Aus Arbeit und Leben: Erinnerungen und Rückblicke [Reprint 2020 ed.]
 9783112337769, 9783112337752

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Aus Arbeit und Leben Erinnerungen und Rückblicke von

3. Tews

Berlin und Leipzig 1921 Vereinigung wissenschaftlicher Verleger Walter be Gruyter S (So. Dormals G. 3. GSschen'sche Derlagshandlung / 3. (Sutfenfag Verlagsbuchhandlung Georg Reimer / Karl 3- Trübner / Dell & Somp.

Druck von Gerhard Stalling, Oldenburg i. O.

Inhalt: Seite

Einleitung.................................................................................. 5 1. Adlunst, Heimat, Jugend................................................ li 2. Seminarzeit ................................................................... 47 3. Erste Schultätigkeit in Falkenburgund Dramburg . . 69 4. 3n Stettin...................................................................... 90 5. 3n Berlin......................................................................... 99 6. Schriftstellerische Arbeiten................................................lio 7. Staatliche Schulfiihrung................................................ 122 s. Zn Lehrervereinen und Lehrerversammlungen............ 135 9. 3n der Gesellschaft für Volksbildung, preußische Unterrichtsminister...................................................... 156 10. Auf dem Wege zum Volksvertreter .............................. 169 11. Auslandsbeziehungen undAuslandsreisen...................... 174 12. Daheim.............................................................................. 200 13. 3m Weltkriege.................................................................. 208 14. Lebensanschauungen.......................................... 218 15. Und was nun?.................................................................. 235 Blattweiser........................................................................239 3. Tews, Schriften über staatliche Schulführung und

Schulpflege.................................................................. 244

Einleitung. Als die Verlagsbuchhandlung an mich herantrat, meine Lebenserinnerungen zu schreiben und zu veröffentlichen, schwankte

ich längere Zeit, ob ich dieser Aufforderung entsprechen sollte. Was sollen Lebenscrinnerungen bringen? Allgemeines, alle

Angehendes in besonderer Erscheinung, das Menschenleben im Einzelleben, den Menschen in einem von ihnen. Und doch auch nicht den Menschen im granen Alltagskleide. Davon zeigt der Alltag ohnehin genug. So ist es immer ein Wagnis, sein Leben zu beschreiben. War es ein Leben, das über lichte Höhen, durch tiefe Täler, an Ab­ gründen vorbei führte? Ein Kämpferdasein, ein Ringer- und Bezwingerleben oder nur ein öder Alltag? Wer will den sehen! Wer ein reiches Innenleben geführt hat, vermag, auch wenn die äußeren Lcbensereignisse wenig Außergewöhnliches bieten,

dem Leser etwas zu geben.

Andere können durch Darstellung

ihres bunten, ereignisreichen, abenteuerlichen äußeren Lebens fesseln, und, wenn sie gute Erzähler sind, was ich nicht zu sein

glaube, in ihrem Lebensbilde dasselbe geben, was der Dichter im Roman bietet. Aber für gewöhnlich wird die Person des

Erzählers doch zurücktreten müssen zugunsten dessen, was in der Zeit, im großen völkischen, staatlichen, wissenschaftlichen, künst­ lerischen Leben und im beruflichen Schaffen und Ringen in

weiteren Kreisen sich vollzog. Nur da vermag sich der Mensch so auszuleben und auszuwirken, daß sein Leben nicht nur ihm selbst,

sondern auch anderen etwas ist. Goethe hat uns ein wohl für

immer unerreichbares Muster einer Lebensdarstellung gegeben, und wer heute sein Leben beschreibt, kann an ihm und seinem

Vermächtnis nicht vorbei. Lebenserinnerungen müssen also auch Geschichtsquellen sein, lebendige Spiegelbilder der Zeitereignisse, Spiegelbilder der Zeitereignisse unter erkennbarer Mitwirkung

des Erzählers.

Eine solche Lebensdarstellung wird auch das

Wecken, was Goethe von der Geschichte überhaupt verlangt, sie

wird Enthusiasmus erregen, Vorbilder und Muster für die eigene

Arbeit, den eigenen Kampf und das eigene Leben des Lesers geben und damit Aneiferung zu freudigem Streben, aber auch Trost

in trüben Tagen, bei Niederbrüchen und Niederlagen. Wenn wir

sehen, wie andere der Schwierigkeiten Herr wurden, die ihnen im Wege standen, werden wir selbst den Schwierigkeiten zu begegnen und sie zu überwinden suchen. Vor kurzem jährte zum zweiten Male der Tag, der uns den deutschen Volksstaat brachte, und nach wenigen Tagen feierten wir das 50jährige Bestehen des von Bismarck begründeten Deutschen Reiches. Meine ersten deutlichen Erinnerungen reichen zurück in die Geburtsstunden der von Millionen ersehnten und endlich mit Blut und Eisen in einem geschlossenen staatlichen Gebilde verwirklichten deutschen Einheit. Zwischen diesem großen Ereignis und heute liegt mein Leben, mein Werden, mein Arbeiten und Ringen, liegen auch meine Niederlagen und Erfolge. Wenn im Weltkriege die Fahnen an den Berliner Häusern

flatterten, dann tauchte vor mir immer ein heller, heißer Julitag

auf, an dem auf dem alten Kirchturm der hinterpommerschen Kleinstadt Dramburg die Fahnen hingen, die den Sieg von

Königgrätz verkündeten. Wie heute sehe ich sie noch wehen, und noch heute klingt der Jubel in mir wieder, der damals mein

junges Herz erfüllte.

Eben sechs Jahre alt geworden, empfand

ich zwar dunkel, aber doch tief, was um uns vorging. Aus dem Kriege von 1870/71 erinnere ich mich eines ähn­

lichen Erlebnisses nicht. Aber um so deutlicher vieler anderer Einzelheiten. Abend für Abend saß ich am Herdfeuer und las den Eltern, Geschwistern und Nachbarn aus der Zeitung die

Heeresberichte und die Listen der Gefallenen Wort für Wort vor. Auf jeden Sieg machte der Zehnjährige ein Gedicht, schrieb es

G

auf seine Schiefertafel und las es mit dem ganzen Feuer der

jugendlichen Begeisterung vor. Daß der Schwamm diese Schöp­

fungen am nächsten Morgen, wenn dasselbe Schreibmittel wieder auf der Schulbank gebraucht wurde, austilgen mußte, ist jeden­

falls für das deutsche Schrifttum kein Verlust gewesen. Trotzdem glaube ich, daß bei anderem Lebensgange aus mir ein bescheidener Dichter hätte werden können. Nicht dieser Reime wegen, sondern weil ich immer, bis ins reifere Alter, eine starke Neigung zur

freien Gestaltung der Dinge gehabt habe.

Wissenschaft, Beruf

und öffentliches Leben haben mir erst die Achtung vor den nüchternen Tatsachen aufgezwungen, und, meiner Einbildungs­ kraft nicht trauend, habe ich mich zur zahlenmäßigen Erfassung und Behandlung der Dinge und Verhältnisse mühsam selbst

erzogen. Meine Schulzeit fiel in ihrem ersten Teile in die schlimmsten Armseligkeiten der preußischen Regulative, führte aber den Vier­ zehnjährigen in den Frühling der Falkschen Jahre hinein, mitten in jene hoffnungsvolle, keim- und blütenreiche Zeit, der eine volle

Ernte leider nicht gefolgt ist. Im Seminar rangen Gegenwart

und Vergangenheit hart miteinander, enger und freierer Geist; in den ersten Amtsjahren desgleichen. Bald in die Großstadt ver­

schlagen, wandte ich mich schreibend, redend und arbeitend den Fragen des öffentlichen Bildungswesens zu, und dabei bin ich geblieben bis heute. Von den Arbeiten und Kämpfen, die mir dabei erwuchsen, und von den staatlichen und Schulzuständen der in Betracht kommenden Zeit wird dieses Buch besonders erzählen. Nach Rang, Titeln und sonstigen Auszeichnungen habe ich nicht gestrebt.

Soweit Anerkennungen mir geworden sind, besonders

durch Beurkundungen derjenigen, mit denen und für die ich ar­

beitete, und durch Wertschätzung^ und Freundschaftsbezeigungen ausgezeichneter Menschen, bin ich dafür dankbar, und ich bin auch nicht unempfindlich für freundlichen Blick und gutes Wort. Aber Gebrauch habe ich von diesen Dingen nie gemacht. Die Urkunden ruhen im Familienschrein, von lieber Hand lange sorgsam gehütet, und sollen auch hier nicht das Tageslicht erblicken. Es ist heute

die grötzte Auszeichnung, wenn man jemanden nur bei seinem Namen nennt, und doch ein weiterer Kreis mit einiger Achtung zu ihm hinüberblickt. Leider habe ich Tagebücher nicht geführt und Briefe, Zeitungsberichte und sonstige Urkunden nicht planmäßig ge­ sammelt. Was ich erzähle, muß ich darum zumeist dem Gedächtnis entnehmen. Es wird also auch, wie bei manchem andern, der vor mir Lebenserinnerungen geschrieben hat, Wahrheit und Dichtung oft durcheinanderfließen. Noch eines hier vorweg. Man hat mir auf meinem Lebens­ wege oft Steine in den Weg geworfen, so daß ich in der Richtung, in der ich augenblicklich ging, nicht weiterkommen konnte. Das hat mir manche bittere Stunde bereitet. Heute bin ich aber allen diesen „Freunden" dankbar. Meine Gegner haben zur freund­ lichen Gestaltung meines Lebens, soweit es heute hinter mir liegt, mehr beigetragen, als manche wirkliche Freunde oft vermochten, und ob es mir besser ergangen wäre, wenn man mir nicht hin und wieder Liebesdienste der gedachten Art erwiesen hätte, weiß ich wirklich nicht. Jedenfalls blicke ich auf alle diese Dinge heute ohne Schmerz zurück und ohne Groll auf die Urheber. Wenn also harte Urteile fallen, so gelten sie der Sache und nicht den Menschen, die ihren kleinen oder großen Anliegen zu dienen glaubten oder nur ihren Leidenschaften folgten und sich dabei ihrer Verantwortung auch wohl nicht immer bewußt waren. „Teuer ist mir der Freund, Doch auch den Feind kann ich nützen. Zeigt mir der Freund, was ich kann, Lehrt mich der Feind, was ich soll," sagt Friedrich Schiller. Und der alte Rollenhagen in seinem „Froschmeuselerkrieg" bemerkt treffend: „Ein Narr ist, der seinen Feind veracht't." Offene Feinde sind auch oft heimliche Freunde, und öffentliche Freunde leider oft genug heimliche Feinde. Gegen erstere kann man sich wehren, und ich erfuhr es öfter, daß eine kräftige Abwehr den Gegner innerlich entwaffnete, so daß er mir nichts Arges mehr zufügte. Meine Klinge hat mir mehr Menschen

befreundet als mein Helles Lachen, worin man oft Spott oder gar

Hohn hören mochte, wenn es auch noch so gutmütig sein sollte. Alles in allem hat Cicero Wohl recht, wenn er meint, daß der Mensch oft selbst sein größter Feind sei. Ich neige sogar der

Ansicht zu, daß es andere Feinde als die eigenen Unvollkommen^

heilen, Versäumnisse und Pflichtverletzungen, andere Gegner als

eigenen Haß und eigene Leidenschaft in der Regel überhaupt nicht gibt. Die anderen Feinde sind zumeist Antreiber zu Besserem, die Feinde im eigenen Hirn und Herzen sind unsere Verderber. Sich gegen sie zu schützen — das ist der große, nie zu Ende geführte Kampf jedes, auch des besten Sterblichen, die nie völlig erreichte Selbstbezwingung und Selbsterziehung.

1. Abkunft, Heimat, Jugend. Unser Schicksal ist zum größten Teil lange vor unserem Eintritt in unser irdisches Dasein entschieden. Ich wenigstens fühle und sehe mein Leben in allem Wesentlichen als das un­ mittelbare Ergebnis dessen, was ich ererbt habe, als ein Ergebnis der Kräfte, Neigungen und Leidenschaften, die in mir natur­

gegeben walten. Eine weitergehende Bedeutung eigener freier Entschließungen kann ich nirgends feststellen. Bei andern mag es anders sein oder doch anders scheinen. Starke Willensmenschen, zu denen ich mich nicht zählen darf, glauben wenigstens, daß sie aus ihrem Eigenen heraus vieles oder alles frei gestaltet und geschaffen haben, ihrem eigenen freien Wollen, Können und Tun

alles verdanken. Aber sie irren jedenfalls. Auch sie verwalten nur ihr Ererbtes gut oder schlecht, ihr Erbteil, das eben hauptsächlich Willenskräfte sind. Bei mir hatten andere Kräfte die Herrschaft:

die unmittelbare lebhafte Anteilnahme an den Dingen, an der Arbeit, an dem, was in mein Leben und meinen Gesichtskreis kam. Und dieser Gesichtskreis: die Umwelt, das Elternhaus, die

Schule, die Jugendgenossen, die Arbeit, das ist das zweite, was zumeist gegeben ist und von uns kaum geändert werden kann. Ob es groß oder klein, wenig oder viel ist, hat die Seelenkunde bisher

nicht feststellen können. Die Weltweisheit versuchte es lange, die Freiheit oder Gebundenheit des menschlichen Willens darzutun, kam aber über Glauben und Meinen auch nicht weit hinaus. Das Wachsen und Werden und das ganze Leben jedes Menschen ist im wesentlichen wohl ein Ergebnis aus seiner

Eigenart und aus seiner Umgebung. Die Eigenart ist gegeben. Sie kann aber durch Erziehung gemodelt, ererbte Kräfte und

Neigungen können verstärkt oder abgeschwächt, so oder anders umgebogen, auf diese oder jene Gegenstände gelenkt werden; viel mehr vermag der Erzieher beim Zögling nicht. (Vgl.: Ein Volk — Eine Schule, 1. Ausl. S. 9—22.) Im ganzen geht die

Macht der Erziehung über das nicht hinaus, was tüchtige Gärtner und Tierzüchter können. Viele Erzieher vermögen sogar weitaus weniger. Sie müssen sich oft mit einer Einwirkung auf den Zög­

ling begnügen, die etwa dem entspricht, was der Lichtbildner Verstärken oder Abschwächen des Kehrbildcs oder Retusche der fertigen

Aufnahme

nennt.

Zum

Glück

wissen

die

meisten

das nicht. Erheblicher sind die Änderungen, die durch Umgestaltung oder Wechsel der Umgebung entstehen, dies Wort im weitesten

Umfange verstanden. Wenn ein Kind aus einer schlechten in eine gute, aus einer geistig stumpfen in eine geistig rege Haus- oder Schulgemeinschaft verpflanzt wird, wenn es vom Lande in die Stadt, aus der Kleinstadt in die Großstadt, aus ödem Flachlandc ins reizende Gebirge, aus unentwickelten Arbeitsverhältnissen in

hochgesteigertes Gewerbeleben kommt, so ändert sich damit die Entfaltungs- und Gestaltungsmöglichkeit ungemein. Alles das aber sind auch wieder Gegebenheiten, nicht eigene, vom Wollen und Können des Erziehers geschaffene Einwirkungen. Selbst daß wir dieses suchen und jenes meiden, diesem uns hingeben und

jenes abwehren, ist die Wirkung gegebener, ererbter Eigenschaften. Das wissen, verpflichtet dazu, den jungen Menschen zu nehmen,

wie er ist, und nun zu versuchen, ihn zu gestalten, wie er sein soll. Gelingen können aber nur Erziehungsbemühungen, die in den Grenzen des Gegebenen bleiben und auf genauer Kenntnis des Kindes selbst und klarer Erkenntnis des Wertes oder Unwertes

seiner Erbschaften beruhen.

Bei jedem Menschen fragt man deswegen nach Art und Stamm, nach Sippe und Familie, also nach seiner Abkunft, nach

seinen Vorfahren, seinen Ahnen, wenn er welche hat bzw. sie kennt, was bei der Mehrzahl der Menschen bekanntlich nicht der

Fall ist, und nach seinem Wohnort, seiner Heimat, seinem Schulund Bildungsgänge. Ich weiß über meine Vorfahren wenig. Bei einem Men­

schen, der aus einem Bauerngeschlecht des ostdeutschen Siedelungsgcbietes stammt, aus dem Gebiete, wo Deutschtum und Slawen­ tum noch bis in unsere Tage, wenn auch äußerlich nicht mehr

erkennbar,

miteinander

ringen,

wird

man

das

auch

nicht

erwarten. Ob meine Vorfahren als gemeine Troßknechte mit edlen Waffenträgern oder aus eigenem Drange als freie Bauern in den Osten gekommen sind, ich weiß es nicht. Geschichtliche Urkunden darüber besitze ich nicht, und der Name, sonst ein Weg« weiser, freilich ein nicht gar zu sicherer, sagt darüber auch nichts; denn seine Herkunft und Bedeutung ist nicht ganz eindeutig. Tews

hieß der lettische Obcrgott (wohl eine Umgestaltung des Namens des griechischen Zeus) und bedeutet der Donnerer, der Polterer. An einen Zusammenhang mit dem Lettentum habe ich indessen nie glauben können und glauben mögen. Auch daß das Wort tew (schlagen) im Englischen vorkommt, hat mich nie zu der Annahme verführt, ein ins ostdeutsche Tiefland versprengter Eng­ länder zu sein. Das häufige und zerstreute Vorkommen des Namens, insbesondere im deutschen Osten, rechtfertigt wohl die Annahme, daß er, wie so viele unserer Familiennamen, ein ver­

kürzter Vorname ist.

In Heinze, „Die deutschen Familien­

namen", wird der Name Tews auf Matthäus zurückgeführt, von dem zweifellos auch die Namen Mattheus, Matthes Herkommen und im Anlaut verkürzt auch wohl: Thees, Thesen, Thesing, Thewes, Thews, Tewes, Tews. In einem hinterpommerschen Kirchenbuche kommt 1650 der Name Tewes als Vorname („Tewes Wendorp") vor. Rassenforscher haben mir wiederholt gesagt, mein Schädel sei ein echter niedersächsischer Bauernschädel,

und meine Vorfahren seien höchstwahrscheinlich aus Westfalen nach Pommern gekommen. Mir ist die Vorstellung, daß die

Wiege meiner Ahnen in Niedersachsen

gestanden

habe,

offen

gestanden, auch anheimelnder als irgendwelche sonstige Abkunft. Die Schädelkundigen sollen also recht haben. Die ganze

Bevölkerung jener Gegend ist niedersächsisch und spricht auf dem Lande ein Plattdeutsch, das leider noch keinen Reuter gefunden hat, seiner Lautbildung nach aber nicht zu den weniger entwickelten Formen der plattdeutschen Mundart gehört. Ich spreche es seit meinem vierzehnten Jahre nicht mehr, die Nähe der Stadt und die Stadt selbst brachten es mit sich, daß die Schüler schriftdeutsch sprachen. Man kann ja be­ dauern, daß das lautlich so einfache Niederdeutsch nicht die deutsche Schriftsprache geworden ist; aber das ist seit Luther zu unseren Ungunsten entschieden. Heute ist es staatlich und völkisch von Vorteil, wenn wir zu einer einheitlichen, reich entwickelten und lebendig sich weiter entwickelnden deutschen Gemeinsprache kommen, einer Sprache, die an der Donau und an der Zugspitze ebensogut verstanden wird als in Memel und auf den Friesischen Inseln. Soweit ich meine Stammesgeschichte zurückverfolgen konnte, habe ich über meine Vorfahren folgendes festgcstellt: Mein Groß­ vater väterlicherseits stammte aus einem großen Bauernhöfe von 400 Morgen in Bernsdorf, Kreis Regenwalde. Bei Großbeeren verlor er den rechten Arm. Das machte ihn nach der gemütvollen Auffassung seiner Eltern und Angehörigen zum Großbauern untauglich. Er mußte mit einer kleinen Aussteuer abwandern und erwarb eine von den kleinen, damals in jener Gegend viel­ fach gegründeten Siedlungen — 15 Morgen Acker und 4 Morgen Wiese. Sich selbst durchs Leben zu schlagen, ohne den geschützten Hintergrund eines großen Anwesens, erschien den Angehörigen für den Einarmigen offenbar leichter, als den väterlichen Besitz zu verwalten. Die Siedlung, Heinrichsfelde, Kreis Regenwaldc, liegt in ziemlich reizloser Gegend, im Hintergründe ein Wald, zwischen den beiden Reihen der Gehöfte die Ackerpläne und ein ausgedehnter torfiger Wiesengrund. Die Siedlungen gaben wegen ihrer Kleinheit auch den anspruchslosesten der Besitzer nicht aus­ reichende Nahrung. Sie mußten auf den benachbarten Gütern hinzuerwerben, namentlich in der Ernte. Die Unternehmungs­ lustigeren suchten natürlich den Besitz durch Hinzukauf oder Pacht

ZN vergrößern, wozu aber nur wenig Gelegenheit war. Ob man heute trotz des vielen Schreibens und Redens über die „eigene Scholle" ebenso viele derartige Siedlungen ins Leben rufen wird als damals, erscheint mir zweifelhaft. Der Großvater fand sich mit seiner Lage ab. Er mähte und ackerte mit seinem einen Arm mehr, als mancher mit zweien, und erzog seine neun Kinder zu tüchtigen Menschen. Er erfreute sich offenbar eines großen An­ sehens. Jahrzehnte nach seinem Tode sagte mir ein eisgrauer Tagelöhner, der ihn genau kannte, mit Tränen in den Augen: „Jung, wa so, as Dia Großvotta, dat was a Keal as a Steia." Dieser fromme Wunsch hat sich leider nicht erfüllt. Ich habe, was Gesundheit und Körperkraft anbetrifft, mehr mütterliches als väterliches Erbteil abbekommen. Der älteste Sohn, mein Vater, ererbte den kleinen Besitz, die jüngeren Söhne starben teils im Vaterhause, teils im Militär­ waisenhause in Potsdam, in das sic als Kinder eines Invaliden Aufnahme fanden, an der verbreitetsten Krankheit jener Zeit, der — Schwindsucht. Bon den Schwestern starb auch eine früh, eine ging nach Amerika, die dritte wurde die Frau eines Siedlers in der Nachbarschaft. Die Söhne meines Großoheinis, der den Hof geerbt, aber früh gestorben war und einen Nachfolger in Besitz und Ehe gefunden hatte, suchten und fanden jenseits des großen Teiches die eigene Scholle, die ihnen die Heimat, das mit ausgedehntem Großgrundbesitz gesegnete Ostclbien, nicht bieten konnte. Sie und ihre Nachkommen sind drüben reiche Farmer geworden, wie mir Rückwanderer berichtet haben. Ich selbst weiß von ihnen nichts. Bauern schrieben damals noch nicht viel. Der Briefwechsel mit meinem Vater war schon ein­ geschlafen, als ich selbst lesen und schreiben gelernt hatte, angeblich, lveil die Briefe von hier nicht ans Ziel kamen. Meine Mutter stammte ebenfalls aus einem großen Bauern­ höfe in Alt-Storkow bei Nörenberg. Der Hof reichte aus, um für drei jüngere Schwestern besondere Wirtschaften daraus zu machen. Die älteren Töchter aber verheiratete der tiichtige Großvater nach auswärts. So kam meine Mutter auf die Siedelung. Ihre besser-

gestellten Schwestern haben diesen Abstieg nie vergessen, und ihre Kinder bekundeten den Bauernstolz uns gegenüber noch öfter recht deutlich. Die Aussteuer war damals gering. Mit 500 Talern ging meine Mutter aus dem großen Anwesen, um in lebens­ langer harter Arbeit mit ihrem Erwählten um die Wette sich zu plagen und doch wenig genug zu erreichen. Die Landwirtschaft war damals nur unter besonders guten Verhältnissen einträglich. Mein Geburtshaus stand in Heinrichsfelde. Es vereinigte Wohnhaus, Stall und Scheune unter demselben Strohdache. Ein Garten lag um die Wohnstätte herum, Acker- und Wiesenplan schlossen sich unmittelbar an. Hier wurde ich am 19. Juni 1860 als sechstes lebendes Kind meiner Eltern geboren. Die Geburts­ zeit (St. Johannis, 24. Juni) gab mir den in der Familie auch sonst gebräuchlichen Vornamen, der in den älteren Geschlechtern in „Hann" abgekürzt war. Ich selbst wurde Johannes gerufen. Der Name war aber bereits im Aussterben begriffen, in der Stadt kaum noch gebräuchlich, und deswegen hätte ich gern einen anderen, „zeitgemäßen", gehabt. Von den Stadtbuben, die an mir kein ungemischtes Wohlgefallen fanden, wurde er später gern und reichlich zu Neckereien und kleinen Bosheiten benutzt. Für meine arbeitsamen Eltern war der Besitz zu klein. Sie mußten mehr haben, mußten sich mehr Plagen, als cs in ihrer Umgebung nötig und gebräuchlich war. Das lag in der bäuer­ lichen Überlieferung. Im Frühjahr 1861 vertauschte darum mein Vater die Siedlung gegen eine mehr als dreimal so große Besitzung auf dem Dramburger Stadtfelde, unmittelbar an der Grenze des Regierungsbezirks Stettin. Die Besitzung war größtenteils noch Ödland, mit Steinen, Sträuchern und Bäumen besetzt, von zahlreichen Teichen (Solls), Torfwiesen und liefen Einschnitten unterbrochen. Hier wohnten wir auf freier Höhe, gegen den Osten im kalten Winter fast zu frei, vor uns die hügelige Landschaft des hinterpommerschen Höhenzuges, und der Kirchturm der alten 1296 gegründeten Kolonialstadt Dramburg schaute freundlich zu uns herüber und verband unsere Einöde mit der Welt. Zahlreiche kleine städtische Ackerstücke lagen v*'»

mittelbar an unserer Besitzung, und die Städter, Ackerbürger und kleine Handwerker, pflegten den Sommer hindurch, wenn sie dort ihre landwirtschaftlichen Arbeiten verrichteten, freundliche Nachbar­ schaft mit uns. So wuchs ich in halb ländlichen, halb städtischen Verhältnissen auf, aber ich habe zur Stadt immer eine nähere innere Beziehung gehabt als zum Lande. Die geistige Überlegen­ heit der Stadt habe ich sehr früh stark empfunden. Namentlich ist mir das eigentliche Dorfleben, trotz vieler gelegentlicher Besuche bei den Verwandten im Stammdorfe meiner Mutter, immer innerlich fremdgeblieben, ja, ich gestehe offen, daß ich stets eine gewisse Abneigung gegen alles Dörfliche und Bäuerliche gehabt habe. Zufälligkeiten mögen dabei mitgespielt haben, am meisten aber, daß ich als kleiner Junge von den Städtern, die in meinen Gesichtskreis kamen, manche unerwartete Freundlichkeit erfuhr. Es waren darunter Männer mit tüchtiger Bildung, Leiter gut geführter Geschäfte, die es sich nicht verdrießen ließen, den frage­ lustigen Jungen über alles Mögliche zu belehren, und die auf ihrem Wagen stets einen Platz für mich frei machten, wenn ich Botengänge nach der Stadt zu verrichten hatte, während der Bauer im ganzen nicht kinderfreundlich ist, mit einem Jungen meiner Art wenig anzufangen weiß und auch kleine Liebesdienste gedachter Art nur ungern erweist. Sein Pferd steht ihm bekannt­ lich sehr viel näher als ein fremder Mensch. Einsam waren die Winter- und Herbsttage im Vaterhause. Dann kam nur der Briefbote einigermaßen regelmäßig vorbei und, auch wenn er nichts zu bestellen hatte, ins Haus; denn einen Trunk oder auch eine kleine Mahlzeit, wenn's grade Mittagszeit war, gab es bei uns immer. Meine Mutter übte in dieser Hin­ sicht eine Gastfreundschaft, deren Folgen wir Kinder öfter glaubten verspüren zu können, und gegen Bettler, die damals ungemein zahlreich das Land überschwemmten, und gegen Hausierer und sonstige fahrende Leute eine Wohltätigkeit, die über unsere Besitzverhältnisie auch wohl hinausging. Aber dagegen war nichts zu machen, und selbst kräftige Anregungen zu einer Änderung seitens meines Vaters und meiner älteren Geschwister blieben ohne

Erfolg. Ich selbst habe daran immer meine stille Freude gehabt und bedauerte nur, daß die Gaben nach meinem Augenmaß nicht zureichten. Ich wurde immer schadlos gehalten durch das, was Leute dieser Art durch wohl oft erdichtete Erzählungen und Mit­ teilungen ins Haus brachten; sie ersetzten, wie in alter Zeit die Fahrenden jeder Art, die fehlenden Zeitungen, überhaupt empfand ich jeden Besuch im Baterhause als eine Feierstunde. Um so schmerzlicher war es natürlich, wenn an den Sonntagen im Sommer der kleine Bursche als Hirte des Viehes aufs Feld wandern mußte, während eine oft zahlreiche Gesellschaft im Hause und Garten sich zusammenfand und Großes und Kleines erörterte, wobei auch mancher Scherz, für den das Kind schon Verständnis hatte, gemacht wurde. Das ist auch die einzige unangenehme Erinnerung, die ich an meine Hirtcntätigkcit habe. Wenn alles auf dem Felde arbeitete, war ich gerne beim Vieh. Und ähnlich mag es wohl allen kleinen Hirten gehen; daß sie von den geselligen Sonntagsstunden, die im Landleben ja besonders schön sind, sich zum größten Teile ausgeschlossen sehen, verleidet ihnen das Hirtenamt, so daß sie auch in der Woche davon loszukommen suchen und selbst schwere Arbeit gern dafür eintauschen. Die Landschaft meiner Heimat war in meiner Jugend noch schön. Nach zwei Seiten hin wurde der Gesichtskreis von Wäldern umgrenzt. Die Wiesenflächen in den liefen Einschnitten zwischen den Hügelketten waren vielfach mit Buschwerk besetzt und zahl­ reiche kleine Vertiefungen, noch vielfach unbebaute Brüche, mit Gebüsch, Brombeer- und Himbeersträuchern, Haselbüschen usw. umrahmt, zwischen den Ackerflächen breite grüne Triften, ebenfalls mit viel Buschwerk besetzt, und überall gab es für uns Kinder zu suchen und zu pflücken: Beeren, Haselnüsse, wilde Äpfel, wilde Birnen usw. So blickte das Auge von jedem Hügel in eine nichts weniger als einförmige Landschaft. Die Vogelwelt fand noch überall ein Heim. Storch, Reiher, Habicht, Krähe, Elster waren häufig. Singvögel geradezu massenhaft vertreten. Nester der kleinen Sänger kannten wir immer zu Dutzenden und schönten sie sorgsam. Der Hase war fast Haustier, Reh und Hirsch oft

gesehene, allerdings flüchtige Gäste, Fische in jedem Bach und

See, selbst in den Torfgräben. Der Krebs war massenhaft vor­ handen, die Pflanzenwelt reichlich, insbesondere in den zahl­ reichen Durchbrüchen durch die Hügelketten,

über deren erd­

geschichtliche Entstehung und Bedeutung ich mir niemals ganz

klar geworden bin. Auch auf dem väterlichen Grundstück waren noch große Teile Ödland mit Busch und Strauchwerk, teilweise auch mit schönen Birken und Kiefern bestanden. Eine an­ schauungsarme Jugend habe ich also keineswegs verlebt.

Heute sicht es dort leider anders aus.

Ein

prachtvoller

Buchenwald, der Stadt gehörig, ist niedergeschlagen, um — das Gymnasium zu unterhalten. Das Buschwerk ist ausgerodet, und von den Triften sind nur noch schmale, baumlose Landwege übrig­ geblieben, um jedes Stückchen Erde für den Wieswachs oder den Ackerbau auszunutzen. Ode Acker- und Wiescnflächen. Der ge­

meine Nutzen hat die Schönheit vertrieben. Mit den Haustieren standen wir gewissermaßen auf du und du. Wir hatten unter allen unsere Lieblinge, die sich wie gute Kameraden benahmen, dafür aber auch bei jeder Gelegenheit bevorzugt wurden. Besonders der Hund spielt auf einem ein­ samen Gehöfte ja fast die Rolle eines menschlichen Mitbewohners. Die Verschiedenheit der Hundeseelen habe ich als Junge in ganz merkwürdig ungleichen Vertretern dieser Tiergattung kennen gelernt. Es gibt Hunde, die in allem und jedem mit einem Menschen, insbesondere mit Kindern, leben und zu jedem Spiel, jeder Neckerei, jedem dummen Streich aufgelegt sind, und andere,

die ehrpusselig wie ein hausbackener Mensch sich benehmen. Ich hatte Jahre hindurch einen prächtigen goldgelben Hund, der zum

Hüten benutzt wurde, aber in der Zeit, wenn das Vieh im Stalle

blieb, mich regelmäßig zur Schule begleitete, eine halbe Stunde Wegs und beim Schulschluß, mit dem Glockenschlage, wieder vor der Schultür stand.

Mochte das Wetter sein, wie es wollte, er

war pünktlich da. Es ist mir noch heute unerklärlich, wie das Tier die Zeit bis zum Ende der Schule mit dieser Genauigkeit abzumcssen vermochte.

2*

19

Was man mir aus meiner ersten Kindheit hin und wieder

berichtet hat, läßt mich nicht als den bequemsten und freund­

lichsten Genössen der Geselligkeit der älteren Geschwister und ihrer Freunde und Freundinnen erscheinen. Ich soll ein arger Schreier gewesen sein und gegen Unrecht, das mir von älteren Geschwistern

wohl hin und wieder ohne böse Absicht zugefügt worden sein mag, mich früh zur Wehr gesetzt haben. Mir schwebt nur e i n solcher Fall vor. Die tanzlustige Jugend hatte sich im Hause versammelt und auf den am Boden krabbelnden kleinen Menschen keine besondere Rücksicht genommen. Die Tanzenden traten mir auf die Finger, und ich wehrte mich mit dem entsetzlichsten Geschrei so wirksam, daß ihnen dadurch ihre Freude verdorben war. Ich denke noch heute an dieses frühe Erlebnis öfter und habe daraus

vielleicht etwas gelernt, was mancher oft vergißt, daß nämlich

auch dem Kleinsten nicht Unrecht geschehen darf.

Ein Bruch­

schaden, der mich später von manchem wilden Spiel fast ausschloß,

soll eine Folge dieses Vorkommnisses gewesen sein. Im übrigen weiß ich aus meinen ersten Lebensjahren nicht viel. Nur sehe ich mich öfter im aufgehäuften Bültenhaufen oder am Wege kriechen, wenn Eltern und Geschwister die Sträucher

rodeten oder die Steine ausbrachen. Ein Pflichtenkreis soll mir

bereits mit vier Jahren als Hüter der Enten übertragen worden sein. Diese Tiere gab es aber später auf dem Hofe nicht. Es handelte sich also wohl nur um eine vorübergehende Anstellung.

Recht früh rückte ich aber zum Schafhirten auf und brachte es auf diesem Gebiete zu einer gewissen Berühmtheit. Ein freundlicher Nachbar, dessen Sprößlinge allerdings weniger gewissenhaft in der Bewachung der Felder gegen feindliche Einfälle der Herden

und vor allem auch weniger freundlich gegen die ihnen anver­ trauten Tiere waren, nahm oft Gelegenheit, meine Hirten­ tugenden zu rühmen. Auf meine Eltern machten derartige An­ erkennungen keinen besonderen Eindruck. Bei uns war strengste Pflichterfüllung eine Selbstverständlichkeit. Daß wir zu irgend­ einer Arbeit hätten gezwungen werden müssen, erinnere ich mich

nicht. Wir arbeiteten alle gern.

Es wurde übrigens auf die

Kräfte der einzelnen auch gewissenhaft Rücksicht genommen, und

insbesondere schützte mein Vater uns gegen jede Belastung, die eine Schädigung des Körpers zur Folge hätte haben können. Um

so ausreichender wurden wir freilich mit Arbeiten, die unseren Kräften gemäß waren, beschäftigt. Und diese enge Verbundenheit des ganzen Hauses in derselben Pflichterfüllung war das, was uns alle zusammenhielt und unserem Denken und Wollen einen gemeinsamen Mittelpunkt gab. Sie war für uns der eigentliche Inhalt des Lebens. Weiteres, insbesondere aus der Ferne

geholtes geistiges Leben kannten wir höchstens aus den Winter­ abenden, an denen die Hausgenossenschaft zusammensaß und Freunde und Nachbarn, insbesondere auch die herangewachsene Jugend zu Spiel, Tanz und Gesang sich versammelten, aber das alles auch immer nur als Abschluß der auch an den Abenden fort­ gesetzten Arbeit — die Mädchen spannen und nähten.

In der Bevölkerung lebte noch viel von alter Volksdichtung. Altere Personen waren unerschöpflich im Erzählen von Spuk- und Schauergeschichten, die so handgreiflich ausgemalt wurden, daß einem angst und bange werden konnte, und manche setzte sich so in Leibhaftigkeit um, daß ich z. B., nachdem ich eine Reihe von derartigen Geschichten über den Mond gehört hatte, der als leib­ haftiger Mensch aus die Erde gekommen sein sollte, bei Vollmond kaum noch aus dem Hause gehen mochte, weil ich immer glaubte, er müsse auch jetzt von seiner Höhe zu mir heruntersteigen. Über­

haupt habe ich manchen Einblick in die Entstehung von Volks­ dichtungen erhalten. Die Bevölkerung war z. B. unerschöpflich in der Erfindung und Abänderung von Scherz- und Spottversen.

So gab es manche Versreihen, in denen jeder einzelne Einwohner der benachbarten Siedlung mit einem seine Verhältnisse oder körperlichen Eigenheiten nicht gerade sehr liebevoll behandelnden Verse bedacht war, und diese Verse gingen bei lustigen Zusammen­

künften von Mund zu Mund und wurden in der witzigsten Weise von den Anwesenden um- und weitergedichtet. Ich habe diese Quelle der Volksdichtung nirgends recht gewürdigt gefunden. In der Jugend meiner Heimat lebte eine fast unerschöpfliche Fülle

von Märchen, in denen freilich dieselben Gestalten, insbesondere der „dumme Hans", der schließlich immer die Königstochter freite, eine Rolle spielten, und so schauerlich diese Märchen in ihren

Einzelheiten auch waren, so urwüchsig waren doch ihre dichterischen

Gestalten. Was davon erlesen oder sonstwie in die Jugend herein­ getragen und was auf dem eigenen Boden gewachsen war, konnte ich nicht und kann ich auch heute noch nicht auseinanderhalten. Ich neige der Ansicht zu, daß durch das Lesen, insbesondere das Zeitungslcsen, die dichterische Kraft im Volke ertötet wird, und daß die deutsche Bevölkerung über diesen Reichtum an eigenen

dichterischen Gestalten und Schöpfungen auch auf dem Platten Lande heute nicht mehr verfügt. Freilich kann man bei gelegent­ lichen Besuchen auf dem Lande in dieses Innerste des Lebens

nicht ohne weiteres hineinschauen. Auch sonst war die Bevölkerung, so nüchtern und hausbacken sie im übrigen sich gab, nicht ohne Kunstsinn und ohne Kunst­ leben. Nicht nur, daß die weibliche Bevölkerung viel für den eigenen Kleiderschmuck tat, oder für die Ausschmückung des

Heimes, auch in der Männerwelt, und insbesondere bei den Jungen, konnte man gelegentlich viel Geschicklichkeit finden. So schnitzten die jungen Burschen z. B. aus Holz und Kiefernborke

die unglaublichsten Gestalten. Auch manche mechanischen Talente fanden sich. So baute ein Bauernsohn in der Nachbarschaft einen

Knackhaspel, ohne daß er, soweit ich das übersehen kann, irgend­ welches Vorbild dafür hatte. Die urwüchsigen Handarbeiten der russischen Gefangenen während der Kriegszeit, die ich hier und da gesehen habe, haben mich an diese heimische Kunstübung wieder

lebhaft erinnert. Unser Haus gehörte zu den geistig regsamsten in der Um­ gegend. Mein Vater las ziemlich viel und auch Bücher, die eine mehr als gewöhnliche Auffassung voraussetzten; freilich niemals zu einer Zeit, wo es Arbeit gab, immer nur an den Winter­

abenden und an den Sonntagen. Im übrigen war er kein Freund der Büchermenschen und der Bücherweisheit. Er konnte selbst bei mir, als ich bereits in meiner Ausbildung begriffen war, die

andauernde Beschäftigung mit Büchern zu einer Zeit, wenn andere auf dem Felde arbeiteten, eigentlich nicht leiden. Er hätte es Wohl eher ertragen, daß ich faulenzend herumgelegen hätte, als daß ich anhaltend hinter meinen Büchern hockte, ohne daß er sich über diese versuchte Einwirkung Wohl vollständig klar war. Ihre Schulbildung hatten beide Eltern in Schulen erhalten, die von Handwerkern, Schneidern, nebenher gehalten wurden. In Heinrichsfelde, wo mein Vater ausgewachsen war, hatten die ver­ ständnisvollen Bewohner die kleinste Hinterstube, ein einfenstriges, finsteres, schmales Loch, ausgesucht und ließen hier die gar nicht so kleine Schar ihrer Sprößlinge von einem Schneider, der sich von seinem Handwerk nicht ernähren konnte, unterrichten. Daß die Regierung schließlich die Errichtung eines kleinen Schulhauses erzwungen hatte, wurde noch Jahrzehnte nachher als eine schwere Vergewaltigung besprochen, und ein körperlicher Schade, der einem Gemcindeangehörigen beim Fällen des Bauholzes für das Schulhaus zugestoßen war, frischte die Erinnerung daran immer wieder auf. Der Schulunterricht in dem großen Bauern- und Gutsdorfe Alt-Storkow, der Heimat meiner Mutter, war übrigens nicht besser gewesen. Man muß sich nur Wundern, daß trotzdem geistig begabte Leute doch ein recht ansehnliches Wissen sich aneigneteu. Meine Mutter, die allerdings in gewisser Richtung hervorragend begabt war, verfügte z. B. über einen Schatz von biblischem Wissen und volkstümlicher Spruch- und Sprichwörter­ weisheit, wie er mir nie wieder begegnet ist. Die Sprüche Salomonis, Jesus Sirach, die lehrhaften Psalmen, die Gleich­ nisse, die Bergpredigt und ähnliche Stellen aus der Bibel wußte sie auswendig und wandte sie aufs treffendste auf das tägliche Leben an, wo es irgend ging. Freilich unterließ sie es auch nie, in freien Sonntagsstunden immer und immer wieder in ihrem Bibelbuche zu lesen, dieselben Stellen oft wiederholend. Sie war in der Mitteilung dieser Schätze sehr freigebig und hat uns Kindern damit früh den Weg zu anständiger Gesinnung und zu festen Lebensgrundsätzen gewiesen. Im ganzen war unsere Erziehung wohl etwas besser, als sie 23

in ähnlichen Verhältnissen in der Regel ist. In der Kleidung freilich wurden wir sehr einfach gehalten, öfter sogar einfacher als die in viel weniger guten Verhältnissen lebenden Nachbar­ kinder, was uns Geschwistern manchmal recht trübe Stunden bereitet hat. Meine Mutter hatte für diese Seite des menschlichen Lebens nicht viel Sinn. Dagegen war der Tisch immer gut. Meine Großmutter mütterlicherseits war wegen ihrer Kochkunst und Gastfreundschaft berühmt gewesen, meine Mutter hatte beides geerbt und war glücklich, wenn es schmeckte. Des Vaters ziemlich große Forderungen an schmackhafte Herrichtung durchkreuzten auch nach Möglichkeit alle Abkürzungsverfahren beim Kochen und Her­ richten der Mahlzeiten, die durch drängende Arbeit oft sehr nahe­ gelegt wurden. Immer gelang ihm das freilich nicht. Die Gerichte, die aus der großmütterlichen Küche auf das spätere Geschlecht vererbt »varen, schmecken mir noch heute besser als manche Ergebnisse großstädtischer Kochkunst. Es liegt hier keine ver­ schönende Erinnerung vor. Ich glaube, daß manche Überlieferung bäuerlicher Kochkunst verloren gegangen ist, insbesondere auch das althergebrachte Frühgericht: die Morgensuppe. Sie konnte den Wettbewerb mit dem in meiner Jugend auftretenden Kaffee des­ wegen nicht aushalten, weil ihre Herrichtung recht mühsam und zeitraubend war, während das „Kaffeemachen" eben keinerlei Zeit und Sorgfalt erforderte. In meinem Vaterhause wurde gegen den Kaffee seitens des Vaters ein hartnäckiger, aber doch erfolgloser Kampf geführt. Wir Kinder waren töricht genug, ihn nicht zu unterstützen. Heute stände ich unbedingt bei den Freunden der Morgensuvpe, insbesondere des auch im norddeutschen Bauern­ hause, nicht nur in England, althergebrachten festen Haferbreis. Aber wichtiger war für uns das geistige Leben im Eltern­ hause. Beide Eltern lebten ganz ihrer Arbeit, waren dabei freund­ lich und gefällig gegen jedermann und rechtlich in allen Dingen. Das übertrug sich auf uns Kinder. Im übrigen hatten wir eine Freiheit im Kommen und Gehen und im Gebrauch unserer freien Zeit überhaupt, wie sie Kindern wohl selten gewährt wird. Soweit ich heute zurückdenken kann, haben wir davon kaum

jemals einen unzulässigen Gebrauch gemacht.

Meine Eltern

waren der Meinung, ihre Kinder könnten überhaupt nichts Unrechtes und Unschickliches tun, und deswegen taten wir auch

nichts, was gegen die Hausehre verstoßen hätte, weder die Brüder,

noch weniger die Schwestern, während das Leben der dortigen Landjugend im übrigen nichts weniger als musterhaft war. Ein

oder auch zwei uneheliche Kinder waren bei den Töchtern der kleinen Besitzer nichts Seltenes. Unser halbstädtisches Selbst­ bewußtsein der Umgebung gegenüber schützte uns vielleicht auch etwas. Daß so vieles bei uns selbstverständlich war, ist Wohl der hervorstechendste Zug in meinem Jugendleben. Jedenfalls war ich teils der reine Tor, der vieles Zweifelhafte oder auch ganz Eindeutige nicht sah, teils so in anderen Welten verloren, daß von dem Schlechten in der Umgebung nichts hängen blieb. Und

so ist es glücklicherweise oft. Nur die verwandten Seelen finden

sich, nach Heine, am schnellsten und leichtesten in unsauberen Dingen. Die Schule in Heinrichsfelde, die wir besuchten, war dürftiger als dürftig. Die Stadt Dramburg, zu der wir gehörten — mein Vater wurde steuerlich und in jeder anderen Beziehung als städtischer Ackerbürger geführt — lag volle 5 Kilometer entfernt. Der weite Schulweg war aber nicht das einzige Hindernis. Der Besuch der städtischen Schule hätte uns auch unsern Landarbeiten mehr entzogen als die Landschule, die im Sommer für die „Großen" sich auf die Morgenstunden von 6—8 und für die

„Kleinen" auf die Zeit von 9—11 oder 12 Uhr beschränkte. Meine Geschwister hatten herkömmlich die ersten Plätze in der Schule, und sie haben auch trotz der elenden Unterrichtsverhältnisse alles

gut gelernt, was dort überhaupt zu lernen war. Besonders das Schreiben und Lesen lernten die älteren Geschwister unter der Leitung ihres alten, seinem Wesen nach offenbar nicht niedrig stehenden Lehrers Hinz sogar recht gut. Die Schönschriften meiner ältesten Schwester erschienen mir als Schulanfänger geradezu als

unerreichbar. Die verstandesmäßige Begabung in der Familie war wohl

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in meiner jüngsten Schwester am stärksten. Sie beherrschte das freilich geringe Schulwissen ganz ungewöhnlich gut, und ihr hervorragender Verstand offenbarte sich auch später in ihrer Wirt­ schaftsführung. Es ist ja eine alltägliche Erscheinung, daß das geistige Erbe begabter Väter meist mehr den Töchtern als den Söhnen zufällt. Leider nicht immer zu ihrem Vorteil, denn was bei dem Manne breiter und größer und umfassender zu sein Pflegt, wird in der weiblichen Erbschaft oft scharf und spitz und ist nicht immer durch Zutaten weichen Gemütes genügend gemildert. Eine Ausnahme in der Familienbegabung machte anschei­ nend mein um drei Jahre älterer Bruder. Er wurde deswegen auch erst im nennten Jahre zur Schule geschickt. Aber er ersetzte das Fehlende durch andere Eigenschaften. Bei einem Lehrer­ wechsel versetzte er sich selbst in die obere Abteilung, und als ich an seiner Stelle den ersten Platz, den er sich schließlich auch erobert hatte, einnehmen sollte, fügte er sich der Anordnung des Lehrers einfach nicht. Er meinte, es gehöre sich nicht, daß der ältere Bruder unter dem jüngeren sitze, und er hätte eine empfindliche Strafe gleichmütig hingenommen. Der Lehrer war verständig genug, von seinem Verlangen abzuschen, und mir war es schon recht so. Bei mir glaubte man ziemlich früh noch besondere Gaben zu entdecken, und so galt ich schon in der ersten Kindheit, bereits lange vor Eintritt in die Schule, als Anwärter auf einen gelehrten Beruf, wie man sich ausdrückte. Mir schwebt noch dunkel vor, daß der alte Lehrer im Vaterhause saß, auf seinen Rohrstock mit silbernem Knopf gestützt, und tiefsinnig über meine Zukunft mit den Eltern beriet. Er sollte mich aber nicht mehr unter seinen Zöglingen sehen. Als ich mit VA Jahren in die Schule eintrat, war er bereits im Jenseits, und ein Mann von dunkler Herkunft — er sollte als Bücherträger für die Geistlichen der Regenwalder Synode tätig gewesen sein — stand an seiner Stelle. So lernte ich das Schul- und Lehrerelend jener Zeit in ihren abschreckendsten Formen kennen. Selbst ohne genügende Kleidung, konnte dieser Lehrer der Heinrichsfelder Jugend für Frau und drei Kinder

weder Kleidung noch Nahrung aus seinem Einkommen bestreiten. Die Kinder konnten im Winter buchstäblich nicht aus dem Hause gehen. Es fehlten die Schuhe, und die leichten Fahnen, die den

Körper umhüllten, schützten nicht gegen die Kälte.

Ihr Brot

erhielten sie von den Schulkindern, die. in der Mittagspause wegen zu großer Entfernung der Wohnung in der Schule blieben, und weichherzige Mütter rechneten mit dieser Abgabe bei Abmessung der Brotmenge für ihre eigenen Kinder Tag für Tag. Eine Kuh lieferte glücklicherweise etwas Milch, in die sich die Lehrerkinder die erhaltenen Brotstücke brockten. Das war ihr Mittagessen und

vielleicht ihre Nahrung für den ganzen Tag. Was unser geistiger Führer selbst zu essen hatte, haben wir nie gesehen. Der alte

Mann unterrichtete uns, so gut er konnte. Ich selbst hörte mit besonderer Freude seinem Unterricht im Lesen und seiner Er­ zählung der biblischen Geschichten bei den Größeren zu. Die

Stücke des in der Schule gebrauchten Wetzelschen Lesebuchs waren einfach und gingen nach Form und Inhalt über das Verständnis des Schulanfängers nicht so weit hinaus, als der Schulherr glaubte. Als ich den Versuch machte, mich durch Antworten an dem Unterrichte der Größeren zu beteiligen, glaubte er in meinem Handaufheben einen ganz anderen Wunsch zu er­ kennen. Er war dann sehr verwundert, als ich über meine Jugendgenossen Storch und Schwalbe und Hase und Reh,

mit denen ich ja auf du und du stand, fast mehr zu be­ richten wußte, als das Lesebuch erzählte. Die einfältigen

Fragen die an die Schulanfänger gerichtet wurden, konnten mich demgegenüber gar nicht besonders einnehmen. Als ich in einer der ersten Unterredungen gefragt wurde, ob ich ein Ei kenne, sah ich den Fragenden so verdutzt an, daß er darin fast eine Auf­ sässigkeit

erblickte.

Man

sollte

im

Schulunterricht

lebhafte

Kinder mit selbstverständlichen, ihnen durchaus geläufigen Dingen nicht zu lange aufhalten oder gar langweilen. Ich habe

auch in meinem späteren Bildungsgänge die köstlichsten Schul­ stunden gerade dann erlebt,, wenn ich mitten hineingeworfen

wurde in einen Lehrstoff, von dem ich bisher nichts gehört hatte.

oder in eine Schülerschaft, die mir im Unterrichtsstoff weit voraus war und mit der ich dann recht herzhaft zu ringen hatte, um mich in die neue Welt hineinzufinden. Die Gutmütigkeit, das Erbteil meiner Mutter, spielte mir manchmal auch in der Schule einen üblen Streich. So gab ich, als wir einen neuen Nachbar erhielten, dessen Tochter gleich weit vorgeschritten war und gemeinsam mit mir um die Aneignung der ersten Lesefertigkeit sich bemühte, ohne weiteres meine neue Fibel hin, und ich klebte mir mit viel Mehlkleister und beschrie­ benem Papier eine alte, längst außer Gebrauch befindliche Fibel zusammen, aus der meine älteren Geschwister lesen gelernt hatten. Das Ding sah schauderhaft aus. Aber ich habe heldenhaft alle schönheitlichen Anwandlungen niedergeschlagen und meine hübsche neue Fibel nicht zurückverlangt. Die alte besitze ich als Erinne­ rung an die Schulzeit noch. Auch sonst mußte ich vom Verschenken mehr oder weniger gewaltsam zurückgehalten werden. Später habe ich das Verleihen von Büchern, von den meisten Leuten mit Verschenken für gleich­ bedeutend gehalten, ebenso leichtsinnig betrieben. Es hatte wohl gute Gründe, daß meine Kinder mir zum 50. Geburtstag eine künstlerisch gearbeitete große Holztafel von Türbreite ins Arbeits­ zimmer hingen, auf der zu lesen ist: „Bei mir kann nie ein Buch veralten, Kaum hab' ich eins, so muß ich's schon verleihn. Und da fällt's oft den Leuten ein, Daß es viel leichter ist, die Bücher zu behalten, Als das, was sie enthalten." Geholfen hat auch das nicht viel. Die Lücken in meiner Bücherei erzählen von Sünden auch nach dieser Zeit. Im Frühjahr 1868 schied mein erster Lehrer aus dem Amte; weswegen und wohin, weiß ich nicht. An seine Stelle traten nun nacheinander fünf „Präparanden", also in der Vorbereitung auf das Lehrerseminar begriffene junge Leute, und erst ein Jahr vor meinem Austritt aus der Schule wurde ein ordnungsmäßig vor­ gebildeter Lehrer angestellt, wohl der erste auf dieser jammerhast

ausgestattcten Stelle.

Die Schulanwärter unterrichteten unS,

wie sie cs von ihren Lehrern gesehen hatten. Der erste, älteste und vorgeschrittenste jener fünf, ein junger Mann von vielleicht neunzehn Jahren mit gymnasialer Vorbildung — wie weit sie ging, weiß ich nicht — blieb zwei oder drei Jahre dort, hat mich also in der Wohl entscheidenden Zeit vom achten

bis zum zehnten Jahre unterrichtet und mich so weit gebracht,

daß ich mit dem Lehrstoffe, der überhaupt geboten wurde, im ganzen fertig war. Eine regelrechte Zusammenfassung in Abteilungen war nicht gebräuchlich. Ein Hin- und Herüber fand im Lesen und Schreiben, im Rechnen und in anderen Gegen­ ständen statt. Im Rechnen z. B. arbeitete jeder nach seinem Rechenhefte die darin enthaltenen Aufgaben nacheinander durch,

der eine schneller, der andere langsamer, einzelne auch gar nicht. Es herrschte viel Freiheit. Ich verständigte mich in der Regel

mit meinem Vordermann und ersuchte ihn, er möchte sich etwas Zeit lassen, damit ich ihn erreichte. Das wurde zumeist recht gern zugebilligt in der stillen Hoffnung, daß meine bekannte sichere Rechenkunst durch Abschreiben ausgenützt werden könne. Vom Lehrer wurde das Verfahren kaum jemals gehindert. Nach einiger Zeit wurde mir die neue Arbeitsgemeinschaft aber immer lang­

weilig und hinderlich, und ich verständigte mich dann mit meinem neuen Vordermann ebenso, und so ging es weiter, bis ich tut Alter von etwa zehn Jahren die Spitze erreicht hatte, nicht nur im Rechnen, sondern auch in allen andern Gegenständen der Schule. Weitsichtige Berater hätten mich zu dieser Zeit Wohl in eine andere Schule abgeschoben, vorausgesetzt, daß die elterliche Genehmigung

doztt hätte erlangt werden können. Das Gymnasium lag vor der Tür. Ein Weg von fünf Kilometern hin und zurück täglich hätte mich auch in diesem Alter kaum bedrückt, habe ich ihn doch später

Tag für Tag bei gutem und schlechtem Wetter, hin und wieder sogar zweimal, zurückgelegt. Natürlich wurde in der Schule auch viel geschlagen. An­ fänger im Lehramte kommen ohne „Prügeln" nicht gut aus. Ich selbst blieb von diesen erzieherischen Einwirkungen beinahe, aber

nicht ganz verschont. Die wenigen Fälle, die mir in der Erinne­ rung geblieben sind, haben in mir die Meinung hervorgcrufen, daß die meisten körperlichen Strafen, und manche von den andern auch, ihren Zweck verfehlen, weil sie nur zu oft nicht die eigentlich Schuldigen treffen und bei vorliegendem Verschulden nicht die härtesten Verfehlungen der jungen Sünder. In den zwei oder drei Fällen dieser Art glaubte ich, daß mir Unrecht geschähe, und wären weitere derartige Strafvollstreckungen erfolgt, so weiß ich nicht, wie sich mein Verhältnis zur Schule gestaltet hätte. Das eine Mal bekam ich bei einer Gesamtabstrafung mehrere Hiebe, weil irgendwelche Rangen von dem auf Freiersfüßen gehenden und auch sonst Wohl weiblichem Verkehr nicht abgeneigten jungen Lehrer etwas Nachteiliges oder Ehrenrühriges gesagt haben sollten. Ich habe nie erfahren, wer die Sünder waren und um was cs sich handelte. Aber meine Schläge erhielt ich so gut wie andere. Ein zweites Mal gab es Hiebe, weil einem der jungen Leute, die uns lehrten, nachgerufen worden war, es sei unhöflich, wenn er nicht grüße. Erwachsene zu grüßen, entsprach den Gewohnheiten des Ortes, und der junge Pestalozzi wußte das. Daß er sich anders verhielt, war eine Dummheit, eine größere aber noch, daß wir Jungen als erreichbare Stellvertreter unserer Väter Prügel bekamen. Wohl die Hälfte der Zeit wurde zugebracht mit dem Aufsagen der biblischen Geschichten (Zahns „Biblische Historien", 80 aus jedem Testament, wurden wörtlich auswendig gelernt), der Pcrikopen (die Episteln blieben glücklicherweise unberücksichtigt), der ausgewählten 120 Kirchenlieder und von 300 Bibelsprüchen, die aber manchem unserer Lehrer nicht ausreichend erschienen, weil noch nicht alle Katechismuswahrheiten genügend „belegt" er­ schienen. Schließlich wurden auch die fünf Hauptstücke des Lutherschen Katechismus gelernt, wozu im dörflichen Konfirmanden­ unterricht, dem ich glücklicherweise als „Stadtkind" fcrnblieb, noch verschiedenes andere hinzukam: die Heilsordnung, der Taufbund und Sonstiges. Die Teilnehmer an diesem Konfirmandenunter­ richt behandelten uns Jüngere denn auch sehr mitleidig als biblisch

und katechismusmäßig völlig unzureichend Belehrte. Recht reich­ lich war die Zahl der Bibellesestunden. Die Auswahl war nicht immer sehr geschickt. Wir lasen eigentlich alles, was in der Bibel steht, viele auch das gänzlich Ungeeignete und Gefährliche, glück­ licherweise oft ohne jedes Verständnis. Zu diesen Harmlosen gehörte auch ich, und die „Aufgeklärten", die es wohl auch gab, blieben mir mit ihren Belehrungen fern; sie fürchteten wohl, ich könnte nicht das nötige Verständnis dafür haben und den Lehrer als Richter anrufen. Was wahrscheinlich auch geschehen wäre. Denn daß nicht jedes Bibelwort als Gotteswort in Anspruch genommen werden könne, habe ich erst lange nach meiner Schul­ zeit aus Belehrungen ganz anderer und völlig ungefährlicher Art erkannt. Ich habe meine mehr als ausgiebige gedächtnismäßige religiöse Erziehung später nicht bedauert, denn nach meinem 14. Lebensjahre habe ich mich mit religiösen Stoffen gedächtnis­ mäßig nicht mehr zu beschäftigen brauchen. In einem Falle aller­ dings entging ich dieser Notwendigkeit nur durch ganz verwegene Kniffe. (S. S. 57). Gute Ausnutzung des jugendlichen Gedächt­ nisses ist gewiß auch kein Fehler und würde manchem seine spätere Bcrufsausübung wesentlich erleichtern. So würde z. B. ein sicherer religiöser Gedächtnisstoff den Geistlichen sehr nützlich sein. Und so wertvoll wie der Besitz eines großen lateinischen und griechischen Wortschatzes sind diese Stoffe ja wohl auch. Was aber auf unseren höheren Schulen, auch früher schon, an reli­ giösem Gedächtnisstoff verlangt wurde, war herzlich wenig, und die späteren Geistlichen in unserm Gymnasium, die nicht schon eine gute Volksschule durchgemacht hatten, beherrschten im Konfirmandcnunterricht nicht ein Zehntel von dem an biblischen und sonstigen religiösen Lehrstoffen, worüber ich und meine Schul­ genossen als sicheres Eigentum verfügten. Natürlich würde ich es heute als eine glücklichere Fügung des Schicksals betrachten, wenn ich auch andere wertvolle Bildungsgüter aus den beiden großen Gebieten des menschlichen Geisteslebens, aus den Natur- und Geisteswissenschaften, frühzeitig und ausreichend hätte sammeln

dürfen.

Die Schule, in der das ohne starke Zeit- und Kraft­

verschwendung geschehen kann, soll aber erst gebaut werden. Heute

sucht man noch Bauplätze für sie. Ich hoffe, die Grundmauern und die Aufrüstung noch zu sehen.

Mehr darf ich Wohl nicht

erwarten. In meinem Bildungsgänge habe ich alle Vorteile des

Lernens und Absehens von vorgeschrittenen Schülern

kennen­

gelernt und glaube, daß dieses Lernen, das in jeder einklassigen

und wenigklassigen Schule stattfindet, für begabte Kinder ein völlig naturgemäßes ist. Freilich gelangen diese Kinder dann lange vor Abschluß der Schulpflicht an die Spitze und sind nun, wenn nicht besondere Fürsorge durch private Beschäftigung für sie eintritt, ungenügend beschäftigt und werden nicht nur in ihren Fortschritten aufgehalten, sondern leiden auch in ihrem Wesen

Schaden. Es war für mich eine Wohltat, daß ich neben der Land­ schule durch reichlichen Verkehr mit Stadtschülern und Gym­

nasiasten in die städtische Schulwerkstätte hineinblicken konnte und so vor einseitiger Überschätzung meiner Fähigkeiten und Kenntnisse einigermaßen, aber nicht völlig bewahrt blieb.

Oft

konnte ich aus diesem Verkehr auch meine unbedingte Unter­

legenheit nicht folgern. Die gelehrten Herren aus den städtischen Schulen waren doch in vielen Dingen, die mir durch volle Aus­ nutzung des geringen Bücherbestandes, den ich hatte, geläufig

waren, recht wenig gut beschlagen, insbesondere auch gerade in dem, worin sie ihre Überlegenheit suchten: in der Beherrschung der Sprache. Ich schrieb als Elfjähriger, soweit ich mich erinnere, ohne erhebliche Verstöße gegen die Rechtschreibung und Sprach­

lehre, trotzdem im Vaterhause plattdeutsch gesprochen wurde, und der städtische Verkehr auch entweder plattdeutsch oder in der bekannten halbhochdeutschen Sprache der städtischen Bevölkerung des Ostens geführt wurde. Ich habe die Schriftsprache lediglich

dadurch erlernt, daß die Lesestoffe der Schule, die einfach und ver­ ständlich waren, häufig gelesen und mündlich und schriftlich wiedergegeben wurden. Diese Sprachstoffe lagen mir so im Ohr,

daß jeder Verstoß gegen die Sprachlehre mir sofort zum Bewußt-

fein kam. „Diktate" und Aufsätze habe ich verhältnismäßig wenige geschrieben, insbesondere keine vorbereiteten, dagegen wurde, wie

es der Betrieb der einklassigen Schule mit sich bringt, sehr vieles von den durchgenommenen oder gelesenen Stoffen aus dem

Gedächtnis niedergeschrieben, und zwar zumeist auf die Schiefer­ tafel, ein Verfahren, das übrigens in meiner weiteren Ausbildung

nach dem 14. Lebensjahre in einem geistvollen und anregenden Unterrichte fortgesetzt wurde, so daß ich geradezu entsetzt war, als man mir im Alter von 16 Jahren zumutete, mich auf einen Auf­ satz erst noch durch eine Besprechung in der Klasse vorbereiten zu lassen. Alle vorbereitenden unterrichtlichen Maßnahmen, die das eigene Suchen, die eigene Anstrengung ersetzen sollten, sind mir bis heute deswegen auch verhaßt gewesen, und ich habe sie mit meinen eigenen Schülern so wenig wie möglich betrieben. In der kleinen Schule in Heinrichsfelde wurden Knaben und

Mädchen, wie in diesen Schulen allgemein üblich, gemeinsam unterrichtet. Und wie die weiten Schulwege es mit sich brachten, hatten wir Kinder auch vielfach Gelegenheit, miteinander Gutes und Schlimmes durchzumachen, im Winter z. B. uns durch die höchsten Schneewehen hindnrchzuarbeiten und im Frühjahr grundlose Wege, kleine Wasserläufe und andere Hindernisse zu

bewältigen. Wir haben dabei den Mädchen immer ritterlich zur Seite gestanden, wofür sie sich dann wieder durch allerhand kleine

Dienste erkenntlich zeigten. Selbstverständlich wurden alle kleinen Freuden gemeinsam genossen, Eis und Schnee ausgenützt, die Pausen durch gemeinsame Spiele ausgefüllt. Ich glaube, daß der gemeinsame Unterricht, wenigstens in ähnlichen Fällen, von

großem Vorteil ist. Das ganze Leben der Jugend gewinnt zweifel­ los dadurch, die Knabenroheiten treten mehr zurück, und dem Unterrichte kommt die größere Gewissenhaftigkeit, Aufmerksamkeit

und Regsamkeit der Mädchen jedenfalls auch zugute. Unter den

Mädchen war auch immer eine Anzahl, die es den Knaben zum

mindesten gleichtaten. Die geistige Führung in der Klasse hatten allerdings die Mädchen nur ganz vereinzelt. Wieweit der gemein­ same Unterricht auch in städtischen Verhältnissen am Platze sein

würde, ist bekanntlich Gegenstand des Streites, und ich möchte

diese Frage hier im Vorbeigehen nicht zu lösen versuchen.

Von einer Musterschule war die Heinrichsfelder Siedlungs­ schule zeitweise aber doch etwas mehr entfernt, als für die Aus­ bildung und das Seelenheil der Jugend, wünschenswert war. Unter den weiteren in der Vorbereitung auf das Seminar stehenden Schulanwärtern war nur einer ein geistig regsamer und sehr gewissenhafter Mensch, der mich trotz meiner großen Jugend für seine eigene Vorbereitung viel zum Vorlcscn (er war

äugenkrank) benutzte und mir damit eine unschätzbare Wohltat erwies. Seine Nachfolger waren zum Teil Schwachköpfe, die man nie in die Schule hätte eintreten lassen sollen. Einer, ein recht begabter, aber ganz ungenügend vorgebildcter Junge, war, aus dem Orte gebürtig, noch vor einem Jahre unser Schulkame» rad gewesen, also volle 15 Jahre alt. Daß Unterricht und Schul­ zucht dabei nicht leicht und nicht musterhaft waren, versteht sich von selbst, beides war nach meiner Erinnerung aber auch nicht viel schlechter als in manchen andern Dorfschulen jener Zeit und jener Gegend. Das letzte Jahr brachte eine Änderung. Ein älterer, aus

Amerika zurückgekehrter und trotz Entlassung aus dem Dienste wieder in Gnaden aufgenommener Lehrer übernahm die Schule, zum großen Segen insbesondere für die jüngeren Jahrgänge. Kinderlieb und mit den neueren Lehrverfahren vertraut, erleich­ terte er den Kindern das Lernen wesentlich, und die Fort­ schritte wurden augenscheinlich größer. Mir selbst konnte der Unterricht nichts mehr bieten. Ich hatte mich inzwischen daran gewöhnt, meine geistige Nahrung mir selbst zu suchen. Was ich an Büchern in die Hände bekam, darunter vor allen Dingen auch Gedichtsammlungen und Klassiker, wurde aus­

genützt.

