Auswirkungen der Globalisierung auf das Recht der völkerrechtlichen Verträge [1 ed.] 9783428505890, 9783428105892

Globalisierung wird weithin als ein vornehmlich wirtschaftliches Phänomen angesehen und in diesem Kontext politisch und

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German Pages 350 Year 2001

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Auswirkungen der Globalisierung auf das Recht der völkerrechtlichen Verträge [1 ed.]
 9783428505890, 9783428105892

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ULLA HINGST

Auswirkungen der Globalisierung auf das Recht der völkerrechtlichen Verträge

Veröffentlichungen des Walther-Schücking-Instituts für Internationales Recht an der Universität Kiel Herausgegeben von

J o s t D e I b r ü c k und R a i n e r H o f m a n n Walther-Schücking-Institut für Internationales Recht

134

Völkerrechtlicher Beirat des Instituts:

Daniel Bardonnet l'Universite de Paris II Rudolf Bemhardt Heidelberg Lucius Caflisch Institut Universitaire de Hautes Etudes Internationales, Geneve Antonius Eitel New York; Bonn

Fred L. Morrison University of Minnesota, Minneapolis Albrecht Randelzhofer Freie Universität Berlin Krzysztof Skubiszewski Polish Academy of Sciences, Warsaw; The Hague

Luigi Ferrari Bravo Universita di Roma

Christian Tomuschat Humboldt-Universität zu Berlin

Louis Henkin Columbia University, NewYork

Sir Artbur Watts London

Tommy T. B. Koh Singapore John Norton Moore University of Virginia, Charlottesville

Rüdiger Wolfrum Max-Planck-lnstitut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Heidelberg

Auswirkungen der Globalisierung auf das Recht der völkerrechtlichen Verträge

Von

Ulla Hingst

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek- CIP-Einheitsaufnahme

Hingst, Ulla: Auswirkungen der Globalisierung auf das Recht der völkerrechtlichen Verträge I Ulla Hingst.- Berlin: Duncker und Humblot, 2001 (Veröffentlichungen des Wa1ther-Schücking-Instituts für Internationales Recht an der Universität Kiel ; Bd. 134) Zug!.: Kiel, Univ., Diss., 2001 ISBN 3-428-10589-3

Alle Rechte vorbehalten

© 2001 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Wemer Hildebrand, Berlin Printed in Germany ISSN 1435-0491 ISBN 3-428-10589-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 9

Meinen Eltern

Vorwort Die vorliegende Untersuchung wurde im Dezember 2000 abgeschlossen und von der Juristischen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel im Januar 2001 als Dissertation angenommen. Veröffentlichungen und tatsächliche Geschehnisse nach diesem Zeitpunkt konnten nur noch sehr vereinzelt berücksichtigt werden. Bei der Erstellung der Arbeit haben mir viele Menschen unterstützend zur Seite gestanden, denen ich dafür sehr dankbar bin. Mein ganz besonderer Dank richtet sich an meinen Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Jost Delbrück, der mir selbst in Zeiten großer geographischer Distanz jederzeit als Ansprechpartner zur Verfügung stand, die Arbeit in vielen Gesprächen vorangetrieben und mit wertvollen Hinweisen begleitet hat. Daneben habe ich Herrn Prof. Dr. Dr. Rainer Hofmann für die rasante Erstellung des Zweitgutachtens zu danken. Beiden ist es zu verdanken, daß das Promotionsverfahren in rekordverdächtig kurzer Zeit abgeschlossen werden konnte. Ich hatte das Glück, die Arbeit im Walther-Schücking-Institut der Kieler Universität anfertigen und von dem dort bestehenden positiven Geist und der gegenseitigen Unterstützung profitieren zu dürfen. Ich danke allen Mitarbeitern des Instituts für ihre Hilfsbereitschaft, insbesondere aber Dr. Ursula Heinz, Dr. Christian Tietje und meinen Freunden am Institut Dr. Jonna Ziemer, Dr. Birgit Kessler, Dr. Susan Krohn und Britta Buchenau, die stets für kritische, konstruktive Diskussionen bereitstanden und mir wieder Mut gaben, wenn ich zweifelte. Frau Rotraut Wolf gilt mein Dank für die Erstellung der Druckvorlage. Mein Mann Thorsten hat sich einen Preis für besonderes Verständnis, Geduld, unermüdliche Aufbauarbeit und schließlich Korrekturlesen verdient. Ohne seine Unterstützung wäre die Arbeit in der vorliegenden Form nicht entstanden. Die Veröffentlichung der Arbeit wurde mir durch einen großzügigen Druckkostenzuschuß des Auswärtigen Amtes erleichtert. Ich widme die Arbeit einer guten akademischen Tradition folgend meinen Eltern. Kiel, im Juni 2001

Ulla Hingst

Inhaltsverzeichnis Teil] Was bedeutet Globalisierung?

19

A. Erscheinungsformen und Kennzeichen von Globalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . .

19

I. "Globalisierung": Verwendung des Begriffs in der einschlägigen Fachliteratur; Sachbereiche und Erscheinungsformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

20

1. Informations- und Kommunikationstechnologie. . . . . . . . . . . . . . . . . . .

20

2. Globalisierung der Wirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Ökologische Globalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

21 26

4. Politische und rechtliche Vernetzung der Welt . ........ . . . . . . . . . . .

27

5. Sicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

30

6. Soziale Globalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

31

7. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Gemeinsame Kennzeichen der "Globalisierungs"-Phänomene . . . . . . . . . . 1. Aufhebung der Kongruenz von Nationalstaat und Gesellschaft: Gesellschaftliche Denationalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Veränderung der Rolle des Staates im internationalen System; Rechtliche Denationalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Erosion der staatlichen Steuerungs- und Regelungsmacht Faktische Oenationalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Reichweite, Umfang und Grenzen der Denationalisierung. . . . . . . . . . . . . .

35 35 35 39 47

1. Souveränitätsverlust? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

55 55 55

2. Bedeutung nationalen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Bedeutungslosigkeit und Absterben des Staates? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Geographische Reichweite der Denationalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . .

65 67 68

B. Der Begriff "Globalisierung" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. "Globalisierung": Eine Sammlung von Definitionen . . . . . . . . . . . . . . . . . .

69 70

II. Bestimmung einer Arbeitsdefinition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

73

1. Ermittlung der für die verschiedenen Definitionen wesentlichen Begriffsmerkmale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

a) Gemeinsamkeiten . ... . .. . . . . . . ....... . ...... ... .. . . . . . . . .

74 74

b) Unterschiede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

75

10

Inhaltsverzeichnis aa) "Increasing interconnectedness" und Entstaatlichung . . . . . . . . . bb) Förderung des Gemeinwohls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Verwendbarkeit der Merkmale für die Arbeitsdefinition . . . . . . . . . . . . a) "Increasing interconnectedness" oder Entstaatlichung? . . . . . . . . . . . b) Ziel der Förderung des Gemeinwohls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Gründe für die Aufstellung des Gemeinwohl-Erfordernisses . . . bb) Folgen bei Aufstellung des Gemeinwohl-Erfordernisses....... (1) Informations- und Kommunikationstechnologie . . . . . . . . . . (2) Gemeinwohlbeförderung im Bereich der Wirtschaft . . . . . . . (3) Gemeinwohlinteressen im Umweltbereich . . . . . . . . . . . . . . (4) Gemeinwohlinteressen in den Bereichen Politik und Recht . (5) Sicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

75 77 78 78 78 80 81 81 83 85 88 90 92

(6} Soziale Globalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Würdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Weitere Definitionsmerkmale? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Arbeitsdefinition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Anwendung der Arbeitsdefinition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Information und Kommunikation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Wirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Umwelt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Politik und Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Sicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Soziale Globalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . g) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

92 94 95 96 97 97 98 98 99 100 102 103 1OS

C. Abgrenzung zur Internationalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106

Teil2

Reaktionen auf den Globalisierungsprozeß: Parallele (Gegen·)Bewegungen

109

A. Fragmentierungs- und Renationalisierungstendenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109

B. Regionalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 C. Entterritorialisierung nationalstaatlicher Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112

I. Extraterritoriale Ausübung von Jurisdiktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Extraterritoriale Ausübung von Jurisdiktion im Bereich der Wirtschaft . a) Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Wettbewerbsrecht der Bundesrepublik Deutschland . . . . . . . . . .

112 113 113 114

Inhaltsverzeichnis

11

bb) Wettbewerbsrecht Großbritanniens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 cc) Weitere EU-Mitglieder und andere Staaten.......... . . . . . . . 115 dd) Kartell- und Wirtschaftsrecht der U.S.A. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 ee) Europäisches Gemeinschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 b) Fälle der extraterritorialen Ausübung von Jurisdiktion aus dem Wirtschaftsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 aa) Vereinigte Staaten von Amerika: Cuban Democracy Act ( 1992). 117 bb) Vereinigte Staaten von Amerika: Insurance Antitrust Case (1993) 118 cc) Vereinigte Staaten von Amerika: Cuban Liberty and Democratic Solidarity Act ( 1996) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 dd) Vereinigte Staaten von Amerika: Iran Libyan Sanctions Act (D' Amato-Kennedy-Gesetz) (1996). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 ee) Steuerparadies Cook Islands (1996) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 2. Extraterritoriale Ausübung von Jurisdiktion im Bereich des Umweltschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 a) Vereinigte Staaten von Amerika: Tuna-Dolphin-Fälle I (1991) und II (1994) ........... . ................ . .. . .............. . .. 121 b) Vereinigte Staaten von Amerika: Shrimpffurtles-Fall (1997) .. .. .. 121 c) Art. 218 (1) Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen (1982) 122 d) Weitwandernde Fischarten und grenzüberschreitende Fischbestände 122 3. Nationale Sicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 a) Vereinigte Staaten von Amerika: United States v. Noriega, Entscheidung des Distriel Court ( 1990). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 b) England: R v. Latif, R v. Shahzad (1996) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 c) Deutschland: BGHSt 37, 305 (1991)... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 II. Zusammenhang mit den Globalisierungsphänomenen . . . . . . . . . . . . . . . . 125 III. Zusammenfassung; Würdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133

Tei/3

Die Auswirkungen von Globalisierung aufvölkerrechtliche Verträge

137

A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 I. Ziel der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 II. Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse aus Teil 1 . . . . . . . . . . . . . 138 B. Der Kreis der an völkerrechtlichen Verträgen beteiligten Parteien . . . . . . . . . . . . 138 I. Bestandsaufnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 II. Implikationen der Globalisierung für den Kreis der potentiellen Beteiligten völkerrechtlicher Verträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 1. Theoretische Überlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 2. Bestätigung durch die völkerrechtliche Vertragspraxis? . . . . . . . . . . . . . 146

12

Inhaltsverzeichnis a) Rechts- und Pflichtenpositionen von NGOs im Rahmen völkerrechtlicher Verträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 aa) Primärrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 (1) Menschenrechtsschutz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 (2) Umweltschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 (3) Humanitäres Völkerrecht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 (4) Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen . . . . . . . . 152 bb) Sekundärrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 cc) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Schlußfolgerung: Völkerrechtssubjektivität nichtstaatlicher Organisationen?... . . . . ........... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Beteiligung von NGOs als Parteien völkerrechtlicher Verträge ... .. 111. Ergebnis............ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

C. Auswirkungen auf den "treaty making process" und die Struktur völkerrechtlicher

154 154 157 160

Verträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Vertragsschluß im "Consensus"-Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Änderung von Verträgen ("amendment procedure") . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111. Verweisung auf vertragsexterne Standards ("legislation by reference") . . . IV. Ergebnis ................ . .............................. . . . ..

163 164 167 171 174

D. Auswirkungen auf die Reichweite der Bindungswirkung völkerrechtlicher Verträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Traditionelle Lehre und Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Pacta tertiis nec nocent nec prosunt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Einschränkungen zur Pacta-tertiis-Regel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge . . . . . . . . . . . .

175 175 176 177 177

aa) Art. 35 WVRK. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Art. 36 WVRK. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Verfügungsverträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Institutionelle Verträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Statusverträge ("objective regimes") . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Schaffung von Völkergewohnheitsrecht durch völkerrechtliche Verträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Art. 2 (6) UN-Charta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Dogmatische Begründung der klassischen Einschränkungen zur Pactatertiis-Regel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Ausnahme-Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

177 177 178 178 179 181 183 185 185

b) Konsens-Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 c) Öffentlich-rechtliche Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 d) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 II. Bedeutung von Globalisierung im Zusammenhang mit der Frage der Drittwirkung völkerrechtlicher Verträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192

Inhaltsverzeichnis 1. Zunehmende Notwendigkeit einer Bindung dritter Staaten

13 193

2. Auswirkungen von Globalisierung auf die staatliche Souveränität . . . . . 194

3. Konstitutionalisierung des Völkerrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Reaktionen in neuerer Lehre und Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . l. Aufarbeitung der Veränderungen durch die Völkerrechtswissenschaft.. a) Neuere dogmatische Ansätze zur Begründung einer Bindung dritter Staaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) General International Law . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Treaties providing for basic interests of the international community . . ....... . .......... . . . .. . .... . ........... . . . . cc) Nutzungsordnungen im Allgemeininteresse ............ . . . .. dd) Public Interest Norms!Erga Omnes Norms . . . . . . . . . . . . . . . . b) Zusammenfassende Gesamtschau .... . .. . ............ .. . .. .. aa) Gemeinsamkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Unterschiede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (l ) Rechtsquelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Begründung einer Regelungsbefugnis erga omnes .... . ... cc) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Regelung des Verhaltens von Drittstaaten in der völkervertraglichen Praxis ............ . .. . ............. . .............. . .. . .. . a) Drittwirkung von Regelungsmechanismen zur mittelbaren Steuerung des Verhaltens dritter Staaten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Durchsetzung vertraglicher Regelungen gegenüber Drittstaaten mittels Handelsbeschränkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (l) Funktionsweise ............. . .. . .. . ........ .. ..... (2) Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) UN-Drogenkonventionen von 1961 und 1971 . . ... . .. . . .. . . . (l ) Überblick über die Regelungen betreffend Drittstaaten . . . . (2) Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Zwischenergebnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Mit rechtlicher Drittwirkung vergleichbare Entwicklungen im vertragsinternen Bereich: Zulässigkeil von Vorbehaltserklärungen bei Menschenrechtsverträgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Darstellung der Entwicklungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Parallele zur Drittwirkung von Verträgen . ........ .. .. . .... cc) Begründbarkeil der Bindung der Reservatarstaaten mittels der neuerendogmatischen Ansätze? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Bestätigung der neuerendogmatischen Ansätze durch die Praxis? ee) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

199 20 I 201 201 202 204 205 207 210 210 211 211 215 217 218 218 219 219 221 223 224 226 228

229 229 234 235 240 242

c) Fälle rechtlicher Drittwirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 aa) Drittwirkung im Rahmen des Seerechtsübereinkommens der Vereinten Nationen (SRÜ) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244

14

Inhaltsverzeichnis (1) Art. 218 (1) SRÜ, Hafenstaatsjurisdiktion .......... . .. . . 244

(a) Nationale Umsetzungsvorschriften zu Art. 218 (1) SRÜ. (aa) Belize: Maritime Areas Act, 1992 .... ·... . ..... (bb) Gesetzgebung von St. Kitts und Nevis und St. Lucia, 1984 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (cc) Bundesrepublik Deutschland: Art. 12 Ausführungsgesetz Seerechtsübereinkommen 198211994 . . . . . (dd) Norwegen: Section 121 (1 ) (7) Seaworthiness Act, 1993 ................ . . . ............. .. . . (ee) Niederlande: Art. 19 (2) Prevention of Pollution from Ships Act, 1977. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (ff) HELCOM Recommendation 19/16, 1998. . . . . . . . (b) Zusammenfassung ..... . .. . ... ........... . ... . . (c) Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (aa) Überschreitung der Kompetenzen aus Art. 218 (1 ) SRÜ durch die nationale Gesetzgebung? . . . . . . . . (a) Wortlautauslegung des Art. 218 (1 ) SRÜ .. . . . (ß) Systematische und teleologische Auslegung. . . (bb) Drittwirkung des Art. 218 (1) SRÜ oder Herausbildung von Völkergewohnheitsrecht auf Basis des Art. 218(l)SRÜ? ..... . . ... . . ..... .. . .... . (d) Tatsächliche Durchsetzung gegenüber Nicht-Mitgliedstaaten des SRÜ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (e) Bestätigung der neuerendogmatischen Ansätze? . . . . . . (f) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Tiefseebodenregime, Teil XI SRÜ . .. . .... . ...... . .... . (a) Drittwirkung des Regimes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (c) Bestätigung der neuerendogmatischen Ansätze? . . . . . . (d) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Drittwirkung im Rahmen des Fish Stocks Agreement ... . ... .. (1) Drittwirkung des Fish Stocks Agreement . . . . . . . . . . . . . . . (2) Bestätigung der neuerendogmatischen Ansätze? . . . . . . . . . (3) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Ergebnis ... . ... .... .. .. . ... ... .. ... . . . . ..... .. . . . .. . d) Aktuell: Das Statut von Rom für den Internationalen Strafgerichtshof aa) Das Statut von Rom als Fall rechtlicher Drittwirkung? . . . . . . . . (1) Art. 12 Statut: Vorbedingungen für die Ausübung der Gerichtsbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Inhalt der Regelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Drittwirkung der Regelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (aa) Inkorporierung des Universalitätsprinzips . . . . . . .

247 247 248 248 249 250 251 252 252 253 253 254

257 259 260 263 264 264 265 266 270 271 271 276 279 281 281 282 283 283 283 285

Inhaltsverzeichnis

15

(bb) Vertragliche Verpflichtung von Drittstaaten? ... . . 286 (cc) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 (2) Art. 13 (b) Statut: Ausübung der Gerichtsbarkeit ... ...... (a) Inhalt der Regelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Drittwirkung der Regelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (aa) Drittwirkung durch Verfolgung von Verbrechen, die Staatsangehörige eines Nicht-Mitgliedstaates auf dem eigenen oder dem Staatsgebiet eines anderen Nicht-Mitgliedstaates begangen haben . . . . . . (bb) Drittwirkung durch Kooperationspflichten für Nicht-Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (c) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Umgang mit Drittstaaten und deren Staatsangehörigen . . . . . . . cc) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

287 287 288

289 292 292 293 295

IV. Ergebnis . . . . .. . .. .. . ... . ............ . .. . .... .. . . ...... . .... 298

Tei/4 Schlußbetrachtung

301

Anhang

307

Literaturverzeichnis

325

Sachwortverzeichnis

348

Abkürzungsverzeichnis AFDI AJIL APIL APJIEnv'lL APuZ ASDI AUILR AVR BDGVR BYIL ColHRLR Cornell lU DJint'lL&Pol EA Ecology LQ EJIL ELRev EuGRZ EuZW GYIL Harvard Env'ILR Harvard lU

HouJIL HRU HRQ ICLQ IJGLS IJIL

Annuaire Fran~ais de Droit International American Journal of International Law Austrian Journal ofPublic and International Law Asia Pacific Journal of International Environmental Law Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitschrift Das Parlament Annuaire Suisse de Droit International American University International Law Review Archiv des Völkerrechts Berichte der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht British Yearbook of International Law Columbia Human Rights Law Review Cornell International Law Journal Denver Journal of International Law and Politics Europa Archiv Ecology Law Quaterly European Journal of International Law European Law Review Europäische Grundrechte Zeitschrift Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht German Yearbook of International Law Harvard Environmental Law Review Harvard International Law Journal Houston Journal of International Law Human Rights Law Journal Human Rights Quaterly Internationaland Comparative Law Quarterly lndiana Journal of Global Legal Studies Indian Journal of International Law

IYIL

Italian Yearbook of International Law

JDI

JMLC

Journal du Droit International Journal of Maritime Law and Commerce

KAS

Konrad Adenauer Stiftung

Abkürzungsverzeichnis Max Planck UNYB MDJlnt'lL&Trade MichJlnt'lL MichLR NILR

NJW NTIR NYIL NYUJlntl'lL&Pol ODint'IL ÖZöR QLR RabelsZ RdC RGDIP SDLR SZIER VandJTransnat'lL VJIL VN YBILC YJIL ZaöRV ZIB ZPol ZRP

2 Hingsf

17

Max Planck Yearbook of United Nations Law Maryland Journal of International Law and Trade Michigan Journal of International Law Michigan Law Review Netherlands International Law Review Neue Juristische Wochenschrift Nordisk Tidsskrift for International Ret Netherlands Yearbook of International Law New York University Journal of International Law and Politics Ocean Development and International Law Österreichische Zeitschrift für Öffentliches Recht Queens Law Review Rabels Zeitschrift für Ausländisches und Internationales Privatrecht Recueil des Cours Revue Generale de Droit International Publique San Diego Law Review Schweizer Zeitschrift für Internationales und Europäisches Recht Vanderbilt Journal ofTransnational Law Virginia Journal of International Law Vereinte Nationen Yearbook of the International Law Comrnission Yale Journal of International Law Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht Zeitschrift für Internationale Beziehungen Zeitschrift für Politik Zeitschrift für Rechtspolitik

Teil]

Was bedeutet Globalisierung? Globalisierung ist nicht zu Unrecht als das "buzzword" der 90er Jahre bezeichnet worden, 1 denn neben dem schlagwortartigen Gebrauch in der Tagespresse wird dieser Begriff in verschiedensten Sachzusarnrnenhängen als Grund, Entschuldigung und Erklärung für unterschiedlichste Entwicklungen der Gegenwart angeführt. Zunächst soll daher ein Überblick über diejenigen Sachbereiche und Entwicklungen gegeben werden, welche in der umfangreichen Literatur zu diesem Thema am häufigsten als Globalisierung bezeichnet oder damit in Zusarnrnenhang gebracht werden. Anknüpfend an diese Überschau werden die wesentlichen gemeinsamen Kennzeichen der dargestellten Entwicklungen herausgearbeitet und wird deren Reichweite bzw. Grenzen nachgegangen. Anschließend wird eine Auswahl von Globalisierungsdefinitionen aus der Literatur vorgestellt und auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede untersucht. Aufbauend auf den dabei gewonnenen Ergebnissen sowie den aufgezeigten Merkmalen wird sodann eine Arbeitsdefinition von Globalisierung- in Abgrenzung zur Internationalisierung- für die Untersuchungen in Teil 3 dieser Arbeit entwickelt.

A. Erscheinungsformen und Kennzeichen von Globalisierung Mit dem Begriff Globalisierung werden insbesondere von Wirtschaftswissenschaftlern, Soziologen, Politologen und Juristen vielgestaltige Entwicklungen und Sachbereiche bezeichnet oder in Verbindung gebracht. Die folgende Überschau soll verdeutlichen, wie weitgefächert der Themenkreis ist, der im Zusarnrnenhang mit dem Begriff der Globalisierung diskutiert wird. Selbstverständlich kann kein Anspruch darauf erhoben werden, sämtliche Entwicklungen 1 Peter Malanczuk, in: Friedl Weiss/Eric Denters!Paul de Waert (Hrsg.), International Economic Law With a Human Face, S. 45 (49), der auf den Economist, Oct. 18th, 1997, S. 103, verweist; lohn Baylis/Steve Smith, Introduction, in: dies. (Hrsg.), The Globalization of World Politics, S. 1 (9).

20

Teil 1: Was bedeutet G1obalisierung?

und die dazu in der Literatur vertretenen Positionen zu erfassen. Es geht auch nicht darum, eine detaillierte Analyse der einzelnen Sachbereiche zu geben. Die Darstellung greift vielmehr auf empirische Forschungen anderer Autoren zurück und gibt einen Querschnitt eines Teils der mittlerweile unüberschaubar gewordenen Literatur, die allein während der Entstehung dieser Arbeit explosionsartig angewachsen ist.

I. "Giobalisierung": Verwendung des Begriffs in der einschlägigen Fachliteratur; Sachbereiche und Erscheinungsformen

Bei den regelmäßig im Zusammenhang mit Globalisierung angesprochenen Erscheinungen handelte es sich im wesentlichen um die folgenden:

1. Informations- und Kommunikationstechnologie

Über den zeitlichen Ursprung des Globalisierungsphänomens besteht zwar keine Einigkeit2, die meisten Autoren aber begreifen die elektronischen Medientechnologien als Ausgangspunkt und wichtigsten Beförderer der Prozesse, die allgemein als Globalisierung bezeichnet werden. 3 Moderne Medien der Nachrichtenübertragung und Telekommunikation wie Satelliten, Internet, Fernsehen und interaktive Verbindungen machen es möglich, Informationen gleichsam mit Lichtgeschwindigkeit über den gesamten Globus zugänglich zu machen und zu verbreiten.4 Die Summe und die Verbindung dieser Informationen werden als Aus2 Manche setzen diesen bereits mit dem Ursprung der Menschheit an, andere stellen erst auf die späten 70er Jahre ab. Siehe hierzu zusammenfassend Jan Schalte, G1obalization, in: John Baylis/Steve Smith (Hrsg.), The G1obalization of Wor1d Politics, S. 13 (16 f.), sowie David Held/Anthony McGrew/David Goldblatt/Jonathan Perraton, S. 16 ff., und David Held/Anthony McGrew, Introduction, in: dies. (Hrsg.), Global Transformations Reader, Kapitell. 3 Peter Pemthaler, FS Koja, S. 69 (70); Gordon Walker/Mark Fox, 3 IJGLS (1996), S. 375 (379, 382); Michael Reisman, 8 EJIL (1997), S. 409 (410); David Fidler, 5 IJGLS (1997), S. 11 (14); Ulrich Menzel, S. 258. 4 Für einen historischen Überblick und eine Analyse der Situation in der Gegenwart siehe lohn Thompson, in: David Held/Anthony McGrew (Hrsg.), Global Transformations Reader, S. 202 ff. Graphische Darstellungen zu Entwicklungen in einigen Bereichen wie z. B. der Zahl der Internet-Hosts in den OECD-Ländern und weltweit, dem Anteil internationaler Telefonate an den insgesamt in den G7-Staaten getätigten Gesprächen, aber auch z. B. dem Import von Büchern und Broschüren durch die G7-Staaten sind zu finden bei Gregor Walter/Sabine Dreher/Marianne Beisheim, Institut für Inter-

A. Erscheinungsformen und Kennzeichen von Globalisierung

21

druck einer neuen, postnationalen Kommunikation gewertet. 5 Die Zahl der Nutzer dieser Technologien unterscheidet sich zwar nach Ländern und Erdteilen, heute kann aber bereits fast jedes Land über Internet erreicht werden und auch in den ärmsten Ländern der Welt steigt die Zahl der an das Internet angeschlossenen Rechner und PCs ständig an. 6 Die neuen Medientechnologien beeinflussen und verändern zudem eine Vielzahl weiterer Bereiche wie z. B. die internationalen Finanzmärkte und die Wirtschaft. Entwicklungen auf den Märkten werden infolge der Vernetzung derselben sofort weltweit bekannt, so daß es allen am Marktgeschehen Beteiligten möglich ist, schnellstens darauf zu reagieren. Der Transfer von Kapital, der in früheren Zeiten einige Tage dauerte, vollzieht sich heute binnen weniger Minuten. Die Transaktionskosten für grenzüberschreitende Geschäfte werden durch das Internet gesenkt. 7 Diese Entwicklungen beeinflussen nicht nur die Märkte selbst, sondern auch das Verhalten der auf den Märkten agierenden Personen, so daß neben die Beschleunigung des Marktgeschehens auch eine qualitative Veränderung von Märkten und Marktteilnehmern tritt.8

2. Globalisierung der Wirtschaft Der Bereich der Wirtschaft- vor allem der internationale Warenverkehr und die internationalen Kapitalmärkte- ist wohl derjenige, der mit dem Stichwort Globalisierung am häufigsten assoziiert wird.9 So wird darauf verwiesen, daß im kulturelle und Internationale Studien der Universität Bremen, Arbeitspapier 4-5/97, S. I-III; Marianne Beisheim et al., S. 43 ff., und im Human Development Report 1999 des United Nations Development Programme (im folgenden: UNDP Human Development Report 1999), S. 28, 53. 5 Michael Züm, Regieren, S. 78 ff. 6 Eine Übersicht zur regionalen Verteilung der Internetnutzer ist zu finden im UNDP Human Development Report 1999, S. 63, 54 ff. 7 So wird es möglich, daß ein marokkanisches Unternehmen den Computersatz für 20% aller in Frankreich erscheinenden Bücher übernimmt, daß ein amerikanisches Unternehmen lausende von Arztrechnungen in einem kleinen irischen Dorf bearbeiten läßt oder daß die Lufthansa ihr Abrechnungszentrum für benutzte Flugscheine nach Indien verlegt - Beispiele von Christoph Engel, 39 BDGVR (2000), S. 353 (372). 8 lost Delbrück, 1 IJGLS (1993), S. 9 (17); Wolfgang Reinicke, S. 23 f. 9 Z. B. Peter Malanczuk, in: Friedl Weiss/Eric Denters/Paul de Waert (Hrsg.), International Economic Law With a Human Face, S. 45-65 (51 ); Alex Seita, 30 Cornell ILJ (1997), S. 429 (439); Miguel de Ia Madrid, 19 HouJIL (1997), S. 553-563 ; The Commission on Global Governance, S. 18, 135 ff.; Wolfgang Reinicke, S. II ff.; David Held/ Anthony McGrew/David Goldblatt/Jonathan Perraton, Kapitel 3-5; David Held/Anthony McGrew (Hrsg.), Global Transfonnations Reader, Kap. 4.

22

Teil l: Was bedeutet Globalisierung?

Gefolge der Revolution der Kornrnunikationstechnologien die grenzüberschreitenden Transaktionen dramatisch angestiegen sind und das Welthandelssystem der Gegenwart aus einem dichten Netz globaler Handelsbeziehungen besteht, das so gut wie alle Staaten der Welt urnfaßt und in dem sich für viele Güter und Dienstleistungen globale Märkte herausbilden. In diesem Zusammenhang wird u. a. angeführt, daß bereits Mitte der 70er Jahre die Exportrate in allen G7-Ländern einen höheren Stand erreicht hatte, als es in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg der Fall gewesen war. 10 Auch der Umfang der grenzüberschreitenden Kapitalbewegungen ist stark gestiegenu und je nach Standpunkt des Betrachters sind transnationale, sich wechselseitig beeinflussende Kapitalmärkte oder ein globaler Kapitalmarkt bereits Realität oder noch in der Herausbildung begriffen. 12 Der "Schwarze Mon10 Die Wirtschaftsdaten dieser Zeit ("belle epoque") werden deshalb zum Vergleich herangezogen, weil in der Zeit zwischen 1880 und 1913 der Außenhandel von Ländern wie Großbritannien, Frankreich und Deutschland einen Anteil am inländischen Sozialprodukt hatte, der erst zwischen 1970 und 1990 wieder erreicht wurde. So war in der Zeit zwischen 1870 und 1913 ein durchschnittliches Jahreswachstum des internationalen Handels um 3,4% zu verzeichnen gewesen, bis dessen Anteil am Welthandel im Jahr 1913 33 % ausmachte. Gleichzeitig galt in dieser Periode auch erstmals der Kapitalmarkt als wahrhaft global. Vgl. Gregor Walter/Sabine Dreher/Marianne Beisheim, Institut für Interkulturelle und Internationale Studien der Universität Bremen, Arbeitspapier 4-5/97, S. 12, und }an Schotte, Global Trade, in: John Baylis/Steve Smith (Hrsg), The Globalization of World Politics; Franz-Xaver Kaufmann, APuZ, B 18/98, S. 3 (8 f.); Aloys Prinz/Hanno Beck, APuZ, B 23/99, S. 11 (12). 11 Das Verhältnis der Finanztransaktionen zum Bruttoinlandsprodukt stieg weltweit von 15:1 (1971) auf30:1 (1980) und auf78:1 (1990); täglich werden brutto 1.400 Mrd. US$ transaktioniert, Jürgen Hoffmann, APuZ, B 23/99, S. 3 (6). Die Investitionsflüsse sind in der letzten Dekade weltweit von jährlich ca. 60 Billionen US$ auf ca. 300 Billionen US$ gestiegen: Jonathan Fried, 23 QLR (1997), S. 459 (266). Folgende Zahlen verdeutlichen die genannte Entwicklung weiter: In den Vereinigten Staaten ist die Zahl der im grenzüberschreitenden Verkehr ver- und angekauften Obligationen und Aktien von 9% des Bruttosozialproduktes im Jahr 1980 auf eine Höhe von 164% des Bruttosozialproduktes ( 1996) gestiegen. Der tägliche Devisenumschlag ist weltweit von 15 Billionen US$ im Jahr 1973 auf fast 1,2 Trillionen US$ im Jahr 1995 angewachsen. Der Marktanteil privater Investoren, der 1990 noch bei 50 Billionen US$ lag, betrug 1996 bereits 336 Billionen US$; Zahlen von Peter Malanczuk, in: Friedl Weiss/Eric Denters/Paul de Waert (Hrsg.), International Economic Law With a Human Face, S. 51 f., der auf den Economist 25.10.1997, S. 99, verweist. Zu weiteren Daten und Statistiken siehe Peter Dicken, S. 24 ff., und Marianne Reisheimet al., S. 264 ff., die die Daten zudem eingehend diskutieren. 12 Die Auffassungen hierzu wie zum Thema Globalisierung insgesamt gehen teilweise erheblich und in grundsätzlichen Punkten auseinander. David Held/Anthony McGrewl David Goldblatt/Jonathan Perraton haben die dazu vertretenen Standpunkte in die Gruppen der "hyperglobalists", der "sceptics" und der "transformationalists" eingeteilt, wobei die "hyperglobalists" und die "transformationalists" wiederum mit dem Oberbegriff "glob-

A. Erscheinungsformen und Kennzeichen von Globalisierung

23

tag" hat diese Vernetzung der Finanzmärkte bereits im Jahr 1987 in beeindruckender Weise illustriert, als ein Kurssturz an der New Yorker Börse binnen kurzer Zeit weltweite Auswirkungen hervorbrachte. 13 Als noch deutlicheres Zeichen werden die Entwicklungen im Bereich der Direktinvestitionen gewertet, wo nicht nur ein nahezu exponentieller Anstieg der absoluten Werte zu verzeichnen ist, 14 sondern auch das Verhältnis von Direktinvestitionen zu heimischen Anlageinvestitionen sich stark zugunsten des ausländischen Engagements verändert hat. 15 Dies ist aber nicht allein kennzeichnend für alists" bezeichnet werden können (vgl. David Held/Anthony McGrew, Introduction, in: dies. (Hrsg.), Global Transformations Reader, S. 4 ff.). Die einzelnen Gruppen interpretieren die als Globalisierung bezeichneten Entwicklungen sehr unterschiedlich und führen unterschiedliche Fakten zum Beweis ihrer Positionen und Thesen an. Die "sceptics" stellen die Organisation von Produktion und Handel in den Vordergrund (Betonung der Ortsgebundenheit von multinationalen Konzernen und der nur marginalen Änderungen im Verhältnis von Handel zum nationalen Bruttosozialprodukt im 20. Jahrhundert) und gehen davon aus, daß weiterhin nationale Interessen vorherrschend bleiben und die einzelnen Nationalgesellschaften ihre kulturelle Identität so wie früher bewahren werden. Die "globalists" dagegen betonen die Deregulierungstendenzen auf dem Finanzsektor und das explosionsartige Wachstum der Finanzmärkte in den letzten 25 Jahren. Sie sind der Ansicht, daß aufgrundder zunehmenden Bedeutung globaler Problemlagen zunehmend gemeinsame Interessen der internationalen Gesellschaft in den Vordergrund treten werden. Die "hyperglobalists" sehen dabei den modernen Nationalstaat im Untergang begriffen, eine Ansicht, die die "transformationalists" nicht teilen. Diese sehen vielmehr eine Transformation der Rolle des Staates und der Weltpolitik infolge der Globalisierung. Siehe dazu David Held/ Anthony McGrew/David Goldblatt/Jonathan Perraton, S. 4 ff.; David Held/Anthony McGrew, lntroduction, in: dies. (Hrsg.), Global Transformations Reader, S. 4 ff., 37 f. 13 Die Finanzkrise in Asien 1997/98 und der Börsensturz in Brasilien Anfang des Jahres 1999 zeigen entgegen der anfangliehen Erwartungen ebenfalls Auswirkungen auf die Wirtschaftsmärkte auf allen Kontinenten. Für eine Zusammenfassung der Entwicklungen in Asien siehe Mark Weisbrot, 31 Cornell ILJ ( 1998), S. 631 (645 ff.); Gunter Schubert, in: Rainer Tetzlaff (Hrsg.), Weltkulturen unter Globalisierungsdruck, S. 120 ff. Einen umfassenden Überblick über die Situation des globalen Kapitalmarktes bietet Saskia Sassen, Loosing Control?, S. 39 ff. Zur Verschuldung ökonomisch unterentwickelter Länder und daraus resultierenden Finanz- und Wirtschaftskrisen siehe lngomar Hauchler/Dirk Messner/Frank Nuscheler (Hrsg.), Globale Trends 2000, S. 237 ff. 14 Es war ein Anstieg der absoluten Zahlen von 68 Mrd. US$ im Jahre 1960 auf mehr als 211 Mrd. US$ im Jahr 1973 bis zur Summe von 2.730 Mrd. US$ im Jahre 1995 zu verzeichnen, vgl. Michael Züm, Regieren, S. 90 f. Eine nach Ländern geordnete Übersicht zu diesen Zahlen ist zu finden bei Peter Dicken, S. 42 ff., und die Entwicklung in bezug auf ausländische Direktinvestitionen zwischen 1986 und 1997 wird dargestellt bei lngomar Hauchler/Dirk Messner/Frank Nuscheler (Hrsg.), Globale Trends 2000, S. 207. 15 Im Durchschnitt hat sich seit den 80er Jahren das Verhältnis von Direktinvestitionen zu heimischen Anlageinverstitionen verdoppelt. Graphiken, die diese Veränderung deutlich machen, sind zu finden bei Michael Züm, Regieren, S. 91; Wolfgang Reinicke, S. 18 f.

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Teil 1: Was bedeutet G1obalisierung?

die Entwicklung der Kapitalströme. Gleichzeitig weist der Anstieg der Direktinverstitionen auf die seit den 60er Jahren stark gestiegene Zahl und Bedeutung multinationaler Unternehmen ("multinational corporations", MNCs) hin. 16 Diese haben sich zudem seit Mitte der 80er Jahre verstärkt zu strategischen Allianzen 17 zusammengeschlossen, was zur Folge hat, daß sie strategische und taktische Entscheidungen ohne Rücksicht auf die Staaten treffen können, in denen sie operieren, gegründet wurden oder aber ihren Hauptsitz haben.18 Da außerdem verstärkt arbeitsteilig produziert wird, findet man in vielen Bereichen transnationale Produktionsketten, bei denen die verschiedenen Fertigungsstufen eines Produktionsvorganges in unterschiedliche Länder verlegt werden. 19 Unter anderem aus diesem Grunde werden heute neue Regionen der Erde in den Handel mit einbezogen, die zuvor nahezu vollständig unbeachtet geblieben waren. Entwicklungsländer Asiens und Lateinamerikas sind ebenso am Welthandel beteiligt wie das zur Marktwirt-

16 V gl. den Anstieg von 3.500 im Jahr 1960 auf ca. 44.000 im Jahr 1997; Zahlen von Jan Schalte, Global Trade, in: John Baylis/Steve Smith (Hrsg.), The Globalization of World Politics, S. 429 (433); auch Peter Malanczuk, in: Friedl Weiss!Eric Denters/Paul de Waert (Hrsg.), International Economic Law With a Human Face, S. 45 (55). David Held/Anthony McGrew, Introduction, in: dies. (Hrsg.), Global Transformations Reader, S. 25, gehen sogar von 53.000 MNCs mit 450.000 Auslandsniederlassungen, einem Verkauf von Gütern und Dienstleistungen im Gesamtwert von US$ 9,5 Trillionen und einem Anteil am Welthandel von 70 % aus. Für eine statistische Darstellung der Entwicklung dieser strategischen Allianzen und eine Diskussion derselben siehe Marianne Reisheim et al., S. 316 ff. 17 Darunter ist jede Art der Kooperation zwischen unabhängigen Firmen zu verstehen. 18 Gregor Walter/Sabine Dreher/Marianne Beisheim, Institut für Interkulturelle und Internationale Studien der Universität Bremen, Arbeitspapier 4-5/97, S. 13, und Miguel de Ia Madrid, 19 HouJIL (1997), S. 553 (557); Franz Blankart, 7 SZIER (1997), S. 1 (7). 19 Report of the Secretary-General on the Work of the Organization 1998, Chapter IV, para. 147.; http://www.un.org/Docs/SG/Report98/ch4.htm (Stand: 29 .01.1999); Jonathan Fried, 23 QLR, S. 259 (261); Jan Schalte, Globalization, in: John Baylis/Steve Smith, The Globalization of World Politics, S. 13 (16); Jan Schalte, Global Trade, in: John Baylis/ Steve Smith (Hrsg.), The Globalization ofWorld Politics, S. 429 (435); The Commission on Global Governance, S. 26, 136: "In some industries- cars, electronics, information processing - production is so globalized that it is no Ionger possible to pinpoint or measure nationality in any meaningful way. The Ford Motor Company, to cite but one example, has evolved from a predominantly US company with some overseas subsidiaries serving local markets to an integrated operation around regional subsidiaries that in Europe serve the Single Market and that produce a , worlds car' through coordinated operations." Auch die Firma Siemens kann hier als Beispiel dienen. Sie beschäftigte 1996 379.000 Mitarbeiter/innen, von denen 176.000 in 300 Fertigungsstätten in über 50 verschiedenen Ländern arbeiteten.

A. Erscheinungsformen und Kennzeichen von Globalisierung

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schaft reformierte Rußland und die sich langsam öffnende chinesische Wirtschaft.20 Insbesondere von Globalisierungs-Skeptikern wird dennoch darauf hingewiesen, daß der weitaus größte Teil der Weltwirtschaft weiterhin zwischen Mitgliedsstaaten der OECD abgewickelt wird. 21 Die als wirtschaftliche Globalisierung bezeichneten Entwicklungen finden also tatsächlich nicht in allen Ländern und Regionen der Welt statt, sondern beschränken sich zum größten Teil auf die "sunny side" des Globus. 22 Die Entwicklungsländer bleiben in vielen Fällen außen vor. 23 Aus diesem Grunde wenden vor allem Globalisierungs-Skeptiker ein, daß im wirtschaftlichen Bereich Globalisierung bislang nur für eine Handvoll Staaten stattfinde und ein großer Teil der übrigen Länder marginalisiert werde. 24 Daß der 20 Peter Malanczuk, in: Friedl Weiss/Eric Denters/Paul de Waert (Hrsg.), International Economic Law With a Human Face, S. 45 (52), und auch Erich Gundlach/Peter Nunnenkamp, in: Hans-Bemd Schäfer (Hrsg.), Die Entwicklungsländer im Zeitalter der Globalisierung, S. 87 ff.; David Held/Anthony McGrew, Introduction, in: dies. (Hrsg.), Global Transformations Reader, S. 24; David Held!Anthony McGrew/David Goldblatt/Jonathan Perraton, S. 243 f. Der Anteil asiatischer Länder am Welthandel beispielsweise ist zwischen 1985 und 1996 um mehr als 25 % gestiegen und der Anteil der Entwicklungsländer an ausländischen Direktinvestitionen hat sich im seihen Zeitraum mehr als verdoppelt (von 6% im Jahr 1985 auf 14% im Jahr 1996); Patrick Low/Marcelo Olreaga/Javier Suarez, Staff Working Paper ERAD-98-08, S. 5, http://www.wto.org/wto/research/pera9808.doc (Stand: 25.04.1999). 21 Gregor Walter/Sabine Dreher/Marianne Beisheim, Institut für Interkulturelle und Internationale Studien der Universität Bremen, Arbeitspapier 4-5/97, S. 6, mit Verweis auf Paul Hirst/Grahame Thompson, S. 68/69; Jan Schalte, Global Trade, in: John Baylis/Steve Smith (Hrsg.), The Globalization ofWorld Politics, S. 429 (442 f). Michael Zürn, Regieren, S. 66, weist darauf hin, daß grenzüberschreitender Handel primär zwischen den 3 großen Handelsblöcken EU/EFTA, NAFTA und ASEAN stattfindet. Bei den Mitgliedern der EU beispielsweise liege der Anteil des Außenhandels, der die Grenzen des gemeinsamen Marktes nicht überschreite bei gut 60 % und danach rangiere der Handel zwischen den großen Wirtschaftsblöcken. Für den Rest der Welt blieben nur kleine Anteilshappen übrig. 22 lost Delbrück, I IJGLS ( 1993), S. II (17). 23 Der Anteil der OECD-Mitgliedstaaten am weltweiten Export von Fertigwaren lag 1990 bei 64 %. Dagegen entfielen im seihen Jahr auf die ärmsten Länder der Welt (102 Stück) nur 1,4 % der weltweiten Fertigwarenexporte. Zahlen von Roger Tooze, in: John Baylis/Steve Smith (Hrsg.), The Globalization of World Politics, S. 212 (223). Weitere Zahlen und Ausführungen dazu sind zu finden bei Jan Schotte, Global Trade, in: John Baylis/Steve Smith, The Globalization ofWorld Politics, S. 429 (447), und Michael Zürn, Regieren, S. 66, und Wolfgang Reinicke, S. 44 ff. 24 Mit diesem Problem setzen sich auch Patrick Low/Marcelo Olreaga/Javier Suarez, StaffWorking Paper ERAD-98-08, http://www. wto.org/wto/research/pera9808.doc (Stand:

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Teil 1: Was bedeutet Globalisierung?

geschilderte klare Unterschied im Entwicklungsstand der Länder Ostasiens, Westeuropas und Nordamerikas im Vergleich zu den Ländern insbesondere der südlichen Hälfte des Erdballs andauert und die Teilhabe an dem, was als ökonomische Globalisierung bezeichnet wird, weiterhin sehr ungleich verteilt bleibt, sehen auch die Befürworter der Globalisierung (die "globalists"). Sie betonen aber, daß infolge von Globalisierung auch die Potentiale weniger industrialisierter Länder und Regionen mittlerweile immer stärker in Anspruch genommen werden25 und der Anteil der Entwicklungsländer an (ausländischen) Direktinvestitionen sich von 1985 und 1996 mehr als verdoppelt hat. 26 Sicher ist, daß die angesprochenen wirtschaftlichen Entwicklungen zu einer Verschärfung des Wettbewerbes, der Arbeitsbedingungen und der Gewinnorientierung im Verhältnis hochentwickelter regionaler Wirtschaftsräume untereinander führen. Dieser Prozeß wird durch den technischen Fortschritt sowohl weiter beschleunigt als auch intensiviert. 27

3. Ökologische Globalisierung Von Globalisierung wird häufig auch in ökologischen Zusammenhängen gesprochen. Zum einen geht es dabei um Umweltprobleme, die mittlerweile ein solches Ausmaß angenommen haben, daß sie weltweite Schäden der natürlichen

25.04.1999), auseinander. Sie vertreten, daß die Marginalisierung der besagten Länder nicht durch die Globalisierung bedingt ist. Die behauptete Konzentration von Handels- und Investitionsflüssen auf eine kleine Zahl von Ländern sei faktisch nicht gegeben und die Marginalisierung der Entwicklungsländer weniger Folge der Globalisierung als vielmehr durch die jeweilige nationale Handelspolitik verursacht. Ähnlich auch Peter Nunnenkamp, Kiel Discussion Papers 328 (11/1998). 25 Dazu gehören vor allem die "Tiger-Staaten" Ostasiens und die ,,Jaguar-Staaten" Lateinamerikas (Chile, Mexiko). Mit ihrer Strategie des "export-led-growth", d. h. des Wachstums durch Produktion wettbewerbsfähiger Güter für den Weltmarkt, zogen erstere Staaten erhebliche Vorteile aus der globalen Ausrichtung ihrer Wirtschaft. Die Staaten Lateinamerikas, die marktwirtschaftliche Reformen durchgeführt und sich dem Weltmarkt geöffnet haben (vor allem Chile, Argentinien, Brasilien und Mexiko), können nach anfänglichen Anpassungsproblemen an den globalen Wettbewerb inzwischen Erfolge verbuchen. Zu aktuellen Daten bezüglich der Exportwirtschaft und dem Anteil am Welthandel siehe Press Release der WTO vom 16. April 1999, http://www.wto.org/wto/intltradlinternat.htm (Stand: 26.07.1999). 26 Er stieg von 6% auf 14 %; Patrick Low/Marcelo Olreaga/Javier Suarez, StaffWorking Paper ERAD-98-08, S. 5, http://www.wto.org/wto/research/pera9808.doc (Stand: 25.04.1999). Eine tabellarische Übersicht zu den Zahlen zwischen 1985 und 1997 ist zu finden im UNDP Human Development Report 1999, S. 49. 27 Peter Pemthaler, FS Koja, S. 69 (71).

A. Erscheinungsformen und Kennzeichen von Globalisierung

27

Lebensgrundlagen der Menschen bewirken. 28 Dazu zählen neben anderen die Zerstörung der Ozonschicht und die Erderwännung sowie der mögliche Klimawandel, die als globale Probleme ungefähr seit Beginn der 80er Jahre in das Bewußtsein der Menschen gerückt sind. Genannt werden weiter die Entwaldung, die Überfischung der Ozeane, das Aussterben vieler Pflanzen- und Tierarten (oder die Bedrohung dadurchf9 und die Gefährdung der Antarktis30• Zum anderen werden als ökologische Globalisierung solche Umweltprobleme bezeichnet, die infolge der Transnationalisierung von Produktion, Handel und Kommunikation eine globale Ausdehnung erfahren haben. Als Beispiel hierfür kann die Umweltverschmutzung durch den Export gefährlichen Abfalls insbesondere in Länder der dritten Welt genannt werden, die aus finanziellen Gründen der Abladung dieser Stoffe auf ihrem Territorium zustimmen. 31 Ökologische Globalisierung kann insofern sowohl ein selbständiges Globalisierungsphänomen sein als auch eine mehr oder weniger unselbständige Folge der wirtschaftlichen Globalisierung darstellen.

4. Politische und rechtliche Vernetzung der Welt Angesichts der Tatsache, daß die völkervertragsrechtliche Vemetzung der Staaten beständig zunimmt32 und internationale Organisationen einen immer größeren Zuständigkeitsbereich und mehr Einfluß auf die öffentliche Ordnung ihrer Mit28 Mohamed Mahmoud, 123 JDI (1996), S. 611 (624): "Le problerne des pollutions transfrontieres est a lui seul revelateur de rinterdependence ecologique qui se developpe par dela !es frontieres etatiques." Wolfgang Bonß, in: Rüdiger Voigt (Hrsg.), Globalisierung des Rechts, S. 39 (53 ff.); Miguel de Ia Madrid, 19 HouJIL (1997), S. 553 (560); Ulrich Beck, S. 76; Jan Schalte, Globalization, in: John Baylis/Steve Smith, The Globalization ofWorld Politics, S. 13 (16); lost Delbrück, in: U. Bartosch/J. Wagner (Hrsg.), Weltinnenpolitik, S. 55 (63); Maleolm Waters, S. 103 ff.; Martin Shapiro, 1 IJGLS (1993), S. 37 (51); sehr differenziert: David Held/Anthony McGrew/David Goldblatt/Jonathan Perraton, Kap. 8. 29 So ist nach Berichten der FAO in allen 17 großen Fischereigebieten der Erde heute die natürliche Grenze der Ausbeutung erreicht oder bereits überschritten. 1992 waren 69 % aller Fischbestände vollständig ausgefischt, überfischt, ausgerottet oder aber bereits zusammengebrochen und nun dabei, sich wieder zu erholen. Gregor Walter/Sabine Dreher/ Marianne Beisheim, Institut für Interkulturelle und Internationale Studien der Universität Bremen, Arbeitspapier 4-5/97, S. 15; Marianne Beisheim et al., S. 230 ff. 30 The Commission on Global Govemance, S. 29 f., 144. 31 Siehe dazu Steven Yearly, in: David Held/Anthony McGrew (Hrsg.), Global Transformations Reader, S. 374 (375 f.). 32 Bis zum 21. Januar 1999 waren bei dem Generalsekretariat der Vereinten Nationen 500 große multilaterale Verträge registriert; http://www.un.org.Depts/Treaty/overview.htm (Stand: 29.01.1999).

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Teil I: Was bedeutet Globalisierung?

gliedstaaten gewinnen, 33 wird auch von Globalisierung in politischer und rechtlicher Hinsicht gesprochen. 34 Neben wirtschaftlichen Aspekten wie dem Zwang, das eigene nationale Wirtschaftsrecht dem der anderen Staaten anzupassen, um Unterschiede im Wettbewerb auszugleichen, 35 werden dabei vor allem friedenserhaltende Maßnahmen, die Sicherung der Menschenrechte und der internationale Umweltschutz als Gegenstand der rechtlichen Globalisierung betrachtet. 36 In diesem Zusammenhang wird auch auf die Vielzahl nichtstaatlicher Organisationen hingewiesen, die sich u. a. dem Schutz der Menschenrechte und der Umwelt verschrieben und zu diesem Zweck -parallel zu den von Staaten initiierten Mechanismen zur Durchsetzung von Menschenrechten - ein grenzüberschreitendes Netzwerk lokaler und nationaler Gruppen aufgebaut haben. 37 Als Folge einer Globalisierung des Rechts 33 Die Bedeutung von UNO, OSZE und OAU im Bereich der Konfliktbewältigung hat stark zugenommen. Dies zeigt u. a. die Arbeit der UNO im Zusammenhang mit dem noch immer anhaltenden Irakkonflikt und auch ihre Tätigkeit im Rahmen der Israelproblematik. Die OECD hat seit den 60er Jahren einflußreiche Richtlinien in den verschiedensten Bereichen (u. a. neue Informationstechnologien, das Schaffen von Arbeitsplätzen, einen "code of conduct" für multinationale Konzerne, vg!. OECD Dec!aration on International Investment and Multinational Enterprises, June 21, 1976, OECD Press Release A (76) 20) erlassen. Der IMF und die World Bank haben ihre Arbeit seit 1979 erheblich ausgeweitet und weitreichende Stabilisierungsprogramme und strukturelle Anpassungen in über 100 Ländern ermöglicht. Schließlich hat auch die WTO eine noch stärkere Postion und mehr Einflußmöglichkeiten als ihr Vorläufer, das GATT; vgl. dazu Jan Schalte, Globalization, in: John Baylis/Steve Smith (Hrsg.), The Globalization ofWorld Politics, S. 13 (16). 34 Wolfgang Bonß, in: Rüdiger Voigt (Hrsg.), Globalisierung des Rechts, S. 39 (47 ff.); David Held!Anthony McGrew!David Goldblatt/Jonathan Perraton, Kap. l; Peter Pernthaler, FS Koja, S. 69 (73); Jan Schalte, G!obalization, in: John Baylis/Steve Smith (Hrsg.), The G!obalization ofWorld Politics, S. 13 ( 16); Vent Narada, in: Nandasin Yasentuliyana (Hrsg.), Perspectives on International Law, S. 83 (89 ff.); lost Delbrück, in: U. Bartosch/J. Wagner (Hrsg.), S. 55 (63) (zu Menschenrechten). Marianne Beisheim et al., S. 388 ff., verfolgen das Ziel, politische Globalisierung empirisch nachzuweisen, und haben dazu die territoriale und personale Reichweite politischer Institutionen unter verschiedenen Aspekten untersucht. 35 Gordon Walker/Mark Fox, 3 IJGLS (1996), S. 409 ff. 36 Chris Brown, in: John Baylis/Steve Smith, The Globalization of World Politics, S. 469 (470); Miguel de Ia Madrid, 19 HouJIL (1997), S . 553 (558); lost Delbrück, in: U. Bartosch/J. Wagner (Hrsg.), Weltinnenpolitik, S. 55 (63); lohn Baylis/Steve Smith, lntroduction to World Politics, in: dies., The Globalization of World Politics, S. 14. 37 Z. B. arnnesty international, die Internationale Juristenkommission, die Internationale Liga für Menschenrechte, Human Rights Watch u. a. m. Eine Auflistung der NGOs mit Konsultativstatus beim Wirtschafts- und Sozialrat der Vereinten Nationen ist zu finden unter http://www.unog.ch./ess_mission_services_opzuvbtrsvq/ngo/ngosearch.asp (Stand: 29.01.1999).

A. Erscheinungsformen und Kennzeichen von Globalisierung

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wird auch der Fall des chilenischen Ex-Diktators Pinochet genannt, der sich in England seiner Auslieferung an Spanien erwehren mußte, da die spanische Regierung ihn wegen seiner Verbrechen gegen die Menschenrechte belangen wollte. Darüber hinaus wird im Zusammenhang mit Globalisierung die Rechtsetzung durch Organe und Sonderorganisationen der Vereinten Nationen angesprochen38 und auf die zunehmnde Bedeutung internationaler privater (Handels-)Schiedsgerichte39 verwiesen, deren Zuständigkeit durch Schiedsklauseln begründet wird und die Streitigkeiten aus Geschäftsbeziehungen zwischen Partnern in unterschiedlichen Ländern schlichten.40 Als rechtliche Globalisierung werden schließlich auch die Wahlbeobachtung durch internationale Organisationen zum Zwecke der Sicherstellung eines demokratischen Abstimmungsprozesses41 und die Tatsache genannt, daß im Jahre 1995 bereits 61 %aller Staaten42 demokratisch gewählte Regierungen besessen haben. 43 Alle diese Entwicklungen werden als Zeichen Stephan Hobe, Der offene Verfassungsstaat, S. 294 ff. Z. B. das Schiedsgericht der International Chamber of Commerce and Arbitration Association, die American Arbitration Associaiion, der London Court of International Commercial Arbitration oder der Court of Arbitration for Sports. 40 Rüdiger Voigt, APuZ, B 29-30/98, S. 3 (7); Martin Shapiro, 1 IJGLS (1993), S. 37 (38); Daniel Girsberger, 39 BDGVR (2000), S. 231 (234 ff.); Saskia Sassen, Loosing Control?, S. 14. 41 The Commission on Global Governance, S. 58 f.; Miguel de La Madrid, 19 HouJIL (1997), s. 553 (558). Beispielsweise überwachte UNTAG - neben den traditionellen "peacekeeping Operations"- alle Aspekte des politischen Prozesses, der 1989 zu den Wahlen in Namibia führte; ONUSAL in El Salvador hatte die Aufgabe, die Ausführung aller ausgehandelten Abkommen sicherzustellen, darunter nicht nur ein Waffenstillstand sowie die Reform und eine Reduzierung der bewaffneten Truppen, sondern darüber hinaus eine Reform des Rechtssystems und des Wahlrechts, die Wahrung der Menschenrechte und weitere wirtschaftliche und soziale Fragen. Vgl. dazu Vent Narada, in: Nandasin Jasentuliyana (Hrsg.), Perspectives on International Law, S. 83 (89). Die Beobachtung von Wahlen in den OSZE-Staaten ist einer der wesentlichen Tätigkeitsbereiche des Büros für Demokratische Institutionen und Menschenrechte der OSZE. Dieses hat u. a. die Kommunal- und die Präsidentschaftswahlen in Bosnien-Herzegowina von September bis November 1997 (Mandat erteilt durch den Friedensvertrag von Dayton am 14.12. 1995) und die Kommunalwahlen im ehemaligen Jugoslawien im Oktober 2000 beobachtet. 42 117 der zu dem Zeitpunkt 191 Staaten der Erde. 43 Und die Wahlentrotz unterschiedlicher Standards im wesentlichen frei und fair gewesen seien, vgl. Alex Seita, 30 Cornell lU (1997), S. 429 (441 , 447 Fn. 59), der verweist auf Adrian Karatnycjy, The Comparative Survey of Freedom 1995-96: Democracy and Despotism: Bipolarism renewed?, in: Roger Kaplan (Hrsg.), Freedom in the world: The Annual Survey ofPolitical Rights and Civil Liberties 1995-96 at 3, 4-5. Je nachdem was man für Anforderungen stellt, kann diese Zahl höher oder niedriger ausfallen, vgl. bei38 39

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Teil 1: Was bedeutet Globalisierung?

rechtlicher und politischer Globalisierung bzw. der Herausbildung neuer internationaler "Rechtssysteme" interpretiert. Auch hier weisen aber GlobalisierungsSkeptiker darauf hin, daß die politischen und rechtlichen "Globalisierungs"-Prozesse nicht in gleichem Maße von der Masse unterstützt und getragen würden wie beispielsweise die Entwicklungen im Bereich der Wirtschaft. Grund dafür sei, daß sich die Beförderung dieser Entwicklungen nicht in gleicher Weise wie in der Wirtschaft unmittelbar materiell rentiere. 44

5. Sicherheit Unter dem Stichwort "Sicherheit und Globalisierung" werden hauptsächlich zwei Themen diskutiert, zum einen die Bedrohung durch Massenvernichtungswaffen wie die Atombombe, zum zweiten die Problematik der internationalen organisierten Kriminalität. 45 Im Zusammenhang mit der Atomwaffenproblematik wird zum einen auf die von Staatsgrenzen unabhängige Wirkung dieser Art von Waffen verwiesen, deren Anwendung eine Staatsgrenzen überschreitende Katastrophe für die Staaten der betroffenen Region bedeuten würde. Hinzu kommt, daß aufgrund interkontinentaler Trägersysteme heute ein weltweiter Einsatz dieser Massenvernichtungswaffen möglich ist, so daß sie eine potentielle Bedrohung für die gesamte Menschheit darstellen. Spätestens seit der Entwicklung der Atomwaffen können die Weltsicherheit wie die äußere Sicherheit eines jeden einzelnen Staates nicht mehr allein durch eine starke Polizei und ein starkes Militär gewahrt werden. Zur Bewältigung dieses Problems bedarf es vielmehr eines gemeinsamen Handeins der Staaten, z. B. durch eine Kontrolle der Bestände an Atomwaffen und anderen Massenvernichtungsmitteln.46 Unter dem Gesichtspunkt, daß heute auch die nationale spielsweise David Held/Anthony McGrew/David Goldblatt/Jonathan Perraton, S. 46 f., nach denen 1995 (teil-)demokratische Länder 73,8 % aller Staaten weltweit ausmachten. Für einige Wissenschaftler steht politische Globalisierung schlicht für globale Demokratisierung, vgl. dazu Yu Keping, in: Rainer Tetzlaff (Hrsg.), Weltkulturen unter Globalisierungsdruck, S. 151 (163 ff.) m. w. N. 44 Alex Seita, 30 Comell lU (1997), S. 429 (448). 45 lost Delbrück, in: 1 IJGLS (1993), S. 9 (14); Michael Stürmer, APuZ, B 15-16/93, S. 3 (7), Ulrich Beck, S. 77 f.; Gordon Walker/Mark Fox, 3 IJGLS (1996), S. 375 (379); The Commission on Global Govemance, S. 11 ff., 114 f.; Jaqueline Carberry, 6 IJGLS (1999), S. 685 ff.; David Nelken, in: Eugene Davis/Roberta Kevelson/Jan van Dunne (Hrsg.), Consequences of Modemty, S. 123 ff. 46 lost Delbrück, in: U. Bartosch/J. Wagner (Hrsg.), Weltinnenpolitik, S. 55 (63); Michael Züm, 20 Leviathan ( 1992), S. 490 (497); Phillip Cemy, in: Aseern Prakash/Phillip

A. Erscheinungsformen und Kennzeichen von Globalisierung

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Sicherheit zu einer multilateralen Angelegenheit geworden ist, wird auch die internationale organisierte Kriminalität als Erscheinungsform der Globalisierung bezeichnet. Das organisierte Verbrechen sei in einem solchen Maße internationalisiert, daß die sog. innere Sicherheit heute zu einem beträchtlichen Teil in der Hand krimineller Akteure liege, die sich der nationalstaatliehen Gewalt weitestgehend entzögen. 47 Die organisierte Kriminalität galt unter Experten schon Mitte der 90er Jahre als der weltweit am schnellsten expandierende Wirtschaftszweig, der bereits jährliche Gewinne von 500 Milliarden Dollar einfuhr. 48 Besondere Bedeutung nehmen dabei die Drogenkriminalität und der Handel mit Waffen ein, aber auch der internationale Terrorismus, das Problem der internationalen Geldwäsche und die verschiedenen Mafien sind zu nennen. 49 Dazu wird auch die Geburt der ersten "Ciberguerilla", der Zapatistenbewegung in Mexiko, gezählt, deren Erfolg weniger auf ihre reale militärische Schlagkraft als auf ihre internationale Präsenz in den neuen wie den alten Medien zurückzuführen ist und die sich den Eintritt Mexikos in die NAFTA zunutze machte. Ohne Globalisierung in ihrer wirtschaftlichen, kulturellen und kommunikationstechnischen Dimension hätte sie sich nie konstituieren können. 50

6. Soziale Globalisierung

Der Begriff der "sozialen Globalisierung" wird im Rahmen dieser Arbeit als Sammelbegriff für unterschiedlichste weitere Entwicklungen verwendet, die ebenfalls mit dem Globalisierungsphänomen in Verbindung gebracht werden. Auch die folgende Aufzählung erhebt dabei in keiner Weise einen Anspruch auf Vollständigkeit. So werden einerseits beispielsweise die Armut und Unterentwicklung in weiten Teilen der Welt und das damit zusammenhängende Auftreten großer MigrationsHart (Hrsg.), Globalization and Govemance, S. 188 (192); David Held/Anthony McGrew/ David Goldblatt/Jonathan Perraton, Kap. 2. 47 Michael Züm, 20 Leviathan (1992), S. 490 (497); ähnlich auch David Nelken, in: Eugene Davis/Roberta Kevelson!Jan van Dunne (Hrsg.), Consequences of Modemty, s. 127. 48 Hans-Peter Martin/Harald Schumann, S. 287. 49 Peter Malanczuk, in: Friedl Weiss/Eric Denters!Paul de Waert (Hrsg.), International Economic Law With a Human Face, S. 45 (47); The Commission on Global Govemance, S. 14 f., 138. Nach dem UNDP Human Development Report 1999, S. 5, betrug der Wert der illegal gehandelten Drogen 1995 bereits US$ 400 Billionen, d. h. ca. 8 % des Welthandels. 50 So Detlef No/te, in: Rainer Tetzlaff (Hrsg.), Weltkulturen unter Globalisierungsdruck, s. 296 (298).

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Teil 1: Was bedeutet G1obalisierung?

ströme51 als ein globales Problem oder als ein Problem der Globalisierung gesehen, das, wenn vielleicht nicht unbedingt durch die Globalisierung hervorgerufen, jedoch sicher durch sie befördert wird. 52 Wie weit die Verhältnisse in den Entwicklungsländern und den reichsten Staaten der Erde noch auseinanderklaffen wird deutlich, wenn man den prozentualen Anteil beider Seiten am Weileinkommen vergleicht. 1990 entfielen auf die reichsten 20% aller Staaten der Welt insgesamt 82,2% des Weltbruttosozialprodukts. Der Anteil der ärmsten 20% der Staaten lag dagegen bei nur 1,3 %. Dies bedeutet ein zahlenmäßiges Verhältnis von 64:1.53 Welche Rolle Globalisierung für diese Verhältnisse spielt, wird höchst unterschiedlich beurteilt.54 Auf der anderen Seite wird die verstärkte Mobilität der Menschen in den entwickelten Ländern dem Globalisierungsprozeß zugeordnet. 55 Der internationale Tourismus hat seit den 50er Jahren beständig zugenommen, so daß immer mehr Menschen für einen Zeitraum kürzerer Dauer die Grenzen des Nationalstaates, in dem sie leben, überqueren, um sich in einem fremden Land aufzuhalten.56 Auch 51 David Held/Anthony McGrew/David Goldblatt/Jonathan Perraton, Kap. 6; Gordon Walker/Mark Fox, in: 3 IJGLS (1996), S. 375 (379); The Cornmission on Global Governance, S. 188 ff.; lost Delbrück, 11JGLS (1993), S. 9 (14 f.), und Saskia Sassen, Loosing Control?, insbes. S. 59 ff.; Manfred Wöhlke, in: Rainer Tetzlaff (Hrsg.), Weltkulturen unter Globalisierungsdruck, S. 66 (78 ff.); Wolfgang Reinicke, S. 135 ff. 52 So weist beispielsweise Carotine Thomas, in: John Baylis/Steve Smith (Hrsg.), The Globalization of World Politics, S. 449-467, darauf hin, daß Globalisierung gleichzeitig zum Anstieg der Nahrungsmittelproduktion wie auch zu dem Anstieg der Hungersnot führen kann. So produziere z. B. der "Süden" (i. e. die Entwicklungsländer) 40 % der Nahrungsmittel für den gesamten Globus und trotzdem lebe der Großteil der unter Hunger leidenden Menschen in eben diesen Ländern. Der Hunger in den Entwicklungsländern werde aus dem Grunde nicht verringert, daß an die Stelle einer ausreichenden Selbstversorgung die Produktion von "cash-crops" für die Agarwirtschaft getreten ist, die heute eine bedeutende Kraft in der Weltpolitik darstellt. Mit den Gründen und Theorien zur internationalen Migration beschäftigen sich Phiflip Hart, 2 IJGLS (1994), http://www .law .indiana.edu/ glsj/vol2/hart.htrnl (Stand: 24.07.1999), und (eingehender) Saskia Sassen, Loosing Control?, S. 59 ff.; Douglas Massey et al., passim. 53 Zahlen von Carotine Thomas, in: John Baylis/Steve Smith (Hrsg.), The Globalization of World Politics, S. 449 (456). Nach dem UNDP-Jahresbericht des Jahres 1994/95 wickelte das reichste Fünftel der Erdbevölkerung in dem untersuchten Zeitraum 84,2 % des Welthandels ab, produzierte 84,7 % des Weltbruttosozialprodukts und verfügte über 85,5 % aller In1andssparguthaben. 54 David Hetd/Anthony McGrew (Hrsg.), Global Transformations Reader, S. 27 ff. und Kap. 5. 55 Michael Züm, Regieren, S. 82 ff. 56 Zahlen, die dies verdeutlichen, sind zu finden bei Gregor Watter/Sabine Dreher/ Marianne Beisheim, Institut für Interkulturelle und Internationale Studien der Universität Bremen, Arbeitspapier 4-5/97, S. 16, und lngomar Hauchter/Dirk Messner/Frank Nuscheter (Hrsg.), Globale Trends 2000, S. 344 ff.: Im Jahr 1950 wurden weltweit ca. 25 Millio-

A. Erscheinungsformen und Kennzeichen von Globalisierung

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die Zahl der ausländischen Studierenden sowie der Asylsuchenden, sog. temporärer Emigranten, ist stetig gestiegen und der relative Anteil von ausländischen Arbeitern und Einwanderern liegt derzeit in den meisten G7-Staaten bei 7% oder höher. 57 Auch die Verbreitung traditioneller und neuerer Infektionskrankheiten wie beispielsweise der Immunschwächekrankheit AIDS wird als Globalisierung bezeichnet. Für diese Entwicklung ist insbesondere die verstärkte Mobilität der Menschen von Bedeutung, die die Ausbreitung solcher Krankheiten in hohem Maße vereinfacht und beschleunigt, so daß die von ihnen ausgehende Gefahr eine potentiell weltweite Bedrohung darstellt. 58 Die AIDS-Epidemie beispielsweise ist nach Einschätzung von Experten gegenwärtig außer Kontrolle. Allein im Jahr 1998 stieg die Zahl der weltweiten Neuinfektionen um 10 %, d. h. 5,8 Millionen Menschen erkrankten an dem HIV. 59 Schließlich soll der Aspekt genannt werden, der als kulturelle Globalisierung bezeichnet wird. 60 Im Gefolge der Globalisierungserscheinungen in der Wirtschaft findet eine weltweite Verbreitung von Kulturgütern, insbesondere amerikanischer nen international Reisender gezählt. Dagegen lag die Zahl 1998 bereits bei 625 Millionen Touristen. Die Steigerungsrate in diesem Bereich ist besonders hoch in Deutschland, wo seit Ende der 60er Jahre mehr Reisen in das Ausland getan wurden als im eigenen Land. Zu statistischen Daten zur Entwicklung weiterer Indikatoren für gestiegene Mobilität und einer Diskussion derselben siehe Marianne Reisheim et al., S. 137 ff. ; außerdem auch David Held/Anthony McGrew/David Goldblatt/Jonathan Perraton, S. 360 ff. 57 In Deutschland betrug er 1994 bereits 12 %. 1960 war es erst 1 % gewesen, so daß ein überaus starker Anstieg zu verzeichnen ist. Michael Zürn, Institut für Interkulturelle und Internationale Studien der Universität Bremen, Arbeitsrapier 5/97, S. 29. Zu weiteren Daten siehe Marianne Reisheimet al., S. 119 ff. 58 The Corninissionon Global Governance, S. 11; David Fidler, 14 AUILR (1999), S. I ff.; ders., 5 IJGLS (1997), S. 11 (12): "Most public health experts agree that the distinction between national and international public health is no Ionger relevant because globalization has enabled pathogenic microbes to spread illness and death globally, with unprecedented speed." Die WHO hat in ihrem World Health Report 1996, "Fighting Disease, Fastering Development", S. 1; die Infektionskrankheiten als "global crisis" bezeichnet, die einen "coordinated international approach" erfordere, und der WHO-Generaldirektor wird mit der Aussage zitiert, daß "a global crisis of reemerging and new communicable diseases looms over humanity", David Fidler, 5 IJGLS 1997, S. 11 (17); Michael Reisman, 8 EJIL (1997), S. 409 (409). 59 UNAIDS (Joint UN Program on HIV and Aids), Press Release World Aids Day Report 1998, http:/1158.232.21.5/wsite/OO_core_frame.htrnl (Stand: 25.07.1999). Weitere Daten sind erhältlich über die UNAIDS-Website http://www.unaids.org (Stand: 25.07.1999). 60 Vgl. dazu die differenzierte Untersuchung bei David Held/Anthony McGrew/David Goldblatt/Jonathan Perraton, Kap. 7. 3 Hingst

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Teil 1: Was bedeutet Globalisierung?

Herkunft, statt. 61 Musik, Theater, Bücher, Filme, Videos und Fernsehen in fast allen Staaten der Welt stammen heute zu einem großen Teil aus den Vereinigten Staaten oder sind zumindest stark amerikanisch beeinflußt.62 Auch diese Entwicklungen werden von Globalisierungs-Skeptikern und deren Befürwortern sehr unterschiedlich beurteilt.63 Eine pessimistische Sichtweise befürchtet, daß dadurch eine globale kulturelle Einheitsmasse entstehen könnte, in der die Vielfalt und die Besonderheiten der unterschiedlichen Kulturen verloren gehen oder bereits verloren gegangen sind. 64 Andere dagegen betrachten kulturelle Globalisierung als einen komplexen Vorgang, in dessen Rahmen einerseits neue kulturelle Verbindungen und hybride Kulturen entstehen und andererseits neue Formen von kulturellem Partikularismus hervorgerufen werden. Die genannten Entwicklungen bedeuten nach Ansicht dieser Vertreter eine Herausforderung für die Globalisierung, sich auf die einzelnen Kulturen einzustellen, weil in vielen Bereichen wie z. B. der Wirtschaft die Globalisierungsprozesse nur auf diese Weise erfolgreich sein könnten. 65 61 Der durchschnittliche Wert der importierten Bücher und Broschüren, Zeitschriften und Periodika hat sich in den G7-Staaten zwischen 1980 und 1993 absolut gesehen mehr als verdoppelt. Im Tonträgerbereich lagen die Wachstumsraten sogar noch höher und der Anteil ausländischer (größtenteils Hollywood-)Filmproduktionen liegt mit Werten zwischen 60 und 95 % so hoch, daß kaum noch eine Steigerung möglich scheint; vgl. dazu Michael Züm, Regieren, S. 80. 62 Siehe dazu David Held/Anthony McGrew/David Goldblatt/Jonathan Perraton, S. 356 ff. In Deutschland waren im Jahr 1995 die 21 meist gesehenen Kinofilme und die 9 meist verliehenen Videofilme allesamt amerikanische Produktionen, vgl. Edward Hennanl Robert McChesney, in: David Held/Anthony McGrew (Hrsg.), Global Transformations Reader, S. 216 (216). 63 David Held/Anthony McGrew, Introduction, in: dies. (Hrsg.), Global Transformations Reader, S. 13 ff.; Kevin Robins, in: David Held/Anthony McGrew (Hrsg.), Global Transformations Reader, S. 195 ff.; David Held/Anthony McGrew (Hrsg.), Global Transformations Reader, Kap. 3. 64 Benjamin Barber, I IJGLS (1993), S. 119 (130); Phillip Trimble, 19 MichLR (1997), S. 1944 (1947); Michael Züm, 20 Leviathan (1992), S. 490 (496); Rüdiger Voigt, APuZ, B 29-30/98, S. 3 (7 f.). 65 Vgl. den Überblick bei Wolfgang Bonß, in: Rüdiger Voigt (Hrsg.), Globalisierung des Rechts, S. 39 (56 ff.); außerdem Arjun Appadurai, in: David Held/Anthony McGrew (Hrsg.), Global Transformations Reader, S. 230 ff.; Jan Schotte, G1obalization, in: John Baylis/Steve Smith (Hrsg.), The Globalization ofWorld Politics, S. 13 (18), sowie Global Trade, in: John Baylis/Steve Smith (Hrsg.), The Globalization of World Politics, S. 429 (444 f.) m. w. N., der als Beispiel anführt, daß lokale Besonderheiten häufig bestimmen, wie die Vermarktung und der Verkauf eines globalen Produktes in einem Land erfolgen. Darin zeige sich, daß Unterschiede in Charakter und Kultur durch den globalen Wettbewerb nicht gefährdet seien, sondern vielmehr wesentlich für Erfolg in demselben seien; Ulrich Beck, S. 85 ff., vertritt, daß es bei Globalisierung immer auch um Lokalisierung

A. Erscheinungsformen und Kennzeichen von Globalisierung

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7. Zusammenfassung Der Überblick zeigt, daß die Palette der als Globalisierung bezeichneten oder mit dieser in Verbindung gebrachten Entwicklungen äußerst breit gefächert ist. Eine Umkehr der genannten Tendenzen kann in den meisten Bereichen heute insbesondere aufgrund der weit fortgeschrittenen Informationstechnologien und der Revolution auf dem Kommunikationssektor wohl ausgeschlossen werden. Die Staaten sind daher gezwungen, sich mit allen dargestellten Entwicklungen auseinanderzusetzen und sich auf diese einzustellen, wollen sie nicht in der "Globalisierungsfalle"66 gefangen werden.

II. Gemeinsame Kennzeichen der "Globalisierungs"-Phänomene Im folgenden sollen die wesentlichen gemeinsamen Kennzeichen der in der Literatur als Globalisierung bezeichneten Entwicklungen untersucht werden. Die dabei gewonnenen Ergebnisse werden später im Rahmen der Bestimmung einer Arbeitsdefinition von Globalisierung67 noch einmal aufzugreifen sein.

1. Aufhebung der Kongruenz von Nationalstaat und Gesellschaft: Gesellschaftliche Denationalisierung Als eine erste Gemeinsamkeit der "Globalisierungs"-Prozesse ist deren Auswirkung auf die Bedeutung der geographischen Grenzen der Nationalstaaten zu nennen. Befördert durch die Revolution auf dem Kommunikationssektor sind die Gesellschaften in den Staaten heute weltumspannend vernetzt, so daß Ereignisse gehe und daß das Lokale dabei immer mehr neu betont werde. Er sieht die Globalisierung als einen dialektischen Prozeß, in dem gleichzeitig Entgegengesetztes möglich und wirklich wird. Dabei verweist er auf Coca-Cola und den Sony-Konzem, die ihre Strategie als .,globale Lokalisierung" beschrieben, was bedeuten solle, daß es ihnen darum geht, Teil der jeweiligen Kultur zu werden. In diesem Sinne führen auch Edward Hennan/Robert McChesney, in: David Held/Anthony McGrew (Hrsg.), Global Transformations Reader, S. 216 (217), die Beispiele Walt Disney und den Musiksender MTV an. MTV ist dazu übergegangen, seine Sendungen entsprechend dem Ausstrahlungsort zu differenzieren und auch lokale Musik zu senden. Ein leitender Angestellter des Disney-Konzems wird mit den Worten zitiert: .,For a11 children, the Disney Charaktersare local characters and this is very important. They always speak the locallanguages. The Disney strategy is to ,think global, act local'". 66 Siehe Hans-Peter Martin/Harald Schumann. 67 Teill, B.

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Teil 1: Was bedeutet Globalisierung?

und Probleme in weit entfernten Teilen der Welt das Bewußtsein der Menschen prägen und Einfluß auf deren Verhalten und die Entwicklungen in deren Heimatstaat gewinnen. Ebenso sind Kapital- und Wirtschaftsmärkte bereits staatsübergreifend quervernetzt, was durch das WTO-Abkommen, das insbesondere die weitere Öffnung der Märkte zum Ziel hat, noch befördert wird. Menschenrechtsschutzinstrumente zielen ihrem Zweck nach auf eine Permeabilisierung staatlicher Grenzen ab, was am deutlichsten wird im Falle fundamentaler Verletzungen von Menschenrechten, die nach jüngerer Praxis des Sicherheitsrates nicht mehr als Angelegenheiten des staatlichen Schutzraumes betrachtet werden.68 Umweltprobleme sind von Staatsgrenzen ebenso unabhängig wie die atomare Bedrohung, die alle Staaten der Welt betrifft, und auch die Kriminalität ist heute vielfach international organisiert, wodurch Regelungsnotwendigkeiten jenseits einzelstaatlicher und teilweise sogar auch staatenkooperativer Regelungsmöglichkeiten entstehen. 69 Schließlich zeigt sich auch in dem Sammelbereich, der zuvor als soziale Globalisierung bezeichnet worden ist, daß heute in jeder Hinsicht grenzüberschreitende, von territorialen Ordnungsräumen und -instrumenten losgelöste Aktivitäten, Gefahren und Entwicklungen zu finden sind.70 Aufgrund dieser Entwicklungen werden die Grenzen des Nationalstaats heute zunehmend porös und büßen an Bedeutung ein. 71 Territorialität als Ordnungsprinzip wird aufgeweicht. 72 In der Folge kommt es zu einer Relativierung des Territoriums als Bezugsraum. Dieses büßt seine gebietsabschließende Funktion weitestgehend ein und hat infolgedessen nicht mehr die Bedeutung, die ihm im klassischen Territorialstaat noch zukam, dessen Macht zu einem großen Teil in der Bindung an einen bestimmten Ort (sein Staatsgebiet) gründe-

68 Zu dieser Praxis des Sicherheitsrates siehe Heike Gading, S. 91 ff.; Klaus Dicke, in: Jost Delbrück (Hrsg.), New Trends, S. 145 (150 ff.). 69 Edgar Grande, der zwischen 5 Dimensionen moderner Staatlichkeit differenziert, bezeichnet die Abnahme der Deckungsgleichheit von Aufgaben- und Zuständigkeitsbereich des Staates als .,Wandel der territorialen Dimension" moderner StaatlichkeiL Edgar Grande, in: ders./Rainer Prätorius (Hrsg.), Modernisierung des Staates?, S. 45 (52). 70 Durch Migration beispielsweise bilden sich transnationale Gemeinschaften in nicht territorial, sondern ethnisch und/oder ethnisch abgegrenzten Räumen, Lothar Brock/ Mathias Albert, 2 ZIB (1995), S. 259 (269). Christoph Engel, 39 BDGVR (2000), S. 353 (392), spricht in ähnlichem Zusammenhang von einer Lockerung zwischen Kulturraum und Nationalstaat. 71 So auch The Commission on Global Governance, S. 11, 70; Gordon Walker/Mark Fox, 5 IJGLS (1997), S. 11 (14); Wolfgang Reinicke, S. 64: "territoriality, ( . .. ) becomes unbundled". 72 So zutreffend Lothar Brock/Mathias Albert, 2 ZIB (1995), S. 259 (267).

A. Erscheinungsformen und Kennzeichen von Globalisierung

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te. 73 Zwar sind Staatsgrenzen und Geographie noch keinesfalls vollkommen ohne Belang, die Bedeutungsabnahme dieser Faktoren in den genannten Bereichen ist jedoch unbestreitbar.74 Die zunehmende Vernetzung bewirkt daneben ejn Schwinden der integrativen Funktion des geographischen Raumes für die staatliche Bevölkerung, die zunehmend das Bewußtsein entwickelt, daß geographische Grenzen heute in vielen Bereichen ihre ursprüngliche Bedeutung verlieren. 75 Durch das Entstehen einer "global public sphere"76 nimmt zudem die integrative Kraft des Staates selbst ab. 77 Dies wird zudem dadurch befördert, daß immer häufiger politische Entscheidungen auf internationalen Ebenen gefällt werden, zu denen der einzelne nicht mehr in einer identitätsstiftenden Verbindung wie der des Volkes oder der Nation stehen. Da die Aufgabe der Um- und Durchsetzung in der Regel weiterhin beim Staat verbleibt, kommt es zu einem Auseinanderfallen von politischem Entscheidungszentrum und umsetzender Hoheitsgewalt. 78 Die Gesamt73 Ulrich Beck S. 18; (ähnlich) Jan Schotte, G1obalization, in: John Baylis/Steve Smith (Hrsg), The Globalization of World Politics, S. 13 (21); Anthony McGrew, in: Klaus Armingeon (Hrsg.), Der Nationalstaat am Ende des 20. Jahrhunderts, S. 69 (84). 74 Für eine ausführliche Darstellung zur Wandlung des Konzepts des Territoriums durch Entwicklungen im Bereich der Friedenssicherung, des Menschenrechtsschutzes, der institutionalisierten Selbstverteidigung, des Umweltschutzes und der Wirtschaft siehe Stephan Hohe, Deroffene Verfassungsstaat, S. 182 ff. und 381 f. (zusammenfassend). Eine soziologische Auseinandersetzung mit diesem Thema ist zu finden bei Zdravko Mlinar, in: ders. (Hrsg.), Globalization and Territorial ldentities, S. 15 (24 ff.). Jack Goldsmith, 5 IJGLS (1998), S. 475 ff., setzt sich eingehend mit der Bedeutungsabnahme des Territoriums im Zusammenhang mit dem Internet auseinander. 15 Ein Beispiel hierfür ist die enge Vernetzung zwischen den U.S.A. und Mexiko. Die große Zahl der mexikanischen Einwanderer in den U.S.A. steht in regelmäßigem Austauch mit ihrer ursprünglichen Heimat und hat mittlerweile grenzüberschreitende soziale, kulturelle und politische Netzwerke- "transnationale P.äume", "transkulturelle soziale Räume" oder "transnational villages" - geschaffen und zu einer wechselseitigen Interpenetration beider Länder geführt; DetlefNolte, in: Rainer Tetzlaff (Hrsg.), Weltkulturen unter Globalisierungsdruck, S. 296 (325). 76 Durch die neuen Medien, die Arbeit von NGO-Netzwerken, transnationale politische und soziale Bewegungen u. a. m. 77 Reiner Tetzlaff, in: ders. (Hrsg.), Weltkulturen unter Globalisierungsdruck, S. 18 (30), verweist in diesem Zusammenhang auch auf die Problematik der infolge von zunehmender Arbeitsteilung steigenden Arbeitslosigkeit. Die bezahlte, weil wirtschaftlich notwendige Arbeit habe bislang nicht nur Rechtsansprüche gegen den Staat gegeben, sondern sei auch Fundament persönlichen Stolzes und gesellschaftlicher Anerkennung. Mit der Vermehrung der amputierten Arbeitsbürger schwinde die Gesellschaftlichkeit: Es könnten immer weniger Bürger auf die Nation im Staat und die gemeinsame Demokratie verpflichtet werden. 78 Christian Walter, 59 ZaöRV (1999), S. 961 (969). Hinzu kommt, daß dadurch viele Menschen nicht mehr nur Bürger des Staates sind, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzen,

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Teil 1: Was bedeutet G1obalisierung?

heit dieser Entwicklungen führt letztlich zu einer "Auflösung des Zusammenhanges von Nationalstaat und dessen Nationalgesellschaft"79 bzw. einer "Entgrenzung des nationalstaatliehen Raurnes" 80 mit der Folge, daß der Weg für die Entstehung anderer, neuer Ordnungs- und Organisationseinheiten bereitet wird, die vorn Territorium des Staates in unterschiedlichem Maße unabhängig sind.81 Dies kann zusammenfassend als ein Prozeß der gesellschaftlichen Denationalisierunl2 bezeichnet werden. Jener führt zu einem Ende der Kongruenz von Nationalstaat und Staatsgesellschaft in dem Sinne, daß es zu einer Verschiebung der Grenzen der gesellschaftlichen Handlungszusammenhänge über die nationalstaatliehen Grenzen hinaus kommtY Intensität und geographische Reichweite dieses Entstaatlichungsprozesses sind dabei je nach Sachbereich unterschiedlich, er vollzieht sich aber selbst in solchen Bereichen, die noch vor wenigenJahrzehntenals ureigenste Domäne des souveränen Staates verstanden wurden.84 Die Entwicklungen im Zeitalter der Globalisierung transzendieren somit die alte staatsorientierte politische und rechtliche Ordnung, wodurch es zur Herausbildung eines Mehrebenensystems politischer und rechtlicher Ordnung kommt, in dem der Staat mit seinen Mitteln und Aufgaben nur noch eine unter verschiedenen Ebenen darstellt. 85

sondern sich in einem Geflecht mehrfacher Loyalitäten zu über- und substaatlichen Einrichtungen und Organisationen bewegen, vgl. dazu David Held/Anthony McGrew!David Goldblatt/Jonathan Perraton, S. 445; David Held, in: ders./Anthony McGrew (Hrsg.), Global Transformations Reader, S. 420 (426); Anthony McGrew, in: David Held/ders. (Hrsg.), Global Transformations Reader, S. 405 (413 ff.). 79 Ulrich Beck, S. 44. 80 Mathias Albert, in: Rüdiger Voigt (Hrsg.), Globalisierung des Rechts, S. 115 (123); Franz-Xaver Kaufmann, Herausforderungen, S. 119; Reiner Tetzlaff, in: ders. (Hrsg.), Weltkulturen unter Globalisierungsdruck, S. 18 (24). 81 Peter Pemthaler, FS Koja, S. 69 (77); ähnlich auch Anthony McGrew, in: Klaus Armingeon (Hrsg.), Der Nationalstaat am Ende des 20. Jahrhunderts, S. 69 (85); Michael Reisman, 8 EJIL (1997), S. 409 (410). 82 Diese Feststellung treffen auch Michael Züm, Regieren, S. 67; lost Delbrück, I IJGLS (1993), S. 9 (ll); Reinhard Meyers, in: Wichard Woyke (Hrsg.), Internationale Organisationen in der Reform, S. 8 (13). 83 So auch Gregor Walter/Sabine Dreher/Marianne Beisheim, Institut für Interkulturelle und Internationale Studien der Universität Bremen, Arbeitspapier 4-5/97, S. 6; Marianne Beisheim et al.. S. 18. 84 Vgl. oben Teil 1, A. II. 85 Wie die neue Organisation des internationalen Systems aussehen könnte, wird sehr kontrovers diskutiert. Vgl. dazu David Held/Anthony McGrew (Hrsg.), Global Transformations Reader, Kap. 6, sowie David Held/Anthony McGrew/David Goldblatt/Jonathan Perraton, S. 447 f. (kurze Zusammenfassung).

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2. Veränderung der Rolle des Staates im internationalen System; Rechtliche Denationalisierung Auch der Staat als solcher hat- in seinem Wesen und seiner Rolle im internationalen System - infolge der aufgezeigten Entwicklungen eine tiefgreifende Veränderung erfahren. Dieser in den letzten Jahrzehnten eingetretene Wandel knüpft an strukturelle Veränderungen des internationalen Systems an, die bereits Mitte des 19. Jahrhunderts einsetzten, als das bis dahin europäisch dominierte internationale System eine räumliche, personale und funktionale Ausweitung erfuhr.86 Neben der geographischen Erweiterung87 kam es zu einer Universalisierung des internationalen Systems auch in funktionaler Hinsicht. Ab dem ausgehenden 19. Jahrhundert wurde die internationale Zusammenarbeit zwischen den Staaten verstärkt vorangetrieben, wodurch es zu einer Ausbildung neuer Akteure im internationalen System kam - am bedeutsamsten die zwischenstaatlichen internationalen Organisationen. Anfänglich als Vereine souveräner Staaten (sog. Verwaltungsunionen) ausgestaltet und mit Aufgaben betraut, die ein Staat in Zeiten der industriellen Revolution, technologischen Fortschritts und damit verbundenem Wirtschaftswachstum allein nicht mehr sinnvoll erfüllen konnte88 , wurde mit der Schaffung des Völkerbundes nach dem ersten Weltkrieg erstmalig der Funktionsbereich einer internationalen Organisation auf die politische Ebene im engeren Sinne ausgeweitet. Man betraute sie mit der Aufgabe der Friedenssicherung, die zuvor exklusive Domäne des Staates gewesen war. 89 Spätestens mit diesem entscheidenden Schritt war auch der Weg für die Anerkennung zwischenstaatlicher internationaler Organisationen als derivative Subjekte des Völkerrechts bereitet, denen eine auf ihren Funktionsbereich beschränkte partielle- und grundsätzlich 86 Vgl. hierzu Georg Dahm/Jost Delbrück/Rüdiger Wolfrum, Völkerrecht 1/1, S. 9 ff.; Hanspeter Neuhold/Christoph Schreuer, in: Hanspeter Neuhold/Waldemar Hummer/ Christoph Sehreuer (Hrsg.), ÖHdbVR, S. 14 f. 87 Durch die Aufnahme des osmanischen Reiches im Frieden von Paris 1856 und die einsetzende Lockerung der Bindungen zwischen den überseeischen Gebieten und ihren europäischen Kolonialherren. 88 Georg Dahm/Jost Delbrück!Rüdiger Wolfrum, Völkerrecht VI, S. 13; lgnaz SeidlHohenveldem, Rn. 106 ff.; ders., Internationale Organisationen, Rn. 021 0; Eckhart Klein, in: Wolfgang GrafVitzthum (Hrsg.), Völkerrecht, S. 274. Früheste Beispiele für Organisationen dieser Art sind die Rheinschiffahrtsakte von 1815/31, die Internationale Telegraphenunion von 1865 und der Weltpostverein, dessen Gründung auf das Jahr 1874 fällt. Vgl. dazu auch die tabellarische Übersicht bei David Held/Anthony McGrew/David Goldblatt/Jonathan Perraton, S. 44 ff. 89 Georg Dahm/Jost Delbrück/Rüdiger Wolfrum, Völkerrecht 111, ibid.; Christoph Schreuer, in: Hanspeter Neuhold/Waldemar Hummer/Christoph Sehreuer (Hrsg.), ÖHdbVR, S. 157.

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Teil I: Was bedeutet Globalisierung?

auch partikl.iläre90 - Völkerrechtsfähigkeit zukommt. 91 Damit standen die Nationalstaaten erstmals nicht mehr allein auf der Bühne des internationalen Geschehens; sie mußten diese nunmehr mit den internationalen Organisationen teilen, die ihnen im Rahmen ihrer satzungsgemäßen Aufgaben als gleichberechtigte, aktive Teilnehmer an der Gestaltung des internationalen Systems zur Seite und gegenübertraten und so das ehemalige Monopol der souveränen Staaten durchbrachen. Die Entwicklungen im "Zeitalter der Globalisierung" bedeuten nun insofern eine Fortsetzung des im 19. Jahrhundert eingesetzten Wandlungsprozesses, als sich der Staat heute neben den internationalen Organisationen weiteren bedeutenden Teilnehmern am internationalen Verkehr gegenüber sieht, die sich in bestimmten Bereichen bereits eine solche Machtposition erschlossen haben, daß dort die Handlungsspielräume des Staates in erheblichem Umfang eingeschränkt sind. So hat der Staat insbesondere auf dem Wirtschaftssektor im Vergleich zu früheren Zeiten nur noch eingeschränkte Möglichkeiten, gestaltend Einfluß zu nehmen und in neue Entwicklungen steuernd einzugreifen. Durch die zahlenmäßige Zunahme und die Vernetzung der multinationalen Konzerne untereinander befinden sich diese in einer vom Staat und dessen Regelungsmechanismen weitgehend unabhängigen Stellung, obwohl sie auf dessen Wirtschaft einen erheblichen Einfluß ausüben und ihn in eine enge Interdependenz mit den anderen Staaten bringen.92 Einige Autoren gehenangesichtsdieser Situation bereits so weit zu sagen, 90 Eine Ausnahme bilden in diesem Zusammenhang nur die Vereinten Nationen, deren objektive Völkerrechtssubjektivität der IGH in seinem Reparationsjor-lnjuries-Gutachten, ICJ Reports 1949, S. 174 ff., festgestellt hat. 9 1 Dies ist heute im Grundsatz unstreitig, vgl. nur lgnaz Seidl-Hohenveldem , Rn. 811 , 815; Eckhart Klein, in: Wolfgang Graf Vitzthum (Hrsg.), Völkerrecht, S. 390 ff. In der sowjetischen Völkerrechtslehre herrschte allerdings noch bis in die jüngere Zeit die Ansicht vor, daß internationale Organisationen keine Völkerrechtssubjekte seien, vgl. dazu lgnaz Seidl-Hohenveldem, Internationale Organisationen, Rn. 0304 ff.; Henn-Jüri Uibopuu, in: Hanspeter Neuhold/Waldemar Hummer/Christoph Sehreuer (Hrsg.), ÖHdbVR, S. 26; siehe außerdem Eckhart Klein, in: Wolfgang GrafVitzthum (Hrsg.), Völkerrecht, S. 274, der für eine ausführliche Darstellung zur Entwicklung dieser Jahre verweist auf Jakob Ter Meulen, Der Gedanke der Internationalen Organisation (1917-1929). 92 So ist es infolge der technischen Entwicklungen heute möglich, die Produktion eines Wirtschaftsgutes in ein beliebiges Land zu verlegen. Dadurch sind die Produzenten in der Lage, den Wirtschaftsstandort mit den für sie günstigsten (staatlichen) Bedingungen zu wählen, was wiederum die Staaten in eine verschärfte Standortkonkurrenz zueinander bringt. Obwohl auch MNCs letztlich auf die Niederlassung in einem Staat angewiesen sind und ihre Standortwahl durch verschiedene Faktoren (z. B. die Infrastruktur vor Ort) gewissen praktischen Beschränkungen unterliegt, kommt es insgesamt zu einer erheblichen Stärkung der Position der Konzerne, die die Möglichkeit bekommen, die Staaten gegeneinander

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daß Nationalökonomie im Sinne einer staatsbezogenen Wirtschaftsordnung heute schlechterdings unmöglich geworden sei.93 In anderen Bereichen, besonders deutlich im Menschenrechts- und dem Umweltschutz, spielen heute Nichtregierungsorganisationen94 eine zunehmend bedeutende Rolle, die nicht ohne Auswirkungen für die Nationalstaaten bleiben kann. Diese von Staaten unabhängigen Organisationen betätigen sich in vielfältiger Weise auf der internationalen Ebene95 und üben dabei häufig einen erheblichen Einfluß auf die Staaten und deren Verhalten im internationalen Verkehr aus. Neben ihren Mitwirkungsmöglichkeiten im Rahmen von Art. 71 UN-Charta,96 ihrer Beteiligung an UNSonderorganisationen97 und im Rahmen regionaler zwischenstaatlicher Organisatio-

auszuspielen, Forderungen an ihre Standortentscheidung zu knüpfen und auf diese Weise durchzusetzen; so auch Franz-Xaver Kaufmann, APuZ, B 18/98, S. 3 (8 f.); Aloys Prinl/ Hanno Beck, APuZ, B 23/99, S. II (II); siehe hierzu auch Mohamed Mahmoud, 123 JDI (1996), S. 611 (626), und Peter Muchlinsky, Multinational Enterprises, S. 282 ff., 303 ff.; Miguel de La Madrid, 19 HouJIL (1997), S. 533 (557). Robert Corquodale/Richard Fairbrother, 21 HRQ (1999), S. 735 (738): "Ofthe world's 100 biggest economies only 49 are states, while the remaining 51 economies are corporations. Thus the heads of states may have much less impact on both individuals and world events than those incharge of transnational corporations." Dies wird auch an folgenden Zahlen deutlich: Der Gesamtwert der MNCs belief sich im Jahr 1997 bereits auf 7 % des Weltbruttosozialprodukts (1995 noch 5 %). Ihr Anteil am weltweiten Export betrug 1995 bereits 33 % (gegenüber 25 % in den 80er Jahren), vgl. dazu UNDP Human Development Report 1999, S. 31 f. 93 So beispielsweise Peter Pernthaler, FS Koja, S. 69 (77); Rene-Jean Dupuy, 96 RGDIP (1992), S. 313 (314); Peter Willetts, in: John Baylis/Steve Smith, The Globalization of World Politics, S. 287 (193); Ulrich Beck, S. 42; Lothar Brock/Mathias Albert, 2 ZIB (1995), S. 259 (261 ); ähnlich auch Anthony McGrew, in: Klaus Armingeon (Hrsg.), Der Nationalstaat am Ende des 20. Jahrhunderts, S. 69 (74). 94 Non Govemmental Organizations, im folgenden bezeichnet als NGOs. 95 Ein nach Tätigkeitsfeldern geordneter Überblick über ausgewählte NGOs ist zu finden bei Michael Hempel, S. 37 f.; für NGOs im Umweltbereich siehe Sonja Riedinger, S. 39 ff. Vergleiche außerdem auch Edith Brown Weiss, in: Nandasiri Jasentuliyana (Hrsg.), Perspectives on International Law, S. 63 (67 ff.). 96 NGOs mit Konsultativstatus beim Wirtschafts- und Sozialrat der Vereinten Nationen haben beispielsweise Rede- und Anhörungsrechte (unterschiedlichen Umfangs und Intensität, je nach Kategorie, in die sie eingeordnet sind), das Recht, Anträge und Materialien an die Mitgliedstaaten sowie Beobachter zu allen Sitzungen zu versenden und Sachfragen auf die Tagesordnung setzen zu lassen. Siehe dazu die Übersicht bei Hermann Rechenberg, in: Rudolf Bernhardt et al. (Hrsg.), Encyclopedia of Public International Law, Vol. III, S. 612 ff., Otto Kimminich/Stephan Hohe, S. 149 ff., Klaus Hüfner, in: Rüdiger Wolfrum (Hrsg.), United Nations Law, Policies and Practice II, S. 927 (929 ff.), und auch Raymond Ranjeva, 270 RdC (1997), S. 9 (38 ff.). 97 V gl. dazu Michael Hempel, S. 170 ff., und Sonja Riedinger, S. 91 ff.

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Teil 1: Was bedeutet Globalisierung?

nen98 arbeiten sie beispielsweise als "watchdogs", die die staatliche Einhaltung internationaler Vertragsverpflichtungen überwachen und Verstöße gegen das internationale Recht beharrlich anprangern.99 Dies soll die Staaten zur Kooperation zwingen, was in vielen Fällen auch gelingt. 100 Als "pressure groups" erzeugen NGOs öffentlichen Druck, werden Regierungen wie auch private Akteure zur Einhaltung international anerkannter Standards angehalten. 101 Sie agieren damit als Sachwalter gesellschaftlicher, öffentlicher Interessen, wo ansonsten noch immer die Staaten dominieren und ihre staatlichen Interessen verfolgen. 102 Ihre Aktivitäten sind daher häufig direkt gegen staatliche Hoheitsgewalt gerichtet. 103 Obwohl nach UN-Charta und Verfahrensregeln des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen so nicht vorgesehen, hat sich in jüngerer Zeit selbst der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen im Rahmen seiner Aufgaben der Fachkenntnisse von NGOs bedient. Unter Unterbrechung der förmlichen Sitzung wurden Konsultationen mit NGOs aufgenommen, um so das notwendige Hintergrundwissen für die zu treffende Entscheidung zu erhalten. 104 Schließlich ist insbesondere die Rolle von NGOs bei internationalen Staatenkonferenzen hervorzuheben. Durch ihre aktive Teilnahme an jenen oder aber das Abhalten paralleler NGO-Konferenzen gewinnen sie auch in diesem Zusammenhang zunehmend an Bedeutung und Einfluß. Zu nennen sind hier beispielsweise die United Nations Conference on the Environment in Rio 1992, die Wiener Men98 Z. B. dem Europarat und der KSZE, vgl. dazu Michael Hempel, S. 183 ff.; Sonja Riedinger, S. 109 ff. 99 Vgl. dazu Raymond Ranjeva, 270 RdC (1997), S. 9 (80 ff.). 100 Andrea Bianchi, in: Gunther Teubner (Hrsg.), Global Law Without a State, S. 179 (190). 101 Ein eindrucksvolles Beispiel hierfür ist die Arbeit, die von amnesty international im Zusammenhang mit der United Nations Convention on Torture (241.L.M. (1985), S. 535) geleistet wurde. Vgl. dazu die Darstellung bei Andrea Bianchi, in: Gunther Teubner (Hrsg.), Global Law Without a State, S. 179 (186). EarthAction International hat sich in besonderer Weise um die Einhaltung der Zusagen gekümmert, die von Regierungen auf der Conference on Environment and Development in Rio 1992 gemacht worden sind, vgl. dazu Jackie Smith, in: dies./Charles Chatfield/Ron Pagnucco (Hrsg.), Transnational Social Movements, S. 175 ff. 102 UNO-Generalsekretär Boutros-Boutros Ghali hat NGOs auch als eine .,basic form of popular participation and representation in the present-day world" bezeichnet, vgl. das Vorwort zu Thomas Weiss/Leon Gordenker (Hrsg.), NGOs, the UN and Global Governance, S. 7; vgl. außerdem Stephan Hobe, 5 IJGLS (1997), S. 191 (199); Rene-Jean Dupuy, 96 RGDIP (1992), S. 313 (319). 103 Stephan Hobe, Der offene Verfassungsstaat, S. 312 ff., 329. 104 Siehe dazu Ruth Wedgwood, in: Rainer Hofmann (Hrsg.), Non-State Actors, S. 21 (27).

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Sehenrechtskonferenz von 1993, die Conference on Population and Development in Kairo 1994 und auch die World Women's Conference in Bejing 1995. 105 Als Experten und Begleiter des Verhandlungsprozesses unterstützen sie die Arbeit der Staatenvertreter, kontrollieren sie, machen sie öffentlich und erzeugen dadurch Druck. Teilweise nehmen auch NGO-Vertreter als Mitglieder nationaler Delegationen an internationalen Konferenzen und Vertragsverhandlungen teil. 106 Auf diese Weise nehmen NGOs erheblichen Einfluß auf die Staatenvertreter und damit - indirekt - auf die letztendlich auf der Konferenz erzielten Ergebnisse. 107 Dies zeigt mit Deutlichkeit die politische Bedeutung einiger NGOs und ihre faktische Machtposition gegenüber den Staaten. 108 Die Diskussion, ob bestimmten 105 Für eine umfassendere Übersicht über die Beteiligung von NGOs an Konferenzen der Vereinten Nationen von 1976 bis 1996 vgl. den Report des Generalsekretärs, UN Doc. E!AC.7011994/5, 33 ff. , eine Übersicht über die Akkreditierung von NGOs an Umweltkonferenzen ist zu finden bei lngomar Hauchler/Dirk Messner/Frank Nuscheler (Hrsg.), Globale Trends 2000, S. 287. Im Jahr 1998 fand zudem eine von der Corninissionon Sustainable Developrnent initiierte Konferenz statt, auf der der politische Kurs hinsichtlich der Fragen nachhaltiger Entwicklung und insbesondere der Rolle der Industrie in diesem Zusammenhang diskutiert wurde. Vollständig gleichberechtigte Teilnehmer an dieser Konferenz waren -erstmals bei einer Zusammenkunft im Rahmen der Vereinten Nationen- nicht nur Regierungen, sondern auch der private Sektor, Gewerkschaften und gesellschaftliche Organisationen. 106 Vgl. dazu Sonja Riedinger, S. 177 ff. 107 Ein aktuelles Beispiel hierfür bieten die Verhandlungen zur Errichtung eines Internationalen Strafgerichtshofs, die in der Annahme dessen Statuts durch 120 Staaten auf der Konferenz von Rom im Sommer 1998 mündeten. Hier haben Menschenrechtsorganisationen durch ihre kompetente Mitwirkung in erheblichem Maße zu dem schließlich erzielten Ergebnis beigetragen, vgl. Ernst Uvy, FAZ vorn 09.07.1998; Hans-Peter Kaul, 45 VN (1997), S. 177 (181 ), und 46 VN (1998), S. 125 (129), der besonders Organisationen wie arnnesty international, Human Rights Watch und das Lawyers Cornrnittee for Human Rights hervorhebt. Kofi Annan weist in seinem Report of the Secretary-General on the Work ofthe Organization 1998, Chapter 5, S. 180, ebenfalls auf die maßgebliche Beteiligung der mehr als 200 NGOs an der Arbeit auf der Staatenkonferenz von Rom hin und schreibt in diesem Zusammenhang von einem "unprecedented Ievel of participation by civil society in a law-rnaking conference", http://www.un.org/Docs/SG/Report98/ch5.htrn (Stand: 29.01.1999). Anthony McGrew, in: Klaus Arrningeon (Hrsg.), Der Nationalstaat am Ende des 20. Jahrhunderts, S. 69 (80), spricht hier zutreffend bereits von einer Art "collective decision-rnaking". Für eine Darstellung der Beteiligung von NGOs auf der Umweltkonferenz von Stockholm 1972, der World Food Conference 1974, dem Erdgipfel von Rio 1992 und der Menschenrechtskonferenz in Wien 1993 siehe Michael Hempel, S. 162 ff. 108 Teilweise treten NGOs auch direkt mit Regierungen in Verhandlung. Dies war beispielsweise 1995 der Fall, als im Umweltschutz tätige NGOs mit der rnexikanischen Regierung über eine neue Konvention zum Schutz der Delphine während des Thunfisch-

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Teil I: Was bedeutet Globalisierung?

NGOs nicht sogar bereits eine Völkerrechtssubjektivität zugesprochen werden kann bzw. muß, 109 ist eine nur logische Konsequenz dieser Entwicklung. Die beschriebene Vermehrung von Teilnehmern am internationalen Geschehen führt zu einer Veränderung der Rolle des Staates im gesamten System, das heute nicht mehr ausschließlich durch den Staat beherrscht, sondern zusätzlich von anderen Akteuren beeinflußt wird.' 10 Der Staat ist nicht mehr der einzige Ort, an dem effektive politische Gestaltungsmacht angesiedelt ist. Dieser Verlust seiner ursprünglichen "Monopolstellung" bedeutet für den Staat eine Einbuße an Autorität und Gestaltungsmacht. 111 In diesen Zusammenhang ist auch die Entwicklung einzuordnen, daß der Staat zunehmend öffentliche Aufgaben nicht mehr allein erfüllt, sondern diese- vollständig oder nur zu Teilen- durch nichtstaatliche Akteure übernommen werden. Im innerstaatlichen Bereich geschieht dies insbesondere durch die Übertragung staatlicher Aufgaben auf private Leistungsträger

fanges verhandelten, was zu einer von 12 Staaten unterstützten Erklärung führte, die eine bindende Vereinbarung zu diesem Thema fordert; vgl. Marine Mamma! Commission, Annual Report to Congress 1995, S. 107. Siehe dazu auch Karsten Nowrot, 6 IJGLS (1999), s. 579 (593). Nicht unerwähnt bleiben soll auch die Tätigkeit von NGOs im Rahmen der .,draftings" zu internationalen Konventionen, im Umweltbereich z. B. der Convention on International Trade in Endangered Species, der World Heritage Convention und der Convention on Biological Diversity; vgl. Kar/ Raustiala, 21 Harvard Env'ILR ( 1997), S. 537 (559), und Sonja Riedinger, S. 177 ff. Das Scheitern des multilateralen Investitionsschutzabkommens (MAI) ist nicht zuletzt auf die Mobilisierung eines transnationalen Aktions-, Diskurs- und Protestbündnisses weltweit vernetzter NGOs zurückzuführen, vgl. dazu Waldemar Hummer, 39 BDGVR (2000), S. 45 (179 f.). NGOs arbeiten zudem als Vermittler in Konfliktsituationen. So hat beispielsweise der Präsident des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen in einer am 20.05.1998 abgegebenen Erklärung zur Lage in Sierra Leone die bedeutende Rolle von NGOs in dem dort angestrengten Friedensprozeß unterstrichen, UN Doc. S/PRST/1998/13, I (1998). Darüber hinaus werden NGOs als Wahlbeobachter tätig, arbeiten in der Konfliktprävention und als Vermittler in Konfliktsituationen, vgl. Karen Jason, 24 NYUJint ' IL&Pol (1992), s. 1795 (1795). 109 So Martin Ölz, 23 ColHRLR (1997), S. 307 (323); J. J. Lador-Lederer, 23 ZaöRV (1963), S. 657 (677); Stephan Hobe, 5 IJGLS (1997), S. 191 (207); Michael Hempel, S. 56 ff. ; neuestens auch Knut lpsen, in: ders. (Hrsg.), Völkerrecht, § I Rn. 14, und auch Otto Kimminich/Stephan Hobe, S. 151. Die noch herrschende Auffassung spricht sich jedoch gegen eine Völkerrechstsubjektivität von NGOs aus; vgl. nur Alfred Verdoss/Bruno Simma, S. 251; lgnaz Seidl-Hohenveldem, Rn. 205; /an Brownlie, S. 67 ff. 110 Es kommt somit zur Herausbildung eines Mehrebenensystems in institutioneller Hinsicht. 111 Zu den Möglichkeiten des Staates, zumindest einen Teil des Einflusses zurückzugewinnen, s. u. Teil!, A. III. 2.

A. Erscheinungsformen und Kennzeichen von Globalisierung

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(Privatisierung) 112 , auf internationaler Ebene übernehmen heute beispielsweise NGOs Aufgaben, die bis vor einiger Zeit ausnahmslos von den Staaten wahrgenommen wurden.113 Die zunehmende Bedeutung privater Schiedsgerichtsbarkeit, 112 Diese Entwicklung ist insbesondere im Bereich der staatlichen Daseinsvorsorge -Post und Telefon, Strom- und Wasserversorgung, Eisenbahnen und auch Luftfahrt- festzustellen, vgl. nur die Privatisierung der ehemaligen Deutschen Bundesbahn oder die Öffnung des Marktes für private Telefonanbieter. Sie reichen bis in den kommunalen Bereich hinein, so z. B. bei der Abwasserbeseitigung, Abfallentsorgung, Krankenhäusern und anderen sozialen Diensten. Eine interessante Zusammenstellung von Entwicklungen dieser Art in verschiedensten Ländern von China bis nach Großbritannien ist zu finden bei Martin van Crefeld, S. 406-415, der dies als Rückzug des unwirtschaftlich gewordenen bzw. nicht länger gewollten Wohlfahrtsstaates interpretiert. Siehe zu diesem Thema außerdem auch Phillip Cemy, in: Aseern Prakash/Phillip Hart, Globalization and Governance, S. 188 (192); Saskia Sassen, Globalization and its Discontents, S. 184; Lucie Lamarche, in: Fran~ois Cn!peau (Hrsg.), Mondialisation des Echanges et Fonctions de !'Etat, S. 235 ff. (in bezug aufQuebec). Alfred Aman, 31 VandJTransnat' IL (1998), S. 769 (816 ff., 837 ff.), führt Deregulierungsmaßnahmen und die teilweise bereits vorgenommene Privatisierung von Gefängnissen in den Vereinigten Staaten zum Beispiel an. Dies wird mittlerweile auch in Deutschland diskutiert. Der durch die Privatisierung bedingte Zuwachs an Aufgaben, Verantwortung und Macht aufseitender privaten Anbieter stärkt deren Position erheblich und je nach Größe des Leistungsträgers kann die Privatisierung im Ergebnis zu einer weiteren Verstärkung der Transnationalisierung in den betreffenden Bereichen führen. 113 So ist es beispielsweise in bestimmten Krisengebieten bereits zur Privatisierung von Teilen des Sicherheits-Nerteidigungsbereiches gekommen: Private Einheiten wie "Executive Outcomes" und "Sandline International" sind in Konflikten in Afrika (Namibia, Sierra Leone, Zaire) von Regierungen bei der Staatsverteidigung zu Hilfe gezogen und häufig durch die Vergabe von Mineral-Konzessionen bezahlt worden. In ähnlicher Weise ist "Military Professional Ressources, lnc." während des Bosnien-Krieges mit der Ausbildung kroatischer Truppen betraut worden. Vgl. dazu Ruth Wedgwood, in: Rainer Hofmann, NonState Actors, S. 21 (27 f.). Dem Umweltschutz gewidmete NGOs übernehmen durch sog. "Debt-for-Nature-Swaps" (Ankauf von Schuldentiteln zu günstigen Konditionen und nachfolgender Tausch mit der Schuldnerregierung gegen Umweltinverstitionen) teilweise die Aufgabe der Entschuldung (zuvorderst) von Entwicklungsländern. Siehe dazu Dirk Kloss, insbes. S. 89 ff.; Jeremy Heep, in: Fred Morrison!Rüdiger Wolfrum (Hrsg.), International, Regionaland National Environmental Law, S. 909 (915 ff.), mit einem Beispiel aus Ecuador. Insbesondere im Umweltbereich werden zudem NGOs durch die Staaten Aufgaben übertragen, die diese selbst nicht mehr effektiv auszuführen in der Lage sind. So sind die Staaten im Rahmen der Durchführung des Washingtoner Artenschutzabkommens (CITES) weitestgehend auf Daten angewiesen, die von NGOs wie der International Union for the Protection of Nature (IUCN) und im Rahmen des Programms TRAFFIC (Trade Records Analysis of Flora and Fauna in Commerce) gesammelt werden. Ebenso können die Rolle von NGOs im Kampf gegen die Kinderpornographie im Internet, deren Aufgaben im Rahmen von Konfliktprävention und Konfliktlösung und bei internationalen Wahlbeobachtungsmissionen genannt werden, vgl. Karsten Nowrot, 6 IJGLS (1999), S. 579 (597) m. w. N.

