Parlamentarismus: Betrachtungen, Lehren und Erinnerungen aus deutschen Parlamenten [Reprint 2019 ed.] 9783111577494, 9783111205045


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German Pages 216 [220] Year 1926

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Table of contents :
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
I. Teil. Betrachtungen über den deutschen Parlamentarismus und die „Demokratie" von heute
1. Kapitel. Zeitgemäße Glossen über den neuen deutschen Parlamentarismus und die Demokratie von heute
2. Kapitel. Einiges über die inneren Mängel und Feinde des deutschen Parlaments und des parlamentarischen Systems
3. Kapitel. Unser Parteiwesen — ein notwendiges Übel?
4. Kapitel. Die Mängel des deutschen Parlamentarismus in der Regierungsbildung
5. Kapitel. Durch die Fehler der „Demokratie" — der Ruf nach dem „Diktator", dem „starken Manne", der Monarchie
6. Kapitel. „Was nun?" Internationale und innerpolitische Schlußbetrachtung und Übersicht
7. Kapitel. Locarno oder „Der Trank aus dem Liebesbecher"
II. Teil. Lehren über die parlamentarische Tätigkeit
1. Kapitel. Einige geschichtliche Bemerkungen über die öffentliche Beredsamkeit
2. Kapitel. Ist „Politik" im Sinne parlamentarischer Betätigung zu lehren?
3. Kapitel. Aber die Kunst und Wirkung der Parlamentsrede im allgemeinen
4. Kapitel. Vorbereitung, Zeit, Ort und äußere Art, im Parlament zu sprechen
5. Kapitel. Stimme, Ton der Rede: Technische Regeln für das Sprechen
6. Kapitel. Gesundheitliche und sonstige Ratschläge
7. Kapitel. Nach der Rede — die Presse!
8. Kapitel. Vierzehn Lebensregeln für Parlamentarier
9. Kapitel. Kurze Glossen über die Diplomatie von heute
III. Teil. Persönliche Erinnerungen. (Kleine parlamentarische Bilder.)
1. Kapitel. Reichskanzler und Minister aus dem alten Regime
2. Kapitel. Reichstagspräsidenten
3. Kapitel. Abgeordnete aus dem „alten Reichstage" der 397!
4. Kapitel. Eugen Richter, seine fortschrittlichen Freunde und die liberalen Nachbarn. — Sozialdemokratische Führer
5. Kapitel. Die neuen Männer des Übergangs aus „alter Zeit"
6. Kapitel. Die ersten Erinnerungen aus dem Reichstage
7. Kapitel. Von den Andern und von mir (Politisches Selbstbildnis in Schwarz-Weiß!)
Sach- und Namenverzeichnis
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Parlamentarismus: Betrachtungen, Lehren und Erinnerungen aus deutschen Parlamenten [Reprint 2019 ed.]
 9783111577494, 9783111205045

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Parlamentarismus Betrachtungen Lehren und Erinnerungen aus deutschen Parlamenten

Dr. Ernst Müller-Meiningen ehem. StaatSminifter und stellv. Min.-Präsid., lang). M. d. R. u. bay. L.

19 2 6

Verlag von Walter de Gruyter & Co. Berlin und Leipzig

Druck von Gerhard Stalling, Oldenburg i. O.

Vorwort. Die Kritik hat das letzte Werk des Verfassers „Aus Bayerns schwersten Tagen" vielfach politische Geständnisse, eine Art „politische Beichte" des Verfassers genannt. Mit gleichem Rechte wird man dies vielleicht gegen­

über dem ersten Teil dieses Buches behaupten können: Es spricht — das fühlt der Verfasser selbst deutlich genug — starker, ost herber Kritizismus und Skeptizismus — (man verzeihe mir die beiden häßlichen „ismen") —

aus diesen Zeilen: Rückhaltlose Geständnisse und Bekenntnisse über Irr­ tümer und Enttäuschungen eines ein ganzes Leben für Freiheit und Recht kämpfenden Mannes, der erkannt hat, daß die größten äußerlichen,

formalen, verfassungsmäßigen „Freiheiten" wenig Wert haben, wenn sie ein für diese Freiheit unreifes, vor allem innerlich, d. h. geistig und seelisch unreifes Volk finden. Ein reifes Volk müßte auch endlich die Führer finden, die es braucht, um

es aus dem Meere von Agitationsphrasen der revolutionären Nach­ kriegszeit herauszuholen, in dem wir — ewig Feste feiernd — Tag und

Nacht von „Einheit" und „Einigkeit" reden, gegen die wir täglich sünd­ haft handeln. Von „Arbeit" und „Sparsamkeit" reden wir und treiben

heillose Verschwendung an wertvollsten Kräften, vernichten gegen Treu

und Glauben Milliarden deutschen Gutes! Die Zusammensetzung und Haltung des deutschen Parlaments und seiner Regierungen, die fort­

gesetzten „Krisen", die Vorgänge bei der Reichspräsidentenwahl, die immer noch vorhandene Korruption wie die Ziellosigkeit der Wählerschaft zeigen, daß wir auch heute noch leider weder die Reife noch die Führerschaft be­ sitzen, daß die trostlose Parteiwirtschaft, auf Grund eines unhalt­

baren, undemokratischen Wahlrechts weiterhin die „Demokratie" wie die

Republik in größte Gefahr bringt. Sicherlich wird die unverwüstliche Kraft des deutschen Volkes

auch diese schweren Krankheitsperioden überstehen. Die Form, in der

die Heilung geschieht, ist dabei ganz nebensächlich. Denn alle Formen

können nur als Mittel zum Zweck der Errettung des deutschen Volkes i»

vor Zerreißung und völliger Vernichtung, niemals als Selbstzweck zur Erhaltung einer Fassade dienen, hinter der sich machtlüsterne Klüngel verstecken, die sich und ihre Parteiinteressen denen des Staates gleichstellen oder sie absichtlich verwechseln. Ihnen muß der Kampf des zukünftigenLiberalismus wie des alten gelten 1 Heute verzehrt auch er sich in Zwietracht und Unklarheit seines Strebens. Die Dinge und Gefahren nüchtern sehen, wie sie sind, nicht wie sie sein sollen oder wie sie mit Absicht gefärbt sind, ist das Streben des Verfassers.

Der zweite Teil enthält die Lehren und Erfahrungen eines alten parlamentarischen Praktikers, die in dieser Weise bisher m. W. noch nicht zusammengefaßt sind. Der dritteTeil gibt kleine Erinnerungen an Einzelpersonen, kleine politische Photographien aus dem alten Reichstag, dessen Bedeutung heute absichtlich entstellt wird, der jedenfalls an Zahl der Mitglieder und Begehrlichkeit klein, an Autorität und Ansehen unendlich hoch über dem heutigen Parlamente stand. Gründe und Abhilfe dieser Rot untersucht der Verfasser im ersten Teil.*) — Der Verfasser ist sich wohl bewußt, daß die rückhaltlose Offenheit, mit der er — völlig frei und unabhängig — die parlamentarischen Verhältnisse ohne Furcht vor parteipolitischen Zwirnsfäden und persönlicher Ver­ unglimpfung behandelt, ihm zu den alten neue Gegner schaffen wird: „Wer mal so ist, muß mal so werden," sagt Wilh. Busch. Doch gilt noch heute das: „Viel Feind, viel Ehr!" Oft haben mir „gute Freunde" zugeraunt: „Warum schaden Sie durch solche Kritik Ihrer politischen Karriere? Warum machen Sie nicht mit den andern gemeinsame Sache, die im Grunde ihres Herzens denken wie Sie?" Rur der, der weiß, welche tiefe, niederziehende Geringschätzung und Mißachtung heute in den weitesten Kreisen gerade der Intellektuellen Deutschlands gegenüber dem Parlament, den Parteien und ihrem „korruptiven Kampfe um die Machtkrippe" besteht, wird diese rücksichtslose Offenheit so loyal einschätzen, wie sie vom Verfasser derSachewegen g e m e i n t ist. *) Der Verfasser beabsichtigte ursprünglich in gesonderten Schriften die drei Teile zu veröffentlichen. Die Zusammenfassung bedingte die Beseitigung ge­ ringer Wiederholungen, die nachMöglichkeit geschah.

Wer ein Leben lang leidenschaftlich für die liberale Sache im Sinne einer gemäßigten demokratischen Entwicklung auf parlamentarischer Grundlage gekämpft hat, hat sich das Recht und die P f l i ch t errungen, offen und ohne Scheu vor Schmutz das zu bekämpfen, was in der Folge Demokratie und Republik zu verderben vermag. Wir aber brauchen heute beide, um die Einigkeit des Deutschen Reiches als einziges, letztes, großes Gut des deutschen Volkes zu erhalten und dem Wieder­ aufstieg wie dem Widerstande gegen schmähliche, Vertrags- und völker­ rechtswidrige Vergewaltigung unter der heuchlerischen Fratze internatio­ naler, „demokratischer" Verbeugungen mit Erfolg vorzuarbeiten. Nur frische, klare, furchtlose Augen — auch wenn sie heute noch viel Sumpf sehen — erkennen und zeigen den richtigen Weg zur Höhe, die das deutsche Volk trotzalledem unaufhaltsam erreichen wird!

München, im Herbste 1925.

Der Verfasser.

Inhaltsverzeichnis. Vorwort.

edt, 3

I. Teil: Betrachtungen über den deutschen Parlamentarismus. 1. Kapitel: Zeitgemäße Gloffen über den neuen deutschen Parlamentaris­ mus und die Demokratie von heute........................................................... 11 2. Kapitel: Einiges über die inneren Mängel und Feinde des deutschen Parlaments und des parlamentarischen Systems................................... 33 3. Kapitel: Unser Parteiwesen — ein notwendiges Übel?................................... 51 4. Kapitel: Die Mängel des deutschen Parlamentarismus in der Re­ gierungsbildung .............................................................................................61 5. Kapitel: Durch die Fehler der „Demokratie" der Ruf nach dem „Dik­ tator", dem „starken Mann", der Monarchie.............................................68 6. Kapitel: „Was nun?" Internationale und innerpolitische Schluß­ betrachtung und Übersicht...............................................................................75 7. Kapitel: Locarno oder „Der Trank aus dem Liebesbecher".......................... 84 II. Teil: Lehren über die parlamentarische Tätigkeit.

1. Kapitel: Einige geschichtliche Bemerkungen über die öffentliche Beredsamkeit.............................................................................. ... 103 2. Kapitel: Ist Politik im Sinne parlamentarischer Tätigkeit zu lehren? 114 3. Kapitel: Über die Kunst und Wirkung der Parlamentsrede im allgemeinen.....................................................................................................118 4. Kapitel: Vorbereitung, Zeit, Ort und äußere Art, im Parlament zu sprechen........................................................................ 126 5. Kapitel (Fortsetzung): Stimme, Ton, technische Regeln fürs Sprechen 133 6. Kapitel: Gesundheitliche und sonstige Ratschläge...................................... 141 7. Kapitel: Rach der Rede — die Presse.....................................................151 8. Kapitel: Vierzehn Lebensregeln für Parlamentarier..................................156 9. Kapitel: Kurze Gloffen über die Diplomatie von heute............................. 158 III.

Teil: Persönliche Erinnerungen (kleine Photographien und Silhouetten).

1. Kapitel: Reichskanzler und Minister aus dem alten Regime .... 1. Bernhard von Bülow 2. Vethmann-Hollweg 3. v. Tirpitz 4. Graf Posadowsky 5. Delbrück 6. Podbielski 7. Rieberding

165

Seite

2. Kapitel: Reichstagspräfidenten.................................................................... 174 1. Graf Ballestrem 2. Graf Stolberg-Wernigerode 3. Dr. Kämpf 3. Kapitel: Abgeordnete aus dem „alten Reichstage" der 397 .... 176 (v. Kardorff, Baffermann, v. Hertling, Freih. von Heydebrand, Dr. Lieber, Trimborn, Gröber, Spahn, Crzberger.) 4. Kapitel: Eugen Richter, seine fortschrittlichen Freunde und die liberalen Nachbarn. — Sozialdemokratische Führer................................................ 183 (Payer, Theodor Barth, Rickert.) Sozialdemokratische Führer im alten Reichstage (Bebel, Liebknecht, Singer, Vollmar usw.) 5. Kapitel: Die neuen Männer des Übergangs aus „alter Zeit" .... 193 (Ebert, Karl Helfferich, Stresemann, Marx, Cuno, Fehrenbach, Wirth.) 6. Kapitel: Die ersten Erinnerungen aus dem Reichstage.............................198 7. Kapitel: Von den andern und von mir (politisches Selbstbildnis) . . 202 Sach- und Namensregister...................................................................................... 211

I. Teil.

Betrachtungen über den deutschen

Parlamentarismus und die „Demokratie" von heute.

1. Kapitel.

Zeitgemäße Glossen über den neuen deutschen Parlamen­ tarismus und die Demokratie von heute. i. Motto: Wenn in Anglückszeiten der Staat die Bür­ ger braucht, dann finden sich nur wenige. (Nicc. Machiavelli.)

Von Jean Jacques Rousseau (Gesellschaftsvertrag, 1762) stammt das Wort: „Wenn es ein Volk von Göttern gäbe, so würde es demo­ kratisch regiert werden. Eine so vollkommene Regierung paßt nicht für Menschen." Die Entwicklung der französischen Demokratie nach der großen Revolution schien I. I. Rousseau recht zu geben. Wer wollte leugnen, daß Republik wie Demokratie, — die sich durchaus nicht decken —, für einen Staat ein hohes, ja höchstes Maß von Risiko und Gefahr, ein großes Wagnis selbst für das kulturell höchststehende Volk bilden? Richt als ob Bismarck recht hätte mit seinem Ausspruch, daß „die Geister, die verneinen, der Demokratie gehören": zahlreiche „Demokratien" unserer Tage, zu denen ich vor allem auch England und die nordischen Monarchien in Dänemark, Schweden und Norwegen rechne, zeigen, wie einseitig vom lokaldeutschen Standpunkt dieser Ausspruch des großen Staatsmannes ist. Ob es uns Deutschen freilich möglich sein wird, diese „Idealregierung" auf demokratischer Grundlage durchzuführen, kann nur die Zukunft lehren. Das Wesen des Parlamentarismus wie das richtig verstandener Demo­ kratie ist Selb st Verantwortlichkeit, - volle Selbstverantwortung jedes Staatsbürgers für die Führung des Staatswesens. Ihre formale Grundlage für das jetzige Deutschland liegt in dem zweiten Sah des Ar­ tikels 1 der Weimarer Verfassung: „Die Staatsgewalt geht v o m V o l k e a u s." Vom Volke, das sich seine Verfassung selbst gegeben hat l Diese beruht sohin auf dem Prinzip der Selbstbestimmung, nicht des Vertrags der Fürsten oder der „Gliedstaaten", sondern der Selbstorgani-

sation des deutschen Volkes in seiner Gesamtheit zum Zwecke der Aufrechterhaltung der Einheit des Reiches.») Die Ausübung dieser Staatsgewalt geschieht durch die Vertretung des Volkes, durch den Reichstag und die von ihm gewählte Regierung sowie den vom Volk unmittelbar gewählten Reichspräsidenten. Die Leitung der Verwaltung geht — im Unterschied von anderen Repu­ bliken — vom Parlament aus, sei es, daß die Leiter Mitglieder desselben sind oder nicht. Formal ist gemäß Art. 53 der W. Vers, der Vorgang der, daß der Reichskanzler und auf seinen Vorschlag die Reichsminister vom Reichspräsidenten ernannt und entlaffen werden. Einem in thesi starken Reichstage — (in der Praxis sehen die Dinge ja wesentlich anders aus) — steht ein verfasiungsgemäß starker Reichspräsident gegenüber. Reichskanzler und Reichsminister bedürfen zu ihrer Amtsführung des Vertrauens des Reichstags. And auch die politisch stark aus­ gerüstete Stellung des Reichspräsidenten findet ihre Grenzen in dem Recht des Reichstags zum Anträge auf Absetzung des Reichspräsidenten im Wege der Volksabstimmung und Versetzung in den Anklagestand vor dem Staatsgerichtshof des Reichs: So steht auch in dieser „Demokratie" über den höchsten Gewalten des Parlaments wie des Präsidenten die richterliche Gewalt als die höchste Instanz des Staats und der höchste Ausdruck des Staatsgedankens selbst. Das System des deutschen Parlamentarismus ist sohin das der d e m o kratischen Auslese der Führer, der parlamentarischen Verantwortung der Führung und der parlamen­ tarischen Verwaltungskontrolle. Es soll hier nicht in eine erschöpfende Kritik der historischen und recht­ lichen Grundlage des „Reiches" noch in eine solche des Inhalts der jetzigen Reichsverfasiung eingegangen werden. Die juristische Papierwahrheit und -Weisheit der Verfaffung ist an sich etwas sehr Nebensächliches. Der (Seift ist hier alles: Die Gesinnung, das wirkliche Wesen! Wenn es der Demokra­ tie nicht gelingt, diese Gesinnung stolzen Selbstvertrauens, verbunden mit strengstem Verantwortlichkeitsgefühl in die Menschen dieser demokratischen Republik zu bringen, dann ist die ganze juristisch-staatsrechtliche Konstruk­ tion nur wertloser Flugsand, den die erste ernstliche Krisis ausein­ andertreibt, — den ganzen Bau der so mühsam aufgezogenen Staatsform zerstörend. Wenn je, so gilt für unsere deutsche junge Demokratie das Wort: Der Buchstabe tötet, der Geist macht lebendig!