Stark

beschäftigte

mich

auch

der. Konfirmanden­

unterricht, den ich in Dramburg genoß. Im letzten halben Jahre erteilte ihn der Superintendent Möhr, ein über das

Durchschnittsmaß der Geistlichen erheblich hinausgehender Mann. Er besaß eine ganz ungewöhnliche Kraft der Beeinflussung und

setzte meine von Hause aus stark entwickelte gottsinnige Innen­ welt ungemein in Bewegung. Ich habe in diesem Alter Tage und Wochen durchlebt, die mich den Seelenzustand eines Luther vor Eintritt in das Augustinerkloster voll verstehen lassen. Meine lebhafte Einbildungskraft hatte mich immer mit den Gestalten der Gottcslchre in ein unter Umständen gefährliches rein Persönliches Verhältnis gebracht. Die Umgebung kühlte diese Überhitzung der Einbildungskraft freilich oft recht stark ab. Das geschah ins­ besondere auch durch den späteren Unterricht, den ich als Vor­ bereitung auf den Eintritt in das Seminar in der gehobenen Stadtschule zu Dramburg genoß. Die Verhältnisse im Vaterhause hatten sich inzwischen nicht zu meinem Vorteile geändert. Der älteste Bruder mußte drei Jahre Soldat werden, der zweite war in die Lehre gegangen, die älteren Schwestern lebten außerhalb des Hauses, und so waren von den Sechsen nur noch zwei übriggeblieben, etwas wenig für die arbeitsreiche Wirtschaft, selbst bei Hinzunahme von jüngeren Hilfskräften. Und so lag nichts näher, als daß ich, der Jüngste, der nun der Schule entwachsen war, und in dem man den Ge­ danken an den Lchrerbcruf bis dahin immer gepflegt hatte, doch viel vorteilhafter in der väterlichen Wirtschaft benutzt werden könne. Nach der Einsegnung zu Ostern 1874 wurde ich denn auch ganz regelrecht in den Wirtschaftsbetrieb eingestellt. Die Frühjahrsarbeit ließ mir wenrg Zeit, über mein Schicksal nach­ zudenken, aber als die Ackerbestellung fertig war, und ich an einigen schönen Tagen als Schafhirte mich sonst recht erwünschter Erholung hingeben konnte, erwachte in mir plötzlich die Sehn­ sucht nach dem, was man mir immer gezeigt hatte, so daß ich schließlich, meinem anerzogenen Pflichtbewußtsein und Gehorsam zum Trotz, mitten am Vormittage meine Schafherde auf den Hof trieb und vor meine Eltern, die gerade beim Frühstück saßen, hintrat mit der Erklärung, daß ich von heute ab aus dem bis­ herigen Arbeitsverhältnis ausscheiden und so oder so meine Vor­ bereitung auf den Lehrcrberuf betreiben würde. Es war der erste Mai, ein freundlicher, sonniger Tag. Das Erlebnis hat mich, als d«

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später der erste Mai zum Weltfeiertage erklärt werden sollte, oft beschäftigt. Mein Vater, sonst leicht zum Jähzorn geneigt, blieb unerwarteterwcisc völlig ruhig, sprach kein Wort, öffnete nur das

Fenster, rief dem Hofjungen zu, das Pferd anzuschirren, und zog sich selbst sonntäglich an. Ich tat wortlos dasselbe. Wir setzten

uns auf den Wagen und fuhren die fünf Kilometer bis zur Stadt, ohne ein Wort miteinander zu sprechen. In der Nähe des Schul­ hauses wurde stillgehalten. Ich folgte dem Vater in die Woh­ nung des Rektors, und er lieferte mich dort mit den Worten ab,

er möchte nun mal Zusehen, ob er mit mir etwas anzufangcn wüßte, ich sei in der Landwirtschaft nicht zu gebrauchen. Ich war glücklicherweise nicht ganz unbekannt bei dem Manne, dem ich später unendlich viel verdanken sollte. Bei dem Besuch des Konfirnmndenunterrichts hatten mich meine über städtische Verhält­ nisse weit hinausgehenden Religionskenntnisse einen hervor­ ragenden Platz unter den Mitkonfirmanden gewinnen lassen. Bei der Einsegnung saß ich deswegen als der zweite neben dem ersten Schüler der Stadtschule, über den gleichzeitig mit uns eingeseg­ neten Gymnasiasten, unter denen auch tüchtige Ober- nnd Untersekundaner, spätere Geistliche, waren. Ich wurde in einigen Fächern schnell geprüft. Manche Antworten waren, wie ich heute weiß, buchstäblich falsch. Der Prüfende lächelte nur; er schien

anderes dafür gutzuschreiben und erklärte schließlich, ich solle nur in seine Klasse kommen, in die er Dorfjungen sonst grundsätzlich nicht sogleich nähme, es würde schon gehen. Damit begann nun für mich eine neue Zeit. Die Dram­ burger gehobene Stadtschule war eine der alten pommerschcn Stadtschulen, die vor der Massengründung der Gymnasien in den 70er Jahren ihre Schüler in erster Linie für das kaufmännische und gewerbliche Leben, aber daneben auch für den Besuch der mittleren Gymnasialklassen erfolgreich vorbereiteten. Und diese

höheren Ziele hatte die Schule auch nach Begründung des Gym­

nasiums im Jahre 1867 in vielen Beziehungen beibehalten. Ins­ besondere wurde in der Mathematik, in den Naturwissenschaften, in der Geschichte und im Deutschen ein erheblich über, die Volks-

schulzielc hinausgehender Unterricht erteilt. Der Unterricht im Französischen war eine willkommene Beigabe und wurde eben­ falls sorgsam gepflegt. Es war für mich, der ich eigentlich doch nur eine Schule mit Lesen, Schreiben, Rechnen und Religion besucht hatte — ein Sonderunterricht in den übrigen Lehrfächern hatte nicht stattgefunden—nicht ganz leicht, mich in alles das, was hier von einer tüchtigen Lehrerschaft geboten wurde, sogleich hin­ einzufinden. Aber es ging. Übrigens waren nicht nnr äußere, sondern auch innere Schwierigkeiten zu überwinden. In der ersten Geschichtsstunde wurde die Sage von Cyrus erzählt. Ich war entsetzt darüber, wie man in der Schule derartige „Märchen", wie sie mir erschienen, ernsthaft als Geschichte behandeln konnte, und ich sprach mich einem Mitschüler gegenüber sehr erregt dahin aus, das entspreche doch dem Ernste einerSchule ganz und gar nicht. Eigentlich erschien mir ja nur das Religiöse als wertvoll genug für den Schulunterricht. Meine streng religiöse Richtung bekam aber bald starke Rippenstöße. Durch mein lebhaftes Eingehen auf alles, was der Religionsunterricht bot, hatte ich Gelegenheit, meine strenggläubigen Ansichten recht häufig zutage zu fördern. Der Lehrer, Rektor Schmidt, nahm die Antworten öfter etwas schmunzelnd auf und sagte mir schließlich sogar einmal: Was Geistliche einem sagten, dürfe man auch nicht alles so wörtlich nehmen, eine Äußerung, der gegenüber ich zunächst sprachlos war. Aber ich wuchs in den Gedankenkreis der Schule bald hinein, auch in religiöser Beziehung. So bewirkte z. B. das Lesen von Schillers „Sendung Moses" in meiner ganzen Gedankenwelt eine voll­ ständige Umwälzung. Mit den meisten Gegenständen fand ich mich schnell ab. In der Mathematik beachte die erste Lehrstunde den pytha­ goreischen Lehrsatz. Mich verblüffte sein Inhalt dermaßen, daß ich mir sagte, eine Wissenschaft, die solche Möglichkeiten gäbe, müsse man unter allen Umständen gründlich erlernen. Wäre ich ans dem gewöhnlichen Wege durch die ersten Anfänge zur Mathe­ matik geführt worden, ich hätte wahrscheinlich mich dadurch nicht so bald fesseln lassen, so aber setzte ich sogleich alles daran, um

zu erlernen, was mir fehlte, und die Mitschüler, die mich auf dem Heimwege begleiteten oder im Vatcrhause besuchten, mußten sich

gehörig ausnützen lassen. Ebenso im Französischen. Im Rechnen insoweit, als es sich um sachlich mir nicht ganz verständliche Dinge handelte. Im übrigen hatte ich mir bei der Durcharbeitung der in der Landschule erreichbaren Rechenhefte eine Rechenfertigkeit zu eigen gemacht, die sich neben der hier verlangten schon sehen lassen konnte. Das Verhältnis zur Dramburger Jugend war, von den

engeren Freunden, die nicht zahlreich waren, abgesehen, ein recht unerfreuliches. Ich habe dieselben Erfahrungen, von denen Ernst Moritz Arndt so anschaulich erzählt, in vollem Umfange auch

machen und alles Leiden, das damit verbunden ist, voll auskostcn müssen. Offenbar war es vielen der aufs Faulenzen eingestellten Jungen nicht ganz recht, daß ein „vom Dorfe" Hcrkommcnder sie doch so ohne weiteres über den Haufen warf. Dazu kam vielleicht eine gewisse Zurückhaltung gegenüber ihren nicht immer ganz einwandfreien Streichen in den Pausen und, bei schwachen Lehrern, auch im Unterrichte, und vielleicht auch das Außere, denn meine Eltern hatten im ganzen kein großes Verständnis dafür, daß man sich auch in der Kleidung der Umgebung anbe­ quemen müsse. Sie glaubten, was dort draußen tragbar gefunden wurde, was es vielleicht auch war, müsse in der Stadt ebenfalls ausreichend sein. Aber die liebe Jugend denkt über diese Dinge anders, und ich meine heute, man solle Kinder immer so kleiden, daß sie sich und ihr Äußeres in ihrer Umgebung vollständig ver­ gessen können, also so wie ihre Mitschüler gekleidet werden. Die Vorbereitung auf das Seminar, die durch den Besuch

der ersten Klasse der Dramburger Schule geboten wurde, wird

heute manchem als unzureichend erscheinen.

Für die jungen

Menschen, die mit mir damals denselben Weg gingen, war das keineswegs der Fall. Freilich waren wir. vielleicht war's Zufall, fast ausnahmslos nicht nur über den Durchschnitt begabt, sondern auch außergewöhnlich strebsam. Mir konnten uns später in den Seminarklassen nicht nur sehen lassen, sondern zeichneten uns

durch unser Missen und Können wahrnehmbar aus. Wir genossen

den Unterricht der Schüler, beteiligten uns daran, führten aber daneben ein von niemand planmäßig gepflegtes eigenes Geistes­

leben. Einzelne der Lehrer förderten uns durch freundlichen Rat und durch gelegentliche Hinweise wesentlich. Namentlich kam für uns auch die enge Verbindung mit strebsamen Anwärtern auf die Bcamtenlaufbahn, die sich durch eigene Arbeit das damals verlangte Tcrtianerzcugnis erwarben, und mit gleichaltrigen oder älteren Gymnasiasten in Betracht. Ich habe meine eingehendsten

Schillerstudien hinter der Viehherde, in den Ferien oder in den späteren Nachmittagsstunden der Unterrichtstage, mit etwas älteren Freunden aus dem Gymnasium gemeinsam betrieben. Die Lchrerbücherei der Stadtschule, die recht gut und reichhaltig

war. stand uns unbeschränkt zur Verfügung. Rektor Schmidt wies uns auf Bücher, die wir mit Nutzen lesen könnten, fortgesetzt hin, faßte uns in seinem Unterrichte auch über das Klassenziel hinaus herzhaft an und wußte insbesondere durch seinen deutschen und mathematischen Unterricht die Selbsttätigkeit in einem Maße anzuregcn, wie ich es kaum jemals wiedergefunden habe. Im

Anschluß an Schillersche und Goethesche Gedichte, die er mit Vor­ liebe behandelte, wurde irgendeine über unseren Gesichtskreis hin und wieder auch wohl hinausgehende Frage gestellt und uns

schriftliche Beantwortung für den nächsten Tag überlassen. Ebenso verfuhr er in der Mathematik. Er nannte uns einen Lehrsatz oder einige Aufgaben; mochte sie lösen, wer konnte und wollte. Nun, wir lösten sie meist alle, und manchmal brachte einer mehrere Lösungen, und die einzelnen brachten verschiedene Lösungen mit; das gab dann die Grundlage für die neue Lehr­ stunde. Oder irgendeine Figur entstand an der Tafel, und Lehr­ satz oder Aufgabe wurden nach oft recht mühseligen Unter­ suchungen gefunden. Und die Freude, wenn einer, allen voran, den Schlüssel gefunden hatte, und die Ungeduld, wenn die Finder einstweilen schweigen und die andern weitcrsuchen lasten mußten!

Also ein Arbeitsunterricht, wie ihn die Neugestalter von heute auch nicht besser einrichten können.

Wir wurden auf diese Art

auch mit den ungelösten Aufgaben der Größenlehre bekannt. So

wurde uns allen Ernstes eines guten Tages die Aufgabe gestellt, einen Kreis mit einem bestimmten Halbmesser in ein Quadrat zu Diese Aufgabe lösten wir nun freilich nicht und erfuhren erst jetzt, daß es eine der bisher in der Wissenschaft nicht

verwandeln.

gelösten Aufgaben sei. Welchen tiefen Eindruck das auf die Schülerschaft machte, erfuhr ich vor nicht zu langer Zeit. Ein in

seinem bürgerlichen Leben nicht ganz einwandfreier Mitschüler begegnete mir in Berlin auf der Straße. Ich sah etwas an ihm vorbei. Er sprach mich aber an und meinte, ich wolle wohl mit ihm nichts mehr zu tun haben. Ich verneinte das nicht, worauf er mir erklärte, so schlecht, wie ich wohl glaube, sei er doch nicht, er suche noch heute nach der Lösung der Aufgabe, die uns unser gemeinsamer Lehrer seinerzeit gestellt habe: nach der Quadratur

des Kreises. In diesem von allem lehrplanmäßigcn, streng abgemessenen Lernen abseits liegenden Einflüsse auf den jungen Menschen scheint mir der Hauptwert jeder Schule zu liegen. Wir hatten auch Lehrer anderer Art, u. a. einen nach Lehrverfahren und wissenschaftlicher Ausrüstung überaus tüchtigen Lehrer, den Subrektor Lambrecht. Aber seine Art des Unterrichtes, streng planmäßig fortschreitend und alles Gebotene sorgsam und gleich­

mäßig verarbeitend, erschien uns trotz augenscheinlicher Erfolge dem Unterrichte des Rektors Schmidt gegenüber als von gerin­ gerem Werte. Vielleicht nicht allen. Der Durchschnitt der Schüler

gewann dabei vielleicht mehr.

Begabtere und sich selbst Ver­

trauende brauchen planmäßige Leitung nicht durchweg und zu jeder Zeit, ja sie wird ihnen lästig, sie wollen Freiheit zu eigenem Suchen und eigenem Finden, und dieses Glück soll man keinem

Schüler jemals nehmen. Den Lehrern, die mir das gegeben oder gelassen haben, werde ich bis an mein Lebensende dankbar sein. Meine Erfahrungen in der Dramburger Schule sind für meine Ansichten über Schulzucht von entscheidender Bedeutung geworden. Ich habe dort an den augenscheinlichsten Beispielen gesehen, daß dieselbe Schulklasse bei dem einen Lehrer aus Engeln und bei einem anderen aus kleinen Teufeln bestehen kann. Die

Dummköpfe hatten bei den Dummheiten und losen Streichen,

die bei schwachen Lehrern verübt wurden, und die sich auch hin und wieder zu Schlechtigkeiten auswuchsen, allemal die Führung.

Jungen, in deren Köpfe mit der größten Lehrkunst und Geduld schlechterdings nichts hineinzubringen war, zeigten sich bei der Er­

findung von geistlosen Torheiten als unerschöpflich. Die Klassen waren tatsächlich nicht wicdcrzuerkennen. In der großen Mehr­ zahl der Stunden konnte man etwas von Zuchtübung überhaupt nicht entdecken. Es verstand sich alles von selbst. Alles drehte sich um den Unterricht, der sämtliche Schüler, je nach dem Grade ihrer Befähigung, erfaßte, und es wäre fast undenkbar gewesen, wenn irgendein kleiner Dummkopf in der Lehrstunde eine Unge­

zogenheit hätte ausüben wollen. Darüber hinaus kümmerte sich der Klassenlehrer um die kleinen Angelegenheiten der Jungen in

den Zwischenstunden und sonstwie aber auch nicht, und merk­ würdig, cs kam so gut wie nichts vor, was ein Einschreiten erfordert hätte. In einer anderen Klasse dagegen wurden Tag für Tag lange Strafgerichte über große und kleine Sünder, die irgend etwas außerhalb oder innerhalb der Schule verbrochen hatten, gehalten, und die Freveltaten, vielfach Unehrerbietigkeiten, Flegeleien usw., härten nicht auf. Ich habe daraus gelernt, daß man sich um ungefährliche Übertretungen und Torheiten der

Jugend nicht kümmern, daß man sie einfach nicht sehen soll. Schon die Ungewißheit, in der die kleinen Sünder dann bleiben,

ist für sie drückend, und wenn dann das Verhältnis zum Lehrer natürlich und gut ist, so halten sie sich ganz von selbst mehr in Schach, als es die straffste Schulzucht überhaupt vermag. Es ist

der schlimmste Fehler, insbesondere größeren Schülern gegenüber,

jedem kleinen Verbrechen nachzulaufen.

Der Schüler muß im

Lehrer vor allen Dingen eine kraftvolle Persönlichkeit sehen, der jedoch das Wohlwollen nicht fehlt. Aber nicht zuviel „Güte"! Sie wird zu leicht, von den Jungen besonders, aber in einem gewissen Alter auch von den Mädchen, für Schwachheit ge­

halten, und ein schwacher Lehrer gilt bei der Jugend überhaupt nichts. Kinder können entsetzlich grausam sein gegen jede Schwäche

bei Erwachsenen, insbesondere auch bei alten Lehrern. Was sich in dieser Beziehung früher, als die Lehrer noch recht alt wurden,

ehe sie aus dem Dienste schieden, oft ereignet hat, gehört schon mehr in das Gebiet der Skandalgeschichte. Auch das Außere spielt

bei der Jugend eine Rolle. Goethes Wort: „Glücklich, wem doch

Mutter Natur die rechte Gestalt gab," gilt für den Lehrenden doppelt und dreifach, bei den Mädchen noch mehr als bei den Knaben. In den rechten Händen regiert eine Schulklasse sich im wesentlichen selbst. Die jetzt so viel betonte „Selbstverwaltung"

hat es in guten Schulklassen immer gegeben. Der rechte Lehrer braucht in die Niederungen der Schulzucht, von körperlichen Strafen gar nicht zu reden, bei älteren Schülern selten oder über­ haupt nicht hinabzustcigen. Alle Ehre n strafen wirken bei Kindern nur insoweit, als sic wissen, daß ihre Mitschüler die Strafen als Ehrenstrafcn empfinden. Ist das nicht der Fall, so läßt ein rechter Junge sich wundprügeln, das macht ihm gar nichts. Auch Strafarbeiten, Tadelstriche und alles ähnliche minderwertige Strafzeug wirken nur in einer Klasie, die darin einen Makel sieht. Die Luft, der sittliche Geist der Klasse entscheidet über den Erfolg der Strafen ausschließlich, nicht ihre Härte oder Milde. Das Urteil der Mit­ schüler ist das Gesetzbuch des Schülers. Nicht jedes Schülers; es gibt Ausnahmen, sie sind aber selten. Und diesen Geist der Klasse macht der Lehrer. Er ändert sich mit jedem Lehrer von Stunde zu Stunde. Schulklassen sind Musikinstrumente, denen

der Künstler die schönsten Klänge entlockt, und die in der Hand des Stümpers nur unschöne und die Ohren verletzende Geräusche

verursachen. Und das einzelne Kind kommt dabei fast nicht in Frage. „Der Geist, der im ganzen Korps tut leben, reißet ge­

waltig, wie Windesweben, auch den untersten Reiter mit." Und da hilft meist „kein Sträuben und sich Wehren". Deswegen ent­

deckt man als Lehrer so oft auch die besten Kinder in der Schule bei den scheußlichsten Ungezogenheiten, und wer daraus Schlüsse auf das Wesen der Kinder zieht, fällt den größten Irrtümern anheim.

Für den künftigen Lehrer ist es wichtig, ja entscheidend, welche Vorbilder ihm seine eigene Schulzeit geboten hat. Für mich war cs jedenfalls so. Ich hätte ohne die Erfahrungen in der Tramburger Schule, die ich in einem Alter machte, in dem man derartige Dinge nicht mehr bloß mit dem Auge des Schülers sicht, jedenfalls später viel Lehrgeld zahlen müssen. Die taktvolle Art eines meiner Seminarlehrer (Adolf Reißmann) hat diesen Lehrgang später wesentlich ergänzt. Im Winter 1875/76 erfuhr meine Ausbildungszeit eine eigenartige Unterbrechung. Ein Nachbar trat an mich mit dem Ersuchen heran, seinen Bruder, der Lehrer in Reselkow, einem Dorfe in der Gegend von Treptow a. d. R., war, den Winter hin­ durch zu vertreten. Der Lehrer gehörte zu den damals nicht ganz seltenen Führern der Jugend, die keine regelrechte Ausbildung genossen hatten, in der Zeit des stärksten Lehrermangels aber zum Schuldienst zugelassen worden waren und dann den später geför­ derten Prüfungen nicht genügen konnten. Um endlich die zweite Lehrerprüfung mit Erfolg abzulegen, hatte er sich entschlossen, seine Stelle auf ein halbes Jahr ganz aufzugeben, in einem anderen Dorfe bei einem Geistlichen, der sich mit der Lehrer­ bildung viel befaßt hatte, den Winter zuzubringen und sich so für bie Prüfung zu rüsten. Daß man auf einen 151« jährigen Jungen — so alt war ich damals — als Vertreter verfiel, war für jene Zeit kennzeichnend. Meine Eltern waren einverstanden, und so wurde ich eines guten Tages mit dem väterlichen Gefährt bis Labes gebracht, von da mit einem anderen bis Stargordt und von hier nach Reselkow abgeholt. Es handelte sich um eine ein­ klassige Dorfschule mit 83 Schülern und Schülerinnen. Die Knaben und Mädchen der letzten Jahrgänge waren mir an Körpergröße erheblich überlegen, und als ich das erstemal vor die Klasse trat und zu den Riesen in der ersten Bank tatsächlich hinauf schauen mußte, hatte ich doch das Gefühl, daß die Sache wohl auch schief gehen könnte. Indessen, es war scharfe Zucht gehalten worden, die Kinder empfanden meine eigene mildere Behandlung von vornherein als eine Erleichterung und schlossen

sich mir im Laufe der Zeit recht eng an. Ich habe keinerlei ernst­ liche Schwierigkeiten mit der Schulzucht gehabt, und gelernt

wurde nach meiner heutigen Erinnerung immerhin recht fleißig. Da ich selbst in einer einklassigen Schule ausgewachsen war, kannte ich den ganzen Betrieb und richtete mich in meinen Maßnahmen nach denjenigen meiner Lehrer, die mir als die tüchtigsten vor Augen standen. Der geistliche Ortsschulaufseher machte zwar ein

etwas bedenkliches Gesicht, als ich ihm vorgestellt wurde. Ich beantwortete seine Fragen aber frisch und offen, und er sagte mir: „Machen Sic es so, wie Ihre Lehrer es gemacht haben, und es wird schon gehen." Er hat mich hin und wieder in der Schulklaffe besucht, mit der Zeit aber immer seltener, und mir seine Zufriedenheit in den verschiedensten Formen ausgedrückt. Die Lcbensverhältnisse waren günstig. Ich wohnte in der Lehrerfamilie. Der Lehrer selbst reiste bald ab. Die Lehrerfrau, die Tochter des Gutsverwalters im Dorf, hatte eine über ihre Verhältnisse hinausgehende Schulbildung genossen und war

eine selbstbewußte, in jeder Beziehung vorzügliche Frau, der ich sehr viel zu verdanken habe. Sie behandelte mich nicht meinem Alter, sondern meiner „Stellung" und (angenommenen) geistigen

Entwicklung entsprechend. Zugute kam mir, daß ich einen weit über mein Alter hinausgehenden gesetzten Eindruck machte. Das war auch später der Fall. Als 19jähriger in eine recht ver­

antwortungsvolle Schulstelle eintretend, nahm mich die Schüler­ schaft und auch die Bevölkerung als einen weitaus Alteren, zum Nachteil einiger mir im Alter überlegenen Berufsgenosscn. Das war damals angenehm. Wenn man mir später zehn Jahre mehr bewilligte, als ich tatsächlich zählte, habe ich doch öfter fragend in

den Spiegel gesehen. Ich wurde in die „gute Gesellschaft", die sich zum Teil aus

den Verwandten der Lehrerfrau zusammensetzte, eingeführt und zu allen geselligen Veranstaltungen herangezogen. Auch im Hause des

Gutsverwalters, in dem noch eine unverheiratete Schwester mit vorzüglicher künstlerischer Bildung lebte, war ich gern gesehen. Es wurde vorgelesen, erzählt, gesungen und gespielt und zum

Schluß ein Korb Apfel gemeinsam geleert. In der Familie des

zweiten Gutsinspektors lebte ein achtzehnjähriger landwirtschaft­ licher Lehrling aus begüterter Familie, der aber in seinen Schul­ kenntnissen nicht besonders gefördert war. Mir fiel die Aufgabe

zu, ihn in den Abendstunden zu unterrichten. Das war freilich eine

schwierige Aufgabe. Denn der junge Mann wurde von seinem Oheim, dem zweiten Inspektor, sehr scharf herangenommen, und wenn er den Tag hindurch auf dem Felde und in den Viehställen seine Schuldigkeit getan hatte, so war für den Abend nicht mehr viel Aufnahmefähigkeit und Neigung für geistige Arbeit vor­ handen. Ich hatte deswegen nicht nur mit den Unvollkommen­ heiten seiner Schulbildung, sondern auch mit seinem sehr gesunden Schlaf zu kämpfen. Ich brach dann die Lehrstunde oft vorzeitig ab. Im übrigen war für Zerstreuung reichlich gesorgt: Fremden­ besuch, Schlittschuhlaufen, Reiten, Reisen und die täglichen kleinen Freuden in einem Hause, dessen Sonne und Geist eine vornehm empfindende, warmherzige Frau war. Ihr Einfluß erstreckte sich auf mein ganzes Verhalten. So stellte ich das Rauchen, das ich meiner Männlichkeit schuldig zu sein glaubte, auf eine leise tadelnde Bemerkung ihrerseits sogleich und für immer ein. Ich bin darüber nicht unglücklich, daß ich diesen „Genuß" fortan ent­ behrt habe. Das Kirchspiel hatte drei einklassige Schulen. Die beiden anderen waren mit zwei recht verschiedenen Lehrern besetzt. Der

eine, Lehrer und Küster alten Schlages, wohlhabend, eine gute Landwirtschaft mit Gespann und Gesinde betreibend, der andere ein eifriger jüngerer Mann mit tüchtiger Seminarbildung und

strenger Pflichtauffassung, aber eben deswegen kein besonderer Landwirt und auf einer nicht besonders guten Stelle wirtschaftlich ungünstig gestellt. Die Konferenzen fanden immer im Kirchorte statt, und vorher und nachher kehrten die beiden im Hause des Berufsgenossen ein, um sich dort zu erfrischen. Zu dem Geistlichen

standen alle drei, besonders der Abwesende, den ich vertrat, nicht besonders gut. Die Unmöglichkeiten der geistlichen Schulaufsicht kamen mir schon damals voll zum Bewußtsein. Ich sah auch,

daß es nicht so sehr der böse Wille auf der einen oder der anderen Seite war, der das Verhältnis trübte, als der innere Widerspruch der Uber- und Unterordnung zweier verschiedenartiger Gebiete. Der Geistliche war ein hochgebildeter, tüchtiger, aber etwas selbst­ bewußter Mann, der seine Überlegenheit auch wohl öfter zu unrechter Zeit und in verletzenden Formen zum Ausdruck brachte und damit natürlich gerade bei demjenigen am meisten anstieß, der seinen beruflichen Wert am meisten fühlte. Das halbe Jahr ging schnell vorüber. Es war für mich und meine weitere Entwicklung, nicht nur wegen meiner Ver­ wendung als Lehrer, sondern noch mehr wegen der Entfernung vom Vaterhause eine ungemein wichtige Zeit. Ich lernte Ver­ hältnisse kennen, die mir bis dahin fremd waren, und wurde in einem Alter, in dem man sonst zumeist noch als „buntmet Junge" behandelt wird, in Dinge und Verhältnisse eingeführt, die weit über den Gesichtskreis eines Jungen in diesem Alter hinaus­ gehen. Für mein weiteres Leben und für mein Verhalten gegen alles aus niederer Höhenlage Kommende war diese Zeit von ent­ scheidendem Einfluß. Ich hatte deswegen auch eine gewisse Sorge, wie ich mich auf der Schulbank nun wieder zurechtfinden würde, und ließ mich törichterweise dazu bereden, mich um andere Stellen zu bewerben. Die Bewerbungen hatten glücklicherweise keinen Er­ folg. Aber nach Hause zurückkommend, hatte ein Oheim von mir in unmittelbarer Nähe seines Dorfes eine freie Lehrcrstclle entdeckt, etwa von derselben Art, wie ich sie während des Winters verwaltet hatte, und veranlaßte mich zur persön­ lichen Bewerbung. Ich wanderte mit dem sehr geschäftstüchtigen Manne nach dem Städtchen Nörenberg, wo der geistliche Schul­ aufseher für das Dorf, ein alter Oberpastor, wohnte. Der Oheim war mit einigen Beisteuern für die Küche des Geistlichen, einem Hahn und einer entsprechenden Menge Eiern, ausgerüstet, und ehe wir die Vordertreppe hinaufgingen, machte er einen Besuch in der Küche. Mir wurden freundlich empfangen. Der Geistliche ließ sich eine Bibel holen, und ich mußte das erste Kapner aus dem ersten Buche Samuelis vorlesen. Er stellte dann noch ein

paar einfache Fragen und erklärte daraufhin, ich werde für die Stelle Wohl geeignet sein. Alter 15% Jahre! Mir war die ganze Sache indessen doch nicht recht geheuer. Schon auf dem Heim­ wege war ich fest entschlossen, mich der neuen Anwerbung auf irgendeine Meise zu entziehen. Ich beredete meine Eltern, daß ich doch schleunigst wieder in die Schule eintrcten wolle, und war recht glücklich als nach einiger Zeit zwar ein glänzendes Zeugnis meines Schulaufsehers aus Reselkow eintraf, aber die Königliche Regierung trotzdem erklärte, ich sei für die Stelle zu jung. So ging dieser Kelch an mir vorüber, und ich konnte meiner regel­ rechten Ausbildung weiter obliegen. Jedenfalls ist dieses Vor­ kommnis bezeichnend für die damaligen Zustände im preußischen Schulwesen. Tausende von Stellen waren verwaist, und ich bin überzeugt, daß meine Vertretcrschaft noch nicht die schlechteste war.

r. Seminarzeit. Im Frühjahr 1877 trat ich in das Lehrerseminar in Dram­ burg ein. Die Aufnahme in das Seminar erfolgte damals noch auf Grund einer Aufnahmeprüfung, der sich auch die Schüler der wenigen staatlichen Präparandenanstalten unterziehen mußten. Die Mehrzahl der Seminaranwärter war durch Privatunterricht und private Lehrgänge vorgebildct und deswegen in ihren Lei­ stungen im ganzen und in den einzelnen Lehrfächern durchaus verschieden. Zu der Aufnahmeprüfung, an der ich teilnahm, hatten sich über 80 junge Leute eingefunden. Die regelrechte Zahl der Aufzunehmenden betrug 25. Da die voraufgehenden Klassen nicht ganz hatten gefüllt werden können, so war diesmal eine etwas stärkere Aufnahme (27) möglich. Auf jeden Fall konnte eine starke Auslese getroffen werden, während das Angebot in den Vorjahren schwach gewesen war. Der Zustrom zum Lehramt der Volksschule wurde erst jetzt stärker. Der Einfluß der Falkschcn Aufbesserungen und der Neuerungen in der Schulaufsicht und im

Lehrplan der Volks- und Mittelschule und der Seminare begann erst jetzt, sich in vollem Maße geltend zu machen. So war es

möglich, eine gute Klasse zusammenzubringen, in der viele junge Menschen mit starkem Streben und auch verhältnismäßig guter

Vorbildung vereinigt waren. Aber gerade die Besten fanden im Seminar nicht, was sie suchten. Mich selbst beengte der Geist der Anstalt, der sich in der Behandlung der Schüler und im Unter­ richte bemerkbar machte. Wir waren etwas anderes gewöhnr, als uns zumeist geboten wurde. Dazu kam die Beengung durch

das Internat, das nach meiner Ansicht, auch wenn eine gute Hausordnung vernünftig gehandhabt wird, immer den Einfluß der Lehrer auf junge Leute im Alter von 17—21 Jahren schwächt. Es bringt Lehrer lind Schüler auf dem Gebiete des Alltags zu nahe zusammen. Die Lehrer bleiben nicht nur Lehrer, sie werden Aufseher und schwache Seelen auch Aufpasser und verlieren damit den bestimmenden Einfluß auf die nach Freiheit verlan­ gende Jugend dieses Alters. Das Schülerleben in einer solchen Anstalt wird ganz von selbst durch manche Engigkeiten bestimmt und verschlechtert. Je mehr wir von der übrigen Welt abge­ schlossen waren, um so mehr baute sich diese Welt in ihren

unerfreulichen Erscheinungen in unserem eigenen Leben auf. Das Bestreben der verschiedenen Jahrgänge, sich übereinander anzu­ ordnen, trat sehr stark zutage. Es war hergebrachte Sitte, daß

der letzte Jahrgang für den ersten mancherlei niedere Dienste übernahm. Als wir als „Füchse" diese Bärendienste verweigerten, erblickte man darin einen Sklavenaufstand. Aber geschlossenes Auftreten unsererseits verschaffte uns bei den Verständigen Zu­

stimmung, und die anderen mußten sich fügen. Und da der Jahr­

gang, dem ich angehörte, das, was er von sich abgewehrt hatte, später auch nicht verlangte, so hat er zur Gesundung der Verhält­ nisse auch für die Zukunft wesentlich beigetragen. Der Geist in der Schülerschaft verbesserte sich ganz augenscheinlich, auch wohl

deswegen, weil die späteren Jahrgänge gleichmäßiger und besser

vorgebildet waren und zumeist aus jüngeren Schülern sich zu­

sammensetzten. Die Zeit, in der so mancher, der in seinem Beruf

verunglückt und zusammengebrochen war, im Lehrerberufe einen

Ankerplatz suchte, war glücklicherweise vorüber.

Im übrigen konnte mir das Seminar nicht das bieten, wo­ nach ich mit ganzer Seele verlangte. Der Unterricht war zu sehr auf das Bedürfnis der Schwächeren eingestellt, und unter den

Lehrern war außer Adolf Reißmann niemand, der sich durch seine Persönlichkeit und seine wissenschaftlicheStellung zumFührer ganz eignete. Die früheren Verbindungen aber mit draußen, denen ich

so viel verdankte, waren abgeschnitten. Verkehr zwischen den Lehrern uni) Schülern des Gymnasiums und des Seminars bestand damals fast gar nicht.. Sehr zum Nachteil beider. Später änderte sich das. So war man auf sich selbst und seine Mitschüler angewiesen. Das genügte natürlich nicht, und so konnten die Jahre des eigentlichen geistigen Wachsens doch nur mangelhaft aus­ genützt werden. Ich muß es geradezu als ein Unglück bezeichnen, wenn jungen Menschen in diesem Alter nicht große Vorbilder im Wesen und in den berufsmäßigen Leistungen vor Augen stehen und ihnen Freiheit und Gelegenheit fehlen, um aufzulesen, was

ein weiterer Kreis bietet. Aus sich selbst und aus den Anregungen der Gleichstehenden vermag der kräftig verlangende Geist nicht genügend zu gewinnen. Ich habe in diesen Jahren durch eigene

Arbeit mich

unendlich viel abgemüht und stehe

doch

heute

unter dem Eindruck, daß es im ganzen eine wenig fruchtbare Zeit war. Am Tage des Eintritts in das Seminar wurde meine

Mutter im Alter von 53 Jahren ins Grab gesenkt. Für mich ein um so schwererer Verlust, als die älteren Schwestern das Vaterhaus verlassen hatten und die Fürsorge für mich und meine Ausstattung der jüngsten Schwester verblieb, die durch die Wirt­ schaft ohnehin stark überlastet war. So mußte ich, trotzdem ich bisher an derartiges nicht gewöhnt war und auch keineswegs

so veranlagt bin, daß ich mich mit den kleinen Sorgen des Lebens geschickt abfinde, nun in sehr vielem für mich selbst sorgen. Die ersten Versuche dabei brachten mir sogleich eine schmerzliche Er­ fahrung. In einem christlichen Geschäfte der Stadt, in dem

meine Mutter immer sehr viel gekauft hatte, wurde ich, als ich

den Preis bemängelte, so schlecht behandelt, daß ich es, ohne zu kaufen, verließ. Auf dem Wege zum Seminar kam ich an dem

Geschäfte eines jungen jüdischen Kaufmanns vorbei, bei dem meine Eltern niemals gekauft hatten. Er sprach mich an und

verkaufte mir das Gewünschte zu meiner vollen Zufriedenheit.

Aus dem sehr umfangreichen Verkehr, den meine Eltern mit hausierenden Juden und mit den jüdischen Geschäftsleuten der Stadt hatten, habe ich auch niemals irgend etwas von Unredlich­ keiten erfahren.

Meine späteren ebenfalls sehr ausgedehnten

geschäftlichen Beziehungen zu Juden haben mich dasselbe gelehrt,

und darum habe ich auch, so wenig mich manche Eigenschaften

der Ostjuden anziehen, aus diesen Gründen niemals zu irgend­

welcher Judengegnerschaft kommen können. Meine Überzeugung geht im Gegenteil dahin, daß auch der kleine jüdische Geschäfts­

mann im Durchschnitt mindestens so ehrlich und zuverlässig ist,

als die christlichen Geschäftsleute derselben Bildungs- und Gesell­ schaftsstufe.

Das ungemein schnelle Aufkommen des Ostjuden­

tums in meiner nächsten Nähe hat mir schon damals die außer­

gewöhnlichen geistigen und Willenskräfte dieser Leute vor Augen geführt, und ich werde es nie vergessen, daß meine Großmutter

uns die Hänseleien der in ihrem Hinterhause untergebrachten jüdischen Kinder mit dem Hinweise untersagte: „Ihr werdet Gott

danken, wenn ihr noch einmal dasselbe werdet wie diese Juden!" lind tatsächlich sind mehrere von ihnen, die ich zufällig im Auge

behalten habe, etwas ganz Ordentliches geworden.

Im Seminarleben war mir nichts so unangenehm, als daß ich mit elf Mitschülern auf demselben Zimmer wohnen und mit

einer noch größeren Zahl in demselben Saal schlafen mußte. Hatte ich doch bisher bei all meinen Arbeiten die Ruhe und Ein­ samkeit unseres Hauses genossen. Ungemein empfindlich gegen alle Störungen, habe ich mich deswegen während der drei Jahre,

wo es nur immer ging, bei meinen Arbeiten in die Schlafsäle, Unterrichtszimmer usw. verkrochen, um ungestört arbeiten zu

können, und die stillen Sonntagnachmittage, wenn alles aus­ geflogen war, gehörten zu meinen seligsten Stunden. Wie meine Mitschüler über mich urteilten und mein Ver­

hältnis zu den Lehrern auffaßten, zeigt die Niederschrift eines Klassengenossen, aus der ich hier einiges folgen lasse:

„Als ich ihn im Seminar zuerst kennen lernte, fiel er mir wohl auf; aber da wir auf verschiedenen Wohnstuben und auch

auf verschiedenen Schlafsälen untergebracht waren, so bin ich ihm

verhältnismäßig spät nähergetreten. Er schien in der ersten Zeit wenig Kameradschaft zu Pflegen, und es wurde ihm auch wohl nicht ganz leicht, Freundschaften zu schließen. Das lag m. E. in seinem Wesen und in seinen Neigungen begründet. In seiner Brust schienen nicht die zwei Seelen Fausts zu wohnen, sondern nur die eine, die intellektuell-moralische. Die andere, die von der

Erde jede höchste Lust fordert, fehlte ihm. Daher war es ihm beispielsweise nicht gegeben, Freundschaften inter pocula zu

schließen und zu Pflegen.

Auch das Schwärmen von Lenz und

Liebe und seliger, goldener Zeit lag nicht in seiner Natur. Die Freundschaften, die er schloß, beruhten auf intellektuellen und moralischen Eigenschaften und Neigungen. Ich bin ihm deshalb

meines Wissens auch erst im zweiten Jahre nähergetreten, als

wir uns genauer kennengelernt hatten. Wenn man mit ihm Freundschaft geschlossen hatte, so konnte man sich auf ihn unbe­ dingt verlassen. — Es gibt Klassenlieblinge, die alle gern mögen

wegen ihrer persönlichen Liebenswürdigkeit. Ein solcher war er

nicht. Er hatte vielmehr eine satirische Ader, die ihn körperliche oder geistige Eigentümlichkeiten an den einzelnen zum Gegenstand seiner Spöttereien machen ließ. Er hat damit manchen verletzt,

allerdings nur vorübergehend. Man wußte, daß derartige kleine Angriffe nicht der Ausfluß böser Gesinnung, sondern einer gewissen Lust zu Scherzen war, wobei er sich denn zuweilen im

Gegenstand vergriff. Weil alle fühlten, daß sein Charakter ein

durch und durch intellektuell-sittlicher war. So hatte er denn wohl

Neider, aber keinen Feind in der Klasse. Seine Achtung hat ihm keiner versagt. Seine prononzierte Sittlichkeit hat ihm aber 4»

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auch manchen leichten Verdruß eingetragen. Weil alle wußten, daß ihm alles Gemeine, Zoten und dergleichen in tiefster Seele

verhaßt waren, so suchte man ihn in sittliche Entrüstung zu bringen, um sich daran zu weiden, indem man derlei Sachen vor seine Ohren brachte, obgleich die betreffenden Übeltäter nicht gerade schlecht waren, sondern nur ihre Schelmenstreiche an ihm

verüben wollten. Man empfand seine — wie man meinte — Hypermoral als eine Exzentrizität und wollte sie ein wenig zausen. Als Schüler war er für alle Gegenstände des Denkens hervor­ ragend begabt, nicht so für die Technik und vor allem nicht für die

Musik. Sein Selbstbewußtsein und sein Selbstvertrauen war aber so stark entwickelt, daß er meinte, er würde auch in der Musik viel leisten können, wenn er wollte. Diese Ansicht wurde ihm von mir entschieden bestritten, ohne daß indes hierdurch unserm guten Einvernehmen Eintrag geschehen wäre. Trotz seiner Begabung und seines Fleißes waren seine Klassenleistungen oft nicht glän­ zend in dem Sinne, daß er seine Vorträge mit reißendem Gefälle dahergeströmt hätte. Er hatte den Stoff zwar stets gedankenmhaltlich erfaßt und verarbeitet, aber nicht memoriert. Daher

war sein Vortrag nicht immer glatt, und nicht selten hatte er mit dem Ausdruck zu ringen, ein Zeichen, daß er dem GedankeninhaÜ die Form erst geben mußte. Die Ausdrücke des jeweiligen Lehr­

buchs oder Leitfadens gebrauchte er daher selten, wodurch er namentlich den Interpreten der Naturwissenschaften oft in sicht­

liches Unbehagen versetzte, da dieser dann nicht wohl feststellen konnte, ob er nicht flunkerte, was er freilich ihm nicht zutraute und sich auf seine Glaubwürdigkeit verließ. Sein Fleiß war groß. Man sah ihn nie bummeln. Stets war er mit wissenschaft­

lichen Arbeiten und Versuchen beschäftigt, auch mit solchen, die ziemlich weitab lagen von den Materien des Unterrichts, und man hatte bei ihm das Gefühl, daß er seine Arbeiten betrieb um der Wissenschaft willen und nicht für die Erreichung eines außer­

halb ihrer liegenden Zieles, z. B. zur Erlangung eines guten Zeugnisses. Man wußte von ihm auch, daß sein Interesse für

die Wissenschaft nicht mit der Erreichung eines gesteckten Zieles

erkalten werde, sondern daß er mit dieser eine lebenslängliche Ehe eingegangen sei. Darum war ihm auch bei allem Streben das ebenso der Neid auf Klassengenossen mit glänzenden Klassenleistungen, die Sucht, als erster und bester

Strebertum fremd,

dastehen zu wollen, was mir an einigen anderen Klassengenossen unangenehm ausgefallen ist. So ertrug er es denn auch gut­ mütig, wenn sich andere einmal mit seinen Federn schmücken,

seine Ausarbeitungen exzerpieren oder sich an ihnen orientieren wollten. Er war auch immer bereit, den Armen im Geiste behilf­

lich zu sein, und mancher hat sich bei ihm Rat holen dürfen. Daß es ihm um das Eindringen in die wissenschaftliche Materie zu tun war, bewies er auch im Klassenunterricht. Er war da kein bequemer Schüler und begnügte sich nicht damit, die Meinungen der Lehrbücher sich anzueignen oder die Darstellungen der Lehrer weitcrzugebcn, sondern er suchte überall selbständig denkend auch andere Auffassungen und Ansichten aufzuzeigen und geltend zu machen. Meistens waren solche Einwände von seiner Seite eine Frucht reifen Denkens und in der Sache begründet. Zuweilen waren ihm aber natürlich auch Irrtümer unter­ gelaufen, die er aber manchmal solchen Lehrern gegenüber, die ihn und seine Art nicht recht anerkennen mochten, mit Zähigkeit und vieler Dialektik verteidigte. Sein Verhältnis zu den Lehrern wurde bestimmt durch die aufgezeigte Eigenart seines Wesens und seiner Begabung und die größere oder geringere Geneigtheit der Lehrer, ihn und seinen

Esprit anzuerkennen. Das siebenköpfige Kollegium zerfiel wohl hinsichtlich seines Verhältnisses zu I. T. in drei Gruppen: drei Mitglieder Pro, drei kontra, eins neutral. Die Herren der ersten Gruppe erkannten seine Begabung und sein redliches Streben und nahmen es nicht übel, wenn er durch seine Einwendungen und

Ausstellungen ihre Autorität etwas unsanft streifte. Zu ihnen stand er in einem recht guten Verhältnis. Zu der Kontragruppe gehörte die Seminarleitung und die Musika. Seine Leistungen in den Gegenständen und Fächern zweier von ihnen haben ihm

auch bei diesen Achtung abgenötigt.

Aber ihre Empfindlichkeit

und ihr Selbstgefühl ertrugen nicht die Verstöße gegen ihre

Autorität, wenn er sich erlaubte, andrer Meinung zu sein als sie.

Es wäre Wohl nicht so schlimm gewesen und geworden, wenn er nicht bei den Auseinandersetzungen eine Art des Lächelns gehabt hätte, welche ihnen, die seinen Charakter gar nicht kannten, die Galle ins Blut trieb. Denkbar schlecht war seine Stellung zu

dem Musikmann. Hier war seine Position schwächer, weil er in der Musik nichts leistete. Da die Hanswurstiaden des Trottels sein Zwerchfell oft mit unwiderstehlicher Gewalt erschütterten, besonders wenn ihn einer seiner guten Freunde suggestiv ansah, so kam es zwischen den beiden zu für das Auditorium heiteren Auftritten. Anders wäre es gewesen, wenn er in der Musik etwas

geleistet hätte. In diesem Falle hätte der Töne Meister mit ihm unter allen Umständen einen modus vivendi gesucht; denn es

war so selten, daß jemand in der Musik etwas leistete, daß er diese Leuchten seines unterrichtlichen Ansehens wegen, das eben nicht groß war, einfach nicht fallen lassen durfte. So aber war der gute Mann nur zu bereit, sich mit den beiden vorhin gezeichneten zu einer Allianz gegen ihn zu verbinden, um so lieber, als in diesem Falle der Sänger mit dem König gehen konnte. So stand, die Partie al pari. Den Ausschlag hätte also die als neutral bezeich­ nete dritte Gruppe geben müssen. Aber der gute alte Herr, der

sie darstellte, mag Wohl bei der mehr passiven Rolle, die er spielte, mit der Kontragruppe gestimmt haben. Denn daß die Majorität

gegen ihn gewesen sein muß, lag auf der Hand. Auch die ihm geneigt waren, können ihre Schuldigkeit gegen ihn nicht getan haben. Sie waren allerdings auch Wohl nicht dazu imstande, denn dazu hätte mehr wissenschaftliche und sittliche Größe gehört, als ihnen zu Gebote stand.

So erlebte man das groteske Schau­

spiel, daß in moribus der Beste von uns allen, der sittliche Cha­

rakter, wie er im Buch steht, für „unwürdig" befunden wurde, irgendeins der Ämter, deren Verleihung doch wohl von dieser Qualität abhängig gemacht werden sollte, zu bekleiden. Es fehlten ihm zwar nicht die drei Ehrfurchten aus der pädagogischen Pro-

vinz, Wohl aber die nötige Ehrfurcht vor den dreien. Daher wurde er verdammt. Die Tragikomödie, die man mit ihm aufführte, wurde — soviel ich weiß — von allen Mitschülern als eine Narr­

heit, wenn nicht als eine Gemeinheit empfunden. Wenn es wahr ist, was Spinoza sagt, daß der Mensch ein ens risibile, ein lachendes Wesen ist, so war I. T., wie schon angedeutet, ein rechter Mensch schon in seiner Seminarzeit. Er lachte gern. Sein Lachen war zum weitaus größten Teil der Aus­ fluß seiner im tiefsten Grunde gutmütigen Natur. Er lachte jeden an, der ihm und dem er unbefangen begegnete. Das Lachen Verschtvand auch nicht leicht, wenn er sich mit Gegnern auseinandersctzte, nur nahm cs dann eine etwas andere Färbung an, so daß diejenigen, die ihn nicht genug kannten, und vor allem, deren intellektuelles Gewissen nicht ganz rein war, wohl auf den Gedanken kommen konnten und auch kamen, er lache sie aus.

Explosiv aber wurde sein Lachen, wenn ihm intellektuelle oder moralische Komik, besonders an eingebildeten Größen, begegnete, besonders wenn ihn der verständnisinnige Blick einer wahlver­ wandten Seele traf. Das hat ihm zuweilen für die Beurteilung feines Wesens üble Früchte getragen. Wie schon erwähnt, war der hervorstechendste Zug seines Wesens sein Fleiß, seine Liebe zu wissenschaftlicher Arbeit. Dabei hatte er aber immer Zeit, jemand

in seinen wissenschaftlichen Nöten zu helfen oder ihn teilnehmend anzuhören, wenn er ihm ein Leid klagte, ihn zu trösten und zum

Widerstande und Aufwärtsstreben zu ermuntern. Für Heldentum sowie für Heroen des Geistes und des

Willens war er begeistert, und augenscheinlich war sein Wille,

sich an großen Vorbildern Richtung und Ziel seines Strebens zu setzen. So stand er inmitten seiner Genossen, daß ihm meines Wissens niemand irgendeinen Vorwurf gemacht hat, der das Gebiet der Charakterlosigkeit auch nur gestreift hätte. Er war eine Erscheinung, wie sie wohl im Jnternatsleben, wo man doch

in jeder Beziehung sehr genau beobachtet und gekannt wird, nicht

oft vorkommen mag. Er galt bei seinen Mitschülern in jeder Hinsicht für integer vitae, und wir fühlten es alle, daß hinter

ihm in wesenlosem Scheine lag, was uns alle zuweilen bändigte: das Gemeine." Ich glaube allerdings, daß dieses Bild gar zu lichte Farben trägt, wenn der Berichterstatter sonst auch eine starke Neigung besitzt, neben den guten die ungünstigen Seiten an den Menschen zu sehen; hier hat die Freundschaft für mich das Urteil nach der Lichtseite beeinflußt. Trotzdem mochte ich an dem Zeugnis nichts ändern. Der Unterricht und das geistige Leben im Seminar genügten mir, wie schon ausgesührt, nicht. An der Spitze des Seminars stand bei meinem Eintritt der bekannte Verfasser biblischer Handund Schulbücher: Eduard Sperber. Er war ein willensstarker, aber auch gewalttätiger Mann, in dessen Nähe man nicht warm wurde. In seiner Stunde drückte ich mich, damals der Zweit­ kleinste in der Klasse, immer hinter den breiten Rücken meines Vordermannes und entging damit seinen Erkundigungen nach meinem mangelhaften - Fleiße im Auswendiglernen der Dar­ stellungen aus der Geschichte des Erziehungswesens. Nach einem halben Jahre verließ Sperber die Anstalt und ging in seine Heimat Eisleben zurück. Wohl nur wenige waren darüber unglücklich. Wirkliche Liebe genoß er bei niemand. Ver­ letzend war es für uns auch besonders, daß er von pommerscher Eigenart recht geringschätzig sprach; wir waren aber doch nicht mehr jung und unerfahren genug, um an ihm selbst nur Vorzüge wahrzunehmen und unsere Landsmannschaft geringer zu bewerten als die seinige. Ähnliches kommt leider vielfach vor — es ist immer eine Torheit. Die Vernunft ist überall in der Minderheit, und überall gibt es gescheite Leute, man muß sie nur unbefangen suchen und sehen. An Sperbers Stelle trat der Direktor Kern aus Alt-Döbern, der ihm wissenschaftlich und menschlich in keiner Hinsicht gewachsen war und auch mäßigen Ansprüchen offenbar nicht genügte. Mein Verhältnis zu dem neuen Direktor gestaltete sich nicht besonders freundlich. Meine sorglose, heitere Art, die allerdings auch andere hin und wieder als ein etwas boshaftes Lächeln über

mir begegnende Torheiten auffaßten, konnte er nicht vertragen; er sah darin öfter eine Verletzung der ihm schuldigen Achtung. Noch weniger vermochte er es hinzunehmen, wenn ich mich über die vielen engherzigen Bestimmungen der Seminarordnung hin­ wegsetzte und z. B. in den Freistunden auf dem Zimmer be­ queme Hausschuhe trug, wenn nur Stiefel erlaubt waren. Der­ artige Verstöße strafte er gern dadurch, daß er den Sünder im Unterrichte völlig übersah. Mir persönlich war das aber durchaus nicht unangenehm, denn ich war dann allen Belästigungen durch seinen Unterricht entrückt — einen wesentlichen Gewinn brachte er uns allen doch nicht — konnte nach Herzenslust lesen und arbeiten, was ich wollte, während andere sich im Schweiße ihres Angesichts z. B. um die Aneignung völlig bedeutungsloser Bibelsprüche beniühen mußten. Ich habe von all den „wichtigen" Belegstellen für die Katechismuswahrheiten nicht eine einzige gelernt. Allerdings war ich vorsichtig genug, mich dann, wenn sein Zorn allmählich im Schwinden war, rechtzeitig mit etwas auszurüsten, was ihm Achtung abnötigen konnte. Gut vorbereitet, saß ich gewöhnlich etwas verträumt da, dann wurde ich ganz sicher gefragt, und anstatt nun, wie es etwas schüchterne Genossen Wohl taten, mich von ihm in den Vortrag hineinreden zu lassen, sprach ich in schnellstem Flusse weiter, ohne mich um seine Einwendungen viel zu kümmern. Er verlor dann allmählich vollständig die Fähigkeit, den Inhalt aufzufassen, und ich habe, damit rechnend, öfter Dinge vorgetragen, bei denen meinen Freunden die Haare zu Berge standen, z. B. die völkische Stellung der alttestamentlichen Propheten in Vergleich mit Ernst Moritz Arndt gestellt, was den rechtgläubigen Anschauungen des Herrn Kern in keiner Weise entsprach. Trotzdem wurden diese Auslassungen ebenso mit einem fortlaufenden „Gut" begleitet, wie andere, die weniger ketzerisch sein mochten. War ich schlecht oder überhaupt nicht vor­ bereitet, so nahm ich stets die Miene der größten Aufmerksamkeit an und entging dann seinen Nachstellungen unzweifelhaft, auch wenn nicht kurz vorher irgendeine Störung unseres Verhältnisses eingetreten war. Dieses Beispiel mag zeigen, wie leicht Lehrer

getäuscht werden können und auf wie boshaften Wegen auch, sonst einigermaßen ordentliche junge Menschen in den Schulen zu­ weilen wandeln.

Ein für uns beide recht unerquickliches Erlebnis ist mir noch in der Erinnerung geblieben. Nach der Konferenz, in der die Stuben-, Schlafsaal- usw. -Vorsteher gewählt worden waren und

über meine Person wohl eine etwas heftige Aussprache statt­

gefunden hatte, besuchte der Direktor mich in der einklassigen

Seminarschule, in der ich unter der Aufsicht eines Lehrers das Evangelium des nächsten Sonntags behandelte. Die Kinder saßen anders, als der Direktor es angeordnet hatte. Die Umordnung war aber nicht auf meine Veranlassung, sondern auf Anordnung des Ubungsschullehrers erfolgt. Trotzdem wurde ich in der

heftigsten Weise vor der Klasse angefahren. Ich sagte mir in dem Augenblick: die lieben Kinderchen werden in der Stadt erzählen, ich hätte vom Direktor gehörig ausgehunzt bekommen. Deswegen setzte ich mich in derselben heftigen Weise, ohne auf das Ansehen des Anstaltsleiters irgendwelche Rücksicht zu nehmen, zur Wehr, und erschreckt zog der Mann sich aus dem Klassenzimmer zurück. Nun erzählten natürlich dieselben Schüler, ich hätte den Direktor

aus der Klasse hinausgeworfen. Das letztere war vielleicht für mich doch angenehmer als das erstere. Diese Gegensätzlichkeiten nahmen zum Teil sogar ganz schnurrige Formen an. So erhielt ich z. B. zur Hochzeit meiner jüngsten Schwester nur bis zum Abend um 7 Uhr Urlaub, trotzdem es üblich war, daß man an

den Familienfesten in vollem Umfange teilnehmen durfte. Nun setzte aber an dem Tage ein so heftiges Schneewetter ein, daß in kurzer Zeit der Boden fußhoch mit Schnee bedeckt und weder Weg noch Steg zu sehen war. Es war schlechterdings nicht möglich,

den fünf Kilometer langen baumlosen Feldweg bei fortdauerndem

Schneefall und anbrechender Nacht zurückzulegen. Ich war ent­ schlossen, mich auf den Weg zu machen, wurde aber durch die Familienmitglieder verständigerweise daran gehindert. Als ich am nächsten Morgen ganz früh in der Anstalt mich meldete, ver­ langte der Anstaltsleiter eine schriftliche Bescheinigung darüber,

daß es zur fraglichen Zeit geschneit habe. Meine Einwendung, daß der Direktor das doch selbst wisse, und daß der Schnee doch

jetzt fußhoch liege, während es gestern völlig schneefrei gewesen sei, nützte nichts. Nun, ich wanderte den fünf Kilometer langen Weg wieder zurück, hatte Gelegenheit, an der Nachhochzeit, wie sie dort gebräuchlich war, noch recht vergnügt teilzunehmen, und brachte

dann eine Bescheinigung meines Vaters in folgendem Wortlaute mit: „Ich bescheinige hiermit, daß es gestern abend geschneit hat." Zu weiterer Beurkundung wollte der Vater sich unter keinen Umständen verstehen. Ich habe das Schriftstück pflichtschuldigst

abgeliefert.

Welchen Eindruck es gemacht hat, konnte ich nicht

beobachten, denn die Tür schloß sich sehr schnell vor mir. Für unser körperliches Wohl, das dem Direktor ja in erster

Linie oblag, hatte der Mann kein Verständnis. Die vorzüglichen, der Gesundheit dienenden Anlagen der Anstalt: Aborte, Badeund Wascheinrichtungen, verkamen denn auch vollständig, anderes blieb uns völlig überlassen. Glücklicherweise befand sich die Be­ köstigung in guten Händen. Der tapferen, herzensguten Frau Karow bewahren wohl alle ihre Pfleglinge bis an ihr Lebensende

ein dankbares Andenken. Wenn etwas nicht nach Wunsch geraten war, so bekamen wir ein verweintes Gesicht zu sehen und wurden

bei der nächsten Mahlzeit reichlich entschädigt. Wohlhabend ge­ worden ist sie auf jeden Fall in ihrer Stellung nicht. Aber sie

wußte, daß wir sie alle herzlich gern hatten, und das tat der anscheinend ziemlich vereinsamten Frau sehr wohl. Genossen, die sich auf gute Worte mehr verstanden als ich, schütteten ihr, wenn sie Gelegenheit dazu hatten, auch gern ihr Herz aus.

Von den übrigen Lehrern brachte der erst kürzlich eingetretene erste Lehrer Friedrich, ein Theologe, der in Religion, Deutsch, Französisch und alter Geschichte unterrichtete, eine starke Unter­

schätzung der Seminaristen mit, die wir fühlten, und die ich besonders deswegen unangenehm empfand, weil ich bisher von

Personen mit Hochschulbildung, von den Geistlichen, Gymnasial­ lehrern'und Ärzten immer ausgezeichnet behandelt worden war.

Ich setzte mich deswegen auch wohl mehr als irgendeiner meiner

Klassengenossen zur Wehr, was mir natürlich nicht als Aus­

zeichnung angerechnet wurde. Aber unser Unterricht gewann dadurch

wesentlich.

Es

ist doch wohl so, daß nicht nur der Lehrer die Klasse, sondern unter Umständen auch eine Klasse den Lehrer macht. Im übrigen war Friedrich ein Mann mit aufrichtigem Wohlwollen. Durch seine abgewogenen Formen hätte er uns viel nützen können, wenn er uns innerlich nähergestanden hätte, aber er konnte über die akademische Mauer nicht hinweg, und wir bemühten uns hier und da, von der Höhe, auf der er gesehen werden wollte, etwas

abzutragen. Das war für ihn gewiß schmerzlich, schuf aber doch ein Verhältnis gegenseitiger Achtung, wie es ohne unsere Abwehr nicht bestanden hätte. Geschichte und Erdkunde lagen in den Händen eines für seinen Beruf und seine Fächer begeisterten Mannes, des Ordent­ lichen Seminarlehrers Köpp, der insbesondere die Strebsamen von uns auch stark mitzog. Die Naturwissenschaften wurden

durch Hintz, einen herzensguten, aber auf diesem Gebiete nicht genügend ausgerüsteten Lehrer vertreten. Den Musikunterricht erteilte Groth, ein Mann von bedeutenden musikalischen Anlagen,

aber ungezügeltem Wesen, der sich in der Behandlung der Schüler so stark vergriff, daß sein Einfluß als Lehrer und Erzieher nur nach der negativen Seite bewertet werden konnte. Der Freundes­ bericht sagt über ihn das Nötige. Der ausgezeichnetste Mann in der ganzen Lehrerschaft war der Hilfslehrer Adolf Reiß­

mann, der später als Leiter des Preußischen Lehrervcreins bekannt geworden ist. Persönlichkeiten wie diejenige Reißmanns sind selten. Seine sichere Beherrschung der Fächer, die er vertrat (Mathematik, Zeichnen mit Kunstgeschichte, zeitweise Naturwisscn-

schaften), seine warme Teilnahme am Geschick der Schüler und vor allem sein zwar stilles, fast überbescheidenes, aber trotzdem sicheres

Wesen verschafften ihm einen Einfluß auf uns junge Menschen, die ihm teilweise im Alter nicht ganz fernstanden, wie er in der­ artigen Anstalten eben nicht häufig ist. Der Unterricht wurde noch beeinflußt durch die Überlieferung

der Regulative, die it. a. auch verlangten, daß der Seminar­ unterricht im ganzen nur das bieten sollte, was der Volksschullehrcr im Unterricht wieder zu lehren habe, und auch in dieser Form. Die meisten Lehrer richteten sich hiernach glücklicherweise nicht mehr, die Regulative waren bereits ein Jahrfünft begraben, als ich in das Seminar eintrat. Wo cs aber noch versucht wurde, entstand ein vollständiges Zerrbild wirklichen Unterrichts. Die Verschiedenheit der Schülerschaft, die Ungleichheit ihrer Ver­ anlagung und Vorbildung drückten den Unterricht ohnehin so herab, daß die Vorgeschritteneren nicht auf ihre Rechnung kamen. Das nötigte mich von vornherein teilweise zu völlig selbständigen eigenen Arbeiten, für die ich leider im Seminar keinerlei Hilfs­ mittel fand. Unsere Schülerbücherei bestand aus Jugendschriften (Nicritz, W. O. von Horn) und einigen kirchlichen, geschichtlichen und naturgeschichtlichen Büchern für die reifere Jugend. Die Benutzung der Lehrerbücherei wurde uns nicht nahegelcgt. Dar­ um besonders zu bitten, wagte ich nicht. Dankbar war ich deswegen dem Buchhändler Otto Jancke aus der bekannten Buchhändlerfamilie, einem Manne mit tüch­ tiger Bildung, daß er mich bei der Wahl der Hilfsmittel beriet und aus seiner guten Leihbücherei freigebig ausstattete. So habe ich oft wochenlang gelesen und gearbeitet, ohne mich um den Klassenunterricht viel zu kümmern. Was verlangt wurde, beherrschte ich in den meisten Gegenständen ohnehin, von anderem wußte ich mich zu drücken. Die Früchte eigener Arbeit sind mir dann später zugute gekommen. Ich konnte mich von der Herr­ schaft der Dinge, die mich fesselten, nie längere Zeit frei machen, und deswegen wäre ich bei geringerer Nachsicht und geringerem Wohlwollen meiner Lehrer und bei geringerer Einschätzung meiner Fähigkeiten und Leistungen auch wohl öfter als ein schlechter Schüler erschienen. Aber man traute mir eben viel zu, im Fleiße wie in der Begabung. Das günstige Vorurteil hat mir auch später jederzeit viel genutzt. Man schrieb mir immer mehr gut, als ich tatsächlich leistete, als Lehrer, Schriftsteller, Redner und sonst wer. Insbesondere ist mein Einfluß auf andere schon

in der Seminarzeit stark überschätzt worden. Ein Seminarlehrer

sagte mir, die ganze Klasse, das ganze Seminar stände unter meinem, wie er meinte, schlechten Einfluß. Ich habe davon niemals etwas gespürt.

Von einzelnen Gegenständen stark angezogen, war ich im Seminar oft weit ab vom gewöhnlichen Schulwege. Wenn man

mich rief, fand ich mich aber wohl meist so zurecht, daß man meine Abirrungen und eigenen Geistesvergnügungen nicht als störend empfand. Und so habe ich auch später gelebt und gearbeitet. Wenn ich mich einem Gegenstände zuwandte, so war ich bald

mit irgendeiner wichtigen Einzelheit so stark beschäftigt, daß ich die planmäßige Eroberung der Grundzüge eines großen Wissens­ gebietes dabei völlig vergaß. In Prüfungen, die sich über ein großes Gebiet erstreckt hätten, und in denen klare und vollständige Übersichten verlangt worden wären, würde ich deswegen auch

wohl kläglich gescheitert sein. Aber ich bin sonderbarerweise so niemals geprüft worden. Man hat bei mir fast immer irgend etwas angeschlagen, worin ich gut oder weniger gut Bescheid wußte. Ich ging dann mit aller Lebhaftigkeit auf das, was der Prüfende wissen wollte, ein, so daß ich bald den Faden selbst in der Hand hatte und ihn dann natürlich nach meinem Wissen hin abwickeln konnte. So sind mir die Prüfungen nie lästig gefallen. Im Gegenteil. Einmal allerdings kam es etwas anders, nämlich bei meiner

zweiten Lehrerprüfung in Pyritz, 1882, in der ich aus rein zu­ fälligen Gründen gleich anfangs gut abgeschnitten hatte, so daß ich von der Prüfung in der Mehrzahl der Fächer entbunden wurde. Dem ersten Lehrer, dem Theologen Breitsprecher, erschien es trotzdem notwendig, daß ich in der Religion mitgeprüft würde, und er ließ mich Gesangbuchverse aufsagen und den Inhalt von Kirchenliedern und einzelnen Strophen daraus angeben. Ich

weiß nicht, ob ihm dies als die Krone der Leistungen in seinem Fache erschien, so daß er mir, den die Prüfungskommission sonst

einstimmig als gut ausgerüstet ansah, auch seinerseits noch zu einer besonders schweren Leistung Gelegenheit geben wollte, oder

ob er das Gegenteil beabsichtigte und Gesangbuchverse sür ein dazu geeignetes Mittel hielt. Die Genossen und ich hatten den letzteren Eindruck, und es erregte allgemeine Freude und (Nenugtuung, als ich die Ergebnisse meiner Heinrichsfelder Schulzeit so ausgiebig verwenden durfte. Ob Herrn Breitsprecher das ebenso erfreut hat, habe ich nicht erfahren. Unsere Wege haben sich nicht wieder gekreuzt. Auch dieses kleine Erlebnis mag dazu bei­ getragen haben, daß ich einen Mißbrauch der Gotteslehre und der Unterweisung darin zu sehr weltlichen und nicht immer ganz einwandfreien Zwecken für möglich halte. Andere in mein Leben tiefer eingreifende Erlebnisse haben mich darin bestärkt. Die Schule und die spätere Ausbildungszeit haben mir aus den mitgeteilten Gründen niemals besondere Plage verursacht, weder die unendlich vielen Bibelsprüche, die der Direktor im Seminar bei seinem veralteten Katechismusuntcrrichte verlangte, noch sonstige Gedächtnisstoffe, die uns zugemutet wurden. Frei­ lich habe ich mich genauen Erkundigungen nach meiner Unwissen­ heit auch nach Möglichkeit entzogen. Das gehört ja wohl überall zum Schulbetrieb und dürfte nichts Außergewöhnliches sein. Aus diesem Grunde habe ich auch von freiwilligen Prüfungen nur diejenigen abgelegt, die mir so halb gegen meinen Willen in den Weg gekommen sind: die Mittelschullehrerprüfung in Mathematik, die ich mit „sehr gut" bestanden habe, und die Mittelschullehrer­ prüfung in Erdkunde, über deren Ergebnis ein meines Erachtens weder wissenschaftlich noch sittlich vollwertiger Prüfender anders urteilte. Darüber ist an gegebener Stelle noch etwas zu sagen. Die Gefahren eines derartigen Liebhaberlernens, wie ich es immer betrieb, habe ich übrigens nie verkannt und würde den­ selben Weg nicht jedem empfehlen. Aber mir selbst hat diese Art des Lernens unendlich viele Freuden gebracht, und ich habe irgend­ welche Last des Lernens hauptsächlich deswegen niemals kennen­ gelernt. Die Versuche, die ich gemacht habe, mir anders als durch Teilnahme am Schulunterrichte planmäßige Übersichten über ganze Gebiete zu verschaffen, sind kläglich gescheitert und haften in meiner Erinnerung als recht wenig fruchtbare kurze Zeit-

strecken. So hatte ich mir vorgenommen, die Weihnachtsferien 1879/80 vor der im Februar 1880 in Aussicht stehenden ersten Lehrerprüfung zu einer planmäßigen Wiederholung zu benutzen. Mit den nötigen Leitfäden und Lehrbüchern bewaffnet, rückte ich im Vaterhause ein, bezog mein abseits von dem lebhaften Weihnachts­ treiben gelegenes Zimmer (zwei Nichten im Alter von drei bis fünf Jahren sorgten für Leben) und plagte mein Gehirn von früh bis spät, auch auf den Spaziergängen in frischer Winterluft. Und der Erfolg? Ich erfuhr nur immer ausreichender, daß mein Wissen aus Lücken bestand, die sich durchaus nicht schließen wollten, soviel ich auch hineinwarf. Die völlig ungewohnte gedächtnismäßigc Anstrengung bewirkte schließlich eine gewisse Lähmung meiner Gehirnzellen. Ich konnte kaum noch einen Satz ohne Stockung sprechen. Da packte ich meine Leitfäden zusammen und tröstete mich mit Sokrates: „Ich weiß, daß ich nichts weiß" und arbeitete die Zeit bis zur Prüfung ebenso, wie ich es bis­ her zumeist getan hatte, schlief so lange oder noch länger, als es die Seminarordnung gestattete, ging viel spazieren, nutzte die Unterrichtsstunden aus und ließ mich in meinen Liebhabereien nicht stören. Und es ging, sogar nicht ganz schlecht. Ich glaube, daß ich der unmittelbarsten, vollsten Anteil­ nahme an dem, was lebhaft in meinen Gesichtskreis trat, auch meine Erfolge als Redner, als Schriftsteller, als Mitarbeiter in Vereinigungen und Versammlungen zumeist verdanke. Weil ich selbst wohl immer etwas lebhafter mitten in der Sache war, als die große Mehrheit der Teilnehmer, konnte ich oft andere fort­ ziehen und fortreißen, die vielleicht durch einen weniger lebhaften Anstoß und durch bloße Tatsachen oder Gründe nicht zu bewegen gewesen wären. Man nannte mich öfter Führer, Anwalt usw. Wie wenig ich mich dazu berufen fühlte, wie wenig ich es sein wollte, wußte und weiß ich allein am besten. Das Verhältnis zu den Mitschülern war gut. Ich habe viel Liebes von den verschiedensten Seiten erfahren. Meine Eigen­ tümlichkeiten nahm man hin, da man nichts Böses dahinter sehen konnte. Ich half, wo ich konnte, und trat manchem auf den

Sonntagswanderungen näher, zu denen ich, wenn das Wetter irgend dazu angetan war, einen Kreis von Gleichgesinnten an­

regte. Nähere Freunde kehrten auch im Vaterhause ein, zuweilen auch zu einer Zeit, wenn man uns an anderer Stelle vermutete,

nämlich während der Sonntags-Gottesdienste. Die Hausgemein­

schaft bringt die jungen Menschen ja näher zusammen, als es sonst in Schulen geschieht, stößt freilich auch nicht zueinander passende sehr stark ab.

Daß sich die Klasse, der ich angehörte, frühzeitig ihrer Stel­ lung bewußt wurde und ihre Rechte gegen die voraufgehenden Klassen und auch gegen die Lehrer abgrenzte, ist schon erzählt.

Diese Geschlossenheit, die wir auch in nicht ganz gewöhnlichen Verhältnissen erkennen ließen, gab uns nach allen Seiten hin

eine außergewöhnliche Stellung. Adolf Reißmann hat noch in

seinen letzten Lebensjahren mir gegenüber öfter betont, daß er eine Klasse wie die unsrige nie wieder kennengelernt habe. Ich persönlich habe den Wert des Zusammenschlusses in einer für mich ungemein trüben Angelegenheit schätzen gelernt. Von dem Musiklehrer ungerecht und roh behandelt, wollte ich das Semi­

nar verlassen, wenn mir nicht volle Genugtuung würde. wurde vom Direktor zunächst verweigert.

Diese

Darauf erklärte die

Klasse, daß sie sich mit mir in der Angelegenheit verbunden fühle und von sich aus die Genugtuung verlange. Sie wurde nun, zuerst in unvollkommener Form, gewährt.

Es erfolgte noch­

maliger Einspruch, und der Fall wurde dann durchaus zu unserer und meiner Zufriedenheit beigelegt. Erst später erfuhr ich, daß sich

alle Mitschüler in der Klasse ohne Ausnahme schriftlich verpflichtet hatten, für mich bis zum äußersten einzutreten, auch Klassen­ genossen, denen ich persönlich durchaus nicht näherstand. Dieser Fall hat meine Stellung zum Vereinswesen, wie ich glaube, schon

damals beeinflußt.

Das war im Herbst 1878. Einige Monate

später wehte in den Seminaren ein anderer Wind. An einigen nicht ganz wetterfesten unserer Lehrer merkten wir den Umschwung, der durch Falks Weggang und Puttkamers Eintritt erfolgt war,

ganz deutlich. Daß ich sonst nicht zu den Ordnungsverächtern im

Seminar

gehörte,

läßt

der

obige

Freundesbericht

unschwer

erkennen. Trotzdem war meine Seminarzeit auch noch von manchen andern geradezu dramatischen Vorgängen belebt, die

zu erzählen allerdings ein ganzes Buch erfordern würde.

Im Februar 1880 schied ich aus dem Seminar mit einem Zeugnisse, wie es Wohl nur wenige meinesgleichen haben werden.

