und es scheint als ob er hiermit seine eigenen Ängste hinsichtlich der gesellschaftlich inhumanen Situation zu bannen und letztendlich zu überwinden versucht.

S ICHERN

DES

L EBENSSTANDARDS

Claudia Piñeiros Roman Las viudas de los jueves (2005; Die Donnerstagswitwen) porträtiert Familien einer Gated Community in Argenti-

26 Boyle: The Tortilla Curtain, a.a.O., S. 355.

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nien, die alle damit beschäftigt sind, ihren Lebensstandard in der einen oder anderen Weise zu sichern. Während die Nachbarn der Gated Community in The Tortilla Curtain von Hoffnungen getrieben waren und daher eher im Traum der Anderen gefangen waren – Delaney und Cándido gleichermaßen –, stehen die Familien in dem Roman von Piñeiro vor dem Ruin und sind infolgedessen im Alptraum der Anderen gefangen. Im konstruierten und bedrückenden Soziotop der portraitierten Luxusgemeinschaft Altos de la Cascada bröckeln die Fassaden. Die Geschichte ist originell und repräsentativ zugleich, da sie aus zwei unterschiedlichen Perspektiven erzählt wird: abwechselnd aus der Ich-Perspektive von Virginia Guevara und der personalen Perspektive eines nicht-identifizierbaren »Wir«. Beide schildern die gemeinsamen Überzeugungen und Einstellungen der Bewohner, aber auch deren Probleme – z.B. Depressionen, Ehebruch, Drogen, häusliche Gewalt und Verlust der einträglichen und repräsentativen Managerstelle –, über die sie zu einer Leidensgemeinschaft zusammengeschweißt werden. Das nicht-identifizierbare »Wir« dient dazu, aus einer unverbindlichen Distanz, wenn nicht als Instanz, Dinge zu erzählen, die andere nicht sehen oder nicht sehen möchten. Den Anfang des Buches eröffnet Piñeiro mit einem katastrophalen Ereignis im Garten des Nachbarn, allerdings zunächst nur in Andeutungen. Angedeutet wird auch, dass alle Bewohner mehr oder weniger Angst haben und versuchen, sich über die eine oder andere Weise zu beruhigen. Angst setzt voraus, dass wir uns dem Ausmaß der Bedrohung, der wir ausgesetzt sind, nicht vollkommen bewusst sind. Wir können nur erahnen, dass etwas Schreckliches geschehen ist. Durch dieses Verfahren wird der Leser über die bevorstehende Katastrophe informiert und vergleichbar zum Gefühl der Angst einer bedrohlichen Ungewissheit ausgesetzt. Als Leser versucht man infolgedessen zu verstehen, was genau geschehen ist, was neben der Angst auch eine lustvolle Spannung erzeugt. Am Ende des Romans stellt sich unweigerlich die Frage, wie es dazu kommen konnte, dass Männer den Lebensstandard ihrer Familien mit dem eigenen Leben sichern? Der Roman beginnt und endet mit der Szene, in der befreundete Ehemänner aus der Nachbarschaft während des gewohnten Donnerstagstreffs vermeintlich Selbstmord im Swimmingpool durch einen Stromschlag begehen, der von einem strategisch drapierten Verlängerungskabel verursacht wird. Dass es sich auch um einen Mord handelt, wird erst am Schluss aufgeklärt. Es soll so aussehen, als sei es ein Unfall gewe-

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sen, damit ihre Frauen und Familien die Lebensversicherung kassieren können. Vor dem Selbstmord hatten sich die jeden Donnerstagabend zuhause zurückgebliebenen Ehefrauen aus Spaß »Donnerstagswitwen« genannt – ein Begriff, der anfänglich nur leere Hülle ist, die dann allerdings plötzlich mit seiner eigentlichen Bedeutung versehen wird. Die ersten zwei Sätze des Romans etablieren die bedrückende und artifizielle Atmosphäre von Altos de la Cascada und bilden ein Denkmodell für die Lebensform der Gated Communities: »Ich machte den Kühlschrank auf und starrte eine Weile geistesabwesend vor mich hin, die Hand auf dem Türgriff, vor dem kalten Licht, das die Fächer beleuchtete. Bis das Warnsignal ertönte, das darauf hinweist, dass zu viel Kälte entweicht, wenn die Tür zu lange offen ist [...]« »Abrí la heladera, y me quedé así, descansando con la mano apoyada en la manija, frente a esa luz fría que iluminaba los estantes, con la mente en blanco y la mirada inútil. Hasta que la alarma que indicaba que la puerta abierta dejaba 27

escapar el frío empezó a sonar [...]«

Mit dem Sinnbild der Tür, des Warnsignals und der Kälte veranschaulicht Piñeiro das für den Roman wichtige Oszillieren zwischen den Gegensatzpaaren offen/geschlossen und intim/distanziert, lavierende Bewegungen an der Schwelle28 von Intern und Extern und Sicherheit und Bedrohung. Obwohl ein Blick hinter die Tür des Kühlschranks einen Blick sowohl in das leibliche wie finanzielle Wohl einer Familie gewährleisten kann, gibt Piñeiro statt einer inhaltlichen eine formorientierte Beschreibung – in gewisser Weise übertragbar auf das Angstgefühl, welches lediglich im strukturellen Aufbau des Romans analog zum Krimi nachgeahmt und somit für den Leser erfahrbar gemacht wird: ein verunsicherndes Gefühl der bevorstehenden Katastrophe,

27 Claudia Piñeiro: Las viudas de los jueves, Buenos Aires 2005, S. 11; dies.: Die Donnerstagswitwen, Zürich 2010, S. 9. 28 Walter Benjamin weist darauf hin, dass die Schwelle keine Grenze bildet – ein passives Moment –, sondern einen Wandel – ein aktives Moment. Dieser Wandel kann produktive oder unproduktive sowie funktionale oder dysfunktionale Merkmale haben. Vgl. Walter Benjamin: Gesammelte Werke. Das Passagen-Werk, unter Mitw. von Theodor Adorno, hg. v. Rolf Tiedemann, V. Band/I. Teil, 3. Aufl., Frankfurt a.M. 1989, S. 618.