») Cs erscheint interessant, baran zu erinnern, daß schon der bayer. Minister Graf Max Montgelas (1807) nach den Gedankengängen der Aufklärung aus der Volks­ souveränität die Monarchengewalt ableitete. Das göttliche Recht der Fürsten ist ihm „ein Hirngespinst, erfunden vom Klerus, verteidigt von Zwingherrn zum Unglück des Menschengeschlechts. Alle Gewalt geht ursprünglich vom Ge­ samtvolk aus. Dieses allein kann rechtmäßig sich einen Herrn geben und seine Verfassung bestimmen." And doch bedeutete diese Volkssouveränität nicht Massenherrschast. Montgelas legte sie int staatsabsolutistischen Sinne aus.

Der Geist, der in die Masten durch gute Sitten, gute Verwal­ tung und gute Gesetze zu verbreiten ist! Die Volkssouveränität durch Mehrheit hat sicherlich ihre bitter schwachen Seiten, denn die Maste, die Mehrheit, hat den Ver­ stand nicht in Erbpacht. Im Gegenteil: Was ist Mehrheit? „Mehrheit ist Unsinn; Verstand ist stets bei wenigen nur gewesen," sagt nicht nur Friedrich von Schiller, sondern jeder, der mit sehenden Augen und hörenden Ohren lange im öffentlichen Leben stand, — gleichviel, ob er rechts oder links steht, ob er Demokrat ist oder welcher Partei er sonst angehören mag. „Menge der Menge Tyrann I" Und die Menge hat Ver­ stand, wenn die F ü h r e r damit begabt sind. Und nur wenn die Menge den Verstand hat, die richtigen und verstandesbegabten Männer zu ihrer Vertretung zu küren, kann alles gut gehen und der Staat gedeihen. „Wenn dir die Menge bedeutend erscheinen mag, so tadl' ich's nicht; sie ist bedeutend, mehr noch aber sind's die W e n i g e n, geschaffen, dieser Menge durch Wirken, Bilden, Herrschen vorzustehen." Hier hat Goethe das Wesen der repräsentativen Demo­ kratie gezeichnet. Auch in Wilhelm Meisters Wanderjahren spricht er wie in den Wahlverwandtschaften ähnliche Gedanken aus. Doch aus zahl­ reichen anderen Aussprüchen erhellt sein Zweifel an der Fähigkeit zur Reife der Maste: „Die Menge schwankt in ungewiffem Geist; dann strömt sie nach, wohin der Strom sie reißt" und „ruft, um den Teufel zu bannen, gewiß die Schelmen, die Tyrannen." „Zuschlägen kann sie — die Maste, dann ist sie respektabel; urteilen gelingt ihr miserabel." So mag man die Volks-, die Mastenherrschaft tief oder hoch einschätzen: Die wahreKunstwird sein,ihre großen Gefahren möglichst zu bannen und zu mäßigen, nachdem der Gedanke der Volkssouveränität selbst mit Allgewalt sich durch den größten aller Kriege, durch die einzig dastehenden Leistungen eines großen Volkes in schwerster Zeit durchgerungen hat. Wir sind heute nicht gefragt, ob wir die Selbstbestimmungdes Volkes haben und darauf den Staat aufbauen wollen: Außen- und innenpolitischer Zwang nötigt uns, mit dieser Staatsform so gut als nur möglich zu leben, um den Bürgerkrieg, das Chaos, den Untergang zu ver­ meiden. Der Geburtsort dieser Verfassungsgrundlagen ist der Lauf­ graben in der Champagne, in Kleinrußland und am Dnjepr und wo sonst deutsche Helden standen. So mag man auch die Form der repräsentativen Demokratie, den Parlamentarismus, d. h. den Betrieb dieser auf den Parlamenten beruhenden und vom Parlament ausgehenden Demokratie für verfehlt oder für richtig halten, man mag ihn hasten oder lieben, — man kann ihn heute auf absehbare Zeit in Deutschland nicht beseitigen, ohne die Einheit des Reiches, dieses letzte große Gut des deutschen Volkes, zu zerschlagen, ohne die deutsche Volksgemeinschaft für Gene­ rationen zu zertrümmern und dem Hohn und Spott der ganzen Welt zu

überliefern. Gewiß, man kann ihn durch ein neues künstliches System viel­ leicht mattsehen, durch Mißbrauch der Staatseinrichtungen sabo­ tieren, wie dies blinde Parteifanatiker bereits heute üben: Eine völlige Beseitigung des parlamentarischen Systems wird ohne Bürgerkrieg und Staatsstreich auf die Dauer unmöglich sein. Der Machtkampf, den das deutsche Verhängnis zu schlechtester Zeit ausbrechen ließ, ist vorläufig und auf abseh­ bare Zeit zugunsten des Parlamentarismus entschieden. Seine gewaltsame Beseitigung würde die Auflösung des Reiches, die Auslieferung deutscher Kultur an übermütige, rachsüchtige, weil sich geistig unterlegen fühlende Völker, die, was sie an Kultur besitzen, dem Deutschtum zu verdanken haben (Polen, Tschechoslovakei) und um so mehr den Geber hasten, bedeuten. Auch rein sachlich und technisch kann heute ohne Staatsstreich von oben oder unten kein Staatswesen ohne Parlament, auf breitester Grundlage gewählt, bestehen: Als Kontrollorgan der Verwaltung und als Blitz­ ableiter für seine Regierung ist es dem modernen Staat unentbehrlich. Beseitigt das eine, — in anderer Form erlebt es wie in den Zeiten der letzten Revolution seine Auferstehung! So kann auch die Frage, die uns im Anfangsstadium lähmte und mit stärksten Zweifeln erfüllte, ob unser deutsches Volk reif und fähig sei, die demokratische Republik, die nach Louis Adolph Thiers' furchtbarem und zweideutigen Ausspruche „nur durch Dummheit oder in Blut enden muß" (Gesch. der Franz. Rev. 1823—1827), mit Erfolg durchzuführen, heute zu­ nächst uns nicht mehr beschäftigen. Wir haben sie und müssen mit ihr rechnen. Selbst wenn wir — wie der Verfaster — die Überspringung des wichtigen Übergangsstadiums der demokratisch-parlamentarischen Monar­ chie füreinnationalesünglück halten, so hilft das alles nichts; wir müsten versuchen, die Kinderkrankheiten der neuen, uns nicht von der eigenen Überzeugung gegebenen und auf freiwilliger Tat beruhenden, sondern durch die bitterste Rot aufgezwungenen Staatsform zu überwinden, ihre ärgsten Stacheln klug zu beseitigen und Ordnung und Einheit zu schaffen, bis das Volk in ruhiger Zeit über seine Zukunft in demokratischen Formen selbst endgültig bestimmt. Vergesten dürfen wir dabei freilich nicht die alte Erfahrung, an die uns Theodor Mommsen erinnerte: „Die Demokratie hat sich immer dadurch vernichtet, daß sie die äußer st en Konsequenzen ihres Prinzips durchführte." Ein Sah, an den uns die Weimarer Verfassung nur allzu oft und allzu sehr erinnert! Selbst in einer Zeit, in der alle Parteien im Sinne ihrer Überantwortung an die Gunst der Masten „demokratisch" geworden sind oder sich einbilden oder vorgeben, es zu sein, soll warnend an dieses Wort des liberalen Gelehrten erinnert fein!2) ’) Die Fernhaltung dieser Schäden der Demokratie durch eine konservativ­ aristokratische Verwaltung im alten Rom gilt mit Recht als ein Meister­ stück dieser römischen Staatskunst. Sie brachte es auch allein fer-

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So ist heute das deutsche Volk die Grundlage der staatlichen Gewalt, die Volksvertretung das vermittelnde Mittelglied, die Regierung die Spitze der Pyramide, die in Wirklichkeit von den politischen Parteien in der Volksvertretung aufgebaut wird.

n. Daß dabei die Staatsleitung nicht nur oder vorwiegend fachlich geschulte Kräfte aufweist, muß im Llbergangsstadium freilich als ein schwerer Nachteil angesehen werden, der der Kritik breiten Spielraum gibt, in seinen Auswüchsen sogar zur Korruption und gefährlichen dauern­ den Verschlechterung der Verwaltung führt. Aber der notwendige Aus­ gleich der miteinander kämpfenden Interessen der einzelnen Gesellschafts­ schichten, der in den politischen Parteien wieder seinen Ausdruck findet, macht einen solchen Notbehelf vorläufig, d. h. in der Übergangszeit, zur Notwendigkeit. Bei längerer Dauer dieses Systems wird die Auswahl fachlich geschulter Männer zur Leitung des Staats oder seiner einzelnen Zweige sicher besser werden. Viel mehr ist das gewalttätige Hineinregieren einzelner Wirtschaftsgruppen auf internationaler Grundlage, deren poli­ tische Macht schon heute niederdrückend ist, zu fürchten, denn mit dem Sinken der Staatsmacht sinkt die Staatsidee selbst. Das Llbergangs­ stadium erfordert sohin schwere Opfer von jedem einzelnen wie dem Ganzen. Auch ein „Genie" — der viel ersehnte „starke Mann" — würde heute in der Einzelarbeit scheitern. (Siehe unten Kap. 5.) Jedenfalls darf auf das in Jahrzehnten vielleicht einmal geborene „Genie" eine Staatsverfasiung niemals aufgebaut werden: Das Beispiel Bismarcks, auf dessen zwei Augen die künstlerische und künstliche Form der alten Reichsverfassung aufgebaut war, muß uns stärkste Warnung sein, zumal auch dort aus dem gedachten Provisorium ein Definitivum wurde, das nach dem Weggange seines Gründers unhaltbar wurde, was wir Linksliberalen klar erkannten, die alten Machthaber aber zäh leugneten, bis die Katastrophe eintrat. Eine gute Staatsverfasiung muß auch die Leitung durch Mittelmäßigkeiten, wie wir sie heute in den besten Kräften unserer Reichsleitung besitzen, möglich machen. Die Frage der pflichtmäßigen Verantwortung des einzelnen steht immer wieder im Vordergrund, verbindet das Neue mit dem guten Alten, Gegenwart und Vergangenheit, um die Zukunft zu sichern. Was gut war im alten Staate, das muß, wenn anders wir nicht schon in des tig, Königreiche und Stammstaatsversasiungen bis zu den dörfischen Siede­ burgen der Grenzländer in der sonst so strengen, latinisch-römischen Republik aufzunehmen und unterzubringen und sie ohne verfasiungsmäßige Schwierig­ keiten, da sie von keinem falschen Doktrinarismus gehemmt war, zu „verdauen". Ihr heute vergleichbar ist nur die englische Großzügigkeit staatsrechtlicher Auffassung, die ein Produkt einzigartiger traditioneller Vermählung von Aristo­ kratie und Demokratie ist.

neuen Reiches Jugendlenz zugrunde gehen wollen, erhalten und, wenn verloren, neugeschaffen werden. Das ist vor allem die Pflichttreue, (Sewissenhaftigkeit, Unbestechlichkeit, kurz die Vürgertugenden des deutschen VerufsbeamLenLumsals der festesten Stühe des deutschen Staats, insbesondere auch einer deutschen Demokratie. Ohne dieses Berufs­ beamtentum wäre die sog. „Revolution" zur vernichtenden Anarchie ge­ worben. Richt aus Gründen der Dankbarkeit, sondern vor allem der Selbsterhaltung muß sohin die Grundlage dieser besten Staatsstütze unangetastet bleiben. Das Übermaß der parlamentarischen Macht -(auch wenn diese nur Schein ist und in eine Partei-Obligarchie tatsächlich ausmündet, die wieder von einer international fundierten Wirtschaft be­ herrscht wird) — muß in diesem festverankerten Verufsbeamtentum mit einem völlig unabhängigen und in seiner Stellung gehobenen Richtertum und seinen verfasiungsmäßig garantierten Rechten seine Grenzen finden. Liber aller Macht im Staate muß das Recht stehen!8)

Die Mitwirkung aller Staatsbürger in Gesetz­ gebung, Verwaltung und Rechtsprechung ist die letzte Voraussetzung des dauernden Bestandes dieses demokratisch-parlamen­ tarischen SLaatssystems. Vereins-, Versammlungs-, Presiefreiheit, all­ gemeines gleiches Wahlrecht für alle Vertretungen in Reich, Staat und Gemeinde, Volksabstimmung in Form der Volksbegehren und Volks8) Der Kampf des deutschen Richterstandes um die moralischen Grundlagen seiner eigenen Existenz, um sein Recht droht in der allgemeinen revolutionären Verhetzung der Masten und der Losung auf politische Firmierung des Richter­ standes tragische Formen anzunehmen. Wehe dem Staatswesen, das den un­ politischen — vielleicht allzu unpolitischen — Richterstand der Politisie­ rung unterwirft! Was wir in der Justiz brauchen, hat Rudolf Ihering rich­ tig bezeichnet: „Festigkeit, Klarheit, Bestimmtheit des mate­ riellen Rechts, Beseitigung aller Sätze, an denen ein ge­ sundes Rechtsgefühl Anstoß nehmen muß!" Der Bestand des Staates steht und fällt mit dem vom Rechtsgefühle getragenen Gesetzesrechte und seinen Priestern, dem freien, unabhängigen Richterstande. Wer diesen durch „Zuverlässigkeit" der republikanischen Gesinnung ersehen will, setzt an die Stelle der richterlichen freien Überzeugung die Charakterlosigkeit und Gesin­ nungslumperei und richtet Staat und Ordnung zugrunde. Durch gute Gesetze und reinliche Verwaltung gewinnt man auch den Richter für die „Demokratie". Auch die fortgesetzten Amnestien aus politischen Motiven —- zuletzt unter Ver­ wischung der Grenzen von Politik und Recht (Reichstagsausschuß zur Nach­ prüfung der abgelehnten Gnadengesuche) — verwüsten die Rechtsprechung. Die Frage der Rechtsgültigkeit der Aufwertungsgesetzgebung, insbesondere des Ge­ setzes über die Ablösung öffentlicher Anleihen vom 16. 7. 25 wie die geradezu ungeheuerliche rückwirkende Einführung der Anfechtung rechtskräftiger Urteile im Reichsgeseh vom 4. 7. 25 zeigen, wie notwendig heute die Ver­ fassungskontrolle durch eine unabhängige, freie BerufsRitterschaft für das ganze deutsche Rechts- und Verfastungsleben ist. Ein Jammer, wie blind die neue deutsche Demokratie diesen Fragen des Rechts gegenübersteht! Auch die neueste Amnestie zugunsten der politischen Ehrabschnei­ dung verrät diese Verständnislosigkeit!

entscheide sichern diese Mitarbeit, die nicht nur Recht, sondern höchste Pflicht des Staatsbürgers ist?) 4 5) III.