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Teil l: Was bedeutet Globalisierung?

durch deren Etablierung Mechanismen der friedlichen Streitbeilegungjenseits des Staates geschaffen werden, 114 ist ebenfalls in diesem Zusammenhang zu nennen. Teilweise führt die Herausbildung eines institutionellen Mehrebenensystems somit bereits zu einer Aufgabenteilung zwischen Staat und nichtstaatlichen Akteuren und damit zu einer Aufgabenerfüllung auf unterschiedlichen Ebenen. 115 Auch diese Entwicklung ist als ein Prozeß der Denationalisierung, m. a. W. als Entstaatlichung, zu bezeichnen. Anders als bei der gesellschaftlichen Denationalisierung116 handelt es sich hier jedoch um (materielle) Entstaatlichung im engen rechtlichen Sinne einer Herausnahme öffentlicher Funktionen aus dem Aufgabenbereich des Staates. Den neuen Leistungsträgern gegenüber entstehen wiederum neuartige Formen der Identifikation und der Loyalität, weshalb man sagen kann, daß die rechtliche Entstaatlichung auch den Weg bereitet für eine weitergehende gesellschaftliche Denationalisierung. Der Grad der Herausnahme der entstaatlichten Funktionen aus dem Zuständigkeitsbereich des Staates unterscheidet sich dabei von Fall zu Fall und bewegt sich teilweise in einer Grauzone zwischen vollständiger Herausnahme und "nur" Die Desertifizierungskonvention von 1995 verpflichtet die Staaten sogar zu einer effektiven Zusammenarbeit mit NGOs. Sie räumt NGOs eine zentrale Rolle für den dort gewählten "Bottom-up"-Ansatz ein und überträgt ihnen Aufgaben der Durchführung des Vertragswerkes; siehe dazu Kyle Danish, 3 IJGLS (1995), http://www.law.indiana.edu/ glsj/vol3/nolldanish.htrnl (Stand: 26.07.1999); Michael Hempel, S. 101 ff.; Sonja Riedinger, S. 254 ff. Schließlich sind auch im Bereich der mittlerweile zu den staatlichen Aufgaben zählenden Entwicklungshilfe NGOs maßgeblich beteiligt und gleichen staatliche Defizite bei der Implementierung von Entwicklungshilfeprojekten aus. Unter anderem bezieht die Internationale Bank für Wiederaufbau und Entwicklung NGOs in großem Umfang in die Projektumsetzung ein, wobei diese regelmäßig als Subunternehmer beteiligt werden. So wurde beispielsweise in jüngster Zeit CARE mit der Ausführung von Straßenbauarbeiten in Sierra Leone und der Errichtung von Schulgebäuden in Liberia betraut (http://www.care.org, Stand: 23.10.2000). Teilweise werden NGOs auch zur Umsetzung von sozialen Maßnahmen eingesetzt, welche die Folgen von Projekten zur wirtschaftlichen Anpassung mildern sollen, vgl. Michael Hempel, S. 181; Stephan Habe, Der offene Verfassungsstaat, S. 322. 114 Malaysia und früher auch Belgien garantier(t)en den Parteien einen Schiedsgerichtssitz ohne jegliche Einwirkung durch den Staat. Auch in der Schweiz und England haben die Parteien die Möglichkeit, die Anfechtung oder Aufhebung des Schiedsspruches wegzubedingen, jedoch nur durch eine explizite Regelung. Zu dieser Form von "anationalen Schiedssprüchen" siehe Thilo Rensman, passim. Ebenfalls dazu und zur Entstaatlichung friedlicher Konflikregelung im Handelsbereich insgesamt siehe Daniel Girsberger, 39 BDGVR (2000), S. 231 ff. m So auch Peter Pemthaler, FS Koja, S. 69 (78); ähnlich David Held/Anthony McGrew/David Goldblatt/Jonathan Perraton, S. 85. 116 Vgl. dazu Teil! , A. II. 1.

A. Erscheinungsformen und Kennzeichen von Globalisierung

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weitgehender Auslagerung von Funktionen. Dies wird deutlich am Beispiel der Rechtsetzung durch Sonderorganisationen der Vereinte Nationen wie die World Health Organization (WHO) und die International Civil A viation Organization (ICAO), die über eigene Rechtsetzungsbefugnisse dergestalt verfügen, daß eine Gültigkeitsvermutung für die von ihnen verabschiedeten Regelungen spricht und dem Staat lediglich die Möglichkeit eines "opting out" durch aktives Handeln bleibt. Der Staat behält zwar das Letztentscheidungsrecht, so daß die Aufgabe der Rechtsetzung rechtlich gesehen in seinem Zuständigkeitsbereich verbleibt und man folglich nicht von einer vollständigen Entstaatlichung sprechen kann. Er hat aber die Alleinformulierungs- und Rechtsetzungsbefugnis delegiert und unterwirft die neuen Regeln lediglich einer nachträglichen Kontrolle. 117 Die ICAO besitzt darüber hinaus aber sogar die alleinige Kompetenz zur Etablierung von "Rules of the Air" 118 über der Hohen See, so daß in dieser Hinsicht eine völlige Derogation staatlicher Rechtsetzungsbefugnis und also rechtliche Dentionalisierung gegeben ist.119

3. Erosion der staatlichen Steuerungs- und Regelungsmacht: Faktische Denationalisierung Zu der Veränderung der Rolle des Staates im internationalen System und der stellenweisen rechtlichen Denationalisierung tritt die in unterschiedlichen Bereichen zunehmende faktische Unfähigkeit des Staates, die Entwicklungen mit staatlichen Mitteln zu steuern. 120 In bezug auf die Wirtschaft ist in diesem Zusammenhang bereits die Position der MNCs und deren Bedeutung für die Handlungsmöglichkeiten des Staates angesprochen worden. Daneben haben in diesem Bereich insbesondere die elektronischen Medientechnologien zu einer Effektivitätseinbuße des Staates beigetragen. Das Internet beispielsweise entzieht nicht nur die darüber abgewickelten Transaktionen der Regelungsmacht des Staates, sondern bleibt auch selbst von Regulierungsversuchen des Staates weitestgehend unberührt. 121 Diese erreichen allenfalls Randbereiche des elektronischen Komrnunikationsraumes, während sich die Kernprobleme dieses Mediums staatlichen Geset117 Siehe dazu Stephan Hohe, Der offene Verfassungsstaat, S. 295 ff. 118 Art. 12 (3) der Chicagoer Convention on Civil Aviation, 15 U.N.T.S., S. 295. 119 Stephan Hohe, Der offene Verfassungsstaat, S. 303. 12 Für eine knappe Zusanunenfassung dazu vgl. auch Christyne Vachon, 26 DJint' IL&Pol

°

(1998), s. 691 (695 ff.). 121 Vgl. dazu Christoph Engel, 39 BDGVR (2000), S. 353 ff. Siehe zu dieser Problematik außerdem Alexander RoßnageI, 30 ZRP 1997, S. 26 ff.

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Teil I: Was bedeutet Globalisierung?

zenund der an Gebietshoheit geknüpften Jurisdiktion zu einem großen Teil entziehen. 122 Hinzu kommt eine erhebliche Vermehrung von Regelungsmaterien infolge der neuen Medien. 123 Die quasi unkontrollierbare Verschiebung von Kapitalmassen zwischen den Ländern und die vom Internet eröffneten Chancen zur Abwanderung 124 stellen die Staaten zudem bei der Steuererhebung vor überhaupt nicht oder aber nur sehr schwer lösbare Probleme, 125 was zur Folge hat, daß die Steuerhoheit - zentrale Aufgabe des Staates und ein Kennzeichen seiner inneren Souveränität- faktisch erheblichen Beschränkungen ausgesetzt ist. Den Vorteil daraus ziehen die betreffenden Kapitalinhaber, die Staaten aber werden in einen "Wettbewerb der Steuersysteme"126 verstrickt, der finanzielle Einbußen und einen Autoritätsverlust insSiehe zu dieser Problematik Jack Goldsmith, 5 IJGLS (1998), S. 475 ff., der auch aufzeigt, auf welche Weise Regelungen mit klassischen nationalen Instrumentarien möglich sind. lost Delbrück, in: U. Bartosch/J. Wagner (Hrsg.), Weltinnenpolitik, S. 55 (62), führt als Beispiel für einen deutschen Regelungsversuch das Gesetz zur Regelung der Rahmenbedingungen für Informations- und Kommunikationsdienste (luKDG) an. 123 Vgl. dazu die Darstellung bei Gerhard Fuchs, in: Rüdiger Voigt (Hrsg.), Globalisierung des Rechts, S. 183 ff. 124 Zu den verschiedenen Formen der Abwanderung siehe Christoph Engel, 39 BDGVR (2000), S. 353 (381 ff.). 125 Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang die Entwicklung der sog. "Off-shore"Finanzplätze und sog. "free trade zones". Von der Karibik über Liechtenstein bis Singapur sind heute schon weit über 100 Standorte über den Erdball verstreut, von denen aus Banken, Investmentfonds und Versicherungen das Geld vermögender Kunden verwalten und planmäßig dem Zugriff der Herkunftsstaaten entziehen. Vgl. dazu Hans-Peter Martini Harald Schumann, S. 91 f. In den "free trade zones" (z. B. in Hong Kong, Singapur, Malaysia, Südkorea und auf den Philllipinen) werden ausländische Firmen nicht zur Entrichtung örtlicher Steuern herangezogen und genießen auch in bezugauf andere Vorschriften Privilegien. Siehe hierzu Saskia Sassen, Loosing Control?, S. 9; Peter Dicken, S. 130 ff. Unternehmen nutzen die Unterschiede zwischen den jeweiligen nationalen Besteuerungssystemen systematisch, um so ihre Steuerlast zu optimieren. So werden beispielsweise die in einem Sitzstaat mit ungünstigen Steuersätzen erzielten Gewinne intern auf eine Tochtergesellschaft verschoben, deren Sitzstaat günstigere Steuerbedingungen bietet oder gerade die mit hohen Steuern belasteten Teile der Wertschöpfungskette verlagert. Erhöhte Arbeitslosigkeit in dem verlassenen Staat ist eine der Folgen. V gl. näher zu diesem Problem des sog. "transfer pricing" und anderen Möglichkeiten, die Vorteile sog. "tax havens" zu nutzen Peter Muchlinsky, Multinational Enterprises, S. 282 ff., 303 ff.; Peter Willetts, in: John Baylis/Steve Smith, The Globalization of World Politics, S. 287 (293); auch Saskia Sassen, Loosing Contra!?, S. 44 ff. Ulrich Beck, S. 19 ff., spricht in diesem Zusammenhang von "virtuellen Steuerzahlern". 126 Hans-Peter Martin/Harald Schumann, S. 274; }ürgen Hoffmann, APuZ, B 23/99, S. 3 (8); Alfred Aman, VandJTransnat'lL 31 (1998), S. 769 (776), hebt hervor, daß sich der Staat heute in fast allen Bereichen zuvor ungekanntem Wettbewerb ausgesetzt sieht. 122

A. Erscheinungsformen und Kennzeichen von Globalisierung

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gesamt zur Folge hat. 127 Nationale Politikkonzepte werden so unterwandert und büßen an Effektivität ein. Hinzu kommt, daß durch die modernen Medientechnologien annähernd eine Weltöffentlichkeit hergestellt worden ist, die nicht nur bewirkt, daß die Gesellschaften ein Bewußtsein für Probleme in verschiedensten Teilen der Welt entwikkeln, 128 sondern es zudem totalitären, Menschenrechte verachtenden Regimen stetig erschwert, ihre Machenschaften verdeckt zu halten. Zwar hatten Staaten auch in der Vergangenheit nie die vollständige Informationshoheit,- vom Flugzeug abgeworfene Flugblätter, direktstrahlende Satelliten, Reisende und Telefonate ließen schon lange fremde Inhalte eindringen - durch das Internet wird dies aber so viel leichter, daß die Vorstellung von einer staatlichen Informationshoheit nicht mehr viel Sinn macht. 129 Auch der Zusammenbruch des realen Sozialismus ist neben anderen Ursachen wesentlich auf den zersetzenden Einfluß der elektronischen Medien zurückzuführen, die sich anders als in früheren Zeiten nicht mehr ohne weiteres durch Zensur oder Zugangsverbote unter Kontrolle halten lassen. 130 127 Saskia Sassen, Globalization and its Discontents, S. 195 ff., betont dagegen, daß der Staat auch weiterhin die Macht habe, wirtschaftliche Vorgänge zu regulieren, wenn er nur den Schwerpunkt seiner Kontrolle auf die ortsgebundenen (Produktions-)Vorgänge und die Infrastruktur lege. Eine Beschränkung der Betrachtungen über die schwindende Regelungsmacht des Staates auf die produzierten hypermobilen "Outputs" sei dagegen zu einseitig. Ähnlich auch Peter Dicken, S. 10 ff., und Geoffrey Garrett, in: David Held/Anthony McGrew (Hrsg.), Global Transfonnations Reader, S. 301 ff. 128 "Solange man nicht täglich ins Innere der Staaten und der Krisenherde der Welt schauen konnte, wurde vom Orient oder von der ,Dritten Welt' wie von Abstracta gesprochen, denen gegenüber eine wie immer gebildete, so doch stets differenzierte Haltung genügte. Auch Goethe wußte, daß sich ,hinten, weit in der Türkei' die Völker schlagen, doch heute werden gerade bildliehe Informationen zu unmittelbaren Handlungsimpulsen", Klaus Dicke, 39 BDGVR (2000), S. 13 (20). Hierzu hat insbesondere CNN, der wohl erste und größte Nachrichtensender seiner Art, einen bedeutenden Beitrag geleistet, z. B. durch seine Live-Berichterstattungen aus Krisenregionen wie dem Balkan oder dem Irak. 129 So zutreffend Christoph Engel, 39 BDGVR (2000), S. 353 (390). 130 Ulrich Menzel, S. 258; Hans-Peter Martin/Harald Schumann, S. 27, führen in diesem Zusammenhang das Beispiel des chinesischen Regimes an, das zum Zwecke des eigenen Machterhalts eine "Abwehrschlacht gegen Faxbriefe, E-mail und Fernsehsender der Kapitalistenwelt" führe. Der chinesische Minister für Post und Telekommunikation, Wu Jiuchan, bekannte: "Es ist eine Art von Fortschritt, was Wissenschaft und Technik betrifft, wenn China mit dem Internet verbunden ist. Aber als souveräner Staat wird China Kontrolle ausüben. Wenn wir uns an das Internet anschließen, dann meinen wir damit nicht die absolute Freiheit der lnfomation." Daß dies zunehmend weniger gelingt, zeigt sich allein daran, daß in den ersten 10 Monaten nach dem Erlaß eines Zensurgesetzes für Internetnutzer 47.000 Menschen festgenommen wurden, die die Bestimmungen der Internetnutzung verletzt hatten; Zitat aus Reiner Tetzlaff, in: ders. (Hrsg.), Weltkulturen unter Globalisierungsdruck, S. 18 (49 f.).

4 Hingst

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Teil 1: Was bedeutet Globalisierung?

Der zunehmende Informationsstand in großen Teilen der Welt bewirkt somit auch eine Veränderung der Bedingungen von Legitimität und Gefolgschaft innerhalb des Staates. Allen bislang angesprochenen Entwicklungen ist gemein, daß sie sich aufgrund ihrer weitestgehenden Unabhängigkeit vom geographischen Raum staatlicher Regelung in hohem Maße entziehen. Der Staat ist daher gezwungen, sich im wesentlichen über radizierte Angelegenheiten zu definieren: den Frieden nach außen und innen, raumbezogene Fragen und die Bewältigung (lokaler) Umweltprobleme.131 Auch diese Aufgaben sind jedoch durch staatliche Einzelmaßnahmen nicht mehr effektiv zu leisten. Allein die Schaffung internationaler oder globaler Schutzregime hat Aussicht auf eine effektive Bekämpfung der Gefahren und Schädigungen. 132 Die Staaten sind somit zunehmend gezwungen, um der Effektivität willen mit anderen Akteuren zu kooperieren. Diese für die Prozesse im Zeitalter der Globalisierung kennzeichnende Situation stellt sich dem Staat sowohl auf internationaler Ebene - wo er nicht allein mit anderen Staaten, sondern heute insbesondere auch mit NGOs und MNCs zusammenarbeiten muß 133 - als auch im nationalen Bereich, wo ebenfalls zunehmend sog. "public private partnerships" zu finden sind. Der Staat wird insgesamt nicht nur als Schutzstaat weniger wichtig, 131 Christoph Engel, 39 BDGVR (2000), S. 353 (396). 132 Stephan Hohe, Der offene Verfassungsstaat, S. 413, weist in bezugauf die Wahrung der Sicherheit des Staates auf Art. 24 II GG der Bundesrepublik Deutschland hin, der "eine deutliche internationale Option eröffnet". Das Grundgesetz sei somit "sogar bewußt auf die nicht autark vorzunehmende Landesverteidigung ausgerichtet". David Held/Anthony McGrew/David Goldblatt/Jonathan Perraton, S. 144 ff., stellen fest, daß sich für viele entwickelte Staaten Belange der nationalen und der internationalen Sicherheit kaum mehr getrennt beurteilen lassen. Durch die Einbildung in verschiedene Sicherheitsorganisationen (NATO, OSZE u. a.) stellen die nationale Verteidigung und die Verteidigungspolitik keine rein nationale Angelegenheit mehr dar. Kofi Annan, Generalsekretär der Vereinten Nationen, sieht die Vereinten Nationen dazu berufen, die gemeinsamen Bemühungen im Kampf gegen die organisierte internationale Kriminalität zu leiten; Report of the Secretary-General on the Work of the Organization 1998, Chapter IV, 148, 168, http://www.un.org/Docs/SG/Report98/ch4.htm (Stand: 29.01.1999). 133 Zur Zusammenarbeit mit NGOs vgl. Teil 1, A. II. 2. und B. II. 5. c); beispielhaft für "public private partnerships" mit MNCs ist der 1998 vom United Nations Development Programm und anderen ON-Organisationen eingeleitete Versuch, mit MNCs zu kooperieren, um diese dazu zu bewegen, aktiv für Menschenrechtsschutz sowie soziale und ökologische Mindeststandards in ihren Unternehmen und der Weltwirtschaft einzutreten, um dem Ziel eines "global market with a human face" näherzukommen; lngomar Hauchler/Dirk Messner/Frank Nuscheler (Hrsg.), Globale Trends 2000, S. 62. Zu dieser Art des sog. "social auditing" der MNCs siehe auch UNDP Human Development Report 1999, s. 101.

A. Erscheinungsformen und Kennzeichen von Globalisierung

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sondern auch seine Fähigkeit, den Bürger so wie früher mit staatlichen Leistungen zu versorgen, sinkt. 134 Damit kann er auch auf die politisch integrierende Wirkung staatlicher Dienstleistungen nicht mehr zurückgreifen- ein Ansatz, der zumindest in Europa für längere Zeit von tragender Bedeutung war. 135 Die verminderte Integrationskraft des Staates befördert wie oben gesehen wiederum die gesellschaftliche Denationalisierung. Durch die rechtlichen Bindungen, die der Staat im Rahmen dieser Kooperation eingeht, erlegt er seiner souveränen Gestaltungsmacht- de iure freiwillig, de facto häufig gezwungenermaßen -Beschränkungen auf, selbst in so wesentlichen Bereichen wie dem der Rechtskontrolle und Rechtsdurchsetzung. Diese Aufgabe wird heute nicht mehr vom Staat allein, sondern daneben von internationalen Gerichtshöfen 136 und Schiedsgerichten137 wahrgenommen. Der Ursprung dieser Entwicklung fällt mit der Errichtung des StiGH (1919) und des IGH (1946) zwar bereits in die Zeit vor dem Beginn der Globalisierung, die heutigen Entwicklungen befördern diesen Vorgang jedoch zumindest erheblich. Dies wird besonders deutlich am Beispiel des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften (EuGH), aber auch das Streitbeilegungsverfahren im Rahmen der WTO und der neu gegründete Internationale Strafgerichtshof können dafür als Beispiele genannt werden. Die Entscheidungen des EuGH, deren Adressaten Individuen (natürliche und juristische Personen in den Mitgliedstaaten) und die Mitgliedstaaten selbst sein können, gelten unmittelbar und bedürfen daher keiner Umsetzung seitens des betreffenden Staates. 138 Die Hoheitsmacht des Mitgliedstaates nach innen wird auf diese Weise erheblich zurückgedrängt; für ihn bleibt nicht mehr als die Befolgung des Urteils und selbst dies nur in dem Falle, daß er selbst Adressat der Entscheidung ist.

134 Z. B. wegen verminderter finanzieller Kapazitäten. Dies fällt um so stärker ins Gewicht, als die Bürger wegen der globalisierungsbedingten Verschärfung der Konkurrenz, damit verbundener Arbeitslosigkeit usw. z. B. auf die sozialen Leistungen des Staates mehr noch als früher angewiesen sind. 135 Klaus Dicke, 39 BDGVR (2000), S. 13 (16). 136 Z. B. der IGH und die Ad-hoc-Tribunale für Rwanda und das ehemalige Jugoslawien, der UN Seegerichtshof, der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH), der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EMGH). 137 Z. B. das Schiedsgericht der International Chamber of Commerce and Arbitration Association, die American Arbitration Association, das Zentrum zur Beilegung von Investitionsstreitigkeiten (ICSID) oder auch das Streitbeilegungsverfahren im Rahmen der WTO. 138 Frank Emmert, § 12 Rn. 22; Michael Schweitzer/Waldemar Hummer, § 3 V 4.

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Teil 1: Was bedeutet Globalisierung?

Mit dem Streitbeilegungsverfahren im Rahmen der WT0 139 wurde ein internationales Verfahren geschaffen, das die Rechte und Pflichten der WTO-Mitglieder aus dem GATI 1994 wahren und die bestehenden Verpflichtungen klären soll. 140 Bewirkt durch die völkervertragsrechtliche Bindungswirkung der Entscheidungen des "Dispute Settlement Body" (im folgenden: DSB) entsteht für den WTO-Mitgliedstaat der Zwang, seine innerstaatlichen Rechtsregeln und sein Handeln entsprechend der Entscheidung des DSB zu revidieren, will er sich nicht völkerrechtlich verantwortlich machen. 141 Auch wenn es auf diese Weise nur zu einer mittelbaren Einwirkung auf das innerstaatliche Recht kommt 142 und dies nicht WTO-spezifisch, sondern Konsequenz einer jeden völkervertragsrechtlichen Bindung ist, 143 so stellt das WTO-Streitbeilegungsverfahren in diesem Zusammenhang dennoch eine Besonderheit dar: Durch die Weiterentwicklung des "alten" GATT 47 im Rahmen der Uruguay-Runden ist das Verfahren zu einem obligatorischen Bestandteil des WTO-Vertrages ausgestaltet worden144, so daß ein "GATT aIa Carte", in dem sich ein Mitgliedstaat die für ihn annehmbaren Teile aussuchen kann, nunmehr ausgeschlossen ist. Die Streitbei139 Durch Panels vorbereitete Entscheidungen des Dispute Settlement Body; eine gute knappe Darstellung dieses Streitbeilegungsverfahrens ist zu finden bei William Davey, in: Pierre Pescatore/William Davey/Andreas Lowenfeld (Hrsg.), Handbook of WTO/GATT Dispute Settlement, Part I, S. 7 (70 ff.). 140 Art. 3 (2) (2) des Dispute Settlement Understandings. Auch wenn der DSB kein Gerichtshof ist, so kann das Streitbeilegungsverfahren dennoch als eine Art Gerichtsbarkeit qualifiziert werden, vgl. auch Thomas Gabler, S. 139; William Davey, in: Pierre Pescatore/ William Davey/Andreas Lowenfeld (Hrsg.), Handbook of WTO/GATI Dispute Settlement, Part 1, S. 7 (76 f.); lose Beneyto, 8 EuZW (1997), S. 295 (299). 141 Auf eine Darstellung der Problematik der Wirkung/Anwendbarkeit von Panel(DSB-)Entscheidungen im Rahmen der Europäischen Gemeinschaften, die neben ihren Mitgliedstaaten auch selbst der WTO angehört, wird an dieser Stelle verzichtet. V gl. hierzu ausführlich Thomas Gabler, S. 135 ff., und auch lose Beneyto, 8 EuZW (1997), S. 295 ff. 142 Anders als im Falle der unmittelbaren Wirkung europäischen Gemeinschaftsrechts wirken die DSB-Entscheidungen entsprechend nur mittelbar auf die Rechtsordnung des betreffenden Nationalstaates ein. Den Idealfall vorausgesetzt, daß der Staat willens und in der Lage ist, seine Verpflichtungen aus dem WTO-Vertrag zu erfüllen und sich der DSBEntscheidung entsprechend zu verhalten, kommt es aber dennoch auch bei diesem Verfahren zu einer (indirekten) Einwirkung ,.fremden Rechts" auf die innerstaatliche Ordnung des WTO-Mitglieds. 143 Als Beispiel eines weiteren Gerichtshofs kann hier der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EMGH) genannt werden, dessen Urteile ebenfalls nicht unmittelbar wirken. Es werden im Rahmen des Verfahrens vor dem EMGH lediglich die Verletzung der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 04.11.1950, 213 U.N.T.S., S. 221 (EMRK) sowie die Verpflichtung des verurteilten Staates festgestellt, sich nach der Entscheidung des Gerichtshofs zu richten (Art. 46 EMRK). 144 Art. 2 (2) WTO-Abkommen.

A. Erscheinungsfonnen und Kennzeichen von Globalisierung

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legung hat zudem einen stärker gerichtsähnlichen Zug bekommen 145 , und die Möglichkeit der Autorisierung wirtschaftlicher Gegenmaßnahmen 146 für den Fall, daß der gegen das GA TI verstoßende Staat sich der Entscheidung des DSB nicht beugt, verstärkt den Druck auf diesen in erheblichem Maße. Da aber die Mitgliedschaft in der WTO im Zeitalter zusammenwachsender Märkte ein entscheidender Faktor für eine erfolgreiche Beteiligung an der Weltwirtschaft ist, sind trotzteilweise erheblicher Bedenken im Hinblick auf ihre Souveränität mittlerweile 134 (Stand vom 10.02.1999) Staaten der WTO beigetreten und haben damit das Streitbeilegungsverfahren in Kauf genommen. 147 Dies zeigt, in welchem Maße sich die Auswirkungen der Globalisierung und die sie befördernden Faktoren wechselseitig bedingen und sich gegenseitig rückkoppelungsartig verstärken. 148 Als drittes Gericht soll noch der Internationale Strafgerichtshof genannt werden, dessen Gründung auf der Staatenkonferenz von Rom am I 7. Juli I 998 beschlossen wurde. Die Vertragsstaaten des Statuts dieses Gerichtshofs haben sich in Art. I 2 (I) Statut im Prinzip für eine automatische Zuständigkeit des Gerichtshofs für die in Art. 5 Statut genannten Delikte und damit gegen den souveränitätsfreundlicheren 149 Ansatz entschlossen, nach dem noch eine weitere Unterwerfungserklärung der Parteien erforderlich gewesen wäre, die generell oder für den Einzelfall abgegeben werden und mit Vorbehalten versehen werden konnte. 150 Ist kein Staat zur ernsthaften Verfolgung der Täter willens oder in der Lage, so kann das Gericht die Sache an sich ziehen und die Taten bestrafen. 151 14s Durch eine starke Straffung des Verfahrens; vgl. zu den neu geregelten Fristen die Art. 4, 12, 20 Dispute Settlement Understanding. 146 Zu Voraussetzungen und Verfahren siehe Art. 22 Dispute Settlement Understanding. 147 "Globalization increasingly offers incentives to nation-states to surrender bits oftheir sovereignty consensually through treaties to fashion advantagous economic arrangements." lohn Attanasio, 28 NYUJint'lL&Pol (1996), S. I (26). Die aktuelle Zahl und die Namen der Mitgliedstaaten sind abrufbar unter http://www. wto.org//wto/abaout/organsn6.htm (Stand vom 10.02.1999). 148 "The state itself has been a key agent in the implementation of globalization processes, and it has emerged quite altered by this participation", so zutreffend Saskia Sassen, Loosing Control?, S. 28. 149 U. a. von den U.S.A. favorisierten. Iso Siehe hierzu auch unten, Teil 3, D. III. 2. d). Nur im Bereich der Kriegsverbrechen gilt von dem Grundsatz der "automatic jurisdiction" eine Ausnahme. Die Zuständigkeit des Gerichtshofhierfür können die Vertragsstaaten nach Art. 124 Statut für eine Übergangszeit von 7 Jahren ab Beitritt oder Ratifikation ausnehmen. ISI Zur den Voraussetzungen für die Ausübung der Jurisdiktion durch den Gerichtshof siehe auch unten, Teil 3, D. III. 2. d) aa).

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Teil I: Was bedeutet Globalisierung?

"Ernstfälle" dieser Art wurden im Interesse einer effektiven internationalen Strafjustiz aus dem Bereich der Jurisdiktion der Vertragsstaaten herausgenommen. Insgesamt soll der künftige Internationale Strafgerichtshof die nationalen Instanzen allerdings nicht ersetzen, sondern lediglich im Falle deren Nichtfunktionierens ergänzen. 152 In dem genannten "Ernstfall" könnte man daher zwar bereits von (staatlich konsentierter) Entstaatlichung im engen rechtlichen Sinne sprechen, grundsätzlich aber noch nicht. Ein ausschließlich rechtliches Verständnis der materiellen Denationalisierung griffe jedoch zu kurz. Sie ließe die in bezug auf verschiedene Bereiche dargestellte tatsächliche Unfähigkeit des Staates, wesentliche für das Zeitalter der Globalisierung kennzeichnende Entwicklungen zu beeinflussen und zu steuern, unbeachtet. Diese bildet in vielen Fällen die Vorstufe zu der eng verstandenen rechtlichen Denationalisierung und hat ebenso wie diese erhebliche Auswirkungen für die Position des Staates im internationalen System. Wo dieser nicht mehr effektiv zu handeln in der Lage ist, öffnen sich Schlupflöcher, durch die andere Akteure in die ursprüngliche Domäne des Staates eindringen können. Aus diesem Grunde wird im Rahmen der vorliegenden Arbeit zusätzlich der Begriff der faktischen Denationalisierung gebraucht, um die Erosion der staatlichen Autorität im Vorfeld der rechtlichen Globalisierung zu bezeichnen. 153

152 Dieses Prinzip der Komplementarität wird dem Statut in Abs. 10 der Präambel und Art. 1 als institutioneller Leitsatz vorangestellt und in Art. 17 präzisiert. Das Statut beinhaltet mehrere Grundaussagen, die dem Schutz staatlicher Strafhoheit dienen und Kompetenzkonflikte mit nationalen Rechtsordnungen vermeiden sollen. So wird neben dem Grundsatz, daß der Nationalstaat entweder unfähig oder nicht willens sein darf, die Strafverfolgung zu gewährleisten, beispielsweise auch eine Mindestschwelle aufgestellt, ab der erst die Zuständigkeit des Gerichtshofs für Völkerrechtsverstöße beginnen soll (Art. 17 Statut). 1s3 Marianne Reisheim et al., S. 17, 325 ff., gebrauchen außerdem den Begriff der "politischen Denationalisierung", um Vorgänge wie die Gründung und den Ausbau der WTO zu bezeichnen, die kennzeichnend dafür sind, daß sich in verschiedenen Bereichen die Reichweite der politischen Regelungen von der nationalstaatliehen Ebene wegentwickelt. Diese "politische Denationalisierung" führt teilweise zur Übernahme ehemals staatlicher Aufgaben durch andere, nichtstaatliche Akteure und damit zu rechtlicher Entstaatlichung im hier zugrunde gelegten Sinne. Teilweise verbleibt sie im Vorfeld der rechtlichen Denationalisierung und kann zu den Entwicklungen gezählt werden, die hier als faktische Denationalisierung bezeichnet werden. Da die von Beisheim et al. bezeichneten Entwicklungen folglich auch von dem hier gewählten Denationalisierungsbegriff erfaßt werden, wird davon abgesehen, die Terminologie um den Begriff der politischen Denationalisierung zu ergänzen.

A. Erscheinungsformen und Kennzeichen von Globalisierung

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4. Ergebnis Als wesentliche Kennzeichen der eingangs dargestellten Entwicklungen bleiben somit festzuhalten: a) Gesellschaftliche Denationalisierung durch die Aufhebung der Kongruenz von Nationalstaat und Gesellschaft; b) Faktische Entstaatlichungaufgrund der dem Staat in unterschiedlichen Bereichen de facto abhanden gekommenen Regelungs- und Steuerungsmacht; c) Rechtliche Entstaatlichung im Sinne einer Herausnahme öffentlicher Funktionen aus dem Aufgabenbereich des Staates und deren Übernahme durch nichtstaatliche Wirkungseinheiten. Die gesellschaftliche Denationalisierung ist dabei Ursache und Wegbereiter für die materiellen Denationalisierungsprozesse der faktischen und rechtlichen Entstaatlichung. Alle drei Formen der Denationalisierung sowie der Autoritäts- und Effektivitätsverlust wirken wechselseitig zusammen und führen zu einer rückkoppelungsartigen Beschleunigung der gemeinhin als "Globalisierung" bezeichneten Prozesse.

111. Reichweite, Umfang und Grenzen der Denationalisierung Nachdem festgestellt wurde, daß die in der Literatur regelmäßig als Globalisierung bezeichneten Entwicklungen wesentlich durch drei Formen von Denationalisierung gekennzeichnet werden, wird nunmehr hinterfragt, wie weit die konstatierte Denationalisierung gegenwärtig reicht bzw. wo ihre Grenzen liegen.

1. Souveränitätsverlust? Vielfach wird die Ansicht vertreten, der dargestellte Autoritäts- und Effektivitätsverlust bedeute zugleich einen Verlust des Staates an Souveränitäe 54, da diese

154 Z. B. Edgar Grande, in: ders./Rainer Prätonus (Hrsg.), Modemisierung des Staates?, S. 45 (58). Mohamed Mahmoud, 123 JDI (1996), S. 611 (620 ff.); Ulrich Menzel, S. 66; Peter Willetts, in: John Baylis/Steve Smith, The Globalization of World Politics, S. 287 (293 f.); Jürgen Hoffmann, APuZ, B 23/99, S. 3 (9).

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Teil 1: Was bedeutet Globalisierung?

ausgehöhlt, 155 unterlaufen 156, abgebaue 57 werde. 158 Fraglich ist, ob dieser Beurteilung zugestimmt werden kann. Souveränität ist ein "schillernder und emotionell geladener" Begriff159 , der in sehr unterschiedlichen Zusammenhängen und zur Bezeichnung teilweise sehr verschiedener Gesichtspunkte gebraucht wird. Die Beurteilung der Frage, ob die gemeinhin als Globalisierung bezeichneten Entwicklungen tatsächlich zu einem Verlust der Nationalstaaten an Souveränität führen, hängt daher maßgeblich davon ab, was für ein Souveränitätsverständnis der Untersuchung zugrunde gelegt wird. An dieser Stelle können allerdings nur die wesentlichsten Ansätze aufgegriffen werden, denen im Zusammenhang mit der vorliegenden Fragestellung eine Bedeutung zugemessen wird. Eine erschöpfende Auseinandersetzung mit der Definition des Begriffs der Souveränität überstiege den Rahmen dieser Arbeit. Souveränität wird in der Regel formell definiert und als Souveränität im (Völker-)Rechtssinne verstanden. Daneben findet unter anderem der Begriff der "politischen Souveränität" Anwendung, um materielle Elemente der Souveränität zu beschreiben. Dieser wird jedoch nicht als weiterer, heterogener Souveränitätsbegriff verstanden, sondern dient der Beschreibung der materiellen - im Gegensatz zur formellen, völkerrechtlichen- Seite eines einheitlichen, "an der politisch-geschichtlichen Wirklichkeit orientierten" Souveränitätsbegriffes. 160 Bei Zugrundelegung dieser Differenzierung ist ein Staat dann im vollen Sinne des Wortes souverän, wenn er beide Seiten der Souveränität für sich beanspruchen kann. 161 Im folgenden wird daher untersucht, ob die beschriebene Denationalisierung bereits so weit fortgeschritten ist, daß von einem Verlust der Souveränität in der einen oder anderen Hinsicht zu sprechen wäre.

Z. B. Lothar Brack, 21 Leviathan (1993), S. 163 (171); Maleolm Waters, S. 111. Z. B. Michael Zürn, 20 Leviathan (1992), S. 490 (509); Phillip Cerny, in: Aseern Prakash!Phillip Hart, Globalization and Governance, S. 188 (192). 157 Z. B. Peter Pernthaler, FS Koja, S. 69 (78); Christyne Vachon, 26 DJint'lL&Po1 (1998), S. 691 (692). 158 Anderer Ansicht dagegen z. B. Henry Perritt Jr., S IJGLS (1998), S. 423 ff., der in bezug auf die Wirkungen des Internet zu dem Ergebnis kommt, daß der Staat durch dieses Medium eher gestärkt als geschwächt wird; ähnlich auch Keith Aoki, S IJGLS (1998), s. 443 ff. 159 Rudolf Bindschedler, FS Guggenheim, S. 167 (167). 160 Georg Dahm/Jost Delbrück/Rüdiger Wolfrum, Völkerrecht U1, S. 217 Fn. 12; Rudolf Bindschedler, FS Guggenheim, S. 167 (174). 161 Alfred VerdrossiRruno Simma, S. 30; Rudolf Bindschedler, FS Guggenheim, s. 167 (174). 155

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A. Erscheinungsfonnen und Kennzeichen von Globalisierung

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Unter Souveränität im (Völker-)Rechtssinne wird allgemein die unbeschränkte und unteilbare, aber dennoch nicht absolute, sondern nur relative (weil dem Völkerrecht unterstellte) 162 Gewalt des Staates nach innen und nach außen verstanden.163 Dabei bedeutet innere Souveränität, daß der Staat den höchsten Herrschaftsverhand darstellt, der nicht durch andere innerstaatliche Gewalten in Frage gestellt ist. 164 Kennzeichen dieser inneren Souveränität sind die Einheit der Staatsgewalt und Kompetenzhoheit des Staates. 165 Die Staatsgewalt ist im Innern die rechtlich höchste Gewalt, die keiner anderen Gewalt gehorcht und allein originär hoheitliche Regelungsbefugnis besitzt, von der Kompetenzen anderer Institutionen abgeleitet werden können. 166 Mit dem Begriff der äußeren Souveränität 167 wird dagegen insbesondere die Unabhängigkeit des Staates von übergeordneten außerstaatlichen Gewalten 168 und damit seine Fähigkeit zu rechtlich vollständiger Selbstbestimmung im völkerrecht-

162 Auch in der historischen Entwicklung ist die Souveränität zu keiner Zeit als absolute, an höchster Stelle stehende Größe verstanden worden; vgl. zu diesem geschichtlichen Aspekt Heike Gading, S. 184 ff. 163Diese Definition wird man heute als konsensfahig bezeichnen können, vgl. nur Knut lpsen, in: ders. (Hrsg.), Völkerrecht,§ 1 Rn. 18; Hanspeter Neuhold/Christoph Schreuer, in: Hanspeter Neuhold/Waldemar Hummer/Christoph Sehreuer (Hrsg.), ÖHdbVR, S. 29; Alfred Verdross, FS v. d. Heydte, S. 703 (707); Rudolf Hindschedler, FS Guggenheim, S. 167 f. Zur Entwicklung des Begriffs der Souveränität siehe Georg Dahm/Jost Delbrück/ Rüdiger Wolfrum, Völkerrecht 111, S. 215 ff., sowie Alfred VerdrossiHruno Simma, S. 25 ff.; Helmut Steinberger, in: Rudolf Bemhardt et al. (Hrsg.), Encyclopedia of Public International Law, Inst. 10, S. 397 ff. ; Eelco Kleffens, 82 RdC (1953) I, S. 1 ff. Zur Souveränitätsfrage im Zusammenhang mit dem Schutz grundlegender Menschenrechte durch militärische Maßnahmen des Sicherheitsrates siehe Heike Gading, passim. 164 Alfred Verdross, FS v. d. Heydte, S. 703 (707); Christian Gloria, in: Knut lpsen (Hrsg.), Völkerrecht,§ 23 Rn. 3 f.; Hanspeter Neuhold/Chrsitoph Schreuer, in: Hanspeter Neuhold/Waldemar Hummer/Christoph Sehreuer (Hrsg.), ÖHdbVR, S. 29. 165 Reinhold Zippelius, S. 64; Alfred Verdross, FS v. d. Heydte, S. 703 (707); lgnaz Seidl-Hohenveldem, Rn. 9; Helmut Quaritsch, S. 266 ff. (zur Einheit der Staatsgewalt). 166 Reinhold Zippelius, S. 61 ; Volker Epping, in: Knut lpsen (Hrsg.), Völkerrecht,§ 5 Rn. 6; Luzius Wildhaber, FS Eichenberger, S. 131 (138). 167 Alfred Verdross, FS v. d. Heydte, S. 703 (707), spricht von der "völkerrechtlichen Souveränität". 168 Diese kann in Fonn anderer Staaten oder einer den Staaten übergeordneten Organisation auftreten; vgl. dazu Alfred VerdrossiHruno Simma, S. 26; Albert Hleckmann, in: Bruno Simrna (Hrsg.), Charta der Vereinten Nationen, Art. 2 (I), Rn. 11. Zum Begriff siehe außerdem Georg Dahm/Jost Delbrück/Rüdiger Wolfrum, Völkerrecht 111 , S. 216; Wolfgang GrafVitzthum, in: ders. (Hrsg.), Völkerrecht, S. 47.

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Teil 1: Was bedeutet G1obalisierung?

Iichen Verkehr 169 - immer im Rahmen des geltenden Völkerrechts- ausgedrückt. Diese Souveränität ist stets relativ, nämlich im Sinne einer Völkerrechtsunmittelbarkeit170 zu verstehen. Der Staat kann daher seiner so beschriebenen Unabhängigkeit freiwillig Beschränkungen auferlegen, z. B. durch den Abschluß völkerrechtlicher Verträge, die seine Handlungsfreiheit einengen oder durch die sogar einzelne Hoheitsrechte auf eine überstaatliche Organisation übertragen werden. Solange der Vertrag durch ein völkerrechtliches Verfahren wieder lösbar ist, bleibt die Souveränität des vertragsschließenden Staates unberührt. 171 Die Souveränität der Staaten ist aber auch insofern relativ, als die Interdependenz der Staaten und der Gesellschaften seit langem beständig wächst und die Staaten untereinander längst nicht mehr nur Rechte, sondern in zunehmendem Maße auch Pflichten haben, deren Einhaltung nicht nur für die Stellung und das Ansehen des Staates in der internationalen Gemeinschaft, sondern häufig auch für die W obifahrt der gesamten menschlichen Gesellschaft von herausragender Bedeutung ist. 172 169 Reinhold Zippelius, S. 65; /gnaz Seidl-Hohenveldern, Rn. 2, 1439. Auf die verschiedenen Folgen aus der äußeren Souveränität der Staaten wie z. B. die Gleichheit aller Staaten (Art. 2 (1) UN-Charta), das Interventionsverbot (Art. 2 (7) UN-Charta) u. a. m. braucht an dieser Stelle nicht eingegangen zu werden. Siehe dazu Albert Bleckmann, in: Bruno Simma (Hrsg.), Charta der Vereinten Nationen Art. 2 (1), Rn. 15 ff. 170 Zu diesem Begriff siehe statt vieler Volker Epping, in: Knut Ipsen (Hrsg.), Völkerrecht, § 5 Rn. 7, und Alfred Verdross, FS v. d. Heydte, S. 703 (705 f.). 171 Alfred Verdross/Bruno Simma, S. 29; Georg Dahm/Jost Delbrück/Rüdiger Wolfrum, Völkerrecht 1/1, S. 217; Albert Bleckmann, in: Bruno Simma (Hrsg.), Charta der Vereinten Nationen, Art. 2 (1), Rn. 27. So hat schon der StiGH im Wimbledon-Fall die Fähigkeit, völkerrechtliche Verträge abzuschließen, geradezu als Ausfluß der Souveränität der Staaten bezeichnet, PCIJ, Series A, No. 1 (1923), S. 25. Ob die Möglichkeit, sich von dem Vertrag über die Europäische Union zu lösen, deren Mitgliedstaaten noch offensteht, wird z. B. vom EuGH und dem deutschen BVerfG sehr unterschiedlich beurteilt. BVerfGE 89, 155, 190, 198 f.; EuGH etwa in Van Gend & Laos, Rs. 26/62, Slg. 1963, 1, und Costa ./. ENEL, Slg. 1964, 1251 st. Rspr.; vgl. zu dieser Frage auch die Darstellung bei Stephan Hohe, Der offene Verfassungsstaat, S. 354m. w. N. Die Europäischen Gemeinschaften sind darüber hinaus ein Beispiel dafür, daß die Übertragung von Hoheitsrechten auf eine überstaatliche Organisation oder eine zwischenstaatliche Einrichtung auch Auswirkungen auf die innere Souveränität des betreffenden Staates haben kann. Sowohl ihr Primärrecht als auch ihre Verordnungen (Art. 189 (2) EGV) und Entscheidungen (Art. 189 (4) EGV) entfalten in jedem Falle unmittelbare Wirkung in den Mitgliedstaaten, so daß der Radius innerstaatlicher Gewalt im ursprünglichen Kompetenzbereich der Legislative und dem der judikativen Gewalt in dem Maße verringert wird, als Gemeinschaftsrecht zur Entstehung kommt. 172 Auf letzteren Punkt verwies bereits Richter Alvarez in seiner Individual Opinion in dem Rechtsgutachten des IGH zu den Conditions ofAdmission of a Stare to Membership in

A. Erscheinungsformen und Kennzeichen von Globalisierung

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Bei Zugrundelegung des so bestimmten (völker-)rechtlichen Begriffs der Souveränität könnte von einem Verlust an innerer Souveränität im eigentlichen Sinne nur dann gesprochen werden, wenn die rechtliche Überordnung der Staatsgewalt über die politischen, sozialen und wirtschaftlichen Verbände in ihrem Innern nicht mehr gegeben wäre. Der dargestellte Einflußverlust des Staates nach innen infolge dessen, was als Globalisierung bezeichnet wird, findet jedoch nicht auf dieser rechtlichen Ebene statt. Er beruht (noch) vielmehr auf faktischen Veränderungen, durch die es dem Staat erschwert bis unmöglich wird, seine (rechtlichen) Regelungsinstrumentarien einzusetzen bzw. deren Wirksamkeit erheblich reduziert wird. 173 In formalrechtlicher Hinsicht aber kann der Staat noch immer den Anspruch erheben, die höchste und allein rechtsetzende Gewalt in seinem Innern zu sein. 174 Man könnte jedoch hinterfragen, ob das Auftreten neuer Teilnehmer am internationalen System wie beispielsweise NGOs oder MNCs und deren Einflußnahme auf das Verhalten der Staaten im internationalen Verkehr 175 zu einem Verlust der Staaten an äußerer Souveränität führt, der von einer freiwilligen und reversiblen Beschränkung derselben zu unterscheiden wäre. Die dadurch geschaffene Situation wurde- anders als im Fall des Abschlusses völkerrechtlicher Verträge- nicht willentlich/zielgerichtet von den Staaten initiiert oder beschleunigt. Soweit es infolge der Arbeit dieser Institutionen also zu einer Beschränkung der Handlungsmöglichkeiten der Staaten kommt 176, ist diese nicht freiwillig bewirkt und reversibel. Sie unterliegt außerstaatlichen Steuerungsmechanismen, die der Einwirkung des Staates weitestgehend entzogen sind. Zunehmend wird darüber hinaus die Ansicht vertreten, daß man zumindest bestimmten NGOs und auch MNCs eine partielle Völkerrechtssubjektivität zuerkennen sollte oder gar muß.177 Auch wenn the United Nations, ICJ Reports 1948, S. 68 f. Die Bedeutung des Verhaltens der Staaten für ihr "standing" in der internationalen Gemeinschaft wird besonders hervorgehoben von Abram Chayes/Antonia Hand/er Chayes, S. 27 f. 173 Dies wird im Rahmen der vorliegenden Arbeit als faktische Denationalisierung bezeichnet; vgl. Teil!, A. II. 2. Siehe dazu auch Wolfgang Reinicke, S. 6 ff., 52 ff. 174 Die von Supranationalität geprägte Situation in den Europäischen Gemeinschaften wird in diesem Zusammenhang aus Gründen der Abstraktion unbeachtet gelassen. m V gl. oben Teil I, A. II. 2. 176 Z. B. aufgrundder in der Öffentlichkeit zu erwartenden Reaktionen. 177 In bezugauf NGOs vgl. Martin Ölz, 23 Co!HRLR (1997), S. 307 (323); J. J. LadorLederer, 23 ZaöRV (1963), S. 657 (677); Stephan Hohe, 5 IJGLS (1997), S. 191 (207); lost Delbrück, in: U. Bartosch/J. Wagner (Hrsg.), Weltinnenpolitik, S. 55 (64); Karsten Nowrot, 6 IJGLS (1999), S. 579 (635); lngrid Detter, International Legal Order, S. 125; Michael Hempel, S. 56 ff.; Sonja Riedinger, S. 315 ff. Siehe dazu auch unten Teil 3, B. Zur Dikussion um die Völkerrechtssouveränität von MNCs siehe nur: Joseph Nye, APuZ, B

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Teil 1: Was bedeutet G1obalisierung?

man diese Ansicht teilt, so kann allein aus dem Auftreten neuer Völkerrechtssubjekte jedoch noch nicht auf einen Verlust der Staaten an äußerer, völkerrechtlicher Souveränität zu geschlossen werden. Daß diese ihre einstige Position als vorrangige Akteure mit anderen Teilhabern am System- seien es internationale Organisationen, NGOs, MNCs oder auch andere transnationale politische und soziale Bewegungen 178 - werden teilen müssen, bedeutet nicht, daß ihnen eine außerstaatliche Gewalt übergeordnet wird. Nur dies aber wäre als ein Verlust an völkerrechtlicher Souveränität zu bewerten. Der Vorgang ist vielmehr mit der Entstehung eines neuen Staates vergleichbar, denn auch in jenem Fall tritt ein neues Völkerrechtssubjekt hervor, ohne daß die Souveränität der übrigen Staaten Schaden erleiden würde. Ähnlich wie bei der Differenzierung zwischen Völkerrechtssubjektivität und völkerrechtlicher Handlungsfähigkeit 179 muß daher bei formaler Bestimmung der Souveränität zwischen der rechtlichen Höchstmacht des Staates und deren faktischen Beschränkungen unterschieden werden. Für die an dieser Stelle diskutierte Frage bedeutet dies, daß von einem Verlust der Staaten an innerer oder äußerer Souveränität im (Völker-)Rechtssinne infolge dessen, was als Globalisierung bezeichnet wird, nicht gesprochen werden kann. Diese Sachlage stellt sich unter Umständen anders dar, wo das Völkerrecht Interessen der Staatengemeinschaft als Ganzes stipuliert. So werden insbesondere im Zusammenhang mit sog. obligationes erga omnes oder auch mit ius cogens Möglichkeiten der rechtlichen Bindung von Staaten ohne oder gegen ihren Willen diskutiert, die eine so erhebliche Erosion staatlicher Souveränität bedeuteten, daß von einer Einbuße derselben gesprochen werden könnte. Auf diese Entwicklungen wird in Teil 3 näher eingegangen. An dieser Stelle genügt die Feststellung, daß es sich dabei gegenwärtig noch um Ausnahmefälle handelt, die die grundsätzliche Aussage intakt lassen, daß durch die Allgemeinheit der "Globalisierungs"-Prozesse der Staat weder nach innen noch nach außen seine (völker-)rechtliche Souveränität eingebüßt hat. 5175, S. 25 ff.; Christopher Layne, 12 NYUJint'IL&Po1 (1980), S. 27 ff.; Klaus Grewlich, 37 EA (1982), S. 469 ff.;Stephan Hohe, Der offene Verfassungsstaat, S. 261 ff. m. w. N.; Sir Geoffey Chandler, Time, February 1, 1999, S. 66, verlangt z. B., daß auch MNCs zur Einhaltung internationaler Standards im Hinblick auf Menschenrechte verpflichtet werden sollen. 178 Vgl. dazu Jackie Smith/Charles Chatfield/Ron Pagnucco (Hrsg.), Transnational Social Movements and Global Politics: Solidarity Beyond the State, passim. 179 Vgl. dazu nur Volker Epping, in: Knut Ipsen (Hrsg.}, Völkerrecht,§ 4 Rn. 9 f. ; Otto Kimminich/Stephan Hohe, S. 73.

A. Erscheinungsformen und Kennzeichen von Globalisierung

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Wie bereits angesprochen findet man neben dem völkerrechtlichen Begriff der Souveränitätjedoch auch den Begriff der "politischen Souveränität" 180 und auch die Termini "wirtschaftliche", "technische" und "kulturelle" Souveränität werden zunehmend verwendet, 181 um die materielle Seite der Souveränität- als Gegensatz zu der formellen, völkerrechtlichen- zu beschreiben. 182 Unter politischer Souveränität wird die Fähigkeit des Staates verstanden, alle wesentlichen Staatsfunktionen selbständig auszuüben. In diesem Zusammenhang erlangt die bereits angesprochene, aus der zunehmenden Interdependenz folgende Relativität der staatlichen Souveränität besondere Bedeutung. Die zunehmende Einbindung der Staaten in ein sich verdichtendes System gegenseitiger Rechte, Pflichten und Abhängigkeiten wirkt sich insbesondere auf die Selbständigkeit des Staates bei der Erfüllung seiner wesentlichen Aufgaben aus. Als materiell souverän ist ein Staat daher nur dann zu betrachten, wenn das Schwergewicht der politischen Entscheidungsgewalt trotz aller eingegangenen Verpflichtungen und tatsächlichen Bindungen weiterhin bei ihm liegt. 183 Es wurden bereits der Verlust des Staates an Steuerungs- und Regelungsmacht in Bereichen wie den neuen Kommunikationstechnologien, der Wirtschaft und der Finanzmärkte sowie der Umwelt angesprochen, die sich einzelstaatlicher Regelung aufgrund der mangelnden Territoriumsgebundenheit in verschiedener Hinsicht entziehen. In diesen, aber auch in anderen Sachzusammenhängen ist eine Trennung zwischen nationaler und internationaler Politik vielfach kaum noch möglich, und die nationale Politik des Staates steht unter erheblichem Einfluß von außen. Der Staat ist insgesamt von weitreichender politischer Kooperation abhängig. Man könnte daher durchaus in Zweifel ziehen, ob heute die Mehrzahl der Staaten noch als materiell souverän bezeichnet werden kann. De iure mag diese Aussage noch zutreffen, de facto aber ist in verschiedenen Bereichen die Fähig180 Alfred

(172 ff.). 181

tät,

Verdross/Bruno Simma, S. 30; Rudolf Bindschedler, FS Guggenheim, S. 167

Vgl. Joseph Camilleri/A. Falk, S. 106; Carl Creyfelds Rechtswörterbuch, Souveräni-

s. 1028.

182 Wolfgang Reinicke, S. 6 ff., 52 ff., differenziert zwischen "legal sovereignty" und "operational sovereignty" bzw. zwischen "de jure" und "de facto sovereignty", meint in der Sache aber auch, was hier als materielle Seite der Souveränität bezeichnet wird. 183 Alfred Verdross/Bruno Simma, S. 30; RudolfBindschedler, FS Guggenheim, S. 167 (174); Dieter Blumenwitz, FS Dau, S. 1 (2), sieht das materielle Souveränitätsprinzip berührt, wo der Staat vertraglich Verpflichtungen zustimmen muß, die seine Hoheitsgewalt erheblich über das Normalmaß- "normal conditions of states" - einschränken. Dieser Ansatz ist allerdings nur noch wenig hilfreich, wenn eine allgemeine Veränderung der "normal conditions of states" - im Sinne einer Zunahme der vertraglichen Beschränkungen der Staaten insgesamt - eintritt.

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Teil!: Was bedeutet Globalisierung?

keit des Staates, seine politischen Vorstellungen und Entscheidungen effektiv durchzusetzen, bereits erheblich erodiert. Die Frage, ob diese Erosion bereits so weit fortgeschritten ist, daß ansatzweise nicht mehr nur von einer Relativität der materiellen Souveränität, sondern bereits von einem Verlust derselben seitens einer Vielzahl von Staaten gesprochen werden könnte (und müßte), ist eine Wertungsfrage. Eine entsprechende Tendenz ist sicher unbestreitbar. 184 Welche Bedeutung aber hat der mit der Erosion der Steuerungs- und Regelungsmacht einhergehende Autoritäts- und Effektivitätsverlust insgesamt für die Souveränität des Staates, gegenwärtig und zukünftig? Historisch wird Souveränität zuvorderst formell völkerrechtlich, als unabhängige territoriale Hoheitsgewalt bestimmt. 185 Dieser Ansatz kann auch gegenwärtig noch als vorherrschend bezeichnet werden. 186 Die räumliche Dimension des Staates als einer geographischen Größe mit klar definierten Grenzen ist wesentlicher Bestandteil dieser Souveränitätsdefinition. 187 Der materiellen Souveränitätskomponente wurde und wird dagegen nur eine eher sekundäre Bedeutung zugemessen. 188 Dies könnte durch die Vagheit und Variabilität der einzelnen Aspekte 184 Lothar Brock/Mathias Albert, 2 ZIB (1995), S. 259 (265), sprechen explizit von einer "Aushöhlung materieller Souveränität"; ähnlich auch Wolfgang Reinicke, S. 65 f., der schreibt, daß "internal operational sovereignty is being undermined by globalization". 185 Georg Dahm/Jost Delbrück/Rüdiger Wolfrum, Völkerrecht 111, S. 216. 186 Kennzeichnend hierfür ist, daß in der Regel bei der allgemeinen Definition des Begriffs Aspekte der materiellen Souveränität ausgespart werden. Vergleiche nur Knut lpsen, in: ders. (Hrsg.), Völkerrecht,§ 1 Rn. 18; Peter Malanczuk, Akehurst's Modern lntroduction, S. 17 f.; Kar/ Doehring, Völkerrecht, Rn. 122; Kar/ Strupp/Hans-Jürgen Schlochauer (Hrsg.), Wörterbuch des Völkerrechts, Souveränität, S. 278-285; Otto Kimminich/Stephan Hohe, S. 40 ff.; Jerzy Kranz, 30 AVR (1992), S. 411 ff., 439. 187 Kanishka Jayasuriya, 6 IJGLS (1999), S. 425 (432); so bestand auch die vorderste und deutlichste Aufgabe des souveränen (zunächst absoluten, später National-)Staates in der Organisation seines Staatsgebietes durch den Aufbau eines zentralisierten Rechts- und Verwaltungssystems. Ein Beispiel hierfür ist die untrennbare Verbindung des modernen, territorial bezogenen Staatsmodells mit dem Anspruch generell exklusiver territorialer Jurisdiktion. Bedeutend ist auch die zunehmende Bindung der Nationalgesellschaft an das entsprechende definierte Staatsgebiet, vgl. dazu Joseph Camilleri!A. Falk, S. 24. 188 Nach Alfred VerdrossiHruno Simma, S. 33, besteht sogar die Möglichkeit des Auseinanderfallens von rechtlicher und politischer Souveränität, ohne daß dies zwingend einen Verlust der Souveränität des Staates zur Folge haben muß. Als Beispiel nennen die Autoren den Fall, daß einzelne Staaten in eine solche Abhängigkeit zu einer Großmacht gelangen, daß sie sich deren Weisungen fügen müssen und so ihre politische Souveränität verlieren, weil sie nicht mehr die normale Fülle der staatlichen Hoheitsgewalt besitzen. Diese Staaten sind nach Ansicht dieser Autoren so lange als völkerrechtlich souverän zu betrachten wie sich ihr auswärtiger Verkehr in den Formen des Völkerrechts abwickelt. Die beschriebene Situation ist vergleichbar mit der Abhängigkeit von Staaten

A. Erscheinungsformen und Kennzeichen von Globalisierung

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des Terminus materielle Souveränität zu erklären sein, dessen Bestinunung ein sehr viel höheres Maß an Interpretation bedarf als der Begriff der formellen Souveränität, welcher allein durch seine Territoriumsbezogenheit bereits sehr viel klarer umrissen ist. Es wird hier jedoch die These aufgestellt, daß es bei dieser Gewichtung der formellen und materiellen Komponenten des Souveränitätsbegriffes in der zukünftigen Entwicklung des internationalen Systems nicht bleiben wird. Die Eignung eines primär völkerrechtlichen Begriffs der Souveränität, 189 weiterhin Struktur und Funktion des Nationalstaates in einem zunehmend von Interdependenz geprägten internationalen System zu beschreiben, ist zu bezweifeln. 190 Der klassische Begriff der Souveränität setzt eine Welt voraus, in der relativ geschlossene Gesellschaften getrennt nebeneinander stehen und nur der einzelne Staat die Wohlfahrt und die äußere und innere Sicherheit dieser Gesellschaft wahren kann. Dem ist nicht mehr so, denn die Gesellschaften sind durchlässig und vernetzt, und das Schicksal des einzelnen bestinunt sich nicht mehr ausschließlich innerhalb seiner Nation. Es konunt zu der bereits dargestellten allgemeinen Relativierung des Territoriums als Bezugsraum. 191 Durch diese Entwicklung wird ein wesentliches Element der völkerrechtlichen Souveränität aufgeweicht 192 und verliert entsprechend an Gewicht. Es ist zu erwarten, daß (zum Ausgleich) materielle Aspekte für die Bestinunung

von anderen Akteuren als Staaten wie beispielsweise NGOs oder auch MNCs, so daß nach Verdross/Simma ein politisch nicht mehr voll souveräner Staat durchaus noch als rechtlich souverän zu bezeichnen wäre. Anderer Ansicht sind dagegen Georg Dahm/Jost Delbrück/Rüdiger Wolfrum, Völkerrecht I/I, S. 217 f., die die Fülle der staatlichen Hoheitsgewalt als Voraussetzung für die Souveränität eines Staates beurteilen und einen Staat, der wesentliche Funktionen der Staatsgewalt aufgibt, nicht mehr als souverän betrachten, auch dann nicht, wenn dies durch den Abschluß völkerrechtlicher Verträge geschieht. Ein solcher Staat sei nur noch "halb souverän", ein Staat mit beschränkter Hoheitsgewalt Letztlich kommt es aber auf ein Werturteil an. 189 Der ausgehend von den besonderen Bedingungen des 16. und 17. Jahrhunderts entwickelt wurde, um den Aufstieg des zentralistischen, souveränen Staates zu erklären und zu legitimieren. 190 Einen Begriffswandel erwartet auch Anthony McGrew, in: Klaus Armingeon (Hrsg.), Der Nationalstaat am Ende des 20. Jahrhunderts, S. 69 (84 f.). 191 V gl. Teil I, A. II. 1. 192 Lothar Brock/Mathias Albert, 2 ZIB (1995), S. 259 (261 ), sprechen von einer zunehmenden "Durchlöcherung" territorial definierter Souveränitätsvorstellungen; ählich auch Wolfgang Reinicke, S. 72, 230: "external sovereignty, ( .. . ) looses its utility in the context of globalization". Zur Bedeutung des Internet für die Souveränität siehe Jack Goldsmith, 5 IJGLS ( 1998), S. 475 ff.

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Teil 1: Was bedeutet Globalisierung?

der Souveränität eines Staates an Bedeutung zunehmen werden, so daß es zu einer Transformation des primär rechtlich geprägten Souveränitätsbegriffs zu einem stärker von materiellen Elementen gezeichneten Begriffsverständnis, einer Substanzveränderung, der Souveränität kommen wird. 193 Wie bereits angesprochen ist jedoch eben die materielle Souveränitätskomponente in besonderem Maße von der interdependenzbedingten Relativierung der Souveränität betroffen, wie auch die bereits festgestellte erhebliche Erosion staatlicher Souveränität in materieller Hinsicht (s. o.) belegt. Dies gibt Anlaß zu der Frage, ob eine Definition von Souveränität in Anküpfung an herkömmliche Kriterien, d. h. das formelle und das materielle Souveränitätselement, überhaupt noch sinnvoll ist. Ein stärker auf materielle Aspekte ausgerichtetes Begriffsverständnis mag gegenüber einer formellen Definition von Souveränität der modernere Ansatz sein. In Anbetracht der dargestellten Erosion politischer Souveränität ist auch dieser jedoch nicht besonders aussagekräftig. In der Lehre findet daher teilweise auch bereits eine vollständige Abkehr von der herkömmlichen Begrifflichkeit statt. 194 Auf eine weitere Diskussion dieser Thematik, insbesondere auch der Frage, welche materiellen Komponenten genau an Gewicht gewinnen werden oder wie ein neuer Souveränitätsbegriff aussehen könnte, muß and dieser Stelle aus Raumgründen verzichtet werden. Für die Zwecke dieser Arbeit reicht es aus, die angesprochenen Tendenzen aufzuzeigen und zu deuten.

193 Die Betonung der "permanent sovereignty over (national) wealth, natural resources and economic activities" während und nach dem Dekolonisierungsprozeß, deren deutlichstes Zeichen die Charter ofEconomic Rights and Duties von 1974 ist, ist nicht als in diese Richtung weisende Entwicklung zu verstehen. Diese Ausformung der Souveränität diente primär den ehemaligen Kolonien und den Entwicklungsländern zur Geltendmachung von Rechten gegenüber den ehemaligen Kolonialherren und den entwickelten Staaten allgemein. Siehe dazu Luzius Wildhaber, in: Ronald Macdonald/Douglas Johnston (Hrsg.), The Structure and Process of International Law, S. 437 (knapp), und die ausführliche Darstellung bei Nico Schrijver S. 3 ff. 194 So z. B. Abram Chayes/Antonia Handler Chayes, S. 27: "( .. .) sovereignty no Ionger consists in the freedom of states to act independently, in their perceived self-interest, but in membership in reasonably good standing in the regimes that make up the substance of intemationallife. (... ) Sovereignty in the end is standing- the indication of the state's existence as a member ofthe international system" (Hervorhebungen von der Verfasserin). Robert Keohane, in: David Held/Anthony McGrew (Hrsg.), Global Transformations Reader, S. 109 (117): "Sovereignty is less a territorially defined barrier than a bargaining ressource for politics characterized by complex transnational networks. " Keith Aoki, 5 IJGLS (1998), S. 443 ff., spricht von einer Entwicklung hin zu "multiple and overlapping sovereignties".

A. Erscheinungsformen und Kennzeichen von Globalisierung

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Als vorläufiges Ergebnis läßt sich somit zusammenfassen: Legt man mit der noch als herrschend zu bezeichnenden Lehre den Schwerpunkt der Souveränität auf deren formelles Element, so muß man wohl davon ausgehen, daß die Staaten zum gegenwärtigen Zeitpunkt weiterhin die volle Souveränität für sich in Anspruch nehmen können. Die Situation des Staates würde dann treffender mit den Begriffen Autoritäts- oder Effektivitätsverlust und als Veränderung der Rolle des Staates im internationalen System, nicht hingegen als ein Verlust von Souveränität im primär formellen Sinne beschrieben. 195 Bei Zugrundelegung einer stärker materiell orientierten Definition würde man dagegen zu dem Ergebnis gelangen, daß die Souveränität der meisten Staaten zumindest erheblich erodiert ist. Der Grad der Einbuße ist eine Wertungsfrage und wird hier offengelassen. Eine weitere Klärung der aufgeworfenen Fragen oder Entscheidung zugunsten des einen oder anderen Ansatzes ist im Rahmen der vorliegeneo Arbeit jedoch nicht erforderlich, da die entscheidenden Aussagen unabhängig von der Souveränitätsfrage getroffen werden können. Die Wirkungen von Globalisierung für den Staat und dessen gegenwärtige Situation lassen sich auch ohne eine solche Zuordnung als dreifache Entstaatlichung, einen damit einhergehenden Effektivitätsund Autoritätsverlust und ensprechend die Erosion materieller Souveränität zutreffend beschreiben.

2. Bedeutung nationalen Rechts Von dem Schwinden der Regelungsmacht und der Effektivität des Staates in verschiedenen Bereichen könnte man auf eine allgemeine Bedeutungsabnahme des nationalen Rechts schließen, weil dessen Reichweite aufgrund seiner primären Bindung an das Staatsgebiet häufig hinter der Reichweite des zu regelnden Sachzusammenhanges zurückbleibt und es daher weniger effektiv ist, als es früher war.196 Dies wäre jedoch eine zu eindimensionale Betrachtung der Wirkungen nationalen Rechts. Infolge der zunehmenden Vernetzung der Staaten und ihrer Gesellschaften erzeugen die nationalen Vorschriften vielfachtrotzihrer Beschränkung auf den nationalen Bereich indirekte Auswirkungen auf internationaler 195 Ähnlich Reinhard Meyers, in: Wichard Woyke (Hrsg.), Internationale Organisationen in der Reform, S. 8 (13), der den Begriff des "Souveränitätsschwundes" als unpräzise ablehnt und daher die Beschreibung der Situation als ,.Einschränkung der Steuerungsfähigkeit" des Staates vorzieht. 196 Dazu bereits oben Teil I, B. II.

5 Hingst

Teil 1: Was bedeutet G1obalisierung?

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Ebene, die für den betroffenen Sachbereich von nicht unerheblicher Bedeutung sein können. So ist es beispielsweise denkbar, daß extreme Umweltschutzvorschriften in einem Land einen multinationalen Konzern dazu veranlassen könnten, seine Produktion in ein anderes Land zu verlegen, in dem erheblich niedrigere Umweltstandards angesetzt werden. In diesem Fall hätte das strenge nationale Recht das Ziel der Förderung des Umweltschutzes nicht nur verfehlt, es hätte sogar dessen genaues Gegenteil bewirkt. Dies bedeutet, daß das nationale Recht eine internationale, in bestimmten Fällen sogar globale Dimension, erhält und daß eine randscharfe Abgrenzung zwischen "lokal" und "global" vielfach kaum mehr möglich ist. Für den nationalen Gesetzgeber wie auch die rechtsanwendenden Stellen des Staates kann es daher bei dem Erlaß bzw. der Anwendung nationalen Rechts nicht mehr genügen, die nationalen Bedingungen und Wirkungen der betreffenden Vorschriften zu betrachten. Sie müssen darüber hinaus die Bedeutung der Gesetze im internationalen und globalen Zusammenhang berücksichtigen. 197 Dies erfahren die Staaten besonders spürbar im Wirtschaftsbereich, wo sie untereinander einer extremen Standortkonkurrenz ausgesetzt sind und entsprechend nationale Wirtschafts- und insbesondere Steuerregelungen für die Stellung des einzelnen Staates im globalen Wettbewerb von immenser Bedeutung sind. Hinzu kommt, daß trotz der Bedeutungsabnahme geographischer Faktoren viele Aktivitäten auch weiterhin territoriumsgebunden und damit dem Einflußbereich des Staates unterstellt bleiben. 198 Diese Wirkungszusammenhänge eröffnen dem Staat folglich einen Weg, seinen Einfluß auf das internationale Geschehen wieder auszubauen und durch eine geschickte Ausgestaltung und Anwendung des nationalen Rechts einen Teil seiner Gestaltungsmacht zurückzuerlangen. 199 Nutzt er die Chancen, die sich ihm dadurch eröffnen, so erleidet das nationale Recht infolge der Denationalisierung keinen Bedeutungsverlust, sondern gewinnt gegenüber früher möglicherweise sogar an Gewicht. Siehe dazu auch Alfred Aman, 31 VandJTransnat'lL 1998, S. 769 (783 ff.) m. w. N. So sind MNCs zwar sehr flexibel in der Standortwahl, letztlich aber auf die Niederlassung in einem Staat angewiesen. Dabei spielen auch Aspekte wie die Infrastruktur am Produktionsort, die Anhäufung weiterer, u. U. in die Produktion eingebundener Industriezweige und auch der Vorteil einer gewohnten Umgebung und eines bekannten Rechtssystems eine Rolle, was die Aexibilität der MNCs wiederum einschränkt. MNCs nehmen gegenüber den Staaten eine erhebliche Machtposition ein, sind aber nicht vollständig "footloose". 199 V gl. Konstanze Pie/, in: Rüdiger Voigt (Hrsg.), Globalisierung des Rechts, S. 203 ff., zum Beispiel Kapitalmarktrecht Das deutsche Wertpapierhandelsgesetz und das Börsengesetz sind im Rahmen einer Novellierung zum Zwecke der Finanzmarktförderung entgegen dem allgemeinen Trend nicht de- sondern rereguliert worden, um das Vertrauen internationaler Anleger in den deutschen Finanzmarkt zu stärken (mit Erfolg). Dem Recht kommt dabei im internationalen Standortwettbewerb ein "Gütesiegel-Effekt" zu, wodurch dem Staat neue Handlungsmöglichkeiten eröffnet werden. 197

198

A. Erscheinungsformen und Kennzeichen von Globalisierung

67

3. Bedeutungslosigkeit und Absterben des Staates? Trotz der aufgezeigten dreifachen Denationalisierung ist insgesamt auf absehbare Zeit nicht zu erwarten, daß es zu einer weitestgehenden Verdrängung des Staates aus seiner Position als dominierender Akteur im internationalen System kommen wird. 200 Die Rolle des Staates ist zwar im Begriff, eine wesentliche Veränderung zu erfahren201 , und im Vergleich zu früheren Zeiten zeigt er sich in vielerlei Hinsicht deutlich geschwächt. Die sinkende Leistungsfähigkeit einer Institution erweist sich aber nur dann als Vorzeichen ihres Absterbens, wenn konkurrierende Institutionen in Sicht sind, die diese Funktion besser zu erfüllen versprechen.202 Dies ist bislangjedoch nicht der Fall; eine bessere alternative Lösung zur Organisationsform Staat ist (jedenfalls derzeit) nicht ersichtlich, so daß auch im 21. Jahrhundert auf den Staat nicht wird verzichtet werden können. 203 Staat und "good governance" sind zur Aufrechterhaltung des Friedens und des Rechts bislang unerläßlich und machen den Staat weiterhin unverzichtbar. 204 Noch sind es die Staaten, die das internationale Geschehen in seinen großen Zügen beherrschen und die Grundlinien der internationalen Politik in einem weiterhin weitestgehend dezentralen internationalen System bestimmen. Die nichtstaatlichen Teilnehmer daran sind in vielen Bereichen für die Umsetzung bzw. Vollstreckung der von ihnen geschaffenen Regelungen weiter auf die Unterstützung der Staaten an-

200 Diese Ansicht wird von vielen geteilt, z. B. lost Delbrück, 2 IJGLS (1994), http//www.law.indiana.edu/glsj/vol2/delbruck.htrnl (Stand 24.07 .1999); Alfred Aman, 6 IJGLS (1999), S. 397 (410); Anthony McGrew, in: Klaus Armingeon (Hrsg.), Der Nationalstaat am Ende des 20. Jahrhunderts, S. 69 (84); Peter Malanczuk, in: Friedl Weiss/Eric Denters/Paul de Waert (Hrsg.), International Economic Law With a Human Face, S. 45 (65); Wolfgang Reinicke, S. 219. 201 Man denke nur an die neue Rolle des Staates als "Verhandlungspartner" auf dem transnationalen Markt (beispielsweise bei Standortfragen) oder die aktive Europapolitik der Länder der Bundesrepublik, die EU-Verbindungsbüros in Brüssel geschaffen haben, in denen mittlerweile mehr Ländervertreter als bundesdeutsche Diplomaten arbeiten. 202 So zutreffend Michael Züm, Regieren, S. 333. 203 So auch Mohamed Mahmoud, 123 JDI (1996), S. 611 (659 ff.);Anthony McGrew, in: Klaus Armingeon (Hrsg.), Der Nationalstaat am Ende des 20. Jahrhunderts, S. 69 (84); Peter Malanczuk, in: Friedl Weiss/Eric Denters/Paul de Waert (Hrsg.), International Economic Law With a Human Face, S. 45 (65); ähnlich (aber mit anderem Schwerpunkt) auch Thomas Bemauer, 45 VN (1997), S. 49 (54). 204 So zutreffend Klaus Dicke, 39 BDGVR (2000), S. 13 (22 f.), der außerdem darauf hinweist, daß diese Überlegung bereits der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte zugrunde lag, die innerstaatliche Durchsetzung als das primäre Mittel globaler Menschenrechtspolitik begriff, und daß selbst Erwägungen zu sog. "failed states" diesem Gedanken folgen.

68

Teil 1: Was bedeutet Globalisierung?

gewiesen205 , und eine Lösung der im vorderen Teil aufgezeigten Probleme vollkommen ohne den Nationalstaat ist nicht denkbar. Da allerdings auch der Staat nicht mehr in der Lage ist, die ihm gestellten Aufgaben allein zu bewältigen, wird sich zunehmend die Frage stellen, in welchen Bereichen er noch die alleinige Regelungszuständigkeit für sich in Anspruch nehmen kann und wo er in Zukunft Aufgaben an andere Akteure des internationalen Systems wird abtreten müssen. Der Staat ist noch nicht amEndeseiner Existenzberechtigung. Er ist zwar nicht mehr der allmächtige und allzuständige Apparat, aber auch keineswegs zur Ohnmacht verdammt. Damit er an Bedeutung behält, ist allerdings ein Überdenken seiner traditionellen Rolle und der ihm obliegenden Aufgaben erforderlich.206 Nur dann kann er sich den genannten Herausforderungen stellen und Wege finden, so auf die neue Situation zu reagieren, daß er sie zu seinem Vorteil nutzen und eine Stärkung seiner Position aus ihr ziehen kann.

4. Geographische Reichweite der Denationalisierung Abschließend soll in Kürze auf den Aspekt der äußeren, geographischen Reichweite der Denationalisierungsprozesse angesprochen werden. Nicht in allen Sachbereichen kann von Globalisierung in einem wörtlichen Sinn weltweiter Verbreitung oder Wirkung gesprochen werden. 207 Die aktive Be-

205 So sind Schiedsgerichte, die Zwang anwenden müssen, beispielsweise um Zeugen vorführen zu lassen oder um die Herausgabe von Dokumenten zu erzwingen, auf die Hilfe des Staates angewiesen. Saskia Sassen, Globalization and its Discontents, S. 197 ff., weist darüber hinaus zutreffend auf die Rolle des Staates als "ultimate guarantor of the rights of global capital, that is the protection of contracts and property rights" hin. 206 Für diesbezügliche Ansätze sei u. a. verwiesen auf lost Delbrück, 2 IJGLS (1994), http://www .law.indiana.edu/glsj/vol2/delbruck.html (Stand: 24.07 .1999); Stephan Hohe, Der offene Verfassungsstaat, S. 390 ff.; Alfred Aman, 6 IJGLS (1999), S. 397 (410 ff.); ders., 31 VandJTransnat'lL (1998), S. 769 ff.; Saskia Sassen, Globalization and its Discontents, S. 195 ff.; Wolfgang Reinicke, S. 219 ff.; Daniel Yergin/Joseph Stanislaw, in: David Held/Anthony McGrew (Hrsg.), Global Transformations Reader, S. 319 ff. 207 Gregor Walter/Sabine Dreher/Marianne Beisheim, Institut für Interkulturelle und Internationale Studien der Universität Bremen, Arbeitspapier 4-5/97, S. 6, halten es daher für passender, von einer "OECDization" zu sprechen. Jan Schotte, Global Trade, in: John Baylis/Steve Smith, The Globalization of World Politics, S. 429 (442), weist in diesem Zusammenhang daraufhin, daß Globalisierung im Wirtschaftsbereich am weitesten in den sog. "triad-countries", d. h. Ostasien, Nordamerika und Westeuropa fortgeschritten ist. Dort seien die Stadtbereiche wiederum stärker betroffen als das Land und die wohlhabenden und Fachkreise stärker als die übrige Gesellschaft.

B. Der Begriff "Globalisierung"

69

teiligung an einer Vielzahl der eingangs dargestellten Entwicklungen 208 setzt einen hohen (technischen) Entwicklungsstand voraus. Aus diesem Grund ist es für eine große Zahl von Staaten gegenwärtig noch nicht möglich, an diesen "Globalisierungs"-Prozessen zu partizipieren. Hiervon betroffen sind insbesondere die Länder der Dritten Welt, aber auch andere Staaten, die noch nicht annähernd so industrialisiert sind wie beispielsweise die G8-Staaten 209 oder jene, die vom IMF als Industriestaaten ("industrialized countries") bezeichnet werden. 210 Es ist zu erwarten, daß noch erhebliche Zeit vergeht, bis jene Staaten in der Entwicklung so weit vorangeschritten sind, daß ihre Beteiligung an den "Globalisierungs"-Prozessen möglich wird. Bis auf weiteres beschränkt sich daher das Stattfinden von Denationalisierung in diesen Bereichen eben auf die schon erwähnte "sunny side" des Globus. 211

B. Der Begriff "Globalisierung" Trotz der explosionsartig zunehmenden Zahl von Publikationen zum Thema Globalisierung ist bisher nur an vergleichsweise wenigen Stellen der Versuch unternommen worden, sich eingehender und systematisch mit der Bestimmung einer Definition dieses Begriffs auseinanderzusetzen. 212 Am häufigsten sind rein phänomenologische Betrachtungen der "Globalisierung" zu finden. Von denjenigen Autoren, die überhaupt bestimmen, was sie unter Globalisierung verstehen, beschränkt die Mehrzahl ihre Betrachtung entweder auf einen oder wenige Teilbereiche des Globalisierungsphänomens- vornehmlich den der Wirtschaft- oder aber der Terminus wird gebraucht, um darauf hinzuweisen, daß man das betrefTeil 1, A. I. Deutschland, Frankreich, Italien, Japan, Kanada, U.S.A., Großbritannien und neuestens auch Rußland. 210 Es handelt sich dabei um die Vereinigten Staaten, Japan, Kanada, Australien, Island, Neuseeland, Norwegen, die Schweiz sowie alle 15 Mitgliedstaaten der Europäischen Union, also Österreich, Belgien, Dänemark, Finnland, Frankreich, Deutschland, Griechenland, Irland, Italien, Luxemburg, die Niederlande, Portugal, Schweden, Spanien und Großbritannien. Bei Hinzunahme der Tschechischen Republik, Ungarn, Mexiko, Polen, Südkorea und der Türkei hätte man außerdem die Mitgliedstaaten der OECD versammelt, die sich ihrerseits definieren als die "governments of the industrialized democracies", vgl. http:// www.oecd.org/about/generaVindex.htm (Stand: 25.07. I 999). 211 lost Delbrück, I IJGLS (1993), S. 11 (17). 212 Mathias Albert, in: Rüdiger Voigt (Hrsg.), Globalisierung des Rechts, S. 115 (116), ist sogar der Auffassung, daß sich dabei um einen "weitgehend amorphen, wenn nicht gar inhaltsleeren Begriff' handelt. 208

209

Teil I: Was bedeutet Globalisierung?

70

fende Sachgebiet in sehr umfassenden, "globalen" Zusammenhängen betrachten und untersuchen will. Die Schwierigkeit der Definition (und damit vermutlich verbunden die Zurückhaltung bei der Konkretisierung des Begriffs) liegt darin, daß der Begriff der Globalisierung zur Bezeichnung sehr verschiedener Phänomene verwendet wird, so daß es schwer ist, ihm Konturen zu verleihen. Da im Laufe der Arbeit (Teil 3) die Auswirkungen von Globalisierung auf völkerrechtliche Verträge untersucht werden sollen, ist zunächst eine Klärung des Begriffs erforderlich und zu bestimmen, welches Verständnis von Globalisierung dieser Arbeit zugrunde gelegt werden soll. Zu diesem Zwecke wird zunächst eine Auswahl einiger gängiger Definitionen des Terminus auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede untersucht. Sodann soll die Verwendbarkeit der herausgearbeiteten Definitionsmerkmale für die gesuchte Arbeitsdefinition analysiert werden, um im Anschluß daran- aufbauend auf die dabei gewonnenen Ergebnisse sowie die gemeinsamen Kennzeichen der Globalisierungsphänomene213 - eine Arbeitsdefinition von Globalisierung zu entwickeln.

I. nGlobalisierung" : Eine Sammlung von Definitionen Zunächst eine Sammlung von Globalisierungsdefinitionen verschiedener Autoren (der Übersichtlichkeit halber in Tabellenforrn): I

Mohamed Mahmoud, 123 JDI (1996), S. 611 (612).

II est possible de definir Ia mondialisation (I' anglais utilise de preference I' expression globalisation) comme Je phenomene d'extension a Ia planete de "l'interdependence".

2

F. J. Radennacher, in: U. Bartosch/J. Wagner, Weltinnenpolitik, S. 105 (105).

Globalisierung bezeichnet die aktuellen Veränderungsprozesse im Bereich der Weltwirtschaft, die von einer Situation des Handels zunehmend in die Situation einer durchgängigen Weltwirtschaft führen, die man immer mehr als ein einheitliches, wirtschaftliches System verstehen muß, in dem es keine geographischen bzw. politischen Grenzräume oder unüberbrückbare Entfernungen mehr gibt.

3

Maleolm Waters, S. 3.

. . . a social process in which the constraints of geography and social and cultural arrangements recede and in which people become increasingly aware that they are receding.

213

Siehe dazu oben Teil I, A. II.

B. Der Begriff "Globalisierung"

71

4

Jan Schalte, Globalization, in: John Baylis/Steve Smith (Hrsg.), The Globalization of World Politics, S. 13 (14).

As the word is used here, globalization refers to processes whereby social relations acquire relatively distanceless and borderless qualities, so that human Jives are increasingly played out in the world as a single place.

5

Martin Albrow, zitiert nach: Jan Scholte, Globalization, in: John Baylis/Steve Smith (Hrsg.), The Globalization of World Politics, S. 13 (15).

Globalization refers to all those processes by which the peoples of the world are incorporated into a single world society, global society.

6

Anthony Giddens, in: David Held/Anthony McGrew (Hrsg.), Global Transformations Reader, s. 92 (92).

Globalization can ... be defined as the intensification of worldwide social relations which link distant localities in such a way that local happenings are shaped by events occuring many miles away and vice versa.

7

lohn Baylis/Steve Smith, in: Dies. (Hrsg.), The Globalization of World Politics, s. 1 (7).

By globalization we simply mean the process of increasing interconnectedness between societies suchthat events in one part ofthe world more and more have effects on peop1es and societies far away.

8

Franz-Xaver Kaufmann, APuZ B 18/96, S. 3 (6).

Globalisierung bedeutet die Entstehung weltweiter Kommunikation und die Intensivierung weltregiensübergreifender Austauschbeziehungen.

9

Peter Pemthaler, FS Koja, S. 69 (69).

... eine neuartige technische und funktionelle Vernetzung über weite räumliche Entfernungen und bisher wenig durchlässige Grenzen hinweg.

10

Rüdiger Voigt, APuZ, B 29-30/98, S. 3 (6).

( ... )darunter kann man die Zunahme der Intensität und Reichweite grenzüberschreitender Austausch- und Interaktionsbeziehungen verstehen, seien es wirtschaftliche Transaktionen, kulturelle und informationeHe Austauschprozesse oder der grenzüberschreitende Austausch von UmweltSchadstoffen.

11

Roland Robertson, zitiert nach: Jan Scholte, Globalization, in: John Baylis/Steve Smith (Hrsg.), The Globalization of World Politics, S. 13 (15).

Globalization does not simply refer to the objectiveness of increasing interconnectedness. lt also refers to cultural and subjective matters (namely, the scope and depth of consciousness of the world as a single place).

Fortsetzung nächste Seite

Teil 1: Was bedeutet Globalisierung?

72 Fortsetzung Tabelle

12

The Global Viilage Companion, S. 113 (Stichwort "Globalization").

In its most general sense, this term refers to the process and the results ofthat process that are manifested in a greater interelatedness among nations and other institulians araund the world. While this definition emphasizes the structural aspect of globalization, some experts believe that the development of a global culture is also a key element of globalization. ( ... )

13

David Held/Anthony McGrew/David Goldblatt/Jonathan Perraton, s. 55.

Globalization can be thought of as a process (or set ofprocesses) which embodies a Iransformation in the spatial organization of social relations and transactions ( ... ) generating transcontinental or interregional flows and networks of activity, interaction, and the exercise of power.

14

Serge Sur, 8 EJIL ( 1997), S. 421 (429).

Globalization is the extension and accelerator of an ongoing process of transnationalization. It tends to increasingly exclude human, especially economic, acti vities from the jurisdiction of state, inter-state and institutional regulation. ( ... ) the real meaning of globalization must ( ... ) be sought beneath the appearance of openness and homogenization. It is, in reality, a vehicle of the media, a convenient term to indicate American hegemony. Globalization is the ideal of a New World with no shores. In a way, it is a new form of triumph of the state, but of a new type of state which stands alone in its class, and which has every intention of remaining this way.

15

Ulrich Beck, S. 28 f.; Klaus Dicke, 39 BDGVR (2000), s. 13 (21).

Globalisierung meint die Prozesse, in deren Folge die Nationalstaaten und ihre Souveränität durch transnationale Akteure, ihre Machtchancen, Orientierungen, Identitäten und Netzwerke unterlaufen und querverbunden werden.

16

David Fidler, 5 IJGLS (1997), S. 11 (14).

As used in this article globalization refers to processes or phenomena that undermine the ability of the sovereign state to control what occurs in its territory.

B. Der Begriff "Globalisierung"

73

17

lost Delbrück, 1 IJGLS (1993), S. 9 (11). 214

( ... ) globalization as understood here may be defined as the process of denationalisation of markets, laws and politics in the sense of interlacing peoples and individua1s for the sake of the common good.

18

Gordon Walker/Mark Fox, 3 IJGLS (1996), S. 375 (380).

G1obalization denotes a process of denationalisation, whereas intemationalization refers to the cooperative activities of national actors. In some instances the concems of globalization may be motivated by the common good of humanity ( ... ). The key feature which underlies the concept of globalization ( ... ) is the erosion and irrelevance of national boundaries in markets which can truly be described as global.

19

Michael Züm, Regieren, S. 67, 73.

Es wäre ( .. .) unpräzise, von Globalisierung zu sprechen. ( ... ) Angemessener erscheint mir ( .. . ) der Begriff der "gesellschaftlichen Denationalisierung". Gesellschaftliche Denationalisierung kann ( ... ) definiert werden als die Verschiebung der Grenzen von verdichteten sozialen Handlungszusammenhängen über die Grenzen von nationalen Gesellschaften hinaus, ohne gleich global sein zu müssen.

20

Alfred Aman, 6 IJGLS (1999), S. 397 (404, 408 f.).

"( ... ) complex, dynamic legal and social processes that take place within an intergrated whole without regard to geographical boundaries." "( . ..) a process of denationalization of clusters of political, economic and social processes".

II. Bestimmung einer Arbeitsdefinition Ziel der folgenden Untersuchungen ist es, anhand einer Analyse der vorgestellten Definitionen eine Definition von Globalisierung zu erarbeiten, mit der die Untersuchungen in Teil 3 der Arbeit fortgeführt werden können. Die verwendete Arbeitsdefinition sollte einerseits möglichst umfassend die Entwicklungen abdekken, die Konsequenzen für den Staat und das internationale System hervorbringen. Andererseits darf sie nicht so breit sein, daß ihre Konturen verwischen und 214 Zu der neuen, nach Abschluß dieser Arbeit veröffentlichten Globalisierungsdefinition Delbrücks siehe unten Fn. 279.

74

Teil 1: Was bedeutet G1obalisierung?

unscharf werden, denn dann würde das Ziel verfehlt, eine griffige Bedeutung des Begriffs Globalisierung festzulegen. Da in Teil 3 Auswirkungen von Globalisierung auf die Rechtsquelle der völkerrechtlichen Verträge untersucht werden sollen, sind für die zu entwickelnde Arbeitsdefinition insbesondere (staats-und völker-)rechtlich bedeutsame Aspekte des Globalisierungsprozesses aufzugreifen und - soweit möglich und sinnvoll in die Begriffsbestimmung zu integrieren.

1. Ermittlung der für die verschiedenen Definitionen wesentlichen Begriffsmerkmale Zunächst sind die wesentlichen Gemeinsamkeiten und Unterschiede der vorgestellten Globalisierungsdefinitionen zu klären. a) Gemeinsamkeiten Auf den ersten Blick erscheinen diese zunächst erstaunlich homogen, da sie ein wesentliches Definitionsmerkmal gemeinsam haben: "Increasing interconnectedness" oder" weltumspannende Vernetzung" der einzelnen Staaten und insbesondere der ihnen angehörigen Individuen wird von fast allen Autoren als ein entscheidendes Charakteristikum der Globalisierung verstanden. 215 Während einige direkt diese Terminologie verwenden,216 findet sich das Merkmal bei anderen umschrieben. 217 Selbst in letzteren Fällen aber kann die Aussage auf "increasing interconnectedness" oder"weltumspannende Vernetzung" zurückgeführt werden, da es eben dies ist, was die Autoren beschreiben. Bei einer genaueren Betrachtung der Definitionsauswahl zeigen sich allerdings einige Unterschiede. m Insbesondere sind hier die Definitionen 1-15, 17, 19 und 20 zu nennen. Kaufmann (8), Pemthaler (9), Voigt (10), Robertson (11), Global Viilage Companion (12), Sur (14) sowie Beck und Dicke (15). 217 Z. B. Waters (3): "constraints of geography and social and cultural arrangements recede"; Mahmoud (1): "le phenomene d'extension a Ia planete de l'interdependence"; Giddens (6): "the intensification of worldwide social relations which link distant localities in such a way that local happenings are shaped by events occuring many miles away and vice versa" oder Aman (20): "within an integrated whole", "without regard to geographical boundaries"; David Held/Anthony McGrew/David Goldblatt/Jonathan Perraton (13): "transformation in the spatial organization ( . .. )", "generating transcontinental or interregional flows and networks ( ... )". 216

B. Der Begriff "Globalisierung"

75

b) Unterschiede Die Globalisierungsdefinitionen weichen im wesentlichen in zwei Punkten voneinander ab: Zum ersten stellt ein Teil der Autoren das Merkmal der "increasing interconnectedness" bzw. der "weltumspannenden Vernetzung" in den Mittelpunkt der Begriffsbestimmung, während andere die Bezeichnung Denationalisierung oder m. a. W. Entstaatlichung verwenden. Es ist zu klären, ob es sich dabei lediglich um eine unterschiedliche Bezeichnung ein und derselben Phänomene handelt oder ob die Autoren auch inhaltlich verschiedener Auffassung über den Begriff der Globalisierung sind. Der zweite Unterschied besteht darin, daß einige Definitionen zusätzlich ein wertendes Element enthalten, welches sich auf eine Förderung des Gemeinwohls durch die Globalisierung bezieht - ein Punkt, der in anderen Definitionen vollkommen fehlt.

aa) "lncreasing interconnectedness" und Entstaatlichung Die Kernaussage der Definitionen 1-13 beschränkt sich im wesentlichen auf das Merkmal der "increasing interconnectedness" bzw. "weltumspannenden Vernetzung", welche nach Ansicht dieser Autoren Hauptkennzeichen der Globalisierung sind. Der Schwerpunktjener Definitionen liegt dabei auf den Wirkungen des Vernetzungsphänomens für die Wirtschaft oder für die Gesellschaft. An einigen Stellen wird darüber hinaus auf den Bedeutungsverlust geographischer Grenzen hingewiesen, 218 die Auswirkungen dieser Entwicklung für den Staat fließen jedoch in diese Definitionen nicht mit ein. 219 Zürn (19) bestimmt den Begriff der Globalisierung ebenfalls schwerpunktmäßig anhand eines gesellschaftlichen Phänomens - der Verschiebung sozialer Handlungszusammenhänge über die Grenzen von nationalen Gesellschaften hinaus. Anders als die ersten 13 Autoren verwendet Zürn hierfür jedoch nicht den Begriff der "increasing interconnectedness", sondern definiert Globalisierung als (gesellschaftliche) Denationalisierung. 220 2 18 Ausdrücklich wird dieser Aspekt in den Definitionen 2-5, 11 und 20 angesprochen. Die übrigen Definitionen nehmen teilweise indirekt Bezug auf dieses Merkmal. 219 Diese werden lediglich von David Held/Anthony McGrew/David Goldblatt/Jonathan Perraton (13) indirekt angesprochen, die die Herausbildung von "transcontinental or interregional flows and networks of ( .. . ) the exercise of power" als Kennzeichen von Globalisierung sehen. 220 Zu demselben Ergebnis haben die Untersuchungen in Teil I, A. II. 1. der vorliegenden Arbeit geführt.

76

Teil 1: Was bedeutet Globalisierung?

Denationalisierung, d. h. Entstaatlichung, ist auch für Delbrück (17), Walkerl Fox ( 18) und Aman (20) das wesentliche Definitionsmerkmal der Globalisierung. Delbrück versteht dabei unter Denationalisierung die Vernetzung von Völkern und Individuen ( ... ) aufgrundunterschiedlicher Phänomene221 und fügt an anderer Stelle als Gemeinsamkeit dieser Phänomene hinzu, daß sie allesamt den Rahmen einer staatsorientierten politischen und rechtlichen Ordnung transzendieren. 222 Durch dieses Verständnis von Entstaatlichung integriert Delbrück sowohl gesellschaftliche als auch staatsbezogene Gesichtspunkte in seine Globalisierungsdefinition. Damit erfaßt die als Entstaatlichung begriffene Globalisierung deren Wirkungen für die Gesellschaft2 23 ebenso wie deren Konsequenzen für den Staat und das internationale System. 224 Walker/Fox konkretisieren ihr Verständnis des Begriffs Entstaatlichung nicht weiter, sie verweisen jedoch bei ihrer Definition auf diejenige Delbrücks, so daß davon ausgegangen werden kann, daß sie dessen Begriffsbestimmung teilen. Aman nimmt ebenfalls auf die Definition Delbrücks Bezug. Darüber hinaus weist er zusätzlich auf die weitgehende Unabhängigkeit der Globalisierungsprozesse von Staatsgrenzen und auf die Tatsache hin, daß diese Prozesse häufig nur noch wenig bis gar nicht mehr von dem Staat gesteuert werden. 225 Sur (14), Beck und Dicke (15) und Fidler (16) schließlich verwenden in ihren Definitionen zwar nicht den Begriff "Entstaatlichung". Dennoch besteht insofern eine Nähe zu den auf Entstaatlichung basierenden Definitionen, als daß sie Globalisierung als einen Prozeß beschreiben, durch den menschliche Aktivitäten dem Jurisdiktionsbereich des Staates entzogen werden bzw. dessen Souveränität unterlaufen wird. Für sie bedeutet Globalisierung- wie Fidler es zusammenfaßt -, daß die Möglichkeiten des Staates beschränkt werden, die Geschehnisse auf seinem Staatsgebiet in gleichem Maße wie früher zu beeinflussen. Auch diese Autoren stellen somit die Wirkungen für den Staat in den Vordergrund ihrer Globalisierungsdefinition.

Insgesamt zeigt sich, daß die ausgewählten Autoren nicht nur verschiedene Begriffe verwenden, um Globalisierung zu definieren, sondern daß sich die Definitionen auch inhaltlich unterscheiden. "Increasing interconnectedness" wird im lost Delbrück, 1 IJGLS (1993), S. 9 (11). lost Delbrück, in: U. Bartosch/J. Wagner (Hrsg.), Weltinnenpolitik, S. 55 (62). 223 "Vemetzung von Völkern und Individuen". 224 "Entwicklungen, die den Rahmen einer staatsorientierten politischen und rechtlichen Ordnung transzendieren". 225 Alfred Aman, 6 IJGLS (1999), S. 397 (404). 221

222

B. Der Begriff .,Globalisierung"

77

allgemeinen ausschließlich zur Beschreibung der Wirkungen von Globalisierung für Gesellschaft und Wirtschaft verwendet, während sich "Denationalisierung" darüber hinaus (und primär) auf die Folgen für den Staat und das internationale System bezieht. Eine Art Zwischenstellung nimmt in dieser Hinsicht Zürn ein, der im wesentlichen gesellschaftliche Aspekte der Globalisierung anspricht, aber dennoch den Begriff der Denationalisierung gebraucht. Die unterschiedliche Schwerpunktsetzung dürfte ihren Grund darin haben, daß die zitierten Autoren verschiedenen Fachrichtungen entstammen und ihre Ansätze dem fachlichen Hintergrund entsprechend geprägt sind. Die Mehrzahl der Autoren sind Soziologen, Ökonomen oder Politikwissenschaftler, weshalb sie in der Regel die Wirkungen von Globalisierung für die Wirtschaft und die Gesellschaft in den Vordergrund stellen. 226 Juristen und teilweise auch Politikwissenschaftler richten dagegen den Fokus ihrer Betrachtungen stärker auf die Auswirkungen von Globalisierung für den Staat und die folgenden Konsequenzen für das internationale System. Eben dieser Ansatz wird aufgrund des thematischen Schwerpunkts der vorliegenden Arbeit auch hier verfolgt.

bb) Förderung des Gemeinwohls Delbrück ( 17) stellt in seiner Globalisierungsdefinition darüber hinaus das Erfordernis auf, daß der Entstaatlichungsprozeß "for the sake of the common good", also im Interesse und mit dem Ziel der Förderung des Gemeinwohls ablaufen muß. Walker/Fox (18) sehen dies zwar nicht als zwingende Voraussetzung an, bemerken aber, daß das Gemeinwohlinteresse in einigen Fällen den Grund für die Entstaatlichung bilden kann. Aman wiederum spricht in Anlehnung an Delbrück davon, daß es den Idealfall bedeute, wenn die Globalisierung, respektive Entstaatlichung, dem Gemeinwohl dient. 227 Eine Komponente dieses

226 Insbesondere die Definition von Radermacher (2) ist sehr stark wirtschaftsorientiert und bezieht sich vorrangig auf die auf den Weltmärkten eingetretenen Veränderungen. Waters (3), Scholte (4), Albrow (5), Giddens (6) und Baylis/Smith (7) hingegen beschreiben Globalisierung hauptsächlich anhand der Folgen des Phänomens für den Einzelmenschen und die Gesellschaft im ganzen. Für Kaufmann (8) und Pernthaler (9) wiederum steht die weltweite Kommunikation bzw. neuartige technische und funktionelle Vernetzung im Vordergrund. 227 .,At least ideally [there is] the prospect that globalization is to serve the common good of humankind, e. g., the preservation of a viable environment or the provision of general economic and social welfare." Alfred Aman, 6 IJGLS (1999), S. 397 (410). Aman bezieht sich dabei zu Recht auf Delbrück, I IJGLS (1993), S. 9 (I 1). Es sei jedoch darauf

78

Teil I: Was bedeutet Globalisierung?

Inhalts ist in keiner der anderen Definitionen enthalten. Insbesondere auf diesen Aspekt wird daher im Rahmen der Diskussion über die Arbeitsdefinition einzugehen sein.

c) Zwischenergebnis Als wesentliche Begriffsmerkmale sind für die in der Tabelle vorgestellten Globalisierungsdefinitionen somit festzuhalten: - "increasing interconnectedness" bzw. "welturnspannende Vernetzung", - gesellschaftliche Denationalisierung durch Verschiebung der Grenzen von sozialen Handlungszusammenhängen über die Staatsgrenzen hinaus, - Entstaatlichung aufgrund unterschiedlicher, den Rahmen einer staatsorientierten politischen und rechtlichen Ordnung transzendierender Phänomene, - Förderung des Gemeinwohls als Ziel des Denationalisierungsprozesses.

2. Verwendbarkeit der Merkmale für die Arbeitsdefinition Im folgenden wird der Frage nachgegangen, welche der gerade herausgearbeiteten Begriffsmerkmale in die zu ermittelnde Arbeitsdefinition übernommen werden sollen. Daneben werden auch Ergebnisse zu berücksichtigen sein, die im Zusammenhang mit der Analyse der gemeinsamen Kennzeichen der am Anfang der Arbeit dargestellten Entwicklungen gewonnen worden sind. 228

a) "Increasing interconnectedness" oder Entstaatlichung? Zunächst ist zu fragen, ob eines der beiden Merkmale, "increasing interconnectedness" oder Entstaatlichung, in eine Arbeitsdefinition übernommen werden soll und ggf. welches. Wie bereits angesprochen, muß eine Arbeitsdefinition wegen der Untersuchungen in Teil 3 dieser Arbeit möglichst umfassend die Entwicklungen abdecken, die Auswirkungen auf den Staat und das internationale System haben. Die Definition hingewiesen, daß Delbrück- obwohl er dies nur für den Idealfall hält -die Förderung des Gemeinwohls als Definitionsmerkmal von Globalisierung auffaßt. 228 Vgl. oben Teil I, A. II.

B. Der Begriff "Globalisierung"

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kann daher nicht anband eines sektoral begrenzten Kriteriums getroffen, sondern muß anband eines "breiten"229 Begriffsmerkmals vorgenommen werden, welches sachgebietsübergreifend anwendbar ist. Auf ein einzelnes Sachgebiet beschränkte Definitionen wie beispielsweise der rein wirtschaftsbezogene Ansatz Radennaebers (2) bergen die Gefahr der Einseitigkeit in sich und werden daher den Anforderungen an die gesuchte Arbeitsdefinition nicht gerecht. Denationalisierung, d. h. Entstaatlichung, ist bereits als ein wesentliches Kennzeichen und Gemeinsamkeit der gemeinhin als Globalisierung bezeichneten Prozesse bestimmt worden. 230 Bei Zugrundelegung des hier vertretenen Verständnisses von Denationalisierung,231 dem auch der Ansatz Delbrücks sehr ähnlich ist, 232 werden die wesentlichen Kennzeichen der gegenwärtigen Entwicklungen und deren Folgen für den Staat und die Gesellschaft erfaßt. Dieser Begriff verfügt folglich über die für eine Arbeitsdefinition notwendige Reichweite. Dies ist zwar grundsätzlich auch bei dem Terminus der "increasing interconnectedness" der Fall. Wie die Auswahl an Definitionen zeigt, wird dieser Begriff jedoch regelmäßig mit Beschränkung auf jeweils einen oder zumindest wenige Sachbereiche gebraucht. Bei einer solchen Verwendung233 erfüllt er die oben genannten Anforderungen an die Begriffsbreite folglich weniger gut als der Ausdruck der Entstaatlichung. Denationalisierung ist darüber hinaus gegenüber "increasing interconnectedness" auch der analytischere und daher präzisere Begriff. Delbrück, Walker/Fox und Arnan nehmen die "increasing interconnectedness" zum Ausgangspunkt für eine weitergehende Analyse, die zu dem Ergebnis führt, daß eben aufgrund der Michael Züm, Regieren, S. 70 f. Siehe oben Teil I, A. II. 231 Gesellschaftliche Denationalisierung durch die Aufhebung der Kongruenz von Nationalstaat und Gesellschaft, faktische Entstaatlichung aufgrund der dem Staat in unterschiedlichen Bereichen de facto abhanden gekommenen Regelungsmacht und rechtliche Entstaatlichung durch die Herausnahme öffentlicher Funktionen aus dem Aufgabenbereich des Staates und deren Übernahme durch nichtstaatliche Wirkungseinheiten. 232 Auch Delbrück bezieht mit seiner Definition von Entstaatlichung als "Vernetzung von Völkern und Individuen( . .. ) aufgrundunterschiedlicher Phänomene, denen gemeinsam ist, daß sie den Rahmen einer staatsorientierten politischen und rechtlichen Ordnung transzendieren" sowohl gesellschaftliche als auch materielle Aspekte der Entstaatlichung in seine Definition ein. Er verzichtet lediglich darauf, in dem Maße zwischen verschiedenen Formen der Denationalisierung zu differenzieren, wie es im Rahmen dieser Arbeit getan worden ist. 233 Diese ist bei der Bewertung des Begriffs zugrunde zu legen, da eine Entscheidung zwischen dem Merkmal der "increasing interconnectedness" und dem Merkmal der Entstaatlichung jeweils im Sinne der vorgestellten Definitionen getroffen werden soll. 229 230

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Teil l: Was bedeutet Globalisierung?

zunehmenden Vernetzung Entstaatlichung stattfindet, weil die Vemetzungsphänomene die staatsorientierte politische und rechtliche Ordnung transzendieren. "Increasing interconnectedness" wird somit als eine Ursache oder Bedingung für Denationalisierung bestimmt. 234 Schließlich ist zu hinterfragen, ob durch die Übernahme des Merkmals der Entstaatlichung die Arbeitsdefinition u.U. eine zu starke "Breite" erhält, mit der Folge, daß ihre Konturen zu unscharf und das Ziel der Festlegung eines griffigen Globalisierungsbegriffs verfehlt würden. Hierfür ist vor allem zu beachten, daß der Begriff der Entstaatlichung durch die Einbeziehung der faktischen Erosion staatlicher Handlungsfähigkeit im Vorfeld der rechtlichen Globalisierung eine nicht unbedeutende Erweiterung erfährt. Dieser Aspekt hat jedoch wie gesehen erhebliche Auswirkungen für die Position des Staates im internationalen System235. Aus diesem Grunde wird die Ausweitung des Entstaatlichungsbegriffs bewußt in Kauf genommen. Die Definition der Globalisierung anhand des Entstaatlichungsmerkmals wird zwar ebenfalls geweitet, sie verliert dadurch aber nicht in einem solchen Maße an Griffigkeit, daß sie ihre Zweckmäßigkeit einbüßt. Das Kriterium der Denationalisierung bzw. Entstaatlichung erfüllt in mehrerer Hinsicht die an eine Arbeitsdefinition zu stellenden Anforderungen besser das der "increasing interconnectedness" . Daher wird das Merkmal der Denationalisierung in die Arbeitsdefinition übernommen.

b) Ziel der Förderung des Gemeinwohls Delbrück stellt für das Vorliegen von Globalisierung darüber hinaus das Erfordernis auf, daß die Denationalisierung im Interesse und mit dem Ziel der Förderung des Gemeinwohls ablaufen muß (im folgenden kurz Gerneinwohl-Erfordernis).236 Zur Entscheidung über die Aufnahme dieses Merkmals in die aufzustellende Arbeitsdefinition ist eine Klärung folgender Punkte erforderlich: 234 Der Gesichtspunkt der "increasing interconnectedness" ist am nächsten mit der gesellschaftlichen Denationalisierung verbunden. Unter Teil l, A. II. 4. ist auf das Verhältnis der verschiedenen Enstaatlichungsformen hingewiesen und dargestellt worden, daß die gesellschaftliche Denationalisierung Ursache und Wegbereiter für die materiellen Denationalisierungsprozesse der faktischen und rechtlichen Entstaatlichung ist. Insofern decken sich daher die hier getroffenen Feststellungen mit den Ergebnissen der genannten Autoren. 235 Wo der Staat nicht mehr effektiv zu handeln in der Lage ist, öffnen sich Schlupflöcher, durch die andere Akteure in die ursprungliehe Domäne des Staates eindringen können, vgl. oben Teil l, A. II. 2. 236 lost Delbrück, l IJGLS (1993}, S. 9 (ll).

B. Der Begriff "Globalisierung"

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Zunächst ist nach den Gründen Delbrücks für die Aufstellung dieses Erfordernisses zu fragen. Anschließend ist zu untersuchen, welche Folgen sich ergeben, wenn man das Ziel der Förderung des Gemeinwohls neben der Denationalisierung zur Voraussetzung für das Vorliegen von Globalisierung macht. Drittens ist eine Wertung vorzunehmen, ob die Gründe für die Aufstellung des Gemeinwohl-Erfordernisses die aufgezeigten Folgen zu rechtfertigen vermögen.

aa) Gründe für die Aufstellung des Gemeinwohl-Erfordernisses Delbrück führt im wesentlichen zwei Argumente für die Aufstellung des Gemeinwohl-Erfordernisses an. Zum einen erklärt er, daß für ihn Globalisierung ein normatives Konzept darstelle: "At least ideally globalization is to serve the common good ofhumankind. In this sense, globalization isanormative concept since it is related to value judgement, i. e., that the common good is to be served by measures that are to be subsumed under the notion of globalization. " 237

Aus dieser Aussage spricht ein Bedürfnis, sich nicht allein auf eine Beschreibung der faktisch ablaufenden Prozesse zu beschränken, sondern diese auch auf eine bestimmte Weise einzuhegen, d. h. einen Rahmen für die Globalisierung zu schaffen, um so zu gewährleisten, daß sie zur Förderung des Gemeinwohls beiträgt. Zum zweiten vertritt Delbrück, daß die Verwendung des Begriffs der Globalisierung als .,trendy synonyme" für Prozesse der Internationalisierung der Bedeutung und Reichweite der Globalisierung nicht gerecht werde und daher eine Abgrenzung der Begriffe erforderlich sei. 238 Ein wesentlicher Unterschied zwischen Internationalisierung und Globalisierung besteht seiner Ansicht nach darin, daß Internationalisierung der Verfolgung nationaler Interessen diene, wohingegen Globalisierung Entstaatlichung im Interesse des Gemeinwohls sei. 239 Dem Gemeinwohl-Erfordernis komme daher eine Bedeutung für die Unterscheidung zwischen Internationalisierung und Globalisierung zu.

bb) Folgen bei Aufstellung des Gemeinwohl-Erfordernisses Bei Aufnahme des Gemeinwohl-Erfordernisses in die Arbeitsdefinition wären solche Entwicklungen, die nicht mit dem Ziel oder im Interesse der Förderung des lost Delbrück, I IJGLS (1993), S. 9 (10). lost Delbrück, ibid., S. 9 (9 f.). 239 lost Delbrück, ibid., S. 9 (10). 237 238

6 Hingst

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Teil 1: Was bedeutet Globalisierung?

Gemeinwohls stattfinden, nicht unter den Begriff Globalisierung zu fassen. Infolgedessen wäre auch in Teil 3 nicht ihren Auswirkungen auf völkerrechtliche Verträge nachzugehen. Um die Bedeutung dieser Folge beurteilen zu können, muß untersucht werden, ob und ggf. wie viele Sachbereiche betroffen, d. h. in Teil 3 nicht zu berücksichtigen wären. Es müssen daher im folgenden die am Anfang der Arbeit beschriebenen Entwicklungen unter dem Gesichtspunkt der Gemeinwohlförderung beurteilt werden. Dabei versteht es sich, daß eine Bewertung der Prozesse in den einzelnen Sachbereichen als ausschließlich positiv oder ausschließlich negativ kaum zu treffen sein wird. Überwiegend wird eine Differenzierung zwischen den verschiedenen Phänomenen innerhalb eines Gebietes notwendig sein. Dennoch wird angestrebt, soweit möglich, im Anschluß an diese Einzelbetrachtungen für jeden Bereich eine wertende Gesamtschau der Auswirkungen für das Gemeinwohl vorzunehmen. Bei der Bewertung stellt sich zudem die Frage nach dem Maßstab, der für die Beurteilung der aufgezeigten Auswirkungen anzulegen ist, d . h. welche Aspekte für das Gemeinwohl von Bedeutung sind und mit welcher Intensität die untersuchten Entwicklungen der Förderung des Gemeinwohls dienen müssen. Ohne daß eine Auflistung einzelner, für das gemeine menschliche Wohl elementarer Werte und Rechte erforderlich wäre, kann zur Beantwortung dieser Frage beispielsweise auf die Grundsätze und Ziele der Charta der Vereinten Nationen, der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und auch des grundlegenden Vertragswerks zum Schutze der Menschenrechte- die UN-Pakte über bürgerliche und politische sowie über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte 240 und die Konvention zur Beseitigung jeder Form der Rassendiskrirninierung241- Bezug genommen werden, die für das Wohlergehen der Menschen grundlegende Voraussetzungen verrechtlicht haben und die von der weit überwiegenden Zahl der Staaten angenommen worden sind. 242 Im Vordergrund dieser wie der Vielzahl multilateraler Verträge in anderen Bereichen, z. B. dem Umweltschutz, 243 steht stets der Schutz des Individuums und seiner Lebens240 Pakt über Bürgerliche und Politische Rechte, 999 U.N.T.S., S. 171; Pakt über Wirtschaftliche, Soziale und Kulturelle Rechte, 993 U.N.T.S., S. 3. 241 660 U.N.T.S., S. 195. 242 Christian Tomuschat, 241 RdC (1993 IV), S. 207 (238), beispielsweise bezeichnet diese Vertragswerke als die "core element(s) ofthe body of shared values". Sie haben alle die kritische Schwelle der Ratifizierung durch mindestens 50 % der Staaten überschritten und verfügen geographisch über eine solide Grundlage im Norden, Süden, Osten und Westen. 243 Eine nach Sachbereichen geordnete Übersicht über alle beim Generalsekretariat der U.N. hinterlegten völkerrechtlichen Verträge ist zu finden unter http://www. untreaty.un.orgl (Stand: 05.05.2000).