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dessen Ursache vorerst ungewiss bleibt. In ähnlicher Weise bleibt dem Leser der Blick in den Kühlschrank verwehrt und es bleibt unklar, was genau sich hinter der Kühlschranktür befindet. Infolgedessen bleibt der Kühlschrank in unserer Vorstellung leer. Ein Warnsignal weist darauf hin, wenn zu viel Kälte entweicht oder wenn es im Innen zu warm bzw. zu intim wird. Im Sinne von Žižek, der mit Freud und Lacan die Universalisierbarkeit von Nachbarschaft hinterfragt, wird hier eine gewisse Distanz in der Form aufrechterhalten – ein Lavieren zwischen Verwandtschaft und Freundschaft –, bei den Familienmitgliedern genauso wie bei den als Freunden betrachteten Nachbarn – welches jederzeit ins Gegenteil kippen kann. Piñeiro thematisiert diese Verhältnisse folgendermaßen: »In La Cascada vermischen sich die Dinge nun einmal auf ziemlich seltsame Weise. Wahrscheinlich, weil der Begriff ›Freundschaft‹ hier so weit gefasst ist, dass er einen zuletzt geradezu einengt.« »Todo se mezcla muy raro en La Cascada. Será porque en este lugar la definición del término amistad es demasiado amplia, tanto, que termina siendo estre29

cha.«

Genau das Gegenteil wird also durch die über ›mechanische‹ Regeln lose gehaltenen nachbarschaftlichen Beziehungen erreicht. Die ersten beiden Sätze des Romans hinterlassen den Eindruck einer kühlen Leere im Dazwischen (der Fächer), die (durch das kühle und nüchterne Licht des Romans) beleuchtet wird. Die leere und kalte Wohnung, in der sich die Protagonistin Virginia befindet, reflektiert darüber hinaus ihren inneren Zustand. Sie bereitet lediglich die Essensreste vom Vortag zu, die sie bezeichnenderweise nicht auf einer Tischdecke, sondern auf den Untersetzern isst, die sie zusammen mit ihrem Mann Ronie und ihrem Sohn Juani vor drei Jahren aus dem letzten gemeinsamen Familienurlaub mitgebracht hatte. Sie versucht so wenig Aufwand wie möglich zu betreiben, um nur nicht an ihren eigenen drohenden sozialen Abstieg erinnert zu werden. Wie Tano, in dessen Pool der angebliche Selbstmord begangen wird, im Roman erklärt: »Es ging nicht darum, dass niemand et-

29 Piñeiro: Las viudas de los jueves, aaO., S. 52; Die Donnerstagswitwen, aaO., S. 51.

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was von dem Absturz mitbekam – es durfte gar nicht erst zum Absturz kommen.« (»No se trataba de que la caída no se viera sino de no dejarse caer.«)30 Schon seit einigen Jahren können sich die Guevaras keine Haushaltshilfe mehr leisten. Um nicht daran erinnert zu werden, was sie früher besessen haben, wird der haushaltliche Aufwand so gering wie möglich gehalten. Letztendlich sind die Bewohner von Altos de la Cascada maßgeblich damit beschäftigt, ein erfolgreiches und glückliches Familienleben sowohl für die Außenwelt als auch für die Innenwelt zu inszenieren. Dabei identifizieren sie sich maßgeblich über die Dinge, die sie ›haben‹ (Außen), und nicht über die Person, die sie ›sind‹ (Innen). Wenn schließlich Finanzkrisen eintreten, geht somit nicht nur der Besitz verloren, sondern es dreht sich grundsätzlich um eine existenzielle Angelegenheit und verweist hier auf die Einflussnahme der äußeren physischen Form auf die Verhaltensweisen Einzelner. Im Zur-Schau-Stellen steht erneut die Form im Vordergrund anstatt des Inhalts – Virginia stellt eine innere Leere her, um die eigenen sozialen Probleme zu vermeiden, entsprechend ist der Kontakt zu ihrem Sohn und ihrem Mann ähnlich vorsichtig und leer. An diesem Abend ist ihr Mann Ronie beim erwähnten desaströsen Donnerstagstreff. Es ist ein Donnerstag des verhängnisvollen Septembers im Jahre 2001. Indem Piñeiro den Anschlag auf das World Trade Center bereits im ersten Absatz benennt, verwebt sie wirkliche Geschehnisse mit Fiktion und will somit auf die Wahrhaftigkeit der im Text enthaltenen Erfahrungen hinweisen. Piñeiro verwickelt die kollektive Angst, die mit dem bedrohlichen Weltgeschehen im Außen einhergeht, mit der persönlichen Angst und der Bedrohung im Innen. Laut Moretti bietet Angst »a much fiercer model of the struggle between humans and their environment.«31 Angst ist nicht nur ein individuelles Phänomen, sondern auch ein kollektives, vor allem in gesellschaftlich-politischen oder kulturellen Umbruchsituationen. So schafft die Dynamik sozialen und kulturellen Wandels nicht nur neue Bedeutungszusammenhänge, sondern sie löst gewohnte Sinnzusammenhänge und -bezüge auf und bringt ungewohnte Situationen mit sich, die Unsicherheit und mithin

30 Piñeiro: Die Donnerstagswitwen, aaO., S. 274; Las viudas de los jueves, aaO., S. 281. 31 Franco Moretti: Signs Taken for Wonders: Essays in the Sociology of Literary Forms, London 1983, S. 119.

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Angst hervorrufen. Angst ist eine sinnstiftende Vermittlungsinstanz, ein Träger von Erfahrenem und Erfundenem, ein Indikator für gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge auf der kollektiven Ebene und für zwischenmenschliche Interaktion auf der persönlichen Ebene. Im direkten Anschluss zur Angst vor dem weißen Pulver in Briefumschlägen, die es in der Wirklichkeit tatsächlich gab,32 verlagert Piñeiro den Fokus auf den Sohn von Virginia und bindet somit extraliterarische weltpolitische Ereignisse mit dem eigenen imaginären Bild: »Juani war weggegangen. Wohin und mit wem, hatte ich nicht gefragt. Juani mochte es nicht, wenn ich ihn so was fragte. Ich wusste es aber sowieso. Wenigstens bildete ich mir das ein.« »Juani había salido. No le había preguntado con quién ni adónde. A Juani no le gustaba que le preguntara. Pero igual yo sabía. O me imaginaba, y entonces 33

creía que sabía.«

Neben Nähe und Distanz sowie Privatheit und Öffentlichkeit verbindet Virginia hier das Erfahrene mit dem Erfundenen. In diesem Zusammenhang lässt sich nach dem Unterschied zwischen der realen und der imaginierten Wirklichkeit fragen. Laut der Kulturwissenschaftlerin Elizabeth Seaton spielt der Unterschied zwischen dem Wirklichen und dem Erfundenen keine große Rolle, so lange das Wirkliche als versichernd und nicht furchteinflößend imaginiert wird.34 Virginia macht sich ein Bild davon, mit wem und wo ihr Sohn unterwegs ist, und das beruhigt sie. Die vermeintlich ›künstlichen‹ Umgebungen der Gated Communities stellen den Realitätssinn neu her, wie der Soziologe Gerhard Schulze über die postmoderne, szenographisch inszenierte Eventkultur konstatiert:

32 Hier ein Verweis auf die Anthrax-Anschläge 2001 kurz nach 9/11, in denen Briefe mit Milzbranderregern an Nachrichtensender und politische Repräsentanten geschickt wurden. 33 Piñeiro: Die Donnerstagswitwen, aaO., S. 9; Las viudas de los jueves, aaO., S. 11-12. 34 Vgl. Elisabeth Seaton: »The Commodification of Fear« in: Topia 5 (2001), S. 1-19.