Die Mängel des Systems der „Volkssouveränität durch M e h r h e i t" zu leugnen, wäre sohin töricht. Rur ihre klare Erkenntnis gibt die Möglichkeit, durch das staatsbürgerliche Verhalten der Volks­ gemeinschaft sie abzuschwächen und vielleicht mit der Zeit ganz oder teil­ weise zu beseitigen. Die Vielheit, die Mehrheit des Volks, ist aber an sich kein Prinzip. Der Sah Naumanns („Demokratie und Kaisertum"), daß unser Leben „demokratisch" ist, weil es „Masienexistenz" ist: „Es lebe die Zahl!" ist nur ganz bedingt und als halbe Wahrheit—in sozialem Sinne— als richtig anzuerkennen. Staatsrechtlich ist die Zahl, die Masie, nicht „die Demokratie", ist auch nicht unsere „Daseinsweise". Auch in unserer rein repräsentativen Demokratie wird der Führer-Individualis­ mus, die Tüchtigkeit der Führer, über unser Dasein und über die Auf­ rechterhaltung der Demokratie wie des Staats überhaupt allein entscheiden können: Zumal die Gefahren dieser Demokratie, die nicht Ochlo­ kratie, sondern nur Auslese-Herrschaft sein kann und darf und nur als solche auf die Dauer möglich und vernünftig ist, durch die Schwierigkeiten der Bestimmung dieser angeblich „souveränen" „Mehrheit" in Deutschland ins Angemessene zu wachsen drohen. Wenn eine „Mehrheit" regieren soll, so muß man sie zuerst haben. And zwar nicht nur ad hoc, für einzelne gesetzgeberische Akte oder eine bestimmte Gruppe von speziellen programmatischen Forderungen, sondern zur fort4) Die Parteien des fortschrittlichen Liberalismus der letzten 50 Jahre hatten diese Forderungen im Rahmen einer wahrhaft konstitutionellen Verfassung und der demokratischen Monarchie bereits programmatisch angestrebt. Die jetzige Reichsverfaffung — abgesehen von der Abschaffung der Monarchie und mancher Überspannungen des unitarischen Gedankens — erscheint in ihren wesent­ lichen Normen als die Ausführung der alten Programmforderungen der Fort­ schrittlichen Volkspartei und ihrer Vorgänger, soweit die Verantwortlichkeit der Führer und der Staatsbürger in Frage kommt. Der Verfasser ist viele Jahre gegenüber dem ängstlichen Partikularismus im alten Reiche, das durch­ aus föderalistisch war, für Einheitlichkeit des Heeres, der äußeren Politik und des Verkehrs in technischer Richtung eingetreten. Er hat aber von Anfang an die Okkupierung der Finanzhoheit wie die ganze sog. „Crzberqersche Finanzreform" für einen schweren politischen Fehler gehalten und bekämpft. Sie mußte zu einer katastrophalen Niederlage des Reiches — vor allem in poli­ tischem Sinne — führen, hat dem Reichsgedanken unendlich geschadet und den Finanzzusammenbruch der folgenden Jahre mit verschuldet. Durch die Weimarer Reichsverfassung war dieser Anitarismus nicht erzwungen. Aber auch der Amtarismus der Reichsverfassung in den Art. 7 ff. bis 18, vor allem in den Be­ stimmungen des 2. Hauptteils 3. und 4. Abschnitts, der Okkupierung der Mate­ rie der „Religion und Religionsgesellschasten", der „Bildung und Schule" mußte in den Cinzelstaaten insbesondere Süddeutschlands schwere Bedenken er­ regen und war nach der Anschauung des Verfassers ein schwerer Fehler, dessen Folgen noch für lange Zeit das Reich erschüttern werden. Von den zahllosen 2

Müller-Meiningen, Parlamentarismus.

laufenden Führung einer Regierung mit ihrem gleichheitlichen System von Gesehgebungs- und Verwaltungsakten. Die „Volkssouveränität durch Mehrheit" ist bei dem alten englischen Zweiparteiensystem leicht durchführ­ bar gewesen. Vei uns in Deutschland mit dem unseligen Gewirr von 10 bis 25 Parteien wird die Bildung der „souveränen Mehrheit" zuletzt zu einer unwürdigen, unser ganzes Verfaflungsleben herabwürdigenden Farye, die nach dem Komödiendichter schreit: Ein unwürdiges Zusammen­ feilschen von Mehrheit und Regierung, die das System selbst herabwürdigt und bei seiner Fortsetzung vernichtet. Aus ihm quillt der Ruf nach der Monarchie als dem System dauernder, angeblich fester Stabilisierung und dadurch garantierter Ruhe und Ordnung im Staate: — Autorität gegen­ über „schwankender Obrigkeit", die in schwankender Zeit das größte Un­ glück eines Volkes bedeutet! Die Demokratie ist unzweifelhaft die„HochschulederKomp r o m i s s e". Friedrich Naumann hat das allgemeine Wahlrecht bezeich­ net als nichts anderes als den Anfang „für die Selbsterziehung des Volks zur Majoritätsbildung". Die bisherige, stets größer anstatt geringer werdende Zerreißung des deutschen Volks in immer neue Parteien scheint die Lehre zu geben, daß das Prinzip der reinen Demokratie für Deutschland geradezu eine geschichtliche Unmöglichkeit auf die Dauer ist. Aber wir sind noch im Werden. So wie bisher darf es freilich m. C. nicht mehr lange weitergehen, wenn die Demokratie nicht an den Kinder­ krankheiten vorzeitig zugrunde gehen soll. Kein Vernünftiger — er kann im übrigen über das jetzige Staatssystem und die Staatsform denken wie er will — kann annehmen, daß der Zustand vor 1918 ohne weiteres wieder hergestellt werden könne. Wie das erste „römische Kaisertum deutscher Nation" für immer dahinging, so ist auch eine geistlose Kopie der Bis-

Unklarheiten der Verfaffung (z. B. Art. 10, 11 usw.), die fortgesetzte Konflikte Hervorrufen, sei an anderer Stelle die Rede! °) Cs ist interessant, daß ein so radikaler Demokrat wie Universitätsprofessor Dr. Max Weber in seiner 1918 (!) erschienenen Schrift „Parlament und Re­ gierung im neugeordneten Deutschland" (Verlag Duncker & H umblot) schreiben konnte: „Die Stellung der deutschen Dynastie wird aus dem Kriegeunerschüttert (!) hervorgehen, es sei denn, daß sehr große Unklugheiten begangen und aus den Mängeln der Vergangenheit nichts gelernt würde. „Schon lange vor dem 4. August 1914" — so fährt Max Weber fort — „konnte, wer Gelegenheit hatte, mit deutschen Sozialdemokraten — und teil­ weise sehr radikal gesinnten sozialdemokratischen Parteibeamten — längere Zeit zusammenzusihen, fast stets zugestanden erhalten, daß an sich für die besondere internationale Lage Deutschlands diekonstitutionelleMonarchiedie gegebene Staatssorm sei." (!) Max Weber spricht zum Beweise da­ für von der „Liberalen Republik" in Rußland verächtlich. — Wir fragen: Hat die Monarchie im Jahre 1918 noch solche, besonders große „Unklugheiten" be­ gangen? Sie hat — freilich allzu spät — das Ventil der überheizten Maschine durch Versprechungen längst notwendiger Reformen im Reiche und in Preußen, zuletzt durch Einführung des gemäßigten parlamentarischen Regiments, noch zu öffnen gesucht. Sie wollte aus den Mängeln der Vergangenheit — freilich

marckschen Verfassung, des „alten Reiches", eine Anmöglichkeit, zumal der Bismarcksche Föderalismus auch nach den Gedanken seines Schöpfers mehr ein Abergangswerk sein sollte und konnte, was geistlose Demagogen und ganze Parteien heute leider entweder übersehen oder zu übersehen mar­ teren, zumal wenn sie selbst im alten Reiche das Bismarcksche System be­ kämpften. Das Gute der inneren verfassungsmäßigen Einrichtungen von ehedem, zu dem das Volk niemals die mehr als zwanzig souveränen deutschen Fürsten zählen wird, soll unser Ziel sein. Dynastiekämpfe verträgtdasdeutscheVolk niemals mehr; sie mögen sich um das Haus Hohenzollern oder Wittelsbach drehen. Die Herstellung einer Monarchie in einer deutschen Republik — der Antergedanke gewisser bayrischer Monarchistenkreise — ist eine staatsrechtliche Anmöglich­ keit. Ebenso die Wahlmonarchie. So bleibt nur eins übrig: Die Weckung der Aberzeugung in den breitesten Schichten, daß jetzt nicht der Kampf um Formen, auch nicht um die ganz sekundäre Frage der Staatsform für Reich und Staaten uns erretten kann, sondern nur der eiserne Wille, die Ordnung und Sicherheit im Staat um jeden Preis aufrechtzuerhalten und den Kampf aller gegen alle zu meiden. Die Einheit des Deutschen Reichs ist das große Ziel, dem die deutsche Demokratie, der deutsche Parlamentarismus zu dienen hat; ihre Ver­ nichtung bedeutet das Ende der deutschen Ration als politischer und kul­ tureller selbständiger Faktor für Generationen: An eine politische und kulturelle Selbständigkeit der deutschen Ration kann nicht mehr im Ernste gedacht werden, wenn das Deutsche Reich einmal von außen oder von innen, von Paris, Warschau und Prag oder von Moskau, — von wieder zu spät und vielleicht nicht ganz aufrichtig, jedenfalls aber nach außen der Rot folgend — noch lernen. Trotzdem verschwanden die Dynastien rühm­ los, da ihre Hauptträqer und ihre angeblichen „Triarier", die „Garden", schmählich versagten. Rur die große Massen-Rervenkatastrophe infolge der Hungerblockade erklärt wohl bei den Regierten das schmähliche Ende der Monarchie. Je mehr diese in ihren Folgen überwunden ist, desto mehr wird freilich die alte Sympathie mit der Monarchie wieder erscheinen. Denn sie steckt tief in der Überzeugung der deutschen Stämme und der boden­ ständigen Bevölkerung im Gegensatz zu der wechselnden, fluktuierenden, inter­ nationalisierten Bevölkerung der Großstädte und der reinen Industriegegenden. Genährt wird diese immanente Sympathie von den Fehlern, den Kinderkrank­ heiten des neuen Regimes, das das ganze Odium des furchtbaren verlorenen Krieges der Monarchie abgenommen und auf sich geladen hat: Ein — rein objektiv beurteilt — eigentlich unverdientes Glück der Monarchie! So blieb trotz aller Schuld auch des alten Regiments an dem Zusammenbruche, der mit jener des neuen wohl konkurriert, das Idealbild der „guten alten Zeit" vor allem bei der Jugend, die die Auswüchse und Mängel des alten Regimes nicht kennt, bestehen — wobei zahlreiche Fehler der neuen demokratischen Regierungsweisä, unfreiheitliche, antidemokratische Verstöße gegen eigens Grundsätze nicht unerheblich das Odium der Republik vermehrt haben. (S. unten Kap. 2 ff, vor allem Kap. 5.)

München oder von Berlin aus zerschlagen ist. Cs gibt Torheiten, deren Folgen ein Volk nur einmal, nicht ein zweites Mal erträgt. Der Umstand, daß die sog. Revolution vom November 1918 sich als die größte Torheit, ja das größte Verbrechen in Deutschlands Geschichte darstellt, kann nicht die nochmalige Torheit als Vernunft erscheinen lasten, die mühsam durch den Weg der demokratischen Verfassung von Weimar wiederhergestellte Ordnung und verhältnismäßige Sicherheit des Staates von neuem aus theoretischer Rechthaberei und staatspolitischer Blindheit zerschlagen zu lasten. Auch wenn in diesem neuen Staate uns manches recht wenig — weniger als früher — gefällt, auch wenn diese Reichsverfaffung, diese idealistische Verkennung der Politik als der „Kunst des Möglichen", allzu unitarisch, allzu theoretisch, im einzelnen unpraktisch und phrasenhaft — (unbedingte Anhänger nennen dies „gedankentief") — ist und von Fehlern einer raschen, schlecht überlegten Einzelarbeit wimmelt 186) * Auch der größte Anhänger der monarchischen Staatsform wird, wenn er nicht blind ist, einsehen, daß auch eine künftige Monarchie, wenn das Volk in freier Abstimmung einer entschiedenen Mehrheit sich für diese erklären würde, ganz anders aussehen würde als die vor 1918. Wer da glaubt, daß man die veralteten Formen eines lächerlichen, selbstherrlichen Gottesgnadentums von ehedem mit all ihren staatsrechtlichen Folgerungen, z. B. dem das Volk und die Vernunft verhöhnenden Cbenbürtigkeitsschwindel, jemals wieder in Deutschland einführen könnte, — dem ist nicht zu helfen. Der würde nur der nächsten, weit gefährlicheren Revolution in die Hände arbeiten, d. h. den Staat ständigen neuen Gefahren des Umsturzes aussetzen. Hauptsache ist jetzt, Führer, Persönlichkeiten für die Zukunft zu schaffen, die diesen erschütterten Staat, dieses R o t Staats-Gebilde vernünftig und energisch nach innen und nach außen führen. Der Krieg und die Nachkriegszeit hat die guten, fähigen Persönlichkeiten in Masten wie ein Drache aufgefressen und zermalmt. Nur die „Korknaturen", die „Eiskalten", die ewig Gewandten und Ge­ würfelten, meistens Männer von zweifelhaftem Charakter, aber großer Parteigewandtheit, schwimmen auch hier noch immer oben. Die andern halten sich, soweit sie nicht in der schlimmsten Zeit rasch „verbraucht" wurden, da sie mehr leisteten als die „Kalten", angeekelt von dem Markte der politischen Unwerte, scheu — mehr als dem Staat gut ist — zurück und müssen oft erst „entdeckt" werden. Alte, wieder ausgegrabene Größen, die von gewandter Täuschung ihrerMitmenschen ihre zweifelhafte „Größe" herleiten, lassen sich zu Vertretern gewisser großer Ideen der Vergangenheit aufpuddeln und fälschen so Geschichte, statt daß sie die Sünden ihrer Vergangenheit an sicherem Orte abbüßen. Falsche „Pietät" am unrechten Ort ist oftmals die Folge wirklicher Undankbarkeit der Massen gegenüber 6) Perels berechnet, daß die W. Vers. v. 1919 bis jetzt bereits mehr als fünfzig­ mal (!) still abgeändert wurde.

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historischen Trägern gewisser Systeme und Einrichtungen. Manch einer wurde so Nutznießer fremder historischer Verdienste und sonnte sich darin im gewandten Mißbrauch der Dinge. Der Zustand, in dem wir leben, ist eben immer noch der der „Revolution", der Umwälzung, der um so gefähr­ licher werden könnte, je differenzierter er sich in einzelnen Teilen des Reichs entwickelt').

