1870/71: Erinnerungen und Betrachtungen [3. bis 5. Auflage, Reprint 2021] 9783112396100, 9783112396094


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German Pages 318 [324] Year 1914

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1870/71: Erinnerungen und Betrachtungen [3. bis 5. Auflage, Reprint 2021]
 9783112396100, 9783112396094

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1870/71 Erinnerungen und Betrachtungen von

Prof. Dr. Heinrich Fritsch Geh. Ober-Medizinalrat

3. bis 5. Auflage

Bonn 1914

A. Marcus & E. Webers Verlag Dr. jur. Albert Ahn

Alle Rechte vorbehalten

Druck der Spamerschen Buchdruckerei in Leipzig

Meinen Kindern und Kindeskindern Lamburg 1912

Inhalt Seite

Nach Metz.................................................................

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Bei Metz.......................................................................... 52 gn Saarlouis................................................................ 122 Gegen Garibaldi .................................................... 174 Waffenstillstand und Friede ....................................293

Nach Metz. Nein, nein, und abermals Nein l Unter keinen Umständen! Diesmal bleibe ich nicht zu Hause! Das ist nun der dritte Krieg! 1864 lief ich noch mit dem Horaz unter dem Arme zur Schule, als die Freunde, mit Kriegsmedaillen geschmückt, von den Düppeler Schanzen zurückkehrten. Mein Vater hatte ja recht, wenn er sagte: Berufssoldat willst du nicht werden! Das Vaterland ist nicht in Gefahr. Bedenke, wie du herausgerissen wirst, wie schwer du nach deiner Rückkehr dich wieder in die Schule finden würdest. Und 66 — ja, da ging alles so schnell, daß nach der schleunigen Rückkehr von Tübingen und der Mel­ dung beim Bezirkskommando der Krieg eher zu Ende war, als man dachte eingestellt zu werden. Sollte ich nun wieder zu Haus bleiben? Mein Großvater war 1778 geboren, 1865 gestorben. Er hatte also die ganzen napoleonischen Iammerzeiten als denkender Mensch mitgemacht. Von diesem Erleb­ ten sprach er höchst ungern. Die Erinnerungen seien zu traurig. Es lebte fast ebensolange auch noch ein Schwager von ihm. Kam auf ihn die Rede, so wurde der Großvater noch bis an sein Lebensende sehr zornig.

„Käme der Kerl zu mir, eigenhändig würf ich ihn die Treppe hinunter. 1813 war er der einzige Verwandte, der zu Hause blieb. Er war damals königlich west­ fälischer Prokurator. Nichts fesselte ihn, keine Frau, kein Kind, kein Amt. Sein Bruder war so schwächlich, daß er kaum einen Marsch aushielt. Und doch ist er als freiwilliger Jäger nach Paris gekommen. Der Pro­ kurator aber blieb zu Haus!" Noch nach fünfzig Jahren konnte der Großvater dem Schwager das nicht vergeben. Nun hieß es vielleicht auch von mir: Alle seien in den Krieg gezogen, nur allein ich sei zu Haus ge­ blieben, fern vom Schuß! Nein und abermals nein, das sollte man von mir nicht sagen. Jetzt war ich praktischer Arzt. Assistenzarzt an der Klinik. Das Dienen hatte ich, da ich jung war, noch zwei Jahre hinausgeschoben. Ich stand am Fenster und sah hinab auf den Hof der alten erzbischöflichen Residenz, in der sich die Klinik befand. Mein Chef hatte mich soeben verlassen. „Ängstigen Sie sich nicht," hatte er seine Rede geschlossen, „Sie brauchen nicht in den Krieg. Ich reklamiere Sie als unabkömmlich. Vorhin war ich auf dem Bezirkskommando. Der Oberst meinte, die Reklamation sei sicher von Erfolg, zumal Sie noch nicht gedient haben." Mein Mitassistent war schon im Besitz der Order. Jetzt war es 11 Uhr am 21. Juli 1870. Um 12 Uhr ging ein Zug nach Magdeburg» und ich saß in dem Zug. Auf dem Bureau des Generalarztes in Magde­ burg meinte der Militärarzt: „Da Sie fertig sind, und alle Examina hinter sich haben, werden Sie natür-

lich sofort genommen. Haben Sie besondere Wünsche?" „Ja, ich möchte zum 72. Infanterieregiment, bei dem mein Bruder als Reserveoffizier steht." Der Kollege konnte mir das nicht sicher versprechen, wohl aber, daß meine Gestellungsorder am andern Morgen in meinen Händen sein werde. Jedenfalls sollte ich mir sofort eine Ausrüstung für mich und das Pferd besorgen. Davon bekam ich in Magdeburg nur einen großen Schleppsäbel. Nicht einmal einen Helm. Ich habe den ganzen Feldzug in der Mühe mitgemacht. Abends in Halle ging ich noch zum Militär­ schneider, der Maß nahm, und binnen 48 Stunden eine volle Uniform mit Mantel zu liefern versprach. Richtig — am andern Morgen konnte ich meinem Chef die Order zeigen. Binnen drei Tagen hatte ich mich beim 4. Thüringischen Infanterieregiment in Torgau zu melden. Der Chef machte ein ziemlich langes Gesicht, als er die Order sah. Ich hatte aber schon vorgesorgt, daß er nicht in Verlegenheit kam. Ein wegen Verdachtes der Schwindsucht völlig militärfreier Kollege, mit dem ich das Examen gemacht hatte, war schon abends vor­ her bei mir gewesen, um mich zu bitten, falls ich ein­ gezogen würde, ihn als Ersatz zu empfehlen. Dies geschah. Er übernahm meine Stelle, und alle Schwie­ rigkeiten waren für die Klinik behoben. Mich auszurüsten hatte ich also zwei Tage Zeit, aber ich hatte keine Ahnung, was ich eigentlich alles brauchte. Der Schneider brachte, wie er versprochen, nach zwei Tagen Uniform und Mantel. Die Uniform leider aus ganz feinem Tuche, wie es der „Einjährige" als Extra-

uniform im Frieden trägt. Ein gewöhnliches Bein­ kleid, keine Reithose, und einen sehr dicken, warm­ gefütterten Mantel, in den ich voll Wonne mich oft gewickelt habe. Auch in Halle war ein Offiziershelm nicht aufzutreiben. Ich packte nun in einen kleinen Koffer das, was ich zu brauchen glaubte, telegraphierte an meinen Bruder in Torgau und nahm Abschied von den Eltern! Das war sehr vergnüglich. Als echter Preuße war mein Vater stolz darauf, daß zwei seiner Söhne in den Krieg ziehen konnten. „Auf Wieder­ sehen, auf fröhliches Wiedersehen!" „Das kannst du ja gar nicht wissen," sagte mein Vater, „sie können dich doch auch totschießen." Ich lachte: „Wir sehen uns sicher wieder." „Nun, an dem nötigen Gottver­ trauen hat es dir ja nie gefehlt," sagte der Alte, und legte sich wieder zu dem unterbrochenen Mittagsschlafe nie­ der ! Ich war fest überzeugt, daß ich zurückkehren würde. Freilich, in jenen Jahren war ich ein großer Optimist! Später hat mich das Schicksal zum Pessimisten ge­ hämmert. Die Reise nach Torgau war damals noch eine „Reise". Eine Stunde von Halle nach Leipzig, eine Stunde Aufenthalt, eine Stunde bis Dahlen, dann drei bis vier Stunden Postwagen bis Torgau. Un­ gefähr sieben Stunden brauchte man, um von Halle bis Torgau zu kommen! Jetzt fährt der Schnellzug kaum eine Stunde! In Torgau empfing mich mein Bruder, der zum Ersatzbataillon kommandiert war, also in Torgau blieb. Es ging sofort zur Vereidigung, die nicht sehr feier­ lich war. Nun wurde mir mein Pferd nebst Burschen

übergeben. Natürlich war es das schlechteste Pferd beim 'Regiment. Denn erst suchten alle Offiziere sich Pferde aus, dann nahm sich der Zahlmeister die Pferde für die Offiziersequipagewagen, die Patronenwagen, Medizinkarren, und das letzte, was jeder abgelehnt hatte, war für den Doktor als Fortbewegungsmaschine gut genug. Ich kam zum zweiten Bataillon und wurde der achten Kompagnie zugeteilt. Als ich von Sattel und Zaumzeug sprach, meinte der Hauptmann: „Ich habe Ihnen nur das Pferd zu übergeben. Morgen früh 5 Uhr wird abmarschiert. Wenn Sie sich nicht Sattel und Zaumzeug selbst noch heute abend besorgen, so nehmen Sie den Schwanz ins Maul und laufen hinter dem nackten Pferd her". Das fing ja gut an I Mein Bursche aber wußte Rat. Er führte mich in eine abgelegene Stallung, wo die Juden wohnten, die Pferde gebracht hatten. Hier kaufte ich für zwei Taler einen Sattel. Zu der Zeit, bei der Nachfrage I Man kann sich denken, was für ein Pracht­ exemplar es war. Er hatte vielleicht schon den sieben­ jährigen Krieg mitgemacht. Dann kaufte ich noch in der Stadt einen Woilach, sogar eine Schabracke und Zaumzeug. Das Pferd wurde gesattelt. Ich wollte doch erst ein­ mal darauf gesessen haben, ehe der Marsch begann. Wir gingen in eine Bastion, wo der weiche Sand das tzinunterfallen ungefährlich machte. Das Pferd, das eine solche Menge Eisen noch nicht im Maul und um das Kinn getragen, auch einen Sattel, geschweige denn einen Reiter, noch nie auf sich gespürt hatte, schien

sehr erstaunt über diese Zumutungen zu sein. Es setzte aber mehr passiven als aktiven Widerstand entgegen. Zog man am Zügel, so ging es rückwärts oder blieb stehen. Ein alter Artillerist, der meinen Reitkünsten zu­ sah, meinte, das sei alles ganz gleichgültig. Hinter dem Bataillon würde das Pferd zwischen den andern laufen, wie ein Hammel in der Herde. Ich sollte es nur in Ruhe lassen. Der Mann hatte recht. Betrachtete ich das Pferd nur als Doktortransportmaschine, so entsprach es vollkommen allen vernünftigen Anforderungen. Ich überließ also das Pferd dem Burschen, obschon etwas in Sorgen, wie es sich morgen auf dem Marsch be­ währen werde. In der Stadt kaufte ich noch ein Paar große Packtaschen, vorn an den Sattel zu schnallen: Pistolenhalfter. Sie enthielten Pfeife, Tabak, Waschgeräte, Frühstück usw. Für den Mantel wurde ein Wachstuchfutteral zum Aufschnallen hinten auf den Sattel schnell angefertigt. Somit war nun die Reitangelegenheit erledigt. Mein Bruder, der schon den böhmischen Feldzug mitgemacht hatte, war über die Dürftigkeit meiner Feld­ ausrüstung sehr erstaunt. Wenigstens einen zweiten Rock müsse ich doch haben, was wolle ich denn machen, wenn ich völlig vom Regen durchnäßt sei. Deshalb schenkte er mir einen alten Sommerrock, der nicht viel Platz im Koffer beanspruchte. Noch ein Paar mächtig klirrende Sporen wurden an die Stiefel angeschlagen und der „Feldassistenzarzt" prangte in kriegsmäßiger Pracht. Im Hotel war ein langer Korridor dicht voll Betten gestellt, von denen ich eines erhielt. Ballmusik ertönte.