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»Spielerische Kulissen wie Erlebnisparks, Computerspiele oder Filme werden als illusionserzeugende Konstruktionen angeboten und nachgefragt. Dabei gelten Gefühle, Phantasien, Erlebnisse nicht als Wahrnehmungsstörungen, 35

sondern als Wirklichkeit eigener Art.«

Die von Schulze hier aufgeführte Herstellung einer Wirklichkeit eigener Art ist allerdings nicht nur eine eskapistische Reaktion. Fähig zu sein, seine eigene Wirklichkeit zu jeder Zeit und an jedem Ort herzustellen, gehört zu den Qualifikationen, die zur Teilnahme an einer postmodernen Kultur berechtigen.36 Virginia erfindet eine eigene Wirklichkeit als Ersatz für die ihr unzugängliche Welt von Juani, und in diesem Akt mischen sich die Grenzen zwischen Rekonstruktion und Fiktion. Indem Piñeiro das Weltgeschehen in den literarischen Text faltet – genauso wie das Weltgeschehen und das urbane Bewusstsein in die Mauern der Gated Communities eingefaltet sind –, verfährt sie in ähnlicher Weise: sie rekonstruiert ein im urbanen Raum verbreitetes Oszillieren zwischen Erfahrenem und Erfundenem. Im Verlauf des Romans bröckeln die Fassaden bzw. die spielerischen Kulissen. Während Virginia anfänglich noch fähig ist, sich Juanis Aufenthaltsort einzubilden, ist sie gegen Ende des Romans mit der nahenden Katastrophe durch Juanis Abwesenheit beunruhigt: »Juani war nicht da, was nicht gerade zu meiner Beruhigung beitrug.« (»Juani no estaba y eso sumaba una preocupación más.«)37 In ähnlicher Weise rekonstruiert Piñeiro die zwischenmenschliche Leere und Distanz im Roman, indem der Selbstmord anfänglich lediglich eine Andeutung bleibt. Formell wird hier das omnipräsente Gefühl der Angst nachgeahmt, dessen Ursprung jedoch unklar und somit distanziert bleibt. Obwohl die Erzählung um den bedrückenden Selbstmord kreist, wird das eigentliche Ereignis nie direkt geschildert, sondern lediglich über Dritte vermittelt und somit aus der Distanz wahrgenommen. Die Leser werden nicht zu Zeugen am Tatort gemacht, sondern kommen dem Ereignis nur über (virtuelle) Bilder, eine vermit-

35 Gerhard Schulze: Kulissen des Glücks. Streifzüge durch die Eventkultur, Frankfurt a.M. 1999, S. 7. 36 Vgl. Tom Holert: »Bildfähigkeiten«, in: ders.: Imagineering. Visuelle Kultur und Politik der Sichtbarkeit, Köln 2000, S. 14-33. 37 Piñeiro: Die Donnerstagswitwen, aaO., S. 292; Las viudas de los jueves, aaO., S. 301.

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telnde bzw. mediale Instanz, näher. Vorerst sind es Ronies Erinnerungsbilder an die Vorgeschichte des Selbstmordes, an jenen Donnerstagabend, über die die Leser versuchen, die Wahrheit zu erfahren, denn Ronie war früher gegangen und hat deswegen überlebt. »Und wenn das nicht die Wahrheit war?« (»¿Y si esa no fuera la verdad?«),38 fragt Juani im letzten Kapitel des Romans. An dieser Stelle wird Ronies inneres Bild durch Juanis digitales Bild ergänzt. Es stellt sich heraus, dass Juani den Selbstmord dokumentarisch mit einer Digitalkamera aufgezeichnet hat, so dass zu dem Zeitpunkt, an dem Ronies Erinnerungsbilder aufhören, Juani das Ereignis mit seinen digitalen Bildern vervollständigt und außerdem veranschaulicht. Analog zum Leben werden vergangene Erinnerungen des Vaters vom Sohn ergänzt und fortgesetzt. Dazu bewegen sich Ronies innere Gemütsbewegungen über Juanis ergänzende digitale Bilder nach außen, sie werden für andere sichtbar und erfahrbar. Bevor er aber uns und seinen Eltern das Ereignis durch das kühle und nüchterne Licht der Kamera zeigt, laufen auf dem Fernseher Nachrichten, in denen ein Sprecher den bevorstehenden Angriff der USA auf das vermeintlich für den Anschlag verantwortliche Land verkündet. Fast herausfordernd zeigt Juani im nächsten Moment auf dem gleichen Fernseher seine Bilder, die seinen Eltern und uns die »wirkliche« Wahrheit näher bringen sollen. Hier stellt Piñeiro das notorisch falsche, den Irak-Krieg rechtfertigende Beweisbild Juanis dokumentarisch festgehaltenem Beweisbild gegenüber, und somit bleibt die Frage, inwiefern Medien Wahrheit feststellen können, unbeantwortet. Piñeiros eigene Einstellung zur Rolle, die der Autor heutzutage hat, wird hiermit reflektiert. In einem Interview erklärt sie, dass gegenwärtig Kritik nicht aus Gesagtem, sondern aus dem Gezeigtem entsteht. Die Aufgabe des Autors ist es zwar zu zeigen und zu erzählen, jedoch nicht bloßzustellen. Piñeiro lässt Virginia in ihr rotes Büchlein schreiben: »Man ist nicht bloß verantwortlich für das, was man tut, sondern auch für das, was man sieht: Auch sehen heißt handeln.« (»Aunque uno se convenza de que sólo es responsable de sus acciones, mirar también es una acción[...]«).39

38 Piñeiro: Die Donnerstagswitwen, aaO., S. 305; Las viudas de los jueves, aaO., S. 313. 39 Piñeiro: Die Donnerstagswitwen, aaO., S. 54; Las viudas de los jueves, aaO., S. 55.