IV. Das Wesen der Demokratie, des parlamentarischen Repräsentativ­ systems, ist neben der Selb st Verantwortung die Liebe zu einer vernünftigen, von Selbstvertrauen und Selbstzucht getragenen Frei­ heit, zur unbedingten Wahrung des Rechts, der menschlichen G e rechtigkeit und zur unerschütterlichen Festhaltung der Wahrheit, — auch da, wo sie zeitweiligen Führern oder der Maste nicht gefällt. Kritik, scharfe Kritik, wo es notwendig ist, gehört zur Demokratie: Selbstbewußtsein, durchleuchtet von Selbsterkenntnis! Eine Demokratie, die diese von — wenigstens subjektiver — Wahrhaftig­ keit, d. h. von ehrlicher Überzeugung getragene Kritik nicht vertragen kann, artet entweder in die Tyrannis des Pöbels oder einzelner Personen — Cinzeltyrannen oder Oligarchen — aus. Die Kritik darf selbstverständlich nicht Selb st zweck sein oder dem Zwecke der bloßen Zerstörung und Negation dienen — (wie dies leider bei dem Durchschnitt der parteifanati­ schen radikalen Presse des Deutschland von heute der Fall ist) —, sondern sie muß dem Wiederaufbaugedanken, dem Gedanken der Wiederherstellung von Ordnung, Sicherheit und Recht dienen. Eine „empfindliche" demo­ kratische Regierung — noch dazu in Zeiten großer politischer Korruption — ist etwas Unerträgliches, weil in sich Widerspruchsvolles. Wenn es richtig ist, daß das „Mißtrauen eine demokratische Tugend" ist, so ist 7) Cs kann nicht geleugnet werden, daß i m S ü d e n die Monarchie wie das ganze Leben „demokratischer" in ihrem inneren Wesen, d. h. volkstüm­ licher war. Das mag der Grund sein, warum das süddeutsche Clement in den ersten Jahren seit 1918 an der Reichsverwaltung einen so unverhältnismäßig großen Anteil hatte. Die politische Entwicklung und Einsicht war dort größer, die Masten dachten gesünder von dem Verhältnis zwischen Herrscher und Re­ gierten. Selbst und gerade Bayern, das heute als das Land „urreaktionärer" Gesinnung und Entwicklung hingestellt werden will, war trotz allen höfischen spanischen Zeremoniells des „Bauernhofes" in seiner hundertjährigen Entwick­ lung ein im wesentlichen liberal regiertes Land, — ost im Gegensatze zu einer kulturell rückschrittlichen Bevölkerung. Kluger Fürstenblick und Fürstenwille hat hier oftmals rechtzeitig Notwendiges erkannt und zum Segen des Landes durchgeführt. — Bei Einführung der Monarchie in einem Teile bestände freilich außer der staatsrechtlichen Unmöglichkeit die Gefahr ständiger subversiver Tätig­ keit in den ausgesprochen reaktionären, jetzt immer noch ziellos von der Um­ wälzung hin- und hergeworfenen Teilen Preußens, Sachsens, Mecklenburgs usw., die die Rheinlande in Kürze an die begehrlichen Feinde ausliefern würde.

es diese doppelt und dreifach, wo der Verdacht besteht, daß zur Diskredi­ tierung und zum Verderben der Demokratie Unrat unter der Decke lagert. Parlamentarische Demokratie und ihre Regierung verkommen in eitler Selbstgefälligkeit und Korruption, wenn sie nicht ein Gegengewicht in scharfer Kritik auch außerhalb des Parlaments finden. Kein größeres Unglück, als wenn dann die Prefle ihre Selbständigkeit an bestimmte Interessenklüngel verloren hat. Stellt sie sich nur nach den Interessen dieser Wirtschaft^ oder politischen Klüngel ein, so wird sie entweder eine ein­ seitige ungerechte Stellung für oder gegen die Politik solcher mehr oder minder von ihr abhängigen „Regierungen" einnehmen; sie wird, — was am allergefährlichsten ist — sogar die „eigene Regierung" jederzeit zu stürzen imstande sein, um so mehr, wenn sie nach dem Beispiel gewisier politischer Parteien Regierungs- und Oppositionspolitik zu gleicher Zeittreibt und demagogisch die Massen auf diese Weise täuscht und hinters Licht führt. Solche Unterhöhlung des Bodens durch eine die „öffentliche Meinung" durch den Besitz der Presse beherrschende Wirtschaftsgruppe, die zudem ihre Macht herleitet aus dem internationalen wirtschaftlichen und finanziellen Übergewicht gegenüber dem schwachen, durch den Versailler Vertrag ohnmächtig gemachten Staat, schafft unter Umständen zuletzt den Untergang des Staates?)8 9)

8) In einem sehr interessanten Artikel hat bei der Reichsprästdentenwahl die „Köln. Ztg." Nr. 286 vom 19.4.25 die Frage „Staatsform und Wirtschaft behandelt und dort u. a. ausgeführt: Cs ist eine sehr anregende und sehr auf­ schlußreiche Aufgabe der Soziologie, zu untersuchen, unter welcher Staatsform, in welchem Nahmen politischer Herrschafts­ und Lebensformen der moderne Kapitalismus am besten gedeiht, die größten Cntfaltungschancen und die gering­ sten formalpolitischen, ideologischen und gesellschaftlichen Hemmungen hat. Beileibe nicht in einer Monarchie mit stark aristokratischem Einfluß und sehr wirksamen Resten feudaler Verfassung, Vermögenseinschätzung und Ge­ sellschaftsethik. Vielmehr bietet, wenn wir von unmitte lbarauf die Förderung und Vertretung der Wirtschaft z u geschnittenen Staatsformen absehen, wie sie die frühern Verfassungen der hanseatischen Stadtrepubliken oder vormals die oligarchische Handelsrepublik Venedig vor­ stellten, gerade die demokratische und parlamentarische Republik einen sehr günstigen formalpolitischen Cntfaltungsrahmen für den modernen Kapitalismus. .. Vesonders in einer parlamentarischen Demokratie hat jede Schicht, jedeParteidas Best reden, denStaat,soweitihre Kräfte reichen, für sich zu erobern, die Staatsform für sich -u nutzen und die Staatspolitik verschleiert zu einer erweiterten und idealisierten Partei- oder Standespolitik zu machen. Besonders die Wahlen, das Ausdrucks- und Gestaltungsmittel der Demokratie, unterliegen diesem elementaren Gesetz. 9) Wie sich in pazifistischen Kreisen das Weltbild der Zu­ kunft spiegelt, zeigt eine „Vision der kommenden Weltord22

Eine starke Monarchie mag solche Belastung ertragen, macht dieselbe vielleicht überhaupt unmöglich, eine schwache Regierung, insbesondere eine „parlamentarische Demokratie", droht unter solcher Belastung um so mehr zusammenzubrechen, wenn, wie in Deutschland, noch die föderalistisch-partikularistischen und vor allem die konfessionellen Gegensätze dazukommen, die unser Parteileben bei einer Mehrheitsbildung lähmen und erschüttern. Schon das Wesen einer rein konfessionellen, auch in politicis von einer yuasi-souveränen Macht des Auslandes — dem römischen Vaticanum — abhängigen großen, jetzt sogar meistens ausschlaggebenden, geradezu das politische Leben beherrschenden katholischen Partei muß den ganzen poli­ tischen Aufmarsch, die reine staatspolitische und nationale Auffaflung der deutschen Belange gefährden, die an sich durch die internationalen, ja direkt moskowitisch-bolschewistischen Verpflichtungen der äußersten radikalen Linksparteien aufs schwerste bedroht sind. So droht die „Hochschule der Kompromisie" zu einer „internationalen Börse" von Partei- und sonstigen Interessen aller möglichen Art, vor allem wirtschaftlichen, zu werden und da­ mit Demokratie und Republik zu erschlagen. Wird es gelingen, diesen übergangs-Korruptions-Zustand ohne Cinbüßung der ganzen Gesundheit des Kranken, ohne Rücklassung einer schweren, schleichenden, chronischen Crnung" von Graf Hermann Keyserling („Allg. Ztg." vom 27.2.25 und dessen Werk „Politik, Wirtschaft, Weisheit", Darmstadt 1922). Dort heißt es u. a.: „Insofern ein Wirtschaftskonzern keine unmöglichen Verpflichtungen eingegangen ist, wie dies alle Staaten getan haben, ist er allen von Haus aus überlegen. Und ist ein großer Konzern gar übernational fundiert, so stellt er eine solche Großmacht dar, wie kein heutiger Staat mehr eine ist. Diese Wahrheit, gemäß welcher die großen Wirtschaftsführer schon lange disponieren, wird seit der neuerdings erfolgten Entspannung allen verstandbegabten (!) Menschen mehr und mehr bewußt, welcher Einsicht entsprechend die praktischen unter ihnen ihre Energien immer mehr eben in der Wirtschaft investieren, die heute Zukunfts­ möglichkeiten in sich trägt, wie nie vorher, wenn nicht überall im Sinn des Reichtums, so desto mehr der Macht. Dann kann es nicht ausblei­ ben, daß ein neues Mächteneh erwächst, demgegenüber das frühere politische kaum mehr zählen wird. Diese Mächte nun werden grundsätzlich übernationalen Charakter tra­ gen. Überfremdung jedes großen Unternehmens ist bei der heutigen Ver­ teilung von Kapital, Intelligenz und Arbeitskraft auf die verschiedenen Völker unvermeidlich. Dem gleichen Ziel führt zwangsläufig die für jedes europäische Land bestehende Unmöglichkeit zu, fortan noch als geschlossener Handelsstaat zu prosperieren. So sind denn alle rational denkenden Energischen heute, ob be­ wußt oder unbewußt, dabei, das Völkerleben auf eine Basis zu stellen, welche die Probleme der bisherigen zwischenstaatlichen Politik grundsätzlich erledigt." Handelt es sich hier auch nur um „Utopien, Visionen": ihre Gefahr, zum staatsrechtlichen und politischen Lehrsatz und zur wirtschaftlichen Grundwahrheit erhoben zu werden, wird für die zur Ohnmacht Verurteilten immer größer. Denn Cntnervung trifft den Kranken und Schwachen nur um so härter und verderblicher. Der Starke — hier Vereinigte Staaten und England — hilft sich selbst: Ist „Locarno" schon der Vorbotesolcher „Übernationalität?

krankung zu überwinden? Das ist die bange Frage, die sich jeder denkende Anhänger einer friedlichen Aufwärtsentwicklung stellen mufc.10) V.

Was der Parlamentarismus, was die Demokratie in Deutschland im einzelnen will, ist in Hunderttausend^ von Schriften und Reden endlos oft verkündet worden: Die Schaffung der friedlichen Zusammenarbeit aller sich ihres Wertes als Gleich­ berechtigte bewußter Volksgenossen, die guten Willens und opferfreudig sind, ihre extremen staatsrechtlichen und sonstigen Wün­ sche zugunsten der Volksgemeinschaft zu mäßigen und dem Ganzen zu dienen: Ausgleich,VerständigungundAussöhnungder inneren Gegensätze zur Herstellung und Aufrecht­ erhaltung eines geordneten Staatswesens, über dessen Fassade (Form) das Volk später in ruhiger Zeit endgültig in verfassungs­ mäßigen Formen entscheiden soll. —

Dabei ein Wort über die zukünftige Bedeutung des Liberalismus in der Demokratie: Man hört so oft, die Aufgabe des Liberalismus sei mit der Befreiung des Staatsbürgers von allen den Aufstieg hemmenden Schranken, mit der Erziehung des Volks zur Einheit und zu einem frei­ heitlichen Verfassungsleben vollbracht; „man brauche ihn also nicht mehr, er sei überholt", so verdienstvoll sein Cmanzipationskampf gegen die Macht der Kirche, dann des Absolutismus und Feudalismus des 18. und 10) Die Frage ist um so sorgenvoller gestellt, als wir uns der großen speziellen Gefahren gerade dieser unserer sog. germanischen Demokratie im Gegensatze zur so viel gescholtenen, in sich geschlossenen „westlichen Demokratie" wohl bewußt find. Der alte deutsche Staat, eine Mischung von Kasten- und Klaffenstaat, dessen einzelne Teile zuletzt wie feindliche Völker einander gegen­ überstanden, die das alte Bismarcksche Reich in ihrer Feindseligkeit aufrieben, war bereits von dem Geist des zersetzenden staatsrechtlichen Partikularismus, der Neigung zum Outsidertum, zur Eigenbrötelei — entsprechend der ganzen germanischen Mentalität — angekränkelt. Dazu kam nach der Katastrophe die ungeheure Macht der großen berufsständischen Organisationen, der Arbeitneh­ mer- und Arbeitgeberverbände; nach der ersten Restaurationsperiode (1919/20) vor allem die wiederholt berührten, von Jahr zu Jahr auf internationaler Grundlage mehr erstarkenden, ja übermächtig werdenden Großindustrie-, Groß­ handels- und Hochfinanzkreise, die den Staat zu erdrücken drohten. Die neue deutsche Demokratie muß sich aufs gewissenhafteste bemühen, dieser Gefahr bei­ zeiten ins Auge zu sehen. Sie droht die junge Republik mit einem neuen „Klassen- und Kastengeiste" gefährlicher Art zu erfüllen, demgegenüber der alte in sich immer nochstark gefestigte Obriakeitsstaat geradezu ein „liberaler" genannt werden müßte. Wenn die Demokrane durch fortgesetzte Fehler der BeamtenWirtschasts- und Steuergesetzgebung diese Entwicklung noch verstärkt, wird sie sich trotz aller Furcht der Massen vor neuem Umstürze bald das Grab bereiten: Hierin liegt eine schwere Gefahr für den neuen deutschen Staat, die die AufrechterhaltungeinesunabhängigenBerufsrichterstandes zu einer fundamentalen Staatsforderung erhebt. (S. auch Z. V.)

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19. Jahrhunderts gewesen sei. Wir halten diese Ansicht für irrig. Der Libe­ ralismus hat eine permanente, ewigeBedeutung, die heute nur mit der sozialpolitischen und kulturellen Entwicklung denGegnergewechselthat: Aber dieser Gegner lebt und der Liberalismus mit ihm. Seine große Aufgabe war und bleibt, die wertvollen und lebensfähigen persönlichen Kräfte gegen schädliche, erstickende Hemmungen und Druck freizumachen und die allzu große Verschiedenheit des kulturellen Besitzes der einzelnen Volksschichten möglichst auszugleichen. Wie früher die Kirche, der Feudalismus, dann der überhitzte junkerliche Militärund bureaukratische Veamtenstaat, die „Staat styrannis", der Gegner der wertvollen Individualität war, so gibt es jetzt bereits neue Unterdrücker der Persönlichkeit und ihres für den Fortschritt ausschlag­ gebenden Wertes: der Schwächere, Unterdrückte, den der „neudeutsche Liberalismus" zu unterstützen hat, ist heute vor allen der geistige Ar­ ve i t e r, ist der durch die Inflation, durch Krieg und Revolution, durch Parteiherrschaft enterbte Mittel st and, ist der geistig und seelisch, sohin auch national Wertvollere im Kampf gegen den Minderwertigen oder Minderwertvollen überhaupt, den skrupellosen Egoisten und Ausbeuter neuer deutscher Rot, der auch den Staat mißachtet und allmählich in einem brutalen Plutokratismus oder einer ebenso brutalen Standesorgansation einen „StaatimStaate" zu errichten im Begriff ist. Ihn unterstützt eine unglückliche Steuergesetzgebung, ein oft zügelloser Parla­ mentarismus und ein noch geistloseres Parteiregiment, ein „Parteiabsolu­ tismus", der in dem sog. „Proporz" seinen rohen Ausdruck findet.") Die Gewalten, gegen die der heute ohnmächtige Staat ankämpft, drohen stärker zu werden als der Staat selbst, drohen ihm ihre Macht durch die Partei­ wirtschaft, die auch jeden Einzelindividualismus der selbständigen und besten Kräfte erdrückt, aufzuzwingen: Cs sind bald die wiederholt ge­ nannten wirtschaftlich mächtigsten Kreise der Großindustrie, des Groß­ handels und der Hochfinanz, bald die mächtigen Berufsorganisationen,

") Die endliche Erledigung der Aufwertungsfrage, insbesondere der Staatsanleihen und Industrie-Obligationen zeigte die Errichtung schrankenloser Herrschaft unserer Wirtschaft über Staat und Parlament: Diese Vergewalti­ gung von Millionen durch einen in der Weltgeschichte einzig dastehenden Schein­ bankrott von Reich, Staaten und Gemeinden, zeigt die Negation jeg­ lichen R e ch t s, wo die Macht der den Staat beherrschenden Wirtschafts­ gewalten beginnt. Die zinslose Schein-„Aufwertung" der „mündelsicheren" Werte ist ein tolles Spiel, das sich die Regierung mit einem gutmütigen Volke erlaubte! — Das einseitige und parteiische Eingreifen der Reichsregierung, zuletzt im Kampfe um den § 64 der 3. St.R.-Verordnung mit Art. 48 der Äersaffung ist dazu einer der bedenklichsten Vorgänge seit der Revolution, der die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit der ganzen Auswertungs- und Ablösungsgesehgebung zur P f l i ch t der deutschen Gerichte macht. Der Vorwurf der Bedrohung der öffent­ lichen Sicherheit und Ordnung gegenüber dem Reichsgerichte (V.O. v. 4.12. 24) ist dabei wohl das Merkwürdigste, was sich bisher eine Regierung gegenüber dem höchsten Gerichte geleistet hat: So untergräbt man jede Autorität!