B. Der Begriff "Globalisierung"

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grundlagen, so daß zumindest eine Basis für die Konkretisierung des Gemeinwohls bestimmt ist. Hinsichtlich des in bezug auf die Intensität der Gemeinwohlförderung anzusetzenden Maßstabes gibt bereits der Wortlaut der Formulierung Delbrücks einen Anhaltspunkt. Dieser setzt voraus, daß der Denationalisierungsprozeß "for the sake of the common good", also im Interesse des Gemeinwohls bzw. mit dem Ziel, jenes zu fördern, stattfinden muß. Dies bedeutet zunächst, daß nicht notwendigerweise ein - wie auch immer meßbarer- Grad an Gemeinwohlbeförderung gefordert wird. Das GemeinwohlKriterium ist vielmehr auch dann als erfüllt anzusehen, wenn die untersuchten Entwicklungen von einer für das Gemeinwohl positiven Tendenz geprägt und generell geeignet sind, dem Gemeinwohl zu dienen. Zum zweiten impliziert die Formulierung "for the sake of the common good", daß dem untersuchten (Entstaatlichungs-)Prozeß ein gewisses finales Element innewohnen muß, es folglich nicht ausreicht, wenn dieser vollkommen zufällig in einer Gemeinwohlbeförderung resultiert. Es muß dies von den ihn betreibenden Kräften auch- im weitesten Sinne - beabsichtigt sein. In diesem Zusammenhang wird wiederum die Frage nach dem anzulegenden Maßstab zu stellen und erneut eine Wertung vorzunehmen sein.

(1) Informations- und Kommunikationstechnologie Durch die Entwicklungen in diesem Bereich wird dem einzelnen in der Gegenwart eine unübersehbare Vielzahl von Möglichkeiten geboten, sich Informationen zu beschaffen, sich darauf basierend eine Meinung zu bilden und auf verschiedenste Weise am weltumspannenden Dialog zu partizipieren.244 In Anbetracht der menschenrechtliehen Dimension des Prinzips der Informationsfreiheit245 ist dies - trotzdes momentan noch gegebenen entwicklungsbedingten Ausschlusses eines erheblichen Anteils der Weltbevölkerung246 - grundsätzlich als positiv zu be244 Hans-Peter Martin/Harald Schumann, S. 27: "Niemals zuvor hörten und wußten die Menschen so vieles über den Rest der Welt. Erstmals in der Geschichte eint die Menschheit eine gemeinsame Phantasie des Seins." 24 s Siehe dazu lost Delbrück, in: Rüdiger Wolfrum (Hrsg.), Recht auf Information, s. 181 (192 ff.). 246 Hierzu und zu dem Aspekt, daß das globale Mediennetz vielfach noch elitär begrenzt wird, so daß eine weite Verbreitung nicht notwendigerweise mit einer breiten gesellschaftlichen Nutzung verbunden ist, siehe Kai Hafez, in: Rainer Tetzlaff (Hrsg.), Weltkulturen unter Globalisierungsdruck, S. 93 ff.

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Teil I: Was bedeutet Globalisierung?

werten. Der angesprochene Informationspluralismus wird selbst von Kritikern eines ungesteuerten Informationsangebots als wichtiger Bestandteil kultureller Entwicklung, als Bestandteil von Kultur generell angesehen. Insbesondere von der Dritten Welt wird allerdings auf die Gefahr hingewiesen, daß ein unbeschränkter Informationsfluß zu kultureller Dominanz der westlichen Massenmedien führen kann und nach möglichen Grenzen des Informationsflusses gesucht. 247 Dennoch bieten die neuen Technologien auch den ärmeren Ländern Chancen, weil sie neue, schnelle und im Vergleich zu Telefon und Fax kostengünstige Möglichkeiten des Wissenstransfers eröffnen. Vielen kleinen und mittleren Unternehmen, Wissenschaftern, aber auch NGOs aus Entwicklungsländern eröffnet das Internet erstmals die Möglichkeit, weltweit zu kommunizieren. 248 Auch die angesprochene Schaffung einer Weltöffentlichkeit ist geeignet, das Gemeinwohl der Menschheit zu fördern. Zum einen bedeutet die Vernetzung der Menschen in verschiedenen Ländern der Erde einen Schritt in Richtung der Entstehung einer Weltgesellschaft und damit zumindest potentiell eine Chance für mehr Solidarität der Gesellschaften untereinander. Der zersetzende Einfluß eines weitgehend ungehinderten und unhinderbaren Informationsflusses auf totalitäre, Menschenrechte nicht achtende Regime wird zum anderen wohl außer von den Regimeträgern selbst von niemandem als Negativfaktor bewertet. Als ein solcher stellt sich jedoch die Kehrseite der durch die neuen Technologien gebotenen Möglichkeiten dar: neuartige Gefahren durch die Nutzung des Internet für illegale und kriminelle Zwecke, mangelnde Sicherheit bei der Datenübermittlung und dadurch bedingte Mißbrauchsmöglichkeiten oder aber die durch die quasi unkontrollierbare Mobilität des Kapitals erhöhte Instabilität der Kapitalmärkte249 sind nur drei Beispiele von vielen. 247 Vgl. dazu Jost Delbrück, in: Rüdiger Wolfrum (Hrsg.), Recht auflnformation, S. 181 (186) m. w. N. 248 Zu diesen Aspekten siehe auch UNDP Human Development Report 1999, S. 59 ff., und Kai Hafez, in: Rainer Tetzlaff (Hrsg.), Weltkulturen unter Globalisierungsdruck, s. 93 ff. 249 Es kann wiederum auf den "Schwarzen Montag" von 1987 und auch auf die Finanzkrise Asiens ab Mitte 1997, die ihren Höhepunkt Ende 1998 erlebte, verwiesen werden, deren Auswirkungen auf den Weltbörsen spürbar wurden, wenn auch das Ausmaß der Turbulenzenaufgrund der besonnenen Reaktion der Börsianer sehr viel geringer ausfiel als zuvor befürchtet. Die wirtschaftlichen Folgen dieser Krise schlugen sich auch in den Weltwirtschaftsdaten des Jahres 1998 nieder: Das Weltwirtschaftswachstum sank auf 2 % (gegenüber 3 % in 1997), und das weltweite Exportvolumen lag lediglich bei 3,5 % (gegenüber 9,5-10 % in 1997); WTO-Press Release vom 16.04.1999, http://www. wto.org/ wto/intltrad/intemat.htm (Stand: 28.07.1999). Daten zu Wachstumsprozessen in der Weltwirtschaft 1966-98 finden sich auch bei lngomar Hauchler!Dirk Messner/Frank Nuscheler

B. Der Begriff "Globalisierung"

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Im ganzen ist dennoch für den Sektor der Informations- und Kommunikationstechnologie eine positive Bilanz zu ziehen. Trotz aller mit den Entwicklungen in diesem Bereich verbundener Probleme und Gefahren überwiegen die den Menschen dadurch gebotenen Chancen. Es darf davon ausgegangen werden, daß dieses von den Initiatoren und Beförderern der technologischen Neuerungen zumindest auch intendiert war, so daß das Gemeinwohl-Erfordernis Delbrücks in bezug auf den Informations- und Kommunikationssektor als erfüllt angesehen werden kann.

(2) Gemeinwohlbeförderung im Bereich der Wirtschaft Einerseits ist dargestellt worden, daß der Einfluß des Staates auf die Wirtschaft stark abgenommen hat und eine Nationalökonomie im traditionellen Sinne nach Ansicht vieler heute nicht mehr vorhanden ist. Die dadurch hervorgerufenen Folgen - u. a. extreme Gewinnorientierung der Unternehmen und entsprechend größerer Standortwettbewerb zwischen den Staaten, Entsolidarisierung von Arbeitgebern und Arbeitnehmern sowie stark verschärfte Konkurrenz auf den Arbeitsmärkten durch die zunehmende Verlagerung von Produktionsstätten in sog. Billiglohnländer- führen zu einem in dieser Form bisher ungekannten wirtschaftlichen und sozialen Druck auf die Gesellschaft. Diese Situation wird darüber hinaus durch die größere Macht der multinationalen Konzerne gegenüber dem Staat wie-aufgrundder Arbeitsmarktsituation- auch gegenüber dem einzelnen befördert, so daß "Giobalisierung" der Wirtschaft für viele genau das Gegenteil von Gemeinwohlförderung, nämlich die Bedrohung ihrer Existenz bedeutet. 250 Auf der anderen Seite wurde festgestellt, daß infolge der Entgrenzung der Märkte nunmehr Regionen der Erde in den Handel mit einbezogen werden, die zuvor nahezu vollständig unbeteiligt waren. 251 Entwicklungs- und Schwellenländer sind zunehmend zu wichtigeren Partnern in der internationalisierten Produktion geworden. 252 Obgleich häufig nur ein geringer Bruchteil der erzielten Ge(Hrsg.), Globale Trends 2000, S. 171, die darüber hinaus Schätzungen der Entwicklung bis zum Jahr 2007 vornehmen. 250 Zu den Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt vgl. auch David Held/Anthony McGrewl David Goldblatt/Jonathan Perraton, S. 184 f. 251 Siehe oben Teil I, A. I. 2. 252 Dies zeigt sich u. a. an der mittlerweile hohen Zahl von Auslandsniederlassungen multinationaler Konzerne in diesen Ländern, vgl. dazu die Übersicht bei David Held/ Anthony McGrew/David Goldblatt/Jonathan Perraton, S. 253 .

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Teil I: Was bedeutet Globalisierung?

winne in den betreffenden Ländern verbleibt und weiterhin noch ein großer Teil der Entwicklungsländer von den Ausdehnungstendenzen ausgeschlossen bleibt, ist doch zumindest ein geringer Fortschritt in Richtung einer gleichmäßigeren, gerechteren Verteilung des Welteinkommens unter den Ländern unbestreitbar. 253 Wenn auch die Aufteilung der Welt in reich und arm254 auf absehbare Zeit noch bestehen bleiben wird, so ist doch für Millionen Menschen in einigen Regionen255 ein erheblicher Fortschritt im Werden. 256 Nach dem im Völkerrecht vermehrt anerkannten Prinzip globaler Gerechtigkeit wäre schon daher die dargestellte wirtschaftliche Entwicklung als gerecht und also im Grundsatz gemeinwohlbefördernd zu beurteilen. 257 Infolge der Institutionalisierung bestimmter 253 Eine Untersuchung des Pro-Kopf-Einkommens in den Entwicklungsländern im Zeitraum zwischen 1980-1995 zeigt, daß eine Reihe von Entwicklungsländern im Prozeß der Globalisierung gegenüber den führenden Industrienationen wirtschaftlich aufgeholt haben. Siehe dazu Peter Nunnenkamp, Kiel Discussion Papers 328 (11/1998); ders., 39 GYIL (1997), S. 42 (68 ff.) ; lngomar Hauchler/Dirk Messner/Frank Nuscheler (Hrsg.), Globale Trends 2000, S. 78 f. 254 Wobei die Unterscheidung in Nord und Süd auf lange Sicht nicht mehr besonders aussagekräftig bleiben dürfte. Hierauf deuten die geschilderten positiven Entwicklungen für die Länder der dritten Welt hin. Die Verteilung von Wohlstand und Einfluß wird- u. a. infolge der weiter zunehmenden Arbeitsteilung - stärker differenziert werden und sich anders als bisher nicht mehr nur in Kern und Peripherie aufteilen lassen. Vgl. dazu David Held/Anthony McGrew/David Goldblatt/Jonathan Perraton, S. 429. 255 Insbesondere China, aber auch das übrige Asien und Lateinamerika. 256 Manuel Castells, in: David Held/Anthony McGrew (Hrsg.), Global Transformations Reader, S. 259 (267); David Held/Anthony McGrew, Introduction, in: dies. (Hrsg.), Global Transformations Reader, S. 28. m Dieses auf das Fairneßkonzept von John Rawls zu ruckgehende Prinzip basiert auf der Annahme, daß Gerechtigkeit nicht unbedingt egalitär ausgestaltet ist, sondern auf zwei sich ergänzenden Elementen beruht, einem egalitären Verteilungsgrundsatz für immaterielle Güter und dem nicht egalitären Differenzprinzip für materielle Güter. Letzteres verlangt nicht notwendig eine Gleichverteilung, sondern lediglich eine Rechtfertigung ökonomischer Ungleichverteilungen durch den Nachweis allgemeiner Vorteilhaftigkeit. Rawls formuliert dies wie folgt: "Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten sind so zu gestalten, daß (a) vernünftigerweise zu erwarten ist, daß sie zu jedermanns Vorteil dienen und (b) sie mit Positionen und Ämtern verbunden sind, die jedem offen stehen." (S. 81) "Ungerechtigkeit besteht danach in Ungleichheiten, die nicht jedermann Nutzen bringen." (S. 83) Da die aktuellen ökonomischen Entwicklungen- wenngleich auch nur langsam- eine Entwicklung hin zu einer gleichmäßigeren Verteilung des Welteinkommen erkennen lassen, wären sie nach Rawls als gerecht einzustufen. Siehe zum ganzen Christian Tietje, Normative Grundstrukturen, S. 326 ff. m. w. N. Das so verstandene Differenzprinzip wurde auf der neunten Tagung der Handels- und Entwicklungskonferenz der Vereinten Nationen (UNCTAD IX) vom 27.4.-11.5.1996 in Midrand, Südafrika, auch von den schwächer entwickelten Staaten geteilt. Dort stand entgegen früheren Positionen der UNCTAD die Notwendigkeit einer universellen Wirt-

B. Der Begriff "Globalisierung"

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Schutz- und Regelungsmechanismen im Rahmen der WTO wird zudem ein erhebliches Anwachsen des Welteinkommens erwartet. 258 So waren im Jahre 1997 ein Weltwirtschaftswachstum von 3 %und ein Anwachsen des weltweiten Exportvolumens um 9,5% zu verzeichnen. Die Verteilung dieses Wachstums zwischen den verschiedenen Erdregionen war dabei im Vergleich zum Vorjahr erheblich gleichmäßiger. 259 Diese positive Entwicklung liegt grundsätzlich im Interesse des Gemeinwohls und entspricht den wirtschaftlichen und sozialen Zielen der Vereinten Nationen, die in der Präambel der UN-Charta bereits angesprochen und konkret in Art. 55 UN-Charta festgeschrieben sind. Dieser hebt die Bedeutung von Stabilität und Wobifahrt für das friedliche Zusammenleben der Völker hervor260 und erklärt aus diesem Grunde die Verbesserung des Lebensstandards sowie wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt und Aufstieg zum Ziel der Organisation. Das Anliegen, wirtschaftliche Verbesserungen derbeschriebenen Art zu erzielen, zählt auch zu den Gründen für die Schaffung der WTO und den Zielen der Organisation, 261 so daß insoweit der finale Aspekt des untersuchten Gemeinwohl-Erfordernisses ebenfalls gegeben ist. Eine wertende Gesamtschau der wirtschaftlichen Entwicklungen gestaltet sich angesichts der Gegensätzlichkeit der zu verzeichnenden Konsequenzen äußerst schwierig, zurnal dabei jeweils auch der Intensität der Auswirkungen und der Größe des im einzelnen betroffenen Personenkreises Rechnung getragen werden muß.

schaftsliberalisierung im Vordergrund der wirtschaftspolitischen Beratungen. Allerdings sind diese Staaten im Rahmen der Milleniumsrunde der WTO wieder von diesem Standpunkt abgerückt und zu ihren Forderungen im Sinne einerneuen (egalitären) Weltwirtschaftsordnung zurückgekehrt; vgl. hierzu Ralf Langhammer, 16 KAS Auslandsinformationen (2000), S. 22 ff. 258 Alex Seita, 30 Cornell lU (1997), S. 429 (446 f.); FOCUS (GATI Newsletter), Oct.1944, S. 1: "WTO to Boost Global Income by $ 500 Billion." Zitiert nacJ:l. Alex Seita. 259 http://www. wto.org/wto/research/pera9808.doc (Stand: 25.04.1999). Eine tabellarische Übersicht hierzu ist zu finden im UNDP Human Development Report 1999, S. 45. Zu den Daten des Jahres 1998, die wesentlich niedriger ausgefallen sind und den Gründen für diesen Abfall siehe oben, Fn. 249. 260 Wobei wirtschaftlicher Fortschritt wiederum Frieden voraussetzt, vgl. Rüdiger Wolfrum, in: Bruno Siroma (Hrsg.), Charta der Vereinten Nationen, Art. 55 (a, b), Rn. 10. 261 Dies ergibt sich bereits aus der Präambel des WTO-Vertrages, die wirtschaftliche und soziale Ziele nennt, die mit denen der Vereinten Nationen identisch sind, aber auch auf die Notwendigkeit der Einbeziehung von Entwicklungsländern in den Welthandel, der Berücksichtigung der Bedürfnisse und Anliegen dieser Staaten sowie der nachhaltigen Entwicklung hinweist.

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Teil I: Was bedeutet Globalisierung?

Die Mehrzahl der Menschen sieht sich durch die Entgrenzung der Märkte schlechter gestellt, nicht positiv unterstützt, denn der überwiegende Teil der berufstätigen Bevölkerung ist als abhängige Arbeitnehmer beschäftigt und infolgedessen vor allem von den negativen Konsequenzen - der verschärften Konkurrenz um Arbeitsplätze, der Entsolidarisierung der Arbeitgeber und der abnehmenden Möglichkeit des Staates, wirksam zum Schutz der Arbeitnehmer einzugreifen u. a. m. - betroffen. Die maximierten Gewinne großer Betriebe, das langsame Ansteigen des Welteinkommens und selbst die (allmählich) zunehmend gerechtere Verteilung des Welteinkommens auf die verschiedenen Erdregionen werden für den überwiegenden Teil der Gesellschaft dagegen nur in sehr viel geringerem Maße spürbar. Von diesen positiven Auswirkungen profitiert im Verhältnis zur gesamten Weltgesellschaft nur ein bescheidener Kreis. Vor diesem Hintergrund scheint es schwierig, die "Giobalisierungs"-Prozesse im Bereich der Wirtschaft als allgemein förderlich für das Gemeinwohl zu bewerten.262 Um eine Gesamtbeurteilung vornehmen zu können, müßte allerdings geklärt werden, ob die negativen Effekte notwendiges Element oder nur Nebenerscheinungen der wirtschaftlichen Globalisierung sind. Eine Erörterung dieser Frage überstiege jedoch den Rahmen der Arbeit, und der zu erwartende Erkenntnisgewinn einer solchen Diskussion für den Zweck der vorliegenden Untersuchung ist sehr beschränkt. Aus diesem Grund wird von einer Gesamtwertung abgesehen und es bei der Beurteilung im Rahmen der Einzelbetrachtungen belassen.

(3) Gemeinwohlinteressen im Umweltbereich

Die Entwicklungen, die vornehmlich unter de;n Aspekt der Globalisierung im Umweltbereich in der Literatur angesprochen werden, sind im Hinblick auf Gemeinwohlinteressen ähnlich zwiespältig wie jene auf dem Wirtschaftssektor. Die globalen, weil weltweiten, und von den Staaten nicht mehr im Alleingang zu bekämpfenden Umweltzerstörungen sind unzweifelhaft nicht geeignet, das Gemeinwohl zu fördern. Gleiches gilt für die mit Globalisierung in Verbindung gebrachte erhöhte Gefahr umweltbdingter Konflikte von überregionaler Relevanz.263 Anders verhält es sich dagegen mit dem Beitrag einer großen Zahl nicht262 Anderer Ansicht: Jonathan Fried, 23 QLR (1997), S. 259 (265): "Globalization of econornic activity and intemationalization of regulation has indisputably been good for the international community, good for people and consistent with the goals set for econornic cooperation by the UN." 263 Vgl. dazu Manfred Wöhlcke, in: Rainer Tetzlaff (Hrsg.), Weltkulturen unter Globalisierungsdruck, S. 66 (84 ff.).

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staatlicher Akteure (NGOs) zum Schutz der Umwelt, der mit der ökologischen Globalisierung in Zusammenhang gebracht wird. Die Wirkungsweise dieser Organisationen wurde bereits beschrieben/64 ihre Beteiligung reicht bis zur Übernahme von aktiven Aufgaben bei der Durchsetzung völkerrechtlicher Verträge. 265 Darüber hinaus trägt ihre Beteiligung zu einer gewissen Demokratisierung des Entscheidungsprozesses bei, denn die auf internationaler Ebene getroffenen Entscheidungen sind nicht mehr allein über die - im Idealfall - gewählte Staatsregierung auf den Bürger zurückzuführen, sondern dieser konnte über die NGOBeteiligung zusätzlich Einfluß nehmen. 266 Die ursprüngliche Mediatisierung des Bürgers durch den Staat wird damit relativiert und um eine weitere, selbständigere Möglichkeit der Mitwirkung des einzelnen ergänzt. 267 In Anbetracht der großen Zahl dieser Art von Organisationen, des breiten Spektrums vertretener Interessen und des erheblichen Einflusses, den sich einige unter ihnen mittlerweile erarbeitet haben, kann die Intensität der Gemeinwohlförderung als ausreichend für das Gemeinwohl-Erfordernis bewertet werden. Darüber hinaus schließt das von den betreffenden Akteuren verfolgte Ziel - die Unterstützung und Förderung des Schutzes der natürlichen Lebensgrundlagen- notwendigerweise eine Intention der Gemeinwohlförderung mit ein, so daß auch die erforderliche Finalität der Gemeinwohlbeförderung gegeben ist. Anders als die globalen Umweltprobleme erfüllt der Beitrag der Umwelt-NGOs folglich das Gemeinwohl-Erfordernis, so daß eine Gesamtwertung für die Entwicklungen im Umweltbereich problematisch ist. Der positive Beitrag von NGOs wird jedoch nicht nur im Zusammenhang mit dem Umweltschutz, sondern insbesondere auch als ein Aspekt der politischen Vernetzung bzw. Globalisierung diskutiert. Faßt man diese Entwicklung gemeinsam mit den internationalen Lösungsansätzen für die geschilderten Probleme unter die "Globalisierung" im Bereich der Politik und des Rechts, so erleichtert dies auch die Gesamtbewertung hinsichtlich der Gemeinwohlbeförderung im Umweltbereich. Diese soll daher an dieser Stelle auf den Punkt der globalen UmweltTeil 1, A. II. 2. Vgl. dazu oben Fn. 113. Für eine detaillierte Darstellung der Rolle nichtstaatlicher Organisationen bei der Entwicklung und Durchsetzung internationalen Umweltrechts vgl. Sonja Riedinger, passim. 266 Siehe näher dazu unten, Teil 3, B. III. 267 Die angesprochene Mediatisierung des Menschen durch den Staat wurde lange Zeit als umfassend verstanden. Heute ist dagegen weitestgehend anerkannt, daß sie zumindest im Bereich des Menschenrechtsschutzes des Individuums zu einem gewissen (zunehmenden) Grad aufgehoben ist. Vgl. zu dieser Entwicklung: Stephan Hobe, Der offene Verfassungsstaat, S. 216 ff. 264

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Teil 1: Was bedeutet Globalisierung?

problerne und -risiken beschränkt werden und muß entsprechend negativ ausfallen. Machte man das Ziel der Förderung des Gemeinwohls zum Definitionsmerkmal von Globalisierung, so wären die Entwicklungen im Umweltbereich folglich nicht davon erfaßt.

(4) Gemeinwohlinteressen in den Bereichen Politik und Recht In den Bereichen des Menschenrechts- und des Umweltschutzes 268 geschlossene internationale Abkommen dienen im allgemeinen der Schaffung gemeinsamer internationaler Standards, die zu einer Verbesserung der durchschnittlichen Situation der Bevölkerung in den einzelnen Nationalstaaten bzw. der Schaffung und Erhaltung gesunder Umweltbedingungen beitragen sollen. Obgleich die international vereinbarten Standards nicht selten für eine bestimmte Zahl von Staaten keine Verbesserung der bestehenden Situation herbeiführen, weil bereits deren nationales Recht in dieser Hinsicht höhere Anforderungen stellt, bedeuten die internationalen Vereinbarungen zumeist aber dennoch für eine erhebliche Zahl von Staaten eine Steigerung gegenüber den nationalen Regelungen, so daß sie im Ergebnis zu einer Anhebung der Durchschnittsstandards führen .269 Neben der zunehmenden völkervertragsrechtliehen Vernetzung wird zudem die Überwachung der Einhaltung internationalen Rechts durch internationale Gerichte mit Globalisierung in Zusammenhang gebracht. Vor diesen Institutionen hat das Individuum überwiegend noch keinen locus standi, sondern wird 268 Die Frage nach der Förderung des Gemeinwohls wird auf diese Sachbereiche beschränkt, da diese auch oben als Beispiele für politische und rechtliche Denationalisierung verwendet worden sind. 269 Michael Züm, Regieren, S. 183 ff. m. w. N., verweist beispielsweise zu Recht auf das Übereinkommen vom 13. November 1979 über weitreichende grenzüberschreitende Luftverschmutzung und die drei dieses Abkommen konkretisierenden Protokolle (die Protokolle über die Reduktion von Schwefeldioxidemissionen [S02] 1985 und Stickoxiden [Nox] 1988 sowie flüchtige organische Bestandteile [VOC] 1991 ), ohne welche Länder wie die Niederlande, Dänemark, die Schweiz, Rußland, die Ukraine und auch Großbritannien heute deutlich höhere Emissionen hätten als es tatsächlich der Fall ist. Auch das Internationale Übereinkommen von 1973 zur Verhütung der Meeresverschmutzung durch Schiffe (MARPOL 73178, International Convention for the Prevention of Pollution by Ships, 2. Nov. 1973, 12 I.L.M. [1973], S. 1319 ff., as modified by the Protocol of 17 Feb. 1978, 17 I.L.M. [1978], S. 546 ff., in Kraft seit dem 2. Okt. 1983) mit einer Reihe von Ergänzungen hat nachweislich dazu beigetragen, daß die Zahl der mutwilligen Öleinträge in die Meere rapide reduziert worden ist und heute nur noch einen Bruchteil früherer Werte ausmacht.

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weiter durch den Staat mediatisiert. Nur vereinzelt besteht die Möglichkeit der Individualbeschwerde.270 Wo dies der Fall ist, sich der einzelne also ohne Dazwischenschaltung von Staatenvertretern an das Gericht wenden kann, steht dem Betroffenen ein wirksames Instrument zur Verteidigung seiner Rechte zur Verfügung, so daß unzweifelhaft von einer Förderung der Interessen des einzelnen und in der Gesamtheit auch der Interessen der Gesellschaft gesprochen werden kann. Selbst im Falle der Mediatisierung des Individuums durch den Staat aber ist die Kontrolle der Einhaltung von (völkerrechtlichen) Verpflichtungen durch internationale Gerichte als positiv für das Gemeinwohl zu bewerten, denn damit wird die verbesserte Einhaltung der im Interesse des Gemeinwohls vertraglich stipulierten internationalen Standards bezweckt. Nimmt man weiter die positiven Wirkungen der Bedeutungs- und Einflußzunahme auf seiten nichtstaatlicher Organisationen hinzu, so kann - wie am Beispiel der Umweltschutz-NGOs gezeigt- für die "Globalisierung" im Bereich Politik und Recht eine positive Gesamtbewertung vorgenommen werden.

270 Die Möglichkeit einer Individualbeschwerde ohne Dazwischenschaltung eines staatlichen Vertreters besteht beispielsweise seit Inkratfttreten des 11 . Zusatzprotokolls zur Europäischen Menschenrechtskonvention am 01.11.1998 vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Durch dieses Zusatzprotokoll wurden die Europäische Menschenrechtskommission und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte zusammengefaßt, und es kann nunmehr jeder Bürger der Europäischen Union sein Anliegen selbständig beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte vorbringen. Siehe dazu auch Jens Meyer-Ladewig, 52 NJW (1995), S. 2813 ff.; Henry Schermers, 20 ELRev (1995), S. 559 ff. In diesem Zusammenhang ist auch das UN Seerechtsübereinkommen vom 10. Dezember 1982 erwähnenswert, welches in Art. 20 (2) I. HS vorsieht, daß auch anderen Rechtsträgem als Vertragsstaaten (wie z. B. Schiffsunternehmen) in bestimmten Fällen das Recht zusteht, vor dem Seegerichtshof als Partei aufzutreten, siehe dazu auch unten Teil 3, B. II. 2. aa) (4). Die Möglichkeit der Individualbeschwerde ist daneben auch vor dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften gegeben, vor dem gern. Art. 173 (4) EGV natürliche wie juristische Personen gegen Entscheidungen und sog. Scheinverordnungen Klage erheben können, soweit sie unmittelbar und individuell betroffen sind. Unter bestimmten Voraussetzungen wird dem einzelnen darüber hinaus im Falle der Nicht- oder Schlechtumsetzung von EG-Richtlinien Schadensersatz gewährt, vgl. dazu den bekannten Fall Frankovich, C-6190 und C-9/90, ECJ Reports 1991, S. 5357, und den Fall der Brasserie du Pecheur, C-46193, EuZW 1996, S. 205. Das europäische Gemeinschaftsrecht stellt zwar nach herrschender Lehre und der Rechtsprechung des EuGH kein Völkerrecht dar (vgl. dazu nur Michael Schweitzer!Waldemar Hummer, S. 207m. w. N.), als Primär- und Sekundärrecht internationaler Organisationen kann es aber dennoch als Indikator für die sich erweiternden Rechtsschutzmöglichkeiten des Individuums gegen den Staat gewertet werden.

Teil l: Was bedeutet Globalisierung?

92 (5) Sicherheit

Weder die im Zusammenhang mit Globalisierung diskutierte Bedrohung durch Massenvernichtungswaffen noch die internationale organisierte Kriminalität erfüllen das Erfordernis der Förderung von Gemeinwohlinteressen, so daß dieser Bereich nicht von der Globalisierungsdefinition Delbrücks erfaßt wäre.

(6) Soziale Globalisierung Letztlich sind noch die Entwicklungen in bezugauf die Förderung des Gemeinwohls zu beleuchten, die unter der Bezeichnung "soziale Globalisierung" zusammengefaßt wurden. 271 Für den als globales Problem oder als ein Problem der Globalisierung diskutierten Gesichtspunkt der Armut und Unterentwicklung in weiten Teilen der Welt kann ohne weiteres festgestellt werden, daß er nicht im Interesse des Gemeinwohls liegt. Ähnlich eindeutig ist die Bewertung der Entwicklungen hinsichtlich der Verbreitung von Infektionskrankheiten; das gesundheitliche Gemeinwohl ist durch sie erheblichen Gefährdungen ausgesetzt, so daß von einer Förderung desselben nicht die Rede sein kann. Die Bewertung der vornehmlich durch Armut und Unterentwicklung in weiten Teilen der Welt bedingten großen Migrationsströme gestaltet sich dagegen äußerst problematisch. Die Motivation der emigrierenden Menschen besteht gerade darin, das eigene Schicksal zu verbessern und ihr persönliches Wohl zu fördern. Ob Massenauswanderungen aber eine Förderung (les Gemeinwohls bewirken oder zumindest für diesen Zweck geeignet sind, erscheint fraglich, denn Migration stellt keine Lösung für die eigentlichen Probleme in den Heimatstaaten dar, die Ursache für die Auswanderung sind. Die Gesamtsituation in den Heimatstaaten wird durch sie nicht verbessert, und die Zielländer von Migrationen importieren häufig Probleme und Spannungen aus den Herkunftsländern272 • Wiederum kann jedoch nicht geleugnet werden, daß die Lage der Emigranten sich in vielen Fällen, wenn auch nur graduell, verbessert und daß diese Steigerung angesichts der elenden Situation im Herkunftsland für viele bereits einen Gewinn bedeutet. Auch wenn die Einwanderung für das aufnehmende Land regelmäßig nicht allein mit Nachteilen verbunden ist, wird den Interessen der gesamten Gesellschaft, die für Teil I, A. I. 6. Manfred Wöhlcke, in: Rainer Tetzlaff (Hrsg.), Weltkulturen unter Globalisierungsdruck, S. 66 (79). 271

272

B. Der Begriff "Globalisierung"

93

das sog. Gemeinwohl zugrunde gelegt werden müssen, durch die Loslösung ganzer Gesellschaftsteile von ihrem Nationalstaat nicht gedient. Dies könnte allein für die politischen Strategien zur Regelung der Migrationsproblematik behauptet werden. Bei der hier vorgenommenen isolierten, von der politischen Globalisierung getrennten Betrachtung würden die Migrationsströme daher nicht von einer Globalisierungsdefinition erlaßt, die eine Förderung des Gemeinwohls voraussetzt. Auch mit der im übrigen gesteigerten Mobilität der Menschen, wie sie sich am Beispiel des weltweiten Tourismus zeigt, sind bedeutende negative Auswirkungen verbunden. Der Tourismus bedingt teilweise erhebliche Umweltbelastungen, ist mit sozio-kulturellen Folgen verbunden - durch einen beschleunigten Übergang von traditionellen Lebensformen zur westlich geprägten Gesellschaftsform- und als Einnahmequelle verhältnismäßig krisenanfällig273 • Gleichzeitig aber wird in der Regel das Verständnis der Reisenden für andere Länder und Kulturen und idealer Weise zugleich die Verständigung der Völker und deren friedliches Zusammenleben gefördert. Dies gilt auch für die sog. temporäre Emigration in Form der Studierendenmobilität, die aus eben diesem Grunde heute erheblich unterstützt wird. Durch den Tourismus entstehen in den Urlaubsregionen Arbeitsplätze, die den Einheimischen, zumindest bei guter Ausbildung, zukunftsfähige Perspektiven eröffnen, und in vielen Ländern ist die wirtschaftliche Lage vorwiegend durch den Tourismus bestimmt. So wurden auf den Malediven im Jahr 1996 84 % des Bruttosozialproduktes durch den Tourismus erzeugt. In Anguilla und auf den Britischen Jungferninseln waren es 75 %. 274 Vor diesem Hintergrund soll die gesteigerte Mobilität hier insgesamt als überwiegend positiv bewertet werden, so daß sie auch von einer gemeinwohlorientierten Globalisierungsdefinition erfaßt würde. Dabei wären die Negativfolgen, wie in den anderen Bereichen, aus dem Globalisierungsbegriff auszunehmen. In bezugauf die kulturelle Globalisierung schließlich scheiden sich hinsichtlich der Beurteilung als positiv oder negativ, wie bereits im Rahmen der phänomenologischen Darstellung angesprochen, erheblich die Geister. 275 Teilweise wird das Entstehen einer globalen kulturellen Einheitsmasse durch eine Überfremdung von amerikanischer Seite befürchtet, in der die Vielfalt und die Besonderheiten der verschiedenen Kulturen verloren gehen. Eine menschen273 Durch politische Unruhen, den Ausbruch von Epidemien, Naturkatastrophen oder Kriminalität und die hohe Konkurrenz zwischen den verschiedenen Zielen kann ein Reiseziel von heute auf morgen unattraktiv werden. 274 lngomar Hauchler/Dirk Messner/Frank Nuscheler (Hrsg.), Globale Trends 2000, s. 351. 275 Vgl. Teil!, A. I. 6.

94

Teil I: Was bedeutet Globalisierung?

rechtliche Dimension erhält die Problematik zudem dann, wenn man auf das völkerrechtliche Recht auf kulturelle Selbstbestimmung abstellt. 276 Kulturen sind in der Geschichte jedoch selten in völliger Abwesenheit gegenüber anderen entstanden, und lebendige Kultur wächst und bewährt sich im Austausch mit anderen Kulturen. Dieser Austausch wird durch die modernen Medientechnologien erheblich vereinfacht und intensiviert. In vielen Bereichen ist heute der Zugang zu ausländischen Kulturgütern sehr viel problernloser möglich als früher, und die sich dem einzelnen bietenden kulturellen Möglichkeiten haben ähnlich wie im Bereich Information und Kommunikation erheblich zugenommen. Die Auseinandersetzung des einzelnen mit ausländischen kulturellen Aktivitäten277 aber gibt den Anstoß für neue Ideen und Entwicklungen und scheint daher- trotz der in vielen Bereichen gegebenen amerikanischen Dominanz- geeignet, zu einer Förderung der kulturellen Vielfalt beizutragen. 278 Aus diesem Grunde soll hier davon ausgegangen werden, daß die Entwicklungen im Kulturellen durchaus im Interesse des Gemeinwohls liegen. Entsprechend würden sie nicht aufgrund des Gemeinwohl-Erfordernisses aus der Definition von Globalisierung herausfallen.

cc) Zwischenergebnis Macht man das Vorliegen von Globalisierung davon abhängig, daß die zu bezeichnenden Prozesse im Interesse bzw. mit dem Ziel der Förderung des Gemeinwohls stattfinden, so fallen die Entwicklungen in den Bereichen Sicherheit und Umweltzerstörung vollständig aus der Definition des Begriffes Globalisierung heraus. Im Bereich der Wirtschaft sind die Aspekte der steigenden Arbeitslosigkeit, der erhöhten Instabilität der Märkte sowie Jer schwer zu kontrollierenden Macht multinationaler Unternehmen nicht erfaßt. Von der "sozialen Globalisierung" schließlich wären die Armut und Unterentwicklung in weiten Teilen der Welt, die global verlaufenden Migrationsströme und der Bereich der sich unkontrolliert verbreitenden Infektionskrankheiten nicht zur Globalisierung zu zählen.

276 Zum Verhältnis des Rechtes auf kulturelle Selbstbestimmung und der Freiheit des Informationsflusses bzw. der Informationspluralität siehe insbesondere lost Delbrück, in: Rüdiger Wolfrum (Hrsg.), Recht auf Information, S. 181 ff. 277 Der Begriff der kulturellen Aktivitäten wird an dieser Stelle zur Bezeichnung von sowohl kulturellen Unternehmungen als auch Kulturgütern wie Büchern, Zeitungen, Tonträgern u. a. m. verwendet. 278 So auch Kevin Robins, in: David Held/Anthony McGrew (Hrsg.), Global Transformations Reader, S. 195 ff. V gl. dazu auch Kai Hafez, in: Rainer Tetzlaff (Hrsg.), Weltkulturen unter Globalisierungsdruck, S. 105 ff.

B. Der Begriff "Globalisierung"

95

dd) Würdigung Die Subsumtion der regelmäßig als Globalisierung bezeichneten Entwicklungen unter das von Delbrück aufgestellte Gemeinwohl-Erfordernis hat gezeigt, daß bei Aufnahme dieses Merkmals in eine Globalisierungsdefinition mehrere Sachbereiche - einige vollständig, andere nur teilweise - unberücksichtigt blieben. Fraglich ist, ob die Gründe Delbrücks für Aufstellung des Gemeinwohl-Erfordernisses so schwer wiegen, daß sie diese Folgen zu rechtfertigen vermögen. Als ein Grund war genannt worden, daß Delbrück Globalisierung als ein normatives Konzept versteht, daß die gegenwärtig stattfindenden Denationalisierungsprozesse ordnen und sie durch einen rechtlichen Rahmen zum Wohle der Menschen kanalisieren soll. Zum anderen wurde festgestellt, daß das Gemeinwohl-Erfordernis Delbrück zur Abgrenzung der Globalisierung von der Internationalisierung dient. Auch wenn man der Notwendigkeit einer Ordnung und Einhegung der Globalisierungsprozesse zustimmt, stellt sich dennoch die Frage, ob dies dadurch bewirkt werden kann, daß man die Förderung des Gemeinwohls zur Voraussetzung für das Vorliegen von Globalisierung macht. Es ist zu bezweifeln, daß eine solche Definition von Globalisierung die faktisch ablaufenden Enstaatlichungsprozesse beeinflußt. Sie beschreibt lediglich einen anzustrebenden Idealzustand, nicht dagegen den tatsächlich vorliegenden Ist-Zustand. Delbrücks Auffassung von der Notwendigkeit einer Differenzierung zwischen Internationalisierung und Globalisierung ist ebenfalls grundsätzlich zuzustimmen. Wie sich zeigen wird, ist diese jedoch auch ohne das Merkmal der Gemeinwohlförderung sinnvoll möglich, da sich Globalisierung und Internationalisierung noch in weiteren Punkten unterscheiden. Des weiteren ist zu berücksichtigen, zu welchem Zweck die Definition verwendet werden soll. Hier soll eine Arbeitsdefinition des Begriffs Globalisierung bestimmt werden, die den Untersuchungen in Teil 3, wo es um die Auswirkungen von Globalisierung auf völkerrechtliche Verträge geht, zugrunde gelegt werden kann. Völkerrechtliche Verträge sind Übereinkünfte zwischen souveränen Staaten, mittels derer die Staaten ihr Verhältnis und ihre nationalen Interessen untereinander sowie Fragen von gemeinsamem, internationalem Interesse regeln. Aus diesem Grunde werden für die Untersuchung der Auswirkungen auf diese Verträge vor allem die Folgen von Globalisierung für den Staat und dessen Position im internationalen System von Bedeutung sein. Eine normative Aufladung der Definition mit dem Gemeinwohl-Erfordernis, die wie gesehen zur Folge hätte, daß mehrere Sachbereiche bzw. in diesen ablaufende Prozesse aus den Betrachtungen

96

Teil I: Was bedeutet Globalisierung?

herauszulassen wären, ist für die Fragestellung in Teil 3 weder erforderlich noch sinnvoll. Auch wo das Gemeinwohl nicht gefördert wird, können Entstaatlichung etc. stattfinden. Die betreffenden Sachbereiche von der Untersuchung auszunehmen, hieße daher u. U., daß bestimmte Aspekte unbeachtet bleiben, die für die Veränderung des Völkervertragsrechts von Bedeutung sind. Im Rahmen und für die Zielsetzung dieser Arbeit ist es daher sinnvoll, ein vornehmlich deskriptives, sich auf das Merkmal der Entstaatlichung beschränkendes Verständnis von Globalisierung zugrunde zu legen. 279 Weitere wesentliche Argumente für eine Einbeziehung des Gemeinwohl-Erfordernisses sind zu diesem Zeitpunkt nicht ersichtlich. Es kann daher insgesamt festgestellt werden, daß die Gründe für die Aufstellung des Gemeinwohl-Erfordernisses nicht ausreichen, um die durch dieses Merkmal bewirkte Einengung des Globalisierungsbegriffs zu rechtfertigen. Die Förderung des Gemeinwohls wird daher nicht zur Voraussetzung für das Vorliegen von Globalisierung gemacht. 280

3. Weitere Definitionsmerkmale? Bislang ist die entstaatlichende Wirkung als einziges, zentrales Merkmal der Globalisierungsdefinition herausgearbeitet worden. Man könnte daher erwägen, die Definition durch Hinzunahme zusätzlicher Begriffsmerkmale weiter zu präzisieren und ggf. einzuengen. Die mit der Globalisierung im Sinne von Enstaatlichung bezeichneten Prozesse finden jedoch nicht nur in einer Vielzahl verschiedener Sachbereiche statt, sie unterliegen zudem einem ständigen Wandel. Aus diesem Grunde sollte auch eine Definition dieser Prozesse möglichst flexibel und für neue Entwicklungen offen gehalten werden. Mit dem dreigeteilten Merkmal der Denationalisierung sind die wesentlichen Wirkungen der Globalisierung für die Gesellschaft, den Staat und das internationale System bereits umfassend bezeichnet. Dem muß nur noch hinzugefügt werden, daß es sich bei Globalisierung nicht um einen abgeschlossenen (End-)Zustand, sondern um einen in der Entwicklung begriffenen, dynamischen Prozeß handelt und daß dieser nicht in allen Bereichen 279 Seit 11 SZIER (2001), S. 1 (16) spricht sich nunmehr auch Jost Delbrück für eine Herausnahme des normativen Elements der Gemeinwohlbeförderung aus der Globalisierungsdefinition aus, weil dieses zu einer zu starken Einengung des Begriffs führt. Globalisierung bedeutet danach für Delbrück heute .,a process of denationalizationldeterritorialization of clusters of political, economic and social processes involving national and international actors, public and private leading to a global interconnectedness of these actors in time and space including individuals." 280 Zur Bestätigung dieser Entscheidung siehe unten Teil 4.

B. Der Begriff "Globalisierung"

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auch global (in geographischer Hinsicht) stattfindet. Auf die Hinzunahme weiterer, einengender Merkmale wird zugunsten der Flexibilität der Definition verzichtet.

4. Arbeitsdefinition Auf der Grundlage der vorangehenden Untersuchungen ergibt sich somit folgende Arbeitsdefinition:

Globalisierung bezeichnet den dynamischen, nicht notwendigerweise global reichenden Prozeß einer Entstaatlichung von gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, politischen und anderen Aktivitäten. Entstaatlichung bedeutet: a) gesellschaftliche Denationalisierung im Sinne einer Aufhebung der Kongruenz von Nationalstaat und Staatsgesellschaft, deren Ursache liegt in der Verschiebung sozialer Handlungskomplexe über die nationalstaatliehen Grenzen hinaus;

b)faktische Entstaatlichungaufgrund der dem Staat in unterschiedlichen Bereichen de facto abhanden gekommenen Regelungs- und Steuerungsmacht; c) rechtliche Entstaatlichung im Sinne einer Herausnahme öffentlicher Funktionen aus dem Aufgabenbereich des Staates und deren Übernahme durch nichtstaatliche Wirkungseinheiten

5. Anwendung der Arbeitsdefinition Es wurde bereits allgemein festgestellt, daß die verschiedenen Formen der Denationalisierung kennzeichnend sind für die in der Literatur regelmäßig mit Globalisierung in Zusammenhang gebrachten Entwicklungen. 281 Um genau zu klären, welche am Anfang der Arbeit dargestellten Phänomene und Sachbereiche von dem Begriff der Globalisierung im hier zugrunde gelegten Sinne erfaßt werden, weil dort Entstaatlichung stattfindet, werden diese im folgenden unter dieses Merkmal subsumiert. Die Subsumtion wird jedoch aus Raumgründen und weil viele Aspekte bereits vorne282 angesprochen worden sind, nur in größtmöglicher Kürze vorgenommen. Aus demselben Grunde wird auch davon abgesehen, jeden Bereich auf das Vorliegen aller drei Formen von Entstaatlichung zu untersuchen. 281

Vgl. Teil I, A. II.

282

In Teil I, A.

7 Hingst

98

Teil 1: Was bedeutet Globalisierung?

Zur Klärung, welche Sachbereiche bei Zugrundelegung des oben dargestellten Denationalisierungsverständnisses erfaßt werden, reicht es aus, wenn zumindest eine Form der Denationalisierung nachgewiesen werden kann.

a) Information und Kommunikation Neue Entwicklungen auf dem Gebiet der Informations- und Kommunikationstechnologien haben die umfassende, von Staatsgrenzen unabhängige Vernetzung der Menschen untereinander erst ermöglicht und Auswirkungen in vielen weiteren Bereichen wie z. B. auf den Kapitalmärkten hervorgebracht. Auf diese Weise wurden neue Interaktionsräume geschaffen, die sich, wie festgestellt, zu einem unterschiedlichen Grad der staatlichen Regelungs- und Verfügungsmacht entziehen. 283 Für den Sachbereich Information und Kommunikation kann daher ohne weiteres zumindest gesellschaftliche undfaktische Entstaatlichung diagnostiziert werden. b) Wirtschaft Die in der Wirtschaft zu beobachtenden Entwicklungen -Herausbildung eines globalen Kapitalmarktes, hohe Exportraten und Anwachsen der Direktinvestitionen im Ausland mit hoher Geschwindigkeit, explosionsartige Zunahme von MNCs, die sich zudem zu strategischen Allianzen verbinden, transnationale Produktionsketten in großer Zahl 284 - zeigen deutlich, daß in diesem Bereich von einer Kongruenz der Gesellschaft eines Staates, ihren Aktivitäten und deren Auswirkungen und dem Staatsterritorium häufig nicht mehr gesprochen werden kann. Im Wirtschaftsbereich ist somit gesellschaftliche Denationalisierung gegeben. Darüber hinaus wird der Nationalstaat von einem Netz unterschiedlicher Ordnungssysteme überwölbt, auf das er Einfluß zu nehmen immer weniger in der Lage ist und das zum Teil bereits seinen eigenen Regeln folgt. Die Eingliederung von 134 Staaten in die Welthandelsorganisation WT0285 mit ihrem Streitbeilegungssystem sowie die zunehmend an Bedeutung gewinnende private (Handels-)Schiedsgerichtsbarkeit hat zudem eine rechtliche Entstaatlichung zur Folge. 286 Auch auf dem Wirtschaftssektor findet folglich Entstaatlichung statt. Vgl. Teil!, A.l. I. Vgl. Teil 1, A. I. 2. 285 Stand vom 10.02.1999. Die aktuelle Zahl und die Namen der Mitgliedstaaten sind abrufbar unter http://www.wto.org//wto/about/organs6.htm (Stand: 07.09.1999). 286 V gl. dazu bereits oben, Teil 1, A. II. 2. 283

284

B. Der Begriff "Globalisierung"

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c) Umwelt Während noch vor wenigen Jahrzehnten Umweltbelastungen und -Zerstörungen primär als nationale Probleme betrachtet wurden, hat sich seit Anfang der 80er Jahre das Bewußtsein entwickelt, daß diese Problematiken sehr viel komplexer, weil vielfach von geographischen und also Staatsgrenzen unabhängig sind. Ihr Schwerpunkt hat sich dabei von der ursprünglichen nationalen Verursachung industrieller Umweltverschmutzungen mit grenzüberschreitenden Auswirkungen287 auf die kollektive grenzüberschreitende Produktion von Schadstoffen durch eine Vielzahl von Ländern verlagert, die grenzüberschreitende, teilweise globale Umweltprobleme zur Folge hat. Als Beispiele hierfür sind bereits die Ausdünnung der Ozonschicht und der Treibhauseffekt genannt worden, aber auch der Verlust der Biodiversität, Überfischung, die zunehmende Verwüstung und Entwaldung sind in diesem Zusammenhang anzuführen. 288 Diese Umweltprobleme sind nicht mehr geographisch lokalisierbar in dem Sinne, daß sie an ein Staatsgebiet knüpfbar sind, und können von den Staaten nur in Zusammenarbeit bekämpft werden. Die Unfähigkeit des Staates, die Probleme im Alleingang zu lösen, kennzeichnet das Vorliegen vonfaktischer Denationalisierung im Umweltbereich. Im Rahmen des aus diesem Grunde geschlossenen umfassenden Vertragswerks289 kommt es teilweise zudem zu einer rechtlichen Denationalisierung. Die Desertifizierungskonvention von 1995290 beispielsweise verpflichtet die Staaten nicht nur zu einer effektiven Zusammenarbeit mit NGOs, sie räumt darüber hinaus NGOs eine zentrale Rolle für den dort gewählten "Bottom-up"-Ansatz ein und überträgt ihnen sogar aktive Aufgaben bei der Durchführung des Vertrages. 291 Zu rechtlicher Z. B. die Luftverschmutzung und die Gewässerverunreinigung. Statistische Daten hierzu sind u. a. zu finden bei Michael Züm, Regieren, S. 85 f., und Marianne Reisheimet al., S. 213 ff. 289 Gegenwärtig sind mehr als 170 multilaterale Verträge zum Schutz der Umwelt in Kraft, darunter die Konvention über Biologische Vielfalt (31 I.L.M. (1992), S. 822), die Klima-Rahmenkonvention (31 I.L.M. (1992), S. 851 ), das MARPOL-Abkommen (MARPOL 73178, Consolidated Edition 1997, International Maritime Organization (Hrsg.), Bungary, Suffalk 1997). Für eine hilfreiche Zusammenstellung der grundlegendsten Konventionen und Deklarationen siehe Harald R ohmann (Hrsg.), Basic Documents of International Environmental Law. Für einen historischen (Kurz-)Überblick über die Entwicklung des Umweltvertragsvölkerrechts siehe David Held/Anthony McGrew/David Goldblatt/Jonathan Perraton, S. 386 ff. 290 United Nations Convention to Combat Desertification in those Countries Experiencing Serious Drought and/or Desertification, Particularly in Africa, 33 I.L.M . (1994), s. 1328 ff. 291 Vgl Art. 25 der Konvention; dazu auch Kyle Danish, 3 IJGLS (1995), http://www. law.indiana.edulglsj/vol3/nolldanish.htrnl (Stand: 26.07.1999); Michael Hempel, S. 101 ff. 287 288

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Teil 1: Was bedeutet Globalisierung?

Entstaatlichung infolge der Übernahme ursprünglich öffentlicher und damit staatlicher Aufgaben durch NGOs kommt es im Umweltbereich darüber hinaus im Zusammenhang mit der Entschuldung (insbesondere) von Entwicklungsländern. Dem Umweltschutz gewidmete NGOs kaufen auf dem Sekundärmarkt von diesen Ländern zu günstigen Konditionen Schuldentitel an und "tauschen" diese sodann mit der Schuldnerregierung gegen Umweltinvestitionen (sog. "Debt-for-NatureSwaps").292 Durch die große Zahl von regionalen und weltweit agierenden Umwelt-NGOs, die als gesellschaftliche Handlungseinheiten mit dem Ziel der Verfolgung eines gemeinsamen Zweckes bezeichnet werden können, kommt es zudem zu einer staatsübergreifenden gesellschaftlichen Integration und damit zu gesellschaftlicher Denationalisierung. 293

d) Politik und Recht Als "Globalisierung" in rechtlicher und politischer Hinsicht werden in der umfangreichen Literatur u. a. die Zunahme der völkervertragsrechtliehen Vernetzung im allgemeinen und zum internationalen Schutze der Umwelt und der Menschenrechte im besonderen sowie die Rechtskontrolle durch internationale Gerichte und Schiedsgerichte und die Rolle von Sonderorganisationen der Vereinten Nationen im Rahmen internationaler Rechtsetzung bezeichnet. 294 Letzterer Punkt ist bereits als gemeinsames Kennzeichen der "Globalisierungs"-Phänomene dargestellt und als Faktor der rechtlichen Entstaatlichung gewertet worden. 295 Auch für den Bereich der Umweltprobleme und des Umweltschutzes ist vorgehend bereits das Vorliegen aller drei Formen von Denationalisierung festgestellt worden. Die Situation im Menschenrechtsbereich ist der für den Umweltbereich geschilderten Lage vergleichbar. Zwar kann dort nicht wie bei Umweltproblemen von faktischer Entstaatlichung im Sinne eines Verlustes der Staaten an tatsächlicher Handlungsmacht gesprochen werden, denn diese sind allgernein durchaus in der Lage, ihrer Pflicht zur Bewahrung der Menschenrechte nachzukommen. Ähnlich wie im Umweltbereich ist jedoch auch zum Schutze der Menschenrechte eine Vielzahl von 292 Siehe dazu Dirk Kloss, insbes. S. 89 ff.; Jeremy Heep, in: Fred Morrison/Rüdiger Wolfrum (Hrsg.), International, Regional and National Environmental Law, S. 909 (915 ff.). 293 Ein Großteil der Gesellschaft verbindet heute beispielsweise das Stichwort Umweltschutz nicht mehr mit nationalstaatliehen Lösungsansätzen, sondern unmittelbar mit dem Namen "Greenpeace". 294 Vgl. dazu oben Teil I, A. I. 4. 295 Teil I, A. II. 2.

B. Der Begriff "Globalisierung"

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internationalen Verträgen in Kraft. 296 Durch diese verpflichtet sich der Staat, neues nationales Recht entsprechend den vertraglichen Abmachungen zu schaffen bzw. bestehendes anzupassen. 297 Mit der umfassenden Ratifizierung der UN-Menschenrechtspakte zum Schutze der bürgerlichen und politischen, sowie der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte298 und der Konvention zur Beseitigungjeder Form der Rassendiskriminierung299 ist auf diese Weise zumindest ein einheitliches Basisnormgefüge entstanden. 300 Durch diese globale völkervertragsrechtliche Vernetzung allein kommt es jedoch nicht ohne weiteres auch zu einer Denationalisierung. Die entsprechenden Verträge werden zwischen Staaten abgeschlossen, so daß es in erster Linie zu einer Vernetzung der Staaten durch die Staaten kommt. Teilweise sind allerdings aufgrund solcher Menschenrechtsverträge internationale - wenn auch bislang nur regionale - Gerichtshöfe zur Überwachung der Einhaltung der Verträge errichtet worden. Ein Beispiel hierfür bildet der aufgrund der Europäischen Menschenrechtskonvention gegründete Europäische Gerichtshof für Menschenrechte. Mit diesem ist eine Kontrollinstitution jenseits der nationalstaatlichen Gewalt errichtet worden, vor der seit Inkratfttreten des 11 . Zu296 Eine Auflistung aller multilateralen Verträge, die beim Sekretariat der UN hinterlegt worden sind, ist abrufbar über http;//www.untreaty.un.org/ (Stand: 05 .05.2000). 297 So wohl auch lost Delbrück, 1 IJGLS (1993), S. 9 (33), der von einer "denationalization of the domestic legal orders, through international agreements that oblige the state to transpose the internationallegal obligations into domestic law" spricht. Vgl. zum ganzen außerdemAlfredAman, 31 VandJTransn'lL (1998), S. 770 ff. Zu der hier zugrunde gelegten dualistischen Auffassung vom Verhältnis zwischen Völkerrecht und nationalem Recht vgl. Georg Dahm!lost Delbrück!Rüdiger Wolfrum, Völkerrecht 1/1, S. 98; Karl-loseph Partsch, in: Rudolf Bernhardt et al. (Hrsg.), Encyclopedia ofPublic International Law, Vol. II, S. 1183 ff. 298 Die beiden Pakte haben einen gemeinsamen Kern von ca. 140 Mitgliedsstaaten (Mit· glieder des Paktes zum Schutze der bürgerlichen und politischen Rechte: 144; Mitglieder des Paktes zum Schutze der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte: 141, Stand: 29.07.1999). Die darunter vertretenen europäischen Staaten haben zudem vollständig die EMRK und teilweise eines oder mehrere Zusatzprotokolle zu derselben unterzeichnet und ratifiziert. Von den Mitgliedstaaten der EMRK haben lediglich Andorra, Liechtenstein und die Türkei die beiden UN Menschenrechtspakte nicht ratifiziert. 299 660 U.N.T.S., S. 195; am 29.07.1999 waren 155 Staaten Mitglied dieser Konvention. 300 Die Durchsetzung der daraus entspringenden Verpflichtungen muß zwar leider in vielen Fällen als ungenügend bezeichnet werden. Dennoch bilden die genannten Pakte eine Grundlage, auf der wesentliche weitere Entwicklungen zum Schutze der Menschenrechte stattfinden konnten. Eine Kurzdarstellung der in dieser Hinsicht wesentlichen Entwicklungen gibt lost Delbrück, 4 IJGLS (1997), S. 277 (288 ff.). Zu den durch den U.N. Sicherheitsrat zum Schutze der Menschenrechte ergriffenen Maßnahmen siehe Heike Gading, passim; Klaus Dicke, in: Jost Delbrück (Hrsg.), New Trends, S. 145 (150 ff.) .

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Teil 1: Was bedeutet Globalisierung?

Satzprotokollsam 01.11.1998 sogar die Individualbeschwerde ohne Dazwischenschaltung eines staatlichen Vertreters zulässig ist301 , so daß ein internationaler Menschenrechtsschutz im echten Sinne entstanden ist. Daneben tritt die Beteiligung von NGOs bei der Umsetzung des Menschenrechtsschutzes. NGOs treten als amici curiae vor Gerichten auf302 , haben das Recht, Beschwerden gegen die Menschenrechte verletztenden Staaten vor den internationalen Überwachungsorganen einzureichen, nehmen an den Beratungen der Organe internationaler zwischenstaatlicher Organisationen teil und wirken sogar bei der Ausarbeitung von Konventionen mit. 303 Es findet folglich in mehrfacher Hinsicht rechtliche Entstaatlichung statt. Dazu tritt die gesellschaftliche Denationalisierung durch das weltweite Netz von Menschenrechts-NGOs. Bezeichnend für die dadurch bewirkte staatsübergreifende gesellschaftliche Integration ist u. a., daß heute für die meisten Menschen mit dem internationalen Schutz der Menschenrechte unmittelbar der Name "arnnesty international"- nicht der Einsatz staatlicher Mittel- verbunden ist. e) Sicherheit Für beide unter dem Stichwort "Sicherheit und Globalisierung" diskutierte Probleme- das der Massenvernichtungswaffen und das der internationalen organisierten Kriminalität- ist bereits festgestellt worden, daß der Staat aus unterschiedlichen Gründen zu effektiven Lösungen im Alleingang mittlerweile nicht mehr in der Lage, sondern auf die Kooperation zumindest mit anderen Staaten angewiesen ist. 304 Im Bereich der Sicherheit ist damit jedenfalls faktische DenaSiehe dazu oben, Fn. 270. Der Internationale Gerichtshof hat bislang allein in dem Fall betreffend den Legal Status of South-West Afrika die Abgabe eines "amicus brief' durch die International League for the Rights of Man zugelassen, vgl. Steve Chamovitz, 18 MichJint'lL (1997), S. 183 (279); Raymond Ranjeva, 270 RdC (1997), S. 9 (49 ff.), der sich mit den verschiedenen Beteiligungsmöglichkeiten für NGOs im Rahmen streitiger und nicht-streitiger Verfahren vor dem IGH befaßt. Ein Überblick über die Voraussetzungen des Beitritts zum Verfahren als amici curiae durch NGOs vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, dem Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte, dem Europäischen Gerichtshof und dem U.S. Supreme Court sowie einige Fälle hierzu sind zu finden bei Karsten Nowrot, IJGLS 6 (1999), S. 579 (631 ff.). Siehe dazu außerdem Dinah Shelton, 88 AJIL (1994), S. 611 ff.; Michael Hempel, S. 135 ff., und Ruth Wedgwood, in: Rainer Hofmann (Hrsg.), Non-State Actors, S. 21 (26 f.) . 303 Siehe auch dazu Karsten Nowrot, 6 IJGLS (1999), S. 579 (628 ff.); Dinah Shelton, 88 AJIL (1994), S. 611 ff.; Wendy Schoener, 4 IJGLS 1997, S. 537 (546); Michael Hempel, S.l04ff. 304 Zu diesen Gründen vgl. Teil I, A. I. 5. 301

302

B. Der Begriff "Globalisierung"

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tionalisierung gegeben. Insbesondere in bezugauf den weltweiten Waffenhandel, der nach wie vor eines der Hauptprobleme im Bereich der Sicherheit darstellt, 305 kann darüber hinaus von gesellschaftlicher Denationalisierung gesprochen werden. Gleiches gilt für den internationalen Terrorismus und den Drogenhandel, denn auch diese gesellschaftlichen Aktivitäten finden in großem Maße grenzüberschreitend statt und bedrohen sowohl Staat als auch Individuen. 306

f) Soziale Globalisierung

Für die oben unter dem Sammelbegriff der sozialen Globalisierung aufgeführten Bereiche läßt sich naturgemäß keine einheitliche Aussage darüber treffen, ob dort Denationalisierung stattfindet oder nicht. Es muß daher in aller Kürze gesondert auf die einzelnen Sachgebiete eingegangen werden. Zunächst wurde das Problem der Armut und Unterentwicklung in weiten Teilen der Welt sowie die damit verbundenen Migrationsströme angesprochen. Die Armut und Unterentwicklung als solche begründen eine faktische Notsituation in den betroffenen Gebieten, die u. U. durch die ökonomische und ökologische Oenationalisierung verstärkt wird. Denationalisierung im hier zugrunde gelegten Sinne ist damit jedoch nicht verbunden. Die weitverbreitete Unterentwicklung bewirkt 'weder eine neuartige Entkoppelung von (Territorial-)Staat und den sozialen Handlungsbezügen der Gesellschaft (gesellschaftliche Denationalisierung) noch ist sie kennzeichnend für eine Erosion der staatlichen Autorität im Vorfeld der rechtlichen Globalisierung (faktische Entstaatlichung). Armut und Unterentwicklung führen auch nicht zu einer rechtlichen Globalisierung der Art, daß ursprünglich öffentliche Funktionen aus dem Aufgabenbereich des Staates herausgenommen werden. Die von anderer (staatlicher wie nichtstaatlicher) Seite geleistete Entwicklungshilfe beläßt dem betroffenen Staat grundsätzlich die Zuständigkeit in dieser Hinsicht, bietet aber Hilfe zur Selbsthilfe. Die Verknüpfung solcher Hilfestellung mit anderen Verpflichtungen, wie dies am Beispiel der sog. "Debt305 Ein deutliches Beispiel jüngeren Datums dafür ist der Irak-Krieg, dessen Führung dem Irak nur deshalb möglich war, weil er in großem Umfang Waffen aus dem Ausland hatte importieren können. Siehe hierzu und zum Waffenhandel im allgemeinen Edward Laurence, insbes. S. 182 ff. Zu Entwicklungen und Hintergründen des Handels mit Waffen im 20. Jahrhundert siehe Thomas Roeser, Kap. I. 306 Zahlen und Graphiken zur Verdeutlichung dieser Entwicklungen sind zu finden bei Gregor Walter/Sabine Dreher/Marianne Beisheim, Institut für Interkulturelle und Internationale Studien der Universität Bremen, Arbeitspapier 4--5/97, S. XII, und auch Marianne Beisheim et al. , S. 200 ff. Zu diesem Problem allgemein und zu auf internationaler Ebene aufgegriffenen Lösungsansätzen siehe Jaqueline Carberry, 6 IJGLS ( 1999), S. 685 ff.

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Teil I: Was bedeutet Globalisierung?

for-Nature-Swaps" dargestellt worden ist, kann zwar faktische Entstaatlichung nach sich ziehen. Dies soll hier jedoch als sekundäre Folge unberücksichtigt bleiben. Armut und Unterentwicklung sind wiederum der Auslöser für Migrationsströme in besser gestellte Regionen der Erde, die auf dem gesamten Globus zu beobachten sind. 307 Diese - wie auch kürzerfristige grenzüberschreitende Personenbewegungen, auf deren Anwachsen im Zusammenhang mit dem internationalen Tourismus hingewiesen worden ist308 , - sind ebenfalls Indikator für Denationalisierung, denn zum einen finden sie in weltumspannendem Umfang statt und zum anderen deuten sie auf eine zunehmende Unabhängigkeit sozialer Aktivitäten von einem einzelnen (Heimat-)Staat und damit auf gesellschaftliche Denationalisierung hin. Illegale Einwanderung in teilweise erheblichem Umfang entzieht sich insbesondere dem Zugriff und der Regelung durch Staaten mit langgestreckten Staatsgrenzen (z. B. die Grenze zwischen den U.S.A. und Mexiko). 309 In dieser Hinsicht wäre vonfaktischer Denationalisierung zu sprechen. Was die ebenfalls unter dem Sammelbegriff der sozialen Globalisierung aufgeführten Infektionskrankheiten anbelangt, so kann aufgrundder hohen (insbesondere durch den internationalen Tourismus bedingten) Mobilität in alle Teile der Erde sowie der ökonomischen Denationalisierung von einer nahezu vollständigen Unabhängigkeit der Verbreitung dieser Krankheiten von geographischen und staatlichen Grenzen gesprochen werden. Die Ausbreitung von Aids und anderen Infektionskrankheiten wird von Experten als jenseits jeder staatlichen Kontrolle beurteilt, so daß eine Unterscheidung zwischen nationaler und internationaler öffentlicher Gesundheit in der Gegenwart zu einem Anachronismus geworden sei. 310 Nach hier 307 Mit den Gründen und Theorien zur internationalen Migration beschäftigen sich eingehend Douglas Massey et al., passim; knappere Darstellungen zu diesem Thema sind zu finden bei Clemens Geißler, 47 EA (1992), S. 566 ff. ; Albert Mühlum, APuZ, B 7/93, S. 3 ff.; Christina Blanko-Szanton, in: Heinz Kleger (Hrsg.), Transnationale Staatsbürgerschaft, S. 81 ff., und lngomar Hauchler!Dirk Messner/Frank Nuscheler (Hrsg.), Globale Trends 2000, S. 108 ff. 308 Für Zahlen hierzu siehe Gregor Walter/Sabine Dreher/Marianne Beisheim, Institut für Interkulturelle und Internationale Studien der Universität Bremen, Arbeitspapier 4-5/97, S. 16; Marianne Beisheim et al., S. 137 ff. , und Michael Züm, Institut fürinterkulturelle und Internationale Studien der Universität Bremen, Arbeitspapier 5/97, S. 29. 309 Vgl. dazu David Held!Anthony McGrew!David Goldblatt/Jonathan Perraton, s. 322 ff. 310 David Fidler, 5 IJGLS (1997), S. II (15) m. w. N. Auch in anderen Bereichen ist eine Trennung zwischen inneren und äußeren Angelegenheiten des Staates nicht mehr in derselben Weise wie früher möglich, vgl. dazu Zdravko Mlinar, in: ders. (Hrsg.), Globalization and Territorial Identities, S. 15 (26 ff.).

B. Der Begriff "Globalisierung"

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vertretenem Verständnis ist somit in dieser Hinsicht von faktischer Entstaatlichung zu sprechen. Es fällt schwer, die "kulturelle Globalisierung ", von der aufgrundder weltweiten Verbreitung von Kulturgütern insbesondere amerikanischer Herkunft gesprochen wird, dem Begriff der Entstaatlichung zuzuordnen. Man könnte erwägen, die so beschriebene "kulturelle Globalisierung" als einen Hinweis auf die Abkoppelung von kulturellen Aktivitäten der Gesellschaft vom Staat und damit als gesellschaftliche Denationalisierung zu interpretieren. Kultur ist jedoch regelmäßig mehr einer Gesellschaft als solcher zu eigen als an einen Staat anknüpfbar. Jener mag die Wahrnehmung kultureller Belange zu seinen Aufgaben zählen und sich für die Bewahrung kultureller Besonderheiten einsetzen, die Kultur als solche wurzelt jedoch primär in der Gesellschaft des Staates. Aufgrund dieser Gesellschaftsgebundenheit trifft die Bezeichnung Entstaatlichung, die Auswirkungen auf den Staat beschreibt, 311 die Entwicklungen im kulturellen Bereich nicht. Aspekte wie die weltweite Verbreitung von Kulturgütern und die zunehmende Unmöglichkeit, die nationale Kultur von äußeren Einflüssen abzuschotten, 312 können den Globalisierungsprozessen in anderen Sachbereichen, beispielsweise der kommunikationstechnischen, der wirtschaftlichen und möglicherweise auch der politischen Globalisierung zugeordnet werden. Deren Auswirkungen auf die kulturelle Entwicklung aber sollen hier von dem Begriff der Denationalisierung ausgenommen bleiben.

g) Ergebnis Mit Ausnahme der Aspekte der Armut und Unterentwicklung in weiten Teilen der Welt und der "kulturellen Globalisierung" kann in allen eingangs skizzierten Sachbereichen Denationalisierung im Sinne der Arbeitsdefinition festgestellt werden. Wie aber bereits angesprochen, handelt es sich bei den aufgezeigten Denationalisierungsphänomenen nicht notwendig auch globale Entwicklungen, sondern vielfach um auf die entwickelten, industrialisierten Staaten beschränkte Erscheinungen.

311 Selbst die gesellschaftliche Denationalisierung- definiert als Entgrenzung von Staat und Gesellschaft durch Auflösung der Kongruenz von (politisch verstandener) Staatsgesellschaft mit ihren sozialen Handlungszusammenhängen und dem geographisch bestimmten Staatsterritorium- beschreibt eine Folge für den Staat. 312 Wie es insbesondere totalitäre Staaten versucht haben und weiter versuchen.

106

Teil I: Was bedeutet Globalisierung?

C. Abgrenzung zur Internationalisierung Die Ausführungen zur Definition der Globalisierung haben deutlich gemacht, daß Globalisierung kein Synonym für den Begriff der Internationalisierung, sondern einen eigenständigen Prozeß darstellt, der sich in mehrfacher Hinsicht von dem der Internationalisierung unterscheidet. Die Auffassung, daß die beiden Phänomene unterschieden werden müssen, wird zwar von verschiedenen Autoren geteilt. 313 Bei der Frage nach dem Bedeutungsinhalt des Begriffes Internationa]isierung trennen sich jedoch die Ansichten. So meint Beck, Internationalisierung bedeute - pointiert formuliert -, daß sich die Handelsbeziehungen( ... ) dominant zwischen den hochindustrialisierten Ländern innerhalb der großen Wirtschaftsräume Europa, Amerika und pazifischer Raum abspielen. 314 Für Fidler dagegen ist Internationalisierung ein "other basic approach to globalization, which refers to cooperative activities of national actors, public or private, on a Ievel beyond the nation-state." 315 Diese werde häufig durch die Globalisierung hervorgerufen, da diese die Staaten mit Problemen konfrontiere, deren Lösung internationale Kooperation erfordere. 316 Im Rahmen dieser Arbeit wird unter Internationalisierung die Herausnahme bestimmter Sachfragen aus dem Bereich der inneren Angelegenheiten des Staates und deren Übertragung auf zwischenstaatliche Einrichtungen (insbesondere internationale Organisationen) verstanden, die vorgenommen wird, weil die Lösung der betreffenden Aufgaben die Möglichkeiten des Nationalstaates übersteigt. 317 Bei dem Begriff der Internationalisierung handelt es sich somit um einen staatszentrierten Terminus, wohingegen Globalisierung synonym für Denationalisierung ist. Internationalisierung bezeichnet Entwicklungen, deren Mittelpunkt und Hauptakteure die klassischen, maßgeblich territorial definierten Nationalstaaten sind, die zum Zwecke der Erfüllung ihrer nationalen Aufgaben neue Formen der Zu313 David Fidler, 5 IJGLS (1997), S. II (16); lost Delbrück, I IJGLS (1993), S. 9 (II); lan Schalte, Globalization, in: John Baylis/Steve Smith (Hrsg.), The Globalization of World Politics, S. 13 (15); Gordon Walker/Mark Fox, 3 IJGLS (1996), S. 375 (380); Mohamed Mahmoud, 123 JDI (1996), S. 611 (618); Alfred Aman, 6 IJGLS (1999}, S. 397 (404 f.); Klaus Dicke, 39 BDGVR (2000}, S. 13 (14, 21). 314 Ulrich Reck, S. 42. m David Fidler, 5 IJGLS (1997}, S. II (16). 316 David Fidler, ibid. 317 Vgl. dazu lost Delbrück, I IJGLS (1993}, S. 9 (II ). Dieser Definition stimmen auch Gordon Walker/Mark Fox, 3 IJGLS (1996), S. 375 (380), zu.

C. Abgrenzung zur Internationalisierung

107

sammenarbeit entwickeln. 318 Diese Form der staatlichen Zusammenarbeit war insbesondere für den Zeitraum des ausgehenden 19. bis ca. Mitte des 20. Jahrhunderts kennzeichnend, in dem eine Vielzahl internationaler zwischenstaatlicher Organisationen gegründet wurden. Im Zeitalter der Globalisierung hingegen kommt es zu einer Fragrnentierung des Staates und dem Auftreten einer Vielzahl nichtstaatlicher Akteure im internationalen System, die zu den Nationalstaaten in Konkurrenz treten. Die Prozesse im Rahmen der Globalisierung können daher im Verhältnis zu denen der Internationalisierung als "weiter" bezeichnet werden. Da es in Teilbereichen zudem zu einer Weiterentwicklung und Intensivierung der in der Epoche der Internationalisierung begonnenen Entwicklungen kommt, kann man darüber hinaus auch von einer "Vertiefung" gegenüber der Internationalisierung sprechen. Ein viel diskutiertes Beispiel hierfür ist die Erweiterung des sachlichen Anwendungsbereiches von Kapitel VII der UN-Charta durch den UNSicherheitsrat, der auf dieser Grundlage heute auch Maßnahmen zum Schutze der Menschenrechte und sogar zur Wiederherstellung demokratischer Zustände ergreift bzw. autorisiert. 319 Die Gründung der Organisation der Vereinten Nationen und deren Betrauung mit der Friedenssicherung erfolgte in der - durch die Katastrophe des zweiten Weltkrieges gereiften- Erkenntnis, daß diese Aufgabe nur noch durch Kooperation der Staaten erfüllt werden kann. Sie sind daher als Maßnahmen der Internationalisierung zu bewerten, in deren Rahmen die Staaten - mit der Unterstellung unter die Vorschriften des Kapitel VII der UN-Charta- um des gemeinsam verfolgten Ziels der Friedenserhaltung willen eine wesentliche Beschränkung ihrer Souveränität in Kauf genommen haben. Im Zeitalter der Globalisierung ist es nun zu einer Art "Verselbständigung" der Organisation gekommen, die ihre Zwangsmaßnahmen über die klassische Friedenssicherung hinaus auch für den Schutz anderer hochrangiger Werte einsetzt, der ursprünglich nicht als Gegenstand des Kapitels VII betrachtet wurde. Dies bedeutet zugleich eine Ausweitung des Bereichs, in dem die Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen eine Beschränkung ihrer Souveränität hinnehmen müssen, und eine noch weitere Herausnahmedes Menschenrechtsschutzes aus dem Zuständigkeitsbereich der Staaten. 320 318 So auch Oskar Schachter in: Friedl Weiss/Eric Denters/Paul de Waert (Hrsg.), International Economic Law With a Human Face, S. 31 (40); Jan Schotte, Globalization, in: John Baylis/Steve Smith (Hrsg.), The Globalization of World Politics, S. I 3 ( I 5). 319 Für eine Kurzdarstellung zu der Entwicklung der Sicherheitsratspraxis in dieser Hinsicht siehe Peter Malanczuk, Akehurst' s Modem Introduction, S. 395 ff.; vgl. außerdem Heike Gading, passim; Klaus Dicke, in: Jost Delbrück (Hrsg.), New Trends, S. 145 (150ff.). 320 Die Generalversammlung der Vereinten Nationen hat von Beginn ihrer Befassung mit dem Thema des Menschenrechtsschutzes an den Einwand betroffener Staaten zurückgewiesen, es handele sich bei diesem Thema um einen von Art. 2 (7) UN-Charta geschützten

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Teil I: Was bedeutet Globalisierung?

Insofern kann daher von einer globalisierungsbedingten Intensivierung der im Zeitalter der Internationalisierung begonnenen Prozesse gesprochen und insgesamt Internationalisierung als Vorläufer bzw. Vorstufe der Globalisierung bezeichnet werden. 321

Bereich. Diese Interpretation des Art. 2 (7) UN-Charta entspricht auch der heute herrschenden Auffassung in der Rechtslehre, vgl. nur Felix Ennacora, in: Bruno Simma et al. (Hrsg.), The Charter of the United Nations, Art. 2 (7), Rn. 19, 33, der auch eine Liste der bedeutendsten Fälle anführt, mit denen sich Sicherheitsrat und Generalversammlung in dieser Hinsicht befaßt haben, und lost Delbrück, 4 IJGLS (1997), S. 277 (288). 321 Dies wird bei David Fidler, 5 IJGLS (1997), S. 11 (16), nicht ausreichend deutlich, wenn er Globalisierung als einen "basic approach to globalization" bezeichnet, der häufig Internationalisierung zur Folge habe. Siehe auch Jan Schotte, Globalization, in: John Baylis/Steve Smith (Hrsg.), The Globalization of World Politics, S. 13 (15): "To put the difference in a nutshell, the international realm is a patchwork of bordered countries, while the global sphere isaweb of transborder networks." (Hervorhebung durch die Verfasserin).

Teil2

Reaktionen auf den Globalisierungsprozeß: Parallele (Gegen-)Bewegungen Das bislang von den Entwicklungen im Zeitalter der Globalisierung gezeichnete Bild bliebe unvollständig, beschränkte man es allein auf den Aspekt der umfassenden Vernetzung und der mit ihr einhergehenden Denationalisierung. Parallel zu den bislang diskutierten Globalisierungserscheinungen sind Tendenzen unterschiedlicher Art festzustellen, die auf den ersten Blick zum Phänomen der Globalisierung in vollkommenem Gegensatz zu stehen scheinen.

A. Fragmentierungs- und Renationalisierungstendenzen Als eine solche Gegenbewegung ist die zunehmende Tendenz zur Fragmentierung von Staat und Gesellschaft sowie zur Renationalisierung zu nennen, die bereits seit einigen Jahren zu beobachten ist. Der Zerfall der ehemaligen Sowjetunion sowie Jugoslawiens in eine Vielzahl kleinerer Staaten, die zunehmende Artikulierung und Radikalisierung ethnischer Gruppen innerhalb dieserneuen wie auch anderer Staaten (kurdische Rebellen in der Türkei und im Irak, tschetschenische Rebellen in Rußland und die Tamilen in Sri Lanka, um nur einige zu nennen), separatistische Bewegungen in Quebec und Norditalien, die Erfolge nationalistischer Parteien und Bewegungen bei Wahlen in Frankreich, Österreich und Deutschland, die Politisierung religiös motivierten Nationalismus in so unterschiedlichen Ländern wie Indien, dem Iran, Ägypten, Algerien, Israel und Teilen des Balkans sind nur einige Beispiele für solche Prozesse der Zersplitterung und der (teilweise extremen) Rückbesinnung auf den Nationalstaat. 1 Diese erscheinen im Zeitalter der Globalisierung auf den ersten Blick paradox, bilden sie doch einen vollkommenen Gegensatz zu der aufgezeigten Denationalisierung gesellschaftlicher Handlungszusammenhänge, dem Prozeß materieller Entstaatlichung und dem 1 Für eine kurze Bestandsaufnahme und weitere Nachweise zu diesem Thema siehe Michael Züm, Regieren, S. 259 ff.

110 Teil 2: Reaktionen auf Globalisierungsprozeß: Parallele (Gegen-)Bewegungen

damit verbundenen Verlust des Nationalstaates an Wirkungsmacht Tatsächlich aber können die Fragmentierungs- und Renationalisierungstendenzen als eine Reaktion der Bevölkerung auf die beschriebenen Globalisierungsphänomene verstanden werden, die eine bedeutende Zahl von Menschen verunsichern und ihnen das Gefühl der Ohnmacht gegenüber von ihnen nicht mehr beeinflußbaren Entwicklungen vermitteln und die Furcht hervorrufen, zu Verlierern der Globalisierung zu werden. 2 Der Nationalstaat, die ethnische Gruppe oder Religionsgemeinschaft bedeuten in dieser Situation eine kleinere, überschaubare Einheit, die in der sich ständig wandelnden Gegenwart Orientierung und - durch die Betonung der eigenen Unterschiede- ein Gefühl von Sicherheit und Halt bietet. 3 Ethnonationalistische Fragmentierungsprozesse wurden zudem durch den Wegfall des Ost-West-Konfliktes und den Zusammenbruch von Staaten wie der Sowjetunion und Jugoslawien begünstigt, die solche Tendenzen über eine lange Zeit verhindert und unterdrückt hatten.4 Das starke nationale Bewußtsein der in diesem Zusammenhang neu entstandenen Staaten kann als stolze Betonung lang erstrebter und nun endlich errungener souveräner Nationalstaatlichkeit interpretiert werden, was auch die Scheu dieser jungen Staaten erklärt, sogleich in die Phase der Globalisierung und den damit verbundenen Konsequenzen für ihre Autorität und Wirkungsmacht überzugehen. 5 2 Unsicherheiten bzw. wachsende Ambivalenzen, Unschärfen und mangelnde Eindeutigkeiten können als ein zentrales Kennzeichen globalisierter Gesellschaften begriffen werden, vgl. Wolfgang Bonß, in: Rüdiger Voigt (Hrsg.), Globalisierung des Rechts, S. 39 (61). 3 Eine ähnliche, detaillierte soziologische Erklärung für das Phänomen der Renationalisierungstendenzen gibt Michael Reisman, 8 EJIL (1997), S. 409 (411 ff.). Reisman weist darüber hinaus auf die paradoxe Situation hin, daß die von vielen Menschen vermißte Sicherheit nur durch den Zusammenschluß und das Zusammenwirken auf überstaatlicher Ebene erfolgreich gewahrt werden kann und daß dieses .,Hochzonen" der Problemlösung wiederum das Gefühl der Fremdbestimmtheit und Unsicherheit der Menschen in den Staaten verstärkt. Michael Züm, 20 Leviathan (1992), S. 490 (491 f.), wertet die Renationalisierungstendenzen dagegen als verzweifelten und zum Scheitern verdammten Versuch, den Prozeß gesellschaftlicher Internationalisierung zu stoppen, um so die politische Handlungsfähigkeit des modernen Staates zu retten. Maleolm Waters, S. 138 f., verweist in diesem Zusammenhang auf den Ansatz Hobsbawms, für den die Entstehung neuer Nationalstaaten infolge der Fragrnentierungsprozesse nur einen Zwischenschritt auf dem Weg zu einem Weltsystem darstellt, in dem politische und wirtschaftliche Verhältnisse auf kontinentaler oder globaler Ebene geregelt werden und die Organisation im Hinblick auf Kultur und Identität lokal verortet ist. Für einen Überblick zu verschiedenen Erklärungsansätzen für die auftretenden Renationalisierungs- und Fragrnentierungstendenzen siehe Phillip Nichols, 24 YJIL ( 1999), S. 257 (264 Fn. 39). 4 Siehe dazu auch lost Delbrück, l IJGLS (1993), S. 9 (12). 5 Weiter zu Ursachen und Erscheinungsformen des neuen Ethnonationalismus auch Dieter Senghaas, APuZ, B 31-32/92, S. 23 ff.

B. Regionalisierung

111

B. Regionalisierung Ebenfalls zu einer Fragmentierung führen die zu beobachtenden Prozesse der Regionalisierung. Unter Regionalisierung wird an dieser Stelle- im Anschluß an die von Dicke6 verwendete Differenzierung - einerseits der Zuwachs an politischer Bedeutung und an Selbstbewußtsein aufseitenregionaler Subsysteme innerhalb eines Staates verstanden. 7 In diesen Kontext fallen als internationale Akteure auftretende Bundesländer8 ebenso wie "global cities"9 als Globalisierungszentren mit hervorgehobener Stellung in ihren Staaten und Regionen. Die zunehmende Kooperation zwischen Regionen mit ähnlichen oder komplementären Interessenlagen10 wird auch unter dem Stichwort der "Glokalisierung" diskutiert." Zum anderen soll mit dem Begriff der Regionalisierung die Bildung staatsübergreifender Regionalorganisationen bezeichnet werden. So haben sich nach dem Vorbild der EU und des europäischen Binnenmarktes in Nordamerika die NAFTA, in Südamerika der MERCOSUR, im südostasiatischen Raum die ASEAN und in der Karibik die CARICOM gebildet. Ähnliche Ansätze sind zudem im südlichen Afrika, dem pazifischen Raum und in Ostasien zu finden. 12 Diese Prozesse der Regionalisierung können im wesentlichen als Antwort der Staaten und deren Gesellschaften auf globalisierungsbedingte Handlungserfordernisse interpretiert werden. Regionale Kooperation bedeutet eine Möglichkeit, durch optimale Nutzung der Vorteile der Region auch bei verschärftem Standortwettbewerb die eigene Position zu stärken, konkurrenzfähig zu bleiben und ökonomische Gewinne durch Integration zu erzielen. In dieser Hinsicht erfolgreiche Regionalisierung kann dabei als Gegenreaktion anderer Staaten weitere Regionalisierundstendenzen auslösen. So wurde beispielsweise ein Zusammenschluß der Klaus Dicke, 39 BDGVR (2000), S. 13 (23 ff.). Zum ökonomischen, politischen, ethnisch-regionalen und ökologischen "Localism" siehe auch Raimondo Strassoldo, in: Zdravko Mlinar (Hrsg.), Globalization and Territorial Identities, S. 35 (39 ff.). 8 Vgl. dazu bereits oben Teil l, Fn. 201. 9 Saskia Sassen, Loosing Control?, S. 11, 103; Margit Meyer, Global Cities, in: Ulrich Albrecht/Helmut Volger (Hrsg.), Lexikon der Internationalen Politik, S. 185-187 m. w. N. 10 Zu grenzüberschreitender regionaler Zusammenarbeit im "Europa der Regionen" siehe Si/via Raich, passim, und auch Hemd Groß/Peter Schmidt-Egner, passim. 11 Roland Robertson, S. 173 f.; Ulrich Heck, S. 88 f. 12 Zu NAFfA und MERCOSUR vgl. Stefan Schirm, passim. Zum Verhältnis von MERCOSUR-EU siehe Gisela Müller-Hrandeck-Hocquet, 9 ZPol (1999), S. 27 ff. ; für eine Übersicht im ganzen auch Martin van Crefeld, S. 427 f., und David Held/Anthony McGrew/ David Goldblatt/Jonathan Perraton, S. 74 ff. 6

7

112 Teil 2: Reaktionen auf Globalisierungsprozeß: Parallele (Gegen-)Bewegungen

Länder Ost- und Süd-Ost-Asiens diskutiert 13 , um sich gegen die "Festungen" Europa und Nordamerika zu behaupten. 14 Wo vorhanden werden regionale Organisationen teilweise auch in Fällen des Zerfalls bzw. der Fragmentierung von Staaten tätig, um den Konflikt zu lösen oder zumindest zu steuern. 15 Schließlich dient die regionale Kooperation auch dazu, das sicherheitspolitische Vakuum nach dem Ende des Ost-West Konflikts zu füllen. 16

C. Entterritorialisierung nationalstaatlicher Gewalt Neben diesen Fragmentierungs-, Renationalisierungs und Regionalisierungstendenzen sind zudem Entwicklungen zu beobachten, die als Entterritorialisierung nationalstaatlicher Gewalt bezeichnet werden können. Sie treten insbesondere in Form der extraterritorialen Ausübung nationaler Jurisdiktion auf, die wiederum vornehmlich durch den Erlaß und die Anwendung von Gesetzen mit Wirkung für Ereignisse und Personen in einem anderen Staat erfolgt. Dieses Phänomen ist -obwohl als solches nicht neu- gerade in bezugauf Globalisierung von besonderem Interesse. Es werden daher im folgenden exemplarisch einige Entwicklungen sowie Fälle dieser Art aus der jüngeren Staatenpraxis dargestellt und auf einen Zusammenhang mit dem Prozeß der Globalisierung untersucht.

I. Extraterritoriale Ausübung von Jurisdiktion Neben der territorial definierten Befugnis zun1 Erlaß von Hoheitsakten kann auch die Jurisdiktionsgewalt in Anknüpfung an das aus der Personalhoheit abgeleitete Personalitätsprinzip als unbestritten bezeichnet werden. 17 Dieses gestattet

East Asian Economic Grouping, später genannt CAUCUS. Bjöm Hettne, in: David Held/Anthony McGrew (Hrsg.), Global Transformations Reader, S. 156 (161). 15 So griff z. B. im Sommer 1990 ECOWAS (Economic Organization of East African States) in den Bürgerkrieg in Liberia ein, um ein Ausbrechen völliger Anarchie zu verhindern. 16 Stefan Schinn, S. 9. 17 Robert Jennings, 33 BYIL (1957), S. 146 (148 ff.); Oskar Schachter, International Law, S. 254; Wemer Meng, Extraterritoriale Jurisdiktion, S. 170 ff., 181 ff., 500 ff.; /an Brownlie, S. 298 (300, 303); Robert Jennings/Arthur Watts, Oppenheim's International Law, Part 1, S. 462-466. 13

14

C. Entterritorialisierung nationalstaatlicher Gewalt

113

die Erstreckung der Wirkung von Hoheitsakten auf das Ausland, wenn Staatsangehörige des handelnden Staates betroffen sind oder gehandelt haben. 18 Ob und ggf. unter welchen Voraussetzungen nationale Vorschriften darüber hinaus extraterritorial angewendet werden dürfen, ohne daß dies eine extrajurisdiktioneile und damit unzulässige Gesetzesanwendung bedeutet, ist dagegen umstritten.19 Insbesondere die Anknüpfung der Jurisdiktionsgewalt an die Auswirkungen einer von Nichstaatsangehörigen im Ausland vorgenommenen Handlung wird kontrovers diskutiert. 20 Trotz ihrer Relevanz für die völkerrechtliche Bewertung einiger der angesprochenen Fälle sei diese Frage an dieser Stelle jedoch nur knapp erörtert und dazu Stellung genommen. Hier geht es schwerpunktmäßig um das Phänomen der Entterritorialisierung nationalstaatlicher Gewalt als solches, nicht aber um die Zulässigkeit solcher Maßnahmen.

1. Extraterritoriale Ausübung von Jurisdiktion im Bereich der Wirtschaft a) Vorbemerkung Der Bereich des Außenwirtschafts-, Wettbewerbs- und Kartellrechts ist naturgemäß derjenige, in dem die Erstreckung der Wirkung nationaler Regelungen auf Vorgänge im Ausland am weitesten verbreitet ist. Eine Wettbewerbsordnung, die sich rein an das Territorialitätsprinzip hielte, würde aufgrundder weltweiten Verflechtungen der Wirtschaft erheblich beeinträchtigt. Dies spiegelt sich auch in verschiedenen Rechtsordnungen wider, die (unter unterschiedlichen Voraussetzun18 Insbesondere im internationalen Strafrecht wird zwischen dem aktiven und dem passiven Personalitätsprinzip unterschieden, vgl. Peter Malanczuk, Akehurst's Modem Introduction, S. 110 f.; Wemer Meng, Extraterritoriale Jurisdiktion, S. 181 ff. 19 Die Frage, ob und gegebenfalls in welcher Weise das Völkerrecht den Staaten beim Erlaß von Hoheitsakten mit extraterritorialem Bezug Schranken auferlegt, hat bereits den StiGH im bekannten Lotus-Fall (PCIJ Series A, No. lO (1927)) beschäftigt. Sie wird kontrovers diskutiert, da dafür grundlegende Fragen wie beispielsweise der Geltungsgrund des Völkerrechts eine Rolle spielen. Hierzu und zu den unterschiedlichen Anknüpfungspunkten für die Ausübung von Hoheitsgewalt durch einen Staat (Territorialitäts-, Personalitäts-, Wirkungs-, Universalitäts- und Schutzprinzip) siehe Oskar Schachter, International Law, S. 250 ff.; generell und mit besonderem Bezug auf das öffentliche Wirtschaftsrecht Wemer Meng, Extraterritoriale Jurisdiktion, passim; für einen knappen Überblick siehe Peter Malanczuk, Akehurst's Modem Introduction, S. 109 ff. 20 Oskar Schachter, International Law, S. 261 ff.; Wemer Meng, in: Rudolf Bemhardt et al. (Hrsg.), Encyclopedia of Public International Law, Vol. II, S. 337 (340 f.); Robert Jennings/Arthur Watts, Oppenheim's International Law, Part I, S. 466-478. 8 Hingst

114 Teil 2: Reaktionen auf Globalisierungsprozeß: Parallele (Gegen-)Bewegungen

gen) im Bereich des Wirtschaftsrechts eine extraterritoriale Ausübung von Jurisdiktion gestatten.

aa) Wettbewerbsrecht der Bundesrepublik Deutschland Das Wettbewerbsrecht der Bundesrepublik Deutschland sieht in § 98 II Gesetz über Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) eine extraterritoriale Ausübung der deutschen Jurisdiktion vor. Diese Vorschrift bestimmt, daß das GWB Anwendung findet "auf alle Wettbewerbsbeschränkungen, die sich im Geltungsbereich dieses Gesetzes auswirken, auch wenn sie außerhalb des Geltungsbereiches dieses Gesetzes veranlaßt werden." Der Anwendungsbereich der materiellen Vorschriften des GWB bestimmt sich somit grundsätzlich nach den Auswirkungen der betreffenden Wettbewerbshandlungen (Auswirkungsprinzip oder "effects principle"), 21 nicht nach dem Handlungsort oder der Nationalität der HandelndenY

bb) Wettbewerbsrecht Großbritanniens Eine extraterritoriale Rechtsanwendung mittels einer Anknüpfung an Auswirkungen ist auch im britischen Wettbewerbsrecht vorgesehen. 23 So bestimmt beispielsweise§ 2 (1) des Competition Act 1980 (dessen zentrale Verbotsnorm), daß ein solches Verhaltenerfaßt wird, das "has or is intended to have or is likely to have the effect of restricting, distorting or preventing competition in connection with a production, supply or acquisition of goods in the United Kingdom or any part of it" (Hervorhebung von der Verfasserin). Zu bemerken ist allerdings, daß eine ausschließlich auf dem Auswirkungsprinzip beruhende extraterritoriale Anwendung dieser und anderer Wettbewerbsvorschriften nach britischem Recht ungesetzlich ist. Diese darf vielmehr nur in dem Falle praktiziert werden, daß kumulativ ein weiterer Anknüpfungspunkt, beispielsweise nach dem Perso21 Oskar Schachter, International Law, S. 261 ff. ; Wemer Meng, in: Rudolf Bernhardt et al. (Hrsg.), Encyclopedia of Public International Law, Vol. II, S. 337 (340 f.); Erik Nerep, Vol. 1, S. 171 ff. 22 Es können somit selbst Handlungen von Ausländern auffremdem Staatsgebieterfaßt werden. Watther Habscheid, 11 BDGVR (1973), S. 58, Ulrich lmmenga/Emst-Joachim Mestmäcker, § 98 II GWB, Rn. 16 ff. 23 Siehe dazu Wemer Meng, Extraterritoriale Jurisdiktion, S. 418 ff., der verschiedene britische Wettbewerbsregeln unter dem Gesichtspunkt der extraterritorialen Anwendung untersucht. Ferner auch Vaughan Lowe, 52 RabelsZ (1988), S. 157 ff.

C. Entterritorialisierung nationalstaatlicher Gewalt

115

nalitäts- oder Territorialitätsprinzip gegeben ist. Diese Regelung spiegelt die grundsätzliche Ablehnung des Auswirkungsprinzips durch Großbritannien und dessen Verhaftung mit dem Territorialitätsprinzip wider, die es seit den ersten Entwicklungen in diese Richtung regelmäßig betont hat. 24

cc) Weitere EU-Mitglieder und andere Staaten

Weiter haben in jüngeren Jahren Belgien, Frankreich, Irland, Italien, Schweden und Spanien ihr nationales Wettbewerbsrecht im Sinne des Auswirkungsprinzips überarbeitet oder neue Gesetze erlassen. Es wurden jeweils Bestimmungen aufgenommen, die ein Verhalten verbieten, das eine Verzerrung des Wettbewerbes zum Ziel oder zur Folge hat oder aber als Mißbrauch einer marktbeherrschenden Stellung anzusehen ist. 25 In Japan gilt die Anknüpfung an Auswirkungen nach§ 6 des Anti-Monopolgesetzes26, und auch in der Schweiz kann das Kartellrecht bei Auswirkungen auf die inländische Wettbewerbsordnung extraterritorial angewendet werden. 27 Auf diese Weise soll dem Kartellgesetz zu einer möglichst umfassenden Wirkung verholfen werden. 28 In Norwegen schließlich werden Auswirkungen von Auslandshandlungen im Inland bereits seit 1953 vom nationalen Kartellrecht erfaßt.29

24 Eine gute Zusammenfassung der Position Großbritanniens ist zu finden bei P. M. Roth, 41 ICLQ (1992), S. 245 (254). Siehe auch Wemer Meng, in: Rudolf Bernhardt et al. (Hrsg.), Encyclopedia of Public International Law, Vol. II, S. 337 (341), sowie Geoff Gilbert, 63 BYIL (1992), S. 415 (424 ff.). Zur Praxis der deutschen Kartellbehörde und der deutschen Gerichte bis 1975 siehe Kar! Meessen, S. 126 ff. 25 Belgien: Loi sur Ia Protection de Ia Concurrence Economique (1991 ); Frankreich: Ordinance No. 86-1243 vom 1. Dezember 1986, J.O. 9. Dezember 1986, S. 14773; Irland: Competition Act 1991; Italien: Gesetz Nr. 287 vom 10. Oktober 1990; Schweden: Konkurrenz1agen, Sektion 2 (01.01.1983), Svensk Författningssammling 1982: 792; Spanien: Gesetz 16/1989 vom 17. Juli 1989. 26 Wemer Meng, Extraterritoriale Jurisdiktion, S. 422. 27 Das Bundesgericht hat in dem Fall Librairie Hachette v. Sociite Cooperative, BGE 93 li, S. 192 (196), ausdrücklich festgestellt, daß das Kartellgesetz es erlaube, Anordnungen an ausländische Unternehmen zu richten, die an einem Kartellvertrag beteiligt sind, welcher unerlaubte Auswirkungen in der Schweiz zeigt. Siehe dazu auch den Avis de droit de Ia Direction du droit international public du Departement fecteral des affaires etrangeres, du 19 octobre 1979, in: 37 ASDI (1981), S. 247 (249); Karl Meessen, S. 144. 28 Wemer Meng, Extraterritoriale Jurisdiktion, S. 422. 29 Wemer Meng, ibid.

116 Teil 2: Reaktionen auf Globalisierungsprozeß: Parallele (Gegen-)Bewegungen

dd) Kartell- und Wirtschaftsrecht der U.S.A. Die extraterritoriale Anwendung des amerikanischen Kartellrechts, welches im wesentlichen im Sherrnan Antitrust Act ( 1890)30, dem Clayton Act (1914)31 und dem Federal Trade Commission Act ( 1914)32 geregelt ist, hat bereits eine lange Tradition. Sie findet insbesondere in Anküpfung an das Auswirkungsprinzip statt, das in der kartellrechtlichen Praxis der Vereinigten Staaten konsequent angewendet wird. 33

ee) Europäisches Gemeinschaftsrecht Schließlich soll noch das Wettbewerbs- und Kartellrecht der Europäischen Gemeinschaften genannt werden, welches das nationale Recht der Mitgliedstaaten überlagert und, wo es einschlägig ist, Anwendungsvorrang genießt. 34 Dessen Anwendung bedeutet zwar nicht die Ausübung nationaler Jurisdiktion, da den Europäischen Gemeinschaften keine Staatsqualität zukommt. Das europäische Gemeinschaftsrecht ist aber dennoch unter dem Gesichtspunkt von Interesse, daß mit ihm ein weiteres Rechtssystem vorhanden ist, welches sich auf das Auswirkungsprinzip stützt. In Art. 85 =81 neu EGV ist nämlich ein Kartellverbot geregelt, dessen Anwendungsbereich dann eröffnet ist, wenn sich der Verstoß innerhalb des Gemeinsamen Marktes auswirkt. Anknüpfungspunkt ist damit nicht der Sitz des handelnden Unternehmens in den Europäischen Gemeinschaften, sondern daß sich sein Verhalten im Bereich des Gemeinsamen Marktes spürbar auswirkt. Auch Art. 86 = 82 neu EGV, der den Mißbrauch einer marktbeherrschenden Stellung auf dem Gerneinsamen Markt oder einem wesentlichen Teil desselben durch ein oder mehrere Unternehmen verbietet, knüpft an die Auswirkungen des entsprechenden Verhaltens für den Handel zwischen den Mitgliedstaaten - nicht an die örtliche Vornahme des Verhaltens- an. 35 Diese Wettbewerbsregeln eröffnen somit die Möglichkeit, mit Hilfe des Auswirkungsprinzips die EG-Jurisdiktion extra15 U.S.C. §§ 1-7. 15 u.s.c. §§ 12-27. 32 15 u.s.c. §§ 41- 58. 33 Ein detaillierter Überblick hierzu ist zu finden bei Aidan Robertson/Marie Demetriou, 43 ICLQ (1994), S. 417 (418 ff.); siehe außerdem Wemer Meng, Extraterritoriale Jurisdiktion, S. 357 ff., und Robert Jennings, 33 BYIL (1957), S. 145 (161 ff.); Karl Meessen, S. 121 ff.; Erik Nerep, Vol. 1, S. 65 ff., zur Praxis in den Vereinigten Staaten. 34 Zum Verhältnis zwischen Gemeinschaftsrecht und nationalem Recht der Mitgliedstaaten siehe Thomas Oppermann, S. 615 ff., mit umfassenden weiteren Nachweisen. 35 Helmuth Schröter, in: Hans von der Groeben/Jochen Thiesing/Claus-Dieter Ehlermann (Hrsg.), Kommentar zum EWG-Vertrag, Vorb. zu Art. 85-89 EGV, Rn. 67 f. 30

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territorial auszuüben, wo andere Anknüpfungspunkte wie das Territorialitäts- oder das Personalitätsprinzip unanwendbar sind. 36 b) Fälle der extraterritorialen Ausübung von Jurisdiktion aus dem Wirtschaftsbereich Unter anderem in folgenden Fällen ist es während der letzten Jahre im Zusammenhang mit wirtschaftlichen Sachverhalten zu einer extraterritorialen Ausübung von Jurisdiktion gekommen:

aa) Vereinigte Staaten von Amerika: Cuban Democracy Act ( 1992)31 Der im Jahre 1992 in den Vereinigten Staaten erlassene Cuban Democracy Act (auch als Toricelli-Gesetz bezeichnet) verbietet die Gewährung von Lizen36 Dies ist auch vom EuGH in der Beguelin-Entscheidung, EuGH- Beguelin, 22171Slg. 1971,949, und von der Kommission im Farbstoffe-Fall, EG-Kommission Entscheidung vom 24.07.1969 (69/243/EWG)- Farbstoffe- Abi. 1969, Nr. L 195, S. 11, und im Aluminium-Fall, EG-Kommission Entscheidung vom 19.12.1984 (85/206/EWG)- Aluminiumeinfuhren aus Osteuropa- Abi. 1984, Nr. L 92, S. 1, vertreten worden. Der EuGH allerdings hat aufgrund von Protesten aus insbesondere Großbritannien seit der BeguelinEntscheidung Zurückhaltung in der Anwendung des Auswirkungsprinzips geübt und sich zur Begründung seiner Jurisdiktionsgewalt weitestgehend auf unumstrittene Anknüpfungspunkte gestützt. Allerdings zeigt die Entscheidung des Gerichtshofs im Zellstoff-Fa!!, EuGH - Abiström u. a., 89/85- EuR 1988, S. 204, daß diese Zurückhaltung eher verbal als real ist. Die Kommission hatte in diesem Fall ihre Entscheidung über Preisabsprachen zwischen Drittland-Unternehmen auf das Auswirkungsprinzip gestützt (EG-Kommission Entscheidung vom 19.12.19984 (85/202/EWG)- Zellstoff- Abi. 1985 Nr. L 85, S. 1). Der EuGH vermied eine Auseinandersetzung mit dieser Frage dadurch, daß er die Entscheidung aufhob, weil aus anderen Gründen kein Verstoß gegen Art. 85 EGV vorlag. Er zeigte jedoch die Bereitschaft, Art. 85 auch in solchen Fällen anzuwenden, in denen eine Anknüpfung allein über das Auswirkungsprinzip zu begründen ist. Siehe zu dieser Interpretation auch Helmuth Schröter, in: Hans von der Groeben/Jochen Thiesing/Claus-Dieter Ehlermann (Hrsg.), Kommentar zum EWG-Vertrag, Vorb. zu Art. 85-89 EGV, Rn. 100. Die Kommission dagegen hat nach der Zusammenfassung ihrer Auffassung zur Anwendung des EWG-Kartellrechts mit extraterritorialem Bezug in der "Bekanntmachung betreffend die Einfuhr japanischer Erzeugnisse in die Gemeinschaft, auf die der Vertrag von Rom anwendbar ist" (Slg. 1972, C 111, S. 13) im Vierzehnten Bericht zur Wettbewerbspolitik (Kurzfassung abgedruckt in: Bull.EG 4-1985, 2.1.31) noch einmal betont, daß sie die Anknüpfung an Auswirkungen als gemeinschafts- und völkerrechtlich zulässig ansieht, weil sie den Realitäten des modernen Welthandels Rechnung trage. Zur Praxis der Gemeinschaften bis 1975 siehe Kar/ Meessen, S. 134 ff.; die Praxis bis 1983 ist bei Erik Nerep, Vol. 1, S. 266 ff., detailliert aufgeführt. 37 Publ.L. No. 102-84, Oct. 23 1992, 22 U.S.C. §§ 6001-6010 (1994); Publ.L. No. 10284, Oct. 23 1992,22 U.S.C. §§ 6001-6010 (1994).

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zen für bestimmte Transaktionen zwischen Kuba und Finnen, die zwar ihren Standort außerhalb des Staatsgebietes der U.S.A. haben, jedoch in amerikanischem Eigentum bzw. "unter amerikanischer Kontrolle" stehen(§ 1706 (a)). Er sieht damit eine Erstreckung der U.S.-amerikanischen Handelsverbote auf Unternehmen außerhalb des territorialen Jurisdiktionsbereiches der Vereinigten Staaten vor, also eine extraterritoriale Anwendung des Toricelli-Gesetzes. 38

bb) Vereinigte Staaten von Amerika: lnsurance Antitrust Case ( 1993l9 In diesem vom U.S. Supreme Court entschiedenen Fall klagten insgesamt 19 amerikanische Bundestaaten sowie einige private Kläger gegen eine Gruppe von mehreren englischen Rückversicherungsgesellschaften und einigen amerikanischen Versicherungsgesellschaften. Der Vorwurf lautete auf Verletzung des Shennan Acts 1890 wegen Zusammenschlusses zum Boykott gegen Versicherungsunternehmen, denen auf diese Weise bestimmte Rückversicherungsbedingungen aufgezwungen werden sollten. Der Court of Appeals hatte bei der Klage gegen die englischen Unternehmen, die ihre Absprachen in England getroffen hatten, die Jurisdiktionsgewalt der Vereinigten Staaten mit den direkten, erheblichen und vorhersehbaren Auswirkungen des Verhalten der englischen U nternehmen in den U.S.A. begründet. Der Supreme Court bestätigte diese Entscheidung.40

cc) Vereinigte Staaten von Amerika: Cuban Liberty and Democrarie Solidarity Act (I 996f 1 Der Cuban Liberty and Democratic Solidarity Act (auch als Helms-BurtonGesetz bezeichnet) wurde am 12. März 1996 von dem amerikanischen Präsidenten Clinton in Reaktion auf den Abschußzweier privater, mit aktivistischen Exilkuba38 Diese rief erhebliche Proteste anderer Staaten hervor, die ihre Souveränität durch das Toricelli-Gesetz verletzt sahen, siehe z. B die gemeinsame Note der EU (in Vertretung für die Gesamtheit ihrer Mitgliedstaaten) und der irischen Botschaft an das U.S. State-Department vom 7. April 1992, UN Doc N47/273 (1992). Ablehnend auch Richard Porotsky, 28 VandJTransnat'IL (1995), S. 901 (914) m. w. N. 39 723 F.Supp. 464 (N.D.Ca.l989), 938 F.2d 919 (9th Circ.l991). 40 Für eine Zusammenfassung des Falls siehe Aidan Robertson/Marie Demetriou, 43 ICLQ (1994), S. 417 (418 ff.); außerdemP. M. Roth, 41 ICLQ (1992), S. 245 ff. 41 351.L.M. (1996), S. 357.

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nern einer kuhaniseh-amerikanischen Organisation besetzter Kleinflugzeuge vor der Küste Havannahs unterzeichnet. Insbesondere in seinem dritten und umstrittensten Teil42 regelt er die extraterritoriale Anwendung des Gesetzes in verschiedenen Fällen. Ähnlich wie das bereits dargestellte Toricelli-Gesetz erstreckt das Helms-Burton-Gesetz die amerikanischen Boykottverpflichtungen gegen Kuba auf Firmen im Ausland, die unter "amerikanischer Kontrolle" stehen. Diesen wird verboten, sich an der Finanzierung anderer Firmen zu beteiligen, die Handel mit Kuba betreiben. Daneben ist ein sekundärer Boykott durch ein Importverbot für sämtliche Waren aus Drittländern vorgesehen, die kuhanisehe Rohstoffe enthalten. Es werden somit der Handel mit Kuba sanktioniert und auf diese Weise (ausländische) Unternehmen in dritten Staaten - wenn auch indirekt- verpflichtet, an den seit den 1960er Jahren von den U.S.A. gegen Kuba gesetzlich praktizierten Boykotten teilzunehmen. 43 Des weiteren sieht das Helms-Burton-Gesetz Sanktionen für die Enteignungen in Kuba im Jahr 1959 vor, beispielsweise durch ein Einreiseverbot für Eigentümer, Mehrheitsaktionäre und deren Familienangehörige sowie Angestellte ausländischer Firmen, die von während der kubanischen Revolution enteignetem und verstaatlichtem Eigentum "profitieren". Auch dies ist eine Sanktion für die Nichtbeachtung der U.S.-amerikanischen Politik und ein Versuch, die Wirkungen U.S.-amerikanischer Gesetze auf Ausländer außerhalb des Staatsgebietes der U.S.A. zu erstrecken. Schließlich räumt das Helms-Burton-Gesetz enteigneten Staatsangehörigen der U.S.A. ein Klagerecht gegen diejenigen ausländischen Firmen ein, die in irgendeiner Weise mit dem enteigneten Eigentum in Kuba selbst oder in einem anderen Staat, der kein Embargo gegen Kuba unterhält, Gewinne erwirtschaften. Da dieses Klagerecht auch solchen U.S.-Staatsangehörigen zusteht, die im Zeitpunkt der Enteignung die amerikanische Nationalität noch nicht besaßen, ist das Helms-Burton-Gesetz selbst auf solche Fälle anwendbar, die ursprünglich vollständig außerhalb des Jurisdiktionsbereiches der U.S.A. lagen.

42 Für eine Zusammenfassung der Proteste und Gegenmaßnahmen der Europäischen Union, Kanadas und Mexikos siehe Muriel van den Berg, 21 MDJint'L&Trade (1997), S. 279 (299). Die Blockadegesetzgebung der Europäischen Union ist abgedruckt in 35 I.L.M. (1996), S. 397. 43 Es werden damit Handlungen verboten, welche vollkommen außerhalb des Jurisdiktionsbereiches der Vereinigten Staaten vorgenommen werden. Dies wurde vor allem mit den durch die kuhanisehe Politik ausgelösten Flüchtlingsströmen und deren Wirkungen für die U.S.A. sowie den gesteigerten Problemen bei der Rückerstattung des enteigneten Eigentums begründet, die sich bei der Involvierung dritter Personen ergeben. Zu der Bewertung dieser Begründung und der völkerrechtlichen Zulässigkeit des Gesetzes siehe Andreas Lowenfeld, 90 AJIL (1996), S. 419 (429 ff.); Brice Clagett, 90 AJIL (1996), S. 433 ff.