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Manchmal ist es allerdings schwierig, das Gezeigte als solches zu sehen. Virginia ist von den technischen Fähigkeiten ihres Sohnes so beeindruckt, dass sie zunächst gar nicht bemerken kann, was seine Bilder zeigen. Es fällt ihr schwer, die Bilder zu erkennen, »Ronie dagegen griff sich an den Kopf, und der Ausdruck, mit dem er auf den Fernseher starrte, brachte mich dazu, meinerseits die Bilder wahrzunehmen, die schließlich auch vor meinen Augen abliefen.« »Roni se agarró la cabeza y su expresión, con la mirada clavada en la pantalla del televisor, me hizo ver la imagen que yo también tenía ante mis ojos.«

40

Auch hier wird Virginia nur indirekt über Ronies Perspektive auf die Bilder aufmerksam, und kann einen Teil der Wahrheit somit verinnerlichen und selber in Augenschein nehmen. Es ist vornehmlich ein Ausdruck der Angst, der sie dazu veranlasst, nicht nur die Form, sondern auch den Inhalt der Bilder wahrzunehmen und mithin zu erkennen, dass es sich gar nicht um Selbstmord, sondern um Mord handelt. Auf den von Juani festgehaltenen Bildern wird deutlich, dass Tano seinen Nachbarn Gustavo gegen seinen Willen samt Verlängerungskabel mit in den Pool gezogen hat. Nun wird auch für Virginia die omnipräsente Angst über die Bilder als Angstbewältigung nach Außen gebracht, und über den Inhalt und das Symbolische im Bild findet die Familie zusammen. Juani fragt seinen Vater zwar unsicher, allerdings mit einem moralischen, erwartungsvollen Unterton, ob sie zur Polizei gehen sollen. »Das verzeihen sie uns nie« (»No nos lo van a perdonar nunca«),41 entgegnet ihm Ronie. Auf die Nachfrage, wer »sie« sind, antwortet Ronie: »Unsere Freunde, unsere Bekannten. […] Ich hab Angst vor dem, was uns passieren könnte.« (»Nuestros amigos, la gente que nos conoce. […] Tengo miedo de lo que nos pueda pasar.«)42 Ronie fürchtet sich vor den Nachbarn: aufgrund einer als bedrohlich erfahrenen Wirklichkeit ›entwickelt‹ sich eine gewaltige Abhängigkeit der Bewohner unterei-

40 Piñeiro: Die Donnerstagswitwen, aaO., S. 305; Las viudas de los jueves, aaO., S. 314. 41 Piñeiro: Die Donnerstagswitwen, aaO., S. 308; Las viudas de los jueves, aaO., S. 316. 42 Ebd.

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nander. Wenn er der Polizei die Wahrheit enthüllt, zerstört er die Träume seiner lebendigen wie nicht lebendigen Nachbarn und ist somit im Traum seiner Nachbarn gefangen und verloren. Diesen Umstand spitzt Piñeiro zu, als die Familie den Wohnkomplex verlassen will. Der Wachmann deutet darauf hin, dass es im Außen eine Sicherheitswarnung gibt: »[...] sie haben Angst, dass sie kommen. […] Die Habenichtse, angeblich hat es schon Plünderungen gegeben. Aber keine Sorge, wir sind vorbereitet.« »[…] tienen miedo de que vengan. […] Los de las villas supongo, dicen que están saqueando del otro lado de la ruta. Pero no se preocupe, acá estamos preparados.«

43

Virginia fragt im letzten Satz des Romans schließlich den kreidebleich gewordenen Ronie: »Hast du Angst, willst du hierbleiben?« (»¿Te a miedo salir?«).44

S CHLUSSBEMERKUNGEN Als Artikulationsform kultureller und urbaner Verflechtungen sind Mauern kennzeichnend für Gated Communities. In ihnen falten und entfalten sich das Konkrete und das Emotionale, das Erfahrene und das Erfundene, das Verbindliche und das Unverbindliche sowie Innen und Außen. Die Mauer umhüllt und enthüllt zugleich, indem sie den topowie geographischen Verlauf des ›Vorhangs‹ markiert und veranschaulicht, wenn nicht verbildlicht. In beiden hier analysierten Romanen stehen die Mauern mehr für Angst als für Wohlstand und Sicherheit, wobei die Angst als sinnstiftende Vermittlungsinstanz und als anspruchsvolles Modell den Kampf Einzelner – mit den Nachbarn und mit dem natürlichen Umfeld – erfasst. Piñeiro konfrontiert den Leser in ihrem Roman Las viudas de los jueves mit der verunsichernden Frage, ob die Angst vor den Nachbarn

43 Piñeiro: Die Donnerstagswitwen, aaO., S. 309; Las viudas de los jueves, aaO., S. 317. 44 Piñeiro: Die Donnerstagswitwen, aaO., S. 310; Las viudas de los jueves, aaO., S. 318.

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oder den randalierenden Habenichtsen größer ist. Wie versprochen, zeigt der Text etwas, stellt aber nicht bloß. Mit dem offenen, unsicheren Ende – ähnlich wie der anfängliche Blick in den offenen, leeren Kühlschrank – lässt Piñeiro den Leser den urbanen Raum erfahren und zwingt ihn außerdem dazu, ihn zu erfinden. Hier wird das Extraliterarische in das Literarische gefaltet: eine omnipräsente Angst durchdringt die Gesellschaft im Text und lässt kollektive wie individuelle (Alp)Träume entstehen. Mimetisch vermisst Piñeiro Affekte, und im Inhalt wie im Verfahren des Romans bildet sie diese fast kartographisch ab, wobei hierdurch Denk- und Erfahrungshorizonte sowie Wahrnehmungs- und Vorstellungswelten aufgezeigt werden. Eigentliche, vom Einzelnen empfundene bzw. erfundene und in Zusammenhang mit dem Gefühl der Angst erfasste Grenzen treten in Interaktionssituationen durch entsprechende Handlungsentschlüsse nach außen. Bei Piñeiro bleibt der Entschluss zur Handlung offen, indem wir als Leser schließlich verunsichert an der Schwelle zwischen Innen und Außen verbleiben. Im Gegensatz dazu zeigt Boyle in The Tortilla Curtain beide Perspektiven auf, denn sowohl Delaney als auch Cándido sind auf der Suche nach einem besseren Lebensentwurf. Beide haben genauso Angst vor dem wirtschaftlichen Abstieg wie vor desaströsen Naturereignissen, und so lässt Boyle Cándido in der naturkatastrophalen Interaktionssituation der Schlussszene die durch den Vorhang etablierte Grenze überschreiten, indem er die Hand seinem bedrohlichen Gegenüber hinstreckt. Cándido ist hier der Mittler zwischen Wasser und Land, Natur und Kultur, Chaos und Ordnung: er rettet Delaney aus dem gesellschaftlichen und persönlichen Mahlstrom und aus dem Traum seines Nachbarn. Boyle versinnbildlicht und kehrt hier die wechselseitige wie multidimensionale Bewegung an der Grenze zwischen Innen und Außen sowie Chaos und Ordnung um und verleiht Cándido in diesem Moment die Macht, Delaney von seinen Interdependenzen zu (er-)lösen. Die Mauer der Gated Communities wie das emotionsgeladene Bild markieren eine multidimensionale Grenze: Hier kreuzen sich Innen und Außen im Jetzt sowie das Erfahrene der Vergangenheit und das (noch) nicht existierende Erfundene. Analog zur Mauer sind Bilder einerseits aus Material geschaffen und andererseits transportieren sie als Trägermedium gesellschaftliche Ideen, Zeichen und Emotionen. Entsprechend bestätigt Manuel Castells, dass die »neue Macht [...] sich