bald die eigensüchtigen Parteioligarchien, gestützt auf ein unhalt­ bares Wahlrecht: Sie alle wollen den Staat zu ihrem Werkzeug machen und bringen damit — selbst verwaltungstechnisch unfähig — die von ihnen als notwendig benützte und ausgebeutete Bureaukratie wiederum zu einer konkurrierenden Mitherrschaft, sie patronisierend und doch ängstlich niederhaltend. Hier muß der Liberalismus als der gegebene Schützer und Retter eines gerechten und reinlichen Staatswesens auftreten, der gegen die Auslieferung des neuen Staats an eine bestimmte soziale Macht- oder Parteigruppe kämpft: Todfeindjeglicherwieimmergearteten Diktatur oder Privilegienwirtschaft! Und auch in der demokratischen Republik ist diese unter scheinparlamentarischer Auf­ machung nicht nur denkbar, sondern bereits scharf gezeichnet — sei es, daß sie sich in einem großindustriellen oder Banken-Feudalismus oder der Massendiktatur des Sozialismus oder Kommunismus auftut. Cs wird bald auch in dem neuen Staat, den wir gegen neuen Umsturz schützen müsien, wertvolle Sanierungsarbeit des alten, mit neuem Geist der Zeit erfüllten Liberalismus geben, — denn der Geist und die Kraft der Persönlichkeit wird auch über die Zukunft dieses neuen Staats entscheiden! Der Schuh der Persönlichkeit gegen Vergewaltigung steht mit wahrer „sozialer Politik", d. h. einer Politik der materiellen und ideellen Gerechtigkeit und Achtung gegenüber dem Cinzelstaatsbürger im engsten Zusammenhang. In diesem Sinne bedingen sich gerade­ zu „Liberalismus" und „Sozialpolitik" gegenseitig. Und auch kulturpolitisch steht dem „Liberalismus" eine große und schwere Aufgabe bevor: Allüberall zeigt sich unter dem Deckmantel liberaler und demokratischer Phrasen, die leider auch die Weimarer Reichsverfaflung überwuchern, konfessioneller Rückschritt, Mißachtung der reli­ giösen Überzeugung anderer, Beugung des einzelnen vor kirchlichen Gewal­ ten, die durch geistige Mittel die Masten beherrschen, um mit deren Hilfe die „Freiheit" zu erreichen, die die Unfreiheit der Freien und Intoleranz und Zwang gegen Andersdenkende bedeutet. Unsere „Volksbildungs­ bewegung", Fürsorge- wie andere freigesinnte Bewegungen (sogar die „Turn- und Sportbewegung") wisten ein Liedchen davon bereits heute zu singen. Das Bayrische „Konkordat" von 1924/25 ist der erste große Auftakt dieser „After-Freiheit", gegen die der Liberalismus, wenn er nicht endgültig erledigt sein will, mit aller Energie Stellung nehmen muß. (Siehe des Verfassers Aufsatz in „Wille und Weg", Nr. 7, 1925 und seine Sonderbrochüre „Gegen das bayrische Konkordat".) Der Reichsschulgeseh-Cntwurf von 1925 zeigt, wie berechtigt die Warnungen des Verfassers waren. Das Bild völliger Zerreißung, das uns kulturell der Klerikalismus gibt, zeigt politisch der „Sozialismus" der Partei, die den Klassen-Separatismus auf alle Gebiete menschlicher Lebenstätigkeit überträgt.

Die Zeichen der Zeit zu erkennen und ihre Bedürfnisse ver­ ständig nach den Umständen zu befriedigen, wird nach wie vor Aufgabe des Liberalismus sein, dessen Aufgaben kein feststehendes Dogma bilden können, dessen praktische Wirkungsgrenzen vielmehr innerhalb obiger Hauptgrundsähe nach Zeit und Umständen wechseln werden: Frei­ heit von Unduldsamkeit, Engherzigkeit, von Klassen- und Rassenhaß, von Kastengeist und Standeshochmut, wahre staatsbürgerliche Gleichstellung und „Freie Bahn dem Tüchtigen", Überwindung der einseitigen Inter­ essenvertretung durch den Staatsgedanken waren und bleiben die idealen Grundsätze des Liberalismus 1

VI. Der Kampf um die Staatsform, um die Fassade des Baues, droht trotz aller Warnungen von neuem das Reich zu zersprengen: Brauchen wir hier nach obigen Ausführungen über die Torheit solcher echt germanischen „Querelen" noch ein Wort verlieren? Wo der Bau in allen Fugen kracht und die Alternative nur ist: Untergang oder Erhaltung der Einigkeit des Reiches, Anarchie oder Aufrechterhaltung staatlicher Ordnung und Sicher­ heit, Verlust des Rheinlandes und Schlesiens oder Zusammenhaltung des Reiches trotz aller Intriguen französischer Staatskunst und ihrer Trabanten?

Wir sind uns dabei stets voll bewußt, daß die Gefahr deshalb ins Gigantische steigt, weil diese „Demokratie" mit dem größten Fluche der deutschen Geschichte belastet ist: Nichts ist ja furchtbarer in diesem Ge­ schehen als der Gedanke, daß diese demokratische „Freiheit" in dem Augen­ blick geboren wurde, als das deutsche Volk, d. h. das deutsche große Volks­ heer in dem heldenmütigen Kampfe gegen eine ganze Welt am Boden lag, — von Hunger und Not bewältigt, nicht vom Feinde in ehrlicher Feldschlacht. Daher auch das Zögern, die Zurückhaltung der Besten, die für ein friedliches Hineinwachsen in verständige freiheitliche Verfassungs­ formen ein Leben lang gekämpft hatten. Cs konnte der verständigen Demo­ kratie kein schrecklicheres Los in die Wiege gelegt werden, als dieser Fluch der Zeit und aus der Zeit, unter dem nicht jene „eiskalten Naturen", die „klugen" Nutznießer der Revolution litten, die heute vielleicht „ihrem König frei und offen in die Augen sehen" wollten und morgen voll Begeisterung „den neuen Volksstaat begrüßten", sondern jene, die an der Reife des deutschen Volkes ehrlich zweifelten und sich stets bewußt blieben, daß die Llberspringung geschichtlicher natürlicher Entwicklungs­ perioden Unheil und neue Umwälzung bedeutet.

Die deutsche Republik, die deutsche Demokratie kann sich auf die Dauer nur halten, wenn sie die großen nationalen Forderungen, die

aus dem unseligen Versailler Vertrag spontan quellen, ehrlich an die Spitze ihres Tuns stellt. Diese heißen: Widerrufdessog. Schuldge st ändnissesgem. Art. 231 desVersailler Vertrages! Revision des Versailler Friedens im Sinne des Selbstbestimmungsrechts der Völker und ehrliche Durchführung der vierzehn Richtpunkte Wilsons, auf Grund deren die deutsche Waffenniederlegung im Oktober 1918 erfolgte: 1. FreieVolksabstimmung Elsaß-Lothringens^) über seine zu­ künftige staats- und völkerrechtliche Stellung, ebenso von Eupen-Mal­ medy, Polen und Westpreußen; leidenschaftlicher Kampf gegen den unhaltbaren „polnischen Korridor"; Herstellung des deutschen Regi­ ments im Saarlande, in Danzig und Memel: Grundlage die Sprachgrenze. 2. Anerkennung und Ausführung der geschehenen Volksabstimmung für ganz Oberschlesien. 3. Freie Volksabstimmung Deutsch-Österreichs über den An­ schluß an das Reich; ebenso in Südtirol und den deutschen Sudeten­ ländern. 4. Herausgabe der deutschen Kolonien nach SatzV des Wilsonschen Programms. 5. Forderung der unverzüglichen Durchführung der Gesamtabrüstung der Nationen nach SahIV. — 6. Beseitigung aller demütigenden Cntwaffnungs-Kontroll-Schikanen, Räumung der Kölner Zone, Änderung des Rheinlandregimes, vor allem Beseitigung der schmählichen französischen Militärjustiz auf deutschem Boden, Vorverlegung des Abstimmungstermins für das Saargebiet und der Besetzung der Rheinlands, Vermeidung jeder „Sanktions-Vesetzung", Gleichberechtigung im Luftverkehr. Erst dann ist der Beitritt des Deutschen Reichs zum Völkerbund möglich. (Siehe im übrigen des Verfaffers Werk „Aus Bayerns schwersten Tagen" S. 303 ff und unten Kap. 2.) Die demokratische Republik wird sohin streng Na­ tion al sein oder sie wird nicht sein. „Germanische Demokratie" kann dabei nur im Sinne gemeinsamer deutscher Sprache und deutschen Gemeinschaftsgefühls verstanden werden, nicht etwa im Sinne unwisienschaftlicher, Phrasen- und schattenhafter Rassen­ theorien, die ein wahrer Hohn auf die wirkliche mitteleuropäische Völkerlä) Zn einem Augenblicke, in dem der Elsässer selbst aus seinem französischen Taumel erwacht und das Selbstbestimmungsrecht verlangt, einen „Verzicht" auf dieses reindeutsche Land auszusprechen, wäre Landesverrat und würde der jetzigen Generation den Fluch unserer Zukunst und die Verachtung der Welt mit Recht eintragen.

Mischung sind und deren Exzesse bereits zu dem versuchten Nachweise geführt Haven, daß im heutigen Deutschland kaum 9 % Deutsche wohnen. Nicht mit schönen Phrasen und Beteuerungen, sondern nur durch eine zielbewußte Politik zähesten und unbeugsamen Festhaltens an dem Rechte, das klar in den Grundlagen zum Waffenstiüstandsabkommen niedergelegt ist, wird die demokratische Verfassung gegen alle Widerstände gehalten werden können. Schon der Versailler Vertrag ist das Produkt einer betrügerischen Erpressung, dessen Verteidigung infamierend wirkt. Läßt die Republik darüber hinaus sich freiwillig auf eine Verschlechterung ihres Rechts ein, wie sie dies fortgesetzt von 1920 bis 1925 geschehen ließ, dann soll sie sich nicht wundern, daß Tausende, ja Millionen das Lager verlassen und an ihr verzweifeln. „Sicherungspakt" mit Verzicht auf Elsaß-Loth­ ringen, Eupen und Malmedy ist eine Schmach für jeden, der die Hand dazu reicht, ebenso wie die Unterwerfung unter die Art. 10 u. 16 des Völkerbundspaktes. (S. auch Kap. 2.) Weder Orientierung nach W e st e n noch solche nach Osten, sondern eine Politik der freien Hand, die aufmerksam die Zeichen der Zeit verfolgt und nur e i n Z i e l kennt, die Freiheit und Wiederher st ellung der gerech­ ten deutschen Welt st ellung von 1914 auf Grund seiner terri­ torialen und kolonialen Lage vor dem Weltkriege!

VII. „Ob es uns jemals wieder wohlgehen soll, dies hängt ganz allein von uns ab . . . und insbesondere, wenn nicht jeder einzelne unter uns in seiner Weise tut und wirkt, als ob er allein sei und als ob lediglich auf ihm das Heil der künftigen Geschlechter beruhe" (Ioh.Gottl. Fichte): Denn es ist richtig, was Zahn schreibt: „Der Staat ist nichts ohne Volk, ein seelen­ loses Kunstwerk; nichts ist ein Volk ohne Staat, ein leibloser, luftiger Sche­ men . . . Staat und Volk in eins geben erst ein Reich, und dessen Erhal­ tungsgewalt bleibt das Volkstum," — das wir nur erhalten können, wenn wir endlich das gemeinsame Staats-undVolksempfindender in gleicher Not Leidenden an Stelle kleinlicher Parteigegensätze erringen. Ohne eine starke Dosis natürlichen, freudigen, vertrauensvollen Opti­ mismus auf deutsche Kraft und Energie, auf unsere Zukunft, auf unsere Zugend wird uns der große Wurf nimmermehr gelingen. Ihn muß die Überzeugung schaffen, daß, wenn das deutsche Volk umzubringen wäre, es in der Zeit von 1914 bis heute fortgesetzt die beste Gelegenheit gehabt hätte. Nur wenn wir das Vertrauen auf uns selb st ver­ lieren, sind wir verloren. Und eins sei nicht vergessen: Eine Demokratie, eine Republik, überhaupt ein Staatswesen ohne ein w e h r fähiges und wehrwilliges Staatsbürgertum, das die Grenzen nach außen verteidigt und im Innern für Freiheit, Recht und Ordnung selbst sorgt, ist eine aufgeblähte Attrappe, die niemand achten

wird: Ein Gegenstand des Hohnes und des Spottes für äußere und innere Feinde! Schon Niccolo Machiavelli erklärte: „Wer seinen Staat auf Söldnertruppen stützt, der steht niemals fest und sicher." Auch unsere deutsche Demokratie, unsere parlamentarische Verfassung können trotz aller krampfhaften Anstrengungen aller Guten auf die Dauer nicht bestehen, wenn man uns von außen oder von innen die Möglichkeit raubt, aus eigener Kraft diesen Staat zu erhalten: Auf inter­ nationale Belange, auf Bürgschaften des sog. „Völkerbundes" oder ähn­ liche Einrichtungen, hinter denen nur imperialistische Gewalt und diplo­ matische Heuchelei zur Unterdrückung der andern lauert, die Zukunft des deutschen Volkes aufzubauen, ist für jeden Verständigen solange unbegreif­ liche Torheit, als die andern die vertragsmäßige Pflicht der Abrüstung mit Hohn und Spott behandeln und auch in ihrer sonstigen Po­ litik offen bloße Macht an die Stelle des Rechts setzen. Ein Land wehrlos zu machen oder dauernd zu lasten, — wie dies die edlen „Demokratien des Westens" in heuchlerischer Verkennung jeglicher poli­ tischer Vernunft in Deutschland tun — ist nicht nur das größte Verbrechen der eigenen Regierung, sondern derjenigen Staaten, die an der ruhigen, friedlichen, demokratischen Entwicklung des deutschen Staates ein hohes Interesse haben: Foch, Poincarö, Millerand und Genossen sind die Paten und Protektoren der deutschen ultravölkischen Bewegung! Solange dies so ist, hat die Demokratie die Pflicht, alles zu tun, um von der frühesten Jugend auf ein wehrhaftes, wehrkräftiges und wehrwilliges Volk heranzuziehen, das imstande und willens ist, auseigenerKraft das Reich gegen seine Feinde draußen und drinnen zu verteidigen?') Würde sie diese Zukunftspflicht, die Vorbereitung der Schaffung eines Volksheeres—etwa in der Form der Schweizer Miliz—verletzen, so würde sie ihre Daseinsberechtigung verlieren, wäre wert, vom politischen Schau­ platz zu verschwinden: Der Parlamentarismus würde der Mehrheit des Volkes, vor allem unserer Jugend aus dem Kriege, deren Sympathien die „Demokratie" leider sündlich vergeudet hat, schließlich nur als das System unnützer Kräftevergeudung in nichtigen Reden und Beschlüssen erscheinen— 13) Heute mutz tatsächlich für uns Deutsche nächst der reinen Ehre die Ge­ sundheit das höchste Gut des einzelnen und der Ration sein. !l n s e r e Erziehung schafft sie nicht! Im Gegenteil: die Staub- und Stuben­ pädagogik richtet unsere Jugend zugrunde. Unsere Parole mutz sein oder werden: Körper und Charakter ebenbürtig dem Geiste zu erziehen. Die Forderung: „Der Vormittag dem Geiste, der Nachmittag dem Körper" und — füge ich hinzu — „dem Willen, dem Charakter!" muß endlich Forderung der ganzen deutschen Nation werden. Was wir erreichen wollen, ist, durch die Erziehung den Mann fähig zu machen, sich in jeder Lebenslage zurechtzufinden. Auf was wartet unsere Schulverwaltung, unser Staat noch? Ist ihr die Blut­ armut, die Bleichsucht, Skrofulose, Tuberkulose, Rachitis usw. noch nicht genug? Was soll all' das „Aufbau" - Gerede, wenn an der Versündigung unserer modernen Schule, die unsere Jugend mit ödem und vielfach über-

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statt der verantwortungsvollsten und würdigsten Form der Selbstverwal­ tung und Selbstbestimmung eines selbst- und staatsbewußten Volkes, das bereit und willens ist, seine Geschicke in der Zukunft wieder selbst zu be­ stimmen und ein Faktor in der staatlichen und kulturellen Entwicklung Europas und der Welt zu sein, der seiner Geschichte und Kultur würdig ist.