Es verzeichnet nicht weniger als 22 „Sehr gut"; aber an seinem

Ende, wo die Musik beurteilt wird, stehen auch einige „Ziemlich genügend" und „Wenig genügend". Schuld daran trug zum Teil

meine geringe, Wohl etwas unter dem Durchschnitt liegende Be­ gabung auf diesem Gebiete, zum Teil die früh in mir auftretende Meinung, daß diese Dinge für mein geistiges Leben und für meinen Beruf keinen besonderen Wert hätten. Ich habe deswegen schon im Vaterhause, trotzdem für die nötigen Hilfsmittel (Geige

und Klavier) gesorgt war, mich der Tonkunst wenig hingcgeben, beim Klavierlehrer, wenn er nicht anwesend war, viel lieber

dessen ausgezeichnete Bücherei mit Reise- und naturwissenschaft­ lichen Werken benutzt, als die aufgegebenen Klavierstücke geübt, und im Seminar wurde mir die Tonkunst durch den Musiklehrer vollends verleidet, so daß ich nur das Allernotwendigste mit­ gemacht habe. Eine Entbindung von diesem Teile des Unterrichts

war nach den damaligen Anschauungen leider noch nicht möglich. Ich habe oft, aber immer vergeblich, darauf angetragen. Auf der

zweiten Prüfung in Pyritz verbesserte ich übrigens, trotzdem ich inzwischen nicht das mindeste zu meiner tonkünstlerischen Ver­ vollkommnung getan hatte, mein Zeugnis in diesen Fächern, so

daß es sich heute auch sehen lassen kann. Aber das war ein Ent­ gegenkommen der Prüfenden, das sie mir aus anderen Gründen bewiesen.

über kleinliche Behandlung seitens meiner Lehrer kann ich mich mit zwei Ausnahmen nicht beklagen. In den Fällen, in denen es zu Zusammenstößen kam, habe ich immer doch den Menschen,

freilich auch mit Schwächen und Fehlern, aber nie den herzlosen Kleinling gefühlt. Mir haben diese Dinge deswegen auch dann

manche schwere Stunde bereitet, wenn ich im Recht zu sein glaubte. Die Beurteilung meiner Leistungen hat darunter nie ge­ litten, und ich habe mich öfter überschätzt als unterschätzt gefühlt, letzteres vor allem deswegen, weil ich die Lückenhaftigkeit meiner Bildung stark empfand und auch nie an einer planmäßigen Aus­ füllung dieser Lücken andauernd gearbeitet habe, so oft ich auch Anläufe dazu unternahm. Daß aber neben den 22 „Sehr gut" in mein Zeugnis geschrieben wurde: „Betragen ziemlich gut" — ein „Sehr gut" galt hier als selbstverständlich und notwendig — und Fleiß: „in der Musik mangelhaft", hat der Mehrzahl der Lehrer sicherlich Gewissensbisse bereitet. Aber es war eine Zeit, in der auch Autoritäten, die keine waren, unter allen Umständen geschützt werden mußten. Diese Urteile haben mir, soweit ich sehen kann, übrigens nirgends geschadet. Eine grundsätzliche Beurteilung des Lehrerseminars, wie es zu meiner Zeit war und auch noch lange nachher geblieben ist, wird man an dieser Stelle nicht erwarten. Aber eines möchte ich mit aller Deutlichkeit aussprcchcn, mich dabei aber auf Preußen beschränken, da die Verhältnisse in den anderen deutschen Staaten teilweise anders, größtenteils günstiger, zum Teil allerdings noch ungünstiger lagen. Aus einer Notanstalt hervorgewachsen, wäre es ein leichtes gewesen, die Lehrerseminare so zu entwickeln, daß sie auf volks­ tümlicher Grundlage nicht nur dasselbe, sondern erheblich mehr geleistet hätten als andere höhere Schulen mit Schülern bis zum 18. oder 19. Jahre in der Regel leisten können. Hätte man, was ohne weiteres möglich gewesen wäre, die Lehrergehälter einiger­ maßen entsprechend bemessen, so würde man tüchtige Jungen im Alter von 13 Jahren oder aus den Mittelschulen und gehobenen Stadtschulen mit 14 und 15 Jahren haben aufnehmen und bis zum vollendeten 20. bzw. 21. Jahre so vorbilden können, daß sie im Alter von 19 Jahren die Bildungshöhe der allgemeinen Lehr­ anstalten erreicht hätten, um sich dann in den letzten Jahren eine ansehnliche Fachbildung anzueignen. Das Lehrerbil-

dungswesen im Königreich Sachsen ist in ähnlicher Weise ent­ wickelt worden. In Preußen wäre das auch möglich gewesen. In den breiten Schichten der Bevölkerung, insbesondere auf dem platten Lande, sind sehr viele gutbegabte junge Menschen vor­ handen. Man braucht sie nur zu suchen. Aber es ist nicht zu verkennen, daß sich die preußische Unterrichtsverwaltung bei der Ausgestaltung der Seminare höhere Ziele niemals gesteckt hat. Die klägliche Besoldung der Seminarlehrer, die nach der Aufgabe dieser Anstalten und dem Alter ihrer Schüler nicht niedriger sein durfte, sondern höher hätte sein müssen als die der Gymnasial­ lehrer, schreckte alle tüchtigeren hochschulmäßig gebildeten Lehrer von den Anstalten zurück und veranlaßte viele der tüch­ tigeren seminarisch gebildeten Lehrer, möglichst bald in andere ehrenvollere und besser bezahlte Stellungen als Leiter von Volks­ schulen, Mittelschulen, Höheren Mädchenschulen usw. einzutreten. So hat sich das Seminar zum Teil mit mittelmäßigen Lehr­ kräften begnügen müssen. Insbesondere gilt das von den hoch­ schulmäßig vorgebildeten. Es kamen an die Seminare — und wurden Wohl auch nur gewünscht — Anwärter auf den geistlichen Beruf. Bei dem geringen Einkommen, das auch die ersten Lehrer­ stellen boten, waren das zumeist nur Leute, die keine große Aus­ sicht hatten, im geistlichen Stande vorwärtszukommen, Leute zweiten und dritten Grades. Die Zeit, in der etwas freier gerichtete Geistliche den Seminardienst suchten, war lange vor­ über oder dauerte nur kurze Zeit. An diesen Dingen und nicht allein an den grundsätzlichen Fehlern im Aufbau und in der Ein­ richtung der Anstalten ist das Seminar gescheitert. Hätte man höhere Ziele verfolgt, so würde auch die ganze Entwicklung der Anstalten sich anders vollzogen haben, und wir hätten durch all­ mählichen Aufstieg die Lehrerhochschule, eine vollwertige höhere Fachschule, schon Jahrzehnte hindurch haben können. Hier liegt eine Versäumnis der Untcrrichtsverwaltung vor, die gar nicht scharf genug betont werden kann. Es war gewollte Niederhaltung. Womit natürlich nicht etwa gesagt werden soll, daß die Gesamtheit oder auch nur ein erheblicher Teil der an den Seminaren Wir-

kenden in demselben Geiste gearbeitet hätten. Im Gegenteil. Wer

die verbitterten Gestalten gesehen, die herzbewegenden Klagen so vieler unserer tüchtigen Seminarlehrer gehört hat, der weiß, wie­ viel Kraft und ernster Wille in diesen Kreisen immer vorhanden

gewesen ist. Unzählige von ihnen sind an den Verhältnissen früh­ zeitig zugrunde gegangen. Andere haben lebenslang unter dem Fluch des bloßen Selbststudiums zu leiden gehabt. Wissenschaft­ lichen Unterricht muß man selbst genossen und gesehen haben, um ihn mit Erfolg zu erteilen. Das Selbststudium allein macht den Lehrer nicht. In keinem Berufe beruht soviel auf Muster und

Beispiel als im Lehrer- und Erzieherberufe. Daß der neue Staat das Seminar abbrechen muß, ist eine traurige Tatsache. Nicht

Abbruch und Neubau, sondern weitere Entwicklung ist sonst das Naturgemäße. Was im Seminar gesund und kräftig ist, läßt sich hoffentlich trotz alledem in vollem Umfange für die zukünftige Lehrerbildung ausnützen, und es wird von der Weitsicht und Geschicklichkeit der jetzigen Leiter dieses Teiles der Unterrichts­

verwaltung abhängen, in welchem Umfange und mit welchen Mitteln das geschieht.

3. Erste Gchuttätigkeit in Katlenburg und Dramburg. Im Frühjahr 1880 war meine Seminarzeit beendet. Ende Februar schieden wir aus der Anstalt, die uns drei Jahre fest­ gehalten hatte. In die Stammbücher wurden noch schnell gute

und schlechte Verse geschrieben, alte Freundschaften für ewig erklärt, stille und laute Gegnerschaften ausgeglichen, und jeder eilte voller Hoffnungen seiner Heimat und nach einigen Wochen dem Orte seiner ersten amtlichen Wirksamkeit zu. Mich führte das Schicksal in Gestalt des Negierungsschulrats Kahle nach dem

Heinen Städtchen Falkenburg. Meine über den Durchschnitt hin­ ausgehenden Kenntnisse im Französischen und einiges Latein ließen mich für eine dort frei gewordene Mittelschullehrerstelle

als geeigneten Ersatz erscheinen. Heute wäre das auffällig, aber damals gab es geprüfte Mittelschullehrer in Pommern nur wenige, und schließlich ist es ja ein geringeres Wagnis, einen eben ins Amt tretenden Lehrer in eine Mittelschule zu stecken, als ihn als Seminarhilfslehrer oder Präparandenlehrer zu verwenden, was damals allgemein geschah. Ich stellte mich den Magistrats­ mitgliedern vor. Der zur Prüfung beschaffte recht lange schwarze Rock paßte zu dem bisherigen kurzen Überzieher zwar nicht, aber man wußte sich zu helfen. Die Magistratsmitglieder empfingen mich zum Teil in der Arbeitsschürze und in Holzpantinen. Das gefiel mir gar nicht so übel. Ich habe den überaus einfachen Zug in der Falkenburger Bürgerschaft immer sehr wohltätig empfunden. Wenn in dem ersten Gasthause der Arzt, der Bürger­ meister und andere „Honoratioren" am runden Tisch beisammen­ saßen, so setzte sich der einfache Tuchmacher mit seiner blauen Jacke und Schürze nicht etwa abseits, sondern daneben. Die Herzen der unterrichtlich vielleicht nicht sehr verwöhnten Jungen erwarb ich mir sehr schnell in ein paar Physik- und Chemie­ stunden, in denen ich einige ihnen nicht bekannte, gut gelungene Versuche ausführte, und sie zeigten mir, trotzdem unsere gemein­ same Arbeit nur bis zum 1. Mai, dem Beginn des neuen Schul­ jahres, dauerte, während der ganzen Zeit meiner Tätigkeit in Falkenburg eine in den Flegeljahren nicht oft bekundete Zu­ neigung. Einzelne kamen auch später mit Pflanzen, Tieren und Steinen Rat suchend häufig zu mir. Mit dem 1. Mai mußte ich aus der Mittelschule ausscheiden. Die örtlichen Gewalthaber waren anderer Meinung als die Negierung in Köslin. Ich fand mich mit der Änderung ohne weiteres ab, denn meine unterrichtliche Verwendung blieb eine verhältnismäßig günstige. Der sehr schwerhörige alte Lehrer der ersten Mädchenklasse konnte den Unterricht bei den halberwach­ senen Mädchen nicht mehr erteilen. An Eintritt in den Ruhe­ stand war aber nicht zu denken. Es war vor Erlaß des Lehrer­ pensionsgesetzes. Wieviel Schul- und Lehrerelend durch dieses Gesetz beseitigt worden ist, können Jüngere kaum ermessen. Man

muß es gesehen haben, wie in ehrenvoller, erfolgreicher Erzieher­ arbeit hinfällig gewordene Greise sich zur Schule schleppten und von der in diesen Dingen unbarmherzigen Jugend gemißhandelt wurden. Wenn es, wie hier, ganz und gar nicht mehr ging, mußte der alte Herr eben vertreten werden. Ich erteilte den Unterricht in Religion und Deutsch, und mir haben noch vor wenigen Jahren frühere Schülerinnen ihre warme Anhänglichkeit ausgesprochen. Eine wohlhabende Bürgers­ frau, die nach einer Stadt in der Mark übergesiedelt war, ließ es sich nicht nehmen, als sie erfahren hatte, daß ich zu einer Ver­ sammlung dorthin kam, mir ihre beiden halberwachsenen Söhne vorzustellen, und erzählte mir, wie oft sie mit ihren Jungen von ihrer Schulzeit gesprochen habe, und wie sie noch jetzt ihre Schulhefte aus jener Zeit als ein wertvolles Andenken auf­ bewahre und den Kindern zeige. In der Tat waren die Schüle­ rinnen für die deutsche Dichtung in hervorragendem Maße emp­ fänglich. Ich habe mit ihnen Stücke aus Schillerschen, Goetheschen, Lessingschen Bühnendichtungen, die gangbarsten Gedichte Goethes, Schillers, Uhlands immer wieder gelesen, und wir haben uns in Form und Inhalt vertieft. Die Kinder haben sie mit großer Freude immer wieder gesprochen, kurz, wir lebten ganz im Reiche der Dichtung. Auch in den Religionsstunden fanden wir uns ganz gut zueinander. Weniger Beifall fand allerdings mein Religionsunterricht bei der streng rechtgläubigen Geistlich­ keit, trotzdem ich mir erhebliche Abweichungen von der kirchlichen Lehre nicht gestattete. Der erste Geistliche hielt es in ber öffent­ lichen Schulprüfung vor einer zahlreichen elterlichen Zuhörer­ schaft für angemessen, einer Schülerin, die über die Erlösung vom Tode nach dem Glaubensbekenntnis das wiedergab, was sie in meinem Unterrichte an der Hand biblischer Stellen aufgefaßt hatte, zuzurufen, das sei „falsch". Ich sagte sehr ruhig zu dem Kinde: „Mein Kind, der Herr Pastor hat dich Wohl nicht richtig verstanden, sage es noch einmal." Das Kind glaubte, es habe nicht deutlich genug gesprochen oder sich nicht klar genug aus­ gedrückt, und wiederholte klar und laut, was es eben gesagt hatte.

So waren die Kinder es gewöhnt. Sie sagten, was sie aufgefaßt hatten, war's nicht recht, so meldeten sich die Mitschülerinnen zur

Richtigstellung. Ich ließ dasselbe noch zwei andere Kinder wieder­ holen und fuhr dann, als wenn nichts geschehen wäre, in meiner

Prüfung fort. Die erwachsene Zuhörerschaft hatte natürlich sehr gut gemerkt, um was es sich handelte, und die beiden Geist­

lichen, die sonst nicht sehr amtsbrüderlich zueinander hielten, fühlten sich doch stark gekränkt. Der jüngere von ihnen machte den allerdings vergeblichen Versuch, in freundschaftlicher Aus­

sprache mich bibelkundlich besser zu unterrichten. Ich stellte seinen Belegstellen eine mindestens ebenso große Zahl, die meine Auf­ fassung stützten, gegenüber und beendete die Aussprache mit der Bemerkung: „Wir wissen ja wohl beide, daß die Bibel ein Buch der Bücher mit sehr verschiedenen Anschauungen ist. Diese unter

einen Hut zu bringen, muß ich schon den Gottesgelehrten über­ lassen. Ich fühle dazu keinen Beruf." Das war so kleiner Haus­

krieg zwischen uns und den Geistlichen, den wir jüngeren Lehrer um so ungeschcutcr führten, als wir wußten, daß wir die über­ große Mehrheit der Bevölkerung auf unserer Seite hatten.

Neben der ersten Mädchenklasse war ich auch Klaffenlehrer der letzten Mädchenklasse, die mit 70 kleinen Mädchen noch nicht genügend gefüllt war; es mußten aus der gegen 100 Schüler zählenden Knabenklasse

noch

14 Knaben mit ausgenommen

werden. Ich habe mich mit dieser großen Zahl redlich gemüht. Die 14" Jungen, einige schon im Alter von 8—9 Jahren, machten sich in der Mädchenklasse sehr gut. Ein Mitarbeiter, der die gleichaltrige Knabenklasie führte und bei mir einige Stunden

gab, sagte oft, das wären gar keine richtigen Jungen mehr. Weiblicher Einfluß ist eben stark, auch in diesem Alter.

Wochenlang mußte ich übrigens die beiden Klaffen, die zu­ sammen 170 Schüler zählten, auf dem großen Schulsaal gemein­

sam unterrichten, und noch heute stehen diese Wochen als das Unangenehmste meiner 25jährigen Schularbeit vor mir. Ich habe damals tief empfunden, was es heißt, überfüllte Schulklassen

zu unterrichten. Alle Grausamkeiten der Schulzucht haben ja hierin in erster Linie ihren Grund. Nach einem Jahre war ich alle diese Qualen los, meine 84 wanderten, mit Ausnahme von 5, in die nächst höhere Klasse. Die Aufnahme war schwach, so daß jetzt nur einige 40 Kinder in der Grundklasse saßen. Und nun erst konnte ich anfangen, das auszuführen, was mir lange vorgeschwebt hatte. Ich ließ die Kinder sehr viel, auch in den Schulstunden, auf dem großen Hofe und an dem nahen Flußufer — ein prächtiger Abfall führte vom Schulhofe unmittelbar zur Drage — spielen. Die Nach­ mittage verbrachte ich zumeist mit ihnen im nahen Walde. Und trotzdem wurden die Grundlagen für das, was der Schulunter­ richt fordert, genügend gelegt. Was man heute mit so viel Geräusch als etwas Funkelnagelneues verlangt, war vielen von uns damals durchaus geläufig. Waren doch soeben die Reinschen Schuljahre erschienen, die dem jüngeren Lehrergeschlechte von damals wie eine Offenbarung vorkamen, und Finger, Wiede­ mann, Bogumil Goltz wurden fleißig gelesen und benutzt. Das Märchen hielt seinen Einzug in die Schule. Gesang und Zeichnen und Malen wurde mit dem ersten Leseunterricht verbunden, und vor allen Dingen viel gewandert, draußen gespielt und beobachtet. Das habe ich auch in meinen späteren Stellungen so gehalten, selbst in Berlin, wo diese Art, die Kinder zu beschäftigen, aller­ dings mit großen Schwierigkeiten verknüpft ist. Ich bin aber auch hier vom Schlesischen Bahnhof nach Treptow und dem Eier­ häuschen hinausgezogen oder von Moabit nach der Jungfern­ heide, und nicht nur im Sommer, sondern auch im Winter. Ich bin durch diese Art des Unterrichts und durch mancherlei Beob­ achtungen früh darüber belehrt worden, daß man die Kinder ganz schief ansieht, wenn man sie nur auf der Schulbank kennen­ lernt, und am wenigsten richtig beurteilt, wenn man das Glück hat, daß einem die Schulzucht keine Schwierigkeiten bereitet. In den ersten Wochen meiner Unterrichtstätigkeit in der Falken­ burger Mittelschule versuchte ich in der Raumlehrestunde, einem vierzehnjährigen jüdischen Schüler, der allgemein als beschränkt

galt, die Berechnung des Quadrats zu erklären. Es gelang nicht. Ich mühte mich eine Stunde lang mit ihm ab und nahm die Arbeit in der nächsten Stunde nochmals auf, aber ohne Erfolg. In der Mittagspause saß ich in meiner Wohnung, deren sehr niedriges Fenster nach dem Schulhofe ging. Der Holzladen war geschlossen. Ich wollte etwas schlummern. Ein Rudel Jungen, darunter auch mein großer Raumgelehrter, sammelte sich vor dem Fenster und erörterte großartige kaufmännische Pläne, und der unfähige Raumgelehrte setzte seiner Zuhörerschaft mit einer Zungenfertigkeit und Klarheit des Gedankens gewisse kauf­ männische Maßnahmen auseinander, daß ich meinen Ohren nicht traute. Ich wußte aber von dem Tage ab, daß man ein schlechter „Denker", aber doch ein guter Kaufmann sein kann. Für meine Unterrichtsstunden habe ich mich, vom Seminar aus daran gewöhnt, in den ersten Amtsjahren, soweit nur immer möglich, schriftlich vorbereitet. Viele meiner Lehrstunden habe ich in Frage und Antwort vorher niedergeschrieben. Ich habe frei­ lich keine dieser Stunden nach der Niederschrift wirklich gehalten, bin aber auch heute noch der Meinung, daß eine solche vorherige gedankliche Durcharbeitung dessen, was man mit den Kindern besprechen will, für junge Lehrer überaus nützlich ist. Der Ein­ wand, daß dadurch die Unterredung vorweg festgelegt werde, hat sich in meinem Unterricht nicht als stichhaltig erwiesen. Ich habe mich gerade dann in der Unterredung mit den Kindern völlig frei bewegen können, wenn mir Gang und Ziel der Unterredung klar vor Augen standen. Ich konnte dann jeden Seitenweg, der durch Antworten der Kinder eingeschlagen wurde, verfolgen, weil ich niemals in Sorge zu sein brauchte, den Faden zu verlieren. Dasselbe gilt auch von meinen Vorträgen, auf die ich mich auch, soweit nur möglich, schriftlich vorbereite. Wenigstens aber nehme ich immer eine Niederschrift von Stichwörtern mit. Je besser ich vorbereitet war, je sorgsamer ich meinen Gedanken auch sprachliche Form gegeben hatte, um so freier und selbständiger habe ich unterrichtet und gesprochen. Es mag sein, daß eine solche Vorarbeit bei anderen anders wirkt. Für mich war diese Vor-

bereitung eine Befreiung und keine Fessel, sie gab mir erst die Möglichkeit, in der Stunde und im Vortrage selbst mich gedank­ lich und sprachlich ohne jeden Zwang zu bewegen, ohne jede Sorge, an irgendeiner Stelle meiner Aufgabe nicht gewachsen zu sein. Und wenn ich kurzschriftliche Wiedergaben meiner Vorträge mit meinen Ausarbeitungen verglichen habe, so habe ich immer große Unterschiede auch in der sprachlichen Fassung, besonders aber in der Gedankenfolge und Gedankenverknüpfung, gefunden. Je sorgfältiger aber die vorherige Niederschrift war, um so klarer war auch die mündliche Darstellung. Unvorbereitet muß man ohnehin genug lehren und reden. Wer es viel oder ausschließlich tut, kommt zu leicht zu einer unerträglichen Breite und zu sprach­ licher und gedanklicher Zuchtlosigkeit, ganz abgesehen davon, daß ein reicher Inhalt und Bestimmtheit auch im einzelnen ohne sorgsame Vorbereitung selbst bei gut vorgebildeten Menschen unmöglich ist. Das Leben in meinem ersten Wirkungsorte gestaltete sich für mich außerordentlich freundlich. Anspruchslos, fand ich ent­ sprechende häusliche Pflege. Unter den Berufsgenossen bestand allerdings kein Zusammenhalt. Die älteren hatten sich voll­ ständig abgesondert. Jeder hatte seinen Nebenberuf. Der eine, Neitzel, der Vater des bekannten Musikgelehrten Otto Neitzel, wid­ mete sich der Musik, zwei andere waren als Kantoren und Küster kirchlich stark in Anspruch genommen, ein vierter der Lichtbild­ kunst ergeben, ein fünfter war als Naturheilkundiger tätig. Unter den jüngeren, die als Hauslehrer noch stark beschäftigt waren, bestanden zwei Parteien. Die eine zählte drei Köpfe, die andere nur zwei. Beide warben um meine Seele. Ich schloß mich der „größeren" an, nicht, weil sie um einen Kopf zahlreicher war, sondern weil die Angehörigen mir besser gefielen. Damit hatte ich es allerdings mit der anderen verdorben, zu der der erste Lehrer der Mittelschule, ein junger Theologe, gehörte. Ich kam zu ihm später in ein unfreundliches amtliches Verhältnis. Der Leiter der Schule, der alte Rektor Biedermann, ein 48er, der ehemals nicht ganz staatsfromm gewesen war, jetzt aber nichts

mehr von Auslehnungsgelüstcn verspüren ließ, hatte das Unglück,

sich ein Bein zu brechen, und sein Vertreter wurde nicht, wie es sich gehört hätte, einer der älteren Lehrer, sondern eben jener Theologe, der nun seine Kunst darin suchte, die nicht mit ihm Befreundeten amtlich entsprechend zu behandeln. Gt erteilte uns die Vertretungsaufträge für den betreffenden Tag immer erst

am Morgen, trotzdem die Vertretung einige Monate dauern mußte. Ich war gewohnt, mich auf meinen Unterricht in der erwähnten Weise vorzubereiten, und bat ihn nach einigen Tagen um vorherige Mitteilung der Vertretungsstunden. Aber es kam ihm anscheinend darauf an, mich gerade in solche Klassen zu schicken, wo höhere Anforderungen gestellt wurden, und er glaubte wohl, daß ich mir hier und da eine Blöße geben würde, wozu ich natür­ lich keine Neigung hatte. Am nächsten Morgen wurde ich denn auch wieder in die erste Knabenklasse gerufen. Der vertretende Rektor saß am Lehrertisch. An der Wandtafel stand ein Lehrsatz angeschrieben und eine Figur darunter, und an mich erging die Aufforderung, die Jungen bei der Lösung der Aufgabe zu beauf­ sichtigen. Ein herzhaftes Lachen meinerseits und die Antwort, daß diese Arbeit wahrscheinlich niemand so ausgezeichnet besorgen würde, als er selbst. Ich verließ den Klassenraum, um mich noch

eine Stunde in meinem gemütlichen Heim auf meine Tagesarbeit

vorzubereiten. Auf die Beschwerde über mich bei der Schuldeputation erhielt ich allen Ernstes einen schriftlichen Verweis, ohne daß ich mit einem Wort gefragt worden war, ob ich etwas zu der Beschwerde zu sagen habe. Ich nahm das Schriftstück, schrieb an

den Rand: „Ich bin nicht schuld, daß die Falkenburger Schul­

deputation von den einfachsten Rechtsverhältnissen keine Ahnung hat", und schickte es durch einen Jungen wieder aufs Rathaus. Darob gewaltige Entrüstung und Beschwerde bei der Regierung in Köslin, die sich aber wahrscheinlich die Niederschrift über meine

Gegenäußerung, die nicht vorhanden war, ausgebeten hat. Ich habe niemals erfahren, was die Regierung zu diesem Schild­

bürgerstücklein gesagt hat. Meiner Freundschaft mit den Herren vom Rathause tat das übrigens keinen Abbruch, im Gegenteil,

sie wußten nun, daß ich auch anders konnte, und stellten sich

demgemäß zu mir.

Das Leben in der Stadt war für mich ungemein anziehend. Ein Gesangverein,

der weit über die Provinzgrenzen hinaus

anerkannt, ja berühmt war, und dem Tondichter von Bedeutung ihre für den Männergesang geschriebenen Schöpfungen zur Prü­

fung zugehen ließen, vereinigte einen großen Teil der gesangs­ lustigen männlichen Bevölkerung aus allen Kreisen.

Außer­

ordentlich gute Stimmen waren in dem Verein vertreten, und in den Ubungsstunden wurde nach Herzenslust gesungen. Auf den Gesangfesten erhielten wir hergebracht die ersten Preise. Mich duldete man in diesem Kreise gern, trotzdem meine Gesang­

leistungen wohl recht bescheidene waren, und ich habe manche frohe Stunde unter den prächtigen, natürlichen Menschen verlebt. An den Nachsitzungen und den daran anschließenden oft mehr als tollen Streichen habe ich mich indessen nur einmal, und zwar buchstäblich gezwungen, beteiligt. Das verbot sich, abgesehen von meiner Stellung zu solchen Dingen, schon deswegen von selbst, weil mein Gehalt von 750 Mark, monatlich 62 Vi Mark, größten­ teils für Wohnung und Kost verbraucht wurde, und, da keinerlei Büchereien vorhanden waren, meine Ausgaben für Bücher sich

recht hoch stellten. Ein gesellschaftlich sehr wohlgelittener Berufs­ genosse hatte mich außerdem überall eingeführt, wo er es für

nötig hielt. Auch dem Bühnenverein gehörte ich an und mimte wacker mit. Die Folge von alledem war ein ziemlicher Aufwand fürKleidungundSonstiges. Einige Sommeranzüge, ein Sommer-

unb später ein Winterüberzieher usw., bei dem auf der Schneider­ akademie

vorgebildeten ersten

Bekleidungskünstler

der

Stadt

angefertigt, und so manches andere verschlangen doch weitaus größere Beträge, als mir zu Gebote standen, so daß sich trotz aller

Sparsamkeit meine kleine Schuldenlast vom Seminar her in den

VA Jahren meiner Tätigkeit in Falkenburg auf mehr als 1200 Mark gesteigert hatte, auf einen Betrag also, der fast doppelt so

hoch war, als meine Jahreseinnahmc.

Meine Geschwister, die

mir das Geld vorstreckten, zweifelten denn auch schon stark an meiner wirtschaftlichen Zukunft. Ich selbst hatte mich mit dem Gedanken, daß man auch Geld verdienen müsse, überhaupt noch nicht beschäftigt. Es war mir vollständig gleichgültig, was man mir als Gehalt zahlte, und die damaligen lebhaften Bewegungen für Besoldungsverbesserung habe ich schlechterdings nicht verstanden. Im ganzen sind mir diese Dinge auch bis heute gleichgültig geblieben. Meine Beteili­ gung an Besoldungskämpfen hat kaum jemals wirtschaftliche Gründe gehabt. Mir waren Besoldungsfragen immer nur Fragen der Fürsorge für die Schule. Trotzdem ließ ich mich dazu bewegen, beim Magistrat einen Antrag auf Gehalts­ erhöhung zu stellen. Bereitwilligst wurde mein Gehalt auf neunhundert Mark erhöht. Ich fragte den Bürgermeister, ob mein Vordermann, mein lieber Freund Oltcrsdorf, der ein halbes Jahr länger in der Stadt war, dieselbe Erhöhung bekäme. Das wurde verneint, worauf ich erklärte, dann könne auch ich sie nicht annchmen. Das Stadthaupt suchte mir klarzumachen, daß die Erhöhung der beiden letzten Stellen eine Erhöhung auch der anderen Stellen nach sich ziehen würde. Ich konnte nur ent­ gegnen, daß ich das nicht bedauern würde. Zu einem solchen Opfer war die Stadt indessen nicht bereit, und ich kündigte infolgedessen meine Stellung und ging in die Nachbarstadt, nach Dramburg, wo ich meine Schülerjahre verlebt hatte. Der Abschied wurde mir nicht leicht. Ich hatte in der kurzen Zeit mancherlei erlebt, was mich mit der Bürgerschaft eng ver­ knüpfte. Im Winter 1881 feierten wir z. B. den hundertjährigen Todestag Lessings. Trotz meiner Jugend ersuchte man mich, einen öffentlichen Vortrag über Lessing zu halten. Es war die Zeit der Stöckerschen Judenhetze, als in dem benachbarten Neu­ stettin das jüdische Bethaus niedergebrannt wurde. Ich flocht in meine Rede einige kräftige Bemerkungen über Lessings Verhält­ nis zu Moses Mendelssohn und über seine Stellung zur Juden­ frage ein. Bei einem Teil der Bevölkerung wurde das mit großer Genugtuung begrüßt, andere nahmen es mir übel. Ich habe

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mich um das eine wie um das andere wenig gekümmert. An judenfeindlichen Bestrebungen irgendwie mich zu beteiligen, hatte ich von Hause aus keine Veranlassung, und die Judenschaft von Falkenburg erwies sich mir gegenüber von einer Weit­ herzigkeit, die mich geradezu in Verwunderung setzte. Ich hatte eine Anzahl jüdischer Kinder in der Klasse, die am christlichen Religionsunterrichte teilnahmen, trotzdem ein jüdischer Kantor und ein Rabbiner am Orte waren. Ich machte die Väter darauf aufmerksam, daß demnächst der neutestamentliche Unter­ richt beginnen werde. Sie baten mich aber, die Kinder weiterhin im Unterrichte zu belassen, sie kämen gern, und sie, die Eltern, wüßten, daß sie bei mir nichts Unrechtes lernen würden. Das Vertrauen hat mir wohlgetan- und die kleinen Jüdinnen haben die Jesusgeschichten genau so gern gehört und wiedererzählt wie ihre christlichen Mitschülerinnen. Im Sommer 1881 stieg dann die antisemitische Welle in den pommerschen Kleinstädten recht hoch. Auch im stillen Falken­ burg kam es zu argen Ausschreitungen. Schaufenster wurden eingeschlagen, jüdische Einwohner auch gemißhandelt oder doch belästigt, und mir wurde mitgeteilt, auch mir werde man meine Stellung zum Judentum etwas deutlich begreiflich machen. Ein großer Umzug kam zustande, der an der Vanse, an der meine Wohnung lag, entlang ging. Die Steine für die Zertrümmerung der Fensterscheiben trug jeder in der Tasche oder in der Hand. Ich sah den Zug kommen und sagte mir in meiner Unbefangen­ heit, es wäre doch schade um meine schönen Fensterscheiben, öffnete beide Fenster und sah mir, am offenen Fenster stehend, den Zug an. Die ersten Reihen schwenkten die Mützen, und alle anderen machten es ebenso, und so zog die zu Übeltaten bereite Gesellschaft an mir vorüber. Kaum um die Ecke, klirrten dann auch die Fensterscheiben, und die der Judenfreundschaft beschul­ digten Einwohner mußten den Glasermeister am nächsten Tage in Bewegung setzen. Nicht nur wilde Tiere können durch festen Blick und Gemütsruhe gebändigt werden. Wenig erfreulich war das Verhältnis zu der Geistlichkeit. 79

Der Ortsschulaufseher und Oberpfarrer war ein strenggläubiger Mann, dem man Rechtlichkeit nicht abstreiten konnte, der aber so wenig freundliche Berkehrsformen uns gegenüber übte, daß er dadurch jeden etwas Selbstbewußten gegen sich aufbrachte. Mit den Lehrern größerer Bezirke und den Lehrern des ganzen Kreises in denen eine Probelehrstunde stattfand und ein schriftlich erstatteter, vorher in

wurden regelmäßige Konferenzen abgehalten,

den einzelnen Kirchspielen umgelaufener Bericht über irgendeine Schulfrage besprochen wurde. Damals war die Lesebuchfrage

brennend geworden. Die „nationale Bildung", das Schlagwort der 70er Jahre, hatte die alten, ganz regulativischen Lesebücher in eine scharfe Beleuchtung gestellt. Der Pyritzer Seminar­

direktor Supprian gab sein treffliches, überaus ansprechendes „Lesebuch mit Bildern" heraus, und zur selben Zeit erschienen die Lesebücher von Jütting und Weber zur Pflege nationaler Bildung, in denen die Lesestoffe in sinnvoller, dem kindlichen Anschauungskreise angepaßter Weise zusammengestellt waren. Die Lesebuchstoffe der Regulativzeit, alle jene frömmelnden und auf einer überlebten Staatsauffassung beruhenden Lesestücke, waren aus diesen neuen Lesebüchern verschwunden. Ich war leichtsinnig genug, den Bericht über das Lesebuch für eine der

ersten Bezirksversammlungen zu übernehmen, ging mit dem alten Wetzelschen Lesebuch, insbesondere mit der dazu bearbeiteten „Vorstufe", einem allerdings mehr als dürftigen, ja geradezu mangelhaften Erzeugnis der Lesebuchmache, scharf ins Gericht und stellte die neuen Lesebücher: Gabriel und Supprian, Jütting und Weber, Engelien und Fechner und einige andere aus dem Klinkhardtschen Verlage den Regulativlesebüchern gegenüber. Heute wundere ich mich nicht, daß ich nicht von allen Berufs­

genossen ganz verstanden und nicht allseitig unterstützt wurde, denn das alte Wetzelsche Lesebuch hatte trotz seiner einseitigen Richtung in bezug auf die Bearbeitung der Stücke seine großen Vorzüge. Die Stücke waren von allen Schwerfälligkeiten, allen

Fremdwörtern usw. sorgsam gereinigt und konnten auch von den Dorfkindern verstanden werden, während dies z. B. bei den

Stücken in dem sonst trefflichen Lesebuch von Engelien und Fechner, die ohne jede Änderung ausgenommen waren, nicht der Fall sein konnte. Von den anwesenden Geistlichen wurden meine Ausstellungen entschieden zurückgewiesen, ich galt von da ab als nicht zuverlässig in bezug auf meine Stellung zur Kirche und ihren Forderungen, womit die Herren ja schließlich auch nicht ganz unrecht hatten. Das tat indessen dem persönlichen Verhältnis zu den einzelnen Geistlichen keinen Abbruch. Ein älterer Geistlicher, der mich einige Zeit nach meinem Weggange von Falkenburg in einer Abendstunde auf der Chaussee traf, schloß mich herzhaft in seine Arme und drückte mir einen Kuß auf beide Wangen. In Dramburg war vieles anders als in meinem ersten Wirkungsortc. In dem Lehrkörper fand ich freundliche Auf­ nahme. Man hatte den früheren Schüler immer ganz gern gehabt. Meine frische Art, mich zu geben, war den zum Teil etwas angekränkelten Herren wohl ganz angenehm. Der Leiter der Schule, mein allverehrter Lehrer Rektor Schmidt, empfing mich mit unbedingtem Vertrauen und hat mir das auch so lange bewahrt, als ich unter seiner Leitung arbeitete. Bald nachher warf ihn unheilbare Krankheit auf das Sterbelager. Mir bleibt er „mein" Lehrer, in allem unerreicht. Die unterrichtlichen Ver­ hältnisse der Schule waren für mich anfangs ungünstig. Ich trat an die Stelle eines alten, einst sehr geschätzten Berufs­ genossen, der, durch die Verhältnisse gezwungen, reichlich zehn Jahre zu lange im Schuldienste geblieben war. Ich übernahm seine Klasse, eine 5. Knabenklasse. Die Jungen befanden sich nicht in bester Verfassung. Indessen, wir kamen bald zueinander und haben das Unsrige getan, nach einem halben Jahre trennten wir uns nicht gern. Schwieriger waren die Verhältnisse in der Klasse, in der ich die überschüssigen Stunden zu erteilen hatte. In ihr, einer 2. Knabenklasse, saß eine stattliche Anzahl derjenigen Herren Jungen, die bis zur Spitze der Schule nicht gelangen, und das sind ja überall nicht die besten. Der Klassenlehrer trieb etwas stark Handarbeit mit dem gelben Onkel. Die Jungen waren daran gewöhnt, und wenn sie unter der Fuchtel des eigenen

Herrn vielleicht noch leidlich zu bändigen waren, so ließen sie, wie ich aus meiner eigenen Schulzeit wußte, an den jungen Lehrern, die hier Eckstunden gaben, ihren ganzen Mutwillen aus. Ich kannte alle diese Streiche und war auf meine Antrittsstunde etwas gespannt. Meine Erwartungen erfüllten sich auch. Die ganze Schulstube war mit Erbsen besät. Ich schritt ruhig zum Pult, nahm Platz und sagte den Jungen etwa Folgendes: Die Dummheiten, die sic machen könnten, hätte ich vor sechs bis sieben Jahren hier bereits kennengelernt, ich traue ihnen nicht zu, daß sie mehr davon verständen als ihre Vorgänger, und für mich würde es langweilig sein, dieselben Streiche, die mir schon damals recht öde vorgekommen seien, hier jetzt nochmals zu sehen; sie möchten sich also keine Mühe geben. Wenn sie dumme Streiche machen wollten, dann müsse es schon etwas ganz Neues sein, was ich noch nicht kenne. Im übrigen würden sie dazu nicht in die Schule geschickt, und auch ich käme zu anderm Zwecke zu ihnen. Der berechtigte Spott in dieser Anrede war von den Besseren, wie mir später gesagt wurde, recht bitter empfunden worden, und die hatte ich damit für mich gewonnen. Die andern, die ganz hartgesottenen Sünder, waren offenbar verblüfft, und die Stunde ging gut zu Ende. In der nächsten Stunde fange ich denn auch ganz frisch meinen Unterricht an und denke an nichts Böses, sehe und höre dann aber, daß in einer der letzten Bänke ein Junge, der mir als Rädelsführer genannt worden war, mit ganz anderem sich beschäftigte, als was ihm oblag. Als meine tadelnden Blicke auf ihn keinen Eindruck machten, unter­ brach ich den Unterricht, setzte mich aufs Pult und sah mir die Klasse ruhig an, den Sünder dort hinten ganz besonders. Ich sah deutlich, daß so nicht weiterzukommen war, daß irgendein Ausbruch zu erwarten war. Ich winkte dem Jungen, er war groß und kräftig, über seine 14 Jahre hinaus entwickelt, so daß ich ihn niemals hätte bezwingen können. Ich erwartete Wider­ stand; aber der Junge erschien. Ich lasse ihm genügend Zeit. Er steht schlotternd vor mir. Ich winke ihm, einen Stuhl herbei­ zuholen, sich darüber zu legen, die Stuhlbeine unten anzufassen.

alles in langsamer Zeitfolge, während ich immer noch unbeweg­

lich auf dem Pulte saß. Und dann ziehe ich ihm drei Hiebe über. Das Verhalten bei den drei Schlägen zeigte mir, daß er den Sinn dieser Züchtigung verstanden hatte. Ich warf den Stock in die

Ecke, kümmerte mich um den Jungen nicht mehr, auch um die Klasse nicht, sondern schaute zum Fenster hinaus, bis zum Schluß der Stunde. Totenstille in der Klasse. Als die Glocke geschlagen

hatte, ein Wink, die Jungen verschwanden lautlos, und ich habe niemals eine Klasse gehabt, in der ich so ohne jeden Tadel unter­ richten konnte wie diese. Wir haben in der Raumlehre gepappt, Figuren geschnitten und gezeichnet, wir haben die ganze Flächen-

und Körpcrlehre, soweit sie sich anschaulich bearbeiten läßt, durch­

geackert, in der Physik die einfachen Maschinen behandelt; die Jungen haben sie sämtlich gebaut, in teilweise geradezu be­ wundernswert gut gearbeiteten Stücken. In der Tierkunde habe ich ihnen nach der Behandlung der einzelnen Tiere und Tier­

gruppen aus Wagners Schilderungen vorgclesen, und als ich einen Teil dieser Jungen am Beginn des nächsten Halbjahres

in der ersten Klasse im Rechcnunterricht und im Französischen

wiederfand, da strahlte ganz erkennbare Freude von ihren Ge­ sichtern. Das Wort, daß in den ersten Stunden die Schüler den Lehrer prüfen, und in den letzten Stunden der Lehrer die Schüler, ist buchstäblich wahr. Mir hat jenes grausame Strafgericht

damals einen tiefen Seelenschmerz bereitet. Ich bin aber noch heute überzeugt, daß es notwendig und heilsam war. Im nächsten halben Jahre erhielt ich wieder, wie in Falken­

burg, die kleinsten Mädchen, eine allerliebste Gesellschaft, aus allen Kreisen zusammengesetzt, insbesondere viele Kinder aus den ersten Häusern der Stadt. Ich habe mit ihnen das, was ich in Falkenburg begonnen hatte, fortgesetzt. Wir waren viel, sehr viel

draußen, und an den Stammtischen wurde, wie mir erst sehr viel später wiedererzählt wurde, die sorgenvolle Frage aufgeworfen, ob die Kinder wohl etwas bei mir lernen würden. Mein alter Gönner Schmidt erklärte den Herren indessen, darüber sollten sie

sich nur keine grauen Haare wachsen lassen, das würde schon

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werden, und ein Ohrenzcuge berichtete mir noch vor nicht langer

Zeit, daß dann Plötzlich einmal alle die besorgten Väter mit der Mitteilung an den Stammtisch gekommen seien, ihre Kinder könnten jetzt lesen, und sie hätten gar nicht gemerkt, wie sie das gelernt hätten. Ich habe im ersten Unterricht jedes gewaltsame Hindrängen auf Unterrichtsergebnisse vermieden, bei den Kleinsten und Schwächsten vollständig. Man lasse ihnen Zeit, insbesondere, um

sich mit den schwarzen Buchstaben anzufreunden, und sie haben sie dann alle gern. Rousseaus Auffassung, die Kinder müßten erst wissen, daß etwas Schönes in den Büchern stände, dann würden sie von selbst lesen lernen, ist buchstäblich richtig. Sie lernen dann wirklich „lesen", d. h. nicht nur Buchstaben sammeln, sondern den Inhalt aufnehmen. Und das, die Aufnahme des Inhalts, muß schon bei den ersten Anfängen des Lesenlerncns geschehen, so daß das Kind ein anderes Lesen, als den Inhalt aufnehmen, gar nicht kennenlernt. Von den Übungen mit sinnlosen Lautverbin­ dungen habe ich nie etwas gehalten, sie sind für die Mehrzahl der

Kinder völlig entbehrlich.*) Die Art des Lesenlernens in amerikanischen Schulen (siehe Kerschensteiner, „Die Volksschule der Vereinigten Staaten von Amerika", Südd. Monatshefte 1912), den Kindern sogleich ganze

Lesestücke zu geben, hat viel für sich, vorausgesetzt, daß das Lese­

bedürfnis bereits vorhanden ist. Ein geschickter Unterricht kann es schnell wecken.

Geistige Anregung bot Dramburg als Gymnasial- und Seminarstadt mehr als das benachbarte Falkenburg, das gesell­

schaftliche Leben war jedoch nicht nach meinem Geschmack. Wenn ich beobachtete, daß selbst gutgestellte Handwerker sich in den besseren Gasthäusern an den Ecktischen herumdrückten und an ♦) Bei der Durchsicht dieser Zeilen liegt das Buch von Jensen und LamkuS „Schulkaserne und Gemeinschaftsschule" vor mir. Was die Verfasser vom Vor­ lesen solcher Kinder, die schon lesen können, sagen, habe ich In allen Gebieten so geübt, beim Märchen- und Geschichtenerzählen, Singen, Malen; und was ein kleines Wesen heute konnte, konnten morgen ein Dutzend und mehr.

der „Honoratiorentafel" nicht Platz fanden, und gewisse Kreise nur bestimmte Gasthäuser besuchten und auch hier noch wieder

ein besonderes Zimmer beanspruchten, so erschien mir das recht wenig angemessen. Engeren Anschluß suchte ich nicht. Ich war

auch mit meinen Arbeiten stark beschäftigt, und die Abende ver­ brachte ich im Hause meines Schwiegervaters, so oft ich freie Zeit hatte. In den Lehrerkonferenzen trat ich jetzt noch etwas selbst­ bewußter auf als bisher.

Gelegenheit dazu war reichlich vor­

handen. Meine erste Konferenzarbeit war ein Gegenbericht zu einer etwas verunglückten Arbeit eines Landlehrers. Ich benutzte den Bericht, den Geistlichen, die diese in der Form recht unvoll­ kommene, aber immerhin auf richtigen Gedanken beruhende Arbeit und damit ihren Verfasser hcrunterzureißen gedachten, den Spaß gründlich zu verderben. Ich ordnete die etwas wirren Gedanken der Arbeit und faßte alles Gesagte klar und bestimmt zusammen. Die Geistlichen behaupteten zwar, das sei nicht die ursprüngliche Arbeit, aber ich verlangte den Nachweis, daß ich irgend etwas hineingetragen oder umgedeutet hätte. Das ver­ mochte niemand. Die Herren mußten sich schließlich damit zu­ frieden geben, daß ich das Handwerk gerettet hatte. Die nächste

Arbeit übernahm ich selbst. Ich schrieb über den erziehenden Unter­ richt im Herbart-Zillerschen Sinne. Bei der Besprechung der Ab­ handlung kam es sogleich zu recht scharfen Zusammenstößen. Ich

hatte die erzieherische Bedeutung des Unterrichts stark betont. Daß ich gute wie schlechte sittliche Anlagen annahm, erschien einigen der anwesenden Geistlichen als ein Verstoß gegen die Lehre von der Erbsünde. Ich bemerkte, daß es eine wissenschaftlich

unhaltbare Einseitigkeit sei, nur sündhafte Anlagen anzunehmen auf Grund des biblischen Ausspruches: „Das Dichten uni)

Trachten der Menschen ist böse von Jugend auf." Nicht diese überkommenen Anschauungen, sondern nur die durch Beobach­

tung und wissenschaftliche Nachprüfung festgestellten Tatsachen könnten die Grundlage der Erziehungswissenschaft und der auf sie aufgebauten unterrichtlichen und erzieherischen Arbeit abgeben.

Als man durch gute Gründe diese meine Auffassung nicht wider­ legen konnte, hielt es der Leiter der Konferenz für angebracht, für mein Seelenheil ein Gebet zu verrichten. Das ging mir nun

freilich zu weit, und ich erklärte rund heraus, ich würde mir die Mühe einer solchen Arbeit nicht gemacht haben, wenn ich nicht

vorausgesetzt hätte, daß die Ansichten hier in ernstem wissenschaft­ lichen Streit einander gegenübergestellt würden, ich müßte Ein­ spruch dagegen erheben, daß meine sorgsam erwogenen Ansichten niedergebetet werden sollten. So eine Entgegnung hatte der geist­ liche Leiter Wohl nicht erwartet. Ich hatte das letzte Wort. Was mich an der ganzen Sache am meisten verdroß, war indessen die Tatsache, daß der leitende Geistliche ein hochgebildeter Mann war, der nach meinen Beobachtungen jene einseitigen theo­

logischen Anschauungen gar nicht teilte, es aber für angemessen hielt, den Lehrern seines Aufsichtsbezirkes gegenüber strengste Rechtgläubigkeit vorzugeben. Die weiteren Konferenzen verliefen demgemäß. Ich sah mich noch einmal veranlaßt, bei einer Ver­ handlung über den Turnunterricht, als dessen sittlicher Wert bestritten und erklärt wurde, sittliche Anregung könne allein vom Heiligen Geiste ausgehen, zu bemerken, daß man den Heiligen

Geist doch nicht auf den Turnplatz bemühen solle.

Bei einer Verhandlung über das damals durch die Konfe­ renzen gehende Thema, wie durch den heimatkundlichen Unter­ richt der Auswanderung zu begegnen sei, kam es zwischen mir und den Geistlichen zu einer außerordentlich lebhaften Aus­ sprache. Ich führte die Heimatliebe zurück auf die Erlebnisse in

der Heimat, auf die geistigen Beziehungen zu der Umgebung, die

durch guten Unterricht vertieft werden könnten, besonders aber sich aus einem arbeitsreichen, mühevollen Leben, das zu den Dingen in engste Beziehungen bringt, entwickele. Ein recht gut

herausgefütterter

Landgeistlicher,

der

durch

seinen

geringen

Tätigkeitsdrang bekannt war, suchte meine Behauptung, daß die Menschen sich infolgedessen nicht mit den schönsten und reichsten Erdstrichen am innigsten verbunden fühlten, sondern gerade mit den dürftigsten, in denen sie durch harte Arbeit, durch Ringen

und Kämpfen sich behaupten müßten, dadurch zu widerlegen, daß er erklärte, er lebe 30 Jahre in der ödesten Sandwüste, die das Pommernland aufzuweisen habe, aber er verspüre noch heute nichts von dieser Heimatliebe, die ich als vorhanden annähme. Ich entgegnete darauf etwas boshaft, die Voraussetzung sei bei mir, daß die Betreffenden zum Kampfe ums Dasein gezwungen feien; er möchte uns doch versichern, daß das auch bei ihm der Fall gewesen sei. Das vermochte der gute Herr nicht, er wäre auch über dem Gelächter der Versammlung kaum noch zu Worte gekommen. Ich erzähle diese Vorkommnisse, weil sie, wie ich glaube, für den damaligen Stand der Dinge einigermaßen bezeichnend sind. Auf der einen Seite eine Lehrerschaft, die empor und vor­ wärts drängte, in der zahlreiche jüngere Kräfte nach freiem Denken, freier Bewegung verlangten und über die Stellung und die Aufgaben der Schule vielfach anders dachten als ihre Vor­ gesetzten, und auf der anderen Seite eine Geistlichkeit, die die Zügel fest in der Hand behalten, die weiter so schalten und walten wollte, als es die Regulativzeit verlangt und gestattet hatte. Nicht an jeder Stelle haben sich diese Kämpfe so gestaltet, wie in meiner nächsten Nähe. Mancher jüngere Berufsgenosse hat einen Vorstoß gegen die geistliche Gewalt auch wohl büßen müssen. Ich übrigens auch. Als es sich später darum handelte, mir einen meinen Neigungen und vielleicht auch meiner Be­ fähigung entsprechenden Wirkungskreis zu eröffnen, hat man von entsprechender Stelle, wie auch noch von anderer Seite, auf meine kirchliche Unzuverlässigkeit so deutlich hingewiesen, daß aus der Sache nichts wurde. Unter solchen Verhältnissen ist es für die geistige Gesundheit und die berufliche Entwicklung der jüngeren Lehrer von ent­ scheidender Bedeutung, ob sie in ihrem Streben sachverständige Anerkennung von einer Stelle finden, die ihnen als maßgebend erscheint. Ich hatte das Glück, daß im Regierungsbezirk Köslin damals der alte Schulrat Kahle wirkte. Wer ihn nur aus seinen Büchern, den „Pädagogischen Erquickstunden", seiner

„Schulkunde" und seiner „Katechismuserklärung", kennt, kennt diesen „Schulmeister" alten Schlages nur sehr wenig. Unbe­ holfen im Äußeren, von körperlicher Schönheit nicht gedrückt, für gewöhnlich einsilbig und verschlossen, schlug in der Brust dieses Mannes ein so kindliches Pestalozziherz, wie es nur wenige Aus­ erwählte in sich tragen. Mir hat er sein Wohlwollen niemals in Worten ausgesprochen, aber sonst mehrfach sehr deutlich be­ kundet. In der Abgangsprüfung auf mich aufmerksam geworden, prüfte er mich im Französischen eingehender und erkundigte sich auch nach meinen privaten lateinischen Arbeiten. Das Ergebnis muß wohl zu seiner Zufriedenheit ausgefallen sein, denn er überwies mich an die Mittelschule in Falkenburg, wo gerade ein Lehrer fehlte, und als die Stadtväter dieser Einstellung aus ört­ lichen Gründen später nicht zustimmten, erklärte er mir Bet einem Zusammentreffen auf dem Bahnhöfe ohne weitere Erörte­ rung des Falles, der wohllöbliche Magistrat hätte seine guten Absichten nicht verstanden. Kahle kannte trotz seiner strengkirch­ lichen Gesinnung die großen Schwächen der geistlichen Schul­ aufsicht zur Genüge, und ihn verdroß insbesondere die hochmütige und den einzelnen Persönlichkeiten nicht gerecht werdende Be­ urteilung der Lehrer seitens mancher Geistlichen. In Dramburg waren wir Jüngeren nach den mitgeteilten Vorkommnissen begreiflicherweise bei den Geistlichen nicht gerade gut ange­ schrieben, und der mit der Kreisaufsicht betraute Geistliche hatte vor einer Revision Kahles wohl Gelegenheit genommen, uns etwas liebevoller abzumalen, als diesem recht erschien. Der Alte sah sich infolgedessen unsere Arbeit näher an. Mich traf er zufällig auf der Treppe, als ich ein am Tage vorher neu auf­ genommenes sehr schüchternes Kind, das durchaus nicht wieder in die Schulstube wollte, zu beruhigen suchte. Mir gelang das schnell. Ich nahm einfach die ältere Schwester, die eine andere Klasse besuchte, mit hinein, und das Kind beruhigte sich und Beteiligte sich sogar bald am Unterrichte. Der Alte beobachtete mich wortlos eine Stunde lang in meinen Bemühungen, die Neu­ linge in die Schularbeit einzuführen, sagte dann bei Beginn der

Pause, nun werde das kleine Volk wohl ohne meine Hut sich unter den anderen zurechtfinden, ich möchte ihm nur die Viertelstunde Gesellschaft leisten. Und nun fragte er mich nach dem Sinn der einzelnen Maßnahmen in der Stunde und nach meinem Plan für den weiteren Fortgang des Unterrichtes. Dann reichte er mir wortlos die Hand und bekümmerte sich während der drei­ tägigen Revision nicht weiter um mich. Auch die anderen jüngeren Amtsgenossen wurden in ihren Klassen besucht. Die Schlußkonferenz eröffnete er dann mit etwa folgender Ansprache: „Auf die jungen Lehrer wird soviel geschimpft. Sie sollen anmaßend sein. Aber wer, wie wir alten Menschen, den jugend­ lichen Idealismus schon eingebüßt hat, für den gibt es nichts Herzerfrischenderes, als so etwas sich anzusehen, als ich hier in den Klassen der jungen Lehrer in dieser Schule gesehen habe." Das Gesicht des anwesenden Anklägers rötete sich stark. Weiteres wurde nicht gesagt. Es genügte auch. Für unsere Stellung im Lehrkörper war diese Beurteilung natürlich nicht ohne Bedeutung. Leider gab es damals, wenn die vielen Klagen begründet gewesen sind, für die namentlich die „Preußische Lehrerzeitung" das Sprachrohr war, nicht viele Schulräte von Kahles Art. Ich würde es für eine Versäumnis halten, wenn ich diesem prächtigen Manne, der als Seminardircktor seine erkrankten Zöglinge zu­ allererst immer durch ein gutes Schinkenbrot zu heilen suchte, hier nicht einen bescheidenen Denkstein errichtet hätte. Mir ist unter den Aufsichtsbeamten ein Mann seinesgleichen nicht mehr begegnet. Im übrigen war die Dramburger Zeit für mich frucht­ barer als die in Falkenburg verbrachten Jahre. Während ich dort mit meinen Anregungen zu gemeinsamer Arbeit immer nur kurze Zeit Gegenliebe fand — der eine hatte ein Weib genommen, der andere wollte eins nehmen, und der dritte hatte eine Braut und spielte gern Skat — fand ich in Dramburg Freunde und Arbeitsgenossen: den späteren Seminarlehrer Franz Neubüser, der lange Jahre in Belgard in Pommern die Präparanden­ anstalt geleitet hat, und einen früheren Schulfreund, der eine

öffentliche Schulstelle nicht antreten konnte, weil er schwindsüchtig war, beide ungemein begabt und vortrefflich ausgerüstet. Wir nutzten jede freie Stunde wacker aus und quälten uns nicht mit irgendwelcher auf Prüfungen berechneten Gedächtnisarbeit ab, sondern gingen der Wissenschaft herzhaft zu Leibe. In unsern Aus­ sprachen haben wir die tiefsten und letzten Fragen des Lebens und des Wissens miteinander erörtert. So haben wir die Goetheschen und Schillerschen Bühnendichtungen und Lessings Streitschriften durchgearbeitet, philosophische Werke gelesen und Seelenkunde, Mathematik und Physik miteinander betrieben. Die späten Nach­ mittags- und die ersten Morgenstunden gehörten diesen Arbeiten, und manchmal schauten uns die Dramburger Arbeiter, die des Morgens um fünf Uhr zur Arbeit gingen, recht verwundert an, wenn sie uns schon in dem großen Nikolschen Garten mit unseren Büchern auf- und abschreiten sahen. Was man in diesen Jahren erwirbt, ist Lebensbesitz. In späterem Alter fügt man soviel nicht mehr hinzu. Ich halte deswegen später abgelegte Prüfungen nicht nur für nicht nützlich, sondern für schädlich. Ist es nötig, einen Menschen viel und öfter zu prüfen, dann mache man es rechtzeitig und lasse die reiferen Jahre für eigene Gedanken­ arbeit und für sein Wirken frei. Sollen ältere Ungeprüfte in ein höheres Amt eintreten, so muß ihre ganze Persönlichkeit, müssen ihre wissenschaftlichen und beruflichen Leistungen ohne Prüfungsaufputz, der doch bald wieder abfällt, entscheidend sein.

4. 3n (Stettin. Der Zug der jungen Lehrer ging damals in die Großstadt. In Pommern war Stettin Sprungbrett für Berlin, wenn es nicht unmittelbar in die Reichshauptstadt ging. Erst später setzte die Auswanderung nach dem Westen, in das Großgewerbegebiet, ein. Die Schulbehörde sah das allerdings nicht gern, und wir waren durch Verpflichtungsschein gebunden, fünf Jahre lang

jede uns angewiesene Stelle im Bezirk anzunehmen bzw. zu behalten. Wer seine Stelle früher verließ, sollte die Seminar­ kosten zurückzahlen. Die Bestimmung wurde aber weitherzig und wohlwollend gehandhabt. Mir Persönlich hat man nichts abgefordcrt. Das war auch kaum möglich, da ich im Seminar immer zu den Höchstbesteuerten gehört hatte. Aber ich weiß, daß auch andere, die fast ganz auf öffentliche Kosten ausgebildet waren und trotzdem recht vorzeitig ihre Stelle verlassen hatten, zwar verpflichtet worden sind, die übernommenen Zahlungen zu leisten, aber den Gerichtsvollzieher nicht bei sich gesehen haben, auch wenn sie nichts zahlten. Ich ging im Herbst 1882 nach Stettin. Anstellung fand ich an der Oberwiek-Schule. Die Oberwiek, an der Oder oberhalb der eigentlichen Stadt, außerhalb der früheren Festung gelegen, zum Teil noch aus Torfhäusern bestehend, die bei etwaiger Belagerung schnell niedergebrannt werden konnten, gehörte zu den ärmsten Stadtteilen und hatte eine teilweise recht verkommene Bevölke­ rung. „Bessere" Kinder kamen in diese Schule überhaupt nicht. Ich lernte hier die großstädtische Armenschule in ihrer ab­ schreckendsten Gestalt kennen und habe damals tief empfunden, was für eine ungeheure Bedeutung es hat, wenn die Kinder aller Bevölkerungsschichten zunächst in dieselbe Schule gehen. Hier liegt der Beginn meines Eintretens für die allgemeine Volks­ schule, für die Einheitsschule. Die körperlich schlecht genährten, an regelmäßigen Schulbesuch nicht gewöhnten, dürftig gekleideten und teilweise durch Laster der Eltern gekennzeichneten Kinder haben bei mir damals ein tiefes Mitgefühl geweckt. Ich habe getan, was ich konnte, aber Unterrichtsergebnisse, wie sie in den Schulen der Heimatstädte mit Leichtigkeit zu erzielen waren, durste man hier nicht erwarten. Freilich war die Schule auch sonst heruntergewirtschaftet. Das änderte sich nach einem Viertel­ jahre, als an Stelle des alten, in den Ruhestand tretenden Haupt­ lehrers ein junger, aus Ostpreußen herberufener Leiter an die Spitze der Schule trat. Diese Anstellung hatte allerdings eine sehr unerquickliche Vorgeschichte und mannigfache unangenehme

Folgen. Sie stand in Zusammenhang mit einem heute Wohl ganz unverständlichen Vorgehen der Stettiner Schulverwaltung. Die Schulverwaltung hatte auf Veranlassung des neuen Stadt­ schulrats Dr. Krosta beschlossen, die beiden oberen Gehalts­ stufen von 2400 und 2200 Mark nur noch mit geprüften Mittel­ schullehrern zu besetzen, so daß der regelrechte Aufstieg des Volks­ schullehrers nur bis zu 2000 Mark reichen sollte, und außerdem die Hauptlehrer nicht mehr ausschließlich aus der Stettiner Lehrerschaft zu ernennen. Beides hatte die Lehrerschaft ungemein aufgeregt. Wenige Tage nach meinem Eintreffen in Stettin fand eine große Versammlung statt, in der diese beiden Beschwerden erörtert und eine Eingabe dagegen beschlossen wurde. Durch die Maßnahmen Dr. Krostas war die Lehrerschaft ein­ geschüchtert, und ängstliche Teilnehmer an der Versammlung erklärten, sie würden ihre Unterschrift nur dann unter die Ein­ gabe setzen (Eingaben von Vereinsvorständen wurden damals noch nicht angenommen), wenn 100 bzw. 120 unterschrieben. Diese Erklärungen ärgerten mich, sie schienen mir unmännlich, und ich bemerkte, ich würde auch unterschreiben, wenn nicht dreie ihre Unterschrift gäben. Das erregte selbstverständlich Aufsehen und war am nächsten Tage bereits im Rathause mitgeteilt worden. Es gab Aufpasser und Angeber in den eigenen Reihen. Meine Mitarbeiter an der Oberwiekschule schlossen sich von der Eingabe überhaupt aus, da sie es nicht für angängig hielten, gegen die Berufung ihres zukünftigen Leiters sich auszusprechen. Ich hielt eine solche Rücksichtnahme nicht für nötig. Als später der junge Hauptlehrer sein Amt antrat, nahm er Gelegenheit, mich wegen meiner Unterschrift zur Rede zu stellen. Ich erklärte ihm, daß seine Person hierbei sehr nebensächlich wäre, daß es sich um eine grundsätzliche Stellungnahme handle. Er war ver­ ständig genug, das einzusehen, und wir haben die Zeit unseres Beisammenseins nicht nur freundlich, sondern freundschaftlich miteinander gearbeitet. Bei seinen Bemühungen, die Schule in Ordnung zu bringen und einen Lehrplan abzufassen, habe ich ihn nach Kräften unterstützt, was meine rücksichtsvollen Mit-

arbeitet nicht in demselben Maße taten und mir gar noch übelnahmen. Jene freimütige Äußerung wurde mir indessen im Rat­ hause doch stark nachgetragen und später auch dem Provinzial­ schulkollegium zur Beachtung mitgeteilt. Eine Gelegenheit dazu bot sich bald.

Ich stand vor der zweiten Prüfung.

Meine

Hoffnung, sie in Dramburg, im eigenen Seminar, abzulegen,

erfüllte sich nicht, denn die Lehrer wurden damals nur bei den Seminaren desjenigen Bezirks zur Prüfung zugelassen, in dem sie angestellt waren. Ich wanderte nach Pyritz.

Meine schriftliche Arbeit war rechtzeitig dorthin überwiesen worden. Bei meinem Eintreffen eine große Überraschung. Ich wurde aus der recht zahlreichen Prüflingsschar heraus­

gerufen und zum Direktor beordert.

Dort wurde mir mit­

geteilt, daß meine Arbeit den Verdacht erregt habe, daß sie abge­ schrieben sei, man habe sie deswegen nach Stettin zum Provinzial­ schulkollegium geschickt. Ich klärte den Direktor über Inhalt und Entstehung der Arbeit auf. Sie handelte vom Beginn des Schul­

unterrichts bei den Sechsjährigen. Ich hatte auf Grund eigener Beobachtungen an meinen Schülerinnen und an den Kindern meines ältesten Bruders und unter Benutzung meiner sonstigen seelenkundlichen Arbeiten den Versuch gemacht, die geistige und

sprachliche Entwicklungsstufe der Sechsjährigen unserer Gegend

festzustellen. Die Arbeit ist später in den „Pädagogischen Stu­ dien", die bei Sigismund und Volkening in Leipzig damals erschienen, unverändert abgedruckt worden. Am Abend erschien

denn auch der Provinzialschulrat, und wieder war ich der erste, der vor die Front gefordert wurde. Der Provinzialschulrat Schulz kannte mich von meiner Abgangsprüfung her und hatte die Sache

Wohl von vornherein etwas anders angesehen als die Pyritzer

Herren. Er hatte sich mit der Arbeit sehr eingehend beschäftigt, auch mit den angegebenen Quellen, und fühlte mir in der

Prüfung in der Erziehungskunde, die sogleich am ersten Abend begonnen wurde, recht gehörig auf den Zahn. Selbstverständlich konnte mir nichts erwünschter sein, als daß ich nicht nach irgend-

welchem Gedächtniswissen gefragt wurde, sondern Gelegenheit hatte, mich über das auszusprechen, was mich Jahre hindurch in meinen freien Stunden beobachtend und forschend beschäftigt hatte. Meine Auslassungen schienen auch auf das ganze Prü­ fungskollegium einen sehr günstigen Eindruck gemacht zu haben. Ich wurde von dem Provinzialschulrat gefragt, ob ich eine Stelle als Hilfslehrer im Seminar in Köslin annehmen würde. Ich stellte meine Bedingungen, daß ich nämlich nicht mit technischen Dingen, Schreiben, Zeichnen, Turnen, beschäftigt würde, da meine Neigungen dafür gering und meine Leistungen in diesen Fächern entsprechend unzureichend seien. Das wurde zugesagt, und die Sache war damit erledigt. Von der weiteren Prüfung blieb ich zum größten Teil verschont. Ich verlebte eine prächtige Woche in dem alten Pyritz. Ein Genosse, der hier ausgewachsen war, führte mich in die Geschichte und den Bauplan der merk­ würdigen Stadt ein, auf den Wochcnmärkten erfreute ich mich an den reizvollen bunten Trachten der Frauen aus dem Weizacker, und in den sonstigen freien Stunden saßen etwa ein Dutzend Genossen zusammen in einem Gasthause und beschäftigten sich auf meine Anregung mit der Zusammenstellung von volkstüm­ lichen Redensarten, Kinderreimen, Spottversen, Neckereien usw., und sie schieden mit dem Versprechen, daß sie mir die weiteren Sammelfrüchte übersenden würden. Mehrere haben das auch getan. Eine Verarbeitung des Stoffes ist indessen nicht erfolgt. Recht zufrieden und beglückt kehrte ich heim. In dem eingefor­ derten Bericht über meine berufliche Tätigkeit war jene Äußerung im Lehrerverein natürlich verwertet, außerdem lautete der geist­ liche Bericht aus der Heimat entsprechend, und die Folge war, daß derselbe Provinzialschulrat, der dem Seminarlehrcrkollegium in Dramburg erklärt hatte, eine Prüfung, wie ich sie gemacht, habe unter seiner Leitung noch niemand abgelegt, bemerkte jetzt, wie man mir berichtete, in der entscheidenden Sitzung, daß man „den Menschen" nicht gebrauchen könne. Für mich war das damals ein harter Stoß. Heute bin ich darüber weniger unglück­ lich. Es hätte jedenfalls in der Seminarlehrerlaufbahn an argen

Zusammenstößen mit den Behörden nicht gefehlt, denn ich hatte über die Lehrerbildung schon damals ganz bestimmte, von den Anschauungen in den maßgebenden Kreisen abweichende Ansichten. So ging ich einstweilen meinen Weg weiter. Ich stand in an­ geregtem freundschaftlichem Verkehr, außerdem beteiligte ich mich an den Kursen, die von der Stadt Stettin zur Vorbereitung auf die Mittelschullehrerprüfung eingerichtet waren. Der Lehrgang in der Mathematik, den ein tüchtiger Gymnasiallehrer etwa vom Stand­ punkte der Quinta aus gab, konnte mich allerdings nicht anziehen. Ich bin nur einmal dort gewesen, stellte mich aber zur Prüfung ein, und mir wurden von dem wohlwollenden Herrn „sehr gute" Leistungenbescheinigt. Weniger gut erging es mir in einem andern Lehrgang, in der Erdkunde, den ein weder nach seinem Wissen noch nach seinem Wesen besonders hochstehender Realgym­ nasialdirektor hielt. Ihm waren meine aus wissenschaftlicher Beschäftigung mit dem Gegenstände hervorgegangenen Einwen­ dungen und eigenen Vorträge, zu denen uns Gelegenheit gegeben wurde, schon sehr unerwünscht, außerdem kam er einem zarten Winke des Stadtschulrats gern entgegen, und so hielt man es für richtig, mir „nicht genügende" Leistungen in einem Fache zu bescheinigen, in dem ich seit dem Beginn meiner Vorbereitung auf den Lehrerberuf immer mit besonderer Vorliebe gearbeitet hatte. Aber hier handelte cs sich eben nicht um eine Wissens­ bescheinigung. Der Leiter des städtischen Schulwesens war in­ zwischen auf mich noch etwas mehr, als nötig war, aufmerksam geworden. Er hatte versucht, mich bei Aushändigung des Zeug­ nisses über meine zweite Prüfung in Gegenwart des Oberbürger­ meisters sehr stark von oben herab zu behandeln. Ich hielt das nicht für angemessen und fragte unbefangen, ob ich auf seine Auslassungen etwas entgegnen dürfte. Als freisinniger Mann konnte er das nicht gut versagen, und nun machte ich meinem Herzen allerdings etwas sehr freimütig Luft. Die Unterredung nahm etwa folgenden Verlauf: Der Stadtschulrat drückte mir seine Freude darüber aus, daß ich meine zweite Prüfung so bald

abgelegt und dabei die bekannte Auszeichnung für Mittelschulen erworben habe. Er habe es aber, so fuhr er fort, sehr übel ver­ merkt, daß ich mich an den „Agitationen" des „Lehrervolkes" be­ teiligt hätte, trotzdem ich gar keinen Nachteil von den Maßnahmen gehabt hätte und erst kurze Zeit in Stettin wäre, die Verhältnisse also noch gar nicht genügend gekannt hätte. Ich hätte dadurch das Vertrauen, das man mir durch Einberufung vom Lande erwiesen hätte, nicht gerechtfertigt. In meiner Entgegnung sagte ich u. a.: Man habe mich nicht „vom Lande" hcreingeholt, son­ dern von einer gehobenen Stadtschule, wie die Stadt Stettin keine einzige habe. Schon vor meinem Eintritt in den Stettiner Schuldienst sei ich über die Verhältnisse hier leider genügend unterrichtet gewesen, so daß ich aus voller Sachkenntnis gehandelt hätte. Ich würde mich außerdem in meinen Handlungen nie­ mals durch meinen eigenen Nutzen oder Schaden leiten lassen, sondern immer das tun, was ich für recht und billig halte, und jedes Unrecht abwehren helfen. Unrecht aber sei es, wenn die Stadt Stettin diejenigen Lehrer, die in ihrem Dienste alt und grau geworden seien, so, wie geschehen, schädige. Auf mich selbst käme es ja nicht an, denn ich könnte jeden Tag ein Haus weiter­ gehen. Dr. Krosta hörte diese Entgegnung ziemlich verdutzt an, nickte leicht mit dem Kopfe, und ich war entlassen. In dem Zimmer nebenan hatten die Herren Sekretäre den Wortwechsel belauscht und im „Luftdichten", wo Lehrer und Beamte sich am Abend trafen, die ganze Bescherung brühwarm mitgeteilt. Ich wurde denn auch schon am nächsten Morgen auf dem Schulwege mit lautem Hallo begrüßt. Die Sache war mir indessen doch recht peinlich. Ich selbst hätte über den Vorfall sicherlich nichts verlauten lassen. Bei der gedachten Mittelschullehrerprüfung wurde nun auch offen ausgesprochen, ich dürfe sogleich nach der zweiten Lehrerprüfung die Mittelschulprüsung nicht bestehen, weil ich dem Stadtschulrat unangemessen begegnet sei, für mich sei ein Dämpfer nötig. Einige andere Vorkommnisse bei der Prüfung würden heute geradezu unglaublich klingen. Die Zeit für die schriftliche Arbeit in der Erdkunde betrug vier Stunden. Nach

zwei Stunden wurden die Arbeiten indessen einfach abgefordert und mir eine Gelegenheit, meine hingeworfenen umfangreichen Ausarbeitungen vorzulesen oder ins Reine zu schreiben, nicht gegeben. Bei der Prüfung selbst wurde im wesentlichen nur Schülerwissen abgefragt. Meine Hochachtung vor dieser Art von Prüfungen war dadurch vollständig verlorengegangen, und ich habe mir damals das Versprechen gegeben, mich an ähnlichen Dingen nicht mehr zu beteiligen, und dieses Versprechen auch gehalten. Jedenfalls hat das Erlebnis am meisten dazu bei­ getragen, daß ich von da ab meinen Weg ohne jede Beteiligung an Prüfungen, die eine amtliche Anwartschaft gaben, gegangen bin. Die eigenartigen Verhältnisse des Stettiner Schulwesens haben meines Wissens die verdiente zusammenhängende schul­ geschichtliche Darstellung noch nicht gefunden. Es leben noch einige von den Männern, die damals im Mittelpunkt der Ereig­ nisse standen. Es wäre ein Verdienst um die Geschichte der deutschen Volksschule und des Volksschullehrerstandes, wenn einer von ihnen oder mehrere ihren Feierabend hierzu benutzen wollten. Es gibt so wenige Darstellungen von dem inneren Leben und den inneren Kämpfen des großen kopfreichen Standes, dem die Mehr­ zahl unserer Volksgenossen die Einführung in die völkischen Bildungsgüter verdankt.