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in den Informationscodes und in den bildlichen Repräsentationen [befindet], um die herum die Gesellschaften ihre Institutionen organisieren und die Menschen ihr Leben aufbauen und über ihr Verhalten entscheiden.«45 Das nach Außen kommunizierte Bild ist nur schwer vom inneren Bild des Imagos zu trennen – beide sind sozial geformt, besonders auch durch die individuelle Auseinandersetzung mit dem im Außen angesiedelten Sozialen. Es entsteht eine sonderbare Zwischenwelt, die mit den Nachrichtenbildern zu vergleichen ist: Die ins Wohnzimmer übertragenen Bilder werden gleichzeitig als real und nicht-real wahrgenommen.46 Während wir also einerseits emotional von der lediglichen Realität der Bilder ergriffen sind, sind wir zugleich ihrer ›mechanischen‹ Distanz versichert.

45 Manuel Castells: Die Macht der Identität. Das Informationszeitalter, Teil II, Opladen 2002, S. 383. 46 Vgl. Aida Bosch: Konsum und Exklusion. Eine Kultursoziologie der Dinge, Bielefeld 2010.

ANSTATT EINES NACHWORTS

Meine russischen Nachbarn1 W LADIMIR K AMINER

N EUE N ACHBARN Nachts fing es an zu regnen, die Tropfen trommelten eine Herbstsymphonie auf das neu gedeckte Plastikdach über den Mülltonnen im Hinterhof. Ich saß auf dem Balkon und las Die früheuropäische Geschichte von Le Goff. Gegen 2.00 Uhr klappte ich das dicke Buch zu und machte das Licht in der Wohnung aus. Alles versprach, eine gute, ruhige Nacht zu werden. Um 5.00 Uhr rissen mich die Katzen aus dem Schlaf, die völlig verstört ihren Urinstinkten folgend über mein Bett sprangen. Dieses merkwürdige Verhalten der Hauskatzen bei Vollmond erklärt sich durch die früheuropäische Geschichte, schoss es mir durch den Kopf. Wir alle waren einmal etwas ganz anderes gewesen und haben uns im Laufe der Jahrhunderten zivilisiert, doch manchmal kommt die Vergangenheit wieder hoch, und wir fallen zurück. Besonders sichtbar ist dieses Phänomen bei Hauskatzen. Tagsüber sind die zahm und verschlafen, nachts verwandelt sie die Kraft des Mondes in wilde blutrünstige Bestien, die sie früher vermutlich auch waren. Ich verscheuchte die Tiere und legte mich wieder hin.

1

Copyright und Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Random House Deutschland. Auszug aus: Wladimir Kaminer: »Neue Nachbarn«, »Die Russen-WG«, in: ders.: Meine russischen Nachbarn, München: Manhattan 2009, S. 13-24.

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Um halb acht knallten die ersten Türen im Treppenhaus, die Kinder gingen zur Schule, und um 8.00 Uhr spielte jemand Trompete auf dem Balkon. Ich legte mir mein Kissen auf den Kopf, krümmte mich zusammen, aber nichts half gegen diese verdammten Trompetensoli. Die Melodie schien mir irgendwie bekannt, nur erinnerte ich mich nicht, woher. »Wer ist diese Sau?«, dachte ich im Halbschlaf. Die Oma aus dem dritten hat zwar einen Knall, aber keine Trompete. Der dicke Junge mit der Pfeife aus dem zweiten Stock kam auch nicht in Frage, er konnte unmöglich so gut spielen. Vielleicht der Internetdesigner mit vergipstem Bein aus dem Hinterhofparterre? Dann erinnerte ich mich an das neue Schild auf unserer Gegensprechanlage, das ich am Vortag entdeckt hatte; zwei Namen, die irgendwie russisch klangen. Ein Trompetenspieler mit russischem Doppelnamen? Das hatte uns gerade noch gefehlt. Wann war er nur eingezogen? Sein Umzug musste geräuschlos verlaufen sein, ich hatte weder einen Umzugswagen vor dem Haus gesehen noch Kartonstapel unten im Flur. Ich hatte diesen Musiker noch nie getroffen, ich wusste nicht einmal, in welche Wohnung er eingezogen war. Das Einzige, was ich über ihn wusste: Der Mann spielte um 8.00 Uhr früh Trompete auf dem Balkon. Das war eigentlich zu erwarten gewesen! Aus unerfindlichen Gründen ziehen hauptsächlich Durchgeknallte in unser Haus, keine vernünftigen Bürohengste, keine Angestellten des öffentlichen Dienstes, sondern sonderbare Künstler und Sportler. Über uns wohnt eine Opernsängerin, in der Wohnung gegenüber ein Dartspiel-Weltmeister, im Erdgeschoss mein Hobbytrommler und Technofreak. Der Trompeter war unvermeidlich. Am Nachmittag machte ich meinen neuen Nachbarn im Treppenhaus ausfindig: ein Jungstudent mit Lederjacke, Rucksack und schwarzem langem Haar. Ich sprach ihn auf das Trompetenspielen an, ob er immer nur von 7.00 bis 8.00 spielen könne. Er sagte »Sdrawstwujte« zu mir. Tatsächlich ein Landsmann! Wir redeten eine halbe Stunde miteinander. Unglaublich aber wahr, es waren gleich zwei Russen in das Haus gezogen. Ab sofort wohnte ich mit einer Russen-WG unter demselben Dach! Beide um die dreißig Jahre alt. Der eine, Andrej, war erst vor kurzem nach Deutschland gekommen, er stammte aus Leningrad, heute St. Petersburg. Der andere, Sergej, war schon länger hier. Er kam aus Weißrussland, hatte in Vechta studiert, nahe Bremen gewohnt, in Köln gearbeitet und war dann nach Berlin umgezogen, weil er das Rheinland zu klein und langweilig fand. Ich verabredete mich

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mit Andrej noch auf der Treppe für den Abend zum Schachspielen. Gott segne unser Haus, dachte ich unterwegs in der Stadt, endlich lustige Nachbarn!