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dd) Vereinigte Staaten von Amerika: Iran Libyan Sanctions Act (D'Amato-Kennedy-Gesetz) ( 1996)44 Das vom amerikanischen Präsidenten am 5. August 1996 unterzeichnete D' Arnato-Kennedy-Gesetz sieht Sanktionen für Investitionen im Iran und in Libyen vor, um den Erwerb von Massenvernichtungswaffen und die Unterstützung internationalen Terrorismus durch diese Länder zu verhindern. Es erfaßt sowohl amerikanischeals auch ausländische Firmen außerhalb der U.S.A. und sieht damit im letzteren Fall eine extraterritoriale Anwendung des amerikanischen Gesetzes vor.

ee) Steuerparadies Cook Islands (1996l 5 Der New Zealand Court of Appeal hatte im Jahre 1996 einen Fall zu entscheiden, in dem neuseeländische Unternehmen von einer neuseeländischen Untersuchungskommission zur Preisgabe bestimmter steuerlich relevanter Informationen verpflichtet worden waren. Die Firmen tätigten auf den Cook Islands unterschiedliche steuerlich vorteilhafte - weil die Steuern nach neuseeländischem Recht reduzierende - Transaktionen und verweigerten die Herausgabe der geforderten Informationen mit der Begründung, daß sie diesbezüglich nach einem Gesetz der Cook Islands zur Verschwiegenheit verpflichtet seien und sich bei Zuwiderhandlung gegen diese Vorschrift strafbar machen würden. Das betreffende Gesetz der Cook Islands sieht ausdrücklich eine Anwendung der Verschwiegenheitsvorschriften auf "any personor entity" "whether in the Cook Islands or elsewhere" vor.•6

2. Extraterritoriale Ausübung von Jurisdiktion im Bereich des Umweltschutzes Auch im Zusammenhang mit dem Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen der Menschheit ist es in den letzten Jahren des häufigeren zu einer extraterritorialen Ausübung von Jurisdiktion gekommen und sind nationale und internationale Rechtsvorschriften in Kraft getreten, die zu einer extraterritorialen Ausübung nationaler Jurisdiktion ermächtigen. 35 I.L.M. (1996), S. 1273. Für eine Darstellung des genauen Sachverhalts siehe 36 l.L.M. (1997), S. 721, oder 104 I.L.R. (1997), s. 526. 46 Der Text des Gesetzes ist abgedruckt in 104 I.L.R. (1997), S. 551. 44 45

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a) Vereinigte Staaten von Amerika: Tuna-Dolphin-Fälle I (1991) und II (1994)47 Gegen die Vereinigten Staaten von Amerika wurden im Abstand von drei Jahren zwei Verfahren vor GATT bzw. WTO-Schiedsgerichten wegen der Verletzung von GATT-Vorschriften eingeleitet, weil sie durch das Gesetz zum Schutze der Meeressäuger (Marine Mammal Protection Act)48 ein Importverbot für Thunfisch bestimmter Herkunft verhängt hatten. Dieses verbot zum einen die Einfuhr von Thunfisch aus Ländern, in denen keine ausreichenden Schutzbestimmungen für die durch den Thunfischfang bedrohten Meeressäuger (insbesondere Delphine) existieren (sog. "harvesting countries"). Zweitens erklärte es den Import von Thunfisch aus solchen Ländern für illegal, die ihrerseits Thunfisch aus einem "harvesting country" beziehen. Der direkte Boykott der "harvesting countries" ist als Versuch einer indirekten extraterritorialen Anwendung U.S.-amerikanischer Vorschriften zu bewerten, da die boykottierten Staaten gezwungen sind, diese Gesetze zu beachten, wollen sie ihre Ware in den U.S.A. absetzen. Gleichermaßen Sanktionscharakter kommt auch dem zweiten, sekundären Boykott von Thunfisch aus Ländern zu, die diesen unter anderem aus "harvesting countries" beziehen. Ähnlich wie das Importverbot für kubanisch "infizierte" Waren im Helms-Burton-Act (s. o.) stellt dieses Embargo den Versuch einer indirekten Erstreckung nationaler Boykottverpflichtungen auf ausländische Unternehmen dar. 49 b) Vereinigte Staaten von Amerika: Shrimpffurtles-Fall (1997) 50 In einer sehr ähnlichen Fallkonstellation reichten im Jahre 1997 die Länder Indien, Malaysia, Pakistan und Thailand vor einem Schiedsgericht der WTO eine 47 Panel Report on United States - Restrietions on Import of Tuna (1991 ), DS21/R; Panel Report on United States - Restrietions on Import of Tuna, 16. Juni 1994, DS29/R. 48 16 U.S.C. §§ 1361-1407 (1976 Supp. V 1981). 49 Aus diesem Grunde erklärte das WTO-Schiedsgericht in dem Fall Tuna-Dolphin II die in Rede stehende Vorschrift auch für nicht mit Art. XX (b) und (g) GATT vereinbar. In beiden Fällen hatten sich die Schiedsgerichte mit der Frage auseinanderzusetzen, ob die Ausnahmeregelung des Art. XX (b) und (g) GATT extraterritoriale Wirkung haben kann oder nicht. Während dies im ersten Fall verneint wurde, bejahte das Panel im zweiten Fall diese Möglichkeit grundsätzlich. Allerdings dürften die Handelsmaßnahmen nicht dazu dienen, einen anderen Staat zu einem Wechsel seiner Politik zu zwingen. Für eine Zusammenfassung der GATT-rechtlichen Bewertung der Fälle siehe Steve Chamovitz, 38 VJIL (1997/98), S. 689 (718 ff.) m. w. N. 50 United States- Import Prohibitions of Certain Shrimp and Shrimp Products, Report ofthe WTO Appellale Body, WT/DS58/ABIR, abgedruckt in 38 I.L.M. (1999), S. 118 ff.

122 Teil 2: Reaktionen auf Globalisierungsprozeß: Parallele (Gegen-)Bewegungen gemeinsame Klage gegen die U.S.A. ein. Diese hatten aufgrundeines Gesetzes 51 sowie darauf beruhender Verordnungen die Einfuhr bestimmter Shrimpsorten und shrimpähnlicher Produkte aus Ländern verboten, in denen keine ausreichenden Schutzbestimmungen zugunsten der durch den Shrimp-Fang bedrohten Meeresschildkröten bestehen. Australien, Ecuador, die Europäischen Gemeinschaften, Hong Kong, China, Mexiko und Nigeria traten der Klage als dritte Parteien bei. Wie in den Tuna-Dolphin-Fällen ist die amerikanische Gesetzgebung im Shrirnpffurtles-Fall als indirekte extraterritoriale Anwendung U.S.-amerikanischer Vorschriften mittels einer Drohung mit Boykottmaßnahmen zu bewerten. c) Art. 218 (1) Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen (1982) 52 Diese Vorschrift, auf die in Teil 3 der Arbeit noch weiter eingegangen wird,53 ermächtigt Hafenstaaten, die Vorschriften zum Schutz gegen Ölverschmutzungen durchzusetzen, selbst wenn diese Verseuchungen innerhalb der Ausschließlichen Wirtschaftszone54 und folglich außerhalb der Hoheitsgewässer des betreffenden Staates erfolgen. Die Durchsetzungsbefugnis ist außerdem unabhängig davon, ob die Verschmutzungen der Hohen See Auswirkungen auf die Hoheitsgewässer des Hafenstaates haben. Vorschriften ähnlicher Art und/oder mit Bezug auf Art. 218 SRü haben zudem Aufnahme in verschiedene nationale Rechtsordnungen gefunden.55 d) Weitwandernde Fischarten und grenzüberschreitende Fischbestände In den letzten Jahren sind in verschiedenen Staaten Gesetze mit extraterritorialem Anwendungsbereich in Kraft getreten, die den Schutz weitwandernder Fischarten und grenzüberschreitender Fischbestände zum Gegenstand haben. 56 Publ.L. 191-162, 16 U.S.C., § 1537. Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen vom 10.12.1982, BGBL. 1995 li, s. 602. 53 Teil 3, D. 111. 2. c) aa). 54 Artikel 55 SRK definiert die Ausschließliche Wirtschaftszone als "ein jenseits des Küstenmeeres gelegenes und an dieses angrenzendes Gebiet, das der in diesem Teil (Teil IV des SRÜ, die Verfasserin) festgelegten besonderen Rechtsordnung unterliegt, nach der die Rechte und Hoheitsbefugnisse des Küstenstaates und die Rechte und Freiheiten anderer Staaten durch die diesbezüglichen Bestimmungen dieses Übereinkommens geregelt werden." 55 Vgl. dazu im Detail unten Teil3, D. III. 2. c). 56 Fälle aus diesem Bereich sind auch bereits Gegenstand von Urteilen des EuGH gewesen, der dabei das europäische Gemeinschaftsrecht weit auslegte und die Anwendung der 51

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So hat Chile am 06.01.1991 ein Gesetz erlassen, welches das chilenische Landwirtschaftsrninisterium in Zusammenarbeit mit dem chilenischen Außenministerium ennächtigt, Standards zur Bewahrung von sog. "common stocks" und "associated species" in Chiles Ausschließlicher Wirtschaftszone (EEZ) und der daran anschließenden Hohen See festzusetzen. Chile hat mehrfach betont, daß es sich bei der angesprochenen Gesetzgebung nicht um die Erhebung eines gesetzlichen Anspruchs auf die Hohe See handele. Dennoch ist diese als extraterritoriale Jurisdiktionsausübung zu bewerten. In Peru ist seit Ende 1992 eine neue Fischereigesetzgebung in Kraft, die sich der Problematik weitwandernder Fischarten und grenzüberschreitender Fischbestände annimmt. Der Anwendungsbereich dieser Gesetze ist dabei ausdrücklich über die EEZ Perus hinaus auf die angrenzende See ausgeweitet worden, in die Fischschwärme aus der EEZ Perus wandern oder aus der die Fische zur Nahrungsaufnahme, zum Laichen oder zum Leben in die EEZ Perus kommen. 57 Eine ähnliche gesetzliche Regelung zum Schutz der angesprochenen Fischarten wurde am 14.08.1991 in Argenlinien erlassen. Der Geltungsbereich dieser Vorschriften erstreckt sich nach dem Gesetzeswortlaut über die EEZ Argentiniens hinaus auf den Teil der Hohen See, der zur Nahrungskette der in der EEZ Argentiniens beheimateten Arten gehört. 58 Schließlich seien noch die 1994 in Kanada vorgenommene Änderung des Coastal Fisheries Protection Ace9 sowie die entsprechenden Anpassungenderauf dem Gesetz beruhenden Verordnungen genannt, durch die erstmalig ein direkter Jurisdiktionsanspruch über weitwandernde Fischarten in der Hohen See erhoben wurde. So erhält der kanadische Gesetzgeber u. a. das Recht, die Definition der "weitwandernden Fischart" festzulegen und zu bestimmen, auf welche Arten ausländischer Schiffe der Coastal Fisheries Protection Act angewendet werden soll. Darüber hinaus ist er zur Festlegung von Maßnahmen befugt, mittels derer die ausländischen Schiffe zur Einhaltung der NAFO-Bestimmungen60 zur Erhaltung und Bewirtschaftung von Fischbeständen angehalten werden sollen.61 Auf diese entsprechenden Vorschriften im Bereich der Hohen See befürwortete, vgl. den Fall Etablissements Armand Mondiet SA v. Armement Istais SARL, Rs. 405/92, S1g. 1993, 6133. 57 Evelyne Meltzer, 25 ODIL (1994), S. 255 (272). 58 Evelyne Meltzer, ibid., S. 255 (277). 59 33 I.L.M. (1994), S. 1383. 60 North At1antic Fisheries Organization. 61 Kanadische Beamte sind danach einseitig ermächtigt, auch auf Hoher See- allerdings nur im Regelungsbereich der NAFO - fremde Schiffe zu betreten, zu inspizieren oder aufzubringen.

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Weise sollte insbesondere die Produktivität der kanadischen EEZ geschützt werden, die stark von der Hochseefischerei weitwandernder Fischarten durch andere Staaten beeinträchtigt wirdY

3. Nationale Sicherheit Die Mehrzahl der Staaten ist zudem zu einer Ausübung der nationalen Jurisdiktion über die Grenzen des eigenen Staatsgebietes hinaus bereit, wenn es um den Erhalt der nationalen inneren und äußeren Sicherheit geht. Dies geschieht zumeist unter Anknüpfung an das Schutzprinzip, dem zufolge ein Staat Handlungen, die wichtige Sicherheitsinteressen bedrohen, unabhängig vom Begehungsort und der Staatsangehörigkeit des Handelnden ahnden darf.63 Aus Gründen des Umfangs sollen hier nur drei jüngere Fälle kurz dargestellt werden. 64 a) Vereinigte Staaten von Amerika: United States v. Noriega, Entscheidung des District Court (1990)65 In diesem Fall, der Gegenstand großen internationalen Interesses war, mußte sich der Oberbefehlshaber der Streitkräfte Panamas, General Manuel Antonio Noriega, vor einem amerikanischen District Court in sechs Anklagepunkten verantworten, die ihm die Unterstützung und Beteiligung an einer internationalen Verschwörung zum Zwecke des Imports von Kokain und Stoffen zur Herstellung von Kokain in die Vereinigten Staaten von Amerika zur Last legten. Noriega bestritt die Jurisdiktionsgewalt der Vereinigten Staaten mit der Begründung, daß dafür kein Anknüpfungspunkt gegeben66 und die extraterritoriale Anwendung der zugrundeliegenden U.S.-amerikanischen Strafgesetze daher nicht gerechtfertigt sei. Der District Court hingegen bejahte die Jurisdiktionsgewalt der U.S.A., wobei er sich auf die unmittelbaren Auswirkungen der Verschwörung auf die VereinigZum Ganzen siehe Orego Vicuna, S. 107 ff. Peter Malanczuk, Akehurst's Modem Introduction, S. 111; Wemer Meng, in: Rudolf Bemhardt et al. (Hrsg.), Encyclopedia ofPublic International Law, Vol. II, S. 337 (340); Oskar Schachter, International Law, S. 254. 64 Zu weiteren Fällen, wie beispielsweise der amerikanischen ,,Anti-Bribery Legislation" und der "Omnibus Anti-Terrorism Bill" (1986) vgl. Jaqueline Carberry, 6 IJGLS (1999), s. 685 ff. 65 99 I.L.R. (1994), s. 143 ff. 66 Noriega hatte zu keiner Zeit auf amerikanischem Territorium gehandelt und besaß auch nicht die amerikanische Staatsangehörigkeit. 62

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ten Staaten und insbesondere darauf stützte, daß die Herbeiführung eben dieser Auswirkungen auch Noriegas Intention gewesen sei. 67

b) England: R v. Latif, R v. Shahzad (1996)68 Ebenfalls um den illegalen Import großer Mengen von Drogen ging es in dem Fall R v. Latif, R v. Shahzad, den das englische House of Lords zu entscheiden hatte. Der Angeklagte besaß weder die englische Staatsangehörigkeit noch hatte er die Straftaten, derer er angeklagt war, auf englischem Territorium begangen. Wie der oben zitierte amerikanische District Court begründete auch das House of Lords die Anwendung englischen Strafrechts mit den intendierten erheblichen negativen Auswirkungen der angeklagten Handlungen für das Vereinigte Königreich.

c) Deutschland: BGHSt 37, 305 (1991) 69 In diesem von dem deutschen Bundesgerichtshof entschiedenen Fall war ein Staatsangehöriger der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik angeklagt, für die DDR von deren Territorium aus gegen die Bundesrepublik Deutschland Spionage betrieben zu haben. Der Angeklagte wurde nach § 99 I Nr. 1 StGB verurteilt, der die gegen die Bundesrepublik gerichtete geheimdienstliche Tätigkeit verbietet. Das Gericht erklärte die extraterritoriale Anwendung des § 99 StGB für völkerrechtskonform, da diese Vorschrift vorsehe, daß die geheimdienstliche Tätigkeit gegen die Bundesrepublik gerichtet sein muß, und stützte sie daneben auf den Schutz vitaler (Sicherheits-)Interessen der Bundesrepublik.70

II. Zusammenhang mit den Globalisierungsphänomenen Es ist festzustellen, daß alle der exemplarisch für die Entterritorialisierung nationalstaatlicher Gewalt dargestellten Fälle aus Sachbereichen entstammen, für die zuvor ein mehr oder weniger starker Grad von Globalisierung diagnostiziert 991.L.R. (1994), s. 154 ff. 67 BYIL (1996), S. 569 ff. 69 941.L.R. (1994), S. 68 ff. 70 BGHSt 37, 305 (307). 67 68

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worden ist.7l Die Mehrzahl der genannten Beispielsfälle stammt aus dem Wirtschaftssektor, dem am intensivsten globalisierten Sachbereich. Dies gibt Anlaß zu der Frage, ob zwischen diesen Phänomenen ein Zusammenhang besteht und wie ein solcher gegebenenfalls zu erklären sein könnte. Globalisierung ist als ein Prozeß der Entstaatlichung definiert worden, in dessen Folge der einzelne Staat teilweise erhebliche Einbußen an Effektivität und Einfluß erleidet. Eine mögliche Interpretation könnte daher darin bestehen, die ansatzweise Entterritorialisierung der Ausübung nationalstaatlicher Gewalt als eine Gegenreaktion der Staaten auf die Globalisierungsprozesse auszulegen. Die Ausdehnung der Jurisdiktionsausübung über die geographischen Grenzen des Staates hinaus könnte einen Versuch darstellen, zumindest einen geringen Anteil des verlorenen Einflusses zurückzuerlangen. Man könnte für die Erklärungjedoch auch an den globalisierungsbedingten Bedeutungsverlust von geographischen (Staats-)Grenzen und die damit verbundene Aufweichung von Territorialität als Ordnungsprinzip anknüpfen. Die Grenzen der Jurisdiktionsgewalt werden primär territoriumsbezogen-also anhand von Staatsgrenzen- definiert. Der Zusammenhang zwischen Globalisierung und ihren Wirkungen auf der einen und der tendenziellen Entterritorialisierung der Ausübung hoheitlicher Gewalt auf der anderen Seite könnte daher darin bestehen, daß mit der allgemeinen Relativierung des Territoriums als Bezugsraum auch die Bedeutung der Staatsgrenzen als Jurisdiktionsgrenze schwindet. 72 Damit könnte es zu einer gewissen Lockerung der Territoriumsgebundenheit des nationalen Rechts kommen, die eine entsprechende Tendenz zur exterritorialen Anwendung desselben zur Folge hat. 73 Letztendlich würde auf diese Weise die Reichweite nationaler Regelungen wieder der Reichweite der gesellschaftlichen Handlungszusammenhänge angepaßt. Ein kurzer Recours zu den eingangs angeführten Beispielen wird Aufschluß darüber geben, ob diese die genannten Erklärungsansätze zu stützen vermögen.

71 Sowohl für den Wirtschaftssektor als auch die Bereiche des Umweltschutzes und der (Staats-)Sicherheit ist Globalisierung im Sinne der hier verwendeten Definition festgestellt worden, vgl. Teil 1, B. li. 2. a). 72 Ähnlich Klaus Dicke, 39 BDGVR (2000), S. 13 (22), nach dessen Einschätzung die strukturbildenden und -verändernden Wirkungen von Globalisierung letztlich darauf hinauslaufen, daß herkömmliche Jurisdiktionsgrenzen und territorial gegliederte politische Steuerungskapazitäten von neuen Handlungsräumen überspannt bzw. überlaufen werden. 73 Ähnlich jetzt auch Mathias Albert, in: Rüdiger Voigt (Hrsg.), Globalisierung des Rechts, S. 115 (123 f.).

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Im Sinne einer Gegenreaktion der Staaten auf den globalisierungsbedingten Effektivitätsverlust könnte man insbesondere die zitierten Vorschriften nationalen Wettbewerbs- und Kartellrechts auslegen. Dessen extraterritoriale Anwendung auf Fälle mit Wirkung für die eigene Wirtschaft ist deshalb von so großer Bedeutung, weil die Märkte und deren Akteure heute global vernetzt sind und Handlungen auf einem Markt erhebliche Auswirkungen auf einem anderen, geographisch weit entfernten Markt erzeugen können. Für den Staat ist in dieser Situation die Erstreckung seiner nationalen Vorschriften über das eigene Territorium hinaus eine der wenigen ihm verbleibenden Möglichkeiten, steuernd auf die nationale Ökonomie Einfluß zu nehmen, ohne dadurch im Standortwettbewerb mit den anderen Staaten an Attraktivität einzubüßen. 74 In bezug auf die angesprochenen Vorschriften des deutschen, norwegischen, schweizerischen und amerikanischen Wettbewerbs- und Kartell- und auch des europäischen Gemeinschaftsrechts stellt sich dabei jedoch das Problem, daß diese aus einer Zeit stammen, in der nach verbreiteter und hier geteilter Ansicht noch nicht von Globalisierung gesprochen werden konnte. 75 Sie können daher nicht als eine Reaktion auf die Globalisierung der Wirtschaft und des Wettbewerbs gedeutet werden. Indessen ist ihre Bedeutung durch die globalisierungsbedingten Entwicklungen außerordentlich gewachsen und die Zahl der potentiellen Anwendungsfälle entsprechend gestiegen. Die Regelungen Großbritanniens, Belgiens, Frankreichs, Irlands, Italiens und Spaniens dagegen stammen alle aus einer Zeit, zu der die wirtschaftliche Globalisierung bereits stark fortgeschritten war. 76 Obgleich diese Entwicklung maßgeblich durch das vorrangige europäische Gemein schaftsrecht und dem Streben nach Harmonisierung der nationalen Rechts74 Dies trifft in der Sache auch auf das europäische Gemeinschaftsrecht zu. Bei den Europäischen Gemeinschaften bzw. der EU handelt es sich zwar nicht um einen Staat und bei deren Recht folglich nicht um nationale Vorschriften. Die Fragen der Effektivität von Wettbewerbsregelungen, der Steuerung ökonomischer Entwicklungen und der Standortattraktivität stellen sich jedoch für die Europäischen Gemeinschaften in vergleichbarem Maße wie für einen Nationalstaat. 75 Art. 85 des Vertrag über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft ( 1958); § 98 II GWB (1957); Sherman Act (1890); Clayton Act und Federal Trade Commission Act (1914); Norwegisches Kartellgesetz von 1953. Zu der Problematik einer zeitlichen Einordnung der Globalisierungsprozesse siehe bereits oben Teil 1, Fn. 2. 76 Großbritannien: Competition Act (1980), Restrictive Trade Practices Act (1976); Belgien: Loi sur Ia Protection de Ia Concurrence Economique (1991 ); Frankreich: Ordinance No. 86-1243 vom 1. Dezember 1986, J. 0. 9. Dezember 1986, S. 14773; Irland: Competition Act 1991; Italien: Gesetz Nr. 287 vom 10. Oktober 1990; Spanien: Gesetz 1611989 vom 17. Juli 1989.

128 Teil 2: Reaktionen auf Globalisierungsprozeß: Parallele (Gegen-)Bewegungen

ordnungen beeinflußt sein dürfte, kann sie dennoch als Gegenreaktion der betreffenden Staaten auf die Folgen der wirtschaftlichen Globalisierung- als Bestreben, die Effektivität nationaler Regelungen zu erhalten bzw. wiederzuerlangen- interpretiert werden. Den Staaten steht es frei, ihr nationales Recht- welches in Fällen ohne Gemeinschaftsbezug weiterhin Anwendung findet- für diese Fälle abweichend vom Gemeinschaftsrecht zu gestalten, solange sich daraus keine kontraproduktiven Folgen für die Wirkung des Gemeinschaftsrechts ergeben. Trotz der Prägung durch das Europäische Gemeinschaftsrecht kann die Übernahme des Auswirkungsprinzips daher als autonome politische Entscheidung der betreffenden Staaten gewertet werden. Aufgrund der Tatsache, daß bereits eine erhebliche Zahl von Staaten Regelungen der beschriebenen Art in das nationale Recht aufgenommen haben und da die Wahrscheinlichkeit groß ist, daß ähnliche Regelungen auch durch die nach dem Fall des Eisernen Vorhangs neu entstandenen Marktwirtschaften übernommen werden, wird teilweise sogar auch bereits davon ausgegangen, daß sich Völkergewohnheitsrecht dieses Inhalts gebildet habe.77 Der Insurance Antitrust Fall als Anwendungsfall des amerikanischen Wettbewerbsrechts bestätigt die amerikanische Spruchpraxis in bezug auf die extraterritoriale Anwendung dieser Vorschriften und zeigt deren Bedeutsamkeil in einer globalisierten Wirtschaft. Die übrigen für den Wirtschaftsbereich dargestellten Beispielsfälle vermögen dagegen nicht die These zu stützen, die extraterritoriale Ausübung von Jurisdiktion diene den Staaten zum Ausgleich des globalisierungsbedingten Einflußverlustes. Die Beanspruchung extraterritorialer Geltung für die Vorschriften über das Steuergeheimnis durch die Cook Islands kann nicht in diesem Sinne ausgelegt werden, weil gerade die sog. "tax haven states" von dem weltumspannenden quasi freien Fluß des Kapitals profitieren. Ziel der extraterritorialen Jurisdiktionsausübung durch die Cook Islands ist es vielmehr, sich die durch die Globalisierung der Wirtschaft eröffneten Möglichkeiten zu erhalten. In Fällen wie diesem ist es daher passender, von einer Bewahrung der durch die Globalisierung der Wirtschaft erworbenen Vorteile zu sprechen. Auch die drei übrigen im Zusammenhang mit der Wirtschaft angesprochenen Fälle sind weniger kennzeichnend für nationalstaatliche Bemühungen um die Rückgewinnung von Einfluß, als daß sie eine Demonstration von Macht durch die Vereinigten Staaten von Amerika darstellen, die in der Lage sind, ihre wirtschaftliche Potenz zur Durchsetzung nationaler Politik einzusetzen. 77 P. M. Roth, 41 ICLQ (1992), S. 245 (285), der in diesem Zusammenhang auf das ungarische Gesetz gegen Unfaire Marktpraktiken, Gesetz LXXXVI von 1990, insbes. Kapitel 3, hinweist (S. 266).

C. Entterritorialisierung nationalstaatlicher Gewalt

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Die aus dem Umweltbereich genannten Fälle Tuna-Dolphin I und II und der Shrimpffurtles-Fall ähneln nicht nur aufgrunddes ihnen zugrundeliegenden wirtschaftsbezogenen Sachverhaltes den die U.S.A. betreffenden Fällen aus dem Wirtschaftsbereich. Auch im Hinblick auf den Zusammenhang mit Globalisierung sind sie weitestgehend gleich zu bewerten, denn in dem Shrimpffurtles-Fall wie den Tuna-Dolphin-Fällen demonstrieren die Vereinigten Staaten primär ihre Macht zur Durchsetzung ihrer Interessen mittels wirtschaftlicher Maßnahmen. Der Unterschied zu den erstgenannten Fällen besteht darin, daß die Vereinigten Staaten hier (auch) zur Verteidigung eines Gemeinschaftsinteresses -dem Schutz einer bedrohten Tierart, der Delphine- handelten, zu dessen Sachwalter sie sich gemacht hatten. In den übrigen Fällen hatten eindeutig nationale Interessen im Vordergrund gestanden. Um ein gleichgelagertes Thema geht es zwar bei der extraterritorialen Jurisdiktionsausübung zum Schutze weitwandernder Fischarten und grenzüberschreitender Fisch bestände. Im Gegensatz zu den anderen Fällen stützt diese Gesetzgebung aber durchaus die eingangs aufgestellte These, bei der Entterritorialisierung nationalstaatlicher Gewalt handele es sich um eine Gegenbewegung zur Globalisierung. Die massive Fernfischerei im Rahmen der wirtschaftlichen Globalisierung untergräbt die Wirksamkeit nationaler Gesetze zum Schutz weitwandernder Fischarten und grenzüberschreitender Fischbestände im Bereich der EEZ der Küstenstaaten sowie die Produktivität ihrer EEZ. Dies bedeutet für die Küstenstaaten einen Effektivitätsverlust, der um so stärker wirkt, je weniger internationale Instrumentarien zur Lösung des Problems vorhanden sind. 78 Dieser Entwicklung treten die betroffenen Staaten ganz im Sinne der untersuchten These entgegen, indem sie ihre nationalen Gesetze über die Reichweite ihrer EEZ hinaus ausdehnen. Einer solchen Wertung als Gegenreaktion zur Globalisierung steht schließlich auch der zeitliche Aspekt nicht entgegen, denn die betreffenden Gesetze stammen alle aus den 1990er Jahren, also der Phase der Globalisierung.79 78 Weder das SRÜ noch das Durchführungsübereinkommen betreffend gebietsübergreifende und weitwandemde Fischbestände (siehe zu diesem unten Teil 3, D. III. 2. c) bb)) waren zum Zeitpunkt des Erlasses der betreffenden nationalen Vorschriften in Kraft getreten. 79 Die Problematik der Erhaltung und Bewirtschaftung von weit wandemden Fischarten findet sich nunmehr auch in den Art. 18-23 des "UN-Übereinkommens zur Durchführung des SRÜ über die Erhaltung und Bewirtschaftung von Fischbeständen, die sowohl innerhalb als auch außerhalb der Ausschließlichen Wirtschaftszone vorkommen, und von weitwandemden Arten" (34 I.L.M. (1995), S. 1542) geregelt. Danach gilt grds. weiterhin das Flaggenstaatsprinzip (Art. 18, 19), aber unter bestimmten Voraussetzungen (Art. 20-23) sind auch Drittstaaten zu Durchsetzungsmaßnahmen auf hoher See befugt. Zu diesem Übereinkommem ausfuhrlieh Jonna Ziemer, passim. 9 Hingsl

130 Teil 2: Reaktionen auf Globalisierungsprozeß: Parallele (Gegen-)Bewegungen

Der Zusammenhang zwischen der Hafenstaatsjurisdiktion zur Durchsetzung internationaler Meeresschutzvorschriften (Art. 218 (1) SRÜ und entsprechende nationale Vorschriften) und den Entwicklungen im Zeitalter der Globalisierung ist wiederum anderer Natur. Sicher ist, daß mit Zunahme der Fernfischerei und des weltweiten Schiffsverkehrs im Zuge der engeren wirtschaftlichen Vernetzung auch die Gefahr von Ölverschmutzungen durch diese Wasserfahrzeuge und damit das diesbezügliche Regelungsbedürfnis gestiegen ist. Als Reaktion des globalisierungsgeschwächten Nationalstaates können die angesprochenen Regelungen jedoch nicht gewertet werden. Dagegen spricht bereits, daß das Schutzgut, zu dessen Verteidigung die Vorschriften den Küstenstaat ermächtigen, nicht unbedingt ein nationales ist. Verseuchungen außerhalb des Küstenmeeres betreffen zunächst nicht das Staatsgebiet des Küstenstaates, so daß nicht das Auswirkungsprinzip zur Begründung der Jurisdiktionsgewalt herangezogen werden kann. Die Eingriffsbefugnis ist nach Art. 218 (1) SRÜ abhängig von der Verletzung "anwendbarer Regeln und Normen, die im Rahmen der zuständigen internationalen Organisation oder einer allgemeinen diplomatischen Konferenz aufgestellt worden sind". Diese Regelung ist rein problemorientiert und ohne Blick auf die territoriale Hoheitsgewalt des Staates getroffen. Ziel ist allein die effektivere Verfolgung der betreffenden Delikte durch Erweiterung des Kreises der eingriffsbefugten Staaten und ein dadurch verbesserter Schutz des Gemeinschaftsgutes, der Hohen See - nicht dagegen die Stärkung der zur Verfolgung ermächtigten Nationalstaaten. Die Fälle, die aus dem Bereich der inneren und äußeren Sicherheit des Staates genannt wurden, unterstützen zwar die These der Gegenreaktion in dem Sinne, daß man die extraterritoriale Anwendung der nationalen Strafvorschriften als Versuch werten kann, der Bedrohung der eigenen Sicherheit durch internationale organisierte Kriminalität entgegenzutreten. Die Täter werden (sofern man ihrer habhaft wird) aufgrund der eigenen Vorschriften zur Verantwortung gezogen, anstau daß die Verfolgung der Täter der Justiz des Begehungsortes überlassen wird. 80 Wie einige der wettbewerbsrechtlichen Vorschriften wurden die in diesen Fällen angewandten Gesetze jedoch nicht in Reaktion auf die Globalisierung im Bereich der internationalen organisierten Kriminalität erlassen, sondern stammen bereits aus einer Zeit bevor von Globalisierung im hier verstandenen Sinne zu sprechen war. 81 Auch ist die extraterritoriale Anwendung nationaler Strafgesetze in Fällen der Bedrohung der nationalen (inneren und äußeren Sicherheit) bereits seit langen auf80 Die beiden Fälle im Zusammenhang mit international organisiertem Drogenhandel illustrieren diese Problematik besonders deutlich. 81 21 U.S.C. §§ 959,963 (1970); 18 U.S.C. § 2 (1948); Section 170 82 des Customs and Excise Management Act 1979, § 99 des deutschen StGB wurde 1968 durch das 8. StrRÄG neu gefaßt.

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grunddes Schutzprinzips anerkannt. 82 Trotzdem erlangt auch die extraterritoriale Anwendung der betreffenden Strafgesetze infolge der Globalisierung eine zunehmende Bedeutung im Kampf des Staates gegen die Bedrohung seiner inneren wie äußeren Sicherheit durch internationale organisierte Kriminalität. Insgesamt kann die These von der Entterritorialisierung nationalstaatlicher Gewalt als Gegenreaktion auf die Globalisierung zwar keine allgemeine Gültigkeit beanspruchen, insbesondere die Beispiele aus dem Wirtschaftsbereich haben aber gezeigt, daß er in unterschiedlichen Fällen durchaus zur Erklärung dieses Phänomens geeignet ist. 83 Das Bestehen älterer Regelungen zur extraterritorialen Ausübung von Jurisdiktion zeigt zudem, daß die Staaten auch bereits früher zu einer von ihren Staatsgrenzen unabhängigen Anwendung ihres Rechts bereit waren, wo dies in Sachverhalten mit grenzüberschreitenden Wirkungen aus Effektivitätserwägungen erforderlich schien. 84 Letzterer Gesichtspunkt kann auch für die Bewertung der zweiten These nutzbar gemacht werden, der zufolge die Staatsgrenzen als Grenzen für die Ausübung von Jurisdiktion an Bedeutung verlieren. Bestand bereits früher bei grenzüberschreitenden Sachzusammenhängen eine Tendenz zur extraterritorialen Ausübung von Jurisdiktion, so wäre es angesichtsder im Zeitalter der Globalisierung gegebenen Intensivierung der weltweiten Vernetzung nur folgerichtig, wenn der zweitgenannte Interpretationsansatz Bestätigung fände. In diesem Zusammenhang ist die Haltung der Staaten in bezug auf die Anerkennung des Auswirkungsprinzips aufschlußreich, denn in der Mehrzahl der Fälle wird die extraterritoriale Gesetzesanwendung an eben dieses Prinzip geknüpft. Es wurde bereits die weite Verbreitung desselben im Bereich des Wirtschaftsrechts 82 Geof!Gilbert, 63 BYIL (1992), S. 415 (419); Peter Malanczuk, Akehurst's Modem Introduction, S. 113; Robert Jennings, 33 BYIL (1957), S. 146 (155). 83 So auch der Berichtserstalter des Institut de Droit International in seinem Rapport Provisoire (November 1997) zur Frage der Competence Extraterritoriale des Etats, 68-1 Annuaire de !'Institut de Droit International (1999), S. 527. Dieser Wertung steht auch nicht entgegen, daß bis auf die Vereinigten Staaten, die Europäischen Gemeinschaften und Deutschland bislang keine substantielle Praxis zu diesen gesetzlichen Regelungen nachweisbar ist. Grund hierfür ist zum einen, daß diese Regelungen im Verhältnis zu den amerikanischen, deutschen und gemeinschaftsrechtlichen erst seit relativ kurzer Zeit in Kraft sind. Zum anderen sind sie in den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften häufig aufgrund des Vorranges des gemeinschaftlichen Wettbewerbs- und Kartellrechts nicht anwendbar, so daß die Herausbildung nationalstaatlicher Anwendungspraxis eine längere Zeit erfordert. 84 Diane Wood, I IJGLS (1993), http://www.law.indiana.edu/glsj/voll/wood.html (Stand: 05.05.2000): "The development of the U.S. doctrine on extraterritorial jurisdiction began because of the undeniable links between domestic and foreign markets."

132 Teil 2: Reaktionen auf Globalisierungsprozeß: Parallele (Gegen-)Bewegungen

dargestellt. Jedenfalls für diesen Bereich findet sich These vom Bedeutungsverlust der Staatsgrenzen in ihrer Funktion als Jurisdiktionsgrenzen daher bestätigt. Die nationalen Wettbewerbs- und Kartellregeln werden heute weniger in Anknüpfung an das Staatsgebiet als an die reale Reichweite gesellschaftlichen Handeins angewendet. Daneben bestätigen auch die Beispielsfälle aus dem Umweltbereich die Relativierung des Territoriums als Bezugsraum und damit den Bedeutungsverlust der Staatsgrenzen in ihrer Funktion als Jurisdiktionsgrenzen. 85 Allen Sachverhalten liegt (zumindest auch) der Gedanke zugrunde, daß die Wirksamkeit von Maßnahmen zum Schutze der Umwelt nicht dadurch beschränkt oder in das Gegenteil verkehrt werden darf, daß die Befugnis des Staates zur Regelung entsprechender Sachverhalte an seiner Staatsgrenze endet. Ähnlich ist auch das Prinzip 2 der Rio Deklaration von 1992 geprägt, welches die Verantwortung der Staaten niederlegt, Schädigungen sowohl der Umwelt anderer Staaten als auch von Gebieten außerhalb ihrer Jurisdiktion zu verhindern. 86 Dieses Prinzip bezieht sich auf Handlungen, die innerhalb des Jurisdiktionsbereichs eines Staates vorgenommen werden und geeignet sind, außerhalb desselben Wirkungen zu erzeugen. Im Falle der weitwandernden Fischarten und grenzüberschreitenden Fischbestände dagegen haben die beispielshalber genannten Staaten Chile, Peru und Argentinen aus den schädigenden Folgen der Fernfischerei jenseits ihrer EEZ das Recht abgeleitet, Schutzbestimmungen mit extraterritorialem Anwendungsbereich zu erlassen. Sie haben folglich Prinzip 2 der Rio Deklaration auf den umgekehrten Fall angewendet, daß eine Handlung außerhalb des Jurisdiktionsbereiches eines Staates schädigende Auswirkungen auf dessen Staatsgebiet oder unter seiner Kontrolle stehendes Territorium erzeugt. 87 Auch dieses kann als Beleg für die fortschreitende Verbreitung der Anerkennung des Auswirkungsprinzips gewertet werden. Schließlich ist ein weiteres mal auf den globalisierungsbedingten Bedeutungszuwachs für die

85 Zu Einfluß des internationalen Umweltrechts auf den Begriff des Staatsgebiets vgl. auch Stephan Hohe, Der offene Verfassungsstaat, S. 233 ff. 86 Rio Declaration on Environment and Development, Principle 2: "States have, in accordance with the Charter of the United Nationsand the principles of intemationallaw, the sovereign right to exploit their own resources pursuant to their own environmental and developmental policies, and the responsability to ensure that activities wirhin their jurisdiction or control do not cause darnage to the environment of other states or ofareas beyond their jurisdiction" (Hervorhebungen durch die Verfasserin), 3li.L.M. (1992), S. 874 (876). 87 Das zum Zeitpunkt des Erlasses dieser nationalen Vorschriften noch nicht in Kraft getretene SRÜ regelt in den Art. 63 und 64 lediglich die Verpflichtung der betroffenen Staaten zur Zusammenarbeit in bezug auf den Schutz dieser Fischbestände. Das diese Vorschriften konkretisierende Durchführungsübereinkommen betreffend gebietsübergreifende und weitwandemde Fischbestände (siehe zu diesem unten Teil 3, D. III. 2. c) bb)) wurde erst im Jahr 1995 unterzeichnet.

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betreffenden älteren Regelungen hinzuweisen, den diese bereits aufgrund der Zunahme der potentiellen Anwendungsfälle erfahren. Die These von dem- aus der Relativierung des Territoriums als Bezugsraum folgenden- Bedeutungsverlust der Staatsgrenzen in ihrer Funktion als Jurisdiktionsgrenzen findet somit insgesamt die Unterstützung der als Beispiele angeführten Fälle. Staatsgrenzen büßen mit zunehmender Vernetzung der Staaten und ihrer Gesellschaften einen Teil ihrer Funktion als Jurisdiktionsgrenzen ein, und Regelungen werden vermehrt in Anknüpfung an die reale Reichweite der zu regelnden sozialen Sachzusammenhänge getroffen. In Bereichen, die noch nicht einen entsprechenden Vernetzungsgrad erreicht haben oder in denen das Bewußtsein der Vernetzung noch nicht genügend ausgeprägt ist, rufen die Ansätze zur Entterritorialisierung der nationalstaatliehen Gewalt Proteste hervor. Im Wirtschaftsbereich, als dem am weitesten integrierten Sektor, dagegen steigt die Akzeptanz dieser Mittel, wie sich an der zunehmenden Anwendung des Auswirkungsprinzips zeigt.

111. Zusammenfassung; Würdigung Beide zu Beginn formulierten Thesen- die Interpretation als Gegenreaktion der Staaten auf den globalisierungsbedingten Machtverlust und auch die These vom Bedeutungsverlust der Staatsgrenzen in ihrer Funktion als Jurisdiktionsgrenzenvermögen zur Begründung der aufgezeigten Ansätze zur Entterritorialisierung der nationalstaatliehen Gewalt in grenzüberschreitenden Sachverhalten beizutragen. Die beiden Erklärungsmodelle schließen sich nicht gegenseitig aus, sondern können allein oder/und auch kumulativ das untersuchte Phänomen erklären. Den größeren Erklärungswert besitzt allerdings die These vom Bedeutungsverlust der Staatsgrenzen in ihrer Funktion als Jurisdiktionsgrenzen, da diese die Ursachen für die untersuchte Tendenz aufgreift, während die Erklärung von der extraterritorialen Jurisdiktionsausübung als Gegenreaktion der Staaten auf die Globalisierung allein den Beweggrund der Staaten für ihr Verhalten benennt. Insbesondere an den Fällen aus dem Umwelt- und dem Wirtschaftsbereich wird jedoch auch die Problematik deutlich, die die Jurisdiktionsausübung in Unabhängigkeit oder zumindest mit Lockerung von den Staatsgrenzen aufwirft. Zum einen birgt sie ein erhebliches Konfliktpotential, denn wo extraterritorial Hoheitsgewalt angewendet wird, kann es vielfach zur Überschneidung von Jurisdiktionsansprüchen kommen- sei es, weil die Hoheitsgewalt auf fremdes Staatsgebiet erstreckt wird, sei es weil mehrere Staaten auf einem bestimmten Gebietjenseits ihrer Jurisdiktion Hoheitsgewalt beanspruchen. Je mehr Staaten ihre Jurisdiktionsgewalt in

134 Teil 2: Reaktionen auf Globalisierungsprozeß: Parallele (Gegen-)Bewegungen

dieser Form ausüben, desto stärker wächst die Gefahr von Jurisdiktionskonflikten und der Überschreitung der Grenzen des Prinzips der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten eines anderen Staates, welches in Art. 2 (1) i. V. m. Art. 2 (7) UN-Charta statuiert ist, 88 aber auch nach Völkergewohnheitsrecht gilt. 89 Das Nichteinmischungsprinzip und die souveräne Gleichheit der Staaten würden zu reinen Lippenbekenntnissen, dehnte man insbesondere das Auswirkungsprinzip so weit aus, daß nahezujede Auswirkung in einem Nationalstaat zur Begründung von dessen Jurisdiktion genügte.90 Die Proteste, die die extraterritoriale Gesetzesanwendung seitens der Vereinigten Staaten im Falle des D' Amato-Kennedy-Gesetzes und des Helms-BurtonGesetzes hervorgerufen hat, sowie die angesprochenen Verfahren gegen die Vereinigten Staaten vor WTO-Schiedsgerichten weisen zudem auf ein weiteres Problem hin: die Durchsetzung nationaler politischer und wirtschaftlicher Ziele mittels extraterritorialer Maßnahmen und der Versuch, andere Staaten zu einer Anpassung an diese Ziele zu zwingen. Dieser Problematik kann nur durch eine Verständigung auf allgemeine Standards für die extraterritoriale Ausübung von Jurisdiktion begegnet werden, die dazu beitragen, daß der Einbruch in die Souveränitätsrechte des betroffenen Staates so gering wie möglich und damit auch das Konfliktpotential so niedrig wie möglich gehalten wird. Derartige Standards können und werden zum einen über Anforderungen an den Anknüpfungspunkt für die Jurisdiktionsausübung bestimmt- beispielsweise die Schwere der Auswirkungen, die ein Verhalten in einem Staat haben muß, damit dessen Jurisdiktionsgewalt begründet wird. 91 Daneben muß jedenfalls auch der Abwägung der betroffenen 88 Zu der Problematik, daß diese Vorschrift keinen Souveränitätsschutz bietet, wo eine geteilte bzw. parallele Jurisdiktionszuständigkeitzweier Staaten gegeben ist, siehe Wemer Meng, Extraterritoriale Jurisdiktion, S. 551 ff. 89 V gl. dazu nur die "Declaration on the Inadmissability of Intervention in the Domestic Affairs of States and the Protection of their Independence and Sovereignty", GA Res. 2131 (XX) vom 21.12.1965 und die "Friendly Relations Declaration", GA Res. 2625 (XX) vom 24.10.1970, die als Nachweis für das geltende Völkergewohnheitsrecht herangezogen werden. Etwas anderes ergibt sich nach Ansicht des IGH auch nicht aus den zahlreichen bewaffneten Interventionen seit 1945 oder den behaupteten Verstößen gegen das Interventionsverbot auf dem Gebiet des wirtschaftlichen oder politischen Zwanges, Nicaragua-Fall, ICJ Reports 1986, 14 ff. 90 Eine umfassende Darstellung der sich in diesem Zusammenhang stellenden Probleme würde sowohl den Umfang als auch die Zielsetzung dieser Arbeit übersteigen. Für eine eingehende Diskussion dazu siehe Wemer Meng, Extraterritoriale Jurisdiktion, S. 556 ff., der einen ganzen Abschnitt seines Werkes dieser Thematik widmet. Siehe außerdem Erik Nerep, Vol. 1, S. 173 ff., sowie Kar/ Meessen, S. 152 ff. 9 1 Insbesondere die amerikanische Jurisprudenz hat besondere Anforderungen an die Auswirkungen herausgearbeitet, die zur Begrenzung des Auswirkungsprinzips beitragen

C. Entterritorialisierung nationalstaatlicher Gewalt

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Interessen und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit eine besondere Bedeutung zugemessen werden. 92 In anderen Bereichen als dem des Wirtschaftsrechts, insbesondere im Umweltschutz, könnte darüber hinaus in die Anforderung gestellt werden, daß die extraterritoriale Ausübung von Jurisdiktion zumindest auch im gemeinsamen öffentlichen Interesse der Staaten bzw. der Weltbevölkerung vorgenommen werden muß. Um in diesem Zusammenhang die Gefahr zu vermeiden, daß sich ein einzelner Staat eigenmächtig zum Sachwalter dieser Interessen aufschwingt, wäre es zudem angebracht, in Anknüpfung an Art. 12 der Rio Deklaration93 die Voraussetzung aufzustellen, daß vor der einseitigen Regelung durch einen einzelnen Staat eine Lösung des Problems durch die Staatengemeinschaft bzw. die Gruppe der betroffenen Staaten fehlgeschlagen ist. Einen solchen Ansatz hat auch das WTO-Schiedsgericht in seinem Spruch im Shrimpffurtles-Fall94 gewählt.

sollen. So wird darauf abgestellt, ob die Auswirkungen beabsichtigt waren und ihre Schwere, Direktheit sowie Vorhersehbarkeit berücksichtigt. Das Restatement ofForeign Relations Law 3rd des American Law Institutes faßt diese Einschränkungen zusammen (sec. 415 sowie Kommentierung). Siehe auch Oskar Schachter, International Law, S. 262 f. ; Aidan Robertson/Marie Demetriou, 43 ICLQ ( 1994), S. 417 ff. , die einen kurzen Überblick über die Entwicklung der wesentlichen amerikanischen Jurisprudenz geben. Zu den Anforderungen an die Auswirkungen, die auf der Ebene der Europäischen Gemeinschaften entwickelt wurden, siehe A. Leenen, 15 NYIL (1984), S. 139 (140 ff.); Erik Nerep, Vol. I, S. 281 ff. In Deutschland wird an spürbare und unmittelbare Auswirkungen von Auslandshandlungen auf den Binnenmarkt angeknüpft, die den Schutzbereich der jeweiligen Sachnorm verletzen. Helmuth Schröter, in: Hans von der Groeben/Jochen Thiesing/Claus-Dieter Ehlermann (Hrsg.), Kommentar zum EWG-Vertrag, Vorb. zu Art. 85-89 EGV, Rn. 102; Wem er Meng, 41 ZaöRV (1981), S. 469 (486 ff.). 92 Wemer Meng, Extraterritoriale Jurisdiktion, S. 556 ff., 603, 622; ders., 44 ZaöRV (1984), S. 675 (766 ff.); Helmuth Schröter, in: Hans von der Groeben/Jochen Thiesing/ Claus-Dieter Ehlermann (Hrsg.), Kommentar zum EWG-Vertrag, Vorb. zu Art. 85-89 EGV, Rn. 61; Erik Nerep, Vol. 2, S. 556 ff. sowie Fn. 120. Dasamerikanische Restatement 3rd faßt eine Interessenahwägung als Feststellung der "reasonableness", also der Vertretbarkeil eines Anknüpfungspunktes auf(§ 403 (2) ). Sofern danach weiterhin miteinander in Konflikt stehende Hoheitsakte rechtmäßig nebeneinander bestehen, wird die gleiche Abwägung der Interessen den Staaten noch einmal zur Pflicht gemacht, um das "eindeutig größere Interesse" festzustellen. 93 31 I.L.M. (1992), S. 876. Ein solches Kooperationsprinzip ist daneben u. a. auch in der Agenda 21 (UN Doc. A/Conf. !51 /4 ( 1992)) und in Art. 5 der Biodi versitätskonvention (31 I.L.M. (1992), S. 822) festgelegt. 94 United States- Import Prohibitions of Certain Shrimp and Shrimp Products, Report ofthe WTO Appellate Body, WT/DS58/AB/R, para. 7.61, abgedruckt in 38 I.L.M. (1999), S.ll8ff.

136 Teil 2: Reaktionen auf Globalisierungsprozeß: Parallele (Gegen-)Bewegungen

Gelingt die einheitliche Herausbildung solcher Standards nicht und werden diese von den Akteuren des internationalen Systems nicht anerkannt und eingehalten, so birgt die beschriebene Tendenz zur Entterritorialisierung der nationalstaatlichen Gewalt nicht nur erhebliches Konfliktpotential, sondern insbesondere auch die Gefahr eines Politikimperialismus zu Lasten wirtschaftlich und politisch schwächerer Staaten. Werden die anzustrebenden Standards dagegen erreicht, so bedeutet die extraterritoriale Ausübung von Jurisdiktion eine Chance zur effektiven Bekämpfung grenzüberschreitender, "globalisierter" Probleme.

Tei/3

Die Auswirkungen von Globalisierung auf völkerrechtliche Verträge A. Einleitung I. Ziel der Untersuchung Teil 1 der Arbeit hat gezeigt, daß Globalisierung kein homogenes, einheitlich evolutionäres Muster der Weltentwicklung ist, sondern daß es sich um einen äußerst komplexen Vorgang handelt, der Auswirkungen mehr oder weniger starker Intensität in fast allen Bereichen des täglichen Lebens hat. 1 Er rüttelt darüber hinaus in vielerlei Hinsicht an den Grundfesten des traditionellen Staatsbildes und ist für den Staat wie auch für das internationale System von erheblicher Bedeutung. Dies wird auch an den in Teil 2 untersuchten Parallel- und Gegenbewegungen zur Globalisierung deutlich, die sowohl auf gesellschaftlicher Ebene zu finden (z. B. ethnische Fragmentierung, religiös motivierter Nationalismus), als auch auf der Ebene des Nationalstaats zu beobachten sind (z. B. Entterritorialisierung nationstaatlicher Gewalt). Der folgende dritte Teil der Arbeit ist verschiedenen Auswirkungen gewidmet, die Globalisierung (im Sinne der Arbeitsdefinition) und die damit zusammenhängenden, im ersten Teil dargestellten Entwicklungen auf die RechtsqueUe der völkerrechtlichen Verträge erzeugen. Es soll untersucht werden, ob das gegenwärtige Völkervertragsrecht die verschiedenen Globalisierungsprozesse widerspiegelt. Hierbei wird zunächst auf den Kreis der beteiligten Parteien völkerrechtlicher Verträge eingegangen. Sodann werden einige Veränderungen des "treaty making process" und der Struktur völkerrechtlicher Verträge angesprochen. Als dritter Punkt wird die Reichweite der Bindungswirkung völkerrechtlicher Verträge untersucht. Dabei geht es um die Frage, wie früher und heute mit der Problematik der Bindung dritter Staaten durch einen Vertrag umgegangen wurde bzw. wird. 1 Anthony Giddens, Kritische Theorie, S. 30, beschreibt dies als ein "dialektisches Phänomen, das an zwei Polen des Prozesses der Zeit-Raum-Distanzierung operiert."

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Teil 3: Auswirkungen von Globalisierung auf völkerrechtliche Verträge

II. Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse aus Teilt Bei der Untersuchung der Auswirkungen von Globalisierung auf völkerrechtliche Verträge soll im wesentlichen auf die folgenden Ergebnisse des ersten Teils der Arbeit eingegangen werden: Globalisierung im hier verwendeten Sinne bezeichnet den dynamischen, nicht notwendigerweise global reichenden Prozeß einer Entstaatlichung von gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, politischen und anderen Aktivitäten. Entstaatlichung bedeutet:

a) Gesellschaftliche Denationalisierung im Sinne einer Aufhebung der Kongruenz von Nationalstaat und Staatsgesellschaft, deren Ursache liegt in der Verschiebung sozialer Handlungskomplexe über die nationalstaatliehen Grenzen hinaus; b) faktische Entstaatlichung aufgrund der dem Staat in unterschiedlichen Bereichen de facto abhanden gekommenen Regelungs- und Steuerungsmacht; c) rechtliche Entstaatlichung im Sinne einer Herausnahme öffentlicher Funktionen aus dem Aufgabenbereich des Staates und deren Übernahme durch nichtstaatliche Wirkungseinheiten. lnfolge der Globalisierung kommt es zu einer Veränderung der Rolle des Staates im internationalen System, der ihn treffenden Aufgaben und der ihm zur Verfügung stehenden Handlungsmöglichkeiten. Die materielle Souveränität des Nationalstaates ist durch die Globalisierung einer erheblichen Erosion ausgesetzt. Insgesamt ist gegenüber früher eine Einbuße des Staates an Autorität und Effektivität zu konstatieren. Dieser kann und sollte der Staat durch eine Anpassung seines Verhaltens an die veränderten Rahmenbedingungen und die bewußte Nutzung von sich daraus teilweise ergebenden Chancen entgegentreten, um so aus den neuartigen Entwicklungen die bestmöglichen Vorteile für die Menschen und die Umwelt zu ziehen. Inwiefern Ansätze hierfür im Völkervertragsrecht zu erkennen sind und wie sich die Globalisierung weiter auf völkerrechtliche Verträge auswirkt, wird Gegenstand der nun folgenden Untersuchungen sein.

8. Der Kreis der an völkerrechtlichen Verträgen beteiligten Parteien Als eine in der Entstehung koordinative Rechtsordnung wird das Völkerrecht von den Völkerrechtssubjekten selbst geschaffen.2 Dabei nimmt der Völkerrecht2

Vgl. dazu Georg Dahm/Jost Delbrück/Rüdiger Wolfrum, Völkerrecht Ul, S. 27 ff.

B. Der Kreis der an völkerrechtlichen Verträgen beteiligten Parteien

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liehe Vertrag eine wesentliche Rolle ein, denn im Unterschied zum Privatrechtsvertrag bringt er nicht nur subjektive Rechte der Vertragsparteien zur Entstehung, sondern stellt darüber hinaus eine Rechtsquelle dar, schafft also auch Recht im objektiven Sinne. Im folgenden soll der Frage nachgegangen werden, wer die Beteiligten solcher Verträge sein können, die zu den Quellen des Völkerrecht zählen, und inwiefern die Globalisierung auf diesen Kreis Auswirkungen erzeugt hat oder erzeugen müßte. Unter Beteiligung wird dabei nicht nur die Eigenschaft als mitabschließende Vertragspartei verstanden. Es soll darüber hinaus der Blick auch auf solche Parteien gerichtet werden, die zwar nicht Mitglied des betreffenden Vertrages geworden sind, aber dennoch aus demjeweiligen Vertrag Berechtigungen und/oder Verpflichtungen herleiten. In bezug auf letzteres beschränkt sich die Untersuchung in diesem Teil auf die Einbindung nichtstaatlicher Entitäten und die daraus zu ziehenden Schlußfolgerungen. Die Wirkung von Verträgen für nicht am Vertragsschluß beteiligte Staaten wird in diesem Teil unter D behandelt.

I. Bestandsaufnahme Im Hinblick auf die vertragsschließenden Parteien sei zunächst ein kurzer Überblick über die anerkanntermaßen vertragsfähigen Wirkungseinheiten gegeben. Darüber hinaus wird in diesem Rahmen bereits dargestellt, wo Grenzfälle liegen, die im Rahmen der Frage nach den Auswirkungen der Globalisierung Bedeutung erlangen könnten. Der klassische Fall des völkerrechtlichen Vertrages ist in Art. 2 (1) (a) des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge (WVRK) 3 definiert als eine in Schriftform geschlossene und vom Völkerrecht bestimmte Übereinkunft zwischen Staaten( ... ). 4 Neben den Staaten als den originären Völkerrechtssubjekten sind als frühe weitere Parteien völkerrechtlicher Verträge die Sonderfälle von Völkerrechtssubjekten wie der Malteser Orden, der Heilige Stuhl oder seit dem frühen 20. Jhdt. das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) zu nennen. 5 Mit der Ausweitung des Kreises der Völkerrechtssubjekte um von Staaten geU.N.T.S. 331, S. 1155 ff. Nicht um völkerrechtliche Verträge handelt es sich folglich bei rein privatrechtliehen Vereinbarungen, die nicht dem Bereich hoheitlicher Funktionen zugerechnet werden können, sondern die ein Staataufgrund seiner eigenen Rechtsordnung oder der seines Vertragspartners abschließt (Beispiel Ankauf eines Grundstücks), vgl. nur Georg Dahm/Jost Delbrück!Rüdiger Wolfrum, Völkerrecht 1/l, S. 28; Alfred VerdrossiRruno Simma, S. 341. 5 Zu diesen Völkerrechtssubjekten siehe statt vieler Alfred VerdrossiRruno Simma, S. 247 ff.; Volker Epping, in: Knut Ipsen (Hrsg.), Völkerrecht,§ 8 Rn. l-8. 3

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Teil 3: Auswirkungen von Globalisierung auf völkerrechtliche Verträge

schaffene internationale Organisationen6 erfuhr sodann auch der Kreis der potentiellen Vertragsparteien völkerrechtlicher Verträge eine entsprechende Erweiterung. Die Vertragsfähigkeit dieser partiellen und partikulären Völkerrechtssubjekte wird durch ausdrückliche (generelle oder spezielle) Bestimmungen im Gründungsvertragder Organisation oder durch ergänzende Auslegung des Gründungsvertrages im Sinne der "Implied-powers"-Lehre7 begründet. Dieneuere Völkerrechtspraxis gesteht außerdem stabilisierten De-facto-Herrschaften die Fähigkeit zum Abschluß von bilateralen wie auch Kollektivverträgen zu, ohne daß darin sogleich eine Anerkennung dieser Einheiten als Staat oder Regierung beschlossen liegt. 8 Neben diesen anerkannt vertragsfähigen Subjekten gibt es Grenzfälle, in denen Uneinigkeit über die Rechtsnatur des Vertrages und- damit verbunden- darüber herrscht, ob einer (oder mehrere) der Vertragspartner Parteien eines völkerrechtlichen Vertrages oder sonst daran beteiligt sein können. So ist insbesondere problematisch, ob auchprivate Rechtssubjekte Parteien völkerrechtlicher Verträge sein können. Der Abschluß von Verträgen zwischen Staaten und großen, inter- oder sogar transnational tätigen Wirtschaftsunternehmen ist in der Praxis ebenso üblich wie in der Doktrin lange anerkannt. 9 Gleichermaßen kommt es heute vielfach zu einer vertraglich geregelten Zusammenarbeit zwischen Staaten und internationalen NGOs, die nach nationalem Recht gebildet werden 10 und (jedenfalls) den nationalen Rechtsordnungen der Sitzstaaten unterstellt sind. Über die Rechtsnatur solcher Verträge zwischen Staaten und (ausländischen) Privaten besteht allerdings keine Einigkeit, da die Frage, ob und inwieweit diesen nichtstaatlichen Wirkungseinheiten eine Völkerrechtssubjektivität zukommen kann, weiterhin umstritten ist. Entsprechend bleibt auch die Erweiterung des

6 Die Auffassung, daß zwischenstaatliche internationale Organisationen Völkerrechtssubjekte sind, hat sich seit dem Rechtsgutachten des IGH zum Fall der Reparations for lnjuries suffered in the Service ofthe United Nations, ICJ Reports 1949, S. 172 ff., mittlerweile als allgemeine Auffassung durchgesetzt. Vgl. dazu statt aller Volker Epping, in: Knut Ipsen (Hrsg.), Völkerrecht, § 6; Alfred VerdrossiRruno Simma, S. 249 ff. 7 Kraft dieser leitet man aus dem Gesamtwerk des Vertrages eine Berechtigung zum Ausfüllen von Lücken des Vertrages ab, falls sonst der Vertragszweck nicht erreicht werden kann, vgl. lgnaz Seidl-Hohenveldem, Rn. 354 f.; Manuel Rama-Montaldo, 44 BYIL ( 1970), S. 111 ff. Auf diesem Wege begründete der IGH in seinem Rechtsgutachten zum Fall der Reparationsfor lnjuries suffered in the Service ofthe United Nations die Völkerrechtssubjektivität der Vereinten Nationen, ICJ Reports 1949, S. 185. 8 Alfred Verdross/Bruno Simma, S. 439 f.; Jochen Frowein, de facto-Regime, S. 94 ff. 9 Karl-Heinz Böckstiegel, Staat als Vertragspartner, passim. 10 Siehe dazu Michael Hempel, S. 49 ff.

B. Der Kreis der an völkerrechtlichen Verträgen beteiligten Parteien

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Kreises der potentiellen Parteien eines völkerrechtlichen Vertrages um diese privaten Akteure offen bzw. unklar. Nach einhelliger Auffassung besteht bei allen Verträgen zwischen staatlichen Partnern und privaten Rechtssubjekten grundsätzlich die Möglichkeit der Einordnung in eine nationale Rechtsordnung 11 , sei es über eine entsprechende Wahl der Vertragsparteien, sei es durch eine Zuweisung nach dem Internationalen Privatrecht. Mangels einer Unterstellung der Vereinbarung unter das Völkerrecht ist in diesem Falle auch die Frage nach der Völkerrechtssubjektivität des privaten Vertragsteiles nicht von entscheidender Bedeutung. Welche nationale Rechtsordnung zur Anwendung gelangen soll, ob die des staatlichen Vertragspartners, die des Heimatstaates des Privaten oder die eines Drittstaates, ist dagegen nicht immer einfach zu beantworten. Die Einordnung in das System des Internationalen Privatrechts kann sowohl wegen der staatlichen Beteiligung als Vertragspartei Schwierigkeiten aufwerfen, 12 als sich auch aufgrund der Machtposition des privaten Vertragspartners 13 sehr schwierig gestalten und würde den Regelungsnotwendigkeiten und der Stellung der Vertragsparteien häufig nicht gerecht. Verträge zwischen großen internationalen Wirtschaftsunternehmen auf der einen und kleinen, politisch schwachen Ländern auf der anderen Seite können hier ebenso als Beispiel dienen wie die Beziehungen zwischen internationalen Ölkonzernen und den Staaten, deren Bodenschätze sie aufgrundvon Verträgen wirtschaftlich nutzen. Eine Zuordnung von Verträgen zwischen Staaten und Privaten zum Völkerrecht wird von Teilen der Literatur zumindest für bestimmte "internationalisierte" Verträge für möglich gehalten. 14 Als solche werden beispielsweise Abkommen bezeichnet, die von staatlicher Seite aus durch zum Abschluß völkerrechtlicher Vgl. dazu Karl-Heinz Böckstiegel, Staat als Vertragspartner, S. 105 f. Mandenke nur an die Problematik, daß der Vertragsstaat- im Falle der Unterstellung des Vertrages unter dessen nationales Recht -letzteres nachträglich abändern kann, um auf diese Weise vertragliche Regelungen zu umgehen oder außer Kraft zu setzen. 13 Neben der Problematik, daß teilweise gar kein nationales IPR existiert, also eine Regelungslücke besteht, tritt häufig auch der Fall auf, daß das private Unternehmen nicht bereit ist, die mit der Anwendung einer fremden Rechtsordnung verbundenen Risiken in Kauf zu nehmen. Vgl. dazu Otto Kimminich/Stephan Hobe, S. 13 ff. 14 Karl-Heinz Böckstiegel, Staat als Vertragspartner, S. 146 ff.; Peter Fischer, S. 451; Gerard Jonathan, 23 AFDI (1977), S. 452 (458); Julio Barberis, 179 RdC (1983 I), S. 145 (160 ff.; 175); für eine umfassende Darstellung des Meinungsstandes zur rechtlichen Einordnung von Verträgen zwischen Staaten und Privaten vgl. Jutta Stoll, S. 28 ff., die hauptsächlich Vereinbarungen zwischen Staaten und ausländischen Investoren betrachtet, und auch Hans-Werner Rengeling, insbes. S. 73 ff., sowie Klaus Borchers, insbes. S. 139 ff. 11

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Teil 3: Auswirkungen von Globalisierung auf völkerrechtliche Verträge

Verträge befugte Stellen geschlossen und nicht ausdrücklich nationalem Recht unterstellt werden. 15 DieUnterstellung dieser Verträge unter das Völkerrecht wird dabei zumeist so begründet, daß es sich um Verträge inter pares handele, die inzident eine konkludente Anerkennung des Vertragspartners als Völkerrechtssubjekt beinhalteten. 16 Gerade die Möglichkeit einer Völkerrechtssubjektivität nichtstaatlicher Wirkungseinheiten wie z. B. NGOs wird überwiegend jedoch weiterhin verneint. 17 Entsprechend wird auch eine Unterstellung von Übereinkünften zwischen diesen und Staaten oder anderen Völkerrechtssubjekten unter das Völkerrecht abgelehnt.18 Allerdings wird teilweise auch bei Anerkennung der Völkerrechtssubjektivität nichtstaatlicher Akteure eine Zuordnung dieser Abkommen zum Völkerrecht negiert, weil in der weitaus größten Zahl der Fälle eine Anerkennung eines Gleichordnungsverhältnissesdurch die Rechtsgenossen nicht bestehe. Eine Ausdehnung des Völkerrechts auf nichtstaatliche Einheiten könne nur im Einvernehmen von zumindest zwei Staaten erfolgen, was jedoch gerade bei Verträgen zwischen Staaten und NGOs fehle. 19 Letzeres Argument führt zu der weiteren Frage, inwieweit es dadurch zu einer Erweiterung des Kreises der an einem völkerrechtlichen Vertrag beteiligten Parteien kommen kann, daß nichtstaatliche Entitäten an dem Völkerrecht unterstellten Übereinkünften beteiligt werden, indem ihnen vertraglich Berechtigungen eingeräumt oder/und Verpflichtungen auferlegt werden.

15 So die Definition von Alfred Verdross, 18 ZaöRV (1957/58), S. 635 (639 ff.), von der andere allerdings teilweise leicht abweichen. Zu anderen Möglichkeiten einer Unterstellung eines privatrechtliehen Vertrages unter das Völkerrecht siehe Georges van Hecke, in: Rudolf Bernhardt et al. (Hrsg.), Encyclopedia of Public International Law, Vol. I, S. 814 (817). 16 Statt aller vgl. Karl-Heinz Böckstiegel, Staat als Vertragspartner, S. 184, 344; Georg Schwarzenberg er, S. 10, sowie der Diskussionsbeitrag RudolfBindschedlers in: 5 BDGVR (1964), s. 232 f. 17 V gl. beispielsweise lgnaz Seidl-Hohenveldem, Rn. 911; Alfred Verdross/Bruno Simma, S. 251, 268; Hermann Rechenberg, in: RudolfBernhardt et al. (Hrsg.), Encyclopedia ofPublic International Law, Vol. III, S. 612 (617); Christoph Vedder, 27 GYIL (1984), S. 233 (248, 255). Siehe dazu auch unten Teil 3, B. II. 2. a) dd). 18 Z. B. Konrad Zweigert, 5 BDGVR (1964), S. 194 (209); Volker Epping, in: Knut Ipsen (Hrsg.), Völkerrecht,§ 8 Rn. 15; Heintschel von Heinegg, in: Knut Ipsen (Hrsg.), Völkerrecht, § 9 Rn. 8 ff. 19 So beispielsweise Michael Hempel, S. 78 f.

B. Der Kreis der an völkerrechtlichen Verträgen beteiligten Parteien

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II. lmplikationen der Globalisierung für den Kreis der potentiellen Beteiligten völkerrechtlicher Verträge Im vorangehenden ist der enge Zusammenhang zwischen dem Kreis der potentiell an einem völkerrechtlichen Vertrag beteiligten Parteien und dem der Völkerrechtssubjekte deutlich geworden. Der Kreis der Vertragsparteien wird wesentlich durch den der Völkerrechtssubjekte bestimmt, und entsprechend sind es auch diese, die über die Beteiligung dritter Parteien durch die vertragliche Einräumung von Rechts- oder Pflichtenpositionen entscheiden. Der Kreis der Völkerrechtssubjekte aber ist auch in der Gegenwart noch in starkem Maße durch den modernen souveränen Staat geprägt und auf diesen ausgerichtet, wenn auch gewisse Aufweichungen- beispielsweise durch die zunehmende Anerkennung einer beschränkten Völkerrechtssubjektivität des Individuumszu beobachten sind. Staaten sind die alleinigen originären Völkerrechtssubjekte und traditionell die zentralen Akteure des internationalen Systems. Bis auf die stabilisierten De-facto-Regime, die faktisch die Voraussetzungen der Staatlichkeil auf dem von ihnen beherrschten Gebiet erfüllen, 20 leiten alle übrigen Völkerrechtssubjekte ihre Rechtsstellung von den Staaten ab, weshalb sie auch als "gekorene" Völkerrechtssubjekte bezeichnet werden. Dies gilt für den traditionell von den Staaten als Völkerrechtssubjekt anerkannten Heiligen Stuhl,21 den Malteser Orden22 und das Internationale Komitee vom Roten Kreuz wie für die von Staaten geschaffenen internationalen Organisationen und auch das Individuum und Menschengruppen, deren partielle Völkerrechtssubjektivität durch die - im zwischenstaatlichen Rechtserzeugungsprozeß erfolgte- Kodifizierung des internationalen

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Volker Epping, in: Knut lpsen (Hrsg.), Völkerrecht,§ 8 Rn. 13 ff.

21 Dessen Völkerrechtssubjektivität trat so lange nicht in Erscheinung wie die Kirche auch über weltliche Macht in Form des Kirchenstaates verfügte. Sie zeigte sich aber in der Zeit, als dem Oberhaupt der katholischen Kirche kein Staatsgebiet zur Verfügung stand (1870-1929). Von dieser völkerrechtlichen Rechtsstellung streng zu trennen ist die Völkerrechtssubjektivität des 1929 durch die Lateran-Verträge geschaffenen Staates der Vatikanstadt, dessen verfassungsmäßiges Staatsoberhaupt der Papst ist. Vgl. dazu Otto Kimminich/ Stephan Hohe, S. 143 f.; Volker Epping, in: Knut lpsen (Hrsg.), Völkerrecht, § 8 Rn. 1 ff. 22 Dieser verfügte im Gegensatz zum Heiligen Stuhl, der zu keiner Zeit mit den Elementen des Staatsbegriffs ausgestattet war, noch bis 1798 über ein Staatsgebiet (Malta). Er hat sich insofern von einem politisch und rechtlich organisierten Gebiets- und Personenverband zu einem bloßen Personenverband mit beschränkter Völkerrechtspersönlichkeit zurückentwickelt. Man könnte daher statt von derivativer auch von ursprünglich originärer Völkerrechtssubjektivität sprechen. Zur Völkerrechtssubjektivität des Ordens siehe Volker Epping, in: Knut lpsen (Hrsg.), Völkerrecht,§ 8 Rn. 8 ff.; Otto Kimminich/Stephan Habe, s. 145.

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Teil 3: Auswirkungen von Globalisierung auf völkerrechtliche Verträge

Menschenrechtsschutzes begründet wurde. 23 Der Staat bringt durch seine Anerkennung die anderen Völkerrechtssubjekte zur Entstehung. Diese Staatenzentriertheil schlägt entsprechend auf die Völkerrechtsbildung mittels völkerrechtlicher Verträge und den Kreis der daran beteiligten Parteien durch.

1. Theoretische Überlegungen Globalisierung wirkt nunmehr aber, wie im ersten Teil der Arbeit dargestellt, in dreifacher Weise entstaatlichend und führt zu einer Veränderung und Verminderung der Stellung des Staates im internationalen System. Staatenübergreifende Problernlagen schaffen Regelungsnotwendigkeiten jenseits staatlicher Autorität, technologischer Fortschritt neue Regelungsbereiche, die die staatlichen Möglichkeiten übersteigen, und die ergriffenen Lösungsansätze spiegeln ebenfalls eine Relativierung der ehemals allein herausragenden Stellung des Nationalstaates wieder. Die tiefgreifende Natur dieser Veränderungen hat Hohe zu der Frage bewogen, ob das Zeitalter der Globalisierung das Ende des Völkerrechts bedeute, dessen eigentlicher Schöpfer seit der Entstehung des modernen Völkerrechts der Staat war. 24 Wenn auch das Ende des Völkerrechts nicht in Sicht sein dürfte, so können die Wirkungen der Globalisierung dennoch nicht ohne Folge für die Völkerrechtsbildung bleiben. An dieser Stelle soll der Frage nachgegangen werden, welches die Konsequenzen der tendenziellen Denationalisierung für den Kreis der potentiellen Beteiligten eines völkerrechtlichen Vertrages sein müßten und anhand von ausgesuchten Beispielen überprüft werden, ob und inwiefern die völkerrechtliche Praxis die theoretischen Überlegungen bestätigt. Im ersten Teil der Arbeit ist dargestellt worden, daß und wodurch der klassische Nationalstaat infolge der Globalisierung eine Autoritäts- und Effektivitätseinbuße erleidet. Dabei ist deutlich geworden, daß dieser Entwicklung und der damit verbundenen Bedeutungsabnahme allein durch eine verstärkte Kooperation der Staaten untereinander wie auch mit anderen, privaten Akteuren entgegengetreten werden kann. Während die Problemlösungskompetenz des einzelnen Staates infolge der Globalisierung abnimmt, wachsen die Bedeutung und die Einflußmöglichkeiten neuer international agierender Wirkungseinheiten dadurch, daß sie zunehmend in Strategien zur Lösung der den Staat überfordernden Aufgaben ein23 Volker Epping, in: Knut Ipsen (Hrsg.), Völkerrecht, § 8 Rn. 3 ff.; Thomas Franck, in: Rainer Hofmann (Hrsg.), Non-State Actors, S. 97 ff.; Stephan Hohe, in: Rainer Hofmann (Hrsg.), Non-State Actors, S. 115 ff. 24 Stephan Hohe, 37 AVR (1999), S. 253 (257).

B. Der Kreis der an völkerrechtlichen Verträgen beteiligten Parteien

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gebunden werden. Insgesamt kommt es so zu einer tendenziellen Gewichtsverlagerung zwischen den Akteuren des internationalen Systems. Vor diesem Hintergrund muß auch die primäre Ausrichtung des gesamten internationalen Systems und des Völkerrechts auf den Staat auf den Prüfstand gestellt werden. Nach hier vertretener Auffassung wird sich eine weitere Einbeziehung der zunehmend an Bedeutung gewinnen privaten Akteure faktisch und rechtspolitisch als unumgänglich erweisen. Faktisch ist in vielen Bereichen eine effektive Bekämpfung anstehender Probleme und Gefahren nur durch die Unterstützung durch und Beteiligung von NGOs und MNCs möglich und wird so zunehmend auch praktiziert. Wie bereits in Teil 1 angesprochen wurde25 und anhand von Beispielen im folgenden noch näher darzustellen sein wird, sind diese privaten Wirkungseinheiten zum Teil in nicht unerheblichem Maße in die staatliche Aufgabenerfüllung integriert bzw. übernehmen diese. Rechtspolitisch stellt sich daher die Frage, wie das Völkerrecht auch künftig universale Geltung beanspruchen will, wenn es diese gesellschaftlichen Akteure weitestgehend von der Völkerrechtserzeugung und -durchsetzung ausschließt. Nichtstaatlichen Akteuren, die als Interessenvertretungen der internationalen Gemeinschaft auftreten oder sogar ein globales öffentliches Interesse repräsentieren, muß ein ihrer Tätigkeit angemessener Platz im internationalen System zugesprochen werden. Die Inanspruchnahme einer umfassenden vorrangigen Rechtsetzungskompetenz durch den Staat ist um so fraglicher und die Einbeziehung nichtstaatlicher Akteure um so erforderlicher als durch die in Teil 1 dargestellten Entwicklungen Regelungsbereiche und -notwendigkeiten entstehen, die sich dem Einfluß des Staates faktisch entziehen und von der Mitwirkung der privaten Akteure abhängig sind. In diesen Zusammenhang sind auch die kontroversen Diskussionen um die Existenz und die rechtliche Einordnung "dritter Rechtsordnungen" wie Lex mercatoria und Lex informatica, die auf der Selbstorganisation der beteiligten Akteure basieren und ohne (wesentliche) staatliche Beteiligung entstehen, einzuordnen. 26 Der Bedeutung gesellschaftlicher Wirkungseinheiten wie z. B. bestimmter NGOs und MNCs könnte unter anderem durch deren Beteiligung an völkerrechtlichen Verträgen Rechnung getragen werden. Eine solche Partizipation ist wie bereits angesprochen zum einen durch einen Mitabschluß des Vertrages möglich und V gl. oben Teil l, A. II. 2. Eine ausführliche Darstellung der zu diesem Thema geführten Diskussionen würde den Rahmen dieser Arbeit übersteigen. Siehe dazu u. a. Gunther Teubner, in: ders. (Hrsg.), Global Law Without a State, S. 3 ff.; Hans-Joachim Mertens, ibid., S. 31 ff.; Peter Muchlinsky, ibid., S. 79 ff. ; Christoph Engel, 39 BDGVR (2000), S. 353 (406 ff.); zum Thema "Global Public Policy" vgl. Wolfgang Reinicke, passim. 25

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10 Hingst

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Teil 3: Auswirkungen von Globalisierung auf völkerrechtliche Verträge

zum zweiten durch die Einräumung von Beteiligungssrechten durch den betreffenden Vertrag. Die Zuerkennung einer Rolle der "Repräsentanten der Gesellschaftswelt"27 im Rahmen der praktisch bedeutendsten Völkerrechtsquelle, den völkerrechtlichen Verträgen, bedeutete eine auch normative Anerkennung der tendenziellen faktischen Gewichtsverlagerung zwischen den Akteuren des internationalen Systems und wertete entsprechend die faktische Position der nichtstaatlichen Wirkungseinheiten auf.

2. Bestätigung durch die völkerrechtliche Vertragspraxis? Im folgenden soll die völkerrechtliche Praxis auf Fälle der Beteiligung nichtstaatlicher Akteure an völkerrechtlichen Verträgen untersucht werden. Dabei wird mit der zweitgenannten Beteiligungsform-Verleihungvon Rechts- und Pflichtpositionen durch völkerrechtliche Vereinbarungen- begonnen, die gegenüber der Beteiligung der betreffenden Wirkungseinheiten als Vertragspartei ein Minus darstellt. Die Untersuchung wird exemplarisch an der Rolle von NGOs im Rahmen völkerrechtlicher Verträge vorgenommen, da die Bedeutungszunahme jener Subjekt bereits in Teil 1 als Faktor der Globalisierung dargestellt worden ist. Neben der Frage nach einer völkervertraglichen Zuerkennung von Rechts- und Pflichtpositionen an internationale NGOs ist im vorliegenden Zusammenhang außerdem von Interesse, in welchen Sachbereichen es zu einer so gearteten NGO-Partizipation kommt.

a) Rechts- und Pflichtenpositionen von NGOs im Rahmen völkerrechtlicher Verträge Die Beteiligung nichtstaatlicher Einheiten wie NGOs an völkerrechtlichen Vereinbarungen wird schwerpunktmäßig in bezug auf multilaterale Staatenverträge, völkerrechtliches Primärrecht also, untersucht. Die Vertragsbeteiligung von NGOs über Regelungen des sekundären, abgeleiteten Völkerrechts kann dagegen nur kurz angesprochen werden. Aufgrund folgender Überlegungen wird darüber hinaus auch auf eine Betrachtung von Verträgen zwischen einzelnen Staaten und privaten Wirkungseinheiten wie z. B. MNCs verzichtet: Über die Rechtsnatur dieser Art von Verträgen besteht wie bereits angesprochen erhebliche Uneinigkeit. Eine Zuordnung zum Völkerrecht wird überwiegend abgelehnt, weil es an einer Völker27 Siehe zu Begriff der "Gesellschafts weit" Ernst Otto Czempiel, 4 International Politics and Society ( 1998), http://www.fes.de/ipg/ipg4_98/artczempiel.html.

B. Der Kreis der an völkerrechtlichen Verträgen beteiligten Parteien

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rechtssubjektivitätdes privaten Vertragsteiles fehle. 28 Dessen Völkerrechtssubjektivität aus einer Anerkennung seitens des beteiligten Staates durch den Vertragsschluß inter pares abzuleiten, birgt dagegen die Gefahr eines Zirkelschlusses: Die private Wirkungseinheit ist Völkerrechtssubjekt, weil sie aus dem Vertrag Rechte und Pflichten nach Völkerrecht ableitet- der Vertrag wiederum wird dem Völkerrecht zugeordnet, weil er von Völkerrechtssubjekten abgeschlossen ist. Eine vertiefende Diskussion dieser Problematik ist im Rahmen der hier vorgenommenen Untersuchungen aus Raumgründen nicht möglich. Diese Fallkonstellationen werden daher ganz außen vor gelassen.

aa) Primärrecht (I) Menschenrechtsschutz Die klarsten Regelungen über eine NGO-Beteiligung im Rahmen völkerrechtlicher Verträge sind im Bereich des Menschenrechtsschutzes zu finden. So ermächtigt Art. 34 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) dem Menschenrechtsschutz gewidmete NGOs- gleichberechtigt mit den Vertragsstaaten und den geschützten Individuen - , dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eine Rechtssache vorzulegen. Eine ähnliche Regelung sieht Art. 44 der Amerikanischen Menschenrechtskonvention (AMRK) vor, durch den NGOs das Recht zur Einlegung von Beschwerden an die Amerikanische Menschenrechtskommission eingeräumt wird. Ein weiteres primärrechtlich statuiertes Beschwerderecht für NGOs ist in Art. 24 der Satzung der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) zu finden, wo Arbeitnehmer und -geberorganisationen das Recht verliehen wird, Verletzungen der ILO-Konvention durch bestimmte Vertragsparteien in dem dafür vorgesehenen Verfahren geltend zu machen. Auch die Struktur der ILO als solche, die Staatenvertreter ebenso wie Vertreter von Arbeitnehmern und Arbeitgebern als gleichberechtigte Mitglieder in sich vereint, spiegelt die besondere institutionelle und Operationelle Einbeziehung nichtstaatlicher Organisationen wider. Schließlich sei kurz auf das in Art. I (b) des Zweiten Zusatzprotokolls zur Europäischen Sozialcharta29 explizit vorgesehene Beschwerderecht für kompetente

28 Vgl. statt aller Alfred Verdoss/Bruno Simma, S. 25 I; lgnaz Seidl-Hohenveldem, Rn. 205; /an Brownlie, S. 67 ff.

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Bislang nicht in Kraft getreten.

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Teil 3: Auswirkungen von Globalisierung auf völkerrechtliche Verträge

NGOs hingewiesen, welches durch eine weitgehende Verfahrensbeteiligung der NGOs gestützt wird. Sämtliche Beschwerderechte stellen keine bloßen Rechtsreflexe, sondern subjektive Rechte dar, die den betreffenden NGOs unmittelbar durch die genannten völkerrechtlichen Verträge, völkerrechtlichem Primärrecht also, verliehen werden. Für den Sachbereich des internationalen Menschenrechtsschutzes wurde in Teil 1 sowohl gesellschaftliche als auch rechtliche Entstaatlichung, also Globalisierung festgestellt. Die Tätigkeit von NGOs auf diesem Gebiet ist wesentlicher Faktor der dort stattfindenden Globalisierung und ihre Einbindung in Staatenverträge als Reaktion der Staaten auf diese Entwicklung im Sinne einer Anerkennung der bedeutenden Rolle von NGOs für den Menschenrechtsschutz zu sehen. Die Staaten gehen die Problemlösung in Zusammenarbeit mit nichtstaatlichen Akteuren an und teilen zuvor ausschließlich dem staatlichen Zuständigkeitshereich zugeordnete Rechte mit den gesellschaftlichen Vertretern, die gleichzeitig darüber wachen, daß die Staaten ihre menschenrechtliehen Verpflichtungen einhalten.

(2) Umweltschutz Auch auf dem Umweltsektor sind NGOs Funktionen im Rahmen der Implementierung völkerrechtlicher Abkommen eingeräumt worden. So wurde beispielsweise durch Art. 8 der Convention on Wetlands of International Importance30 bis zur Ernennung einer Regierungsorganisation die International Union for the Conservation of Nature and Natural Resources (IUCN), eine- wenn auch hybride31 NGO, als nach der Konvention vorgesehenes Sekretariat eingesetzt. Dieselbe NGO hat darüber hinaus auch für nicht unerhebliche Zeit als Sekretariat der Convention on International Trade in Endangered Species of Wild Flora and Fauna (CITES) 32 fungiert.

11 I.L.M. (1972), S. 963 ff. Als "hybrid" werden solche NGOs bezeichnet, an denen Staaten und staatliche Einrichtungen sowie private, dem Umweltschutz gewidmete Institutionen beteiligt sind, siehe dazu Sonja Riedinger, S. 46 f. Zu ihrem 40. Jahrestag im Jahr 1988 waren 383 nationale und 33 internationale NGOS, 61 Staaten und 128 staatliche Einrichtungen in der IUCN vereinigt, vgl. Patricia Bimie/Alan Boyle, S. 77. 32 12 I.L.M. (1973), S. 1085. 30 31

B. Der Kreis der an völkerrechtlichen Verträgen beteiligten Parteien

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In ähnlicher Weise wurde SCAR33 an der Durchführung der Convention for the Conservation of Antarctic Seals34 beteiligt. 35 Dieser- wenn auch ebenfalls hybriden - wissenschaftlichen Organisation wird aufgrund ihrer Expertise ein Vorschlagsrecht für Vertragsänderungen eingeräumt, und sie wird mit wesentlichen Aspekten der Vertragsdurchführung betraut, denn nach Art. 5 (4) (a) soll sie "recommend programmes for scientific research" und "suggest amendments to the Annex". In besonderer Weise sieht die Desertifiction Convention36 eine Inpflichtnahme von NGOs zu Zwecken der Durchsetzung des Konventionszieles vor. Der Text dieser Konvention enthält an 22 Stellen explizite Verweise auf NGOs, die wesentlich in den der Konvention zugrundeliegenden "Bottom-up"-Ansatz eingebunden werden sollen. 37 ArtikelS der Konvention verpflichtet die betroffenen Vertragsstaaten unter anderem, "to promote awareness and facilitate the participation of local populations ... with the support of non-governmental organizations in efforts to combat desertification and mitigate the effects of drought" (Hervorhebungen von der Verfasserin). Damit verpflichten sich die Vertragstaaten zur Bildung eines Verbundes mit nichtstaatlichen Akteuren, durch den sowohl das Expertenwissen der NGOs als auch deren Nähe zur lokalen Gemeinschaft für Implementierungszwecke nutzbar gemacht werden kann. Dieser Pflicht muß das Recht der betroffenen NGOs korrelieren, ihre Einbindung in die Durchsetzung der Konvention zu verlangen. 38 So eröffnet auch die Regelung ihrer Einbeziehung in die Planung, Entscheidungsfindung, Umsetzung und Überprüfung von "national action programmes" durch Art. 10 (2) (f) der Konvention den Staaten kein Ermessen hinsichtlich der Einbeziehung nichtstaatlicher Organisationen, und Art. 13 (I) (b) und Art. 14 (2) erlauben ein selbständiges Tätigwerden der NGOs zur Bekämpfung der Wüstenbildung als selbstverständlich.39

Scientific Committee on Antarctic Research. 3.-11. Februar 1972, II I.L.M. (1972), S. 251 ff., in Kraft getreten am II. März 1978. 35 Sonja Riedinger, S. 117 f. 36 International Convention to Combat Desertification in Countries Experiencing Serious Drought and/or Desertification, Particularly in Afrika (im folgenden: Desertification Convention), 33 I.L.M. (1994), S. 1328 ff. 37 Siehe dazu und für eine Interpretation der Konvention Kyle Danish, 3 IJGLS ( 1995), http://www.law.indiana.edu/glsj/vol3/nol/danish.html (Stand: 26.07.1999); Michael Hempel, S. 101 ff. 38 So auch Sonja Riedinger, S. 316. Michael Hempel, S. 103; Kyle Danish, 3 IJGLS (1995), http://www.law.indiana.edu/glsj/vol3/no 1/danish. html (Stand: 26.07.1999). 39 Sonja Riedinger, S. 316 f. 33

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Teil 3: Auswirkungen von Globalisierung auf völkerrechtliche Verträge

In unterschiedlichen internationalen Übereinkünften ist zudem eine Beraterund/oder Beobachterfunktion für NGOs vorgesehen. So statuiert die UNESCO Convention for the Protection of the World Cultural and Natural Heritage40 in Art. 8 (3) für einen Vertreter der IUCN das Recht, als Berater an den Sitzungen des Weltkulturerbekomitees teilzunehmen. Die Beraterfunktion kann auf Antrag der Vertragsstaaten zudem auf die Vertreter anderer NGOs ausgedehnt werden. Artikel XI (7) der Convention on International Trade in Endangered Species of Wild Flora and Fauna (CITES)41 spricht ebenfalls ausdrücklich von einem Recht nichtstaatlicher Organisationen zur Teilnahme, und Art. 22 (7) der Desertifiction Convention42 , Art. 6 (5) der Vienna Convention for the Protection of the Ozone Layer43 und Art. 7 der United Nations Framework Convention on Clirnate Change44 regeln ebenfalls die Teilnahme von NGOs an den Vertragsstaatenkonferenzen, welche unter anderem der Beurteilung und weiteren Planung der Durchsetzung der Konventionsziele dienen. Schließlich sei auf den Beobachterstatus für zu Konferenzen eingeladene NGOs hingewiesen, der in Verfahrensregel 65 der United Nations Conference on the Environment and Development (UNCED) vorgesehen ist. Die Beteiligung der NGOs ist in den letztgenannten Fällen zwar schwächer ausgestaltet, weil deren Teilnahmegesuch durch ein Drittel der Vertragsstaaten abgelehnt werden kann, so daß die NGOs nicht über einen Rechtsanspruch auf Beteiligung verfügen. Die Beobachterfunktionen bedeuten aber dennoch eine Beteiligung bei der Implementierung der betreffenden Abkommen, da auch sie im weiteren Sinne die Konventionsdurchsetzung fördern. 45 Eine im Ansatz vergleichbare Inpflichtnahme von NGOs zu Zwecken der Durchsetzung von Konventionszielen wird auch in Art. 38 der- rechtsunverbindlichen- Agenda 21 zur Durchsetzung der Rio Deklaration gesehen, der NGOs als Partner bei der Durchsetzung der Ziele der Agenda 21 sieht und darüber hinaus die Schaffung eines Non-Governmental Earth-Council vorschlägt.46 In Teil I wurde festgestellt, daß es im Sachbereich Umwelt zu den drei hier unterschiedenen Formen von Globalisierung kommt, nämlich gesellschaftlicher, 11 I.L.M. (1972), S. 1358. 121.L.M. (1973), S. 1085. 42 Desertification Convention, 33 I.L.M. (1994), S. 1328 ff. 43 26 I.L.M. (1986), S. 1529. 44 311.L.M. (1992), S. 849. 43 So beispielsweise Stephan Hobe, 37 AVR (1999), S. 152 (166). 46 Vgl. dazu Sally Morphet, in: Peter Willetts (Hrsg.), The Conscience of the Wor1d, S. 116 (137); Stephan Hobe, 37 AVR (1999), S. 152 (166 f.). 40

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B. Der Kreis der an völkerrechtlichen Verträgen beteiligten Parteien

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faktischer und rechtlicher Denationalisierung. Angesichts dieser Situation bedienen sich die Staaten der Hilfe der NGOs bei der Durchsetzung der Verträge und übertragen ihnen zu diesemZwecke Funktionen, deren Wahrnehmung traditionell Staatsaufgabe war. Diese Form der Vermittlung staatlich gebildeten Willens soll dessen Akzeptanz erhöhen und so eine effektivere Implementierung ermöglichen.

(3) Humanitäres Völkerrecht Aus dem Bereich des Humanitären Völkerrechts soll an dieser Stelle nur die United Nations Convention on the Prohibition of the Use, Stockpiling, Production and Transfer of Antipersonal Mines and Their Destruction47 genannt werden, die NGOs eine wesentliche Rolle im Rahmen nationaler Programme zum Abbau von Antipersonenminen einräumt. Den Vertragsstaaten wird die Möglichkeit eingeräumt, ihrer Pflicht des Beitrags zum Abbau der Minen durch beauftragte NGOs nachzukommen, und es wird ihnen das Recht gewährt, die Hilfe von NGOs zu diesem Zwecke zu verlangen. Diese Regelung birgt grundsätzlich eine Drittwirkungsproblematik, die sich in der Praxis aber wohl kaum stellen dürfte, weil dem Organisationszweck der kompetenten NGOs der Wille und die Bereitschaft zur Mitarbeit immanent sind. Auf den breit gefächerten Kreis der weiteren möglichen Berechtigungen und Verpflichtungen von NGOs im humanitären Völkerrecht soll aus Raumgründen nicht eingegangen werden. Dafür sei auf die einschlägige Spezialliteratur verwiesen. 48 Das humanitäre Völkerrecht ist nicht Gegenstand der Untersuchungen im ersten Teil der Arbeit gewesen, da es nicht zu den typischen von der Globalisierung betroffenen Seichbereichen zählt. Eine Verbindung könnte allenfalls zur Problematik des globalen Waffenhandels gesehen werden, die geeignet ist, Auswirkungen auf die Kriegsführung zu erzeugen. Aus folgenden Gründen fügt sich die Partizipation von NGOs im Bereich des humanitären Völkerrechts dennoch in das von der Globalisierung gezeichnete Bild ein: Das humanitäre Völkerrecht i. e. S. betrifft unmittelbar den Schutz von Personen in bewaffneten internationalen Konflikten. Die Initiativen zu seiner Fortentwicklung gingen während der vergangenen fünf Jahrzehnte überwiegend von nichtregierungsamtlichen Institutionen aus, deren Neutralität ihnen gegenüber den Staaten einen Verhandlungs- und möglicherweise einen Vertrauenvorteil gibt. Zu nennen ist dabei vor allem das Internationale 36 I.L.M. (1997), S. 1507. Vgl. beispielsweise Yves Beigbeder, Rote and Status, passim, und ders., Le Röte International, passim. 47

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Teil 3: Auswirkungen von Globalisierung auf völkerrechtliche Verträge

Komitee vom Roten Kreuz (IKRK), dessen Bemühungen sich vertraglich in den vier Genfer Konventionen von 1949 niedergeschlagen haben. Deren Fokus zielt wie bei Menschenrechtsverträgen auf die betroffenen Personen, nicht auf den Staat. Während Menschenrechtsverträge allerdings auf den "Normalzustand" des Friedens zugeschnitten sind und in ihrer Ausgestaltung der Menschenrechtsstandards der staatlichen Souveränität Rechnung tragen, befaßt sich das humanitäre Völkerrecht schwerpunktmäßig mit dem Schutz des einzelnen gegenüber den Krieg führenden Staaten und ist insofern bereits seiner Natur nach weniger staatsund damit souveränitätsgebunden.49 Dem Staat werden durch das ius in bello vielmehr Beschränkungen in der Kriegsführung und der Wahl der Waffen auferlegt, ohne daß er Rechte zu Lasten der betroffenen Personen erhält. In diesem Zusammenhang ist auch die oben angesprochene Landminenkonvention zu sehen. Die Tatsache, daß eine Partizipation von NGOs auch in Bereichen gegeben ist, die weniger mit Globalisierung in Zusammenhang stehen, bedeutet nicht notwendigerweise einen Widerspruch zu der anfangs geäußerten und bislang bestätigten Annahme, daß eine grundsätzliche Verbindung zwischen der zunehmenden NGOBeteiligung und den Wirkungen der Globalisierung zu sehen ist. Sie kann auch so interpretiert werden, daß die globalisierungsbedingte Entwicklung auf weitere Sachbereiche übergegriffen hat bzw. dort übernommen wurde, denn Globalisierung ist ein dynamisch fortschreitender Prozeß, dessen Wirkungen nicht auf die primär betroffenen Bereiche beschränkt bleiben. Die Wahrscheinlichkeit einer solchen Entwicklung ist auf solchen Gebieten besonders gegeben, in denen NGOs auch zuvor bereits eine Rolle gespielt haben, so daß der Schritt zu ihrer Beteiligung ein kleinerer ist. 5°

(4) Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen51 Auch bei der Kodifizierung des internationalen Seerechts durch das SRÜ wurde denneueren Entwicklungen des Völkerrechts Rechnung getragen und neben den Staaten jedenfalls potentiell auch anderen Akteuren der Weg zum Seegerichtshof eröffnet. Dieser steht nach Art. 20 (1) seines Statuts zunächst den Vertrags49 Vgl. zu diesem Aspekt Asb)91rn Eide, FS Pictet, S. 675 ff.; ähnlich auch Raymond Ranjeva, 270 RdC (1997), S. 9 (70); David Held/Anthony McGrew/David Goldblatt/ Jonathan Perraton, S. 71 f. 50 Eine solche Vorreiterrolle hat auch das IKRK gespielt, dessen völkerrechtliche Rechtsstellung bereits zu einer Zeit entstand, zu der nach hier vertetener Ansicht noch nicht von Globalisierung gesprochen werden konnte. 51 Vom 10. Dezember 1982, BGBI. 1994 II, S. 1799.

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staaten offen. Artikel 20 (2) 1. HS des Statuts sieht darüber hinaus den Zugang für diejenigen natürlichen und juristischen Personen vor, denen auch der Zugang zur Kammer für Meeresbodenstreitigkeiten eröffnet ist. In Art. 20 (2) 2. HS i. V. m. Art. 21 des Statuts wird die Zuständigkeit des Seegerichtshofs sodann erstreckt auf ,jede Streitigkeit, die aufgrundeiner sonstigen Übereinkunft unterbreitet wird, die dem Gerichtshof die von allen Parteien dieser Streitigkeit angenommene Zuständigkeit überträgt". Die betreffende Übereinkunft muß nach Art. 288 (2) SRÜ lediglich mit den Zielen des SRÜ zusammenhängen, also irgendeinen seerechtlichen Bezug aufweisen. Da nicht von einem völkerrechtlichen Vertrag die Rede ist, sondern lediglich von einer Übereinkunft, kann es sich auch um Abkommen unter Beteiligung von nichtstaatlichen Organisationen handeln. Für die Zuständigkeit des Seegerichtshofs wird allein vorausgesetzt, daß sich die Parteien in einer Übereinkunft gleich welcher Rechtsnatur darauf geeinigt haben. Allerdings fehlt es bis dato noch an Übereinkünften dieser Art, mit denen NGOs bewußt die Fähigkeit übertragen wird, internationales Recht unmittelbar umzusetzen. Grundsätzlich ist aber eine Parteifähigkeit auch von NGOs vor dem Internationalen Seegerichtshof vorgesehen.

bb) Sekundärrecht Die verschiedenen Berechtigungen, welche NGOs aus sekundärem Völkerrecht ableiten, sollen aus Raumgründen nur in äußerster Kürze angesprochen werden. 52 Zu nennen sind hier insbesondere die auf Art. 71 der UN-Charta53 basierenden Resolutionen des Wirtschafts- und Sozialrates der Vereinten Nationen 288b (X) vom 27.02.1950 und 1296 (XLIV) vom 23.05.1968, die NGOs aufgeteilt nach bestimmten Kategorien Konsultativ- und Beobachterstatus mit unterschiedlichen Rechten und Pflichten einräumen. Ähnliche Regelungen finden sich bei anderen Organen der Vereinten Nationen sowie bei verschiedenen Sonderorganisationen der Vereinten Nationen. 54 Auch Beschwerdeverfahren mit Beteiligungsrechten für NGOs sind im sekundären Völkerrecht geregelt, vgl. etwa das 1503-Verfahren vor Für eine ausführliche Darstellung siehe Michael Hempel, insbes. S. 127 ff. Artikel 71 UN-Charta selbst ist in bezug auf eine Berechtigung von NGOs recht aussageschwach, da er lediglich dem Wirtschafts- und Sozialrat die Möglichkeit einräumt, geeignete Vorkehrungen für Konsultationen mit NGOs zu treffen. 54 So z. 8. bei der UNESCO, UNICEF, UNEP und UNCTAD. Vgl. dazu Klaus Hüfner, in: Rüdiger Wolfrum (Hrsg.), United Nations Law, Palieiesand Practice II, S. 927 (931 ); Karsten Nowrot, 6 IJGLS (1999), S. 579 (625 ff.); Yves Beigbeder, Le Röte International, S. 38 ff.; Sonja Riedinger, S. 68 ff. 52

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Teil 3: Auswirkungen von Globalisierung auf völkerrechtliche Verträge

der Menschenrechtskommission des Wirtschafts- und Sozialrates oder das in Resolution 104 EX/3 des Exekutiv Komitees der UNESCO geregelte Beschwerdeverfahren für in den Zuständigkeitsbereich dieser Organisation fallende Menschenrechtsverletzungen.55 Durch ihre Tätigkeit als amici curiae vor internationalen Gerichten56 schließlich tragen NGOs nicht nur zur Durchsetzung internationalen Rechts bei, sondern nehmen darüber hinaus Einfluß auf die Interpretation bestehender Regeln und manchmal auch die Schöpfung neuen Rechts.

cc) Zwischenergebnis Zusammenfassend läßt sich somit feststellen, daß es im völkerrechtlichen Primärrecht wie im sekundären Völkerrecht heute bereits eine nicht unerhebliche Zahl von Rechts- und Pflichtpositionen für NGOs gibt und daß diese nichtstaatlichen Akteure gerade bei der Implementierung internationaler Übereinkommen in vielfältiger Weise beteiligt werden. Mit der Einbeziehung von NGOs in Beschwerde- und Gerichtsverfahren übernehmen diese Aufgaben, die traditionell typischerweise zur Domäne des Staates gezählt wurden.

dd) Schlußfolgerung: Völkerrechtssubjektivität nichtstaatlicher Organisationen? Dieser Befund gibt Anlaß zu der Frage nach dem Rechtsstatus der betreffenden NGOs nach Völkerrecht. Stellen sie bereits abgeleitete Subjekte des Völkerrechts dar, und welche Folgerungen wären daraus für die hier untersuchte Beteiligung von NGOs an völkerrechtlichen Verträgen zu ziehen? Überwiegend wird eine Völkerrechtssubjektivität dieser nichtstaatlichen Akteure weiterhin abgelehnt. Angesichts der vorangehend aufgezeigten Einbindung von NGOs in verschiedene völkerrechtliche Verträge muß diese grundsätzliche Ablehnung aber zunehmend in Zweifel gezogen werden. 57 55 V gl. dazu Michael Hempel, S. 127 ff., der außerdem auf das Mitteilungsverfahren der ILO zum Schutze der Koalitionsfreiheit und auf das Verfahren der Weltbank nach der Weltbanksreso1ution 93-10 eingeht. Siehe außerdem Stephan Hohe, 37 A VR (1999), S. 152 (163); ders., 5 IJGLS (1997), S. 191 (204). 56 Für Nachweise vgl. oben Tei11, B. II. 5. d). 57 Eine umfassende Diskussion der Frage nach der Völkerrechtssubjektivität nichtstaatlicher Akteure kann allerdings an dieser Stelle schon aus Raumgründen nicht vorgenommen werden. Dafür sei auf die einschlägige Spezialliteratur verwiesen, z. B. Hermann Mosler, 22 ZaöRV (1962), S. 1 ff.; Michael Hempel, passim; Stephan Hohe, 37 AVR (1999), s. 152 ff.

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Völkerrechtssubjektivität wird im allgemeinen als die Fähigkeit definiert, Träger völkerrechtlicher Rechte und Pflichten zu sein. Diese sind nach überwiegend in der Völkerrechtswissenschaft vertretener Ansicht allein aus Normen des Völkerrechts ableitbar. 58 AllgemeineVoraussetzung einer (abgeleiteten) Völkerrechtssubjektivität ist zunächst, daß es sich bei der betreffenden Wirkungseinheit um eine auf Dauer angelegte und mit einer bestimmten Zielsetzung ausgestattete, handlungsfähige (mind. ein Organ) Wirkungseinheit handelt. Zum anderen muß der Wille der Staatengemeinschaft erkennbar werden, die Wirkungseinheit zum Völkerrechtssubjekt zu erheben, denn Völkerrechtssubjektivität ist das Produkt aus der faktischen Teilhabe am internationalen System und der Anerkennung dieser Position durch die Gemeinschaft. 59 Bei internationalen Organisationen läßt sich der Wille zur Zuerkennung einer Völkerrechtssubjektivität in der Regel aus dem zwischenstaatlichen Gründungsdokument ableiten. Da es eben an diesem staatlichen Kreationsakt bei anderen internationalen Wirkungseinheiten wie z. B. NGOs und MNCs fehlt, muß

58 Vgl. dazu statt vieler Ceorg Dahm/Jost Delbrück/Rüdiger Wolfrurn, Völkerrecht 1/l, S. 22; Alfred VerdrossiRruno Sirnrna, S. 221 f.; Julio Barberis, 179 RdC (1983 1), S. 145 (166); lngrid Detter, Law Mak.ing, S. 21; Bemhard Döll, S. 22; Kar[ Zernanek, Vertragsrecht, S. 21 ff., 27; weitere Nachweise bei Michael Hernpel, S. 62 (Fn. 25). Ob weitere Voraussetzungen an die Rechtsstellung zu stellen sind und ggf. welche, wird unterschiedlich beurteilt. Diskutiert wird insbesondere, ob einem Völkerrechtssubjekt eine Vielzahl von Rechten und Pflichten zustehen muß oder ob die Gewährung einer einzigen Rechtsposition genügt. Julio Barberis, 179 RdC (1983 1), S. 145 (167 f.), hält beispielsweise schon eine einzige Rechtsposition für ausreichend. Für die Notwendigkeit der Zuerkennung einer Vielzahl von völkerrechtlichen Rechten und Pflichten sprechen sich dagegen Cerasirnos Fourlanos, 53 NTIR (1984), S. 9 (22); Karl Zernanek, 7 ÖZöR (1956), S. 335 (349), und David Feldrnann, 191 RdC (1985 II), S. 342 (359), aus. Darüber hinaus ist umstritten, ob die Rechtsträgerschaft von der Durchsetzbarkeil der Rechtsposition vor internationalen Einrichtungen abhängig zu machen ist. Dies wird zumeist im Zusammenhang mit der völkerrechtlichen Berechtigung von Individuen verlangt. Vgl. Shigeki Miyazaki, FS Mosler, S. 581 (589); Alfred VerdrossiRruno Sirnrna, S. 256; Julio Barberis, 179 RdC (1983 1), S. 145 (187 f.). Nach hier vertretener Ansicht ist die Durchsetzbarkeil nicht zwingend erforderlich. Daraus, daß die überwiegende Zahl von Rechtsnormen durchgesetzt werden kann, können nicht notwendig Schlüsse für den Begriff des Rechts gezogen werden (Robert Alexy, S. 168 Fn. 32). Auch im innerstaatlichen Bereich wird von subjektiven Rechten gesprochen, ohne daß es auf die Möglichkeit der Durchsetzbarkeil ankommen würde (z. B. im Fall der Naturalobligationen). Für die Begründung einer Völkerrechtssubjektivität reicht daher die Trägerschaft von Rechten und Pflichten aus. Die Frage der Durchsetzbarkeil stellt lediglich eine Konsequenz dieser Rechtsträgerschaft dar. So auch Cerasirnos Fourlanos, 53 NTIR (1984), S. 9 (22); A. Obilade, 141JIL (1974), S. 90 (91); Michael Hernpel, S. 67 ff., 80 f.; in bezugauf den Rechtscharakter des Völkerrechts auch Ceorg Dahm/Jost Delbrück!Rüdiger Wolfrurn, Völkerrecht 1/l, S. 34 ff. Für eine Erörterung dieses Meinungsstandes siehe u. a. Michael Hernpel, S. 67 ff. 59 Stephan Hobe, 5 IJGLS (1997), S. 191 (201); ders., 37 AVR (1999), S. 152 (158).

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Teil3: Auswirkungen von Globalisierung auf völkerrechtliche Verträge

der Wille der Staaten zur Verleihung von Völkerrechtssubjektivität aus anderen Dokumenten in der Form zwischenstaatlicher Übereinkünfte entnommen werden. In internationalen Normen, die Wirkungseinheiten Rechte und Pflichten nach Völkerrecht verleihen, spiegelt sich wesentlich die Anerkennung dieser Subjekte durch die Staatengemeinschaft wider. Bei einer solchen dogmatischen Vorgehensweise60 wird deutlich, daß es hier nicht um die generelle Feststellung gehen kann und soll, ob nichtstaatliche Wirkungseinheiten wie NGOs und MNCs insgesamt zu den Völkerrechtssubjekten zu zählen sind. Es soll vielmehr geklärt werden, ob die grundsätzliche Möglichkeit einer Völkerrechtssubjektivität solcher Entitäten anzuerkennen ist und wo dies aufgrund konkreter an solche Einheiten verliehener, völkerrechtlicher Rechte und Pflichten der Fall ist. Legt man die NGO-Definition des Wirtschafts- und Sozialrates der Vereinten Nationen aus seiner Resolution 288b (X) zugrunde, so erfüllen die davon erfaßten NGOs die erste Voraussetzung, daß es sich um eine auf Dauer angelegte und mit einer bestimmten Zielsetzung ausgestattete, handlungsfähige Wirkungseinheit handeln muß. 61 Subsumiert man sodann auch die vorstehend dargestellten Berechtigungen für NGOs aus völkerrechtlichen Verträgen unter diese Definition, so gelangt man zu dem Ergebnis, daß den betreffenden NGOs zumindest im Hinblick auf die ihnen verliehenen Rechtspositionen Völkerrechtssubjektivität zugesprochen werden muß. 62 Dies bedeutet keine automatische umfassende Gleichstellung 60 Diese ist allgemein anerkannt, wie die ausdrückliche Zuerkennung einer Völkerrechtssubjektivität an das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) durch die vier Genfer Konventionen von 1949 und die Zusatzprotokolle von 1977 zeigt. Dem IKRK wird durch das 3. und 4. Genfer Abkommen (über die Behandlung der Kriegsgefangenen vom 12. August 1949, BGBI. 195411, S. 838 ff., und zum Schutze von Zivilpersonen in Kriegszeiten vom 12. August 1949, BGBI. 1954 II, 917 ff., ber. 1956 II, S. 1586) sowie in Art. 5 des I. Zusatzprotokolls vom 8. Juni 1977 (BGBI. 1990 II, S. 1551 ff.) die Rechtsposition als Ersatzschutzmacht verliehen, vgl. nur Volker Epping, in: Knut lpsen (Hrsg.), Völkerrecht, § 8 Rn. 4; lgnaz Seidl-Hohenverldem, Rn. 920. 61 Nach Resolution 288b (X) vom 27.02.1950 ist unter einer NGO jede internationale Organisation zu verstehen, die nicht durch ein zwischenstaatliches Abkommen errichtet wurde. Diese Definition wurde durch die Resolution 1296 (XLIV) vom 23.05.1968 insofern erweitert, als daß auch Organisationen eingeschlossen werden, die von staatlichen Stellen bestimmte Mitglieder aufnehmen, allerdings ohne dadurch in ihrer Freiheit der Willensäußerung beeinträchtigt zu sein. Unter Organisation werden dabei soziologisch die Institutionen, Gruppen und sozialen Gebilde verstanden, die ein gemeinsames Ziel verfolgen, dabei geplant arbeitsteilig gegliedert sind und ihre Aktivität auf eine gewisse Dauer ausgerichtet haben, vgl. Wemer Fuchs-Heinritz, Organisation, in: ders. et al. (Hrsg.), Lexikon zur Soziologie, S. 478. 62 Für eine partielle Völkerrechtssubjektivität sprechen sich auch aus Heribert Köck, in: Hanspeter Neuhold/Waldemar Hummer/Christoph Sehreuer (Hrsg.), ÖHdbVR, S. 211; Hennann Mosler, 22 ZaöRV (1962), S. 1 (2); J. J. Lador-Lederer, 23 ZaöRV (1963),

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mit den Staaten, als den originären Völkerrechtssubjekten, denn die Völkerrechtssubjektivität der NGOs ist sowohl inhaltlich auf die ihnen eingeräumten Rechtspositionen beschränkt (partielle- Völkerrechtssubjektivität), als auch hinsichtlich der Gruppe anderer Völkerrechtssubjekte, zu denen Völkerrechtsbeziehungen gegeben sind. Dies sind allein die Parteien des jeweiligen Vertrages (partikuläre Völkerrechtssubjektivität).63 Die Anerkennung einer beschränkten Völkerrechtssubjektivität ist auch im Hinblick auf die Möglichkeit einer Haftbarmachung von NGOs für von ihnen begangene Völkerrechtsverstöße sinnvoll. 64 Hierfür ist die Boykottoperation von Greenpeace im Fall der Versenkung der Brent-Spar-ÖlPlattform durch den Shell Konzern ein deutliches Beispiel. Fraglich ist nun, welches die Konsequenzen dieser Völkerrechtssubjektivität sind oder sein müßten. An dieser Stelle ist insbesondere von Interesse, ob sich daraus Folgen für die Beteiligung von NGOs beim Abschluß völkerrechtlicher Verträge ergeben.

b) Beteiligung von NGOs als Parteien völkerrechtlicher Verträge Wie bereits im ersten Teil der Arbeit angesprochen, werden NGOs zunehmend in die Erarbeitung internationaler (zwischenstaatlicher) Übereinkommen einbezogen und nehmen auf diese Weise aktiv auf die Gestaltung des darin geregelten neuen Völkerrechts Einfluß. 65 Die Initiative zur Schaffung neuer Abkommen geht in vielen Fällen von NGOs aus, die Entwürfe dafür gestalten, welche sodann den

S. 657 (658); Jost Delhrück, in: U. Bartosch/J. Wagner (Hrsg.), Weltinnenpolitik, S. 55 (64); Michael Hempel, S. 192; Stephan Hohe, 37 AVR (1999), S. 152 (172); ders., 5 IJGLS (1997), S. 191 (207 ff.). 63 Daß Rechtssubjekte in einem System nicht notwendigerweise ihrer Natur und dem Umfang ihrer Rechte nach identisch sind, hat der IGH bereits in seinem Rechtsgutachten zum Fall der Reparations for lnjuries suffered in the Service of the United Nations, ICJ Reports 1949, S. 178, betont. 64 Vgl. dazu den Diskussionsbeitrag Stephan Hohes in: Rainer Hofmann (Hrsg.), NonState Actors, S. 74: "( ... ), because of the maxim necessitas facit Legern we can just not afford to allow NGOs to act in the international sphere without any legal regulation of their behaviour." Ähnlich auch Ruth Wedgewood, in: Rainer Hofmann (Hrsg.), Non-State Actors, S. 21 (32): "Without international personality, NGOs may avoid any adequate schema of responsability." 65 Die Wirkensweise von NGOs auf solchen Konferenzen wurde bereits im ersten Teil dieser Arbeit beschrieben, vgl. oben Teil 1, A. II. 2. Für einen historischen Abriß der Beteiligung von NGOs an Konferenzen der Vereinten Nationen siehe Michael Hempel, S. 162 ff.