Ein Leutnant hatte noch am letzten Tage vor dem Ausmarsch geheiratet. Man war eben vom Diner auf­ gestanden, und ein langer Zug von Damen und Herren drängte sich zwischen unsern Betten hindurch. Am andern Morgen, am 25. Juli, marschierten wir über die Elbe, beim Brückenkopf vorbei, nach Osten, nach Falkenberg. Der Marsch war nicht schön. Sand, Sonnenhitze, kein Schatten. Damals hatte noch jede Kompagnie ein Packpferd, das an jeder Seite, zu­ sammengehalten durch eine Art Sattel, einen großen, schweren Korb trug. In ihm befanden sich Kranken­ decken, Handwerkszeug für Schuster und Schneider und dergleichen Utensilien. Die Pferde wollten diese un­ gewohnte Last nicht tragen; sie mußten von drei oder vier Soldaten gebändigt und geführt werden. Es gab fortwährend Aufenthalt, da die Körbe ungleich schwer waren und der schwerere den leichteren nachzog. Ein­ mal lag ein Korb auf dem Rücken, das anderemal hing er am Bauche. Das war eine ganz unmögliche Transportmethode. Nur mühsam brachte man die Pack­ pferde vorwärts. Es gab sogar Verwundete, da die Pferde um sich schlugen. In Frankreich wurden sofort kleine Wagen requiriert. Das Pferd, und oft noch ein anderes, wurde angespannt, und man hatte viele Vorteile von dem Wagen. Aber allerdings: die Bagage des Regiments vermehrte sich um zwölf Wagen! Jedes Bataillon besaß einen zweirädrigen, außer­ ordentlich schwerfälligen Medizinkarren mit zwei Kisten, eine für Verbandzeug, eine für Medikamente. Da nun der Bauchgurt das Pferd, das hier zu Lande dies Anspannen an den Karren nicht kannte, belästigte,

so war auch dies Gefährt stets in Unordnung und kam nicht gut von der Stelle. Die Ausrüstung mit Medi­ kamenten war etwas vorsintflutlich. So gab es einen großen Ledersack mit Brusttee! Vor Metz haben wir den Tee in der Not als Ersatz für Kaffee getrunken. Dann gab es eine Unzahl völlig unnötiger Medikamente. Was man aber täglich brauchte, z. B. Opiumtinktur, war so wenig vorhanden, daß sie an einem Tag ver­ braucht war. Das ist ja nun heutzutage alles viel besser organisiert. Oberhalb der zwei Kisten war ein sehr willkommener leerer Raum, der ja vorhanden sein mußte, wenn man die Kisten aufklappen wollte. Dieser Raum stand zu meiner Verfügung. Hier lag mein Koffer mir viel besser zur Hand als im Offiziersequipagewagen, den man meinetwegen doch nicht geöffnet hätte. In späterer Zeit lag hier unser Kompagniezelt, lagen die Zelt­ stangen, die vielen wollenen französischen Decken und ein Sack mit Hafer, Kommißbrot, das ich den Soldaten abkaufte, auch gelegentlich ein Vorrat von Heu. Denn bei der Ausgabe von Hafer und Heu kam ich stets zu kurz. Erst erhielten der Major und jeder Hauptmann ihr vollgeschüttelt und gerüttelt Maß, dann kamen die Wagenpferde an die Reihe, und der Rest, der für das Doktorpferd blieb, war kaum die Hälfte von dem, was ihm zukam. Hätte sich mein Bursche nicht immer Heu und Hafer zusammengestohlen und Kommißbrot ver­ füttert, so hätte mein armes Pferd oft hungern müssen. Ich war der achten Kompagnie zugeteilt. Ihr Führer war der Hauptmann von Kraewel, ein alter Korps­ student, Märker aus Halle, ein stets vergnügter, offner

und liebenswürdiger Offizier, an dem seine Kompagnie mit wahrer Liebe hing. Dann standen noch als Leutnant bei der Kompagnie ein Jurist, ferner ein Reserveoffizier und ein Mzefeldwebel, ein Kaufmann aus Leipzig, bei­ des gute Kameraden, mit denen ich mich bald sehr befreundete. Wenn wir irgendwo einmarschierten, hatte ich ja bei der Ouartierzettelverteilung nichts zu tun. Dann ritt ich schnell voraus und rekognoszierte das Terrain bezüglich Nahrungsmittel, Kneipen usw. Oft gelang es mir allerhand einzukaufen, bevor die große Masse des Bataillons das Geschäft erschwerte. Denn wenn plötzlich in ein kleines Nest 1000 Mann Hungrige kommen, so ist bald jedes Stück Brot verkauft. Um 2 Uhr 15 Minuten war das Bataillon in Falkenberg in zwei Zügen untergebracht, in einem die Mannschaften, im andern Wagen und Pferde. Dann ging es unter Hurra fort. Nicht sehr angenehm! Acht Personen in einem Coupe. Tag und Nacht! Aber Köthen, Paderborn, Letmathe, Wetzlar nach Kob­ lenz. Am 28. Juli, lange vor Sonnenaufgang, hatten wir stundenlangen Aufenthalt in Oberlahnstein. Die Burg lag im Schatten. Nur die Konturen hoben sich vom immer heller werdenden Morgenhimmel ab. Lang­ sam vergoldete der Sonnenschein die Wälder auf den Bergen des linken Rheinufers und die vielen Kirchen und Türme von Koblenz. Es war ein herrlicher Anblick, wie immer deutlicher die schöne Stadt und der Ehrenbreitenstein aus dem Morgennebel auftauchten, wie die Wellen des Rheins in den ersten Sonnenstrahlen glitzerten.

Neben mir standen ein paar Soldaten. „Das ist der Rhein," meinte der eine. „Und den wollen die Fran­ zosen haben! Na, da sind wir auch noch da. So was gibts nicht!" Der Zug ging weiter. Vom Bahn­ hof Koblenz marschierten wir nach der Karthause, wo ein weiter Platz, der Übungsplatz der Pioniere, für uns zum Biwak bestimmt war. Um den Platz standen so viel Bäume und Sträucher, daß jede Aussicht nach dem Rhein oder dem andern Ufer unmöglich war. Damals waren die Kommandeure noch so ängstlich, daß sie die Bataillone eng zusammenhielten. Wir woll­ ten gern nach Koblenz hinuntergehen, um einzukaufen und zu essen. Es wurde aber nicht einmal den Offi­ zieren gestattet. Alle mußten wir vom Marketender und vom Selbstgekochten leben. „Die Franzosen könn­ ten einen Handstreich vorhaben. Sie hätten in Straß­ burg gepanzerte Kanonenboote, die plötzlich erscheinen könnten." Wie um es zu bewahrheiten, begann es plötzlich bei noch heiterem Himmel zu donnern. Aber es war nur ein kolossales Gewitter, das uns bis auf die Haut durchnäßte. Hier im Biwak hatte ich erst Gelegenheit, mich bei meinem unmittelbaren ärztlichen Vorgesetzten zu mel­ den, Es war der Stabsarzt Alker vom zweiten Ba­ taillon, der mir im Laufe des Krieges ein guter Kollege und wirklicher Freund fürs ganze Leben wurde. Er war ein in jeder Beziehung braver Mann, dessen Freundschaft mir um so wertvoller war, als er zehn Jahre aktiver Militärarzt gewesen war und schon die Erfahrung von zwei Feldzügen hinter sich hatte. Ich aber, unmittelbar aus den Zivilverhältnissen heraus-

gerissen, hatte vorläufig keine Ahnung vom militärischen Ticktack. Erst nach 1870 mußten die Mediziner ein halbes Jahr mit der Waffe dienen. Wenn ich neben dem Stabsarzt ritt, gab er mir Instruktionsstunde und schützte mich dadurch vor unendlich vielen Unannehm­ lichkeiten und kleinen Blamagen, die ja allerdings mehr komisch als tragisch waren. Ich denke noch an den ersten Feldgottesdienst. Ich kam etwas zu spät, lief zur Reihe der Offiziere und stellte mich ruhig auf die linke Seite neben den Oberst. Dieser sah mich etwas erstaunt an, sagte aber nichts. Plötzlich fühlte ich ein Zupfen hinten an der Uniform. Als ich mich umsah, war es der Stabsarzt, der mich dann schnell auf den andern Flügel lotste. Ich kapierte leicht, daß ich nicht die oberste, sondern die unterste Spitze des Bataillons war. Vom Stabsarzt erfuhr ich auch, daß beim ersten Bataillon, das wir noch kaum gesehen hatten, mein alter Schulfreund, Dr. Vogel, als Assistenzarzt fun­ gierte. Er hat sich später, am 16. August, so sehr aus­ gezeichnet, daß der offizielle Bericht in der Geschichte des Regiments von ihm sagt: „Ganz musterhaft benahm sich der Assistenzarzt des ersten Bataillons, Dr. Vogel. Während des ganzen Abends war er rastlos mit Ver­ binden der Schwerverwundeten beschäftigt; ohne sich um seine persönliche Sicherheit zu kümmern, hielt er sich, von einem Schwerverwundeten zum andern ge­ hend, ohne alle Deckung in der vordersten Schützen­ linie auf und arbeitete mit einer Ruhe, als ob er sich an einem Krankenbett im Friedenslazarett be­ fände". Beim Füsilierbataillon stand als Stabsarzt Dr. BoFkltsch, 1870/71.