D IE R USSEN -WG In den nächsten Tagen und Wochen lernte ich meine neuen Nachbarn besser kennen. Fast jeden Tag hing einer von ihnen bei mir in der Küche, oft ging ich zu den Jungs nach oben. Wir wurden Freunde. Die anderen Bewohner unseres Hauses empfingen die Russen-WG nicht mit Blumen. Vor allem die Rentnerin aus dem vierten Stock und unser Hausmeister zeigten Misstrauen. Bei dieser Bevölkerungsgruppe ist die Fremdenangst am stärksten entwickelt. Grundsätzlich können sie sich mit großen Hunden und frischen Ausländern schwer abfinden. Als ich vor einigen Jahren in dieses Haus einzog, hielt mich der Hausmeister auf dem Hof an und erzählte etwas unvermittelt, auch er habe einmal acht Jahre in Neukölln in »völlig türkischer Umgebung« gewohnt und hätte »mit denen nie ein Problem« gehabt. »Was meint er?«, grübelte ich. Es war wahrscheinlich als eine Art Warnung gedacht. Danach wollte er wissen, was ich von der »Visa-Affäre« halte. »Die Politiker sollten nicht nur reden, sondern sofort alle Konsulate in Osteuropa schließen und das Land am besten von allen Seiten einmauern«, sagte ich, um den Hausmeister zu provozieren. Er blickte misstrauisch, stimmte mir aber, wenn auch nachdenklich, zu. Die Visa-Affäre im Jahr 2005 war ein Hammer. Die Angst ging um in Deutschland, einem armen Land, das permanent gefährdet ist und ausgebeutet wird – von Sozialhilfeempfängern, Arbeitslosen, Islamisten, Hasspredigern, Schwarzarbeitern und obendrein auch noch von Millionen ukrainischen Kriminellen und Prostituierten, die mit einwandfreiem Visum nach Deutschland kamen, um hier ihre Untaten zu begehen. »Jahrelang wurden bis zu 2000 Visa pro Tag in Kiew vergeben«, berichteten die Zeitungen. »Wenn das wahr wäre, hätten die Eindringlinge das Land schon längt flächendeckend ausgeraubt«, dachte ich. Doch die meisten glaubten der Berichterstattung. Deutschland tat sich schon immer schwer mit Ausländern. Auch wenn der Bundestag einstimmig die Bundesrepublik per Gesetz zu einem Einwanderungsland erklärt, wird sich an den Tatsachen, die das Gegenteil beweisen, nichts ändern. Die Ursachen für die Fremdenab-

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wehr bleiben im Dunkeln. Wahrscheinlich hat Deutschland mit seinen Ausländern und seinem Volk einfach Pech, sie wollen und wollen nicht zusammenkommen. Die deutschen Ausländer sind meistens sehr zickig. Sie wollen sich nicht in die deutsche Kultur einweihen lassen, viel lieber bleiben sie unter sich und bilden zu diesem Zweck Cliquen und Ghettos. Sie sitzen den ganzen Tag in ihren Kneipen herum, gukken ihren Fußball und trinken ihr Bier. Sie sprechen auf den Straßen und in den Geschäften laut ihre Fremdsprachen, ohne auf die Einheimischen Rücksicht zu nehmen. Es wirkt demütigend. Diese ständige Fremdsprecherei lässt die Einheimischen argwöhnen, dass die Ausländer vielleicht Böses über sie reden oder, noch schlimmer, ihnen etwas verheimlichen könnten. Daraufhin werden die Einheimischen sauer und meiden ihrerseits die Ausländer. Die Einheimischen bilden eigene Cliquen und Ghettos, wo sie unter sich bleiben, ihren Fußball gucken und Bier trinken. Nur wenige Einzelgänger können über diese Mauer des Misstrauens auf die andere Seite klettern. Ich nenne sie die Helden der Integration. Zu diesen Menschen gehört zum Beispiel mein neuer Nachbar Andrej aus der Russen-WG im vierten Stock. Er wird nicht müde, sich für alles Deutsche zu interessieren, vor allem für deutsche Frauen und die deutsche Sprache. Er hat sich vorgenommen, das Deutsch-Russische Wörterbuch auswendig zu lernen und ist schon beim Buchstaben »J« angekommen. Das alles ist ihm aber noch nicht genug. »Wir müssen die Sorgen der Einheimischen verstehen können, ihr Leben von innen studieren«, behauptet er. Zu diesem Zweck guckt er sich seit Monaten alle Staffeln von »Big Brother« an. Seine erste Erkenntnis war, dass die Deutschen selbst ihre Sprache in viel kleinerem Umfang benutzen, als es in dem tausend Seiten dicken Deutsch-Russischen Wörterbuch eigentlich vorgesehen ist. Die Container-Insassen kamen mit gerade mal fünf Sätzen prima klar. Für Andrej war das ein Zeichen: Er musste sich nicht weiter mit dem dicken Wörterbuch quälen. Auch die moderne deutsche Singkultur reizte ihn sehr, weil sie so lebensfroh klingt und keine besonders ausgeprägten Sprachkenntnisse erfordert. Er kaufte sich auf dem Flohmarkt eine Platte mit dem deutschen Superhit »Wann wird’s mal wieder richtig Sommer«, legte sie in einer Endlosschleife auf, spielte dazu Trompete und terrorisierte damit einen Monat lang das ganze Haus. Die Nachbarn von unten klopften immer wieder mit einem Besen gegen die Decke. Andrej dachte, sie freuen sich, wenn sie ihre Folklore