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Teil 3: Auswirkungen von Globalisierung auf völkerrechtliche Verträge

Verhandlungen der Staatenvertreter zugrunde gelegt werden. 66 In bezugauf die Sachthemen, denen solche Verhandlungen und die an deren Ende stehenden Verträge gewidmet sind, fällt auf, daß diese sehr oft aus Bereichen stammen, für die in Teil 1 dieser Arbeit Globalisierung im Sinne von Denationalisierung festgestellt worden ist. 67 Die so geartete Einflußnahme ist zwar nur schwer meßbar, aber in verstärktem Maße existent und von substantieller Bedeutung. Es handelt sich dabei allerdings um eine rein faktische, indirekte Teilhabe an der Schaffung des neuen Völkervertragsrechts, weil NGOs nicht die Rolle gleichberechtigter Verhandlungspartner zukommt, 68 sondern sie nur vermittelt über die Beeinflussung der Staatenvertreter wirken. Die Ausübung direkt (völker-)rechtsschaffender Funktionen ist eine seltene Ausnahme. 69 66 Beispielsweise geht die Antipersonenminenkonvention, 361.L.M. (1997), S. 1507, wesentlich auf das Engagement von NGOs zurück und auch die Initiative für die AntiFolterkonvention, CITES und die Wetlands-Convention ging maßgeblich von NGOS aus. Kofi Annan weist in seinem Report ofthe Secretary-General on the Work ofthe Organization 1998, Chapter 5, S. 180, auf die maßgebliche Beteiligung der mehr als 200 NGOs an der Arbeit auf der Staatenkonferenz von Rom hin und schreibt in diesem Zusammenhang von einem "unprecedented Ievel of participation by civil society in a law-making conference", http://www.un.org/Docs/SG!Report98/ch5.htm (Stand: 29.01.1999). 67 In Teil 1 wurde bereits auf die United Nations Conference on the Environment in Rio 1992, die Wiener Menschenrechtskonferenz von 1993, die Conference on Population and Development in Kairo 1994 und auch die World Women' s Conference in Bejing 1995 hingewiesen. Im Jahr 1998 fand zudem eine von der Commission on Sustainable Development initiierte Konferenz statt, auf der der politische Kurs hinsichtlich der Fragen nachhaltiger Entwicklung und insbesondere der Rolle der Industrie in diesem Zusammenhang diskutiert wurde. Vollständig gleichberechtigte Teilnehmer an dieser Konferenz waren- erstmals bei einer Zusammenkunft im Rahmen der Vereinten Nationen- nicht nur Regierungen, sondern auch der private Sektor, Gewerkschaften und gesellschaftliche Organisationen. Für eine umfassendere Übersicht über die Beteiligung von NGOs an Konferenzen der Vereinten Nationen von 1976 bis 1996 vgl. den Report des Generalsekretärs, UN Doc. E/AC.70/ 1994/5, 33 ff.; eine Übersicht über die Akkreditierung von NGOs an Umweltkonferenzen ist zu finden bei lngomar Hauchler/Dirk Messner/Frank Nuscheler (Hrsg.), Globale Trends 2000, s. 287. 68 Ihr Konsultativstatus verleiht ihnen das Recht zur Abgabe kurz zu haltender Äußerungen und zur Einreichung schriftlicher Beiträge, vgl. ECOSOC Res. 1996/31 (U .N. ESCOR, 49th Sess., Supp. No. 1, 54; U.N. Doc. E/1996/96 (1996)), 51, 52. 69 Beispiele dafür sind die International Air Traffic Association (IATA), deren Kompetenz im Hinblick auf die Gestaltung der Beförderungstarife anerkannt ist, und im Bereich des internationalen Handelsrechts die Internationale Handelskammer, die z. B. bei der Gestaltung von Incoterms (Standardklauseln im internationalen Handelsverkehr) rechtsschaffend tätig wird. Beide Organisationen üben darüber hinaus auch streitschlichtende Funktionen aus. Die Internationale Handelskammer besitzt das Recht zur Streitschlichtung zwischen privaten Rechtssubjekten wie auch zwischen Staaten und Privaten. Die IATA verfügt über einen Streitschlichtungsmechanismus für Verstöße gegen IATA Agency

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Man könnte nun überlegen, ob durch die derivative Völkerrechtssubjektivität, die NGOs durch die Einräumung völkervertraglicher Rechtspositionen erlangen können, eine Entwicklung in Richtung einer noch weitergehenden Beteiligung dieser nichtstaatlichen Akteure - durch deren Aufnahme in den Kreis der Mitglieder bestirnrnter völkerrechtlicher Verträge- vorgezeichnet ist. Dabei ist jedoch zu beachten, daß es sich bei der aufgezeigten Rechtsstellung der NGOs stets nur um eine partielle und partikuläre Völkerrechtssubjektivität handelt, die über den Rahmen des sie begründenden Vertrages hinaus wenig aussagekräftig ist. Eine automatische Berechtigung zum Abschluß völkerrechtlicher Verträge ist damit nicht verbunden. Dazu ist es, soweit hier bekannt, auch nur in einem einzigen Fall, dem der World Tourism Organization, gekornrnen. Nach Art. 7 (I) des Statuts dieser zwischenstaatlichen Organisation steht nichtstaatlichen internationalen Organisationen mit besonderem touristischem Schwerpunkt eine sog. angeschlossene Mitgliedschaft offen, aus der ihnen unterschiedliche Rechte70 und Verpflichtungen71 erwachsen. Diese besondere Form der Beteiligung mag darauf zurückzuführen sein, daß die World Tourism Organization durch die Umwandlung des nichtstaatlichen internationalen Verbandes der amtlichen Fremdenverkehrsorganisationen entstanden ist. 72 Im übrigen stößt bereits die Anerkennung einer beschränkten Völkerrechtssubjektivität von NGOs auf erhebliche Skepsis und Ablehnung, wenn auch die zunehmende Bedeutung dieser Akteure kaum noch bestritten wird. Das Zugeständnis einer weitestgehend gleichberechtigten Mitgliedschaft in völkerrechtlichen Verträgen ist aus diesem Grunde vorerst nicht zu erwarten. Dies bestätigt auch die ECOSOC Resolution 1996/31 vom 25.07.199673 , mit der die über mehrere Jahre geführten Verhandlungen über eine Anpassung der Konsultativbeziehungen mit NGOs vorerst abgeschlossen wurden. 74 Diese ersetzt die Resolution Agreements. V gl. dazu Kay Hailbronner, in: Rudolf Bernhardt et al. (Hrsg.), Encyclopedia ofPublic International Law, Vol. II, S. 1047 (1049); J. W. S. Brancker, insbes. S. 63 f., 66 ff.; Karl-Heinz Böckstiegel, 59 AJIL (1965), S. 579 ff. 70 Beispielsweise Rechte zur Beteiligung an der Arbeit der Organe der Organisation, u. a. in Art. 7 (5), 7 (6), 9 (3), 14 (3) des Statuts. 71 So z. B. in bezugauf die Finanzierung der Organisation, Art. 25 des Statuts. 72 Siehe dazu Klaus Dicke, in: Rüdiger Wolfrum (Hrsg.), United Nations Law, Policies and Practice II, S. 1501 ff.; Jorge Castaneda, 16 AFDI (1970), S. 625 ff. 73 U.N. ESCOR, 49th Sess., Supp. No. 1, 54; U.N. Doc. E/1996/96 (1996). 74 Die Überarbeitung der Konsultativbeziehungen war durch ECOSOC Res. E 1993/80 beschlossen worden, die die Einsetzung einer offenen und zeitlich unbegrenzten Arbeitsgruppe vorsah, an der sich alle bei den Vereinten Nationen akkreditierten NGOs beteiligen konnten ("General Review of Arrangements for Consultation with Non-Governmental Organizations"). Ein kurzer zusammenfassender Überblick über die wesentlichen Punkte der Verhandlungen ist zu finden bei Stephan Hobe, 37 AVR (1999), S. 152 (167 ff.). Die Ergebnisse der Arbeitsgruppe aus den Jahren 1994-1996 sind veröffentlicht: Report of the

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Teil 3: Auswirkungen von G1obalisierung auf völkerrechtliche Verträge

1296 aus dem Jahre 1968 und stellt die Zusammenarbeit mit NGOs im Rahmen der Vereinten Nationen auf eine neue rechtliche Grundlage. In den Verhandlungen wurde zwar z. B. eine substantielle Verbreiterung der Beteiligungsmöglichkeiten der NGOs auf andere Ausschüsse neben dem ECOSOC und auf die Sonder- und Hilfsorganisationen und auch eine Erweiterung der Beteiligungsrechte von NGOs auf großen UN-Konferenzen diskutiert. Die daraus resultierende Resolution 1996/31 aber beschränkt sich im wesentlichen darauf, die bereits vorhandenen Befugnisse der NGOs zu bestätigen. Die Teilnahme an UN-Konferenzen bedarfbeispielsweise der ausdrücklichen vorherigen Akkreditierung, NGOs dürfen sich nur mit kurz zu haltenden Äußerungen zu Wort melden und Ziffer 50 der Resolution stellt klar, daß "in recognition of the intergovernmental nature of the conference and its preparatory process, active participation of non-governmental organisations therein, while welcome, does not entail a negotiating roJe." Vorerst bleiben NGOs daher auf die faktische, indirekte Einflußnahme ohne normative Absicherung weiterer Beteiligungsrechte beschränkt. Daß eine weitere Anpassung der Konsultativbeziehungen bei Erforderlichkeit offen gehalten wurde und die Tatsache, daß es dem ECOSOC erforderlich schien bzw. wert war, die Rolle der NGOs auf Staatenkonferenzen ausdrücklich festzustellen, spricht allerdings für eine Ahnung der Staaten, sich auf absehbare Zeit einer Erweiterung der Partizipationsmöglichkeiten von NGOs nicht weiter verschließen zu können.

111. Ergebnis

Die einleitende Bestandsaufnahme hinsichtlich der traditionell an völkerrechtlichen Verträgen beteiligten Parteien hat einen engen Zusammenhang zwischen diesen, dem Kreis der Völkerrechtssubjekte und- damit verbundender zentralen Rolle des Nationalstaates deutlich werden lassen. Es wurde die These aufgestellt, daß die globalisierungsbedingte Veränderung und die verminderte Stellung des Staates im internationalen System eine vermehrte Einbindung nichtstaatlicher Wirkungseinheiten erforderlich macht. Die Untersuchung der völkervertragsrechtliehen Praxis am Beispiel NGOs hat gezeigt, daß Open-Ended Working Group on the Review of Arrangements for Consultation with NonGovemmental Organizations, U.N. ESCOR, 49th Sess. Agenda ltem 12, 1; U.N. Doc. E/1994/99 (1994); Report ofthe Open-Ended Working Group on the Review of Arrangements for Consultation with Non-Govemmental Organizations on its Second Session, U .N. ESCOR, Agenda ltem 10, 1; U.N. Doc. E/1995/83 (1995); Open-Ended Working Group on the Review of Arrangements for Consultation with Non-Govemmental Organizations: Report of the Working Group on its Third Session, U.N. ESCOR, 4th Sess., 1; U.N. Doc. EIAC. 7011996/2 (1996).

B. Der Kreis der an völkerrechtlichen Verträgen beteiligten Parteien

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dies zunehmend, gerade auch in von Globalisierung betroffenen Sachbereichen, der Fall ist. Nichtstaatliche Einheiten werden auf unterschiedliche Weise in die vertraglichen Regelungen mit einbezogen, um den sich durch die Globalisierung ändernden Anforderungen gerecht zu werden. Die in Teil 1 festgestellte Entstaatlichung zeigt somit direkte Auswirkungen auf den Kreis der Beteiligten an völkerrechtlichen Verträgen. Darin spiegeln sich die in Teill dargestellten Veränderungen wider, denn: Faktische Entstaatlichung ist einer der Gründe für eine weitere Einbindung von NGOs in die staatliche Aufgabenerfüllung. Die Übertragung ehemals staatlicher Aufgaben auf nichtstaatliche Einheiten stellt per definitonem rechtliche Entstaatlichung dar. Infolge ihrer vermehrten Einbindung gewinnen die nichtstaatlichen Akteure zunehmend an Größe und Einfluß, was wiederum die gesellschaftliche Denationalisierung befördert. Die Entstehung sog. dritter Rechtsordnungen in der Form von Verregelungen zwischen privaten Akteuren ohne wesentliche staatliche Beteiligung (Iex mercatoria, Iex informatica), kann zudem als Entstaatlichung der Rechtsetzung gewertet werden. Das Zusammenspiel dieser Entwicklungen führt zu einem neuen Verhältnis der Staatenwelt zur (durch nichtstaatliche Akteure repräsentierten) Gesellschaftswelt Die Einflußnahme der gesellschaftlichen Wirkungseinheiten auf die staatliche Meinungsbildung und deren Instrumentalisierung zur Vermittlung des staatlich gebildeten Willens- wie im Fall des "Bottom-up"-Ansatzes in der Desertification Convention- sind Anzeichen für einen allmählichen Wandel des Völkerrechts zu einer weniger streng etatistischen Ordnung, in der auch anderen internationalen Akteuren und den Interessen, die diese vertreten, Bedeutung eingeräumt wird. 75 Dabei wird in gleichem Maße, wie das internationale öffentliche Recht private Wirkungseinheiten stärker einbezieht, auch deren Verhalten zunehmend- d. h. über eine freiwillige Bindung, z. B. durch sog. "codes of con75 So auch Stephan Hohe, 37 AVR (1999), S. 152 (174); ders., 37 AVR (1999), S. 253 (281). Der beschriebene Wandel des Völkerrechts wird auch als dessen Entwicklung zu einer Art "Weltinnenrecht" bezeichnet. Vgl. dazu lost Delbrück, in: U. Bartosch/J. Wagner (Hrsg.), Weltinnenpolitik, S. 55 ff., der sich auch auf die Erscheinung der Erga-omnes-Normen bezieht (siehe zu dazu auch unten Teil 3, D. III. 1. a) dd); ders. , in: Winfried Kühne (Hrsg.), Blauhelme in einerturbulenten Welt, S. 101 ff. Vgl. dazu auch den Punkt "Konstitutionalisierung", unten Teil 3, D. II. 3.

II Hingst

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Tei13: Auswirkungen von Globalisierung aufvölkerrechtliche Verträge

duct" für MNCs hinaus 76 - an der internationalen öffentlichen Ordnung zu messen sein. 77 NGOs sind nur ein Beispiel für diese Entwicklung des Völkerrechts, jedoch ein substantielles, denn eine Vielzahl von NGOs repräsentiert Gemeinschaftsinteressen, die über die Belange des Einzelstaates hinausgehen. Entsprechend führt ihre Beteiligung häufig zu einer Stärkung der Ausrichtung multilateraler Verträge auf übergeordnete Interessen der Staatengemeinschaft und damit zu einer inhaltlichen Beeinflussung des "Endproduktes". Auch wird der Entscheidungsprozeß durch NGO-Beteiligung insgesamt diskursiver, denn die auf internationaler Ebene getroffenen Entscheidungen sind nicht mehr allein über die - im Idealfall - gewählte Staatsregierung auf den Bürger zurückzuführen, sondern dieser konnte über die NGO-Beteiligung zusätzlich Einfluß nehmen. 78 Die ursprüngliche Mediatisierung des Bürgers durch den Staat wird damit um eine weitere, selbständigere Möglichkeit der Mitwirkung des einzelnen ergänzt.79 Dies wird zunehmend wichtiger, da die gesellschaftliche Denationalisierung auch für die Ausübung von Demokratie von erheblicher Bedeutung ist. Die grenzüberschreitende Vernetzung der Gesellschaften und die Relativierung des Territoriums als Bezugsraum bringen an den Nationalstaat gebundene Demokratie in bestimmten Fragen schon heute an ihre Grenze. 80 Vor diesem Hintergrund nimmt die Bedeutung der Einflußnahmemöglichkeit über NGOs weiter zu. Zwar sind die meisten Vertreter von NGOs nicht durch allgemeine öffentliche Wahlen zur Erfüllung eines bestimmten Handlungsauftrages legitimiert und vermögen die entsprechenden Entscheidungsverfahren daher nicht wirklich im

76 Zu dieser Problematik siehe Norbert Horn, in: ders. (Hrsg.), Legal Problems of Codes of Conduct, S. 45 ff. 77 So auch Stephan Habe, 37 A VR ( 1999), S. 253 (281). 78 Auch wenn der Einfluß der NGOs auf die getroffenen Entscheidungen im einzelnen schwer nachzuweisen ist und sich der Einsatz des einzelnen auch hier nur indirekt auswirken kann, ist diese Einflußnahmemöglichkeit dennoch nicht zu unterschätzen, da mit zunehmender Teilnahme der NGOs im internationalen System auch sie an Bedeutung und Kraft gewinnt. 79 Die angesprochene Mediatisierung des Menschen durch den Staat wurde lange Zeit als umfassend verstanden. Heute ist dagegen weitestgehend anerkannt, daß sie zumindest im Bereich des Menschenrechtsschutzes des Individuums zu einem gewissen (zunehmenden) Grad aufgehoben ist. Vgl. zu dieser Entwicklung Stephan Habe, Der offene Verfassungsstaat, S. 216 ff. 80 David Held/Anthony McGrew/David Goldblatt/Jonathan Perraton, S. 446; Anthony McGrew, in: David Held/ders. (Hrsg.), Global Transformations Reader, S. 405 ff.

C. ,.treaty making process" und Struktur völkerrechtlicher Verträge

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technischen Sinne zu demokratisierenY Bei vielen größeren Organisationen herrschen zudem um der Effektivität Willen hierarchische Strukturen vor, und die Entscheidungsgewalt ist auf eine sehr begrenzte Zahl von Mitgliedern beschränkt. 82 Dennoch ist die Gesamtheit der internationalen NGOs aufgrundihrer Vielzahl und des breiten Spektrums der vertretenen Interessen geeignet, die vielfältigen Interessen und Bedürfnisse der betroffenen Gruppen zu repräsentieren und in die jeweilige Entscheidungsfindung einzubringen - eine Funktion, die ihnen auch sowohl von öffentlicher wie auch von offizieller Seite zuerkannt wird. Sie schaffen durch ihre bereits beschriebene Arbeitsweise zudem die für eine öffentliche Kontrolle notwendige Transparenz. Wenn auch diese Punkte keinen direkten Ersatz für fehlende oder unzureichend ausgeprägte demokratische Strukturen darstellen können, so kann die vorrangig an bestimmten Werten ausgerichtete Arbeit von NGOs dennoch insgesamt als ein wichtiger Beitrag zur Demokratisierung gewertet werden.83

C. Auswirkungen auf den "treaty making process" und die Struktur völkerrechtlicher Verträge Die im ersten Teil der Arbeit dargestellten Erscheinungsformen der Globalisierung sind auch für den "reaty making process", d. h. die Art und Weise, wie völkerrechtliche Verträge geschlossen bzw. später abgeändert werden, von Bedeutung. Festzustellen sind außerdem verschiedene Veränderungen in der Vertragsstruktur. Alle drei Punkte sollen exemplarisch anband je eines Beispiels dargestellt werden.

81 Es sei nicht klar, wie breit die hinter ihnen stehende Öffentlichkeit ist. Als NegativBeispiel werden insbesondere die sog. grauen NGOs- industrie-finanzierte, nur scheinbar unabhängige "Öko"-Verbände- genannt, vgl. Carl Deal, passim. 82 Vgl. Thilo Bode, Spiegel Spezial 1995 (11 ), S. 122. 83 So auch Daniel Thürer, in: Rainer Hofmann (Hrsg.), Non-State Actors, S. 21 (46); Hilmar Schmidt/lngo Take, APuZ 1997, B 43, S. 12 (14); vgl. außerdem Anne Peters, Teil6, V., im Erscheinen. Zu dem Problem der Legitimität und Legitimation von NGOs siehe auch Marianne Reisheim, APuZ 1997, B 43, S. 21 ff. Insbesondere vonseitender Entwicklungsländer wird allerdings die allgemeine Dominanz und Prägung der Agenda durch westliche NGOs kritisiert, vgl. dazu Abram Chayes/Antonia Hand/er Chayes, S. 270, und Karsten Nowrot, 6 IJGLS (1999), S. 579 (601).

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Teil 3: Auswirkungen von G1obalisierung auf völkerrechtliche Verträge

I. Vertragsschluß im "Consensus"-Verfahren Bei Beschlußfassungen auf internationaler Ebene hat sich in den vergangenen drei Jahrzehnten eine Technik herausgebildet, die als "Consensus"-Verfahren bezeichnet wird. Dieses zeichnet sich dadurch aus, daß nicht die positive Zustimmung aller Beteiligten erforderlich ist, sondern das Fehlen ausdrücklicher Gegenstimmen genügt. Eine förmliche Abstimmung findet nicht statt. Erhebt kein Vertreter einen Einwand gegen das anstehende Beschlußthema, so stellt der Verhandlungsleiter den "Consensus" der Teilnehmer fest, und der betreffende Punkt gilt als angenommen.84 Diese Verfahrensweise wird sowohl bei der Verabschiedung von Resolutionen und bei der Setzung von Sekundärrecht durch die Organe internationaler Organisationen angewendet als auch bei der Ausarbeitung von multilateralen Verträgen. 85 Erstmalig 1961 im Weltraumausschuß der Vereinten Nationen gebraucht86, ist das "Consensus"-Verfahren des weiteren bei besonders sensiblen Beschlüssen der UN-Generalversammlung- z. B. der Friendly Relations Declaration87, der Aggressionsdefinition88, der Convention on the Prevention and Punishment of Crimes against Internationally Proteeted Persons, including Diplomatie Agents89 sowie der International Convention on the Taking of Hostages90 - und auch im Rahmen der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa91 zur Anwendung gekommen. Prominentestes Beispiel eines im "Consensus"-Verfahren beschlossenen völkerrechtlichen Vertrages ist das Seerechtsübereinkom84 Siehe dazu u. a. Kar[ Zemanek, in: Ronald Macdona1d/Doug1as Johnston (Hrsg.), The Structure and Process oflnternational Law, S. 857 ff.; Erik Suy, in: Rudo1fBernhardt et al. (Hrsg.), Encyclopedia ofPublic International Law, Vol. I, S. 759 ff.; Rüdiger Wolfrum, in: Hans Hattenhauer/Werner Ka1tefleiter (Hrsg.), Mehrheitsprinzip, Konsens und Verfassung, S. 79 ff. ; zu verschiedenen Formen des "consensus" : Giuseppe Sperduti, 2 IYIL (1976), s. 33 ff. 85 Z. B. Verfahrensregel30 der International Civil Aviation Organization; Verfahrensregel 23 des United Nations University Council; Verfahrensregel 30 der United Nations Space Conference; Überblick über die Anwendung des "Consensus"-Verfahrens im Rahmen der Vereinten Nationen (Organe, Unterorgane, Sonderorganisationen) bei Herve Cassan, 10 AFDI (1974), S. 456 ff. 86 Vgl. UN Doc. NAC.105/PV.2. 87 GA Res. 2625 (XX) vom 24.10.1970, 9 I.L.M. ( 1979), S. 1292 ff. 88 Definition of Aggression, GA Res. 3314 (XXIX) vom 14.12.1974, 14 I.L.M. (1975), s. 588 ff. 89 GA Res. 3166 (XXVIII) vom 14.12.1973, 13 I.L.M. (1974), S. 41 ff. 90 GA Res. 341146 vom 17.12.1979, abrufbar unter http://www.un.org/documents/ga/res/ 34/a34resl46.pdf (Stand: 27.09.2000). 91Verfahrensregel 6.4. Seit dem 01 .01 .1995 umbenannt in Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa.

C. "treaty making process" und Struktur völkerrechtlicher Verträge

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men der Vereinten Nationen92 , in dessen Art. 161 (8) (e) diese Technik Eingang gefunden hat. 93 Aber auch in einer Vielzahl anderer Verträge ist die Beschlußfassung im Konsens zum Regelfall gemacht worden und richtige Abstimmungen sind nur noch als letzter Ausweg für den Fall vorgesehen, daß ansonsten kein Beschluß zustande kommen würde. 94 Insbesondere in Fällen, in denen aufgrundder Opposition oder der Bedenken einflußreicher Staaten eine Beschlußfassung durch Votum scheitern oder jedenfalls das Ergebnis in der Effektivität erheblich beeinträchtigt würde, kann auf dem Wege des "Consensus"-Verfahrens teilweise doch noch zu einer Regelung gefunden werden. Wegen der dabei notwendigerweise erheblich umfassenderen und dadurch regelmäßig gründlicheren Vertragsverhandlungen wird der Abstimmung durch "Consensus" nicht lediglich technische Bedeutung, sondern auch eine wichtige Rolle für die Herausbildung einer "community-consciousness" der beteiligten Staaten beigemessen. Diese ist eine wesentliche Voraussetzung dafür, daß die Staaten sich auf Regelungen verständigen können, die den gemeinsamen Interesse aller Staaten dienen und nicht die Interessen einzelner Staaten oder einer bestimmten Staatengruppe in den Vordergrund stellen.95 Aus demselben Grunde wird mit dem "Consensus"-Verfahren vielfach die Erwartung bzw. Hoffnung verbunden, daß der so getroffene Beschluß stärkeren Rückhalt bei den beteiligten Staaten findet. Handelt es sich bei dem angenommenen Text um einen Vertrag, so wird entsprechend die Chance, daß dieser möglichst umfassend unterzeichnet und ratifiziert wird und schnell in Kraft tritt, als groß bewertet. 96 92

Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen vom 10.12.1982, BGB!. 1995 li,

s. 602.

93 V gl. dazu die Erklärung des Präsidenten der Konferenz aus dem Jahre 1973, UN Doc. A/CONF.62/30/Rev.1. Die Verhandlungen der Konferenz sind allerdings nicht ausschließlich im "Consensus"-Verfahren, sondern zusätzlich nach Maßgabe des sog. "Package-dea1"Prinzips geführt worden. Dabei werden die verschiedenen Regelungsgegenstände derart zueinander in Beziehung gesetzt, daß ein "consensus" nur hinsichtlich ihrer Gesamtheit festgestellt werden kann, vgl. Heintschel von Heinegg, in: Knut Ipsen (Hrsg.), Völkerrecht, § 10 Rn. 12. 94 Art. 26 (4) Convention on the Transboundary Effects of Industrial Accidents vom 17. März 1992,31 I.L.M. (1992), S. 1333; Art. 15 (3), 16 (3) United Nations Framework Convention on Climate Change vom 9. Mai 1992, 31 I.L.M. (1992), S. 1141 ; Art. 19 (3), 20 (4) Kyoto Protocol vom 10. Dezember 1992, 371.L.M. (1998), S. 22; Art. 17 (3), 18 (3) Convention on the Contro1 of Transboundary Movement of Hazardous Wastes and Their Disposa1 vom 22. März 1989,28 I.L.M. (1989), S. 657; Art. 29 (3), 30 (3) Framework Convention on Biological Diversity vom 22. Juni 1992, 31 I.L.M. (1992), S. 818.

So beispielsweise Bruno Simma, 250 RdC (1994 VI), S. 217 (326 f.). Erik Suy, in: Rudolf Bernhardt et al. (Hrsg.), Encyclopedia of Public International Law, Vol. I, S. 759 (760); Kar! Zemanek, in: Ronald Macdonald/Douglas Johnston (Hrsg.), The Structure and Process of International Law, S. 857 (878); auch bereits Herve Cassan, 10 AFDI (1974), S. 456 (468). 95

96

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Teil3: Auswirkungen von Globalisierung auf völkerrechtliche Verträge

Dies ist gerade im Zusammenhang mit den sich infolge der Globalisierung ergebenden Regelungsnotwendigkeiten, die in vielen Sachbereichen eine weitreichende Kooperation der Staaten unabdingbar machen, von Wichtigkeit. 97 So gewinnt das ursprünglich nicht im Zusammenhang mit der Globalisierung entwickelte "Consensus"-Verfahren Bedeutung bei der Erarbeitung von Lösungsansätzen für globalisierungsbedingt auftretende oder dadurch verstärkte Probleme. Gegen die Beschlußfassung im "consensus" wird angebracht, daß inhaltlich häufig nur der kleinste gemeinsame Nenner erreicht werde, weil nur so Widersprüche verhindert werden könnten. 98 Die auf diesem Wege geschaffenen Normen seien nur wenig konkret und daher unpräzise. 99 Vonseiten der Entwicklungsländer wurden außerdem Bedenken geäußert, daß mit dem "Consensus"-Verfahren den entwickelten Staaten quasi eine Veto-Möglichkeit an die Hand gegeben werde, mit der diese eine Anpassung der internationalen Rechtsordnung an die Bedürfnisse der Entwicklungsländer verhindern könnten. 100 Diese Kritik ist teilweise sicherlich berechtigt. Es bleibtjedoch zu bedenken, daß ein kleiner gemeinsamer Nenner, der über eine breite Akzeptanz verfügt und von den Staaten umgesetzt wird, größere Effektivität besitzen kann als ein Regelungswerk mit höheren Standards, das nicht die Unterstützung bestimmter besonders einflußreicher Staaten oder der Hauptverursacherstaaten besitzt. Dies gilt um so mehr, als bei der Verabschiedung eines Vertragstextes im "Consensus" die Erklärung weitreichender Vorbehalte ausgeschlossen sein dürfte, da dies der grundlegenden Idee des "Consensus"-Verfahrens zuwiderliefe. 101 Auch sieht sich ein Staat, der am Ende aus Opposition den im "Consensus" beschlossenen Vertrag nicht ratifiziert, der Kritik unsolidarischen Verhaltens ausgesetzt, was angesichts der heute weitreichenden Verdichtung der

97 So (ohne Bezug aufGlobalisierung) bereits Louis Sohn, 69 AJIL (1975), S. 310 (353): "The process of codification of intemationallaw is being replaced by the process of development ofthat law, and of its adaptation to new requirements of intemationallife and of justice and equity. The new law must have behind it the maximum possible support; otherwise the whole effort might have a hollow ring." 98 Daniel Vignes, 69 AJIL (1975), S. 119 (121); Jean Monnier, 31 ASDI (1975), S. 31 (43 f.). 99 Jean Monnier, 31 ASDI (1975), S. 31 (43 f. , 46). 100 Vgl. das Zitat des mexikanischen Vertreters Castafieda bei Herve Cassan, 10 AFDI (1974), S. 456 (473, Fn. 48): "Nous ne devonspasnon plus perrnettre qu'un pays, ou un petit groupe de pays, puisse disposer juridiquement d'un pouvoir suffisant pour empecher que Ia Communaute internationale adopte une solution qui trouve un fort appuy en son sein." (UN Doc. NC.l/PV.l933). 101 So auch Erik Suy, in: RudolfBemhardt et al. (Hrsg.), Encyclopedia ofPublic International Law, Vol. I, S. 759 (760).

C. "treaty making process" und Struktur völkerrechtlicher Verträge

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internationalen Beziehungen zu einem nicht unerheblichen Druckmittel werden kann. 102 Was die Genauigkeit der Regelungen anbelangt, so verfügen auch durch Abstimmung verabschiedete Formulierungen häufig nicht über einen maßgeblich höheren Präzisionsgrad und lassen wesentliche Fragen offen. Die Bedenken der Entwicklungsländer schließlich sind grundsätzlich sicher begründet. Die Einflußmöglichkeit der entwickelten Staaten ist aber auch bei der Beschlußfassung durch Abstimmung nicht maßgeblich geringer, so daß dieser Kritikpunkt, so berechtigt er in der Sache auch ist, kein besonders starkes Argument gegen die Technik des "consensus" darstellt. Im übrigen bleibt allen Staaten die Möglichkeit, eine Abstimmung über den Text des Vertrages (der Resolution etc.) zu fordern . Insgesamt überwiegen die Chancen, die diese Beschlußtechnik in besonders sensiblen Sachbereichen zu bieten vermag. Das "Consensus"-Verfahren kann eine Einigung in wesentlichen Punkten ermöglichen, wo auf dem Abstimmungswege keine Vereinbarung zu erzielen wäre. Insbesondere in Kombination mit den unten noch anzusprechenden Methoden der "legislation by reference" und der Verwendung von Rahmenverträgen bietet es eine Möglichkeit, die Staatengemeinschaft auch in schwierigen Bereichen mit hohem Regelungsbedarf stückweise in die erforderliche Richtung zu bewegen.

II. Änderung von Verträgen ("amendment procedure") Auch hinsichtlich des Verfahrens bei der nachträglichen Änderung von Verträgen sind Entwicklungen zu verzeichnen, die nicht direkt auf die Globalisierung zurückgehen mögen, die aber infolge der durch diese eintretenden Veränderungen eine neue Bedeutung erlangen und zudem beschleunigt werden. Das traditionelle Verfahren zur Änderung völkerrechtlicher Verträge findet sich in den Art. 39 ff. WVRK beschrieben: Die Vertragsparteien schließen über die vorzunehmende Änderung eine Übereinkunft, auf die (sofern der Vertrag nichts anderes vorsieht) dasselbe Verfahren Anwendung findet wie beim ersten Abschluß eines Vertrages, Art. 39 WVRK. Für mehrseitige Verträge stellt Art. 40 (4) WVRK klar, daß die Änderungsübereinkunft nur für diejenigen Vertragsstaaten Wirkung entfaltet, die auch Partei des Änderungsübereinkommens geworden sind. Abweichend von dieser traditionellen, die staatliche Souveränität betonenden Regelung sind zunehmend sog. vereinfachte Änderungsverfahren ("simplified 102

Vgl. Hans Ballreich, FS Mosler, S. 1 (10).

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Teil 3: Auswirkungen von Globalisierung auf völkerrechtliche Verträge

amendment procedures") zu finden. Diese lassen sich im wesentlichen in drei Gruppen einteilen: Änderungsverfahren, die auf der direkten Zustimmung der einzelnen Vertragsstaaten beruhen (Konsensprinzip), solche, die dissentierenden Staaten eine Möglichkeit des "opting out" eröffnen 103, und drittens die Verfahren, die Vertragsänderungen mit Wirkung für alle Vertragsparteien durch Mehrheitsentscheidung zulassen (Legislativprinzip 104). Teilweise reicht zur Änderung eine Beschlußfassung durch das zuständige Organ bzw. die zuständige Konferenz aus. 105 Vielfach tritt jedoch als zweite Stufe das Erfordernis der Ratifikation des Änderungsübereinkommens durch alle oder eine bestimmte Mehrheit der Vertragsstaaten hinzu. Einstimmigkeits- und Mehrheitsentscheidungen bzw. -ratifizierungen können auf den beiden Stufen in unterschiedlicher Weise miteinander kombiniert werden, wodurch sich verschiedene Variationen des Konsens- und des Legislativprinzips ergeben. 106 Ohne diese hier umfassend behandeln zu wollen, sollen zur Illustration einige Beispiele dargestellt werden. So kann bei der Beschlußfassung auf der ersten Stufe eine Mehrheitsentscheidung ausreichen, für das lokrafttreten der Änderung dann aber die Ratifizierung des Änderungsübereinkommens durch alle Vertragsstaaten erforderlich sein. 107 Andere Verträge regeln, daß eine bestimmte Mehrheit von Staaten eine Änderung beschließen (Stufe 1) und die Ratifikation ebenfalls durch eine Mehrheit ausreichen kann (Stufe 2), um die Änderung in Kraft zu setzen. Dies führt nicht automatisch zu einer Bindung von Mitgliedstaaten ohne oder gegen ihren Willen, denn teilweise ist vorgesehen, daß allein die Mitgliedstaaten an die Vertragsänderung gebunden sind, die dieser zugestimmt und sie ratifiziert haben. 108 Wo die Bin103 Die Bindungswirkung wird insofern auch vom Willen des einzelnen Staates abhängig gemacht (Konsensprinzip). Diesem wird allerdings eine Reaktionspflicht auferlegt, da von seiner Zustimmung ausgegangen wird, sofern er seinen entgegenstehenden Willen nicht binnen einer bestimmten Frist zum Ausdruck bringt. 104 Derek Bowett, Law of International Institutions, S. 410. 105 Z. B. Art. 2 (9) Montreal Protocol on Substances that Depelete the Ozone Layer vom 16. September 1987, 26 I.L.M. (1987), S. 1550; Art. 73 International Energy Agency, BGBI. 1975 li, S. 739; Art. XV Convention on International Trade in Endangered Species ofWild Fauna and Flora vom3. März 1973, 121.L.M. (1973), S. 1085; Art. 90 Convention on International Civil Aviation vom 7. Dezember 1944, 15 U.N.T.S., S. 295. 106 Häufig finden sich auch Konsens- und Legislativprinzip in einem Vertrag kombiniert. Welches zur Anwendung gelangt hängtjeweils von dem Entscheidungsgegenstand ab. Für einen Überblick vgl. Henry Schenners/Niels Blokker, § 1163 ff.; Derek Bowett, Law of International Institutions, S. 408 f., und auch Hans Blix/Jirina Emerson, S. 225 ff. 107 So z. B. bei der International Labour Organization, Art. 19 (1) und (5), abgedruckt in: G. Johnston, S. 285 ff. 108 z. B. Art. 9 (3) und (5) Wiener Übereinkommen zum Schutz der Ozonschicht vom 22. März 1985, BGBI. 1988 li, S. 901 ; Art. 17 Convention on the Control of Transbound-

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dungswirkungdagegen für alle Vertragsstaaten eintritt 109, werden diejenigen Staaten, die dem Änderungsübereinkommen nicht zugestimmt und/oder es ratifiziert haben, gegen ihren Willen gebunden. Weit verbreitet ist schließlich auch die Vertragsänderung mit Möglichkeit des "opting out". Dabei genügt eine Annahme der Vertragsänderung durch Mehrheitsentscheidung und eine Ratifikation ist nicht erforderlich. Dissentierende Staaten können sich einer Bindung an die Änderung des Vertrages dadurch entziehen, daß sie binnen einer bestimmten Frist ihre Ablehnung notifizieren. Nach Ablauf der Frist wird sodann ihre Zustimmung vermutet ("tacit consent"), und sie sind an die geänderte Fassung des Vertrages gebunden. 110 Die angesprochenen Vertragsänderungsverfahren datieren zum Teil zu weit zurück, als daß sie als solche eine Reaktion auf das Phänomen der Globalisierung darstellen könnten. Ein Zusammenhang mit dieser zeigt sich aber in anderer Hinsicht. Vor allem in Sachbereichen, die in besonderem Maße von den Auswirkungen der Globalisierung betroffen sind, sehen Regelungsverträge (in Abweichung von Art. 39 ff. WVRK) zunehmend vereinfachte Änderungsverfahren mit Mehrheitsentscheidungen auf der einen und/oder anderen Stufe vor. Während diese "simplified amendment procedures" ursprünglich primär auf das Sekundärrecht insbesondere internationaler Organisationen angewandt wurden 111 , werden mittary Movement of Hazardous Wastes and Their Disposal vom 22. März 1989, 28 I.L.M. (1989), S. 657; Art. 15 United Nations Framework Convention on Climate Change vom 9. Mai 1992, 31 I.L.M. ( 1992), S. 1141; Art. 29 Framework Convention on Biological Diversity vom 22. Juni 1992, 31 l.L.M. (1992), S. 818; Art. 94 (a) International Civil Aviation Organization, abgedruckt in: Hans Blix/Jirina Emerson, S. 234; Art. 145, 147 Organization of African States, Satzung in der geänderten Fassung vom 27. Februar 1967 abgedruckt in: 32 EA (1968), D, S. 8; Art. 20 (2) Food and Agricultural Organization, abgedruckt in: Hans Blix/Jirina Emerson, S. 239. 109 Z. B. Art. 108 UN-Charta vom 26. Juni 1945, BGBI. 1973 II, S. 431 ; Art. X Agreement Establishing the World Trade Organization vom 15. April 1994, BGBI. 1994 II, S. 1625; Art. 73 Constitution ofthe World Health Organization, abgedruckt in: Hans Blix/ Jirina Emerson, S. 236; Art. 13 Constitution ofthe United Nations Scientific and Cultural Organization, abgedruckt in: Hans Blix/Jirina Emerson, S. 238; Art. 18C Statute of the International Atomic Energy Agency, abgedruckt in: Hans Blix/Jirina Emerson, S. 236. 110 Art. 18 Convention on the Control ofTransboundary Movement of Hazardous Wastes and Their Disposal vom 22. März 1989, 28l.L.M. (1989), S. 657 ; Art. 16 United Nations Framework Convention on Climate Change vom 9. Mai 1992, 31 l.L.M. (1992), S. 1141; Art. 11 Convention on the Conservation of Migratory Species of Wild Animals vom 23. Juni 1979, 11 I.L.M. (1980), S. 15; Art. XV Convention on International Trade in Endangered Species ofWild Faunaand Flora vom 3. März 1973, 121.L.M. (1973), S. 1085. 111 Art. 54 (1), 90 International Civil Aviation Organization, 15 U.N.T.S., S. 295; Art. 21 ff. Constitution of the World Health Organization, abgedruckt in: Amos Peaslee, Vol. 2, S. 1881 ff. ; Art. 7, 28 World Meteorological Organization, abgedruckt in: Amos Peaslee, Vol. 2, S. 1904 ff.

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Teil 3: Auswirkungen von Globalisierung auf völkerrechtliche Verträge

lerweile zunehmend auch völkerrechtliche Verträge auf diese Weise geändert und den aktuellen Regelungsbedürfnissen, der technischen Entwicklung und dem wissenschaftlichen Kenntnisstand angepaßt. Insbesondere im Bereich des Umweltund des Artenschutzes werden vielfach (Rahmen-)Verträge geschlossen, denen als Annex oder Protokoll diejenigen Regelungen und Daten angehängt werden, die eher technischer Natur sind und die einer regelmäßigen Überarbeitung und Aktualisierung bedürfen. 112 Mittels der vereinfachten Änderungsverfahren kann so schneller auf aktuelle Entwicklungen reagiert werden, ohne daß eine Neuverhandlung des gesamten Ordnungssystems erforderlich ist. Insbesondere bei Verwendung von Mehrheitsentscheidungen wird so der Weg zu einer flexibleren und damit effektiveren, zur Erfüllung aktueller Regelungsbedürfnisse besser geeigneten internationalen "Gesetzgebung" geöffnet. Obgleich im einzelnen Unterschiede hinsichtlich der Ratifikationsvoraussetzungen und der Möglichkeit des "opting out" bestehen, haben diese Verfahren gemeinsam, daß sie unter Abweichung von Art. 39 ff. WVRK das Erfordernis der unbedingten Zustimmung aller Staaten zur Vertragsänderung aufweichen. 113 Auch daran zeigt sich eine zunehmende Relativierung der staatlichen Souveränität, die 112 United Nations Framework Convention on Climate Change vom 9. Mai 1992, 3li.L.M. (1992), S. 1141 ; Framework Convention on Biological Diversity vom 22. Juni 1992, 31 I.L.M. (1992), S. 818; Convention on the Control of Transboundary Movement of Hazardous Wastes and Their Disposal vom 22. März 1989, 28 I.L.M. (1989), S. 657; Wiener Übereinkommen zum Schutz der Ozonschicht vom 22. März 1985, BGBl. 1988 II, S. 901; ASEAN Agreement on the Conservation of Nature and Natural Resources vom 9. Juli 1985, ASEAN Document Series, 1967-1986, S. 303; Convention on the Conservation ofMigratory Species ofWild Animals vom 23. Juni 1979, lli.L.M. (1980), S. 15; Art. 16 (2) (f) (iii) MARPOL 73178, International Convention for the Prevention of Pollution by Ships, 2. Nov. 1973, 121.L.M. (1973), S. 1319 ff., as modified by the Protocol of 17 Feb. 1978, 17 I.L.M. (1978), S. 546 ff.; Art. 16 Barcelona Convention for the Protection of the Mediterranean Sea Against Pollution vom 16. Februar 1976, 15 I.L.M. (1976), S. 290 ff.; Art. 3 Statute of the International Atmnic Energy Agency, BGBl. 195711, S. 1357; 1958 II, S. 4; auch schon Art. V International Convention on the Regulation of Whaling, abgedruckt in: Hans Blix/Jirina Emerson, S. 235; vgl. außerdem die Liste von Verträgen mit Standards im Anhang bei Paolo Contini/Peter Sand, 66 AJIL (1972), s. 37 (55). . Artikel 155 (4) SRÜ eröffnet zudem für die Beschlußfassung über ein System der Erforschung und Ausbeutung der Ressourcen des Meeresbodens die Möglichkeit einer Bindung aller Vertragsstaaten durch Mehrheitsentscheidung. Artikel 313 SRÜ sieht für Regelungen, die sich nicht auf den Tiefseeboden beziehen, ein erheblich vereinfachtes Änderungsverfahren vor. Zur Verwendung von aus dem Basisvertrag ausgegliederten Standards siehe außerdem den folgenden Gliederungspunkt. 113 Christian Tietje, 42 GYIL (1999), S. 26 (39).

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in Teil 1 als Erscheinungsform und Auswirkung von Globalisierung diskutiert worden ist. 114 Diese geht besonders weit, wo Vertragstaaten gegen ihren Willen an von der Mehrheit beschlossene Änderungen gebunden werden können. Zwar wird den dissentierenden Staaten für diesen Fall in der Regel als "Notausgang" eine Austrittsmöglichkeit gewährt. 115 Diese besteht praktisch häufig allerdings nur auf dem Papier. Ein Staat, der international Einfluß ausüben will, muß "in good standing" mit der übrigen Staatengemeinschaft sein. 116 Dies macht eine Loslösung vom Vertrag in vielen Fällen faktisch unmöglich, weil politisch untragbar. 117 Die Staaten stehen heute auf vielen Gebieten vor Regelungsaufgaben, die mit den alten Instrumentarien nicht mehr adäquat erfüllt werden können. Die vereinfachten Änderungsverfahren verbessern die Möglichkeit der Staaten, auch in sich rapide verändernden Bereichen regelnd einzugreifen 118 - allerdings unter Abstrichen in bezugauf ihre Souveränität. Dies ist wie im ersten Teil der Arbeit gesehen eine für die Globalisierung im Sinne von Entstaatlicbung typische Situation.

111. Verweisung auf vertragsexterne Standards ("legislation by reference")

Wie bereits dargestellt, werden bei vielen Regelungsverträgen solche Vertragsinhalte, die einer häufigeren Aktualisierung und Überarbeitung bedürfen, zunehmend in sog. Annexes an den Basis-Vertrag angehängt. Diese Anhänge werden im Regelfall von Expertenkommissionen ausgearbeitet, die mit Spezialisten aus den beteiligten Staaten und insofern Staatenvertretern besetzt sind. Deren Arbeit wird oftmals von nichtstaatlichen Organisationen unterstützt, z. B. indem diese ihr Expertenwissen, ihre Forschungsergebnisse und ihre Netzwerke zur Verfügung stellen. So sind beispielsweise die Staaten im Rahmen der Durchführung der Convention on International Trade in Endangered Species of Wild Fauna and Flora 119 weitestgehend auf Daten angewiesen, die von NGOs wie der International Union for the Protection of Nature (IUCN) und im Rahmen des Progranuns TRAFFIC (Trade Records Analysis of Flora and Fauna in Comrnerce) gesammelt werden. Vgl. oben Teil 1, A. II. und III. m Frank Zeidler, S. 9-133. 116 Abram Chayes/Antonia Hand/er Chayes, S. 21 f., 27 ff. 117 Christian Tomuschat, 241 RdC (1993 IV), S. 195 (265 f.). 118 Christian Tietje, 42 GYIL (1999), S. 26 (39), bezeichnet sie daher auch als "important ( .. . ) part of global governance strategies". 119 Vom 3. März 1973, 121.L.M. (1973), S. 1085. 114

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Teil 3: Auswirkungen von Globalisierung auf völkerrechtliche Verträge

Indem sie die Arbeit der Staatenvertreter unterstützen und beeinflussen, können NGOs teilweise einen erheblichen Einfluß auf die inhaltliche Gestaltung der Annexes nehmen. Neben dieser mittelbaren Beteiligung an völkerrechtlichen Verträgen sind nichtstaatlichen Organisationen in jüngster Zeit bereits auch direkt rechtsetzende Funktionen übertragen worden. 120 Dabei handelt es sich zumeist um die Ausarbeitung materieller Rechtsnormen- wie z. B. im Bereich der technischen Normierung -, die anschließend von Staaten oder internationalen Organisationen anstelle eigener Regelungen übernommen werden. So sieht beispielsweise das WTO Agreement on Technical Barriers to Trade 121 in Art. 2.4 vor, daß WTO-Mitgliedsstaaten die einschlägigen internationalen Normen (soweit vorhanden) als Grundlage verwenden, wenn sie technische Vorschriften erlassen. 122 Die in Bezug genommenen internationalen Normen werden von Standardisierungs-Organisationen wie der International Organization for Standardization (ISO) und der International Electrotechnical Comrnission (IEC) ausgearbeitet, die beide NGOs sind. Sogar noch weiter geht Art. 3.2 WTO Agreement on the Application of Sanitary and Phytosanitary Measures 123, der bestimmt, daß gesundheitspolizeiliche oder pflanzenschutzrechtliche Maßnahmen, die internationalen Normen, Richtlinien oder Empfehlungen entsprechen, als notwendig zum Schutz des Lebens oder der Gesundheit von Menschen, Tieren oder Pflanzen und als im Einklang mit den einschlägigen Bestimmungen des WTO-Vertrages und des GATT 1994 gelten. Artikel 3 des Anhanges zum seihen Abkommen definiert die in Bezug genommenen Standards als solche, die von der Kommission des Codex Alimentarius 124, dem Internationalen Tierseuchenamt, dem Sekretariat der Internationalen Pflanzenschutzkomrnission oder anderen einschlägigen internationalen Organisationen ausgearbeitet worden sind.

120 Vgl. dazu Christian Tietje, 42 GYIL (1999), S. 26 (40 ff.); Waldemar Hummer, 39 BDGVR (2000), S. 45 (166 f.). 12 1 Abgedruckt in: Wolfgang Benedek, S. 215. 122 Genau heißt es: "Soweit technische Vorschriften erforderlich sind und einschlägige internationale Normen bestehen oder deren Fertigstellung unmittelbar bevorsteht, verwenden die Mitglieder diese oder die einschlägigen Teile derselben als Grundlage für ihre technischen Vorschriften, es sei denn, diese internationalen Normen oder die einschlägigen Teile derselben wären unwirksame oder ungeeignete Mittel zur Erreichung der angestrebten berechtigten Ziele, zum Beispiel wegen grundlegender klimatischer oder geographischer Faktoren oder grundlegender technologischer Probleme." 123 Abgedruckt in: Wolfgang Benedek, S. 182. 124 Der Food and Agricultural Organization und der World Health Organization; vgl. dazu jetzt auch Christian Tietje, Internationalisiertes Verwaltungshandeln, im Erscheinen.

C. "treaty making process" und Struktur völkerrechtlicher Verträge

173

Die Europäischen Gemeinschaften verzichten seit Mitte der 80er Jahre auf eine eigene sekundärrechtliche Regelung technischer Normen und übernehmen statt dessen die von europäischen Nonnierungsinstitutionen 125 ausgearbeiteten einschlägigen Standards. 126 Diesen ist von der Kommission u. a. die Aufgabe übertragen worden, die in Gemeinschafts-Richtlinien festgelegten grundlegenden Sicherheitsanforderungen an Industriewaren durch technische Spezifikationen zu konkretisieren. Bei Einhaltung der von diesen Institutionen aufgestellten harmonisierten Standards sind die nationalen Verwaltungen dazu verpflichtet, eine Übereinstimmung mit den in der Richtlinie aufgestellten grundlegenden Anforderungen anzunehmen. 127 Mehrere tausend Normungsaufträge sind von der Kommission in diesem Zusammenhang bereits erteilt worden. 128 Als letztes Beispiel sei die Ausarbeitung von einheitlichen Vorschriften für die Rechnungslegung von Unternehmen (sog. "International Accounting Standards" [lAS]) durch das International Accounting Standards Committee (IASC) genannt. Das Komitee hat das Ziel verfolgt und im Mai 2000 erreicht129, daß die International Organization of Securities Commissions (IOSC0) 130 die lAS weltweit, d. h. an allen wichtigen Börsenplätzen, als Grundlage für die Rechnungslegung der kotierenden Unternehmen anerkennt. Die IOSCO hat ihren Mitgliedern die Anerkennung und Verwendung von 30 lAS ("IASC 2000 Standards") empfohlen 131

125 European Committee for Standardization (CEN), European Committee for Electrotechnical Standardization (CENELEC), European Telecommunications Standards Institute (ETSI). 126 Vgl. dazu Waldemar Hummer, 39 BDGVR (2000), S. 45 (167). 127 Entschließung des Rates vom 7. Mai 1985 über eine neue Konzeption auf dem Gebiet der technischen Harmonisierung und Normung, ABI. 1985, Nr. C 136, S. I ff. 128 Vgl. Dirk Langner, in: Manfred Dauses (Hrsg.), Handbuch EU-Wirtschaftsrecht, C VI Rn. 1 ff. Zum Mandatsentwurf werden die EU-Mitgliedstaaten im Komitologie-Ausschuß nach der Richtlinie 831189 EWG gehört (Richtlinie des Rates vom 28. März 1983 über ein Informationsverfahren auf dem Gebiet der Normen und technischen Vorschriften, ABI. 1983, Nr. L 109, S. 8 ff. 129 V gl. IOSCO: Report of the Technical Committee on IASC Standards (May 2000), abrufbar unter http://www.aisc.org.uk/news/cen8_172.htm (Stand: 29.09.2000). 130 Die IOSCO ist der Zusammenschluß der Aufsichtsbehörden der wichtigsten Kapitalmärkte. Weitere Informationen unter http://www.iosco.org (Stand: 29.09.2000). Deutschland wird vom Bundesaufsichtsamt für den Wertpapierhandel (http://www.bawe.de) vertreten. 13 1 Zu den Einschränkungen bzw. Zusätzen der IOSCO zu den IASC 2000 Standards vgl. den Report ofthe Technical Committee on IASC Standards, http://www.aisc.org.uk/news/ cen8_172.htm (Stand: 29.09.2000).

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Teil 3: Auswirkungen von Globalisierung auf völkerrechtliche Verträge

und für Ende 2001 eine Überprüfung der Annahme und Umsetzung der Standards durch die Mitgliedstaaten angekündigt. Allen Beispielen gemein und gegenüber der indirekten Einflußnahme von nichtstaatlichen Institutionen qualitativ neu ist, daß die Vertragsstaaten ihre exklusive Rolle als Herren der Verträge aufgegeben und direkte Rechtsetzungsfunktionen an die genannten nichtstaatlichen Akteure abgetreten haben. 132 Wesentliche Regelungen sind nicht mehr in dem von den Mitgliedstaaten konsentierten und ratifizierten Vertrag enthalten, sondern werden per Verweisung ("legislation by reference") in den Vertrag einbezogen. Eine direkte Zustimmung der Vertragsstaaten zu den vertragsextern ausgearbeiteten Standards ist nicht unbedingt erforderlich. Auch hier zeigt sich somit die bereits mehrfach festgestellte Zurückdrängung des zentralen Erfordernisses des staatlichen "consent". Die Bedeutung der "Auslagerung" bestimmter Vertragsinhalte in Annexes ist vorangehend bereits dargestellt worden. Aufgrund des hohen Spezialisierungsgrades der technischen Vorschriften wäre eine Einbeziehung derselben in den Basis-Vertrag mit großer Wahrscheinlichkeit zum Scheitern verurteilt. Gerade das Bedürfnis nach einer Harmonisierung von Standards wird aber mit der zunehmenden Vernetzung der Staaten weiter steigen. Es ist daher zu erwarten, daß die dargestellten Beispiele keine Einzelfälle bleiben werden, zurnal auch in anderen Bereichen als dem Wirtschaftsrecht bereits mit Verweisungen auf vertragsexterne Standards gearbeitet wird. 133 Für die Rolle der Vertragsstaaten als "Herren der Verträge" bedeutet dies eine stückweise Abgabe weiterer, ehernals den souveränen Staaten vorbehaltener Funktionen. Diese erfolgt de iure freiwillig, de facto aber haben die Staaten, die ein Interesse an der Schaffung möglichst effektiver Vertragsregime haben müssen, in dieser Hinsicht oftmals keinen großen Entscheidungsspielraum.

IV. Ergebnis Es konnte gezeigt werden, daß sich die Auswirkungen der Globalisierung- die damit einhergehende Veränderung der Rolle des Staates, die gewandelten Anforderungen an vertragliche Regelungswerke- auch auf den "treaty rnaking proChristian Tietje, 39 BDGVR (2000), S. 26 (42 f.). Das SRÜ enthält an vielen Stellen eine Verweisung auf "generally accepted international rules and Standards". Vgl. dazu Christian Tomuschat, 241 RdC (1993 IV), S. 195 (348 ff.); Julia Sommer, 56 ZaöRV (1996), S. 628 (655 ff.); Bernhard Oxman, 24 NYUJintl'IL&Pol (1991), S. 109 ff. 132 133

D. Reichweite der Bindungswirkung völkerrechtlicher Verträge

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cess" und die Struktur völkerrechtlicher Verträge niederschlagen. Es wächst das Bewußtsein der Staaten, in vielen Bereichen nur noch gemeinsam und unter Einbeziehung kompetenter nichtstaatlicher Organisationen bzw. Institutionen effektiv handeln zu können. Die Dringlichkeit der Problembekämpfung macht vielfach eine möglichst schnelle Regelung erforderlich. Dies zeigt sich im Entscheidungsprozeß ("Consensus"-Verfahren), dem Aufbau jüngerer Verträge (Rahmenkonventionen mit technischen Regelungen als Anhang) und bei der Ausarbeitung der Verträge (Delegation der Standard-Setzung an vertragsexterne nichtstaatliche Institutionen). Diese neuen Verfahren sind als Schritte zur notwendigen Aexibilisierung des Regelungsinstrumentes völkerrechtlicher Vertrag zu werten. Sie weichen das Erfordernis auf, daß ein Staat allen ihm auferlegten Bindungen zustimmen muß. Insbesondere aufgeund dessen besitzen sie das Potential, mit der Zeit eine Eigendynamik zu entwikkeln, die die Entwicklungen auf diesem Gebiet weiter vorantreiben und vertiefen kann. Sie sind zugleich Folge von Denationalisierung und Ursache für weitere Entstaatlichung, was die Feststellung im ersten Teil der Arbeit bestätigt, daß sich die Auswirkungen der Globalisierung und die sie befördernden Faktoren gegenseitig bedingen und sich rückkoppelungsartig verstärken.

D. Auswirkungen auf die Reichweite der Bindungswirkung völkerrechtlicher Verträge Nachdem die Wirkungen von Globalisierung im Hinblick auf eine Erweiterung des Kreises der an völkerrechtlichen Verträgen beteiligten Parteien um nichtstaatliche Wirkungseinheiten sowie auf den "treaty making process" und die Struktur völkerrechtlicher Verträge untersucht worden sind, soll im folgenden der Frage nachgegangen werden, wie früher und heute mit der Problematik der Bindung dritter Staaten durch völkerrechtliche Verträge umgegangen wurde bzw. wird und welche Rolle Globalisierung dabei spielt. Dazu wird zunächst die traditionelle Auffassung in Lehre und Praxis zu dieser Problematik dargestellt. Im Anschluß daran werden Überlegungen zu den lmplikationen der Globalisierung im Zusammenhang mit der zu untersuchenden Frage angestellt, um sodann zu fragen, wie die Völkerrechtswissenschaft diese verarbeitet hat und wie heute in der Vertragspraxis damit umgegangen wird.

I. Traditionelle Lehre und Praxis Die Möglichkeit einer Bindung dritter, nicht am Vertragsschluß beteiligter Staaten durch völkerrechtliche Verträge gehört zu den höchst umstrittenen Fragen

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Teil 3: Auswirkungen von Globalisierung auf völkerrechtliche Verträge

des Völkervertragsrechts, da sie einen unmittelbaren Eingriff in die staatliche Souveränität bedeutet.

1. Pacta tertiis nec nocent nec prosunt Prägender Grundsatz des traditionellen Völkerrechts ist die territoriale Souveränität der Staaten. Daraus folgen die Pflicht der Staaten, bestinunte Eingriffe in den Souveränitätsbereich anderer Staaten zu unterlassen, und das korrelierende Abwehrrecht eines jeden Staates gegenüber Eingriffen in seine souveränen Rechte. 134 Aus der Souveränität folgen außerdem die Unabhängigkeit und die Gleichheit der Staaten untereinander. 135 Zu den souveränen Rechten eines Staates gehört neben anderen auch dessen Freiheit, sich vertraglichen Bindungen zu unterwerfen und dadurch den Umfang seiner souveränen Rechte freiwillig einzuschränken. 136 Entsprechend dem in jedem Vertragsrecht enthaltenen Grundsatz der Relativität der Verträge und wegen des mit der Souveränität verbundenen Grundsatzes der Gleichheit und der Unabhängigkeit der Staaten kann die Bindungswirkung solcher internationaler Verträge nur die daran beteiligten Parteien erfassen. So zählt der bereits auf das römische Recht zurückgehende Grundsatz, daß Verträge für einen Drittstaat weder Pflichten noch Rechte begründen, es sei denn, dieser stinunt zu, auch seit langem zum Völkergewohnheitsrecht (pacta tertiis nec nocent nec prosunt). Er wurde speziell in bezugauf völkerrechtliche Verträge in internationalen Schiedsfällen regelmäßig bestätigt, 137 so z. B. auch im North-Sea-Continental-Shelf-Fall, in demder IGH feststellte, die Bundesrepublik könne an das Genfer Festlandsockei-Übereinkonunen nicht gebunden sein, weil sie dieses nicht unterzeichnet habe. Und auch das Wien er Übereinkonunen über das Recht der Verträge

134 Alfred Verdross/Bruno Simma, S. 41; zum Begriff siehe auch Georg Dahm/Jost Delbrück/Rüdiger Wolfrum, Völkerrecht 1/1, S. 215 ff. 135 Georg Dahm/Jost Delbrück/Rüdiger Wolfrum, Völkerrecht 1/1, S. 215 ff.; Otto Kimminich/Stephan Habe, S. 292 ff. 136 Die Fähigkeit, völkerrechtliche Verträge abzuschließen und dadurch seine souveränen Rechte zu beschränken, hat der StiGH im Wimbledon-Fall geradezu als Ausfluß der staatlichen Souveränität bezeichnet, PCIJ, Series A, No.1 (1923), S. 25. 137 Diese Rechtsauffassung vertrat der StiGH bereits in seinem ersten Urteil im LotusFall, in dem er feststellte: "The rules oflaw binding upon States ... emanate from their own free will." PCIJ Series A, No.10 (1927), S. 18. Für weitere Nachweise der Rechtsprechung siehe Christian Tomuschat, 28 BDGVR (1988), S. 9 (10), und auch die Nachweise im Kommentar zum Entwurf der Wiener Vertragsrechtskonvention (Forschungen der Harvard Law School), 29 AJIL (1935), S. 918 ff.

D. Reichweite der Bindungswirkung völkerrechtlicher Verträge

177

(WVRK) 138 läßt sich ganz klar von dem' dahinter stehenden Konsensprinzip 139 leiten, wenn es in den Art. 34-38 festlegt, daß ein Staat nicht an völkerrechtliche Verträge gebunden ist, denen er nicht zugestimmt hat.

2. Einschränkungen zur Pacta-tertiis-Regel Obwohl das Vertragsrecht im Grundsatz vom Konsensprinzip beherrscht wird, gilt die Pacta-tertiis-Regel auch nach traditioneller Lehre und Praxis nicht absolut in dem Sinne, daß völkerrechtliche Verträge für dritte Staaten überhaupt keine Wirkungen erzeugen. Im einzelnen werden die folgenden Einschränkungen gemacht.

a) Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge

aa) Art. 35 WVRK Nach Art. 35 WVRK wird ein Drittstaat dann durch eine Vertragsbestimmung verpflichtet, wenn die Vertragsparteien dies beabsichtigt haben und der Drittstaat die Verpflichtung ausdrücklich in Schriftform angenommen hat. Diese Bestimmung trägt dem Konsensprinzip Rechnung und bestätigt die in Art. 34 WVRK festgeschriebene Pacta-tertiis-Regel mehr als daß sie eine Ausnahme davon macht.

bb) Art. 36 WVRK Artikel 36 (1) WVRK trifft eine mit Art. 35 WVRK identische Regelung für Verträge zugunsten von Drittstaaten, erleichtert diese aber insofern, als die Zustimmung des begünstigten Staates vermutet werden darf, so lange dieser nicht explizit das Gegenteil äußert. Absatz 2 der Vorschrift bestimmt für den Fall der Begünstigung eines Drittstaates nach Absatz 1, daß der das Recht ausübende Staat die dafür in dem Vertrag niedergelegten oder im Einklang mit diesem aufgestellten U.N.T.S. 331, S. 1155 ff. Überblick über die Entwicklung des Konsensbegriffs im Völkerrecht ist zu finden bei Rüdiger Wolfrum, in: Hans Hattenhauer/Werner Kalteileiter (Hrsg.), Mehrheitsprinzip, Konsens und Verfassung, S. 79 ff. Siehe auch Georg Dahm/Jost Delbrück/Rüdiger Wolfrum, Völkerrecht 1/1, S. 35 f. 138

139 Ein

12 Hingst

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Teil 3: Auswirkungen von G1obalisierung auf völkerrechtliche Verträge

Bedingungen einzuhalten hat. An das dem Drittstaat vertraglich zugesprochene Recht wird also eine Pflicht gekoppelt, so daß eine Ausnahme von dem Grundsatz der Pacta-tertiis-Regel gernacht wird. Eine weitere Ausnahme dazu ist bereits darin zu sehen, daß dem Drittstaat durch die Vermutungsregelung eine Reaktionspflicht auferlegt wird, will er die Begünstigung ablehnen.

b) Verfügungsverträge Wirkung gegenüber am Vertrag unbeteiligten Parteien beanspruchen auch Realverfügungen oder Verfügungs verträge, wie sie z. B. Verträge über Gebietszessionen, die Festlegung von Grenzen oder die Einräumung von Grunddienstbarkeilen darstellen. Werden diese zwischen zwei oder mehr territorial zuständigen Staaten unter Beachtung des geltenden Völkerrechts vereinbart, so entfalten sie unmittelbar rechtsändernde Wirkung, die auch gegenüber Drittstaaten gilt. 140 Diese trifft eine Respektierungspflicht, weitergehende selbständige Pflichten werden ihnen jedoch nicht auferlegt. Es handelt sich um eine notwendige Reflexwirkung des Vertrages, die seit jeher anerkannt ist.

c) Institutionelle Verträge Ähnlich wie bei Verfügungsverträgen verhält es sich bei institutionellen Verträgen, d. h. solchen Staatenvereinbarungen, durch die internationale Organisationen gegründet werden. Diese entfalten für Drittstaaten ebenfalls Reflexwirkung, denn der internationalen Organisation wird Rechtspersönlichkeit mit Wirkung gegenüber allen Mitgliedern der Staatengemeinschaft verliehen. Dies hat der IGH in seinem bekannten Gutachten zum Reparations-for-/njuries-Fall bestätigt, in dem er entschied, daß .,fifty States, representing the vast majority of the members of the international community, had the power, in conformity with internationallaw, tobring into being an entity possessing objective international personality, not merely personality recognized by them." 141

Nicht an der Gründung beteiligte Staaten müssen die Existenz der internationalen Organisation akzeptieren und respektieren. Darüber hinausgehende Verpflichtungen zu einem positiven Tun werden ihnen nicht auferlegt. 140 Eckart Klein, S. 184 ff.; Alfred VerdrossiRruno Simma, S. 488; Christian Tomuschat, 28 BDGVR (1988), S. 9 (12) m. w. N. 141 ICJ Reports 1949, S. 185.

D. Reichweite der Bindungswirkung völkerrechtlicher Verträge

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d) Statusverträge ("objective regimes") In der Praxis ist es darüber hinaus zu einer Drittwirkung gekommen, wo zwei oder mehr territorial zuständige Staaten unter Beachtung des geltenden Völkerrechts Statusverträge geschlossen haben, d. h. territorial bezogene Regelungen, die eine objektive internationale Ordnung schaffen und den besonderen völkerrechtlichen Status bestimmter Räume regeln. 142 So ist insbesondere in Fällen der Entmilitarisierung bestimmter Gebiete, der Festlegung der dauernden Neutralität von Gebieten, der Internationalisierung von Wasserstraßen und der Errichtung freier Städte eine Wirkung der Statusregelungen gegenüber Dritten wirksam beansprucht worden. Klassisches Beispiel der Entmilitarisierung eines Gebietes ist die 1856 zwischen Frankreich, Großbritannien und Rußland geschlossene Aalandinselnkonvention, mit der die heute zu Finnland gehörigen Inseln demilitarisiert wurden. 143 Jüngere Regelungen dieser Art sind im Tlatelolco-Vertrag über die Errichtung einer atomwaffenfreien Zone in Lateinamerika 144, dem Meeresbodenvertrag von 1971, 145 dem Weltraumvertrag von 1967 146 und dem Antarktisvertrag von 1959 147 zu finden. In bezugauf die drei letztgenannten Verträge besteht allerdings Uneinigkeit über deren objektive Wirkung. Insbesondere die territoriale Kompetenz der Vertragsstaaten, eine solche Regelung zu treffen, wird angezweifelt. 148 Beachtung ihrer vertraglich festgelegten dauernden Neutralität durch alle Staaten beanspruchen beispielsweise die Schweiz, deren Neutralität 1815 durch den Wiener Kongreß erklärt wurde, 149 und Belgien, dessen Neutralität 1831 und 1839 vertraglich festgelegt wurde.150 Dauerhaft neutral ist auch der Vatikanstaat, für den dieser Zustand im Lateran-Vertrag mit Italien von 1929 geregelt istY' Schließlich ist der Fall Österreichs zu nennen, das seiner 1955 im Moskauer MeZum Begriff des Statusvertrages siehe insbes. Ecknrt Klein, S. 21 ff. Vgl. dazu lost Delbrück, FS Jaenecke, S. 15 (18 ff.) ; Ecknrt Klein, S . 2 ff. ; Lauri Hannikninen, in: ders./Frank Horn (Hrsg.), Autonomy and Demilitarisation, S. 57 ff. 144 U.N.T.S. 634, S. 281 ff. 145 U.N.T.S. 995, S. 115 ff. 146 U.N.T.S. 610, S. 205 ff. 147 U.N.T.S. 402, S. 71 ff. 148 Vgl. dazu Ecknrt Klein, S. 113, 118 ff., 122 f.; Jonna Ziemer, S. 220 ff. 149 Erklärung der Schweiz vom 20. März 1815, Martens, NR, Bd. II, S. 157. 150 Art. 7 des Vertrages vom 15. November 1831, Martens, NR, Bd. XI, S. 390; Art. 7 des Vertrages vom 19 Aprill839, Martens, NR, Bd. XVI, S. 773. 151 Lateran-Vertrag vom 11. Februar 1929, Friedrich Berber (Hrsg.), Dokumente I, S.831ff. 142 143

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Teil 3: Auswirkungen von Globalisierung auf völkerrechtliche Verträge

morandum übernommenen Verpflichtung zu dauernder Neutralität im gleichen Jahr durch den Erlaß eines entsprechenden Bundesverfassungsgesetzes nachkam. 152 Zwar handelt es sich hierbei um eine einseitig erklärte und nicht vertraglich festgelegte Neutralität, Österreich notifizierte aber allen Staaten, mit denen es diplomatische Beziehungen unterhielt, seine Neutralität und bat um deren Aner· kennung, was bis auf wenige auch alle betroffenen Staaten taten. In diesen Noti· fikations· und Anerkennungsakten wird teilweise ein Netz bilateraler, jedenfalls vertragsähnlicher Beziehungen gesehen, welches nach Ansicht Österreichs ausreicht, um die Beachtung seiner Neutralität ohne weitere Notifikation auch von nicht beteiligten Staaten zu verlangen. 153 Als Fälle einer von allen Staaten respektierten Internationalisierung von Wasserstraßen sind die Internationalisierung des Rheins durch die Wiener Kongreß. akte von 1815/54 der unteren Donau durch den Pariser Friedensvertrag von 1856, 155 des Suezkanals durch den Vertrag von Konstantinopel aus dem Jahre 1888 156 und des Nord-Ostsee-Kanals durch den Versailler Friedensvertrag von 1919 157 zu nennen. 158 Objektive Wirkung im Sinne einer Respektierungspflicht für dritte Staaten ent· faltete auch die Verleihung eines internationalen Status an die Republik Krakau, die Freie Stadt Danzig und die Errichtung des Freien Territoriums Triest. Für Krakau wurde eine entsprechende Regelung 1815 durch den Wiener Kongreß getroffen 159 und hatte auch bis zur Einverleibung der Stadt durch Österreich· Ungarn im Jahre 1846 Bestand. Danzig wurde im Versailler Vertrag 1919 zur Freien Stadt erklärt, und das "Territorio Iibero di Trieste" gelangte 1947 durch den Friedensvertrag mit Italien zur Entstehung. 160 Österreichisches BGBI. 1955, S. 211. Hanspeter Neuhold, 28 BDGVR (1988), S. 51 (93 f.); Georg Dahm/Jost Delbrück/ Rüdiger Wolfrum, Völkerrecht 1/2, § 154, im Erscheinen. 154 Martens, NR. Bd. II, S. 439 ff. 155 Art. XV und XVI; Martens, NR. Bd. II, S. 770. 156 Art. 1, Vertrag vom 29 Oktober 1888; Martens, NR, Bd. XV, S. 557. 157 RGBI. 1919 II, S. 687. 158 Siehe dazu insgesamt Christian Gloria, in: Knut Ipsen (Hrsg.). Völkerrecht, § 23 Rn. 90 ff.; zum Nord-Ostsee-Kanal siehe auch Alexander Böhmer, 38 GYIL (1995), S. 325 ff.; lost Delbrück, FS Jaenecke, S. 15 (17 f.). 159 Art. 6 der Wiener Kongreßakte vom 9. Juni 1815, Martens, NR. Bd. Il, S. 385. 160 Beide hatten jedoch nur verhältnismäßig kurzen Bestand. Danzig wurde bei Kriegs· ausbruch vom nationalsozialistischen Regime Deutschlands unter Verstoß gegen den Ver· sailler Vertrag annektiert und die Region Triest teilten Jugoslawien und Italien durch Ver· trag untereinander auf. Zu Danzig siehe Theodor Schweisfurth, in: Rudolf Bernhardt et al. 152

153

D. Reichweite der Bindungswirkung völkerrechtlicher Verträge

181

Obwohl es sich dabei nicht um einen Statusvertrag im eigentlichen Sinne gehandelt hat, sei schließlich noch die Neuordnung des Balkans durch die Wiener Kongreßakte vom 13.07.1878 161 genannt. Die Parteien dieses Regelungswerkes 162 erklärten die Unabhängigkeit Montenegros, Serbiens und Rumäniens und regelten Gebietsvergrößerungen dieser Staaten auf Kosten der Türkei. 163 Den neu gebildeten Staaten wurden, obgleich sie nicht Parteien der Kongreßakte waren, die Rechtsgleichheit der verschiedenen Glaubensbekenntnisse und die Sicherung der Religionsfreiheit für alle Kulte zur Pflicht gemacht. 164 Serbien und Montenegro wurden außerdem bestimmte Vorgaben bezüglich der Möglichkeit einer Enteignung muselrnanischen Grundeigentums auf ihrem neuen Staatsgebiet gemacht. 165 Diese Auferlegung von Pflichten durch einen fremden Vertrag dürfte wegen der gleichzeitig ausgesprochenen Anerkennung der Unabhängigkeit der betroffenen Staaten ohne Widerspruch geblieben sein.

e) Schaffung von Völkergewohnheitsrecht durch völkerrechtliche Verträge Eine weitere Möglichkeit der Bindung von Nicht-Vertragsstaaten an die in einem völkerrechtlichen Vertrag festgelegten Regeln ergibt sich daraus, daß völkerrechtliche Verträge die Schaffung von Gewohnheitsrecht zur Folge haben können, indem sie über sich hinauswachsen und den Boden für allgemein, also auch für dritte Staaten verbindliches Völkerrecht bilden. Insbesondere aus mehrseitigen, generellen Verträgen kann sich Völkergewohnheitsrecht entwickeln, indem die darin festgelegten Normen über den Kreis der Vertragsparteien hinaus anerkannt werden. Dies wurde erstmalig im North-Sea-Continental-Shelf-FaJJ vom IGH explizit bestätigt 166 und ist heute allgemein anerkannt. 167 Für einen solchen (Hrsg.), Encyclopedia of Public International Law, Vol. I, S. 938 ff. ; zu Triest Massimo Panebianco, in: RudolfBernhardt et al. (Hrsg.), Encyclopedia ofPublic International Law, Inst. 12, S. 379 ff. 161 Abgedruckt in: Max Fleischmann, S. 147 ff. 162 Das Deutsche Reich, Österreich-Ungarn, Frankreich, Großbritannien, Italien und die Türkei und Rußland. 163 Art. 26, 34 und 43 Berliner Kongreßakte. 164 Art. 27, 35, 44 Berliner Kongreßakte. 165 Art. 30 und 39 Berliner Kongreßakte. 166 North-Sea-Continental-Shelf-Fall, ICJ Reports 1969, S. 41 f. 167 Vgl. auch Art. 38 WVRK; Alfred VerdrossiRruno Simma, S. 366 mit Beispielen; Eckart Klein, S. 155 ff. mit zahlreichen weiteren Nachweisen; Otto Kimminich/Stephan Hohe, S. 175; Anthony d'Amato, 64 AJIL (1970), S. 892 ff.; Ulrich Scheuner. FS Mann, S. 409 (420 ff.); R. Baxter, 129 RdC (1970 I), S. 24 (36 ff. ).

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Teil 3: Auswirkungen von Globalisierung auf völkerrechtliche Verträge

Übergang einer vertraglichen in eine gewohnheitsrechtliche Norm ist nach dem IGH vor allem erforderlich, daß die Norm einen "fundamentally norm-creating character such as could be regarded as forming the basis of a new general rule of law" aufweist. Hinzukommen müsse außerdem eine die zugrundeliegende Vertragsregel bestätigende, "extensive and virtually uniform" Praxis- einschließlich derjenigen Staaten, deren Interessen besonders stark berührt sind. Liege diese vor, so könne im Ergebnis die für die Gewohnheitsrechtsbildung erforderliche Zeitspanne erheblich reduziert werden. 168 Diese Möglichkeit der Geltungserstreckung multilateraler Verträge über den Kreis der Vertragsparteien hinaus liegt jedoch insofern außerhalb des an dieser Stelle anstehenden Untersuchungsgegenstandes, als daß die Bindung der NichtVertragsstaaten in diesen Fällen allein über das Völkergewohnheitsrecht und nicht über den Vertrag erfolgt. Darüber hinaus wird auch insofern dem Erfordernis des "consent" entsprochen, als daß die Gewohnheitsrechtsnorm unter Mitwirkung von Nicht-Vertragsstaaten zur Entstehung gelangt. Die positive Unterstützung einer völkergewohnheitsrechtliehen Norm durch alle Völkerrechtssubjekte ist nicht erforderlich. 169 Es genügt, wenn der Kreis der beteiligten Völkerrechtssubjekte quantitativ wie materiell repräsentativ ist, wobei letzteres die Beteiligung der hauptbetroffenen und von daher meistinteressierten Staaten voraussetzt. Aus diesem Grunde wird es bei Völkergewohnheitsrecht bereits als Tradition bezeichnet, daß eine Zahl interessierter Staaten eine Rechtsregel entwickelt, die aufgrundallgemeiner (stillschweigender) Anerkennung Gültigkeit erwirbt. 170 Einer Drittbindung im technischen Sinne näher käme es, wenn für den Übergang einer vertraglichen in eine gewohnheitsrechtliche Norm eine weitreichende und repräsentative Beteiligung an dem Vertrag- in Verbindung mit daran anschließender entsprechender Praxis der Vertragsstaaten 171 - ausreichen würde, ohne daß es darüber hinaus auf das von opinio iuris begleitete Verhalten dritter Staaten ankäme. In diesem Sinne liest sich die Passage des Urteils im North-SeaContinental-Shelf-Fall, in der der IGH feststellte, daß

North-Sea-Continental-Shelf-Fal!, ICJ Reports 1969, S. 42. /an Brownlie, S. 6; Georg Dahm/Jost Delbrück/Rüdiger Wolfrum, Völkerrecht 1/1, S. 57; Peter Malanczuk, Akehurst's Modem lntroduction, S. 42; Otto Kimminich/Stephan Hohe, S. 180. 170 So Jonathan Chamey, 87 AJIL (1993), S. 529 (538). 171 Diese hat der IGH als unabdingbare Voraussetzung für die Gewohnheitsrechtsbildung bezeichnet, ICJ Reports 1969, S. 44. 168 169

D. Reichweite der Bindungswirkung völkerrechtlicher Verträge

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"a very widespread and representative participation in the convention might suffice of itself, provided it included that of States whose interests are specially affected.''172

Bei dieser vom Gericht angesprochenen Rechtsentstehung würde das entsprechende Gewohnheitsrecht allein von den Vertragsstaaten geschaffen und bände dritte Staaten unabhängig von deren Anerkennung, d. h. der ..consent" der NichtVertragsstaaten wäre unerheblich. 173 Auch bei dieser- höchst umstrittenen- Konstruktion sind die Drittstaatenjedoch über Gewohnheitsrecht gebunden. Sie wird daher an dieser Stelle nicht weiter diskutiert.

f) Art. 2 (6) UN-Charta

Die Problematik der Bindung dritter Staaten durch völkerrechtliche Verträge wird auch im Zusammenhang mit Art. 2 (6) UN-Charta, der Regelung betreffend Nicht-Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen, diskutiert. Nach dem Wortlaut dieser Vorschrift trägt die Organisation dafür Sorge, "( ... ) daß Staaten, die nicht Mitglieder der Vereinten Nationen sind, insoweit nach diesen Grundsätzen (d. h. den Grundsätzen des gesamten Art. 2, die Verfasserin) handeln. als dies zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlich ist."

Die Bedeutung dieses Absatzes ist umstritten. Während sich ein großer Teil der Literatur dagegen wehrt, aus Art. 2 (6) UN-Charta Verpflichtungen für Nicht-Mitgliedstaaten zu begründen, 174 interpretiert ein ebenfalls erheblicher anderer Teil 172 North-Sea-Continental-Shelf-Fall, ICJ Reports 1969, S. 43 (Hervorhebungen von der Verfasserin). 173 Entsprechend argumentierten auch Australien und Neuseeland im Nuclear-Test-Fall, um zu einer Bindung Frankreichs an die Bestimmungen des Moskauer Atomtest-Stop-Abkommens zu gelangen. Das Verbot der atmosphärischen Atomtests sei durch die weitreichende Beteiligung an dem Moskauer Abkommen (10 Jahre nach dessen Abschluß waren 104 Staaten Mitglied des Vertrages) und wegen der steten Proteste der internationalen Gemeinschaft gegen Atomtests in der Erdatmosphäre zu Gewohnheitsrecht erstarkt, Nuclear Test Cases, ICJ Pleadings, i, insbesondere S. 182 ff., 332 ff. (Argumentation Australiens) und Nuclear Test Cases, ICJ Pleadings, ii, insbesondere S. 40, 203. Zur "Persistent-objector"-Regel, die in diesem Zusammenhang Bedeutung erlangen kann, siehe unten D. II. 2. 174 Vgl. Jochen Frowein, in: Bruno Simma et al. (Hrsg.), The Charter of the United Nations, Art. 41, Rn. 16; Bin Cheng, in: Ronald Macdonald/Douglas Johnston (Hrsg.), The Structure and Process oflnternational Law, S. 513 (521); Gregorij Tunkin, S. 194; Anatoli Talalajew, S. 113. Teilweise wird vertreten, Nicht-Mitgliedstaaten seien an die Grundsätze in Art. 2 gebunden, weil diese Völkergewohnheitsrecht darstellten (vgl. die Nachweise dazu bei Jean-Pierre Cot/Alain Pellet, Art. 2, Paragraphe 6, S. 137 Fn. I). Für eine Drittwirkung sei insofern kein Raum. Dem steht jedoch entgegen, daß der Sicherheitsrat aufgrund von

184

Teil3: Auswirkungen von Globalisierung auf völkerrechtliche Verträge

der Lehre ihn so, daß die Vereinten Nationen ihre Zuständigkeit für die Wahrung des internationalen Friedens und der internationalen Sicherheit auf Nicht-Mitgliedstaaten erstrecken, ohne daß diese dem zugestimmt haben. Es werde eine Ausnahme von dem Grundsatz pacta tertiis nec nocent nec prosunt gemacht und Nicht-Vertragsstaaten aufgrund Art. 2 (6) UN-Charta bestimmte Verpflichtungen auferlegt. 175 Letztere Auffassung wird auch durch die Praxis des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen bestätigt, der verschiedentlich Durchsetzungsmaßnahmen zum Zwecke der Friedenssicherung auch gegenüber Nicht-Mitgliedern angeordnet hat. Zu einem ersten direkten Vorgehen gegen Nicht-Mitgliedstaaten kam es im Falle der militärischen Zwangsmaßnahmen gegenüber Nordkorea und den Wirtschaftssanktionen gegen Südrhodesien. Allerdings verneinten die Vereinten Nationen auch die Staatsqualität dieser Länder. Darüber hinaus wurden aber NichtMitglieder insofern an Resolutionen des Sicherheitsrates gebunden, als daß ihnen eine Unterstützung des Staates untersagt wurde, der gegen den internationalen Frieden und/oder die internationale Sicherheit verstößt. Der Wortlaut der Resolutionen im Falle Südrhodesiens veränderte sich von einem anfänglichen Aufruf an die Nicht-Mitglieder, sich entsprechend der Resolutionen zu verhalten (Res. 232 [1966], 253 [1968], 270 [1970]) zu der Forderung in Resolution 314 (1972) an "all states to imp1ement fully the Security Council resolutions establishing sanctions against Southern Rhodesia in accordance with their obligations under Artide 25 and Article 2, paragraph 6" (Hervorhebungen von der Verfasserin). 176 Eine Verpflichtung für alle Staaten, Nicht-Mitglieder eingeschlossen, verhängte der Sicherheitsrat darüber hinaus im Fall des Waffenembargos gegen Südafrika (Res. 418 [ 1977]) und des wiederholten Ankaufverbots betreffend südafrikanische Waffen durch Res. 558 (1984). Seitdem ist der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen dazu übergegangen, seine Friedenssicherungskompetenz regelmäßig zu Lasten von Nicht-Mitgliedstaaten auszuüben, wie die jüngeren Beispiele des Embargos gegen den Irak nach der Invasion Kuwaits (Res. 661 [1990] und 670 [1990]), des Waffenembargos gegen das ehemalige Jugoslawien (Res. 713 [1991]), des Wirtschaftsembargos gegen Serbien und Montenegro (Res. 757 [1992]) und des WafArt. 2 (6) Verstöße gegen die genannten Prinzipien feststellen und zum Gegenstand von Sanktionen nach Kap. VII der Charta machen kann (siehe dazu Wolfgang Graf Vitzthum, in: Bruno Simma (Hrsg.), Charta der Vereinten Nationen, Art. 2 (6), Rn. 22). Schon dies stellt eine Form der Drittwirkung der Charta gegenüber Nicht-Mitgliedstaaten dar. 175 So beispielsweise /an Brownlie, S. 691 f.; Leeland Goodrich/Edvard Hambro/Anne Simons, S. 58 f. ; Robert Jennings/Arthur Watts, Oppenheim's International Law, Part 2, S. 1263 f.; Gregor Schirmer, S. 101 ff.; Hans Kelsen, Principles, S. 85 f.; Christian Tomuschat, 28 BDGVR (1988), S. 7 (14 ff.). 176 Diese Formulierung wurde in Zusammenhang mit demselben Fall in den Resolutionen 320 (1972) und 448 (1979) wiederholt.

D. Reichweite der Bindungswirkung völkerrechtlicher Verträge

185

fenembargos im Zusammenhang mit dem Bürgerkrieg in Liberia (Res. 788 [ 1992]) zeigen. Artikel 2 (6) UN-Charta wird somit als echte Ausnahme von der Pactatertiis-Regel gehandhabt.

3. Dogmatische Begründung der klassischen Einschränkungen zur Pacta-tertiis-Regel Die Diskussion um die dogmatische Begründung einer Bindung dritter Staaten durch völkerrechtliche Verträge ist traditionell schwerpunktmäßig im Hinblick auf die objektive Wirkung von territorial bezogenen Statusverträgen ("objective regimes") geführt worden. 177 Simma hat die in diesem Zusammenhang entwickelten dogmatischen Ansätze in drei Gruppen geteilt, die er als Ausnahme-Ansätze, Konsens-Ansätze und öffentlich-rechtliche Ansätze bezeichnet. 178 Diese Systematik kann zur Strukturierung der gesamten folgenden Darstellung verwendet werden, da sich darin auch die Argumente einordnen lassen, mit denen die Wirkung der Verträge für dritte Staaten in den übrigen unter D. I. 2. dargestellten Fällen begründet wird. Wie meistens bei einer solchen Gruppenbildung läßt sich in vielen Fällen keine ausschließliche Zuordnung vornehmen, da einige dogmatische Konstruktionen und Argumente übergreifend von Vertretern verschiedener Gruppen verwendet werden. So tragen beispielsweise nicht allein die Konsens-Ansätze dem Konsensprinzip Rechnung, sondern sind - wie zu zeigen sein wird - KonsensElemente auch bei den meisten anderen Ansätzen zu finden. Ziel der Systematisierung ist vor allem die Unterscheidung der grundsätzlichen Ausgangspunkte, von denen aus die Begründung vorgenommen wird.

a) Ausnahme-Ansätze In bezugauf Art. 36 (2) WVRK und Art. 2 (6) UN-Charta wie auch teilweise für Statusverträge wird argumentiert, es handele sich um eine dogmatische Ausnahme vom Grundsatz der Relativität der Verträge. Im Falle des Art. 36 (2) WVRK wird die Ausnahme deshalb als gerechtfertigt angesehen, weil ein Vertrag 177 Heute ist sie quasi untrennbar mit der Frage nach den Wirkungen des Antarktisvertrages verbunden, der je nach Standpunkt des jeweiligen Autors als Beispiel für ein objektives Regime genannt wird oder als Beispiel für einen Vertrag, dem andere falschlieherweise eine solche Wirkung zuschreiben, vgl. dazu Bruno Simma, 19 Cornell ILJ (1986), s. 189 (189). 178 Bruno Simma, 250 RdC (1994 VI), S. 221 (359 ff.); ders., 19 Cornell ILJ (1986), s. 189 ff.

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Tei13: Auswirkungen von Globalisierung aufvölkerrechtliche Verträge

zugunsten eines Drittstaates in der Regel zu dessen Vorteil sei, weshalb es ihm zugemutet werden könne, die ihm als Kehrseite seiner vertraglichen Begünstigung auferlegte Belastung hinzunehmen. 179 Die Befürworter einer Bindung dritter Staaten durch Art. 2 (6) UN-Charta begründen die Abweichung von der Pacta-tertiis-Regel mit dem besonderen Charakter der Vereinten Nationen. Der Organisation sei von der Mehrheit der Staaten und im Interesse aller Staaten die vorrangige Zuständigkeit für die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit übertragen worden. Damit sei eine vollständige Autonomie der Nicht-Mitglieder nicht zu vereinbaren.180 Dogmatisch wird dieses Ergebnis teilweise auf dem Wege der Auslegung des Art. 2 (6) UN-Charta begründee 81 , andere führen die Bindung von Nicht-Mitgliedern dagegen direkt auf den besonderen Charakter der Organisation und das Allgemeininteresse an der Friedenssicherung zurück. 182 In bezugauf Statusverträge kann vor allem der Sonderberichtserstatter der International Law Comrnission, Sir Waldock, den Ausnahme-Ansätzen zugeordnet werden. Er betrachtete die von diesen Regimen ausgehende Drittwirkung als besonderes Konzept innerhalb des Vertragsrechts, das eine Ausnahme von der Pacta-tertiis-Regel darstellt. 183AlsVoraussetzung für die Entstehung einer objektiven Ordnung stellte Waldock im wesentlichen zwei Kriterien auf: Erstens müßten die Vertragsparteien ihre Intention deutlich gemacht haben, allgemeine Rechte und Pflichten im allgemeinen Interesse hinsichtlich eines bestimmten geographischen Raumes schaffen zu wollen. Zum zweiten müßten die Staaten, die die Territorialhoheit über das betreffende Gebiet innehaben, am Vertrag beteiligt sein oder aber zumindest den durch den Vertrag getroffenen Regelungen zugestimmt haben. Die Zustimmung sollte nach dem Vorschlag Waldocks vermutet werden, sofern der dritte Staat nicht ausdrücklich seine Opposition deutlich gemacht hatte. Seien die beiden Voraussetzungen erfüllt, so sei das vertraglich geschaffene Regime sofort oder binnen kurzer Zeit mit Wirkung erga Georg Dahm/Jost Delbrück!Rüdiger Wolfrum, Völkerrecht 1/2, § 154, im Erscheinen. /an Brownlie, S. 691; R. Falk zitiert nach Lauri Hannikainen, Peremptory Norms, S. 220m. w. N. 181 Leeland Goodrich/Edvard Hambro/Anne Simons, S. 56 ff. ; Hans Kelsen, Law of United Nations, S. 85 f., 108; Ronald McDonald, FS Schwarzenberger, S. 196 (204 ff.). 182 So beispielsweise Christian Feist, § 11 III 3 (4) (aa) mit weiteren Nachweisen, im Erscheinen. 183 Bruno Simma, 19 Comell lU (1986), S. 189 (192 ff.), ordnet auch den Vorgänger Waldocks, Fitzmaurice, dem Ausnahmeansatz zu. Nach hier vertretener Auffassung ist dieser jedoch eher den "Konsens-Ansätzen" zuzuordnen und wird daher im Rahmen dieser Gruppe dargestellt. 179

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D. Reichweite der Bindungswirkung völkerrechtlicher Verträge

187

omnes zu versehen. 184 Waldock sieht damit die Drittwirkung zwar einerseits in dem Vertrag selbst begründet und unterscheidet sich insofern von den sogleich darzustellenden Konsens-Ansätzen, andererseits sichert jedoch auch er die Drittwirkung zusätzlich durch den Konsens jedenfalls der territorial zuständigen Staaten ab. Die Besonderheit besteht in der Fiktion des Einverständnisses, durch die es dem Dritten auferlegt wird, sich ausdrücklich gegen eine Bindung zu wehren.

b) Konsens-Ansätze Als zweite Gruppe unterscheidet Simma für objektive Regime die "consent based approaches", die eine objektive Wirkung dieser Verträge dann anerkennen, wenn gleichlautendes Gewohnheitsrecht entsteht, Nicht-Vertragstaaten die betreffenden Regeln ausdrücklich oder stillschweigend anerkennen, sich der vertraglich geschaffene Zustand historisch konsolidiert oder wenn dritte Staaten sich dem Vorwurf des estoppel aussetzen würden, widersprächen sie ihrer Bindung an die vertraglich statuierten Regeln. 185 So wollte beispielsweise Waldocks Vorgänger als SonderberichtserstatteT der International Law Commission, Sir Fitzmaurice, die Drittwirkung objektiver Regime auf der Grundlage von zwei Prinzipien anerkennen: Zum einen hätten die Staaten die völkerrechtliche Pflicht, Folgen und Wirkungen rechtmäßiger und gültiger internationaler Akte, die andere Staaten vorgenommen haben, ohne dadurch Rechte dritter Staaten im Rechtssinne zu beeinträchtigen, zu respektieren, anzuerkennen und im Rechtssinne zu akzeptieren. Hierauf verwies er insbesondere im Zusammenhang mit der vertraglichen Demilitarisierung bestimmter Gebiete. Das zweite, von Fitzmaurice für Fälle der Internationalisierung von Wasserstraßen herangezogene, Prinzip besagt, daß ein Staat den Bedingungen des vertraglich von anderen Staaten geschaffenen Regimes konkludent zustimmt, wenn er die Wasserstraße für seine Zwecke nutzt. 186 Er greift damit für die Begründung der Drittwirkung auf Völkergewohnheitsrecht und den Konsens der dritten Staaten zurück. Daneben soll hier Cahier genannt werden, der 1974 in einem Haager Kurs die "Effets des traites a l'egard des Etats tiers" 187 untersuchte und zu dem Ergebnis YBILC 1964, 2, 26 ff. Bruno Simma, 250 RdC (1994 VI), S. 221 (362 ff.); ders., 19 Cornell lU (1986), 189 (202 ff.). 186 YBILC 1960,2, 77, 87, 93, 98. 187 143 RdC (1974 III), S. 660-679. 184

s.

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Teil 3: Auswirkungen von Globalisierung auf völkerrechtliche Verträge

kam, daß die Wirkung gegenüber dritten Staaten- seien es die territorial zuständigen oder andere- immer von deren Zustimmung zu ihrer Bindung abhänge. Die Ansicht, daß eine Bindung dritter Staaten an einen durch wenige Staaten festgelegten Status deren (stillschweigende) Zustimmung bzw. deren Nicht-Widerspruch während eines bestimmten Zeitraumes voraussetzt, überwiegt insgesamt in der Literatur. 188 Die Drittwirkung wird also überwiegend über die Elemente des Konsens und des Zeitablaufs hergeleitet. In die Gruppe der Konsens-Ansätze sind schließlich auch die dogmatischen Begründungen einzuordnen, mit denen in den übrigen unter D. I. 2. genannten Fällen die Wirkungen der betreffenden Verträge für dritte Staaten erklärt wird. So ist, wie gesehen, die Bindung des Drittstaates nach Art. 35 WVRK wesentlich vom Konsens des Drittstaates getragen, da sie über dessen Zustimmung zu seiner Verpflichtung durch den Vertrag hergestellt wird. Die objektive Wirkung von Verfügungsverträgen wird allgemein über Normen des allgemeinen Völkergewohnheitsrechts hergeleitet, die darüber entscheiden, ob und ggf. welche Tatbestandswirkung solchen rechtsgeschäftlich herbeigeführten dinglichen Rechtsänderungen zukommt. 189 Daß Verträge, die internationale Organisationen oder andere Institutionen begründen, allgemeine Wirkungen über die unmittelbar am Vertrag beteiligten Staaten hinaus erzeugen, hat der IGH imReparations-for-Injuries-suffered-in-theService-of-the-United-Nations-Gutachten vornehmlich mit der Repräsentation der Staatengemeinschaft durch die Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen und insofern einer Art Mehrheitsentscheidung begründet. 190 Tomuschat beispielweise weist aber darauf hin, daß auch diese Tatbestandswirkung auf einer entsprechenden Regel allgemeinen Völkergewohnheitsrechts beruhe. 191

c) Öffentlich-rechtliche Ansätze Die in der dritten Gruppe zusammengefaßten Ansätze, die Sirnrna als "public law approches" bezeichnet, gehen bei der Begründung einer Drittwirkung von Statusverträgen von einer besonderen "quasi-legislativen" Befugnis der Vertragsparteien aus, aufgrund welcher diese Regelungen mit Verbindlichkeit für alle 188 Für zahlreiche weitere Nachweise siehe Rüdiger Wolfrum, Internationalisierung, S. 96 Fn. 253 und S. 407 f., sowie Christian Tomuschat, 28 BDGVR (1988), S. 14. 189 Christian Tomuschat, 28 BDGVR (1988), S. 9 (13); Georg Dahm/Jost Delbrückl Rüdiger Wolfrum, Völkerrecht 112, § 154, im Erscheinen. 190 ICJ Reports 1949, S. 185. 191 Christian Tomuschat, 28 BDGVR (1988), S. 9 (13).

D. Reichweite der Bindungswirkung völkerrechtlicher Verträge

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Staaten treffen können. Die Herleitung der besonderen Regelungskompetenz der vertragsschließenden Staaten wird dabei unterschiedlich vorgenommen. Ein solcher Ansatz kommt in der schon klassischen Passage aus der Individual Opinion Lord Mc Nairs im Rechtsgutachten des IGH zum International Status of South West Africa zum Ausdruck: "From time to time it happens that a group of great Powers, or a !arge nurnber of States both great and srnall, assume apower to create by a rnultipartite treaty sorne new international regime or status, which soon acquires a degree of acceptance and durability extending beyond the Iimits ofthe actual contracting parties, and giving it an objective existence. This power is used when some public interest is involved .. ." 192

Der IGH hatte festgestellt, daß der ursprünglich zwischen dem Völkerbund und Südafrika geschlossene Mandatsvertrag auch nach dem Erlöschen des Völkerbundes weiter Bestand habe und die Südafrikanische Union (die spätere Republik Südafrika) daher weiter den ihr durch den Mandatsvertrag auferlegten Verpflichtungen nachkommen müsse. Das Mandat sei "an international institution with an international object" und habe einen "international status for the Territory recognized by all the Members of the League ofNations" geschaffen. Es sei ein "sacred trust", errichtet "in the interest of the inhabitants of the territory, and of humanity in general", so daß das Erlöschen des Völkerbundes nicht zum Erlöschen des Mandats geführt habe. 193 Diese nunmehr Unabhängigkeit des Vertrages von den ursprünglichen Vertragsparteien betonte Lord McNair durch die oben zitierte Passage. Auch Lord McNair führte aber die Drittwirkung auf einen "degree of acceptance and durability extending beyond the actual contracting parties" und damit letztlich auf den Konsens der Drittstaaten zurück. 194 Allerdings hielt er wohl nicht die Zustimmung aller dritten Staaten für erforderlich, um die objektive Wirkung des Vertrages zu begründen. 195 Lord McNair hatte in ähnlicher Weise bereits das Urteil des Ständigen Internationalen Gerichtshofs im Wimbledon-Fall von 1923 interpretiert, in dem das Gericht entschieden hatte, daß der Nord-Ostsee-Kanal durch Art. 380 des Versailler Vertrages "has been perrnanently dedicated to the use of the whole world", weshalb alle Staaten in den Genuß des Rechtes der freien Durchfahrt durch den Kanal kommen, unabhängig davon, ob sie Parteien des Versailler Vertrages 192 ICJ Reports 1950, S. 153. Diese Ansicht wurde von Lord McNair nicht nur bezüglich dieses konkreten Falles auch an anderen Stellen vertreten, vgl. ders., Law of Treaties, S. 260 ff.; ders., 6 BYIL (1925), S. 111 (123 ff.). 19 3 ICJ Reports 1950, S. 132. 194 ICJ Reports 1950, S. 153. 195 So auch die Auslegung lost Delbrücks, FS Jänicke, S. 15 (21).

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Teil 3: Auswirkungen von Globalisierung auf völkerrechtliche Verträge

sind. 196 Die Formulierung, mit der der Gerichtshof den Kanal in den Dienst der gesamten Staatengemeinschaft stellte, rechtfertigt die Einordnung dieses klassischen Beispiels für einen Statusvertrag in die Kategorie der öffentlich-rechtlichen Ansätze, obwohl in der Völkerrechtsliteratur sehr unterschiedliche Auffassungen dazu vertreten werden, was genau der Gerichtshof mit der Figur der "permanent dedication" dogmatisch gemeint hat. Lord McNair argumentierte wie später auch im Südwestafrika-Fan mit einer besonderen Legislativgewalt der Vertragsstaaten, allerdings gepaart mit der Konstruktion eines dinglichen Rechts der Staatengemeinschaft an der Wasserstraße, das Deutschland durch den Vertrag anerkannt habe. 197 Andere greifen dagegen auf eine gewohnheitsrechtliche oder andere Begründungen zurück. 198

Dahm stimmte in seinen 1958 veröffentlichten Lehrbuch zum Völkerrecht dem oben zitierten Ausspruch Lord McNairs zu und bezeichnete den von Lord McNair beschriebenen Prozeß als "Hinauswachsen der Ordnung über den Vertrag" mit der Folge, daß die daraus entstehenden Normen Rechte und Pflichten für alle begründen. Die Befugnis der Vertragsparteien zur Regelung erga omnes sah Dahm namentlich bei multilateralen Verträgen als gegeben, die nach Auffassung der großen Mehrheit unter Einschluß der im internationalen Leben führenden Staaten dem Weltinteresse entsprechen und die die Vertragsparteien als objektive allgemeine Ordnung betrachten. Auch nach Dahm bedürfen diese Ordnungen jedoch grundsätzlich der Anerkennung durch die dritten Staaten. 199 Reuterschreibt in der Veröffentlichung zu seinem Haager Kurs von 1961, die wahre Erklärung für die objektive Wirkung vertraglicher Regime in den klassischen Fällen wie den Aaland Inseln oder der Organisation der Vereinten Nationen liege in den "fonctions gouvernementales ou quasi-legislatives exercees par les Grandes Puissances". Daraus leitet er für Fälle, in denen es um bedeutende Interessen der gesamten Staatengemeinschaft geht, die allgemeine Regel ab, daß eine Gruppe von Staaten, die die besonders an einer Frage interessierten Staaten angemessen repräsentiere, (manchmal) vertragliche Regelungen mit Wirkung auch für und gegen dritte Staaten treffen könne. 200 PCIJ, Series A, No.l (1923), S. 28. Lord Amold McNair, FS Perassi, S. 21 (27-30). 198 Überblick dazu bei Maurizio Ragazzi, S. 26 f. 199 Georg Dahm, S. 23-25. In der Weiterführung des Lehrbuches wird eine explizite Anerkennung der geschaffenen Ordnung nicht für erforderlich gehalten. Es genüge aus, daß die Staaten und Organisationen in ihrer großen Mehrheit ihre Anerkennung bekunden: Georg Dahm/Jost Delbrück/Rüdiger Wolfrum, Völkerrecht 1/1, S. 53 f. 200 Wörtlich heißt es: "Lorsque des consentements ou des institutions emanent d'un ensemble suffisament representatif des Etats principalement interesses a une question, ces 196

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D. Reichweite der Bindungswirkung völkerrechtlicher Verträge

191

Schließlich soll für die Kategorie der "public law approaches" noch der von Klein in seiner umfassenden Abhandlung zu Statusverträgen im Völkerrecht verfolgte Ansatz genannt werden. Klein verlangt ähnlich wie Waldock die Intention der Vertragsparteien, im Gemeinwohlinteresse eine Regelung erga omnes zu treffen, die Mitwirkung der territorial zuständigen Staaten und die zustimmende Haltung dritter Staaten, die in der von Waldock vorgeschlagenen Weise vermutet werden soll201 • Die von den Vertragsstaaten mit den Argumenten der Gemeinwohlbehauptungund der Mitwirkung der territorial Zuständigen aufgestellte Ordnungsbehauptung erstarkt nach Klein dadurch zu einer Regelungsbefugnis erga omnes, daß die nicht am Vertrag beteiligten Staaten sie durch ihre zustimmende oder zumindest nicht ablehnende Haltung validieren. 202 Es bleibt somit beim Konsens als Geltungsgrund der objektiven Wirkung des Vertrages, und mit der beschriebenen Zuerkennung der Zuständigkeit entfällt für Klein die Konstruktion des Vertrages zu Lasten Dritter. 203 Als ein Beispiel führt Klein den Fall der bereits genannten Aalandinselkonvention an, mit der 1856 Frankreich, England und Rußland die Entmilitarisierung dieser heute zu Finnland gehörigen Inseln festlegten. 1920 machte Schweden diesen Status gegen das nun unabhängige Finnland geltend, obwohl es selbst nicht an dem Vertrag beteiligt war. Die Expertenkommission des Völkerbundes vertrat die Auffassung, daß auch das zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses noch nicht existente Finnland an die Bestimmungen des Vertrages von 1856 als droit objectif gebunden sei. Als Begründung wurde zum einen genannt, daß die Vertragsstaaten mit der Demilitarisierung ein objektives Regime im Interesse der europäischen Staaten geschaffen hätten. Zum anderen sah das Komitee die Nicht-V ertragsstaaten, von denen die Mehrzahl keine Erklärung zu dem Vertrag abgegeben hatte, aufgrund positiver Reaktion oder wenigstens stillschweigender Zustimmung durch Zeitablauf an die Normen des Vertrages gebunden.204 consentements ou ces institutions peuvent parfois entrainer des effets a l'egard des Etats tiers." ( ... )"Si !es grands interets de Ia Communaute internationale sont en cause, pourquoi ne pas donner une autorite particuliere a un accord qui reunirait un ensemble largement representatif des Etats principalement interesses a une question?" Paul Reuter, I 03 RdC (1961 II), S. 425 (448 f., 450). Mit der Möglichkeit einer vertraglichen Bindung dritter Staaten haben sich auch die Forschungen der Harvard Law School im Rahmen des Kommentars zum Entwurf der Wiener Vertragsrechtskonvention auseinandergesetzt, 29 AJIL (1935), s. 918 (922 f.). 201 Eckart Klein, S. 212, geht dabei so weit, von einer Obliegenheit der Drittstaaten zum Widerspruch zu sprechen. 202 Eckart Klein, S. 210 ff.; zustimmend auch Alfred VerdrossiRruno Simma, S. 488 f. 203 Eckart Klein, S. 215. 204 Stellungnahme der Expertenkommission des Völkerbundes, League of Nations Official Journal, Special Supplement No. 3, October 1920.

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Teil 3: Auswirkungen von Globalisierung auf völkerrechtliche Verträge

Die Zuerkennung einer Regelungsbefugnis auch gegenüber Nicht-Vertragsparteien hängt somit für die Vertreter der öffentlich-rechtlichen Ansätze wesentlich von der Verfolgung eines öffentlichen oder Staatengemeinschaftsinteresses ab, wird von den meisten darüber hinaus aber zusätzlich durch das Erfordernis der Zustimmung oder Akzeptanz der dritten Staaten abgesichert. Wo diese Voraussetzungen erfüllt sind, wird eine Bindung dritter Staaten an ohne ihre direkte Beteiligung zustande gekommenen Regelungen für möglich gehalten?05 Überwiegend wird diese Bindung jedoch nicht auf den Vertrag als solchen zurückgeführt, sondern auf die Ausübung der besonderen Kompetenz zur Regelung mit Wirkung gegenüber allen Staaten. 206

d) Zwischenergebnis Obwohl die drei Gruppen von Begründungsansätzen von unterschiedlichen Ausgangspunkten ausgehen, läßt sich eine wesentliche Gemeinsamkeit feststellen: So gut wie alle Ansichten greifenjedenfalls sekundär auf das traditionelle Element des Konsens zurück, um die Wirkungen des Vertrages für dritte Staaten zu rechtfertigen. Die Anerkennung der Verbindlichkeit der Regelungen seitens der NichtVertragsstaatenwird als wesentliche Bedingung für deren Bindung an die Vertragsziele vorausgesetzt. Allein im Rahmen der öffentlich-rechtlichen Ansätze und bei der Begründung der Bindung dritter Staaten durch Art. 2 (6) UN-Charta finden sich Ansätze zu einer Überwindung des Konsenselementes und so zu einer echten Bindung von Nicht-Mitgliedstaaten durch einen für sie fremden Vertrag. 207

II. Bedeutung von Globalisierung im Zusammenhang mit der Frage der Drittwirkung völkerrechtlicher Verträge In den ersten beiden Teilen der Arbeit sind die Erscheinungsformen und Wirkungen von Globalisierung und die damit einhergehenden weitreichenden Veränderungen dargestellt worden. Im folgenden Abschnitt geht es darum, noch einmal die Bedeutung bestimmer Veränderungen für die Frage der Drittwirkung völkerrechtlicher Verträge herauszukristallisieren. So auch Manfred Lachs, 92 RdC (1957 II), S. 229 (315 ff.). Vgl. auch Bruno Simma, 250 RdC (1994 VI), S. 221 (360 ff.); ders., 19 Comell lU (1986), s. 189 (198 ff.). 207 Vgl. Nachweise oben Tei12, Fn. 180, 181, 182, und Paul Reuter, 103 RdC (1961 II), s. 425 (448 f., 450). 205

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D. Reichweite der Bindungswirkung völkerrechtlicher Verträge

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1. Zunehmende Notwendigkeit einer Bindung dritter Staaten Zunächst ist festzustellen, daß die Entwicklungen im Rahmen der Globalisierung in verschiedener Hinsicht die Vorzeichen der Diskussion um die Möglichkeit einer Drittwirkung völkerrechtlicher Verträge verändern. Zum einen bewirkt die im ersten Teil der Arbeit aufgezeigte zunehmende Vernetzung weiter Sachbereiche eine erhebliche Steigerung der Interdependenz der Staaten und anderen internationalen Akteure. An dieser Stelle kann ein kurzer Hinweis auf die ständig verbesserten technischen Möglichkeiten des Transports, der Kommunikation und des Handels sowie die sich erweiternden Problernfelder genügen, die zu einem immer engeren Zusammenwachsen der Staaten führen. 208 Dies hat zur Folge, daß heute, anders als früher, die auf dem Gebiet eines Staates vorgenommenen Handlungen Auswirkungen auf dem Gebiet eines anderen Staates, u. U. sogar in einem anderen Teil der Erde, erzeugen. Im Ergebnis werden so immer mehr Sachbereiche zum Gegenstand eines gemeinsamen (öffentlichen) Interesses. Zugleich sinkt dadurch in erheblichem Maße die Fähigkeit des einzelnen Staates, wesentliche Sachbereiche effektiv zu regeln und/oder in diesem Zusammenhang entstehende Probleme im Alleingang zu bekämpfen. Dies ist als Globalisierung in Form faktischer Entstaatlichung bezeichnet worden. Ein Zusammenhang mit der Problematik der Bindung dritter Staaten durch völkerrechtliche Verträge ergibt sich daraus, daß diese Entwicklungen, die in unterschiedlicher Weise entstaatlichend wirken, häufig nicht zum Wohl der Allgemeinheit beitragen, sondern negative Auswirkungen haben. Eine Bewältigung dieser Probleme ist nur durch Kooperation der Staaten möglich und erfordert regelmäßig eine Zurückstellung einzelstaatlicher Interessen und eine Einschränkung eigener souveräner Rechte der einzelnen Staaten zugunsten eines gemeinsamen (Vertrags-)Zieles. Gerade der zweitgenannte Aspekt setzt der Weiterentwicklung der notwendigen rechtlichen Regelungsinstrumentarien häufig Grenzen. 209 Um so wichtiger wird es, zu verhindern, daß einige wenige Trittbrettfahrer die von einer Mehrheit im Gemeinschaftsinteresse zur Bewältigung der Probleme beschlossenen, teilweise mit erheblichen Kosten verbundenen Regelungen unterwandern und dadurch in ihrer Wirksamkeit hemmen. Bei einer Zahl von mehr als 186 Staaten 208 Für eine ausführlichere Darstellung der Entwicklungen in den verschiedenen Sachbereichen und die sich im Zusammenhang damit ergebenden Auswirkungen vgl. Teil I, A. 209 Die United Nations Conference on the Environment in Rio 1992 ist nur ein Beispiel hierfür. Dort konnte man sich weder aufuniverselle Mechanismen zur Überwachung oder Durchsetzung umweltrechtlicher Pflichten einigen, noch sich zu einer generelleren Institutionalisierung der Zusammenarbeit im Umweltschutz entschließen. Vgl. dazu Rüdiger Wolfrum, FS Bernhardt, S. 1003 (1017).

13 Hingst

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Teil 3: Auswirkungen von Globalisierung auf völkerrechtliche Verträge

ist ein universales vertragliches Regelungssystem in fast allen Sachbereichen mehr als unwahrscheinlich. Eine Lösung dieses Problems könnte darin bestehen, unter bestimmten Voraussetzungen eine Bindung dritter Staaten an die betreffenden Verträge anzuerkennen, was allerdings bedeuten würde, daß in diesen Fällen die Souveränität der dritten Staaten im Interesse des höherrangigen Gemeinwohls zurückgestellt würde. Wo die Globalisierung im Interesse des Gemeinwohls abläuft, sind solche Maßnahmen in der Regel nicht erforderlich.