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den, ein Korpsbruder, sodaß auch dahin sich angenehme Beziehungen entwickelten. Als ich den Regimentsarzt aufsuchte, fand ich ihn auf einem Bund nassen Strohes im Biwak sitzend. Er sah sehr elend aus; ich fragte ihn, ob er sich nicht ein Quartier besorgen könne. Statt zu antworten, zog er das Beinkleid vom Fuß und zeigte traurig auf sein enorm wassersüchtiges Bein. Er wollte nur wegen der höheren Witwenpension in Feindesland gewesen sein. Mit den Worten: „Sprechen Sie nicht davon," ent­ ließ mich der Kranke. Erst nach vierzehn Tagen Biwa­ kierens ging der Arme nach Haus! Nach seinem Abgang erbte ich sein Pferd. Es war ein großes, starkes, zuverlässiges und sehr ruhiges, altes Tier. Nur hatte es keine Mähne, so daß es schwer war hinaufzukommen. Dann konnte es nicht ruhig stehen, sondern bewegte sich fortwährend hin und her. Es war ein sogenannter Sterngucker, der die Nase sehr hoch trug. Geradezu gefährlich war eine Untugend: jedes offene Tor oder jede offene Haustür reizte ihn, den Eintritt zu versuchen. Ganz knapp vor dem offenen Tor machte er plötzlich einen Satz und versuchte die Öffnung zu gewinnen. Ich mußte deshalb beim Durch­ reiten durch eine Ortschaft sehr aufpassen. Bekam er im entscheidenden Moment einen gehörigen Schlag mit der Reitpeitsche gegen die betreffende Kopfseite, so schüttelte er den Kopf, verstand aber sofort den Grund der Strafe und trottete weiter. Eine andere Eigenschaft hatte das Pferd, wegen der ich oft ausgelacht wurde, die mir aber sehr angenehm war. Niemals sprang es über einen Graben, sondern lief, wie ein Hund, auf

der einen Seite hinunter, auf der andern hinauf. Das sah wohl unschön aus für einen Kavalleristen, aber schließlich kam ich so auch über die Gräben und ohne Gefahr herunterzufallen,- denn gute Reiter waren wir Arzte natürlich nicht, wenigstens nicht zu Anfang des Feldzugs. Zwischen dem Buschwerk am Rande des Biwaks sah man die dichten weißen Nebel über dem Rheintal, und auch wir waren in undurchsichtigen Nebel gehüllt, als wir früh am 28. Juli abmarschierten. Bald aber zerstreute die Sonne den Nebel, und wir hatten wun­ derschöne Ausblicke über Berge und Täler, Buchen­ wälder, freundliche Dörfer und Felder. Der Marsch ging einher auf der alten Römerstraße, die von Metz nach Koblenz führt. Die Straße war jetzt mehr eine tiefe Rinne im Walde. Die Unebenheiten und tiefen Löcher in der Straße machten ein regelmäßiges Mar­ schieren unmöglich. So bummelten alle, das Gewehr haltend wie es ihnen paßte, langsam weiter, zumal es allmählich auf der schattenlosen Straße recht heiß wurde. Da sah ich auch den Kommandeur unserer Division zum ersten Male. Schnell ritt im Trabe ein kleiner, dicker, wild und wüst aussehender General, mit einem Adjutanten von hinten kommend, an uns vorbei. „Wer kommandiert denn diese Hammelherbe?" rief er, sicht­ lich mißgestimmt über unser bummeliges Aussehen, oder weil er keinen Platz zum Reiten fand. Dies war der General Barnekow, dem der Ruf einer phänomenalen Grobheit und Rauhheit vorausging. Ich sollte das selbst noch kennen lernen. Die Soldaten, die ja immer 2*

gute Witze machen und für jeden Vorgesetzten einen Spitznamen erfinden, um ungestört von ihm sprechen zu können, nannten ihn General Boonekamp. Wir marschierten über den Hunsrück nach Saar­ brücken. Die Bevölkerung war nach Kräften liebens­ würdig und entgegenkommend, aber doch in der Kultur recht zurück. So wurde niemand mit „Sie", sondern stets mit „Ihr" angeredet. Vielleicht war das auch eine französische Reminiszenz, denn dieses Land war ja zwanzig Jahre lang französisch gewesen. Da wir mit Verpflegung einquartiert waren, so brachten die Leut­ chen das Beste was sie hatten, oder was sie für das Beste hielten: an jedem Tage zweimal gekochten Speck mit Sauerkohl und Kartoffeln mit gebratenen Zwiebeln. Kommt das nun eine Woche lang täglich zwei- bis dreimal auf den Tisch, so verliert es doch an Reiz. Auf Verlangen gab es auch Wein, eine trübe, saure Flüssig­ keit. Es wird wohl selbstbereiteter Apfelwein gewesen sein. Am 29. Juli marschierten wir durch Kastellaun, ein sauberes Städtchen mit sehr freundlichen Einwohnern, die jedem Wunsch entgegenkamen. Ich war vorangerit­ ten, und es gelang mir» ein Faß Bier, Würste, Brot und Butter einzukaufen, was alles auf dem Medizin­ karren verstaut wurde. Ins nächste Quartier, — Toden­ roth, ein vielversprechender Name —, gelangten wir nach sehr heißem Marsche. Es war da nicht besser und nicht schlechter als anderswo auf dem Hunsrück: Speck und Sauerkraut mittags und abends, niedere Stuben, win­ zig kleine Fenster, scheußliche Luft, Gestank nach allem möglichen, zahllose Fliegenschwärme, keine Betten, nur

Strohlager! Und dennoch war das viel besser, als bei den kalten Nächten und vielem Regen oben im Gebirge im Biwak zu liegen. Die Härte des Lagers hinderte uns junge Leute nicht am Schlafen und Aus­ ruhen.

Am 30. abends in Rapperath. Am 31. sahen wir, nach einem Marsch durch herrliche Wälder, links Birkenfeld. Wir hofften in das Städtchen zu kommen, es war aber schon dick belegt. Wir hatten ein langes Rendezvous, mußten aber abrücken und nach Barten­ bach marschieren. Wir wurden wieder in Häusern, wenn auch sehr eng, untergebracht. Ich lag in einer Stube ohne jedes Möbel mit dem Kompagniechef auf der blanken Erde, von Fliegen fast aufgefressen. Nicht einmal ein Bund Stroh war zu ergattern! Zwischen uns und dem Feind befand sich nur noch das Detachement Pestel: das 40. Regiment, eine Eska­ dron Trierer Husaren und eine Batterie, die dann am 2. August von einer französischen Division angegriffen wurden und Saarbrücken räumten, das aber die Fran­ zosen nicht besetzten. An diesem 2. August kamen wir abends nach Aussen und zwar nicht, wie wir dachten, in ein nasses Biwak, sondern in ein reizendes, freundliches Dorf» wo es Bier und ordentlich zu essen gab. Die Gegend» wo man mit „Ihr" angeredet wurde, war nun zu Ende. Auch das Sauerkraut- und Speck-Land war vorüber. Die Bauern waren höflich, freundlich und gebildet. Nach langer Zeit sah man einmal wieder ein Waschbecken und konnte eine Generalwäsche veranstalten. Nachmittags waren wir

alle zusammen und erzählten uns von den feinen Quar­ tieren und guten Mittagessen. Sehr befriedigt fand jeder abends ein Bett und hoffte auf einen ruhigen Schlaf. Statt dessen wurden wir früh um 3 Uhr zum Abmarsch geweckt. Alarmiert wurde nicht, es hieß, wir seien unmittelbar am Feinde, der keinen Lärm hören sollte. Kaum waren die paar Habseligkeiten in die Pack­ taschen verpackt, da kam auch schon der Bursche mit dem Pferde. Er brachte einen großen Topf heißen Kaffee und Weißbrot mit, was mir sehr Wohltat. Dicker Regen strömte vom Himmel. Es war recht kalt, und ich trabte in schlechter Stimmung nach dem Alarmplatze. Dort fand ich den Stabsarzt. „Um Gottes willen," sagte er, „ziehen Sie den Mantel aus, es regnet ja!" „Des­ halb habe ich ihn ja gerade angezogen." Da belehrte er mich, daß das im Felde ganz falsch sei. „Sobald es regnet, müssen Sie den Mantel ganz wasserdicht im Futteral eingepackt erhalten. Kommt man dann nach dem Regen ins Quartier oder Biwak, so hat man doch etwas Trockenes, Wärmendes anzuziehen. Man kann dann die Uniform am Feuer trocknen und befindet sich warm und wohl. Der Regen kommt doch bald durch beides, durch Mantel und Rock. Ist aber alles naß, dann ist das natürlich sehr ungemütlich." Ich sah das ein und habe immer danach gehandelt. Aber einen komischen Eindruck machte es doch, wenn wir, sobald es regnete, schnell die Mäntel einpackten. Jetzt, dachte ich, tritt jeder vernünftige Mensch in ein Haus oder unter ein Dach und schützt sich vor dem Naßwerden. Nur der Soldat reitet ruhig im strömenden Regen durch den wundervollen Hochwald und läßt sich doppelt, von

den regenschweren Bäumen und vom Regen durch­ nässen. Es war am 3. August. Ich begab mich zum Stabe, um etwas Neuigkeiten zu hören. Es hieß, das Detache­ ment Pestel habe Saarbrücken geräumt und werde bald auf der Chaussee erscheinen. Unsere Division besetzt die Höhen bei Lebach als eine Ausnahmestellung. Dann warten wir, ob die Franzosen dem 40. Regiment folgen. Bald war der betreffende Punkt der Stellung er­ reicht. Zum ersten Male entfaltete sich vor uns ein größeres kriegerisches Bild. Unser Regiment marschierte zu beiden Seiten der Chaussee auf. Links wurden die Kanonen eingegraben und mit Erdschanzen umgeben. Das Gepäck wurde abgelegt, die Gewehre geladen! Das Regiment verteilte sich auf beide Seiten des ziem­ lich steilen Berges, unterhalb der Kanonen, in schnell hergestellte Schützengräben. Grade wo der Weg sich im Tal fortsetzte, lag ein Dorf. Patrouillen berichteten, daß es nicht besetzt sei. Wir gingen auf der Chaussee hin und her, wo man einen weiten Aberblick über die friedliche, ruhige und stille Landschaft hatte. Da brachte man unten die ersten zwei gefangenen Franzosen, in langen, schlafrockähnlichen Mänteln. Erbärmliche, elend aussehende kleine Kerlchen, die sich neugierig überall umsahen. „Seht euch einmal die Kerle an," rief der Major. Und unsere Leute kamen in hellen Haufen gesprungen und sahen voll Verachtung auf die kleinen Franzosen. „Die kleinen Hanswurste mit den roten Hosen", „Nußknacker" und ähnliche Ausrufe ertönten. Allerdings sahen diese Vertreter der großen Nation