Die herrliche Umgebung von Stettin habe ich im Sommer 3883 in vollen Zügen genossen. Tägliche Fahrten die Oder ab­ wärts bis Frauendorf und Gotzlow, häufige in entgegengesetzter Richtung nach Finkenwalde, zur Pulvermühle usw., Wande­ rungen durch die wunderschönen Buchenwälder, mit Freunden oder allein, das waren meine freien Stunden. In den Sommer­ ferien unternahm eine kleine Reisegesellschaft, zu der meine Braut und ihre Schwester auch gehörten, eine Reise nach Rügen, über

Stralsund, um die Westseite Rügens herum landeten wir spät abends bei Polchow und versuchten, Stubbenkammer noch zu erreichen. Der starke Regen hinderte uns am Weitergehen, die Dunkelheit brach an, und wir mußten in dem kleinen Dorfe

Hagen übernachten. Die beiden Mädchen bekamen noch ein gemeinsames Bett, die männlichen Personen mußten im Tanz­ saal auf einer Streu, je zwei nur mit einer Pferdedecke zugedeckt, übernachten. Mein Schlafgenosse war sehr bald im Lande der Träume, hatte die Decke etwas stark an sich gezogen, und ich lag infolgedessen unbedeckt, mochte aber den Schlafenden nicht stören, schlief darüber selbst ein und erwachte am nächsten Morgen mit einem starken Schmerz in der linken Seite. Auch Fieber stellte sich ein. Ich machte die nächsten Wanderungen zwar noch mit, merkte aber doch, daß eine böse Erkrankung im Anzuge sei. Kaum in der Heimat angelangt, legte ich mich typhuskrank nieder. Die Krankheit hat mich ein Vierteljahr lahmgelegt, was um so unan­ genehmer war, als ich inzwischen mich um eine Stelle in Berlin beworben hatte und auch gewählt worden war. Die Wahl in Berlin hatte ihre Schwierigkeiten gehabt, denn jene „Agitation", über die die städtische Schulverwaltung in Stettin sich beklagte, wurde den nach auswärts sich Bewerbenden in das Zeugnis geschrieben. Mir natürlich auch. In Dramburg hatte ich aber den als Abgeordneten bekanntgewordenen und von Preußisch-Eylau nach Dramburg gemaßregelten Seminardirektor P l a t e n kennengelernt. Wir wohnten eine Zeitlang in dem­ selben Gasthause. Platen war ein flotter Zecher und zog jüngere Genossen gern an sich, insbesondere, wenn sie einigen Stoff für eine geistreiche Unterhaltung beisteuern oder wenigstens gut zu­ hören konnten. Er hatte offenbar einiges Gefallen an mir ge­ funden, und als ich ihm in den Weihnachtsferien von meinen Stettiner Erlebnissen erzählte, riet er mir dringend, nicht in Stettin zu bleiben, wo ich meine Kraft in zwecklosen Streitigkeiten verbrauchen und doch nicht zum Ziel gelangen würde, erklärte sich auch sofort bereit, in Berlin die nötigen Schritte für meine An­ stellung zu tun. Das geschah denn auch, und so wurde ich, trotz­ dem ich mich „an Agitationen beteiligt" hatte, gewählt. Meine Mitschuldigen in Stettin blieben indessen mehrere Jahre hin­ durch von der üblichen Weiterreise nach Berlin ausgeschlossen.

5. 3n Berlin. Im Herbst 1883 rückte ich, halb genesen, in Berlin ein.

t Der Anstellung im Berliner Schuldienste mußte bis in den Anfang der achtziger Jahre immer eine kürzere oder auch längere Dienstzeit in den Berliner Privatschulen voraufgehen. Durch dieses Entgegenkommen der Stadt war den Privatschulbesitzern stets eine genügende Anzahl guter Anwärter für ihre Schulen bei mäßigem oder auch Wohl bei nicht immer zureichendem Ge­ halte gesichert. Für manchen jungen Lehrer war diese Dienstzeit eine vorzügliche Schule. Denn in den Berliner Privatschulen wurde damals tüchtig gearbeitet. Die Leiter waren zum großen Teil ausgezeichnete Schulmänner. Als ich mich nach Berlin wandte, wurden zuerst Lehrer von auswärts ohne Privatschuldienstzcit angestcllt. Verlangt wurde aber noch eine Probelehr­ stunde, und zu diesem Zwecke mußten die Anwärter nach Berlin kommen. Das Reisegeld wurde ihnen vergütet. Ich sah so im Frühsommer 1883 die deutsche Reichshauptstadt zum ersten Male. Besonderen Eindruck machten nur die hervorragenden Staats­ gebäude auf mich. Im übrigen spielte sich das Leben in Berlin damals weitaus weniger weltstädtisch ab als heute. Der Unter­ schied im Vergleich zu großen Provinzialhauptstädten war nicht erheblich. Auf dem Gesundbrunnen z. B., wo ich wohnte, herrschte am Abend auf den Straßen noch ein urgemütliches Kleinstadt­ leben. Die Leute saßen vor den Türen und in den Gasthaus­ gärten, genau so, wie anderswo auch. Die Probelehrstunden wurden von der Gruppe, der ich zugeteilt war, an der dreißigsten Gemeindeschule, weit im Osten in der Rüdersdorfer Straße, ab­ gehalten. Ich benutzte für den Meg dorthin die eben fertig gewor­ dene Stadtbahn, die damals viel bewundert und auch in einem prächtigen Buche von Hans Dominik: „Quer durch und rings um Berlin" behandelt wurde. An der Schule wirkte Hermann Gallee, damals schon in der Lehrerschaft weithin bekannt. War er doch einer der Begründer und Vertreter des Deutschen Lehrervereins und Herausgeber seines Jahrbuchs. Viel beachtet und bewundert

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wurde seine Haltung der freisinnigen Berliner Schulverwaltung gegenüber, die ihn seiner Vereinstätigkeit und freimütiger Ver­ öffentlichungen wegen gemaßregelt hatte. Gallee, eben 40 Jahre alt geworden, stand in vollster Manneskraft. In seinem starken schwarzen Barte erschien er uns Jungen als ein Muster­ bild eines selbstbewußten Volksschullehrers, und wir suchten natürlich Gelegenheit, ihn zu sehen und zu sprechen. Mir gelang das nicht. Ich kam aber nach meiner Übersiedelung nach Berlin sehr bald mit ihm in engere Berührung. Kaum war ich in den Lehrkörper der 49. Gemeindeschule eingetreten, wo rege Vereins­ mitglieder, u. a. Fritz Wende und Gustav Favorke, wirkten, wurde ich auch bereits Mitglied des Berliner Lehrervereins. Als ich mich dem Schulinspektor des Bezirks vorstellte, glaubte er mich vor dem mit der städtischen Schulverwaltung in Fehde liegenden Verein warnen zu müssen. Er machte ein etwas verdutztes Gesicht, als ich ihm mitteilte, daß diese Warnung zu spät käme, hat mich aber irgendwelche Mißbilligung bei unseren späteren Begegnungen nicht fühlen lassen. Er entledigte sich wohl nur eines Auftrages von höherer Stelle. Immerhin hätten Schul­ beamte zu derartigen Bevormundungsversuchen sich damals nicht mehr bereitfinden lassen dürfen. Insbesondere nicht in dem „frei­ sinnigen Berlin". Sie machten sich damit zu Spießgesellen des Ministers von Puttkamer. Das war lange Zeit hindurch von bitterbösen Folgen. Aber der „Freisinn" war eben auf vielen Gebieten niemals freisinnig und stieß dadurch seine besten Kräfte dauernd ab. Eugen Richter hat, unbewußt und ungewollt, manchen wirklich freidenkenden Mann für immer in ein anderes Lager getrieben, und die Hermes und Genossen taten dasselbe in der Berliner Lehrerschaft. Die parteimäßigen, teilweise auch auf das Gebiet des Gottesglaubens übergreifenden Gewissens­ erforschungen, denen die Rektoratsanwärter vielfach unterworfen wurden, ähnlich, wie es heute von anderer Seite geschieht, haben der Partei und der Stadt viel geschadet. Und der Erfolg? Mancher übereifrige freisinnige Stellenanwärter kehrte der Partei sofort den Rücken, wenn er seinen Zweck erreicht hatte.

Dauernde Parteifessclung ist zwar in engen, beruflich, wirtschaft­ lich und gesellschaftlich gebundenen Verhältnissen möglich, nicht aber in der Großstadt. „Stadtluft macht frei." Ich war zuerst der 13. Gemeindeschule in der Elisabethkirch-Straße überschrieben. Als ich mich dort meldete, war in­ dessen die Aufnahme so gering gewesen, daß die in Aussicht ge­ nommene Grundklasse nicht eröffnet werden konnte. Der Leiter der Schule sagte mir, ich möchte mich um nichts kümmern, meine Wohnung angeben und alles Weitere abwarten; man würde mich schon rechtzeitig suchen und anderweitig verwenden. Es war ein prächtiger Herbst, und ich benutzte die freien Wochen, mich in Berlin und der nächsten Umgebung umzusehen. Ich hatte über­ all, wo ich bisher gewesen war, mich mit der Heimatkunde und Ortsgeschichte gründlich vertraut gemacht, vor allem auch in Stettin. Daß das in Berlin wesentlich schwieriger war, erfuhr ich natürlich sehr bald, und ich bin zu einer vollen Beherrschung der Berliner Ortskunde und Ortsgeschichte auch niemals gelangt. Aber die freien Wochen taten mir doch wohl. Schließlich fand mich die Schulverwaltung aber doch verwendbar, und ich wurde an die 111. Schule in der Grenzstraße geschickt. Die Verhältnisse dort sagten mir durchaus nicht zu, und ich war keineswegs unglück­ lich, als eines Morgens der Rektor mir mitteilte, meine Berufung an seine Schule wäre ein Versehen, die Stelle müsse mit einer jüdischen Lehrerin des Gottesunterrichtes wegen besetzt werden. Ich packte meine Sachen und glaubte nun eine weitere längere Erholungszeit genießen zu können. Darin hatte ich mich aller­ dings getäuscht. Nach einigen Tagen wurde ich an die 49. Gcmeindeschule in der Blumenstraße, also aus Berlin N. nach Berlin O., geschickt. Schon beim Eintritt in diese Anstalt merkte ich, daß hier ein anderer Geist wehte. Eine vortrefflich zusammengesetzte Lehrerschaft, ein urgemütlicher, echt berlinischer älterer Leiter, der die Mitarbeiter auch in froher Tafelrunde am Abend gern um sich sah, eine durchweg tüchtige Berufsauffassung, die sich auch auf das Außere der Kinder erstreckte. Die Herren Jungen erschienen

hier ausnahmslos mit blankgewichsten Stiefeln, und wenn einmal irgendein verschlafener kleiner Student anders erschien, so wurde er unweigerlich zurückgcschickt. Diese äußere Erziehung war für das Arbeiterkind auch in Berlin früher ganz besonders heilsam. Viele dieser Kinder lernten Ordnung und Reinlichkeit erst in der Schule kennen. Leider war meines Bleibens hier nicht lange. Die Klasse, die ich führte, wurde nach einem halben Jahre ein­ gezogen. Ich hätte sie gern länger behalten, trotzdem es eine sogenannte Ramschklasse mit einer Wohl nicht häufig wieder­ kehrenden Auslese von „Tüchtigen" war. Sie stellte dem Namen nach eine 4. Klasse, also in dem damals noch sechsstufigen Schul­ aufbau ein 3. Schuljahr dar. Die Insassen standen aber im Alter von 9 bis zu 14 Jahren, einer von ihnen hatte elf, ein anderer neun, sehr viele acht, sieben und sechs verschiedene Schulen nach­ einander besucht. Der Unfug des „Umschulens" trat hier augen­ scheinlich zutage. Mit diesen Jungen streng unterrichtlich sich zu beschäftigen, war schwer. Ihr Außeres war mäßig und blieb auch mäßig, selbst unter der Zucht dieser Musterschule. Trotzdem wagte ich mich sehr bald mit ihnen auf die Straße, wanderte zum Zoo­ logischen Garten, zum Aquarium, zu den verschiedenen Denk­ mälern, ins Zeughaus usw. Das nahmen mir die Jungen durch­ aus nicht übel und vergalten mir meine Bemühungen offen­ sichtlich durch manche Nachsicht. Ich merkte sehr bald, daß sie gar nicht mehr so ungern in die Schule kamen, wie manche offenbar früher, und wir haben denn auch, wie mir die Lehrer • der Klassen, in die die Versetzung erfolgte, später oft gesagt haben, noch manches ganz ordentlich gelernt. Ich habe unter diesen Jungen ganz besonders nach den Anlagen und Neigungen mich umgesehen. So entdeckte ich bei einem wenig regen, ja zumeist völlig unaufmerksamen Jungen eine ganz hervorragende zeichnerische Anlage. Als wir das Kamel besprochen hatten, fragte ich rein zufällig, wer Wohl den Schatten­ riß des Tieres an die Tafel zeichnen könnte. Mein Junge meldet sich. In wenigen Minuten steht ein fehlerfreier Umriß an der Wandtafel, und der kleine Zeichner strahlt in voller Freude. Ich

gab ihm jetzt oft Gelegenheit, Ergebnisse oder Hilfen des Unter­ richts an die Tafel zu werfen, und aus dem trägen Burschen wurde ein äußerst aufmerksamer Schüler. Hatte er an einer Stelle seine Leistungsfähigkeit erkannt, so traute er sich nun auch an

anderer Stelle etwas zu. Sein Selbstbewußtsein war gewachsen.

Vor allen Dingen wollte er aber mit mir in gutem Einvernehmen leben, damit ich seine Liebhaberei weiterhin berücksichtigte. Wenn man doch bei den Kindern und auch bei den Lehrern nicht so oft nach dem fragen wollte, was sie nicht wissen und nicht geleistet haben, sondern in erster Reihe nach dem, was sie leisten, woran sie die volle Freude des Gelingens haben, auch wenn es über die

Grenzen des Lehrplans teilweise oder ganz hinausgeht! Im Frühjahr 1884 mußte ich diese mir lieb gewordene Anstalt aus dem schon angegebenen Grunde leider verlassen. Ich wurde einer Nachbarschul« überwiesen, an der eine Stelle

durch Zank zwischen ihrem Inhaber und dem Leiter der Schule frei geworden war. Der Rektor dieser Schule, ein von Natur etwas gewaltsamer, im übrigen tüchtiger Mann, der allerdings besonders in äußerlichen Dingen die Schulleistungen erblickte, behagte mir von vornherein nicht sehr. Wir verstanden uns denn auch nicht besonders gut. Mancherlei Zusammenstöße gestalteten Indessen hätten

das Zusammenleben nicht gerade freundlich.

wir wohl noch lange miteinander auskommen können, nachdem wir uns kennengelernt hatten. Besser war es indessen wohl, daß ich nach einem Jahre ein Haus weiter ging.

Der Gegensatz zwischen Rektoren und Lehrern war damals in Berlin recht stark und schwächte sich erst im Laufe einer län­

geren Zeit ab,

bis in den letzten Jahren die Forderung der

kollegialen Schulleitung wieder starke Spannungen hervorgerufcn

hat. Die damaligen Rektoren hatten zum Teil längere Zeit in Berliner Privatschulen gewirkt und hier das selbstherrliche Regi­ ment der Schulvorsteher am eigenen Leibe kennen gelernt. Aber eben darum waren viele von ihnen dem kleinen Königtum stark

zugeneigt und wollten von der Selbständigkeit der Lehrer im Unter­ richte und in der Klassenführung nicht viel wissen. Mich wenig-

stens mutete es sehr sonderbar an, daß ich nach vierjähriger hin­ gebender und meines Erachtens erfolgreicher Lehrtätigkeit mir so kleinliche Vorschriften sollte machen lassen, wie sie uns im Seminar nicht einmal gemacht worden waren. Der Leiter der Schule nahm Widerspruch gegen solche Zumutungen persönlich übel. Das änderte aber an meiner Haltung nichts, im Gegenteil, ich nahm Gelegenheit, in den Konferenzen die Verhältnisse der Schule zur Sprache zu bringen, in meinem Sinne natürlich. Bei dem Lehrkörper fand ich allerdings dabei nicht allgemeine Unter­ stützung. Es war eine Mädchenschule, und die Lehrerinnen waren damals noch ziemlich obrigkeitsfromm; wenigstens handelten sie so, als wenn sie es wären, so daß die Abstimmungen auch nach den überzeugendsten Darlegungen meist in ganz anderem Sinne, je nach der Stellungnahme des Rektors, erfolgten. Die eigentliche Quelle aller Mißhelligkeiten zwischen Lehrern und Rektoren lag in einer von der Schulverwaltung bewußt ge­ währten und gepflegten falschen Auffassung von der Stellung des Rektors und des Vorgesetzten überhaupt. Der Leiter, nicht die Lehrerschaft, sollte die Schule verkörpern, nach außen unbedingt und nach innen auch. Daraus ergaben sich tausend Unmöglich­ keiten und für die Lehrer Demütigungen, die sie nicht hinnehmen konnten. Es ist ja ganz allgemein der schlimmste Fehler, den Menschen in übergeordneter Stellung begehen können, daß sie ihre Nachgeordneten und Untergebenen nicht immer genügend zur Geltung kommen lassen. Der Mensch, der nichts gelten soll, taugt auch nichts, wenigstens auf die Dauer nicht. Daß er, wie Schiller im Wallenstein sagt, „jedwedem seine Kraft hervorzieht, die eigentümliche, und sie großzieht, und jeden ganz das bleiben läßt, was er ist, und nur darüber wacht, daß er's immer sei am rechten Ort, und daß er so aller Menschen Vermögen zu dem seinigen zu machen weiß", darin scheint mir der eigentliche Wert des Vorgesetzten und des Führers zu bestehen. Wie oft habe ich mich über die Kleinlichkeit in den Berliner Gemeindeschulen geärgert, wenn z. B. bei öffentlichen Prüfungen und bei Elternabenden die Lehrer in den Ecken umherstanden und

sich irgendwelche namen- und verdienstlosen Mitglieder der Schul­ kommission neben dem Schulinspektor und Rektor an der Ehren­ tafel breitmachten, und wenn bei solchen Gelegenheiten einer zu ernten suchte, was viele gesät hatten. Das war auch der eigentliche Grund, weswegen diese wertvollen Einrichtungen nicht gedeihen konnten, und jeder Lehrer mit Abneigung, manche mit tiefem Ingrimm, an sie zurückdachten. Ich habe von da ab an zwei Schulen, der 125. am Schle­ sischen Bahnhof und an einer Moabiter Anstalt, ganz draußen in der Siemensstraße, später nach der Waldenser Straße verlegt, meine weitere Lehrtätigkeit ausgeübt, bis ich dem Amte den Rücken kehrte und mich meiner freien Tätigkeit innerhalb der Gesellschaft für Volksbildung und daneben schriftstellerischer Arbeit widmen konnte. Meine fruchtbarste Wirkungszeit waren die elf Jahre von 1885 bis 1896 an der 125. Gemeindeschule. Die Verhältnisse der Schule waren trotz großer Armut der Bevölkerung günstig. Die Klassen waren klein, und meine Beschäftigung in der Schule gestaltete sich ganz nach meinen Wünschen. Längere Zeit hin­ durch führte ich eine Klasse, die ich als 4. Schuljahr übernommen hatte und dann bis zum Abgang behielt. Die Durchführung der Schulklassen, für die ich durch eine vielbesprochene Veröffent­ lichung im „Jahrbuch des Vereins für wissenschaftliche Päda­ gogik" (Dresden 1889, Bleyl und Kaemmerer) eingetreten war, konnte ich hier auf das beste erproben. Die später hinzukom­ menden Schülerinnen fügten sich in die Klasse vorzüglich ein, und ich stehe noch heute mit einer größeren Anzahl meiner da­ maligen Schülerinnen in regen Beziehungen, trotz der inzwischen verflossenen 25 bis 30 Jahre, während aus den späteren ein­ jährigen Klassen, die ich in der Moabiter Schule führte, mir kaum noch jemand aus der Schulzeit her ebenso nahe steht. Die Grundgedanken der Abhandlung über die Durch­ führung der Schulklassen hatte ich von meiner ersten Schul­ tätigkeit an viel mit mir herumgetragen und mit Berufs­ genossen oft erörtert. Ich fand dafür aber nirgends rechten Boden.

Anders, als ich in der Rißmannschen „Freien Pädagogischen Ver­ einigung" einen als Zwiegespräch ausgearbeiteten Vortrag dar­ über hielt. Das Zwiegespräch war mit großer Lebhaftigkeit ab­ gefaßt, und die Vorlesung hatte den Erfolg, daß die Geister gehörig aufeinanderplatztcn. Ich fand nicht allseitige Zustim­ mung, aber diejenigen, auf deren Urteil ich am meisten gab, waren doch mit mir eines Sinnes. Gelegentliche Hindeutungen auf die Frage in meinen Aufsätzen in der Pädagogischen Zeitung hatten keinen größeren Erfolg, um so mehr wirkte die Veröffent­ lichung im Jahrbuch des „Vereins für wissenschaftliche Päda­ gogik". Der Erfolg hatte wohl wesentlich darin seinen Grund, daß die Abhandlung an Herbart und Graff anknüpfte. So waren die Herbartschcn Kreise von vornherein dafür gewonnen. Sie hatten damals Wohl das Bedürfnis, mehr als bisher auf die Schularbeit selbst Einfluß zu gewinnen, und hier war eine Frage angeschnitten, die den ganzen bisherigen Aufbau der Schule auf andere Grundlagen stellen wollte. Ich empfand sehr deutlich, daß die geschichtliche Grundlage meiner Arbeit zu dem Erfolg mehr beitrug als die Gedanken selbst und war darüber, offen gestanden, nicht sehr glücklich. Ich hatte mich mit Rißmann oft darüber auseinandergesetzt, daß ein tüchtiger Kopf das Recht habe, die Dinge aus sich heraus zu beurteilen, ohne sich um die Vor­ geschichte einer Frage viel zu kümmern. Rißmann war anderer Meinung und hat Neuerungsvorschläge, die geschichtlich nicht auf sicherer Grundlage standen, auch immer besonders scharf beurteilt. Ich denke in dieser wie in mancher andern Hinsicht über geschichtliche Einstellung weniger hoch. Gewiß, wir denken viel, was andere lange vor uns bereits gedacht haben. Wir fordern, was vor uns und neben uns bereits verwirklicht war. Aber es ist doch für die Entwicklung der Menschheit vorteilhafter, wenn denkende Köpfe sich ohne vieles Besinnen und ohne geschicht­ liche Maulwurfsarbeit einer Frage bemächtigen. Die geschicht­ liche Einstellung wird immer noch früh genug erfolgen. Das besorgen dann die „Maulwürfe". Aber wer nur fragt, ob das, was ihn bewegt, auch schon da war, wird es nie zu einer frischen

Auffassung seiner Zeit und seiner Verhältnisse bringen. Schaf­ fende Geister stehen zwar, unbewußt freilich, auch auf den Schul­ tern ihrer Vorgänger, aber wenn sie es wüßten, so wären sie nicht, was sie sind. Wir müssen das Bewußtsein haben, Neues in uns zu tragen. Nur dann sind wir imstande, Neues zu schaffen. Je „geschichtlicher" ein Mensch, ein Volk, ein Zeitalter sind, um so unfruchtbarer sind sie. Meine Abhandlung im Jahrbuch des Vereins für wissen­ schaftliche Pädagogik führte mich in den Pfingsttagen 1889 auch in den Kreis der Herbartianer persönlich ein. Im Anschluß an eine mit dem jetzigen Schulrat Otto in Stade gemeinsam gemachte ver­ gnügte Harzreise fuhren wir beide nach Erfurt. Dort wurde ich mit offenen Armen empfangen, lernte Theodor Vogt, Universi­ tätsprofessor in Wien, den damaligen Vorsitzenden des Vereins für wissenschaftliche Pädagogik, Menge, Rein, Thrändorf und viele andere tätige Mitglieder des Vereins kennen. Meine Arbeit wurde zustimmend besprochen und ihre besondere Verbreitung beschlossen. Der Verleger war dazu, wohl aus wirtschaftlichen Gründen, nicht bereit, aber die Gedanken der Abhandlung fanden durch weitere Verarbeitung, insbesondere in einer Schrift von Dr. Wohlrabe, Verbreitung in der Lehrerschaft, und daß seitdem in Deutschland die Durchführung der Schüler durch mehrere Klassen seitens desselben Lehrers immer mehr in Aufnahme gekommen ist, darf ich mir wohl als Verdienst anrcchnen. Die vortreffliche Abhandlung von Graff aus dem Jahre 1817, die Herbart besprochen hat (Die für die Einführung eines erziehenden Unterrichts notwendige Umwandlung der Schule. Allen, die den Durchbruch einer besseren Zeit befördern können und wollen, zur Beherzigung vorgelegt von E. G. Graff, 1. Aufl. 1817, Leipzig. E. F. Steinacker), war damals im Buchhandel nur noch schwer aufzutreiben. Ich erhielt von dem Verleger aber noch ein Stück, das viertletzte. Die Schrift kannte offenbar niemand mehr. Von der zweckmäßigen Lösung dieser Frage hängt aber die Lösung fchr vieler Einzelfragen ab, insbesondere auch die der Selbständig­ keit der Lehrer in mehrstufigen Schulen und der Lösung größerer

Unterrichts- und Erziehungsaufgaben in der mehrklassigen Schule

überhaupt. Die Berliner Geistlichen hatten damals noch das Recht, den Gottesunterricht in den Schulen zu besuchen. An der 125. Schule lag

das dem Pfarrer Dr.

Bitthorn von der Andreas­

kirche ob. Bitthorn war ein Mann, der als Kanzelredner viel bewundert wurde und der einer engen Auffassung der Gottes­ lehren Wohl ganz fernstand. Seine Besuche sahen wir Lehrer alle gern. Er verstand gut und ermunternd zuzuhören und richtete jedesmal, wenn er die Klasse verließ, an meine Schüler, besonders

aber an die Schülerinnen, einige Worte, in denen er die Kinder zur Dankbarkeit gegen mich, ihren Lehrer, ermahnte und ihnen das große Glück einer guten Schule ungemein fesselnd darlegte. Das wirkte auf die Kinder immer ausgezeichnet. Und so habe ich in. diesen, meinen sonstigen Auffassungen von der Stellung der Schule ja nicht entsprechenden Besuchen niemals eine Belästigung oder Störung gesehen. Im übrigen aber eignet sich der Gottes­

unterricht am wenigsten zu einer kleinlichen Nachprüfung und Beaufsichtigung. Auch die Gottesgelehrten wissen vom Gottes­

unterricht und seinen Aufgaben oft fast nichts. Ein aus der geist­ lichen Laufbahn zur Schule übergetretener Schulaufseher erschien eines Tages in meiner Klasse, die gerade Zeichenunterricht hatte, und verlangte, eine Neligionsstunde zu hören. Er gestattete sich bei dieser Gelegenheit zweimal einen Eingriff in die recht leb­

hafte Unterredung mit den Kindern und war beide Male so im Irrtum, daß die Kinder selbst ihn ohne weiteres berichtigten. Ohne ein Wort der Entschuldigung verließ er die Klasse. Ein jüngerer Geistlicher besuchte meinen Unterricht und hörte eine Unterredung über einen Abschnitt der Bergpredigt, in die die

Kinder sich in einer Reihe von Lehrstunden ganz eingelebt hatten. Den Kindern diese Perle des Neuen Testaments näherzubringen,

hatte ich mich immer ganz besonders bemüht. Der Geistliche hörte eine Zeitlang zu, bat dann um die Erlauhnis, selbst prüfen zu dürfen und — fragte die Kinder nach den Nebenflüssen des Jordans. Als er sich verabschiedete, sagte ich ihm, er möchte doch

der Kirchenbehörde mitteilen, ich wünschte meinen Unterricht von einem Geistlichen revidiert zu sehen, der mehr Anteil an religiösen Fragen nähme als er. Die Landeskunde von Palästina erschiene mir in dieser Ausdehnung für die Pflege der Gottsinnigkeit nicht von besonderem Werte. Der Mann schaute mich sehr verwundert an, stammelte einige unverständliche Worte und ging. Ob er meinen Wunsch erfüllt hat, habe ich nie erfahren. Bonus wird wohl recht haben, wenn er meint, daß in den Schulen das Gottverbundensein oft vernichtet werde. Häufig geschieht es sicherlich nicht nur von den Lehrenden, sondern auch von ihren geistlichen Aufsehern. Mit meinen Schülern und Schülerinnen — zumeist habe ich Mädchen unterrichtet — bin ich auch nach Abschluß ihrer Schul­ zeit in Verbindung geblieben. Viele haben mein Haus oft und gern ausgesucht und in meiner Familie frohe Stunden verlebt. Besonders lange bestand die Verbindung mit den Schülerinnen, die eine Reihe von Jahren in meiner Klasse gesessen hatten. Eine Anzahl meiner früheren Schülerinnen habe ich später auch als Angestellte der Gesellschaft für Volksbildung lange Jahre als treue und liebe Mitarbeiterinnen in ihrer Entwicklung weiter­ verfolgen können. Und merkwürdig: bei keiner einzigen habe ich mich im Wesen und in den Leistungen geirrt. Sie waren auf dem Arbeitsplätze nicht anders als in der Schulstube. Eine stärkere Entwicklung nach der einen oder anderen Seite trat hervor, aber im ganzen bleibt Hans Hans und Grete Grete; die Jahre ändern Größe und Kraft, aber nicht das innere Wesen. Das größte Glück eines Lehrers besteht darin, daß er Erfolge seiner Arbeit nicht nur in der Schulklasse, sondern später im Leben sieht. Im Dorf und in der Kleinstadt bleibt die große Mehrzahl der Kinder auch nach Abschluß der Schulzeit unter den Augen des Lehrers. Anders in der Großstadt. Wenn sich die Schultür hinter den jungen Menschen schließt, so verschwinden sie dem Auge des Lehrers, und es ist mehr oder weniger Zufall, wenn er diese und jene noch einmal zu Gesicht bekommt. Das ist bei den Mädchen noch mehr der Fall als bei den Knaben. Und

doch kann man auch hier an manchem schönen Beispiel sich über­ zeugen, daß das Leben hält, was die Schule verspricht, voraus­

gesetzt, daß die Betresfenden ihre Kraft in einer Arbeit entwickeln können, die ihren Anlagen und Neigungen entspricht.

Daß gerade die tüchtigsten Schüler im Leben versagten, ist durchaus

nicht der Fall. Wahr daran ist nur, daß Kopfmenschen, die in die Handarbeit gedrängt werden, und umgekehrt Handmenschen, die

Kopfarbeit leisten sollen, um so mehr versagen, je ernster das Leben an sie hcrantritt. Wer einige Jahrzehnte hindurch den Lebensgang seiner Schüler und Schülerinnen verfolgen kann und

sich um die Eigenart seiner Pflegebefohlenen gekümmert hat, wird immer wieder bestätigt finden, daß diejenigen, die auf der Schulbank gut waren, im Leben nicht schlecht sind und umge­

kehrt. Wer Kinder aus den arbeitenden Klassen unterrichtet hat, hat dazu noch die Freude, zu sehen, daß recht viele von ihnen sich in Lebcnsgebiete und gesellschaftliche Lagen hineinarbeitcn, in denen man sie gewöhnlich nicht sucht. Auch die Mädchen. Berliner Arbeitertöchter erlangen nicht selten die glänzendsten Stellungen im Berufe und in der Ehe. Und es ist dann gewiß eine große Freude, wenn man bei ihnen eine lebhafte Anerken­ nung für das findet, was ihnen die Schule geboten hat und sie der Schule zu danken haben. Ich habe diese Freude oft gehabt,

und wenn ich heute an die Ernten meiner Arbeit denke, so sind diese Erträgnisse mir von allen die wertvollsten und liebsten.

Und Schülerdankbarkeit ist langlebig. Man denkt an seine Lehrer im Alter fast mehr als in der Jugend. Dem Lehrer geht cs umgekehrt als dem Schauspieler: er lebt im Herzen seiner Schüler

weiter und wird dadurch für die Mühen und Entbehrungen oft reichlich entlohnt, die sein Beruf und die Verkennung und Unter­ schätzung der „Maßgebenden" ja so reichlich zu bringen pflegen.

6. Schriftstellerische Arbeiten. Meine frühesten schriftstellerischen Versuche fallen in mein

erstes Amtsjahr. Besonders lebhaft beschäftigte mich der Unterricht 110

im Deutschen in der ersten Mädchenklasse. Wohl angeregt durch das Lesebuch von Jütting und Weber, stellte ich verwandte Dich­ tungen, die wir in der Klasse lasen und behandelten, nach den verschiedensten Gesichtspunkten zusammen und freute mich über

die frische Ausnahme der so entstehenden größeren Gedanken-, Empfindungs- und Sachgebiete. Was ich dabei entdeckt zu haben glaubte, zeigte ich an einem Beispiel („Hcimatlieder") und ver­ öffentlichte die Arbeit in dem damals von Konrad Schröder her­ ausgegebenen „Magazin für Lehr- und Lernmittel". Indessen war das nur eine zufällige Arbeit. Im ganzen war ich vollständig damit zufrieden, wenn ich die Dinge für mich durchdenken und ohne irgendwelchen weiteren Zweck zumeist bei der Vorbereitung für meinen Unterricht niederschreibcn konnte. So entstand auch meine Arbeit zur zweiten Lehrerprüfung: „Uber den Beginn des Schulunterrichtes", die auf der Beobachtung der vorschulpflich­ tigen Kinder, insbesondere der Kinder meines ältesten Bruders, beruhte und in den bei Sigismund und Volkening damals erschei­ nenden „Päd. Studien" abgedruckt wurde. (S. S. 93.) Für Tages­ zeitungen schrieb ich erst, als ich bereits in Berlin war. Mein erster eigentlicher Zeitungsaufsatz war eine Entgegnung auf einen in der Unterhaltungsbeilage der „Täglichen Rundschau" erschie­ nenen Aufsatz über die Großstädter von Koppel-Ellfeld, in dem die Großstädter außerordentlich ungünstig beurteilt wurden. Ich empfand diese Beurteilung als eine Einseitigkeit und Ungerechtig­ keit, da mir die großstädtische Bevölkerung, insbesondere auch der weibliche Teil, in vielem besser gefiel als die oft so zimperlichen Kleinstädterinnen. Ich setzte mich hin, schrieb meine gegenteiligen Ansichten in einem Zuge nieder und schickte die Blätter der Zeitung, mehr zur persönlichen Befriedigung als zum Druck. Ich war darum sehr erstaunt, am nächsten Morgen den Aufsatz gedruckt zu finden, und noch mehr erstaunt, als ich dafür nach einigen Tagen eine für meine Verhältnisse recht stattliche Ent­ schädigung erhielt. Mehr hat mich keine spätere schriftstellerische Einnahme je erfreut als diese 38,40 Mark. Ich wußte nun, daß

es für mich auch einen Ausweg aus der wahrlich nicht glänzenden wirtschaftlichen Lage gab.

Meine ausgedehnteste schriftstellerische Arbeit lag indessen auf dem Schul- und Bildungsgebiete. Für die „Pädagogische Zei­

tung" und die „Preußische Lehrerzeitung" habe ich in den acht­ ziger und neunziger Jahren sehr viel geschrieben, und da meine

Aufsätze zumeist namenlos veröffentlicht wurden, so ist man in der Regel Wohl nicht auf den Gedanken gekommen, daß manch­ mal in einer Nummer eine Reihe von mir herrührender Arbeiten

abgedruckt war. Wichtiger für meine schriftstellerische Entwicklung wurde indessen die Mitarbeit an Tageszeitungen, an der „Täglichen Rundschau", dem „Berliner Tageblatt", der „Vossischen Zei­ tung". Für die Unterhaltungsbeilage der „Täglichen Rundschau",

die damals Dr. Friedrich Lange leitete, schrieb ich vielfach die Ergebnisse wissenschaftlicher Arbeiten nieder, soweit sie für die Allgemeinheit von Wert sein konnten, während ich in den beiden andern Zeitungen zumeist Arbeiten über staatliche Schulführung veröffentlichte, vielfach aber auch kleine Bilder aus dem Berliner Leben, immer mit einer gewissen volkserziehcrischen Absicht und Färbung. Ich glaube, mit diesen kleinen Arbeiten, die zu lesen mir noch heute Freude macht, damals in der Berliner Presse einen gewissen Einfluß ausgeübt und die Geister auf das Er­ ziehungswesen und das Kindcsleben stärker hingelenkt zu haben.

Neben meiner amtlichen und außeramtlichen Tätigkeit konnte ich kleinere Aufsätze immer auch in den kleinsten Pausen nieder­ schreiben, ohne irgendwelche Anstrengung. In den Schulpausen,

am Morgen vor der Schule, selbst in Sitzungen und in der Straßenbahn und auf Spaziergängen sind die meisten kleineren

Arbeiten entstanden. Wenn man älter wird, schreibt man mit dieser Leichtigkeit nicht mehr. Man ist den Augenblicksgedanken und -empfindungen gegenüber mißtrauischer. Meine schriftstellerische Betätigung hat mich selbstverständlich mit weiten Kreisen der Schriftstellerwelt, insbesondere mit den

Leitern der Schulblätter und der großen Tageszeitungen in

Berührung gebracht. Ich habe indessen persönliche Beziehungen,

insbesondere mit den letzteren, nie gesucht, und für das Berliner Tageblatt, die Tägliche Rundschau, die Vossische Zeitung Jahre hindurch, zeitweise fast täglich geschrieben, ohne daß ich die Schrift­

leiter persönlich kannte. Später bin ich mit Dr. A r t h u r L e vh s o h n, diesem kindlich wohlwollenden Manne, der so manche

junge schriftstellerische Kraft aus der Taufe gehoben hat, mit Fried richStephany, Dr. FriedrichLange.TheodorBarth, den Männern von der Gartenlaube und manchen

anderen in persönliche Berührung gekommen. Ich glaube, für einen Menschen, der unabhängig schreibt und spricht, ist es besser, wenn er das Persönliche, auch in diesem Falle, möglichst aus­ scheidet und nicht durch persönliche Einflüsse seinen Gedanken und

Wünschen Nachdruck zu verleihen sucht. Ich habe immer gefunden, wenn über eine gute Sache gut geschrieben und gesprochen wird, fo finden die Arbeiten auch den Weg in die Presse. Freilich

schreiben selten die am besten Unterrichteten, denn zum Schreiben wie zum Sprechen gehören jugendliche Frische und eine gewisse Leidenschaftlichkeit, die sich hineinstürzt in die Dinge, ohne viel zu fragen. Deswegen tritt das ruhigere Alter oft mehr zurück, als es für die Sache gut ist. Mit Schriftstellern von Beruf bin ich immer nur vorüber­ gehend zusammengekommen. Sie sind ja meist keine Gesellschafts­ und Herdenmenschen, und in den Kreisen des Kaffee Größenwahn

und an ähnlichen Sammelpunkten habe ich mich nie wohlgefühlt. Immerhin hat es einen großen Reiz für mich gehabt, in die

Werkstätten der Schaffenden hier und da hineinzuschauen. Man sieht das fertige Werk dann wesentlich anders an. Mit den Schriftleitern bin ich immer gut ausgekommcn, und ich habe deswegen auch manche Zeitungs- und Zeit­

schriftenwerkstatt etwas näher kennen gelernt. Es gibt viel und wenig schreibende und auch gar nicht schreibende Schriftleiter. Wie mir scheint, sind die letzteren die besten. Am wenigsten

zweckmäßig ist es, wenn der Schriftleiter viel oder gar alles schreibt und zum mindesten alles am besten verstehen will. Der ti

Tews, Au» Arbeit und Leben.

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Schriftleiter muß etwas vom Kaufmann haben, der mehr in die Weite als in die Tiefe schaut, der mehr die auf seinem Gebiete arbeitenden Menschen und das, was sie arbeiten, sieht, als daß er selbst in die Fragen sich bis zum tiefsten Grunde zu versenken und sie selbst zu lösen sucht. Bei den Schulzeitungen habe ich wiederholt wahrgenommen, daß auch tüchtige, viel schreibende Leiter ein Blatt verhältnismäßig schnell zugrunde richteten, während diejenigen, die ihre Mitarbeiter zu suchen verstanden, augenscheinlichen Erfolg hatten. Zusammenstellen, ordnen, ab­ messen und abwägen, die Wirkung Prüfen ist etwas anderes als selbst schreiben und reden. Die besten Schriftsteller werden in der Regel mäßige Schriftleiter sein, und mancher Schriftleiter würde als Schriftsteller sein täglich Brot nicht verdienen können. Die deutschen Schulzeitungen litten während der ersten Jahrzehnte meiner öffentlichen Tätigkeit an dem Mangel an Mitteln für die Vergütung ihrer Beiträge. In vielen Schul­ zeitungen wurde grundsätzlich keine Vergütung gezahlt. Wenn der Leiter nicht ein sehr fleißiger Mann war, der selbst viel schrieb, so mußten Schere und Kleistertopf das Beste tun, und wenn man heute einige Jahrgänge derartiger Zeitschriften durch­ sieht, so muß man staunen über die Unbefangenheit, mit der die geistigen Arbeiten anderer ohne weiteres ausgenutzt wurden. Trotzdem brachte mancher auf diesem Wege eine ganz leidliche Zeitung zustande. Wie die Blätter, die grundsätzlich ihre Bei­ träge vergüteten, gestellt waren, dafür nur ein Beispiel. Die „Pädagogische Zeitung" zahlte mir für meinen ersten Beitrag 1,25 Mark. Es war ein Aufsatz von etwa zwei Spalten, und für eine Reihe von Beiträgen im nächsten Vierteljahr, die einen erheblichen Teil der Zeitung füllten, wurden etwa 10 Mark gezahlt. Das erschien gewiß recht wenig. Aber wenn man bedenkt, daß man ein bescheidenes Mittagessen damals für 30 bis 50 Pfennige haben konnte, so war es nicht viel weniger, als wenn heute das Zwanzigfache gezahlt wird. Die wirtschaftliche Lage der Schulzeitungen besserte sich aber mit der wirtschaftlichen Lage des Lehrerstandes, und die größeren Zeitschriften zahlten vor

dem Kriege immerhin eine Vergütung, die sich neben den Ver­ gütungen anderer Fachblätter sehen lassen konnte. Der Krieg hat auch darin manches geändert. Jedenfalls verdient heute ein

Schriftsteller durch Mitarbeit an Schulzeitungen auch nicht ent­

fernt dasselbe, was der Schriftsetzer erwirbt, der seine Aufsätze für den Druck zurecht macht. Von den Berufsgenossen habe ich schriftstellerisch am meisten mit Schröer, Röhl und Päßler, den Leitern der „Päda­ gogischen Zeitung", der derzeitigen „Allgemeinen Deutschen Lehrerzeitung", mit Clausnitzer, dem Leiter der „Prcußi-

schen Lehrerzeitung", und mit Rißmann und P r e tz e l, den Leitern der „Deutschen Schule", zu tun gehabt. In diesen Fach­ zeitschriften und -Zeitungen habe ich Jahre hindurch einen nicht

unwesentlichen Teil der auf meinem Gebiete liegenden Aufsätze geschrieben und dadurch wohl auch manche Stellungnahme der Lehrerschaft stark beeinflußt. Die am schärfsten geschnittene Persönlichkeit unter den Lei­ tern der Schulzeitungen war offenbar Leopold Claus­ nitzer, der Jahrzehnte hindurch die täglich erscheinende, in rechtsstehenden Kreisen bitter gehaßte „Preußische Lehrerzeitung" leitete. Clansnitzer war schreibend und redend ein Moltke. Er konnte indessen mit wenig Worten, oft mit einem einzigen, sehr viel sagen. Seine Bemerkungen in Ansprachen und als Leiter großer Lehrerversammlungen trafen immer den Nagel auf den

Kopf, mehr noch seine oft recht bissigen und galligen Bemer­ kungen zu Aufsätzen anderer, die er in seiner Zeitung veröffent­

lichte.

Es waren gewissermaßen kurze, kräftige Zügelzüge, mit

denen er den Wagen, in dem ein großer Teil der preußischen

Lehrerschaft saß, lenkte. An der Erziehung der deutschen Volks­

schullehrerschaft zu Standesbewußtsein und zu Standessinn haben wenige so erfolgreich gearbeitet wie Clausnitzer.

Er lag des­

wegen fortgesetzt im Kampfe mit den geistlichen Schulaufsehern.

Dabei war er persönlich von tiefer gottsinniger Grundrichtung. Ob sich dieser Mesenszug allerdings so kirchlich ausgeprägt hat, wie es Veröffentlichungen von ihm nahestehender Seite nach seinem



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Tode erscheinen lassen, muß ich persönlich stark bezweifeln. Clausnitzers tiefinnerstes Selbstbewußtsein und seine Sicherheit in der Stellungnahme zu allen großen Fragen machen eine so starke Anlehnung an biblische und kirchliche Dinge nicht sehr wahr­

scheinlich. Ich verehre in Clausnitzer noch heute einen der mann­ haftesten und geistvollsten Kämpfer und Arbeiter in der deutschen Volksschullehrerschaft. Was ihn zum Führer insbesondere eignete, war seine überaus große Unparteilichkeit den Mitarbeitern gegen­

über. Er nahm selbst persönliche Kränkungen hin, wenn sie von einem ausgezeichneten Mitarbeiter ausgingen, ohne indessen der­ artige Entgleisungen zu vergessen. Zu gelegener Zeit konnte auch er sie so zurückzahlen, daß dem Betreffenden dabei die Augen über­ gingen, aber immer so, daß die Mitarbeit dadurch nicht gestört wurde. Deswegen schied aus seinem Arbeitskreise auch niemand

freiwillig aus. Es mußten schon schwerwiegende Gründe sein, die den Rücktritt veranlaßten. Ganz eigenartig war mein Verhältnis zu Robert Rißmann, der Gedankenaustausch mit Berufsgenossen brauchte wie andere ihr täglich Brot. Da ich in denselben Gcdankengängen lebte wie

er, unsere Auffassungen aber doch in manchen Einzelheiten stark abwichen, konnte es uns an Unterhaltungsstoff niemals fehlen. Ich habe kaum mit jemand soviel gestritten wie mit Rißmann,

nicht immer ruhig und sachlich, er war oft gereizt.

Aber wir

fanden uns immer wieder zusammen. Nur mit meiner Arbeits­ weise konnte er sich nicht einverstanden erklären. Rißmann war zwar selbst kein Buchschreiber, sondern nach seiner ganzen Anlage ein vorzüglicher Tagesschriftsteller, ein Mann, der mit Leiden­

schaft die Tagesfragen verfolgte und verfocht. Er hat diese Fähig­ keiten aber niemals ausgenutzt. Er schrieb für Tageszeitungen überhaupt nicht und für Zeitschriften nur ganz ausnahmsweise.

Alles, was er veröffentlichte, erschien in den Schulzeitungen. Von mir erwartete und verlangte er etwas anderes. Mich hätte er

gern in den Tiefen der Erziehungswissenschaft graben und

schachten sehen.

Meine bestimmte Stellungnahme zu Dingen,

die ihm noch als „Fragen" galten, zu denen ich aber im öffent-

lichen Kampf notgedrungen entweder „Ja" oder „Nein" sagen mußte, konnte ihn aufs höchste aufbringen. Für ihn gab es einen „Abschluß" überhaupt nicht. Er war ganz Lessing. In Aus­ sprachen dieser Art vergaß er auch Wohl die Umgebung und sagte manches, was er nachher bedauerte. Dann kam am nächsten Tage ein langer Brief, der das Innere dieses herrlichen Menschen tiefer enthüllte, als jahrelange gemeinsame Arbeit. Noch in seinem letzten Lebensjahre schrieb er mir nach einer scharfen Aus­ lassung, die ich mit Recht oder Unrecht übclgenommen hatte, in einem Briefe:

„Wenn einer Sie und Ihre immense geistige Kraft schätzt, bin ich's. Ich habe uin Sie in jüngeren Jahren geradezu ge­ worben — leider ohne Erfolg. Freilich stehe ich vielfach auf anderem Boden, in sozialpolitischer und sozialpädagogischcr Hin­ sicht zumal. Aber ich halte damit nicht hinterm Berge, wie manche derer, die sich um Ihre Person drängen. Und Sie Verhalten sich da recht eigentümlich. Wer Ihnen bedingungslos zustimmt, den schätzen Sie (oft viel höher, als er verdient) und öffnen Sie Herz und Hand. Mir kommen Sie mit Mißtrauen entgegen, und doch meine ich's ehrlicher als der große Haufe, der Ihnen Beifall spendet, und als die vielen, die sich in Ihrem Glanze sonnen. Sie haben bisher Ihre wahren Freunde ebensowenig erkannt als Ihre wahren Feinde, die von Neid getriebenen Gernegroße. Sie stehen Ihnen näher, als Sie vielleicht glauben."

Ich habe unsere gemeinsame Umgebung so nie gesehen; von „Anhängern", „Freunden" und „Feinden" habe ich überhaupt selten etwas gewußt, ich lebte in den Gedanken und Forderungen, die uns bewegten, ohne mich um das persönliche Verhältnis der einzelnen zueinander und zu mir viel zu kümmern. Meine schon berührten Arbeiten auf dem Gebiete des Lese­ buches gaben zehn Jahre später die Grundlagen zur eigenen Be­ arbeitung von Lesebüchern. Ich hatte mich inzwischen dauernd mit dem Inhalt der vorhandenen und neu erscheinenden Lesebücher be­ schäftigt und die unbefriedigende Gestalt und den dürftigen Inhalt

der Bücher immer tiefer empfunden. Als deswegen nach dem 8. Deutschen Lehrertag 1890, auf dem Dr. Kamp, Frankfurt a.M., und Direktor Ernst, Schneidemühl, den hauswirtschaftlichen Unter­ richt behandelten, Ernst uns beide, Kamp und mich, zur gemein­ samen Herausgabe eines Lesebuchs für Mädchenschulen, in dem der hauswirtschaftliche Unterricht berücksichtigt werde, auffordcrte, sagte ich nach kurzem Bedenken zu. Kamp trat von der Arbeit bald zurück. Ernst und ich haben sie zu Ende geführt. Mir kam die leichtere Zugänglichkeit der Quellen in Berlin zugute. Ich habe bei der Auffindung, Auswahl und Zusammenstellung der Stoffe die Führung übernommen, während Ernst alles andere, insbesondere auch die geschäftliche Behandlung, mehr in der Hand hatte. Ernst ist in dieser wie in mancher anderen Arbeit, in der Gesellschaft für Volksbildung, bei der Vertretung der Schule im Preußischen Abgeordnctenhause, von diesem Zeitpunkte ab bis zu seinem Tode mir ein treuer Arbeitsgenosse und im übrigen ein lieber Freund geblieben. Keine Wolke hat unser Verhältnis je getrübt, er immer rastlos tätig, freundlich, die Fäden anknüpfend, wo es nur möglich war. Ich lernte ihn in den Jahren seiner Vollkraft als einen liebenswürdigen, sonnigen Menschen kennen, und das ist er bis in seine letzten Lebenstage geblieben. Unser Buch begegnete im Ministerium offenbarer Abneigung, die sich wohl zumeist auf mich, aber auch auf den ebenfalls als freisinnig bekannten Ernst richtete. Geheimrat Schneider, der Verfasser der Allgemeinen Bestimmungen, war an der teilweisen Ablehnung des Buches — es wurde nur für Mittelschulen ge­ nehmigt — wohl nicht unbeteiligt, trotzdem er diese Beteiligung mir gegenüber ableugnete. Ich hatte den bestimmten Eindruck, daß man von mir erwartete, in dieser Sache als Bittsteller ins Ministerium zu kommen. Ich habe das nicht getan. Diese schweren Gänge hat Ernst übernommen. Ich wollte meine volle Unabhängigkeit im öffentlichen Leben behalten und glaubte sie durch irgendwelche Wünsche privater Natur beeinträchtigt. Das Buch hat trotzdem eine ziemliche Verbreitung gefunden, ist dann später unter Mitarbeit von Leitern Höherer Mädchenschulen

zu einem neunbändigen Lesebuche für Lyzeen und unter Mit­ arbeit von Mittelschullehrern zu einem siebenbändigen Lesebuche

für Mittelschulen erweitert worden. Eine Reihe von Sonder­ ausgaben berücksichtigte besonderen Schulaufbau und landschaft­ liche Verhältnisse. Die Beurteilung hat das Buch einstimmig als eine hervorragende Arbeit bezeichnet. Der geschäftliche Erfolg war nicht entsprechend. Die Gründe liegen, wie ich glaube, nicht in den Büchern, sondern in den Verhältnissen bzw. in der Be­

urteilung der Mitarbeiter, zum Teil auch in der geringen geschäft­ lichen Regsamkeit des Verlegers. Aber diese Arbeiten haben mir viel Freude bereitet, und das genügt mir. Ich habe an den meisten Stücken, die in das Buch Aufnahme fanden, einen reinen Genuß

gehabt und nichts ausgenommen, was nicht auf mich selbst einen erfrischenden und belebenden Eindruck niachen konnte. Einen wesentlichen Anteil an der Auffindung und Einstellung der einzelnen Stücke in den neueren Ausgaben der Lese­ bücher hat meine jüngere Tochter Gertrud, die nach Abschluß des Krieges im Jahre 1918 einem Berufsgenossen, dem Berliner Rektor Hinrich Schloen, die Hand zum Ehebunde reichte. Sie hat unermüdlich gesucht, geprüft, abgeschrieben und dann zu­

sammengestellt, die Durchsichten gelesen und den Druck über­ wacht — einen guten Teil ihres jungen Lebens hat sie der Bearbeitung des Buches für Lyzeen geopfert, ohne daß mein und ihr Name auf dem Titelblatt steht.

Dem jetzt gang und gäben absprechenden Urteil über die Lesebücher überhaupt kann ich nicht zustimmen. Es führt zu nichts, auch unsere jüngeren Kinder nur mit längeren Stücken

zu beschäftigen. Diese Stücke werden im Schulunterricht nur zu leicht völlig verlappt und zerrissen, während ein kleineres Stück — ich erinnere nur an die Hebelschen Erzählungen — eine Stunde

ausfüllt und die Kinder dem deutschen Schrifttum ganz erheblich näher führt als die durch viele Stunden gehende Bearbeitung und Zerarbeitung größerer Stücke. Aber es ist ja nun einmal

das Schicksal des Menschen, daß er von einem Irrtum über die

Gleichgewichtslage der Wahrheit hinweg zu dem Irrtum auf der anderen Seite hinübertaumelt. Man soll das Lesebuch beibchalten, aber daneben größere Stücke lesen, insbesondere in den oberen Klassen, womöglich in einem Zuge, in wenigen Tagen, bei reichlicher Stundenbemessung. Der Schulbetrieb in seiner Ver­ einzelung verlangt indessen nun einmal auch die „Häppchen". Trotz Jensen und Lamßus und ihrer Weggenossen. Noch eine zweite Arbeit für den deutschen Sprachunterricht will ich wenigstens erwähnen, die Bearbeitung der „Deutschen Sprachschule" von Baron, Junghanns und Schindler (Leipzig, Julius Klinkhardt) für Berliner Schulen. Die Bearbeitung ent­ hält insbesondere in der letzten Gestalt unter Mitarbeit von Pretzel und Rupnow manches, was die Beherrschung des Schrift­ deutsch für die Berliner Jugend fördern kann. Daß gerade diese letzte Ausgabe keine nennenswerte Verbreitung gefunden hat, lag an der damaligen Bevormundung der Lehrerschaft bei der Ver­ wendung von Unterrichtsmitteln. Später habe ich mich mit dem Gegenstände nicht wieder beschäftigt, und heute liegt er ganz außerhalb meines Arbeitsgebietes.

Von Freunden bin ich häufig getadelt worden, daß ich die Fragen, die ich in Vorträgen, Unterredungen und Aufsätzen oft behandelt hatte, nicht in einem Buche zum Abschluß zu bringen versuchte. Man meinte, die Gegenstände seien so wichtig und die Darstellung so ansprechend, daß sie festgehalten werden müßten. Mir liegt aber ein Ausspinnen eines Gedankens und einer Gedankenreihe zu einem langen Faden nicht. Tatsächlich habe ich bis in das fünfte Jahrzehnt meines Lebens nichts veröffentlicht, was man ohne Übertreibung ein Buch nennen könnte, und alles, was später von mir erschienen ist, sind eigentlich auch keine Bücher, cs sind nur buchmäßige Zusammenfassungen von Aufsätzen, Vor­ trägen und Vortragsreihen. Ich habe es niemals über mich gewinnen können, eine Frage bis in alle Einzelheiten mit der Feder in der Hand zu erörtern. Es genügte mir, wenn das in Gesprächen, Vereinsverhandlungen usw. in lebhafter Darstellung

der Hauptgedanken geschehen war. Sehr oft bin ich auf dem besten Wege zur Abfassung eines Buches gewesen, aber dann hat mich das Leben wieder gepackt, andere Dinge haben mich lebhafter beschäftigt, und das Halbfertige blieb liegen. Auch feste Verträge mit einer ganzen Reihe von Verlegern habe ich nicht erfüllt; die dringendsten Erinnerungen halfen in solchen Fällen nicht. Mehrere meiner Bücher sind erst zustande gekommen, als die betreffenden Verleger, auf ihren Vertrag gestützt, mir etwas gewaltsam zu Leibe rückten. Um so größer war dann die Freude, wenn ich die immer und immer wieder hinausgcschobene Arbeit in verhältnismäßig kurzer Zeit erledigen konnte. Wenn ich eine derartige Arbeit in der Sommerfrische, von aller Störung abgeschnittcn, vornahm, so brachte ich sie in einer so kurzen Zeit zu Ende, daß ich cs von einigen meiner Bücher kaum öffentlich ein­ gestehen dürfte. Die Gedanken waren eben alle unendlich oft durch meinen Kopf gegangen, und die sprachliche Gestaltung kam von selbst, wenn ich arbeitsfrisch und von anderen Dingen frei war. Hatte ich dann noch gar das Glück, daß ich ansagen konnte, also nicht selbst zu schreiben brauchte, so war die Fertigstellung mehr Erntefest als Erntearbeit. Ich selbst habe auch stets mehr Anregung und Belehrung aus kurzen Abhandlungen erhalten als aus dickleibigen Büchern. Es war mir darum immer schmerzlich, zu beobachten, daß die gehaltvollsten Zeitungs-und Zeitschriftenaufsätze anderer, in denen eine Sache knapp und bestimmt dargelegt war, unbeachtet blieben, die elendesten Machwerke, die als Hefte oder Bücher auf den Markt kamen, dagegen allgemeine Anerkennung fanden, und daß das schriftstellerische Ansehen sich im wesentlichen danach bemaß, ob jemand „ein Buch" geschrieben hatte oder nicht. Robert Rißmann hat mir oft die bittersten Vorwürfe darüber gemacht, daß ich mich der „gründlichen" Untersuchung und Verarbeitung erziehungs­ wissenschaftlicher Fragen nicht dauernd hingeben und meine Arbeitsergebnisse nicht in Abhandlungen und Büchern nieder­ legen mochte. Er hatte gewiß recht, aber der Mensch muß nun einmal so verbraucht werden, wie er ist.

7. Staatliche Schulführung. (Schulpolitik.) Meine Beteiligung an der Bearbeitung schulpolitischcr Fragen in der Presse, im Lehrerverein und in der breiteren Öffentlichkeit wird häufig als das Hauptgebiet meiner Tätigkeit bezeichnet. Von vornherein lagen mir diese Fragen ziemlich fern. Sie erschienen mir als etwas Außeres, vorwiegend als wirtschaft­ liche Anliegen, mit denen geistig gerichtete Menschen sich eigent­ lich nicht beschäftigen sollten. Fast das ganze erste Jahrzehnt meines Berufslebens ist deswegen auch ausgcfüllt mit allgemein­ wissenschaftlichen und erziehungswissenschaftlichcn Arbeiten. Nur schwer habe ich mich von ihnen getrennt. Aber meine innerste Natur ist nicht auf das Aufnehmen, sondern auf das Schaffen und Gestalten gerichtet. Was ich denke, das muß ich mir auch in die Wirklichkeit übertragen, muß ich mir angewandt vorstellen. Dazu war aber in meinem Berufsleben nur sehr wenig Gelegen­ heit; denn für unterrichtliche Neugestaltungen in meinem Sinne war damals auch in der Lehrerschaft nur schwer Boden zu ge­ winnen. Man folgte im ganzen dem Vorbilde der Höheren Schulen, dachte auch die Volksschule im wesentlichen nur als eine Unterrichtsanstalt, in der die Verstandeskräfte durch wissenschaft­ liche Schulung möglichst hoch zu entwickeln seien. Nicht jeder Irrweg der Höheren Schule, insbesondere nicht die Übertreibung und Überschätzung der fremdsprachlichen Bildung, wurde gebilligt, aber im allgemeinen doch ihren Bahnen gefolgt. Das lag vor allem an den Falkschen Allgemeinen Bestimmungen vom 15. Ok­ tober 1872, von denen man mit Recht gesagt hat, daß sie die Volksschule zu einer verkleinerten Realschule machen wollten. In der Lehrerschaft billigten nur wenige (Dörpfeld) diese Zielsetzung nicht. Gerade den führenden Kreisen stand noch die dadurch bewirkte Abkehr von der Gesindeschule der Regulative lebhaft vor Augen. Jede Forderung, die an diese glücklich überwundenen Zustände auch nur oberflächlich erinnerte, wurde abgewiesen. Deswegen kämpften Männer wie Rißmann, Scherer, Schencken-

dorff und viele andere so lange vergeblich für die Einführung des Knabenhandarbeitsunterrichtes, und andere ebenso vergeblich für die Aufnahme hauswirtschaftlicher Belehrungen in die Mädchen­ schulen. Wären diese Gegenstände vorher in die Höhere Schule

ausgenommen worden, man hätte sich gegen sie sicherlich nicht gesträubt. Selbst der erfolgreichste und entschiedenste Gegner aller dieser Forderungen, Emil Ries, Frankfurt a. M., nicht.

Seine abwegige Stellungnahme, auch der allgemeinen Volks­ schule gegenüber, war durch manche richtige Beobachtung be­

stimmt. Er kannte die „volksfreundlichen" Bestrebungen gewisser Oberschichten sehr gut und noch besser die tiefe Abneigung des

spießbürgerlichen Mittelstandes gegen jede Berührung mit den unteren Volksschichten. Er fürchtete, auch wohl mit Recht, daß die Volksschule durch Aufnahme von Gegenständen aus dem werk­ tätigen Leben tatsächlich eine „niedere" Schule werden würde, und ebenso fürchtete er für seine Mittelschule, an der er wirkte, eine Herabdrückung durch die allgemeine Volksschule. Erst nach einer Wandlung der Erziehungsziele in weiteren Volkskreisen konnte auch eine andere Stellungnahme der Lehrerschaft erfolgen. Rißmann hat für seine „Sozialpädagogik", um dieses elende Wort

zu gebrauchen, für die Erziehung als Mittel zum stetigen Wieder­ aufbau der Volksgemeinschaft in ihrer Gesamtheit und zur Fort­ entwicklung der Gesellschaft deswegen lange vergeblich gekämpft,

nnd seine in derselben Richtung liegenden Bemühungen konnten

höchstens Augenblickserfolge haben. Die Erfahrungen, die ich auf dem Lehrertage in Hamburg 1896 (f. S. 146) machte, redeten eine nur zu deutliche Sprache. Heute liegen die Dinge anders. Der Gedanke der Arbeitsschule hat sich durchgerungen. Die reine Ver­

standesschule, die Schule alten Schlages mit ihrer Vorherrschaft der fremden Sprachen ist zwar nicht überwunden, aber stark ins Wanken geraten, und es wird schwerlich noch einmal gelingen,

sie wieder zur „Höheren" Schule schlechtweg zu machen. Für die Neugestaltungen ist die Bahn frei, eine Herabdrückung der Volks­

schule zu einer „niederen" Schule aus diesem Grunde ist nicht

mehr zu fürchten. Was ihr sonst bevorsteht, wer vermöchte das

zu sagen! Am größten ist die Gefahr, daß das Volk selbst, ohne es zu wissen und zu wollen, seine Schule zerstört. An der Schule selbst, wie sie damals war, konnte der einzelne so gut wie nichts ändern. Dazu fehlte ihm jedes Recht und jede Möglichkeit. „Eigenmächtigkeiten" in der Auswahl und Anordnung der Lehrstoffe dem Lehrplane gegenüber waren ein schweres Ver­ gehen; der Stundenplan sollte gewissenhaft innegehalten werden. So in Berlin. In kleineren Orten ist diese Einschnürung erst allmählich und später erfolgt. Ich selbst hatte draußen noch volle Freiheit genossen. Wer sich in den neueren Verhältnissen ein weiteres Wirkungsfeld schaffen wollte, mußte eine höhere beruf­ liche Stellung als Schulleiter, Schulaufsichtsbeamter oder Mit­ glied der staatlichen Schulverwaltung anstreben. Eine solche Lauf­ bahn lockte mich aus den verschiedensten Gründen nicht. Meine Gedanken etwa durch Abfassung von Schulbüchern zu verwirk­ lichen, war auch wenig aussichtsreich; denn Schulbuchverfasscr, die keine einflußreiche amtliche Stellung hatten, mußten sich bei den Schulbehörden schon entsprechend zu Gehör bringen, oft jeden­ falls in einer Weise, die außerhalb meiner Fähigkeiten lag. Ich mußte also gewärtig sein, daß ich für den Papierkorb arbeitete. So kam ich ganz von selbst ins öffentliche Leben. Hier konnte ich meinen lebhaften Mitteilungsdrang in Wort und Schrift befrie­ digen und die unmittelbare Wirkung meiner Gedanken vielfach beobachten, also Erfolge sehen, wie sie mir im Beruf selbst, über den amtlich gezogenen Kreis hinaus, versagt blieben. Dazu kam frühzeitiger Verkehr mit tüchtigen Männern des öffentlichen Lebens, insbesondere mit Volksvertretern. Das Preußische Ab­ geordnetenhaus hatte sich vielfach mit wichtigen Schulvorlagen zu beschäftigen zu einer Zeit, wo ich eben bereit stand, das, was ich wußte und wollte, zu vertreten. 1885 war das Lehrerpensions­ gesetz verabschiedet worden, 1887 das Schulleistungsgesetz, 1888 und 1889 das Gesetz über die Erleichterung der Schullastcn der Gemeinden und die Aufhebung des Schulgeldes in den Volks­ schulen, 1890unbl891 folgten die Schulgesetzentwürfe der Minister v. Goßler und v. Zedlitz und viele andere kleinere Vorlagen. Die

-arm behandelten Angelegenheiten waren mir zum Teil aus eige­ ner Anschauung bekannt. Eine umfangreiche und lichtvolle Dar­ stellung der Gesamtverhältnisse brachte das damals erscheinende dreibändige Werk über das preußische Volksschulwesen von Schneider und von Bremen. Mit diesem ausgerüstet, hatte man festen Boden unter den Füßen. Daneben gaben die vorliegenden Schulzählungen von 1878, 1882 und 1886 zahlenmäßige Belege für den augenblicklichen Stand der Dinge. Ich habe diese Hilfs­ mittel nach allen Seiten hin ausgcschöpft und war deswegen in dem Stoff wohl etwas mehr zu Hause als die meisten anderen, die sich mit denselben Fragen beschäftigten. An den verschiedensten Stellen bot sich ausreichende Gelegen­ heit, meine Kenntnisse anzuwenden. Die großen Berliner Tages­ zeitungen, insbesondere das Berliner Tageblatt, aber auch die Dossische Zeitung öffneten mir gern ihre Spalten, auch große Provinzzeitungen, die Danziger Zeitung und die Frankfurter Zeitung, für gelegentliche Arbeiten auch die Kölnische Zeitung, die Neue Stettiner Zeitung und viele andere führende Provinz­ blätter. Zeitweise gab ich einen eigenen vervielfältigten Zeitungs­ dienst heraus, der besonders von den Schulzeitungen stark benutzt wurde. Ich machte es mir darin zur Aufgabe, in leicht lesbarer, fesselnder Form besonders wissenswerte Dinge schulpolitischen Inhalts mitzuteilen und zu Tagesfragen scharf und bestimmt Stellung zu nehmen. In führenden allgemeinen Zeitschriften: der „Nation", der „Sozialen Praxis", der „Gartenlaube" gab man mir ebenfalls gern Gelegenheit, über brennende Zeitfragen des Schulwesens zu schreiben. Von besonderem Reiz war für mich die Mitarbeit an der „Nation" und der „Sozialen Praxis". Theodor Barth war da­ mals einer der geistvollsten Volksvertreter und Tagesschriftsteller in Deutschland. Einen Aufsatz für die „Nation" mit ihm zu besprechen und vorzubereiten, war mir immer ein hoher geistiger Genuß, und ebenso anziehend und wertvoll war nach anderer Richtung für mich die Mitarbeit an der „Sozialen Praxis" unter Dr. I. Zastrow. Jastrow war ein Mann von einer wissenschaftlichen

Genauigkeit und Gewissenhaftigkeit auch in den einzelnen Bei­ trägen seiner Zeitschrift, wie ich keinen zweiten kennengelernt habe. Was in dieser Zeitschrift behauptet wurde, mußte auch hinreichend begründet sein. Dann freilich durfte man es mit aller Schärfe aussprechen. Daneben habe ich mich natürlich in Vereinigungen und Ver­ sammlungen, die mir parteimäßig näherstanden, an der Erörte­ rung von Schulfragen beteiligt oder vielmehr hier die Schulfrage meist erst zur Erörterung gebracht. So habe ich lange Zeit hin­ durch in dem liberalen Bauernverein „Nordost" und in seiner Zeitschrift, dem „Deutschen Reichsblatt", die Schulfragen im Sinne der ausgleichcnden Gerechtigkeit, die ich vor allem in der Beseiti­ gung der gutsherrlichen Vorrechte erblickte, behandelt. In dem Verein, der von Freunden Rickerts ins Leben gerufen war, wirkte eine Anzahl ganz vorzüglicher Männer aus dem Bauernstande: Rubow und Steinhauer aus Pommern, Woicke aus der Mark u. a. Aber diese Männer vermochten doch die große Masse der mittleren und kleineren Landwirte nicht mit sich zu ziehen. Die übergroße Mehrzahl der Bauern folgten vielmehr dem Rufe des Bundes der Landtvirte und seiner konservativen Führer. Hohe Getreide­ preise konnten wir ihnen freilich auch nicht versprechen, und das gab in allem doch den Ausschlag. In größerem Ausmaße habe ich diese und alle anderen Schulfragen auf den Hauptversammlungen des Wahlvcreins der Liberalen, dem Mittelpunkte der freisinnigen Vereinigung, be­ sprochen. Ich kam hierdurch in ziemlich nahe Berührung, ins­ besondere auch in geselligen Verkehr mit den damaligen Führern dieser Gruppe im Preußischen Landtage und Reichstage, mit Bamberger, Rickert, Schrader, Barth, Alexander Meyer, Dohrn, Bahr u. a. Von großem Nachteil für unsere Arbeit war es, daß der Freisinn damals gespalten war, und daß die beiden Gruppen, Freisinnige Volkspartei (Eugen Richter) und Freisinnige Ver­ einigung (Heinrich Rickert), sich ziemlich schroff gegenüberstanden. Wenigstens war das bei den Führern der Fall, während die Mit-

glichet her Parteien im Lanhtage unh Reichstage unh auch hie Parteiangehörigen im Lande vielfach nichts von einer Trennung, noch weniger aber von einer Gegnerschaft etwas wissen wollten. Aber in hett bethen Gruppen wurhe hoch in bezug aus hie Schule in manchen Fragen eine ganz verschiehene Richtung verfolgt.