2. Auswirkungen von Globalisierung auf die staatliche Souveränität Im einleitenden Teil zur traditionellen Auffassung in bezug auf die Drittwirkung völkerrechtlicher Verträge ist der enge Zusammenhang zwischen der nationalstaatlichen Souveränität und dem das Völkerrecht traditionell beherrschenden Konsensprinzip angesprochen geworden. Die Rückführung des Völkerrechts auf den im Konsens zum Ausdruck kommenden Willen der Staaten spiegelt das Souveränitätsdogma des ausgehenden 19. Jahrhunderts wider. Jenem liegt die Auffassung vom Staat als im Naturzustand freies Subjekt zugrunde, dessen Freiheit allein mit seiner Zustimmung beschränkt werden kann. 210 Wolfgang Friedmann traf allerdings schon im Jahre 1964 die Feststellung, daß sich das Völkerrechtaufgrund der zunehmenden Veränderung der tatsächlichen internationalen Rahmenbedingungen in diversen Bereichen von einem Instrument der Koordination einzelstaatlicher Interessen fortentwickelt habe zu einem Recht der Kooperation. Er sah neben das klassische, der friedlichen Koexistenz der Staaten dienende Völkerrecht, welches vornehmlich durch Unterlassungspflichten gekennzeichnet war, eine auf positive Kooperation ausgerichtete "International Law of Co-operation" zum Schutze von Gemeinschaftsinteressen getreten. 211 Ähnliche Ansichten vertraten zu dieser Zeit auch andere Völkerrechtler, die dem Völkerrecht des modernen Staatensystems andere Aufgaben zumaßen. 212 Dabei ging es auf internationaler Ebene zunächst allein um die Zusammenarbeit zur Schaffung einer internationalen Friedensordnung. Weitere Felder wie die wirtschaftliche Kooperation, der Schutz der Menschenrechte, die Kommunikation oder der Schutz der Umwelt sind später hinzugetre-

Georg Dahm/Jost Delbrück/Rüdiger Wolfrum, Völkerrecht l/1, S. 36. Wolfgang Friedmann, insbes. S. 60 ff. 2 12 So beispielsweise Philip Jessup, S. 133; Hans Ballreich, FS Bilfinger, S. 23 ff. ; Hans Kelsen, Principles, S. 347 f. 210

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ten. 213 Damit ist dem traditionellen Verständnis von Souveränität eine neue Entwicklung entgegengetreten. 214 Die in Teil 1 dargestellten Entwicklungen und die daraus resultierende erhebliche Interdependenz der Staaten treiben den von Friedmann konstatierten und heute anerkannten215 Funktionswandel nicht nur noch weiter voran, sondern führen zu Regelungsnotwendigkeiten, die möglicherweise sogar noch über das Kooperationsrecht im Sinne Friedmanns hinausgehen. 216 In diesem Zusammenhang erlangt, wie gesehen, die Frage Relevanz, welche Rolle der staatliche Konsens 21 7 bei der Entstehung neuen internationalen Rechts spielt. Dies wiederum hängt in erheblichem Maße davon ab, welche Bedeutung der staatlichen Souveränität im Zeitalter der Globalisierung noch zukommt. Die im ersten Teil der Arbeit vorgenommene Untersuchung der Auswirkungen der Globalisierung auf die nationalstaatliche Souveränität2 18 hat gezeigt, daß zwar die (völker-)rechtliche Souveränität der Staatentrotz der erheblichen Wirkungen der Globalisierung bislang als gegeben angesehen werden muß. In bezug auf die materielle Seite der Souveränität, der hier wegen der Aufweichung der territorialen Souveränitätskomponente eine zunehmende Bedeutung beigemessen wird, 219 ist dagegen eine erhebliche globalisierungsbedingte Erosion festgestellt worden. Alle drei Formen der Denationalisierung, die gesellschaftliche, die faktische und die rechtliche, schränken die Souveränität des Staates in materieller Hinsicht praktisch so stark ein, daß diese erheblich erodiert ist. Aufgrund der engen Verknüpfung von Souveränität und Konsens sind Auswirkungen der eben beschriebenen Veränderungen auch auf die Bedeutung des "consent" im Völkerrecht zu erwarten. Logische Konsequenz der globalisierungsbedingten Relativierung der nationalstaatliehen Souveränität wäre eine entsprechende Abwertung der Bedeutung des staatlichen "consent" für die Entstehung bindenden Völkerrechts. Eine solche Entwicklung wird auch bereits in verschiedenen Zusammenhängen erkennbar. So sind als erste Schritte auf dem Weg zu einer Modifikation des Konsensprinzips bereits die Anerkennung der objektiven Wirkung bestimmter multilateraJonna Ziemer, S. 191 f.; Andreas Reinicke, S. 1. Dazu auch Georg Dahm/Jost Delbrück/Rüdiger Wolfrum, Völkerrecht 111 , S. 218 ff. 215 Vgl. dazu Jutta von Brunnee, 49 ZaöRV (1989), S. 791 ff. 216 Vgl. vorangehend Tei13, D. II. 1. 217 Verstanden als Zustimmung des Staates zu seiner rechtlichen Bindung ("consent"). 218 Vgl. dazu oben Teil I, A. 111. 1. 219 Vgl. dazu oben Teil I, A.lll. 1. 213

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Teil 3: Auswirkungen von Globalisierung auf völkerrechtliche Verträge

ler Verträge und die Regelung des Art. 2 (6) UN-Charta zu bewerten, die wie gerade gesehen zunehmend als eine Ausnahme von der Pacta-tertiis-Regel gehandhabt wird. Weiter ist auch die "Verselbständigung" der Vereinten Nationen in diesen Kontext einzuordnen, die-trotzanfänglichen Protests von seitender Staaten- in der Praxis schon früh begannen, das Verbot der Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Mitgliedstaaten (Art. 2 (7) UN-Charta) einzuschränken, wo überragende Gemeinschaftswerte wie beispielsweise Menschenrechte betroffen waren. 220 Heute setzen sie ihre Zwangsmaßnahmen über die klassische Friedenssicherung hinaus auch für den Schutz anderer hochrangiger Werte ein, der ursprünglich nicht als Gegenstand des Kapitels VII betrachtet wurde. Insgesamt bedeutet dies eine selbständige und unabhängig vom "consent" der einzelnen Mitgliedstaaten vorgenommene Erweiterung ihres Zuständigkeitsbereiches durch die Vereinten Nationen und damit eine Ausweitung des Bereichs, in dem die Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen eine Beschränkung ihrer Souveränität hinnehmen müssen. 221 Als ein weiterer Vorstoß in Richtung einer Einschränkung des Konsensprinzips ist die allgemeine Anerkennung der Kategorie des ius cogens, zwingenden Rechts, zu nennen. Zu dieser gehören solche Normen, die im gemeinsamen Interesse aller Staaten gelten und die tief im allgemeinen Rechtsbewußtsein verankert sind. 222 Hinter ihnen stehen gemeinsame Grundwerte und fundamentale Interessen der gesamten Staatengemeinschaft223, und die aus ihnen resultierenden Pflichten und Rechte binden und berechtigen die gesamte Staatengemeinschaft.224 Nach der Definition des Art. 53 WVRK muß dazu die betreffende Regel von der internationalen Staatengemeinschaft in ihrer Gesamtheit als ius cogens angenommen und anerkannt werden. "In ihrer Gesamtheit" bedeutet nach überwiegender 220 Die Generalversammlung der Vereinten Nationen hat von Beginn ihrer Befassung mit dem Thema des Menschenrechtsschutzes an den Einwand betroffener Staaten zurückgewiesen, es handele sich bei diesem Thema um einen von Art. 2 (7) UN-Charta geschützten Bereich. Diese Interpretation des Art. 2 (7) UN-Charta entspricht auch der heute herrschenden Auffassung in der Rechtslehre, vgl. nur Felix Ermacora, in: Bruno Simma et al. (Hrsg.), The Charter of the United Nations, Art. 2 (7), Rn. 19, 33, der auch eine Liste der bedeutendsten Fälle anführt, mit denen sich Sicherheitsrat und Generalversammlung in dieser Hinsicht befaßt haben. 22 1 Vgl. dazu auch bereits oben Teil 1, C. 222 Vgl. Alfred Verdross, 60 AJIL (1966), S. 55 (55 f.); Christian Tomuschat, 241 RdC ( 1993 IV), S. 195 (306 ff.); Bruno Simma, 250 RdC ( 1994 VI), S. 217 (286 f.); BVerfG 18, s. 448 f. 223 Hanspeter Neuhold, 28 BDGVR (1988), S. 51 (61); Bruno Simma, 250 RdC (1994 VI), S. 217 (288 f.); Lauri Hannilwinen, Peremptory Norrns, S. 1 ff. 224 Alfred VerdrossiRruno Simma, S. 331.

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Auffassung, daß Jus-cogens-Nonnen von der großen Mehrheit der Staaten für die gesamte Staatengemeinschaft formuliert werden, daß eine große Mehrheit folglich Normen setzen kann, denen eine kleine Minderheit nicht zugestimmt hat. 225 Dem Konsens der Staaten werden darüber hinaus auch insofern Schranken gesetzt, als daß den Staaten durch die in Art. 53 WVRK angeordnete Nichtigkeitsfolge die Möglichkeit genommen wird, Abweichungen von Vorschriften des zwingenden Rechts inter partes zu vereinbaren. Eine noch weitergehende Zurückdrängung des staatlichen "consent" wird teilweise anhand der Kategorie der Erga-omnes-Normen vorgenommen. Deren Existenz erkannte der IGH erstmals in seinem bekannten obiter dieturn im Urteil Barcelona-Traction an. 226 Dort stellte das Gericht fest, daß es neben Verpflichtungen gegenüber einem oder mehreren Staaten auch solche Rechtspflichten gibt, deren Erfüllung gegenüber der Staatengemeinschaft als Einheit geschuldet werden. Diese sog. obligationes erga omnes umfassen derart bedeutende und im Interesse der gesamten Staatengemeinschaft bestehende Rechte, daß alle Staaten ein rechtliches Interesse an ihrem Schutz haben. 227 Teilweise wird die Ansicht vertreten, das in diesem Urteil aufgestellte Erga-omnes-Konzept beinhalte unter anderem, daß selbst Staaten, die nicht an der Schaffung der betreffenden völkerrechtlichen Normen beteiligt waren, durch diese gebunden sind. 228 Nach dieser Ansicht sind Erga-omnes-Normen vom staatlichen "consent" grundsätzlich unabhängige Verpflichtungen für und gegenüber allen Staaten, weil sie hochrangige Diese Auslegung wurde bereits vom Chairman des Drafting Committee der Wiener Vertragsrechtskonvention, M. Yasseen, vertreten, der dem Ausdruck "international community as a whole" folgende Bedeutung gab: "By inserting the words ,as a whole ' in Article 50 the Drafting Committee had wished to stress that there was no question of requiring a rule to be accepted and recognized as peremptory by all States. lt would be enough if a very !arge majority did so; that would mean that, if one State in isolation refused to accept the peremptory character of a rule, or if that State was supported by a very small number of States, the acceptance and recognition of the peremptory character of the rule by the international community as a whole would not be affected." United Nations Conference on the Law ofTreaties 1968, S. 472, zitiert nach Lauri Hannikainen, Peremptory Norms, S. 210, Fn. 12. Diese Auslegung ist heute weitestgehend anerkannt, vgl. statt aller Christian Tomuschat, 241 RdC (1993 IV), S. 195 (307); Bruno Simma, 250 RdC (1994 VI), S. 217 (290, 293); A. de Hoogh, 42 AJPIL (1991 ), S. 183 (187); Giorgio Gaja, 172 RdC (1981 ), S. 271 (283); vgl. dagegen aber auch die Diskussion bei Jonathan Charney/Gennady Danilenko, S. 46 ff. Zu einer weiteren Darstellung des Meinungsstandes auch Lauri Hannikainen, Peremptory Norrns, S. 210 ff. 226 Case Conceming the Barcelona Traction, Light and Power Company, Limited (Belgium vs. Spain), ICJ Reports 1970, S. 3 ff. ; im folgenden Barcelona-Traction-Fall. 227 Barcelona-Traction-Fall, ICJ Reports 1970, S. 32. 228 Vgl. lost Delbrück, 4 IJGLS (1997), S. 277 (289). 225

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Teil 3: Auswirkungen von Globalisierung auf völkerrechtliche Verträge

(Gemeinschafts-)Interessen schützen. 229 Diese Auffassung bedeutet einen deutlichen Bruch mit dem traditionellen Konsensprinzip. Auch wenn diese weite Interpretation des Barcelona-Traction-Urteils nicht als überwiegende Ansicht bezeichnet werden kann, so stellt doch die Kategorie der Erga-omnes- Verpflichtungen heute einen allgemein anerkannten Bestandteil der Völkerrechtsordnung dar. 230 In Parallele zu der Anerkennung von zwingendem Völkerrecht und Ergaomnes-Normen ist schließlich auch die zunehmende Ablehnung der "Persistentobjector"-Regel zu sehen. Nach dieser kann ein Staat, der sich der Entstehung einer Gewohnheitsrechtsnorm von Anfang an und kontinuierlich durch Proteste widersetzt, die Entstehung der Norm zwar nicht verhindern. Er wird jedoch durch die entstandene Norm nicht gebunden. 231 Eine Ausnahme bietet dabei anerkanntermaßen das ius cogens, da diese Normen nicht der Dispositionsbefugnis der einzelnen Staaten unterliegen. Auch wo es noch nicht um zwingendes Völkerrecht geht, wird die Lehre vom "persistent objector" allerdings in jüngerer Zeit zunehmend kritisch betrachtet und teilweise vollkommen abgelehnt. Es mehrt sich die Ansicht, die Regel vom "persistent objector" sei untragbar, wo es um hochrangige Gemeinschaftsinteressen geht; ein Staat könne sich auf diesem Wege nicht den werthaften Grundlagen des Völkerrechts entziehen und sich Vorteile gegenüber und auf Kosten der restlichen Staatengemeinschaft verschaffen.232 Auch im RahMaurizio Ragazzi, S. 202; der Sache nach auch lost Delbrück, FS Jaenecke, S. 15 f. Stark umstritten und weitestgehend offen ist dagegen die Frage, wem im Falle eines Verstoßes gegen Erga-omnes-Pflichten die Befugnis zum Ergreifen von Durchsetzungsmaßnahmen zustehen soll. Daß nach dem obiter dieturn des IGH alle Staaten ein rechtliches Interesse an dem Schutz von Erga-omnes-Normen haben, legt die Interpretation nahe, daß im Falle einer Verletzung derselben nicht nur die unmittelbar von den Folgen betroffenen, sondern alle Mitglieder der Staatengemeinschaft, der gegenüber die Pflicht besteht, betroffen sind und alle über korrespondierende Rechte verfügen, um darauf zu reagieren. Der Streit um diesen Punkt braucht hier jedoch nicht vertieft zu werden. Siehe dazu u. a. Jochen Frowein, 248 RdC (1994 IV), S. 345 (405 ff.); Bruno Simma, in: Jost Delbrück (Hrsg.), The Future of International Law Enforcement, S. 125 ff. ; ders., 30 AVR (1992), S. 86 (93 ff.). 231 Noch weitestgehend herrschende Lehre, vgl. statt vieler Robert Jennings/Arthur Watts, Oppenheim's International Law, Part 1, S. 29; /an Brownlie, S. 10; Heintschel von Heinegg, in: Knut Ipsen (Hrsg.), Völkerrecht,§ 16 Rn. 26 f.; Maurice H. Mendelsohn, 272 RdC (1998), S. !55 (227 ff.). 232 Christian Tomuschat, 28 BDGVR (1988), S. 9 (37); ders., 241 RdC (1993 IV), S. 195 (270); Jonathan Chamey, 87 AJIL (1993), S. 529 (538 ff.); Jonna Ziemer, S. 258 f.; Georg Dahm/Jost Delbrück/Rüdiger Wolfrum, Völkerrecht 111, S. 55 f.; lost Delbrück, FS Jaenicke, S. 15 (30); ähnlich auch Oskar Schachter, International Law, S. 13 f.; aus anderen Gründen kritisch Ted Stein, 26 Harvard lU (1985), S. 457 ff. 229

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men des Völkergewohnheitsrechts finden sich damit zunehmend Befürworter einer Zurückdrängung des staatlichen "consent". Insgesamt zeigt sich somit in verschiedenen Zusammenhängen ein allmählicher Wandel im Sinne einer ansatzweisen Abkehr vom strikten Konsensprinzip, das bei der Regelung wichtiger Gemeinschaftsinteressen zunehmend einen Stolperstein darstellt. Ist die Zustimmung des Staates zu seiner Bindung nicht mehr conditio sine qua non, so ist in der Folge auch die Pacta-tertiis-Regel nicht mehr unantastbar und stünde einer Drittwirkung völkerrechtlicher Verträge nicht mehr zwingend entgegen. Theoretisch werden damit über die oben genannten klassischen Einschränkungen hinaus Fälle der Drittwirkung völkerrechtlicher Verträge denkbar. Allein dieser Befund sagt allerdings noch nichts über die konkreten Voraussetzungen für eine Bindung dritter Staaten aus. Es stellt sich daher die Frage, wie eine Drittwirkung völkerrechtlicher Verträge zusätzlich zu dem Souveränitätsaspekt und der damit zusammenhängenden Bedeutung des staatlichen "consent" dogmatisch begründet werden könnte.

3. Konstitutionalisierung des Völkerrechts Gerade auch im Zusammenhang mit den Kategorien des ius cogens und der Erga-omnes-Norrnen wird eine Entwicklung diskutiert, die als Konstitutionalisierung des Völkerrechts bezeichnet wird. Gemeint ist damit im allgemeinen die allmähliche Herausbildung einer die internationale Gemeinschaft tragenden Verfassungsordnung, die Interessen der Staatengemeinschaft anerkennt, verbindliche Ziele und Werte der Gemeinschaft vorgibt und Mechanismen zu ihrer Durchsetzung einführt. 233 Auch die Konstitutionalisierung findet noch nicht umfassend, sondern nur in unterschiedlichen Teilbereichen des Völkerrechts statt. Wo jedoch Konstitutionalisierungsansätze vorhanden sind, rückt die Orientierung des Völkerrechts an materiellen Werten stärker in den Vordergrund, so daß es auch zu einer Zurückdrängung des souveränen Willens der Staaten kommen kann. Insofern sind auch die Auswirkungen der Globalisierung auf die staatliche Souveränität und die Schlußfolgerungen, die voranstehend (vgl. bb)) daraus gezogen wurden, den als 233 Vgl. Jochen Frowein, 39 BDGVR (2000), S. 427 ff.; ders., 248 RdC (1994 IV), S. 345 (355-364); Daniel Thürer, 5 SZIER (1995), S. 455 (456 f.). Einen solchen Ansatz verfolgen auch Hennann Mosler, 140 RdC (1974 IV), S. 1 (33 ff.) ; Thomas Franck, Legitimacy, S. 201 ff.; ders., 82 AJIL (1988), S. 705 (753 ff.); Rene-Jean Dupuy, Communaute Internationale, insbes. S. 145 ff.; Jonathan Chamey, 87 AJIL (1993), S. 529 ff.; Bruno Simma, 250 RdC (1994 VI), S. 217 ff.; Daniel Thürer, in: Rainer Hofmann (Hrsg.), NonState Actors, S. 37 (52 ff.).

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Konstitutionalisierung bezeichneten Entwicklungen zuzuordnen. Diese bilden damit den völligen Gegensatz zum reinen, auf dem Willen der Staaten aufbauenden Koordinationssystem (Koexistenzrecht im Sinne Friedmanns), welches in seiner extremsten Theorie davon ausgeht, daß der Wille der Staaten in allen Fällen letztendlich maßgeblich ist und die Möglichkeit einer Bindung an höhere Werte nicht besteht. 234 Wenn es auch falsch wäre zu sagen, daß die Behauptung, Anerkennung und Durchsetzung von Interessen der Staatengemeinschaft früher überhaupt keine Rolle gespielt hat, 235 so ist sicher, daß die Bedeutung dieses Elements im heutigen Völkerrecht zunimmt. Dabei erlangen ein weiteres mal insbesondere die weltumspannenden Problemlagen und die daraus erwachsenden Regelungsnotwendigkeiten Bedeutung, an deren effektive Erfüllung alle Staaten ein Interesse haben müssen. 236 Weltweite und regionale Regelsysteme, die als Antwort auf die veränderten staatlichen Aufgaben geschaffen werden - so beispielsweise im Rahmen der WTO, im UN-Seerechtsübereinkommen, in Menschenrechts- und Umweltverträgen -,treiben die konstitutionalisierende Entwicklung weiter voran, wobei der Verdichtung regionaler Integrationssysteme auf völkerrechtlicher Grundlage (insbesondere die Europäische Union, zunehmend aber auch die Europäische Menschenrechtskonvention) 237 eine besondere Bedeutung zukommt. 238 Eine weitere Vertiefung dieser Thematik ist an dieser Stelle nicht erforderlich. 239 Für die anstehende Untersuchung genügt die Feststellung, daß ein Teil der hier als Globalisierung bezeichneten Prozesse zugleich den als Konstitutionalisierung bezeichneten Entwicklunegn zuzuordnen ist. In deren Rahmen erlangen gemeinsame (öffentliche) Interessen aller Staaten stärkeres Gewicht und werden zur Grundlage rechtlicher Entscheidungen gemacht. Damit ist zugleich eine Bedeutungsabnahme des souveränen Willens der Staaten verbunden, so daß die Konstitutionalisierung auch für die Frage der Drittwirkung völkerrechtlicher Verträge von Bedeutung ist.

Jochen Frowein, 39 BDGVR (2000), S. 427 (428). Siehe dazu Jochen Frowein, FS Doehring, S. 219 ff. 236 Vgl. vorangehend Teil 3, D. II. 1. 237 Christian Walter, 59 ZaöRV (1999), S. 961 ff. ; Jochen Frowein, 39 BDGVR (2000), S. 427 (438 f.); ders., 248 RdC (1994 IV), S. 345 (355-364). 238 Vgl. zu diesen Aspekten bereits die Darstellung in Teil I, A. 239 Vgl. dafüru. a. Jochen Frowein, 39 BDGVR (2000), S. 427 ff.; ders., 248 RdC (1994 IV), S. 345 (355-364); Daniel Thürer, 5 SZIER (1995), S. 455 (464 f.), der auch einzeln auf die seiner Ansicht nach tragenden Elemente eines sich herausbildenden völkerrechtlichen Verfassungssystems eingeht. 234

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111. Reaktionen in neuerer Lehre und Praxis

Recht und Rechtswissenschaft dienen neben ihrer Ordnungsfunktion stets auch als Instrument des gesellschaftlichen Wandels und Fortschritts. Um diesen unterstützen und vorantreiben sowie negativen Entwicklungen entgegenwirken zu können, müssen die Bedürfnisse der gesamten Gesellschaft reflektiert und muß auf diese reagiert werden. An dieser Stelle wird untersucht, wie die Völkerrechtswissenschaft die globalisierungsbedingten Veränderungen im Hinblick auf die Frage der Drittwirkung völkerrechtlicher Verträge verarbeitet hat. Im Anschluß an diese eher theoretische Seite wird sodann dargestellt, auf welche Weise in der Praxis versucht wird, ein Unterlaufen des vertraglichen Regelungszieles durch Nichtvertragsstaaten zu verhindern und dritte Staaten zur Anerkennung und Einhaltung der wesentlichen Vertragsinhalte zu bewegen. Wo möglich, sollen die unterschiedlichen aufgezeigten Regelungsmechanismen daraufhin bewertet werden, ob und inwieweit sie die von der Lehre entwickelten theoretischen Ansätze bestätigen und stützen.

1. Aufarbeitung der Veränderungen durch die Völkerrechtswissenschaft a) Neuere dogmatische Ansätze zur Begründung einer Bindung dritter Staaten Es ist deutlich geworden, daß die dogmatischen Begründungen zu den klassischen Einschränkungen zur Pacta-tertiis-Regel überwiegend den Konsens der Nicht-Vertragsparteien voraussetzen, sollen diese an bestimmte Vertragsregeln gebunden werden. Bei Zugrundelegung dieser Prämisse läßt sich die Problematik einzelner Trittbrettfahrer, die die Anstrengungen der übrigen Staatengemeinschaft zur Lösung von Sachfragen im Gemeinschaftsinteresse zunichte machen können, jedoch in der Regel nicht lösen. Die dringende, in manchen Bereichen nahezu zwingende Notwendigkeit, globale Probleme durch die Schaffung allgemeinverbindlicher Regeln zu lösen, hat in der jüngeren Völkerrechtslehre zur Entwicklung neuer dogmatischer Konzepte geführt, mittels derer man die Fesseln des Konsensprinzips zumindest in bestimmten Zusammenhängen ansatzweise lockern will. Die folgende Darstellung beschränkt sich auf einige wenige Vertreter, die einen in gewisserWeise neuen dogmatischen Ansatz entwickelt haben, um zur Begründung einer Bindung dritter Staaten an von anderen Staaten aufgestellte Regeln zu gelangen. Auf die Vielzahl von Veröffentlichungen, die ebenfalls Veränderungen des Völkerrechts wie z. B. eine Paradigmenverschiebung von Individualinteressen zu Gemeinschaftsinteressen feststellen, deren Bedeutung für die Drittstaaten-Pro-

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Teil 3: Auswirkungen von Globalisierung auf völkerrechtliche Verträge

blematik aber wenn überhaupt nur in Ansätzen dogmatisch aufarbeiten240, kann aus Raumgründen nicht einzeln eingegangen werden.

aa) Generalinternational Law Auch Charne/41 teilt die hier vertretene Auffassung, daß es zur Bekämpfung bestimmter globalisierungsbedingter Probleme erforderlich - und die Staatengemeinschaft sogar verpflichtet- sein kann, Regeln mit Wirkung für alle Staaten aufzustellen, ohne daß sich einzelne der Bindung mit dem Argument entziehen könnten, sie hätten der betreffenden Norm nicht zugestimmt. Die traditionellen Völkerrechtsquellen des Vertrags- und des Gewohnheitsrechts hälter-in ihrer bisherigen Form- allerdings für (oftmals) ungeeignet, um den rechtlichen Bedürfnissen der Staatengemeinschaft in der Gegenwart gerecht zu werden. Bei völkerrechtlichen Verträgen sei die Zeit bis zu ihrem Inkrafttreten häufig sehr lang und eine quasi universelle Mitgliedschaft werde kaum je erreicht. 242 Die traditionelle Form der Gewohnheitsrechtsbildung ist seiner Ansicht nach aufgrund der erheblichen Vergrößerung der Staatenzahl und wegen der Zunahme der zu regelnden Sachbereiche für die heutigen Zwecke ebenfalls nicht mehr tauglich. 243 Charney sieht die Lösung in einer Art "Reform" des Gewohnheitsrechtsbildungsprozesses und bezeichnet das mittels des reformierten Prozesses gebildete Recht als "General International Law". 244 Wesentliche Neuerung ist dabei die Rolle, die Charney multilateralen Foren wie der Generalversammlung und dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, regionalen Organisationen, ständigen und ad hoceinberufenen diplomatischen Konferen240 So beispielsweise Eibe Riede/, in: Jost Delbrück (Hrsg.), New Trends in International Lawmaking, S. 61 (insbes. 116, 138), der letztlich wieder auf allgemeine Rechtsgrundsätze im Sinne des Art. 38 (c) IGH Statut oder Völkergewohnheitsrecht zurückgreift, um zu belegen, daß bestimmte vertraglich kodifizierte Prinzipien auch dritte Staaten binden. Repräsentativ sind in diesem Sinne auch die verschiedenen Diskussionsbeiträge in lost Delbrück (Hrsg.), New Trends in International Lawmaking, passim. 241 Jonathan Chamey, 87 AJIL (1993), S. 529 ff.; ders., in: Jost Delbrück (Hrsg.), New Trends in International Lawmaking, S. 171 ff. 242 Jonathan Chamey, 87 AJIL (1993), S. 529 (551 ). 243 Jonathan Chamey, ibid., S. 529 (543). 244 Es geht Chamey somit nicht um die Bindung dritter Staaten durch völkerrechtliche Verträge, die primär Gegenstand dieser Untersuchung ist. In Anknüpfung an bzw. mit Bezug auf sein Konzept des "General International Law" sind jedoch weitere Ansätze zur Begründung einer auch vertraglichen Drittwirkung entwickelt worden. Aus diesem Grunde soll auch Chameys Ansatz hier dargestellt werden.

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zen und internationalen Organisationen einräumt. Bedeutende Entwicklungen des internationalen Rechts nähmen heute ihren Ausgang von im Rahmen dieser Institutionen diskutierten, verhandelten und verabschiedeten Vorschlägen, Berichten, Resolutionen, Protokollen oder auch völkerrechtlichen Verträgen, und der dort ablaufende Prozeß trage zur Bildung und Herauskristallisierung von neuen Rechtsregeln bei. 245 Es werde mit dem durch das Forum erarbeiteten Produkt sozusagen ein Keim angelegt, aus dem "General International Law" zur Entstehung gelange.246 Von Bedeutung ist dabei für Charney weniger, ob die Arbeit dieser Foren und die daraus hervorgehenden Ergebnisse als Staatenpraxis oder opinio iuris im Sinne der Gewohnheitsrechtsbildung zu qualifizieren sind. Ihre Bedeutung ist nach seiner Auffassung vielmehr darin zu sehen, daß sie die Rechtwerdung der gefundenen Lösungen erheblich beschleunigen, da solche Regelungen, die anschließend außerhalb des Forums durch entsprechende Praxis oder auf andere Weise unterstützt werden, regelmäßig schnell zu Normen des internationalen Rechts erstarken.247 Eine einstimmige Unterstützung der betreffenden Regelungen im Rahmen des Forums sei dazu nicht erforderlich. Häufig reiche Nichtwiderspruch im consensus aus (Acquieszenz), aber auch einige Gegenstimmen schadeten nicht. Wieviel Opposition noch unschädlich sei, hänge wesentlich davon ab, ob sich der Widerspruch auf Kernelemente oder Randfragen der Regelung beziehe und davon, wie umfangreich und nach Interessengruppen verbreitet die Unterstützung der Regelung sei. Der Umfang der- wenn überhaupt- zusätzlich erforderlichen forumsexternen Staatenpraxis oder opinio iuris sei eine Frage des Einzelfalls.248 In der Theorie hält Charney es für möglich, daß eine klar formulierte und stark unterstützte Erklärung eines nahezu universalen Forums für die Entstehung einer neuen Regel internationalen Rechts ausreichen kann. 249 Die Bildung von "General International Law" setzt folglich anders als traditionelles Völkergewohnheitsrecht keine "general practice over time" mehr voraus. Aufgrund der starken Verbreitung multilateraler Foren hält es Charney bei besonders regelungsbedürftigen (und folglich rechtsbildungsrelevanten) Angelegenheiten für wahrscheinlich, daß sie auf dem Wege der Rechtwerdung ein oder mehrere solche Foren durch245 Jonathan Chamey, 87 AJIL (1993), S. 529 (544). 246 Jonathan Chamey, in: Francesco Francioni!fullio Scovazzi (Hrsg.), International

Law for Antarctica, S. 55 (82), wo er schwerpunktmäßig die Möglichkeit der Entstehung von "General International Law" auf der Basis von Verträgen behandelt. 247 Jonathan Chamey, 87 AJIL (1993), S. 529 (545). 248 Für nähere Kriterien siehe Jonathan Chamey, ibid., S. 529 (545 f.). Charney in der Sache zustimmend: Barry Kellman, in: Julie Dahlitz (Hrsg.), Future Legal Restraints on Arms Proliferation, Vol. III, S. 151 (169 f.). 249 Jonathan Chamey, 87 AJIL (1993), S. 529 (546).

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laufen. In diesem Falle ersetze dieser Prozeß den traditionellen Gewohnheitsrechtsbildungsprozeß. 250 Das so gebildete .,General International Law" ermögliche die Bindung ausnahmslos aller Staaten und damit die effektive Bekämpfung gemeinsamer Probleme mittels internationalen Rechts. 251

bb) Treaties providing for basic interests of the international community Tomuschaf-52 hat sich in seinem Haager Kurs zu .,Obligations Arising for States Without or Against Their Will" mit der Möglichkeit einer Bindung dritter Staaten durch völkerrechtliche Verträge auseinandergesetzt Die Verbindlichkeit eines Vertrages für dritte Staaten, die diesen nicht angenommen haben, hält er auch dann nicht für möglich, wenn der Vertrag dem Schutz grundlegender Interessen der internationalen Gemeinschaft dient, denn Grund für die Bindungswirkung eines Vertrages ist allein die Vereinbarung zwischen den Vertragsparteien. 253 Eine Drittbindung kann sich nach Ansicht Tomuschats aber bei solchen Verträgen ergeben, deren Sinn in der Konkretisierung und Ausführung bestimmter Prinzipien besteht, welche selbst konstitutive Elemente der internationalen Rechtsgemeinschaft darstellen (gewohnheitsrechtlich geltende Grundprämissen der Völkerrechtsordnung). In diesem Fall bringe der Vertrag nur bereits unabhängig von ihm bestehende Rechtsbeziehungen zum Ausdruck und definiere diese konkret. Der Vertrag als solcher begründe somit keine neuen Rechte und Pflichten für den Drittstaat Diese würden letztlich auf das dem Vertrag zugrundeliegende, gewohnheitsrechtlich geltende Ordnungsprinzip zurückgeführt, welches durch das Vertragsrecht konkretisiert werde und dadurch seine (Allgemein-)Verbindlichkeit erhalte, ohne daß noch lange in die Suche nach einer bestätigenden Praxis der Staaten eingetreten werden müsse. 254 Insofern führt auch das Konzept Tomuschats zur Herausbildung einerneuen Art Völkergewohnheitsrechts. Dieses wird aber auf Jonathan Chamey, ibid., S. 529 (549). Jonathan Chamey, ibid., S. 529 (551). 252 Christian Tomuschat, 241 RdC (1993 IV), S. 195 ff. 253 Christian Tomuschat, ibid., S. 195 (269). 254 Christian Tomuschat, 28 BDGVR (1988), S. 9 (35). Der Autor hebt hervor, daß dies nicht bedeute, den Vertrag als Staatenpraxis oder opinio iuris im Sinne der Gewohnheitsrechtsbildung zu verstehen. Vielmehr sieht er in dem hier diskutierten Fall Besonderheiten, die aus dem Koordinatensystemjener Lehre herausführen. Allerdings verwischten durchaus die Grenzlinien, wenn man dem Vertrag lediglich eine stützende Funktion im Verhältnis zu dem in den Grundprämissen der gegenwärtigen Völkerrechtsordnung verwurzelten Gewohnheitsrecht zubillige. 250 251

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der Basis gewohnheitsrechtlich geltender Grundprämissen der Völkerrechtsordnung durch den Vertrag generiert. 255 Grundlegende Voraussetzung für die so begründete Anwendung der vertraglichen Regelungen auf Drittstaaten ist dabei, daß die Teilnahme an dem Kodifikationsprozeß (Ausarbeitung, Ratifizierung, Beitritt) allen Staaten offen gestanden hat. Darüber hinaus ist die Billigung der vereinbarten Regeln durch eine Mehrheit repräsentativer Staaten aus jeder der Weltregionen erforderlich. Die inhaltliche Notwendigkeit einer solchen Regelung als Konkretisierung einer gewohnheitsrechtlich geltenden (Abwehr-)Norm in Verbindung mit verfahrensmäßiger Gerechtigkeit vermag nach Ansicht Tomuschats den Schluß auf die Verbindlichkeit des vertraglichen Ordnungsentwurf auch für Außenseiter zu tragen. Dies bedeutet gleichzeitig eine Absage an die Lehre vom "persistent objector", die jedenfalls in diesem Spektrum des Völkergewohnheitsrechts nicht haltbar ist. 256 Die objektive Wirkung beschränkt sich nach Tomuschat allerdings auf das in Vertragsform gegossene Grundprinzip (bzw. die Grundregel), eine Bindung an das Prinzip konkretisierende Detail- und Verfahrensregelungen könne damit nicht begründet werden. 257 So könne beispielsweise ein Staat, ohne Mitglied der betreffenden Konventionen zu sein, nicht zur Reduzierung seiner Kohlendioxid-Produktion um einen bestimmten Prozentsatz verpflichtet werden. Unter der Voraussetzung, daß die Notwendigkeit einer Reduzierung des weltweiten KohlendioxidAusstoßes zum Schutz des Weltklimas nachgewiesen sei, könne sich aber kein Staat den gemeinsamen Schutzbemühungen entziehen, so daß zumindest eine Pflicht zur Kooperation mit den vertraglich gebundenen Staaten bestünde. 258

cc) Nutzungsordnungen im Allgemeininteresse Intensiv setzt sich auch Zieme~ 59 mit der dogmatischen Begründung einer Bindung dritter Staaten durch völkerrechtliche Verträge auseinander. Aufbauend auf einer Untersuchung verschiedener vertraglicher Ordnungssysteme jüngeren Da255 Er selbst verwendet auch den Begriff der mittelbaren Drittwirkung, vgl. 28 BDGVR (1988), s. 9 (36). 256 Christian Tomuschat, ibid., S. 9 (37); ders., 241 RdC (1993 IV), S. 195 (270). 257 "( ••• ) by this line of reasoning one cannot fundamentally alter the character of the general obligation, translating it, first, into a more specific legal device with sharp and welldefined contours and surrounding it, second, by appropriate procedures and mechanisms of imp1ementation." Christian Tomuschat, 241 RdC (1993 IV), S. 195 (270 f.). 258 Christian Tomuschat, ibid., S. 195 (271 ). 259 Jonna Ziemer, insbes. S. 194 ff.

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Teil 3: Auswirkungen von Globalisierung auf völkerrechtliche Verträge

tums kommt sie zu dem Ergebnis, daß multilaterale Verträge unter folgenden Voraussetzungen allgemeinverbindlich werden können: Erstens muß es sich um die Regelung eines Allgemeininteresses handeln, deren Allgemeinverbindlichkeit intendiert, weil aus Effektivitätsgründen notwendig ist. Zweitens muß die Teilnahme an Entwicklung, Beschluß, Durchsetzung und Weiterentwicklung des betreffenden Vertrages allen Staaten offen stehen. Drittens müssen die Existenz des betreffenden Allgemeininteresses ebenso wie die Notwendigkeit und Richtigkeit der getroffenen Regelung durch eine überwältigende Mehrheit der Staaten akzeptiert sein, wobei es ausreicht, wenn sie nicht ausdrücklich abgelehnt werden.260 Die Bindung der Drittstaaten bei Erfüllung dieser Voraussetzungen führt Ziemer letztlich aber nicht auf den Vertrag als solchen zurück, sondern auf das Allgemeininteresse, das einige Staaten für alle definiert haben. 261 Die Problematik der Identifikation und Definition des zu regelnden Allgemeininteresses ist nach Ansicht Ziemers im Einzelfall und durch Heranziehung insbesondere multilateraler Verträge zu lösen. Je umfassender und repräsentativer für die Staatengemeinschaft die Beteiligung an dem Vertrag, desto deutlicher werde, daß die darin enthaltenen Normen insoweit ein Staatengemeinschaftsinteresse schützten. Resolutionen internationaler Foren wie insbesondere der UN-Generalversarnrnlung könnten ebenfalls sehr gute Hinweise auf ein gemeinsames Interesse sein, da dort fast alle Staaten der Erde vertreten seien. Darüber hinaus sei aber auch der Beitrag anderer internationaler Akteure wie NGOs und die Veröffentlichungen unabhängiger Wissenschaftler und Journalisten zur Bewußtseinsbildung zu erfassen und bei der Formulierung des Gemeinschaftsinteresses einzubeziehen. 262 Die Befugnis der Vertragsstaaten zur Schaffung von objektiv, also für alle wirkenden Regeln kann bei einer Vielzahl zu regelnder Sachfragen nicht auf die Territorialhoheit der beteiligten Staaten zurückgeführt werden. Ziemer begründet sie dogmatisch mit der Konstruktion einer Geschäftsführung ohne Auftrag oder einer Treuhand ("trust"), wie es auch von den Parteien des Antarktisvertrages erwogen wurde. 263 Der diesem Konzept immanenten Gefahr der Interessenpolarisierung zugunsten der großen und mächtigen Staaten soll durch Verfahrensweisen begegnet werden, die allen Staaten die gleichberechtigte Teilnahme an der Geschäftsführung ermöglichen, beispielsweise internationale Konferenzen oder internationale Institutionen. Im einzelnen setzt sich die Begründung einer RegelungsJonna Ziemer, S. 156 ff., 282. Jonna Ziemer, S. 265 . Insofern besteht einen Parallele zu Tomuschat, der auf das dem Vertrag zugrundeliegende Grundprinzip zurückgreift (s.o.). 262 Jonna Ziemer, S. 255 ff. 263 Jonna Ziemer, S. 214 f., 222 f., 230 f., 234 f., 277 ff. 260 261

D. Reichweite der Bindungswirkung völkerrechtlicher Verträge

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befugnisder Vertragsstaaten aus Punkten zusammen, die die Autorin zuvor auch als gemeinsame Elemente der von ihr untersuchten Ordnungssysteme herausgearbeitet hat: Es muß die dringende praktische Notwendigkeit einer Regelung bestehen. Allen Staaten muß gleichermaßen die Möglichkeit zur Teilnahme an der Regelung gegeben sein (souveräne Gleichheit der Staaten), wobei die Beteiligung aller interessierten Staaten unentbehrlich ist und die Bereitschaft der nicht beteiligten Staaten, die Regelung (auch) ihrer Interessen den Vertragsstaaten zu übertragen, zumindest in der Akzeptanz der Regelung (im Sinne von Nichtwiderspruch) deutlich werden muß. Schließlich muß es sich um einen Vertrag mit Gemeinwohlfunktion handeln, d. h. Gegenstand des Vertrages muß die Verteilung/Nutzung gemeinsamer Güter oder die Regelung eines Verhaltens sein, das Einfluß auf die gesamte Menschheit haben kann. Bei dieser Art von Verträgen im Gemeininteresse ("common interest") garantiere die Souveränität dem einzelnen Staat keinen uneingeschränkten status negativus im Sinne einer Abwehr von Eingriffen in seine Rechte mehr, sondern nur noch ein Teilhaberecht, das ihn verpflichte, seine Rechte im Sinne der internationalen Gemeinschaft auszuüben. 264 Unter Erfüllung dieser Voraussetzungen getroffene Regelungen sind in der Konsequenz außerdem, so Ziemer, nicht mehr frei widerruflich, können also nicht allein von den ursprünglichen Vertragsparteien mit Wirkung gegenüber allen zurückgenommen werden. 265

dd) Public Interest Norms/Erga Omnes Norms Vor dem Hintergrund, daß die Regelungsbedürfnisse der internationalen Gemeinschaft zur Sicherung von essentiellen Gemeinschaftsinteressen (internationale öffentliche Interessen, "international public or community interests") zunehmend wachsen, hält auch Delbrüc/(l66 unter bestimmten Bedingungen und in bestimmten Grenzen die vertragliche Begründung von objektiven, erga omnes wirkenden Verpflichtungen für möglich. 267 Dem Gemeinwohl dienende Regelungsverträge mit Erga-omnes- Wirkung stellen seiner Ansicht nach einen notwendigen Ersatz dar für die fehlende internationale, institutionell verfaßte Legislative zur Durchsetzung

Jonna Ziemer, S. 277 ff. Jonna Ziemer, S. 280 f. 266 Georg Dahm/Jost Delbrück/Rüdiger Wolfrum, Völkerrecht I/2, § 154, im Erscheinen; ders., FS Jaenicke, S. 15 ff. 267 Einen in den wesentlichen Punkten sehr ähnlichen Ansatz verfolgt auch Christian Feist, § 11, insbes. § 11 III 3, im Erscheinen. 264

265

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Teil 3: Auswirkungen von Globalisierung auf völkerrechtliche Verträge

vertraglicher Normen, welche im internationalen öffentlichen oder Gemeinschaftsinteresse gesetzt werden. Voraussetzung für die Geltung eines Vertrages erga omnes ist nach Delbrück erstens, daß der betreffende Vertrag ein klar definiertes öffentliches Interesse bestimmt oder ein diesem Interesse dienendes hochrangiges Rechtsgut schützt. Weiter ist die Intention der Regelung erga omnes erforderlich, daß die objektive Geltung des Vertrages oder einzelner seiner Regeln somit beabsichtigt sein muß. Drittens muß der Vertrag unter Beteiligung möglichst vieler Staaten geschlossen werden, insbesondere die von der Regelungsmaterie her besonders betroffenen Staaten sollten darunter sein. Schließlich muß die Teilnahme an dem Vertrag allen Staaten offenstehen. Ausgangspunkt und Grundlage für die dogmatische Begründung der Zulässigkeil der vertraglichen Setzung von Normen mit Wirkung erga omnes ist für Delbrück, daß die erweiterte Wirkungskraft dieser Normen nicht auf einem besonderen Modus ihrer Entstehung, sondern auf ihrem Inhalt - einem hochrangigen internationalen öffentlichen Interesse- beruht. 268 Daher handele es sich auch nicht um eine neue Rechtsquelle neben Vertrags- und Gewohnheitsrecht, sondern um Vertrags- oder Gewohnheitsrecht mit besonderem Inhalt und besonderer Wirkung. Diese Charakteristika teilten die "Public Interest Norms" mit den Normen des ius cogens, welche als konstitutionelle Bausteine der Rechtsordnung der Staatengemeinschaft ebenfalls Regelungen im öffentlichen Interesse zum Gegenstand hätten und aus diesem Grunde einen wesentlichen Teil der Erga-omnes-Normen ausmachten. Die Erga-omnes-Wirkung bestimmter Normen leite sich aus deren Inhalt ab, der als Ausdruck des internationalen öffentlichen Interesses von so überragender Bedeutung sei, daß ein Abweichen von diesen Normen in Verfolgung eines partikularen Interesses nicht hingenommen werden könne. Es kann daher eine Duldungspflicht für Drittstaaten in bezug auf die von den Vertragsparteien im überragenden Gemeinschaftsinteresse getroffenen Regelungen konstruiert werden. 269 Delbrück verweist darauf, daß die Vorstellung eines internationalen Gemein- oder internationalen öffentlichen Interesses schon früher eine bedeutende Rolle in der Staatenpraxis und in den Erwägungen internationaler Gerichte und anderer Spruchkörper gespielt habe, wenn diese Wirkungen von Verträgen über den Kreis der Vertragsstaaten hinaus begründet hätten. 270 lost Delbrück, FS Jaenicke, S. 15 (16 ff.). Vgl. dazu Christian Feist, § II, insbes. § II, Ill. 3 ., im Erscheinen. 270 So liegt nach Ansicht Delbrücks den Regimes und/oder Status, die auf verschiedensten Gebieten (Entmilitarisierungen, die Internationalisierung von Wasserstraßen, die Verleihung eines internationalen Status an freie Städte, Neutralisierungsregelungen, institutio268 269

D. Reichweite der Bindungswirkung völkerrechtlicher Verträge

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Die Definitionsbefugnis zur Festlegung des internationalen öffentlichen Interesses und damit auch die Kompetenz zur Setzung entsprechender Normen ordnet Delbrück internationalen Organen wie der Generalversammlung der Vereinten Nationen, vor allem aber auch ad hocberufenen Foren zu. 271 Während anfangs Gruppen sachlich besonders betroffener Staaten und (noch häufiger) die Großmächte der Zeit diese Aufgabe übernommen hätten 272 und man später wegen der Gefahr des Großmächtediktats auf den Gedanken der Repräsentation der Staatengemeinschaft zurückgegriffen hätte273 , habe sich in jüngerer Zeit eine neue Praxis herausgebildet. Regelungen im öffentlichen Interesse würden immer häufiger auf breiter Basis, unter größtmöglicher Beteiligung der Mitglieder der Staatengemeinschaft vorbereitet und nach intensiver öffentlicher Debatte das Vertragsschlußverfahren förmlich eingeleitet. 274 Unter Berücksichtigung dieser Praxis dürfe die Kompetenz der betreffenden Foren angenommen werden, nicht territorial gebundene Verträge mit Erga-omnes-Geltung zu beschließen und das förmliche Vernelle Verträge) durch Realverfügungen und Regelungs- bzw. Ordnungsverträge geschaffen werden, ausgesprochen oder unausgesprochen der Gedanke des Schutzes oder der Durchsetzung eines internationalen öffentlichen Interesses zugrunde. Aus der Rechtsprechung internationaler Spruchkörper führt er die Fälle der Aaland-Inseln, des Nord-Ostsee-Kanals, des Völkerbundmandates für Südwestafrika und der objektiven Rechtsperönlichkeit der Vereinten Nationen an. In allen Fällen sei ein zentrales Argument für die Begründung der Drittwirkung des betreffenden Vertrages gewesen, daß dieser ein besonderes internationales öffentliches Interesse artikuliere. Siehe dazu die ausführlich Darstellung Delbrücks in: Georg Dahm/Jost Delbrück/Rüdiger Wolfrum, Völkerrecht 1/2, § 154, im Erscheinen; ders., FS Jaenicke, S. 15 (17 ff.). 271 lost Delbrück, FS Jaenicke, S. 15 (29 ff.). 272 Delbrück verweist dazu auf den oben zitierten Ausspruch Lord McNairs, vgl. D. I. 3. c). 273 So hat der IGH im Zusammenhang mit der objektiven Wirkung des Völkerbundmandates für Südwestafrika davon gesprochen, daß dieses von allen Mitgliedern des Völkerbundes anerkannt worden war (ICJ Reports 1950, S. 128). Im Hinblick auf die objektive Rechtsperönlichkeit der Vereinten Nationen war für den IGH unter anderem ausschlaggebend, daß diese Organisation von der ,.vast majority ofthe members ofthe international cornmunity" errichtet worden war (ICJ Reports 1949, S. 185). 274 Delbrück verweist in diesem Zusammenhang auf die wesentliche Rolle der UN Generalversammlung bei der Entfaltung des Prinzips des gemeinsamen Erbes der Menschheit, das in einer Vielzahl von Deklarationen und Verträgen artikuliert worden ist, und darauf, daß schließlich trotz erheblichen Widerstandes diverse Räume als ,.common heritage ofhumankind" anerkannt worden sind (z. B. Weltraum, Tiefseeboden). Darüber hinaus nennt er die Stockholmer Konferenz zum Schutze der Umwelt von 1972, den UN Erdgipfel in Rio 1992 und die Konferenz zum Verbot von Landminen (1997), die zu umfassenden Verträgen geführt haben, von denen zumindest Teile als potentielle Normen mit Ergaomnes-Wirkung angesehen werden bzw. von einigen Autoren bereits jetzt als solche eingestuft werden, vgl. Georg Dahm/Jost Delbrück!Rüdiger Wolfrum, Völkerrecht 1/2, § 154, im Erscheinen. 14 Hingst

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Teil 3: Auswirkungen von Globalisierung auf völkerrechtliche Verträge

tragsschlußverfahren einzuleiten. Die Mitwirkung sachkundiger NGOs in diesem Rahmen stelle dabei keine Voraussetzung für die spätere Erga-omnes-Wirkung des Vertrages, wohl aber einen wichtigen, stärkenden Legitimationsfaktor dar. Die Erga-omnes-Geltung der so gesetzten Normen beschränkt sich auch nach Delbrück allerdings auf die grundlegenden Prinzipien und Regeln. Detailregelungen seien im Zweifel nur instrumental für die Verwirklichung des öffentlichen Interesses, nicht aber Ausdruck des Interesses selbst.

b) Zusammenfassende Gesamtschau Im folgenden sollen die wesentlichen Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Ansätze Charneys, Tomuschats, Ziemers und Delbrücks zusamrnengefaßt und in einer Rückschau gefragt werden, ob es Vorläufer und/oder Parallelen dazu bei den dogmatischen Begründungen für die Allgemeinverbindlichkeit objektiver Regime (vgl. oben D.l. 3.) gegeben hat. Darüber hinaus ist zu untersuchen, inwieweit die dargestellten Ansätze die Schlußfolgerungen für die Möglichkeit einer Drittbindung verarbeiten, die hier aus den Wirkungen der Globalisierung gezogen worden sind.

aa) Gemeinsamkeiten Wesentliche Gemeinsamkeit aller vier Ansätze ist zunächst, daß sie die Regelung eines Gemeinschaftsinteresses voraussetzen, deren Geltung gegenüber allen Staaten inhaltlich notwendig ist. Es geht darum, Lösungen für die globalisierungsbedingten Regelungsbedürfnisse zu finden. Insofern sind alle vier Ansätze Instrumente der oben angesprochenen Konstitutionalisierung des Völkerrechts, denn sie dienen der Definition, Regelung und Durchsetzung von Gemeinschaftsinteressen. Dies verbindet sie außerdem mit den oben dargestellten öffentlich-rechtlichen Ansätzen zur Begründung der Drittverbindlichkeit objektiver Regime, die eine Regelungsbefugnis auch gegenüber Nicht-Vertragsparteien wesentlich von der Verfolgung eines öffentlichen oder Staatengemeinschaftsinteresses abhängig machen. In bezugauf die Frage nach der Art und Weise, wie die Interessen zu definieren und zu formulieren sind, ähneln sich die Ansichten Ziemers und Delbrücks sehr. Beide befürworten eine Bestimmung im Einzelfall und messen dabei der öffentlichen Diskussion im Rahmen internationaler Foren unterschiedlicher Natur (ständig bestehend oder ad hoc zusammengerufen) eine herausgehobene Bedeutung zu.

D. Reichweite der Bindungswirkung völkerrechtlicher Verträge

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Letztere stehen auch bei Charney stark im Mittelpunkt, so daß angenommen werden darf, daß er die Aufgabe der Formulierung des zu regelnden Allgemeininteresse ebenfalls dort angesiedelt sieht. Tomuschat geht auf diesen Punkt nicht ein. Alle vier Autoren machen außerdem zur Voraussetzung für eine Allgemeinverbindlichkeit, daß allen Staaten die Möglichkeit der Teilnahme an der Schaffung der neuen Regeln gegeben und diese auch möglichst umfassend genutzt worden ist. Auf diese Weise wird nicht nur dem Grundsatz der souveränen Gleichheit der Staaten Rechnung getragen, sondern nur so ist auch gewährleistet, daß sich ein Interesse auch als Gemeinschaftsinteresse herausstellt. Darüber hinaus entspricht eine Bindung eines Staates an Regeln, an deren Entstehung er nicht zumindest die Chance hatte mitzuwirken, nicht der prozeduralen Fairness, so daß sie nicht als legitim gelten könnte275 und auch praktisch keine Akzeptanz finden würde.

bb) Unterschiede (1) Rechtsquelle

Wesentliche Unterschiede zwischen den zu untersuchenden Ansätzen ergeben sich in bezug darauf, welcher Rechtsquelle die für alle Staaten verbindliche Regelung im Allgemeininteresse zugeordnet wird.

Charney's "General International Law", mit dem für alle Staaten verbindliche Regeln aufgestellt werden können, von denen sich einzelne Staaten nicht ausklinken können, ist Völkergewohnheitsrecht Lediglich der Entstehungsprozeß wird modifiziert. Völkerrechtliche Verträge hält Charney für ungeeignet, um allen rechtlichen Bedürfnissen der Staatengemeinschaft in der Gegenwart gerecht zu werden und eine Bindung aller Staaten zu erreichen. Auch Tomuschat führt die Bindung der Drittstaaten letztlich auf Völkergewohnheitsrecht zurück. Dem Vertrag kommt allerdings insofern eine herausgehobene Bedeutung zu, als er die gewohnheitsrechtlich geltenden Grundprinzipien konkretisiert und deren Anwendung auf den konkreten Fall erleichtert. Auch dabei handelt es sich letztlich aber um eine mittelbare Drittwirkung, denn der Vertrag als solcher begründet keine neuen Rechte und Pflichten für den Drittstaat Diese beruhen vielmehr auf dem hinter dem Vertrag stehenden Gewohnheitsrechtsprinzip. Ziemer hält es zwar unter bestimmten Voraussetzungen für möglich, daß multilaterale Verträge allgemeinverbindlich werden, eine direkte Bindung dritter Staatenaufgrund des Ver275

Siehe dazu Thomas Franck, Fairness, S. 7.

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Teil 3: Auswirkungen von Globalisierung auf völkerrechtliche Verträge

trages lehntjedoch auch sie ab. Die Verbindlichkeit der betreffenden Regeln führt sie letztlich auf das Allgemeininteresse zurück, das einige Staaten für alle definiert haben. In dieser Hinsicht kann eine Parallele von Tomuschat und Ziemers Ansätzen zu den öffentlich-rechtlichen Ansätzen bei objektiven Regimen gezogen werden, deren Vertreter die Drittstaaten regelmäßig nicht durch den Vertrag als solchen gebunden sehen, sondern aufgrundder Ausübung einer besonderen Kompetenz zur Regelung mit Wirkung gegenüber allen. Allein Delbrück ist der Auffassung, daß eine Drittverbindlichkeit bestimmter Regeln auf vertraglichem Wege begründet werden kann. Ausschlaggebend für deren Erga-omnes-Wirkung ist für Delbrück ihr Inhalt, der als Ausdruck des internationalen öffentlichen Interesses von so überragender Bedeutung ist, daß ein Abweichen von diesem Normen in Verfolgung eines Individualinteresses nicht hingenommen werden kann. Hier kann die Ansicht Reuters als Vorläufer betrachtet werden, der für Fälle dieser Art eine vertragliche Bindung dritter Staaten befürwortet hat. 276 Ein entsprechendes Bild ergibt sich, wenn man die vier Ansätze unter dem Aspekt vergleicht, welche Bedeutung dem staatlichen Konsens für die Geltung der völkerrechtlichen Regelungen im Allgemeininteresse eingeräumt wird. Eine Zurückdrängung des "consent" ist bei allen Ansichten zu verzeichnen, eine vollständige Ablösung von diesem Erfordernis dagegen nur bei Delbrück gegeben. So will Ziemer in Anlehnung an den Vorschlag Waldocks die Zustimmung eines Staates zur Regelungsbedürftigkeit des Allgemeininteresses und zu der getroffenen Regelung vermuten, sofern dieser nicht explizit widerspricht. Charney und Tomuschat greifen auf Völkergewohnheitsrecht zurück, für dessen Entstehung es anerkannt ist, daß Stillschweigen über eine lange Zeit (Acquieszenz) zu einer Bindung führen kann. Auch ist selbst für universales Gewohnheitsrecht nicht der Konsens aller Staaten erforderlich, sondern es reicht die Unterstützung der Regelung durch eine große Mehrheit der Staaten aus. 277 Beide, Charney und Tomuschat, halten darüber hinaus die Regel vom "persistent objector" für untragbar, wo es um hochrangige Gemeinschaftsinteressen geht, und ziehen insofern eine Parallele zum ius cogens, die Ziemer ebenfalls sieht. 278

Vgl. dazu oben, D. I. 3. c). !an Brownlie, S. 6; Georg Dahm/Jost Delbrück/Rüdiger Wolfrum, Völkerrecht 1/1, S. 57; Peter Malanczuk, Akehurst's Modem lntroduction, S. 42; Otto Kimminich!Stephan Hohe, S. 180; RudolfBemhardt, in: Rudolf Bemhardt et al. (Hrsg.), Encyclopedia of Public International Law, Vol. I, S. 900. 278 Jonathan Chamey, 87 AJIL (1993), S. 529 (538 ff.); Christian Tomuschat, 28 BDGVR ( 1988), S. 9 (37 f.); Jonna Ziemer, S. 258 f. 276

277

D. Reichweite der Bindungswirkung völkerrechtlicher Verträge

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Die so beschriebenen Abstriche vom klassischen Konsensgedanken können als Reaktion auf die Auswirkungen der Globalisierung auf die nationalstaatliche Souveränität gewertet werden. Insofern bestätigen sie die oben gewagte Prognose, daß in ähnlichem Maße, wie die Souveränität relativiert wird, auch der "consent" des einzelnen Staates an Bedeutung verlieren müßte. Sie liegen damit außerdem auf einer Linie mit den als Konstitutionalisierung des Völkerrechts bezeichneten Entwicklungen.

Delbrück löst sich nun insofern vollständig vom Konsens-Erfordernis ab, als er die Verbindlichkeit der betreffenden Norm erga omnes mit dem Inhalt der Regelung begründet. Der Vertrag gilt für alle Staaten, weil er der Regelung bzw. dem Schutz eines überragenden Gemeinschaftsinteresses dient, und diese Geltung ist unabhängig von der Zustimmung des einzelnen Staates. Der Umfang, in dem so eine Drittwirkung des Vertrages ohne oder gegen den Willen der dritten Staaten erzielt wird, ist idealtypischerweise gering, da Delbrück zur Voraussetzung macht, daß der Vertrag unter Beteiligung möglichst vieler Staaten geschlossen werden muß. Von Bedeutung ist aber weniger der Urnfang der vertraglichen Drittwirkung, als die grundsätzliche Möglichkeit, eine solche überhaupt zu erzielen. Anders als die übrigen Autoren befürwortet Delbrück diese. Fraglich ist, was die Ursache für die grundsätzlich unterschiedliche Auffassung Delbrücks hinsichtlich der Zulässigkeil einer vertraglichen Begründung objektiver Verpflichtungen ist. Delbrück verwendet als Synonym für den Begriff der "Public Interest Norrns" den Ausdruck "Erga Omnes Norrns", um deren Allgemeinverbindlichkeit zu kennzeichnen. Die Existenz von Verpflichtungen erga omnes wurde offiziell erstmals im Fall Barcelona-Traction im Rahmen des bekannten obiter dictums anerkannt. 279 Es wäre denkbar, daß Delbrücks unterschiedliche Ansicht in bezug auf die Zulässigkeil einer Drittwirkung von Verträgen daher rührt, daß er den Richterspruch im Urteil Barcelona-Traction anders interpretiert als die übrigen Autoren. Als obiter dieturn ist die Aussage des Gerichts naturgemäß relativ weich formuliert und über das Thema, wie es zu interpretieren sei, ist bereits viel diskutiert und geschrieben worden. Zentrale Fragen sind, worin man die Besonderheit von Ergaomnes-Rechten und Verpflichtungen sieht- ob in der ihnen eigenen Erfüllungsstruktur oder in der überragenden Wichtigkeit ihres Inhalts - und ob man den Urteilsspruch nur auf Normen des Gewohnheits- oder auch des Vertragsrechts bezieht. 280 Barcelona-Traction-Fall, ICJ Reports 1970, S. 3 ff. ; vgl. dazu bereits oben, D. II. 2. Den Schwerpunkt auf die Erfüllungsstruktur legen beispielsweise Claudia Annacker, Durchsetzung, S. 29 f. ; dies., 46 AJPIL (1994), S. 131 (149) ; Kamen Sachariew, S. 79; 279

280

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Teil 3: Auswirkungen von Globalisierung auf völkerrechtliche Verträge

Nach Ansicht Delbrücks beinhaltet das von dem Gericht anerkannte Ergaomnes-Konzept zwei Aussagen: Zum einen haben Verpflichtungen erga omnes eine besondere Erfüllungsstruktur: Sie bestehen nicht gegenüber einem einzelnen, sondern gegenüber allen Staaten und können daher auch nur gegenüber allen Staaten gleichzeitig be-oder mißachtet werden. Dies wiederum ist von Bedeutung für die Frage der Durchsetzung der Verpflichtungen. Als zweite (und für ihn wichtigere) Aussage liest Delbrück aus dem dieturn des IGH, daß durch Ergaomnes-Rechte und Verpflichtungen auch solche Staaten gebunden werden, die an der Schaffung derselben nicht beteiligt waren. 281 Er interpretiert den Richterspruch somit weit. Seine "Public Ioterest Norms" zählt er zu der Kategorie von Regeln, die der IGH in seinem Urteil im Fall Barcelona-Traction gemeint hat. Den zweiten Teil von Delbrücks Erga-omnes-Konzept teilen die meisten anderen Autoren nicht. Für viele steht die besondere Erfüllungsstruktur dieser Normart im Mittelpunkt. 282 Die gesamte Diskussion dieses Themas soll an dieser Stelle jedoch nicht aufgerollt zu werden, denn die Auslegung des Barcelona-TractionUrteils macht nicht den eigentlichen, wesentlichen Unterschied zwischen dem Ansatz Delbrücks und dem der drei anderen Autoren aus. Der Grund dafür liegt weitaus tiefer begraben, nämlich in der grundlegenden Auffassung darüber, warum Völkerrecht verbindlich ist. Bis heute gibt es keine universell anerkannte Erklärung für die bindende Kraft des Völkerrechts. 283 Ohne im Detail auf die einzelnen dazu vertretenen Auffassungen einzugehen, lassen sich folgende Grundlinien aufzeigen: 284 In der traditionellen Völkerrechtslehre wurden die Entstehung und Geltungskraft des Völkerrechts teilweise aus überlieferten Naturrechtsprinzipien abgeleitet oder auf den souveränen Willen des Staates (Selbstbindung des Staates, Hegel) zurückgeführt. Andere stützen sie auf die Übereinstimmung, d. h. den Gemeinwillen, oder eine vertragliche Vereinbarung der Staaten. Heute wird man wohl Giorgio Gaja, in: Joseph Weiler/Antonio Cassese/Maria Spinedi (Hrsg.), International Crimes of State, S. 150 (151); Maria Spinedi, ibid., S. 7 ( 136). Die Wichtigkeit des Norminhalts betonen dagegen Maurizio Ragazzi, S. 202; lost Delbrück, FS Jaenecke, S. 15 ff.; ders., in: Georg Dahrn/Jost Delbrück!Rüdiger Wolfrum, Völkerrecht l/2, § 154, im Erscheinen. 281 lost Delbrück, 4 IJGLS (1997), S. 277 (289). 282 Vgl. Nachweise oben Teil3, Fn. 280. 283 Vgl. dazu nur Jonathan Chamey, 87 AJIL (1993), S. 529 (531 f.); Georg Dahm/Jost Delbrück/Rüdiger Wolfrum, Völkerrecht 111, S. 34 ff. 284 Einen zusammenfassenden Überblick dazu mit weiteren Nachweisen zu den einzelnen Ansichten bieten u. a. Georg Dahm/Jost Delbrück/Rüdiger Wolfrum, ibid. ; Knut lpsen, in: ders. (Hrsg), Völkerrecht, § 1 Rn. 18 ff.

D. Reichweite der Bindungswirkung völkerrechtlicher Verträge

215

die Auffassung als vorherrschend bezeichnen können, nach der sich die Entstehung, die Geltungskraft und die Rechtsgründe für die Beendigung der Rechtsverbindlichkeit des Völkerrechts auf den Konsens der Staaten gründen. 285 Diese Grundeinstellung liegt auch den Ansätzen Charneys, Tomuschats und Ziemers zugrunde, die alle eine direkte Bindung dritter Staaten an einen Vertrag, dessen Mitglied sie nicht sind, ablehnen. Delbrück dagegen ist der Ansicht, daß das Völkerrecht gilt, weil es notwendig ist. 286 Seine Geltung lasse sich nicht eigentlich juristisch erklären, sondern folge aus der Lebenswirklichkeit des internationalen Systems. Jene betrachtet Delbrück als einen Zustand, der der Erhaltung, Entwicklung und Ordnung bedarf. Daraus ergebe sich ein Zustand des rechtlichen Sollens und die in diesem Sollens-Zustand enthaltenen bzw. daraus abzuleitenden und zur Ordnung des internationalen Lebens erforderlichen Regeln seien für die Teilnehmer am internationalen System maßgebend. Inhaltlich notwendige Regeln besitzen nach Delbrück damit Verbindlichkeit für alle Staaten; auf den individuellen Konsens kommt es ebenso wenig an, wie auf die Art und Weise der Entstehung der (notwendigen) Völkerrechts! regeI. Es sind daher auch vertraglich begründete Normen mit Geltung erga omnes denkbar.

(2) Begründung einer Regelungsbefugnis erga omnes Ein weiterer Unterschied zeigt sich bei der dogmatischen Begründung für die Regelungsbefugnis erga omnes, die man den Vertragsstaaten zuspricht, wenn man eine Drittwirkung vertraglicher Regelungen in irgendeiner Form zuläßt. Für Charney, der mit Gewohnheitsrecht arbeitet, stellt sich dieses Problem in der Form nicht. 287 Gleiches gilt für Tomuschat, der wie gezeigt in letzter Instanz ebenfalls auf Gewohnheitsrecht zurückgreift. Im Mittelpunkt der hier anzustellenden Betrachtungen sollen daher die Ansätze zur dogmatischen Begründung einer Regelungsbefugnis erga omnes stehen, die Ziemer und Delbrück entwickelt haben. 285 Vgl. nur Knut lpsen, in: ders. (Hrsg.), Völkerrecht, § 1 Rn. 48; Alfred Verdross/ Bruno Simma, S. 324; Robert Jennings/Arthur Watts, Oppenheim's International Law, Part 1, S. 24; Hermann Mosler, 140 RdC (1974 IV), S. 1 (90 ff.). 286 Georg Dahm/Jost Delbrück/Rüdiger Wolfrum, Völkerrecht 111, S. 41 . 287 Die vergleichbare Frage im Rahmen des Gewohnheitsrechts, ob eine große Mehrheit von Staaten universelles Völkergewohnheitsrecht schaffen kann, das auch für die nicht an der Schaffung beteiligten Staaten verbindlich ist, wird heute überwiegend positiv beantwortet. Vgl. dazu die Nachweise oben Teil3, Fn. 169.

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Teil 3: Auswirkungen von Globalisierung auf völkerrechtliche Verträge

Ziemer sieht Nicht-Vertragsstaaten zwar nicht durch den Vertrag als solchen, sondern durch das Allgemeininteresse gebunden, das einige Staaten für alle definiert haben. Da aber das Vorliegen eines solchen Gemeinschaftsinteresses nicht an die gleichen Voraussetzungen geknüpft ist wie die Entstehung von Völkergewohnheitsrecht, stellt sich auch für sie die Frage der Begründung einer Regelungsoder Definitionsbefugnis der Vertragsparteien. Ziemer greift hierfür auf die aus dem nationalen Recht bekannte Konstruktion einer Geschäftsführung ohne Auftrag (GoA) zurück. 288 Wichtigste Voraussetzung für die Berechtigung der Vertragsstaaten, als "Geschäftsführer" für ein bestimmtes Gut ein allgemeinverbindliches System oder Regime auszuarbeiten, ist die absolute Notwendigkeit einer solchen rechtlichen Regelung. Bei Hinzutreten der übrigen Erfordernisse wie der Teilnahmemöglichkeit für alle und der Akzeptanz der Regelung (im Sinne von Nichtwiderspruch gegen diese) liegt nach Ziemer eine berechtigte Geschäftsführung ohne Auftrag im öffentlichen Interesse vor, und die übrigen Staaten- als die "Geschäftsherren" - müssen die von den "Geschäftsführern" vereinbarten Regeln gegen sich gelten lassen. Delbrück dagegen zieht zur Begründung der Regelungsbefugnis- eher pragmatisch- die Praxis der vergangenen Jahrzehnte heran, Regelungen im öffentlichen Interesse immer häufiger auf breiter Basis unter größtmöglicher Beteiligung der Mitglieder der Staatengemeinschaft vorzubereiten und nach intensiver öffentlicher Debatte das Vertragsschlußverfahren förmlich einzuleiten. Dieses Verfahren ist auch Teil des GoA-Konzepts Ziemers. Dort nimmt es allerdings die Funktion eines Indizes für das Vorliegen der Notwendigkeit einer Regelung ein, die eine wesentliche Voraussetzung für die Berechtigung der Vertragsstaaten zur Geschäftsführung ohne Auftrag ist. 289 Man kann daher sagen, daß Delbrück für die Begründung der Regelungskompetenz ein einzelnes (Verfahrens-)Erfordernis ausreichen läßt, das im Rahmen von Ziemers GoA-Konzept nur eines von mehreren Elementen darstellt. Auch dieser Unterschied ist auf die oben herausgearbeitete unterschiedliche Auffassung Delbrücks in bezugauf die Geltungsgrundlage des Völkerrechts zurückzuführen. Wenn Völkerrecht gilt, weil es notwendig ist und es auf den individuellen Konsens nicht ankommt, so ist auch die Rechtsquelle unerheblich, der die Regelung entstammt. Völkerrechtliche Verträge, die inhaltlich absolut notwendige Regeln aufstellen, gelten allein aufgrund dieser Notwendigkeit für alle Staaten. Einer gesonderten Begründung der Regelungsbefugnis der Vertragsstaaten bedarf es daher in diesem Fall nicht. Jedes Völkerrechtssubjekt ist potentiell befugt, all288 289

Jonna Ziemer, insbesondere S. 226 f., 287 f. Jonna Ziemer, S. 288 f.

D. Reichweite der Bindungswirkung völkerrechtlicher Verträge

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gemeinverbindliche Regeln aufzustellen. Voraussetzung ist aber, daß die betreffende Regelung notwendig ist. Dies wird aus der Bezugnahme Delbrücks auf die Praxis der vergangeneo Jahrzehnte- Regelungsverträge zunehmend auf breiter Basis auf großen Staatenkonferenzen vorzubereiten und zu diskutieren, bevor es zum Vertragsschlußverfahren kommt - nicht ganz deutlich, ist aber logische Konsequenz seiner Grundprärnisse, daß Völkerrecht gilt, weil es notwendig ist. Bei der Feststellung der Notwendigkeit ist die genannte Verfahrensweise hilfreich. Bei Beteiligung möglichst vieler Völkerrechtssubjekte bietet diese Schutz davor, daß unter dem Deckmantel des Gemeinschaftsinteresses in Wahrheit Individualinteressen verfolgt werden oder eine einseitige Polarisierung der Interessen zugunsten der großen und mächtigen Staaten stattfindet. Die Ansichten Ziemers und Delbrücks liegen also zwar insofern sehr nahe beieinander, als sie das Erfordernis des gleichen Teilnahmerechts für alle Staaten teilen und beide die Notwendigkeit der Regelung in den Mittelpunkt stellen. Sie unterscheiden sich aber dadurch, daß für Ziemer zusätzlich zu diesen Voraussetzungen die Regelung allgemein akzeptiert sein muß (im Sinne von Nichtwiderspruch) und sie, wenn dies der Fall ist, zur Begründung der Regelungsbefugnis der Vertragsstaaten die Konstruktion der Geschäftsführung ohne Auftrag heranzieht. Delbrück dagegen kann auf eine solche Kompetenzbegründung verzichten, sofern die Notwendigkeit der Regelung (abgesichert durch Beschlußfassung auf die genannte Verfahrensweise) festgestellt wurde.

cc) Zwischenergebnis Bei dem soeben vorgenommenen Vergleich der vier verschiedenen dogmatischen Ansätze hat sich die zentrale Bedeutung verschiedener Aspekte gezeigt, die sich entweder daraus ergibt, daß die vier Autoren ihnen gleichermaßen eine gehobene Relevanz im Zusammenhang mit der Frage nach der Zulässigkeil einer Drittwirkung völkerrechtlicher Verträge zumessen, oder aber daraus folgt, daß in dieser Hinsicht wesentliche Unterschiede zwischen den verschiedenen Ansätzen auszumachen sind. Diesen soll daher auch bei der im folgenden vorzunehmenden Untersuchung der völkerrechtlichen Vertragspraxis besonderes Augenmerk gewidmet werden. Es handelt sich im wesentlichen um die folgenden vier übergeordneten Punkte: - Besondere Bedeutung großer Staatenkonferenzen. - Definition eines Gemeinschaftsinteresses? - Begründbarkeil einer Regelungsbefugnis erga omnes der Vertragsstaaten?

218

Teil 3: Auswirkungen von Globalisierung auf völkerrechtliche Verträge

- Bindung wodurch: Vertrag, Gewohnheitsrechtsprinzipien, Gemeinschaftsinteresse (d. h. Konsens oder Notwendigkeit der Regelung)?

2. Regelung des Verhaltens von Drittstaaten in der völkervertraglichen Praxis Die folgende Untersuchung verschiedener multilateraler Verträge soll Aufschluß darüber geben, mit welchen Mitteln die Staaten heute versuchen, die Bindungswirkung von Verträgen über den Kreis der Vertragsparteien hinaus zu erstrecken und auch Nicht-Vertragsstaaten zur Einhaltung der grundlegenden Regelungen des Vertrages zu bewegen. Es werden verschiedene Möglichkeiten der Erzeugung unterschiedlicher Formen von Drittwirkung dargestellt und gefragt, inwieweit die unterschiedlichen Mechanismen zur Steuerung des Verhaltens dritter Staaten die vorangehend dargestellten neueren dogmatischen Ansätze bestätigen. Bei der Anwendungjener Ansätze werden nach Möglichkeitjeweils besonders auch die Aspekte beleuchtet, die als deren zentrale Punkte herausgestellt worden sind. Da es um den Zusammenhang zwischen Globalisierung und der Frage der Bindung dritter Staaten durch Verträge geht, war bei der Auswahl der zu untersuchenden Vertragswerke der sachliche Zusammenhang mit der Globalisierung in den Vordergrund zu stellen. Es sind daher Kodifikationen aus Bereichen ausgewählt worden, deren Betroffenheit durch die Globalisierung bereits festgestellt wurde. Dabei handelt es sich nicht zwangsläufig um Verträge ganzjungen Datums, denn wie im ersten Teil der Arbeit gesehen, findet Globalisierung nicht in allen Sachbereichen homogen und mit gleicher Geschwindigkeit statt. Aus diesem Grunde sind auch etwas ältere Verträge aus Bereichen, die bereits zu einem früheren Zeitpunkt globalisiert waren, aufschlußreich. Zur besseren Strukturierung der Darstellung wurden die Verträge außerdem nicht nach Sachgebieten sondern nach der Art der Regelungsmechanismen und der damit erzeugten Form der Drittwirkung eingeteilt und untersucht. a) Drittwirkung von Regelungsmechanismen zur mittelbaren Steuerung des Verhaltens dritter Staaten Teilweise versuchen die Staaten, das Verhalten von Drittstaaten dadurch zu steuern, daß sie durch einen völkerrechtlichen Vertrag die Rahmenbedingungen für den Verkehr von Vertrags- und Nicht-Vertragsstaaten so gestalten, daß letzteren kaum eine andere Möglichkeit bleibt, als sich konform mit dem Vertragsziel zu verhalten. Hierfür lassen sich verschiedene Beispiele anführen.

D. Reichweite der Bindungswirkung völkerrechtlicher Verträge

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aa) Durchsetzung vertraglicher Regelungen gegenüber Drittstaaten mittels Handelsbeschränkungen Die Vereitelung des Vertragszwecks durch dritte Staaten kann zum einen durch die vertragliche Regulierung des Handels mit Nicht-Vertragsstaaten verhindert werden. Dieses Mittel findet insbesondere im Bereich des Umweltschutzes Anwendung.

(1) Funktionsweise

Die Funktionsweise dieses Steuerungsmechanismus soll am Beispiel des Montrealer Protokolls über Stoffe, die zu einem Abbau der Ozonschicht führen 290, illustriert werden. Mit diesem haben die Vertragsstaaten den Abbau bestimmter, in den Anlagen aufgeführter Ozon zerstörender Stoffe binnen eines bestimmten Zeitraumes vereinbart. Die damit übernommenen Verpflichtungen konkretisieren die Vertragsbestimmungen des Wiener Abkommens zum Schutz der Ozonschicht291 , das zunächst nur einen Rahmen geschaffen hatte für den Schutz der menschlichen Gesundheit und der Umwelt vor schädlichen Auswirkungen, die durch menschliche Tätigkeiten, welche die Ozonschicht verändern oder wahrscheinlich verändern, verursacht oder wahrscheinlich verursacht werden (Art. 2).292 Insofern stellt das Montrealer Protokoll also zugleich ein Beispiel für die oben angesprochene Veränderung der Struktur völkerrechtlicher Verträge dar. 293 In bezugauf die Steuerung des Verhaltens von Nicht-Vertragsstaaten ist insbesondere Art. 4 Montrealer Protokoll wichtig, der den Handel mit bestimmten Chemikalien regelt, deren Ozon zerstörende Wirkung nachgewiesen ist und die daher eine besondere Gefahr für die Ozonschicht darstellen. 294 Es wird den Ver290 Montreal Protocol on Substances that Deplete the Ozone Layer vom 16. September 1987, 261.L.M. (1987), S. 154; "London Amendment" 1990, "Copenhagen Amendment" 1992, "Montreal Amendment" 1997 und "Bejing Amendment" 1999, alle abrufbar unter http://www.unep.org/ozone (Stand: 14.10.2000). 29 1 Convention for the Protection of the Ozone Layer vom 22. März 1985, 26 I.L.M. (1987), s. 1529 ff. 292 Einen guten kurzen Überblick über Ziele, Regelungen und erreichte Erfolge des Montrealer Protokolls erhält man unter http://www.unep.ch/conventions/info/ozone/ backgrounder.htm (Stand: 14.10.2000). 293 Vgl. dazu oben, Teil3, C. 294 Die Handelsbeschränkungen des Art. 4 sind durch die Änderungen von London, Kopenhagen, Montreal und Bejing nicht verändert worden. Diese haben zu einer zeitlichen Straffung des "phasing out" geführt und die Handelskontrollen auf weitere chemische

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Teil 3: Auswirkungen von Globalisierung auf völkerrechtliche Verträge

tragsstaaten sowohl verboten, im Annex zum Protokoll aufgeführte Substanzen aus Nicht-Vertragsstaaten zu importieren, als auch der Export dieser Stoffe in Nicht-Vertragsstaaten untersagt (Art. 4 [1] und [2]). Das Einfuhrverbot gilt gleichermaßen für Produkte, die die geregelten Stoffe enthalten (Art. 4 [3]), sowie für Erzeugnisse, die unter Verwendung der geregelten Stoffe hergestellt wurden, diese aber selbst nicht mehr enthalten (Art. 4 [4 ])295 • Die Vertragsstaaten werden weiterhin aufgefordert, die Ausfuhr von Technologie zur Produktion und Verwendung der benannten Stoffe zu unterlassen (Art. 4 [5]), und neue Subventionen oder anders geartete Hilfen an Nicht-Vertragsstaaten zur Herstellung der geregelten Substanzen sollen nicht mehr zur Verfügung gestellt werden (Art. 4 [6]). Faktisch wird damit Drittstaaten zum Montrealer Protokoll die Möglichkeit genommen oder zumindest erheblich eingeschränkt, Ozon zerstörende Stoffe zu produzieren, damit zu handeln oder sie zu verarbeiten. Auf diesem Wege sollen sie praktisch gezwungen werden, sich entsprechend den Regelungen des von ihnen nicht unterzeichneten Vertrages zu verhalten. Das vertragsgemäße Verhalten von Nicht-Vertragsstaaten wird honoriert, indem sie- für den Fall, daß sie die Vorschriften über das "phasing-out" und den Handel mit Nicht-Vertragsparteien beachten und entsprechende Daten zur Überwachung vorlegen - von den Einfuhrverboten und -beschränkungen des Art. 4 ausgenommen werden können und so dieselben Vorteile wie Vertragsstaaten erhalten (Art. 4 [8]). Dies ist beispielsweise 1992 für Kolumbien bejaht worden. Mit Art. 4 Montrealer Protokoll vergleichbare Regelungen sind im Bereich des Artenschutzes zu finden, wo Art. X CITES 296 seinen Mitgliedstaaten den Handel mit Nicht-Vertragsstaaten nur erlaubt, wenn dabei die wesentlichen Anforderungen der Konvention eingehalten werden. Dies ist durch die Vorlage von Im- und Export-Papieren, die den Anforderungen von CITES entsprechen, sicherzustellen. Die Mitglieder der Convention on the Prohibition of Fishing with Long Driftnets in the South Pacific297 sind aufgefordert, die Einfuhr von Fischen oder FischSubstanzen ausgedehnt. Durch das Montreal Agreement von 1997 wurde zudem ein Art. 4B in das Montrealer Protokoll aufgenommen, der die Einführung eines Im- und Export-Lizenzsystems für neue, gebrauchte und wiederverwertete kontrollierte Substanzen vorsieht. 295 Auf dem 5. Treffen der Vertragsparteien 1993 wurde allerdings beschlossen, daß das Ex- und Import-Verbot für Erzeugnisse, die unter Verwendung der geregelten Stoffe hergestellt wurden, diese aber selbst nicht mehr enthalten, technisch noch nicht durchfuhrbar sei. Diese Entscheidung wurde bislang auch noch nicht aufgehoben. Die einzelnen Berichte zu den jährlichen Treffen der Vertragsparteien sind als downloaderhältlich unter http://www.unep.org/ozone/reports2.htm (Stand: 14.1 0.2000). 296 Convention on International Trade in Endangered Species of Wild Flora and Fauna vom 3. März 1973, 12 I.L.M. (1973), S. 1085. 297 Vom 20. Oktober 1990, 29 I.L.M. (1990), S. 1449.

D. Reichweite der Bindungswirkung völkerrechtlicher Verträge

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produkten zu verbieten, die unter Verwendung von Schleppnetzen gefangen worden sind. 298 Die Baseler Convention on the Control of Transboundary Movement of Hazardous W astes and Their Disposal299 verbietet den grenzüberschreitenden Transport umweltgefährdender Abfälle (Art. 9) und untersagt ihren Mitgliedern den Import solcher Abfälle aus sowie den Export in Nicht-Vertragsstaaten (Art. 4 [5]).

(2) Bewertung Ziel der genannten Regelungen ist es, eine große Mehrheit der Staaten- möglichst alle - zur Einhaltung der aufgestellten Regelungen zum Schutz der Ozonschicht etc. zu bewegen. Zur Erreichung des Zieles ist es erforderlich, ein Trittbrettfahren von Nicht-Vertragsstaaten zu verhindern und möglichst viele sog. "free-rider" zu erfassen. Mit Handelsbeschränkungen wie in Art. 4 Montrealer Protokoll soll Anreiz für die Unterzeichnung des Vertrages geschaffen werden, um als Mitgliedstaat nicht den Nachteil der Einfuhrbeschränkungen für eigene Produkte zu erleiden. Dieses Steuerungsinstrument funktioniert um so besser, desto mehr Staaten sich an dem betreffenden Vertrag beteiligen: Zum einen verringern sich der Absatzmarkt und die Bezugsquellen für Nicht-Mitgliedstaaten, je größer die Zahl der Vertragsparteien. Zum anderen sinkt damit die Gefahr, daß Drittstaaten mit einem großen internen Markt für die geregelten Stoffe300 das Vertragsziel unterlaufen oder daß Nicht-Vertragsstaaten untereinander in erheblichem Umfang Handel mit den kontrollierten Stoffen treiben- Fälle, die von Art. 4 Montrealer Protokoll nicht erfaßt werden. Die bislang durch das Montrealer Protokoll erzielten Erfolge sind außerordentlich. Der Gesamtverbrauch an FCKWs konnte von rund 1,1 Millionen Tonnen im Jahr 1986 auf 156.000 Tonnen im Jahr 1998 gesenkt werden. Ohne das Montrealer Protokoll hätte die Zerstörung der Ozonschicht 2050 in den mittleren Breitengraden der nördlichen Hemisphere 50 % und in den mittleren Breitengraden der südlichen Hemisphere 70 % betragen- zehnmal mehr als heute.301 Das Montrealer Protokoll zählt gegenwärtig 175 Mitgliedstaaten und hat damit eine fast universel298 Vgl. dazu auch die Tuna Dolphin Fälle I und II, die in Teil 2, C. I. 2. a) als Beispiel für die extraterritoriale Ausübung von Jurisdiktion durch die U.S.A. genannt wurden und wo der Sache nach dasselbe Anliegen verfolgt wurde. 299 Vom 22. März 1989,28 I.L.M. (1989), S. 657. 300 Bzw. Tierarten u. ä. 301 Zahlen vom Informationsdienst des United Nations Environment Programme, http://www. unep.ch/conventions/info/ozone/backgrounder.htm (Stand: 14. I 0.2000).

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Teil 3: Auswirkungen von Globalisierung auf völkerrechtliche Verträge

le Mitgliedschaft erreicht. 302 Die anderen oben genannten Verträge verfügen über eine ähnlich große Mitgliederzahl. 303 Die Befürchtung, durch die Handelsbeschränkungen des Art. 4 ausgegrenzt zu werden, wenn man nicht Mitglied des Vertrages wird, hat für das positive Ratifikationsverhalten eine wesentliche Rolle gespielt. 304 Insbesondere wenn die Zahl der Vertragsparteien so groß ist wie beim Montrealer Protokoll, können die Vertragsstaaten somit erheblichen Einfluß auf das Verhalten von Drittstaaten ausüben. Dabei werden letzteren allerdings keine selbständigen Pflichten auferlegt. Die Konventionen wenden sich nach dem Wortlaut verpflichtend nur an ihre Mitgliedstaaten und steuern das Verhalten dritter Staaten über die Reflexwirkungen des Vertrages, welche sich aus der Bindung der Vertragsparteien ergeben. Auch wenn die Vertragsstaaten u. U. zur Einhaltung ihrer vertraglichen Pflichten vom Handel mit Nicht-Vertragsstaaten absehen, ergibt sich noch keine rechtliche Betroffenheit der dritten Staaten. Die Aussicht auf den Abschluß eines Handelsvertrages begründet keinen dahingehenden Rechtsanspruch, so daß der Nicht-Abschluß durch die Vertragsstaaten nicht zu einer Beeinträchtigung von Rechten Dritter führt. Es handelt sich um indirekte Regelungen über (negative und positive) Anreize für Drittstaaten, die keine Drittwirkung im engen rechtlichen Sinne erzeugen und insofern rein technisch die klassische Regel, daß ein Vertrag nur die Vertragsparteien zu binden vermag, intakt lassen. 305 Praktisch hingegen kann mittels der Beschränkungen des Handels mit Nicht-Mitgliedstaaten u. U. so erheblich in die Gestaltungsfreiheit der Drittstaaten eingegriffen werden, daß diskutiert wird, ob darin nicht bereits eine unzulässige Einmischung in die inneren Angelegenheiten

302 Es fehlen 19 Staaten. Die Änderungen von London, Kopenhagen, Montreal und Bejing sind noch nicht in gleichem Maße ratifiziert worden: "London Amendment" 140 Staaten, "Copenhagen Amendment" 107 Staaten, "Montreal Amendment" 37 Staaten und "Bejing Amendment" I Staat. Informationen von http://www.unep.ch/conventions/info/ ozone/backgrounder.htm (Stand: 14.1 0.2000). 303 Convention on the Control of Transboundary Movement of Hazardous Wastes and Their Disposal: 141 Mitgliedstaaten (Stand 09.10.2000); CITES: 152 Mitgliedstaaten (Stand: 22.03.2000). Die Convention on the Prohibition ofFishing with Long Driftnets in the South Pacific zählt nur 15 Mitgliedstaaten, was sich aber durch die geographische Begrenztheit des Vertrages erklärt. 304 Auskunft vom 18.10.2000 von Gilbert Blankobeza, Legal Offleer im Ozone Secretariat des United Nations Environment Programme. 305 Vgl. dazu auch Rüdiger Wolfrum, 272 RdC (1998), S. II (104 ff.); ders., in: Fred Morrison/Rüdiger Wolfrum (Hrsg.), International, Regional and National Environmental Law, S. 3 (63 f.).

D. Reichweite der Bindungswirkung völkerrechtlicher Verträge

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der Niebi-Vertragsstaaten gesehen werden könnte. 306 Jedenfalls wo der betreffende Vertrag über eine große Zahl von Mitgliedern verfügt, macht es vom Ergebnis her keinen wesentlichen Unterschied mehr, ob Nicht-Vertragsstaaten nur faktisch oder auch rechtlich zur Einhaltung des Vertrages und zur Verfolgung/Unterstützung des Vertragszieles verpflichtet sind. Für Drittstaaten wird es politisch sehr schwer, sich weiter gegen das Regime zu stellen. Auf dieser Grundlage kann sich auch ein rechtlicher Geltungsanspruch des Vertrags gegenüber dritten Staaten herausbilden. Man könnte überlegen, ob heute eine solche rechtliche Drittwirkung anband der neueren dogmatischen Ansätze Tomuschats, Ziemers und Delbrücks begründet und damit die Verträge auf die Konstellation Drittstaat - Drittstaat anwendbar gemacht werden könnten. Fälle dieser Art konnten von der Autorin jedoch nicht nachgewiesen werden. Damit bliebe auch eine Anwendung der neuen dogmatischen Ansätze reine Spekulation, weshalb davon abgesehen wird. Das Montrealer Protokoll ist ein Beispiel für ein Regelungs werk, das dem Vertragsziel erfolgreich näher gekommen ist, ohne direkt in die Rechte dritter Staaten einzugreifen. Vorderster Grund für diese Effektivität ist die quasi universelle Beteiligung an dem Vertrag. Es darf angenommen werden, daß eine direkte, rechtlich drittwirkende Regelung des Verhaltens von Nicht-Vertragsparteien (jedenfalls zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses) nicht einem so breiten Konsens zugängig und im Ergebnis entsprechend weniger effektiv gewesen wäre. Diese taktischen Überlegungen dürften neben den klassischen Pacta-tertiis-Erwägungen eine erhebliche Rolle gespielt haben.

bb) UN-Drogenkonventionen von 1961 und 1971 Die Drogenproblematik ist bereits im ersten Teil der Arbeit als ein Bereich angesprochen worden, in dem zumindest gesellschaftliche und faktische Denationalisierungserscheinungen und also Globalisierung festzustellen sind. Insbesondere der Drogenmißbrauch und damit zusammenhängend der illegale Handel mit Suchtstoffen hatten bereits in den sechziger Jahren ein so weites Ausmaß angenommen, daß sie zu einer weltweiten Bedrohung geworden waren. 307 Aus diesem Grunde 306 Christian Tomuschat, 241 RdC (1993 IV), S. 195 (271 f.). Auch dies sind Beispiele für die in Teil A 1 III 1 festgestellte Erosion der materiellen Souveränität bei Intaktbleiben der formellen (völkerrechtlichen) Souveränität. 307 Aus eben diesem Grunde wurde bereits einige Jahre nach dem Abschluß der Einheitskonvention ein Änderungsprotokoll dazu angenommen, das die Kontrollinstrumente der Einheitskonvention im Kampf gegen den illegalen Betäubungsmittel verkehr stärkte und den neuen Anforderungen anpaßte, vgl. dazu Claude-Henri Vignes, 18 AFDI (1972), S. 629 (630 ff.).

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Teil 3: Auswirkungen von Globalisierung auf völkerrechtliche Verträge

hat sich in diesem Bereich bereits sehr früh die Erkenntnis durchgesetzt, daß es einer weitreichenden Kooperation bedarf, um den Schutz der öffentlichen Gesundheit und das Wohlergehen der Menschheit möglichst effektiv gewährleisten zu können. Die internationale Drogenkontrolle wird heute von der Single Convention on Narcotic Drugs von 1961 308 (Einheitskonvention), der Convention on Psychotropic Substances von 1971 309 und der United Nations Convention against Illicit Traffic in Narcotic Drugs and Psychotropic Substances von 1988310 bestimmt. Die Konventionen von 1961 und 1971 beinhalten unterschiedliche Instrumentarien zur Regelung des Verhaltens von Drittstaaten. 311

(1) Überblick über die Regelungen betreffend Drittstaaten

Die Drogenkonventionen nehmen an verschiedenen Stellen explizit Bezug auf Drittstaaten. Eine ausdrückliche Einbeziehung von Nicht-Vertragsstaaten findet insbesondere im Rahmen des Bedarfsschätzungssystems statt, welches das Herzstück der Einheitskonvention von 1961 312 darstellt und mittels dessen die verfügbaren Mengen an Drogen dem legalen Weltbedarf angepaßt werden sollen. Mitgliedstaaten sind nach Art. 19 EK verpflichtet, jährlich die Suchtstoffmengen zu schätzen und dem International Narcotics Control Board313 anzugeben, die sie voraussichtlich zur Befriedigung ihres legalen Bedarfes314 benötigen werden. Diese Bedarfsschätzung stellt eine rechtlich verbindliche Größe dar. Werden in einem Jahr mehr Suchtstoffe hergestellt oder importiert bzw. mehr Opium produziert als dem legalen Bedarf entspricht, so kann das INCB die geplanten zulässigen Herstellungs- und Importmengen für das Folgejahr reduzieren. 315 Neben diesem Abzugsrecht kann das INCB zudem ein Exportembargo bis zum Ende des laufenden Jahres aussprechen, wenn bereits mehr Drogen in einen Staat exportiert wurden, als nach den Bedarfsschätzungen für dieses Jahr zulässig ist. 316 Dadurch soll die Entstehung eines Überschusses verhindert werden. Das INCB ist nach Art. 12 (2) 520 U.N.T.S., S. 151 ff.; BGBI. 1977 II, S. 111 ff. 1019 U.N.T.S., S. 175 ff.; BGBI. 1976 II, S. 1477 ff. 310 28 I.L.M. (1989), S. 497 ff.; BGBI. 1993 II, S. 1136 ff. 311 Zu den Unterschieden der Konvention von 1988 siehe unten Teil 3, Fn. 330. 312 Im folgenden abgekürzt als EK. 308 309

Im folgenden abgekürzt als INCB. Verbrauch für medizinische und wissenschaftliche Zwecke, notwendige Mengen für die Verarbeitung in andere Suchtstoffe, bestimmte Sondervorräte u. ä. 315 Art. 21 (3) EK. 316 Art. 21 (4) (b) EK. 313

314

D. Reichweite der Bindungswirkung völkerrechtlicher Verträge

225

EK verpflichtet, auch Drittstaaten um die Vorlage der relevanten Daten zu ersuchen. Reicht ein Staat- gleich ob Mitgliedstaat oder Nicht-Mitgliedstaat- keine Schätzungen ein, so nimmt das INCB diese selbst vor, Art. 12 (3) EK. In diesem Fall hat der betreffende Staat, anders als bei Einreichung eigener Daten, auch nicht die Möglichkeit, auf dem Wege einer sog. Nachtragsschätzung eine Korrektur der Bedarfszahlen nach oben zu erreichen. Damit setzt er sich der Gefahr einer Verknappung der kontrollierten Substanzen für medizinische Zwecke aus, wenn die INCB-Schätzung ungewollt zu knapp bemessen war und die anderen Staaten auf der Grundlage der Angaben des INCB weitere Exporte in diesen Staat ablehnen.317 Das Abzugsrecht zur Verhinderung eines Überschusses steht dem INCB gegenüber Vertragsparteien und Drittstaaten gleichennaßen zu, Art. 21 (3) EK. Auch für das Exportembargo nach Art. 21 (4) (b) EK ist es unerheblich, ob es sich bei dem betreffenden Staat um einen Vertragsstaat oder einen Drittstaat handelt. Darüber hinaus überprüft das INCB nach Art. 13 (2) EK ob "( ... ) a Party or any other State has complied with the provisions of this Convention" (Hervorhebung von der Verfasserin). Daraus wird deutlich, daß die Vertragsparteien davon ausgehen, daß auch Drittstaaten die Vorschriften der Konvention beachten. In Anknüpfung daran wird auch im Rahmen des Vertragsdurchsetzungsverfahrens wegen Gefährdung der Konventionsziele (Art. 14 EK) nicht zwischen Vertragsstaaten und Drittstaaten differenziert. Die in diesem Zusammenhang vorgesehenen Maßnahmen- u. a. ein Konsultationsmechanismus, die Durchführung von Untersuchungen vor Ort, ein Handelsembargo gegenüber dem betreffenden Staat - können gegenüber allen Staaten gleichermaßen zur Anwendung gebracht werden. Ähnlich wie oben für das Montrealer Protokoll dargestellt, versuchen auch die Drogenkonventionen, Nicht-Vertragsstaaten mittels handelsbezogener Vorschriften zu einem Verhalten im Sinne der Konventionsziele zu motivieren. Der internationale Handel mit den geregelten Substanzen wird strengen Kontrollmaßnahmen unterworfen. 318 Im- und Exporttransaktionen dürfen nur mit behördlichen Zertifikaten durchgeführt werden, die detaillierte Angaben über die geplante Lieferung enthalten müssen. Eine Exportgenehmigung soll dabei erst dann ausgestellt werden, wenn seitens des Importlandes die Bestellung bestätigt wurde. 319 Will ein Drittstaat nicht auf den Handel mit den Vertragsstaaten der Drogenkonventionen verzichten, so ist er folglich gezwungen, das Im- und Export-Zertifikatsystem ebenfalls anzuwenden. Das Exportland muß ferner beachten, daß durch den ExStefanie Klinger, S. 159. Vgl. dazu die Darstellung bei Stefanie Klinger, S. 90 ff. 319 Art. 31 (4) und (5) EK; Art. 12 (1) der Konvention von 1971. 317 318

15 Hingst

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Teil 3: Auswirkungen von Globalisierung auf völkerrechtliche Verträge

port nicht die Importschätzungen des Importlandes überschritten werden und daß die Einfuhr mit den Gesetzen des Importlandes vereinbar ist. 320 In diesem Zusammenhang erlangen somit wieder die Bedarfsschätzungen Bedeutung, um die auch Drittstaaten ersucht und die erforderlichenfalls ersatzweise durch das INCB vorgenommen werden (vgl. oben). Schließlich dürfen die Vertragsstaaten Opiumnur von anderen Vertragsstaaten importieren, die zu den "klassischen", auf Export ausgerichteten Opiumproduktionsstaaten gehören müssen oder deren Produktion durch den Wirtschafts- und Sozialrat der Vereinten Nationen genehmigt wurdeY 1 Drittstaaten sind damit vom Opiumexport ausgeschlossen.

(2) Bewertung Die Drogenkonventionen von 1961 und 1971 beinhalten, wie gesehen, eine beträchtliche Zahl von Regelungen mit Bezug auf das Verhalten von Drittstaaten. Dahinter steht ein Streben nach möglichst universeller Anwendung der von den Drogenkonventionen definierten Kontrollstandards. Dieses erklärt sich aus den weitreichenden Interdependenzen im Bereich der Drogenkontrolle, wo unzureichende Kontrollmaßnahmen in einem Land von der Drogenindustrie leicht erkannt und zu ihren Zwecken ausgenutzt werden und damit die Anstrengungen aller anderen Staaten für den Schutz der öffentlichen Gesundheit und das Wohlergehen der Menschheit gefährdet oder vereitelt werden können. 322 Dem Interesse einer Vielzahl von Staaten323 an einer effektiven Drogenkontrolle wurde somit Priorität gegenüber dem Willen der Drittstaaten eingeräumt, die Drogenkonventionen gerade nicht zu ratifizieren. 324 Im vorliegenden Zusammenhang ist von Bedeutung, auf welche Weise die verschiedenen oben angesprochenen Regelungen Drittwirkung erzeugen. Artikel12 EK verpflichtet nach seinem Wortlaut direkt nur das INCB, an Drittstaaten heranzutreten und sie um die Vorlage der relevanten Informationen zu ersuchen. Die Wirkungen für die Nicht-Vertragsstaaten folgen mittelbar aus dem Recht des INCB, die Bedarfsschätzungen erforderlichenfalls selbst vorzunehmen und der damit verbundenen Konsequenz, daß Nachtragsschätzungen nicht mehr Art. 31 ( 1) EK. Art. 24 (4) EK. 322 Vgl. "Report ofthe INCB for 1994", UN Doc. FJINCB/199411, S. 22 para. 104. 323 Die EK hatte am 31.12.1999 157 Mitgliedstaaten. Die Konvention von 1971 zählte zum selben Zeitpunkt 161 Mitgliedstaaten. 324 Leon Steinig, 20 Bulletin on Narcotics (1968), Vol. 3, http://www .undcp.orglbulletin/ bulletin_1968-0101_3_page002.html (Stand: 17.10.2000); Stefanie Klinger, S. 158. 320 321

D. Reichweite der Bindungswirkung völkerrechtlicher Verträge

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möglich sind. Auch die mit den Bedarfsschätzungen ineinandergreifenden Handelskontrollen verpflichten direkt, d. h. durch die Auferlegung von Rechtspflichten, nur die Vertragsstaaten. Wie beim Montrealer Protokoll und den weiteren aus dem Umweltschutz genannten Verträgen bleibt Drittstaaten allerdings aufgrund der großen Mitgliederzahl der Drogenkonventionen faktisch keine andere Möglichkeit, als ebenfalls das Im- und Export-Zertifikatsystem anzuwenden. Ansonsten sind sie praktisch vom Handel mit den kontrollierten Substanzen ausgeschlossen. Eine Beeinträchtigung von Rechtspositionen und damit eine rechtliche Drittwirkung ergibt sich daraus jedoch wie bereits gesehen nicht. Über eine mittelbare Drittwirkung hinauszugehen scheint Art. 13 (2) EK, der dem INCB die Kontrolle über die Einhaltung der Konvention durch alle, auch Nicht-Mitgliedstaaten, überträgt. Hier wird der Wille deutlich, auch Drittstaaten an die Konventionsvorschriften zu binden. Direkte Pflichten werden ihnenjedoch nicht explizit auferlegt. Dies bleibt auch im Rahmen des Vertragsdurchsetzungsverfahrens nach Art. 14 EK aus. Es istjedoch hervorzuheben, daß dort Vertragsstaaten und Drittstaaten absolut gleichgestellt werden. Der Durchsetzungsmechanismus arbeitet insgesamt fast ausschließlich mit Empfehlungen an Stelle konkreter Rechtspflichten. 325 So schlägt das INCB beispielsweise Konsultationen vor und ersucht um Erläuterungen326, es schlägt die Durchführung von Untersuchungen vor Ort vor327 und macht die Vertragsparteien und andere Vertragsorgane (Kommission und Rat) auf die Angelegenheit aufmerksam.328 Den Vertragsparteien kann das INCB darüber hinaus ein Handelsembargo gegenüber dem betreffenden Staat, Nicht-Mitgliedstaaten eingeschlossen, empfehlen. 329 Daß keine direkten Rechtspflichten begründet werden, liegt folglich allein an der Ausgestaltung des Regelungsmechanismus. Ansonsten gehen die Vertragsstaaten davon aus, daß auch Drittstaaten sich zumindest an diejenigen Vorschriften halten, die für die Erreichung der Konventionsziele von zentraler Bedeutung sind.330 m Grund dafür ist zum einen die größere Flexibilität solcher Regelungen. Zum anderen war das primäre Ziel, eine möglichst universelle Akzeptanz der Konventionen zu schaffen und damit deren Effektivität zu erhöhen. Empfehlungen können sich zudem im Laufe der Zeit zu Rechtspflichten fortentwickeln. Vergleiche dazu ausführlich Stefanie Klinger, s. 103 ff. 326 Art. 14 (I) (a) EK. 327 Art. 14 (I) (c) EK. 328 Art. 14 (I) (d) EK. 329 Art. 14 (2) EK. 330 Das Vertragsdurchsetzungsverfahren der Drogenkonvention von 1988 ist nur auf Vertragsstaaten anwendbar. Dies ist aber nicht als "Rückzieher" der Vertragsstaaten gegenüber den früheren Konventionen zu werten, sondern erklärt sich aus dem unterschiedlichen Charakter und der unterschiedlichen Zielsetzung der 1988er Konvention. Während es in den

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Teil 3: Auswirkungen von Globalisierung auf völkerrechtliche Verträge

Zusammenfassend ist somit jedenfalls eine intensive Reflexwirkung der Drogenkonventionen für Nicht-Vertragsstaaten festzustellen. Eine direkte Auferlegung rechtlicher Pflichten erfolgt nach dem Wortlaut zwar nicht. Die Formulierung des Art. 13 (2) EK331 geht aber bereits ein Stück weit über die rein indirekte Steuerung des Verhaltens dritter Staaten durch Handelsbeschränkungen, wie sie u. a. für das Montrealer Protokoll festgestellt worden sind, hinaus in Richtung einer auch rechtlichen Bindung dritter Staaten. Interessant sind in diesem Zusammenhang insbesondere auch die Reaktionen der Drittstaaten auf die Drogenkonventionen und deren Umsetzung in die Praxis. Diese sind insgesamt weitestgehend positiv und von großer Kooperationsbereitschaft geprägt. Teilweise werden sogar auch die notwendigen gesetzlichen Maßnahmen nach Maßgabe der Drogenkonventionen auf nationaler Ebene getroffen. 332 Es wird daher davon ausgegangen, daß sich entsprechendes Gewohnheitsrecht aus den UN-Drogenkonventionen entwickelt hat. 333

cc) Zwischenergebnis Allen hier dargestellten Verträgen geht es um den Schutz eines öffentlichen Gutes bzw. Interesses, der nur gewährleistet werden kann, wenn alle Staaten gemeinsam an einem Strang ziehen und verhindert wird, daß Trittbrettfahrer die Anstrengungen einer großen Mehrheit zunichte machen. Diese Situation ist wie Konventionen von 1961 und 1971 primär um die präventive Kontrolle geht und um die Regulierung des Handels zur Verhinderung einer Abzweigung in illegale Kanäle, steht im Mittelpunkt der Konvention von 1988 die Bekämpfung des illegalen Handels mit natürlichen und synthetischen Drogen, die in den 1961er und 1971er Konvention keine zentrale Rolle einnimmt. Dies wirkt sich auch auf die Vertragspflichten der Staaten aus, die in der 1988er Konvention einen ganz anderen Charakter haben als in den beiden früheren Konventionen. Der Schwerpunkt der Konvention von 1988 liegt im repressiven Bereich. Der illegale Handel mit Betäubungsmitteln wird als internationale Straftat behandelt und daran anknüpfend insbesondere eine Harrnonisierung des nationalen Betäubungsmittelstrafrechts angestrebt sowie eine vertiefte Zusammenarbeit und ausgedehnte Rechtshilfe bei Fragen der Auslieferung, der Untersuchung von Sachverhalten und bei der Strafverfolgung gefordert. Es handelt sich insofern um ein "law-enforcement-treaty", das zugleich die Durchsetzung der Konventionen von 1961 und 1971 unterstützt. Vgl. zu den unterschiedlichen Zielsetzungen der Konventionen Stefanie Klinger, S. 75 ff. 331 Das INCB kontrolliert, ob "( ... ) a Party or any other State has complied with the provisions of this Convention" ( Hervorhebung von der Verfasserin). 332 Vgl. "Report of the INCB for 1995", erhältlich unter http://www.incb.org/e/ar/1995/ index.htm (Stand: 17.1 0.2000). 333 Stefanie Klinger, S. 160 ff. m. w. N.

D. Reichweite der Bindungswirkung völkerrechtlicher Verträge

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bereits gesehen charakteristisch für die Globalisierung. In den vorliegenden Fällen wird eine Lenkung des Verhaltens von Drittstaaten über die von den Verträgen ausgehende Reflexwirkung angestrebt, anstau zu versuchen, Nicht-Vertragsstaaten rechtlich an die vertraglichen Regelungen zu binden. Die Effektivität dieser mittelbaren Steuerungsmechanismen steigt mit der Zahl der Vertragsstaaten. Sie wird außerdem durch die zunehmende Vernetzung der Staaten begünstigt, denn dadurch erhalten z. B. handelsbezogene Maßnahmen einen erheblich größeren Wirkungsradius. Im Idealfall besteht vom Ergebnis her kaum noch ein Unterschied zwischen einer rechtlichen Drittwirkung im engeren Sinne und der faktischen Drittwirkung der angesprochenen Verträge. Da es aber nicht um die rechtliche Erstreckung der vertraglichen Bindungswirkung auf Nicht-Vertragsstaaten geht und die Pacta-tertiis-Regel im wesentlichen gewahrt bleibt, können bzw. brauchen die dogmatischen Ansätze Tomuschats, Ziemers und Delbrücks für die angesprochenen Verträge noch nicht zur Anwendung gebracht werden. Der dort verfolgte Lösungsansatz ist als Vorstufe und möglicher Wegbereiter für eine rechtliche Drittwirkung völkerrechtlicher Verträge zu bewerten. Gerade die Einheitskonvention von 1961, die deutliche Geltungsansprüche auch gegenüber Drittstaaten erhebt, zeigt aber, daß die Grenzen in dieser Hinsicht sehr fließend verlaufen.

b) Mit rechtlicher Drittwirkung vergleichbare Entwicklungen im vertragsinternen Bereich: Zulässigkeil von Vorbehaltserklärungen bei Menschenrechtsverträgen Im Bereich des Menschenrechtsschutzes sind in der jüngeren Vergangenheit Entwicklungen zu beobachten, die zwar keine Drittwirkung im Sinne der vertraglichen Verpflichtung dritter Staaten darstellen, aber unter dem Gesichtspunkt der Reichweite der Bindungswirkung völkerrechtlicher Verträge trotzdem von großem Interesse sind, weil es auch dabei zu einer Bindung von Staaten ohne ihre Zustimmung kommt.

aa) Darstellung der Entwicklungen Heute existieren auf globaler wie auf regionaler Ebene eine Vielzahl von Verträgen zum Schutz der Menschenrechte. Kaum einer dieser Verträge wird jedoch von allen beitretenden Staaten uneingeschränkt unterzeichnet. In den meisten Fällen haben verschiedene Staaten mit der Ratifizierung des Abkommens Vorbehaltserklärungen abgegeben, die bestimmte Vorschriften des Vertrages einschränken

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Teil 3: Auswirkungen von Globalisierung auf völkerrechtliche Verträge

bzw. eine Interpretation im Sinne des den Vorbehalt anbringenden Staates sicherstellen sollen. Das Recht eines Staates, einen solchen Vorbehalt anzubringen, gründet auf seiner Souveränität, kraft derer es ihm grundsätzlich freisteht, sich vertraglich zu binden und den Umfang seiner Bindung selbst zu bestimmen. Voraussetzung für die Wirksamkeit eines solchen Vorbehaltes sind die Zulässigkeil des Vorbehaltes und die Annahme desselben durch die übrigen Vertragsparteien. 334 Hinsichtlich der Frage der Zulässigkeil von Vorbehalten ist in den letzten Jahren eine Entwicklung zu verzeichnen, die die Freiheit des Staates zur Erklärung dieser Art von Einschränkungen in bedeutender Weise beschneidet. Als Ausgang dieser Entwicklung kann der 1988 vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte335 entschiedene Fall Belilos336 bezeichnet werden. Dort war der EMGH vor die Aufgabe gestellt, eine "auslegende Erklärung" der Schweiz zu Art. 6 (1) EMRK (Anspruch auf gerichtliches Verfahren) zu bewerten. Er stufte diese der Sache nach als einen Vorbehalt ein und lies diesen Vorbehalt an Art. 64 (1) (2) und Art. 64 (2) EMRK337 scheitern, nach dem nur konkrete Vorbehalte wegen des Verstoßes gegen geltendes nationales Recht zulässig sind. Entscheidend war das Urteil des EMGH über die Rechtsfolgen der Unwirksamkeit des Vorbehaltes: Diese führe nicht zur Gesamtnichtigkeit der schweizerischen Ratifikationserklärung, sondern zur uneingeschränkten Bindung der Schweiz an die Konvention, da aus den Erklärungen der Schweiz klar hervorgehe, daß diese sich unabhängig von der Wirksamkeit des Vorbehaltes an die Konvention gebunden sehe. Dieses war der erste Fall, in dem ein internationales Gericht einen Vorbehalt für nichtig erklärte und den Reservatarstaat ungeschmälert am Vertrag festhielt An diese Entscheidung knüpfte das Gericht 1990 im Fall Weber·338 an, in dem es einen Vorbehalt der Schweiz zu Art. 6 (1) EMRK (Öffentlichkeitsgrundsatz) wegen Verstoßes gegen Art. 64 (2) EMRK339 für nichtig befand. Wiederum trennte es den Vorbehalt von dem Vertrag ab und erklärte die Schweiz für in vollem Umfang an die Konvention gebunden. 334 Siehe dazu Heintschel von Heinegg, in: Knut Ipsen (Hrsg.), Völkerrecht, § 14 Rn. 11 ff.; Georg Dahm/Jost Delbrück/Rüdiger Wolfrum, Völkerrecht U2, § 149, im Erscheinen. 335 Im folgenden bezeichnet als EMGH. 336 Urteil vom 29. Aprill988, Publications ofthe ECHR, Series A, No. 132. Die Entscheidungen des EMGH und der Europäischen Kommission für Menschenrechte sind im Volltext unter http://www.echr.coe.int/hudoc abrufbar (Stand: 08.09.2000). 337 Seit Inkrafttreten des II. Zusatzprotokolls am 1. November 1998 Art. 57 EMRK. 338 Urteil vom 22. Mai 1990, Publications ofthe ECHR, Series A, No. 177. 339 Seit Inkrafttreten des 11. Zusatzprotokolls Art. 57 (2) EMRK.