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hören. Die Nachbarn beschwerten sich jedoch beim Hausmeister, der bei uns im Haus unter anderem für den Frieden und die Völkerverständigung zuständig ist. Der Hausmeister klingelte daraufhin bei der Russen-WG. »Ich habe Signale bekommen, dass Sie mit Ihrem Freund nachts laut afrikanische Tanzmusik hören, dazu schreien und im Wohnzimmer herumspringen. Hören Sie auf damit«, sagte der Hausmeister. »Bei uns in Deutschland wird nach 22.00 Uhr nicht mehr getanzt. Hier leben Menschen, die früh aufstehen müssen. Und bringen Sie endlich Ihren Balkon in einen ordentlichen Zustand, im Interesse des Gesamtanblickes der Hausfassade. Wir wollen doch alle Frieden, oder?« Andrej war erstaunt, dass seine Nachbarn ihre eigene Folklore nicht mochten, fügte sich jedoch. Doch sein Drang zu ständiger Kommunikation mit den Vertretern des Gastlandes war damit auf keinen Fall erloschen. Anders als sein schweigsamer, nachdenklicher Mitbewohner ist Andrej ein Kommunikationstier. Über solche Menschen wird behauptet, dass sie zu sprechen beginnen, noch bevor sie geboren werden. Danach hören sie nicht mehr auf. Auch seine Gastfreundschaft kennt keine Grenzen. Die Russen-WG gleicht einer Falle: Man kommt sehr leicht hinein, aber kaum wieder heraus. Mir ist es ebenfalls noch nicht gelungen, weniger als drei Stunden bei meinen Nachbarn zu verbringen. »Wladimir«, sagte Andrej neulich zu mir, als wir uns wieder einmal auf der Treppe begegneten, »ich habe in der Zeitung deine Geschichten gelesen. Du musst unbedingt über meine Oma schreiben, sie macht völlig irre Sachen. Komm bitte kurz mit nach oben, das muss ich dir erzählen.« Erst nach drei Stunden gelang es mir, seine Wohnung wieder zu verlassen. Zwischendurch musste ich meine Frau anrufen, die sich schon Sorgen gemacht hatte, weil ich ja eigentlich nur zum Briefkasten gehen wollte, um die Post abzuholen. In den drei Stunden habe ich alles über Andrejs Oma erfahren sowie über seine anderen zahlreichen Verwandten, die alle Ende der Neunzigerjahre ihre Heimatstadt St. Petersburg verlassen und sich über die ganze Welt verstreut hatten. Andrej erzählte mir tatsächlich interessante Geschichten; die Menschen in seiner Familie schienen alle sehr abenteuerlustig zu sein. Seltsamerweise hatte ich jedoch keine Lust, über seine Oma oder die anderen Familienmitglieder zu schreiben. Ich wollte bloß nach Hause und die Zeitung lesen. Das ging aber nicht. Andrej erzählte und erzählte,

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ich hörte höflich zu. Nach einer Weile begriff ich, dass er von alleine nie aufhören würde. Aus Höflichkeit verbrachte ich noch eine weitere halbe Stunde in der Küche, dann nutzte ich eine Pinkelpause von ihm, um mich schnell zu verabschieden. Ich weiß, dass Andrej selten Besuch bekommt. Seine Landsleute kennen ihn und haben einfach keine Lust auf die unendlichen Monologe, und seine einheimischen Nachbarn halten ihn wahrscheinlich für verrückt, weil er sie ständig auf der Treppe anspricht. Mehrmals lud er sie schon zu sich ein, sie blieben aber hart und lehnten alle Einladungen ab. Die ersten Einheimischen, die seine Wohnung betraten, waren die Zeugen Jehovas vor etwa einem Monat: zwei Männer und eine Frau. Sie fragten Andrej freundlich, ob sie nicht reinkommen dürften. »Wir werden Ihre kostbare Zeit nicht lange in Anspruch nehmen. Wir wollen mit Ihnen nur kurz über Gott und die Welt reden«, sagten sie. Andrej freute sich riesig. »Das ist aber ein sehr großes Thema, das hat mich immer schon interessiert«, meinte er und zerrte die drei in seine Wohnung. Danach habe ich das Trio nie wieder gesehen. Manchmal härt man komische Geräusche aus der Russen-WG, als würde dort ein Chor singen. Ich habe Grund zur Annahme, dass die Zeugen Jehovas sich noch immer irgendwo in der Wohnung befinden. Zum einen war das im August angekündigte Gesprächsthema tatsächlich sehr umfangreich angelegt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Andrej so schnell damit fertig wird. Zweitens kauft er in letzter Zeit deutlich mehr ein. Und drittens hat er mir selbst eine Bestätigung für meinen Verdacht geliefert. Als ich ihm neulich wieder auf der Treppe begegnete, wagte ich die provokante Frage: »Wie geht es den Zeugen?« Andrej wurde rot im Gesicht und benahm sich wie ein Dieb, der auf frischer Tat ertappt wurde: »Welchen Zeugen?«, murmelte er und wollte zum ersten Mal das Gespräch nicht mehr weiterführen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass Andrej der deutschen Gesellschaft drei Zeugen Jehovas entzogen hat und sie nun zu seinem Privatgebrauch benutzt. Ob so etwas hierzulande strafbar ist, weiß ich allerdings nicht.

Autorinnen und Autoren

Bauman, Zygmunt, wurde 1925 in Posen geboren. 1939 floh er vor den Nazis in die Sowjetunion. 1954 wurde er Professor für Soziologie an der Universität Warschau. Er verlor diese Stelle 1968 aus politischen Gründen und ging nach Israel. 1971 erhielt Bauman einen Ruf auf den Lehrstuhl für Soziologie an der University of Leeds, den er bis 1990 inne hatte. Bauman erhielt 1989 den Amalfi-Preis, 1998 wurde er mit dem Theodor-W.-Adorno-Preis ausgezeichnet. Zygmunt Bauman lebt in Leeds. Evans, Sandra, geb. 1970, hat International und Russian Studies in Portland, Oregon, und St. Petersburg, Russland, studiert, an der Universität Tübingen in Slavistik promoviert und ist dort derzeitig am Slavischen Seminar tätig. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Film, Wohnen und Kultur (Sowjet-)Russlands. Veröffentlichung: Sowjetisch Wohnen. Eine Literatur- und Kulturgeschichte der Kommunalka (2011). Fisher Gray, Emily, ist Juniorprofessorin am Historischen Seminar der Norwich University in Vermont, USA. Ihr Forschungsschwerpunkt ist die neuere Kulturgeschichte Deutschlands mit Fokus auf post-Reformation Architektur und konfessionelle Beziehungen. Kaminer, Wladimir, geb. 1967 in Moskau, lebt als deutsch schreibender Schriftsteller in Berlin. Bekannt geworden ist er mit seinem Buch Russendisko, 2000; Kaminer initiierte gemeinsam mit Yuriy Gurzhy eine gleichnamige musikalische Veranstaltungsreihe. Weitere