Beim Zehlitzschen Schulgesetzentwurf freilich fanhen bethe sich zu

einmütigem Vorgehen zusammen, unh ein viel bemerkter, von mir verfaßter Antrag, haß neben her Volksschule anbete öffentliche Schuleinrichtungen für bcn Grunhunterricht nicht getroffen werben bürsten, trug als Unterschrift neben Rickerts Namen auch

hen Ruholf Virchows. Richter selbst stanh oft grollenh beiseite. So war er kein Freunh her allgemeinen Volksschule, hie henn auch auf einem Parteitage in Eisenach (1894) auf sein Betreiben abgelehnt wurhe. Mich persönlich traf biefe Stellungnahme inso­ fern schwer, als es Richter gelang, hurch Berliner Schulmänner in geachteter Stellung, Bertram unh Schwalbe, hie Vossische Zei­ tung hahin zu beeinflussen, haß sie für hie allgemeine Volksschule nicht mehr eintrat unh meine Aufsätze Hierüber ablehnte. Für „tticherc Küsterhienste" wollte ich her Zeitung aber auch nicht zur Verfügung stehen unh stellte heswegen meine Mitarbeit an ihr überhaupt ein. Das war für hie Sache nichts weniger als vor­ teilhaft. Richters Stellung zu sozialen unh geistigen Volksfragen

war für uns überhaupt recht hinberlich. Bei hen heutigen Er­ fahrungen mit sozialistischen Versuchen wirb man hen scharf­

sinnigen unh scharfblickenhen Parteimann allerhings hieserhalb

weniger taheln können. Wer Heute seine „Sozialistischen Zukunfts-

btlber" in hie Hanh nimmt, finhet bann nicht mehr wie hamals nur Zerrbilher einer großen Parteilehre, sonhern ziemlich natur­ getreue Wiehergaben her Wirklichkeit. Aber Richter war hoch zu sehr auf hie unmittelbaren kleinen Anliegen kleinbürgerlicher Schichten unh gewerblicher Gruppen eingestellt, unh biefe seine Stellungnahme verleitete seine Gefolgschaft zu manchen recht unerfreulichen Torheiten. Wenn z. B. hie Berliner Kirchlich­ liberalen für hie Offenhaltung her Schnaps- unh Bierbuhen,

her Destillen unh Restaurationen währenh her Kirchzeit sich

besonders einsetzten, so war das doch eine starke Verkennung der Wichtigkeit zweier widerstreitender Anliegen. Ähnliches hat ja dem großen Führer, der auch persönlich recht unliebenswürdig sein konnte, wenn etwas gegen seine Parteiabsichten ging, weite Kreise entfremdet, denen der Freisinn mehr war als ein äußeres Bekenntnis. Zur freisinnigen Volkspartei gehörte auch der ehemalige Pfarrer G u st a v K n ö r ck e, der die preußische Volksschule im Abgeordnetenhanse lange vertreten und sich zu ihr und ihren Lehrern schon bekannt hat, als es andere noch nicht taten, und der darum, trotz seiner offenbaren Schwächen, von Clausnitzer immer geschützt wurde. Knörcke war kein Arbeiter und kein Redner. Selten hatte er einen Gegenstand sich so zu eigen gemacht, daß er darüber durchaus sachverständig hätte reden können. Er lebte von altem Erbteil. Ihn mit einer neuen Vorlage gründlich ver­ traut zu machen, war vergebliches Bemühen. Ich habe manche Stunde mit ihm in seiner Wohnung zusammengescssen, bin aber selten befriedigt davongegangen. Eugen Richter wußte das und machte aus seiner Geringschätzung Knörckes auch gar kein Hehl. Aus diesem Grunde hielt sich Knörcke natürlich in jeder Beziehung zu uns. Er vertrat auch Dinge, die andere nicht vertreten hätten. Aber es zeigte sich doch immer mehr, daß er nicht mehr der rechte Mann für uns war. Die Häupter der Volkspartei, Richter und Virchow, die mit Schuldingen genügend vertraut waren und auch von den Gegnern beachtet werden mußten, für die Behand­ lung von solchen Schulfragen zu gewinnen, die nicht große Staats­ und Volksfragen waren wie der Zedlitzsche Schulgesetzentwnrf, war nicht möglich. Das Verhältnis der Berliner Lehrerschaft zu ihnen gestaltete sich auch deswegen noch unfreundlich, weil beide in Berlin gewählt waren und hier für die Mißstände im Volks­ schulwesen mitverantwortlich gemacht wurden; ob mit Recht oder "Unrecht, bleibe dahingestellt. In den Wahlkämpfen kam das oft zum Schaden der Partei zum Ausdruck. So war es ein großer Fortschritt, als 1898 zwei Männer, von jeder freisinnigen Gruppe einer, die aus der Schule kamen, in das Abgeordnetenhaus ein-

zogen: Rektor Kopsch aus Berlin und Direktor Ernst aus Schneidemühl in Posen. Was beiden die preußische Volksschule verdankt, kann kaum hoch genug geschätzt werden. Es zeigte sich sehr bald, daß die Vertretung einer Sache durch angesehene Ange­ hörige des betreffenden Berufsstandes einen ganz anderen Ein­ druck macht, als die Vertretung durch noch so hochstehende „Lieb­ haber". Kopsch hat manchen harten Kampf im Abgeordneten­ hause ausgefochten, insbesondere die häßliche Trakehner Schulnnd Gestütgeschichte. Seine Sachkenntnis und Sicherheit ver­ schafften ihm bald auch bei den Gegnern Ansehen. Und ebenso hat mein Freund Ernst, der blonde Riese mit dem Kinderherzen, der zwar kein fesselnder Redner, aber ein um so tüchtigerer Sach­ kenner war, unermüdlich gewirkt. Seine Milde und seine verbind­ liche Art zu sprechen, erhöhten seinen Einfluß auf parteimäßig ihm Gcgcnüberstchende. Insbesondere hielt er auf gute Beziehungen zu den Berufsgenossen in anderen Parteien. An dem Aufstieg der preußischen Volksschule von jener Zeit an haben beide Männer ihren reichlichen Anteil. Ihrem Auftreten ist es besonders zuzu­ schreiben, daß die überlieferungsgemäß schnlfeindlichcn Parteien, die Konservativen und das Zentrum, von da an ihre häßlichen Angriffe auf die Volksschule und die Volksschullehrer einstellten und sich bewußt wurden, was dieser kopfreiche Stand, der in jedem Dorf, oft durch einen sehr einflußreichen Mann, vertreten ist, auch in ihren Parteien bedeuten würde, und man begann jetzt, anstatt den verhaßten Schulmeister zu schmähen, ihm wenigstens in etwas gerecht zu werden, kleine Wünsche zu erfüllen, um ihn damit in die Partei hineinzuzichen. Die Rechnung war nicht so falsch; denn viele Volksschullehrer gehören ihrer Abkunft nach und durch berufliche und gesellschaftliche Verbindung, auf dem Lande wenigstens, sehr häufig den Schichten an, aus denen beide Par­ teien sich zusammensetzen. Bei meinen Arbeiten habe ich manche Feststellung machen können, die für den Gutgläubigen nicht ohne weiteres glaubhaft erschien. Aus der Lehrerschaft gingen mir, vertraulich, viele Mit­ teilungen zu, die einem Volksvertreter, der anderen Kreisen ange-

hörte, niemals gemacht worden wären. Denn die Negierung erklärte alle nicht ohne weiteres zugänglichen Tatsachen des Schul­ wesens als Amtsgeheimnis. So wurde z. B. noch 1912 den Leitern der Höheren Knabenschulen verboten, der Gesellschaft für Volksbildung einige ganz harmlose Angaben über ihre Stellung zur Vorschule zu machen. Glücklicherweise kam die Verfügung so spät,, daß ein Teil der Direktoren schon geantwortet hatte. Ihre Äußerungen waren recht wertvoll. (Siehe „Volksbildung" 1912 S. 454 ff.) Ich grub mehrere recht auffällige Maßnahmen erst ans. Sic waren entweder nicht bekanntgcgeben oder nicht beachtet worden, weil man ihre Tragweite nicht übersah. So war unter dem 31. März 1886 auf Veranlassung des Fürsten Bismarck ein Erlaß des preußischen Staatsministeriums ergangen, durch den die aushilfswcisen Leistungen der Gutsherren auf Grund des Allgemeinen Landrechtes samt und sonders einfach aufgehoben wurden, also nicht nur die Leistungen der leistungs u n fähigen Gutsherren — das würde sich mit dem Sinne der landrechtlichen Bestimmungen haben vereinigen lassen — sondern aller Guts­ herren ohne Ausnahme, auch der wohlhabendsten. Das war schlankweg Rechtsbruch und Gesetzesverletzung. Der große Kanzler hat Wohl mehrere derartige Maßnahmen getroffen. Wo er den Knoten nicht lösen konnte, hieb er ihn durch, auch in der inneren Staatsführung. Die verworrenen Schnllastenbestimmungen auf gesetzlichem Wege neu zu ordnen, erschien ihm wohl nicht als tunlich. Er hatte seine Erfahrungen mit den adligen Berufs- und Standesgenossen gemacht. Eine gesetzliche Aufhebung hätte die Beseitigung auch aller andern gutsherrlichen Vorrechte und damit eine sehr namhafte Erhöhung der Steuern für den Großgrundbesitz bringen müssen. Das lag wohl selbst in BismarcksMacht nicht und war auch wohl nicht sein Wunsch. Man tut dem Kanzler kaum Unrecht, wenn man ihm nachsagt, daß er sich nebenher auch noch als Gutsbesitzer fühlte. DieVolksschule und ihre Angelegenheiten lagen ihm außerdem fern. Er stellte kaum übertriebene Ansprüche an ihre Leistungen. Die bittersten Notstände suchte er, wie durch die Gesetze von 1887 und 1888 geschehen, durch reichliche Staats-

Überweisungen an die Gemeinden zu littbern, nicht durch unnnttelbare Zuwendungen an die notleidenden Lehrer; denn dadurch wäre ja die Verstaatlichung des Schulwesens stark in Angriff genommen worden, unter Zurückdrängung des gemeindlichen und gutshcrrlichen Einflusses. Das war nicht nach Bismarcks Sinn und hätte auch bei den Mehrheitsparteien kaum Anklang ge­ sunden. Wieweit man mit der Überweisung staatlicher Mittel an die Gemeinden vor Erlaß der Gesetze von 1887 und 1888 ging, dafür nur ein Beispiel. Den Lehrern wurden gewisse Beträge als Unterstützungen von den Negierungshauptkassen überwiesen und umgehend Quittung von ihnen verlangt. Sobald diese Quittungen eingcgangen waren, erhielten die Empfänger die Anweisung, die Beträge an die — Schulkassen abzuführen. Denn im staatlichen Haushalte standen zwar Summen für Unterstützung der Lehrer, nicht aber für Unterstützung der Gemeinden. Die Oberrcchnungskammer hätte diese Ausgaben nicht billigen dürfen. Darum dieser Umweg. Es ist also auch im alten Staate nicht alles nach geradem Recht gegangen. Besonders peinlich berührten meine Nachweise einer weitgehenden Verschlechterung der Lehrergehälter in den achtziger Jahren. Als man diese auf Grund der amtlichen Schul­ zählungen angestellten Nachweisungen vom Ministerium ans bestritt, erhielt ich auf Anfrage in der „Preußischen Lehrer­ zeitung" so viele Belege aus kleinen und großen Städten, daß jede weitere Ableugnung dieser für die Bildungspflege des Preußischen Staates bezeichnenden Tatsache unmöglich war. Einen besonderen Erfolg hatte es, daß ich auf Grund der amtlichen Schulzählungen die bisher als allgemeine Tatsache kaum bekannte ungeheure Rückständigkeit der preußischen Schul­ verhältnisse in bezug auf Besetzung der Schulklassen und Ver­ sorgung der vorhandenen Schulklassen mit Lehrern nachwies. Die Schulzählung von 1886 ergab u. a., daß die Zahl der Schüler auf einen Lehrer von 1882 bis 1886 im Bezirk Gumbinnen von 49 auf 66, im Bezirk Bromberg von 73 auf 81, in Hildesheim von 63 auf 70, in Osnabrück von 70 auf 82, in Münster von 83 auf 87 und in Aachen von 67 auf 72 gestiegen war, daß also 9*

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die Schuleinrichtungen, anstatt sich zu bessern, sehr erheblich ver­ schlechtert worden waren. Das sah einem Abbau der Falkschen

Erbschaft sehr ähnlich, wenn auch die starke Zunahme der Bevöl­

kerung nicht außer Betracht bleiben darf. Auf dem Lande war

von 1882 bis 1886 nur in drei Bezirken eine Besserung einge­ treten. In vier Bezirken waren die Verhältnisse unverändert geblieben. In allen anderen, in 28, war eine höhere Belastung der Lehrer, also auch eine Verschlechterung der unterrichtlichen Ver­ sorgung der Jugend eingetreten. Die Zahl der von einem Lehrer

zu unterrichtenden Kinder war z. B. von 1882 bis 1886 gestiegen

im Bezirk Posen von 106 auf 110, in Bromberg von 89 auf 95, in Breslau von 94 auf 95, in Aurich von 66 auf 74, in Miinster

von 85 auf 92, in Kassel von 77 auf 81 und in Düsseldorf von 75 auf 80. Die Zahl der „normal" beschulten (also in Klassen mit weniger als 71 bzw. 81 unterrichteten) Kinder betrug in einer Reihe von Bezirken weniger als ein Drittel, in Münster nur 11,07 v. H. und in Arnsberg 21,76 v. H. (in den städtischen

Schulen), in den Landschulen des Düsseldorfer Bezirks 27,19 v. H. Den 75 097 Klassen standen nur 64 678 benutzte und 1852 un­ benutzte Klassenzimmer gegenüber. Für 10 409 Klassen war also kein Klassenraum vorhanden. 20 818 Klassen mußten ihr Unter» richtszimmcr mit einer anderen Klasse teilen. 46,19 v. H. gleich

2 233 373 Kinder saßen in überfüllten Klassen, davon 86 503 in Klassen mit über 120 bzw. 150 Kindern. Weitere derartige Zahlen brachten auch die späteren Schulzählungen noch. Ich

habe sie in Zeitungsaufsätzen, in Abhandlungen, die als Hefte erschienen, in Vorträgen usw. der Öffentlichkeit zugänglich ge­ macht, und diese Mitteilungen haben zu den später einsetzcnden

Verbesserungen jedenfalls auch etwas beigetragen. Wenigstens wurden sie in Beurteilungen, auch im Abgeordnctenhause, viel benutzt. In den amtlichen Veröffentlichungen lag alles das ein­ gesargt. Aber wer liest sic, und wer versteht sie zu lesen? Zahlen

stnd den meisten Menschen ohnehin ein Greuel.

Sic erfordern

Messen, Wägen und Vergleichen, wenn sie überhaupt einen Sinn geben sollen. Und das alles wollen die meisten Leser nicht.

Ich bin bei der Bearbeitung dieser und anderer äußerer Schulfragen niemals stehengeblieben. Alle Besoldungs- und

äußeren Berufsfragen der Lehrerschaft, alle Fragen des Schul­

aufbaues

(Vorschule,

allgemeine Volksschule,

Bekenntnisschule

usw.) haben mir immer in ihrer Wirkung auf das Volksganze vor Augen gestanden. In erster Linie dachte ich dabei immer an

die große Volkswirtschaft, an eine Entwicklung der wirtschaftlichen Arbeit auf der Grundlage hochentwickelter Betriebsformen, auch in der Landwirtschaft. Und in staatsbürgerlicher und gesellschaftlicher Beziehung an die Emporhcbung aller im Staate und in der

Gesellschaft auf der Grundlage der Gleichberechtigung und Gleich­ wertigkeit aller Tüchtigen und sittlich Hochstehenden. Aber über dem allen schwebte mir immer als letztes Ziel die reichere Aus­ gestaltung des Innenlebens der gesamten Volksgenossenschaft vor.

Nie habe ich dabei die Verschiedenheit der einzelnen Menschen ver­ gessen. Keine Schule, keine BildungsPflege kann an ihnen vorbei.

Aber die Verschiedenheit der einzelnen ist nicht gleichbedeutend mit Standesunterschiedcn. Standesunterschiede sind nicht gesell­ schaftlich zusammengefaßte Begabungsunterschiede. Die Heran­ ziehung der Vercrbungsfrage und der Überlieferung der Bil­ dungsgüter in den einzelnen Geschlechterfolgen, die angebliche „Hinaufentwicklung" auf diesem Wege kann man zugestehen, aber sie bedeutet für die Schulfrage wenig oder nichts. Das Einzel­ wesen ist zwar durch Vererbung an seine Familie unlösbar

geknüpft, aber in den Familien kreuzen sich die Anlagen in so verschiedener Weise, daß eine standes- und schichtenmäßige Forterbung von geistigen und technischen Anlagen und eine so bewirkte Aufwärtsentwicklung in den Ständen nicht nachweisbarerscheint. Auf einem anderen Blatte steht die Überlieferung rein gesell­ schaftlicher Bildung und Gesittung.

Ihren großen Einfluß zu

leugnen, hieße blind sein für offen zutage liegende Erscheinungen. Auf der Schulbank spielen sie indessen fast keine Rolle.

Die Schulfrage war mir darum immer eine große allge­ meine Staats- und Volksangelegenheit. Nur darum mein Kampf gegen öffentliche Sonderschulen, gegen Vorschulen und Bekennt-

nisschulen. Auch mein Kampf gegen die kirchliche Schulherrschaft nimmt hier ihren Ausgangspunkt. Die Kirche hat nie und nirgends eine wirkliche Volksschule geschaffen. Sie hat vielmehr durch ihr Dazwischentreten die Entstehung einer solchen und die Entwicklung staatlicher Schulführung verhindert, vor allem auch dadurch, daß aus dem Volksschullehrerstande in älterer Zeit nicht

einmal die Schulleiter aufsteigen konnten, und daß bis in unsere Tage nur wenige in die Schulaufsicht und fast keine in die Schulverwaltung gelangten, daß den Lehrern also keine Lauf­ bahn eröffnet wurde. So konnte der Staat für seine Schul­ führung auch keine ganz geeigneten Kräfte gewinnen. Als unantastbar hat mir immer die Schul- und Erziehungs­ freiheit der Eltern gegolten, und darum stehe ich zur Privatschule wesentlich anders als manche meiner engeren Freunde. Eine wirkliche Privatschule, die also keinerlei staatliche Unterstützung und staatliche Förderung genießen darf, erscheint mir als keine Gefahr für die öffentliche Schule — die Schweiz und Nordamerika geben dafür den Beweis. Es muß ein unantastbares staats­ bürgerliches Recht bleiben, daß jeder, auf seine Kosten, sein Kind im Rahmen der allgemeinen Staats- und Sittengesetze erziehen und erziehen lassen darf, wie er will. Oft lege ich mir die Frage vor, ob wir unsere Ziele jemals erreichen werden. Das hängt, wie ich glaube, aufs engste mit der staatlichen Entwicklung zusammen. Wie der Staat, so die Schule; aber auch wie die Schule, so der Staat. Die Schüler von heute sind die Staatsbürger von morgen. Wider ist bei uns der Staats­ gedanke noch recht schwach entwickelt. Andernfalls wäre ein Gesetz­ entwurf, wie der vom 22. April 1921 zur Ausführung des Artikels 146, 2 der Reichsverfassung vorgelegte, nicht möglich. Das starke Klassen- und Schichtenbewußtsein überwiegt die An­ teilnahme an den allgemeinen Staatsanliegen auch auf anderen Gebieten. Der deutsche Staatsbürger muß erst noch werden. Dann erst wird es auch einen deutschen Staat geben. Und wie dahin kommen? Am ersten durch die Schule! Darum die Schule und immer wieder die Schule! Geht sie dem deutschen Staate

verloren, so kommen wir n i e zum deutschen Staate. Darüber darf man sich auch durch alle noch so schönklingenden Schlagworte wie „Elternrechte", „Erziehungsberechtigte" usw. Nicht hinweg­ täuschen lassen. In allen diesen Schlagworten steckt sehr viele bewußte und unbewußte Staatsfcindschaft, und es wird versucht, dafür im neuen Staate große Parteien und Schichten zu ge­ winnen. Der deutsche Schulmeister steht unmittelbar vor einem neuen Jena — hoffentlich nicht — oder vor einem neuen Sedan. Die deutsche Schule steht am Scheidewege und mit ihr Volk und Staat.

8. 3n Lehrervereinen und Lehrerversammlungen. Am Lehrervereinswcsen habe ich, wie schon geschildert, zu­ erst in Stettin tcilgenommen. Bei meiner Übersiedelung nach Berlin wurde ich regelmäßiger Teilnehmer an den Versamm­ lungen des Berliner Lehrcrvereins, die damals noch einen recht bescheidenen Umfang hatten. Die Sitzungen fanden in einem kleinen Saale in der Niederwallstraße statt. Vorsitzender war Hermann Gallee, der nicht nur den Behörden, sondern auch allen ihm nicht genehmen Bestrebungen im Verein gegenüber eine feste Hand hatte. Jüngere klagten oft über seine gewalttätigen Nei­ gungen. Ich habe davon nichts gespürt, trotzdem ich mich sogleich in den ersten Versammlungen, soweit es mir zweckmäßig schien, zu Worte meldete und auch nicht immer in den Wegen der Bericht­ erstatter an den betreffenden Abenden ging. Ich habe auch eine Zurückweisung des Vereinsgewaltigen niemals erfahren, im Gegenteil, ich spürte bald, daß er einiges Wohlgefallen an mir fand, insbesondere auch, als ich durch meine Berichte in den Tageszeitungen die Tätigkeit des Vereins in weiteren Kreisen bekanntmachte, wobei es mir allerdings hin und wieder begegnete, daß ich meine eigenen Wünsche, soweit sie im Verein Anklang gefunden hatten, als Bestrebungen des Vereins darstellte, wo­ gegen der gewissenhafte Vereinslciter denn doch gelegentlich

freundschaftlich Einspruch erhob. Ich gehörte im Berliner Lehrerverein Jahre hindurch zu den am häufigsten heran­ gezogenen Vortragenden. Auch in den Aussprachen nahm ich in der Regel das Wort. Viele Beschlüsse faßte ich während der Ver­ handlungen ab. Es war mir eine große Freude, wenn ich die Zustimmung der Mehrheit fand und so der Sachlage entsprechend dem Ganzen dienen konnte. Für meine Einführung in erziehungswissenschaftlich arbei­ tende Berliner Lchrcrkreise und in das geistige Leben im Lehrer­ stande überhaupt war das baldige Zusammentreffen mit Robert R i ß m a n n von entscheidender Bedeutung. Wie ich diesen zum zweiten Male in der deutschen Volksschulwclt kaum vorhandenen Mann beurteile, habe ich, von seinem Grabe kommend, für die „Deutsche Schule" niedergeschriebcn (Deutsche Schule, Jahr­ gang 1913, S. 573). Rißmann war ein Denker und scharfsichtiger, bildungsgeschichtlich hervorragend geschulter und belesener Be­ urteiler erzieherischer Zeitströmungen, voll leidenschaftlichster Anteilnahme an allem, was die Schule und die Erziehung anging. Damals stand er in Kampfesstellung zum Berliner Lehrerverein. Trotzdem versäumte er Wohl keine Sitzung. Seine Anregungen, im Verein mehr erziehungswisscnschaftlich zu arbeiten und die Standesfragen, insbesondere auch die örtlichen Streitigkeiten zurückzustellen, waren auf unfruchtbaren Boden gefallen. Man sah in ihm den jungen Besserwisser, der die bewährte Ordnung im Verein und die hier geleistete Arbeit nicht genügend anerkennen wolle. Rißmann fühlte sich dadurch zurückgestoßen und gründete mit Altersgenossen, insbesondere mit Freunden aus seiner Heimat Schlesien die „Freie pädagogische Vereinigung", einen nach der Kopfzahl seiner Mitglieder niemals bedeutenden Verein, der auch nicht etwa mit dem Berliner Lehrerverein in Wettbewerb treten, sondern lediglich erziehungswissenschaftliche Fragen behandeln, jüngere Berufsgenossen zur Mitarbeit heranziehen und so ge­ wissermaßen eine Hochschule für die Berufs- und auch die Vereins­ arbeit sein sollte. Die Vereinigung hat diese ihre Aufgabe glän­ zend gelöst. Ich lenpe keine Stelle, an der so sorgfältig vorbereitete

Arbeiten borgetragen und diese so scharf und sachgemäß beurteilt wurden, wie in den Sitzungen dieser Vereinigung. Wir jungen Leute haben in den kleinen Räumen der jetzt nicht mehr vor­ handenen Akademischen Bierhalle am Hegelplatz oft bis tief in die Nacht hinein geredet und gestritten, und wenn sich der Gast­ hausraum hinter uns schloß, die Auseinandersetzungen oft noch auf dem Heimwege fortgesetzt. Rißmann war das anerkannte geistige Haupt der Vereinigung. Solange er an der Spitze stand, änderte sich auch an ihrem inneren Leben nichts. Ich gehörte ihr so lange an, als Rißmann den Vorsitz führte. Später ver­ boten andere Arbeiten mir die regelmäßige Teilnahme. Ver­ einigungen dieser Art verlangen einen sicheren, den anderen über­ legenen Führer, andernfalls fehlt ihnen der Zusammenhalt, unb die Arbeit wird zumeist ergebnislos. Das gilt auch wohl für die jetzt ähnlich wirkenden Arbeitsgemeinschaften. Auch für sic sind ältere, erziehungswissenschaftlich hervorragende Führer not­ wendig. Von der Mitarbeit im Berliner Lehrerverein zogen diese Arbeiten keineswegs ab. Im Gegenteil. Die Mitglieder der Freien pädagogischen Vereinigung gehörten zu den fleißigsten Besuchern seiner Sitzungen. Rißmann gab darin das Beispiel. Wir brachten auch dort manche rein schul- und erziehungswissen­ schaftliche Frage zur Sprache. Einen gewissen Erfolg hatte einer meiner ersten Vorträge im Berliner Lchrerverein. Ich behandelte darin als „Berliner Lokalpädagogik" die Möglichkeiten, im Schulunterrichte an die in Berlin vorhandenen Bildungsmittel mehr als ' bisher anzu­ knüpfen, insbesondere auch den naturwissenschaftlichen Unterricht, den ich mit besonderer Vorliebe erteilte, an die großstädtischen Erscheinungen in der Tierwelt (Zoologischer Garten, Samm­ lungen) und Pflanzenwelt (Anlagen) und der gewerblichen Ein­ richtungen anzuschließen. Des weiteren aber kennzeichnete ich die weitgehenden erzieherischen Aufgaben, die auf diesem Wege schon durch Vergrößerung der Anteilnahme an der Umgebung, ins­ besondere aber durch stärkere erzieherische Einwirkung auf die Schuljugend gelöst werden konnten. In der Versammlung wurde

von anderer Seite auf die Notwendigkeit, den Lesestoff der'Ber­ liner Jugend zu verbessern, nachdrücklich hingewicsen. Der siebzigste Geburtstag des Jugendschriftstellers Ferdinand Schmidt, der als Berliner Gcmeindeschullehrer eine weit­ gehende volkscrzieherische Wirksamkeit ausgeübt hatte, gab dazu besondere Veranlassung. Es wurde der Beschluß gefaßt, einen Jugcndschriftenausschuß einzusetzcn, und da der gewählte Vor­ sitzende anderer Verpflichtungen wegen seiner Aufgabe nicht gerecht werden konnte, übernahm ich einstweilen den Vorsitz. Der Erfolg war insofern unerwartet groß, als sich ein weiter Kreis von tüchtigen Lehrern und Lehrerinnen zur Mitarbeit zusammen­ fand, so daß in einer Reihe von Sitzungen eine große Anzahl von Jugcndschriftcn sachgemäß besprochen werden konnte. Die Frucht dieser Arbeit war ein in 70 000 Stück verbreitetes kleines Jugend­ schriftenverzeichnis, das den Berliner Schulkindern ausgehändigt wurde. Im nächsten Jahre wurde die Auflage des Verzeichnisses auf 200 000 erhöht, so daß sämtliche Schüler und Schülerinnen ein Stück erhalten konnten. So wurde einige Jahre verfahren, dann schränkte man die Stückzahl der Verzeichnisse ein und ver­ größerte das Verzeichnis. Ich selbst konnte mich den Arbeiten nicht weiter widmen, aber sie wurden von P a u l Z i e g l c r mit größter Aufopferung und Hingabe weitergeführt und eine be­ sondere, den Schulblättern beigelegte Zeitschrift „Die Jugend­ schriftenwarte" von ihm gegründet. Sic wurde später von dem rührigen und sachkundigen Hamburger Jugendschriftenausschuß unter Heinrich Wolga st s Führung übernommen und hat zur Förderung der Jugendbücherfrage in Deutschland sehr viel beigetragen. Die von einer Seite ebenso unbeschränkt anerkannte wie von anderer Seite angefochtene Hamburger Richtung hat sich im deutschen Jugendschrifttum durchgesetzt. Allerdings ist diese Bewegung insofern zu einem gewissen Stillstände gekommen, als die Herstellung minderwertiger Jugendschriften zwar einge­ schränkt worden ist, damit aber auch die Abfassung von Jugend­ schriften überhaupt fast aufgehört hat. Die etwas gar zu wört­ liche Auffassung eines Wortes von.Storm: „Wer für die Jugend

schreiben will, darf nicht für die Jugend schreiben," hat dahin geführt, daß die neueren Jugendschriften zum größten Teil Be­ arbeitungen oder Auszüge aus Schriften und Werken darstellen, die für Erwachsene bestimmt sind. Ob damit die Frage endgültig gelöst ist, erscheint zweifelhaft.. Auf jeden Fall wurde aber ein ungeheurer Schatz für die Jugend lesbaren Lesestoffes dadurch „entdeckt", und man kann heute nicht leicht in Verlegenheit kommen bei der Suche nach guten Büchern für die Jugend. Es ist schmerzlich, wenn man an so fruchtbaren Arbeiten, an deren Wiege man geständen hat, in ihrem weiteren Verlauf, wenn aus den Keimen Früchte werden, nicht mehr teilnehmen kann. Aber das ist das Schicksal jedes Menschen, der auf einigen Gebieten ganz mitarbeiten will. Er muß bei vielem anderen, was ihm innerlich nahelicgt, wohl oder übel der teilnehmende Zuschauer bleiben oder werden. Die Schwierigkeiten dieser Arbeit lernte ich bei den ersten Schritten bereits zur Genüge kennend Wir hatten die großen bürgerlichen Zeitungen um Abdruck des Verzeichnisses gebeten. Das geschah auch seitens einiger Zeitungen ein- oder zweimal. Andere verhielten sich von vornherein ablehnend. Der Grund war, daß gewisse lebende Schriftsteller von Einfluß in dem Ver­ zeichnis überhaupt nicht oder nach ihrer Meinung nicht genügend vertreten waren. So war dieser Weg in die breite Öffentlichkeit uns bald verschlossen. Der Hamburger Jugendschriftenausschuß hat später durch Beziehungen einiger seiner Mitglieder zur sozial­ demokratischen Partei einen änderen Weg gefunden, an die breite Masse der Bevölkerung heranzukommen. Allerdings mußte sich das Verzeichnis hierbei einige Abstriche und Zusätze gefallen lassen, die aber nicht besonders ins Gewicht fielen, denn die Ver­ suche, die durch den Erfurter Parteitag von 1891 angeregt waren, ein eigenes sozialdemokratisches Jugendschrifttum zu schaffen, schlugen durchaus fehl. Es sind nur wenige überhaupt lesbare Schriften aus dieser Anregung hervorgegangen, so daß sich die sachkundigen Berater der Partei ziemlich bald auf einen freieren Standpunkt stellten und die parteimäßige Herstellung von

Jugendbüchern beanstandeten. (Vergleiche „Sozialdemokratie und öffentliches Bildungswesen" Seite 27 ff.) Da die Hauptarbeit der größeren Lehrervereine damals aber auf anderen Gebieten lag, auf dem der äußeren Schulverhältnisse, so kam auch ich diesen Fragen bald näher. Ich erhielt darin sogar eine gewisse Führerrolle, wenigstens insotveit, als es sich um gesetz­ geberische Vorlagen oder weiterreichende Verwaltungsmaßnahmen der preußischen Untcrrichtsverwaltung handelte. Das war ganz gegen meine innersten Neigungen. Aber dasselbe kann ich viel­ fach in meinem Leben feststellen: die Verhältnisse drängten mich aus meiner rein geistigen Arbeit immer wieder heraus und warfen mich auf den Markt oder in die Werkstatt, in der ich mit äußeren Geschäften den Hauptteil meiner Kraft verbrauchen mußte. Ich tröste mich mit Größeren aus früherer Zeit, die sich ihr täglich Brot in einem Berufe verdienten und nur am Feier­ abend ihrer Liebe und ihrer Neigung folgen konnten. Vielleicht ist es gut so. Wenn das Höchste und Größte Beruf, Broterwerb wird, bleibt es dieses Höchste und Größte oft nicht. Unglücklich bin ich bei keiner noch so.äußerlichen und „geistlosen" Arbeit jemals geworden. Ich suchte auch darin das Höhere und fand es, wenn ich ihre Notwendigkeit erkannte. Es wurde im Berliner Lehrerverein bald zur ständigen Gewohnheit, daß wir alle bedeutenderen schulgesetzlichen Vorlagen möglichst bald in einer großen öffentlichen Lehrerversammlung besprachen. Eine dieser Versammlungen, ich weiß nicht mehr, bei welcher Gesetzesvorlage, wahrscheinlich beim Zedlitzschen Schul­ gesetzentwurf, wurde sogar polizeilich überwacht. Die Vertreter der öffentlichen Ordnung schienen diesen Auftrag aber selbst nicht gar zu ernst zu nehmen. Die hier und da scherzweise von mir für sie angebrachten Belehrungen nahmen sie ebenso heiter auf wie die Versammlung. An dem Kampfe gegen den Zedlitzschen Schulgesetzentwurf beteiligte sich wegen seiner grundsätzlichen Bedeutung neben dem Preußischen Lehrerverein auch der Deutsche Lehrerverein. Mir fiel die Aufgabe zu, in einer besonderen Schrift den großen Ab-

stand zwischen diesem Gesetzentwurf und der Schulgesetzgebung in den vorgeschrittenen deutschen Staaten darzulegen. Die Schrift

-erschien unter der Aufschrift „Der Preußische Schulgesetzentwurf im Lichte der deutschen Unterrichtsgesetzgebung" und deckt die abgrund­ tiefen Gegensätze auf zwischen dem, was die damalige preußische

Staatsleitung, die ganz unter dem Einfluß des konservativen Junkertums und des Zentrums stand, als Schulgesetz zur Gel­

tung bringen wollte, und dem, was vor zwei Jahrzehnten, bald nach der Begründung des Deutschen Reiches, in einer Reihe von deutschen Staaten auf dem Schulgebiete gesetzlich festgelegt worden war. Der Schulgesetzentwurf erfuhr seitens der gebildeten Welt Deutschlands eine in derselben Einmütigkeit wohl kaum jemals erfolgte Ablehnung. Wenn man heute die Zcitungsaufsätze und Abhandlungen überblickt, die damals von den Trägern erster wissenschaftlicher Namen erschienen, so ist man erstaunt, daß ein viel weiter gehender Schulgesetzentwurf, der das Schulwesen des ganzen Deutschen Reiches betrifft, gegenwärtig fast keine Be­ achtung außerhalb der Volksschullehrerschaft findet, offenbar, weil diese Kreise mit andern, auch mit eigenen Sorgen beschäftigt sind und auch in dem, was die breiten Schichten der Bevölkerung

anbetrifft, ihre eigene Sache nicht mehr sehen. Ich habe in fast sämtlichen dieser Versammlungen den

Hauptbcricht erstattet. Die im Anschluß an die Verhandlungen angenommenen Entschließungen wurden dann durch die Tages­ zeitungen und Schulblätter schnell verbreitet und in vielen Lehrer­ vereinen den Verhandlungen zugrunde gelegt. So wurde rascher, als es auf dem Wege durch Beschlüsse des Preußischen Lehrer­ vereins möglich war, eine ziemlich einheitliche Stellungnahme in

.weiten Kreisen der Lehrerschaft bewirkt.

In

der

gegnerischen

Presse kam dadurch die „Berliner Spitze", wie man sich aus­ drückte, stark in Verruf. Jedenfalls ein Beweis, daß ihr unser Vorgehen recht unbequem war. In den vielfach gebundenen Ver­ hältnissen im Lande konnten die Dinge nicht so, wie in Berlin, beim rechten Namen genannt werden. Die Schulverwaltung hat

mit ganz wenigen Ausnahmen keinem von uns ein Haar ge-

krümmt, auch wenn wir in unserer Beurteilung die kräftigeren Ausdrücke des Wörterbuches nicht gerade umgingen. Aus Freundeskreisen wurde ich aber doch vielfach gewarnt, insbe­ sondere meiner Aufsätze in den Tageszeitungen wegen. Man schalt mich sogar leichtsinnig meiner Familie gegenüber. Aber die alte Verwaltung war vorsichtig-, wo mau voraussehen konnte, daß eine Maßregelung nicht den gewünschten Erfolg haben würde, unterließ man sie. Wir großen Missetäter gingen frei aus, dafür wurde mancher kleine Sünder, der „schlecht" gewählt oder in einer freisinnigen Versammlung gesprochen hatte, beim Kragen genommen. Ich habe mich durch die Warnungen meiner Freunde nicht weiter beirren lassen, um so weniger, als ich glaubte, daß ich auch außerhalb der Schule ein wirtschaftlich gesichertes Fort­ kommen finden würde. Daß ich trotzdem manches lockende An­ erbieten, das mich der Schule entführt haben würde, ausschlng, lag hauptsächlich daran, daß ich immer mit Leib und Seele Lehrer gewesen bin und auch früh zu der Erkenntnis gekommen war, daß rednerische und schriftstellerische Betätigung nur dann eine „freie Kunst" sind, wenn von ihrem Ergebnis die wirtschaftliche Lage des Betreffenden nicht abhängt. Ich wollte „Tintcnkuli" auf keinen Fall werden. Warnende Beispiele aus älterer Zeit standen mir vor Augen. Ich habe mein Schulamt schließlich aus ganz anderen Gründen und nicht leichten Herzens aufgegeben. Auch der Umstand, daß meine Gesundheit nicht durchaus gefestigt war, spielte eine Rolle. Ich mußte mir sagen, daß man int öffent­ lichen Dienst auch einmal krank sein darf, ohne sofort vor wirt­ schaftlichen Notlagen zu stehen, während dies im freien Berufe ja leider ganz anders ist. Das Lehrervcreinswescn im größeren Rahmen lernte ich zuerst im Jahre 1887 auf der Deutschen Lehrerversammlung in Gotha kennen. Ich besuchte die Versammlung auf eigene Faust, da der Teutsche Lehrerverein sich nur durch ein paar Abgesandte vertreten ließ. Der Hamburger Schulvorsteher Johannes Halben leitete die Versammlung. Er genoß ein großes Ansehen in der gesamten deutschen Lehrerschaft und wirkte auch durch seine

hohe, stattliche Erscheinung und sein sicheres, im öffentlichen Leben geschultes Auftreten ungemein stark. Trotzdem die Ergeb­ nisse der Versammlung, heute angesehen, nicht gerade bedeutend waren, machte die ganze Tagung auf mich doch einen tiefen Eindruck. An den Veranstaltungen des Deutschen Lehrervereins habe ich seit 1888 als Vertreter des Berliner Lehrervereins oder als Mitglied des gcschäftsführenden Ausschusses des Teutschen Lehrer­ vereins ununterbrochen teilgenommen. Ebenso war ich auf fast sämtlichen großen Tagungen des Preußischen Lehrervereins und auf seinen Vertrctcrvcrsammlungen, zumeist nicht nur als Zu­ schauer und Zuhörer, als Schlachtenbummler, wie man sagt, sondern an irgendeiner Stelle mitwirkend tätig. Und diesen Ver­ sammlungen verdanke ich nicht nur viele Anregungen, sondern auch die persönliche Bekanntschaft und Freundschaft vieler hervor­ ragender Angehörigen des Lehrerstandes. Im Jahre 1888 fand der 7. Deutsche Lehrertag, vom Deutschen Lehrervercin einberufen, in Frankfurt a. M. statt. Ich gehörte zu den Vertretern des Berliner Lehrervereins auf dieser Tagung. In Gemeinschaft mit den übrigen Vertretern wurde die Reise über Köln, den Rhein aufwärts gemacht. Da ein Ver­ treter für den Vorstand des Preußischen Lehrervereins ausge­ blieben war, so ersuchte mich Gallee, in die Lücke einzuspringcn, und unser abgekürzter Weg führte uns an einem prachtvollen Pfingsttage über Wiesbaden. Die herrliche Umgebung, die Kur­ anlagen, in schönster Maienblüte stehend, wirkten entzückend auf mich, fast mehr als die ganze Rheinreisc. Die Frankfurter Versammlung, die nach mancher Richtung hin von Wichtigkeit war, wurde für mich insofern bedeutsam, als ich hier zum ersten Male auf einer größeren Versammlung in der Aussprache auftrat. Der Erfolg war,-daß die Leitsätze des Berichterstatters Harro Köhnke, Hamburg, über die allgemeine Volksschule abgelehnt und ein den augenblicklichen Stand der Frage berücksichtigender Antrag von Rißmann, der mit meinem Vorgehen im übrigen durchaus nicht einverstanden war, ange-

nommen wurde. Ich würde heute nicht so wie damals sprechen, auf der Grundlage der damaligen Verhältnisse war aber das Auf­

treten, wenigstens nach der Aufnahme durch die Versammlung zu urteilen, richtig. Der Berichterstatter hatte es ängstlich ver­ mieden, die staatlichen Grundlagen seiner Forderungen zu be­ rühren, und so schwebten diese in der Luft. Köhnke verlangte:

1. Jedes Kind hat ein Recht auf den seinen Neigungen und

Fähigkeiten entsprechenden Bildungsgrad. 2. Die „allgemeine Volksschule", eine einheitliche Gliede­ rung aller öffentlichen Unterrichtsanstalten, ist allein im­ stande, dieses Recht zu verwirklichen. Durch mein Auftreten zog ich mir die schärfste Mißbilligung der Hamburger Vertreter zu, und sic haben mich das auch lange Jahre hindurch bei jeder Gelegenheit fühlen lassen. Eine Unter­ redung, die ich mit einem milder gerichteten Hamburger Vertreter

hatte, wurde z. B. dadurch unterbrochen, daß einer der Jüngeren und schärfer Gerichteten an uns herantrat und verlangte, daß

der Hamburger zu den Seinen komme, d. h. die Unterredung mit mir abbreche. Diese Schroffheiten, die ja auch bei späterer Ge­ legenheit und anderen gegenüber wieder auftraten, haben die sachliche Verständigung natürlich nicht gefördert. In größerem Nahmen bewegten sich die Veranstaltungen

und Verhandlungen des nächsten Deutschen Lchrcrtages, 1890, in Berlin. Die Versammlung bildete einen Wendepunkt in der Geschichte des Deutschen Lehrervcrcins. Friedrich Dittes

hielt seine vielbesprochene Gedenkrede auf Diesterweg und zeich­

nete dabei ein Bild der staatlichen Schulführung in Preußen, das den anwesenden Vertreter des Ministeriums, Geh. Rat Dr. Karl Schneider, in die größte Aufregung versetzte. Von den

konservativen und den Zentrumszeitungcn wurde der Vortrag stark entstellt wiedergegebcn und sodann in besonderen Aufsätzen angegriffen.

Auf der Versammlung war der damals inmitten

des öffentlichen Lebens stehende Hofprediger Stöcker anwesend. Mir wurde von der Geschäftslcitung des Vereins die Aufgabe gestellt, die Angriffe auf den Lehrertag in einer besonderen Schrift

zurückzuweisen. Ich tat das. Die Schrift ging unter dem Titel: „Der 8. Deutsche Lehrertag und seine Gegner" hinaus und hatte für mich den Erfolg, daß ich rasch bekannt wurde. Mit Dittes war ich während der Tagung nicht in Verbindung gekommen. Ich hatte an meinen Berichten zu schreiben und stellte den An­ griffen der Gegner so schnell als möglich einige Abwehraufsätze entgegen. Später schrieb ich einiges für Dittes' Pädagogium und erhielt mehrere freundliche Briefe von ihm. Auch auf den späteren Lehrerversammlungen hatte ich wenig Zeit, mich an den Vergnügungen und geselligen Veranstaltungen zu beteiligen und persönliche Verbindungen zu suchen. So fiel ich niemand lästig, und man suchte mich. Ich hatte in der Regel die Berichterstattung sür mehrere Zeitungen, eine Reihe von Jahren hindurch für das „Berliner Tageblatt", die „Vossische Zeitung" und die „Tägliche Rundschau", übernommen. Zwei dieser Berichte schrieb ich nebeneinander während der Verhand­ lungen, an denen ich mich unter Umständen auch noch durch An­ träge und kurze Ausführungen beteiligte. Diese Art der Arbeit ist mir immer außerordentlich angenehm gewesen und selten schwer gefallen. Ich war dadurch gezwungen, den Rednern genau zu folgen und in allem Redeschwall immer nur das Wichtige und Wesentliche zu hören, das ich leicht in einen flüssigen und oft kräftigen Zeitungsstil übertrug und nach der Eigenart der Zei­ tung gestaltete. Später habe ich diese Berichte aufgegeben, weil inzwischen die berufliche Berichterstattung unter Benutzung des Fernsprechers schneller arbeitete als der Sonderberichterstatter. Daß die Berichte dadurch gewonnen hätten, glaube ich freilich nicht. Einleitende und die Ergebnisse zusammenfassende Aufsätze habe ich später für die Versammlungen immer noch geschrieben. In den neuen Verhältnissen ist auch das nicht mehr geschehen. Die Gegenwart hat für diese Dinge nicht mehr das Ohr wie früher, und ich war auch durch bestimmte Aufgaben vor und auf den Versammlungen meist so in Anspruch genommen, daß mir keine Zeit blieb. Niemand kann mehr als zwei oder drei Herren gut dienen.

Auf der Versammlung in Halle a. d. S., 1892, trat ichHein -

richScherer, dem jetzt Siebzigjährigen, näher, der damals der feurigste Kämpe in der deutschen Lehrerschaft war und allgemein

als der geistige Erbe von Friedrich Dittes angesehen wurde. Auch

mit dem durch seine naturwissenschaftlichen Bücher später berühmt

gewordenen Dr. Schmeil verbindet mich seit dieser Versamm­ lung warme Freundschaft. In Köln spielte sich 1900 der Kampf

der Asten und Jungen um den Arbeitsunterricht ab. Das Er­ gebnis des Kampfes war nicht nach meinem Sinne. Scherer unterlag nicht ohne eigene Schuld seinem kühlen, witzigen und schlagfertigen Gegner Ries, der den Handarbeitsunterricht in allem und jedem verwarf und darin den Untergang der geistigen Allgemeinbildung in der Volksschule sah. Einem Gegner wie Ries ist schwer beizukommen, vor allem nicht, wenn man so gereizt ist, wie Scherer es in der Versammlung war. Mir selbst

suchte Ries in der Hamburger Versammlung, 1896, in der ich über die neuen Forderungen in dem Lehrplan der Volksschule sprach und dabei sehr vieles forderte, was Herrn Ries höchst unangenehm war, durch ein gutgewähltes Witzwort die augen­ scheinlichen Erfolge zu entreißen. Als ich meinen Vortrag gehalten

und die allgemeinen Forderungen von allen Rednern anerkannt wurden, stellte jemand den Antrag, den Leitsätzen allgemein zuzu­ stimmen, dagegen die Stellungnahme zu den besonderen Forde­ rungen abzulehnen. Herr Ries bemerkte dazu, ich könne jetzt nach Berlin drahten: „Der Zug ist entgleist." Aber der alte Schelm

hatte sich diesmal, verrechnet. Sein Vortrag über einen andern Gegenstand, den er vor dem meinigen gehalten hatte, hatte nichts

weniger als befriedigt. So hatte er nicht das Ohr der Versamm­ lung. Mein Zug entgleiste nicht. Die Leitsätze wurden ange­ nommen. Aber ich habe diesen Erfolg mit jahrelangen Anfein­ dungen seitens eines Teiles der Schulzeitungen zu bezahlen

gehabt. Um die Ausführung der Beschlüsse einzuleiten, beantragte ich, daß seitens der Gesellschaft für Volksbildung und des Deutschen Lehrervereins ein Preisausschreiben für zweckmäßige Lehrpläne

für eine Reihe von Gegenständen des Volksschulunterrichts ver-

öffentlicht werde. Das Preisausschreiben hatte Erfolg, rief aber die Gegner in ganz unerwarteter Weise auf den Plan. Nament­ lich griff mich die Neue Pädagogische Zeitung, Magdeburg, unter der Leitung von Helmcke sehr scharf an. Die Angriffe wurden in der ganzen Lehrerschaft lebhaft erörtert, sogar auf der Rheinischen Provinzial-Lehrerversammlung in einer Festzeitung zum Gegen­ stände bildlicher Darstellung gemacht, in der ich etwa die Figur des Wirtes in dem Märchen „Tischlein, deck dich" spielte. Ich habe Presseangriffe niemals gern beantwortet. Die Sache wurde aber schließlich doch zu arg, und ich veröffentlichte einen Aufsatz, der die hämischsten und nichtsnutzigsten Angriffe mit aller nur möglichen Schärfe behandelte. Ich ließ diesen Aufsatz in einer ganz unbeteiligten Zeitung, der „Deutschen Schulzeitung", abdrucken, und der Erfolg war, daß nun keine Feder mehr sich rührte. Ich sah daraus, daß manche Schreibereien und Redereien sofort auf­ hören, wenn man sich zur Wehr setzt, daß aber Nichtbeachtung nicht immer so aufgefaßt wird, wie sie gemeint ist. Es würde zu weit führen, über alle die einzelnen Erlebnisse und Arbeiten, die sich an die verschiedenen Lehrerversammlungcn anschlossen, hier etwas zu erzählen. Besonders folgenreich war der von mir und einigen jüngeren Freunden (Pautsch) gestellte und angenommene Antrag auf der Versammlung 1904 in Königsberg betreffend die hochschulmäßige Vorbildung der Volks­ schullehrer. Die älteren Freunde waren mit der Fassung des Antrages nicht einverstanden. Er ging ihnen zu weit. Heute ist er der Verwirklichung nahe. In dem scharfen Kampfe um die Anerkennung der gemein­ samen (Simultan-)Schule war ich auf preußischem Boden (siehe unten) wohl mit an erster Stelle beteiligt. Die sehr gemäßigten Forderungen des Münchener Lehrertages, 1906, waren nicht ganz nach meinem Sinne, konnten aber angesichts der Verhält­ nisse kaum anders lauten. Im Mittelpunkte der Erörterungen auf der Dortmunder Versammlung, 1908, stand mein Vortrag über den Lehrermangel. Die Verhandlungen waren, insbesondere durch die fleißige und

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geschickte Vorarbeit von Günther in der Statistischen Beilage der „Pädagogischen Zeitung", gut vorbereitet, und es waren wert­ volle Unterlagen über die Verkümmerung und Verelendung der preußischen Volksschule und die Minderwertigkeit des zur Be­ kämpfung des Lehrermangels herbeigeholten Nachwuchses be­ schafft, so daß demgegenüber eigentlich jede Beschönigung hätte unterbleiben sollen. Trotzdem versuchten rechtsstehende Blätter — ob mit oder ohne Mitwirkung der Unterrichtsverwaltung, entzieht sich meiner Kenntnis — den Mißstand zu beschönigen. Das gab selbstverständlich den Verhandlungen einen sehr scharfen Unterton und einen für den Vortragenden nicht ungünstigen Hintergrund. Die 4800 Zuhörer folgten denn auch meinen Ausführungen mit einer außerordentlichen Teilnahme, und man nahm es auch nicht übel, daß ich die vorgeschriebene Zeit erheblich überschritt. Schuld an dem Zustande war ja insbesondere der Unterrichtsminister von Studt, der sich unter keinen Umständen zu der Ansicht be­ kehren wollte, daß der ungeheuerliche Lehrermangel jener Zeit in der völlig unzureichenden Lehrerbesoldung seinen Grund hatte, der vielmehr glaubte, er könne durch Neugründung von Semi­ naren und Präparandenanstalten, durch Einrichtung von Neben­ kursen in den bestehenden Anstalten und durch eine fast widerliche Werbung für den Eintritt in die Vorbereitung zum Lehrerbcruf diesen Schaden heilen. Es sind ja auch in der Studtschen Zeit Lehrerbildungsanstalten dutzendweise gegründet, von 1902 bis 1910 53 Seminare und 38 staatliche und zahlreiche nichtstaatliche Präparandenanstalten, und daneben Hunderte von Nebenkursen an den Seminaren und Präparandenanstalten eröffnet worden. Ich hatte mit Herrn Studt einiges Persönliche abzurechnen, wovon an anderer Stelle noch erzählt werden wird, hielt mich aber natürlich nicht für berechtigt, den Vortrag dazu zu benutzen. Aber in der guten Laune, die mich während des Vortrages überkommen war, entschlüpfte mir doch u. a. die Bemerkung, Herr von Studt könne nicht viel dafür, daß seine Maßnahmen den Kern der Sache nicht träfen, denn er besuche zwar den „klugen Hans" — das war ein damals in Berlin gezeigtes gelehrtes Pferd — „in seinem

Schulstalle, habe aber meines Wissens noch niemals eine Berliner Gemeindeschule von innen gesehen". Diese nicht gerade liebens­ würdige Nebenbemerkung wurde selbstverständlich von der Presse

aufgegriffen, und Herr von Studt soll aus diesem Anlaß sehr viele mit Blaustiftstrichen versehene Zeitungen erhalten haben. Der Vortrag wurde in Massen verbreitet und übte namentlich auch

auf die Arbeiterschaft eine starke Wirkung aus. Studts Nach­ folger Holle stellte sich glücklicherweise zu den Dingen anders, und im folgenden Jahre, 1909, trat eine gründliche Besserung der Besoldung der preußischen Volksschullehrer ein. Die Straßburger Versammlung, 1910, die als ein Ereignis im deutschen Lehrervereinswesen gelten konnte,

bedeutete auch für mich persönlich einen gewissen Erfolg. Meinen Bemühungen war es zum Teil zu verdanken, daß der Elsaß-

Lothringische Lchrerverein sich dem Deutschen Lehrervcrein an­ geschlossen hatte. Ich hatte Jahre hindurch Beziehungen zu den elsaß-lothringischen Amtsgenossen gesucht und war viel mit ihnen

zusammcngekommcn, u. a. auch auf der Hauptversammlung der Gesellschaft für Volksbildung, 1904. Darum war ich auch Bericht­ erstatter für Elsaß-Lothringen im geschäftsführenden Ausschuß des Deutschen Lehrervereins geworden. Die Versammlung ver­ lief bei zahlreichem Besuch ausgezeichnet. Auch aus Frankreich

waren Gäste da, ebenso Vertreter anderer ausländischer Lehrer­ vereine, mit denen wir Fühlung hatten. Die Stimmung war vorzüglich, die Aufnahme in Straßburg herzlich und warm, auch seitens der staatlichen und städtischen Vertreter. Ich selbst hatte auf der Versammlung eine Aufgabe zu lösen, die für die deutschen Lehrertage neu war. Auf mein Drängen hatte man sich ent­ schlossen, mit der Versammlung eine Volksversammlung zu verbinden, die im Sängerhause stattfand und auf der ich neben

andern an erster Stelle einen Vortrag über „Die deutsche Volks­ schule von heute" hielt. Der Vortrag machte auf die zahlreiche Zuhörerschaft Eindruck, und ich hielt die Volksversammlungen im Anschluß an die Deutschen Lehrertage damit für gesichert. Leider hatte ich mich darin getäuscht. Auf dem nächsten Lehrertag

in Berlin, 1912, mit dem allerdings drei Volksversammlungen verbunden waren, war der Erfolg aus verschiedenen Gründen ein mäßiger, und auf der folgenden Versammlung, 1914, in Kiel, auf der ich im Anschluß an die Verhandlungen über den Vortrag Kerschensteiners über die Einheitsschule in einer Volksversamm­ lung über denselben Gegenstand sprach, wurde die Wirkung der ausgezeichnet besuchten Veranstaltung dadurch beeinträchtigt, daß gleichzeitig drei oder vier Vergnügungen seitens der Versamm­ lungsleitung angesetzt und dafür alle brauchbaren Räume in Anspruch genommen waren. Meine Versammlung fand in einem für diesen Zweck durchaus nicht ausreichenden und geeigneten Raume statt. Ich habe das dem Kieler Ortsausschuß und der Hauptleitung damals stark verübelt. Aber richtige Gedanken werden durch einzelne Fehlschläge und Mißgriffe ja nicht getötet, die Volksversammlung im Anschluß an Lehrerversammlungen wird heute als selbstverständlich und unentbehrlich empfunden, und ich selbst habe später in Versammlungen dieser Art, z. B. in Magdeburg 1920, vor Tausenden von Zuhörern gesprochen. Die Lehrerschaft hat in dieser Beziehung viel versäumt. Während Vereine und Vereinigungen, insbesondere auch kirchlich beein­ flußte, seit Jahrzehnten mit ihren Tagungen Volksversamm­ lungen verbanden, glaubte die Lehrerschaft, ihren Versammlungen den Fachcharakter erhalten zu sollen. Das war ein Irrtum. Schule und Erziehung sind gewiß für diejenigen, die darin berufs­ mäßig arbeiten, eine Fachsache, aber in ihrer ganzen Stellung eine große, breite Volksangelegenheit und können nur als solche entsprechend gestaltet werden. Und wenn die Lehrerschaft in dieser Beziehung nicht aus dem Platze ist, so macht eben nicht sie, sondern es machen andere die Schule, wie es bis in die letzten Jahre des alten Staates tatsächlich der Fall war und leider auch im neuen Staate vielfach noch ist. Der Beschluß des Deutschen Lehrervereins über die Einheits­ schule in Kiel war im geschäftsführenden Ausschuß sorgsam vor­ bereitet worden. Die Forderung der „organisch gegliederten nationalen Einheitsschule, die einen einheitlichen Lehrerstand zur

notwendigen Voraussetzung hat, und in der jede Trennung nach sozialen und konfessionellen Rücksichten beseitigt ist", bedeutete eine Kriegserklärung nach zwei Seiten hin. Einmal wurde die

unverantwortliche Zurücksetzung der großen Menge der Lehrenden,

der Volksschullehrer, den übrigen Lehrern gegenüber, beanstandet und andererseits die Standes- und die Bekenntnisschule ver­

worfen. Eines wäre auch schon hinreichend gewesen, um viele Gegner auf den Plan zu rufen. Aber es war vielleicht besser, daß beides zusammenkam, denn dadurch wurde der Kampf doch auch erleichtert. Die Vertreter der mittleren und höheren Schule befaßten sich zumeist nur mit der sie zunächst angehenden Forde­

rung des einheitlichen Lehrerstandes und schädigten damit oft ihre Verteidigung der Standes- und Bekenntnisschule. So sehr

sie auch bemüht waren, die Forderung des Deutschen Lehrer­ vereins als eine Standcsfrage der Volksschullehrer hinzustellen, so wenig machte dies doch auf die Unbefangenen Eindruck. Ganz besonders wurde aber an dem Beschlusse beanstandet, daß er „an alle Volks- und bildungsfreundlichen Kreise die Aufforderung

richtete, alle Kräfte daranzusetzen, daß die der Verwirklichung der Einheitsschule entgegenstehenden Widerstände überwunden wür­ den". Man sah darin die Ankündigung eines großen Schul­ kampfes, und so war es freilich auch gemeint. Der Krieg kam dazwischen, und der Deutsche Lehrerverein hielt es für angebracht,

die Waffen ruhen zu lassen bis zum Ausgang des Kampfes, in dem das deutsche Volk vor das Sein oder Nichtsein gestellt war.

Nicht so dachten und handelten die Gegner. Auch während die Gesamtheit unseres Volkes mit dem blutigen Ringen auf den

Schlachtfeldern im Osten und Westen und Süden beschäftigt war, wurde die Schulfrage in Volksvertretungen, Gemeindevertre­

tungen, in Versammlungen, Zeitungen und Zeitschriften im gegnerischen Sinne erörtert. Dadurch sah sich der Deutsche Lehrer­ verein gezwungen, auch seinerseits den Kampf wieder aufzunehmen,

und ich erhielt vom geschäftsführenden Ausschuß die Aufgabe, eine kleine volkstümliche Streitschrift abzufassen. Daneben sollte von

anderer Seite noch eine größere wissenschaftliche Arbeit erscheinen.

Meine Arbeit, die unter der Aufschrift: „D i e d e u t s ch e E i n * heitsschule, Freie Bahn jedem Tüchtigen", im Herbst 1916 veröffentlicht wurde und in fünf starken Auflagen ihren Weg in alle mit dieser Frage sich beschäftigenden Kreise gefunden hat, war etwas umfangreicher ausgefallen, als es bei den Be­ sprechungen in Aussicht genommen war, aber übersichtlich und volkstümlich genug, um auch von Nichtfachleuten viel gelesen zu werden. Man schreibt ihr einen ziemlich weitgehenden Einfluß auf den Gang der weiteren Verhandlungen und Maßnahmen zu. Ich selbst habe in etwa 200 Versammlungen in allen Teilen des Reiches über die Einheitsschulfrage, teilweise vor Tausenden von Zuhörern, gesprochen. Durch diese und andere Vorarbeit war der Boden für den Gedanken der Einheitsschule so vorbereitet, daß beim Ausbruch der Staatsumwälzung in den Kundgebungen der neuen Negic.rungen, z. B. der preußischen und bayerischen, die Einheitsschule eine der wesentlichsten Zusagen war. Wenn ihre Verwirklichung nicht in meinem Sinne erfolgt ist, so sind daran Widerstände schuld, die einstweilen unüberwindlich erscheinen. Jedenfalls ist die Standesschule äußerlich völlig überwunden worden, innerlich leider nicht, denn an Stelle des völlig unent­ geltlichen Schulunterrichtes auf allen Stufen, haben wir eine stark mit Schulgeld belastete Ober- und Mittelschule behalten, und das Bekenntnis bzw. die Weltanschauung werden in der deutschen Schule dank dem Artikel 146, 2 der Reichsverfassung künftig wohl noch lange eine größere Rolle spielen. Ich fürchte sogar, damit muß sich das deutsche Volk in seiner inneren, ins­ besondere kirchlichen Zerrissenheit dauernd abfinden. Ein Volks­ wille, der mit vielen Vorurteilen und Widerständen zugunsten des großen staatlichen und völkischen Gedankens in der Schul­ erziehung aufräumt, wird schwer wachzurufen sein. In meinem Buche „Ein Volk — eine Schule" (Zickfeldt, Osterwieck) habe ich versucht, eine tiefere Begründung für die Einheitsschulforderung zu geben, und die Beurteilung des Buches ist auch eine unge­ wöhnlich günstige gewesen. Auf der Reichsschulversammlung habe ich dann, der einzige Volksschullehrer unter dxn Berichterstattern

zu dieser Frage, den Einheitsschulgedanken noch einmal in wenigen Zügen vertreten und in den anschließenden Ausschuß­ verhandlungen wenigstens einen Teil der Forderungen einer einheitsschulgegnerischen .Mehrheit gegenüber zur Geltung ge­ bracht. Was aus der Einheitsschule nunmehr wird, ist nicht so sehr Sache der erziehungswissenschaftlichen Erörterung als der Gesetzgebung des Reiches, für die im Grundschulgesetz vom 28. April 1920 und in dem Gesetzentwurf zur Ausführung des Artikels 146, 2 ein Anfang gemacht ist. Vor allem wird in der Schulgesetzgebung und Schulverwaltung der einzelnen deutschen Länder die Ernte eingebracht werden. Die Einheitsschule in wirk­ lich volkstümlicher Gestalt wird wohl erst nach vielen schweren Kämpfen erreicht werden, und demjenigen Teil der Jugend, an den ich hierbei besonders gedacht habe, auch nur dann zum Segen gereichen, wenn man nicht bei äußeren Ordnungen und Umgestaltungen stehenbleibt, sondern zu einer auf rein deutschem Grunde errichteten, fremdsprachlich nicht verunstalteten und über­ lasteten Schule kommt und den Versuch macht, diejenigen, die wachsen und werden können, ohne Rücksicht auf Vermögen und Stellung der Eltern zu den Höhen und in die Gebiete zu führen, die ihrer Begabung entsprechen. Die künstliche Züchtung von Höhenmenschen hat mir immer ferngelegen. Ich weiß, Mutter Natur hat vor allen Erziehern, Eltern und Lehrern, ein entschei­ dendes Wort gesprochen. Aber das möchte ich gern in den Schulen verwirklicht sehen, daß man alles, was groß und stark ist und auf der Grundlage dieses Seins größer und stärker werden will, auch ohne äußere Rücksichten anerkennt und mit allen verfügbaren Mitteln fördert. In den letzten Jahren habe ich mich an der Reinigung der deutschen Sprache in größerem Umfange beteiligt. Auf meinen Antrag und unter weitgehender eigener Mitarbeit sind die Satzungen des Deutschen Lehrervereins und sein gesamtes amt­ liches Schriftwerk in reines Deutsch übertragen worden. Dasselbe habe ich in der Gesellschaft für Volksbildung durchgesetzt. Diese Bestrebungen wurden und werden auch noch heute nicht überall

mit vollem Ernst ausgenommen und nicht überall genügend unter­ stützt. Man hat sich gewöhnt, darin die Liebhaberei einzelner, eine zu weitgehende Deutschtümelei und Ähnliches zu sehen. Ich bin bei meinem Eintreten für fremdwortreine deutsche Sprache von der Beobachtung ausgegangen, daß die Millionen, die in der Volksschule vorgebildet sind, nur eine fremdwortreine Sprache ganz verstehen. Reden und Aufsätze bleiben ihnen vielfach unver­ ständlich, weil die leitenden Begriffe durch Fremdwörter aus­ gedrückt sind. Erst in zweiter Reihe stand mir die sprachliche Schönheit. Sehr stark empfinde ich dagegen den großen Nachteil, den die Einführung von Fremdwörtern für die lebendige Fort­ entwicklung der Sprache hat. Die deutsche Sprache ist durch die Fremdwörterei zur toten Sprache geworden. Inneres Leben und ihre volle Entwicklungsfähigkeit kann sie erst wiedergewinnen, wenn sie alles Neue, Geistiges wie Nichtgeistiges, mit ihrem eigenen Sprachschatze meistert und in bezug auf Worte, Wort­ formen und Wortverbindungen die Neugestaltungskraft wiedcrgewinnt, die die Mundart nie verloren hat. Daß es für ein großes Volk auch unwürdig ist, seine Sprache durch fremde Lappen zu verschandeln, habe ich natürlich auch immer empfunden, cs hat aber bei meinem Vorgehen eine entscheidende Rolle nicht gespielt. Die Frage der Zweckmäßigkeit war für mich hierbei entscheidend. Nur eine Sprache, die alle Volksgenossen verstehen und die damit ein alle verknüpfendes Band ist, erfüllt ihren Zweck.

Ich glaube, daß auch hier das im höheren Sinne Zweckmäßige das allein Würdige ist. Besonders schmerzlich war mir die Beob­ achtung, daß die Erziehungswissenschaft, die Arbeiten auf dem Gebiete der Seelenforschung, der Kindesbeobachtung, der Jugend­ kunde usw. sprachlich ganz unerträglich tiefstanden. In ihnen machte sich eine Fremdwörterei breit, die auch rein sachlich ganz unzulässig erscheinen muß, ganz abgesehen davon, daß die Ar­ beiten in dieser Form weitere Kreise der Lehrerschaft und der Gebildeten gar nicht erreichen konnten. Mein Einspruch dagegen wurde an den betreffenden Stellen zuerst übelgenommen, hat aber doch augenscheinliche Erfolge gehabt. Wenn die deutsche

Erziehungswissenschaft mit ihren Hauptergebnissen ins Volk dringen will, so muß sie die Sprache des Volkes reden. Dabei ist mir durchaus gegenwärtig, daß sich erfolgreiche staatsbürgerliche und kirchliche Bewegungen sprachlich umgekehrt verhalten. Sie benutzen eine Sprache, die der weniger Gebildete immer nur halb oder auch gar nicht versteht. Um so stärker scheint der Glaube der Massen an die Parteilehren zu sein; denn der Glaube heftet sich am festesten an das Unverstandene und Unverständliche, auch in sprachlicher Beziehung. Wer Gläubige sucht, der spricht am besten eine Sprache, die viel ahnen, die dem Hoffen und Glauben und der Einbildungskraft unbeschränktes Feld läßt. Was man ver­ steht, verliert den Zauber des Magischen. Das alles weiß ich sehr wohl, aber ich will mit diesen Mitteln nicht wirken, die Schnle kann und soll es nicht, alle Einrichtungen, die sich als volks­ bildnerische bezeichnen, auch nicht; sie brauchen eine Sprache, die klare Vorstellungen geben und diese zu einem klaren Gedanken­ gewebe verflechten will. Die Pythia sprach unverständliche Laute, die Auguren gingen desselben Weges, ihre Nachfolger auch heute noch. Unser Weg ist ein anderer. Der Deutsche Lehrerverein und die Deutschen Lehrertage haben sich bis zur Staatsumwälzung immer nur mit den großen allgemeinen, mit „ideellen" Forderungen beschäftigt und beschäf­ tigen können, da ja die Schule nicht Sache der Reichsgesetzgebung war. Die eigentlichen Lebensforderungen, die durch Gesetzgebung und Verwaltung verwirklicht werden konnten, wurden in den Landeslehrervereinen erörtert und hier die anschließenden Kämpfe durchgefochten auf der Grundlage der Vorarbeiten und der Be­ schlüsse der Orts- und Kreislehrervereine. Und so lag auch meine Lehrervereinsarbeit ganz wesentlich in der Mitarbeit im Ber­ liner Lehrerverein und in der Beteiligung an der Erörterung preußischer Schulzustände, Schulverordnungen und Schulgesetze in der Presse und in den Vereinen. Die zahlreichen preußischen Gesetzentwürfe: 1887 das Gesetz betreffend die Feststellung von Anforderungen für Volksschulen, scherzweise das „Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen

der Schulräte" oder von Clausnitzer das „Handschellengesetz" genannt, 1888 das Gesetz über die Erleichterung der Schullasten der Gemeinden und die Beseitigung des Schulgeldes, 1890/1891

das Goßlersche und das Zedlitzsche Schulgesetz, 1897 das Lehrer­ besoldungsgesetz, 1906 das Schulunterhaltungsgesetz, 1909 das zweite Lehrerbesoldungsgesetz, die vielen kleinen Vorlagen: Ruhegehaltsgesetz, Witwenversorgung usw., alle diese Gesetze habe ich

teilweise in besonderen Abhandlungen, sämtlich aber in zahllosen Aufsätzen in großen Tageszeitungen und in der Fachpresse und in Vorträgen in Lehrervercincn und in der Öffentlichkeit, auch in der politischen Partei, der ich zugehörte (Freisinnige Ver­ einigung) eingehend besprochen. Viele meiner Äorträge haben

allgemeine Beachtung gefunden. Der Erfolg auf die Gesetzgebung blieb leider aus; die Lehrerschaft konnte sich unter den obwal­

tenden Verhältnissen den andersgerichteten staatlichen Mächten gegenüber nicht Geltung verschaffen.