nicht sehr imponierend aus. Sie benahmen sich auch schlecht, indem sie gleich mit der Pantomime des Rauchens um Tabak und Zigarren bettelten. Mittlerweile marschierte, von hinten kommend, eine Kavalleriedivision auf, Husaren, Kürassiere und Ula­ nen. Namentlich die Kürassiere, die damals noch im Felde den Küraß trugen, gewährten einen schönen und stolzen Anblick, als das ganze Regiment, rasselnd und klirrend, über den Chausseegraben setzte. Plötzlich sprengten ein paar blaue Husaren von vorn aus dem Dorfe zu uns. Nach ihnen kam das.40. Regi­ ment, das am Tage vorher das berühmte Gefecht, das nach Paris als großer Sieg gemeldet war, gehabt hatte. Man sah schon zerschossene Helme, wildere Ge­ sichter, leicht Verwundete. Der Oberst ließ halten und erzählte kurz, er habe einer furchtbaren Abermacht weichen müssen. Er habe über 10000 Franzosen gegen sich gehabt. Die Franzosen hätten über 200 Tote, Ver­ wundete und Gefangene. Vier preußische Geschütze hätten gegen 34 französische ein und eine halbe Stunde im Feuer gestanden und sechs französische Kanonen demontiert. Dabei hätte die Artillerie nur einen Unter­ offizier verloren, weil die französischen Granaten nicht platzten. Er schloß seine Erzählung: „Es war eine große Schweinerei!" Dann kam mit seinen Kanonen Hauptmann Hammer, immer vergnügt und immer mit dem Monokel. Auch er mußte uns berichten: Die französische Artillerie habe mit einer rührenden Präzision geschossen. Doch sei nur sehr selten eine Granate geplatzt. Wohl dreißig franzö­ sische Geschütze hätten ihm gegenübergestanden. Verlushe

seien nicht zu beklagen. In der nassen Wiese seien die Geschosse einfach verschwunden und nicht geplatzt. Schließlich hätte er der Abermacht weichen müssen. Nachdem nun diese Truppen zwischen uns durch­ marschiert waren, um wohlverdient hinter uns zu ruhen und abzukochen, warteten wir auf die nachfolgenden Franzosen. Aber es kam niemand. Und als auch Kavalleriepatrouillen meldeten, daß sie meilenweit nichts vom Feinde gesehen oder gehört hätten, mar­ schierten wir vorwärts. Bei starkem Regen bezogen wir in der Nähe von Ludweiler ein scheußliches Biwak, ohne Essen und Trinken. Ich sah einen vollen, unbe­ spannten Wagen auf der Straße stehen, nahm mir zwei Bund Stroh von ihm und legte mich darauf. Eine Pfeife Tabak wurde noch angesteckt, und ich schlief ein. Der Wert des Tabaks im Felde besteht darin, daß durch das Rauchen das Nahrungsbe ­ dürfnis für einige Zeit in -en Hintergrund gedrängt wird. Am andern Morgen dachten wir ganz sicher nach Saarbrücken zu kommen und Feinde zu sehen. Denn wir waren ja ganz nahe an der Saar. Statt dessen marschierten wir nach links ab, fast rückwärts, über Illingen nach Wemmetsweiler. Das gab denn Veran­ lassung zu vielen Mutmaßungen, zur Entwicklung und Entfaltung großer strategischer Kenntnisse. Wir gingen in die Pfalz, zu unserm alten Armeekorps. Wir sollten die rechte Flanke der Franzosen umgehen, um sie von hinten zu fassen usw. Die Soldaten waren aber höchst unzufrieden damit, daß doch eigentlich rückwärts und nicht vorwärts marschiert wurde.

Am Wege lag ein kleines Wirtshaus, vor dem ein altes, schmutziges Weib stand. Als ich fragte, ob sie Bier hätte, schrie sie mich keifend und grob an: „Bier haben wir nicht, wenn ihr euch nicht hättet aus Saar­ brücken jagen lassen, dann hätten wir auch Bier. Wo ihr hingeht, ist nicht Saarbrücken und sind keine Fran­ zosen. Ihr geht ja rückwärts." Ich drehte dem häßlichen alten Drachen den Rücken und sagte nichts, denn etwas Wahres lag ja in ihrem Geschimpfe. Tatsächlich entfernten wir uns immer mehr von Saarbrücken. Die Soldaten waren intelligent genug das einzusehen. Das Vertrauen auf die Führung war aber unerschütterlich. „Laßt ihr nur Moltke machen," meinte der Feldwebel, „er wird schon wissen warum. Irgend etwas muß doch im Spiele sein, das es nötig macht, jetzt zurück zu marschieren; die Franzosen werden wir schon kriegen." Nun kamen wir nach Illingen. Hier, schien es, hatten wir vor dem Kriege wohl die letzte Gelegenheit, etwas zu kaufen. Ich dachte, es würde das Beste sein, sich hier endgültig zum Feldzuge fertig zu machen. Ich zog mich deshalb um, d. h. die Uniform mußte ich, weil ich keine andere hatte, anbehalten. Aber ich legte alles ab» was aus Leinen war, und kleidete mich in wollene Unterkleider, die hier sehr gut zu kaufen waren. Dann kaufte ich noch eine große weißwollene Decke, die ich noch unter den Sattel legte, und einen silbernen Becher und Löffel, die ich beide noch besitze. Ein solches eigenes Trinkgefäß ist im Feldzuge unbedingt nötig. Es war hier im Städtchen so hübsch ruhig, als ob es in der Welt keinen Krieg und keine Soldaten gäbe. Auch Bier gab es in Masse und den ganzen

Tag Schweinefleisch und Sauerkraut. Abends gings noch bis Wemmetsweiler, wo wir biwakierten. Am 5. August war hier ein Ruhetag, weil wir zu weit vor­ an marschiert waren. Auch am 6. verlief der Vormittag ruhig. Nachmittags um 3 Uhr war auf einmal der Teufel los. Der Brigadeadjutant kam durchs Dorf gesprengt, und man merkte, daß etwas passiert sei, daß es losgehen würde. Alarmschlagen, Einpacken, Aufsitzen war eins. Schnell ritt ich zum Bataillon, es ging einen steilen Berg hinan. Hierbei erlebte ich den Witz, daß mein Pferd vorn immer länger wurde. Es war zu lose gesattelt, plötzlich rutschte ich hinten herunter und stand auf der Straße. Der Schaden war bald gutgemacht. Wir marschierten auf schmalen Wegen, die nur für Fußgänger berechnet waren, durch prachtvolle Wälder. Von Zeit zu Zeit hörten wir ein dumpfes Knallen, und die alten Reservisten steckten die Köpfe zusammen. Nach und nach marschierten wir ohne Kom­ mando immer schneller, es war der reine Laufschritt. Gerüchte von einer großen Schlacht verbreiteten sich, so schnell wie möglich gings vorwärts. Jeder wollte noch mit. Schlappe gab es nicht mehr. Da, — das erste Zeichen, daß es Ernst wurde —, auf einem Stück freien Feldes lagen die Tornister des 40. Regiments. Die Wagen waren dabei aufgefahren. Die Posten berichteten, das Regiment sei schon seit früh im Feuer. Die Schlacht gehe vorwärts, die Kanonen­ schüsse würden immer ferner, die Franzosen seien schon eine Stunde weit zurückgedrängt. Wenn wir aus dem Walde heraus kämen, könnten wir alles sehen.

Schneller und immer schneller wurde der Schritt. Endlich lichtete sich der Wald. Man gewann einen weiten Überblick über das Saartal und die oben be­ waldeten Berge auf der andern Seite. Rechts von der Stadt Saarbrücken brannte ein Dorf. Auf der höchsten Stelle des ersten Berges, auf der andern Seite der Saar, standen in langen Reihen feuernde Batterien. Lange Linien vor und hinter den Wäldern bezeichneten mit Rauch und Feuer die kämpfenden Parteien. Hoch in der Luft erblickte man weiße runde Wölkchen, Grana­ ten, die auch oft hoch über dem Gelände platzten, sodaß man eine kleine Feuergarbe sehen konnte. Es wurde kein Halt gemacht, bald ging es fast laufend nach Saarbrücken hinunter. Wiederholt mußte ich tra­ ben, um den eilenden Soldaten nachzukommen. Beim Bahnhof St. Johann vorbei, der viele Granatlöcher und -Spuren zeigte, gings über die Brücke in die Stadt. Sn den Straßen, durch die wir marschierten, war ein furchtbares Gedränge. Mittlerweile war es ?y2 Uhr abends geworden. Kolonnen Infanterie gingen vor- und rückwärts, Feldlazarette, lange Kanonen­ reihen, Munitionswagen versperrten fast die Straße. Ordonnanzen, Adjutanten, einzelne Soldaten eilten hin und her. Zivilisten kamen mit Verwundeten vom Schlachtfelde. Hier führten zwei junge Mädchen einen Hinkenden, am Bein Verwundeten, dem der Schmerz bei jedem Schritt das Gesicht entstellte. Dort brachte man auf einer Tragbahre einen Schwerverwundeten mit geschlossenen Augen, dessen blassem, ruhigen, blut­ leeren Gesicht man es kaum ansah, ob er lebte oder tot war. Überall suchten sich Leichtverwundete durch-

zudrängen mit blutigen Verbänden am Arm, an den Händen oder am Kopf. Die ganze Bevölkerung, vom Jüngsten bis zum Ältesten, half und brachte zu trinken und zu essen, verbesserte die losen, flüchtig gemachten Verbände, schleppte die Verwundeten in die Häuser, rief uns Vorgehenden ermutigende Worte zu. Der Sieg sei gewonnen, die Franzosen zurückgedrängt, schon außer Sicht. Eine ganze Stadt voller Aufopferung im Dienste der Menschheit und Menschlichkeit! Es war ein Bild so voll Leben, Aufregung, Trauer, Freude und Erhebung, daß man vom Augenblick ganz eingenommen war. Als wir die Stadt passiert hatten, ging es einen steilen Berg hinan. Links von der Chaussee wurde Halt gemacht. Hinter und vor uns marschierte Artillerie, die auch noch nicht im Feuer war. Hier vom Berg aus sah man im Westen, in der Ferne, die langsam stiller werdende Schlacht. Die Züge der Verwundeten, zu Fuß, zu Wagen, zu Pferde und auf Tragbahren, nah­ men kein Ende. Granaten flogen noch ohne Unterlaß, die Kanonade war noch heftig. Das aber war jedem, auch Nichtmilitär, klar, die Franzosen waren zurück­ geworfen, besiegt und geschlagen. Wir sollten Vorposten beziehen. Die Soldaten waren glücklich und riefen: „Nun kommen wir auch noch dran! Wir warteten bis zur völligen Dunkelheit, doch die andern zwei Bataillone des Regiments kamen immer noch nicht. Dann mußten wir wieder, was wirklich recht überflüssig war, den ganzen Marsch durch Saarbrücken nach St. Johann zurückmachen. Es war befohlen: Die Brigade stellt sich bei St. Johann auf.