D. Reichweite der Bindungswirkung völkerrechtlicher Verträge

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Der Sache nach gehört auch der Fall Chrysostomos340 in diesen Zusammenhang, obwohl er keinen Vorbehalt im technischen Sinne betraf. Dort erklärte die Europäische Kommission für Menschenrechte Individualbeschwerden von griechischen Zyprioten für zulässig, die sich durch in Nordzypern stationiertes türkisches Militär in ihren Menschenrechten verletzt fühlten. Die Türkei hatte ihre Unterwerfungserklärung nach Art. 25 EMRK341 mit mehreren Einschränkungen u. a. territorialer Art versehen, welche die Kommission für unwirksam hielt. Die Unwirksamkeit der Einschränkungen habe aber nicht die Unwirksamkeit der Unterwerfungserklärung als solcher zur Folge. Deren Hauptzweck liege in der Anerkennung eines Individualbeschwerderechts. Außerdem gebiete es in Fällen der Teilnichtigkeit das Effet-utile-Prinzip, eine Lösung zu suchen, die der effektiven Durchsetzung der übernommenen materiellen Konventionsverpflichtungen bestmöglich diene. Die Stellungnahme der Türkei, sie wolle nur an ihre Unterwerfungserklärung gebunden sein, wenn alle beigefügten Einschränkungen wirksam seien, wies die Kommission als mit Ziel und Zweck der Konvention unvereinbar zurück. Zuletzt hatte der EMGH sich 1995 mit der Frage eines unzulässigen Vorbehaltes zur EMRK zu beschäftigen. Im Fall Loizidou342 ging es wie bereits im Fall Chrysostomos um territoriale Beschränkungen der Unterwerfungserklärung der Türkei nach Art. 25, 46 EMRK343 • Diese wurde wiederum vom Gericht verworfen und für abtrennbar erklärt - mit der Folge, daß die türkische Unterwerfung in vollem Umfang wirksam wurde. Zur Begründung verwies der EMGH auf den speziellen Charakter der Konvention als Verfassungsinstrument des europäischen "ordre public" und die besondere Bedeutung der Art. 25, 46 EMRK für die Sicherung der Effektivität ihres Durchsetzungsmechanismus. Ziel der Konvention sei es, unter den Mitgliedstaaten eine größere Einheit in der Wahrung und Entwicklung der Menschenrechte zu erreichen. Damit sei es unvereinbar, wenn die Mitgliedstaaten die Begrenzung von Vorbehalten durch Art. 64 EMRK dadurch umgingen, daß sie die Kontrollbefugnis des Gerichts beschränkten und so jeweils unterschiedliche Überwachungsregime schafften. Diese vom EMGH vorgezeichnete Linie hat mittlerweile auch der MenschenrechtsausschuB des Internationalen Paktes über Bürgerliche und Politische Rechte Entscheidung vom 4. März 1991, 51 ZaöRV (1991), S. !56 ff. Mit Inkrafttreten des 11. Zusatzprotokolls wegen der Zusammenlegung von Kommission und Gericht zu einem einheitlichen Gerichtshof entfallen. 342 Urteil vom 23. März 1995, Publications of the ECHR, Series A, No. 310. 343 Seit Inkrafttreten des 11. Zusatzprotokolls Regelung der Zuständigkeit des EMGH durch Art. 34 und 56 EMRK. 340 341

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Teil 3: Auswirkungen von Globalisierung auf völkerrechtliche Verträge

(IPBPR) 344 in einem "general comment" gern. Art. 40 (4) (2) IPBPR übernommen. 345 In diesem wird festgestellt, daß nur solche Vorbehalte zum IPBPR zulässig seien, die die grundlegenden Inhalte und Regelungen des Paktes beachten. Die Unzulässigkeil eines Vorbehaltes habe in der Regel nicht die Nichtigkeit der Ratifizierungserklärung zur Folge. Ein Vorbehalt sei regelmäßig abtrennbar in dem Sinne, daß der Pakt ohne den Vorbehalt für den Reservatarstaat in Kraft trete. Hiergegen haben verschiedene Staaten, insbesondere Großbritannien und die U.S.A. -mit Seitenblick auf deren Bericht zur Umsetzung des Paktes der "General Comment" veröffentlicht worden war346 - widersprochen. Der MenschenrechtsausschuB hat dennoch in seinen Bemerkungen zu dem Bericht der U.S.A. deren Vorbehalte gegen Art. 6 (5) und Art. 7 IPBPR für unvereinbar mit Ziel und Zweck des Vertrages erklärt und den U.S.A. empfohlen, diese zurückzunehmen. Indem der Ausschuß die Aufforderung aussprach, die Zahl der mit Todesstrafe bedrohten Delikte eng auf die schwersten Verbrechen zu beschränken, "in confonnity with Art. 6 of the Covenant and with view to eventually abolishing it" (die Todesstrafe), hält er die U.S.A. der Sache nach ungeachtet ihres umfassenden Vorbehaltes an Art. 6 IPBPR fest und behandelt somit den Vorbehalt implizit als nichtig. 347 Auch in der Staatenpraxis ist in einer erheblichen Zahl von Fällen Vorbehaltserklärungen widersprochen worden, wenn der angebrachte Vorbehalt als mit Ziel und Zweck des Vertrages nicht vereinbar angesehen wurde. In verschiedenen Fällen wurden solche Vorbehalte als "devoid of legal effect"348, "not valid" 349 oder "null and void" 350 bezeichnet. Allerdings treffen die widersprechenden Staaten Vom 19. Dezember 1966, BGBI. 1973 II, S. 1533 ff. General Comment Adopted by the Human Rights Committee on 11 November 1994, CCPR/21/Rev.l/Add.6, S. 7. 346 Die U.S.A. sind bestrebt, ihre Todesstrafenpraxis und das damit verbundene Todeszellensyndrom durch das Anbringen von entsprechenden Vorbehalten von völkervertragsrechtlichen Beschränkungen freizuhalten. Auf diese Vorbehalte hatten die U.S.A. in dem genannten Bericht an den betreffenden Stellen Bezug genommen. UN Doc. CCPR/C/811 Add.4 vom 24.08.1994, S. 40 f., 48. 347 Thomas Griegerich, 55 ZaöRV (1995), S. 713 (716). 348 Widerspruch Finnlands gegen vom Iran bei der Ratifizierung der Konvention zum Schutz der Rechte des Kindes angebrachte Vorbehalte (BGBI. 1996 II, S. 622 f.). 349 Widersprüche Großbritanniens, Australiens und Neuseelands gegen die Vorbehalte der kommunistischen Ost-Block-Staaten im Zusammenhang mit der Ratifizierung der Genfer Konventionen von 1949, BGBI. 1958 II, S. 66, und BGBI. 1959 II, S. 1078 f. 350 Widerspruch Italiens gegen den Vorbehalt zum IPBPR, mit dem die U.S.A. das Verbot der Todesstrafe für Personen unter 18 Jahren für sich ausschließen, ST/LEG/Ser.E/13, S. 128 (Stand: 31.12.1994). 344 345

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regelmäßig keine Aussage zu den Rechtsfolgen, die sie mit der Nichtigkeit des Vorbehaltes verbunden sehen. 351 Denkbar wäre zum einen die Nichtigkeit der gesamten Ratifizierungserklärung mit der Folge, daß der Reservatarstaat nicht Partei des Vertrages geworden wäre. 352 Zum anderen könnte entsprechend dem Rechtsgedanken des Art. 21 (3) WVRK lediglich die Anwendbarkeit der von dem nichtigen Vorbehalt betroffenen Vorschrift ausgeschlossen sein, so daß der Reservatarstaat Vertragspartei und ansonsten an den Vertrag gebunden würde. 353 Die dritte Möglichkeit besteht in der vom EMGH, der Europäischen Kommission für Menschenrechte und dem Menschenrechtsausschuß des IPBPR praktizierten umfassenden Bindung des Reservatarstaates an den gesamten Vertrag, die von dem nichtigen Vorbehalt betroffenen Vorschriften eingeschlossen. 354 Teilweise betonen die dem Vorbehalt eines anderen Staates widersprechenden Staaten zwar, daß sie den Reservatarstaat trotzder Nichtigkeit des Vorbehaltes als Vertragspartei betrachten.355 Dazu, ob sie den Reservatarstaat auch an die von dem nichtigen Vorbehalt betroffenen vertraglichen Regelungen gebunden sehen, äußern sie sich allerdings nicht. 356 Um in dieser Hinsicht mehr Klarheit zu schaffen, hat der Europarat durch 351 Von dieser Frage ist die Frage der Annahme und der Rechtsfolgen von zulässigen Vorbehalten zu unterscheiden. Vgl. dazu Heintschel von Heinegg, in: Knut lpsen (Hrsg.), Völkerrecht, § 14 Rn. 11 ff.; Georg Dahm!Jost Delbrück!Rüdiger Wolfrum, Völkerrecht 1/2, § 149, im Erscheinen. 352 So beispielsweiseRobert Jennings/Arthur Watts, Oppenheim's International Law, Part 2, S. 1247 Anm. 1; A. Boyle, 29 ICLQ (1980), S. 498 (502); Christian Tomuschat, 27 ZaöRV (1967), S. 463 (467). 353 Diese Lösung vertreten z. B. Rolf Kühner, 42 ZaöRV (1982), S. 58 (87 ff.); Walter Kälin, 4 EuGRZ (1987), S. 421 (429). Wegen des besonderen Charakters von Menschenrechtsverträgen ist allerdings fraglich, ob diese Lösung überhaupt auf Menschenrechtsverträge angewendet werden kann. Ablehnend z. B. Thomas Griegerich, 55 ZaöRV (1995), S. 713 (742 ff., 775); Wolfvon der Wense, S. 94 f. 354 "Trennungslösung", vertreten u. a. von Thomas Griegerich, 55 ZaöRV (1995), S. 713 (775); Derek Bowett, 48 BYIL (1976177), S. 67 (76); Stefan Oeter, 48 ZaöRV (1988), S. 514 (520 f.); Richard Edwards, 10 MichJint'lL (1989), S. 362 (376 ff.); Wolfvon der Wense, S. 95 f. 355 V gl. beispielsweise die Reaktion Österreichs und Portugals auf den Vorbehalt der Malediven zu der Convention on the Elimination of all Forms of Discrimination Against Women, ST/LEG/Ser.E/15, S. 177, 181 (Stand: 31.12.1996), oder auch den Widerspruch Deutschlands gegen den Vorbehalt Portugals zur European Convention for the Suppression ofTerrorism, Notification JJ 1349C vom 04.02.1983, die fälschlicherweise nicht ordnungsgemäß registriert worden und daher nicht in der offiziellen Auflistung der Vorbehalte und Deklarationen enthalten ist (Sia Spiliopolou Akermark, 24 ELRev [ 1999], s. 499 [505]). 356 Siehe zu diesem Punkt die detaillierte Untersuchung von Sia Spiliopoulou Akermark, 24 ELRev (1999), S. 499 (504 ff.). Vgl. auch Jochen Frowein, FS Skubiszewski, S. 403 (408 ff.), der allerdings den Schwerpunkt auf die weitverbreitete Staatenpraxis legt, Vor-

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das Committee of Legal Advisers on Public International Law (CAHDI) und eine neu eingerichtete Group of Experts on Reservations to International Treaties (DIERIT) eine "Draft Reconunendation on Responses to Inadmissible Reservations to International Treaties" ausarbeiten lassen, die vom Ministerkomitee am 18. Mai 1999 als Empfehlung Nr. R.(99)13 angenonunen worden ist. 357 Auf globaler Ebene hat die International Law Commission den SonderberichtserstatteT Alain Pellet mit der Anfertigung eines Berichts zu Vorbehalten zu Verträgen beauftragt. 358

bb) Parallele zur Drittwirkung von Verträgen Anders als in den Fällen, die üblicherweise unter dem Aspekt der Drittwirkung diskutiert werden, geht es bei den vorangehend dargestellten Entwicklungen nicht um die rechtliche Verpflichtung von Nicht-Vertragsstaaten, sondern um die Bindung von Mitgliedstaaten eines Vertrages über ihre ausdrücklich erklärte Zustinunung hinaus. Fraglich ist, ob diese beiden Fallkonstellationen unter Umständen so weit vergleichbar sind, daß man die dogmatischen Ansätze Tomuschats, Ziemers und Delbrücks359 entsprechend zur Begründung einer Bindung von Reservatarstaaten auch an diejenigen Vorschriften heranziehen kann, gegen die sie einen unwirksamen Vorbehalt angebracht haben. Im "Normalfall" der rechtlichen Drittwirkung geht es um die Bindung eines Staates durch Vorschriften eines Vertrages, dem er nicht beigetreten ist, und der aus seiner Sicht insofern von anderen geschaffenes Recht darstellt. Im Unterschied dazu hat der Reservatarstaat im vorliegenden Fall an der Schaffung des Vertrages mitgewirkt und ist Partei desselben geworden, wobei er nur in bezugauf bestinunte Vertragsnormen Einschränkungen angemeldet hat. Die beiden Fallkonstellationen haben dennoch eine wesentliche Gemeinsamkeit: Bei beiden geht es behalte unter bestimmten Voraussetzungen als unwirksam zu betrachten und nicht auf die fehlende Differenzierung in bezugauf die genauen Rechtsfolgen dieser Unwirksamkeit eingeht. 357 Siehe dazu auch Sia Spiliopoulou Akermark, 24 ELRev (1999), S. 499 (511 ff.). Diese bezweifelt, daß die genannte Empfehlung zu mehr Klarheit über die Rechtsfolgen eines unwirksamen Vorbehaltes führen wird, da auch die darin enthaltenen Formulierungsvorschläge teilweise sehr unbestimmt sind. 358 Die Behandlung der Frage der Rechtsfolgen von Vorbehalten wird in Kapitel V des Berichts von Alain Pellet behandelt werden, das zum Zeitpunkt der Fertigstellung der Arbeit noch nicht vorlag. 359 Eine Anwendung des Ansatzes von Charney scheidet aus, da es hier um Entwicklungen im vertragsinternen Bereich geht.

D. Reichweite der Bindungswirkung völkerrechtlicher Verträge

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um die Einschränkung des Grundsatzes, daß ein Staat nur Kraft seiner Zustimmung an den Normen eines völkerrechtlichen Vertrages festgehalten werden kann und insofern um eine Zurückdrängung des staatlichen "consent". Erklärt der Reservatarstaat- wie die Türkei in den Fällen Chrysostomos und Loizidou -, er wolle an seine Ratifizierungserklärung nur gebunden sein, wenn alle damit verbundenen Einschränkungen wirksam würden, und wird ertrotz der Nichtigkeit des erklärten Vorbehaltes an dem gesamten Vertrag festgehalten, so kommt man dem Fall der Drittwirkung zumindest sehr nahe. Ob diese Bindung von den Vertragsparteien eingefordert wird oder durch ein von den Vertragsparteien eingesetztes Gericht macht dabei wertungsmäßig keinen Unterschied. In beiden Fallkonstellationen wird letztlich dasselbe Grundanliegen verfolgt: Es geht um den Schutz von hochrangigen Gemeinschaftsinteressen (und Interessen von Einzelpersonen) durch eine Bindung auch dissentierender Staaten. Dies macht die Situationen so vergleichbar, daß es legitim erscheint, die Argumentation Tomuschats, Ziemers und Delbrücks auf die Entwicklungen in bezug auf Vorbehaltserklärungen zu Menschenrechtsverträgen auszudehnen. Im folgenden wird daher zunächst geprüft, ob man die Bindung des Reservatarstaates mit den Argumenten Tomuschats, Ziemers und Delbrücks begründen könnte. Sodann wird gefragt, welcher der Ansätze inwiefern Bestätigung durch die Vorbehaltspraxis findet.

cc) Begründbarkeif der Bindung der Reservatarstaaten mittels der neueren dogmatischen Ansätze? Wie gesehen setzen alle drei Ansätze für die Allgemeinverbindlichkeit einer Regelung zunächst voraus, daß diese dem Schutz eines Gemeinschaftsinteresses dient und daß ihre Geltung gegenüber allen Staaten (hier entsprechend dem Reservatarstaat) inhaltlich notwendig ist. Die Formulierung des zu schützenden Gemeinschaftsinteresses sollte nach Möglichkeit im Rahmen einer großen Staatenkonferenz, möglichst unter Beteiligung nichtstaatlicher Wirkungseinheiten erfolgt sein. Die beiden erstgenannten Voraussetzungen legen nahe, jeden der vom EMGH entschiedenen Fälle und die Allgemeine Bemerkung des Menschenrechtsausschusses beim IPBPR einzeln zu untersuchen, um bei der Frage nach dem geschützten Gemeinschaftsinteresse und der Notwendigkeit der Regelung auf die jeweils von dem nichtigen Vorbehalt betroffene Vertragsvorschrift eingehen zu können. 360 Auf eine solche Vorgehensweise wird aber aus Raumgründen und auf360 Zum Problem der Bestimmung von Sinn und Zweck eines (Menschenrechts-)Vertrages siehe die ausführliche Diskussion bei Liesbeth Lijnzaad, S. 81 ff.

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Teil 3: Auswirkungen von Globalisierung auf völkerrechtliche Verträge

grund folgender Überlegungen verzichtet: EMRK und IPBPR dienen dem Schutz grundlegender Menschenrechte und Grundfreiheiten und verfolgen insofern bereits von der grundsätzlichen Zielsetzung her Gemeinschaftsinteressen. Die Vorbehalte in den oben genannten Fällen sind alle deshalb für nichtig erklärt worden, weil sie dem Sinn und Zweck des Menschenrechtsvertrages zuwiderliefen und der Schutz, der durch die mit dem Vorbehalt belegte Vorschrift verfolgt wird, ansonsten leerliefe. Für die Erreichung des von den Vertragsparteien verfolgten Zwekkes ist es insofern von essentieller Bedeutung, daß sich alle Vertragsparteien an die betreffenden Bestimmungen halten, ohne diese durch weitreichende Vorbehalte einzuschränken. Daher wird hier für alle anfangs genannten Fälle davon ausgegangen, daß die Voraussetzungen der Verfolgung eines Gemeinschaftsinteresses und der Notwendigkeit der uneingeschränkten Geltung der Regelung erfüllt waren. Der IPBPR ist im Rahmen der Weltorganisation der Vereinten Nationen entstanden361 und die EMRK auf Konferenzen des Europarates, als einer der Europa umfassenden Organisationen, ausgearbeitet worden. 362 Was die Beteiligung von NGOs anbelangt, so gab es zum Zeitpunkt der Verhandlungen zu EMRK und IPBPR und deren Abschluß noch keine mit heute vergleichbare NGO-Bewegung. Heute aber sind solche nichtstaatlichen Einheiten durch ihre Öffentlichkeitsarbeit und ihr Expertenwissen wesentlich in die Arbeit dieser Organe eingebunden. Seit dem lokrafttreten des 11 . Zusatzprotokolls zur EMRK am 01.11.1998 sind NGOs beispielsweise als amici curiae vor dem EMGH zugelassen. 363 Die Verfahrensregeln des Menschenrechtsausschusses beim IPBPR regeln zwar nicht ausdrücklich die Beteiligung von NGOs, diese sind aber dennoch beispielsweise aufgerufen, sich an dem Berichtswesen durch die schriftliche Übermittlung von Informationen und anderen Berichten zu beteiligen. 364 Die allgemeinen, von Tomuschat, Ziemer und Delbrück geteilten Voraussetzungen können insofern als erfüllt angesehen werden. Wo es um die Bindung dritter Staaten durch einen völkerrechtlichen Vertrag geht, ist nach dem Konzept Ziemers weiter eine Regelungsbefugnis der Vertragsstaaten zur Schaffung von Normen mit Gültigkeit erga omnes erforderlich. Vor361 Zur Entstehungsgeschichte siehe Dominic McGoldrick, S. 3 ff.; Otto Kimminichl Stephan Hohe, S. 344 ff. 362 Zur Entstehungsgeschichte siehe Mark Villiger, Handbuch EMRK, S. 5 ff.; Otto Kimminich/Stephan Hohe, S. 355 ff. 363 Art. 34 EMRK. 364 http://www.unhcr.ch/html/menu2/6/a/introhrc.htm (Stand: 15.09.2000); siehe dazu auch Hans-Michael Empell, S. 21 f. m. w. N. und 77 f.

D. Reichweite der Bindungswirkung völkerrechtlicher Verträge

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aussetzung für diese - ebenso wie für die von Delbrück geforderte verfahrensmäßige Absicherung der Definition des Gemeininteresses und der Beschlußfassung über die Regelung- ist, daß die Vorbereitung und der Abschluß der Konvention allen Staaten zum Beitritt offengestanden haben und daß es sich um eine dringend notwendige Regelung handelt. Nach Ziemer darf es darüber hinaus keinen expliziten Widerspruch dritter Staaten gegen die Regelung gegeben haben. Die Übertragung dieser (für die Bindung von Nicht-Vertragsstaaten entwickelten) Kriterien auf die hier untersuchte Vorbehaltsfrage ist problematisch, denn zum einen war der Reservatarstaat (anders als die Drittstaaten) direkt an der Schaffung der betreffenden Regelung beteiligt und zum anderen stellt schon der Vorbehalt an sich der Sache nach einen teilweisen Widerspruch gegen die betreffende Regelung dar. Hier stellt sich dafür aber die Frage, wem die Befugnis zukommt, die Nichtigkeit eines Vorbehaltes und die damit verbundenen Rechtsfolgen festzustellen bzw. festzulegen. In bezugauf den EMGH ist dies relativ unproblematisch. Dieser verfügt nach der EMRK über die Auslegungs- und Entscheidungskompetenz, d. h. er vermag Konventionsverletzungen durch die Vertragsstaaten verbindlich festzustellen, und die Vertragsstaaten sind verpflichtet, aus solchen Feststellungen die entsprechenden Konsequenzen zu ziehen. 365 Um entscheiden zu können, ob ein Vertragsstaat gegen die durch die Konvention übernommenen Verpflichtungen verstoßen hat, muß das Gericht zunächst feststellen können, inwieweit ein etwaiger Vorbehalt Wirkung entfaltet. Dabei kann es auch zu dem Ergebnis kommen, daß die Konventionsverletzung gerade in der Anbringung von mit der Konvention nicht zu vereinbarenden Vorbehalten besteht. 366 Im Gegensatz dazu sind die Vertragsinterpretationen der früheren Europäischen Kommission für Menschenrechte (EMRK) und des Menschenrechtsausschusses (IPBPR) rechtlich nicht bindend.367 Die umfängliche Rechtsprechung der Europäi365

Art. 32, 41, 42, 44,46 EMRK.

In dieser Weise ist z. B. der EMGH im Fall Belilos zu der Auffassung gelangt, zur Einhaltung der Konventionsverpflichtungen könne auch die Pflicht gezählt werden, mit der Konvention nicht vereinbare Vorbehalte zu unterlassen, Urteil vom 29.04.1988, Publications ofthe ECHR, Series A, No. 132. Zustimmend Thomas Griegerich, 55 ZaöRV (1995), S. 713 (761 ff.); in der Sache auch Georg Dahm/Jost Delbrück!Rüdiger Wolfrum, Völkerrecht 1/2, § 149, im Erscheinen; ähnlich außerdem Liesbeth Lijnzaad, S. 58, die von der Pflicht des Staates zur Erfüllung der Vertragsverpflichtungen bona.fide darauf schließt, daß mit Sinn und Zweck des Vertrages unvereinbare Vorbehalte nicht angebracht werden dürfen. 367 Bis zum lokrafttreten des 1 I. Zusatzprotokolls hatte die Kommission gern. Art. 32 EMRK dem Ministerausschuß einen Bericht vorzulegen, der keine rechtliche Bindungswirkung entfaltete. Die Trennung von Kommission und EMGH entfällt nunmehr aufgrund der Zusammenlegung der beiden Organe zu einem einheitlichen Gerichtshof. Der Men366

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Teil 3: Auswirkungen von Globalisierung auf völkerrechtliche Verträge

sehen Kommission für Menschenrechte wird allerdings von den Konventionsstaaten praktisch als autoritativ anerkannt. In ähnlicher Weise handelt es sich bei den Pakt-Interpretationen des Menschenrechtsausschusses um tonangebende, dominante Auslegungen, die im Konsensverfahren angenommen werden und die nicht übereinstimmende Staaten auch ohne Rechtsverbindlichkeit einem Rechtfertigungsdruck aussetzen, dem auf Dauer standzuhalten schwer sein dürfte. 368 Die nunmehr vom Menschenrechtsausschuß durch den "general cormnent" in Anspruch genommene Verwerfungskompetenz für mit dem Pakt nicht zu vereinbarende Vorbehalte kann als Annexkompetenz verstanden werden, ohne die er seine Überwachungsaufgabe nicht erfüllen könnte. 369 Rechtliche Bindungswirkung erhält die Entscheidung des Menschenrechtsausschusses allerdings auch dadurch nicht. Bei der Frage, auf welche Rechtsquelle die Bindung aller Staaten an die Regelung im Allgemeininteresse zurückzuführen ist, - hier respektive, wodurch der Reservatarstaat, dessen Vorbehalt für nichtig erklärt worden ist, an den Inhalt der betroffenen Regelung gebunden wird - unterscheiden sich wie gesehen die Ansätze. Während Tomuschat eine universelle Bindung der Staaten an in Vertragsform gegossene Konkretisierungen gewohnheitsrechtlich geltender Grundprinzipien befürwortet, begründet Ziemer die Bindung mit dem hinter der betreffenden Regelung stehenden Gemeinschaftsinteresse. Anders als Delbrück, der eine Bindung aller Staaten an notwendige Vertragsregeln vertritt, lehnen Tomuschat und Ziemer also eine Bindung direkt durch die vertragliche Regelung ab. Für Delbrück wäre es unproblematisch, die Bindung direkt auf die Vertragsnorm zurückzuführen. Die Verpflichtung des Reservatarstaates auf die gesamte Norm-trotz des (nichtigen) Vorbehaltes -ist zur Erreichung des Vertragszwekkes und zum Schutz hochrangiger Gemeinschaftswerte erforderlich, so daß der souveräne Wille des Reservatarstaates dahinter zurückzustellen ist. Aus denselben sehenrechtsausschuß bietet den über die Einhaltung des Vertrages im Streit befindlichen Vertragsparteien lediglich gern. Art. 41 (I) (e) IPBPR seine guten Dienste an und legt gern. Art. 41 (I) (h) IPBPR einen Bericht über die Sache vor. 368 Thomas Griegerich, 55 ZaöRV (1995), S. 713 (761); Kurt Hemd/, FS Zemanek, S. 203 (205 f.); Manfred Nowak, CCPR-Kommentar, Art. 40 Rn. 55; ähnlich, wenngleich auch schwächer: W. Kar/, Newsletter des Österreichischen Instituts für Menschenrechte 115 (1992), s. 36 (38). 369 So etwa die Rechtsprechungsorgane in der oben angeführten Staatenpraxis. In der Literatur z. B. Wolfvon der Wense, S. 71 ff.; Thomas Griegerich, 55 ZaöRV (1995), S. 713 (768); Rosalyn Higgings, in: J. P. Gardner (Hrsg.), Human Rights as General Norrns, S. XV (XXVII); Manfred Nowak, 16 HRU (1995), S. 377 (381), mit umfangreichen weiteren Nachweisen.

D. Reichweite der Bindungswirkung völkerrechtlicher Verträge

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Erwägungen müßte der Reservatarstaat nach Ziemers Ansatz die betreffende Vertragsregelung in vollem Umfang einhalten. Im Falle der Drittwirkung lehnt Ziemer eine Bindung von Nicht-Mitgliedstaaten direkt durch den Vertrag ab und greift bei Erfüllung der von ihr aufgestellten Kriterien statt dessen auf die hinter der Regelung stehenden Gemeinschaftsinteressen zurück. Übertragen auf die Vorbehaltsfrage müßte der Reservatarstaat somit zumindest auf diese Weise an den Inhalt der Vertragsnorm gebunden sein. Tomuschats Ansicht nach schließlich können Drittstaaten dann verpflichtet sein, sich entsprechend den Vorschriften eines für sie fremden Vertrages zu verhalten, wenn durch den Vertrag gewohnheitsrechtlich geltende Grundprämissen der Völkerrechtsordnung konkretisiert werden. Dies wäre vorliegend zum einen der Fall, wo z. B. ein bereits gewohnheitsrechtlich anerkanntes, grundlegendes Menschenrecht kodifiziert und so durch den Vertrag seine Konturen geschärft werden. Die Konkretisierung eines Gewohnheitsrechtsgrundsatzes ist zum anderen aber auch durch die Praxis im Rahmen eines völkerrechtlichen Vertrages denkbar. Ein Staat kann außerhalb des Vertrages gewohnheitsrechtliehen Bindungen unterliegen, die durch die Praxis im Rahmen des Vertrages präzisiert werden und sodann in der konkretisierten Form für den Vertragsstaat Geltung erlangen. Geht man davon aus, daß der Reservatarstaat trotz der unzulässigen Vorbehaltserklärung Vertragspartei wird, 370 so könnte die Nichtigkeit des Vorbehaltes bereits mit dem Grundsatz pacta sunt servanda begründet werden. Es bedeutet einen Widerspruch in sich, wenn der Reservatarstaat sich einerseits zu den Werten und Zielen des Vertrages bekennt, indem er Mitglied desselben wird, und andererseits einen Vorbehalt anbringt, der mit diesen Werten und Zielen nicht zu vereinbaren ist, weil er diesen zuwiderläuft und sie untergräbt. 371 Zu der Pflicht zur Einhaltung der Konventionsverpflichtungen kann auch die Pflicht gezählt werden, mit der Konvention nicht vereinbare Vorbehalte zu unterlassen372 , zumal die Konvention nur bestimmte Vorbehalte zuläßt (Art. 64). In ähnlicher Weise könnte man daran denken, auf den Gewohnheitsrechtsgrundsatz zurückzugreifen, daß die Staaten verpflichtet sind, ihre Verpflichtungen aus internationalen Übereinkünften nach Treu und Glauben zu erfüllen. 373 Mit diesem ist es nicht zu vereinbaren, wenn die Staaten einerseits ihren Willen be370 Vgl. dazu die Literatur- und Praxisnachweise oben Teil 3, Fn. 353, 354, 355. Diese Annahme liegt insbesondere dann nahe, wenn der Reservatarstaat durch sein übriges Verhalten zu erkennen gibt, daß er sich an den Vertrag gebunden sieht. 371 So auch Liesbeth Lijnzaad, S. 59. 372 So der EMGH im Fall Belilos, Urteil vom 29. Aprill988, Publications ofthe ECHR, Series A, No. 132. Zustimmend: Thomas Griegerich, 55 ZaöRV ( 1995), S. 713 (761 ff.). 373 Vgl. nur Art. 2 (2) UN-Charta; GA Res. 2526 vom 24. Oktober 1970 (Friendly Relations Declaration).

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Teil 3: Auswirkungen von Globalisierung auf völkerrechtliche Verträge

kunden, durch einen Vertrag gebunden zu sein, und andererseits gleichzeitig einen Vorbehalt erklären, der die von den Vertragsparteien zugrunde gelegte "raison d'etre" des Vertrages verneint. 374 Die Praxis der Nichtigerklärung solcher Vorbehalte kann als Konkretisierung dieser gewohnheitsrechtliehen Verpflichtungen gewertet werden, so daß der Reservatarstaat den Wegfall des Vorbehaltes akzeptieren und die betreffende Vertragsnorm im vollen Umfang beachten muß. 375 Geht man dagegen davon aus, daß der Reservatarstaat bei Unzulässigkeil des Vorbehaltes nicht zur Vertragspartei wird, 376 so können die Grundsätze pacta sunt servanda und der Pflicht zur Vertragserfüllung nach Treu und Glauben nicht zur Begründung der Bindung des Reservatarstaates an den Vertrag herangezogen werden. Statt dessen müßte nach Tomuschats Ansatz im Einzelfall geprüft werden, ob die Vertragsregel, gegen die der Vorbehalt angebracht wurde, auf einen gewohnheitsrechtliehen Grundsatz zurückgeführt werden kann, der durch den Vertrag konkretisiert wird. Wo dies der Fall ist, z. B. weil ein gewohnheitsrechtlich anerkanntes, grundlegendes Menschenrecht durch den Vertrag konkretisiert wird, könnte der Reservatarstaat verpflichtet sein, das Menschenrecht im Umfang der wesentlichen vertraglichen Konkretisierungen einzuhalten bzw. zu gewährleisten -ohne daß er Mitglied des betreffenden Vertrages ist. Wie weit die Bindung des Reservatarstaates im einzelnen reicht, müßte für jeden Fall genaugeprüft werden. Von einer diesbezüglichen Prüfung sämtlicher genannter Praxisfälle wird hier aus Raumgründen allerdings abgesehen. Es reicht aus festzustellen, daß im Einzelfall eine Verpflichtung der Reservatarstaaten auf die von dem Vorbehalt betroffene Vertragsregel (deren grundlegenden Gehalt), wenngleich auch schwierig, so doch möglich sein kann.

dd) Bestätigung der neueren dogmatischen Ansätze durch die Praxis? Es bleibt noch zu untersuchen, ob und inwieweit die dargestellte Verwerfungspraxis einen oder mehrere der dogmatischen Ansätze bestätigt. So auch Liesbeth Lijnzaad, S. 58. Art. 19 c WVRK selbst wird man gegenwärtig noch nicht zum Völkergewohnheitsrecht zählen können, da die Staatenpraxis zur Zulässigkeit von Vorbehalten bislang uneinheitlich ist (worauf Catherine Redgwell, 64 BYIL ( 1993), S. 245 (278), zu Recht hinweist) und auch im Rahmen des kodifizierten Vertragsrechts keine einheitliche Rechtsüberzeugung hinsichtlich der Reichweite dieser Norm besteht (Georg Dahm/Jost Delbrückl Rüdiger Wolfrum, Völkerrecht 112, § 149, im Erscheinen). Insofern kann auch die Bindung des Reservatarstaates an die volle Norm keine Konkretisierung der Rechtsfolgen eines solchen Gewohnheitsrechtssatzes darstellen. 376 So auch Christian Tomuschat, 27 ZaöRV (1967), S. 463 (467). 374

375

D. Reichweite der Bindungswirkung völkerrechtlicher Verträge

241

Die von allen drei Vertretern geteilten Voraussetzungen der Verfolgung eines hochrangigen Gemeinschaftsinteresses, der Notwendigkeit der Regelung und die hervorgehobene Stellung internationaler Foren wurden erfüllt bzw. die ihnen zugemessene besondere Bedeutung bestätigt. Da die Konzepte Tornuschats, Ziemers und Delbrücks nur übertragen auf die Verwerfung unzulässiger Vorbehalte angewendet wurde, mußten bei der Frage nach der Kompetenz der Vertragsstaaten zur Regelung mit Wirkung gegenüber allen Staaten Modifikationen vorgenommen werden. Was die Frage anbelangt, worauf die umfassende Vertragsbindung der Reservatarstaaten zurückzuführen ist, so legt bereits die hier zugrundeliegende Fallkonstellation es nahe, die Bindung des Reservatarstaates an die vom Vorbehalt betroffene Vorschrift direkt auf den Vertrag zurückzuführen. Der Reservatarstaat hat den Willen zum Ausdruck gebracht, Vertragspartei zu werden, und sich dadurch zu dem Ziel und dem Zweck des Vertrages bekannt. Wird nun der gegen eine Vertragsnorm erklärte Varbehalt als nichtig verworfen und der Reservatarstaat trotzdem weiterhin als Vertragsstaat gesehen, so schiene es gekünstelt, die Bindung an den Inhalt der Norm auf dem Umweg über die hinter der Norm stehenden Interessen oder die Konkretisierung eines Gewohnheitsrechtssatzes zu konstruieren. So haben auch der EMGH, die Europäische Kommission für Menschenrechte und der Menschenrechtsausschuß die Bindung im Sinne Delbrücks stets mit der Vertragsnorm selbst begründet.377 Die dargestellte Praxis der Verwerfung von unzulässigen Vorbehalten bedeutet eine deutliche Einschränkung der Dispositionsfreiheit der Vertragsstaaten im Hinblick auf die Anbringung, Auslegung und Reichweite von Vorbehaltserklärungen. Begründet wurde dies stets damit, daß die umfassende Bindung aller Vertragsstaaten im Interesse und zur Erreichung des hochrangigen Vertragszieles notwendig sei. Diese Argumentation geht in Richtung der von Delbrück vertretenen Auffassung, daß Recht gilt, weil es notwendig ist, und insofern gegebenenfalls der souveräne Wille des Staates hinter die im "public interest" notwendige Regelung zurückzustellen ist. In genau diesem Sinne haben auch der EMGH, die Europäische Kanunission für Menschenrechte und der Menschenrechtsausschuß von den betroffenen Staaten-trotz deren expliziten Widerspruchs gegen die Verwerfungspraxis378 (und insofern Nichtakzeptanz im Sinne Ziemers)- die Einhaltung des 377 Es ist fraglich, ob Tomuschat und Ziemer die Bindung des Reservatarstaates in der vorliegenden Fallkonstellation auf dem dargestellten Wege begründen oder diese nicht doch auch auf den Vertrag zurückführen würden. Letzteres scheint nicht ausgeschloss~n . da es sich bei dem Reservatarstaat anders als im Fall der Drittbindung nicht um einen außerhalb des Vertrages stehenden Staat handelt. 378 Vgl. beispielsweise die Stellungnahme der U.S.A. und Großbritanniens zum General Comment des Menschenrechtsausschusses, abgedruckt in 16 HRLQ ( 1995), S. 422 ff., und den Widerspruch Frankreichs, UN Doc. N51140, Annex VI, S. 117 ff. (1996).

16 Hingst

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Teil 3: Auswirkungen von Globalisierung auf völkerrechtliche Verträge

gesamten Vertrages gefordert und ein Festhalten an dem Vorbehalt als Verstoß gegen die Vertragspflichten mißbilligt. Damit ergibt sich insgesamt eine starke Bestätigung des Delbrückschen Ansatzes.

ee) Ergebnis Die seit einigen Jahren im Menschenrechtsbereich festzustellenden Entwicklungen in bezugauf die Zulässigkeit von Vorbehaltserklärungen sind vom Grundanliegen her stark vergleichbar mit dem Fall der Bindung dritter Staaten durch für sie fremde Verträge. Die umfassende Bindung eines Reservatarstaates an Vertragsvorschriften, gegen die er einen Vorbehalt angebracht hat, ließe sich theoretisch mit allen drei hier untersuchten dogmatischen Ansätzen begründen. Die dargestellte Praxis aber spricht recht eindeutig für den von Delbrück entwickelten Ansatz, nach dem im "common interest" notwendige Regeln379 der Disposition des einzelnen Staates in weitem Umfang entzogen werden können. Daß sich die genannten Organe durch den Widerspruch der betroffenen Staaten nicht haben davon abhalten Jassen, von dem Reservatarstaat die Einhaltung des gesamten Vertrages zu fordern und ein Festhalten an dem Vorbehalt als Verstoß gegen die Vertragspflichten zu mißbilligen, ist zudem als ein weiterer Fall von Entstaatlichung zu bewerten. Die von den Staaten eingesetzten Kontrollorgane verselbständigen sich gleichsam und verlangen von den Vertragsstaaten die Einhaltung von Vorschriften über den Rahmen der freiwillig von ihnen eingegangenen vertraglichen Bindung hinaus. Aus den genannten Entscheidungen des EMGH wird deutlich, daß den (Mitglieds-)Staaten das Recht abgesprochen wird, ihren freien Willen - und damit ihre Souveränität- in einer Weise auszuüben, die das durch die Konvention geschaffene Ordnungssystem unterliefe. Dieses Konzept des "objectivelpublic international order", wie es vom EMGH in verschiedenen Zusammenhängen gebraucht worden ist380, erinnert an die frühe Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs381, die den Ausgangspunkt für noch erheblich weitergehende Entwicklungen gebildet hat. 379 Die im Rahmen großer, für alle Staaten offener Staatenkonferenzen formuliert und aufgestellt werden. 380 Beispielsweise in den Fällen Pfunders (Entscheidung vom II. Januar 1961, Yearbook ofthe European Convention on Human Rights 1961, S. 116 ff.); Chrysostomos (Urteil vom 23. März 1995, Publications ofthe ECHR, Series A, No. 310); Belilos (Entscheidung vom 4. März 1991,51 ZaöRV (1991), S. 156 ff.). 381 Beispielsweise Van Gend & Laos, Rs. 26/62, Slg. 1963, l, und Costa ./. ENEL, Slg. 1964, 1251.

D. Reichweite der Bindungswirkung völkerrechtlicher Verträge

243

Entwicklungen der aufgezeigten Art können bislang allein auf regionaler Ebene ablaufen, da auf Ebene der Vereinten Nationen keine vergleichbare Gerichtsbarkeit existiert. Auf europäischer Ebene ist mit den genannten Urteilen deutliches "case law" vorhanden. Der Inter-Amerikanische Gerichtshof für Menschenrechte hatte bislang keinen Anlaß, sich zu den Rechtsfolgen eines unzulässigen, weil mit Ziel und Zweck der Amerikanischen Menschenrechtskonvention unvereinbaren Vorbehaltes zu äußern.382 Er steht der Auffassung des EMGH in bezugauf die Konzeption der Konventionjedoch sehr nahe 383 , so daß es nicht ausgeschlossen erscheint, daß er im gegebenen Fall zu einem ähnlichen Ergebnis kommen würde. Gerade weil auf globaler Ebene kein den regionalen Gerichtshöfen vergleichbares Entscheidungsorgan existiert, ist die Übernahme der im regionalen Rahmen entwickelten Praxis durch den Menschenrechtsausschuß beim IPBPR als Vertrag auf globaler Ebene besonders interessant. Die Durchsetzung der so begründeten Verpflichtungen liegt zwar weiter in der Hand der Vertragsstaaten, der betreffende Reservatarstaat aber wird einem erheblichen Rechtfertigungsdruck ausgesetzt - insbesondere wenn andere Staaten seinem Vorbehalt widersprochen haben und das Ergebnis des Kontrollorgans unterstützen. Dies wird in vielen Fällen auch ohne eine Rechtsverbindlichkeit der Entscheidung zur Einhaltung der betreffenden Vorschriften führen.

c) Fälle rechtlicher Drittwirkung Neben den vorangehend dargestellten Instrumenten zur indirekten Steuerung des Verhaltens von Nicht-Vertragsstaaten und den drittwirkungsähnlichen Entwicklungen im Bereich der Menschenrechtsverträge haben die Staaten in Reaktion auf die globalisierungsbedingten Veränderungen in verschiedenen Fällen auch den Schritt getan, völkerrechtliche Verträge mit echter Drittwirkung auszustatten. Dies soll anband von Beispielen aus dem Bereich des internationalen Seerechts- dem Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen und dem Fish Stocks Agreement- dargestellt werden.

382 Siehe dazu Susan Marks, in: J. P. Gardner (Hrsg.), Human Rights as General Norms, S. 34 (54 ff.). 383 Vgl. Susan Marks, ibid., S. 34 (58).

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Teil 3: Auswirkungen von Globalisierung auf völkerrechtliche Verträge

aa) Drittwirkung im Rahmen des Seerechtsübereinkommens der Vereinten Nationen (SRÜ) 384 Während der Schutz der Meeresumwelt lange Zeit auf Einzelaspekte oder auf regionale Ansätze begrenzt war, ist es mit dem SRÜ erstmals gelungen, eine umfassende Rechtsgrundlage zu schaffen und die wesentlichen Grundsätze des marinen Umweltschutzes zu kodifizieren. 385 Aus diesem multilateralen Vertrag sollen zwei Regelungen herausgegriffen werden, die generell Drittwirkung erzeugen oder aber potentiell dazu in der Lage sind. Daneben soll auf Bestimmungen eines Durchführungsübereinkommens zum SRÜ eingegangen werden, das sich mit dem Schutz gebietsübergreifender und weitwandernder Fischbestände befaßt.

(1) Art. 218 (1) SRÜ, Hafenstaatsjurisdiktion Die Regelung des Art. 218 SRÜ wurde bereits im Zusammenhang mit den Gegenbewegungen zu den Wirkungen der Globalisierung angesprochen, weil sie Hafenstaaten zur extraterritorialen Ausübung ihrer Jurisdiktion errnächtigt.386 Dort wurde festgestellt, daß mit der Bedeutungsabnahme geographischer Grenzen und der Relativierung des Territoriums als Bezugsraum auch die Bedeutung der Staatsgrenzen als Jurisdiktionsgrenze abnimmt. Artikel 218 (1) SRÜ wurde als ein Beispiel dafür genannt, daß Regelungen infolge der Globalisierung verstärkt problernorientiert und nicht mehr mit primärem Blick auf die Souveränität, insbesondere die territoriale Hoheitsgewalt des Staates getroffen werden können. Der Artikel über die Hafenstaatsjurisdiktion ist darüber hinaus aber auch unter dem Aspekt der Drittwirkung völkerrechtlicher Verträge von Interesse. Der Wortlaut der Regelung in ihrem ersten Abschnitt lautet wie folgt: "Befindet sich ein Schifffreiwillig in einem Hafen oder an einem vor der Küste liegenden Umschlagplatz eines Staates, so kann dieser Staat Untersuchungen durchführen und, wenn die Beweislage dies rechtfertigt, ein Verfahren wegenjedes Einleitensaus diesem Schiff außerhalb der inneren Gewässer, des Küstenmeers oder der ausschließlichen Wirtschaftszone dieses Staates eröffnen, wenn das Einleiten gegen die anwendbaren internationalen Regeln und Normen verstößt, die im Rahmen der zuständigen interna384

Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen vom 10.12.1982, BGBL. 1994 II,

s. 1799.

385 Eine übersichtliche Kurzdarstellung zum Umweltvertragsrecht mit weiteren Nachweisen ist zu finden bei Heintschel von Heinegg, in: Knut Ipsen (Hrg.), Völkerrecht, § 57, Rn. 1 ff. 386 Vgl. oben Teil2, C. I. 2. c).

D. Reichweite der Bindungswirkung völkerrechtlicher Verträge

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tionalen Organisation oder einer allgemeinen diplomatischen Konferenz aufgestellt worden sind."

Mit den "Regeln und Normen" sind im wesentlichen völkergewohnheitsrechtlich geltende Normen und die Meeresschutzabkommen angesprochen, die unter den Auspizien der International Maritime Organization (IMO) geschlossen worden sind, wie beispielsweise die Convention on the Prevention of Marine Pollution by Dumping ofWastes and Other Matter, 1972 (London Convention)387 und die International Convention for the Prevention of Pollution from Ships, 1973 mit dem dazugehörigen Protokoll von 1978 (MARPOL 73/78)388 • Damit es sich um eine anwendbare Regel handelt, muß diese entweder gewohnheitsrechtlich gelten oder aber es müssen - bei vertraglich geregelten Verboten - sowohl der Hafenstaat als auch der Flaggenstaat des die Norm verletzenden Schiffes Mitglied des betreffenden Meeresschutzabkommens sein. 389 Hinsichtlich der materiellen Regelung sieht Art. 218 (1) SRÜ nach allgemeiner Interpretation somit keine Drittwirkung vor, denn es ist allein die Anwendung solcher Vorschriften vorgesehen, denen der Flaggenstaat zugestimmt hat. Die Besonderheit des Art. 218 (1) SRÜ und dessen Potential zur Erzeugung von Drittwirkung liegt vielmehr im Durchsetzungsbereich. Dem Hafenstaat werden vertraglich Durchsetzungskompetenzen in bezug auf Vorgänge auf Hoher See eingeräumt, die ihm im Rahmen der völkergewohnheitsrechtlich geltenden Jurisdiktionsordnung vorher nicht zugestanden haben. Auf Hoher See gilt gewohnheitsrechtlich in erster Linie das Flaggenstaatsprinzip. Danach unterliegen die Regelung und Durchsetzung einschlägiger Vorschriften auf Hoher See grundsätzlich dem Staat, unter dessen Flagge ein Schiff fährt. Im Regelfall sind bei Vorgängen auf Ho her See Interessen- und damit die Souveränität- weder der Küsten- noch der Hafenstaaten betroffen, so daß eine Jurisdiktionsausübung durch diese Staaten ausscheidet. Fälle der Umweltverschmutzung außerhalb von und ohne Auswirkungen auf nationale Hoheitsgewässer können daher allenfalls nach dem (nur äußerst selten einschlägigen)

11 I.L.M. (1972), S. 1294 ff. International Convention for the Prevention ofPollution by Ships, 2 November 1973, 121.L.M. (1973), S. 1319 ff., as modified by the Protocol of 17 February 1978, 17I.L.M. (1978), S. 546 ff.; in Kraft seit dem 2. Okt. 1983. 389 Die Frage, wann eine Anwendbarkeit im Sinne von Art. 218 (I) SRÜ gegeben ist, ist allerdings nicht unumstritten, vgl. dazu Ted McDorman, 28 JMLC (1997), S. 305 (316) m. w. N.; Rüdiger Wolfrum/Volker Röben/Fred Morrison, in: Fred Morrison!Rüdiger Wolfrum (Hrsg.), International, Regionaland National Environmental Law, S. 225 {258 f.), und auch Doris König, S. 202. 387 388

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Teil 3: Auswirkungen von Globalisierung auf völkerrechtliche Verträge

aktiven Personalitätsprinzip oder aber dem Schutzprinzip390 in eigener Verantwortung verfolgt werden. 391 Artikel 218 (1) SRÜ ermächtigt nun den Hafenstaat, seine Hoheitsgewalt auszuüben, ohne daß eine Verbindung zwischen dem Sachverhalt und dem nationalen Regelungsinteresse des Hafenstaates erforderlich ist. Es wird dem Hafenstaat im gemeinsamen Interesse der internationalen Gemeinschaft an der Erhaltung der Meeresumwelt vertraglich die Stellung eines Sachwalters eingeräumt, der seine Kompetenzen nicht als Ausfluß der eigenen Souveränitätaufgrund der Betroffenheit eigener Interessen, sondern zum Wohle der Staatengemeinschaft wahrnehmen soll. 392 In der Folge unterstehen Schiffe auf Hoher See nicht mehr der ausschließlichen Jurisdiktion des Flaggenstaates; es kommt also zu einer Beschränkung des Flaggenstaatsprinzips. Eine potentielle Drittwirkung des Art. 218 (1) SRÜ ergibt sich aufgrundder Tatsache, daß nicht alle Staaten, die durch die in Bezug genommenen Meeresschutzvorschriften und -standards gebunden sind, auch Mitglieder des SRÜ sind. 393 Der Kreis der Mitgliedstaaten des SRÜ und der Meeresschutzabkommen sind nicht deckungsgleich, sondern es haben mehr und andere Staaten die Meeresschutzabkommen unterzeichnet als es (zum gegenwärtigen Zeitpunkt) Mitglieder des SRÜ gibt. Infolge dieses Umstandes sind Einleitungsfälle auf Hoher See denkbar, in denen zwar sowohl der Hafenstaat als auch der Flaggenstaat des betreffenden Schiffes Mitglieder des die Einleitung verbietenden Meeresschutzabkommens sind, der Flaggenstaat aber nicht dem SRÜ beigetreten ist. Wie aus der Tabelle im Anhang deutlich wird, handelt es sich bei dieser Konstellation auch nicht um völlig theoretische Fälle ohne jede praktische Relevanz. Nach traditionellem Vertragsrecht müßte es in einem solchen Fall dem Hafenstaat verwehrt sein, 390 Die Kompetenz des Staates zur Ausübung von Jurisdiktionsgewalt (durch den Erlaß und die Durchsetzung hoheitlicher Regelungen) ist Ausfluß der staatlichen Souveränität. Daraus folgt für die Ausübung nationaler Strafhoheit, daß sie nur dann erlaubt ist, wenn eigene Interessen des sie ausübenden Staates berührt werden und insofern eine sinnvolle Verbindung zwischen dem betreffenden Sachverhalt und der Souveränität des durchsetzenden Staates gegeben ist. Eine ausführliche Darstellung der verschiedenen Prinzipien, nach denen die staatliche Jurisdiktionsgewalt bei extraterritorialen Sachverhalten ausgeübt werden darf, ist zu finden bei Doris König, S. 212 ff., und mit Bezug auf Umweltstraftaten auf Hoher See S. 231 ff. 391 Doris König, S. 237. 392 Georg Dahm!Jost Delbrück/Rüdiger Wolfrum, Völkerrecht 112, § 154, im Erscheinen; Stephan Hohe, 37 AVR (1999), S. 253 (275); Maurizio Ragazzi, S. 162; Doris König, S. 237; Rüdiger Wolfrum, in: Fred Morrison!Rüdiger Wolfrum (Hrsg.), International, Regional and National Environmental Law, S. 3 (55 f.). 393 V gl. dazu die Tabelle im Anhang.

D. Reichweite der Bindungswirkung völkerrechtlicher Verträge

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gestützt auf seine Jurisdiktionshoheit aus Art. 218 ( 1) SRÜ (bzw. darauf basierendem nationalen Recht) in der dort vorgesehenen Weise gegen das unter fremder Flagge registrierte Schiff vorzugehen. Die Zulässigkeil der Erstreckung der hafenstaatlichen Jurisdiktionshoheit auf Einleitungsfälle auf Hoher See ergibt sich allein aus dem SRÜ, so daß sie nach traditionellem Vertragsrecht auch allein unter und gegenüber den Mitgliedstaaten des SRÜ in Anspruch genommen werden kann (pacta tertiis nec nocent nec prosunt). 394 Bei Art. 218 (1) SRÜ handelt es sich um eine Ermächtigungsnorm, die der nationale Gesetzgeber ausfüllen darf. Für den hier verfolgten Untersuchungszweck ist daher von Bedeutung, wie die Staaten die Regelung des Art. 218 (1) SRÜ in nationales Recht umgesetzt haben. Es ist zu analysieren, ob nationale Vorschriften erlassen worden sind, deren Anwendung und Durchsetzung auch gegenüber Nicht-Mitgliedern des SRÜ vorgesehen ist, und ob eine solche auch bereits tatsächlich erfolgt ist. (a) Nationale Umsetzungsvorschriften zu Art. 218 (1) SRÜ Soweit hier bekannt haben bislang folgende Staaten nationale Gesetze erlassen, um Art. 218 (1) SRÜ in nationales Recht umzusetzen bzw. die weiteren Voraussetzungen für eine solche Umsetzung zu schaffen: (aa) Belize: Maritime Areas Act, 1992 In Belize wurde zur Umsetzung des SRÜ der "Act to make provision with respect to the Territorial Sea, Interna! Waters and the Exclusive Economic Zone of Belize; and for matters connected therewith or incidental thereto or'395 erlassen. 394 Teilweise wird versucht, eine Einwilligung der ausländischen Schiffe in die Hafenstaatsjurisdiktion zu konstruieren. Diese wird damit begründet, daß Schiffe, die freiwillig in den Hafen einlaufen, den erweiterten Durchsetzungsbefugnissen des Hafenstaates zustimmen (vgl. den Report des ON-Generalsekretärs Kofi Anan zum Punkt "Oceans and the law of the sea" vom 20. Oktober 1997, UN Doc. N521491 (1997). Eine solche "Krücke" ist allerdings für Schiffe unter der Flagge von Mitgliedstaaten des SRÜ gar nicht erforderlich, da diese bereits mit der Unterzeichnung des SRÜ der Erweiterung der Hafenstaatsjurisdiktion zugestimmt haben. Die Konstruktion scheint gerade auch für Schiffe von NichtMitgliedstaaten des SRÜ gekünstelt, da eine Kenntnis von der Mitgliedschaft des Hafenstaates im SRÜ und/oder von der nationalen Gesetzgebung zu Art. 218 (I) SRÜ nicht unbedingt vorausgesetzt werden kann. 395 Maritime Areas Act 1992, s. 24 (4), abgedruckt in: United Nations, Division for Ocean Affairs and the Law of the Sea: The Law of the Sea, Current Developments in State Practice No. 3, S. 8 (25).

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Teil 3: Auswirkungen von Globalisierung auf völkerrechtliche Verträge

Artikel 24 (4) Maritime Areas Act ermächtigt den Außenminister Belizes zum Erlaß von Vorschriften "with respect to the investigation and institution of proceedings in respect of any discharge from a vessel outside the maritime areas of Belize in violation of applicable international rules and Standards established through the competent international organization or general diplomatic conference."

Es ist folglich der Wortlaut des Art. 218 (1) SRÜ direkt übernommen worden. Dies zeigt, daß Belize sich die Ausübung der diesbezüglichen Kompetenz für die Zukunft offenhält, wenn auch zu diesem Zeitpunkt noch keine nationalen Vorschriften zur Hafenstaatsjurisdiktion erlassen werden. Ein Schluß darauf, ob Belize im Falle der Umsetzung der Vorschrift in nationales Recht dieses auch gegenüber Drittstaaten zum SRÜ anzuwenden beabsichtigt, kann daraus nicht gezogen werden.

(bb) Gesetzgebung von St. Kitts und Nevis und St. Lucia, 1984 Beide Staaten haben durch Gesetz von 1984 ebenfalls den Wortlaut des Art. 218 (1) SRÜ übernommen 396 und sich damit die Ausübung der betreffenden Kompetenz ebenfalls offengehalten, so daß zu diesem Zeitpunkt auch dort keine Schlußfolgerung in bezug auf die potentielle Drittwirkung des nationalen Rechts möglich ist.

(cc) Bundesrepublik Deutschland: Art. 12 Ausführungsgesetz Seerechtsübereinkommen 198211994397 Die Bundesrepublik Deutschland hat zur Umsetzung der Regelung des Art. 218 {1) SRÜ den Geltungsbereich des deutschen Strafrechts wie folgt erweitert: "Das deutsche Strafrecht gilt für Straftaten gegen die Umwelt in den Fällen der§§ 324, 326, 330 und 330a des Strafgesetzbuchs, die von einem Schiff aus in der Nordsee oder der Ostsee außerhalb der deutschen ausschließlichen Wirtschaftszone durch Einleitung von Stoffen unter Verletzung verwaltungsrechtlicher Pflichten (§ 330d Nr. 4, 5 des Strafgesetzbuchs) begangen werden, welche der Durchführung völkerrechtlicher Übereinkommen zum Schutz des Meeres dienen."

Übernommen von Erik Molenaar, S. 109. Gesetz zur Ausführung des Seerechtsübereinkommens der Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1982 sowie des Übereinkommens vom 28. Juli 1994 zur Durchführung des Teil XI des Seerechtsübereinkommens, BGBI. 1995 I, S. 778 (786). 396

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D. Reichweite der Bindungswirkung völkerrechtlicher Verträge

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Verwaltungsrechtliche Pflichten sind nach § 330d Nr. 4 a StGB unter anderem solche Pflichten, die sich aus einer Rechtsvorschrift ergeben. Die in Art. 12 Ausführungsgesetz SRÜ angesprochenen" verwaltungsrechtlichen Pflichten, welche der Durchführung völkerrechtlicher Übereinkommen zum Schutz des Meeres dienen", meinen Vorschriften aus "Vertragsgesetzen" nach Art. 59 II Grundgesetz, mittels derer die von der Bundesrepublik durch völkerrechtliche Verträge übernommenen Verpflichtungen in deutsches Recht überführt worden sind. 398 Für die Verfolgbarkeil eines Einleitungsfalles nach deutschem Strafrecht ist somit allein der Verstoß gegen die - in deutsches nationales Recht umgesetzten Vorschriften völkerrechtlicher Meeresschutzabkommen maßgeblich. 399 Darauf, ob der Flaggenstaat des einleitenden Schiffes ebenfalls Mitglied des SRÜ ist, kommt es dagegen nicht an. Artikel 12 Ausführungsgesetz SRÜ, mit dem Deutschland Art. 218 (1) SRÜ umgesetzt hat, eröffnet dem Hafenstaat die Durchsetzung also auch in dem hier untersuchten Fall, daß sowohl der Hafenstaat als auch der Flaggenstaat des einleitenden Schiffes Mitglied des einschlägigen Meeresschutzübereinkommens sind, aber nur der Hafenstaat dem SRÜ beigetreten ist. Artikel 218 (1) SRÜ erhält damit durch die Umsetzung in nationales Recht eine Wirkung gegenüber Drittstaaten zum SRÜ.

(dd) Norwegen: Section 121 (1) (7) Seaworthiness Act, 1993400 Nach norwegischen Recht haben norwegische Behörden das Recht zur Durchführung von Untersuchungen an Bord aller- auch unter fremder Flagge fahrender - Schiffe, um aufzuklären, ob ein Schiff "has made discharges in Norway' s exclusive economic zone or in international waters in violation of international agreements to which Norway is a party, concerning the pollution ofthe marine environment."

Sieht man von der inhaltlichen Reichweite der den Behörden durch diese Vorschrift verliehenen Befugnisse ab, so sind die norwegische und die deutsche Ge398 Auf das Verhältnis völkerrechtlichen Vertragsrechts zum nationalen Recht soll an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden. Siehe dazu die ausführliche, auch rechtsvergleichende Darstellung bei Georg Dahm/Jost Delbrück/Rüdiger Wolfrum, Völkerrecht 1/1, S.l04ff. 399 Die Frage, ob der Haggenstaat des einleitenden Schiffes dem verletzten völkerrechtlichen Meeresschutzabkommens beigetreten sein muß, um nach deutschem Strafrecht zur Verantwortung gezogen werden zu können, wird hier nicht erörtert, da dieser Aspekt außerhalb des Untersuchungsgegenstandes liegt. 400 Act 7th June nr. 7 1993 relating to Public Control of the Seaworthiness of Ships, etc.

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setzgebung zur Umsetzung des Art. 218 (1) SRÜ praktisch identisch. Das norwegische Recht macht ebensowenig wie das deutsche zur Voraussetzung, daß der Flaggenstaat des einleitenden Schiffes Mitglied des SRÜ sein muß. Auch hier wird somit einer Vorschrift des SRÜ auf dem Wege der nationalen Gesetzgebung Wirkung gegenüber dritten Staaten verliehen.

(ee) Niederlande: Art. 19 (2) Prevention of Pollution from Ships Act, 19774()1 Artikel 19 (2) PPSA der Niederlande erlaubt die Untersuchung eines jeden ausländischen Schiffes auf Verstöße gegen die Einleitungsvorschriften des MARPOL 73/78 auf Hoher See. Über die Durchführung von Untersuchungen hinausgehende Befugnisse sind nicht vorgesehen. Der PPSA dient zwar der Umsetzung des MARPOL 73/78 und nicht des Art. 218 (1) SRÜ, letzterer wurde allerdings in seiner endgültigen Fassung ebenso wie der PPSA im Jahr 1977 im "Consensus"Verfahren angenommen. Es ist anzunehmen, daß die niederländische Regelung zur Umsetzung des MARPOL 73/78 bereits unter dem Einfluß der Diskussionen im Rahmen der Seerechtskonferenz entstanden ist. Der PPSA wird gegenwärtig umfassend überarbeitet. Ein Änderungsvorschlag besteht darin, Art. 5 (1) PPSA auch auf ausländische Schiffe anwendbar zu machen. Dies hätte zur Folge, daß Einleitungen in das Meer unter Verstoß gegen MARPOL 73/78 unabhängig davon verboten wären, wo die Einleitung erfolgt (Gewässer unter nationaler Jurisdiktion oder Hohe See) und unter welcher Flagge das einleitende Schiff fährt. In Anknüpfung an diese Erweiterung wird des weiteren die Kompetenz zur Untersuchung von Verstößen gegen den neu gefaßten Art. 5 (1) PPSA diskutiert (Art. 19 PPSA). Weiter ist in der Diskussion, auch das niederländische Strafgesetzbuch auf Verstöße gegen den neuen Art. 5 PPSA anwendbar zu machen, so daß neben der Untersuchung des einleitenden Schiffes auch die Verhängung von Strafen möglich wäre.4lJ2

Im folgenden abgekürzt als PPSA. Die Informationen hierzu wurden Erik Molenaar, S. 109, entnommen. Der Text des zur Diskussion stehenden Gesetzesentwurfes war zum Zeitpunkt der Erstellung dieser Arbeit der Öffentlichkeit noch nicht zugänglich, da er noch nicht dem Parlament übersandt worden war. Auskunft vorn 10. Juli 2000 von Alphons de Rouw, Netherlands Ministry of Transport, Public Works and Water Management, Directorate-General for Freight Transport, Legal Affairs Division. 40 1 402

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(ff) HELCOM Recommendation 19116, 1998403 Aussagekräftig ist im Zusammenhang mit dem vorliegenden Untersuchungszweck auch der Anhang zur Recommendation 19/16 der Helsinki Commission (Baltic Marine Environment Protection Commission- HELCOM) vom 24. März 1998. HELCOM ist das leitende Organ der 1992 Helsinki Convention on the Protection of the Marine Environment of the Baltic Sea Area. 404 Mitglieder dieser Konvention sind gegewärtig Dänemark, Estland, die Europäischen Gemeinschaften, Finnland, Deutschland, Lettland, Litauen, Polen, Russland und Schweden. HELCOM Recommendations sind Entscheidungen der Kommission, die von den Mitgliedstaaten in nationales Recht umgesetzt werden sollen. 405 Sie werden einstimmig getroffen, so daß darin getroffene Aussagen allen Mitgliedstaaten zugerechnet werden können. HELCOM Recommendation 19116 enthält in einem Anhang "Guidelines for Co-operation in Investigating Violations or Suspected Violations of Discharge and Related Regulations for Ships, Dumping and Incineration Regulations". Diese enthalten unter anderem folgenden Abschnitt: "3.4 [Moreover,] on the conditions stipulated in Article 218 ofthe UN Convention on the Law of the Sea, the Guidelines are applicab1e to any ship being vo1untari1y within a port or at an offshore terminal of a Contracting Party in case of any discharge from that ship made in contravention of Annexes I, li and V to MARPOL 73178 in waters beyond the jurisdiction of the Contracting Parties (high sea, waters under jurisdiction of other States)."406

Die Hafenstaatsjurisdiktion nach Art. 218 SRÜ soll somit nach Vorstellung der HELCOM bzw. ihrer Mitgliedstaaten gegenüber allen Schiffen angewendet werden, unabhängig davon unter welcher Flagge ein Schiff fährt. Dies spricht dafür, daß auch diejenigen Mitgliedstaaten der HELCOM, die Art. 218 SRÜ noch nicht in nationales Recht umgesetzt haben, eine Ausübung der Hafenstaatsjurisdiktion gegenüber Schiffen unter der Flagge von Nicht-Mitgliedstaaten des SRÜ befürworten. Als Grund für diese Haltung kann angenommen werden, was bereits in der Präambel zur Recomrnenation 19/16 betont wird: Eine effektive Bekämpfung der Meeresverschmutzung setzt eine intensive Kooperation und gegenseitige Hilfe bei der Durchführung von diesbezüglichen Untersuchungen

http://www.helcom.fi/reclist.htrnl (Stand: 02.06.2000). Die 1992er Konvention ist seit dem 17. Januar 2000 in Kraft und ersetzt die Vorläuferkonvention aus dem Jahre 1974. 405 Die Mitgliedstaaten sind nach Art. 16 der Konvention verpflichtet, regelmäßig über die Umsetzung der Empfehlungen durch nationale Gesetze, Verordnungen oder ander:: Maßnahmen sowie über die Effektivität der unternommenen Schritte zu berichten. 406 Hervorhebungen von der Verfasserin. 403

404

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voraus, die sich- wie Art. 218 SRÜ deutlich macht- nicht auf die Mitgliedstaaten der Helsinki Convention beschränken kann, sondern sich auch auf andere Staaten, insbesondere den Flaggenstaat des untersuchten Schiffes erstrecken muß.

(b) Zusammenfassung Die Zahl der Vertragsstaaten zum SRÜ, welche nationale Vorschriften zur Umsetzung des Art. 218 (1) SRÜ erlassen haben, die auch gegenüber NichtMitgliedern des SRÜ angewendet und durchgesetzt werden sollen, ist bislang noch nicht groß. Um so mehr Bedeutung ist der HELCOM Recomrnendation 19/16 zuzumessen, die insofern als eine Stellungnahme der HELCOM Mitgliedstaaten in dieser Frage gewertet werden kann. Es bleibt abzuwarten, inwieweit dieser eine Umsetzung in nationales Recht folgen wird. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt tendiert die Entwicklung in Richtung einer drittwirkenden Handhabung der Hafenstaatsjurisdiktion. Für den Beweggrund der betreffenden Staaten kann auf die oben wiedergegebene Passage aus der Präambel zur HELCOM Recomrnendation 19/16 verwiesen werden, der sich verkürzt mit dem Stichwort der "praktischen Notwendigkeit der Kooperation aller Staaten" zusammenfassen läßt. Die Zunahme der Fernfischerei und des weltweiten Schiffsverkehrs im Zuge der engeren wirtschaftlichen Vernetzung bringt auch eine Erhöhung der Gefahr von Meeresverschmutzungen und Zerstörung der Meeresumwelt mit sich. Diese Probleme können nur dann effektiv gelöst werden, wenn alle Staaten an einem Strang ziehen.

(c) Bewertung Es stellt sich in zweierlei Hinsicht die Frage, wie die soeben dargestellte Umsetzungspraxis zu Art. 218 ( 1) SRÜ zu bewerten ist. Zum einen ist zu klären, ob die Umsetzung dieser Vorschrift in nationales Recht, die zu der aufgezeigten potentiellen Drittwirkung führt, mit Art. 218 (1) SRÜ als der Ermächtigungsgrundlage zu vereinbaren ist oder ob sie über die Grenzen des von Art. 218 Erlaubten hinaus geht. Im Anschluß daran ist zu diskutieren, ob es sich tatsächlich und ausschließlich um einen Fall der vertraglichen Drittwirkung handelt oder ob in der dargesteilten Praxis u. U. (auch) ein Ansatz zur Herausbildung einer völkergewohnheitsrechtliehen Regel auf Basis des Art. 218 (1) SRÜ zu sehen ist.

D. Reichweite der Bindungswirkung völkerrechtlicher Verträge

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(aa) Überschreitung der Kompetenzen aus Art. 218 (1) SRÜ durch die nationale Gesetzgebung? Um zu klären, ob Art. 218 (1) SRÜ eine Umsetzung der Hafenstaatsjurisdiktion in nationales Recht deckt, die in der dargestellten Weise Drittwirkung zu entfalten geeignet ist, muß diese Vorschrift ausgelegt werden. Nach klassischem Vertragsrecht wäre, wie gesehen, eine Ausübung der Hafenstaatsjurisdiktion gegenüber einem Schiff, das unter der Flagge eines Nicht-Mitgliedstaates des SRÜ fährt, aufgrunddes Grundsatzes der Relativität der Verträge unzulässig.

(a) Wortlautauslegung des Art. 218 (1) SRÜ Eine vom Wortlaut des Art. 218 (1) SRÜ ausgehende Interpretation scheint auf den ersten Blick die Ausübung der Hafenstaatsjurisdiktion gegenüber Schiffen von Nicht-Mitgliedstaaten des SRÜ zu erlauben, denn die Formulierung lautet: "Befindet sich ein Schiff freiwillig in einem Hafen oder an einem vor der Küste liegenden Umschlagplatz eines Staates ( ... )"407 . Es ist keine ausdrückliche Beschränkung auf Schiffe unter der Flagge von Mitgliedstaaten des SRÜ gegeben. Eine Ausübung der Hafenstaatsjurisdiktion auch gegenüber Nicht-Mitgliedstaaten des SRÜ ist daher nach dem Wortlaut des Art. 218 (1) SRÜ jedenfalls nicht ausgeschlossen. Allerdings scheint ein Schluß auf die Zulässigkeil einer drittwirkenden Handhabung des Art. 218 (1) SRÜ allein aufgrundeiner Wortlautauslegung etwas übereilt, denn eine ausdrückliche Bezugnahme auf die ,.Vertragsstaaten" findet sich durchgängig nur in Teil XI (Tiefseebergbau) und in Teil XV (Streitbeilegung) des Abkommens. In den übrigen Teilen der Konvention werden zumeist die Begriffe "Staaten", ,.Küstenstaaten" oder ,.Flaggenstaaten" verwendet, und auch die übrigen Durchsetzungsvorschriften im 6. Abschnitt des Teils XII treffen keine ausdrückliche Aussage über den Kreis der Staaten, gegenüber denen zur Durchsetzung ermächtigt wird. 408 Dies ist nach klassischem Vertragsrecht, dem zu folge ein Vertrag Wirkung nur für und gegen die Vertragsparteien entfaltet, auch nicht erforderlich. Allein aus dem Fehlen einer ausdrücklichen Beschränkung auf Schiffe von Vertragsparteien wird man daher nicht auf die Zulässigkeil einer Hervorhebungen von der Verfasserin. So wurden auch anfangliehe Überlegungen, Art. 218 SRÜ ausdrücklich auf Hafenstaaten zu beschränken, die dem Übereinkommen beitreten, fallen gelassen (weil man dies über die "anwendbaren internationalen Regeln und Normen" klären könne) und Art. 218 ganz allgemein für Hafenstaaten formuliert, vgl. Shabtai Rosenne/Alexander Yankov (Hrsg.), UNCLOS 1982, Commentary, Art. 218,218.9 (a). 407

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potentiell drittwirkenden Interpretation des Art. 218 (1) SRÜ schließen dürfen. Dafür bedarf es des Hinzutretens weiterer Anhaltspunkte.

(ß) Systematische und teleologische Auslegung

Möglicherweise kann eine systematische Interpretation des Art. 218 (1) SRÜ unter Heranziehung des Vertragsziels und -zwecks solche weiteren Anhaltspunkte ergeben. Aufgrund der systematischen Stellung des Hafenstaatsjurisdiktionsartikels im 6. Abschnitt des Teils XII über die Durchsetzung von Vorschriften wird teilweise angezweifelt, daß Art. 218 SRü überhaupt eine Ermächtigung für den Hafenstaat enthält, nationale Gesetze gegen die Einleitung von Schadstoffen auf Hoher See zu erlassen. Der Hafenstaat werde lediglich zur Durchsetzung, nicht aber zum Erlaß von Einbringungsvorschriften ermächtigt. Da aber die Ausübung der Durchsetzungsbefugnisse zunächst einmal den Erlaß entsprechender Vorschriften voraussetzt, isttrotzder systematischen Stellung des Art. 218 SRÜ von einer entsprechenden Rechtsetzungsbefugnis des Hafenstaates auszugehen. 409 Für die Frage der Zulässigkeil einer Jurisdiktionsausübung nach Art. 218 (1) SRÜ gegenüber (Schiffen von) Nicht-Vertragsstaatenist unter systematischen Gesichtspunkten von Interesse, wie dieser Punkt für die übrigen Durchsetzungsbestimmungen in Teil XII 6. Abschnitt geregelt ist. Der Wortlaut dieser Vorschriften enthält darüber keine ausdrückliche Aussage, so daß von diesem- wie bereits angesprochen - nicht notwendigerweise darauf geschlossen werden kann, ob zur Durchsetzung nur gegenüber Schiffen unter der Flagge von Vertragsstaaten oder auch gegenüber dritten Staaten ermächtigt wird. Für diese "personelle" Reichweite der Durchsetzungsbestimmungen ist wesentlich, worauf die Jurisdiktionsgewalt des durchsetzenden Staates letztlich zurückzuführen ist. Der 6. Abschnitt dient der Regelung der Durchsetzungsbefugnisse in bezug auf die "internationalen Regeln und innerstaatlichen Vorschriften zum Schutz der Meeresumwelt vor Verschmutzung", zu deren Schaffung der 5. Abschnitt des Teils XII ermächtigt und auffordert. Die in dessen Artikeln 207 bis 212 SRÜ geregelten Befugnisse zum Erlaß nationaler Meeresschutzvorschriften sind alle auf die Souveränität der Vertragsstaaten zurückführbar, denn es gehtjeweils um die Regelung meeresverschmutzender Tätigkeiten in Gebieten, die unter nationale 409 So auch Daniel Bodansky, 18 Ecology LQ (1991), S. 719 (762); Ted McDorman, 28 JMLC (1997), S. 305 (315); Eric Molenaar, S. 104.

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Hoheitsbefugnisse fallen (Land, Küstenmeer, Festlandsockel, der der Souveränität unterstehende Luftraum) bzw. in denen die Staaten bestimmte Hoheitsbefugnisse auszuüben berechtigt sind (ausschließliche Wirtschaftszone) oder aber um Tätigkeiten von Schiffen und Luftfahrzeugen, die die Flagge eines Vertragsstaates führen oder in einem solchen registriert sind. Die Rechtsetzungsbefugnis der gesetzgebenden Staaten basiert folglich nicht allein auf der vertraglichen Vereinbarung, sondern geht letztlich auf die Souveränität der Staaten zurück. Der Vertrag fügt nur Detailregelungen verfahrenstechnischer und ähnlicher Art hinzu. Für die Durchsetzung folgt daraus, daß diese gegenüber allen Staaten erlaubt sein muß, denn Verstöße gegen die nationalen Gesetze eines Staates berühren dessen Hoheitsgewalt. Entsprechend der Reichweite der souveränen Hoheitsbefugnisse beschränken die den Artikeln 207 bis 212 SRÜ korrespondierenden Bestimmungen des 6. Abschnitts die Durchsetzungsbefugnisse aufmeeresverschmutzende Tätigkeiten in Gebieten, die unter nationale Hoheitsbefugnisse fallen (bzw. in denen die Staaten bestimmte Hoheitsbefugnisse auszuüben berechtigt sind) oder aber auf Tätigkeiten von Schiffen und Luftfahrzeugen, die die Flagge eines Vertragsstaates führen (oder in einem solchen registriert sind). In dieser "räumlichen" Hinsicht nimmt Art. 218 (1) SRÜ gegenüber den übrigen Bestimmungen des 6. Abschnitts wie bereits gesehen eine Sonderstellung ein, denn er ermächtigt zur Durchsetzung auchjenseits der nationalen Hoheitssphäre. Fraglich ist, ob eine ähnliche Sonderstellung auch in bezugauf den "personellen" Geltungsbereich, also den Kreis der Staaten, gegenüber denen durchgesetzt werden darf, festgestellt werden kann. Die Vorschriften, zu deren Durchsetzung Art. 218 (1) SRÜ ermächtigt ("anwendbaren internationalen Regeln und Normen"), sind im 5. Abschnitt in den Absätzen der Art. 207, 208, 210-212 SRÜ angesprochen, die die Schaffung internationaler Regelungen zum Schutz gegen die jeweilige Verschmutzungsart betreffen. Jene sollen "im Rahmen der zuständigen internationalen Organisation oder einer (allgemeinen) diplomatischen Konferenz" aufgestellt werden. Anders als bei den eben behandelten nationalen Meereschutzvorschriften steht den Vertragsstaaten die Regelungsbefugnis hier nicht ausschließlich (aufgrund ihrer Souveränität) zu, sondern nur in Zusammenarbeit mit anderen Staaten. Entsprechend führt auch ein Verstoß gegen die so geschaffenen internationalen Regelungen und Standards nicht automatisch zu einer Verletzung der Souveränität eines bestimmten anderen Staates. Aus diesem Unterschied könnte man im Wege eines Umkehrschlusses folgern, daß die Durchsetzung gegenüber allen Staaten im ersten Fall (Verstoß gegen nationale Vorschriften) zulässig, im zweiten, hier relevanten Fall (Verstoß gegen

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internationale Vorschriften) dagegen unzulässig ist. Dafür könnte sprechen, daß die Durchsetzungskompetenz des Hafenstaates in bezugauf (anwendbare) internationale Vorschriften nicht auf dessen Souveränität basiert, sondern allein in der vertraglichen Übereinkunft (SRÜ) begründet liegt, so daß sie Wirkungen auch nur innerhalb des Kreises der Vertragsparteien entfalten kann. Dieser Schluß ist jedoch nicht zwingend und bei Berücksichtigung des Ziels und des Zweckes der Hafenstaatsjurisdiktion auch nicht geboten. Grund für die Verleihung umfassender Polizei- und Strafkompetenzen an die Hafenstaaten durch Art. 218 SRÜ war die unzureichende Verfolgung von Einbringungsfällen auf Hoher See durch die Flaggenstaaten, denen bis dahin auf Hoher See die exklusive Hoheitsgewalt über ihre Schiffe zustand. 410 Die erhebliche Bedrohung und Schädigung der Meeresumwelt durch die Einleitung umweltgefährdender und -zerstörender Stoffe machte es dringend erforderlich, die Effektivität der Durchsetzung internationaler Meeresschutzvorschriften wie MARPOL 73/78 zu steigern, um so die Meeresumwelt auch für zukünftige Generationen zu erhalten und zu schützen. Mit dem Schritt, die Hafenstaaten als Sachwalter dieses gemeinsamen Interesses der gesamten Staatengemeinschaft mit Durchsetzungsbefugnissen auszustatten, die im traditionellen Seerecht nur für den Fall der Piraterie vorgesehen waren, wurde die Souveränität der Flaggenstaaten nicht unerheblich eingeschränkt (auch wenn sie die Möglichkeit haben, ein Verfahren gern. Art. 228 (1) SRÜ an sich zu ziehen). Da sich das Prinzip der ausschließlichen Plaggenstaatsjurisdiktion aus dem Grundsatz der Meeresfreiheit herleitet, hat eine Beschränkung der Souveränität des Flaggenstaates zudem Auswirkungen auf den Inhalt und die Bedeutung der Meeresfreiheit. 411 Um dem Problem der Meeresverschmutzung durch Schiffe Herr zu werden, wurden somit Kernprinzipien des traditionellen Seerechts überdacht und inhaltlich den praktischen Notwendigkeiten angepaßt. Wenn aber im Interesse aller Staaten und Menschen ein solch wesentlicher Schritt gemacht wird, so darf davon ausgegangen werden, daß dieser nicht aufhalbem Wege stehen bleiben, sondern ganz getan werden sollte. Diese Überlegungen sprechen dafür, daß Art. 218 (1) SRÜ sowohl in "räumlicher" als auch in "personeller" Hinsicht eine Sonderstellung unter den Durchsetzungsvorschriften 410 Vgl. dazu den Report des UN-Generalsekretärs Kofi Anan zum Punkt "Oceans and the law of the sea; results of the review by the Commission on Sustainable Development of the sectoral theme of ,oceans and seas'" vom 30. September 1999, UN Doc. A/54/429 (1999). Ted McDonnan, 28 JMLC (1997), S. 305 (319): "( ... ) the basis for jurisdiction might be described as the international community's desire to supplement traditional enforcementjurisdiction (flag States) over activities (pollution discharges) that can have detrimental effects over the community's shared area (the high seas)." 411 Vgl. dazu Doris König, S. 244 ff.

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im 6. Abschnitt des Teils XII einnimmt und damit für die Zulässigkeit einer universalen Durchsetzung der anwendbaren internationalen Regeln und Standards, d. h. für eine Durchsetzung auch gegenüber Nicht-Mitgliedstaaten des SRÜ. Hinzu kommt, daß ein Vertrag nach dem Effektivitätsgrundsatz so auszulegen ist, daß sein Gestaltungsziel und sein Regelungszweck bestmöglich erreicht werden, daß der intendierte Nutzeffekt ("effet utile") eintritt.412 Diesem Auslegungsgrundsatz steht zwar der von der Souveränität der Staaten ausgehende Grundsatz gegenüber, daß im Zweifel Beschränkungen der staatlichen Freiheit nicht vermutet werden dürfen (in dubio pro libertate)413 . Diese Prinzip ist aber nur mit großer Zurückhaltung und nur als letzte Möglichkeit anzuwenden, wenn man ansonsten zu keinem Interpretationsergebnis gelangt. 414 Hier stehen weder die Wortlautauslegung noch die systematische Interpretation einer potentiell drittwirkenden Auslegung des Art. 218 (1) SRÜ entgegen, und Ziel und Zweck des SRÜ sprechen in jedem Fall für eine solche Interpretation, zumal auch bereits die Einschränkung der Souveränität des Flaggenstaates eine Abweichung vom absoluten Vorrang der staatlichen Souveränität zugunsten eines hochrangigen Gemeinschaftsgutes darstellt. Es ist daher davon auszugehen, daß eine Umsetzung der Hafenstaatsjurisdiktion in nationales Recht, nach der eine Durchsetzung internationaler Meeresschutzvorschriften auch gegenüber Nicht-Mitgliedern des SRÜ möglich ist, die Grenzen des nach Art. 218 (1) SRÜ Zulässigen nicht überschreitet. 415

(bb) Drittwirkung des Art. 218 (1) SRÜ oder Herausbildung von Völkergewohnheitsrecht auf Basis des Art. 218 (1) SRÜ? Des weiteren stellt sich die Frage, ob die nachgewiesene völkerrechtliche Umsetzungspraxis allein im Sinne einer Drittwirkung des Art. 218 (1) SRÜ zu inter412 Free-Zones-of-Upper-Savoy-and-Gex-Fall, PCIJ Ser. A, No. 22, S. 13; Heintschel von Heinegg, in: Knut Ipsen (Hrsg.), Völkerrecht, § II Rn. 16; Alfred VerdrossiRruno Simma, S. 51 ff.; Kar[ Zemanek in: Hanspeter Neuhold/Waldemar Hummer/Christoph Sehreuer (Hrsg.), ÖHdbVR, S. 73. Die Anwendung dieses Grundsatzes darf allerdings nicht zur Auslegung gegen den Wortlaut und Sinn des Vertrages führen, vgl. hierzu den Wimledon-Fall, PCIJ Ser. A, No. I (1923), S. 25; lnterpretation-of-Peace-Treaties-Fall, ICJ Reports 1950, S. 229; Heintschel von Heinegg, in: Knut lpsen (Hrsg.), Völkerrecht,§ II Rn. 16. 413 Gutachten des StiGH im Mossul-Fall , PCIJ Ser. B, No. 12, S. 25. 414 Kar[ Zemanek, in: Hanspeter Neuhold/Waldemar Hummer/Christoph Sehreuer (Hrsg.), ÖHdbVR, S. 73. 415 So direkt für Art. 218 (1) SRÜ, allerdings ohne nähere Begründung, auch Ted McDorman, 28 JMLC (1997), S. 305 (319 f.). 17 Hingst

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Teil 3: Auswirkungen von Globalisierung auf völkerrechtliche Verträge

pretieren ist oder ob es sich nicht (auch) um einen Fall der beginnenden Entstehung einer gewohnheitsrechtliehen Regelung der Hafenstaatsjurisdiktion auf Basis des Art. 218 (1) SRÜ handelt, die u. U. sogar hinsichtlich der "personellen" Reichweite von der vertraglichen Regelung abweicht. Daß Verträge über sich hinauswachsen und den Boden für allgemeinverbindliches Völkerrecht bilden können, ist seit dem Urteil des IGH imNorth-Sea-Continental-Shelf-Fall416 anerkannt. In jenem Fall wurde zum ersten Mal explizit bestätigt, daß ein Vertrag unter bestimmten Voraussetzungen Gewohnheitsrecht nicht nur kodifizieren, sondern auch erschaffen kann. 417 Danach kann sich insbesondere aus generellen, mehrseitigen Verträgen Völkergewohnheitsrecht entwickeln, indem die darin vereinbarten Normen von der allgemeinen Rechtsüberzeugung der Staaten, d. h. über den Kreis der Vertragsparteien hinaus, als bindend anerkannt werden. 418 Im vorliegenden Fall sprechen allerdings verschiedene Aspekte dagegen, die nachgewiesene Praxis als Ansatz zu einer gewohnheitsrechtliehen Regelung der Hafenstaatsjurisdiktion zu werten. Bei den dargestellten Fällen handelt es sich um nationale Praxis zur Umsetzung des SRÜ und damit um Praxis im Zusammenhang mit der Vertragserfüllung. In bezug auf solche Staatenakte im Rahmen völkerrechtlicher Verträge ist zunächst umstritten, ob sie überhaupt als Praxis im Sinne des Art. 38 (1) (b) IGH-Statut zur Gewohnheitsrechtsbildung beitragen können. 419 Selbst wo dies bejaht wird, ist weiter streitig, ob Völkergewohnheitsrecht allein durch die Praxis von Vertragsstaaten zur Erfüllung ihrer vertraglichen Verpflichtungen entstehen kann oder ob dafür darüber hinausgehende Voraussetzungenz. B. entsprechende Übung seitens Nicht-Vertragsstaaten- erfüllt sein müssen.420 Man kann der Ansicht sein, daß das Verhalten eines Staates neben dem Willen, vertragliche Verpflichtungen zu erfüllen, außerdem von der Überzeugung getragen sein kann, zu diesem Verhalten qua Gewohnheitsrecht verpflichtet zu sein- denn ICJ Reports 1969, S. 3 ff. "A norrn creating provision which has constituted the foundation of, or has generated a rule which, while only conventional or contractual in its origin, has since passed into the general corpus of intemationallaw." ICJ Reports 1969, S. 42. 418 Vgl. auch Art. 38 WVRK; Alfred Verdross/Bruno Simma, S. 366 mit Beispielen; Eckart Klein, S. 155 ff. mit zahlreichen weiteren Nachweisen; Otto Kimminich/Stephan Hohe, S. 175; Anthony d'Amato, 64 AJIL (1970), S. 892 ff.; Ulrich Scheuner, FS Mann, S. 409 (420 ff.); R. Baxter, 129 RdC (1970 I), S. 24 (36 ff.). 419 Dagegen z. B. Mark Villiger, Customary International Law, S. 26 ff.; Maurice Mendelson, 248 RdC (1998), S. 155 (315 f.); befürwortend z. B. R. Baxter, 41 BYIL (1965/66), S. 275 (296 f.); ders. , 129 RdC (1970 1), S. 24 (64). 420 Siehe dazu Kar[ Doehring, 36 ZaöRV (1976), S. 77 ff. 416 417

D. Reichweite der Bindungswirkung völkerrechtlicher Verträge

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Vertrags- und Gewohnheitsrecht können anerkanntennaßen nebeneinander bestehen.421 Entsprechend müßte dem Verhalten des betreffenden Staates auch Relevanz für die Gewohnheitsrechtsbildung zugemessen werden. Bei der Praxis im vorliegenden Fall handelt es sich jedoch nicht um Staatenakte zur Erfüllung vertraglicher Pflichten, die den Hafenstaaten gleichzeitig nach Gewohnheitsrecht obliegen könnten, sondern es geht um die Wahrnehmung von durch das SRÜ begründeten Kompetenzen, die (selbst im Verhältnis der Mitgliedstaaten des SRÜ) eine erhebliche Erweiterung gegenüber dem Völkergewohnheitsrecht bedeuten. Die betreffenden Staaten müßten, um die für die Gewohnheitsrechtsbildung erforderliche opinio iuris aufzuweisen, also davon ausgegangen sein, auch nach Gewohnheitsrecht zu einer Ausdehnung ihrer Jurisdiktion auf Einleitungsfälle auf Hoher See (egal unter welcher Flagge das einleitende Schiff fährt) berechtigt zu sein. Auf eine solche opinio iuris kann man allerdings nicht ohne das Vorliegen weiterer Anhaltspunkte schließen, wenn es um Praxis von Mitgliedstaaten eines Vertrages im Rahmen der Ausübung vertraglich begründeter Kompetenzen geht, die, wie gesehen, auch mit der vertraglichen Regelung vereinbar ist und die außerdem ganz konkret der Umsetzung der völkervertraglichen Regelung in nationales Recht dient. Hier sind keine konkreten Anhaltspunkte dafür ersichtlich, daß sich die betreffenden Staaten nach Gewohnheitsrecht zum Erlaß der genannten Gesetze berechtigt gesehen haben. Es liegt daher nahe, diese Praxis als Auslegung und Anwendung des völkerrechtlichen Vertrages einzuordnen. Für den Schluß auf eine parallele Herausbildung von- insbesondere vom Vertrag abweichendem- Gewohnheitsrecht bleibt in einem solch eindeutigen Fall wenig bis gar kein Raum. 422

(d) Tatsächliche Durchsetzung gegenüber Nicht-Mitgliedstaaten des SRÜ Bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt sind keine Fälle der tatsächlichen Ausübung der Hafenstaatsjurisdiktion, z. B. in Form der Durchführung von Untersuchungen an Bord eines Schiffes oder der Einleitung von Strafverfahren, bekannt geworden. Es ist bislang weder gegenüber Mitgliedern noch gegenüber Nicht-Mitgliedstaaten 42 1 Nicaragua-Urteil des IGH, ICJ Reports 1986, S. 93 mit zahlreichen Verweisen auf andere Urteile in diesem Sinne; Peter Malanczuk, Akehurst' s Modem Introduction, S. 40 f.; RudolfBemhardt, in: ders. et al. (Hrsg.), Encyclopedia ofPublic International Law, Vol. I, s. 902. 422 Die gewohnheitsrechtliche Geltung des Art. 218 ( 1) SRü wird allgemein heute auch (noch) abgelehnt, vgl. Robin ChurchilWaughan Lowe, S. 352 f. ; Patricia Birnie/Alan Boyle, S. 185; Barbara Kwiatkowska, S. 185; Maynard Silver!William Westermayer, 15 ODIL (1985), S. 321 (327); Jonathan Charney, 15 ODIL (1985), S. 233 (288); Edward Miles, 18 LSealnstProc (1985), S. 183 f.

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Teil 3: Auswirkungen von Globalisierung auf völkerrechtliche Verträge

des SRÜ aufgrundder Regelung des Art. 218 (1) SRÜ vorgegangen worden. Die praktische Umsetzung bleibt insofern noch hinter den rechtlichen Möglichkeiten der Hafenstaaten zurück, wofür politische Erwägungen eine wesentliche Rolle spielen dürften. Auch wenn grundsätzlich das Bewußtsein vorhanden ist, daß im Interesse aller gegen Verschmutzungen der Hohen See vorgegangen werden muß, so ist es häufig politisch nicht opportun, diese Erkenntnis auch in die Tat umzusetzen. Allerdings schafft Art. 218 (1) SRÜ zumindest die rechtlichen Voraussetzungen für ein Einschreiten und legt so den Grundstein für die Verwirklichung des in der Vorschrift zum Ausdruck kommenden Allgemeininteresses an der Erhaltung der Meeresumwelt

(e) Bestätigung der neuerendogmatischen Ansätze? Es ist festgestellt worden, daß die gegenwärtige Umsetzungspraxis bezüglich der Hafenstaatsjurisdiktion dahin tendiert, Maßnahmen zur Durchsetzung von internationalen Einleitungsvorschriften auch gegenüber Schiffen von Nicht-Mitgliedstaaten des SRÜ zu gestatten, wodurch sich eine Drittwirkung des Art. 218 (1) SRÜ ergibt. Diese Fallkonstellation ist- wie aus der Tabelle im Anhang zu dieser Arbeit deutlich wird - auch nicht ohne praktische Relevanz. Im folgenden soll nun untersucht werden, ob und inwieweit dieser Fall die unter D. III. 1. a) dargestellten Ansätze Tomuschats, Ziemers und Delbrücks bestätigt.423 Alle drei dogmatischen Ansätze setzen wie gesehen voraus, daß die betreffende Vorschrift dem Schutz eines Gemeinschaftsinteresses dienen muß und daß ihre Geltung gegenüber allen Staaten inhaltlich notwendig sein muß. Bei der Definition des Gemeinschaftsinteresses wird internationalen Foren und so auch großen Staatenkonferenzen eine wesentliche Rolle zugemessen. In dieser Hinsicht stellt das SRÜ geradezu ein Paradebeispiel dar. Die dritte Seerechtskonferenz war eine wahre Mammutkonferenz, die an verschiedenen Orten in 12 Sitzungsperioden über einen Zeitraum von 9 Jahren tagte. Sie stand allen Staaten zur Teilnahme offen (Art. 301 S. 1 i. V. m. Art. 305 (1) (a) SRÜ) und fand bereits unter Beteiligung einer beträchtlichen Zahl nichtstaatlicher Organisationen statt. 424 Die durch das SRÜ geschaffene Rechtsordnung für die Meere 423 Auf eine Anwendung des Konzepts von Chamey wird hier wie auch in den weiteren Praxisfällen verzichtet, da im Zentrum der Untersuchungen völkerrechtliche Verträge mit Wirkungen für dritte Staaten stehen sollten. 424 Zur Beteiligung von NGOs an der 3. Seerechtskonferenz der Vereinten Nationen und ihrer Rolle im Zusammenhang mit Seerechtsangelegenheiten im allgemeinen siehe Lee Kimball, in: Davor Vidas/Willy 0streng (Hrsg.), Order for the Oceans, S. 389 ff.

D. Reichweite der Bindungswirkung völkerrechtlicher Verträge

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und Ozeane enthält in verschiedenen Teilen Regelungen von Gemeinschaftsinteressen der Staaten425 • Artikel218 (1) SRÜ dient wie bereits gesehen dem gemeinsamen Interesse an der Erhaltung und dem Schutz der Meeresumwelt, zu dessen Sachwalter der Hafenstaat gemacht wird. Dies war auch dringend erforderlich, weil Einbringungsfälle auf Hoher See von den Flaggenstaaten erfahrungsgemäß aus verschiedenen Gründen nur äußerst unzureichend verfolgt werden, obwohl diese eine erhebliche Schädigung der Meere zur Folge haben. Es konnten weiter auch alle Staaten an der Seerechtskonferenz und den dort gefaßten Beschlüssen teilnehmen, und der Beitritt zum SRÜ steht allen Staaten offen. Die Notwendigkeit der Regelung wurde bereits begründet, und Widersprüche gegen sie sind soweit nicht bekannt geworden. Insofern sind sowohl Ziemers Anforderungen an eine Regelungsbefugnis erga omnes als auch die Forderung Delbrücks nach einer verfahrensmäßigen Absicherung der Definition des Gemeinschaftsinteresses und der Beschlußfassung erfüllt. Es bleibt die von Tomuschat, Ziemer und Delbrück unterschiedlich beurteilte Frage zu klären, auf welche Rechtsquelle die Bindung aller Staaten an die Regelung im Allgemeininteresse zurückzuführen ist. Hier ist bereits begründet worden, daß und warum die nachgewiesene Umsetzungspraxis auf eine vertragliche Drittwirkung des Art. 218 (1) SRÜ (und nicht auf die Entstehung von Gewohnheitsrecht) hinweist. Dabei handelt es sich zwar um Vorschriften nationalen Rechts, diese dienen aber der Umsetzung des Art. 218 (1) SRÜ, so daß von ihnen darauf geschlossen werden kann, welchen Inhalt die betreffenden Staaten Art. 218 ( 1) SRÜ geben. Dies gilt insbesondere auch für die HELCOM Recommendation 19116. Damit deutet sich zuvorderst eine Bestätigung des Ansatzes Delbrücks an. Dem steht nicht entgegen, daß Delbrück eine Ergaomnes-Wirkung von Vertragsnormen auf grundlegende Prinzipien und Regeln beschränkt, denn das Wichtige an Art. 218 (1) SRÜ sind nicht die Verfahrensregeln, sondern die Erweiterung der Jurisdiktionshoheit der Hafenstaaten für Einbringungsfälle auf Hoher See. Dies betrifft eine Grundsatzfrage, nicht eine Detailregelung, an die auch Delbrück dritte Staaten nicht binden will. Die (potentiell) drittwirkende Interpretation des Art. 218 (1) SRÜ hat ihren Grund vor allem in der Notwendigkeit einer Durchsetzungsmöglichkeit gegenüber allen Staaten. Auch dies weist in Richtung Delbrücks Konzept, das auf der Grundprämisse beruht, daß Recht gilt, weil es notwendig ist.

425 Vgl. nur Art. 136 SRÜ, der den Meeresboden zum Gemeinsamen Erbe der Menschheit erklärt.

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Teil 3: Auswirkungen von Globalisierung auf völkerrechtliche Verträge

Da die von Ziemer für eine Geltung der Regelung erga omnes aufgestellten Voraussetzungen erfüllt sind, hätten nach ihrem Konzept die Vertragsstaaten des SRÜ in berechtigter Geschäftsführung ohne Auftrag für alle Staaten ein Gemeinschaftsinteresse an der Erhaltung und dem Schutz der Meeresumwelt definiert, das auch Nicht-Vertragsparteien bindet426 und also zur Respektierung der Durchsetzungsmaßnahmen verpflichtet. Für Tomuschat wiederum wäre eine Geltung der Hafenstaatsjurisdiktion gegenüber dritten Staaten nur zu begründen, wenn die Regelung des Art. 218 (1) SRÜ instrumental für die Verwirklichung eines Gewohnheitsrechtsprinzips ist, welches ein konstitutives Element der internationalen Rechtsgemeinschaft darstellt. Dafür könnte man hier auf das Verbot der erheblichen Schädigung der Umweltjenseits des eigenen Territoriums im Sinne des Prinzips 21 der Stockholmer Deklaration427 zurückgreifen, welches in eine Vielzahl späterer Verträge Aufnahme gefunden hat und auch in Art. 194 (2) SRÜ bestätigt und bestärkt wird, so daß es heute zum Völkergewohnheitsrecht gezählt werden kann. 428 Dies zeigt sich auch in den Arbeiten der International Law Commission, die in ihrem Entwurf zur Staatenverantwortlichkeit (Art. 19 [3] [d]) die massive Versehrnutzung der Hohen See als Verletzung einer Erga-omnes-Pflicht und damit als internationales Verbrechen einstuft. 429 Das Verbot der erheblichen Schädigung der Meeresumwelt stellt daher ein völkerrechtliches Grundprinzip im Sinne des Konzepts Tomuschats dar. Die Erweiterung des Jurisdiktionsbereichs und die damit verbundene Befugnis der Hafenstaaten zur Durchsetzung der entsprechenden internationalen Meeresschutzregelungen gegenüber sich freiwillig in ihrem Hafen befindenden fremden SchifJonna Ziemer, S. 275 f. Dieses lautet wie folgt: "States have, in accordance with the Charter of the United Nations and the principles of international law, the sovereign right to exploit their own resources pursuant to their own environmental policies, and the responsability to ensure that activities within their jurisdiction do not cause darnage to the environment of other states or areas beyond the Iimits ofnational jurisdiction." (Hervorhebungen von der Verfasserin); Stockholmer Deklaration, 11 I.L.M. (1972), S. 1420. 428 So wurde eine Verpflichtung zum Schutz der "global cornmons" u. a. in den Weltraumvertrag von 1967, den Mondvertrag von 1979 und die London Dumping Convention von 1972 aufgenommen. Für Nachweise zu weiteren Verträgen sowie Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen siehe Patricia Bimie/Alan Boyle, S. 91 f. ; vgl. außerdem Rainer Lagoni, 32 BDGVR (1992), S. 87 (145 ff.); Judson Agius, 3 APJIEnv'lL (1998), S. 269 (272 ff.). 429 ILC Draft Articles on State Responsability, 371.L.M. (1998), S. 440 ff.; siehe dazu auch Rainer Lagoni, 32 BDGVR (1992), S. 87 (146 ff.), der das allgemeine Gebot, die Meeresumwelt zu schützen und zu bewahren, sogar als ius cogens einordnet. Maurizio Ragazzi, S. 158 f., verweist auf die Untersuchungen Picones, der das Verbot der Verschmutzung der Meere als Erga-omnes-Pflicht bezeichnet. 426 427

D. Reichweite der Bindungswirkung völkerrechtlicher Verträge

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fen wird man als Konkretisierung und Ausführung dieses Grundprinzips im Sinne Tomuschats einordnen können.430

(f)

Zwischenergebnis

Zusammenfassend bleibt zunächst festzuhalten, daß die Auslegung von und die Umsetzungspraxis zu Art. 218 (1) SRÜ die Punkte Gemeinschaftsinteresse, Notwendigkeit der Regelung, Bedeutung internationaler Foren, Offenheit der Teilnahme an den Vertragsverhandlungen und des Beitritts zum Vertrag für alle Staaten, die für alle dogmatischen Ansätze eine wesentliche Rolle einnehmen, erfüllen und insofern die ihnen zugemessene Bedeutung bestätigen. In bezug auf die sehr unterschiedlich beurteilte Frage, worauf die Bindung dritter Staaten letztendlich zurück zu führen ist, spricht wie gesehen die bislang nachzuweisende Umsetzungspraxis für eine Bestätigung des von Delbrück vertretenen Ansatzes. Daß in den genannten Fällen die Staaten die völkerrechtliche Regelung der hafenstaatlichen Kompetenzen so in nationales Recht umsetzen, daß eine Drittwirkung möglich wird, spricht für eine Bindung dritte( Staaten direkt durch den völkerrechtlichen Vertrag. Dies steht zwar im Widerspruch zur Pacta-tertiis-Regel, deutet aber an, daß- sofern die wesentlichen Voraussetzungen erfüllt sind, die alle dogmatischen Ansätze teilen - in der Praxis nicht (mehr) zwingend der Umweg gemacht wird, die Bindung auf das Gemeinschaftsinteressezurückzuführen oder eine entsprechende gewohnheitsrechtliche Pflicht zu konstruieren. Letzteres hieße häufig, die Voraussetzungen für die Entstehung von Gewohnheitsrecht erheblich zu verbiegen- hier z. B. die Anforderungen an den Nachweis der opinio iuris erheblich zu senken. Konzessionen dieser Art aber schaffen auf lange Sicht mehr Unklarheit als sie zur Lösung von (Begründungs-)Problemen beitragen. Die Begründung der Bindung dritter Staaten durch das Allgemeininteresse ebenso wie der Rückgriff auf ein durch den Vertrag konkretisiertes Gewohnheitsrechtsprinzip sind zudem wesentlich schwieriger greifbar und praktisch anwendbar als eine Ausnahme von der Pactatertiis-Regel, die unter bestimmten Voraussetzungen im gemeinsamen Interesse aller Staaten anerkannt wird. Von einer gesicherten Bestätigung des Ansatzes Delbrücks wird man angesichtsder noch geringen Zahl der Umsetzungen des Art. 218 (I) SRÜ in nationales Recht und weil es zu einer praktischen Anwendung bislang nicht gekommen 430

In diesem Sinne auch Rainer Lagoni, 32 BDGVR (1992), S. 87 (146 ff.).

264

Teil 3: Auswirkungen von Globalisierung auf völkerrechtliche Verträge

ist, zwar nicht sprechen können. Die dargestellten Fälle sind aber ein Beispiel für einen Fall, in dem die Pacta-tertiis-Regel von den Staaten nicht mehr als unantastbares Dogma behandelt worden ist, weil die Notwendigkeit einer Bindung aller Staaten bestand. Dies kann als Ansatz in die von Delbrück verfolgte Richtung gewertet werden.

(2) Tiefseebodenregime, Teil XI SRÜ Auch die Regelungen des SRÜ betreffend den Tiefseeboden sind unter dem Gesichtspunkt der Drittwirkung des SRÜ von Interesse.

(a) Drittwirkung des Regimes Vor lokrafttreten des SRÜ bestand für den Meeresboden jenseits des Festlandsockels ebenso wie für die Hohe See Staatsfreiheit Das SRÜ entzieht den Tiefseeboden ("das Gebiet") und seine Ressourcen der Verfügung einzelner Staaten, indem es sie in Art. 136 zum gemeinsamen Erbe der Menschheit erklärt und in Art. 137 (1) festlegt, daß über sie keine Souveränität oder souveräne Rechte beansprucht oder ausgeübt werden dürfen. Die wirtschaftliche Nutzung des Tiefseebodens ist nur nach bestimmten Leitsätzen für die Erschließung der Ressourcen zulässig (Art. 150-155). So steht beispielsweise die kommerzielle Produktion unter dem Vorbehalt einer Genehmigung durch die Tiefseebodenbehörde, die durch die Konvention geschaffen wurde (Art. 151 [1)). Die so geschaffenen Nutzungsbeschränkungen gelten nach Art. 137 SRÜ nicht nur für die Mitglieder des SRÜ, sondern für alle Staaten. Dieser lautet: "(1) Kein Staat darf über einen Teil des Gebietes oder seine Ressourcen Souveränität oder souveräne Rechte beanspruchen oder ausüben[ .. . ]. (2) Alle Rechte an den Ressourcen des Gebiets stehen der gesamten Menschheit zu, in deren Namen die Behörde handelt. Die Ressourcen sind unveräußerlich. Die aus dem Gebiet gewonnenen Mineralien dürfen jedoch nur in Übereinstimmung mit diesem Teil und den Regeln, Vorschriften und Verfahren der Behörde veräußert werden. (3) Ein Staat oder eine natürliche oder juristische Person kann Rechte in bezugauf die aus dem Gebiet gewonnenen Mineralien nur in Übereinstimmung mit diesem Teil beanspruchen, erwerben oder ausüben. Auf andere Weise beanspruchte Rechte werden nicht anerkannt."

Nach dem Wortlaut dieser Regelung gilt das so geschaffene Tiefseebodenregime nicht nur für die Vertragsstaaten des SRÜ, sondern für alle Staaten, also auch solche, die nicht Parteien des Abkommens sind.

D. Reichweite der Bindungswirkung völkerrechtlicher Verträge

265

In gleicher Weise formuliert Art. 138 SRÜ die Anforderungen an das allgemeine Verhalten der Staaten in bezugauf das Gebiet: "Das allgemeine Verhalten der Staaten in bezugauf das Gebiet muß im Interesse der Erhaltung von Frieden und Sicherheit sowie der Förderung der internationalen Zusammenarbeit und gegenseitigen Verständigung den Bestimmungen dieses Teils, den in der Charta der Vereinten Nationen niedergelegten Grundsätzen und den sonstigen Regeln des Völkerrechts entsprechen."

Daß damit wie bei Art. 137 SRÜ alle Staaten angesprochen sind, wird insbesondere in der Gegenüberstellung mit einer anderen Bestimmung desselben Abschnitts deutlich. Artikel139 SRÜ bestimmt: "Die Vertragsstaaten sind verpflichtet sicherzustellen, daß die im Gebiet ausgeübten Tätigkeiten in Übereinstimmung mit diesem Teil durchgeführt werden."

Aus der Formulierung "Vertragsstaaten" in Art. 139 im Gegensatz zu "kein Staat" bzw. "ein Staat" in Art. 137 und "Staaten" in Art. 138 wird deutlich, daß der Adressatenkreis der letzten beiden Regelungen weiter ist als der des Art. 139. Auch eine teleologische Interpretation der Vorschriften bestätigt das Ergebnis dieser am Wortlaut und der Systematik orientierten Auslegung. Die Effektivität des Tiefseebodenregimes hängt entscheidend davon ab, daß es nicht von NichtVertragsstaatenals Trittbrettfahrern unterlaufen wird, beispielsweise indem sich diese als Gefälligkeitsflagge für solche Unternehmen anbieten, die die Regelungen des SRÜ umgehen wollen. 431 Auf diese Weise könnten sie den Zweck des Regimes vereiteln und wirtschaftlichen Nutzen aus der freiwilligen Selbstbeschränkung der Vertragsparteien ziehen. Sinn und Zweck der Regelungen machen es daher fraglos erforderlich, den Geltungsbereich des Tiefseebodenregimes auch auf dritte Staaten auszudehnen- ein Ergebnis, das auch die Überlegungen der Staaten und der Völkerrechtslehre im Vorfeld der 3. Seerechtskonvention bestätigen432 .

(b) Praxis Der Erfolg des durch Teil XI SRÜ aufgestellten Regimes hängt maßgeblich davon ab, ob die Staaten, die tatsächlich zum Betreiben von Tiefseebergbau in der Lage sind, sich an die neuen Regeln halten werden. Dies war bis zum Abschluß des Durchführungsabkommens zu Teil XI SRÜ433 äußerst fraglich, da insbesondere die zu einer Ausbeutung der Meeresbodenschätze technisch und finanziell fähiVgl. dazu Jon van Dyke/Christopher Yven, 19 SDLR ( 1982), S. 493 (535). Vgl. dazu Wilhelm Kewenig, 36 EA ( 1981 ). S. 1 (8); Jon van Dyke/Christopher Yven, 19 SDLR (1982), S. 493 (536 f.). 433 BGBI. 1995 II, S. 479. Das Übereinkommen ist in Kraft getreten am 28. Juli 1996. 431

432

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Teil 3: Auswirkungen von Globalisierung auf völkerrechtliche Verträge

genStaatendas SRÜ eben wegen des Teils XI nicht unterzeichnet oder ratifiziert hatten. Vorschriften wie die Pflicht zum Technologietransfer hielten insbesondere viele westliche Staaten von der Teilnahme an der Konvention ab. Die Akzeptanz des Regimes ist jedoch mit der Einigung auf das Durchführungsabkommen, das ein wesentlich marktwirtschaftlicheres Konzept verfolgt, erheblich gestiegen. Rund die Hälfte der heutigen Mitgliedstaaten des SRÜ haben dieses erst zusammen mit dem Durchführungsabkommen unterzeichnet/ratifiziert.434 Da das Duchführungsübereinkommen und das SRÜ ein einheitliches Vertragsinstrument bilden und die Iex posterior Regel Anwendung findet (Art. 2 (1) Duchführungsübereinkommen) kann heute von einer weitgehenden Akzeptanz des Regimes ausgegangen werden. Ausdrückliche Proteste dritter Staaten oder Fälle der Durchsetzung des Regimes gegenüber Nicht-Vertragsstaaten des SRÜ sind bislang nicht bekannt geworden. Im August 1997 wurden die ersten Arbeitspläne bei der Rechts- und Fachkommission zur Erlangung einer Produktionsgenehmigung eingereicht, die alle auch im August 1998 angenommen wurden. Antragsteller waren dabei ausschließlich Regierungen bzw. Einrichtungen von Mitgliedstaaten des SRÜ. 435 Generell wird der Beginn möglicher kommerzieller Abbaumaßnahmen derzeit allerdings nicht vor dem Jahr 2010, wahrscheinlicher sogar nach 2025 angenommen436 , so daß es noch einige Zeit dauern dürfte, bis sich die Frage der Drittwirkung in der Praxis aktuell stellt.

(c) Bestätigung der neuerendogmatischen Ansätze? Auch hier soll kurz darauf eingegangen werden, inwieweit das Tiefseebodenregime die unter D. III. 1. a) dargestellten Ansätze zur dogmatischen Begründung von Ausnahmen zur Pacta-tertiis-Regel bestätigt.

434 Eine Übersichtstabelle dazu ist zu finden unter http://www.un.org/Depts/los/stat2los.tx (Stand: 14.06.2000). 435 Anträge stellten die indische Regierung, das Institut Fran~ais de recherche pour I' exploitation de Ia mer (IFREMER)/Association Fran~aise pour l'etude et Ia recherchedes nodules (AFERNOD), die japanische Deep Ocean Resources Development Company (DORD), Yuzhmorgeologiya (Russische Föderation), die China Ocean Mineral Research and Development Association (COMRA), die INTEROCEANMETAL Joint Organization (Bulgarien, Cuba, Tschechien, Polen, Russische Föderation und Slovakei) sowie die Regierung der Republik Korea. 436 Christian Gloria, in: Knut Ipsen (Hrsg.), vor§ 51, Rn. 10.

D. Reichweite der Bindungswirkung völkerrechtlicher Verträge

267

Die Anforderungen, daß die Gültigkeit erga omnes beanspruchenden Regelungen dem Schutz eines Gemeinschaftsinteresses dienen und ihre Geltung gegenüber allen Staaten inhaltlich notwendig sein muß, bereiten auch in bezug auf das Tierseebodenregime keine Schwierigkeiten. Ausgangspunkt und Grund für die Errichtung des Regimes war die Tatsache, daß die technische Entwicklung den Abbau mineralischer Ressourcen aus dem Meeresboden in erhöhtem Maße möglich gernacht hatte und dadurch die Gefahr entstanden war, daß einige Staaten versuchen würden, weite Bereiche des Meeresbodens für sich zu beanspruchen bzw. die Nutzung der Mineralien für nationale Interessen zu monopolisieren, oder daß militärische Anlagen auf dem Meeresboden errichtet würden. Mit dem Tiefseebodenregime sollte die Handlungsfähigkeit derjenigen Staaten, die technisch und wirtschaftlich zum Meeresbergbau in der Lage waren, im Interesse der Staatengemeinschaft wie auch der Entwicklungsländer eingeschränkt werden.437 Die Notwendigkeit der Geltung des Regimes gegenüber allen Staaten ist bereits im Rahmen der teleologischen Auslegung der betreffenden Vorschriften dargelegt worden. Die Formulierung des zu schützenden Gemeinschaftsinteresses ist für den das Regime begründenden Teil XI SRÜ im Rahmen der Vertragsverhandlungen zum SRÜ erfolgt. Das Durchführungsübereinkommen dazu ist das Ergebnis vierjähriger informeller Konsultationen (sog. Dialog), die 1990 aufgenommen wurden, um den Ratifikationsprozess, der wegen der Ablehnung des Regimes durch einen Großteil der Industriestaaten nur äußerst schleppend voranschritt, zu beschleunigen. Die Beratungen und Verhandlungen zu beiden Abkommen fanden unter reger NGO-Beteiligung statt. 438 Die Regelungsbefugnis erga omnes bzw. verfahrensmäßige Absicherung der Beschlußfassung (Ziemer und Delbrück) können wie bei Art. 218 (1) SRÜ als gegeben bzw. erfüllt angesehen werden, da die Teilnahme an der Seerechtskonferenz bzw. dem Dialog allen Staaten offengestanden hat und allen Staaten der Beitritt zur Konvention offensteht (Art. 301 S. 1 i. V. m. Art. 305 (1) (a) SRÜ), die Regelung wie gesehen im Interesse aller und insbesondere der Entwicklungsstaaten notwendig geworden ist und durch das Durchführungsübereinkommen nunmehr auch die Akzeptanz des Regimes als gegeben angesehen werden kann (vgl. dazu oben). Zwar haben die U.S.A. als einer der einflußreichsten und meistinteressierten Staaten das Übereinkommen bis heute nicht endgültig ratifiziert, zu-

Rüdiger Wolfrum, Internationalisierung, S. 335. Ralph Levering, in: Jackie Smith/Charles Chatfield!Ron Pagnucco (Hrsg.), Transnational Social Movements, S. 225 ff. 437

438

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Teil 3: Auswirkungen von Globalisierung auf völkerrechtliche Verträge

mindest die Einleitung des Ratifizierungsverfahrens istjedoch erfolgt. 439 Im übrigen ist ein einzelner Staat auch dann nicht in der Lage, die Entstehung internationalen Rechts zu blockieren, wenn er sehr mächtig ist. 440 Für Delbrück stellt das Tiefseebodenregime ein Beispiel für ein objektives Regime im internationalen Interesse dar. 441 Die Bestimmung des Gemeinwohlinteresses ist durch den breiten öffentlichen Diskurs im Rahmen der zahlreichen Konferenzen/Beratungen in verfahrensmäßig abgesicherter Weise erfolgt. Die Bindung ausnahmslos aller Staaten an das Tiefseebodenregime ist, wie gesehen, zur Erreichung des mit dem Regime verfolgten Zweckes erforderlich. Daraus folgt, daß dritte Staaten an diejenigen Grundsätze, welche das Regime im wesentlichen ausmachen, direkt durch die betreffenden Vorschriften des SRÜ bzw. des Durchführungsübereinkommens gebunden sind. Da man heute davon ausgehen kann, daß das Prinzip des "common heritage of mankind" in seinen Grundsätzen auch völkergewohnheitsrechtlich anerkannt ist,442 stellt sich die Frage nach der Bedeutung einer solchen vertraglichen Bindung dritter Staaten an die wesentlichen Prinzipien des Teils XI SRÜ bzw. des Durchführungsübereinkommens. Zum Völkergewohnheitsrecht gezählt werden können die folgenden Bestandteile des Menschheitserbe-Prinzips: Das jeweils betroffene Objekt ist nicht akkupierbar und aneignungsfähig, sondern gehört als gemeinsames Gut der gesamten Menschheit. In der Folge darf die Nutzung nur zu friedlichen Zwecken geschehen, das Objekt steht grundsätzlich allen als Objekt wissenschaftlicher Forschung offen und alle Aktivitäten sind möglichst umweltschonend auszuführen.443 Eine Bindung von Nicht-Vertragsstaaten über diese Grundprinzipien hinaus wird- insbesondere in nutzungsrechtlichen Fragen444 - auf dem Wege des 34 I.L.M. (1995), S. 1393. Jon van Dyke/Christopher Yven, !9 SDLR (1982), S. 493 (537). In diesem Sinne auch bereits die "Declaration sur !es donnees fondamentales et !es grands principes du droit international moderne" der International Law Association von 1936, nach deren Art. 20 ( 1) kein Staat das Recht hat, sich der Regelung einer Frage entgegenzustellen, die im Allgemeininteresse liegt. Zitiert nach Christian Tomuschat, 241 RdC (1993 IV), S. 209 (269). 441 Georg Dahm/Jost Delbrück!Rüdiger Wolfrum, Völkerrecht 1/2, § 154, im Erscheinen. 442 Vgl. dazu die Ausführungen und Nachweise bei Rüdiger Wolfrum, 43 ZaöRV (1983), S. 312 (333 ff.); ders., in: Rudolf Bernhardt et al. (Hrsg.), Encyclopedia of Public International Law, Vol. I, S. 692 ff. ; ders. (mit Bezug auf den Meeresboden), Internationalisierung, S. 331 ff.; Wilhelm Kewenig, 36 EA (1981), S. 1 (1 ff.) 443 Vgl. dazu Wilhelm Kewenig, 36 EA (1981), S. 1 (2); ders. , FS Schlochauer, s. 389 (393). 444 Diese bezeichnete Wilhelm Kewenig, FS Schlochauer, S. 389 (393), vor dem Durchführungsübereinkommen als den Bereich, in dem die Abgrenzungslinie zwischen dem unstreitigen und dem streitigen Teil des Menschheitsecbe-Prinzips verläuft. Durch die große 439

440

D. Reichweite der Bindungswirkung völkerrechtlicher Verträge

269

Völkergewohnheitsrechts allerdings eher schwierig zu begründen sein. In dieser Hinsicht ist die vertragliche Drittbindung im Sinne des Konzeptes Delbrücks von Bedeutung. Dessen Reichweite dürfte über den gewohnheitsrechtliehen Gehalt des Menschheitserbe-Prinzips hinausgehen, obwohl auch Delbrück nur eine Bindung an die grundlegenden Prinzipien und Regeln, nicht aber an Detailvorschriften befürwortet. Zu den wesentlichen Prinzipien und Regeln des Teils XI SRÜ muß beispielsweise auch die Zuständigkeit der Meeresbodenbehörde für Ausbeutungsfragen und die Verwaltung des Gemeingutes im Gemeinschaftsinteresse gezählt werden.445 Wenn auch keine Bindung dritter Staaten an die genauen Produktionshöchstgrenzen etc. zu bewirken sein mag, so wird man nach Delbrücks Konzept auch für diese zumindest eine Pflicht zur Zusammenarbeit mit der Behörde begründen können. Die Anforderungen Ziemers an eine berechtigte Geschäftsführung ohne Auftrag im gemeinsamen öffentlichen Interesse sind erfüllt, so daß dritte Staaten über das Gemeinschaftsinteresse an das Tiefseebodenregime gebunden werden können. Ziemer stellt nach Abschluß ihrer Analyse fest, daß die so geschaffene Nutzungsordnung aufgrund der großen Mitgliederzahl zunächst einmal faktische Drittwirkung entfalten wird. Wenn eine derart große Mehrheit sich an das Regime gebunden fühle, so werde es für Nicht-Mitglieder politisch schwierig, sich außerhalb der Ordnung zu plazieren. So könne in der Folge eine rechtliche Wirkung gegenüber Drittstaaten leichter entstehen.446 Diese muß sich allerdings ähnlich wie für Delbrück auf eine Pflicht zur Zusammenarbeit mit der Behörde beschränken, denn wenn die Bindung auf das hinter den vertraglichen Bestimmungen stehende gemeinsame Interesse zurückgeführt wird, so kann diese nicht genauer ausfallen, als die direkte Vertragsbindung im Sinne Delbrücks. Was Tomuschat anbelangt, so hielt dieser vor Aufnahme der Beratungen über ein Durchführungsübereinkommen zu Teil XI SRÜ die Behauptung, daß die Vorschriften des Übereinkommens lediglich eine Konkretisierung des dem Rechtsbegriff des gemeinsamen Erbes bereits innewohnenden Regelungsgehalts darstellten, nicht für tragfähig. 447 Mangels gewohnheitsrechtlicher Konsolidierung der Qualifikation des Tiefseebodens als gemeinsames Erbe der Menschheit Zahl an Ratifizierungen des Durchführungsübereinkommens sind in dieser Hinsicht zwar wesentliche Fragen geklärt worden. Es handelt sich bei dem Übereinkommen jedoch um sehr junge Regelungen, deren völkergewohnheitsrechtliche Qualität noch sehr zweifelhaft sein dürfte. 445 Wilhelm Kewenig, 36 EA (1981 ), S. 1 (I ff.). 446 Jonna Ziemer, S. 234. 447 Christian Tomuschat, 28 BDGVR (1988), S. 9 (27).