Neben dieser Erziehung unserer deutschen Jugend zu einem dem natio­ nalen und täglichen Kampfe ums Dasein gewachsenen Geschlecht muß der Kampf um unser Recht als Nation mit geistigen Waffen, in geistiger Offensive aus dem Volk selbst heraus als Mittel der Selbsthilfe

durchgefochten werden: Alles, was Atem hat, zeige unausgesetzt der Welt, daß wir uns nicht gegen Poincaro und Foch, nicht gegen Herriot und Vriand, sondern gegen Ludwig XIV., der in jenen lebt, wehren und daß

jener „Sonnenkönig" heute wieder Europa tyrannisiert, beweise immer wieder, daß wir das Objekt des schmählichsten Verrats und Betrugs beim Waffenstillstand, Friedensschluß und bei dessen Ausführung in der Folge­ zeit geworden sind und daß Frankreich und seine Trabanten allein durch fortgesetzten Vertrags- und Völkerrechtsbruch schuld daran sind, daß die

Welt innerlich unfriedlicher ist als je und neue schwere Kriege die Zukunft bedrohen, — trotz und wegen all der systematischen Rechtsbrüche der Arheber des „unanständigen Friedensdiktats von Versailles". And weg mit der Leisetreterei und Feigheit, das Kind beim richtigen Namen zu nennenI Glaubt den sog. „Staatsmännern" nicht, die euch lehren, die angelsächsischen Völker könne man durch solche unmännliche Demut und Selbstzerknirschung gewinnen! Das Gegenteil

ist der Fall; diese Anschauung beruht auf völlig falscher Masten- und Völkerpsychologie! Nur wer sich rührt und nimmer rastet im Kampf um sein Recht, gewinnt Hochachtung und gerechte Hilfe bei den andern! Allzu lange hat das deutsche Volk und seine Regierung in der Defensive in der Schuldfrage gestanden. Solange müssen wir in Herz und Hirn die Wahrheit vom Kriege einhämmern, bis die Entente ihren Verleum­ dungsfeldzug gegen uns einstellt und uns wahrhaft gleichberechtigt durch Wehrhaftmachung erklärt. Wer bei der heutigen Vertei-

flüssigem Wistenswuste zu ersticken droht, nichts geändert wird? And die Republik, die bei dem Wegfall unseres Volksheeres, dieser großen Körper­ schule, zehnfach die Pflicht zu völligem Bruche mit der Vergangenheit in dieser Richtung hätte, hat leider völlig versagt! Immer mehr Wissenskram und Verständnislosigkeit gegenüber den Forderungen der Zeit, um das viel­ köpfige Angeheuer der „endlosen Bildungsschlange, das das Mark aus den Knochen der Jugend saugt" (Hartwig) zu erlegen. Laßt alle Hoffnung auf die befreiende Tat der Zukunft, wenn hier nicht bald völlige Amkehr stattfindet und wirklich große Reformen einsehen. Aus Feigheit vor dem Auslande, aus Träg­ heit und Stumpfsinn diese Pflicht zu vernachlässigen, würde die Verantwort­ lichen von heute mit geschichtlicher Schmach bedecken. An den Reichstag aber stellen wir die Forderung: Mehr Mut, mehr Initiative, mehr Verständnis! Erträgt diegrößteSchuldan den Anterlastungssünden unserer Verwaltung!

lung der Wehrkräfte und Fesselung Deutschlands von „Gleichberechtigung" Deutschlands spricht, ist entweder ein armer Tropf oder ein Be­ trüger — selbst bei den schönsten Papier-Pakten. Auch von den Neutralen, die sich zu Mitschuldigen dieses Lügensystems gemacht haben, muß das deutsche Volk Gerechtigkeit fordern. Die deutsche Presse, die nicht im aus­ ländischen Feinde, sondern im andersdenkenden Deutschen den Hauptfeind sieht, trägt für die Unterlassung dieser „g e i st i g e n O f f e n s i v e" die Hauptschuld: Neben ihr freilich das ganze deutsche Volk, das durch Uneinigkeit und inneren Streit sein herbes Schicksal verdient. Haben wir mit der Wahrheit die wirkliche Gleichberechtigung erlangt, dann sei unser Wahlspruch: „Arbeiten, warten und stillschweig e n", — bis die Stunde der Freiheit und Gerechtigkeit schlägt.

2. Kapitel.

Einiges über die inneren Mängel und Feinde des deutschen

Parlaments und des parlamentarischen Systems. i.

Motto: „Sie streiten sich, so heißt's, um Freiheitsrechte, Genau besehen, sind's Knechte gegen Knechte." Die immer wieder erörterte Frage: „Warum gibt es in Deutschland verhältnismäßig, d. h. im Vergleich mit den sonstigen kulturellen, geistigen, wissenschaftlichen und künstlerischen, auch militärischen Leistungen des deutschen Volkes, so wenige wirklich hervorragende Parlament« rier, ja sogar so wenig hervorragende Po litiker?" — beides ist nicht das gleiche! —, wird in technischer Richtung im II. Teil dieses Werkes näher zu behandeln sein. Im allgemeinen nur diese Andeutung: Cs wirkt hier in erster Linie die allgemeine Geschichte des deutschen Volkes, das Klein­ staatwesen, seine Zerfahrenheit und Zerrissenheit. Dazu der deutsche Charakter, der zur Theoretisiererei, Rechthaberei, Outsidertum, Eigenbrötelei besonders neigt. Servilismus, Byzantinismus und sein Gegenstück, protzenhafter Dünkel bis zum Kasernenton, sind keine günstigen Angebinde für parlamentarische Tätigkeit, so wenig wie Geistesdrill, Mischung von nationaler Selbstbeschmutzung und krankhaftem Chauvinis­ mus: Kurzum, das Produkt einer zwischen Herrscher- und Vediententum ständig wechselnden politischen Entwicklung, des ewigen Oben und Anten war dem politischen Denken und Fühlen, der politischen Reife des Ganzen wie des einzelnen ungünstig. Bildungs- und andere Mängel (siehe unten Teil II) sprechen mit. Aber das parlamentarische System birgt in sich große Mängel und Gefahren. Starke Feinde bedrohen die Volksvertretungen in ihrer heu­ tigen Verfassung. Die gefährlich st en Feinde des Parlamentssystems sind die Parlamente selb st: Ihre Zucht­ losigkeit, ihre Kleinlichkeit, Engherzigkeit, ihr Partei- und Kantönli-Geist, ihre Überhebung, das Übermaß der Rederei, der Mangel an Taten! Streitsucht und Parteizwietracht sind die gefährlichsten Feinde des deutschen Parlaments: Schlechte Sitten bis zur völligenVerrohung des 3 Müller-Meiningen, Parlamentarismus.

Tons—sogar aus Absicht und -uZwecken der Sabotage—sind an der Tages­ ordnung. Der deutsche Reichstag hat in der Zeit vom Ausbruch der Revo­ lution bis heute das allerschlechteste Beispiel den Staatsbürgern an staats­ politischer Würde und Verständnis trotz großen Fleißes seiner Ausschüsse gegeben. Seine Verhandlungen muten bisweilen mehr als die Äußerungen eines Tollhauses wie die eines Volkshauses an. Ich brauche dabei gar nicht bloß auf die Tage nach Rathenaus oder Crzbergers Er­ mordung hinzuweisen. Auch sonst gibt es keine Gemeinheit, keine Ver­ leumdung, keinen Schmutz, der nicht zahlreichen Rednern dort in den letzten sechs Jahren an den Kopf geworfen worden wäre, wobei die Zugehörigkeit zur Regierung des Reichs oder eines Bundesstaats nichts ausmacht: Die Gleichheit, mit der man all diesen Schmutz jedemdortAuftretend e n an den Kopf wirft, ist — man verzeihe das harte Wort — vielleicht das einzig versöhnende Moment. Prügeleien sind dabei durchaus nicht einmal das schlimmste, — sind eher noch mit der immanenten Massen­ psychose oder -Psychopathie zu entschuldigen als die kalt entgegengeschleuderten Verleumdungen und Niedrigkeiten, für die scheinbar dem Gros der Abgeordneten heute bereits jedes Verständnis fehlt: Sie machen Leopold v. Rankes Wort wahr, daß Parteien „überhaupt nicht überlegen, sondern nur fühlen". Ist das Gefühl roh, wie hier, so muß die ganze Einrichtung, die ganze Korporation der Verrohung anheimfallen.^)2)3) „Erhitzt bekämpfen sich die Reihen zur rechten und zur linken Hand, Und überm Hader der Parteien denkt keiner mehr ans Vaterland." (Emanuel Geibel.)

*) Den Geist des heutigen Reichstags kennzeichnet charakteristisch u. a. die Tatsache, daß zu einer Zeit, als das Schicksal des Reiches wieder einmal an einem schwachen Faden hing (Ende Mai 1924) und alle Welt auf Um­ formung der Regierung und Annahme oder Ablehnung des Dawes-Repara­ tions-Gutachtens gespannt war, man in eine erbitterte taaelange Debatte über die — „Sitzordnung" im neuen Reichstage eintrat. Alles schon dagewesen! Aber daß wir zu den sonstigen Lächerlichkeiten auch noch solche Ctikettefragen aus dem alten Regensburger Reichstage des Heiligen römischen Reiches deut­ scher Nation, wo die Frage, ob der Gesandte des Fürstabts von Kempten seinen Sessel im Reichsfürstenrat so plazieren dürfe, daß die Hinterbeine des Stuhles noch auf den Fransen des Teppichs zu stehen kommen, auf dem der Thronsessel des Gesandten des Kurfürsten von Bayern stand, haben müssen, ist doch zu viel. Alle Dummheiten erschöpfend durchzukosten — dazu sollte Demo­ kratie und Parlament doch zu gut sein! Wie das Ausland diese Dinge beurteilt, zeigt z. V. folgende Äußerung des „Gaulois" über die Eröffnungssitzung vom 27. Mai 1924: „Wie kann man noch die mindeste Achtung empfinden vor einer Einrichtung, die, wenn sie nicht ge­ radezu Unheil anrichtet, das Schauspiel einer ebenso lächerlichen, wie schänd­ lichen Komödie bietet. Was soll man von den Volksvertretern halten, die gestern im Deutschen Reichstag im Gänsemarsch den Sitzungssaal betraten, während andere, als Faszisten verkleidet, von denen sie das berühmte schwarze Hemd übernommen hatten, allegorische Abzeichen durch die Luft schwangen, deren Bedeutung nur die Eingeweihten begreifen konnten? Was soll man zu diesem Krawall sagen, in Szene gesetzt von ernsten Männern, die in den Reichs-

Ob gegen dieses das Parlament auf die Dauer ruinierende SumpfNiveau, das anständige Männer davon abhält, sich in die Schmutzlinie zu stellen, drakonische Geschäftsordnungsbestimmungen etwas aus richten, er­ scheint mehr als zweifelhaft: Wenn der Präsident und die Parteiführer

tag mit dem Auftrag geschickt worden waren, die Krise zu lösen, deren Ausgang für die Geschicke des Reiches entscheidend sein wird? Diese zu gesetz­ geberischen Arbeiten berufenen Männer benahmen sich wie Schuljungen in der Pause, und es ist nicht einmal ein Klassenordner da, der ihnen ihre Würde wieder ins Ged ä ch L n i s r u f t." (!) And das Allerschlimmste ist, daß man dieser vernichten­ den Kritik gegenüber als Anhänger des Parlamentarismus nicht einmal eine Einwendung erheben kann, daß man ihr zustimmen muß. 2) Zu einem anderen Vergleiche zwingt die systematische Beschmutzung jedes an hervorragender öffentlicher Stelle stehenden Mannes in Deutschland, voran des verstorbenen 1. Reichspräsidenten und jedes Kandidaten für diese Stellung und das gleichzeitige Verhalten des englischen Volkes und Parlaments nach dem Tode des im Leben so stark angefochtenen, weil als sehr hochmütig ver­ haßten Lord Curzon. Als er, der Typ des stolzen Engländers, im März 1925 starb, neigten sich an seiner Bahre alle Parteien. Im Parlament fand der Arbeiterparteiler Thomas eben so hohe Worte des Lobes über den konservativen Staatsmann wie der Liberale Godfrey Collins. Bei uns in Deutschland hatte man zu riskieren, wegen Verleumdung verklagt zu werden, wenn man einem nachsagte, daß er dem toten Reichspräsidenten die gebührenden Ehren er­ wiesen habe. Kann ein Volk mit so wenig Staats- und Gemeinschaftsbewußtsein der freiesten Staatsform würdig sein? Freilich die sozialdemokratische Par­ tei kann sich wegen dieses Mangels nicht beschweren: Vestra culpa, ihr Herrn des Klaffen- und Maffenhaffes! Wer solche Saat auswirft, kann nur Haß und Zwietracht ernten! Die Schuld liegt links sowohl wierechts. Die Orgien schwarz-roter Farbe bei der ersten Volkswahl des Reichspräsidenten, die sich gegen den immerhin populärsten Mann des jetzigen Deutschland, v. Hinden­ burg, richteten, bewiesen, daß die Niedrigkeit leider fast bei allen Parteien in gleicher Weise ihren Einzug gehalten hat. Daß die „Karrieremacher" der Par­ teien nach Hindenburgs Wahl sich rasch auf diesen einstellten, erscheint nur sehr harmlosen Gemütern als ein Verdienst! Anderen erscheint sie vielleicht als Charakterlosigkeit. 3) Die Politik des „schwarzroten" Bundes und seines Produktes, des Banners Schwarz-Rot-Gold hat einen Höhepunkt erreicht mit der Ver­ weigerung des Empfanges des Reichspräsidenten v. Hindenburg durch dieses Reichs-„Banner" (1925): „Cs sei nicht auszudenken, welche ungeheuren außen­ politischen Folgen ein solcher Empfang haben müßte!" Die ganze Welt — so­ weit sie von dieser beschämenden Heldentat des H. Hörsing etwas erfuhr — hat — gelacht über diesen. Spieß- und Schildbürgerstreich, der den sozialdemo­ kratischen Einspruch gegen die Wahl Hindenburgs zum würdigen Seitenstückchen hat. Blamiert ist freilich nicht nur die Sozialdemokratie, sondern die ganze sog. „Weimarer Koalition" und ihre drei Bestandteile. Der Führer der Deutschdemokratischen Partei Koch weiß es genau: „Das Zentrum läßt sich mit kulturellen, die Sozialdemokratie mit wirtschaftlichen Zugeständniffen bezah­ len" (Bremer Parteitag). Trotzdem ist es heute parteidemokratische Taktik, fast jede Torheit dieser beiden Parteien mitzumachen — oder sie wenig­ stens durch weitere Zusammenarbeit zu decken. „In rosigerem Lichte hat noch niemals ein verzückter Liebhaber seine Geliebte gesehen!" (Koch gegen­ über Dr. Preuß (Bremer Parteitag 14. Rov. 1921) über das Verhältnis zur Sozialdemokratie.)

nicht soviel Autorität bei den Parteien besitzen, um solche fortgesetzten Roheiten zu verhindern, helfen auch die schärfsten Bestimmungen zum Ausschluß der Übeltäter nichts. Die Verbindung mit Diätenverlusten zeigt nur, wie der Parlamentarismus bereits zumGeschäftherabgesunken ist. Tatsächlich sind heute zahlreiche Abgeordnete auf den Diätenbezug in der Weise angewiesen, daß sie damit zu H ö r i g e n der Parteien und der allmächtigen Parteibureaukratie geworden sind. Damit sind wir zu einem schweren Feind des jetzigen Parlaments ge­ kommen: Das ist das jetzt herrschende Wahlrecht, das — gestehen wir es offen — die einstigen Anhänger vollkommen enttäuscht hat. Cs gibt kein Mittel, das das Parlament unbeliebter macht, als das jetzige Verhältniswahlrecht mit der Listenwahl. Jedes per­ sönliche Vertrauensverhältnis zwischen Volksver­ treter und Wählerschaft ist vernichtet. Der Wähler kennt „seinen Abgeordneten" heute überhaupt nicht mehr. Köstliche Beweise persönlicher Erfahrung könnte ich dafür aus den „bestinformierten" Kreisen beibringen. Früher war der beliebte Kandidat einer Partei jedem Kinde in dem betr. Wahlkreis bekannt: Der Kandidat kannte Land und Leute wie diese ihn. Im Wahlkampf mußte er um die Stimmen jedes Ortes sich bewerben. Seine persönliche Tüchtigkeit, das Sympathische seines Auf­ tretens, seine Verdienste im großen und kleinen waren seine Stärke. Heute entscheidet über die Unterbringung auf der an sich der Wählerschaft un­ beliebten „Liste" dieser Riesenwahlkreise der Mann, der entweder durch Gefügigkeit der Parteibosse willkommen ist oder als Führer einer Inter esiengruppe und Organisation den genügenden Druck auf die Parteien und ihre „Boffe" anzuwenden weiß. Ein Mann, der nicht auf eine starke Organisation sich zu stützen vermag, ist heute nur dann in der Lage, sich für eine Kandidatur zu empfehlen, wenn er der Partei restlos zu willen ist und die Parteibureaukratie mit den dazu gehörenden „Führern" durch Diensteifer und „Gesinnungstüchtigkeit" für sich zu gewinnen vermochte. So wird das Parlament mehr als je der Tummelplatz der I nt e r e s s en Vertreter und Partei st reberohneeigene Meinung. Die Wählerschaft wird dem Parlament durch die Listenwahl immer fremder und dadurch feindseliger. Diese ist geradezu das Grab des Parla­ mentarismus. Parteien mit individualistischer freier Anschauung werden hinter festgeschlosienen, bei denen „die Führer fast absoluter herr­ schen als ein absoluter Monarch", um mit Bismarck zu sprechen, stark ins Hintertreffen kommen. Cs gab für die liberalen Parteien keine größere Enttäuschung als die sog. „Verhältniswahl", die theoretisch ideal erschien, aber die Masienpsyche viel zu wenig berücksichtigt. Anter ihrer Herrschaft droht die Volksvertretung ein Geschäft mit Simonie und Korruption zu werden.