Und da „in Preußen befohlen wird", mußten wir tat­ sächlich wieder die vollen, engen Straßen passieren! Bei St. Johann trafen wir links vom Bahnhöfe die andern zwei Bataillone und biwakierten daselbst. Aber bis wir dazu kamen, war es ein schweres Stück Arbeit. Man hätte vielleicht für den Marsch fünfzehn Minuten gebraucht, wir brauchten zwei Stunden. Rechts von uns ging eine Kolonne vor, wohl Brot- und Fouragewagen, links Artillerie vom III. Korps. Da­ zwischen wurden die Pferde der oben aufgestellten Ar­ tillerie zur Tränke nach der Saar hinabgeführt. Und zwischen den vier Zügen, auf den nicht breiten Straßen, mußten wir uns durchdrängen, um vorwärts zu kommen. Hier bockte ein Pferd, dort ging eine Kanone nicht vor­ wärts, und es swckte in der Kolonne. Hier schimpfte ein Offizier, dort fluchte ein Trainsoldat oder Fahrer laut schreiend. Hier jammerte ein gestoßener Verwundeter, dort bat ein Zivilist, der mit einem andern eine Trag­ bahre trug, höflich und dringend um Platz. Daneben lagen auf dem Trottoir, an den Häusern Todmüde, Verwundete, auch wohl Tote. Jedenfalls antworteten sie nicht und rührten sich nicht. Jedem mußte man aber mit dem Pferde ausweichen, und das Pferd selbst glitt auf dem schlechten Pflaster fortwährend aus, als ob es Schlittschuh liefe. Oft wurde man gegen einen Wagen gedrängt, froh, mit einem Puff gegen das Schienbein oder die Kniescheibe davon gekommen zu sein. Wenn nur das Pferd auf seinen vier Beinen und ich oben blieb! Dann war plötzlich wieder Luft, es ging ein paar Schritt im Trabe vorwärts. Schnell benutzte man die Möglichkeit vorwärts zu kommen.

Aber Trab auf schlechtem Pflaster, das ist auch bei Tage lebensgefährlich, und hier war es stockdunkel. Ich drückte die Mütze tief in den Nacken, kniff die Beine fest, nahm die Zügel ganz kurz, beugte mich vornüber, um wenigstens etwas vom Wege zu sehen, und ritt möglichst dicht am Bataillon, um nicht abzu­ kommen. Endlich gings über die Saarbrücke, wir kamen aufs freie Feld neben dem Bahnhof St. Johann, wo schon die andern zwei Bataillone im Biwak lagen. Alles war naß vom Nachttau und Regen. Feuer noch anzumachen war unmöglich. Es gab gar kein Holz. Aberall stank es ganz abscheulich, man wagte kaum sich zu legen. Schließlich fand ich eine tiefe Furche, in der ich ganz gut und trocken, nach beiden Seiten vor dem Winde gedeckt, einschlief. Vor 7 Uhr, noch in der Dunkelheit, ging das Regi­ ment wieder durch Saarbrücken vor. Wir sollten an die Spitze. In Saarbrücken waren die Straßen jetzt still und leer. Aus allen Häusern ragten weiße Fahnen mit dem Genfer roten Kreuz heraus. Die Fenster waren meist weit auf und alle erleuchtet. In den Zimmern sah man. hoch vom Pferd, hin und her eilende Gestalten. Welche Qualen, welche Schmerzen, welche Not mußte mancher da int stillen Zimmer ertragen! Wir marschierten heute, am 7. August, bis an den Fuß des Spicherner Berges. Hier blieben wir den Tag und biwakierten. Ich ging nachmittags in den Wald bei Stiering, wo ein hannoversches Regiment gekämpft hatte. Bis oben in den Bäumen sah man Kugelspuren, abgerissene Zweige, zersplitterte Stämme. Die Franzosen mußten eine fabelhafte Menge Kugeln

hier verschossen haben. Leider waren aber nicht alle Kugeln zu hoch gegangen. Auch unten sah man trau­ rige Spuren. Eine große Anzahl toter Preußen la­ gen hier, starr und steif in sauberen Uniformen, als wenn sie auch im Tode noch stramm und sauber aus­ sehen müßten. Alle mit ganz neuen Uniformen I Ein Feldwebel trug sogar noch tadellos reine weiße Hand­ schuhe. Die Gesichter mit ruhigem Ausdruck. Die Wun­ den meist in Kopf und Brust. Ein einziger Franzose lag dazwischen. Er hatte einen Schuß durch den Unter­ leib, aus dem das Blut neben die Leiche geströmt war. Er lag auf dem Bauche, alle Glieder weit von sich ge­ streckt. Die Hände krallten sich tief in den Waldboden. Den Mund, halb nach der Seite, hatte er voll Gras. Als ich zum Biwak zurückging, sah ich noch überall Tote auf den Feldern. Die Gewehre der Toten hatte man mit dem Bajonett in die Erde gesteckt, dadurch die Leiche markierend. Viele, viele Kolben ragten in die Höhe. Und das waren sämtlich Preußen. Links im Tale, unter dem Spicherner Berge, befand sich ein Feldlazarett. Unsere Soldaten holten sich Kartoffeln, da es nichts anderes gab. Dabei fanden sie, vom Kartoffelkraut verdeckt, in den Furchen noch manchen Toten. Am andern Morgen gings den Spicherner Berg in die Höhe. Welche Position war das! Ein steiler Berg, bastionartig vorgeschoben. Voll Geröll und her­ vorstehender Sandsteinabsätze von fünf bis zehn Fuß Höhe. Hier lagen wirkliche Haufen von Toten. Manche mit dem Kopf voran herabgestürzt. Noch zeigten die ausgestreckten Arme die Bestrebungen des Sterbenden,

einen Baum zu fassen, sich festzuhalten. Am Rande des Weges hatte man die Toten übereinander geworfen, um für die Kanonen und Munitionskolonnen Platz zu schaffen. Und das alles waren Preußen, die da massen­ haft lagen. Noch hatte ich keine rote Hose gesehen! Bald kamen wir mühsam hinauf und blickten über die sanft ansteigende Hochebene. An den Rändern befanden sich überall Brustwehren aus Erde und Stei­ nen. 2n der Mitte lag eine französische Protze, davor vier tote Pferde noch an den Strängen. Nun aber sah man die toten Franzosen reihenweise. Wie wenn sie, eben aufmarschiert, auf einmal alle gleichzeitig getroffen wären, lagen die Franzosen über- und neben­ einander. Jeder stürmende Preuße hatte die Patrone im Lauf, und sobald er mit dem Kopf über den Bergesrand sah, hatte er in den dicken Haufen geschossen, ohne fehlen zu können. Keine 200 Schritt davon hatte man das Bild einer tollen, übereilten Flucht. Aberall umhergestreute fran­ zösische Tornister, Papiere, Käppis, Chassepots, Patro­ nen, Eßgeschirre, große Blechkessel, neue französische Waffenröcke, kurz, alle Habseligkeiten eines Soldaten waren in der überhasteten Flucht fortgeworfen. Da­ zwischen lagen noch viele tote Franzosen, fast kein Preuße. Es machte den Eindruck, als ob die Franzosen eine Eroberung der Stellung durch die Preußen für völlig unmöglich gehalten hätten und als ob sie, als es den­ noch geschah, gleich alles verloren gegeben hatten. Beim Vorwärtsmarschieren kamen wir an ein ein­ zelnstehendes Haus, eine „Auberge". Davor lagen in -ritsch, 1870/71.

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zwei großen Haufen viele Hunderte von Chassepots, ganze Berge von Patronen, Seitengewehren, Käppis und neue Uniformen. Die Franzosen trugen auf dem Marsche und im Gefecht den Mantel, die Uniform war in den Tornister geschnallt, wurde also leicht weg­ geworfen, sobald der Tornister zu schwer schien. Der ganze Weg war mit französischen Zelten, Zelt­ stangen und Decken wie besät. Neben dem Weg, auf den abgemähten Feldern, sah man in großer Menge französische Feuerstätten, an denen in der Nacht vor­ her die fliehenden Franzosen gelagert hatten. Ein paar Steine, ein flaches Loch, wie ein altes tzasenlager, be­ zeichneten die Stelle, wo einer der Besiegten sich nach dem blutigen Tage sein Essen gekocht und seine Glie­ der gewärmt hatte. Welche Gedanken mögen hier die alten Soldaten von der Krim, von Italien, von Algier gehabt haben? So etwas hatten sie noch nicht erlebt. Manch trauriges Gesicht hatte in Scham und Schmerz in dies ausgebrannte Loch gestarrt! Massenhaft lagen die großen, handlichen französischen Kochgeschirre her­ um. Wir packten einige auf und haben sie viel be­ nützt. Aber wenn die Schlacht die Korporalschaft trennt und auflöst, so ist unsere Methode, daß jeder einzelne sein eigenes Kochgeschirr hat, doch besser. Wer bei den Franzosen sich nicht an den großen Topf hält, bekommt nichts zu essen. „Ganz früh sind sie weiter, und sehr schnell," er­ zählte ein alter Bauer, der auf dem Felde herum­ räuberte. Das nächste Dorf hieß Etzlingen. Hier wimmelte es von gefangenen Franzosen. Aus allen Fenstern,