270

Teil 3: Auswirkungen von Globalisierung auf völkerrechtliche Verträge

lehnte er ein Zusammenspiel der Vorschriften des SRÜ mit diesem Prinzip ab. Darüber hinaus sei die komplizierte, schwerfällige, kostenträchtige Organisation, welche das SRÜ vorsieht, sicher nicht der einzige denkbare, sich unmittelbar aus der Natur der Sache ergebende Ordnungsrahmen einer Gemeinschaftslösung.448 Heute können jedoch nicht nur die wesentlichen Aussagen des Menschheitserbe-Prinzips zum Völkergewohnheitsrecht gezählt werden, auch ist ein Durchführungsübereinkommen in Kraft, das zu einer überwiegenden Akzeptanz des Regimes geführt hat. Es hat somit eine Veränderung in bezugauf die grundsätzliche Ausgangsposition Tomuschats stattgefunden. Zumindest an die Regelungen des Teils XI SRÜ, die den gewohnheitsrechtliehen Gehalt des Menschheitserbe-Prinzips konkretisieren, müßte heute eine Bindung dritter Staaten auch nach Tomuschats Konzept befürwortet werden. Zweifel könnten in bezug auf die Bindung an darüber hinausgehende Regeln wie z. B. die Zuständigkeit der Meeresbodenbehörde bestehen.449 Eine Bestimmung der Reichweite der Bindungswirkung in Tomuschats Sinne fällt im einzelnen allerdings sehr schwer. Sie müßte im gegebenen Fall unter Berücksichtigung der tatsächlichen Umstände bestimmt werden.

(d) Zwischenergebnis Auch die Vorschriften des SRÜ über das Tiefseebodenregime bestätigen die Bedeutung des Gemeinschaftsinteresses, der Notwendigkeit der Regelung, der Bedeutung internationaler Foren und der Offenheit der Teilnahme an den VertragsverbandJungen und des Beitritts zum Vertrag für alle Staaten. Da die Drittwirkung des Regimes nachgewiesen werden konnte, bestätigt die Erfüllung die zentrale Rolle, die diesen Punkten von allen dogmatischen Ansätzen zugemessen wird. Fraglich ist, inwieweit einer der dogmatischen Ansätze in bezug auf die Frage bestätigt wird, worauf die Bindung von Drittstaaten an das Regime zurückzuführen ist. Für eine Bindung durch den Vertrag als solchen im Sinne Delbrücks spricht, daß das Menschheitserbeprinzip zum Zeitpunkt derUnterzeichnungdes SRÜ noch nicht zum gesicherten Bestand des Völkergewohnheitsrechts gezählt werden 448 449

Christion Tomuschat, ibid. Vgl. Teil 3, Fn. 444.

D. Reichweite der Bindungswirkung völkerrechtlicher Verträge

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konnte, Art. 136 SRÜ also keine Kodifikation oder Konkretisierung einer gewohnheitsrechtliehen Regelung darstellte. Die Regelung war vielmehr von der Notwendigkeit einer Bindung aller Staaten an das Regime motiviert, die Voraussetzung für dessen Effektivität ist. Dies bestätigt den Ansatz Delbrücks, eine Ausnahme von der Pacta-tertiis-Regel zuzulassen, wo dies im Interesse der Staatengemeinschaft absolut erforderlich und die Bestimmung des Gemeinschaftsinteresses verfahrensmäßig abgesichert erfolgt ist. Wie und mit welcher Begründung dem Tiefseebodenregime gegenüber NichtVertragsparteiendes SRÜ in der Praxis Geltung verschafft wird- ob unter Berufung auf den Vertrag, auf Völkergewohnheitsrecht oder das zu schützende Gemeinschaftsinteresse -,kann derzeit noch nicht gesagt werden, da Fälle eines Verstoßes gegen das Regime bislang nicht aufgetreten sind. Es ist aber nicht auszuschließen, daß es über längere Zeit bei der von Ziemer angesprochenen faktischen Drittwirkung bleiben wird, die es erst einmal Nicht-Mitgliedern politisch quasi unmöglich macht, sich dem Regime zu entziehen. Festzuhalten bleibt damit, daß die Intention der Vertragsstaaten bei Abschluß des SRÜ auf der von Delbrück verfolgten Linie liegt. Eine weitergehende Aussage zur dogmatischen Begründung für die Drittwirkung des Tiefseebodenregimes ist mangels Bestätigung einer der Ansätze durch Praxisfälle jedoch nicht möglich.

bb) Drittwirkung im Rahmen des Fish Stocks Agreement450 Die Drittwirkungsproblematik stellt sich in besonderem Maße auch in bezug auf gebietsübergreifende und wandernde Fischbestände, zu deren Schutz 1995 ein Durchführungsübereinkommen zum SRÜ, das Fish Stocks Agreement, abgeschlossen wurde.451

(I) Drittwirkung des Fish Stocks Agreement

Die genannten Fischarten konnten bis dato wegen der (aus der Freiheit der Meere folgenden) Fischereifreiheit von Fischereiflotten aller Länder ohne eine 450 Agreement for the Implementation of the Provisions of the United Nations Convention on the Law of the Sea of 10 December 1982 relating to the Conservation and Management of Straddling Fish Stocks and High1y Migratory Fish Stocks of 4 August 1995, 34 I.L.M. (1995), S. 1542. Im folgenden teilweise abgekürzt als FSA. 451 Siehe hierzu die ausführliche Untersuchung Jonna Ziemers, passim.

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Teil 3: Auswirkungen von Globalisierung auf völkerrechtliche Verträge

Beschränkung ausgebeutet werden, denn in der Hohen See, als staatsfreiem Raum, unterstehen sie keiner Jurisdiktion. Daraus erwächst die Gefahr, daß die Bestände in absehbarer Zeit ausgefischt bzw. ausgerottet sein werden. 452 Beim Schutz von Fischbeständen durch nationale Vorschriften stellt sich das Problem, daß die Fischschwärme in küstennahen Gewässern dazu neigen, zwischen der Hohen See und den Ausschließlichen Wirtschaftszonen zu pendeln. Dadurch führt der intensive Fischfang jenseits der Wirtschaftszonen zu einem Unterlaufen der nationalen Schutzmaßnahmen für die Fische. Ein Beispiel hierfür ist das "Donut-hole" in der Beringsee, eine Zone hoher See, die in der Mitte der Ausschließlichen Wirtschaftszonen der U.S.A. und Rußlands liegt. 453 Hier haben die U.S.A., Rußland und die in dieser Region Fischerei betreibenden Staaten eine Übereinkunft zur Begrenzung des Fischfanges geschlossen, um die Bestände wirksam zu schützen. 454 Ein anderes Beispiel ist der Fischereistreit zwischen Kanada und der Europäischen Union, der durch den massiven Fang schwarzen Heilbutts durch eine spanische Flotte in Hochseegebieten vor der Küste Neufundlands ausgelöst worden war. 455 Ähnliche Konflikte zwischen Küstenstaaten und den Fischereiflotten anderer Staaten lassen sich auch in vielen anderen Gegenden der Welt finden. Im Interesse der betroffenen Staaten, aber auch im gemeinsamen Interesse aller Staaten an dem Schutz und der Erhaltung der Meeresfauna war daher eine Regelung dieser Problematik erforderlich. Zu diesem Zweck wurde 1995 das Fish Stocks Agreement abgeschlossen, das nach seinem Art. 3 Anwendung findet auf wandernde Fischbestände jenseits der Ausschließlichen Wirtschaftszonen ("beyond areas of national jurisdiction"). Gleichermaßen wie im Rahmen des Tiefseebergbaus hängt die effektive Erreichung des Vertragszwecks wesentlich davon ab, daß eine möglichst universale Beteiligung an dem Abkommen erreicht wird. Auch hier können schon wenige NichtVertragsstaaten den Schutz der Fische in der Hohen See vollständig unterlaufen, indem sie eigenen Schiffen die unbeschränkte Fischerei erlauben, insbesondere 452 Nach Berichten der FAO ist in allen 17 großen Fischereigebieten der Erde heute die natürliche Grenze der Ausbeutung erreicht oder bereits überschritten. 1992 waren 69 % aller Fischbestände vollständig ausgefischt, überfischt, ausgerottet oder aber bereits zusammengebrochen und nun dabei, sich wieder zu erholen. Gregor Walter/Sabine Dreher/ Marianne Beisheim, Institut für Interkulturelle und Internationale Studien der Universität Bremen, Arbeitspapier 4-5/97, S. 15; Marianne Reisheimet al., S. 230 ff. 453 Siehe dazu Evelyn Meltzer, 25 ODIL (1994), S. 255 (283). 454 Joint Resolution of the 5th Conference on the Conservation and Management of the Li ving Marine Ressources of the Central Bering Sea, 14 August 1992. 455 Der Streit konnte erst nach monatelangen zähen Verhandlungen gelöst werden; Einigung abgedruckt in 34 I.L.M. (1995), S. 1260.

D. Reichweite der Bindungswirkung völkerrechtlicher Verträge

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aber indem sie sich fremden Flotten als "flag of convenience" zur Verfügung stellen. In Anbetracht dieser Problematik haben die Vertragsstaaten des Fish Stocks Agreement verschiedene Vorschriften zum Verhalten von Nicht-Mitgliedern in das Abkommen aufgenommen Besonders weit gehen in dieser Hinsicht die Regelungen zur internationalen Kooperation im Rahmen regionaler Fischereiorganisationen bzw. regionaler Fischereiabkommen456• ArtikelS (1) und (5) des Fish Stocks Agreement verpflichten die Vertragsstaaten zur Zusammenarbeit im Rahmen solcher RFOs. Artikel 8 (3) FSA legt fest, daß diese Kooperationspflicht dort, wo eine RFO besteht, durch den Beitritt zu dieser RFO zu erfüllen ist. Unter dem Aspekt der Drittwirkung ist insbesondere Art. 8 (4) FSA von Interesse. Dieser lautet wörtlich: "Only those states which are members of such an organisation or participants in such an arrangement, or which agree to apply the conservation and management measures established by such an organisation or arrangement, shall have access to the fishery resources to which those measures apply."

Es wird also die Fischerei auf der Hohen See nur solchen Staaten erlaubt, die Mitglied einer RFO sind oder sich den von dieser aufgestellten Regeln unterwerfen. Diese Zugangsbeschränkung gilt ausdrücklich allgemein, so daß die Fischereifreiheil für alle Staaten, auch für Nicht-Mitglieder des Fish Stocks Agreement, eingeschränkt wird. Das Fischereirecht wird damit gewissermaßen neu definiert, denn es wird das ursprünglich freie Recht der Hochseefischerei unter die Bedingung der Mitgliedschaft in einer RFO gestellt. Ohne eine solche Mitgliedschaft steht einem Staat das Recht zum Fischfang auf der Hohen See nicht zu (Verbot), und selbst bei Erfüllung dieser Bedingung erhält der Staat nur ein bloßes Teilhaberecht.457 Dies bedeutet zugleich einen Eingriff in den Kern des traditionellen Prinzips der Fischereifreiheit Dieses wurde im Interesse der Küstenstaaten, vor allem aber auch im gemeinsamen Interesse aller Staaten am Schutz und an der Erhaltung der betroffenen Fischarten, zurückgestellt. In Fortsetzung von Art. 8 (4) FSA stellt Art. 17 FSA umfassende Regelungen zum Verhalten von Nicht-Mitgliedern von RFOs auf und fordert deren Mitgliedstaaten zum Tätigwerden gegenüber den Schiffen von Nicht-Mitgliedern auf, um regionale Erhaltungs- und Bewirtschaftungsmaßnahmen durchzusetzen. So sind nach Art. 17 (1) FSA auch Nicht-Mitglieder von RFOs nicht von der Pflicht zur Zusammenarbeit (Teil III FSA, Art. 63 (2), Art. 64 SRÜ) befreit. Artikel 17 (2) FSA untersagt es ihnen, Schiffen umer ihrer Flagge den Fang solcher Fischarten 456 457

Im folgenden übergreifend als RFOs bezeichnet. Siehe zu diesem Punkt die ausführliche Darstellung Jonna Ziemers, S. 122 ff.

18 Hingst

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Teil 3: Auswirkungen von Globalisierung auf völkerrechtliche Verträge

zu gestatten, für die eine RFO Schutzbestimmungen aufgestellt hat. Artikel 17 (4) (2) FSA schließlich fordert die Mitglieder von RFOs in besonderer Weise zur Durchsetzung gegenüber Nicht-Vertragsparteien auf: "They (die Mitgliedstaaten einer RFO, die Autorin) shall take measures consistent with this Agreement and internationallaw to deter activities of such vessels which underrnine the effectiveness of subregional or regional conservation and management measures."

Diese Vorschrift scheint unter dem Gesichtspunkt der Drittwirkung zunächst uninteressant, denn sie wendet sich ihrem Wortlaut nach lediglich an die RFOMitglieder. Diesen wird die Pflicht auferlegt zu verhindem ("deter"), daß durch das Verhalten von Nicht-Mitgliedern der Schutzzweck der regionalen Schutzbestimmungen nicht unterlaufen wird. Die Erfüllung dieser Pflicht könnte zum einen im aktiven Tätigwerden gegenüber Flotten von Nicht-Mitgliedern bestehen, durch das diese effektiv am Fischfang auf der Hohen See gehindert werden. Eine andere Möglichkeit bestünde darin, daß die RFO-Mitglieder - im Rahmen des geltenden Völkerrechts- Maßnahmen ergreifen, die den Fischfang für Flotten von Nicht-Mitgliedern derart unattraktiv machen, daß diese ihn nicht weiter betreiben.458 Zu denken wäre beispielsweise an die Verweigerung des Zuganges zu den Häfen von Vertragsstaaten oder den Nichtankauf von Fischen, die unter Verletzung des Abkommen gefangen wurden. 459 Diese Maßnahmen halten sich im Rahmen des geltenden Völkerrechts und waren insofern auch vor Abschluß des Fish Stocks Agreement eine zulässige Möglichkeit der Einflußnahme. Es bedeutet jedoch einen erheblichen Unterschied, wenn durch Art. 17 (4) (2) FSA aus der bloßen Möglichkeit des Tätigwerdens ein rechtliches Gebot des Einschreitens gernacht wird.460 Gleiches gilt für die Regelung des Art. 33 Satz 2 FSA, die im Wortlaut nahezu vollständig mit Art. 17 (4) (2) FSA übereinstimmt: "States Parties shall take measures consistent with this Agreement and internationallaw to deter the activities of vessels flying the flag of non-panies which underrnine the effective implementation of this agreement."

Auch hier ist aus einem Erlaubnissatz ein rechtliches Gebot gemacht worden und hat so eine andere Qualität erhalten.

458 Christian Feist, § 11 III. 3. a) (4) (cc), im Erscheinen. 4s9

Vgl. D. H. Andersson, 45 ICLQ (1996), S. 463 (473). Entsprechende Vorschriften wurden beispielsweise in Chile auch bereits vor dem Abschluß des Fish Stocks Agreement erlassen, vgl. Evelyn Meltzer, 25 ODIL (1994), S. 255 (270). 460 Jonna Ziemer, S. 128.

D. Reichweite der Bindungswirkung völkerrechtlicher Verträge

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Obwohl Art. 33 FSA primär die Vertragstaaten des Abkommens in die Pflicht nimmt, ist er durchaus auch als indirekte Aufforderung an Nicht-Vertragsstaaten des Abkommens zu werten, sich an die Schutzbestimmungen zugunsten wandernder Fischarten zu halten, die im Zusammenhang mit der Implementierung des FSA aufgestellt werden. Zu überlegen wäre, ob unter Umständen auch eine direkte Bindung an diese Vorschriften- vergleichbar mit der universellen Bindung an regionale Bewirtschaftungsvorschriften im Sinne von Art. 8 (4) FSA- begründet werden kann. Dabei könnte man an folgende Überlegungen anknüpfen: Die Durchsetzungsbestimmungen der Art. 17 (4) (2) und Art. 33 Satz 2 FSA sind nahezu identisch formuliert. Wie gesehen knüpft Art. 17 (4) (2) FSA direkt an die Verpflichtung zur Einhaltung regionaler Schutzbestimmungen an, an deren Einhaltung Art. 8 (4) FSA das Recht zur Hochseefischerei knüpft. Artikel 33 Satz 2 FSA dagegen bezieht sich allgemein auf die effektive Implementierung des Fish Stocks Agreement, d. h. es geht dort allgemein um die Durchsetzung von internationalen Regelungen gegenüber Nicht-Vertragsstaaten, die zur Umsetzung des Vertrags getroffen werden. Eine Bezugsvorschrift, die eine rechtliche Bindung aller Staaten ähnlich wie Art. 8 (4) FSA festlegt, ist in der konkreten Form nicht vorhanden. Artikel 33 Satz 2 FSA bezieht sich vielmehr auf die internationalen Regelungen, die zur Umsetzung der allgemeinen Bestimmungen des Teils II Fish Stocks Agreement oder aber von Bestimmungen des SRÜ erlassenen werden. Man könnte nun folgenden Erst-Recht-Schluß erwägen: Es ist davon auszugehen, daß Schutzvorschriften regionaler Organisationen in der Regel konkreter und detaillierter ausgestaltet sind als solche, die beispielsweise in Umsetzung der allgemeineren Bestimmungen des Teils II Fish Stocks Agreement aufgestellt werden. Wenn die Vertragsstaaten durch Art. 8 (4) FSA eine universelle Verpflichtung zur Einhaltung sogar der differenzierteren Bewirtschaftungsvorschriften von RFOs statuiert und diese dazu durch Art. 17 (4) (2) FSA untermauert haben, so könnte daraus zu schließen sein, daß auch die allgemeineren Vorschriften, zu deren Durchsetzung Art. 33 FSA ermächtigt, gegenüber allen Staaten gelten sollen. Es hätten dann die Vertragsstaaten des Fish Stocks Agreement eine umfassende Ordnung zur Bewirtschaftung der Meere geschaffen. Ein solcher Erst-Recht-Schluß ist jedoch nicht haltbar; vielmehr wird man aus dem dargestellten Zusammenhang genau das Gegenteil schließen müssen. Bei den Artikeln 8 (4) und 17 (4) (2) FSA handelt es sich im Verhältnis zu den allgemeinen Regelungen, auf die sich Art. 33 Satz 2 FSA bezieht, um Ieges speciales. Wenn es die Vertragsparteien für nötig gehalten haben, in bezug auf einen be-

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Teil 3: Auswirkungen von Globalisierung auf völkerrechtliche Verträge

stimmten Bereich eine Spezialregelung zu treffen, so spricht dies dafür, daß im allgemeinen etwas anderes gelten soll. Ein Erst-Recht-Schluß kann höchstens von allgemeinen Bestimmungen auf Spezialvorschriften gezogen werden (a maiore ad minus), aber nicht andersherum. Wäre eine Differenzierung zwischen allgemeinen und besonderen Regelungen nicht gewollt gewesen, so hätten die Vertragsparteien des Fish Stocks Agreement auch nicht die Durchsetzung regionaler und allgemeiner Schutzbestimmungen getrennt regeln müssen. Es hätte dann eine gemeinsame Durchsetzungsvorschrift ausgereicht. Eine Allgemeinverbindlichkeit der allgemeinen Bestimmungen, auf die Art. 33 Satz 2 FSA verweist, kann aus diesem Grunde nicht begründet werden.

(2) Bestätigung der neuerendogmatischen Ansätze? Über die Effektivität des Fish Stocks Agreement und seine Umsetzung kann zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch keine Aussage gernacht werden. Das Abkommen ist noch nicht in Kraft getreten. 461 Es ist aber zu fragen, wie die dargestellten Normen des Übereinkommens im Lichte der hier untersuchten dogmatischen Ansätze zu beurteilen sind. Wie bereits gesehen, dient das Fish Stocks Agreement neben dem Interesse der Küstenstaaten insbesondere auch dem gemeinsamen Interesse aller Staaten an dem Schutz und der Erhaltung der Meeresfauna. Die teilweise dramatische Überfischung und die daraus resultierende Existenzgefährdung der Bestände machte eine Regelung dieser Problematik dringend erforderlich. Die Regelung muß zudem gegenüber allen Staaten gelten, soll sie nicht ins Leere gehen. Die Konferenz, in deren Rahmen das Fish Stocks Agreement erarbeitet und beschlossen wurde, war 1992 mit der Resolution 471192 der UN-Generalversammlung ins Leben gerufen worden. 462 Sie bestand aus insgesamt sechs Sitzungen, zu denen parallel immer wieder Treffen von Küstenstaaten und Fernfischerei betreibenden Staaten stattfanden.463 Die Teilnahme daran stand ebenso allen Staaten

461 Das Abkommen tritt gern. Art. 40 ( 1) Fish Stocks Agreement 30 Tage nach Hinterlegung der 30. Ratifizierungs- oder Beitrittsurkunde in Kraft. Bislang haben 26 Staaten ein solches Dokument hinterlegt (aktueller Stand abrufbar unter http://www.un.org/Depts/los/ losl64st.htm, Stand: 26.06.2000). 462 Resolution 47/192, abgedruckt in 23 I.L.M. (1993), S. 263 ff. 463 Eine übersichtliche Darstellung des Verhandlungsverlaufs ist zu finden bei Jonna Ziemer, S. 91 ff.

D. Reichweite der Bindungswirkung völkerrechtlicher Verträge

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offen464 wie das Agreement allen Staaten zum Beitritt offen steht. 465 Die Zahl der teilnehmenden Staaten stieg im Laufe der Verhandlungen von 81 (I. Sitzung) auf 112 Staaten (6. Sitzung) sowie von 5 Regierungsorganisationen und 21 NGOs (1. Sitzung) auf 7 Regierungsorganisationen und 30 NGOs (6. Sitzung). 466 Auch das Fish Stocks Agreement erfüllt somit die zentralen Punkte, denen von allen dogmatischen Ansätzen eine wesentliche Rolle zugemessen wird. Eine Regelungsbefugnis der Vertragsstaaten erga omnes im Sinne Ziemers ist ebenfalls begründbar, da die Verhandlungen und das Abkommen selbst für alle Staaten offen waren bzw. sind, und da Widersprüche gegen die betreffenden Vorschriften, soweit ersichtlich, nicht geäußert worden sind. 467 Damit sind auch die Anforderungen Delbrücks an die Art und Weise der Definition der Regelung und der Beschlußfassung erfüllt. Die Frage, wie die Bindung von Drittstaaten an das Regime - und verbunden damit die Beschränkung der Fischereifreiheit - begründet werden kann, muß von den einzelnen dogmatischen Ansichten dagegen wiederum unterschiedlich beurteilt werden. Da eine Geltung der Bestimmungen zum Schutz weitwandernder Fischarten für alle Staaten absolut notwendig ist, könnte Delbrück die Bindung dritter Staaten (Einschränkung des Fischereirechts) wieder direkt auf die vertragliche Regelung in Art. 8 (4) Fish Stocks Agreement zurückführen. Wie gesehen, befürwortet auch Delbrück allerdings nur eine Bindung dritter Staaten an die grundlegenden Regeln und Prinzipien des Vertrages. Eine Bindung von Nicht-Vertragsparteien an Detailvorschriften lehnt auch er ab. Dies bedeutet im Falle des Fish Stocks Agreement, daß Drittstaaten zu diesem Abkommen nicht an jede einzelne Vorschrift oder an genaue Fangquoten gebunden werden können, die eine RFO in ihrem Zuständigkeitshereich aufstellt. Eine Verpflichtung zur Reduzierung der Ausbeutung auf ein Niveau, das die Regeneration der Bestände erlaubt, wäre aber auf jeden Fall gegeben. Auch in bezug darauf, welche Fischarten besonders gefährdet und schutzbedürftig sind und zu welchen Zeiten beispielsweise die Befischung eine besondere Schädigung bewirken kann, müßte wohl eine universelle Geltung regionaler Schutzbestimmungen angenommen werden. Die Versagung des Rechts zur Hochseefischerei für diejenigen Staaten, die sich an diese generellen Leitlinien nicht 464 Vgl. die Präambel der Resolution 47/192: "( ... ) Inviting all members of the international community, particularly those with fishing interests ( . .. )". 465 Art. 39 FSA. 466 Vgl. dazu die Darstellung und die Nachweise bei Jonna Ziemer, S. 91 ff. 467 Jonna Ziemer, S. 290 f.; Georg Dahm/Jost Delbrück/Rüdiger Wolfrum, Völkerrecht 1/2, § 154, im Erscheinen.

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Teil 3: Auswirkungen von Globalisierung auf völkerrechtliche Verträge

halten, und die damit verbundene Einschränkung der Fischereifreiheit im gemeinsamen Interesse an der Erhaltung und dem Schutz der Meeresfauna sind ebenfalls als grundlegendes Prinzip des Fish Stocks Agreement zu bewerten. Auch insofern müßte das Abkommen nach dem Konzept Delbrücks daher Drittwirkung entfalten. Dieser Drittbindung korrespondiert das Recht der Vertragsstaaten, Durchsetzungsmaßnahmen gegenüber Nicht-Mitgliedern zu ergreifen. So weit, daß die Zuerkennung des Rechts zur Hochseefischerei von der konkreten Mitgliedschaft in der zuständigen RFO oder der ausdrücklichen Unterstellung unter deren Vorschriften abhängt, dürfte auch Delbrück allerdings nicht gehen wollen. Ziemer, die eine direkte Drittbindung durch den Vertrag ablehnt, begründet die Verbindlichkeit regionaler Schutzvorschriften für alle Staaten mit dem hinter der (von den Vertragsstaaten in berechtigter Geschäftsführung ohne Auftrag getroffenen) Regelung stehenden Allgemeininteresse an der Erhaltung der Meeresfauna für alle Menschen und zukünftige Generationen. Aufgrund dieses überragenden Anliegens muß es dritten Staaten versagt sein, sich der Regelung zu entziehen. 468 Auch hier muß die Bindung sich allerdings auf die Leitlinien der vertraglichen Regelung beschränken, denn wenn die Bindung auf das hinter den vertraglichen Bestimmungen stehende gemeinsame Interesse zurückgeführt wird, so kann diese nicht genauer ausfallen als die direkte Vertragsbindung im Sinne Delbrücks. Für Tomuschat wäre dagegen wiederum eine Drittbindung nur zu begründen, wenn Art. 8 (4) und Art. 17 (4) (2) FSA der Konkretisierung und Ausführung einer gewohnheitsrechtlich geltenden Grundprämisse der Völkerrechtsordnung dienten. Als eine solche könnte das Konzept der angemessenen/nachhaltigen Nutzung gemeinsamer Naturgüter in Betracht kommen. Wenn dieses als ein konstitutives Element der Völkerrechtsordnung zu qualifizieren wäre, so könnten ähnlich wie nach Delbrücks Ansatz alle Staaten an die vertraglichen Konkretisierungen dieses Prinzips (Leitlinien des FSA) gebunden sein. Der "Sustainable-developrnent"-Grundsatz wurde erstmals im BrundtlandReport von 1987 formuliert und hat in der Folge Eingang in eine Vielzahl völkerrechtlicher Verträge und anderer Regelungsinstrumente gefunden. Dabei wird man die Definition aus Art. 2 der Convention on Biological Diversity von 1992, an der heute 176 Staaten beteiligt sind469 , als weitestgehend anerkannt bezeichnen können. Diese lautet wie folgt:

468 469

Jonna Ziemer, S. 275 f., 290 f. Stand vom 31.12.1999, vgl. STILEG/Ser.F118 (Vol. II), S. 376.

D. Reichweite der Bindungswirkung völkerrechtlicher Verträge

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,"Sustainable Use' means the use of components ofbiological diversity in a way and at a ratethat does not Iead to long-term decline ofbiological diversity, thereby maintaining its potential to meet the needs and aspirations of present and future generations." 470

Inwieweit dieses Prinzip bereits den Status von Völkergewohnheitsrecht erlangt hat, ist allerdings noch immer schwer zu sagen. Es hat zwar in einer Vielzahl von Verträgen Erwähnung gefunden471 , an Beispielen aus der internationalen Rechtsprechung und konkreter Staatenpraxis mangelt es jedoch noch weitestgehend. 472 Es spricht vieles dafür, daß es sich dabei um ein im Entstehen begriffenes Gewohnheitsrechtsprinzip handelt473 • Für die Feststellung, daß es sich bei diesem jungen Prinzip um ein gesichertes konstitutives Element der gewohnheitsrechtliehen Völkerrechtsordnung handelt, scheint es aber noch etwas zu früh .474 Eine Unsicherheit in dieser Hinsicht muß nach dem Konzept Tomuschats dazu führen, daß eine Bindung dritter Staaten an die vertraglichen Konkretisierungen des Prinzips wenn überhaupt, dann nur in abgeschwächtem Maße möglich ist. Auf der Basis des .,Sustainable-use"-Prinzips wäre daher für Tomuschat wenn überhaupt nur eine Verpflichtung aller Staaten zum verantwortungsvollen Umgang mit den Fischbeständen in der Hohen See ("responsible fishing") zu begründen. Eine Einschränkung des Fischereirechts und damit Begrenzung der Fischereifreiheit scheinen allerdings zu weitreichend, als daß sie auf Basis des .,Sustainable-use"-Prinzips begründet werden könnten.

(3) Zwischenergebnis Wie die beiden vorangehend untersuchten Regime bestätigt auch das Fish Stocks Agreement die Punkte Gemeinschaftsinteresse, Notwendigkeit der Regelung, Bedeutung internationaler Foren, Offenheit der Teilnahme an den Vertrags-

°Convention on Biological Diversity vom 5. Juni 1992, 31 I.L.M. ( 1992), S. 822 ff.

47

Vgl. dazu die umfassende Untersuchung von Reinhard Bartholomäi, passim. Patricia Bimie/Alan Boyle, S. 122; Heintschel von Heinegg, in: Knut Ipsen (Hrsg.), Völkerrecht, vor§ 57, Rn. 14. 473 Patricia Bimie/Alan Boyle, S. 122; Alexandre Kiss/Dinah Shelton, S. 144 ff.; Phillipe Sands, in: Winfried Lang (Hrsg.), Sustainable Development and International Law, S. 53 (57 ff.). In diese Richtung geht auch die dissenting opinion von Judge Christopher Weeramantry im Fall Kasikili/Sedudu Jsland (Namibia vs. Botswana), abrufbar unter http://www.icj-cij.org/icjwww/idecisions.htm (Stand: 25.01 .01) . 474 V gl. dazu /an Brownlie, S. 287: "For the present the concept remains problematic and nebulous, appearing more as a Statement of the issues than as a resolution to the basic problems. ( ... ) the concept is protean in character." Für eine gewohnheitsrechtliche Geltung des Konzeptes spricht sich aus Judson Agius, 3 APJIEnv'IL (1998), S. 269 (279 ff.). 471

472

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Teil 3: Auswirkungen von Globalisierung auf völkerrechtliche Verträge

verhandJungen und des Beitritts zum Vertrag für alle Staaten. Auch hier ist weiter zu fragen, inwieweit einer der dogmatischen Ansätze in bezug auf den Punkt bestätigt wird, worauf die Bindung von Drittstaaten an das Regime zurückzuführen ist. Wie schon beim Tiefseebodenregime fällt aufgrund der noch ausstehenden Staatenpraxis die Bewertung des Art. 8 (4) FSA und der übrigen angesprochenen Vorschriften hinsichtlich der Frage, worauf die Bindung von Drittstaaten an regionale Schutzvorschriften zurückzuführen ist, schwer. Geht man einmal davon aus, daß die Vertragsstaaten die ihnen durch die Art. 17 (4) (2) FSA eingeräumten Befugnisse wahrnehmen und regionale Bewirtschaftungsvorschriften- und damit die durch Art. 8 (4) FSA angestrebte Einschränkung des Fischereirechts - gegenüber Drittstaaten durchsetzen werden, so wäre diese Drittbindung mit dem Konzept Tomuschats jedenfalls zum gegenwärtigen Zeitpunkt nur schwer zu begründen. Inwiefern eine solche Praxis den Ansatz Ziemers oder Delbrücks bestätigen würde, läßt sich nicht mit Sicherheit sagen. Es ist aber davon auszugehen, daß das Verhalten von Vertragsstaaten im Zusammenhang mit dem Schutz weitwandernder Fischarten primär von den vertraglich (durch SRÜ und Fish Stocks Agreement) übernommenen Verpflichtungen geleitet sein wird. Das Durchführungsübereinkommen hat wie gesehen durch Art. 8 (4) FSA eine wesentliche Beschränkung des Fischereirechts vorgenommen und in dessen Fortsetzung aus der Iediglichen rechtlichen Möglichkeit des Tätigwerdens gegenüber dritten Staaten ein rechtliches Gebot des Einschreitens gemacht. Vertragsstaaten, die in Verfolg dieses vertraglichen Gebots gegenüber Drittstaaten zur Durchsetzung regionaler Fischschutzbestimmungen schreiten, setzen damit das Verbot der Fischerei durch, welches Art. 8 (4) FSA für solche Staaten statuiert, die weder Mitglied einer RFO sind, noch sich deren Regeln unterworfen haben. Wenn sie aber eine Vertragsbestimmung gegenüber Nicht-Vertragsparteien durchsetzen, so spricht dies dafür, daß die Vertragsstaaten von einer Verpflichtung der Drittstaaten zur Einhaltung der betreffenden Bestimmungen und damit von einer Bindung durch den Vertrag ausgehen. Solche Überlegungen müssen zum gegenwärtigen Zeitpunkt aber letztlich nur Vermutungen bleiben. Wie die Handhabung in der Praxis tatsächlich aussehen wird, bleibt weiter offen. Eine weitergehende Aussage als die, daß die Überzeugung und die Intention der Vertragsstaaten bei Abschluß des Fish Stocks Agreement - ein Trittbrettfahren und damit Unterlaufen des für dringend notwendig befundenen Vertragszwecks durch dritte Staaten zu unterbinden- dem von Delbrück verfolgten Ansatz entsprechen, ist bislang nicht möglich.

D. Reichweite der Bindungswirkung völkerrechtlicher Verträge

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cc) Ergebnis Es konnte sowohl für die Regelungen des SRÜ zur Hafenstaatsjurisdiktion und zum Tiefseeboden als auch für die untersuchten Bestimmungen des Fish Stocks Agreement nachgewiesen werden, daß diese in der Lage sind, Drittwirkung zu entfalten. Dabei ist deutlich geworden, daß das gemeinsame Interesse der Staaten an einer Regelung der betreffenden Problemfelder jeweils eine zentrale Rolle gespielt hat und daß dessen Kristallisierung und letztlich Definition im wesentlichen im Rahmen internationaler Staatenkonferenzen erfolgt ist. Wo ein so bestimmtes Allgemeininteresse vorhanden war und weitere Kriterien wie die absolute Notwendigkeit einer Regelung erga omnes und die Offenheit der Teilnahme für alle Staaten hinzukamen, haben die Vertragsstaaten die Pacta-tertiis- Regel nicht mehr als unantastbares Dogma behandelt und für sich in Anspruch genommen, für alle geltendes Recht zu setzen. Eine eindeutige Interpretation der untersuchten Fälle hinsichtlich der dogmatischen Begründung für die Bindung dritter Staaten ist insbesondere deshalb gegenwärtig noch nicht möglich, weil es sich um verhältnismäßig junge Vorschriften handelt, zu denen es bislang kaum Umsetzungs- bzw. Anwendungsfälle gibt. Die bislang erfolgte Umsetzung des Art. 218 (1) SRÜ in nationales Recht und die in allen untersuchten Regelungen zum Ausdruck kommende Überzeugung der Vertragsstaaten, daß wegen der Notwendigkeit der Regelung und zur Zweckerreichung alle Staaten gebunden werden müssen, gehen am ehesten in die Richtung Delbrücks, der eine Bindung dritter Staaten direkt durch den Vertrag befürwortet.

d) Aktuell: Das Statut von Rom für den Internationalen Strafgerichtshor'75 Zum Abschluß der Praxisuntersuchung soll auf einen der derzeit jüngsten multilateralen Verträge eingegangen werden, das Statut von Rom für den Internationalen Strafgerichtshor'76 • Dessen Gründung wurde am 17. Juli 1998 auf der internationalen Staatenkonferenz in Rom beschlossen und das Statut für dieses erste ständige internationale Strafgericht unterzeichnet. Die Verhandlungen und das Statut selbst bezeugen in mehrerer Hinsicht die im Rahmen dieser Arbeit aufgezeigten Auswirkungen der Globalisierung auf das Regelungsinstrument völkerrechtlicher Vertrag. So wurde u. a. auf der Konferenz von Rom der weitreimAngenommen am 17. Juli 1998, UN Doc. A/Conf. 183/9 (1998), abgedruckt in 371.L.M. (1999), S. 1241 ff. ; im folgenden teilweise allein als das "Statut" bezeichnet. 476 International Criminal Court, im folgenden teilweise abgekürzt als ICC.

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Teil 3: Auswirkungen von Globalisierung auf völkerrechtliche Verträge

chende Einfluß nichtstaatlicher Organisationen überdeutlich. Mehr als 200 NGOs haben durch ihre kompetente Unterstützung in erheblichem Maße zu dem schließlich erzielten Ergebnis beigetragen, so daß teilweise bereits von einer Art "collective decision-making" gesprochen wurde. 477 An dieser Stelle soll jedoch primär untersucht werden, aufwelche Weise die Vertragsstaaten des Statuts mit der Drittstaaten-Problematik umgegangen sind. Diese nimmttrotzder großen Zahl von 148 abstimmenden Staaten auf der Konferenz478 einen erheblichen Stellenwert ein nicht zuletzt, weil mit China und Japan zwei bedeutende Länder dem Vertrag ferngeblieben sind. Die U.S.A. haben erst nach langer Diskussion am 31.12.2000 den Vertrag unterzeichnet. Von zentraler Bedeutung für die Drittstaaten-Frage sind vor allem die Regelungen des Statuts über die Gerichtsbarkeit und die Voraussetzungen für die Ausübung derselben durch das Gericht (Art. 12 und 13 Statut). Jene jurisdiktionsbezogenen Vorschriften gehörten während der gesamten Vorbereitungsphase und später auch auf der Konferenz von Rom zu den am stärksten umstrittenen Punkten des Statuts. Von verschiedenen Staaten wurde dort zumindest Drittwirkungspotential gesehen und die Regelungen deshalb abgelehnt. Hier wird dagegen die These aufgestellt und im folgenden bewiesen, daß die betreffenden Vorschriften nicht in der behaupteten Weise rechtliche Drittwirkung erzeugen. Das Statut weist aber dennoch im Hinblick auf den Umgang mit Drittstaaten und deren Angehörigen einige Besonderheiten auf, auf die im Anschluß an die Diskussion der Drittwirkung eingegangen wird.

aa) Das Statut von Rom als Fall rechtlicher Drittwirkung? Die Drittwirkungsproblematik wird im Zusammenhang mit den in Art. 12 Statut geregelten Vorbedingungen für die Ausübung der Gerichtsbarkeit und mit den Vorschriften über die Verfahrenseinleitung, Art. 13 Statut, diskutiert.

477 So beispielsweise Anthony McGrew, in: Klaus Armingeon (Hrsg.), Der Nationalstaat am Ende des 20. Jahrhunderts, S. 69 (80). Siehe außerdem Ernst Uvy, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 09.07.1998; Hans-Peter Kaul, 45 VN (1997), S. 177 (181) und 46 VN ( 1998), S. 125 ( 129), der besonders Organisationen wie amnesty international, Human Rights Watch und das Lawyers Committee for Human Rights hervorhebt. Kofi Annan weist in seinem Report of the Secretary-General on the Work of the Organization 1998, Chapter 5, S. 180, ebenfalls auf die maßgebliche Beteiligung der NGOs an der Arbeit auf der Staatenkonferenz von Rom hin und schreibt in diesem Zusammenhang von einem "unprecedented Ievel of participation by civil society in a law-making conference", http:// www.un.org/Docs/SG!Report98/ch5.htm (Stand: 29.0 1.1999). 478 120 Staaten stimmten fürdas Statut, 7 dagegen und 21 enthielten sich.

D. Reichweite der Bindungswirkung völkerrechtlicher Verträge

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(1) Art. 12 Statut: Vorbedingungen für die Ausübung der Gerichtsbarkeit (a) Inhalt der Regelung Artikel 12 Statut regelt in Absatz 1 zunächst kategorisch, daß jeder Vertragsstaat die Zuständigkeit des ICC im Hinblick auf die in Art. 5 Statut aufgelisteten Taten (Genozid, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und Aggression) anerkennt. "A State which becomes a Party to this Statute thereby accepts the jurisdiction of the Court with respect to the crimes referred to in article 5."

Diese Aussage wird durch Abs. 2 sodann allerdings wie folgt relativiert: "In the case of article 13, paragraph (a) or (c), the Court may exercise its jurisdiction if one or more of the following States are Parties to this Statute or have accepted the jurisdiction of the Court in accordance with paragraph 3: (a) The State on the territory ofwhich the conduct in question occurred or, ifthe crime was committed on board of a vessel or aircraft, the State of registration of that vessel or aircraft; (b) The State of which the person accused of the crime is a national."

Die in Bezug genommenen Fälle des Art. 13 (a) und (c) Statut betreffen die Einleitung des Verfahrensaufgrund der Überweisung durch einen Staat (a) oder ex officio durch den Chefankläger (c). In diesen Fällen hängt die Ausübung der Gerichtsbarkeit durch den ICC zusätzlich von der Statutsmitgliedschaft oder Adhoc-Zustimmung der Regierung des Begehungsortes (Territorialstaat) oder des Staates, dessen Angehöriger der mutmaßliche Täter ist (Täterstaat), ab. Es werden insofern die Frage der Gerichtsbarkeit und die der Verfahrenseinleitung, die normalerweise voneinander zu trennen sind, miteinander verquickt. 479 Die getroffene Regelung der alternativen Zustimmung ermöglicht es, auch Angehörige von Staaten, die weder dem Statut beigetreten sind, noch sich ad hoc der Zuständigkeit des Gerichts unterworfen haben, vor den ICC zu bringen. Es reicht aus, wenn der Territorialstaat die Zuständigkeit des Gerichts anerkannt hat.

(b) Drittwirkung der Regelung An der Frage, welche Staaten zustimmen müssen, damit der ICC tätig werden kann, ist auf der Konferenz von Rom die Unterzeichnung des Statuts durch die

479

Christian Tomuschat, 73 Friedenswarte (1998), S. 335 (342).

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Teil3: Auswirkungen von Globalisierung auf völkerrechtliche Verträge

U.S.A. gescheitert. 480 Die Vereinigten Staaten, die einen großen Teil der Friedenstruppen für UN-Missionen sowie Missionen regionaler Organisationen stellen, dabei wesentliche logistische und andere Unterstützung leisten und einen erheblichen Anteil der anfallenden Kosten tragen481 , wollten möglichst verhindern, daß ihre im Ausland stationierten Soldaten gegen ihren Willen vor den ICC gestellt werden können.482 Die alternative Zustimmungsregelung des jetzigen Art. 12 (2) Statut schaffe- so ihre Befürchtung- die Möglichkeit eines Mißbrauchs des Gerichts zu politischen Zwecken. 483 Aus diesem Grunde hatten sie die Mitgliedschaft/Zustimmung sowohl des Territorialstaates als auch des Täterstaates gefordert.484 Solange die Vereinigten Staaten dem Statut nicht beigetreten seien, sei es unzulässig, amerikanische Soldaten vor dem ICC zur Verantwortung zu ziehen. 485 Diese Einschätzung der U.S.A. wird von Indien und China geteilt, die das Statut aus denselben Gründen bislang nicht unterzeichnet haben. 486 Die in Art. 12 (2) Statut vorgesehene alternative Mitgliedschaft/Zustimmung von Territorial- und Täterstaat, durch die auch die Angehörigen von Nicht-Mitgliedstaaten des Statuts der Jurisdiktion des ICC unterfallen können, wird von diesen Staaten als ein Verstoß gegen den Grundsatz pacta tertiis nec nocent nec prosunt gewertet, nach dem ein Vertrag dritte Staaten nicht binden kann. Indem die Regelung gleichsamdas Universalitätsprinzip in das Statut inkorporiere, würden vertragliche Verpflichtungen für Nicht-Vertragsstaaten begründet. 487 Dieser Bewertung des Art. 12 (2) Statut als Fall der vertraglichen Drittwirkung kann jedoch in verschiedener Hinsicht nicht zugestimmt werden. Am 31.12. 2000 haben nunmehr auch die U.S.A. das Abkommen gezeichnet. Marten Zwanenburg, 10 EJIL (1999), S. 124 (127), beziffert den Beitrag der U.S.A. für das Jahr 1998 aufbei schätzungsweise 256.000 Millionen US$, was ungefahr 14 der globalen Gesamtkosten ausmachte. 482 V gl. die Darstellung des Leiters der amerikanischen Delegation in Rom, David Scheffer, 93 AJIL (1999), S. 12 (18). 483 Ruth Wedgwood, 10 EJIL (1999), S. 93 (1 01 ); David Scheffer, 32 Cornell lU (1999), S. 529 (533). 484 UN Doc. NConf.183/C.1/L.70 (1998). 485 David Scheffer, 93 AJIL (1999), S. 12 (18). 486 Die im Zusammenhang mit der Abstimmung über das Statut von den U.S.A., Indien und China abgegebenen Erklärungen sind abrufbar unter http://un.org/icc (Stand: 07.07 .2000). Indien lehnte zudem die demUN-Sicherheitsrat durch das Statut zugewiesene Rolle ab und hatte aus diesem Grunde auch eine Änderung des Statutsentwurfs vorgeschlagen, mit der jedwede Bezugnahme auf und Rolle für den Sicherheitsrat entfallen wäre, UN Doc. NConf.l83/C.l!L.95 (1998). 487 Vgl. die Darstellung des Leiters der amerikanischen Delegation in Rom, David Scheff er, 32 CornelliU (1999), S. 529 (532 f.). 480

48 1

D. Reichweite der Bindungswirkung völkerrechtlicher Verträge

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(aa) Inkorporierung des Universalitätsprinzips Zwar eröffnet Art. 12 (2) Statut die Möglichkeit der Verfolgung von Tätern, deren Heimatstaat dem Tätigwerden des ICC nicht zugestimmt hat, entgegen der Auffassung der U.S.A., Indiens und Chinas fußt diese Regelungjedoch nicht auf dem Universalitätsprinzip, sondern auf den klassischen Prinzipien der Territorialität und der Personalität. Jeder Staat kann grundsätzlich alle Handlungen, die auf seinem Staatsgebiet vorgenommen werden, seinem Strafrecht unterstellen, ohne daß die Staatsangehörigkeit des Täters eine Rolle spielt. 488 Außerdem hat jeder Staat das Recht, Gesetzesverstöße seiner eigenen Staatsangehörigen unabhängig vom Ort der Begehung zu verfolgen. 489 Jeder dieser beiden Anknüpfungspunkte reicht unabhängig und für sich allein aus, um die Jurisdiktion eines Staates zu begründen. Anders als bei Art. 218 (1) SRÜ basiert die Jurisdiktion des ICC somit nicht allein auf dem Statut als völkerrechtlichem Vertrag, sondern kann durch die Zustimmung eines der beiden Staaten- des Territorialstaates oder des Täterstaates - auf traditionell anerkannte Anknüpfungspunkte für Jurisdiktionsgewalt zurückgeführt werden. Hinzu kommt, daß das Verbot des Genozids, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit auch völkergewohnheitsrechtlich anerkannt sind und als Gewohnheitsrecht oder/und Vertragsrecht alle Staaten und deren Angehörige binden.490 Insofern ist auch bereits ohne Inkrafttreten des Statuts jedermann zur Einhaltung dieser Normen verpflichtet. Darüber hinaus gilt für diese Verbrechen auch gewohnheitsrechtlich das Prinzip der Universellen Jurisdiktion, so daß auch unabhängig vom Statut jeder Staat zur Verfolgung berechtigt und berufen ist. 491 Ein Soldat, der im Ausland eine solche Tat begeht, kann von jedem nationalen Gericht dafür zur Verantwortung gezogen werden.

488 Vgl. zum Territorialitätsprinzip statt vieler Wemer Meng, 44 ZaöRV (1984), S. 675 (675 ff.); MichaelAkehurst, 46 BYIL (1973173), S. 145 (152 ff.); Frederic Mann, 111 RdC (1964 1), s. 1 (28, 82 ff.). 489 Vgl. zum aktiven Personalitätsprinzip nur Wemer Meng, 44 ZaöRV (1984), S. 675 (691 f.); Frederic Mann, 111 RdC (1964 I), S. 1 (88 f.). 490 Diese werden allgemein als Völkerrechtsverbrechen anerkannt und wurden auch von der International Law Commission bereits in ihrem "draft statute" für den ICC als solche behandelt, vgl. den Report of the International Law Commission on the work of its 46th Session, UN Doc. A/49/10 (1994). 49 1 Vgl. nur Bemhard Oxman, in: Rudolf Bernhardt et al. (Hrsg.), Encyclopedia of Public International Law, Vol. III, S. 55 (58); Peter Malanczuk, Akehurst's Modern Introduction, S. 112 ff.; Robert Jennings/Arthur Watts, Oppenheim' sInternational Law, Part 1, s. 470.

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Teil 3: Auswirkungen von Globalisierung auf völkerrechtliche Verträge

Nach allgemeinem Völkerrecht spricht schließlich auch nichts dagegen, daß Staaten ihre Jurisdiktionsgewalt auf ein vertraglich geschaffenes internationales Gericht übertragen, welches diese sodann anstelle der dem Gericht beigetretenen Staaten ausübt.492 Dies hat das Internationale Militätribunal von Nürnberg wie folgt zum Ausdruck gebracht: "The Signatory Powers created this Tribunal, defined the law it was to administer, and made regulations for the proper conduct of the trial. In doing so, they have done together what each one ofthem might have done singly; for it is nottobe doubted that any nation has the right to set up special courts to administer law .'"'93

Die Mitgliedstaaten des Statuts zedieren ihre aus dem Universalitätsprinzip folgende Jurisdiktionsgewalt- für den Fall, daß sie selbst zur Verfolgung nicht willens oder in der Lage sind - an den ICC. Dieser wird als gemeinsames Organ der Mitgliedstaaten tätig und tut, was jeder Mitgliedstaat allein hätte tun können.

(bb) Vertragliche Verpflichtung von Drittstaaten? Des weiteren werden dritten Staaten auch durch das Statut keine vertraglichen Verpflichtungen auferlegt. So enthält das Statut keine Regelungen, durch die Nicht-Vertragsstaaten, deren Angehörige im Ausland Verbrechen im Sinne von Art. 5 Statut begehen, zur Zusammenarbeit mit dem ICC verpflichtet werden. Für Mitgliedstaaten enthält Teil 9 (Art. 86 ff.) des Statuts entsprechende Kooperationspflichten.494 Die Regelung des Art. 12 (2) Statut ist zwar potentiell geeignet, praktische Wirkungen auch für die Staatsangehörigen von Nicht-Vertragsparteien des Statuts zu erzeugen, die die Drittstaaten zu respektieren haben, entsprechende rechtliche Verpflichtungen auf seiten des betreffenden Täterstaates aber werden nicht begründet. 495 492 Es ist keine gewohnheits-oder vertragsrechtliche Regel des Völkerrechts bekannt, die dies ausschließt. Vgl. dazu das Urteil des StiGH im Lotus-Fall, PCIJ Series A, No. 10 (1927), S. 18 f. Zustimmend auch Diane Orentlicher, 32 Cornell ILJ (1999), S. 489 (493); Jordan Paust, 33 VandJTransnat'IL (2000), S. I (3 ff.); Gerhard Hafner/Kristen Boonl Anne Rübesame/Jonathan Huston, 10 EJIL (1999), S. 108 (117); Sharon Williams, in: Otto Trifterer (Hrsg.), Commentary on the Rome Statute of the ICC, Art. I 2 Rn. 15; Antonio Cassese, 10 EJIL (1999), S. 144 (160). 493 The Trial of German Major War Criminals, Proceedings of the International Military Tribunal sitting at Nurernberg Germany, 30 September 1946, Part 22, S. 444, London 1950. 494 Diane Orentlicher, 32 Cornell ILJ (1999), S. 489 (490); Eve La Haye, 46 NILR (1999), s. 1 (19). 495 Auch für (nicht-institutionelle) Verträge mit ähnlichen Wirkungen lassen sich problernlos weitere Beispiele finden, insbesondere bilaterale Auslieferungsübereinkommen und

D. Reichweite der Bindungswirkung völkerrechtlicher Verträge

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(cc) Zwischenergebnis Artikel 12 (2) Statut entfaltet keine rechtliche Drittwirkung. Die Jurisdiktion des ICC beruht nicht auf dem Statut, sondern auf den hierfür anerkannten Prinzipien der Territorialität und der Personalität. Bei den Konsequenzen des Art. 12 (2) Statut für Drittstaaten und deren Angehörige handelt es sich um Reflexwirkungen des durch das Statut geschaffenen Regimes. Rechtlich verpflichtet werden diese nicht.496

(2) Art. 13 (b) Statut: Ausübung der Gerichtsbarkeit Auch von der Regelung über die Voraussetzungen für die Ausübung der Strafgerichtsbarkeit durch den ICC wird behauptet, sie erzeuge rechtliche Drittwirkung.

(a) Inhalt der Regelung Artikel 13 Statut legt fest, durch wen ein Verfahren vor dem ICC eingeleitet werden kann. Neben der Einleitungaufgrund der Überweisung durch einen Staat eine wachsende Zahl multilateraler Verträge, die die Vertragsparteien verpflichten, die Täter bestimmter Verbrechen unabhängig von deren Staatsangehörigkeit und unabhängig davon, ob ihr Heimatstaat Vertragspartei ist, entweder strafrechtlich zu verfolgen oder sie auszuliefern. So verpflichtet beispielsweise die Convention Against Torture and Other Crule, Inhuman or Degrading Treatment or Punishment (23 I.L.M., S. 1027 ff., in Kraft getreten am 26. Juni 1987) die Parteien, Folter im Bereich ihrer Jurisdiktionshoheit unter Strafe zu stellen und "to takesuch measures as may be necessary to establish its jurisdiction over [torture and related offenses] in cases where the alleged offender is present at any territory under its jurisdiction and it does not extradite him", (Art. 5 [2] ). Auch diese Konvention bindet rein rechtlich allein die Vertragstaaten, kann aber auch gegenüber Staatsangehörigen von Nicht-Mitgliedstaaten zur Anwendung gelangen. In vergleichbarer Weise operieren auch die vier Genfer Konventionen von 1949 und verschiedene Anti-Terrorismus-Konventionen, denen auch die U.S.A. beigetreten sind, z. B. Art. 5 (2) und 8 der International Convention Against the Taking of Hostages vom 17. Dezember 1979, UN Doc. A/34/36 (1979); Art. 3 (2) und 7 der Convention on the Prevention and Punishment of Crimes Against Internationally Proteeted Persons, lncluding Diplomatie Agents vom 14. Dezember 1973, 13 I.L.M. (1974), S. 43 ff. ; Art. 4 und 7 der Convention on the Suppression of Unlawful Seizure of Aircraft vom 16. Dezember 1970, 10 I.L.M. (1971 ), S. 133 ff. ; Art. 5 und 7 der Convention to Discourage Acts ofViolence Against Civil Aviation vom 23. September 1971, 10 I.L.M. (1971), S. 1151 ff. 496 So auch Eve La Haye, 46 NILR (1999), S. I (19 ff.); Diane Orentlicher, 32 Cornell lU (1999), S. 489 (490 ff.); Gerhard Hafner/Kristen Boon/Anne Rübesame/Jonathan Huston, 10 EJIL (1999), S. 108 (118); Jordan Paust, 33 VandJTransnat'lL (2000), S. I (2 ff.); Sharon Williams, in: Otto Trifterer (Hrsg.), Commentary on the Rome Statute, Art. 12 Rn. 15; Antonio Cassese, 10 EJIL (1999), S. 144 (160).

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Teil 3: Auswirkungen von Globalisierung auf völkerrechtliche Verträge

und ex officio durch den Chefankläger sieht Art. 13 (b) Statut eine Verfahrenseinleitung durch den Sicherheitsrat vor. Die Regelung lautet wie folgt: "The Court may exercise its jurisdiction with respect to a crime referred to in article 5 in accordance with the provisions of this Statute if: [ ... ] (b) A situation in which one or more of such crimes appears to have been comrnitted is referred to the Prosecutor by the Security Council Actingunder Chapter VII of the Charter of the United Nations."

Ob dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen eine Rolle bei der Verfahrenseinleitung zukommen sollte und, wenn ja, welche, war bis zum Ende der Konferenz von Rom stark umstritten. Von den Gegnern einer Einbeziehung des Sicherheitsrates wurde eine Politisierung des ICC befürchtet und die Gefahr der mißbräuchlichen Verwendung des Veto-Rechts ins Feld geführt. Außerdem wurde angezweifelt, daß der Sicherheitsrat nach der UN-Charta in der Lage sei, eine solche Rolle zu übernehmen. Letztendlich haben sich jedoch die Befürwortereiner Einleitungsmöglichkeit für den Sicherheitsrat und damit einer Stärkung des ICC durchgesetzt. 497 (b) Drittwirkung der Regelung Ansatzpunkte für eine mögliche Drittwirkung des Art. 13 (b) Statut ergeben sich aus dessen Zusammenspiel mit den in Art. 12 (2) Statut geregelten Vorbedingungen für eine Ausübung der Gerichtsbarkeit durch den ICC. Im Falle der Verfahrenseinleitung nach Art. 13 (a) (Überweisung durch einen Mitgliedsstaat) oder nach Art. 13 (c) (Einleitung durch den Chefanklägerkraft dessen Amtes) ist wie gesehen die Mitgliedschaft/Zustimmung des Territorialstaates oder des Täterstaates erforderlich, damit der ICC tätig werden kann. Diese Vorbedingung entfällt, wenn der Sicherheitsrat eine "Situation" durch eine Resolution nach Kapitel VII UN-Charta an den Chefankläger überweist. In diesem Fall kann der ICC seine Jurisdiktion auch ohne die Zustimmung eines der genannten Staaten ausüben. Dies kann im extremsten Fall bedeuten, daß der ICC über Verbrechen richtet, die ein Angehöriger eines Nicht-Vertragsstaates 498 auf dem eigenen oder dem Staatsgebiet eines anderen Nicht-Vertragsstaates499 begangen hat. 497 Siehe dazu Sharon Williams, in: Otto Trifterer (Hrsg.), Commentary on the Rome Statute, Art. 13 Rn. 2 ff.; Eve La Haye, 46 NILR (1999), S. 1 (11 f.); Philippe Kirschilohn Holmes, 93 AJIL (1999), S. 2 (8 ff.). 498 Der auch keine Ad-hoc-Zustimmung nach Art. 12 (3) Statut gegeben hat. 499 Der ebenfalls keine Ad-hoc-Zustimmung nach Art. 12 (3) Statut gegeben hat. Auf diesen Zusatz wird im folgenden aus Gründen der Lesbarkeit verzichtet.

D. Reichweite der Bindungswirkung völkerrechtlicher Verträge

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Eine Drittwirkung des Art. 13 (b) Statut könnte in diesem Beispielsfall wieder unter zwei Gesichtspunkten in Frage kommen: Zum einen könnte man, wie bereits bei Art. 12 (2) Statut, überlegen, ob sich eine Drittwirkung daraus ergibt, daß Staatsangehörige von Nicht-Mitgliedern des Statuts der Jurisdiktion des ICC unterstellt und vor diesem Gericht verfolgt werden können, ohne daß es der Zustimmung des Heimatstaates bedarf. Zum zweiten kann man für die Frage der Drittwirkung an etwaigen Kooperationspflichten für Nicht-Mitglieder des Statuts ansetzen, die diese zur Zusammenarbeit mit dem Gericht verpflichten.

(aa) Drittwirkung durch Verfolgung von Verbrechen, die Staatsangehörige eines Nicht-Mitgliedstaates auf dem eigenen oder dem Staatsgebiet eines anderen Nicht-Mitgliedstaates begangen haben Der erste Aspekt- die Tatsache, daß die Verbrechen von Staatsangehörigen von Nicht-Mitgliedern des Statuts vor dem ICC verfolgt werden können- wurde bereits oben im Zusammenhang mit Art. 12 (2) Statut erörtert. Dort wurde eine Drittwirkung der genannten Regelung zum einen deshalb abgelehnt, weil die Jurisdiktionsgewalt des Strafgerichtshofs nicht auf dem Statut- als dem dem ICC zugrundeliegenden völkerrechtlichen Vertrag- basiert, sondern auf die traditionell anerkannten Prinzipien der Territorialität und der Personalität zurückgeführt werden kann. Wenn es um die Verfolgung von Verbrechen geht, die ein Staatsangehöriger eines Nicht-Vertragsstaates auf dem eigenen oder dem Staatsgebiet eines anderen Nicht-Vertragsstaates begangen hat, können jene Anknüpfungspunkte jedoch nicht mehr zur Begründung der Gerichtsbarkeit des ICC herangezogen werden. Diese ist weder vom Territorial- noch vom Täterstaat anerkannt worden. Wie bereits oben angesprochen, ist in bezug auf das Verbot des Genozids, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit aber das Prinzip der Universellen Jurisdiktion anerkannt, so daß alle Staaten das Recht haben, solche Taten zu verfolgen. Die Mitgliedstaaten des ICC-Statuts zedieren insofern ihre Befugnis zur Verfolgung an den ICC, der sodann an deren Stelle tätig wird. 500 Parallel hierzu läßt sich die Jurisdiktion des ICC im Falle der Verfahrenseinleitung durch den Sicherheitsrat auf die Resolution des Sicherheitsrates nach Kapitel VII zurückführen. Daß der Sicherheitsrat autorisiert ist, auf diese Weise die Jurisdiktion des ICC über eine bestimmte Situation zu begründen, kann mit folgenden Überlegungen begründet werden: Im Zusammenhang mit den Kriegen 500

Vgl. dazu oben D. III. 2. d) aa) (1) (b) (aa).

19 Hingst

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Teil 3: Auswirkungen von Globalisierung auf völkerrechtliche Verträge

in Rwanda und Jugoslawien hat der Sicherheitsrat als Maßnahmen nach Kapitel VII UN-Charta Ad-hoc-Tribunale zur Verfolgung der dort begangenen Verbrechen eingesetzt. Diese Praxis ist vom Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien in dem Urteil The Prosecutor v. Dusko Tadic501 gutgeheißen worden. Wenn der IGH durch eine Resolution nach Kapitel VII UN-Charta neue Ad-hoc-Gerichte einsetzen kann, so muß er alternativ auch das Recht haben, die Zuständigkeit eines bereits bestehenden internationalen Strafgerichtshofs zu begründen. 502 Die Gerichtsbarkeit des ICC wird somit nicht über die Prinzipien der Personalität oder der Territorialität begründet, sondern mit dem Prinzip der Universellen Jurisdiktion und der Resolution des Sicherheitsrates nach Kapitel VII. Auch bei Art. 13 (b) Statut beruht sie folglich nicht auf dem zugrundeliegenden völkerrechtliehen Vertrag, so daß sich insofern kein Unterschied zu dem bei Art. 12 Statut erlangten Ergebnis ergibt. Aufgrund folgender Überlegungen könnte man aber bei der Begehung von Art. S-Verbrechen durch Angehörige eines Nicht-Mitgliedsstaates auf dem eigenen Staatsgebiet oder dem Gebiet eines anderen Nicht-Mitgliedsstaates u. U. dennoch an eine Drittwirkung des Statuts denken: Es ist möglich, daß in einer solchen Fallkonstellation kein Staat gewillt oder in der Lage ist, von seiner universellen Jurisdiktion über die betreffenden Verbrechen Gebrauch zu machen. Häufig mangelt es an einem direkten Eigeninteresse an der Verfolgung oder eine solche scheint politisch nicht angeraten. Gäbe es den ICC nicht, so würden die Täter dann in der Regel nicht gerichtlich verfolgt. Das Statut sieht für Fälle dieser Art die Möglichkeit der Einleitung eines Verfahrens vor dem ICC durch den Sicherheitsrat vor. Macht kein ständiges Mitglied des Sicherheitsrats von seinem Vetorecht Gebrauch und gelingt es, die insgesamt notwendigen 9 Stimmen für eine entsprechende Resolution zusammenzubekommen, so ist eine Verfolgung der Täter möglich, auch wenn die Verfahrenseinleitung ansonsten durch die Vorbedingungen des Art. 12 (2) Statut blockiert wäre und die Staaten ihre nationale Gerichtsbarkeit nicht ausüben können oder wollen. Diese Verfolgungsmöglichkeit nach Art. 13 (b) Statut ist neu durch das Statut geschaffen worden, dem weder Territorialstaat noch

501 Urteil vom 2. Oktober 1995, abgedruckt in 35 I.L.M. (1996), S. 32 ff. (38 ff.); siehe auch 36 I.L.M. (1997), S. 908 ff. 502 Zustimmend Diane Orentlicher, 32 Cornell lU (1999), S. 489 (496 f.); Andreas Zimmermann, 2 Max Planck UNYB (1998), S. 169 (216); Antonio Cassese, 10 EJIL ( 1999), S. 144 ( 161 ): "In effect, the mechanism by which the Security Council established the ICTY and ICfR is imported into the ICC."

D. Reichweite der Bindungswirkung völkerrechtlicher Verträge

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Täterstaat angehören. Man könnte daher meinen, daß insofern eine Drittwirkung des Statuts gegeben ist. Gegen eine solche Bewertung spricht jedoch zum einen die bereits angesprochene Tatsache, daß der Sicherheitsrat anerkanntermaßen befugt wäre, ein Adhoc-Tribunal in der Sache einzusetzen. Es kann keinen Unterschied machen, wenn er statt dessen auf ein bereits bestehendes internationales Strafgericht zurückgreift. Zum anderen kann man den ICC als eine Art vorbeugende Maßnahme der Mitgliedstaaten für den Fall verstehen, daß diese selbst nicht willens oder fähig sind, von ihrer universellen Jurisdiktion Gebrauch zu machen und so die auf dem eigenen oder dem Staatsgebiet eines Nicht-Mitgliedstaates von Angehörigen eines anderen Nicht-Mitgliedstaates begangenen Verbrechen zu verfolgen. In diesem Fall soll der ICC an ihrer Stelle tätig werden, so daß er gleichermaßen als verlängerter Arm oder Stellvertreter seiner Mitgliedsstaaten im Rahmen ihrer universellen Jurisdiktion bezeichnet werden kann. Schließlich steht einer Drittwirkung im genannten Beispielsfall auch folgendes entgegen: Im Falle einer Mitgliedschaft/Zustimmung von Territorial- oder Täterstaat nach Art. 12 (2) Statut wurde gegen eine Drittwirkung eingewandt, daß die Jurisdiktion der Staaten aus den Prinzipien der Teritorialität und der Personalität folgt und das Gericht an Stelle der beiden zustimmenden Staaten nur tut, was beide jeweils hätten selbst tun können. An einer solchen Zustimmung fehlt es zwar, wenn Territorial- und Täterstaat beide nicht dem Statut angehören 503 • Zumindest wenn diese Staaten Mitglieder der Vereinten Nationen sind, könnte man aber argumentieren, daß die verfahrenseinleitende Sicherheitsratsresolution diese Zustimmung ersetzt (solange sie nicht selbst verfolgen). Einer Bindung durch Resolutionen des Sicherheitsrats nach Kapitel VII (Art. 25 UN-Charta) haben alle Mitglieder der Vereinten Nationen mit ihrem Beitritt zu der Organisation zugestimmt. Ersetzt die verfahrenseinleitende Sicherheitsratsresolution in der beschriebenen Weise die Zustimmung von Territorial- und Täterstaat, so kann dies über die Mitgliedschaft dieser Staaten in den Vereinten Nationen, wenn auch sehr mittelbar, auf ihren Willen zurückgeführt werden. Auch dies spricht gegen eine Drittwirkung des Statuts dadurch, daß Angehörige von Nicht-Mitgliedstaaten wegen auf dem Gebiet eines anderen Nicht-Mitgliedstaates begangener Verbrechen im Sinne von Art. 5 Statut vor dem ICC verfolgt werden können.

503

Und auch keine Ad-hoc-Zustimmung nach Art. 12 (3) Statut gegeben haben.

292

Teil 3: Auswirkungen von Globalisierung auf völkerrechtliche Verträge

(bb) Drittwirkung durch Kooperationspflichten für Nicht-Mitgliedstaaten Sofern die in dem gewählten Beispielsfall504 betroffenen Staaten nicht gewillt oder in der Lage sind, die Täter selbst zu verfolgen, trifft sie, wie in den anderen Fällen der Verfahrenseinleitung auch, zunächst lediglich eine Respektierungspflicht in bezug auf das Tätigwerden des ICC. Der Territorialstaat muß dann zulassen, daß die auf seinem Staatsgebiet begangenen Taten vor dem ICC verfolgt werden, und der Täterstaat muß die Verfolgung seiner Staatsangehörigen vor dem ICC respektieren, solange keiner von beiden (oder ein anderer Staat) die Taten ernsthaft gerichtlich verfolgt. Eine Pflicht zur aktiven Zusammenarbeit mit dem Gericht besteht nach dem Statut auch hier nicht. 505

(c) Zwischenergebnis Selbst in dem hier zugrunde gelegten Extremfall, daß Staatsangehörige eines Nicht-Mitgliedstaates wegen Verbrechen im Sinne von Art. 5 Statut verfolgt werden, die sie auf dem eigenen oder dem Staatsgebiet eines anderen Nicht-Mitgliedstaates begangen haben, entfaltet das Statut keine rechtliche Drittwirkung. Die Gerichtsbarkeit des ICC beruht anders als im Fall des Art. 218 SRÜ nicht auf dem Statut, sondern kann auf das anerkannte Prinzip der Universellen Jurisdiktion und auf die Resolution des Sicherheitsrates nach Kapitel VII UN-Charta zurückgeführt werden. Obwohl es zunächst so scheint, als käme Art. 13 (b) Statut - insbesondere in dem untersuchten Extremfall - einer Drittwirkung näher als die Regelung des Art. 12 (2) Statut, ist dies bei genauerer Betrachtung somit nicht der Fall. Es spielen bei Art. 13 (b) Statut lediglich die klassischen Anknüpfungspunkte der Territorialität und der Personalität so gut wie keine Rolle für die Jurisdiktionsbegründung. Dem Prinzip der Universellen Jurisdiktion und der verfahrenseinleitenden Sicherheitsratsresolution istjedoch eine gleichwertige Legitimationswirkung zuzumessen, so daß die Regelung des Art. 13 (b) Statut einer Drittwirkung insofern nicht näher kommt als die des Art. 12 (2) Statut.

504 Der ICC richtet über Verbrechen, die ein Angehöriger eines Nicht-Vertragsstaates auf dem eigenen oder dem Staatsgebiet eines anderen Nicht-Vertragsstaates begangen hat (ohne eine Ad-hoc-Zustimmung eines der Staaten). 505 Vgl. aber den folgenden Gliederungspunkt zur Möglichkeit einer Verpflichtung zur Zusammenarbeit dritter Staaten mittels einer Sicherheitsratsresolution nach Kap. VII UNCharta.

D. Reichweite der Bindungswirkung völkerrechtlicher Verträge

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bb) Umgang mit Drittstaaten und deren Staatsangehörigen Das Statut erzeugt wie gesehen zwar keine rechtliche Drittwirkung und stellt insofern keinen Anwendungsfall für die dogmatischen Ansätze Tomuschats, Ziemers und Delbrücks dar. Es entfaltet aber dennoch in unterschiedlicher Weise Auswirkungen für Nicht-Vertragsstaaten. Anstatt sich rechtlich über die Pactatertiis-Regel hinwegzusetzen, haben die Vertragsstaaten auf anderem Wege versucht, die Attraktivität des Vertrages für Drittstaaten und dessen Effektivität zu erhöhen. Im Rahmen der Drittwirkungsprüfung ist bereits deutlich geworden, daß das Statut es erlaubt, auch Angehörige von Nicht-Vertragsstaatenvor dem ICC zu verfolgen. Ermöglicht wird dies durch eine Kombination verschiedener anerkannter Jurisdiktionsprinzipien, die dazu führt, daß das Statut über den Kreis der Vertragsparteien (bzw. deren Staatsangehörige) hinaus zur Anwendung gelangen kann. Hinzu kommt ein indirekter Zwang für Nicht-Vertragsstaaten, bestimmte Vorgaben des Statuts in bezugauf die Verfolgung der vertraglich geregelten Verbrechen einzuhalten, ohne dazu vertraglich verpflichtet zu sein. Nicht-Vertragsstaaten können aufgrundder Regelungen der Art. 12 (2) und 13 (b) Statut ihre Staatsangehörigen nicht schon allein dadurch vor der Verfolgung durch den ICC schützen, daß sie dem Statut nicht beitreten. Hierzu bedarf es der Verfolgung durch den Täterstaat in einer Weise, die den Anforderungen des Statuts an die Ernsthaftigkeit der Verfolgung (Art. 17 [2] und [3] Statut) genügt. Die Jurisdiktion von Nicht-Mitgliedstaaten wird in einem solchen Fall quasi unter den Vorbehalt gestellt, daß sie die Täter in der von den Vertragsparteien des Statuts vorgesehenen Weise verfolgen. Dies erinnert an die Regelung in Art. 8 (4) FSA, 506 der das Recht der Hochseefischerei neu definiert, indem er dieses unter die Bedingung der Mitgliedschaft in einer Regionalen Fischereiorganisation (RF0) 507 stellt. Dort wurde, anders als hier, auch eine rechtliche Drittwirkung angenommen, so daß sich die Frage nach dem Unterschied zwischen den Regelungen stellt. Dieser besteht darin, daß Art. 8 (4) FSA für Staaten, die keiner RFO angehören, ein Verbot der Hochseefischerei statuiert. Die Verbotsaussage ist lediglich positiv formuliert ("Only those states who [ ... ] shall have access [ ... ]").Durch die Art. 12 (2) und 13 (b) Statut wird Drittstaaten zum Statut dagegen nicht verboten, bei der strafrechtlichen Verfolgung der Taten ihrer Staatsangehörigen hinter den Maßstäben des Art. 17 (2) und (3) Statut zurückzubleiben. Insofern wird auf das souveräne Recht des Nicht506 507

Fish Stocks Agreement, vgl. dazu oben Teil 3, D. 111. 2. c) bb). Bzw. Unterwerfung unter die Regelungen der zuständigen RFO.

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Teil 3: Auswirkungen von Globalisierung auf völkerrechtliche Verträge

Mitgliedstaates, seine nationalen Regelungen und Maßstäbe für die Strafverfolgung frei zu gestalten, rechtlich nicht eingewirkt. Der ICC hat in diesem Fall aber trotz nationaler Verfolgungsmaßnahmen das Recht, tätig zu werden, was für den Nicht-Mitgliedstaat, der seine Staatsangehörigen der Verfolgung durch den ICC entziehen will, einen faktischen Zwang zur Einhaltung der Maßstäbe des Art. 17 (2) und (3) Statut hervorruft. Eben diese faktischen Auswirkungen können bei lokrafttreten des Statuts zu einem Motivationsfaktor für Nicht-Vertragsstaaten werden, dem Statut ebenfalls beizutreten. Weitere Anreize für den Beitritt zum Statut werden durch eine Asymmetrie zwischen Vertrags- und Nicht-Vertragsstaaten sowie auch zwischen mehreren Nicht-Vertragsparteien geschaffen, die bei verschiedenen Vorschriften des Statuts entstehen kann. 508 Der zweitgenannte Fall kann eintreten, wenn ein NichtMitgliedstaat die Staatsangehörigen eines anderen Nicht-Mitgliedstaates dadurch der Verfolgung durch den ICC aussetzt, daß er eine Ad-hoc-Zustimmung nach Art. 12 (3) Statut gibt. Einer Verfolgung seiner eigenen Staatsangehörigen muß er im seihen Zusammenhang nämlich nicht unbedingt zustimmen. U nausgewogenheiten zwischen Vertrags- und Nicht-Vertragsstaaten folgen zum einen daraus, daß Mitgliedstaaten nach Art. 124 Statut für einen Zeitraum von 7 Jahren die Gerichtsbarkeit des ICC für Kriegsverbrechen ausschließen können- eine Möglichkeit, die Nicht-Vertragsstaaten, deren Angehörige sich vor dem ICC verantworten müssen, nicht haben. Zum anderen gelten gern. Art. 121 (5) Statut z. B. neue Verbrechen, die im "Amendment"-Verfahren nach Art. 121 Statut aufgenommen werden, nur für solche Mitglieder, die der Änderung zugestimmt haben. Diese Möglichkeit des "opting-out" besteht für Nicht-Mitglieder des Statuts ebenfalls nicht. Zusammengenommen bietet das Statut Mitgliedstaaten also mehr Rechte als Nicht-Vertragsparteien. Wegen des Komplementaritätsprinzips kann der Gerichtshof außerdem nur unter engeren Voraussetzungen tätig werden, als es nationalen Gerichten nach dem Universalitätsprinzip möglich ist. Territorialstaaten können ein Verbrechen im Sinne von Art. 5 Statut unabhängig davon verfolgen, ob der Täterstaat zur Verfolgung gewillt und in der Lage ist. Der ICC hingegen ist hinter die nationale Jurisdiktion des Täterstaates zurückgestellt, solange dieser die Tat ernsthaft verfolgt. Punkte wie diese können im Zweifelsfall den Ausschlag geben für eine Entscheidung zugunsten des Beitritts zum Statut. Besonders ist schließlich auch die Art und Weise, wie die so gut wie universelle Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen für die Zwecke des Statuts nutzbar gemacht wird. Dies geschieht zum einen durch die Möglichkeit der Verfahrens508 Vgl. Gerhard Hafner/Kristen Boon/Anne Rübesame/Jonathan Huston, 10 EJIL (1999), s. 108 (118 f.).

D. Reichweite der Bindungswirkung völkerrechtlicher Verträge

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einleitung mittels einer Sicherheitsratsresolution nach Kap. VII UN-Charta. In diesem Fall kann der ICC, wie gesehen, seine Jurisdiktion auch ohne die vorherige Zustimmung des Territorial- oder des Täterstaates ausüben und so im extremsten Fall über Verbrechen richten, die ein Angehöriger eines Nicht-Vertragsstaatesauf dem eigenen oder dem Staatsgebiet eines anderen Nicht-Vertragsstaates begangen hat. Zum anderen erlangt die Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen für die Frage nach möglichen Kooperationspflichten für Nicht-Mitgliedstaaten Bedeutung. Das Statut selbst sieht für Nicht-Mitgliedstaaten keine ausdrücklichen Kooperationspflichten vor. Im Falle der Verfahrenseinleitung durch eine Resolution nach Kap. VII wird das Gericht jedoch im Rahmen und auf der Basis dieser Resolution tätig. Obwohl eine solche Möglichkeit nicht explizit in dem Statut vorgesehen ist, 509 könnte der Sicherheitsrat ein Nicht-Mitglied des Statuts, das Mitglied der Vereinten Nationen und insofern durch die Resolutionen des Sicherheitsrates nach Kapitel VII gebunden ist (Art. 25 UN-Charta), mit einer solchen Resolution zur aktiven Zusammenarbeit mit dem Gericht anweisen. 510 Diese Kooperationspflicht beruhte auf der Mitgliedschaft des betreffenden Staates in den Vereinten Nationen, nicht auf dem Statut, so daß auch hier der Grundsatz der Relativität der Verträge intakt bliebe.

cc) Ergebnis Die im vorliegenden Fall hinter der vertraglichen Regelung stehende Situation ist mit der in den vorangehend untersuchten Verträgen weitestgehend identisch. Es geht um den Schutz hochrangiger Interessen aller Menschen. 511 Zu diesem Zweck 509 Für Mitgliedstaaten des Statuts, die ihrer Kooperationspflicht nicht nachkommen, sieht Art. 87 (7) Statut vor, daß bei einem nach Art. 13 (b) Statut eingeleiteten Verfahren der Sicherheitsrat mit der Sache befaßt werden kann. Es ist denkbar, daß der Sicherheitsrat in einem solchen Zusammenhang die Pflicht zur Zusammenarbeit durch eine Kapitel VII Resolution untermauert. Für Nicht-Mitgliedstaaten, die sich durch ein Ad-hoc-Abkommen zur Zusammenarbeit mit dem Gericht verpflichtet haben, dieser aber nicht nachkommen, findet sich eine identische Regelung in Art. 87 (5) (b) Statut. 510 So auch Eve La Haye, 46 NILR (1999}, S. 1 (19}, und Andreas Zimmermann, 2 Max Planck UNYB (1998}, S. 169 (216). 511 Die Interessen, deren Schutz das Statut dienen soll, sind bereits in der Präambel des Statuts genannt, wo es heißt: "( . .. ) CONSCIOUS that all peoples are united by common bonds, their cultures peaced together in a shared heritage, and concerned that this delicate mosaic may be shattered at any time, MINDFUL that during this century millions of children, women and men have been victims of unimaginable atrocities that deeply shock the conscience of humanity,

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Teil 3: Auswirkungen von Globalisierung auf völkerrechtliche Verträge

wurden Verbrechen gegen die geschützten Interessen auch vertraglich unter Strafe gestellt und eine zusätzliche Institution zur Verfolgung von Taten dieser Art geschaffen. Die Vorschriften der Art. 12 und 13 Statut über die Voraussetzungen für die Ausübung der Jurisdiktion und die Verfahrenseinleitung, die im Mittelpunkt der vorliegenden Untersuchung gestanden haben, bilden die Grundlage und Voraussetzung für ein Tätigwerden des Gerichts und einen damit bewirkten Schutz der hinter den Art. 5 ff. Statut stehenden Interessen. Für den Erfolg dieses Instrumentariums ist eine breite- möglichst sogar universale- Beteiligung an dem Vertrag erforderlich, damit die materiellen Normen gegenüber Tätern aus möglichst allen Staaten durchgesetzt werden können. Dennoch haben die Vertragsstaaten nicht den Schritt zur Statuierung einer rechtlichen Drittwirkung getan. Das Statut entfaltet zwar in der für institutionelle Verträge typischen Weise praktische Wirkungen für Drittstaaten, Nicht-Vertragsstaaten werden aber keine Rechtspflichten auferlegt, so daß formal nicht von der Pacta-tertiis-Regel abgewichen wird. Ein solches Vorgehen wäre auch nicht konsensfähig gewesen, wie die Diskussionen um und die Proteste gegen die jetzige Jurisdiktionsregelung zeigen. Anders als bei den oben untersuchten Vorschriften des SRÜ und des FSA, für die eine rechtliche Drittwirkung bzw. das Potential dazu festgestellt wurde, geht es hier nicht um Rechtsgüter jenseits der nationalstaatliehen Souveränität. Die Strafverfolgung ist sehr eng mit der staatlichen Souveränität verknüpft, weshalb die Staaten um einiges sensibler auf Beschränkungen ihrer Rechte reagieren. Nicht mehrheitsfähige, zu weit gehende Vorstöße in diesem Bereich hätten den Vertragsschluß mit großer Wahrscheinlichkeit zum Scheitern gebracht und wären den Zielen des Statuts insgesamt nicht zuträglich gewesen. Es ist auch nicht das Ziel des Statuts, ein internationales Super-Strafgericht zu schaffen. Wie der Grundsatz der Komplementarität zeigt, geht es vielmehr darum, die Strafverfolgung auf nationaler Ebene zu stärken und die Verfolgungsmoral zu verbessern. Dies setzt nicht zwingend eine rechtliche Bindung dritter Staaten an das Statut voraus. Ein mittelbarer Zwang für Drittstaaten, die Verfolgungsmaßstäbe des Statuts zu erfüllen, reicht im Prinzip aus. Wenn aber doch ein Tätigwerden des ICC erforderlich wird, unterstützt die Kombination verschiedener anerRECOGNIZING that such grave crimes threaten the peace, security and well-being of the world, AFFIRMING that the most serious crimes of concern to the international community as a whole must not go unpunished and that their effective prosecution must be ensured ( ...),

DETERMINED to put an end to impunity for the perpetrators oftheses crimes and thus to contribute to the prevention of these crimes, ( ... ), REAFFIRMING the Purposes and Principles of the Charter of the United Nations ( .. .)".

D. Reichweite der Bindungswirkung völkerrechtlicher Verträge

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kannter Jurisdiktionsprinzipien die Effektivität des Statuts, die dem Gericht die Möglichkeit einer Verfolgung auch von Angehörigen eines Nicht-Mitgliedstaates eröffnet. Auf diese Weise werden- wenn kein Staat zur Ausübung seiner Jurisdiktion willens oder in der Lage ist - die "most serious crimes of concern to the international community as a whole" 512 aus dem Bereich der Jurisdiktion der Vertragsstaaten herausgenommen. Dies ist als eine Form der (wenn auch konsentierten) rechtlichen Entstaatlichung zu werten.513 Die so bewirkte Denationalisierung erzeugt in nach klassischem Völkerrecht zulässiger Weise Wirkungen über den Kreis der konsentierenden Vertragsparteien hinaus. 514 Auch ohne rechtliche Drittwirkung wird somit durch die Regelungen des Statuts in nicht unerheblicher Weise in Bereiche hineingewirkt, die traditionell der Souveränität der Nicht-Mitgliedstaaten unterlagen. Für den schlimmsten Fall wird die Möglichkeit geschaffen, auch Nicht-Mitgliedstaaten die Jurisdiktion über ihre Staatsangehörigen zu entziehen. Eine solche Regelung war erforderlich, um eine Lähmung des ICC zu verhindern, die dadurch eintreten könnte, daß Mitglied- oder/und Nicht-Mitgliedstaaten durch die Durchführung von Scheinverfahren sein Tätigwerden blockieren. Obwohl sich mit dem in Rom unterzeichneten Statut die Verfechter eines starken Strafgerichtshofs durchgesetzt haben, für die die Schwere der Verbrechen im Vordergrund steht und die für eine möglichst weitreichende Jurisdiktion des ICC eingetreten waren, wird die Effektivität des Gerichts von einer möglichst universellen Beteiligung an dem Statut abhängen. Dadurch, daß heute eine Vielzahl von Konflikten interner Natur sind, werden die unter Strafe gestellten Verbrechen häufig nicht von Fremden im Ausland, sondern von den eigenen Staatsangehörigen in ihrem Heimatstaat begangen. Entsprechend kann das Zustimmungserfordernis des Art. 12 (2) Statut häufig bedeuten, daß die Zustimmung eines Territorialstaates eingeholt werden muß, der dem Statut nicht beigetreten ist. Dies wird in vielen Fällen problematisch sein. Der Ausweg über eine Resolution des Sicherheitsrates nach Kapitel VII UN-Charta steht wegen des Vetorechts der ständigen Mitglieder ebenso in Abhängigkeit von politischen Erwägungen wie die Erteilung der Zustimmung durch den Territorial- oder den Täterstaat Trotz dieser Hindernisse ist denjenigen aber zuzustimmen, die die Unterzeichnung des Statuts als einen wichtigen Fortschritt und Erfolg werten. Es bedeutet bereits in seiner jetzigen Form einen weiteren Schritt in Richtung einer Relativierung des Souveränitätsdogmas. Präambel des Statuts. Vgl. dazu auch oben, Teil I, A. II. 3. 514 Beispielsweise durch die mittelbare Bindung dritter Staaten an die Verfolgungsstandards des Statuts. 512

51 3

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Teil 3: Auswirkungen von Globalisierung auf völkerrechtliche Verträge

Die aufgezeigten Schwächen des Statuts können grundsätzlich durch eine Ergänzung bzw. Abänderung nach Art. 121 Statut behoben werden. Zunächst einmal muß das Statut aber überhaupt in Kraft treten, womit noch über längere Zeit nicht zu rechnen sein dürfte. 515 Bis dahin wird eine wichtige Aufgabe darin bestehen, eine nachträgliche Abänderung des Statuts in eine gegenläufige Richtung zu verhindern, wie sie beispielsweise von den U.S.A. angestrebt wird, 516 denen das Statut- wie einigen anderen Staaten auch- in bestimmten Punkten schon jetzt zu weit geht. Ein Erfolg wäre es aber bereits, wenn allein durch die Existenz des ICC die Verfolgungsmoral der Staaten verbessert würde.

IV. Ergebnis Die klassische Regel, daß völkerrechtliche Verträge Wirkung nur für die Vertragsstaaten erzeugen können, gilt zwar auch in Zeiten der Globalisierung im Grundsatz noch immer. Sie erfährt heute allerdings in verschiedener Hinsicht Einschränkungen, weil ein uneingeschränktes Festhalten an dem traditionellen Verbot der Drittwirkung völkerrechtlicher Verträge in vielen Sachbereichen dringend erforderliche, im "public interest" aller Staaten und Menschen liegende Problemlösungen blockieren würde. Die Staaten versuchen auf vielfältige Weise, der Problematik des Trittbrettfahrens von Nicht-Vertragsstaaten Herr zu werden. Es sind verschiedene Ansätze zur Steuerung des Verhaltens von Drittstaaten dargestellt und untersucht worden, die jeweils unterschiedlich intensiv in die Souveränität dieser Staaten eingreifen. Ein Patentrezept oder den Steuerungsmechanismus gibt es nicht. Insofern sprechen die Beispiele, in denen keine rechtliche sondern "nur" faktische Drittwirkung erzeugt wird, auch nicht gegen die dogmatischen Ansätze Tomuschats, Ziemers und Delbrücks. Die Wahl des Regelungsinstruments hängt von verschiedenen Faktoren ab. Zum einen spielt der zu regelnde Sachbereich, der Regelungsgegenstand, eine wichtige Rolle. Nicht alle Steuerungsmechanismen lassen sich in jedem Sachbereich sinnvoll anwenden. Handelsbezogene Maßnahmen der dargestellten Art sind nur dort praktikabel, wo Beschränkungen des Handels geeignet sind, das Vertragsziel zu fördern . Dies ist beispielsweise bei dem Schutz der Ozonschicht durch Reduzierung der Produktion, des Gebrauchs und des Handels 515 Das Statut tritt gern. Art. 12 Statut 60 Tage nach der Hinterlegung der 60. Ratifizierungsurkunde in Kraft. Bis zum 17. Juli 2000 hatten 98 Staaten das Statut gezeichnet und 14 auch ratifiziert; aktueller Stand abrufbar unter http://www.un.otg/law/icc/statute/ status.htm (Stand: 17.08.2000). 516 Vgl. dazu Richard Dicker, 32 Comell ILJ (1999), S. 471 (474 f.).

D. Reichweite der Bindungswirkung völkerrechtlicher Verträge

299

mit Ozon zerstörenden Stoffen (Montrealer Protokoll) oder bei dem Schutz bedrohter Pflanzen und Tierarten (CITES) der Fall. Der Schutz der Meere vor Verschmutzungen der Hohen See durch Schiffe oder der Schutz von Menschenrechten lassen sich dagegen auf diese Weise nicht wirksam durchsetzen. 517 Die Regelungsrnaterie ist darüber hinaus deshalb für die Wahl des Steuerungsmechanismus von Bedeutung, weil von ihr abhängt, wie schwer der Eingriff in die staatliche Souveränität, der mit jeder rechtlichen Drittwirkung und potentiell auch mit einer weitreichenden faktischen Drittwirkung verbunden ist, wiegt. Dieser Aspekt ist bereits im Zusammenhang mit den Art. 12 und 13 des Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs angesprochen worden, wo festgestellt wurde, daß das Recht der Strafverfolgung sehr viel enger mit der staatlichen Souveränität verknüpft ist als z. B. die Hafenstaatsjurisdiktion des Art. 218 (1) SRÜ. Jene Vorschrift schützt mit der Hohen See ein Rechtsgut jenseits der nationalstaatliehen Souveränität und greift in die Rechte des Flaggenstaates aus dem Flaggenstaatsprinzip ein. Dies bedeutet eine erheblich weniger intensive Beeinträchtigung der Souveränität als durch eine Beschränkung bzw. einen Entzug der Strafverfolgungsgewalt Für den Entschluß der Vertragsparteien, rechtlich drittwirkende Regelungen in den Vertrag aufzunehmen, sind weiter auch politische und taktische Erwägungen von Bedeutung. Die Statuierung einer rechtlichen Drittwirkung bedeutet einen sehr weitreichenden Schritt. Da die Staaten noch immer- oder gerade wegen der Auswirkungen der Globalisierung - ihre Souveränität stark betonen, stellt die Mehrheitsfähigkeit solcher Regelungen ein erhebliches Problem dar. Wo rechtlich nicht drittwirkende Regelungen ähnlich geeignet sind, das Vertragsziel voranzubringen, wird eher zu dieser Steuerungsform gegriffen, denn letztlich führt eine höhere Akzeptanz auch zu einer größeren Effektivität des Vertrages. Entgegen der klassischen Lehre, daß ein Vertrag für Drittstaaten eineresinter alios acta ist, werden heute allerdings auch Verträge mit einer rechtlichen Wirkung für dritte Staaten geschlossen. Die dogmatischen Ansätze, die in Reaktion auf die Veränderungen im Rahmen der Globalisierung erarbeitet worden sind (Tomuschat, Ziemer und Delbrück), sind somit kein rein theoretisches wissenschaftliches Konstrukt ohne Anwendungsfälle aus der völkervertraglichen Praxis. Vielmehr noch lassen sie sich außerdem wie gesehen auch auf Fallkonstellationen anwenden, die vom Grundanliegen her mit der Drittwirkung von Verträgen verm Von handelsbezogenen Maßnahmen der dargestellten Art zu unterscheiden ist die Möglichkeit, bei Verletzungen der Menschenrechte oder einer insgesamt schlechten Menschenrechtssituation in einem Land (Beispiel China) Druck auf die betreffende Regierung auszuüben, indem das Treiben von Handel mit diesem Staat von einer Verbesserung der Menschenrechtssituation abhängig gemacht wird.

300

Teil 3: Auswirkungen von Globalisierung auf völkerrechtliche Verträge

gleichbar sind (Beispiel Vorbehaltserklärungen zu Menschenrechtsverträgen). Die durch die Auswirkungen der Globalisierung vorgezeichnete Zurückdrängung des staatlichen "consent" wird hier bereits konkret sichtbar. Die von Tomuschat, Ziemer und Delbrück geteilten Anforderungen- Gemeinschaftsinteresse, Notwendigkeit der Regelung, Bedeutung internationaler Foren, Offenheit der Teilnahme an den Vertragsverhandlungen und des Beitritts zum Vertrag für alle Staaten - sind in allen untersuchten Praxisfällen bestätigt worden und können insofern als allgemeine Voraussetzungen für eine Bindung dritter Staaten an von anderen Staaten aufgestellte Regeln festgehalten werden. Bei der sehr unterschiedlich beurteilten Frage, worauf die rechtliche Bindung von Drittstaaten letztlich zurückzuführen ist, läßt sich keine eindeutige Bestätigung eines der Ansätze feststellen. Einiges spricht jedoch dafür, daß die Praxis am ehesten zu dem Ansatz Delbrücks tendiert, der von der absoluten Notwendigkeit einer Regelung auf deren rechtliche Geltung schließt und Drittstaaten direkt durch den Vertrag gebunden sieht. Damit wird praktisch die Konsequenz aus den Auswirkungen der Globalisierung auf die staatliche Souveränität gezogen. Entsprechend ist es auch dogmatisch nur konsequent, unter bestimmten Voraussetzungen eine Ausnahme von der Pacta-tertiis-Regel zuzulassen und die Bindung der Drittstaaten nicht auf schwierigen Umwegen zu begründen, die in der praktischen Anwendung häufig keine großen Unterschieden machen, aber unter Umständen in der Folge zu weiteren Unklarheiten führen, weil sie die Linien der bestehenden Dogmatik (z. B. zum Völkergewohnheitsrecht) noch weiter verwischen. Gleich aufwelchem Wege die Bindung dritter Staaten theoretisch begründet wird, die Praxis bestätigt jedenfalls die Annahme, daß die Pacta-tertiis-Regel von den Staaten nicht mehr zwingend als unantastbares Dogma behandelt wird, wo die Notwendigkeit einer Bindung aller Staaten besteht. Die rechtliche Verpflichtung dritter Staaten durch einen völkerrechtlichen Vertrag ist zwar kein Allheilmittel. Die ansatzweise Enttabuisierung dieser Vorgehensweise eröffnet aber die Möglichkeit, erforderlichenfalls die Reichweite der Bindungswirkung völkerrechtlicher Verträge auf Drittstaaten auszudehnen, um im gemeinsamen Interesse aller Staaten eine Unterwanderung des Vertrages und eine Gefährdung der Vertragsziele zu verhindern.

Teil4

Schlußbetrachtung "The classical view ofintemationallaw centers on states, relies on legal instruments to provide fixed solutions to clearly defined problems in a world that changes slowly, and assumes that states comply with most of their obligations most of the time" (Hervorhebungen von der Verfasserin). 1

Mit diesem Satz hat Edith Brown-Weiss das klassische Völkerrecht sehr treffend beschrieben. Bereits die ersten beiden Teile der vorliegenden Arbeit haben gezeigt, daß der Bezugsrahmen, in dem das so charakterisierte Völkerrecht operiert, seit geraumer Zeit und mit zunehmender Geschwindigkeit einen vielschichtigen Wandel erfährt. Eine Vielzahl gesellschaftlicher, politischer, wirtschaftlicher und anderer Aktivitäten durchlaufen zunehmend einen Prozeß dreifacher Entstaatlichung: 2 Die Verschiebung sozialer Handlungskomplexe über nationalstaatliche Grenzen hinaus führt zu einer Aufhebung der Kongruenz von Nationalstaat und Staatsgesellschaft und damit verbunden zu gesellschaftlicher Denationalisierung. Wo der Staat faktisch immer weniger in der Lage ist, effektiv steuernd in die ablaufenden Entwicklungen einzugreifen, ist von faktischer Entstaatlichung zu sprechen. Rechtliche Entstaatlichung schließlich ist dort gegeben, wo es zu einer Herausnahme ehemals öffentlicher Funktionen aus dem Aufgabenbereich des Staates und deren Übernahme durch nichtstaatliche Wirkungseinheiten kommt. Die Gesamtheit dieser Entwicklungen bewirkt eine Veränderung des Staates, seiner Aufgaben und seiner Stellung im internationalen System. Der Staat bleibt formell weiterhin voll souverän, die materielle Seite seiner Souveränität erfährt jedoch eine erhebliche Erosion, da er zur Erfüllung seiner Aufgaben auf weitreichende Kooperation mit anderen Staaten und nichtstaatlichen Wirkungseinheiten angewiesen ist. 3 Die Prozesse der Globalisierung sind damit im Verhältnis zu 1 Edith Brown-Weiss, in: Nandasiri Jasentuliyana (Hrsg.), Perspectives on International Law, S. 63 (64). 2 Teil!, A. II. 3 Teil 1, A. III. 1.

302

Teil 4: Schlußbetrachtung

ihrem Vorläufer, der Internationalisierung, sowohl "weiter" als auch "tiefer" .4 Sie werden von parallelen (Gegen-)Bewegungen begleitet, denen der Staat teilweise ausgesetzt ist (Tendenzen zur Fragmentierung des Staates, Renationalisierungsbestrebungen) und die er teilweise selbst betreibt (Entterritorialisierung nationalstaatlicher Gewalt). 5 Teil3 hat gezeigt, daß die dreifache Entstaatlichung, der damit umrissene Umbau des Staates, seiner Aufgaben und Regelungsmöglichkeiten, aber auch die sich ständig verändernden und steigenden Regelungsbedürfnisse in unterschiedlicher Hinsicht Auswirkungen auch auf das Völkervertragsrecht erzeugen. So sind die Staaten zwar weiterhin die Schlüsselfiguren völkerrechtlicher Verträge, es wird aber zunehmend auch anderen Akteuren und den Interessen, die diese vertreten, Bedeutung eingeräumt. 6 Grund für die weitere Einbindung nichtstaatlicher Akteure in die staatliche Aufgabenerfüllung ist häufig die faktische Entstaatlichung, die für eine Vielzahl von Sachbereichen festgestellt worden ist. Wo die Einbeziehung so weit geht, daß nichtstaatlichen Wirkungseinheiten Aufgaben übertragen werden, die ehernals vom Staat wahrgenommen wurden, ist rechtliche Denationalisierung gegeben. Alles zusammen stärkt und steigert den Einfluß dieser Akteure zunehmend, wodurch wiederum die gesellschaftliche Oenationalisierung befördert wird. Globalisierung und deren Auswirkungen beeinflussen auch die Art und Weise, wie völkerrechtliche Verträge gernacht werden, sowie die Struktur solcher Verträge. 7 Vielen Regelungsbedürfnissen der Gegenwart kann mit "fixed solutions to clearly defined problerns in a world that changes slowly" (s.o.) nicht mehr begegnet werden, denn die Welt verändert sich in vielerlei Hinsicht rapide und produziert komplexe Problematiken, für die es keine fertigen Lösungen mehr gibt. Entsprechend wird versucht, völkerrechtliche Verträge zu flexibilisieren und über Veränderungen des "treaty rnaking process" insgesamt schneller zu effektiven vertraglichen Regelungen J:U gelangen. Dabei ist u. a. eine Aufweichung des Erfordernisses zu beobachten, daß ein Staat allen ihm auferlegten Bindungen zustimmen muß. Eine ähnliche Tendenz konnte auch im Zusammenhang mit der Frage der Drittwirkung völkerrechtlicher Verträge nachgewiesen werden. 8 Die klassische Regel, daß völkerrechtliche Verträge Wirkung nur für die Vertragsstaa-

Teil!, C. Teil2. 6 Teil3, 8. 7 Teil3, C. 8 Teil3, D.

4

5

Teil 4: Schlußbetrachtung

303

ten erzeugen können (pacta tertiis nec nocent nec pro sunt), erfährt heute in verschiedener Hinsicht Einschränkungen, weil ein absolutes Festhalten an dem traditionellen Verbot der Drittwirkung in vielen Sachbereichen dringend erforderliche, im "public interest" liegende Problemlösungen blockieren würde. Das Konsensprinzip dominiert zwar weiterhin, es istjedoch nicht mehr unantastbar und wird stellenweise zugunsten hochrangiger Gemeinschaftsinteressen zurückgestellt. Die Praxisuntersuchung hat dabei als Voraussetzungen für eine Bindung dritter Staaten ohne oder sogar gegen ihren Willen bestätigt, daß erstens die betreffende Regelung zum Schutz des betreffenden Gemeinschaftsinteresses dringend erforderlich sein muß, daß zweitens die Ausarbeitung der Regelung im Rahmen einer großen Staatenkonferenz erfolgt sein sollte, an der möglichst viele nichstaatliche Wirkungseinheiten beteiligt gewesen sein sollten und drittens alle Staaten die Möglichkeit (gehabt) haben müssen, an der Schaffung der Regelung teilzunehmen (Möglichkeit der Teilnahme an den Vertragsverhandlungen und des Beitritts zum Vertrag). Inwieweit Drittstaaten bei Erfüllung dieser Voraussetzungen direkt durch die betreffende Vertragsregel, qua Gewohnheitsrecht, aufgrundeiner Geschäftsführung ohne Auftrag im Gemeinschaftsinteresse oder auch rein faktisch gebunden sind, ist eine Frage des Einzelfalls. Dogmatisch wäre es vorzuziehen, wenn anstelle komplizierter Konstruktionen ggf. ein klares Bekenntnis zu einer Ausnahme vom Verbot der Drittwirkung im gemeinsamen Interesse aller Staaten erfolgte. In der Praxis zwingen allerdings politische und taktische Erwägungen weiterhin in sehr vielen Fällen dazu, Abstriche von einer solchen deutlichen Position zu machen und Zwischenlösungen zu wählen, denn die Staaten sind trotz (oder gerade wegen) Globalisierung weiterhin bestrebt, zumindest ihre formelle Souveränität zu bewahren und Herr über die sie treffenden Bindungen zu bleiben. So konnten auch bei der Untersuchung der ausgewählten völkerrechtlichen Verträge unterschiedliche Stufen von Drittwirkung festgestellt werden. In ähnlicher Weise wurde schon in Teil 1 zwischen verschiedenen DenationalisierungsFormen von unterschiedlichem Charakter und unterschiedlicher Intensität (gesellschaftliche, faktische, rechtliche) differenziert. Dort wurde festgestellt, daß faktische Entstaatlichung eine Vorstufe zur rechtlichen Denationalisierung darstellt. 9 In Teil 3, D. ist deutlich geworden, daß weitreichende faktische Drittwirkung geeignet ist, den Weg für einen auch rechtlichen Verbindlichkeitsanspruch eines völkerrechtlichen Vertrages gegenüber dritten Staaten zu bereiten. Rechtliche Denationalisierung und rechtlich Drittwirkung (als Lösungsansatz 9 Ohne daß faktische Denationalisierung zwingend rechtliche Entstaatlichung nach sich ziehen muß.

304

Teil 4: Schlußbetrachtung

für die Drittstaaten-Problematik) bedeuten dabei jeweils einen besonders schwerwiegenden Eingriff in die Angelegenheiten und die Souveränität des betroffenen Staates. Die unterschiedlichen Stufen der Globalisierung (Denationalisierung) und der vertraglichen Drittwirkung bedingen einander nicht grundsätzlich. Eine ausschließliche, schematische Zuordnung der vertraglichen drittstaatsbezogenen Regelungsinstrumente zu den verschiedenen Stufen der Globalisierung (faktisch, rechtlich) ist nicht möglich, da die Wahl des Instrumentariums und damit verbunden die Frage, wie weit die Zurückdrängung des staatlichen Konsens reicht, stets auch von den Umständen des Einzelfalls -dem Regelungsgegenstand, politischen Erwägungen und, noch immer auch, der Mehrheitsfähigkeit des Lösungsansatzes - mitbestimmt wird. Beide hängen aber dennoch in bestimmter Weise miteinander zusammen: Um der faktischen Entstaatlichung entgegenzuwirken, müssen die Staaten intensiv kooperieren. Der Erfolg dieser Bemühungen hängt wesentlich von einer hohen Beteiligung (z. B. an dem betreffenden Vertrag) und der Verhinderung des Trittbrettfahrens dritter Staaten ab. Die zunehmend praktizierte Erzeugung faktischer Drittwirkung durch vertragliche Regelungen ist ein Mittel zur Erreichung dieses Ziels (Bsp. Montrealer Protokoll). Mit steigendem Grad der faktischen Denationalisierung und der Gefahr einer Unterwanderung der gemeinsamen Bemühungen durch sog. "free rider" wird u. U. sogar die Herausbildung einer rechtlichen Drittwirkung des betreffenden Vertragsinstruments denkbar. Wo bestimmte Funktionen bereits aus dem staatlichen Aufgabenbereich ausgegliedert worden sind, d. h. wo rechtliche Entstaatlichung bereits erfolgt ist, betrifft auch eine rechtliche Drittwirkung vertraglicher Regelungen die Souveränität der Nicht-Vertragsstaaten nur noch eingeschränkt. Entsprechend müßten Regelungen dieser Art eher mehrheitsfähig und leichter zu erzielen sein. In den Fällen, in denen eine (potentielle) rechtliche Drittwirkung des betreffenden völkerrechtlichen Vertrages festgestellt wurde, liegt gleichzeitig auch (potentielle) rechtliche Entstaatlichung vor. Es wird dem betreffenden Drittstaat das Recht abgesprochen, in bezug auf die betroffene Sachfrage einen eigenen Lösungsansatz zu wählen und zu verfolgen und dabei nationale Belange und Ziele über solche Interessen zu stellen, die die internationale (Staaten-)Gemeinschaft für höherrangig befunden hat. So bestimmt beispielsweise Art. 218 (1) SRÜ, daß kein Flaggenstaat- gleich ob Mitglied des SRÜ oder nicht- mehr die ausschließliche Kompetenz zur Durchsetzung der einschlägigen Vorschriften zum Schutz der Hohen See besitzt. Diese muß er sich mit den Hafenstaaten teilen, die Mitglied des SRÜ sind. Ähnlich wird im Zusammenhang mit der

Teil 4: Schlußbetrachtung

305

Zulässigkeil von Vorbehaltserklärungen zu Menschenrechtsverträgen den Vertragsstaaten das Recht genommen, die Reichweite der vertraglichen Bindung, der sie sich unterwerfen wollen, frei zu bestimmen. Auch hier werden die vertraglich geschützten Interessen über die nationalen Belange der Vertragsstaaten gestellt. Die so beschriebene Herausnahme ehemals originär staatlicher Aufgaben und Kompetenzen aus dem ausschließlichen Zuständigkeitsbereich des Staates kann daher als Entstaatlichung im Interesse des Allgemeinwohls bezeichnet werden. Eben so, als "process of denationalization ( ... ) for the sake of the common good" definierte bislang, wie in Teil 1 gesehen, Delbrück den Begriff der Globalisierung. Aus der hier verwendeten Arbeitsdefinition ist dagegen das Erfordernis der Gemeinwohlförderung bewußt herausgelassen worden, um den Kreis der bei der Untersuchung des Völkervertragsrechts zu berücksichtigenden Entwicklungen nicht unnötig einzuengen. Diese Entscheidung zugunsten eines primär deskriptiven und gegen eine normative Aufladung des Begriffs wird somit positiv bestätigt: Die normative Globalisierungsdefinition bezeichnet nur solche Entstaatlichungsprozesse als Globalisierung, die der Bewältigung von Problemen dienen, welche durch die Globalisierung im Sinne dreifacher Entstaatlichung und damit einhergehende Konsequenzen hervorgerufen werden. Der Begriff der Globalisierung wird somit auf von Denationalisierung geprägte (Problemlösungs-)Strategien beschränkt, wie z. B. auch das von Delbrück vertretene Konzept der "public interest norms" - die Bindung dritter Staaten durch vertragliche Regelungen, deren Allgemeinverbindlichkeit im gemeinsamen Interesse aller Staaten und Menschen erforderlich ist. Diese globalisierten Strategien sind insofern integral mit der Förderung des Gemeinwohls verbunden. Wäre ein solches normatives Verständnis von Globalisierung in Teil 3 zugrunde gelegt worden, so hätten Prozesse der gesellschaftlichen und faktischen Denationalisierung aus den Untersuchungen herausgelassen werden müssen. Gerade diese spielen jedoch, wie gesehen, insbesondere im Umweltund im Menschenrechtsbereich eine bedeutende Rolle und bilden die Vorstufe und auch den Wegbereiter für Prozesse der rechtlichen Entstaatlichung. Dies hat zwischenzeitlich auch Delbrück zu einer entsprechenden Abänderung seiner Globalisierungsdefinition veranlaßt, so daß er Globalisierung nunmehr definiert als "a process of denationalizationldeterritorialization of clusters of political, economic and social processes involving national and international actors, public and private leading to a global interconnectedness of these actors in time and space including individuals." 10 Die abnehmende Staatenzentriertheil der transnationalen Akteure ermögliche es diesen, das Staatengemeinschaftsinteresse zu 10

lost Delbrück, 11 SZIER (2001), S. 1 (16).

20 Hingst

Teil 4: Schlußbetrachtung

306

erkennen, wenn auch nicht notwendigerweise zu verfolgen. In diesem Sinne sei Globalisierung auch ein nornatives Konzept. 11 Zusammenfassend läßt sich somit feststellen: Die Veränderungen im Bereich des Völkervertragsrechts sind ein Spiegel der Globalisierung und der damit einhergehenden Auswirkungen insgesamt. Es wird die Herausbildung eines weniger streng hierarchischen internationalen Systems erkennbar, in dem die Staaten- zunehmend zu Netzwerken verbunden - zwar weiterhin eine bedeutende Rolle einnehmen, das aber zugleich entscheidend von nichtstaatlichen Akteuren mit geprägt wird und in dem auch das Individuum eine Rolle spielt. Durch die zunehmende Vernetzung der Staaten und Menschen werden immer mehr Sachbereiche Gegenstand eines gemeinsamen (öffentlichen) Interesses. Da Globalisierung diesen teilweise zuwiderläuft, wird selbst das vom staatlichen Konsens beherrschte Völkervertragsrecht für Verfahrens- und Regelungsmechanismen geöffnet, die hochrangigen Gemeinschaftsinteressen den Vorrang vor einzelstaatlichen Interessen und erforderlichenfalls auch der staatlichen Souveränität verschaffen. Wo die Staatenmehrheit den Schritt zu einer rechtlichen Inpflichtnahme dritter Staaten getan hat, wird ein allmählicher Wandel des Völkerrechts von einem rein auf zwischenstaatlichem Konsens beruhenden Recht zu einer stärker verfaßten, objektiveren Ordnung sichtbar. Der Prozeß der Konstitutionalisierung, der oben angesprochen worden ist, wird weiter vorangetrieben und gewinnt an Dynamik. Man mag einzelne der hier angeführten Beispiele nicht überzeugend finden und nicht allen daraus gezogenen Schlußfolgerungen zustimmen. Da Globalisierung kein einheitlicher, homogener Prozeß ist und grundlegende Veränderungen, wie sie durch die Globalisierung bewirkt werden, immer auch aufWiderstand treffen, müssen Phasen der Stagnation ebenso wie Rückschritte mit einkalkuliert werden. Die Gesamtheit der Entwicklungen ergibt jedoch ein Mosaik, welches die Konturen einer veränderten Struktur des internationalen Systems und des Völkervertragsrechts als Bestandteil dieses Systems erkennbar werden läßt- vorausgesetzt man ist bereit, diese zu sehen.

11

Jost Delbrück, ibid.

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CLC Convention 69 CLC Protocol 76

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CLC Protocol 92 FUND Convention 71 FUND Protocol 76 FUND Protocol 92 NUCLEAR Convention 71

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LLMC Convention 76

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