II. Das große Verschulden unserer Zeit ist, daß man Mil­ lionen neuer Wähler, denen man den richtigen Gebrauch ihrer Verant­ wortung nicht gelehrt hat (siehe unten), auf einmal losließ: Eine öffentliche Meinung, die die wirtschaftliche und politische Ge­ sundung des Volkes, die gesunde Auswirkung des Selbstbewußtseins der Masten des Volkes trägt, die sohin Trägerin einer intelligenteren, umfastenderen Selbstverantwortung ist, kann nur allmählich durch ein lan­ ges,gründlich es,allgemeines Erziehungsverfahren geschaffen und gebildet werden. Auch in den sieben Jahren seit der Revolution (1918 bis 1925) ist in der Schaffung und Förderung der Möglichkeit, seinen natür­ lichen und richtigen Führer zu erkennen, zugleich den Schutz gegen sophisti­ sche, fanatische, agitatorische Demagogie zu sichern: kurz, der Fähigkeit, sich zu der klaren Anschauung der großen, die Nation bewegenden Fragen zu erheben, von der „demokratischen Republik" blutwenig ge­ schehen. Die Resultate der Wahlen haben gezeigt, daß statt Wahrheit und Klarheit, statt Entwicklung eines offenen Sinnes und Verstandes, die Dinge nüchtern und richtig zu sehen, die Unklarheit, der demagogische Sophismus, der unehrliche Fanatismus, der „cant“ der neuen Parteibossen und die politische Unehrlichkeit — nicht ohne schwere Schuld auch unserer Auslandsfeinde, die zu „türkischen", zu „Sklaven"-Machinationen verlei­ ten—mit der materiellen und wirtschaftlichen Verkommenheit zugenom­ men haben. Unsere wirtschaftliche Rot, unsere verfluchte Uneinigkeit, alle moralischen und seelischen Defekte aus dem verlorenen Krieg und dem Zusammenbruche mögen die Hauptschuld tragen. Da das Wesen der Demokratie nicht in passiver, sondern nur in aktiver Teilnahme aller bestehen kann, muß die Erziehung in einem wahrhaft demokratischen Lande mit allen Kräften danach streben, jeden Staatsbürger nicht nur für seine persönlichen Pflichten, sondern vor allem für jene staatsbürgerlichen Pflichten zu erziehen, die ihn erkennen lasten, was der Staat für ihn und seine Kinder bedeutet, daß er sich seinen Gesetzen willig zu unterwerfen, daß er seine Kultur und seine Ideale aufrechtzu­ erhalten und zu fördern, daß er für seine Verteidigung sich mit Gut und Blut einzusehen hat. Hat die deutsche Republik auch nur begonnen, diese Erziehung als Gegen st ück unreifer Freiheit einzuleiten? Hat die Parteiwirtschaft, hat die rein materialistisch eingestellte Wirtschaft überhaupt für diese seelische und geistige Entwicklung der Fähigkeit der jetzt — wenigstens formal — herr­ schenden Masten, die richtige Führerauslese zu treffen, etwas Entschei­ dendes getan? Wird das Reich auf die Dauer diese Unterlassung in ihren Folgen ertragen?

Bange Fragen, die nur die Zukunft entscheidet.

III. Nicht Parteiwahlen, sondern Wahlen von Männern und Köpfen, die von dem wirklichen Vertrauen der Wählerschaft getragen sind, tun uns heute in Deutschland not. Sie schafft nur die Rückkehr zur Einserwahl, der sich die allmächtigen Parteiboflen entgegenstemmen. Auch sonst braucht der Parlamentarismus Vereinfachung, Beschleunigung, Ver­ billigung sowie Cntbureaukratisierung der Parlamentsarbeiten mit ihrer oft trostlosen Verschleppung der Durchführung wichtiger Maßnahmen. Die Abneigung des Volkes gegen das Parlament ist längst auf die Reichsregierungundihre Träger übergegangen, drohte auch den er st en Reichspräsidenten zu erfassen, der an der Unter­ lassung der legalen Neuwahl gewiß unschuldig war. Die Gefahr ist d i e völlige Autoritätslosigkeit von Gesetz und Recht, den Resultaten der Tätigkeit des Parlaments. Welche tragische Ironie, daß das jetzige sog. „souveräne Parlament" nicht annähernd die Achtung und den Einfluß beim deutschen Volk besitzt, den das angeblich „ohnmäch­ tige" des alten konstitutionellen Kaisertums hatte! Formale Gesetzes- und Verfassungsparagraphen entscheiden niemals über die Bedeutung eines Par­ laments, nur die Stellung, die es sich selb st durch Taten und sein ganzes Gebühren, durch die Achtung in der Öffentlichkeit erwirbt: Die Summe aller in die Wagschale zu werfenden Potenzen persönlicher und sachlicher Art entscheidet über die Macht einer VolksVertretung, — nicht Buchstabenrecht, nicht staatsrechtliche Konstruktionen machen die „Demokratie" aus.')

') Das Parlament sieht heute auch äußerlich wesentlich anders aus als ehedem. Der parlamentarische — gewöhnlich allgemeingebildete, aber nicht in der politischen Tretmühle sich erschöpfende — „M. d. R. ■ Bon vivant" im besten Sinne des Wortes war eine charakteristische Spezialität des alten diätenlosen Reichstags (bis 1906). Sicherlich war die Diätenlosigkeit aus sozialen Gründen unhaltbar, aber ebenso sicher ist es, daß der Menschenbestand vor der Diäten­ zahlung ein weit besserer war als nachher. Der liebenswürdige alte Schlag guter Behäbigkeit, der dem damals hochgeachteten und vom ganze Volke ge­ ehrten Stand der „M. d. R." auszeichnete, ist heute natürlich völlig verschwun­ den. Der Radikalismus der Zeit und der Parteien, auch die Zeitnot hat ihn vertrieben. Die „romantische Zeit" des deutschen Parlamentarismus ist spä­ testens mit dem Beginn des Weltkrieges abgelaufen, — vielleicht sogar schon früher. Vielleicht ist Conrad Haußmann, der noch Chrysanthemum - Dich­ tungen aus dem Chinesischen übersetzte, ihr letzter äußerlicher Epigone gewesen! Gerade die alten liberalen Parteien besaßen Musterbeispiele dieses feinen, liebenswürdigen und gebildeten Menschenschlages. Ich nenne nur die Ramen Stausfenberg, Munkel, A. Traeger, Reinhard Schmidt, Deinhard, Bennigsen, Gras Stolberg, v. Kardorss fett. usw. (s. unten Teil HI). Vergleicht man damit die jetzigen Durchschnitts - Erwerbs - Mandatare des jetzigen Reichstags — in den Landtagen war die Sachlage infolge des

Parlamente sind wie Parteien zu viele; die Volksvertretungen sind z u g r o ß. Cs ist ein Hohn und Spott, daß — je kleiner und ohnmächtiger das Reich geworden ist, — desto größerder Reichstag wurde, der mit 250 Mandaten heute leicht auskäme, dessen Träger auf strenge A nWesenheitsgelder angewiesen werden müßten. Dementsprechend natürlich die Landesparlamente. Die Bureaukratie im Parlament und damit die Langsamkeit der Ausführung seiner Beschlüsse war ein besonders ärgerliches Kapitel in der Zeit der raschen Geldentwertung: Ungezählte Billionen gingen so zum Fenster hinaus, — ohne dem Volk irgend etwas zu nützen. „Abbau" i st beimParlament ebensodringlich wie nur irgendwo in der Bureaukratie, die übrigens heute in dieser sog. „parlamentarischen Demokratie" mächtiger ist, als sie jemals im alten kon­ stitutionellen „Obrigkeitsstaat" war?)

IV.

Der deutsche Parlamentarismus wie seine Einrichtungen sind sohin sehr reformbedürftig. Das deutsche Volk muß ihn, arm an politischem Instinkt und noch ärmer an staatspolitischer Erziehung, erst zu m e i st e r n lernen. Die Hauptschuld an unserm jetzigen innerpolitischen Elend und seinem Versagen trägt er selbst freilich nicht. Die Hauptschuld haben auch wohl nicht seine Träger, — so sehr wir an dem „Zuviel" von Parteien und Parlamenten wie an dem Mangel politischer Zucht und wirklicher bedeutender Führer auch leiden mögen und so viele bedenkliche Vorhandenseins von Diäten stets etwas anders —, so will einen ein Grausen ergreifen! Wobei wir selbstverständlich einsehen, daß die Psyche des jetzigen Abgeordneten eine andere sein muß als die der 70er und 80er Jahre. Aber auch der Unterschied zwischen dem „Kriegs-Reichstag" und dem heutigen ist ein so gewaltiger, nicht nur durch die Zeitverhältnisie, sondern vor allem durch das Wahlrecht bedingter, daß nicht zu verwundern ist, daß das Volk wenig Sym­ pathien für diese „Volksvertretung" aufbringt. 6) Bei den Beamten 50—70 % „Cntbehrungsfaktor", beim Reichstag stark er­ höhte Diäten! Im alten Reiche, dem großen, mächtigen führten neben einem Minister 7—8 Staatssekretäre die ganzen Geschäfte des Reiches. Heute: 12 bis 13 Minister, etwa die vierfache Anzahl Staatssekretäre, ca. 820 Beamte in der höchsten Besoldungsgruppe und etwa 400 in den Cinzelgehältern. Ein Regiment höchstbezahlter Beamter! Dazu Pensionen für parlamentarische Mi­ nister, ein Hohn auf das parlamentarische System! Von den Gehältern und Zulagen der Reichseisenbahnbeamten gar nicht zu reden! Ohne Berücksichtigung von Heer und Marine, Reichsschahamt, Reichspost und -eisenbahn ergibt sich, daß im Jahre 1913 ein Gesamtbeamtenstand von 4300 die Arbeiten der ver­ schiedenen Reichsämter erledigte, während er sich jetzt auf 16 500 fast vervier facht hat. Schuld sind freilich in erster Linie die Anhänger des Achtstundentages und der unsinnigen Ausdehnung von Zuständigkeiten auf das Reich, das viel zu schwach ist, um diese Kompetenzen verdauen zu können! Das Reich zahlt z. Zt. durch die hohen Diäten der Abgeordneten indirekt den Parteien bedeutende Subsidien. Auch sonst merkt man von der finanziellen Rot vorwiegend nur da etwas, wo es sich um die berechtigten Ansprüche des geistigen Mittelstandes (einschl. der Beamten) handelt.

Fehler in der inneren wie in der äußeren Politik, deren unge­ heure Schwierigkeiten wir vollkommen anerkennen, die Demokratie in den ersten sieben Jahren der Republik gemacht haben mag?) D i e H a u p t schuld an dem Versagen des Parlamentarismus trägt die sadistische Erpressungspolitik der sog. „demokratischen Republik" Frankreich seit Ver­ sailles. Sie hat die deutsche Republik in ihren schlimmsten Kinder­ jahren schon fast erstickt: Sie ist in erster Linie daran schuld, daß in Ver­ kennung des Möglichen sich die Mafien des deutschen Bürgertums der politischen Indolenz oder dem Intransigententum ergeben haben. Die wahnsinnige Politik der Poincare, Foch und Ge­ nossen ist die Todfeindin der deutschen Demo­ kratie, die treueste Helferin der deutschen inneren Reaktion. Die Sprüche des Herrn Herriot gegenüber der deutschen Demokratie bei Fortsetzung des Ruhr-Verbrechens vermochten nur der deutschen Demokratie den Genickstoß zu versehen! Kein Verständiger im In- und Auslande wird dieses Urteil zu hart finden, wenn er der Entwick­ lung der deutschen Dinge mit Aufmerksamkeit gefolgt ist. Wenn Frankreich 6) Die äußerePolitikder Regierung litt — der Verfasser kann hier nur kurz andeuten — von der unseligen erpreßten Loslösung von den Reden Wil­ sons und dem Pakte vom 5. November 1918 an, der als Grundlage des Friedensvertrages unter keinen Umständen verlassen werden durste, bis zum DawesGutachten an der widerspruchsvollen Schwäche und Nachgiebigkeit der Re­ gierungen und der Parteien, die ständig die „U n m ö g l i ch k e i t", die „U n sittlichkeit", die „Unmora l", die „U n a n n e h m b a r k e i t" des Völker­ rechtsbruchs seitens der Alliierten Wochen-, ja monatelang laut predigten, um dann unter Verleugnung ihrer ganzen vorherigen Haltung das „Unmögliche", „Unsittliche", „Unmoralische" der Erfüllung selbst zu akzeptieren und dem Volke sogar noch die „Erfolg e" ihrer Tätigkeit vorzuerzählen. Dieses jeder Achtung vor der Intelligenz des deutschen Volkes hohnsprechende Verhalten der Regierungen seit dem Waffenstillstände in ewiger Wiederholung in Spaa, London (Ultimatum), Genua, London usw. — weniger der Inhalt der Politik selbst — machte das deutsche Volk wie seine Regierungen vor der Welt fast lächerlich und machte den Franzosen und ihren Trabanten Mut zu jeg­ lichem neuen Vertragsbrüche. So kam die Schmach von Oberschlesien, von Danzig, vom Saarlande, der Einbruch ins Ruhrrevier, die Fülle der Schand­ taten im Rheinlande, die immer neuen vertragswidrigen Cntrechtungs- und Kontrollasfären, zuletzt die Schmachforderungen bezüglich der Verwendung und Ausrüstung der Reichswehr und Schutzpolizei bei Gelegenheit der immer wieder zu Unrecht verweigerten Räumung der Kölner Zone. Dieses Verhalten der Regierungen machte — die gefährlichste Wirkung! — das Volk immer gleich­ gültiger, abgestumpfter gegen jede nationale Schmach und Missetat unserer sadistischen Feinde, deren fortgesetzte Rechtsbrüche nur der Usurpierung der Rheingrenze und damit der dauernden Unterjochung Deutschlands galten. Auch die schwächliche, wieder plötzlich aus Angst zurückgehaltene endliche offizielle A u f -rollung der Schuldfrage durch Notifizierung an die Alliierten (August 1924) seitens der Reichsregierung verriet ein solches Maß von Mutlosigkeit und Prinzipienlosigkeit — (man vergleiche damit die Haltung Frankreichs gegenüber den ^geraubten Provinzen" Elsaß-Lothringen von 1870 bis 1914) —, daß es als ein Wunder erscheint, daß nicht der Widerspruch aus dem Volke und den Par-