9. 3n der Gesellschaft für Volksbildung. preußische Ltnterrichtsminister. Einen wesentlichen Einschnitt in mein Leben bedeutete es,

als ich im Jahre 1889 mit HeinrichRickertin Verbindung kam. Damals bewegte die Frage des hauswirtschaftlichen Unter­ richts nicht nur die Lehrerschaft, sondern alle Volkskreise, die sich

über soziale und Erziehungsaufgaben Gedanken machten. Rickert hatte einen Vortrag von mir über diese Frage in der Päda­ gogischen Zeitung gelesen. Er schrieb mir einen freundlichen Brief und fragte, wann er mich besuchen könne. Ich antwortete ihm

natürlich, daß ich ihn besuchen würde. Die erste Begegnung in seinem Hause und ein daran anschließender Gang durch den Tier­ garten hat uns dauernd zusammengeführt; bis zu seinem leider viel zu frühen Tode (1902) haben wir uns nicht getrennt. Rickert setzte in mein Wollen und Können ein unbedingtes Vertrauen.

Während andere seiner Mitarbeiter häufig über seine Heftigkeit und

auch über seine Unzufriedenheit mit der Ausführung seiner Gedanken klagten, habe ich auch nicht ein einziges Mal den Eindruck gehabt, daß er mit dem, was ich im Einverständnis mit ihm oder auf eigene Hand tat, nicht zufrieden gewesen wäre. Die Folge unserer Begegnung war mein Eintritt in den Hauptausschuß der Gesell-schäft für Volksbildung. Die Gesellschaft befand sich damals in einer außerordentlich mißlichen Lage. In den letzten Jahren war das Vermögen um etwa 25 000 Mark zusammengeschmolzen; nur noch 75 000 Mark standen zur Verfügung, und die Mitglieder­ beiträge waren stark zurückgegangen. Der Grund lag hauptsäch­ lich in den Zeitverhältnissen, aber auch darin, daß der General­ sekretär, Dr. Wislicenus, von einigen seiner nationalliberalen Parteifreunde darin bestärkt, dem freisinnigen Vorsitzenden Rickert nicht mit vollem Vertrauen entgegenkam, so daß ein Bruch zwischen beiden cingetreten war. Wislicenus hatte sich wohl über­ zeugt, daß die Fortführung der Geschäfte so nicht mehr möglich sei. Das Gehalt des Generalsekretärs konnte einfach nicht mehr bezahlt werden. So mußte die Gesellschaft daran denken, die Hauptarbeit durch unbesoldete Kräfte ausführen zu lassen. Stadt­ rat Hugo N ö st e l aus Landsberg a. d. W., der lange die dortigen Volksbildungsveranstaltungen geleitet und gefördert hatte, übernahm das Generalsekretariat und ich die Leitung des Gesellschaftsblattes „Der Bildungsverein". Wir haben das erste Jahr frisch und fröhlich gearbeitet, ohne indessen den Rückgang aufhalten zu können. Ich konnte damals nicht daran denken, in ein engeres Verhältnis zu der Gesellschaft zu treten, noch viel weniger daran, die Geschäftsführung und die Leitung des Ver­ einsblattes dauernd zu übernehmen. Aber Röstel wurde krank, er rief mich an sein Krankenbett und legte es mir dringend nahe, ihn einstweilen zu vertreten. Dazu erklärte ich mich bereit. Der treffliche Mann stand vom Krankenlager nicht mehr auf, und so hatte ich ein Amt und eine Arbeit bekommen, die ich neben meinem Schulamte, meinen Privatstunden und meinen schrift­ stellerischen Arbeiten voraussichtlich nicht würde leisten können. Trotzdem konnte ich mich auch nicht entschließen, eine Sache, die,

wenn ich davonging, vielleicht endgültig verloren war, im Stich zu lassen. Das Verhältnis zu Rickert ließ mich schließlich alle Bedenken beiseite setzen. Und es gelang. Die Mitgliederzahl nahm rasch zu. Wir begannen mit der Begründung von Volksbüchereien. Das fand im ganzen Lande lebhaften Anklang, und die Gesell­ schaft bekam wieder Leben. Und nun kam uns nach einigen Jahren ein glücklicher Zufall zu Hilfe. Der Rentner Paul de Cuvry vermachte der Gesellschaft und zwei Berliner Vereinen sein ganzes Vermögen, aus dem wir bald größere Barmittel erhielten. Außerdem bestand sichere Aussicht, aus den uns vermachten Grundstücken in absehbarer Zeit weitere Mittel flüssig zu machen. Die Sorge um den Geldsack waren wir damit los. Aber ich habe nicht einen Augenblick daran gedacht, daß wir uns nun mehr leisten und die Aufwendungen für die Geschäftsführung steigern könnten. Ich habe an meinem Teile nicht nur jede Mark, sondern jeden Pfennig zusammengehalten, habe mein Amt bis zum Jahre 1902, elf Jahre hindurch, völlig unentgeltlich und dann bis 1906 gegen eine mäßige Entschädigung verwaltet, bis es endlich nicht mehr gehen wollte. Ich stand dann vor einer schweren Frage. Sollte ich meine Schule aufgeben, an der ich mit ganzem Herzen hing, oder einem selbstgebauten Hause den Rücken kehren? Ich entschloß mich schließlich zu dem ersteren, in dem Gefühl, daß ich meine Lehrtätigkeit, wenn auch in anderer Form, auch in Zukunst ausüben könnte. Mein Abschied vom Schulamte hatte eine eigenartige Vor­ geschichte. Die Stadt Berlin gab mir einige Jahre eine Stunden­ ermäßigung, damit ich meine Arbeiten in der Gesellschaft bewäl­ tigen konnte. Die Stunden wurden als Vertreterstunden von der Gesellschaft entschädigt. Später wurde ich zwei Jahre hindurch ganz beurlaubt unter Verzicht auf das Gehalt. Diese Beurlau­ bung sollte sich nach meinem Wunsche länger ausdehnen, denn ich sagte mir, daß meine Stellung in der Gesellschaft für Volks­ bildung, wenn ich mein Amt nicht aufgäbe, eine ungleich freiere sei, als wenn ich völlig in ein Privatverhältnis einträte. Aber ich hatte die Rechnung ohne die Staatsbehörde gemacht. Als ich

in den Jahren 1904 und 1905 in dem Kampf um den Schul-

kcmpromiß, der dem Erlaß des Schulunterhaltungsgesetzes vor­ aufging, in Wort und Schrift kräftiger hervortrat, nahm die Schulbehörde hieran Anstoß und verlangte von der Berliner

Schuldeputation, daß mir mein Urlaub nicht weiter gewährt würde. Mir wurde das mitgeteilt, ich erneuerte daraufhin meinen Antrag nicht, da ich die Herren im Roten Hause nicht in Ver­

suchung bringen wollte, ihren Bürgerstolz vor einer Staats­ behörde zu vergessen, was imnierhin zu befürchten war. Ich schrieb statt eines neuen Urlaubsgesuches vielmehr kurzweg ein Gesuch um Entlassung aus dem Amte. Ich bin also nicht in den Ruhestand getreten, mithin auch nicht Lehrer a. D. und habe auch

keinerlei nachträgliche Staats- oder Gemeindeleistungen in An­ spruch genommen. Ich habe diesen Schritt nicht ohne Bedenken getan. Als unbesoldeter Generalsekretär konnten auch übel­ wollende mich nicht als „dienenden Bruder" behandeln. Ob das jetzt nicht anders werden würde? Ich war nicht ganz ohne Sorge. Hatte ich doch oft genug beobachtet, daß auch ausgezeichnete Leute in ähnlichen Stellungen nicht immer ganz würdig behandelt wurden. Bis dahin war ich im Vorstande der Gesellschaft völlig frei und ungebunden gewesen.

Ich konnte, wenn ich wollte, mein Amt

jeden Tag niederlegen. Das wurde selbstverständlich mit dem Tage, wo es mein Hauptamt wurde, anders. Indessen haben sich Be­

fürchtungen dieser Art, bis in die jüngste Zeit wenigstens, als gegenstandslos erwiesen, und ich hoffe, auch den Rest meiner Arbeitskraft in derselben Freiheit und Unabhängigkeit wie bis­ her einsetzen zu können. Während der zwölf Jahre, in denen ich an Rickerts Seite für die Gesellschaft für Volksbildung und auf dem Gebiete der

Schulpolitik gearbeitet habe, ist unser Verhältnis, wenigstens so­

weit es mir zum Bewußtsein gekommen ist, niemals getrübt worden. Ich habe im Hause Rickerts, Tiergarünstraße 37, wo immer ein erlauchter Kreis, zumeist von Parteifreunden, sich zusammenfand, unvergeßliche Stunden verlebt und insbesondere

auch in den Ferien in Rickerts Hause in Zoppot.

Ich mußte

immer einige Wochen dort zubringen. Wenn ich ihm das abge­ lehnt hätte, so würde ich ihn gekränkt haben. Am frühen Morgen sind wir dann meist durch den herrlichen Zoppoter Wald ge­ gangen. Rickert war ein ausgesprochener Sinnenmensch. Die frische Waldluft, der Blumenduft, Sonnenschein und Vogelgesang wirkten auf ihn ganz außergewöhnlich, ja er konnte es immer nicht begreifen, wenn ich die Wohlgerüche-einer Pflanze oft weit voraus nicht so wie er wahrnehmcn konnte. Die Tagesstunden brachte er auch während dieser Zeit, die eigentlich eine Ruhepause sein sollte, fast ganz in Danzig, in der Schriftleitung der Danziger Zeitung, zu. Am Abend saßen wir dann wieder zusammen, arbeitend, lesend, erzählend und in später Stunde bei einem Glase Whisky. Ich habe während einer dieser Ferienzeiten das Kapitel im Antisemitcnspiegel über den Gottesuntcrricht geschrieben und mich dabei in die jüdischen Katechismen so stark wie möglich ver­ tieft. Bei manchen dieser Katechismen konnte ich es vollständig vergessen, daß ich ein jüdisches und nicht ein christliches Frage­ buch in der Hand hatte. Auf meine Stellung zum Unterricht in der Gotteslehre ist das nicht ganz ohne Einfluß geblieben. Heinrich Rickert erkannte die Verdienste anderer immer rück­ haltlos an, ja seine Anerkennung war häufig, wenigstens mir gegenüber, reichlich freigebig. Auf den Hauptversammlungen der Gesellschaft leitete er den Jahresbericht nur durch einige Worte ein und gab mir dann Gelegenheit, die Leistungen der Gesellschaft ausführlich darzustellen. Er selbst schloß daran dann immer eine herzliche Anerkennung dessen, was geleistet worden war. Das hat mir die reichliche und recht schwere Arbeit nachträglich immer ver­ schönt. Rickert war in seinem ganzen Denken und Empfinden durchaus volkstümlich gerichtet. Titelsucht war ihm ganz fremd, amtliche und persönliche Ehren und Auszeichnungen hatten für ihn keinen Wert. Er wurde jedesmal etwas unwirsch, wenn man ihn „Herr Landesdirektor" nannte und fragte dann wohl öfter etwas spöttisch, ob man seinen Namen vergessen hätte. Um die wirtschaftliche Lage der Gesellschaft hat sich keiner ihrer Vorsitzenden so bemüht, wie Rickert. Es gab eine Zeit, in 160

der seine Freunde ihm etwas vorsichtig aus dem Wege gingen, weil sie sicher sein konnten, daß er ihnen eine Steuer für die

Gesellschaft bei jedem Zusammentreffen abforderte. So hat Rickert die ersten Gelder, die wir zur Errichtung von Volks­ büchereien brauchten — der Haushalt der Gesellschaft enthielt hier­

für nichts — in kleinen Beträgen buchstäblich zusammengebettelt. Später gelang es ihm, staatliche Mittel bis zu beträchtlicher Höhe (in einem Jahre 20 000 Mark) für diesen Zweck zu erhalten. Denn obgleich der Freisinn amtlich verfehmt war, und zu dieser Zeit ganz besonders, war Rickert persönlich in den Ministerien

doch einer der angesehensten und beliebtesten Abgeordneten. Er hatte freilich auch für die sachlichen und persönlichen Wünsche der

einzelnen Beamten, wenn sie irgend erfüllbar waren, ein offenes Ohr. Bewundert habe ich immer seine Kunst, mit den einfachsten Leuten umzugehcn, mit seinem Gärtner, mit den Berliner Droschkenkutschern, die ihn in der Nähe des Reichstages und des Abgeordnetenhauses alle kannten, und mit den Landleutcn, die wir auf unseren Fahrten oder Spaziergängen trafen. Die Leute fühlten offenbar immer, daß der Mann für sie ein Herz hatte und nicht bloß freundliche Worte. Sehr zustatten kam Rickert sein

überaus freundliches, sein gutes Herz wiederspiegelndes Auge. Ich habe, wenn ich ihn so sah, immer wieder an Goethes Wort: „Glücklich, wem Mutter Natur die rechte Gestalt gab" denken müssen. Merkwürdig war es, wie Rickert arbeitete. Während der Sitzungen schrieb er oft wohl ein Dutzend Briefe, verfolgte dabei als Vorsitzender den Gang der Aussprache ganz genau und faßte

die Ergebnisse am Schluffe der Beratung vollständig und richtig zusammen. Eine Teilung der Aufmerksamkeit, wie sie bekanntlich Julius Cäsar nachgerühmt wird. Diese Beweglichkeit des Geistes

büßte der seltene Mann erst kurz vor seinem Tode ein. Als ich

im Herbst 1902 bei ihm in Zotzpot war, beobachtete ich mit leb­ hafter Besorgnis, wie langsam und schwerfällig er verhältnis­ mäßig einfache Arbeiten erledigte. Als er bald darauf nach Berlin zurückkehrte, war es seine letzte Reise. Er legte sich zum Sterben 11

Tews, Aus Arbeit und Leben.

161

nieder. Ich habe ihm nebst anderen Freunden bei seiner Toten­ feier im Künstlerhause einige Worte nachgerufen, in denen ich zu sagen versuchte, was er unseren gemeinsamen Anliegen ge­ wesen war.*) Nach Rickerts Tode, 1902, trat Prinz Heinrich zu SchoenaichCarolath an die Spitze der Gesellschaft für Volksbildung. Der Prinz hatte immer einen guten Namen in der Öffentlichkeit. Von zahlreichen Gesellschaften und Vereinigungen wurde er als Vor­ sitzender oder Ehrenvorsitzender gesucht. Seinem Wesen entsprach das ganz und gar nicht. Er war eine schöngeistige Persönlichkeit, ein Kenner Goethes, wie es in unseren Tagen nicht viele gibt, ein Bewunderer Napoleons und Friedrichs des Großen. Als Freimaurer in menschenfreundliche, freiheitliche Denkweise einge­ taucht, war er sich doch seiner gesellschaftlichen Stellung sehr stark bewußt. Ich habe öfter mit einigem Vergnügen sein Gesicht beobachtet, wenn ein „Kollege" im Reichstage sich ihm gar zu „kollegialisch" näherte und ihn statt „Durchlaucht", wie er cs gern hatte, „Kollege" nannte. Meine Stellung zu ihm war zumeist gut. Von Rickert her hatte er eine ziemlich hohe Meinung von meiner Selbständigkeit, die er hin und wieder scherzhaft berührte, aber niemals angetastet hat. Die wenigen Fälle, in denen wir uns etwas unsanft begegnet sind, ergaben sich immer daraus, daß ich auf seine Empfindlichkeit nicht genügend Rücksicht genommen hatte. Seine sehr starke Reiz­ barkeit trat besonders hervor, wenn er öffentlich auftreten mußte, insbesondere bei Leitung der Hauptversammlungen der Gesell­ schaft. Er konnte dann unter Umständen jede Selbstbeherrschung verlieren. So z. B. geriet er in eine ganz außergewöhnliche Auf­ regung, als wir bei der Leipziger Hauptversammlung (1913) in einem Raume untergebracht waren, der ihm und uns allen geradezu als unwürdig erscheinen konnte. Er wurde in solchen Augenblicken auch rücksichtslos in seinen Äußerungen über Per­ sönlichkeiten, die an der ganzen Sache völlig unschuldig waren. *) Der Bildungsverein 1902, S. 265.

In einem änderte sich das Leben in der Gesellschaft mit dem Vorsitze des Prinzen Carolath vollständig. Hatte Rickert den engeren und weiteren Kreis seiner politischen Freunde und andere wichtige Persönlichkeiten für die Gesellschaft nach Kräften heran­ gezogen, so hat der Prinz das in den 18 Jahren seiner Vorstand­ schaft niemals getan. Er zog sich auch auf den Hauptversamm­ lungen sehr stark zurück. Es fehlte infolgedessen für die Teilnehmer an den Versammlungen der Mittelpunkt. Daraus erklärt sich der geringe Besuch unserer Tagungen, der zu dem steten Wachs­ tum der Gesellschaft in bezug auf Leistungen und Mitgliedschaft in einem starken Mißverhältnis stand. Der Krieg nahm den stark gefühlsmäßig veranlagten Mann sehr mit. Er wußte wohl besser wie mancher andere, wie der schließliche Ausgang sein würde. Dazu kam seine unfreundliche Stellung zum Kaiser, die in rein persönlichen Verhältnissen be­ gründet war. Seine Abneigung gegen den Träger der Reichs­ gewalt ging so weit, daß er es z. B. nicht vermochte, ein Kaiser­ hoch auszubringen. Als er das bei einer Hauptversammlung in Berlin (1905) nicht umgehen konnte, trank er auf — die Kaiserin Friedrich. Gesellschaftlich bin ich dem Prinzen Carolath nicht näher­ getreten. Vielleicht durch meine Schuld. Wiederholt lud er mich zu sich nach Amtitz ein. Ich habe dieser Einladung niemals Folge geleistet, weil ich meine wenigen Ferienwochen völlig frei und ungezwungen und im Kreise meiner Familie zubringen wollte, mit der ich sonst nicht immer so zusammenleben konnte, wie cs mein innerstes Bedürfnis war. Meine Kinder standen nun in einem Alter, daß wir mit ihnen reisen konnten. Ich habe ihnen die Welt gezeigt — und sie mir. Junge Augen empfinden die Herr­ lichkeiten der Natur und Kunst am stärksten. Das Zusammensein mit dem Prinzen bei unseren häufigen Besprechungen in seinem Hause war mir immer ein großer Genuß. Er plauderte dann über alles, was ihn bewegte, und ich habe bei dieser Gelegenheit in manche Dinge Einblick bekommen, die mir sonst verschlossen geblieben wären.

Meine Tätigkeit in der Gesellschaft für Volksbildung, mehr aber noch meine schulpolitische Wirksamkeit hat mich auch mit den preußischen Kultusministern in mannigfache Berührung gebracht, ohne daß ich diese Berührung grade gesucht hätte. Dazu lag ja schon deswegen keine Veranlassung vor, weil ich mit mehreren Ministern überhaupt nicht und mit den übrigen in manchen Einzelheiten nicht einverstanden war. Meine erste schulpolitische Arbeit und die ersten Kämpfe richteten sich gegen das Mini­ sterium Goßler, ohne jede persönliche Schärfe, denn Herr von Goßler war eine durchaus vornehme Persönlichkeit und ein hoch­ gebildeter Mann, in dessen Leben Wissenschaft und Kunst eine große Rolle spielten. Sein Buch „Reden und Ansprachen" ist mir immer eines der liebsten Bücher dieser Art gewesen. Indessen, Herr von Goßler war dem großen Staatsmanne, der in Preußen und im Reiche allgewaltig schaltete, dem Fürsten Bismarck gegenüber nicht in der Lage, die Schulgesetzgebung ent­ scheidend zu beeinflussen. Das Gesetz vom 28. Mai 1887, das den Kreisausschüssen eine weitgehende Mitwirkung bei Fest­ stellung der Schullasten einräumte, wurde von ihm auch öffent­ lich beklagt. Er sprach es im Abgeordnetenhause aus, sein Trost sei, daß den Lehrern wenigstens nichts genommen werden könne. Er glaubte also nicht an einen Fortschritt unter entscheidender Mitwirkung der Kreisausschüsse. Glücklicherweise täuschte er sich darin, denn die Verantwortung für das unter ihren Augen bisher bestehende Lehrerelend wollten manche Kreisausschüsse doch nicht auf sich nehmen, und andererseits waren auch die bis dahin all­ mächtigen, nunmehr aber auf die Entscheidung der Kreisaus­ schüsse angewiesenen, also nicht mehr verantwortlichen Schulräte jetzt weniger bedenklich in ihren Forderungen. So hat die Lehrer­ besoldung unter dem Gesetz bis zum Jahre 1897, als das Lehrer­ besoldungsgesetz erlassen wurde, doch erhebliche Fortschritte ge­ macht. Herr von Goßler war ein Staatsminister von streng konservativer und kirchlicher Gesinnung, der aber der Kirche als solcher keine Staatsrechte opfern wollte, wie es auch sein Vor­ gänger, der übelberufene Puttkamer, nicht getan hat. Sein

Schulgesetzentwurf, der zu „bureaukratisch" war, bereitete seiner amtlichen Laufbahn als Kultusminister ein Ende. Persönlich bin

ich mit Herrn von Goßler erst nach seiner Ministerzeit mehrfach zusammengetroffen. Der Hauptversammlung der Gesellschaft für Volksbildung in Danzig wohnte er von der Eröffnung bis über

den Schluß hinaus bei; als schon alle Teilnehmer sich längst auf den Weg zum Festessen gemacht hatten, blieb der Minister noch dort und befragte mich über alle Einzelheiten in unserer Gesell­

schaftsarbeit. Trotz seiner konservativen Parteistellung hatte Herr von Goßler auch für die Volksschule ein warmes Herz. Kunst und Wissenschaft und höheres geistiges Leben gingen ihn aller­ dings näher an. Goßlers Nachfolger,

Graf von Zedlitz-Trützschler, dessen

Schulgesetzcntwurf den kirchlichen Kreisen weitest entgegcnkam, und der dadurch einen der erbittertsten Schulkämpfe der neueren Zeit entfacht hat, war in dieser Beziehung ebenso vertrauensselig wie die Verfasser des jetzt dem Reichstage vorliegenden Reichs­ schulgesetzentwurfes (Art. 146, 2 der Reichsverfassung). Zedlitz war sonst ein Mann ohne Vorurteil, freilich auch ohne tiefere Kenntnis all der Klippen, zwischen denen das Schulschiff des Staates hindurchscgeln muß, und so scheiterte er denn mit seinem

Schulgesetzentwurf. So schmerzlos auch die Lehrerschaft seinen Gesetzentwurf in den Fluten versinken sah, ihn selbst hätte sie gern an der Spitze des Ministeriums weiter gesehen, denn das ärgste Schulelend hätte Zedlitz wohl mit allen Mitteln zu be­ seitigen versucht.

Anläufe dazu machte er in der kurzen Zeit

seiner Ministerschaft. Sein Nachfolger,

Dr. Bosse,

war innerlich

mit

den

Dingen, die damals die preußische Lehrerschaft bedrückten, aufs engste verwachsen.

Bosse war Beamter, kannte die Beamten­

verhältnisse genau und sah die Lehrerverhältnisse in ihrer unver­

antwortlichen Zurückstellung den Beamtenverhältnissen gegen­ über. Aber er war der einfache bürgerliche Mann*), der in der *) S. hierzu BosseS Lebmserinnerungen.

maßgebenden Aristokratie kaum volles Gewicht hatte, auch bei Hofe nicht, und hatte damit zahlreiche Hindernisse zu überwinden, die einem Minister aus andern Kreisen nicht erwachsen wären.

Was die preußische Volksschule Bosse schuldet, hat die Schul­ geschichte genügend festgelegt (vgl. „Ein Jahrhundert preußischer Schulgeschichte", Seite 210—226, „Ein sozialer Minister"). Per­ sönlich bin ich mit Bosse mehrfach in Berührung gekommen,

zumeist in Gemeinschaft mit Clausnitzer, dem damaligen Vor­

sitzenden des Deutschen Lehrervcreins, und der Minister hat uns jedesmal mit einer so einfachen und ungeschminkten Herzlichkeit und Freundlichkeit empfangen, wie man es zu damaliger Zeit in dem Hause Unter den Linden 4 nicht gewöhnt war. Auch andere Besprechungen mit Bosse vollzogen sich in derselben herz­

lichen Weise. Der Minister gab sich uns gegenüber immer in gleicher formloser Liebenswürdigkeit. Wir sprachen die Dinge miteinander durch, nicht wie der Minister mit zwei Schullehrern, sondern wie drei Menschen, die eine gemeinsame Sache zu vertreten haben. Allerdings war Bosse nicht der eigentliche Träger der preu­ ßischen Schulpolitik während seiner Amtszeit. Das war vielmehr Ministerialdirektor Kügler. Kügler war einer der kenntnisreich­ sten und scharfsichtigsten Männer, die der Untcrrichtsverwaltung

angehört haben, der alles, insbesondere auch alles, was in der Lehrer­ presse geschrieben wurde, überdachte und beachtete. Und so glaube ich, daß auf diesem Wege manches auch von meinen Anregungen

in die preußische Unterrichtsgesetzgebung hineingekommen ist, ins­ besondere bei dem Gesetz über die Ruhegehaltsbezüge und Alters­ zulagenkassen. Ich habe mich auch zu dieser Zeit, als der Zutritt

zum preußischen Unterrichtsministerium recht leicht war, den maßgebenden Persönlichkeiten nicht aufgedrängt, im Gegenteil, mich suchen lassen, wenn sie mich sehen wollten, aber doch recht

angenehm empfunden, daß ich bei wichtigen Fragen herangezogen und mein Urteil gehört wurde. Ich kann trotz meiner scharfen Kampfesstellung gegen die preußische Unterrichtsverwaltung mit wenigen Ausnahmen über eine unfreundliche. Behandlung nicht

klagen. Freilich habe ich auch niemals irgendwelche Bitten und

Wünsche, die meine Person betrafen, ausgesprochen. Wenn das geschehen wäre, hätte ich vielleicht nicht eine so weitgehende Berücksichtigung gefunden. Persönlich unfreundlich war das Verhältnis zu dem Unter­ richtsminister von Studt, wie ich glaube, ohne meine Schuld. Bald nach dem Amtsantritt des Ministers machten der Vor­ sitzende der Gesellschaft, Rickert, der Schatzmeister, Dr. Abcgg, nnd ich dem Minister einen Besuch, weil die Gesellschaft unter seinem Vorgänger Dr. Bosse erhebliche Staatszuschüfse erhalten hatte. Der Empfang war etwas befremdlich. Während Rickert und Abegg mit Handschlag begrüßt und auch ebenso verabschiedet wurden, reichte der Minister mir weder beim Empfang noch beim Fortgehen die Hand, trotzdem ich in der Unterredung die Arbeiten der Gesellschaft eingehend darzustellen hatte, also nicht etwa als ■fünftes Rad am Wagen erscheinen konnte. Rickert war darüber aufs tiefste entrüstet. Es war mir schwer, ihn auf dem Heimwege zu beruhigen. Ich erblickte darin eine Quittung über meine bis­ herige schnlpolitische Tätigkeit vor dem Amtsantritt Stndts nnd vielleicht auch eine Kennzeichnung der persönlichen Stellung des Ministers zum Volksschullehrerstande und nahm deswegen die Behandlung ohne jede persönliche Gereiztheit auf, glaubte aber auch deswegen für die Beurteilung der Studtschen Maßnahmen keinerlei Verpflichtungen zu besonderer Milde zu haben. Daß das gelegentlich in Veröffentlichungen und Vorträgen zum Aus­ druck gekommen ist, versteht sich von selbst. Bei späterem Zu­ sammentreffen an dritter Stelle konnte ich auch deutlich spüren, daß der Minister das wohl verstanden hatte. In meinem Vor­ krage über den Lehrermangel (Dortmund 1908) brauchte ich, ohne mir gerade viel übles dabei zu denken, eine Studt betreffende Wendung, die keine Schmeichelei war und es auch nicht sein sollte. (S. ob. S. 148). Herr von Studt war in seiner ganzen Er­ scheinung das Urbild jener etwas beschränkten Aristokraten alt­ preußischer Art — er war kleinbürgerlicher Abkunft —, die in unseren Tagen kaum noch möglich sind. Was er dem Schulwesen

geschadet hat, habe ich an anderer Stelle (Ein Jahrhundert

preußischer Schulgeschichte, S. 226 ff.) ausführlich dargelegt. Eine der fesselndsten Erscheinungen in der preußischen Unter­ richtsverwaltung war Geheimrat Dr. Karl Schneider. In der Volksvertretung wurde er der „Damenschneider" genannt, einmal wegen seines etwas zimperlichen weiblichen Wesens, so­

dann aber auch, weil er das Mädchenschulwesen bearbeitete. Wer Schneider nähergetreten ist und seine Veröffentlichungen gelesen hat, wird den Scharfsinn und den erstaunlichen Fleiß dieses Mannes immer bewundern müssen. Aber Schneider war kein Ganzer. Weich und biegsam, konnte er sich sehr verschiedenen Richtungen anpassen. Er, der „Leitpädagoge Falks", der Ver­ fasser der Allgemeinen Bestimmungen vom 15. Oktober 1872, blieb auch unter Puttkamer und Goßler an seiner Stelle, aber

nach Falks Rücktritt doch im ganzen einflußlos. Zur Lehrerschaft stand er in einem ganz eigentümlichen Verhältnis. Es lag ihm offenbar daran, daß fein Name in unseren Reihen einen guten

Klang behielt, und wer in Sachen der Lehrerschaft und des Lehrer­

vereins zu ihm kam, konnte manchen guten Rat bekommen. Wenn er irgend selbst helfen konnte, insbesondere auch bei der Unter­ stützung Notleidender, so tat er es von Herzen gern. Aber anderer­ seits vermochte er sich doch von der kirchlichen und halbkonser­ vativen Richtung, in der er groß geworden war, nicht zu lösen.

Gesellschaftlich lebte er in anderen, liberal gerichteten Kreisen,

und hier bin ich auch häufiger mit ihm zusammengekommen. Ich hatte das Gefühl, daß er mir wohlwollte. Es war ihm z. B.

nicht ganz recht, daß man ihm die Mitschuld daran zuschrieb, daß mein mit Ernst zusammen bearbeitetes Mädchenschullesebuch nur für Mittelschulen, nicht für Volksschulen, genehmigt wurde,

und auch das erst nach einer Anfrage Rickerts im Abgeordneten­

hause. Er leugnete jede Mitschuld ganz entschieden ab, ohne daß ich ihn etwa zur Rede gestellt hätte. Seine „50 Jahre in Kirche und Schule" besprach ich bald nach ihrem Erscheinen im „Ber­

liner Tageblatt" und erhielt daraufhin einen sehr herzlich gehal­ tenen Brief. Wäre Dr. Falk Minister geblieben, so hätte dieser

Mann für die preußische Volksschule viel leisten können, aber die späteren Minister konnten einen Schneider nicht verwenden; und so wie Schneider erging es auch anderen tüchtigen Leuten im Kultusministerium, insbesondere während der Amtszeit Studts. Mit den späteren Ministern Holle, Trott zu Solz, Schmidt und Haenisch bin ich nur flüchtig, wenn auch wiederholt zufammengekommen. Ich habe die Tür zum Hause Unter den Linden 4 auch nach dem 9. November 1918 nicht öfter aufgemacht als früher. Man hat mich oft deswegen zur Rede gestellt und seine starke Verwunderung darüber ausgedrückt, daß ich nach der Staatsumwälzung in diesem Hause nicht auch einen entsprechenden Platz gefunden hätte. Man erkannte mir frei­ gebig die Berechtigung und Befähigung für das erste Amt in der Unterrichtsverwaltung oft zu. Ich habe mich daraufhin nicht, wie Uhland sagt, heimlich mit den Blicken gemessen; ich glaube, daß ich doch mehr für eine völlig unabhängige Wirksamkeit geschaffen bin, als für irgendein Staatsamt, das ich in den neuen Verhältnissen wohl hätte haben können.

40. Auf dem Wege zum Volksvertreter. „Warum sitzen Sie nicht int Reichstage oder irrt Abgeord­ netenhause'? Warum sind Sie nicht in der Unterrichtsverwal­ tung?" Wohl einige tausendmal habe ich diese Frage beant­ worten müssen, und ich konnte immer nur sagen: „Weil ich es nicht wollte." Ich habe niemals an parteimäßiger Beteiligung am öffentlichen Leben irgendwelche Freude gehabt. Wenn ich in Versammlungen, die sich mit allgemeinen staatlichen und staats­ bürgerlichen Fragen beschäftigten, hin und wieder gesprochen habe, so geschah es immer nur, um über Angelegenheiten zu reden, die mir berufsmäßig am Herzen lagen, über die Frage der Bildung und Erziehung im weitesten Sinne. Ich habe auch staatliche und staatsbürgerliche Fragen niemals anders als in diesem Lichte sehen können, denn ihre Beantwortung richtet sich ja durchaus

nach den Menschen, die in Betracht kommen, und die Menschen sind in wesentlichen Beziehungen so, wie sie erzogen oder nicht erzogen worden sind. Keine wirtschaftliche Frage z. B. gestattet eine Beantwortung, ohne daß die Voraussetzungen auf dem Ge­ biete der Erziehung sichergestellt sind. Ungebildete und Unerzogene verlangen ganz andere wirtschaftliche Einrichtungen als Gebildete und Erzogene, und je nachdem geistige oder ungeistige Bedürf­ nisse vorliegen, müssen die öffentlichen Einrichtungen so oder anders sein. Was von der Volkswirtschaft gilt, gilt vom Nechtslcben und von der staatlichen Ordnung und Verwaltung überhaupt. Versammlungen haben für mich niemals einen Reiz gehabt. Ich habe auch an weitaus weniger Versammlungen als Zuhörer keilgenommen denn als Redner. Das Zuhören ist überhaupt für mich eine schwierige Sache. Ist ein Vortrag gut, so löst er gewöhnlich irgendwelche mich fesselnden Gedanken aus, die ich weiter verfolgen muß, und ich höre dann den Redner eine Zeit­ lang oder überhaupt nicht mehr. Und genau so geht es mir, wenn der Vortrag schlecht ist. Auch dann verfolge ich irgendeinen Gedanken, und die ganze Rede rauscht eindruckslos an mir vor­ über. Ich höre eine Rede tatsächlich nur dann ganz, wenn ich sie hören muß, d. h., wenn von mir eine Entgegnung erwartet wird, wie in der Aussprache zu meinen eigenen Vorträgen, oder wenn ich einen Bericht abzufassen habe. So ist mancher Gedanke, der meine Arbeit stark beeinflußt hat, mit dem aber der Vor­ tragende sich nur ganz nebenher oder überhaupt nicht beschäftigt hatte, während irgendeines Vortrages bei mir entstanden. Geradezu eine Qual sind mir Sitzungen und Ausschuß­ beratungen mit ihrem stundenlangen Hin und Her, und ich gehöre deswegen in den Ausschüssen, in die ich gewählt worden bin, auch nicht zu den regelmäßigsten und fleißigsten Besuchern. Meine Welt ist eine andere, die schaffende Arbeit oder die Beschäftigung mit den Gedanken eines anderen Menschen, denen ich am unge­ störtesten im Buche zu folgen vermag. Trotzdem bin ich den Versuchungen und dem Drängen, mich

um einen Auftrag für eine Volksvertretung zu bewerben, hin und Ivieder erlegen. Freiwillig ist es aber in keinem Falle geschehen. Zum ersten Male war ich zum Preußischen Landtage im ersten Berliner Wahlkreise als Kandidat der Freisinnigen Ver­ einigung gegen die Freisinnige Volkspartei aufgestellt. Eugen Richter war darüber sehr erzürnt und hat mich und meine Mit­ bewerber in seiner „Freisinnigen Zeitung" denn auch nicht nur recht reichlich mit Angriffen, sondern auch mit Hohn und Spott bedacht. Denn er, der genaue Rechner, wußte vorher, daß wir ■eine Mehrheit nicht erhalten würden. Das wußten wir schließlich auch selbst, aber es kam uns darauf an, den alten eingesessenen Parteihäuptern einen fühlbaren Denkzettel zu geben, und diesen Zweck erreichten wir immerhin, wenn auch die Stimmenzahl nicht erheblich war. Um einen Auftrag zum Reichstage bewarb ich mich bei den sogenannten Hottcntottcnwahlcn im Winter 1907 im Wahlkreise Landsberg-Soldin. Mir gegenüber stand ein konservativer und ■ein sozialdemokratischer Mitbewerber. Ich trat ziemlich spät und auch dann nur verhältnismäßig kurze Zeit in den Wahlkampf ein. Die Wahlreisen und -Vorträge wurden durch die ganz unge­ wöhnlich strenge Winterkälte — wir hatten in den Sälen verein­ zelt —18 Grad R. — außerordentlich erschwert, durch die Bereit­ stellung eines Kraftwagens für mich seitens meines Freundes und Gönners James Simon in Berlin aber in etwas erleichtert. Ich habe damals gewöhnlich drei Vorträge an jedem Tage gehalten, ■meist vor zahlreicher Zuhörerschaft. Herr Paetzel, Expedient im „Vorwärts", als sozialdemokratischer Mitbewerber, fuhr getreu­ lich hinter mir her, denn die Sozialdemokraten erhielten im Wahlkreise keine Versammlungsräume. Herr Paetzel nahm dann im Anschluß an meine Rede gewöhnlich das Wort. Wir gestatteten bas ausnahmslos, da er ein anständiger Gegner war und sein Standpunkt bei der Zuhörerschaft meist nicht besonderen Anklang sand. Das Ergebnis war leider so, daß ich nicht in die Stichwahl kam, andernfalls wäre meine Wahl mit Unterstützung der Sozialbemokraten ziemlich sicher gewesen. Schuld daran waren Unge-

schicklichkeiten der mit uns Verbündeten Nationalliberalen, die das in Landsberg stark vertretene Zentrum derart reizten, daß es nicht, wie zuerst beabsichtigt, mir seine Stimmen gab, sondern dem Konservativen, der damit im ersten Wahlgange gewählt wurde. Ich habe das Ergebnis schmerzlos hingenommen und wäre wohl für immer denselben Versuchen ferngeblieben, wenn nicht 1913 im 7. Berliner Landtagswahlkreise nach der Meinung

von Parteifreunden die Aussichten ungewöhnlich günstig gewesen wären. Die Berechnungen beruhten indessen auf einem Irrtum. Der Gegenkandidat, Herr Hirsch von der Sozialdemokratie, erhielt

eine erheblich größere Stimmenzahl als ich. Allerdings hätte das Ergebnis weitaus besser sein können, wenn nicht unglaubliche Ungeschicklichkeiten in der Wühlarbeit vorgekommen wären, so daß unsere Wähler nicht einmal genügend Stimmzettel erhielten. Trotzdem hatte ich die etwas seltsame Freude, am Abend des Wahltages etwa 600 Wahlhelfer (Arbeitslose) für Stimmzettel­ verteilung mit rund 3000 Mark entschädigen zu müssen. Andere erhebliche Ausgaben kamen dazu, so daß die Wahl für meine Ver­ hältnisse doch recht kostspielig wurde. Auf einen Ersatz dieser Unkosten habe ich verzichtet, aber auch auf weitere Bemühungen in derselben Sache. Als Lehrer konnte ich in die Berliner Stadtverordnetenversammlung nicht gewählt werden. Nach meinem Austritte aus dem Amte war das möglich. Ein Versuch in einem Wahlkreise in Berlin NO. schlug indessen fehl. Die bürgerlichen Wähler zeichneten sich wie gewöhnlich durch sehr große Lauheit aus, so daß der ausgezeichnete Stadtverordnete Heymann, Sozialdemo­ krat, mit großer Stimmenmehrheit gewählt wurde. Daß ich gegenwärtig Mitglied der Bezirksversammlung in Berlin-Tier­ garten bin, ist ein bloßer Zufall. Ich habe mich an den Vor­ arbeiten nicht wesentlich beteiligt, es nur den Freunden nicht abschlagen wollen, mich auf ihre Liste zu setzen. Für die Wahl in den neuen Reichstag bot die Partei mir einen verhältnismäßig guten Platz an. Ich schlug ihn aus, weil der Deutsche Lchrer-

verein einen noch günstigeren Platz beansprucht hatte und die Partei darauf nicht eingegangen war. So denke ich auch in Zukunft keiner Volksvertretung anzu­ gehören. Meiner Partei, der deutsch-demokratischen, werde ich trotzdem die Unterstützung, die ich ihr immer geliehen habe, weiterhin leisten. Denn sowenig ich Parteimann bin und auf Parteilehren mich einschwören könnte, so bin ich doch tief davon durchdrungen, daß eine Partei der Mitte, die eine Brücke zwischen links und rechts bildet, bestehen und möglichst stark erhalten werden muß. Diese Aufgabe fällt gegenwärtig der deutsch-demo­ kratischen Partei zu. Der Name der Partei gefällt mir nicht. Sie müßte den Namen tragen, den die rechts von ihr stehende Partei sich beigelegt hat. Das ist indessen nunmehr versäumt durch die etwas eigenartigen Auffassungen einzelner Partei­ angehörigen. In der deutsch-demokratischen Partei wird sich, wie ich hoffe, die alte, ja unsterbliche freiheitliche Auffassung aller öffentlichen und privaten Verhältnisse in möglichst reinen Formen erhalten und betätigen. Größtmögliche Freiheit allen auf sittlicher Grund­ lage, auf dem Boden strenger Pflichterfüllung, unter möglichst geringer staatlicher Bevormundung und Bindung des wirtschaft­ lichen und des geistigen Lebens! Das letztere ist es, was mich abgrundtief von der Rechten einerseits und vom Sozialismus andererseits trennt. Versagt die Rechte geistige Freiheit, staats­ bürgerliche Gleichberechtigung und Gleichwertigkeit, so ist der Sozialismus für mich durch seine wirtschaftlichen Lehren un­ möglich. Wenn man die menschliche Kraft so fesselt, wie es nach dem Muster der mittelalterlichen Zunft der Sozialismus auch in seinen milderen Formen will, von den „entschiedenen" Sozialisten und Kommunisten gar nicht zu reden, so ist zwar ein mehr oder weniger erträgliches menschliches Herdentum und ein Ameisenund Bienenstaat möglich, niemals aber eine menschliche Gesell­ schaft, in der das Einzelwesen Eigenwert behält und ein voll entwickeltes Eigenleben führen kann. Hieran ist der Sozialismus, soweit er seine Forderungen bisher verwirklichen wollte, immer

gescheitert und wird wahrscheinlich auch in Zukunft daran scheitern. Aber der freie Staatsgedanke ist für mich eine Unwahrheit und eine Heuchelei, solange und soweit man aus ihm nicht die Folgerung zieht, daß in jedem jungen Wesen alle Kräfte und Fähigkeiten zur möglichst hohen Entwicklung gebracht werden. Darum ist der Freisinn für mich eine Erziehungspartci. Wer Freiheit, Selbstverantwortung und Selbstbestimmung zur Grund­ lage des öffentlichen und des privaten Lebens macht, muß auch den einzelnen mit alledem ausrüstcn, was notwendig ist, in dieses Leben mit Erfolg einzutreten und die Kämpfe, die cs bringt, mit scharfen Waffen auszufechten.

11. Auslandsbeziehungen und Auslandsreisen. Frühzeitig kam ich in ziemlich lebhafte Beziehungen zu aus­ ländischen Schulmännern und Volksvertretern. Meine Tätigkeit im Deutschen Lehrcrverein, in der Gesellschaft für Volksbildung, insbesondere aber meine Veröffentlichungen in großen, auch im Auslande gelesenen Tageszeitungen waren vielfach beachtet worden, so daß ich Besuche von Ausländern verhältnismäßig früh erhielt. Oft haben sich Vertreter der verschiedensten Staaten in meinem Hause zu freundschaftlicher Aussprache zusammengefunden. Na­ mentlich suchte man bei mir immer Angaben über den tatsäch­ lichen Stand des deutschen und preußischen Volksschulwesens. Meine übersichtlichen Zusammenstellungen und Auszüge aus den amtlichen Schulzählungen gaben dazu den Anlaß. Oft kamen die ausländischen Schulleute unmittelbar aus dem Kultusmini­ sterium zu mir, um Auskünfte zu erlangen, die man ihnen dort entweder nicht hatte geben wollen oder die betreffenden Persön­ lichkeiten auch nicht geben konnten. Ich erinnere mich mancher anziehenden Persönlichkeit aus diesem Verkehr. Und vielfach entwickelte sich daraus auch eine recht fruchtbare Arbeit. Mit Herrn Sadler, damals Beamter im englischen Unterrichts­ ministerium, später Universitätsprofessor in Manchester, habe ich

zum Beispiel eine Aufstellung bearbeitet, in der das englische Schulwesen mit dem preußischen an der Hand der amtlichen Zahlen beider Länder in Vergleich gestellt wurde. (S. Deutsche Schule 1901 S. 406.) Die Übersicht ergab leider, daß nach der Zählung von 1896 England und Wales mit einer Million weniger Einwohnern als Preußen volle hundert Millionen Mark mehr für das Schulwesen verausgabten. Derartige Vergleichungen leiden ja immer daran, daß sie auf Grund einseitiger Kenntnis zusammcngestellt werden. Nur wenn der Beurteiler bzw. die Bearbeiter beide Teile gleichgut kennen, können einigermaßen zuverlässige Zahlen gewonnen werden. Engländer kamen in den neunziger Jahren des vorigen und im ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts häufig nach Berlin, um unser Schulwesen kcnnenzulernen, und die von der englischen Unterrichtsbehörde entsandten Herren sprachen in der Regel auch bei mir vor. Ich habe vielen von ihnen die Wege geebnet, um sich eine gründliche Kenntnis unserer Schulverhältnisse anzu­ eignen und nicht nur das zu sehen, was leider den Besuchern gewöhnlich nur gezeigt wird. Nächst Engländern kamen Fran­ zosen und Russen häufig zu mir. Für russische Erzichungszeitschriften habe ich auch jahrelang Aufsätze und Berichte geschrieben, die natürlich in russischer Übersetzung veröffentlicht wurden. Die Verbindungen dauerten — insbesondere mit den russischen Schul­ männern — bis zum Kriege. Ein bemerkenswertes Gespräch hatte ich mit einem russischen Professor noch auf der Lehrer­ versammlung in Kiel, Mai 1914. Wir sprachen über die Mög­ lichkeit eines Krieges zwischen Deutschland und Rußland. Der Russe erklärte mir, daß Rußland nicht in der Lage sei, einen Krieg mit Deutschland zu führen. Ich wunderte mich über dieses Urteil. Der Verlauf des Weltkrieges hat seine Richtigkeit ja erwiesen. Der friedenssichere Russe mußte einige Wochen später, nachdem der Krieg schon in vollem Gange war, Deutschland ver­ lassen. Seitdem weiß ich nichts von ihm. Die Verbindungen werden in absehbarer Zeit wohl nicht wieder, weder nach dem Osten noch nach dem Westen, ausgenommen werden können.

Ich selbst war bis zum Ausgange des Jahrhunderts nicht ins Ausland gekommen, abgesehen von kleineren Ausflügen in die böhmischen Grenzgebirge und Bäder. 1899 unternahm ich eine Studienreise durch die Schulen Süddeutschlands und Öster­ reichs. In Wien hielt ich mich etwas über 14 Tage auf und benutzte die Gelegenheit, um mich mit allen Schul- und Lehrer­ verhältnissen soviel wie möglich vertraut zu machen. Zu beson­ derer Bewunderung dessen, was ich hier sah, fand ich keine Ver­ anlassung. Hatte ich in den süddeutschen Schulen durchweg gute Eindrücke gewonnen: die Zucht straff, die Unterrichtsleistungen auf bemerkenswerter Höhe und das ganze Schulwesen in lebhafter Fortentwicklung begriffen, allen Neuerungen zugewandt, so machten die Wiener Schulverhältnisse auf mich vielfach den Ein­ druck unverkennbaren Verfalls. Insbesondere störte mich die schlaffe Haltung mancher Lehrpersonen und die lockere Zucht, um nicht zu sagen, Zuchtlosigkeit der Schüler. Ein später als Abge­ ordneter und Staatsmann sehr bekannt gewordener Lehrer miß­ achtete die vorgeschriebenen Schulformen zum Beispiel in dem Maße, daß er während des Schlußgebetes sich den Überzieher anzog und sich zum Weggehen bereitmachte. Wie das Gebet dabei verlief, bedarf keiner weiteren Angaben. In einer Bürgerschule saß in einer Mathematikstunde unmittelbar neben mir ein halberwachsener Junge, der die ganze Stunde damit zubrachte, daß er die Tischplatte vor sich mit den natürlichsten Mitteln für den Fliegenfang herrichtete, und auf dem besonnten Futterplatze nun so viele Fliegen fing als nur möglich. Und das in der vor­ dersten Bank, vor den Augen des Mathematiklehrers, der offenbar ein ganz tüchtiger Fachmann, aber ein sehr mittelmäßiger Lehrer war. Und das waren nicht außergewöhnliche Vorkommnisse. Ähnliches sah ich vielfach. Mit meiner preußischen Auffassung von Schulunterricht und Schulzucht ließ sich das schwer verein­ baren, und so wenig ich sonst für körperliche Züchtigungen jemals übrig gehabt habe, so bedenklich zuckte es doch bei diesen Beobachtungen öfter in den Fingern meiner rechten Hand. Vor allem fiel mir auf, daß verhältnismäßig wenige Lehrer einen

Begriff vom Klassenunterrichte hatten. Viele, und je weiter nach

oben in den Schulen um so mehr, unterrichteten bzw. unterhielten sich mit dem Notizbuch in der Hand mit einzelnen Schülern, und die ganze Klasse saß oft recht wenig beteiligt dabei. Die Auf­ fassung, daß im Unterrichte immer nur der Schüler, der gerade zur Antwort herangezogen wird, beteiligt sei, findet man in Laienkreisen recht häufig. In der deutschen Volksschule ist es dagegen ja Grundsatz, den ganzen Unterricht so zu führen, daß jedes Kind nach Maßgabe seiner Kräfte fortgesetzt an dem Unterrichte sich beteiligen kann, und daß es dazu durch die ganze

Gestaltung des Unterrichts und mit den Mitteln der Unterrichts­ kunst gezwungen wird. Auf meine Frage an österreichische Berufs­ genossen erhielt ich oft die Antwort: Ja, das könne man Wohl in Deutschland, in Österreich sei das nicht möglich, man müsse während des ganzen Jahres Aufzeichnungen über die Leistungen jedes Schülers machen, damit man ant Schluß des Halbjahres ein zutreffendes Zeugnis in jedem Fache ausstellen könne. Die Antwort befriedigte mich selbstverständlich nicht, denn einmal habe ich die Wichtigkeit der Halbjahrszeugnisse niemals ganz ein­ gesehen, und andererseits glaube ich nicht, daß ein gerechtes Zeug­

nis sich auf die Einzelleistungen stützen darf. Wer unsicher ist in der Beurteilung seiner Schüler, tut wohl besser, am Schlüsse des Halbjahres vor Niederschrift der Zeugnisse eine Hauptprüfung

bzw. eine große, die Halbjahresarbeit in sich schließende noch­

malige Durcharbeitung des Lehrstoffes vorzunehmen; was der einzelne Schüler dabei gedächtnismäßig, verstandesmäßig oder schaffensmäßig leistet, das muß wohl den Maßstab für die Be­ urteilung am Ende des Halbjahres abgeben.

Recht fesselnd waren die ungemein zahlreichen Abendver­ sammlungen der Lehrervereine. Es wogte und brandete damals bedenklich in Wien. Die Wiener Lehrerschaft stand unter der Führung von Sonntag, Seitz und Täubler, des jüngeren Kat­

schinka und anderer „Jungen", die parteimäßig nicht alle den­

selben Weg gingen, aber zum großen Teil der Sozialdemokratie angehörten oder zuneigten. Sie machten den Versuch, das zer-

splitterte Vereinswesen der Donaustadt im Zentrallehrerverein zusammenzufassen. Die alten Führer: Jordan, Jessen und Kat­ schinka standen diesen Bemühungen kühl oder ablehnend gegen­ über. Ihnen war vieles in den Forderungen der Jungen unbe­ quem und mußte es sein. Ich als Unbeteiligter habe mich über die Frische, Lebendigkeit und Sicherheit der Redenden und Be­ schließenden gefreut. Gleichzeitig fand in Wien eine Versamm­ lung der Deutsch-Österreichischen Bildungsvereine statt, die den Zweck hatte, das zersplitterte Bildungsvereinswcsen der deutsch­ österreichischen Staaten zusammenzufassen. Die Professoren Jodl, Reyer und jüngere Gelehrte wie Dr. Reich, Ludo Hartmann, Himmelbauer, Hainisch und viele andere standen mitten in der Bewegung. Die Volksvorlcsungcn der Wiener Hochschulen hatten sich in prächtiger Weise entwickelt, das Wiener Vortrags- und Büchereiwesen war den Einrichtungen in den deutschen Groß­ städten weit voraus, namentlich fiel der Rückstand Berlins dem­ gegenüber außerordentlich scharf ins Auge. Die teilweise auf bedeutender Höhe stehenden Volksvorlcsungen wurden auch aus Arbeiterkreisen stark- besucht, und was man anderswo erfolglos angestrebt hat, fand dabei vielfach statt, daß nämlich die Zuhörer die Vortragenden nach dem Vortrage über einzelne Dinge öffent­ lich befragten; die daran anknüpfenden Ausführungen waren öfter wertvoller als der ganze Vortrag. Von Wien ging ich nach Prag und besuchte hier besonders die deutschen Schulen in Smichow und Karolinental, zu deren Leitern ich seit längerer Zeit freundschaftliche Beziehungen hatte. Die Schulen waren durch Stiftungen außerordentlich gut mit Lehrmitteln ausgestattet, und zum Teil wurden die Lehrmittel in einer Weise benutzt, die mir aus deutschen Schulen ganz fremd war. In einer Schule war der lange, helle Flur so angelegt, daß man von ihm durch Glaswände in eine Zimmerreihe, in der die Lehrmittel aufbewahrt wurden, schauen konnte, und nun wurden in jeder Woche vor dieser Glaswand diejenigen Lehrmittel aufgestellt, die während der Woche in den einzelnen Klassen gebraucht werden sollten. Geistig rege Kinder sah ich vor dem Unterrichte und in

den Pausen immer in Gruppen vor den Lehrmitteln stehen, sie lernten dabei offenbar mehr, als oft im Unterrichte selbst und kamen gut vorbereitet in die Unterrichtsstunden, überhaupt erhielt ich von dem deutschen Schulwesen in Prag die angenehm­ sten Eindrücke. In den Tagen während meiner Anwesenheit in Prag fanden — wie so oft — deutschfeindliche Aufzüge und Zusammen­ rottungen statt. Mir war so etwas noch niemals begegnet. Ein freundlicher und nicht gerade ängstlicher Führer gab mir auch Gelegenheit, die Zusammenrottungen auf dem Wenzelsplatz, die durch das Eingreifen der Polizei dann zerstreut wurden, zu beob­ achten. Er mußte mir allerdings sagen, wenn es ernst würde, würde er zu meinem Vorteil sich von mir lösen und mich meinem Schicksal überlassen, denn er sei bei den Tschechen nicht gut angeschricben, einem Deutschen aber, der aus dem Reiche komme und an seiner Sprache unschwer als Nichtösterreicher erkannt werde — und das war bei mir zweifellos der Fall — würde man kaum etwas zuleide tun. Der „Blaue Stern", den wir aufsuchen wollten, war so belagert, daß wir nicht hinein konnten. Im übrigen hat man mir in Prag tatsächlich nichts zuleide getan. Den Straßenbahnschaffnern war verboten, in deutscher Sprache Auskünfte zu geben. Ein Zehnhellerstück verleitete sie aber jedes­ mal zur Übertretung des Verbots, und ich machte mir schließlich sogar ein Vergnügen daraus, in den rein tschechischen Stadt­ vierteln auf der Straße die Leute anzusprechen und um Auskunft zu ersuchen. Manchmal stutzte der Betreffende, aber ich erhielt die erbetene Auskunft immer. Ebenso verfuhr ich bei der Fahrt nach Zwittau in Mähren, bei der ich in einem Sonntag-NachmittagsPersonenzug mitten durch tschechisches Gebiet kam. Die Leute, die sich nur tschechisch unterhielten, verstanden zum großen Teile deutsch und beantworteten meine Fragen immer freundlich und höflich. In Zwittau lernte ich die prächtige Ottendorferschc Bücherei kennen. Das schmucke Gebäude, in dem auch ein schön ausgestatteter Vortragssaal sich befindet, und die musterhafte Verwaltung der Bücherei haben mir große Freude gemacht.

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In den Gasthäusern von Zwittau, Brünn und Prag lernte ich die verhältnismäßig hohe, um nicht zu sagen etwas über­

triebene Lebensführung der mittleren deutschen Bürgerkreise kennen, der gegenüber sich die Lebensführung in den entsprechen­

den norddeutschen Kreisen damals etwas ärmlich ausnahm. Auch im übrigen sah und hörte ich manches, was einen erheblichen Unterschied zwischen Österreich und Norddeutschland erkennen

ließ. Anfragen wegen Abgang der Züge, Anschluß auf den Knotenpunkten bei den Zugführern und Schaffnern, ja auch bei den Fahrdienstleitern der größeren Bahnhöfe, waren in der Regel zwecklos. Man konnte keine Auskunft geben, während damals die preußischen Eisenbahnschaffncr in den Schnellzügen totsichcr über alles das Bescheid wußten. Mir erschien das als Schlam­ perei. Insbesondere störte mich auch die lässige Haltung der

Eisenbahnbeamten und der Beamten überhaupt, besonders auch das unvermeidliche Zigaretten-, Zigarren- und Pfeiferauchen im Dienste. In Böhmen trat der Gegensatz zwischen Tschechen und Deutschen auch im Eisenbahnverkehr hervor. Die tschechischen Schaffner auf der Strecke Gmünd—Prag waren zu Auskünften kaum zu bewegen, und unter den Reisegenossen traf man manche schwankende Gestalt. Ein jüdischer Mitreisender zum Beispiel, dessen Muttersprache zweifellos deutsch war, der mich mit seiner Unterhaltung während der ganzen Fahrt von Gmünd bis Prag

beschwerte, versäumte es kaum einmal auf den Haltestellen, erkennbar absichtlich, aus dem Fenster hinaus Schaffner und sonstiges Personal auf dem Bahnsteig tschechisch anzureden. Mir selbst spielte er — ob absichtlich oder unabsichtlich, lasse ich dahin­

gestellt sein — noch einen bösen Streich. Mir war das Gasthaus „Altes Ungeld" empfohlen, ein Gasthaus von -altem Rufe, das vielleicht in der letzten Zeit etwas zurückgegangen war. Der Mit­ reisende erklärte mir, ich könne da unter keinen Umständen

wohnen, es sei eine „Fuhrmannskneipe" und empfahl mir das unmittelbar am Bahnhof gelegene Monopolhotel. Ich Ahnungs­ loser ging auf den Vorschlag ein, aber kaum hatte ich das Haus betreten, als ich sah, daß ich in ein rein tschechisches Gasthaus

geraten sei. Ich wurde denn auch vom Herrn Oberkellner und dem Zimmermädchen entsprechend behandelt. Bei der vorge­ schrittenen Zeit machte ich aber gute Miene zum bösen Spiel, und mein Plan war im Augenblick gefaßt. Ich ging in das Gast­ zimmer, ließ mir eine Kleinigkeit für 1,25 Kronen geben und zahlte mit 2 Kronen, ohne von dem auch nicht allzu dienstfertigen Kellner etwas zurückzunehmen. Der Kellner hatte offenbar diese glänzende Aussicht, reichliche Trinkgelder einzunehmen, schnell verbreitet. Als ich am Abend wieder in das Gasthaus kam, wurde ich ungemein höflich behandelt. Indessen, Strafe muß sein. Am nächsten Morgen zahlte ich meine Rechnung ohne einen Pfennig Draufgeld mit der kurzen Bemerkung, das übrige wäre für den höflichen Empfang. Das Gesicht des Herrn Ober wurde bedenk­ lich lang. Ich hatte aber meine Sachen bereits fortgeschickt und ging meines Weges. Ähnlich habe ich Taktlosigkeiten der Ange­ stellten in Gasthäusern auch an andern Stellen entgolten und glaube, dieses Verfahren auch andern empfehlen zu können. Für das Gute das Gute, für das Schlechte — das Schlechte. Wenn man's auch sonst im Leben nicht so halten soll, in diesem Falle ist es wohl eine zweckmäßige Lebensregel. Das Jahr 1900 gab mir Gelegenheit zum Besuch der Welt­ ausstellung in Paris. Ich habe die Wochen über, die ich da zugebracht habe, unter den erhebendsten Eindrücken gestanden. Einmal war die Weltausstellung etwas so Gewaltiges, daß man ja nur mit einem kleinen Teile fertigwerden konnte. Anderer­ seits war natürlich Paris mir eine neue Welt, und schließlich fand sich damals so vieles hier zusammen, daß man kaum irgendwo sich bewegen konnte, ohne auf Bekannte zu stoßen. Der erste Eindruck von Paris war ein sehr ungünstiger. Ich landete am Morgen früh 8 Uhr auf dem Nordbahnhof und fuhr von hier nach dem Stadtteil Menilmontant nördlich vom Pore Lachaise, wo ich bei dem Schuldirektor Serout Wohnung bestellt hatte. Die Fahrt dorthin führte durch mehrere von Arbeitern und Kleinbürgern bewohnte Stadtteile, und es war die Stunde, in der die Pariserinnen ihre Einkäufe in Gemüse-

Handlungen, Fleischerläden usw. zu machen Pflegen. Die Weib­ lichkeit, die ich dabei zu sehen bekam, war im ganzen nichts weniger als anziehend, ja, ich habe eine derartige Nachlässigkeit in der Kleidung, im Haar usw. in keiner deutschen Groß- oder Kleinstadt jemals gesehen. Ähnliches bot sich mir auch später oft dar. So zum Beispiel war es in den nördlichen und östlichen Stadtteilen eine alltägliche Erscheinung, daß junge Arbeiterinnen, so wie sie von der Arbeit aufgestandcn waren, mit einem weißen Kittel, wie unsere Malergehilfen ihn bei der Arbeit tragen, und ohne Kopfbedeckung durch die Straße liefen, um ihr Mittagessen einzunchmcn. In Berlin sah man auch in den reinen Arbeiter­ vierteln damals so etwas nicht mehr; auch die einfachsten Ar­ beiterinnen erschienen wenigstens sauber angezogen, zumeist auch mit Hüten. Allerdings kleidet ja die Pariserin ihr üppiges Haar besser als jeder Hut. Aber auch in allem andern fiel dem Beob­ achter ohne weiteres auf, daß die Arbeiterbcvölkerung von Paris in ihrer ganzen Lebenshaltung und ihren Lcbensansprüchcn damals unter der von Berlin stand. Es entwickelte sich hierüber zwischen mir und dem Vertreter einer großen deutschen Zeitung in Paris ein Briefwechsel. Ich erhielt daraus den Eindruck, daß auch dieser sonst gute Kenner der französischen Hauptstadt doch die Boulevards ohne weiteres für Paris nahm und die arbeitende Bevölkerung nicht genügend berücksichtigte. Auch andere Beurteiler von Paris und der Pariser Bevölkerung sind häufig von den Boulevards wenig oder gar nicht herunter­ gekommen, und dort haben viele, ohne es zu wissen, in der Regel mehr Fremde als Franzosen und Französinnen gesehen. Nur daraus kann ich es mir erklären, daß man immer wieder gan; allgemein von der „Eleganz" der Pariserinnen, und der Fran­ zösinnen bei uns spricht. Tatsächlich habe ich in der Arbeiter­ und kleinbürgerlichen Bevölkerung eine Einfachheit, Wirtschaftlich­ keit und Sparsamkeit auch in der Kleidung gefunden, die man bei uns damals nicht finden konnte. Das Bild der Sonntags­ ausflügler in Berlin und in London war im ganzen sehr ähnlich. Die Mädchen und Frauen in hellen, sauber gewaschenen Blusen

und die Kleider, wenn nicht weiß, so doch soviel wie möglich farbig. Dagegen bevorzugt die Pariser und die französische Be­ völkerung überhaupt im ganzen das eintönige Schwarz, wes­ wegen Ausflüglcrgruppen am Hellen Sommernachmittag gerade­ zu wie Traucrversammlungen wirken. Wer an so einem Tage im Bois de Boulogne sich aufgehalten hat, dem kann dieser große Unterschied zwischen deutscher und französischer Kleidung nicht entgangen sein. Und ebenso die Kleidung der Schulkinder. Die französischen Jungen in der schwarzen Schürze auf der Schul­ bank machen auf jeden deutschen Besucher einen wenig an­ ziehenden Eindruck. Auch sonst vernachlässigt ja der Franzose das Schöne ganz auffällig, so z. B. darin, daß er seine Dörfer und Gehöfte nicht mit Baumschmuck umgibt, so daß sie kahl, gewissermaßen nackt in der Landschaft stehen, was Bismarck (Gedanken und Erinnerungen Bd. 3, S. 118) als für Slawen und Kelten kennzeichnend hervorhebt. Die Verständigung mit der Bevölkerung war für mich zu­ nächst recht schwierig. Mit seinem Schulfranzösisch — auch wenn man recht gut liest — kommt man schon deswegen nicht aus, weil die Aussprache — auch in Paris — recht verschieden ist. Namentlich erschwert die starke Abkürzung, die Auslassung von Endlauten und die Färbung der Selbstlaute die Aufnahme der französischen Volkssprache durch das Ohr ungemein. Auch mit der sprachlich sehr gewandten Frau Schuldirektorin bei Ankunft in meiner Wohnung mich zu verständigen, machte große Schwie­ rigkeiten. Der Hausherr war amtlich abwesend, und so mußten wir beide schon unser Glück versuchen. Es gelang nicht sonderlich. Immerhin, ein vortrefflich hergerichtetes Frühstück führte mich in das Haus freundlich ein, und mit dem Hausherrn verständigte ich mich, trotzdem ich ihn anfangs auch nicht gut verstand, bald vorzüglich. Beim Besuch von Versammlungen und Schulen, im Unterrichte usw. bin ich mit meinen Sprachkenntnissen überall gut ausgekommen. Ich habe insbesondere bei Lehrern, die lang­ sam und deutlich sprachen, dem Unterrichte lückenlos folgen können. Ich habe mir selbst daraus die Lehre gezogen, daß man

Ausländern gegenüber immer langsam und deutlich sprechen soll, und ich habe die Freude gehabt, daß meine deutschen Ansprachen auch in Versammlungen, in denen viele überhaupt nicht und andere nur mangelhaft Deutsch verstanden, im ganzen richtig auf­ gefaßt wurden. So wurde z. B. meine Begrüßung 1910 in Stock­ holm bei der Feier des dreißigjährigen Bestehens des Schwe­ dischen Lehrervereins fortwährend mit den lebhaftesten Beifalls­ kundgebungen begleitet, so daß ich wußte, daß die Versammlung mir auch in den Einzelheiten folgen konnte. Die planmäßige Wiederholung der Rede in der Landessprache konnte unterbleiben, während z. B. der nach mir sprechende Engländer so mangelhaft verstanden wurde, daß man seine Rede erst aus der Übersetzung kennen lernte. Wenn nun auch in der schwedischen Lehrerschaft die deutsche Sprache mehr verbreitet ist als die englische, so erklärte sich die Sache doch im wesentlichen aus der nachlässigen Art, in der der Engländer sprach. Sehr beifällig ausgenommen wurde auch meine Rede bei der bald darauf (1910) gelegentlich der Welt­ ausstellung in Brüssel stattfindenden Jubelfeier des Belgischen Lehrervereins, bei der ich wiederum den Deutschen Lehrerverein vertrat. In meiner Ansprache hob ich zwei Vorzüge des deutschen Volksschulwesens scharf hervor: die restlose Durchführung der Schulpflicht und die geordnete, wenn auch bescheidene Besoldung der deutschen Lehrerschaft. Auch diese Rede wurde in einem Maße verstanden, daß die anwesenden Vertreter der belgischen Re­ gierung von meinem Erfolg recht peinlich berührt waren. Es mußte natürlich auch die Eitelkeit der Herren etwas stark kränken, daß ich u. a. feststcllte, der letzte preußische Landlehrer habe ein Endgehalt von 4200 Franken, und dieses Endgehalt steige in den Großstädten erheblich höher, in München auf 7000 Fr., während belgische Lehrer in der Mitte der 40er Jahre noch mit 1600 Fr. besoldet waren. Die jubelnde Zustimmung der belgischen Berufs­ genossen erfeute mich mehr, als mich die kühle Verabschiedung der Regierungsvertreter, die mich bei Eröffnung der Versammlung sehr freundlich behandelt hatten, kränken konnte. Ich kehre zurück zu meinem Aufenthalt in Paris 1900. Im

Hause Serouts, der mir im Laufe der Zeit ein lieber Freund geworden ist, und auch in den ersten Monaten des Krieges zu­ gunsten eines gefangenen Verwandten noch mit mir brieflich in Verkehr trat, gewann ich auch Einblicke in die damalige wirt­ schaftliche Lage der französischen Berufsgenossen. Die Pariser Besoldung war wesentlich niedriger, als die Berliner, und ebenso stand die Besoldung der französischen Lehrerschaft insgesamt hinter der deutschen erheblich zurück. Aber im Rahmen des Volks­ lebens mochte sich beides etwa entsprechen, denn das französische Kleinbürgertum lebt im ganzen überaus einfach, wie ja über­ haupt die französische Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit auch beim Besuch von Gasthäusern, Kaffees usw. sehr stark ins Auge fiel. Im öffentlichen Leben herrschte demgegenüber offenbar eine starke Verschwendung, eine Vielheit von allerdings nicht hoch bezahlten Personen in allen Verwaltungen, die wir in Deutsch­ land damals nicht kannten, die uns erst der Krieg und die Staats­ umwälzung auch gebracht haben: in der Schule ein Concierge, auch in einem Schulhause mit 200 bis 300 Kindern und ver­ schiedene Hilfskräfte, der Direktor ohne Beteiligung am Unter­ richte, lediglich Verwaltungsbeamter, und dasselbe in allen Staats- und städtischen Betrieben. Das mag wohl so zum Wesen der Republik gehören. Neu war mir die Mittagsspeisung der Kinder im Schulhause. Nun wenige, unter einer Schülerzahl von 300 etwa 50, liefen in der Mittagspause nach Hause, um dort ihr Mittagessen einzunehmen. Die Pariser Arbeiterfamilie war nach meinen Beobachtungen damals viel mehr erwerbs­ mäßig aufgelöst als die Berliner. Der Berliner Arbeiter, der sich in geordneten Verhältnissen befand, hielt damals darauf, daß die Frau im. Hause blieb, während ein sehr großer Teil der Pariser Arbeiterfrauen offenbar, ebenso wie der Mann, außer­ halb des Hauses arbeitete. Um die Mittagszeit trafen sich die Paare in den Stadtteilen am Pare Lachaise zu Hunderten vor den kleinen Estaminets, um dort ihren Salat oder sonst ein kleines Gericht zu sich zu nehmen, das allerdings durch das präch-

tige Weißbrot verbessert wurde, und ihre Flasche Rotwein, der in dieser Güte, wenn ich mich recht erinnere, % Liter 35 Centimes kostete (etwa ebensoviel kostete unser gutes deutsches Bier). Dann

eilte der eine hierhin, der andere dorthin, der Arbeitsstätte wieder zu.