Türen und Scheunentoren schauten sie neugierig her­ aus. In den Fenstern saßen sie und ließen die roten Hosen herabhängen, mit wilden, frechen und spöttischen Mienen. Darunter waren viele leicht Verwundete. Durch preußische Soldaten wurden Abteilungen gebil­ det, die zurückgeschafft wurden. Hinter Etzlingen, auf der Höhe von Kerbach, mar­ schierten wir auf und machten Halt. Eine Patrouille meldete, sie habe französische Regimenter marschieren sehen. Alle Ferngläser kamen in Bewegung und suchten die Wälder und Felder ab. Ich machte den Bandage­ kasten des Medizinwagens auf und füllte die großen Tornister der Lazarettgehilfen mit Binden. Wir glaub­ ten, drüben von Bouley her werde es herüberknattern und Granaten würden uns bald beim Vormärsche begrüßen. Doch wir lagen ruhig zwei Stunden. Die vielen Kavalleriepatrouillen kamen allmählich zurück. Nirgends war Fühlung mit dem Feinde gefunden, wohl aber war am Nachmittag ein ftanzösisches ver­ lassenes Lager in einem Waldtale entdeckt worden. Wie eilig mußte die Flucht gewesen sein! Alles war zurück­ gelassen. Von hier waren ein paar Regimenter ins Feuer marschiert und auf einem andern Wege ge­ flohen. Tausende von Zeltdecken, von wollenen Decken, Zwiebackkisten, Hafersäcken, zu Bergen aufgehäuft, fan­ den sich vor; dann Koffer, geöffnet und halb ausge­ plündert, mit umhergestreutem Inhalt, Wäsche und Uniformen, goldgestickte und einfache Waffenröcke, Kochgeschirre, volle und leere Flaschen. Ich ließ meinen Burschen einen großen Sack Hafer auf den Medizin­ karren packen, denn bei der Fourageverteilung kam das 3*

arme Doktorpferd immer za kurz. Dann nahm ich noch einen vollen Blechkasten englische Kakes mit. Aus französischen Zelten konstruierte ich ein wundervolles Zelt für drei bis vier Personen, unter dem wir noch wochenlang trocken und warm geschlafen haben. Wenn die Leinewand des Zeltes straffgezogen war, kam kein Regentropfen hindurch. Ich hatte mir im Walde zwei schlanke, geradegewach­ sene Bäumchen geschlagen, die oben gabelförmig aus­ einandergingen. In den Gabeln lag eine andere Stange. Ein von allen Schneidern der Kompagnie zusammen­ geflicktes Zeltdach wurde über die Längsstange gewor­ fen und unten mit vielen in die Erde geschlagenen Pflöcken angepflöckt. Hinten und vorn war das Dach zu groß, damit es über die Öffnungen hervorragte. Dann wurde um das ganze Zelt ein Graben ausgeschaufelt und die Erde auf den untersten Teil des Zeltdachs geworfen. Bei Regen floß das Wasser durch den Graben ab. Die hintere Öffnung wurde noch etwas mit ausgestochenem Rasen verseht. Halfen alle Burschen mit, so war in zehn Minuten das Zelt fertig aufgestellt. Vorn wurde das Zeltdach übereinandergezogen, dann entwickelte sich bald Wärme im Zelt. Als wir bei der Zernierung von Metz wochenlang im Zelte lagen, wurde noch manches verbessert, vor allem wurde es etwas ver­ längert, sodaß sich hinten das Lager mit den wollenen Decken befand; vorn waren, mit Hilfe von Kisten und Koffern, Sitzplätze für vier Personen geschaffen. Ein großes Feuer, an dem wir auch kochten, wurde vor dem Zelt angemacht, was bei Kälte und Regen sehr an­ genehm war. Hatten wir, was freilich sehr selten der

Fall war, etwas Stroh, so lag man nachts äußerst be­ haglich. Fehlte das Stroh, so hatten wir doch ge­ nügend Decken. Sechs waren mit dem Zelt auf dem Medizinkarren verstaut und zwei besonders gute trug ich vorn über den Sattel geschnallt, um sie stets zur Hand zu haben. Bei Metz fanden oft gerade abends noch Truppenverschiebungen statt, weil durch Spione oder Beobachtungen ein Ausfall wahrscheinlich gewor­ den war. Dann kam man erst in der Dunkelheit ins Biwak und konnte kein Zelt mehr aufbauen. Ich sah aller­ dings wenig kriegerisch aus, vorn mit den drei Decken, hinten mit dem aufgeschnallten Mantel. „Wie ein polnischer Jude, der zur Messe reitet", meinte mein Stabsarzt. Dem passierte übrigens hier eine unangenehme Ge­ schichte. Als die vor uns aufgefahrenen Kanonen ab­ rückten, kam ein Artillerieoffizier und berichtete, an eine seiner Kanonen sei ein Pferd angebunden, das nicht zur Batterie gehöre, auch kein Abzeichen trüge. Mein Pferd war es nicht, denn ich saß darauf. Unser Adju­ tant, der hingeritten war, brachte die Botschaft: „Herr Stabsarzt, das ist ja Ihr Brauner." „Unmöglich, mein Pferd wird ja von meinem Burschen umhergeführt." Als er aber näher zusah, war es doch richtig. Der Bursche war fort und hatte das Pferd einfach an die Kanone gebunden. Es dauerte auch nicht lange, bis der „Herr" zurückkam. Er war ein widerwärtiger Kerl, stets schmutzig, melancholisch, mißvergnügt. Ohne ein Wort zu sagen, prügelte der Stabsarzt ihn jämmerlich mit der großen Reitpeitsche durch. Sein Jammergeschrei tönte laut! Diese dienstwidrige Nachlässigkeit war aber auch un-

erhört. Meist sieht man ein solches Pferd nicht wieder. Es wird als gute Prise betrachtet, man macht es etwas unkenntlich und freut sich, ein Pferd mehr zu haben. Bor Dijon hatte ich einmal fünf Pferde und mußte sie erst abgeben, als wieder regelmäßig Fourage verteilt wurde und ich natürlich nur eine Ration erhielt. Man konnte sich also über die strenge und prompte Justiz nicht wun­ dern. Nun fand aber die Züchtigung dicht hinter dem Obersten statt, der sich bei dem Geschrei voll Entsetzen umdrehte. Dieser Oberst war ein sehr feiner, wissen­ schaftlich hochgebildeter, immer höflicher Herr. Er ließ den Stabsarzt rufen und fragte ihn, seine Kriegsdenk­ münzen betrachtend: „Bei welchen Korps haben Sie denn die früheren Feldzüge mitgemacht?" „1864 bei einem Regiment vom fünften Korps und 1866 beim ersten Korps." Worauf der Oberst nur sagte: „Das erklärt mir Ihr Verfahren. Ich möchte Sie aber dar­ auf aufmerksam machen, daß beim vierten Korps nicht mehr gehauen wird." Damit war die Sache erledigt, und der Stabsarzt zog mit rotem Gesicht und langer Nase ab. Früh am 9. August rückten wir nach Kerbach und be­ zogen Alarmquartiere, d. h. die Kompagnien wurden so nahe beieinander in die Häuser gelegt, daß beim ersten Signal alle Mannschaften schon zusammen waren. Wir lagen zum ersten Male in einem französischen Quartier! Fast alle Einwohner waren geflohen. Kühe, Pferde, alles Vieh hatten sie mitgenommen, oder es war von den Franzosen requiriert. Nur ein paar verwaiste Hühner gackerten auf dem Mist herum. Um sie nicht verhungern zu lassen, wurden sie selbst gegessen. Man ging in jedes

Haus, und wo es am besten gefiel, quartierte man sich ein. Ich blieb mit meinem Stabsarzt in dem Haus einer alten Jungfer. Wenigstens sagte uns dies ein deutschsprechender Knecht, den sie zurückgelassen hatte. Der zeigte uns sofort, wo der gute Flaschenwein lag. Er erzählte uns, daß die fliehenden Franzosen geradezu geplündert hätten. Betten seien zerschnitten, Schränke aufgebrochen, der Inhalt, den man nicht brauchen konnte, umhergestreut. Die Ochsen seien weggetrieben, den Weinfässern, die man nicht mitnehmen konnte, der Boden eingeschlagen worden. Wir sahen das alles und dachten: natürlich heißt es morgen schon, die Preu­ ßen hätten alles verwüstet! Abends war der Knecht völlig betrunken! Was mag er wohl später alles er­ zählt und gelogen haben! In dem Garten wurde noch viel Gemüse gefunden, so daß wir eine gute Suppe zu Mittag hatten, wenn­ gleich das Fleisch natürlich ungenießbar hart war. Dann setzten wir uns unter einen großen Wallnuß­ baum vor dem Hause, tranken Kaffee und befanden uns sehr gemütlich. Gegenüber lag ein Haus mit echten Franzosen. Die wenigen andern zurückgebliebenen Einwohner waren meist Deutsche oder doch deutsch Sprechende. In dem Hause befanden sich drei leicht verwundete Franzosen. Ich erhielt Befehl, sie aufladen und fortschaffen zu lassen. Das gab ein Geheul, als der Wagen kam! Die Töchter des Hauses weinten, schrieen und schimpf­ ten, auf Napoleon noch viel mehr als auf die Preußen. Sie wollten ja keinen Krieg. Aber die Franzosen seien zu tapfer! Von der Politik hatten sie keine Ahnung.

Ein Franzose fragte mich, ob die Schlacht von Sadowa vor der Revolution glorieuse gewesen wäre, und ob wir da Napoleon geschlagen hätten. Die Preußen hätten ja jetzt Spanien annektieren wollen. Das könnten sich doch die Franzosen nicht gefallen lassen. Gegen den strikten Befehl war nun nichts zu machen. Ich ließ die Verwundeten aufladen. Einer sagte, er habe gar kein Geld, ob ich ihm nicht das Mentanakreuz abkaufen wolle, er sei eben erst über Marseille und Paris von Rom gekommen. Ich gab ihm ein paar Zigarren und einen Taler. Dies Geschäft schien ihm gut, denn bald zeigte mir ein anderer die silberne Me­ daille des italienischen Feldzuges und fragte, ob ich sie nicht auch haben wollte. Er deutete auf den Kopf Na­ poleons und spuckte aus. Ich gab ihm zwei Taler und nahm die Denkmünze, worüber er sehr zufrieden war. Ob deutsche Soldaten ihre in Blut und Kampf erwor­ benen Kriegsmedaillen wohl auch für einen Taler ver­ kauft hätten? Schließlich war es Abend geworden, und wir mach­ ten uns aus den vielen noch nicht zerschnittenen Kissen und Matratzen der alten Jungfer, aus Stroh und Decken ein höchst behagliches Nachtlager, nachdem wir die Säbel in die Ecke daneben gestellt hatten. In der Nacht wurden wir plötzlich durch lautes Geschrei und großen Lärm geweckt. Ich fuhr schnell in die Höhe und dachte, gibts wirklich einen Aberfall, so sind wir ja hier im Haus am besten aufgehoben. Ich sah zum Fenster hinaus. Aus der Scheune liefen eine Menge Soldaten auf den tzof. Endlich hörte ich großes Gelächter, und alles wurde wieder ruhig. Andern