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Werke u.a.: Mein Leben im Schrebergarten, 2007; Meine kaukasische Schwiegermutter, 2010. Auf seiner Homepage heißt es: »›Die Nachbarn sind die größte Herausforderung, eine weit größere als die eigene Familie. Wenn Du es mit den Nachbarn kannst, dann schaffst Du es auch mit dem Rest der Welt‹, sagte mein Opa gerne […] Sie stellen unsere Flexibilität, unsere Kommunikationsfähigkeit, unsere humanistische Weltsicht täglich in Frage. Sie sind die größte Prüfung unsres Lebens.« (http://beta.russendisko.de/de/russendisko/ueber-uns/wladimir/) Kimmich, Dorothee, Studium der Germanistik, Geschichte und Philosophie in Tübingen und Paris; Promotion an der Universität Freiburg 1991, Habilitation an der Universität Gießen 1999, seit 2003 Professorin für Neuere deutsche Literatur an der Universität Tübingen. Seit 2004 Leitung der Tübinger Poetikdozentur. Wichtigste Buchveröffentlichungen: Epikureische Aufklärungen. Philosophische und poetische Konzepte der Selbstsorge (1993), Texte zur Literaturtheorie der Gegenwart (1995 u. ö. hg. zusammen mit Bernd Stiegler und Rolf G. Renner), Wirklichkeit als Konstruktion. Studien zu Geschichte und Geschichtlichkeit bei Heine, Büchner, Immermann, Stendhal, Keller und Flaubert (2002), Charlie Chaplin. Eine Ikone der Moderne (hg. 2003), Einführung in die Literatur der Jahrhundertwende (zus. Mit Tobias Wilke), Darmstadt 2006; Lebendige Dinge in der Moderne, Konstanz 2011. Schahadat, Schamma, geb. 1961, ist seit 2004 Professorin für Slavische Literatur- und Kulturwissenschaften an der Universität Tübingen. Promotion und Habilitation (Das Leben zur Kunst machen. Lebenskunst in Russland vom 16. bis zum 20. Jahrhundert, München 2004) an der Universität Konstanz. Neueste Publikationen: Kulturtheorie, hg. mit Dorothee Kimmich und Thomas Hauschild, Bielefeld 2010; Deutschland und Polen. Filmische Grenzen und Nachbarschaften, hg. mit Konrad Klejsa, Marburg 2011; Alexander Rodčenko: Schwarz und Weiß, hg. mit Bernd Stiegler, München 2011. Utekhin, Ilya, geb. 1968, ist Professor für Ethnologie an der Europäischen Universität in St. Petersburg. Seine Forschungsschwerpunkte sind semiotische Anthropologie, sowjetisches und postsowjetisches Alltagsleben, Ethnographie und Kommunikation und visuelle Anthro-

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pologie. Wichtigste Veröffentlichung: Očerkij kommunal'nogo byta (2001, 2. Aufl. 2004). Wietschorke, Jens, geb. 1978, studierte Europäische Ethnologie, Neuere Deutsche Literatur und Philosophie in Tübingen, Wien und Berlin. Promotion 2009 an der Humboldt-Universität zu Berlin mit der Studie Arbeiterfreunde. Eine historische Ethnographie der 'Sozialen Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost' 1911-1933. Er arbeitet seit Dezember 2009 als Assistent am Institut für Europäische Ethnologie der Universität Wien. Interessensschwerpunkte: Stadtforschung, historische Kulturanalyse, Architektursoziologie, Industriekultur, Wissenschaftsgeschichte. Žižek, Slavoj, geb. 1949 in Ljubljana, ist Philosoph, Kulturkritiker und nichtpraktizierender Psychoanalytiker. Bekannt geworden ist er durch seine Übertragung des Denkens Jacques Lacans und des Marxismus in die Populärkultur und die Gesellschaftskritik. Zizek ist unter anderem Professor für Philosophie an der Universität in Ljubljana und Director des Birkbeck Institute for the Humanities an der University of London.

Kultur- und Medientheorie Erika Fischer-Lichte, Kristiane Hasselmann, Alma-Elisa Kittner (Hg.) Kampf der Künste! Kultur im Zeichen von Medienkonkurrenz und Eventstrategien April 2012, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-89942-873-5

Sven Grampp, Jens Ruchatz Die Fernsehserie Eine medienwissenschaftliche Einführung Mai 2012, ca. 200 Seiten, kart., ca. 16,80 €, ISBN 978-3-8376-1755-9

Sebastian Hackenschmidt, Klaus Engelhorn (Hg.) Möbel als Medien Beiträge zu einer Kulturgeschichte der Dinge Juni 2011, 316 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1477-0

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Kultur- und Medientheorie Annette Jael Lehmann, Philip Ursprung (Hg.) Bild und Raum Klassische Texte zu Spatial Turn und Visual Culture Juni 2012, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1431-2

Oliver Leistert, Theo Röhle (Hg.) Generation Facebook Über das Leben im Social Net Oktober 2011, 288 Seiten, kart., 21,80 €, ISBN 978-3-8376-1859-4

Roberto Simanowski Textmaschinen – Kinetische Poesie – Interaktive Installation Zum Verstehen digitaler Kunst Februar 2012, ca. 320 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-89942-976-3

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Kultur- und Medientheorie Rainer C. Becker Blackbox Computer? Zur Wissensgeschichte einer universellen kybernetischen Maschine

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Thomas Brandstetter, Thomas Hübel, Anton Tantner (Hg.) Vor Google Eine Mediengeschichte der Suchmaschine im analogen Zeitalter

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Januar 2012, ca. 310 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1739-9

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Susi K. Frank, Cornelia Ruhe, Alexander Schmitz (Hg.) Integration und Explosion Perspektiven auf die Kultursemiotik Jurij Lotmans Februar 2012, ca. 298 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1785-6

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Albert Kümmel-Schnur, Christian Kassung (Hg.) Bildtelegraphie Eine Mediengeschichte in Patenten (1840-1930) März 2012, ca. 250 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1225-7

Dorit Müller, Sebastian Scholz (Hg.) Raum Wissen Medien Zur raumtheoretischen Reformulierung des Medienbegriffs Februar 2012, ca. 366 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1558-6

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