Daß dann die Kindererziehung

nur mit Zuhilfenahme

der Krippen, Kinderbewahranstalten, Kindergärten, Kleinkinder­ schulen und der Mittagsspeisungen in den Volksschulen möglich ist, versteht sich von selbst. Aber unbegreiflich ist es mir immer gewesen, wenn deutsche Besucher von Paris und Pariser Schulen diese Einrichtungen als „vorgeschrittene" bezeichneten und uns zur Nachahmung empfahlen. Ich habe demgegenüber immer den Standpunkt vertreten: Zum Teufel mit der ganzen Wirtschaft,

wenn der Mann, der etwas Ordentliches gelernt hat und seine Arbeit ehrlich und fleißig verrichtet, nicht so viel erwirbt, daß er ein bescheidenes Hauswesen mit einigen Kindern unterhalten kann. Eine Unterstützung durch Zahlung von Kinderbeihilfen an die Familie selbst ist mir immer als weitaus besser erschienen,

als daß man Frau und Kinder aus dem Hause treibt, die erstere auf den Arbeitsmarkt wirft, letztere in die Kinderkasernen von

der Krippe bis zur Schule mit Speiseanstalten. Als Ausnahmeund Notanstalten haben diese Einrichtungen natürlich ihren vollen Wert. Gehen sie aber darüber hinaus, so zerstören sie das Familienleben und schaden mehr, als sie nützen. Das Leben in Paris war durch äußere Unannehmlichkeiten nach keiner Richtung hin getrübt. Irgendwelche Abneigung gegen

uns Deutsche habe ich an keiner Stelle bemerkt, im Gegenteil, das Bild von „Guillaume II" war in der Regel stark umlagert, und auf dem damals viel ausgestellten Gruppenbilde der europäischen

Machthaber in einer Droschke wurde „Guillaume U" immer ganz besonders häufig gezeigt. Ich habe die Unbefangenheit der

französischen Bevölkerung in mancher Richtung bewundern müssen. Als einige taktlose Leute im Garten des Deutschen Hauses in der Ausstellung es für richtig hielten, „Die Wacht

am Rhein" zu singen, um nicht zu sagen — zu brüllen — standen Hunderte von Franzosen am Gitter und hörten lächelnd und

scherzend zu. Mag vieles in der Haltung der Bevölkerung auf den stark ausgebildeten Geschäftssinn zurückzuführen sein, so konnte man daneben doch auch manche angenehme Liebenswürdigkeit beobachten. Von den Einrichtungen, die mich besonders beschäftigten, habe ich leider nicht viel Hervorragendes sehen können. Die Schulen und der Schulunterricht konnten mir — an den deutschen Verhältnissen gemessen — nicht besondere Bewunderung ab­ nötigen. Der Unterricht war in bezug auf das Unterrichts­ verfahren vielfach recht mangelhaft; insbesondere fiel mir die besondere Redseligkeit der französischen Lehrer und Lehrerinnen auf, die Zwanglosigkeit in der Haltung der Kinder, die so ganz andere Behandlung auch der jüngsten Jugend — der kleine sechs­ jährige „Monsieur" berührte mich immerhin etwas komisch und wenig angenehm, insbesondere die vielen kleinen quälerischen Strafen, die in den französischen Schulen zu Hause sind, als Ersatz für die gänzlich beseitigte körperliche Züchtigung. Ich hätte es schwer über mein Herz bringen können, so einen kleinen Sünder während der Pause in die Ecke zu stellen oder von allen Annehmlichkeiten des Schultages auszuschließen. Ich glaube, ein milder Katzenkopf würde öfter erzieherischer gewirkt und das kindliche Gefühlsleben weniger getroffen haben als diese Strafen, und die Seitenstücke dazu, die unendlich vielen kleinen Beloh­ nungen für Leistungen und Verhalten, die mir nicht einmal immer belohnens- und lobenswert erscheinen wollten. Gute Leistungen sah ich vielfach im Zeichnen und Schreiben. Die mit Zeichnungen versehenen Niederschriften in den gewöhnlichen Elementarschulen (Ecoles ölämentaires), insbesondere aber auch in den Mittelschulen (Ecoles elementares superieures), waren teilweise geradezu hervorragend. Es lag nach meiner Beobach­ tung wesentlich daran, daß viele Lehrer,' der Schwäche des münd­ lichen Unterrichts sich bewußt, die Kinder soviel wie möglich schriftlich zu beschäftigen suchten. Die Schulzucht ist dabei ja wesentlich leichter als beim mündlichen Unterrichte. Nichts Besonderes habe ich auch von den Veranstaltungen für die freie

Volksbildung gesehen.

Die Cooperation des Idees, von der in

deutschen Blättern damals soviel die Rede war, suchte ich natür­ lich zuerst auf. Ich fand in den Räumlichkeiten aber nichts

weiter — es war an einem Sonntagvormittag — als einen geigenden Jüngling. Das war die ganze „Cooperation“. Zu anderen Zeiten war dort allerdings mehr zu sehen und zu hören,

viel aber auch dann nicht. Die Pariser Volksbüchereien waren durchweg dürftig und in schlechtem Zustande, ein getreues Seiten­ stück zu den damaligen Berliner Volksleseanstalten. Immerhin

hatte ja seit etwa 1895 ein erheblicher Aufschwung des Volks­ büchereiwesens in den deutschen Staaten eingesetzt. Davon War­ in Paris noch nichts zu spüren.

In der Ausstellung selbst vermochte jemand aus meinem Lebens- und Wirkungsgebiete natürlich nicht alles zu beurteilen und auszunutzcn. Ich freute mich von Herzen über die beschränkte, aber prächtig geordnete deutsche Ausstellung, der gegenüber z. B. die englische und die belgische wie ein ungeheurer, stark über­

ladener Jahrmarkt erschienen. Von den zahlreichen Empfängen und „Bankette"habe ich mich möglichst gedrückt.

Mit großer Dankbarkeit schied ich von dem gastlichen Hause Serouts. Ich hatte während der Zeit eine rührende Fürsorge genossen und erfuhr beim Abschiede, bei Begleichung der Rech­ nung, daß das alles mit einer Uneigennützigkeit geleistet worden war, die ich wirklich nicht erwartet hatte. Ich zahlte, wenn ich

mich recht erinnere, für vierwöchentlichen Aufenthalt: Wohnung,

Kaffee, Bedienung, mehrfache Hinzuziehung zum Mittagstisch

usw. usw. sage und schreibe 63 Fr. Und als ich 1912 mit Frau und Kind wieder in Paris, diesmal auf dem Ostbahnhof, landete, da stand mein lieber Herr Serout an dem Wagenabteil, und da

er mich in seiner Häuslichkeit nicht beherbergen konnte, hatte er uns bei einem Verwandten, der ein gutes Fremdenheim besaß,

bestens untergebracht.

Wir wohnten und lebten dort billig

und gut und brachten schöne Stunden bei den alten Freunden, zu denen sich neue gesellt hatten, zu. Ich bin — insbesondere

auch nach meinen Erfahrungen in London und in der Schweiz —

zu der Überzeugung gekommen, daß der starke Fremdenverkehr in Paris, London und der Schweiz nicht nur darauf beruht, daß

der Fremde hier etwas sehen und genießen kann, was er sonst nirgends findet, sondern vor allem auch darauf, daß man hier

billig lebt und in allem und jedem besser versorgt wird, als irgendwo, insbesondere auch besser als im eigenen Vaterlande. Es ist ja oft genug beklagt worden, daß z. B. die herrlichen deutschen Mittelgebirge (der Harz!!) durch die plumpe Habgier der Gastwirte fast unzugänglich gemacht werden. Schon damals,

als man in der Schweiz für Franken ausreichend und für 4—5 Franken ausgezeichnet wohnen und leben konnte, mußte

man im Harz und stellenweise auch in Thüringen das Doppelte und Dreifache aufwenden. Und in London und Paris waren die Preise immer erheblich niedriger als in Berlin. Ich habe mit meiner Familie in einem ausgezeichneten Hause in London W für 35 Schilling gelebt, mit allen Bequemlichkeiten: Zimmer, Bett, Bad, Benutzung der Gesellschaftsräume, des Gartens usw. und dazu tadellose, über unsere Ansprüche hinaus­ gehende Verpflegung. Und das war noch verhältnismäßig viel.

Ein Münchener Staatsanwalt, der eine Treppe höher wohnte, zahlte nur 28 Schilling wöchentlich. Die billigen Fremdenheime in Berlin, die es ja auch in großer Zahl gab, boten zur selben Zeit für dasselbe Geld auch nicht annähernd dasselbe. Geschäfte im großen macht man eben nur, wenn man sich mit mäßigem Gewinn begnügt und das Beste zu leisten bemüht ist. Das war

wenigstens vor dem Kriege so; ob es für die neue Zeit auch noch

Geltung behalten wird, lasse ich dahingestellt sein. Für die Unterhaltung der Fremden war während der Welt­

ausstellung in Paris reichlich gesorgt. Ich habe davon nicht viel

mitgenommen. Das Leben und Treiben in Alt-Paris auf der Ausstellung genügte für meine Bedürfnisse. Daß ich das Pariser Leben auch nach den Seiten, die so manchen Fremden besonders

beschäftigen, ausgekostet hätte, kann ich also nicht sagen. Von Freunden, die mehr als ich der Lebewelt angehörten, bin ich natürlich auch in die Vergnügungsstätten, die besonders oft

genannt werden, geführt worden. Mein Wohlgefallen an dem, was ich hörte und sah, war aber so mäßig, daß ich mich diesen nächtlichen Entdeckungsreisen nicht weiter angeschlossen habe. Reizvoll waren die Ausflüge in die Umgebung von Paris: nach Sevres, Versailles usw. Ich bin in allen diesen Ortschaften und in den Anlagen von Versailles gern umhergelaufen, fand allerdings für meine Wanderlust nicht immer genügende Beteili­ gung. So habe ich meinen lieben Freund Ernst in Versailles z. B. weidlich gequält, als ich ihn veranlaßte, mit mir die pracht­ vollen Anlagen ganz abzuwandern. Übel schien man es mir im Hause meines freundlichen Wirtes zu nehmen, daß ich zu den Heeres-Schaustellungen in Vincennes nicht mit hinausfahren wollte. Wir hatten durch einen griechischen Attache, der im Hause wohnte, zu allen diesen Schaustellungen Zutritt. Ich lehnte aber die Beteiligung mit der harmlosen Bemerkung ab, „Soldaten hätten wir in Berlin genug", ohne zu bedenken, daß diese Äußerung doch auch ganz anders gedeutet werden könnte, als sie gemeint war. Ich habe mir den Doppelsinn erst später vergegenwärtigt und durch einige andere Erfahrungen auch für später gemerkt, daß man mit Äuße­ rungen, die politisch aufgefaßt werden können, im Auslande sehr vorsichtig sein muß. Die liebenswürdige Hausfrau z. B. schien meine etwas abfälligen Bemerkungen über die katholische Geist­ lichkeit und ihre Stellung zur Volksbildung nicht gerade ange­ nehm zu empfinden. Der Gatte machte mich gelegentlich darauf aufmerksam, daß „Madame" über die Kirche anders denke als wir beide, und ich habe sie dann mit ähnlichen Äußerungen nicht

mehr gekränkt. In den Kunstschätzen des Louvre habe ich natürlich tagelang geschwelgt und insbesondere in den Stunden, in denen sich der Schwarm verlaufen hatte, vor manchem Bilde in stiller Ver­ sunkenheit gesessen. Die städtischen Einrichtungen von Paris konnten mir als Berliner keinerlei Bewunderung abnötigen, im Gegenteil, ich empfand die heimische Überlegenheit überall. Das kam mir noch

besonders zum Bewußtsein, als ich einige französische Provinzial­ städte kennenlernte und dann auf der Rückreise in Aachen, Köln und Düsseldorf Haltmachte, durch die neuen Stadtteile schritt und die lebendige Entwicklung der deutschen Volkswirtschaft und des deutschen Städtewesens dabei vor Augen hatte. Demgegenüber machte das alles in Frankreich den Eindruck des Stillstandes und des Rückganges. In Aachen schneite ich mitten in die Kirnieß hinein. Glücklicherweise hatte ich mir ein Gasthauszimmer ge­ sichert. Nie habe ich einen Abend unter fremden Menschen so froh gefeiert wie diesen. In der ersten besten Kirmeßgesellschaft, in die ich hineingeriet, wurde ich, trotzdem mich niemand kannte, ohne weiteres als Zugehöriger ausgenommen. Es wurde ge­ sungen, getrunken, gejubelt, und'die Straße war bis tief in die Nacht mit einem lustigen, aber harmlosen Schwarm gefüllt. Das war echte und rechte rheinische Fröhlichkeit, aber für mich auch ein Bild des lebenden jugendlichen deutschen Volkes. Und dann in den Tagesstunden die Wanderungen durch die sauberen Straßen, die neuen Anlagen. Und als ich schließlich vor dem Kölner Dom in seiner stolzen Pracht stand, wie er zum Himmel aufsteigt, und daneben die großen Denkmäler der französischen Baukunst, die Notredame, die Kathedralen von Reims, Laon nnd Brüssel mit ihrer Schwere mir vergegenwärtigte, da kam mir doch zum Bewußtsein, daß wir — wenigstens damals — das wachsende, werdende Volk waren, dem jeder, der es unbefangen beobachtete, eine große, schöne Zukunft prophezeien konnte. Im Jahre 1912 gingen wir von Paris über Calais nach England. Die Fahrt durch Nordfrankreich lehrte mich ein mir bisher unbekanntes Gebiet kennen, das zwar landschaftlich keine besonderen Reize aufweist, aber durch seinen starken Anbau — vorwiegend Gärten und Wiesen — auf mich als Abkömmling der Landwirtschaft einen großen Eindruck machte. Wer zuiy ersten Male nach England kommt, spürt in jeder Beziehung, daß er eine neue Welt betreten hat. Die Landschaft, die Menschen, die Häuser, das Leben, alles ist anders. Der Acker­ bau tritt zurück, dafür überwiegen Weiden und Wiesen und Parks.

Die feuchte, milde Witterung ruft einen in Deutschland fast un­ bekannten üppigen Graswuchs hervor, die Grundlage einer aus­ gezeichneten Viehzucht, und das ganze Land wird dadurch in ein fest geschlossenes grünes Kleid gehüllt. Und wenn man dann zum ersten Male auf der hochgelegenen Eisenbahn über London hin­ wegrollt und auf die Millionen von kleinen Schornsteinen auf den niedrigen Häusern hinabschaut, dann hat man den ganzen Gegensatz zwischen einer deutschen und einer englischen Großstadt vor Augen. Der Engländer wohnt ja, soweit er es irgend ver­ mag^ im eigenen Hause ohne Mitbewohner. Eine Annäherung an diese Bauweise ist in Deutschland nur in Bremen zu finden. Ein gutes Fremdenheim hatten wir uns durch Professor Sicpcr in München gesichert. Wir wurden dort wie alte Bekannte ausgenommen und fühlten uns bald heimisch. Uber den Preis des Lebensunterhalts ist schon oben etwas gesagt. So manches heimelte mich von vornherein stark an. Als ich beim ersten Früh­ stück den Porridgetopf auf einem Seitentisch fand, da war der erste Gedanke an das Vaterhaus, wo in den letzten 60er und ersten 70er Jahren der unheilvolle Schlurch (Kaffee) die kräftige Morgensuppe vertrieben hatte. Bei Tisch wurde, als wir ein­ traten, nur englisch gesprochen. Da meine Frau und ich die eng­ lische Sprache nicht beherrschten, fürchteten wir, ziemlich ver­ einsamt zu bleiben. Indessen, schneller als wir dachten, war die Verbindung mit mehr als der Hälfte der Hausgenossen, Deutschen, Holländern und Engländern, hergestellt. Der Wirtin, die in Deutschland gelebt hatte und die sonst nie ein Wort deutsch sprach, erklärte ich rund heraus, ich verstände nicht englisch, wenn sie mit mir sprechen wolle, müßte das schon deutsch geschehen, und es ging ganz gut. Durch eine sehr liebenswürdige ältere Englän­ derin, die deutsch sprach, sich mit meiner Tochter aber vorwiegend englisch unterhielt, kamen wir mit der Tischgesellschaft bald in Unterhaltung, und nach wenigen Tagen sprach unsere Hälfte des Tisches fast ausschließlich deutsch. Nur ein Königsberger Pro­ fessor, der mich — beim Abschiede recht freundlich begrüßte und sich entschuldigte, er habe nicht deutsch gesprochen, weil er zur

Erlernung der englischen Sprache dort sei, hielt sich zurück. Ich habe im Verkehr mit Engländern immer gefunden, daß sie ein ruhiges Selbstbewußtsein gern gelten lassen. Man wird dadurch ihresgleichen. So habe ich es besonders auf unseren Fahrten zur See gehalten. Wir sind dabei immer gut ausgekommen. Der Engländer betrachtet sich ohne weiteres als den Herrn der Welt. Sieht er, daß andere in ihrer Art die Dinge ähnlich ansehcn, so findet er sich damit ab. Was ich vom Deutschtum in London gesehen habe, konnte mir keine große Hochachtung abnötigen, weder die deutsche Kirche noch die ihr angegliederte deutsche Schule. Auch deutsche Bank­ zweigstellen waren teilweise recht dürftig untergebracht und nahmen sich den englischen Banken gegenüber ziemlich kläg­ lich aus. Wir haben die Wochen in London wacker ausgenutzt. Meine Tochter, die eine gute Fußgängerin ist, und unermüdlich im Sehen und Lernen, hat mich bei keinem Gange und bei keiner Fahrt im Stich gelassen. Meine Frau blieb oft im Heim zurück. Sie war dort besser aufgehoben als im Strudel der City und im Londoner Osten. An den Fahrten nach Greenwich, Kew, Rich­ mond, Windsor usw. dagegen nahm sie teil. Jede freie Stunde haben wir im Regent's Park und im Hyde Park zugebracht. Daß in dem letzteren ganze Schafherden weideten, war für mich so ziemlich das Gegenteil von dem, was eine Großstadt sonst bietet. Vom öffentlichen Leben Englands war zu dieser Zeit manches zu sehen. Es waren die großen Dockstreiks. Zehn­ tausende von Arbeitern waren arbeits- und brotlos, und ich habe niemals ein so schauerliches Bild gesehen als bei einer Omnibus­ fahrt durch Whitechapel, bei der auf dem breiten Bürgersteige Zehntausende von Arbeitern stumm, bewegungslos, schwarz und schmutzig dastanden. Eine Welt, von deren Dasein ich bisher nichts gewußt hatte. Unheimlich war der Anblick, und man riet mir dringend, meine Fahrten nach dem Osten einzustellen, wenigstens aber meine Tochter nicht mitzunehmen. Aber sie wollte selbstverständlich dabei sein und mich auch nicht allein

lassen. Daß diese stumme, unbetvegte Masse unter Umständen sehr gefährlich werden konnte, wurde mir erst klar, als einige Fleischwagen, die, von Schutzleuten buchstäblich umringt, aus dem Hafen heraus in die Stadt gebracht wurden. Ein anderes, mir völlig neues Bild bot sich uns an einem Sonntage: ein Aufzug von hunderttausend gewerkschaftlich organisierten Arbeitern nach dem Hyde Park, wo auf riesigen Last­ wagen Rednerbühnen hergerichtet waren und Ansprachen ge­ halten wurden. Zwei ganz verschiedene Vereinigungen, die Ar­ beiter und die Frauen, traten hier zufällig gleichzeitig auf, und diese ungeheure Menschenmenge um einige Dutzend Redner­ bühnen geschart, konnte schon einen Begriff von dem öffentlichen Leben Londons geben. Gleichzeitig lernte ich auch bei dieser Gelegenheit die Londoner Polizei von einer anderen Seite kennen, als man ihr sonst im Straßcnleben begegnet. Der Londoner Schutzmann ist immer zur Hilfe bereit, höflich, gefällig, gut unter­ richtet, aber daß er auch für andere Dinge bereitsteht, wurde mir schon klar, als ich den Arbeiterzug ankommen und Tausende von Schutzleuten in dem Zuge, und zwar cingereiht, nicht daneben, mitgehen sah. Während der Versammlung mußte irgendwo etwas Ungehöriges vorgekommen sein — wir befanden uns in diesem Augenblick etwas entfernt von dem Versammlungsplatz — aber wir hörten plötzlich ein ungeheures Geschrei, sahen ein wildes Jagen über die Rasenflächen und später an den Versamm­ lungsorten die deutlichsten Spuren eines nicht ganz friedlichen Zusammenstoßes. Der Gummiknüppel des Londoner Schutz­ manns ist jedenfalls eine nicht ganz harmlose Waffe. Soviel wie möglich habe ich natürlich das Londoner Schul­ wesen und die Londoner Jugend beobachtet. Die Arbeiterkinder waren durchweg schlechter angezogen als in Berlin, vor allen Dingen die Kleider häufiger zerrissen und schlecht ausgebessert, auch schmutzig, selbst in der Grammar School (Gymnasium). Bei einem Gang durch den Regent's Park schauten wir einem Trupp von acht Jungen, offenbar den „besseren" Ständen angehörig, beim Spiel zu, und ich glaubte feststellen zu können, daß sieben von

ihnen zerrissene Hosen anhatten. Meine Frau belehrte mich indessen, daß ich mich geirrt habe, auch die Beine des achten steckten nicht in heilen Hüllen. Ich habe es glauben müssen, denn Ähnliches

sah man überall. Die Arbeiterkinder, auch in der Schule, waren vielfach so angezogen, wie man es zur selben Zeit in den Berliner Schulen überhaupt nicht duldete. Das lag ja nicht an der ungün­ stigeren wirtschaftlichen Lage der englischen Arbeiter, sondern, wie bekannt, an der geringeren hauswirtschaftlichcn Tüchtigkeit, um nicht zu sagen, größeren Untüchtigkeit der englischen Arbeiter­ frauen, die von der Gewissenhaftigkeit, Sorgsamkeit und Un­ ermüdlichkeit der deutschen Arbeiterfrauen nicht viel an sich Alt haben scheinen. Und ich habe, was ich aus Schilderungen des

englischen Arbeiterlebens lange wußte, hier durchaus bestätigt gefunden und von dieser Zeit an mehr als bisher gewußt, wie­ viel das deutsche Arbciterhaus der Frau verdankt. Es kommt eben nicht nur darauf an, was erworben, sondern wie es ver­ wertet wird, um ein Hauswesen zu erhalten. Wir konnten uns ganz fremde Bilder auch bei unseren Aus­ flügen wahrnehmen. In den bekannten sozialen Vereinigungen werden englische Arbeiterfrauen zusammengebracht, und oft be­

gegneten wir draußen in Richmond und Kew ganzen Zügen, mit der den bürgerlichen Schichten angehörenden Vorsitzenden an der

Spitze, die dann in irgendeinen Tee- und Kuchengarten einfielen und hier sich gütlich taten. Ich habe mir sehr oft die Frage vor­ gelegt: Was machen unterdessen die Kinder dieser Frauen, und

wie findet der am Spätnachmittag oder Abend heimkommende Mann sein Heim und seine Mahlzeit? So ist mir in England durchaus nicht alles vortrefflich erschienen. Vor allen Dingen

fällt jedem, der in London sich bewegt, der große Unterschied zwischen der Arbeiterschaft, die in East End und Southwark wohnt, und den mittleren und oberen Klassen in West End ans. Der Unterschied ist viel größer als bei uns. Die hochgewachsenen, schlanken, mageren, durch Sport gestählten Männer und Frauen

des Londoner Westens sieht man im Osten und Süden fast nicht,

und der Arbeiterzug im Hydepark verglichen mit den riesigen 13*

195

Wahlrcchtsaufzügen, die nach unserer Rückkehr in Berlin stattfanden, bot einen so himmelweiten Unterschied zwischen dem Äußeren des englischen und des deutschen Arbeiters, wie er stärker imb größer nicht gedacht werden kann. Ich begegnete zufällig einigen Gruppen, die aus Moabit nach dem Treptower Park zogen: Die Männer mittleren Alters in ihrer recht anständigen Beleibtheit und ihrem guten Sonntagsanzug konnte man ganz gut für eine rein bürgerliche Gesellschaft halten, während man mir in London sagte, von den 100 000 gewerkschaftlich organi­ sierten Arbeitern, die in dem Zuge gingen, hätte die Hälfte kein Hemd auf dem Leibe. Jedenfalls war das, was man sehen konnte, ganz geeignet, so etwas zu vermuten. Die Schulen, die wir besichtigten, hatten gute Gebäude und waren, was die Lehrmittel anbctrifft, den unsrigen vielfach über­ legen. Vor allen Dingen war für die eigene Betätigung, besonders in Physik und Chemie, sehr viel besser gesorgt als bei uns. Eine Fahrt durch Middlesex mit dem Schulrat Gott, dem ich für seine übergroße Liebenswürdigkeit noch heute dankbar bin, lehrte mich auch die Schuleinrichtungcn und Schulhäuser in der Londoner Umgebung kennen. Die Schulbauten waren zumeist einfacher als die unsrigen, aber in ihrer inneren Einrichtung den unsrigen oft überlegen. Bezeichnend für englisches Wesen war es, daß ein einfacher Gang zum Londoner Schulamt mit einer Empfehlung von Grey, dem Geschäftsführer des englischen Lehrervereins, genügte, um mir eine Karte auszuhändigen, die zum Eintritt in die Schulen aller Arten und Grade berechtigte, und daß diese Karte auch von den Schulleitern und Lehrern ohne weiteres beachtet wurde. Uns wurde gern und ausgiebig alles gezeigt und gesagt, was wir sehen und wissen wollten. Das Unterrichtsverfahren war vielfach nicht nach deutschem Geschmack; die Haltung der Kinder häufig mehr als frei, zum Teil auch nachlässig. Aber ich habe auch Proben einer sehr starken Anteilnahme am Unterricht bei den freiesten Umgangs- und Lehrformen und der nachlässigsten Haltung der Schüler kenne-', gelernt. Die Besoldung der Lehrer war im ganzen schlecht, ins-

besondere fiel der große Unterschied in der Bezahlung der Lehrer und der Schulleiter stark ins Auge.

Dieser Unterschied ist ja

besonders groß in den alten Privatschulen Englands. Die Leiter der Anstalten haben Ministergehälter, die Lehrer kaum den

Gehalt eines gewerblichen Angestellten.

Selbstverständlich be­

suchten wir auch Eton und haben in diesem alten, ehrwürdigen Raum uns nach Kräften bemüht, die Eigenart der englischen

Erziehung in den oberen Gesellschaftsklassen uns zu vergegen­ wärtigen. Mochte uns manches — zum Beispiel die Herren Schüler in ihren hohen Zylinderhüten — auf den ersten Blick

sonderbar erscheinen, so gingen wir doch mit dem Eindruck fort, daß hier eine Stätte hoher Erzieherweisheit sei, und daß die große Bcrehrung der Engländer für ihre Schulen ausreichende Gründe habe. Die Volksschulen nähern sich in ihrem ganzen Betriebe, insbesondere auch in der Besetzung der Klassen, mehr den unsrigen. Wenn man von Paris nach London kommt, so fällt im

Straßenbilde u. a. auch auf, daß fast alles, was auf der Straße geschieht, bis auf den Handel mit Blumen herunter, zumeist von

Männern besorgt wird, während in Paris die Frau alles und

jedes allein macht oder mittut. Die Engländerin auch der arbei­ tenden Klasse arbeitet eben sehr viel weniger als die Französin und auch weniger als die Deutsche.

Von den Schöpfungen zur Pflege der Volkserziehung und Volksbildung habe ich leider nicht viel gesehen. Die Volksbüche­

reien, die ich besuchte, waren groß und mit allen zeitgemäßen Einrichtungen versehen und verfügten über riesige Bücher­ bestände.

In der früher bei uns vielgenannten Toynbee Hall in

Whitechapel, von der schon Baedeker sagt, daß man vor allem

im Sommer sehr wenig Bemerkenswertes darin sehen könne, trafen wir nur ein paar alte Leute, die die Aufwartung besorgten, und einige Ausländer, die die berühmte Anstalt auch sehen

wollten. Auch im Volkspalast, Peoples Palace for East London,

haben wir irgendwelche Veranstaltungen nicht gesehen, aber die

riesigen Räume und die mannigfachen Einrichtungen für körper­ liche und geistige Erziehung in Augenschein nehmen können. Die Wochen in London gingen schnell herüber. Notwendige Arbeit drängte zur Heimkehr, und so fuhren wir, diesmal über Hoek van Holland und von hier über Amsterdam nach Hause. Mag auf dem Bilde von England mancher tiefe Schatten lagern, jeder, der das, was hier in jahrhundertelanger Arbeit geschaffen worden ist, unbefangen auf sich wirken läßt, versteht den Eng­ länder, begreift sein Selbstbewußtsein, seinen Stolz und auch seine Geringschätzung fremden Wesens, insbesondere auch die vielfach vorhandene Mißachtung des Deutschen, der in London ja leider am häufigsten als Kellner und Barbier auftritt, und in diesen beiden Beschäftigungen allerdings von dem Engländer niemals erreicht werden kann. Ein englischer Kellner im Hyde Park mit dem Hute auf dem Kopf, erschien uns nicht gerade als sehr geeignet für seinen Dienst, und er übte ihn denn auch so aus, wie ihn eben ein Engländer ausüben kann. So etwas kann eben der Engländer nicht, es fehlt ihm die Bedientenhaftigkeit. Daß das Trinkgeldgeben schon damals nicht üblich war, fiel angenehm auf. Die Omnibusschaffner und die Schaffner und Fahrkartenverkäufer bei der Untergrundbahn arbeiteten trotzdem vorzüglich, llnd die Ehrlichkeit, der man überall begegnete, stand in scharfem Gegensatz zu dem, was ich auf früheren Reisen in der Schweiz, in Holland und besonders in Belgien und Italien, auch in Frank­ reich kennen gelernt hatte. Die meist jungen Fahrkartenverkäufer der Untergrundbahnen warfen ihre Pencestücke, ohne den zurückzugebcnden Betrag vorher anscheinend genau durchgezählt zu haben, mit einer Sicherheit, über die ich mich sehr gewundert habe, dem Fahrgast hin. Ich habe aber nie einen Irrtum fest­ stellen können. Auf einer Fahrt nach Greenwich glaubte ich, ich sei übervorteilt worden. Auf eine 10-Schilling-Note bekam ich vier ganz gleiche Stücke heraus, nach meiner Meinung Zwei­ schillingstücke. Nach meiner Rückkehr trat ich an den Fahrschein­ verkäufer, einen älteren Mann, heran und teilte ihm meine Ver­ mutung mit. Er schüttelte lächelnd den Kopf und ersuchte mich,

ihm das Geld zu zeigen, und richtig, das eine Stück war ein 2>5» Schilling-Stück. Ich habe mich darüber mehr gefreut, als wenn ich 6 Pence zurückbekommen hätte. Von der viel berufenen Trunkenheit der Frauen der niederen -Klassen habe ich in London nichts gesehen. Das mag allerdings daran liegen, daß ich zu der gefährlichen Zeit in die betreffenden Stadtviertel nicht viel gekommen bin. Aber etwas hätte ich in den Bars, in die ich absichtlich öfter gegangen bin, doch sehen müssen. Es wird Wohl nicht ganz so schlimm sein, als manche Schilderungen vermuten lassen. Sehr angenehm berührte es mich, wie die englischen kauf­ männischen Angestellten ihre Mittagspause ausnutzten. Meist im Arbeitsrock, barhäuptig, begaben sie sich zum nächsten Tee­ hause, den überall in der City vorhandenen Teeräumen von Lyons u. Ko., und erhielten hier für wenige Pence ein sehr schmackhaftes, meist fleischloses Gericht, Puddings oder auch kleine Fleischgerichte, und tranken dazu Tee oder Sodawasser oder Milch. Erfrischt und mit klarem Kopf, nicht wie bei uns durch Biergenuß halb vcrduselt, gehen sie wieder an die Arbeit. Die sogenannte „englische Arbeitszeit" ist ja tatsächlich in England gar nicht vor­ handen. Die Arbeit wird durch eine einstündige Mittagspause unterbrochen, die allerdings nicht hinreicht, die zum größten Teil weit in den Vorstädten und Vororten gelegenen Wohnungen aufzusuchen. Das leibliche Wohl der Angestellten leidet dadurch schwerlich, überhaupt ist — von einigen Unzulänglichkeiten der englischen Küche abgesehen — der Engländer zweifellos derjenige gebildete Mensch, der es in der Kunst der vernünftigen Lebens­ gestaltung zurzeit am weitesten gebracht hat, und wir, die wir uns ja auf das Nachäffen von Albernheiten so ganz vorzüglich verstehen, könnten in dieser Beziehung von unsern „Vettern" jen­ seits des Kanals sehr vieles lernen, was uns von größtem Nutzen sein würde. Das englische Fremdenhaus (Boardinghouse) ist ein wirk­ liches Heim. Die Bewohner haben Gelegenheit, zusammenzu­ kommen, können aber auch für sich bleiben. Die Mahlzeiten, die

Teestunde, der Feierabend im Garten, alles das ist von einer

urgesunden Gemütlichkeit und atmet eine überaus wohltuende Stille und Ruhe, und da das häusliche Leben in den oberen und mittleren Kreisen in England auf einem ähnlichen Zuschnitt beruht, so sind hervorragende Eigenschaften des Engländers hier­ aus ohne weiteres verständlich. Freilich hat das englische Leben auch seine Nachtseiten, von denen diejenigen, die „London in-

und auswendig kennen" wollen, sehr viel zu erzählen wissen. Ich habe davon nichts gesehen, mißtraue auch diesen Gerüchten beinahe ebenso wie den Berichten deutscher Provinzialen, die

Berlin aus einigen flüchtigen Besuchen „in- und auswendig" kennen- sehr viel besser kennen, als jemand, der einige Jahr­ zehnte darin gelebt hat. Jede Großstadt hat natürlich ihre Sumpftümpel, die von denjenigen, die für so etwas Neigung haben, auch leicht zu finden sind, und die das dann als das eigentlich Wissenswerte und Bezeichnende der Großstadt aus­ geben. In meiner Großstadterziehung (Aus Natur und Geistes­ welt Nr. 327) habe ich mich darüber näher ausgesprochen.

42. Daheim. Bald nachdem ich die vorstehenden Blätter geschrieben hatte,

ging der Tod durch mein Haus und zerstörte mir ein 37jähriges Eheglück. Ich habe bisher über mein häusliches Leben wenig berichtet. Meine Lebensgefährtin, Minna Virchow, Tochter des Schuhmachermeisters Gustav Virchow in Dramburg, hat Jahr­ zehnte hindurch Gutes und Schlimmes mit mir geteilt, sie hat

sich immer entschlossen auf meine Seite gestellt, auch in Fällen, wo es ihr vielleicht schwer fiel, und wo sie sich sagen mußte, daß

allein äußerlich, insbesondere wirtschaftlich genommen, ich einen anderen Weg hätte gehen sollen. Aber so oft auch wohl der Anlaß

dazu gegeben war — ich habe wirtschaftlich nicht immer vorteil­

haft gehandelt —, sie hat nie versucht, mich auf den Weg zu dem

größeren Stück Brot und der reicheren Lebensführung zu drängen,

trotzdem sie manches in unserer Umgebung ganz gern besser gehabt hätte. Sie hat mir alle kleinen Sorgen immer abge­ nommen und für meine leiblichen und seelischen Bedürfnisse so treu gesorgt, wie eben nur eine mit ihrem Gatten aufs innigste verbundene Gattin sorgen kann. Ich konnte, aus der Arbeit und aus dem Kampfe heimkehrend, im Hause untertauchen, hier alles vergessen und deswegen auch immer wieder mit frischer Kraft unb frischem Mute an die Arbeit gehen und in den Kampf cintreten. Wir waren Jugendfreunde. Im Alter von 12 Jahren etwa kam ich zum ersten Male in ihr Vaterhaus, ein schlichtes Bürger­ haus, aber hell und klar alles, und der Vater stolz auf sein Gewerbe und es mit Erfolg treibend. Hans Sachs sein Vorbild, und er selbst ein Hans Sachs. Singen, dichten, lesen, an allem Geistigen teilnehmen, das gehörte zum täglichen Brot. Seiner ganzen Richtung nach gehörte der Vater zu den Leuten, die man wohl etwas spöttelnd die Stillen im Lande nannte. Er hielt sich zur Kirche, mehr allerdings zu den Geistlichen, die in seinem Sinne wirkten. Als Stadtverordneter und Kirchenvertreter hatte er in der Bürgerschaft eine angesehene Stellung. Er war ganz erfüllt vom Reichs- und Staatsgedanken. Auf dem Grunde der Königstreue vertrat er eine rechtsliberale Staatsauffassung. Das Kaiserhaus und Bismarck und Bennigsen und Miquel in ihrer parlamentarischen Glanzzeit, das waren die Persönlichkeiten, an die er sich in seiner ganzen staatsbürgerlichen Auffassung und Arbeit anlehnte. Wie die ganze heimische Bevölkerung, so fühlte man sich in dem Vaterhause meiner zukünftigen Frau mit dem Mittelpunkte unseres Staatslebens, mit Berlin, eng verbunden. Man sprach gern und viel von Berlin, von dortigen Verwandten, von dem, was öftere Reisen dorthin geboten hatten, vom Kaiser­ hause, den Sehenswürdigkeiten usw. Jedenfalls bestand die in einigen anderen Landesteilcn vorhandene und von gewisser Seite eifrig gepflegte Abneigung gegen die Reichshauptstadt keineswegs. Mit der Familie des berühmten Namensvetters Rudolf Virchow aus dem benachbarten Schievelbein bestand keine Ver-

bindung. Auch die verwandtschaftlichen Beziehungen sind m. W.

niemals klargestcllt worden. Da aber der Name wohl auf das Dorf Virchow im Kreise Neustettin zurückgeht, so ist die Zu­ sammengehörigkeit wahrscheinlich. Mit dem unwissenden, aber wißbegierigen Landjungen, der

ich war, gab sich der vielbeschäftigte Mann gern ab, und ich hörte

von ihm manches kluge und freundliche Wort, so daß ich von vornherein in dem Hause heimisch war. Ich lernte dort die Handwerkerkreise aus nächster Nähe kennen. Hilfesuchend kamen auch viele in Not und Bedrängnis Geratene, und Hilfe wurde

ihnen immer. Wie oft saß der Mann, den sein Gewerbe und seine städtischen Ämter übergenug beschäftigten, die Abende und anch die Nächte, um Bittschriften und Eingaben für Leute, denen er helfen wollte, niedcrzuschreiben. Seiner Familie war er der liebe­ vollste Gatte und Vater. Überraschungen, wenn es oft auch nur Kleinigkeiten waren, waren ihm Bedürfnis. Wie oft hat er uns in unserer jungen Ehe durch irgendeine unerwartete Sendung erfreut! Die beiden Töchter im Hause fand ich stets fleißig an der Arbeit, aber besonders entzückte mich der Gesang, den sie zwei­

stimmig miteinander pflegten. Ich kehrte später oft hier ein. Als Konfirmand meine schwere Bibel, die ich den 5 Kilometer weiten Landweg nicht schleppen mochte, hier zurücklassend, sprach ich

wöchentlich zweimal vor, als Präparand gewährte man mir in

freundlichster Weise einen Mittagstisch und Mittagsaufenthalt. Während der Seminarzeit kam ich nicht häufig ins Haus. Es bestand das seltsame Seminarverbot, daß wir Familien nicht ohne

besondere Erlaubnis besuchen durften. Mir erschien dieses Verbot als unangemessen, mit unzähligen Familien in der Stadt be­

kannt, mit vielen befreundet, konnte ich irgendwelchen vernünf­ tigen Grund für das Verbot nicht erkennen. Es bewirkte auch

tatsächlich, daß manche Mitschüler Verkehr suchten und fanden, der wenig angemessen war. Bei voller Verkehrsfreiheit wären die meisten wählerischer gewesen. Die Seminarleitung hätte

etwaige Mißstände immer noch leicht beseitigen können. Ich habe

jedenfalls um die Erlaubnis nicht nachgesucht, aber auch Besuche nur bei besonderen Gelegenheiten gemacht, etwa an Kaisers Geburtstag, am Sedantage, wenn Ausnahmeverhältnisse be­ standen. Ich fühlte mich aber mit der Familie immer aufs innigste verbunden, und als ich Dramburg verließ, um meine erste Lehrerstelle anzutreten, schrieb ich der hochgewachsenen jüngeren Tochter,

der ich besonders nähergctreten war,

ins

Stammbuch: „Die uns am nächsten standen, behalten doch immer den größten Einfluß auf uns." Und das blieb auch in der neuen

Umgebung, in Falkenburg so, wo ich im übrigen mit weiblicher Jugend in dem reichentwickeltcn geselligen Leben der Stadt viel beisammen war: auch hinter den liebenswürdigsten Gestalten stand doch immer das Bild der Jugendfreundin. Ich bin in

diesen Jahren, ganz entgegen den sonstigen Verhältnissen, keinem Mädchen aus dem geselligen Kreise, der mich umgab, irgendwie nähergetreten. Ich wäre wahrscheinlich eine gute Strecke meines Lebens noch allein gewandert, wenn ich nicht durch diese früh­ zeitigen Bande gefesselt gewesen wäre. Als Lehrer nach Dram­ burg zurückgekehrt, kam ich sehr häufig, fast täglich, in das liebe Haus, verbrachte hier viele meiner Abende, soweit sie von der Arbeit frei waren, und nahm infolgedessen an dem geselligen Leben der Stadt, das auch wegen der kastenartigen Abschließung

der einzelnen Kreise gegeneinander durchaus nicht nach meinem Geschmack war, wenig teil. Bestand in meinem ersten Wirkungs­ orte Falkenburg ein die gesamte Bürgerschaft umschließender Ver­

kehr, so war in Dramburg die wenig zahlreichere bürgerliche Gesellschaft in sich nach vermeintlichen und wirklichen Vermögens­ Bildungsunterschieden scharf geschieden. Nach meinem damaligen und gegenwärtigen Empfinden konnte ich mich auf die schmale Grundlage irgendeiner Schicht nicht stellen, und so

und

blieb ich dem Verkehr überhaupt möglichst fern.

Nachdem ich am 1. Oktober 1882 nach Stettin übergesicdelt war, feierten wir zu Pfingsten 1883 in vollem Jugendglück

unsere Verlobung, und in den Sommerferien nahmen wir an einer kleinen Gesellschaftsreise gemeinsam teil, die uns durch das

Odertal aufwärts und abwärts, von Stettin durch Vorpommern nach Rügen führte, viel Schönes gemeinsam genießend. Leider

war die Folge dieser Reise eine schwere typhusartige Erkrankung. Ich brachte fast ein Vierteljahr zumeist im Hause meines Schwiegervaters zu, treu gepflegt von allen Hausgenossen. Kaum halbgenesen, mußte ich am 1. Oktober meine neue Stellung in

Berlin antreten. Aber der Winter brachte mir volle Gesundung. Am 17. April des nächsten Jahres schlossen loir den Bund fürs Leben. Wir richteten in dem Hanse Mchncrstraße 20 unsere

anspruchslose Häuslichkeit ein. Meine Freunde fanden sich gern

bei uns ein. Unser bescheidener Tisch war immer gedeckt. Von den Haussrcunden kam besonders häufig RobcrtRißmann, und wir haben in den vier Wänden meiner Behausung in diesen Jahren so manche Frage, die die Erzicherwclt bewegte, in heißem Streite durchgesprochen. Wir waren selten eines Sinnes. Aber dieser Streit, bei dem es auf die größte Klarheit in der Entwick­ lung der Gedanken immer ankam, hat uns beiden, mir, dem Jüngeren, aber besonders, sehr viel genützt. Es war ein Verlust für mich, daß diese Zusammenkünfte später, als sich durch Familienzuwachs das Hauswesen naturgemäß anders gestaltete,

seltener wurden und der Verkehr mit Rißmann später, aus anderen Gründen, ganz aufhörte. Das Haus blieb aber immer ein Sammelpunkt froher Menschen. In unserm jungen Eheleben — wir waren fast drei Jahre ohne Kinder — haben wir das Glück eines jungen Paares, das

wenig verlangt und an allem sich zu erfreuen vermag, in vollen

Zügen genossen. Gemeinsame Spaziergänge und Ausflüge in die Umgebung Berlins, selten weit darüber hinaus, weil die Ein­ künfte dazu nicht groß genug waren — der Jahresgehalt betrug damals 1560 Mark und blieb auf dieser Höhe volle vier Jahre —, Beteiligung an anspruchslosen Festlichkeiten, vor allen Dingen

aber gemeinsames Lesen und Arbeiten in der eigenen Häuslich­ keit. Meine Frau begleitete mich, soweit das irgend möglich war, auch zu den Versammlungen, ich begleitete sie an den Sonntagen in die Kirche. Der Kirchenbesuch entsprach der Überlieferung des

Vaterhauses, und ich mochte daran nicht rütteln.

Man hatte

meine Frau vor unserer Verheiratung dringend gewarnt, dem „Roten", wie man dort sagte, die Hand zum Lebensbunde zu reichen. Sie hat sich dadurch keinen Augenblick beirren lassen, und der „Rote" war jederzeit duldsam, auch anderen gegenüber, gegen jede Anschauung, die sich auf sicherer sittlicher und klarer gedanklicher Grundlage aufbaut. Ich habe nie nach der kirch­

lichen oder unkirchlichen Haltung, auch nie nach der staatsbürger­ lichen Parteistellung irgendeines Menschen gefragt, sondern

lediglich danach, was er wert war, weil ich sehr frühzeitig

erfahren hatte, wie unabhängig der eigentliche Wert des Menschen von diesen Dingen ist. Ich habe lasterhafte und sonst minder­

wertige Beter und Beterinnen kennengelernt, aber auch die edel­ sten und feinsinnigsten Menschen in derselben Gruppe, und auf der Gegenseite war cs nicht anders. Und daß man die An­ schauungen der anderen schonen oder doch schonend beurteilen soll, wurde mir auch ziemlich früh klar, wenn ich es in jüngeren Jahren auch oft vergessen habe. Ein aus der Kirche ausgeschiedcner Arbeiter, der durch unvorsichtige und taktlose Äußerungen über das Abendmahl und die Marienlegende in der ländlichen Bevölkerung meiner Heimat Anstoß erregt hatte, wurde als ein dem Leibhaftigen Verschriebener allgemein geächtet und gemieden. Ich lernte diesen Menschen ganz zufällig als einen so kindlichen,

insbesondere seiner Lebensgefährtin so innig verbundenen und

überaus zart empfindenden, linder- und tierfreundlichen Menschen kennen, wie ich sie unter den Frömmsten auch nicht

besser gefunden habe. Und sollen Menschen verschiedener An­ schauungen im engsten Lebensbunde leben, so ist die peinlichste

In unserem eigenen Hause haben sich diese Verschiedenheiten ganz allmählich ausgeglichen. Als

Rücksichtnahme notwendig.

sich die Familie vergrößerte, war die Teilnahme am kirchlichen Leben für meine Frau nicht mehr möglich. Ihre Mutterpflichten

standen ihr höher als der Kirchenbesuch. Unsere Kinder habe ich

nach keiner Richtung hin kirchlich beeinflußt, habe sie allerdings bei sich bietenden Gelegenheiten, als sie anfingen, selbständig zu

urteilen, vor Übereilung und Oberflächlichkeit gewarnt. Sie sind zu weitherziger Anerkennung und Duldung alles anderen ge­ kommen, haben aber auch persönlich ihre sichere Stellung gefunden. Unsere beiden Kinder, zwei Töchter, 1887 und 1888 geboren, wuchsen unter unseren Augen, uns beiden zur Freude und zum Glück, heran. Liebe, sonnige Kinder, ganz mit dem Hause verwachsen. Früh wanderten sie mit uns in die Berliner Umgebung hinaus. Wir wohnten von 1892 bis 1896 am Schle­ sischen Tor. Der Weg nach dem Treptower Park und darüber hinaus an der Oberspree entlang bis zum Eierhäuschen war ihnen nicht zu weit. Auch die damals vierjährige Jüngere machte ihn ohne Anstrengung. Wenn es sich irgend machen ließ, beglei­ teten uns ein paar ältere Schülerinnen. Die Kinder fanden an den Wochentagen, wenn das Eierhäuschen — an den Sonntagen immer ein Sammelpunkt von Berliner Ausflüglern — fast leer war, dort einen Spielplatz, wie er schöner nicht gedacht werden konnte. Die Ferien verlebten wir in Dramburg. Der Schwieger­ vater wurde uns leider 1889 durch einen unerwartet schnellen Tod entrissen. Mutter und Schwester meiner Frau haben uns immer liebevoll ausgenommen. Später haben wir unsere Kinder noch recht jung mit auf die Reise genommen. Sie haben den Rhein, Thüringen, Süddcutschland, die Schweiz, Italien, Nor­ wegen, Frankreich, Belgien, Holland und England verhältnis­ mäßig früh kennengelernt und mit ihren jungen Sinnen alles, was ihnen Schönes und Großes begegnete, ausgenommen. Heute, wo die Welt für uns Deutsche eng geworden ist, erscheint ihnen und mir das als ein großer Gewinn. Meine beiden Töchter leben jetzt in glücklicher Ehe. Elsa, die älteste, ist seit zwölf Jahren mit einem Diplom-Ingenieur, Henry Schleusener, verheiratet, der in seinem Fache seinen Mann steht, und wenn die Verhältnisse einigermaßen gut bleiben, eine sichere Zukunft hat. Eine zehnjährige Enkelin, Gertraut, ist die Sonne des Hauses und bisher leider mein einziges Kindeskind. Die jüngere, Gertrud, hat einem tüchtigen Berufsgenossen, Hinrich

Schloen, der eine Berliner Schule leitet, die Hand gereicht, sie, die lange Jahre meine Mitarbeiterin in einem ganz besonderen Maße gewesen ist. Sie hat nicht nur meine Ver­ öffentlichungen kurzschriftlich niedergeschrieben, sondern alles auch mitgedacht und mit durchgearbeitet und bei manchem, z. B. bei der Zusammenstellung der von mir mitherausgegebenen Lese­ bücher, den Hauptteil der Arbeit geleistet. Wir sind mit unseren Kindern auch nach der Verheiratung aufs engste verbunden ge­ blieben. Ihre Wohnungen liegen in unmittelbarer Nachbarschaft. So kommen sie oft ins Vaterhaus zurück, und wir haben manche schone Stunde in dem freundlichen Heim der Kinder zugcbracht. Eine glückliche Ehe ist gewiß nur möglich zwischen gleich­ gestimmten Seelen, aber das schließt nicht aus, daß die beiden, die sich für das Leben vereinigen, in ihrem Wesen doch sehr ver­ schieden sind. Meine Frau folgte in allem ganz sicher und selb­ ständig ihrem Gefühle. Sic hatte ein Empfinden für Echtheit und Minderwertigkeit in den Menschen, das ich immer wieder habe bewundern müssen, und das mir in vieler Beziehung völlig fehlt. Mit ihrer Umgebung war sie stets eng verbunden. Ihre Hilfsbereitschaft und stille Freundlichkeit, die ihr angeboren waren, haben ihr viele Herzen gewonnen. Man kehrte gern bei uns ein und verweilte gern in unserem Hause, besonders auch junge Menschen, meine Schülerinnen und die Söhne meiner Jugend­ freunde und Seminargenossen, wenn sie als Studenten nach Berlin kamen. Unser Haus war infolgedessen selten einsam. Ich selbst saß freilich auch dann in meinem abgelegenen Arbeits­ winkel und erfreute mich nur in der Zeit während der Mahl­ zeiten und in den späteren Abendstunden der Geselligkeit, die in der Regel durch Gesang und Musik verschönt wurde. Noch ein Wort über die Schule unserer Kinder. Beide lernten leicht, besonders die Jüngere. Was sie von der Alteren hörte und in deren Büchern sah, das eignete sie sich ohne Mühe auch an, und, noch recht jung, las sie uns, wenn wir mit ihr durch die Straßen gingen, die Inschriften der Geschäfte vor, wobei allerdings manches heitere Mißverständnis vorkam, wenn

z. B. die Apotheke zur Apott-Hecke wurde. Bis zum achten Jahre blieben beide Kinder der Schule fern, dann traten sie in die ent­ sprechende Klasse der Volksschule, in das 3. Schuljahr, ein. Beide haben sich in der Volksschule außerordentlich wohlgefühlt und hier ebenso gute Kameradschaft gehalten, als in der späteren Privatschule. Meine älteste Tochter hat die Gemeindeschule bis zur 1. Klasse, die jüngste bis in die 2. Klasse besucht. Beide bewahren ihren Schulen und ihren Lehrern und Lehrerinnen die größte Anhänglichkeit. Weniger glücklich waren wir in der Wahl der Privatschule, die mit unzureichenden Mitteln arbeitete, und in der sich, wie wir zu spät erfuhren, viele Schülerinnen zu­ sammenfanden, die in bezug auf Begabung und Lebensauffassung zu den Bevorzugteren offenbar nicht gehörten. Die Kinder fanden hier infolgedessen auch nicht genügend Arbeit und Anregung, und während die Ältere aus Gesundheitsrücksichten nach Erledigung der Schule ausschied, erklärte die Jüngere mit vollendetem vier­ zehnten Lebensjahr, daß sie die Schule nicht weiter besuchen möchte. Ich habe ihr nichts in den Weg gelegt, und ihr späterer Lebensgang hat mir gezeigt, daß bei Strebsamkeit und einer ent­ sprechenden häuslichen Umgebung man auf gewisse Schulziele auch verzichten kann.

13. 3m Weltkriege. Ich bin immer ein schlechter Beobachter der auswärtigen Beziehungen des Deutschen Reiches gewesen. Sehr vieles in der auswärtigen Politik, was mir heute, nachdem ich den Weltkrieg durchlebt habe, ungemein wichtig erscheint, habe ich bis dahin kaum ernstlich beachtet. Ich ahnte darum auch nichts von dem heranziehenden Gewitter, und als es bereits über unseren Häup­ tern stand, glaubte ich immer noch an einen guten Ausgang, um so mehr, als in den letzten Jahrzehnten sehr häufig von einem unmittelbar bevorstehenden Kriege die Rede gewesen war. Ich verlebte die Julitage 1914 mit meiner Familie in Gernrode am Harz. Kaum jemals habe ich mit so ungetrübtem

208

Genusse die herrlichen Harzwälder durchwandert als damals. Im „Braunen Hirsch", wo wir Wohnung genommen hatten, waren Leute aus aller Welt zusammengekommen, darunter auch eine kopfreiche Reisegesellschaft aus Reval, Schulleute, mit denen man über vieles aus dem Baltenlande sprechen konnte. Im übrigen war ich erfüllt von Arbeitsplänen für die nächste Zukunft. Mit A. W. Zickfeldt in Osterwick hatte ich soeben einen Vertrag über ein größeres Buch über die Einheitsschule abgeschlossen. Es sollte die auf der deutschen Lehrerversammlung in Kiel in die große Öffentlichkeit geworfenen Fragen so behandeln, daß zunächst die deutsche Lehrerwelt, aber auch weitere Kreise der Gebildeten für diese Wünsche und Forderungen gewonnen würden. Ende des Monats mußte ich aus geschäftlichen Gründen nach Berlin zurück­ kehren, Frau und Tochter blieben noch in Gernrode. Aber was ich in Berlin hörte und sah, ließ cs angezeigt erscheinen, die Angehörigen auf schnellstem Wege zurückzurufen. Und dann kam die Kriegserklärung. Wir saßen mit Dr. Fledelius aus Horscns (Dänemark) zusammen im Charlottenhof im Tiergarten inmitten einer schon recht ernstgestimmten sonntäglich gekleideten Gesellschaft. Der dänische Freund beteuerte uns seine aufrichtige Teilnahme. Im übrigen schien er keinen Zweifel daran zu hegen, daß Deutschland aus dem bevorstehenden Kriege siegreich hervorgehen werde. Ich selbst war sehr besorgt. Ich mußte immer wieder an die vielen plötzlichen Entschlüsse und widerspruchsvollen Maßnahmen und Äußerungen des Kaisers denken und sagte mir, wenn in seinen Händen die oberste Leitung des Heeres läge, so würde es einem selbstbewußten, tüchtigen Oberfeldherrn kaum möglich sein, wohlerwogene Pläne durch­ zuführen. Ich sprach diese Besorgnis auch anderen, insbesondere dem Prinzen Carolath aus. Er beruhigte mich dieserhalb indessen und meinte, die Gefahr bestünde nicht. Der Kaiser werde nicht unmittelbar in die Leitung des Heeres eingreifen. Mein Miß­ trauen gegen den Kaiser hatte sich in den letzten Jahren sehr verstärkt. Ich konnte nicht darüber hinwegkommen, daß der Herrscher, der bei Festlichkeiten im Jnlande, besonders aber bei 11

Tews, AuS Arbeit und Leben.

209

Besuchen und Reisen im Auslande sich mit mancherlei aus­ ländischen Persönlichkeiten anfreundete, die seiner kaum wert waren, im eigenen Lande mit denjenigen, die eine andere staats­ bürgerliche Auffassung hatten, als sie in der damaligen Regierung maßgebend war, überhaupt nicht in Berührung trat. Daß Männer wie Schrader, Rickert, Theodor Barth und viele andere vortreffliche liberale Volks- und Staatsmänner niemals Gelegen­ heit hatten, ihre Anschauungen dem Träger der Krone vorzutragcn, konnte ich nicht verwinden. Einen schweren Stoß hatte mein Ver­ hältnis zum Kaiser erhalten, als ich (1909) während meiner Anwesenheit in Bergen von norwegischen Freunden hören mußte, daß der Kaiser mit einem dort gar nicht besonders gut berufenen Manne verkehrte, während unserer Anwesenheit zu dessen Wohnung hinübersuhr, während er daheim, wie gesagt, in seinem Umgänge mehr als „wählerisch" war. Die Tage der Mobilmachung sind jedem, der sie in Berlin durchlebt hat, unvergeßlich. Nach 24 Stunden bereits waren die Straßen, insbesondere der Stadtteil Moabit, wo viele Kasernen Itegen, von den blonden Riesen belebt, von Angehörigen der Garderegimenter, die der Heeresbefchl unter die Waffen gerufen hatte. Still, ernst, aber wie selbstverständlich sah man sie in ihre Kasernen wandern. Und dann zogen sie, von Blumenschmuck überschüttet, nach den Bahnhöfen. Es waren unvergeßliche Ein­ drücke. Zahlreiche Familienangehörige, die mit hinauszogen, kamen ins Haus. Besorgt sahen wir sie scheiden, sie selbst waren frohen Mutes und bester Hoffnung. Einige sind nicht wieder­ gekehrt. Die meisten haben die ganze Kriegszeit hindurch alles Schwere getragen, was der Kampf für das Vaterland brachte. Daß die Gesellschaft für Volksbildung sich in den Dienst der Kriegswohlfahrtspflege stellen müsse, und zwar mit allen ihren Einrichtungen, war für mich selbstverständlich. Wenige Tage nach der Kriegserklärung begannen wir in einem der größten Säle Moabits unsere „Kricgsabende". Vorträge, Gesänge, durch Lichtbilder belebt, stellten der immer nach Hunderten zählenden Zuhörerschaft die großen geschichtlichen Ereignisse und die großen

Gestalten des Vaterlandes vor die Seele. Die Zuhörerschaft war von einer Empfänglichkeit, die man in der Vorkriegszeit nicht gekannt hatte. Ergreifend war es, wenn hinausziehende Krieger

unsere Gäste waren.

Als die ostpreußischen Heeresdienstpflich­

tigen, die beim Einbruch der Russen schleunigst zusammengezogen und abbefördert waren, zu Hunderten in unserer Nähe unter­ gebracht wurden, versäumten wir nicht, sie um uns zu sammeln und ihnen frohe und gehaltvolle Stunden zu bereiten. Abend für

Abend vereinigten wir in den verschiedensten Teilen der Stadt Erwachsene und Kinder, um in allen ein lebendiges Bewußtsein für das, um was es sich handelte und was es galt, zu Wecken. Vortragende standen uns in unbeschränkter Zahl zur Verfügung. An eine Vergütung für den vaterländischen Dienst dachte nie­ mand. Jedermann war zu Opfern bereit. Das zeigte sich auch besonders bei den Sammlungen, die wir in den Veranstaltungen Vornahmen. Sie ergaben recht stattliche Beträge, und kaum hat jemals einer sein Scherflein verweigert. Neben Personen ans den ersten Gesellschaftsklassen saßen Frauen mit der Wirtschafts­

schürze, wie sie von der Arbeit gekommen waren. Mer die Zer­ rissenheit unseres Volkes oft beklagt hatte, konnte sich dem Traume einer völligen innerlichen Einigung für einige Zeit hingeben. Das Erwachen folgte leider nur zu bald. Unsere Arbeit ist während des ganzen Krieges fortgesetzt worden. Näheres darüber enthalten die Zeitschrift und die Jahresberichte der Gesellschaft

für Volksbildung.

Am ausgedehntesten war die Tätigkeit für die Versorgung der Truppen im Felde und in den Lazaretten mit Lesestoff. Mehr als VA Millionen Bücher hat die Gesellschaft aus eigenen und durch Sammlungen zusammengebrachten Mitteln hinausgesandt. Ich selbst hatte Gelegenheit, in dem „Gesamtausschuß zur Ver­

sorgung der Truppen im Felde und in den Lazaretten mit Lese­ stoff" als Geschäftsführer zu wirken. Die in dem Ausschuß ver­ tretenen Vereinigungen haben etwa 15 Millionen Bücher an das Heer und die Flotte abgegeben. Wir haben also unseren Teil

an den Kriegslasten und Kriegskosten gern und willig auf uns 14*

211

genommen, und ich glaube auch heute noch, daß wir dadurch

unendlich viel genützt und Millionen von Volksgenossen die Leiden des Krieges und des Krankenlagers erleichtert und für bte innere Wehrhaftigkeit nicht wenig getan haben. Unsere Ange­ stellten beteiligten sich während der ganzen Zeit mit einem rührenden Eifer an allen diesen Arbeiten, am Tage im Betriebe bei der Sammlung und Ordnung und Versendung der Bücher,

am Abend in den Versammlungen als Sängerinnen, Ordne­ rinnen, Sammlerinnen usw., und als der letzte Mann aus dem Betriebe geschieden und ins Feld gerückt war, haben die jungen

Mädchen tapfer Männerarbeit geleistet, und manche von ihnen haben es nicht schlecht gemacht, jedenfalls sehr viel besser, als viele nicht bis zur Front vorgedrungene „Krieger" nach ihrer Rückkehr aus dem „Felde". Besonders groß war auch der Eifer für die Herstellung von warmen Kleidungsstücken. Strümpfe wurden mit vielem Fleiße gestrickt und an die betreffenden Stellen abgegeben. Im eigenen Hause wurde durch die Meinen ebenfalls

rastlos gearbeitet und unter Heranziehung der nächsten Bekannten

ebenfalls etwas Namhaftes geleistet. Mit fieberhafter Unruhe verfolgten wir dabei alle Ereignisse auf den Schlachtfeldern. Während die Fahnen an unserem Hause flatterten, gedachten wir der Unsrigen, die auf den verschiedenen Kampffeldern zerstreut ihre Pflicht taten. Aus der engeren Familie waren beide Schwiegersöhne zum Heeresdienst eingezogen. Schleusener hat als

Verwalter im großen Gefangenenlager zu Wahn bei Köln bis

zum Schluß des Krieges seine Pflicht getan, während Schloen von den ersten Kriegsmonaten an an der Front stand und auf

seinem Posten ausgeharrt hat bis zum letzten Tage. Er führte beim Zusammenbruch seine Kompanie bis in ihren Standort und trennte sich auch dann nur schweren Herzens von ihr. Ich habe

an ihm und manchen anderen Offizieren erfahren, was ein tüch­ tiger Führer für den Geist der Truppe und ihre Leistungen

bedeutet.

Im Hause haben wir alle Kriegsnöte reichlich ausgekostet.

Wir hielten uns lange streng an die Vorschriften über den Bezug 212

von Nahrungsmitteln. Daß eine liebevolle Kochkunst auch über manches Unzulängliche in der Ernährung hinwegtäuschen sann, habe ich reichlich erfahren. Trotzdem glaube ich, daß manche Ein­ schränkung nicht unbedingt nötig war, und vielleicht würde ein liebes Leben uns heute noch erhalten sein, wenn wir weniger gewissenhaft gewesen wären. Ich habe den Krieg und seine Begleiterscheinungen auch auf den verschiedensten Kampfgebieten aus nächster Nähe kennen­ gelernt: durch zwei Reisen nach Rumänien, eine Reise an die Westfront und eine Reise nach Warschau, überall hatte ich, als höherer Militärbcamter reisend, ungehindert Zutritt und kam zudem durch meine Vortragstätigkeit in engste Berührung mit den Offizierkorps. Ich wohnte in den Offizierkasinos, nahm an den gemeinsamen Mahlzeiten teil und stand in fortwährendem Verkehr mit den betreffenden Kommandanten. In Rumänien habe ich eine große Anzahl von Vorträgen in allen größeren Truppenstandorten von Turn-Severin bis Cvnstanza gehalten, insbesondere auch in Bukarest. Ich war zuerst in Rumänien im Frühherbste 1917. Was ich dort sah, erregte in mancher Be­ ziehung bei mir große Bedenken. Ich verstand vor allen Dingen nicht, daß so ungeheure Truppenmassen in der rumänischen Hauptstadt dem Müßiggänge prcisgegeben waren. Die Lichtbilder­ vorträge über die deutsche Heimat wurden von den Heeresange­ hörigen außerordentlich gern gehört, und ich stand überall unter dem Eindruck, daß den von der Heimat Getrennten damit etwas Wertvolles geboten wurde. Nebenbei hatte ich die Aufgabe, für die Einrichtung von Büchereien für die Heeresangehörigen zu wirken. Auf der Rückreise über Kronstadt fiel mir sehr stark auf, daß in Ungarn die Ernährungsverhältnisse im Gegensatz zur Heimat außerordentlich günstig waren. Zu mäßigen Preisen konnte man in Kronstadt, in Budapest und auf allen Haltestellen kaufen und genießen, was man wollte. An den Haltestellen standen die ungarischen Bauern, selbst tief in der Nacht, scharen­ weise, um für Eier und andere Lebensmittel Tabak einzutauschen. Für Geld gaben sie indessen nichts ab. Mir als Nichtraucher ist

dieser im Kriege und auch noch später krankhaft hervortretende

„Hunger" nach Tabak immer unverständlich gewesen. Im Herbst 1917 machte ich eine Nortragsreise an die West­

front, in das Gebiet der zweiten und der siebenten Armee. Die

Reise fiel in die letzten Novembertage und dehnte sich bis Weih­

nachten aus. Die ungemein kalte Witterung machte das Reisen und die Tätigkeit dort zum Teil recht beschwerlich. Trotzdem habe

ich alles gut überstanden. In zahlreichen französischen Orten, auch unmittelbar an der Front, habe ich zu unsern Feldgrauen über deutsche Heimat, deutsches Land und deutsches Volk gesprochen

und meine Vorträge durch Lichtbilder veranschaulicht. In den Offizierkasinos traf ich auch zahlreiche Bcrufsgenossen, und ich darf bekennen, daß ich an vielen von ihnen eine aufrichtige Freude

gehabt habe, insbesondere auch deswegen, weil sie zu ihren Mann­ schaften meist in einem recht guten, sonst nicht gerade häufig vor­ kommenden Verhältnis standen. Daß z. B. ein Kompanieführer gewissermaßen der Gesangvereinsleiter seiner Abteilung war, und daß die ganze Kompanie mit einer Frische und Herzlichkeit sang, wie man es kaum in einem heimischen Gesangverein wicderfinden

konnte, hat mich auf das angenehmste berührt, noch mehr aber, daß ich vielfach eine weitgehende Fürsorge für die Beköstigung

der Mannschaften fand. Von dem angeblichen Schlemmerleben der Offiziere hinter der Front habe ich nichts entdecken können,

womit ich indessen nicht sagen will, daß auch derartige Erschei­ nungen nicht vorhanden gewesen seien. Beim Beginn der Vor­ tragsreise mußte ich glauben, daß über ihr ein Unstern walte. In Cressy stürzte ich am ersten Vortragsabend unmittelbar vor einem Vortrage über die Böschung des kleinen Flusses, der die

Ortschaft durchfließt, und trug dabei eine Beschädigung davon,

die mir das Sprechen fast unmöglich machte. Aber ich konnte auch erfahren, daß man im Kriege sich besser zu helfen weiß als zu

anderer Zeit. Nicht nur der unmittelbar bevorstehende Vortrag wurde bei verdunkeltem Saal gehalten, sondern auch noch am

nächsten Morgen ein zweiter, und sodann wurde der Schade durch

den Korpszahnarzt und einen anderen geschickten Arzt so aus­ gebessert, daß meine weitere Tätigkeit nicht gehindert war. Die Kriegsverhältnisse schränkten das Zusammenkommen mit der französischen Bevölkerung stark ein, aber in mehreren Quartieren und auch bei sonstigen Begegnungen hatte ich doch Gelegenheit, eine sehr weitgehende Behilflichkeit und auch sonstige tatsächliche Freundlichkeiten der Bevölkerung kennen zu lernen, also dasselbe zu erfahren, was ich bei meinen Reisen durch Frankreich und in der französischen Schweiz wiederholt angenehm empfunden habe. Ich kann mir auch die Urteile, daß das alles doch nur Falschheit gewesen sei, nicht ohne weiteres aneignen, wenn ich auch natürlich glaube, daß jeder Franzose unsere Truppe und uns alle lieber heute als morgen hätte verschwinden gesehen. Im Frühjahr 1918 fand in Warschau ein Hochschulkursus statt, an dem ich als Vortragender teilnahm. Ich behandelte dorr vor den zahlreichen feldgrauen Berufsgenossen eine Reihe von Ab­ schnitten aus der preußischen Schulgeschichte. Die Vorträge wurden außerordentlich lebhaft ausgenommen. Im Herbst 1918 kam ich aus derselben Veranlassung zum zweiten Male nach Bukarest. Auch hier eine kopfreiche Zuhörerschaft von Berufsgcnossen, die aus ganz Rumänien zusammengeströmt waren, um von den deutschen Gelehrten, die nach Bukarest gerufen worden waren, sich belehren und geistig anregen zu lassen. Der Veranstalter und Leiter der Bildungseinrichtungen für die Heeresangehörigen in Rumänien, Dr. Friedrich, ein Oberlehrer aus Leipzig, hat sich hier um Tausende von jungen Menschen ein ungeheures Ver­ dienst erworben. Seine Zähigkeit in der Überwindung aller Hindernisse war geradezu beispiellos. Meine Rückfahrt fand kurz vor dem Zusammenbruch in den letzten Septembertagen über Wien statt. In der österreichischen Hauptstadt konnte man das Elend, die Hungersnot überall in erschreckendem Maße wahr­ nehmen und auch die hochgradige Erregung der Bevölkerung, die nichts Gutes ahnen ließ. Ich fuhr von dort über München nach Rothenburg ob der Tauber und lernte dieses stille Städtchen mit seinen unvergleichlichen Traulichkeiten zum ersten Male kennen.

Der Ausschuß der deutschen Volksbildungsvereinigungen hatte eine freie Zusammenkunft hier veranstaltet. Die Versammlung verlief nicht nach meinem Sinne. Das Benehmen einzelner Teil­ nehmer der Versammlung gegen diejenigen, die man als Ver­ treter „älterer" Anschauungen ansah, war zum Teil mehr als auffällig. Und nun kam die Staatsumwälzung. Wer die letzten Oktober- und die ersten Novembertage in Berlin verlebt hat, weiß, daß während der heißen Kämpfe an der Westfront Berlin überfüllt war von Feldgrauen. Der Unbefangene wußte sich das nicht zu erklären. Wir sagten uns wohl gar, Hindenburg müsse doch über einen Überfluß an Truppen verfügen, wenn so viele noch in der Hauptstadt seien. Der Grund wurde erst später bekannt. Ich wußte von vielem, was andere lange wußten, wenig oder nichts. Ich saß am 9. November wie sonst in der Geschäfts­ stelle der Gesellschaft. Die Arbeiten wurden wie gewöhnlich ausge­ nommen. An den Angestellten war allerdings eine starke Unruhe zu bemerken, aber ihre Wahrnehmungen mir mitzuteilen, hielt doch wohl niemand für am Platze. Als dann auf den Straßen bereits alles in hellem Aufruhr war und auch mir bewußt wurde, um was es sich handelte, stürzten einige in mein Zimmer mit dem Rufe: „Es ist Revolution!" usw. Ich entgegnete ganz kühl: „Hier ja wohl nicht," und ließ mich in meiner Tätigkeit nicht weiter stören. Wir haben auch alle unsere Arbeit bis zum Geschäftsschluß fortgesetzt. Ich selbst blieb wie gewöhnlich noch einige Stunden an Ort und Stelle, diesmal, weil ich das aus mancherlei Gründen für notwendig hielt. Als ich dann meinem Heim zucilte, haben mich die widerlichen Straßenbilder wenig erregt. Aber als mir eine Rotte junger Bnrschen auf prachtvollen Militärpferden begegnete, die sie aus den Ställen geraubt hatten und ungesattelt „ritten" und so durch Alt-Moabit tobten, da wurde es mir doch schwer, nicht mit meinem Krückstock dazwischen zu hauen. Das unschuldige Tier, sagte ich mir, solle man wenig­ stens in Ruhe lassen. Am Sonntag machte ich dann eine Rund­ fahrt durch die Stadt: nach dem Schlosse, dem Alexanderplatz ufto. 216

und sah mir vom Straßenbahnwagen an, was man von den

Heldentaten des vorigen Tages und der verflossenen Nacht sehen konnte. Innerlich hat mich die Staatsumwälzung nicht tief berührt.