Tags erfuhr ich, was diese „Panique“ veranlaßt hatt). 3n der Scheune neben unserm Hause lagen unten 30 Mann und ebensoviel oben auf dem Heuboden. Da hatte nun in der Nacht ein Mann ein paar Bund Stroh auf die unten Schlafenden geworfen. Einer wird ins Gesicht getroffen. Ehe er sich schreiend und fluchend aus dem Stroh hervorgearbeitet hat, erwacht alles und ruft: die Franzosen, die Franzosen! Man glaubt, die Franzosen sprängen von oben herab. In der engen Scheune haut einer auf den andern los. Alle drängen ins Freie. Großer Lärm und schließlich großes Gelächter, als der Tatbestand festgestellt ist. Am Morgen gings wieder vorwärts. Endlich soll­ ten wir zu unserm Korps, dem achten, kommen. Zu­ nächst noch ein komisches Erlebnis. Ich sah meinen Stabsarzt an: „Donnerwetter, Sie haben ja keinen Säbel!" Unwillkürlich faßte ich nach dem meinigen — auch er war nicht vorhanden. Wir hatten beide die Säbel neben der Schlafstätte stehen lassen. Ich bot mich an, schnell zurückzugaloppieren. Ich konnte ja Fragern gegenüber irgendeinen Befehl Vorschüßen. Und richtig, nach einer halben Stunde schnellen Reitens stieg ich vor unserm Haus ab. Noch niemand hatte wohl das Zimmer betreten, denn die beiden Säbel standen noch friedlich in der Ecke. Das war sehr er­ freulich. Welcher Hohn hätte uns getroffen, wenn die Geschichte bekannt geworden wäre. Und fraglich war es immerhin, ob wir so bald andere Säbel bekommen hätten. Jedenfalls nicht vor einer Schlacht. Bei dem Marsche durch Forbach sahen wir eine große Menge zurückgelassener französischer Fahrzeuge

von allen Sorten. Auch eine zerlegbare eiserne Feld­ bäckerei lag zerstreut umher. Sie war zunächst für ein zusammenlegbares eisernes Kanonenboot gehalten worden. Mit Trommeln und Pfeifen marschierten wir durch Forbach. Diese Musik war den Franzosen höchst wider­ wärtig. Eine französische Dame erklärte mir einmal, nichts drücke die Grausamkeit des Krieges mehr aus, als dieses Trommeln mit den schrillen Pfeifentönen. Sie müsse sich die Ohren zuhalten, der Ton täte ihr weh! Noch vor zwei Tagen hatte man in Forbach auf die „Stinkpreußen" geschimpft und den Franzosen zuge­ jubelt. Merkwürdig! Gerade an der Grenze war der gegenseitige Haß am stärksten, viel größer als weiter im Binnenlands. Die Umgebung wurde jetzt immer mehr kriegerisch. Was war das schön, hoch zu Roß durch Feindesland zu reiten! Nie wieder in meinem Leben habe ich mich so wohl, so glücklich, so gehoben, so sorgenfrei gefühlt wie damals. Die leicht gebirgige, waldreiche Gegend hier ist so freundlich, so überraschend schön, daß man völlig beschäftigt war von dem Ausblick über das Land. Rechts und links vom Wege, auf dem wir marschier­ ten, waren verlassene Biwaks. In den Dörfern wim­ melte es von Ordonnanzen, Adjutanten, Feldgen­ darmen, Feldjägern, Generalstäblern. Feldlazarette und andere Bagage standen an den Häusern. Endlich kamen wir nach Lauterbach, wo der alte Steinmetz lag. Links auf einem Berge stand der alte, dicke Prinz Adalbert mit einem Adjutanten. Sie probierten ein langes Fernrohr.

Nun marschierten wir rechts vom Wege auf unsern Biwakplatz. Vor und hinter uns lag alles voller Trup­ pen. Es war das VIII. Armeekorps. Unten im Tal pflöckte eben die Kavallerie die Pferde an. Wir stan­ den auf einem großen Kartoffelfeld, dicht am Wald. Jetzt kam der Befehl: die Mannschaften sollten sich Hütten bauen zum Schutz gegen den Regen. Ja, aus was aber sollten wir „Hütten bauen"? Leicht war das hier gewiß nicht. Die Soldaten schwärmten in den Wald aus und kamen bald mit Bäumen und dicken Zweigen, wie der Wald von Dunsinan, zurück. Auch uns wurde von der achten Kompagnie eine Hütte er­ richtet. Mittlerweile fing es tüchtig an zu regnen. Durch den Lehm, die Pfützen und die mit Wasser gefüllten Furchen der Kartoffelfelder wurden die Bäume herangeschleift. Allerdings hatten wir eine riesengroße Hütte, aber regendicht war sie nicht. Die Bagage schwamm irgendwo in der Welt umher; das Zelt hatten wir leider nicht. Und nun begann die scheußlichste Nacht im ganzen Feldzuge: das Biwak bei Lauterbach, das bald sprich­ wörtlich bei uns wurde. Wir lagen in einer Lehmbrühe, direkt im Schlamm. Und doch mußte man sich legen, wir rührten uns nicht, denn schließlich war es überall schlimmer, kälter und nasser als auf dem erwärmten Stückchen Erde unter uns. Das Gesicht war erdig und naß, man wischte sich den Lehm aus dem Bart. Die Mütze war schwer voll Wasser gesaugt. Der Regen spülte die Erde, die vom Heranschleifen der Zweige an den Blättern haftete, herab. In dicken, erdigen Tropfen lief der Schlamm ins Gesicht, in die Haare

und die Ohren. Man mußte durch Drehen das voll Wasser gelaufene Ohr ausschütten und den Schlamm aus den Augen wischen. Auch der Mund war voll Erde, die Zähne knirschten von dem Sand, der in den Mund gelaufen war. Ganz allmählich waren wir naß geworden, jedes Kleidungsstück bis auf die Haut. Sn solcher gräßlichen Nacht vergißt man das Witzemachen. Gegen vier Uhr früh sah ich, daß die Kompagnie trotz des strömenden Regens ein Riesenfeuer in Gang ge­ bracht hatte. Ich hielt es in unserer nassen Lehmgrube nicht länger aus, ging an das Feuer und suchte mich nacheinander von allen Seiten zu wärmen und zu trocknen. Unten int Tal war großer Lärm. Die ange­ pflöckten Pferde waren nervös geworden. Einige hatten sich losgerissen und galoppierten hin und her. Es dauerte lange Zeit, bis alles wieder in Ordnung war. Die armen nassen Soldaten drängten sich an das Feuer heran. Jeder suchte etwas näher an die be­ lebende Flamme zu kommen. Zitternd vor Frost und Nässe kroch einer nach dem andern aus seiner nassen Lagerstätte heran. Alle sahen wir uns verfroren und mißgestimmt an, Tag und Sonne sehnsuchtsvoll er­ wartend. Endlich wurde es hell. Mein Bursche hatte mir in seinem Kochgeschirr Kaffee bereitet. Abends hatte er darin Speck gebraten. Große Fettaugen schwammen auf dem salzigen Kaffee. Schadete nichts, es war doch etwas Warmes. Jetzt die Hauptsache. Der Regimentsadjutant ritt zum Befehlsempfang hinab in das Dorf! Er kam zu­ rück. O Schreck! Ruhetag hier im Dreck! Das Kom-

pagniewägelchen, die ganze Bagage war nicht da. Somit hatten wir kein Kochgeschirr und waren auf die Güte der Soldaten angewiesen. Alle Furchen des Kartoffel­ ackers waren voll Wasser, wir hatten tatsächlich nichts, worauf wir uns sehen konnten. Und in dieser Lehmbrühe Ruhetag! Schließlich kam doch die Sonne zum Vorschein. Ich zog den Mantel aus und legte ihn samt den triefen­ den Decken auf eine schnell angefertigte Stellage, dicht am Feuer. Aber ganz trocken wurden die Sachen heute nicht. Immer wieder regnete es von Zeit zu Zeit. Dann kroch man wieder einmal in die Laubhütte, um einen recht illusorischen Schutz zu genießen. Mittags stellte sich Hunger ein. Ich hatte einen großen Fetzen Rindfleisch erhalten. Dies und Speck schnitt ich in kleine Stückchen, tat viel rohe, geschälte Kartoffeln daran und briet mir die ganze Geschichte. Wir sahen toll aus! Und als ich so, starrend von Lehm, mit einem Hölzchen im Kochgeschirr rührte, das Feuer anfachte und von Zeit zu Zeit kostete, mußte ich schließlich über mich selbst lachen. Wenn die Bagage abgedrängt war, so waren die Offiziere viel schlimmer daran als die Soldaten. Wir hatten dann kein Kochgeschirr, und die kleinen Proviant­ reserven, vor allem der Kaffee, waren nicht zur Stelle. Später machte man sich stets einen großen Fleischkloß auf Vorrat. Gehacktes Rindfleisch wurde ungefähr zwei Fäuste groß sehr fest zusammengepreßt und in Speck­ fett gebraten. Das band man in ein Taschentuch und steckte es in die Rocktasche. Gab es zufällig Besseres, so warf man die Fleischkugel fort. Wenn nicht, so hatte

man eine nahrhafte, wenn auch wahrhaftig nicht wohl­ schmeckende Mahlzeit. Am Abend kam die Post mit Zeitungen. Auch Mar­ ketender mit scheußlichem Wein zeigten sich, den wir heißgemacht und versüßt tranken. Abends brannte ein ganz kolossales Feuer vor unse­ rer Laubhütte. Bis tief in die Nacht saßen wir am Feuer und trockneten unsere Sachen. Gott sei Dank hatte der Regen nachgelassen. Der Wald, neben dem wir lagen, war einfach verschwunden. Die dicksten Bäume, Koniferen und Laubwald, waren verfeuert. Wenn 40000 Menschen frieren, sich Hütten bauen und zwei Tage lang große Feuer unterhalten, wird schon ein tüchtiges Stück Wald abgeholzt. Man sollte es gar nicht für möglich halten, daß man bei starkem Regen und Wind, noch dazu mit Laubholz, ein Feuer anfachen könne. Und doch war es sehr bald in Gang gebracht. Zunächst wurde ein großer Ring von ungefähr zwei Meter Durchmesser ausgegraben und die Erde nach außen geworfen. Dies gab einen Sitzplatz, auf dem 20—30 Menschen neben­ einander sitzen konnten. Die ausgeworfene Erde bil­ dete gleichsam die Lehne dieser Bank. Dann wurden meterlange und noch längere Scheite Holz oben zusammen, unten auseinander gelegt, sodaß eine Art spitzer Hütte entstand, mit einem freien Raum in der Mitte. Nun kam über die erste eine zweite und dritte Schicht großer tzolzstücke, bis eine große tzolzpyramide fertig war. Der innere Raum war also vor direktem Regen geschützt. Darauf wurde mit Pa­ pier, Kienholz, kleinen Tannen- und Fichtenzweigen,