das Ziel verfolgt, auch die Demokratie wie die Monarchie in Deutschland unmöglich zu machen, d. h. das Chaos zu schaffen, um das Reich aufzulösen, — so hat es bisher mit haffenswerter Virtuosität und beneidenswerter Energie und Zielsicherheit diese Linie eingehalten. Eine solche Politik des politischen Sadismus muß sich einstmals furchtbar an diesem Staat und dem französischen Volk rächen — und nicht an ihm allein, sondern, wie ich fürchte, an Europa und der ganzen Kulturwelt. Die Rächer der Zukunft in Asien und Afrika haben bereits an die Pforten geschlagen: Exoriare aliquis nostris ex ossibus ultor! Unsere Rächer werden die in Europa zur Schmach verwendeten schwarzen und gelben Horden fein I7*)* * * * * teien viel stärker war. Jedenfalls untergrub die Regierung wie der Reichstag den Rest von Autorität durch ihre ewig widerspruchsvolle Politik selbst! Ebenso destruktiv wirkte die Behandlung der Frage des Beitritts zum Völkerbünde und zu einem sog. „Sicherheitspakte" mit Frankreich, Belgien, England. Die Bedingungen, die die Reichsregieruna stellte (Sih im Bundesrate, keine Wiederholung des Kriegsschuldbekenntnisies, keine Teilnahme an der Exe­ kutive gemäß Art. 16) sind bei genauer Prüfung völlig bedeutungslos. Art. 10 ist dabei als schlimmste Norm (Verpflichtung zur Anerkennung und Verteidigung der Grenzen nach dem Versailler Frieden) gar nicht berücksich­ tigt. Eine Erneuerung des Schuldbekenntnisses ist für die Entente nicht nur überflüssig, sondern geradezu gefährlich. Der Verzicht auf die beabsichtigte Notifikation der Lossagung vom Schuldbekenntnisse erschien zudem als ein neues Schuldbekenntnis schlimmster Art, weshalb die Ententemächte die Schritte der deutschen Regierung vom 26. 9. 25 und später in dieser Richtung gar nicht ernst nahmen. (S. unten das Kapitel „Locarno".) Von einer Zurückgabe der Kolonien oder auch nur Beteiligung an Mandaten war ernsthaft keine Rede. Der Sih im Bundesrate täuscht Toren über die tat­ sächliche völlige Ohnmacht Deutschlands, das nur Blinde ohne Wehrmacht für eine „Großmacht" halten können. Deutschland wird, wenn es diese Politik der Nachgiebigkeit weitermacht, Kriegsschauplatz zwischen dem Westen und dem Osten sein, — es mag in den Völkerbund eintreten oder nicht. DurchseinenCintritthat esjedenfallsendgültigjedeMöglichkeitfüralle Zeiten verlören, eine Revision des Versailler Friedens im Sinne des Selbstbestimmungsrechts der Völker z u v e r l a n g e n. Cs hat damit in feierlichster Form sein Schuldbekenntnis oder besser seine Schadensfest­ legung gemäß Art. 231 für immer freiwillig festgelegt und die Er­ press u n g s Handlung der Entente moralisch getilgt. (S. unten Kapitel 7.) 7) Der Grundfehler — ich sage vielleicht besser „die nationale Sünde", die m. C. die deutschen Regierungen von 1919 bis 1925 gemacht haben — liegt, wie in Anmerkung 6 bereits angedeutet, in der Erweckung des Anscheins, als wenn sie die Politik Frankreichs, die den tausend­ jährigen Kampf um den Rhein in seiner ganzen Roheit und Nacktheit der Politik Heinrich II., Ludwig XIV. und Napoleon I. erkennen läßt, für ehrlich und treuherzig, ja für ernst nahmen. Damit haben sie sich m. C. in der ganzen Welt bloßgestellt (s. u. a. das Werk des Dänen Karl Larsen: „Der Ädlerfluq über den Rhein und den Äquator" und die dort angegebene fran­ zösische Literatur, die unwiderleglich beweist, daß die Rheingrenze „die Mission Hugo Capets war und die seiner Nachfolger geblieben i st", selbst nach dem Zeugnis eines Proudhon und Louis Blanc), indem sie den Anschein unverantwortlicher Kurzsichtigkeit und historischer Unkenntnis auf sich luden, obwohl sie wußten, daß Hcrriot und Vriand dieselbe Politik machten und

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V. Auch sonstige Maßregeln des innerpolitischen Verfassungslebens trugen zur Vergrößerung der Verwirrung ständig bei. In weiten Kreisen rechnet man hierher sogar das Frauen-, jeden­ falls aber das Iugendwahlrecht. Liber die Wirkungen des Frauen st immrechts hier nur einige offene Worte! Die Frauen haben m. E. aktiv enttäuscht, passiv — als Gewählte — sich vielfach gut bewährt. Die Frau hat sich bisher in aktiver Ausübung des Wahlrechts als stark beeinflußbar und sehr unselb­ ständig bewiesen: Eine Kinderkrankheit des Frauenstimmrechts! In der Auswahl der Kandidatinnen waren die Parteien meistens nicht unglücklich. Die Neigung der Frau als Wählerin geht in zwei verschiedene Rich­ tungen. Sie neigt erstlich stark zur Unterstützung der Extremen von links und rechts: Erklärlich, da sie sich in erster Linie von ihren Gefühlen, weniger vom Verstände leiten läßt. Im Widerspruch damit ist die Frau besonders geneigt, dem großen Haufen, den Parteien, die vor allem die Frau (z. V. durch kirchliche, religiöse Mittel usw.) anziehen, willen- und gedankenlos nachzulaufen. Freilich, der Herdentrieb ist leider kein bloßes Kennzeichen der Frauenpsyche, sondern eines staatsbürgerlich schlecht ge­ bildeten Volkes wie des deutschen überhaupt. Wenn ich dies auch an­ erkenne, so muß ich überzeugungsgemäß doch feststellen, daß die Anwendung des Frauenstimmrechts gerade für den, der, wie der Verfasser einer der ersten war, der für die politische Gleichstellung der Frau, vor allem im Ver­ eins- und Versammlungsrecht, eintrat, eine starkeCnttäuschungist. Ich verstehe es, daß viele aufrichtig liberale Männer die Beibehaltung des aktiven Frauenstimmrechts für „kein Glück" halten. Wir müssen aber mit diesem für absehbare Zeiten als unabänderliche Tatsache rechnen; es ist viel leichter, ein Recht vorzuenthalten, es nicht zu geben, als ein gegebemachen mußten wie Poincare und jeder andere Minister, der sich im heutigen Frankreich halten will. „I n st i n k t i v e, t r a d i t i o n e l l e" Politik des ge­ samten französischen Volkes, das den Rhein- und den „Charlemagne" - Ge­ danken mehr liebt als Gott und die Menschen und zur Festhaltung der Rhein­ grenze jeden Vertrags- und Rechtsbruch begehen und verteidigen wird, — ge­ nau so wie Albert Corel es in seinem Werke „L’Europe et la Revolution fran^aise" (1885) ehrlich schildert: „Die Franzosen brauchen alle Texte, die die verwirrte Wissenschaftlichkeit der betr. Periode ihnen zur Verfügung stellt, um alle Taten zu rechtfertigen, zu denen sie die brutalen Sitten der Zeit führen. Sie stellen eine Wissenschaft ohne Kritik in den Dienst einer Politik, die keine Skrupel kennt." Der Rhein- und Charlemagne-Gedanke werden das A und O der französischen Republik bleiben, denen sie jedes Opfer der Moral und des Intellekts bringt. Eine deutsche Regierung, die das nicht klar erkennt und danach ihre Taktik einrichtet, verdiente gestäupt zu werden. Wie wäre es, wenn jeder deussche Minister und Staatssekretär vor seiner Er­ nennung eine Prüfung in der französischen und der Geschichte des Kampfes um den Rhein ablegen müßte? Rotwendig, — dringend notwendig wäre es! Aber die Parteien haben anderes zu tun? (S. jetzt das Kapitel „Locarno".)

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nes zurückzunehmen. Torheiten sind leichter gemacht als wieder gut gemacht. And die Demagogie hängt sich gerade an sie besonders gern. Die klügsten Frauen bestätigen das herbe Arteil über das Versagen selbst. Die Frau soll in sozialpolitischen und wirtschaftlichen Fragen, in Fragen, die ihr besonders „liegen", vor allem in Wohltätigkeitsange­ legenheiten, voll teilnehmen, auch in einem Wirtschaftsrate ihre Vertretung finden. Für das eigentliche politische Parlament ist ihre aktive Wahltätigkeit kein Segen. Haben die Anrecht, die da sagen, Romallein mit seinen unvergleichlichen Machtmitteln der Einwirkung auf Seele und Geist der Frau habe den Vorteil vom Frauenwahlrecht? Doch gilt es jetzt, nachdem das Los zugunsten des Frauenstimmrechts endgiltig gefallen ist, ehrlich und gewissenhaft die Frau für eine verständige Politik der Aus­ söhnung und Verständigung im freiheitlichen und aufgeklärten Sinne zu gewinnen. Gerade hier müssen die Zeiten der Kinderkrankheit durch Auf­ klärung und liebevolles Eingehen auf das Denken und Fühlen der Frau überwunden werden. Ein „Zurück" gibt es nicht! VI.

Mangel der staatsbürgerlichen Erziehung — der Hauptfeind des Par­ lamentarismus und der Demokratie. Das WahlrechtderIugendlichen zähle ich zu den eigentlichen größten Feinden des Parlaments, der Republik und der Demokratie. Man hat in den Jahren der Revolution 1918/1919 direkt von der Herr­ schaft der „L a u s b u b o k r a t i e" gesprochen: Jedenfalls haben die jungen Burschen mit kaum 20 Jahren die größte Terrorherrschaft aus­ geübt. Der Terror in den rechts- und linksextremen Lagern geht von diesen jungen Burschen aus, deren Gleichstellung mit den älteren geschulten Ar­ beitern in Fragen des Lohnes usw. mit das größte Anglück für Deutsch­ land wurde. Wir hätten selbstverständlich nichts dagegen eingewandt, wenn man den Frontkriegsteilnehmern vom 20. Lebensjahre an, d. h. den wirk­ lichen Frontsoldaten damals das aktive Wahlrecht gegeben hätte: Sie sind großenteils nach dem furchtbaren Erleben der Trichterlöcher in Flan­ dern als frühzeitig reife Männer nach Hause gekommen. So aber hat man auch hier wieder das Kind mit dem Bade ausgeschüttet und die völlig un­ reifen jungen Burschen, die im Kriege zuchtlos und verkommen ausge­ wachsen waren, — was ihre einzige „Betätigung" während des Krieges war, — ganz allgemein zum höchsten politischen Ehrenrechte zugelassen. Daß hier nur unreifer Fanatismus, der sich in politischen Morden, Attentaten, Putschversuchen, Verschwörungen wilder Art austobte, protegiert wurde, konnte keinem Verständigen entgehen. Solange Deutschland diese wilde, un­ reife jugendliche Schar in Wirtschaft und Politik so verhätschelt, sie in den Parteien das große Wort führen läßt, — statt ihr zu sagen, daß sie erst lernen sollen zu gehorchen und Selbstzucht zu üben, bevor sie in den Wahl-

Versammlungen rechthaberisch und ungebildet ihre politische Weisheit ver­ zapft, die alten ruhigen Clemente verhöhnt und lästert, alle menschliche Autorität, jede Achtung vor dem Alter und der Erfahrung verspottet, — so­ lange wird Deutschland nicht wieder zur Ruhe und Ordnung, zu einer gedeihlichen staatsbürgerlichen Entwicklung kommen: Solange wird Republik und Demokratie dem Gros der Verständigen fremd und unsympathisch bleiben und immer mehr werden. Die jungen Burschen bis zum 25. Lebensjahr sollen ihre Kraft und Intelligenz vor allem in Sport, Turnen und Spiel, in HarterSchule des Charakters und des Willens, in unseren Bergen im Kampfe mit den Elementen üben. Dann mit einer gewissen Abgeklärtheit hinein in das politische Parteileben! Der Staat aber sorge endlich dafür, daß des Jugendlichen an sich durchaus willkommenes Interesse für Staat und Poli­ tik in richtige objektive Bahnen eines abgeklärten staatsbürgerlichen Un­ terrichts geleitet wird. Unsere Schule, vor allem unsere Mittelschulen, haben hier bisher fast völlig versagt: Im alten wie im neuen Regiment! (Siehe des Verfassers Schrift: „Aus Bayerns schwersten Tagen", Erinnerungen und Betrach­ tungen aus der Revolutionszeit, 1923.) Cs gilt heute noch Simrocks schönes Wort von den deutschen Schulen:

„In Rom, Athen und bei den Lappen Da kennen wir uns trefflich aus. Derweil wir wie die Blinden tappen Umher im eignen Vaterhaus."

Wenn es wirklich richtig ist, daß wir das politisch einfäl­ tigste Kulturvolk sind, — die Geschichte bestätigt leider dieses grau­ same Urteil —, dann hat unsere Schule, vor allem unsere Hoch- und Mittelschule, schwere Mitschuld an dieser Entwicklung. Aber zu solchem Eingeständnis gehört ein Mut, den leider die Beteiligten selten besitzen! Und jeder, der an der geistigen Diktatur unserer „Huma­ nisten" rüttelt, muß sich Banausentum, wenn nicht schlimmeres nachsagen lassen. Er muß förmlich öffentlich Spießruten laufen: Denn die Macht dieser Kreise ist eine außerordentlich große, beherrscht durch die El­ tern weite Kreise des Volkes. Sie hat die Revolution als konservativste Einrichtung spielend überwunden, ohne durchgreifende Konzessionen an die neue Zeit zu machen. Und unbeirrt durch die Kriegs- und Nachkriegs­ katastrophe redet einer dem andern das Wort unserer „überlegenen huma­ nistischen Ausbildung" nach! Ich bleibe dabei: Ein Jüngling, der seine Muttersprache wirklich in Wort und Schrift beherrscht, — (was ihm das deutsche Gymnasium in entscheidenden Momenten gering anrechnet) —, ist dem Staat und Volk weit wertvoller als ein anderer, der die griechischen Verba auf im Schlafe herplappert und die Grammatik im Griechischen und Französischen beherrscht, um auf dem Gare du Nord doch als ein völliger Ignorant dazustehen und Nase und Mund aufzureißen. Wie viele unserer

Absolventen können aus dem Stegreif über ein Thema, das sie s a ch l i ch beherrschen, — diese sachliche Beherrschung ist selbstverständliche Voraus­ setzung für jeden Redner — auch sprechen? Wer bringt ihnen auch nur die Grundbegriffe der Redekunst im Deutschen bei? Was lernen sie von Cicero und Demosthenes anders als mühevolle Syntax-Studien? Der Unterschied zwischen der angelsächsischen und unserer „höheren Bildung" ist kurz und drastisch ausgedrückt: Dem jungen Engländer und Amerikaner wird in seinen höheren Schulen der Kopf für das Leben draußen geöffnet, offen gemacht, bei uns durch einen Wust unverdauten, immer vermehrten Wisienskrams allzu oft v e rs ch l o s s e n, ja — fast hätte ich gesagt — „vernagelt"! Dort Er­ ziehung zur Rerven-Aufrichtung, hier Erziehung zur Rerven-Untergrabung in jungen Jahren!«)8 9)

VH.

Muttersprache und Geschichte: Die zwei Säulen unserer Erziehung! Das schwerste Problem, sie den Führern der Zukunft richtig zu lehren. Brauchen wir wirklich so überwiegend die Antike und die fran­ zösische Kultur, um den jungen Deutschen zu bilden? Haben wir in unserer reichen Geschichte, in deutscher Kunst und Wiffenschaft, in deutscher Art und deutschem Denken so wenig, — (trotz eines wahren Meeres nationaler Reden und Phrasen!) —, was unserer männlichen und weiblichen Jugend zum Vorbilde und zur Grundlage deutscher Bildung und Erziehung 8) Goethe sagte zu Cckermann am 12. März 1828: „Cs geht bei uns all es dahin, die liebe Jugend frühzeitig zahm zu machen und alle Natur, alle Originalität und alle Wildheit aus­ zutreiben, so daß am Ende nichts übrig bleibt als der Philister. So z. V. kann ich nicht billigen, daß man von den studierenden künftigen Staatsdienern gar zu viele theoretisch-gelehrte Kenntnisse verlangt, wodurch die jungen Leute vor der Zeit geistig wie körper­ lich ruiniert werden. Treten sie nun hierauf in den praktischen Dienst, so besitzen sie zwar einen ungeheuren Vorrat an philosophischen und gelehrten Dingen, allein er kann in dem beschränkten Kreise ihres Berufs gar nicht zur Anwendung kommen und muß daher als unnütz wieder vergeflen werden. Da­ gegen aber, was sie am meisten bedurften, haben sie eingebüßt: es fehlt ihnen die nötige geistige wie körperliche Energie, die bei einem tüchtigen Auftreten im praktischen Verkehr ganz unerläßlich ist." Heute leider fast genau noch so wie zu Goethes und C. M. Arndts Zeit! 6)