Die Schwächen des alten Staates waren mir genügend zum Bewußtsein gekommen, und ich bin auch niemals ein entschiedener Monarchist gewesen, freilich auch kein Republikaner. Ich habe

immer gemeint, es gäbe gute und schlechte Regierungen diesseits

und jenseits und hätte mich mit jeder guten Negierung ohne weiteres abgefunden. Zu dieser Stellungnahme kam ich während

der Rcgicrnngszcit Wilhelms II. immer mehr. Den letzten Stoß bekam indessen meine Anhänglichkeit an die Monarchie durch das schwächliche — um nicht schärfer zu urteilen — Verhalten des Kaisers gegenüber dem Preußischen Abgcordnctcnhause in der Wahlrechtsfragc, und ich bin auch heute noch überzeugt, daß der letzte preußische König hierdurch seinen Thron selbst umgestoßen hat. Auch sehr weit linksstehende Kreise glaubten doch bis in den Krieg hinein an die überlegene, ausgleichende Macht des König­ tums, wenn auch frühere Ereignisse, z. B. die Begnadigung der Kanalrebellen, diese Auffassung schon stark erschüttert hatten. Eine Monarchie ist nur stark, solange sie im Volke fest ver­ wurzelt ist und an ihrer Macht und ihrer Gerechtigkeit kein Zweifel besteht*). Mit den neuen Verhältnissen im Staate habe ich mich abge­ funden. Nicht abgefunden hätte ich mich damit, wenn an Stelle

der zusammengebrochenen Klassen- und Kastenherrschaft eine neue Klassen- und Kastcnherrschast aufgerichtet worden wäre, die

zweifellos weitaus schlechter fein würde als die frühere. Aber ich glaube und hoffe, daß wir uns auf dem Wege zum Volksstaate befinden, zu einem Staate, der nicht von dem Stimmzettel einer *) ftür meine Leier hier eine Anmerkung. Einige Tage vor der Durch­ sicht der Druckfahnen meines Buches habe ich den 3. Bänd von Bismarcks Ge­ danken und (Erinnerungen gelesen. Ich bin an manchen Stellen betroffen über das Zusammenfällen mancher unserer Urteile und halte eS deswegen für not­ wendig, darauf hinzuweifen, dcch dieses Zusammentreffen nicht etwa eine Ent­ lehnung Bismarckscher Ansichten ist.

gleichmäßigen Masse regiert wird, sondern in dem die geistig und

sittlich Hochstehenden sich den Einfluß auf die Volksmassen zu verschaffen wissen, der nötig ist, wenn das Gemeinwohl gedeihen

soll.

Freilich ist auch heute, fast drei Jahre nach der Staats­

umwälzung, unsere Lage noch unsicher, insbesondere unsere wirt­ schaftliche Zukunft. Aber mich trüben Anschauungen hinzugeben, vermag ich nicht. Ich werde, solange noch ein Schimmer von Hoff­ nung vorhanden ist, daran glauben, daß dem deutschen Volke noch eine große, schöne Zukunft beschieden ist. Und ich werde an

meinem Teile und nach meinen Kräften und Anschauungen daran

arbeiten, daß Zerstörtes wieder aufgebaut und Neues auf neuem Grunde errichtet werden kann.

14. Lebensanschauungen. Auf der Grenze zwischen verschiedenen Zeiten und in sehr ungleichen Geisteswelten ausgewachsen, bin ich einer von den „Grenzmenschen". Meine ersten Kindesjahre liegen noch in den sechziger Jahren, in der Zeit, die mit 1870 jäh abgebrochen wurde.

Der große geistige und wirtschaftliche Umschwung in Deutschland in den siebziger Jahren kam mir voll zum Bewußtsein. Das alte, auf Eigenwirtschaft gestellte Landleben wurde in dieser Zeit in meiner Heimat völlig umgestürzt. Amerikanischer Speck, ameri­ kanisches Schmalz, Kaffee und Reis änderten den Tisch, ameri­ kanische Baumwolle das Kleid, amerikanisches Erdöl das häus­ liche Leben des Landmannes. Die Folgen des Deutsch-Fran­

zösischen Krieges gestalteten das Denken und Empfinden auch im letzten Bauernhause um.

Aus dem staatlich und kirchlich

gebundenen, rein wirtschaftlich denkenden und empfindenden Land­

mann begann der Staatsbürger langsam zu werden. In den Dörfern abseits des städtischen Lebens vollzog sich dieser Vorgang

sehr allmählich, unmittelbar vor den Toren der Städte wurde die Landbevölkerung schneller und vollständiger erfaßt, in halb

städtischen, halb ländlichen Verhältnissen, wie denen meines

Vaterhauses, besonders schnell. Die ganze Umgebung, in der ich meine Jugendjahre zubrachte, zeigte ein Doppelgesicht. Ich selbst wandte mich frühzeitig nach der einen Seite, der Stadt, und bin, flügge geworden, den ländlichen und später den kleinstädtischen Verhältnissen gern entflohen in die Freiheit der Großstadt; denn das und nicht etwa das reichere Leben war es, was mich fesselte. Die staatlichen Vorgänge des Jahres 1848 hatten in der Heimat keine Spuren hinterlassen. Ich fand zwar noch viele Gedichte von „Frühling" und „Freiheit" aus jener Zeit, nament­ lich Dichtungen von Freiligrath, Herwegh, Prutz und Hoffmann von Fallersleben, aber niemand las, kannte und verstand sie. Auch ich habe ihren Sinn damals nicht begriffen. Die Gebunden­ heit der Umgebung kirchlichen, staatlichen und beruflichen Gewal­ ten gegenüber empfand ich später drückend, ja des freien Menschen unwürdig. Ich sah auch unter den Besten manchen, der geknickt einherging und nur schielend die Welt und die Menschen sah. In solchen Verhältnissen mein Leben zuzubringen, erschien mir wenig verlockend, ja unmöglich. Es war nicht Unbotmäßigkeit, nicht die Neigung, niemandem mich unterzuordnen oder zu gehorchen. Das tat ich gern und willig, soweit es meinem Inneren entsprach. Ich glaube sogar, eine zur Unterordnung und zum Dienen be­ sonders veranlagte Natur zu sein. Nur die Willkür und die Absicht zu beugen und zu treten haben mich immer aufgebracht. Freier Bürgersinn, der ja weitgehende Rücksichtnahme und auch Unterordnung verlangt, erschien mir niemals als ein Zeichen knechtischer Gesinnung. Vieles davon war Erbstück. Bei den väterlichen Vorfahren war die alte bäuerliche Hörigkeit schon völlig vergessen, bei den mütterlichen noch vorhanden. Dazu kamen starke gottgläubige Einflüsse, echter lutherischer Sinn ohne dienstfertige Unterordnung unter die Geistlichkeit. Die freie Um­ gebung, in der ich dann lebte und lernte, gestaltete auf diesem Untergründe den seiner Freiheit wie seiner Abhängigkeit sich bewußten, nach ihr verlangenden jungen Menschen. So habe ich immer die geistig und wirtschaftlich gebundene Welt gekannt, aber die freie, nur geistig bedingte immer gesucht. Also ein Grenz-

mensch in jeder Beziehung! Stadt und Land, Armut und Wohl­ fahrt, Bürgertum und Bauerntum sind in mir zusammen­ geflossen, und vom Arbeiter, der bei uns noch völlig gleichwertig mit am Tische saß, und wenn er ansässig und verheiratet war, mit dem Vater noch das Du tauschte — der jüngere Arbeiter war nicht weniger als jeder gleichaltrige Besitzerssohn, und die Mägde wurden ebenfalls lediglich nach ihrer Person, nicht nach ihrem Stande bewertet — habe ich jedenfalls das mitbekoniruen, daß ich lebenslang mehr gearbeitet habe als sehr viele, die sich nach der Arbeit berufsmäßig benennen. Auch in wissenschaft­ licher Beziehung bin ich ein Grenzmcnsch. Weder durch eine höhere Schule noch durch die Hochschule planmäßig hindurch­ gegangen, habe ich von beiden, wie ich glaube, mehr gewonnen, als mancher, der seine regelrechten Jahre in ihnen zugebracht hat. Die besten Lehrer hier wie dort waren auch meine Lehrer. Das Reifste, was sie gegeben haben, habe ich in stillen Stunden und Tagen mir zu eigen gemacht. Ich danke es meinem Schicksal, in diesem Sinne ein „Halber" zu sein, zu verstehen und mitzuempfinden, was hüben und drüben Großes und Gutes und weniger Großes und Gutes lebt und schafft. Wenn ich die Schilderungen der Landbevölkerung in unseren Heimatdichtungen lese, kann ich mich oft eines Lächelns nicht erwehren. Wie wenig diese Darsteller doch den Landmann kennen, und wie wenig sie sich selbst und ihre Umgebung richtig zu sehen vermögen! Im einen oder im andern ganz lebend, wird man nur zu leicht dem einen fremd und blinder Verehrer des andern. Auch daß ich nicht in einem Lehrerhause ausgewachsen bin, empfinde ich als einen Vorteil. Wie leicht bleibt der Blick am Schulhause und am Kirchendache hängen! Wir andern sahen das Schulhaus früher auch einmal von anderer Stelle aus und vermögen darum den andern, die es immer so sehen, besser gerecht zu werden als die „Einheimischen". Unter den Vorkämpfern der Schule sind merkwürdig viele, die von anderer Stelle kamen. Auf den Grenzscheiden vermag das Auge die Felder rechts und links am richtigsten zu sehen. Freilich werden dort schlechte

Parteimänner, schlechte Bekenner, schlechte Nachbeter und Nach­ treter. Aber sei's drum. Als Eigner kann man jeder Gemein­ schaft, zu der man innerlich steht, sich frei verpflichten, und nur freier Dienst ist ganzer Dienst. Die meisten Menschen schreiben ihre Erfolge sich selbst zu und schieben ihre Mißerfolge auf andere. Böse Leute haben ihnen den Weg verlegt, unglückliche Umstände sie gehindert, das zu erreichen, was andere erreichen konnten. Ich habe dieseAnschauung in meinem eigenen Leben nirgends bewahrheitet gefunden. Im Gegenteil, gute Freunde, die mir wohlwollten, haben mir durch gutgemeinten Rat oft falsche Wege gewiesen, die ich freilich nicht immer ge­ gangen bin, und aus offenbarem Ubclwollcn ist für mich sehr häufig ein nennenswerter Vorteil entstanden. Im ganzen neige ich zu der Anschauung, daß Schiller recht hat mit seinem Worte: „In deiner Brust sind deines Schicksals Sterne," daß die Eigen­ schaften, die wir ererbt haben und die in unserer Jugendbildung zur Entwicklung gelangen, über unser Leben im großen und ganzen entscheiden. Selbst dann, wenn eine so gewaltige Woge wie der Weltkrieg mit dem Schicksal des einzelnen spielt, sind die persönlichen Eigenschaften doch immer noch von ausschlaggebender Bedeutung. Ich kann in meinem Leben sehr deutlich verfolgen, daß gewisse Eigenschaften mein Leben, meine Arbeit, meine Erfolge und meine Mißerfolge bestimmt haben. Eine Eigenschaft beson­ ders: daß ich für Übles, das man mir zugefügt hat, fast kein Gedächtnis habe. Ich vergesse diese Dinge so schnell, daß ich immer erst durch andere daran wieder erinnert werden muß. Trotzdem komme ich mit Menschen, mit denen ich aus irgend­ einem Grunde aneinandergeraten bin, später nicht leicht wieder zusammen. Ich persönlich glaube, das nie verhindert zu haben, aber es muß wohl irgend etwas an mir die andere Seite von einer Wiederannäherung zurückhalten, was mir nicht bekannt ist. Auch für Unannehmlichkeiten anderer Art habe ich fast kein Gedächtnis. So erscheinen mir die Zeiten in meinem Leben, in denen es mir im ganzen nicht besonders gut ergangen ist, heute durchaus nicht

in dunklem Lichte, im Gegenteil, die Lebensantriebe, die daraus erwuchsen, sind das einzige, was mir in Erinnerung geblieben ist. Gutes, was man mir getan hat, vergesse ich sehr schwer. Im

ganzen habe ich an alle Menschen eine angenehme Erinnerung,

mit denen ich länger zusammengelebt und gearbeitet habe, auch wenn wir nicht gerade freundschaftlich voneinandergegangen sind. Es hängt das Wohl auch damit zusammen, daß ich auch bei

meinen Mitarbeitern immer den Menschen geachtet und, wenn es die Arbeit erlaubte, geschont habe. Oft zu sehr. Ich habe nur immer von den Jüngsten eine ganz bestimmte Arbeitsform und Arbeitsfolge verlangt, denjenigen aber, die selbständig arbeiten konnten, auch die nötige Freiheit gelassen. Altere Angestellte haben es mir öfter verdacht, wenn ich tüchtigen jüngeren Mit­

arbeitern viel Freiheit ließ — ich meine, das Recht auf Selb­ ständigkeit begründet sich nicht so sehr aus den Jahren, als aus den Leistungen. Das ist freilich öfter gemißbraucht worden. Manche Mitarbeiter sind mir aus den Händen gewachsen und ihre eigenen Wege gegangen. Aber schließlich ist das Wohl mensch­ liches Recht. Hätte ich sie gezwungen, in meinem Kreise sich meinen Wünschen streng unterzuordnen, so hätte ich wahrschein­

lich noch viel weniger von ihnen gehabt, als bei meinem Ver­ fahren. Wenn der Mensch nicht nach seinem innersten Drange tätig sein kann, vorausgesetzt, daß dieser Drang überhaupt vor­ handen ist, hat man von ihm nur die äußere Schale und nichts

von dem, Von gewesen, schlechter

was an ihm am wertvollsten ist. äußeren Dingen bin ich immer ziemlich unabhängig

insbesondere von der Kleidung. Ob ich besser oder angezogen bin, ist mir völlig gleichgültig, insoweit

als ich das Bewußtsein habe, daß ich dadurch nicht auffalle. So

würde ich mich bei körperlicher unsauberer Arbeit in der Arbeits­ jacke genau so wohl fühlen, wie bei einem Feste im schwarzen Rock. Ich muß so gekleidet sein, daß ich die Kleidung vollständig vergessen kann. Von Speise und Trank bin ich nicht so unab­

hängig, weil mein schwacher Körper eine bessere Pflege dringend

verlangt. Aber ob ich mein Mittagessen um 1 oder um 5, 6 oder

7 Uhr bekomme, ist mir ziemlich gleichgültig. Auch an regel­ mäßigen Schlaf bin ich nicht gebunden. Ich habe immer viel geschlafen, insbesondere auch in der Jugend, und mir ohne Not den Schlaf nie entzogen. Aber wenn es sein mußte, bin ich auch ohne Nachtschlaf fertig geworden. Wenn ich in früheren Jahren um 12 oder 1 Uhr aus den Lehrerversammlungen nach Hause kam, schrieb ich meine drei Zeitungsberichte in der Regel nach­ einander nieder und brachte sie um 5 Uhr noch zur Post, so daß sie in den Abendblättern erscheinen konnten, schlief dann eine Stunde und war am Tage doch nicht weniger frisch als sonst. In der nächsten Nacht holte ich dann, wenn möglich, das Ver­ säumte aber nach. Für die Mitarbeit an Zeitungen ist ja Pünkt­ lichkeit und Schnelligkeit das erste Gesetz. Meine Berichte wurden ausnahmslos gedruckt. Bis dahin war es in den großen Berliner Zeitungen nicht üblich gewesen, Berichte über Lehrervereine zu veröffentlichen, und als ich die Berichterstattung niederlegte und nach meiner Meinung den besten Händen übergab, ließen die Zeitungen die Berichte bald größtenteils und dann ganz unter den Tisch fallen. Soviel ich auch in Vereinen tätig war, bin ich nichts weniger als ein „Vereinsmensch". Von frühester Jugend ab ist mir das Herdenmäßige unangenehm. Ich bin auch zu angespannter geistiger Arbeit nur in der Lage, wenn ich allein bin. Ode Geselligkeit widert mich geradezu an, und eine leere Unterhaltung ist für mich eine größere Anstrengung als die schwerste geistige Arbeit. Ich bin ihr deswegen immer gern aus dem Wege ge­ gangen. Mit dem Alter hat sich das freilich etwas geändert. Man sitzt dann lieber dabei, läßt andere reden und wird als alte Weisheit mehr geachtet als wirklich gehört. Die soge­ nannte „Abgeklärtheit" des Alters besteht ja darin, daß die Höhen und Tiefen des frischen jüngeren Lebens allmählich ver­ schwinden und so eine mehr oder weniger ebene Fläche entsteht, in der das Gute und das Schlimme, das Wahre und das Falsche nun freilich nicht mehr so ins Auge fallen kann als bei den Jüngeren.

Für mein Auftreten in der Öffentlichkeit und für meine

schriftstellerischen Arbeiten war es immer ein großer Vorteil, daß

ich von den Dingen, um die es sich handelte, mir schnell ein

bestimmtes Bild machen und eine bestimmte Auffassung aneignen konnte. Diese Auffassung war nicht immer, oder besser: in der Regel nicht, allseitig. Meine ganze Denkweise bringt es mit sich,

daß ich immer nur gewisse, scharf hervortretende Seiten sehe und mit diesen mich beschäftige, während andere, Ruhigere, ganz

erkenntnismäßig Gerichtete mehr in der großen Fläche denken,

bas Ganze überschauen und darum in der Beurteilung auch stets sicherer gehen. Das habe ich besonders an meinem Freunde Pretzel so oft bewundert. Aber die lebhaftere Erfassung von Einzelheiten, wenn man dabei das Glück hat, das Wichtigere zu treffen, bringt natürlich den Vorteil mit sich, daß man die Hörer und Leser schneller ergreift und stärker fesselt. Meine Gegner

gestehen sehr häufig zu, daß sie auch diejenigen meiner Ansichten, die sie nicht teilen, lebhaft beschäftigt hätten. Im Verkehr mit anderen war meine große Offenheit viel­

leicht oft schädlich. Aber ich bin nicht geneigt, für den Rest meines

Lebens mich davon zu befreien.

Ich kann es insbesondere an

jüngeren Menschen nicht ausstehen, wenn sie bereits wie altkluge Greise nach den Eigenheiten und Wünschen anderer schielen, um sich diesen anzubequemen, das heißt meist, aus den Schwächen

anderer Vorteile zu ziehen.

Ich habe Mitschüler und eigene

Schüler dieser Art immer für minderwertig gehalten. Der junge

Mensch soll ganz in der Sache leben, soll seine Seele füllen mit großen Inhalten, dann werden die Menschen sich auch schon zu ihm entsprechend stellen. Aber wer von vornherein nur selbstisch rechnet, wer diejenigen, von denen er abhängig ist, nur im Lichte

seiner eigenen Zukunft sieht, wer auf der Schulbank nur für das gute Zeugnis arbeitet, scheidet für mich vollständig aus. Menschen

dieser Art leisten ja bekanntlich auch im Leben selten etwas Ordentliches.

Sie erlangen freilich oft die besten Futterplätzc,

die einflußreichsten Amtsstellungen, aber sie bleiben, was sie

waren: armselige Rechner, und werden oft Ränkeschmiede und Heuchler. Mein durch keinerlei Standesvorurteile verstärktes, an sich geringes Selbstbewußtsein hat es mir ermöglicht, mich nach unten

hin immer rückhaltlos anzuschließen. Gesellschaftliche Schranken nach dieser Seite habe ich nie gekannt. Nach der anderen Seite, nach oben, habe ich sie beachtet, aus einer gewissen Empfindlich­

keit heraus, die cs mir verbietet, mich irgend jemand mehr als nötig zu nähern oder gar aufzudrängen, von dem ich auch nur entfernt annchmen könnte, daß er mich unter sich sähe. Dadurch habe ich mir Wohl manche wertvolle Verbindung verscherzt. Ich habe mich aber in der Regel vernehmlich zu Gehör gebracht, wenn mir Ubelwollen

von dieser Seite bewußt Dann habe ich ohne irgendwelche Rücksichtnahme auf

Geringschätzung und Zuriicksetzung

wurde.

Amtsstellung und gesellschaftliche Lage meine Meinung gesagt. Geringes Selbstbewußtsein ist oft gewiß nicht von Vorteil. Man kommt leicht dazu, daß man andere überschätzt. Das mag mir oft so ergangen sein. Aber dafür habe ich auch selten anders­ geartete Menschen unterschätzt Geringes Selbstbewußtsein kann auch dazu führen, für den geselligen Verkehr nicht gar zu wähle­ risch zu sein. Auch das hat seine Gefahren. Mich hat die innerste Abneigung gegen alles nicht ganz Saubere in Leben und Ver­ gnügungen nach der Seite mehr geschützt, als etwa gesellschaftlich höhere Einschätzung.

Bei meinen Arbeiten bin ich immer fast Planlos zuwege gegangen. Ich habe in Aussprachen und Vorträgen zwar ziemlich genau gewußt, was ich zur Geltung bringen wollte, aber selten oder nie den Gang der Darlegungen vorher festgestellt. Das habe

ich dem Augenblick mit seinen Zufälligkeiten überlassen und damit in der Regel gute Erfahrungen gemacht. Auch bei meinen schrift­

stellerischen Arbeiten bin ich ebenso vorgegangen.

Mir einen

Plan zu machen oder gar niederzuschreiben und danach dann einen Aufsatz abzufassen, wäre mir unmöglich. Der Gedanke als Ganzes steht im Kopfe fest, und nun beginne ich, wie es eben

kommt und ohne mich auf das, was ich noch nebenher alles 15

Tews, Au- Arbeit und Leben.

225

gedacht habe, viel zu kümmern. Die Aufsätze wurden deswegen häufig auch ziemlich kurz, aber sie sind in der Regel einheitlich und abgeschlossen, wenn ich nicht etwa das Unglück habe, daß ich

bei der Abfassung gestört werde. Eine abgerissene Arbeit an der betreffenden Stelle wieder fortzusetzen, ist mir oft ganz unmög­ lich; ich werfe dann das schon Geschriebene in den Papierkorb

und behandle den Gegenstand entweder überhaupt nicht oder in ganz neuer Fassung. Aus diesem Grunde habe ich auch mehr

Aufsätze für Zeitungen als für Zeitschriften und auch nur wenige Bücher geschrieben. Mancher Aufsatz hätte ganz gut zu einer lan­

gen Abhandlung oder zu einem Buch gereicht. Aber einen Gegen­ stand nach allen möglichen Seiten zu besprechen, und über eine Sache, die mit drei Worten abgetan war, in dreihundert zu reden, lag mir in jungen Jahren gar nicht und liegt mir heute wenig. Ich muß mit dem Gegenstände, den ich oft Jahre hindurch mit mir herumgetragen habe, bei der Ausarbeitung bald fertig sein, sonst kommt etwas dazwischen. Selbst meine größeren Bücher, z. B. „Ein Volk — eine Schule", sind in ihrer endgültigen Form

darum in so kurzer Zeit entstanden, daß ich es öffentlich kaum zu

bekennen wage. Als Redner steht mir eine ganz ausgesprochene Schwäche des Gedächtnisses für Worte, Wortverbindungen und geschlossene Ausdrücke im Wege. Ich habe so gut wie kein Wortgedächtnis, dagegen sind mir die Gegenstände und die Gedanken durchaus

bestimmt gegenwärtig.

Ich muß mich deswegen darauf ver­

lassen, im Bortrage jedesmal das rechte Wort zu finden. Der Wirkung der Rede tut das ja meist keinen Eintrag. Im Gegen­ Wenn der Zuhörer gewissermaßen mit dem Redner den Gedanken und die Form sucht, so erhöht das die Aufmerksamkeit teil.

und die Spannung.

Schlimmer ist, daß ich auch den Gedanken­

faden nicht recht im Kopfe habe. Da das unter Umständen zu den unangenehmsten Entgleisungen führen kann, so habe ich von Anfang an immer nur nach Stichworten gesprochen, die vor mir auf dem Pulte liegen. Ein Vortragspult ist für mich Bedingung, ich spreche ohne das jetzt überhaupt nicht mehr. Die Stichworte

brauche ich oft wenig, aber in gewissen Augenblicken lehne ich mich auch stark daran an.

Ich habe dadurch den Vorteil, daß

ich mich völlig frei bewegen kann und doch nie auf tote oder halbtote Geleise komme. Ganze Strecken mit bloßen Verlegen­

heitsreden auszufüllen, hat man bei diesem Verfahren nicht nötig.

Wer nicht über ein gutes Wortgedächtnis verfügt und Gedanken­ folgen nicht fest im Kopfe hat, sollte deswegen ähnlich verfahren. Selbstverständlich macht es einen besseren Eindruck, wenn jemand ohne ein Blatt Papier vor eine Versammlung tritt und in freier Rede seine Gedanken entwickelt. Das ist sehr oft ja auch nur Schein, denn viele dieser „freien" Redner sagen in Wirklichkeit her, was sie halb oder ganz auswendig gelernt haben, und ihr

Vortrag wirkt deswegen sehr viel weniger ursprünglich, als eine Rede, die im Anschluß an Stichworte wirklich frei gehalten wird. Sehr zustatten kommt mir in gewissen Reden und Aus­ sprachen mein ziemlich gutes Zahlengedächtnis. Freilich habe ich

gerade auf diesem Gebiete auch keine Mühe gescheut, vielmehr alle Zählungen und Bearbeitungen der Zählergebnisse, die mein

Arbeits- und Wissensgebiet irgendwie berührten, gewissenhaft durchgearbeitet, insbesondere alle Schul- und Bildungs- und gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Zählungen Deutschlands.

Heute ist alles das aber eine untergegangene Welt, und neue wissenswerte, d. h. zuverlässige Zahlen haben wir noch nicht. Wenn wieder etwas da ist, was sich lohnt zu zählen, werde ich wohl nicht mehr zählen können. Am Abend seines Lebens wird jeder das Bedürfnis haben, sich die Frage zu beantworten, wem er für sein Werden und Sein

am meisten verdankt. Ich glaube, daß ich in allem Wesentlichen ein ziemlich getreues Abbild meiner Mutter bin. Ihre geistigen und körperlichen Eigenschaften sind am vollständigsten auf mich

übergegangen: ihre lebhafte Auffassung aller Dinge, ihre natür­ liche Gabe zu lehren und über Dinge, die in eine höhere Welt hineinreichen,

zu

sprechen,

ihre

ernste,

geschlossene

Lebens­

auffassung, ihre restlose Hingabe an das, was der Augenblick erforderte, ohne sich viel zu besinnen und ohne ängstliche Ab­

is»

227

Wägung der Folgen, ihr geradezu unabweisbares Bedürfnis, den

Wünschen anderer nach Möglichkeit entgegenzukommen. Aber auch ihre körperlichen Zustände, zumeist Leiden und Gebrechen, habe ich mehr oder weniger vollständig geerbt. Eine vorsichtige Lebensführung hat bei mir nicht die Folgen gehabt, wie bei ihr

selbst. Viel weniger habe ich von meinem Vater mitbekommen. Seine Ordnungsliebe, seine oft recht harte Strenge, sein zeitweise sehr geringes Mitteilungsbedürfnis, alles das sind Eigenschaften, die ich oft schmerzlich vermisse und auch erst im höheren Alter schätzen gelernt habe, wie ich überhaupt glaube, daß die Söhne im jüngeren Alter im ganzen Ebenbilder ihrer Mütter sind, und daß

die väterliche Eigenart und der väterliche Einfluß erst später sich geltend machen. Bei den Frauen ist cs wahrscheinlich umgekehrt. Ursprünglich mit väterlichen Erbstücken ausgestattet, entwickeln sie sich später Wohl mehr nach der Seite der Mutter. Von meinen Lehrern haben besonders die Lehrer an der Dramburger Stadtschule stark auf mich eingewirkt, vor allem

Rektor Schmidt, während der Unterricht und die Lehrer im Seminar keinen tiefer gehenden Einfluß auf mich gehabt haben. Bei Schmidts Unterricht war es die große Linie in der Auf­ fassung aller Dinge, die mich lebhaft anzog. Bei anderen habe ich das früh vermißt. Im Seminar habe ich bei manchen Lehrern das Bestreben, in größere Weiten zu weisen und selbst zu kommen,

Wohl bemerkt, aber doch immer unter dem Druck belangloser Kleinigkeiten und Einzelheiten in ihrem Unterrichte gelitten.

Nur Adolf Reißmann war seiner Aufgabe ganz gewachsen. Später bin ich im großen und ganzen eigene Wege gegangen. Ich

kann eigentlich niemand nennen, dessen Persönlichkeit oder dessen Schriften auf mich einen ausschlag- und richtunggebenden Ein­ fluß gehabt hätten. Außer Heinrich Rickert hat mich auch kaum eine Persönlichkeit viele Jahre hindurch dauernd gefesselt. Aus dem Kreise der Berufsgenossen waren es besonders Cläusnitzer

und Gallee, auch Rißmann, die tiefer auf mich eingewirkt haben;

die beiden ersteren durch ihre Persönlichkeit, Rißmann durch seine wissenschaftliche und denkerische Höhe und Eigenart. Ich nenne

nur diese drei. Daß mir die vielen andern vortrefflichen Männer aus dem Schulhause, mit denen ich gemeinsam gearbeitet oder Schulter an Schulter gekämpft habe, viel gewesen sind und viel gegeben haben, ohne daß ich mir des einzelnen immer bewußt geworden bin, versteht sich von selbst. Vielfache Berührungspunkte habe ich mit den Vertretern freierer religiöser Auffassungen gehabt. Schon im ersten Winter in Berlin geriet ich in den Freidenker-Verein Lessing und sollte nach kurzer Aussprache in dessen Vorstand gewählt werden. Dieser Fesselung entzog ich mich indessen, auch aus amtlichen Gründen. Als am Anfang der neunziger Jahre die Deutsche Gesellschaft für ethische Kultur gegründet wurde, ersuchte man mich, wohl weil mein Name in der Lehrerschaft und über sie hinaus schon ziemlich besannt war, um Mitwirkung. Ich habe in diesem Kreise Jahre hindurch fleißig mitgearbeitet und die Erörterungen über gesellschaftliche und wirtschaftliche Fragen, insbesondere aber über Fragen der Erziehung, auch wohl hier und da beeinflußt. Es war ein lebhafter Kreis, der von bestem Wollen nnd großen, guten Gedanken erfüllt war. Lily v. Kretschman, die spätere Lily GiLycki und bann Lily Braun, leitete die „Ethische Kultur", später Friedrich Wil­ helm Förster und sodann Rudolf Penzig. Die eigentliche Seele der Gesellschaft war Wilhelm Förster, der bekannte Himmels­ kundige. Förster suchte alle Lebensfragen, allen Widerstreit der Menschen mit- und untereinander nach den Grundsätzen zu lösen, die in seiner Wissenschaft zu Hause sind. Immer wußte er die schärfsten Gegensätzlichkeiten aufzulösen in großeweltumspannende Übereinstimmungen. Das machte seine Reden für die Teilnehmer freilich oft schwer verständlich. Ihnen mangelte ganz und gar die Darbietung lebensvoller Einzelheiten. Aber die Achtung vor diesem reinen Menschen und geklärten Denker war so ausge­ sprochen, daß sich doch alles um seine Person scharte. Als er später sich mehr zurückzog und sodann ganz aus den regelmäßigen Ver­ sammlungen verschwand, änderte sich auch die Arbeitsweise und der Ton der Verhandlungen wesentlich, es wurde viel mehr

gestritten, als ehedem, belanglose Einzelheiten spielten oft eine große Rolle.

An die auf der Hand liegenden, unmittelbar zu

lösenden Aufgaben dachte man weniger. Das entfremdete mich dem Kreise allmählich. Zum Austritt aus der Gesellschaft kam

es, als ich im Auftrage des Vorstandes einen Vortrag über groß­ städtische Erziehung hielt, bei dessen Erörterung in erster Linie

die Vorstandsmitglieder gegen meine Wohl etwas scharfen An­ klagen gegen Berlin W auftraten. Ich hatte die erzieherischen Schwächen des verfeinerten, schwelgerischen großstädtischen Lebens, insbesondere die Genußsucht und Lieblosigkeit begüterter Frauen,

scharf herausgestellt und mußte mit Recht annehmcn, daß die Leiter der Gesellschaft, denen diese meine Anschauungen übrigens durchaus nicht unbekannt waren, mich in meinen Anklagen nicht bekämpfen, sondern unterstützen würden. Als das Gegenteil geschah, erklärte ich, daß ich für bloße Redcübungcn nicht zu haben sei, sondern tatsächliche Erfolge sehen möchte, und schied aus der Gesellschaft aus. Sie ist im Laufe der Zeit immer mehr zurück­ getreten und hat in den Erörterungen der letzten Jahre fast keine Rolle mehr gespielt. Viel hängt für einen arbeitenden Menschen davon ab, wie

er Arbeit und Ruhe zu verteilen weiß. Die menschliche Arbeits­ kraft ist begrenzt und kann durch unvernünftige Bewirtschaftung stark gemindert, bei vernünftiger Arbeitsweise aber auch erhöht und vor allem voll ausgenützt werden. Ich habe, wenn es irgendmöglich war, nur gearbeitet, wenn ich frisch war. Schriftstellerisch bin ich, wenn kein unmittelbarer Zwang vorlag, überhaupt nur in diesem Zustande tätig gewesen. Merkte ich bei Beginn einer Arbeit Ermüdung, so habe ich die Feder meist zur Seite gelegt

und, wenn möglich, einen Spaziergang gemacht. In frischem Zustande schreibe ich alle meine Arbeiten schnell nieder oder sage sie einer Kurzschreiberin an und ändere bei der Durchsicht in der

Regel auch nicht viel.

Rein geistige Arbeit kann meines Er­

achtens immer nur verhältnismäßig kurze Zeit hindurch geleistet und bei genügender Frische und Sammlung in wenigen Stunden

auch ein erhebliches Stück zustande gebracht werden.

Manche

Arbeiten lassen sich freilich nicht verschieben, z. B. Berichterstat­ tungen. Sie müssen geleistet werden, auch wenn der Körper seine Ruhe verlangt, und eine andere Reihe von Arbeiten sind ganz und gar von der Zeit länge abhängig, z. B. Niederschriften, Durchsichten, Berechnungen usw. Sie erfordern ja aber auch nicht die Sammlung, die die geistige Erzeugung verlangt. Mit dem Achtstundentag kann der geistige Arbeiter, insbesondere der Schriftsteller, deswegen nicht rechnen. Durch Einlegung einer Mittagspause, wenn möglich mit einem Mittagsschläfchen, kann man aus einem Tage zwei machen. Ich habe das Jahrzehnte hindurch regelrecht durchgeführt: am Vormittag die Schule, am Nachmittag schriftstellerische Arbeit bzw. die Geschäftsführung der Gesellschaft für Volksbildung. Ich glaube nicht an die Vorteile der ungeteilten Arbeitszeit, auch im geschäftlichen und gewerblichen Leben nicht. Die großstädtischen Verhältnisse bringen es leider mit sich, daß die Arbeit meist nacheinander gelegt und nacheinander erledigt werden muß. Aber auch der fleißigste Arbeiter ist nicht in der Lage, in 7, 8 Stunden Arbeitszeit ebensoviel zu leisten, als ein anderer in 2 mal 4 Stunden, die durch eine ausreichende Ruhepause getrennt sind. Dasselbe gilt auch vom Schulunterrichte. Die ungeteilte Schul­ zeit, wie sie heute besteht, ist eine sehr bedenkliche Einrichtung. Die letzten Schulstunden sind eine Marter der jungen Gehirne. Will man die ungeteilte Schulzeit beibehalten und völlig durch­ führen — ich habe nichts dagegen — dann muß man die Schul­ stunden für die Jüngeren auf zwei, für die Alteren auf drei oder höchstens vier beschränken, und alles, was sich als wahlfreier Unterricht und selbstgewählte Beschäftigung anschließt, von dem eigentlichen Unterrichtsstamm gesondert auf den Nachmittag legen. Eine „ungeteilte" Schulzeit im eigentlichen Sinne gibt das dann freilich auch nicht. Die Wertschätzung unserer Schule leidet vielfach unter der Meinung, daß Schulbildung und Lebensbildung, Schulwert und Lebenswert etwas ganz Verschiedenes seien. Ich bin der Mei­ nung, daß diese Ansicht durchaus falsch ist. Freilich, wenn das

Leben von jemand, der ein tüchtiger Schüler mit gutem Verstand und gutem Gedächtnis war, verlangt, daß er Steine klopfen oder Dünger fahren soll, so kann man nicht erwarten, daß der gute Schüler auch ohne weiteres ein guter Arbeiter ist. Aber wenn das Leben dieselbe oder ähnliche Arbeit verlangt, in der das Kind in der Schule sich ausgezeichnet hat, so wird das Leben in der Regel auch halten, was die Schule verspricht. Freilich kann die Schule nicht für die Lebcnsschicksale, sittlichen Gefahren und sitt­ lichen Verirrungen und so vieles andere, was das Leben mit sich bringt, irgendwie verantwortlich gemacht werden. Ich habe in vierzigjähriger Erfahrung aber immer wieder gefunden, daß die Kinder, die vor mir auf der Schulbank nach jeder Richtung hin tüchtig waren, auch später in der Arbeit in ganz derselben Weise sich auszeichneten. Ich habe in dieser Beziehung nicht einen ein­ zigen Mißerfolg gehabt. Kinder, denen ich aus ihrer Schulzeit heraus nicht viel zugetraut hatte, die ich trotzdem in meine Arbeit einstellte, haben sich auch hier nicht besser entwickelt, als ihre Schulleistungen erwarten ließen. Man muß freilich auf der Schulbank das ganze Kind, nicht nur den bloßen Lerner oder Zeichner oder Rechner sehen, sondern vor allen Dingen auch den Fleiß, die Gewissenhaftigkeit, die Treue, das persönliche Ver­ halten. Wer so sieht und beobachtet, wird immer eine starke Über­ einstimmung zwischen Schulleistung und Lebensleistung finden. Dummköpfe — ich spreche nicht von Verkannten, wie Justus Liebig einer war — werden auch im Leben niemals Gescheite, und Unfleiß auf der Schulbank, als Ganzes genommen, nicht nur in einzelnen Gegenständen, wird sich nicht in Fleiß in der Erwerbsarbeit umwandeln. Auf einen Aufsatz unter der Über­ schrift: „Hält das Leben, was die Schule verspricht?", den ich im „Berliner Tageblatt" veröffentlichte, habe ich einige Hundert Zu­ schriften erhalten. Eine Verarbeitung dieses reichen Stoffes ist leider bisher unterblieben. Aber die Antworten in ihrer Gesamt­ heit bestätigen durchaus meine Auffassung. Dagegen glaube ich, daß ein guter Schüler keineswegs immer und ohne weiteres oder auch nur in der Regel ein guter Lehrer

wird. Unter meinen Mitschülern im Seminar erwiesen sich mehrere, die als Schüler mittelmäßig, sogar weniger als mittel­ mäßig waren, als ausgezeichnete Lehrer, schon bei den ersten unterrichtlichen Versuchen im Seminar, und sie sind es, soweit ich sie habe weiter beobachten können, auch geblieben. Schnellig­ keit der Auffassung, mühelose Beherrschung gewisser Dinge ver­ führen zu leicht dazu, über die Schwierigkeit der Auffassung und Aneignung beim Schüler hinwegznschen. Ich selbst z. B. habe nie ein volles Verständnis dafür gewinnen können, daß Kinder für das Ausrcchnen von Aufgaben eine ziemliche Zeit nötig haben, weil mir beim Stellen oder Anhören einer Aufgabe in der Regel auch sofort das Ergebnis gegenwärtig war. So war ich's von der Schulbank her gewöhnt, und das hat meinen Rechenunter­ richt, trotzdem ich diese Schwäche cinsah, dauernd beeinträchtigt. Trotz allem, was ich Gegenteiliges erfahren habe, glaube ich an den unbedingten Wert der Freiheit und werde, solange meine Kräfte reichen, für schrankenloseste Freiheit in allem Guten eintreten. Freiheit dem Kinde! Ein großer Teil aller Unarten entspringt aus der Auflehnung gegen Ver­ gewaltigung! Und warum leisten Kinder so oft nichts? Weil sie zu etwas gezwungen werden sollen, wozu ihnen jede Anlage und Neigung fehlt. Sorgsame Hinleitung würde auch in diesen Fällen noch oft Erfolge zeitigen. Zwang verschüttet den Weg. Das Kind fühlt sich in seinen eigensten Bedürfnissen beschränkt, fühlt sich verkannt, fühlt sich auch mißachtet, und daher die Sklavenaufstände in so vielen Schulen und kleineren Erziehungsgemeinschaften, die oft zu einem fortdauernden Kriege zwischen Erziehern und Zög­ lingen führen. An die Tugend der Knechtschaft glaube ich nicht. Von freier Hingebung des Kindes an den Reiferen, Höheren, ihm Voranschreitenden erwarte ich alles. Der Sklave ist nie gut. Die Schlechten, die Trägen, die Untüchtigen mögen die Folgen ihres Verhaltens tragen, ihrem Willen mag der Wille der andern gegeniibertreten. Dem Schlechten „Freiheit" zu geben, ihm feige aus dem Wege zu gehen, bedeutet Unfreiheit für alle Guten, und jeden Unfähigen „halten", ist nicht nur ein großer Nachteil für jede

Arbeitsgemeinschaft, sondern auch ein Unrecht gegen die Tüch­ tigen, die ihre ganze Kraft einsetzen. Auch im Leben der Erwachsenen, in allen Lebens- und Arbeitsverhältnissen möglichste Freiheit! Ich glaube nicht an einen großen Wert der herkömmlichen Aufsicht und Leitung. Sie sind nur wertvoll als bereitwillig aufgenommene Belehrung und Förderung, als gemeinsame Arbeit mit Menschen, die mehr sind und mehr können. Im Angesichte und unter Beihilfe von Höheren und Reiferen zu arbeiten, ist immer ein starker Antrieb zu voll­ kommenerem Tun. Darum soll einem Untergebenen, einem Unvollkommeneren nie die Gelegenheit genommen werden, seine Arbeit von besonders Urteilsfähigen beobachtet und benrteilt zu sehen. Freiheit im Staate! Alle Zuchthausbcglückungcn, ob sie vom absoluten Staate, von der Kirche oder vom sozialistischen Gegenwarts- oder kommunistischen Zukunftsstaate kommen, erscheinen mir gleichmäßig als das Grab alles Höheren. Die Vertreter dieser Staatsgedanken tun ganz recht, wenn sie ihre Staatsauffassungen in Bienen- und Ameisengeschichten darstellen. Was sie wollen, mag für Bienen und Ameisen tatsächlich werivoll sein. Ich kann das aus meiner geringen Kenntnis dieser Tiere nicht beurteilen. Vielleicht haben sie aber auch dort nicht einmal recht. Freiheit und Schutz jeder Freiheit! Das heißt, keine Raubtierordnung. Darum: Kinderschutz, Frauen­ schuh, Arbeiterschutz, aber auch Schütz allen anderen, die sonst nicht zu den Schoßkindern der sozialen Fürsorge und sozialen Gesetzgebung gehören, die mit sittlich reinen und das Gemein­ wohl nicht schädigenden Mitteln wirken und dabei eigene Wege gehen, auch wenn sie die staatliche Stallordnung hier und da etwas stören. Alle Bindungen und Freiheitsbeschränkungen lassen sich nur als Schutz der Schwachen, als Förderung und Schutz der Freiheit derjenigen rechtfertigen, die ohne diesen Schutz unfrei sein würden. Freiheit insbesondere in allem Geistigen! Auch in der Er­ ziehung! Darum keine Alleinschule des Staates, keine völlige 234

Unterdrückung der Privatschulen, sondern nur Beschränkung ihrer geineinschädlichen Wirkungen. Es gehört meines Erachtens zu den Grundrechten des freien Staatsbürgers, daß er sein eigen Fleisch und Blut innerhalb der Staatsgesetze nach eigenem Wissen und Wollen selbst erziehen oder erziehen lassen darf. Aber nicht aus Mitteln der Staatsgemeinschaft, sondern aus eigenen Mitteln. Die vom Staate unterstützte oder unterhaltene Privatschule ist lediglich eine verdeckte Staatsschule und steht hinter der wirk­ lichen Staatsschule in ihren Leistungen und in ihrem Wirken zumeist zurück.

15. Unfr was nun? Was das weitere Leben mir noch bieten wird, mtb was ich noch zu leisten in der Lage sein werde, muß ich dem Schicksal anheimstellen. Aber soviel an mir liegt, möchte ich doch nicht gar zu früh in den Ruhestand treten. Ich fühle dazu weder Neigung noch Bedürfnis. Wenn ich wählen könnte, würde ich mir einen anderen Abschluß meines Lebens wünschen: ich möchte wohl unmittelbar hinter erreichten schönen und großen Zielen, im Angesichte eben geleisteter Arbeit mein Leben beenden.

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Seit zweieinhalb Jahren bauen wir Deutschen an einem neuen Staate, einem Volksstaate mit den weitestgehenden Rechten und mit schweren, harten Pflichten aller im Volke. Wohl nur selten hat ein Volk unter so schwierigen Verhältnissen den Mut gefunden, eine alte, sichere staatliche Ordnung aufzugeben und einen unsicheren Neubau zu beginnen. Möge er gelingen! Daß aber der neue Staat nur werden und sich entwickeln kann, wenn für die Bildung und Erziehung seiner Angehörigen nach jeder Richtung hin gesorgt wird, ist die gemeinsame Über­ zeugung aller Urteilsfähigen. Galt es bis dahin vielfach als höchste Staatsweisheit, die Bildung nach der abgestuften staats­ bürgerlichen Berechtigung zu bemessen , so gilt jetzt das Vermächt-

nis Fichtes: „Erziehung allen ohne Ausnahme."*) Die Wider­

stände sind gebrochen, hoffentlich nicht auch die Kraft. Aber was

auch kommen möge, der Volksschullehrerstand wird und muß zum Volke stehen und zu seiner Jugend. Werdet mehr Pestalozzi als

Diesterweg! Aber seht Pestalozzis Werk in der großen weiten Auffassung, die Fichte ihm gegeben hat! Und dann schafft und wirkt. „Was feder Tag will, sollt ihr fragen, was jeder Tag will, wird er sagen."

Und ob es vorwärts gehen wird? Ich glaube es, trotz allem Unerfreulichen. Der „Untergang des Abendlandes" steht nicht vor der Tür. Eben dieses Abendland hat die Mittel für ein höheres Menschen­ dasein geschaffen. Alle Hochgedanken des Morgenlandes sind Bot­

schaften, Morgenrotstrahlcn einer höheren Welt. In diese selbst kann aber nur der schaffende Mensch, der Mensch der Maschine ein­ treten, der als Mensch der Maschine die letzten Reste des einstigen Raubtierdaseins ablegen kann. Daß diese Schöpfungen des Menschengeistes, die die Verwirklichung alles Hohen und Höch­ sten, das vor uns empfunden und gedacht worden ist, für alle ermöglichten, im Kriege zur Vernichtung von Millionen von

Menschenleben und zur Zerstörung unendlicher Güter gemiß­ braucht wurden, ist ein Rückfall in überwunden geglaubte Zeiten. Aber alle die Kräfte, die zerstörten, die vernichteten, die Tod, Elend

und Armut brachten, sie allein können auch wieder Unendliches schaffen, können den Menschen von dem Fluch der nieder­ drückenden, rohen körperlichen Arbeit erlösen und allen, nicht nur wenigen, die Möglichkeiten eines Aufstiegs über die bisherige Bildungs- und Gesittungshöhe hinaus eröffnen. Das Abendland •) Zu den Widersachern einer alle erfassenden Bildung wird auf Grund mannigfacher Massnahmen auch Deutschlands größter Staatsmann des 19. JahrhundertS, Fürst Bismarck, gerechnet. Bismarck hat zu Zeilen aber auch anders geurteilt. Er nannte 1874 die Volksschullehrer seine „getreuen Kampfgenossen" und in einer gegen den Abgeordneten Windihorst gerichteten Rcde, in welcher er sich gegen die Unterstellung verteidigte, als ob er eine Beseitigung des allge­ meinen Wahlrechts beabsichtigte, hat Fürst Bismarck gesagt: „Ich rechne auf den Fortschritt, auf die Entwicklung, auf die Schärfung des Urteils durch die Schule"; aber er fügte hinzu: „nach ihrer vollständigen'Emanzipation".

trägt alle Keime höchsten Menschendaseins in sich; ob die jetzigen Völker sie entwickeln, oder ob sie nur erst die Vorläufer, die Weg­ bereiter der nach ihnen Kommenden sein werden, das allein ist

die große geschichtliche Frage, die uns in unendliche zeitliche

Weiten vorahnend hineinblicken läßt, und auch in Weiten der räumlichen Verteilung der Nassen und Völker, hinter denen selbst die Ereignisse des Weltkrieges verschwinden. Und das eigene

Volk und Vaterland werden trotz allem, was uns heute drückt, immer mehr das Herz Europas und das Herz der Welt werden. Fest auf dem Boden der Gleichberechtigung und Gleich­

wertigkeit aller sittlich Tüchtigen, aller Arbeitenden und Schaf­

fenden stehend, werden wir, vielleicht von allen Völkern zuerst, zu einer Ordnung der Dinge kommen, in der jedem das Seine werden kann, und das Ganze eine Gemeinschaft, die keinen aus­ schließt, der sich nicht selbst zum Ausschluß verdammt. Und in dieser großen Gemeinschaft wird auch die Gemeinde

der geistigen Arbeiter wieder zur Geltung und zu ihrem Rechte kommen, mit ihnen die Erzieher des Volkes und seiner Jugend.

Daß sie ihr Werk so groß wie möglich, alles und alle um­ fassend denken, das letzte Kind und die letzte Kraft sehen und Pflegen wollen, das ist die Aufgabe der neuen Schule. Das konnte

die alte Buchschule nicht. Als Volksschule war sie zu einer Zwittererscheinung verdammt, ein schwacher Abklatsch der höheren Bildung.

Volksbildung kann nur auf dem Boden des ge­

samten Volkstums gedeihen. Volksbildung hat nur vollen Wert, wenn sie für das Volksleben in allen seinen Erscheinungen wirkt.

Unsere Schulen werden deswegen in der Zukunft ins­

gesamt ganz anders sein müssen, als die heutigen. Das Buch wird daraus nicht verschwinden, im Gegenteil. Aber nicht alle

sollen und dürfen für das Buch, gewissermaßen des Buches wegen, erzogen werden. Fröbel und Pestalozzi müssen mehr zu Worte kommen, als es bis heute geschehen ist. Eine unendliche Fülle von Aufgaben drängt sich herzu. Aber wir werden uns davon nicht erdrücken lassen, wenn Ordnung

und Auswahl nach Bedürfnis,

Neigung und Fähigkeit der

Wachsenden und Werdenden erfolgt. Und dann werden dem Leben fortgesetzt unendlich reiche und starke neue Kräfte zu­ strömen, und ein neues Deutschland wird entstehen, in dem das Lied des alten Volksmannes Hoffmann von Fallersleben: „Deutschland, Deutschland über alles" erst seinen vollen und rechten Klang hat. Auf neuen Wegen brauchen wir neue Wegweiser. Die alten Erziehungslehren und Schulkunden sind unzulänglich geworden. Wissenschaft und Forschung, Beobachtung und sinnende liebevolle Vertiefung auch in das, was nicht mit dem Verstände, sondern nur mit dem Gemüte erfaßt werden kann, werden uns das Schul­ haus bauen helfen. Wenn ich darin doch noch schaffen und wirken könnte! Ich sehe es in einer schimmernden Landschaft im Abcndsonnengolde. Dahinter aber sucht das Auge einen neuen Morgen. Wohlauf, hinein, ihr Jungen, in die neue Schule! Wir Alten werden, wenn nicht steigend und schaffend, so doch sehnend und schauend euch folgen.

Blattweiser

«. Aachen 121, Abegg 167, Abendland und Morgenland 236, Abkunst 12, „Agitationen", an A. beteiligt 98, Agitationen (des ,Fehrervolks") 96, All­ gemeine Bestimmungen (15. 10. 72) 122, Allgemeine Deutsche Lehrerzeitung 115, Allgemeines Landrecht 130, Allgemeine Volksschule 127, 143, Alt-Storkow 15, Amtsgeheimnisse 130, Angriffe auf die Volksschule 129, Anlagen und Neigungen 102, Antisemitenspiegel 160, Arbeiten und Kämpfe 7, Arbeiten, planlos 225, Arbeiten, wissenschaftliche 122, Arbeitsweise 230, Arbeitszeit, ungeteilte 231, Auffassung, schnelle 224, Aufgabe der neuen Schule 237, Aufnahmeprüfung 47, Ausländer, Besuche von Ausländern 174, Auslands­ beziehungen und Auslandsreisen 174, Austritt aus dem Schulamt 142, 158, 159, Auszeichnungen 7, Außere Dinge (Kleidung, Speise, Trank, Schlaf) 222.

B. Bahr, Max 126, Bamberger, Ludwig 126, Barth, Theodor 113, 125, 126, 210, Bauernführer 126, Bauernverein Nordost 126, Bergen 210, Berichte (in den Tageszeitungen) 135, 145, Berlin 98, 99, 101, Berliner Lokalpädagogik 137, Berliner Privatschulen 99, „Berliner Spitze" 141, Berliner Tageblatt 112, 125, 145, Bernsdorf 14, Bertram 127, Bcrussaenossen als Offiziere 214, Be­ urlaubung 158, Bezirksversammlung (Berlin-Tiergarten) 172, Bibellesen 31, Bildung und Gesittung, gesellschaftliche 133, Bildungsvereine, deutsch-öster­ reichische 178, Bismarck, Fürst 130, 164, Bitthorn, Pfarrer Dr. 108, Bosse, Dr. Robert, Kultusminister 165, 167, Braun, Lily 229, Brüssel, Weltaus­ stellung 184, Bücher, Abfassung von Büchern 120, Bukarest 215. E.

Clausnitzer, Leopold 115, 156, 166, Cuvry, Paul de 158. D.

Daheim (Eheglück 200, Familie meiner Frau 200, Hochzeit 204, Häus­ lichkeit, Rißmann 204, Eheleben 204, Kirchenbesuch 204, Kinder 205, Henry Schleusener 206, Ferien in Dramburg 206, Hinrich Schloen 207, Gesellig­ keit 207, Kriegsarbeit 212, Kriegsnöte 212), Danziger Zeitung 125, „Der 8. Deutsche Lehrertaa und seine Gegner" 145, „Der Bildungsverein" 157, Deutsch-demokratische Partei 173, Deutsche Schule (Zeitschrift) 115, Deutsche Schulleitung 147, Deutsches Reichsblatt 126, „Die deutsche Einheitsschule" 152, Dittes, Friedrich 144, Dohrn, Dr. Heinrich 126, Dorf und Stadt 17, Drambrrrg (Kmdheitserinnerungen 6, 16, Schulzeit 36, Jugend (Dramburger) 38, Schulläligkeit in Dramburg 81, Lehrkörper 81, Rektor Schmidt 36, 81, K,

geistiges Leben 84, Lehrerkonferenzen 85, Geistliche 85, Schulrat Kahle in Dramburg 85, Franz Neubüser 89, Kastengeist 203, Ferien 206), Dramburger Stadtfeld 16, Durchführung der Schulklassen 105.

E. Eigenart 11, Einheitsschule (Kiel 150, im Kriege 151, „Die deutsche Einheitsschule" 152), „Ein Volk — eine Schule 152, 200 Versammlungen für die E. 152, Staatsumwälzung 152, Reichsverfassung 162, Rcichsschulversammluna 152), Einschnürung (des Lehrers) 124, Eltern, Schulbildung m. E. 23, England (Landschaft 191, Lebensunterhalt 189, 192, Verkehr mit Engländern 193, Deutschtum in London 193, 198, Öffentliches Leben 193, Dockstreiks 193, Arbciteraufzüge 194, Londoner Polizei 194, Londoner Jugend 194, Arbeiterfrauen 195, 197, East End und West End 195, Schulen 196, Besoldung der Lehrer 196, Volkserziehung und Volksbildung 197, Toyu bee Hall 197, Volkspalast 197, Ehrlichkeit der E. 199, Trunksucht der Frauen 199, Mittagspause in der City 199, „Englische Arbeitszeit" 199, Fremdenhaus 199, Nachtseiten des englischen Lebens 200), Enkelin 206, Erbteil 11, Erfolge 221, Ernst, Direktor Albert 118, 129, Erziehungsfreiheit (der Eltern) 134, Er­ ziehungspartei (Freisinn) 174, Ethische Kultur, Gesellschaft für 229.

F.

Falk, Adalbert, Kultusminister 47, 65, 168, Falkenburg (Bürgerschaft 69, 70, 203, Mittelschule 70, Schul- und Lehrcrelend 70, Schülerinnen 71, Reli­ gionsunterricht 71, Grundklasse 72, 73, überfüllte Schulklassen 72, Vorvereitung auf den Unterricht 74, 76, Berufsgenossen 75, Schuldcputation'(Ver­ weis) 76, Gesangverein 77, Bühnenverein 77, Schulden 77, Judenhche 78, Geistlichkeit 79, 81, Lehrerkonserenzen 80, Lesebuchsrage 80), Favorke, Gustav 100, Feinde 8, Ferien 206, Flcdelius, Dr 209, Förster, Friedrich Wilhelm 229, Förster, Wilhelm 229, Frankfurter Zeitung 125, Freidenkerverein Lessing 229, Freie pädagogische Vereinigung 106, 136, Freiheit, größtmögliche 173, 222, Fr. dem Äinde 233, den Erwachsenen 234, im Staate 234, allem Geistigen 234), Freisinn 100, Freisinnige Vereinigung 106, 136, Freisinnige Volkspartei 126, 171, Friedrich, Dr. (Bukarest) 215, Friedrich, Seminar­ lehrer 59. G. Gallee, Hermann 99, 135, 143, Gartenlaube 113, 125, Geburtshaus 16, Gebundenheit und Freiheit 219, Gedächtnis (Schwäche des Wortgedächtnisses 226, Zahlengedächtnis 227), Gedichte 6, Gegner 8, Geistliche, Berliner 108, Geistliche und Lehrer 79, 85, 87, Gemeindeschulcn 101, 105, Gemeinsame (Simultan-) Schule 147, Gemütsart (Gutmütigkeit 28, Verschenken 28), Gern­ rode 208, Gesamtausschuß für Kriegsbüchereien 211, Geschäftsführender Aus­ schuß des Deutschen Lehrervereins 143. Geschichtliche Einstellung 106, Gesell­ schaft für Volksbildung 105, 109, 118,130, 146, 149. 156,162,164 — (KriegsIvohlfahrtspflege der G. 210. Kriegsabende 210, Sammlungen 211, Kriegs­ büchereien 211, Angestellte 212, Beschaffung von Kleidungsstücken 212), Ge­ sellschaftsreise 203, Geschwister 25, Goßler, Kultusminister 164, Graff 107, Grenzmenscy 220, Großvater 14, 15, Groth, Seminarlehrer 60, Grundklasse 72, 83, Grundschulgeseh 153, Günther, Albin 148, Gutsherren, Schulleistungen 130. H.

Halben, Johannes 142, Hamburger Richtung (im Jugendschrifttum) 138, Hamburger Vertreter 144, Haenisch, Kultusminister 169, Hauswirtschaftlicher

240

Unterricht 123, Heimat (Landschaft 18, Volksdichtung 21, Scherz- und Spott­ verse 21, Märchen 22, Kunstsinn 22), Heimatlieder 111, Heinrichsfelde 14, Helmcke, Gustav 147, Herbartsche Kreise 106, 107, Hermes 100, Hmaufentwickelung 133, Hintz, Seminarlehrer 60, Hochschulmäßige Vorbildung der Volksschullehrer 147, Hoffmann v. Fallersleben 238, Holle, Kultusminister 149, 169. 3»

Jancke, Otto 61, Jastrow, Dr. I. 125, Juden (Beziehungen zu Juden 50, Judenhetze 78), Jugendschristenausschuß 138, Jugendschristenverzeichnis 138, Jugendschristenwarte 139, Jugendschrifttum, sozialdemokratisches 139.

K. Kahle, Schulrat 87, Kamp, Dr. 118, Katechismen, jüdische 161, Kern, Direktor 56, Kinder, meine 160, 205, 207, Kindheit, meine erste K. 20, Knabenhandarbeitsunterricht 123, Knörcke, Pfarrer Gustav 128, Köhnkc, Harro 143, Kölner Tom 191, Kölnische Zeitung 125, Konfirmandenunter­ richt 34, Köpp, Seminarlehrer 60, Kopsch, Rektor 129, Krieg (1866 und 1870/71) 6, Kügler, Ministerialdirektor 166.

L. Lambrecht, Subrektor 40, Landbevölkerung 220, Landeslehrervereine 155, Lange, Dr. Friedrich 112, 113, Lebensanschauungen 218, Lebensdarstellungen 5, Lebenserinnerungen 5, Lebenswert der Schulbildung 110, 231, Lehrer (Hein­ richsfelde) 28, Lehrer, meine 228, Lehrerkonferenzen 80, 85, Lehrermangel 43, 147, Lehrerprüfung, erste 66, zweite 62, 93, 111, Lehrerseminar 67, Lehrertage, deutsche: Berlin (1890) 118, 144, (1888) 143, Halle a. d. S. (1892) 146, Lehrerverem, Berliner 100, 135, 136, 140, Lehrerverein (Deutscher 140, 143, 146, Elsaß-Lothringischer 149, Preußischer 140, 143), Lehrervereine und Lehrerver­ sammlungen 135, Lehrerversammlung, Deutsche (Gotha (1887) 142, Hamburg (1896) 123, 146, München (1906) 147, Dortmund (1908) 147, 167, Straßburg (1910) 149), Leistungen 66, 67, Lesebücher, Herausgabe von L. 117, 118, 119, 168, Lesebücher, Beurteilung 80, 119, Lesenlernen 83, Levhsohn, Dr. Arthur 113.

M. Magazin für Lehr- und Lernmittel 111, Maßregelung 142, Meyer, Dr. Alexander 126, Mißerfolge 221, Mittagspause 231, Mittelschullehrerprüfung 95, Mobilmachung 210, Musikunterricht 66, Mutter, meine 15, 49, 227.

N. Nation (Zeitschrift) 125, Neubüser, Franz 89, Neue Pädagogische Zeitung 146, Neue Schule (Aufgabe) 237, Neue Wegweiser 238, Neues Deutschland 238, Nichtbeachtung (von Angriffen) 147, Niedersachsen 13, Nordfrankreich 191.

O. Oberrechungskammer 131, Offenheit 224, Öffentliches Leben (Beteiligung am ö. L.) 169, Offiziere 214, Orts- und Kreislehrervereine 155, Ortsschul­ aufseher (geistliche) 44, 79, 85, 87, Otto, Schulrat 107.

P. „Pädagogische Studien" 93, 111, Pädagogische Zeitung 106, 112, 114, 115, 148, Paris (Weltausstellung 181, Serout, Schulleiter 181, 185, 188, 16

TewS, Aus Arbeit und Leben.

241

Pariserinnen 181, Schulen 183, 187, wirtschaftliche Lage der Lehrer 185, Mittagsspcisung der Kinder 185, Arbeiterverhältnisse 185, Guillaume II 186, freie Volksbildung 188, Deutsche Ausstellung 188, Lebensunterhalt 188, 192, Vergnügungsstätten 189, Umgebung von P. 190, Hceresschaustellungen 190, Louvre 190, städtische Einrichtungen 190), Päßlcr 115, Pautsch 147, Pcnzig, Rudolf 229, Platen, Scminardiret'tor 98, Prag (deutsche Schulen 178, deutsch­ feindliche Aufzüge 179, deutsche Sprache 179, Tschechen 180), Preisaus­ schreiben für Lehrpläne 146, Prctzel 115, 120, Preußische Lehrcrzeitung 89, 112, 115, 131, Preußische Schulgcsehgebung 124, 155, 156, Preußische Ünterrichtsminister (Falk 47, 65, 168, 148, 167, Holle 149, 169, Goßler 164, Puttkamer 65, 164, Zedlitz 165, Bosse 165, Trott zu Solz 169, Schmidt 169, Haenisch 169), Preußischer Schulgesetzentwurf (im Lichte der deutschen Untcrrichtsacsctzgebung) 141, Preußisches Abgeordnetenhaus 124, 126, 171, 217, Preußisches Staatsministerium 130, Prüfungen 63, 90, 93, 97, Puttkamer, Kultusminister 65, 164, Phritz 94.

91 Ramschklassc 102, Redner 226, Regulative 60, 122, Reichsschulgcsctzcntwurf 134, 165, Reichsschulvcrsanimlung 152, Reisen (Süddcutschland und Österreich 176, Wien 176, Prag 178, Paris 181, Aachen 191, Köln 191, Nord­ frankreich 191, England 191, in Deutschland 204, 206, im Kriege 213), Reiß­ mann, Adolf 60, 65, Rektoratsanwärtcr 100, Rektoren und Lehrer 103, Reli­ gionsunterricht 30, 71, Religiöse Kämpfe 35, 37, Rcselkow 43, Rheinische Provinziallehrerversammlung 147, Richter, Eugen 100, 126, 128, 171, Rickert, Heinrich 126, 156, 158, 159, 160, 161, 167, 168, 210, Ries, Emil 123, 146, Rißmann, Robert 106, 115, 116, 121, 122, 123, 136, 143, Röhl 115, Röstel, Hugo 157, Rothenburg o. d. T. 215, Rügen 97, Rumänien 213, Rupnow 120, Russen 175.

S. Sadler 174, Schafhirt 20, Schenckendorff, Emil v. 122, Scherer, Heinrich 122, 146, Schlcuscner, Henry 206, Schloen, Hinrich 119, 207, Schmeil, Dr. Otto 146, Schmidt, Ferdinand 138, Schmidt, Kultusminister 169, Schmidt, Rektor in Dramburg 39, 83, Schneider, Geh. Rat Dr. Karl 118, 144, 168, Schneider und von Bremen, Preuß. Volksschulwesen 125, Schoenaich-Carolath, Prinz Heinrich zu 162, 209, Schrader, Karl 126, 210, Schriftleiter 113, Schrift­ steller 113, schriftstellerische Arbeiten 110, Schröcr, Heinrich 115, Schulanwärter 29, 34, Schulaufsicht, geistliche 44, 45, 47, Schulbildung und Lebenswcn 231, Schulbücher, Abfassung von Schulbüchern 124, Schule zu Heinrichs­ felde (Schulbctrieb 25, Schulanwärter 29, 34, Schulerziehung 29, Unterricht 30, Knaben und Mädchen gemeinsam unterrichtet 33, Lehrer 27, 29, 34), Schuleintritt 26, Schul- und Lchrerelend 26, 70, Schüler und Lehrer 232, Schülcrdankbarkeit 110, Schulfeindliche Parteien 129, Schulfragen als Volks­ fragen 133, Schulführung, staatliche (Schulpolitik) 122, Schulherrschaft, kirch­ liche 134, Schulkompromiß, Kampf um den 159, Schullcistungsgesch 164, Schultätigkeit (in Falkenburg 69, in Dramburg 81, in Stettin 90, in Berlin 99), Schulvcrhältnisse, äußere 140, Schulz, Provinzialschulrat 93, Schul­ zählungen 125, 131, Schulzeit 7, Schulzettungen 114, Schulziele 134, Schul­ zucht 40, 82, Schwalbe, Professor B. 127, Selbstbewußtsein 225, Seminar (Geist 7, Aufnahme 47, Eintritt 49, Internat 48, 50, 202, Unterricht 49, Ver­ hältnis zu den Lehrern 49, 53, Kameradschaft 51, Freundschaften 51, 64, Wesen 51, Klassenleistungen 52, Strebertum 53, lachendes Wesen 55, geistige Arbeit 55, 61, Sperber 56, Kern 56, Seminarordnung 57, Bibelsprüche 57,

63, Zusammenstöße 58, Beköstigung 59, Lehrer 59, 60, 65, regulativische Über­ lieferung 60, Schulbüchcrei 61, Zeugnis 66, Mängel des Lehrerseminars 67, Scminarlehrcr 68, 69, Lehrerhochschule 68), Sitzungen 170, „Sozialdemokratie und öffentliches Bildungswcscn" 140, Soziale Praxis (Zeitschrift) 125, Sozialis­ mus 173, „Sozialistische Zukunftsbilder" 127, Sozialpädagoaik 123, Sperber, Eduard 56, Sprachreinigung 153, Sprachschule, deutsche 120, Staatsumwälzung 216, Staat und Schule 134, Stadt und Dorf 17, Standesunterschiede 133, Standcsvorurteile 225, Stcphany, Friedrich 113, Stettin (Obcrwiekschule 91, Großstädtische Armenschule 91, Dr. Krosta 92, 96, Lehrerschaft 92, Mittclschullehrerprüsung 95, Agitationen (des „Lehrcrvolks") 96, Schulwesen 97, Landschaft 97), Stöcker, Hofprcdigcr 144, Stockholm 184, Studienreise (durch Süddeutschland und Österreich) K6, Studt, Kultusminister 148.

T. Tagebücher 8, „Tägliche Rundschau" 111, 112, 145, Tews (Name) 13, Töchter (Elsa 206, Gertrud 119, 206), Trott zu Solz, Kultusminister 169.

U. Ilbclwollcn 221, Überfüllung der Schulklassen 72, 131, Umgebung 11, Um­ schulen 102, Umschwung (in den 70cr Jahren) 218, Ungarn 213, Unterricht, erster 27, 29, 32, Unterstützungen (der Gemeinden auf Quittungen der LebTcr) 131. V. Vater 15, 22, 228, Vaterhaus (Gastfreundschaft 17, Wohltätigkeit 17, Be­ suche 18, Haustiere (Hunde) 19, Arbeiten 21, Erziehung 23, Kleidung 24, Tisch 24, Geistiges Leben 24, Freiheit 24), Verbindung mit früheren Schüle­ rinnen 109, Verein für wissenschaftliche Pädagogik 105, 106, 107, Vereins­ mensch 223, Vergütungen, schriftstellerische 114, Verlobung 203, Versamm­ lungen 170, Verschiedenheit (der Menschen) 133, Virchow, Gustav 200, Virchow, Minna 200, Virchow, Rudolf, 127, 201, Volksbüchereien, Errichtung von 161, Volksstaat 217, 235, Volksversammlung 149, 150, Volksvertreter, auf dem Wege zum V. 169, (Berlin 171, 172, Landsberg-Soldin 171, Neuer Reichs­ tag 172, Stadtverordnetenversammlung 172, Bczirksvcrordneter 172), Vor­ bereitung auf den Lchrerberuf 35, 38, Vorbilder 43, Vorfahren 13, 14, Vor­ schule 130, Vorträge (im Berliner Lchrcrvcrein 137, in Volksversammlungen 149, über die Einheitsschule 152, auf den Kriegsschauplätzen 214), Vossische Zeitung 112, 125, 127, 145. W. Wahlverein der Liberalen 126, Wahrheit und Dichtung 8, Warschau 213, 215, Weltausstellungen (Paris 181, Brüssel 181), Weltkrieg 6, 208, (Kriegs­ erklärung 209, Kricgsarbcit (der Gesellschaft fiir Volksbildung 210, im Hause 212), Kriegsnöte 212, Reisen 213, Hochschulkurse 215), Miende, Fritz 100, Westfront 213, 214, Wien (Schulverhältnisse 176, Lehrerversammlungen 177, Volksvorlcsungen 178, W. im Kriege, Hungersnot 215), Wiesbaden 143, Wil­ helm II. 209, 217, Wisliccnus 157, Wohlrabe, Dr. 107, Wolgast, Heinrich 138. Z. Zahlen 132, Zedlihscher Schulgesctzentwurf 127, 128, 140, 165, ZedlitzTrützschler Graf v., Kultusminister 165, Zeitereignisse 6, Zcitungs- und Zeitschriftenaufsätzc 121, Zeitungsdienst 125, Ziegler, Paul 138.

3. Tews Schriften über staatliche Schulführung und Schulpflege. Der preußische Schulgesetzentwurf im Lichte der deutschen Unterrichtsgesetz­ gebung. Leipzig, Julius Klinckhardt, 1892. Volksbildung und wirtschaftliche Entwicklung, Bonn, Soennecken. (Samm­ lung pädagogischer Vorträge von Wilhelm Meyer-Markau.) Konfession, Schulbildung und Erwerbstätigkeit. Sozialdemokratie und öffentliches Bildungswesen. 7. Aufl. 1921. Elternabende und Ellernbeiräte. 4. Aufl. 1920. (Langensalza, Hermann Beyer & Söhne, 1920. Friedrich Manns Pädagogisches Magazin.) Die Deutsche Volksschule. Marquardt & Co., Berlin (Die Kultur von Cor­

nelius Gurlitt, 18. Band). Schulkompromiß — Konfessionelle Schule — Simultanschule. Buchverlag der „Hilfe", Berlin-Schöneberg 1904. Schulkämpfe der Gegenwart. 2. Aufl. Deutsche Erziehung in Haus und Schule. 3. Ausl. Großstadt-Erziehung. 2. Auflage (B. G. Teubner, Leipzig. Aus Natur und Geisteswelt). Die preußische Schulvorlage. Buchverlag der „Hilfe", Berlin-Schöneberg. 1906, Ein Jahrhundert preußischer Schulgeschichte. Leipzig, Quelle & Mezer, 1904, Die deutsche Einheitsschule. 5. Auflage. Leipzig. Julius Klinckhardt. 1919, Ein Volk — eine Schule. Osterwieck-Harz. A. W. Zickfeldts Verlag. 1919,