etwas trockenem Holz, zerschlagenen Stühlen, Schrank­ oder Stubentüren der freie Raum vollgestopft und an­ gezündet. Natürlich geriet der Haufen schnell in Brand, da durch die vielen Ritzen der Rauch guten Abzug hatte. Durch Nachstopfen von harzigem und trockenem Holz wurde der Brand erhalten. Die zunächst liegen­ den Holzstöße wurden auch trocken und brannten an. Zwischen den Ritzen der anliegenden Stämme züngelte die Flamme, die bald so groß wurde und so intensiv brannte, daß schließlich die ganze tzolzmasse eine große Flamme war. Nun wurde immer neues Holz aufgelegt und so das Feuer die ganze Nacht hindurch erhalten. Die Hitze war so enorm, daß man zwei bis drei Meter zurücktreten mußte, wollte man sich nicht die Stiefel verbrennen. Von diesem Feuer konnte sich jeder Glut holen zum Wasserkochen oder Speckbraten. Am andern Tage, den 12. August, brachen wir ziem­ lich zeitig auf. Rechts und links an der Landstraße lagen zerbrochene Wagen, leere Kisten und allerhand Spuren eines großen Armeezuges. Wir kamen zu­ nächst durch einen Wald, dann ritten wir über Höhen, die rückwärts eine prachtvolle Aussicht nach Preußen und vorwärts nach Frankreich boten. Bei Niederwiß, auf einem regendurchweichten Acker, bezogen wir das Biwak. Ich lief sofort in die Gärten hinter den Häusern und kehrte bald mit einer Handvoll Zwiebeln, Mohrrüben und Kohlrabi zurück. Bald fan­ den wir auch Kartoffeln und bereiteten uns eine Gemüse­ wassersuppe. Als Fleisch gab es eine große, schöne Hammelkeule, die wir wegwerfen mußten, da wir kein

Gefäß zur Zubereitung hatten. Die Offiziersmenage schwamm immer noch irgendwo in der Welt herum. Das Biwak sah wie besät mit Bohnen aus. Wie sollte ein Soldat, wenn er kaum eine Stunde Zeit zum Ab­ kochen hatte, die weißen Bohnen genießbar machen. Sie wurden, wie so vieles Gelieferte, einfach in den Schmutz geworfen. Abends kam noch die ganze Bataillonsbagage, auch der Medizinkarren und das Kompagniewägelchen. Zwar war keine Zeit mehr zum Kochen, weil es bereits dun­ kelte. Aber das Zelt konnte ich noch schnell errichten. Wir krochen hinein und freuten uns sehr, nun warm und trocken zu liegen. Wenn auch Stroh fehlte, so hatten wir doch eine genügende Menge französischer Wolldecken. Neben dem Zelt lag die 8. Kompagnie, die uns mit melancholischen Soldatenliedern in den Schlaf sang. Am andern Tag gings zunächst einen waldigen Berg hinauf. Als man auf der Höhe angelangt und aus dem Wald herausgetreten war, sah man überall die schwar­ zen Linien marschierender Truppen. Wir zogen quer­ feldein dem Westen zu. Die Bagage, an Wege gebun­ den, war schon wieder fort. Rechts und links gingen andere Infanterieregimenter, parallel mit uns auf glei­ cher Höhe. Die Wege waren mit Kanonen in endloser Menge, mit Wagen und mit im Schritt marschierender Kavallerie bedeckt. Es war ein großartiger, Vertrauen erweckender An­ blick, diese Masse Soldaten, in solcher Ordnung, nie stockend, jeden Weg benutzend, wie von unsichtbarer Hand geschoben, nach Westen marschieren zu sehen.

Alles mußte doch vorher erkundet und bestimmt sein. Denn jeder Fußweg, jeder Feldweg, jedes passier­ bare Gelände war augenscheinlich in Betracht gezogen. Die Infanterie, von Feldgendarmen geführt, marschierte direkt ohne jeden Weg über furchtbar erweichte Felder vorwärts, westwärts. Die einigermaßen geraden und gebahnten Wege waren der Artillerie, den Munitions­ kolonnen und der Bagage Vorbehalten. Dicht vor Barice — es war Mittag geworden — machten wir Halt und bezogen rechts von einer guten breiten Chaussee das Biwak. Die Bagage war schon aufgefahren, sie stand Unten am Berge vor einer großen Pontonkolonne. Ein schrecklich schimpfender Pionier­ offizier leitete das Ordnen und Aufstellen seiner vielen großen und schweren Fahrzeuge. Die Pioniere hatten den großen Vorteil, daß sie bei Regenwetter unter ihre großen Boote kriechen und in diesen auch alles mögliche verstauen und mitnehmen konnten. Wir kochten eine Reissuppe mit Rindfleisch. Damals war die Verpflegung noch so unpraktisch eingerichtet, daß die schönsten gelieferten Sachen fortgeworfen wur­ den. So kam um 10 Uhr eine Kuh verdrießlich muhend an. Um 11 Uhr hatte schon jeder sein Stück Fleisch und um 12 Uhr sollte bereits abgekocht sein! Dann gab es nur Salz als Gewürz. Natürlich war es gar nicht möglich, das frische, zähe Fleisch mit den Zähnen zu zerkleinern. Nur das wenige Fleisch an den Rippen war genießbar. Selbst die Zunge, die der Stab bekam, war nicht weich zu bringen. Und diese Suppen, ohne grünes Suppengewürz, schmeckten fade. Sie wurden nur gegessen, um den Magen zu füllen, weil es nichts anFrltsch, 1870/71.

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deres gab. 3n der Verpflegung der Soldaten war es seit 1813 nicht viel besser geworden. Ja schlechter, denn wegen der Anhäufung der Truppen und der Schnellig­ keit großer Märsche fehlte oft die Zeit zum Abkochen. Kam man abends im Biwak an, so war der Soldat viel zu müde, um noch Wasser zu holen, Feuer anzu­ machen und zu kochen. Höchstens wurde Kaffee bereitet und ein Stück Zwieback oder Kommißbrotrinde auf­ geweicht. Und für den Kaffee gabs keine Mühlen. Man legte den Kaffee auf ein Brett, z. B. eine Schrank­ türe, und zerkleinerte chn durch Darüberrollen mit einer Weinflasche. Natürlich wurde er dabei nicht „gemah­ len", und der gekochte Kaffee war infolgedessen schlecht. Daß sich hier viel bessern läßt, ist klar. Abrigens ist es auch längst geschehen. Im nächsten Feldzuge wird man von genußfähigen Konserven, von transportablen Feldküchen, komprimiertem Kaffee usw. reichlich Ge­ brauch machen. Dies hat einen ungeheuren Wert. Der Soldat bleibt gesund und leistungsfähig. Abends brachten unsere Fouriere sehr geheimnisvoll ein kleines Fäßchen Bier. Leider war es recht bald ausgetrunken, da der durstigen Seelen, die herum­ standen und einen Schluck erbaten, zu viele waren. Es ging ganz lustig zu. Die 8. Kompagnie hatte eine „Kapelle" gegründet, die bis tief in die Nacht hinein Lieder sang. Oft war es ganz sinnloses Zeug, aber die Melodien waren ansprechend, sodaß man unwillkürlich mitsang und mit den Fröhlichen fröhlich war. Ich hörte, daß manche Lieder uralte Lieder der Feldsoldaten seien, und, ohne daß man wußte woher, in jedem Feldzuge wieder auftauchten. Eins war besonders bevorzugt:

Es gibt nichts Schönres auf der Welt, Es kann nichts Schönres sein, Als wenn Soldaten ziehn ins Feld, Wenn sie beisammen sein.

Es kam viel Volk von Frankreich her, Zu Pferd und auch zu Fuß; Dragoner und auch Infanterie, Die die Welt regieren muß.

Und wenn mein bester Kamerad Geschossen bleibt im Feld, Wir Preußen fragen nichts danach, Wir sein all dazu bestellt. Wenn's blitzt, wenn's kracht, wenn's donnert und Wir schießen rosenrot, Wenn's Blut von unserm Säbel rollt, Sein wir couragevoll. Es Es Es Es

gibt gibt gibt gibt

ja nur ein Kaiserstadt, ja nur Paris; ja nur ein deutsches tzaus, nur ein Berlin.

Was soll man sich wohl beim letzten Vers denken?

Bei Metz. Am 14. August früh war Sonnenschein. Alle schwe­ ren, feuchten Sachen wurden schnell trocken. Bald fing es an unruhig zu werden. Auf der Chaussee spreng­ ten viel Gendarmen und Adjutanten, auch kleine Trupps Kavallerie — Landsberger Dragoner — nach vorn. Man hörte dumpfen Kanonendonner. Mittags wurde alarmiert. Doch wir waren noch nicht aufge» fessen, als schon Gegenbefehl kam. Da, abends gegen sechs Uhr, ging es dennoch fort, auf der Chaussee nach Metz. Es war schon dämmerig, als wir nach Darice kamen. Wir traten „rechts ran" auf der Chaussee, links an uns vorüber ging Kavallerie im Trabe vor. Nun hatte mein Pferd die Gewohnheit, daß es nie still stand, sondern sich fortwährend hin und her be­ wegte. Dabei stand es stets schräg. Ich konnte machen, was ich wollte, es steckte stets das Hinterteil heraus und stand schließlich quer zur Marschrichtung. Da stieß erst ein vorbeitrabender Husar gegen das im Weg stehende Pferd, dann noch einer und noch einer. Plötz­ lich drehte sich das Pferd um oder wurde umgedreht, war unter den Husaren und trabte mit ihnen vor­ wärts. Natürlich konnte ich es, solange beide Hälften der Chaussee benutzt waren, gar nicht herausbringen.

Es war gar kein Platz dazu da, um Reiterkunststücke zu machen. Wollte ich es, so mußte eine Menge müder Soldaten auf die Seite springen. Dazu wollte ich sie nicht veranlassen. Endlich, als wir an der ganzen Infanterie vorbei waren, gelang es mir, mein Pferd herauszubringen, umzudrehen und zurückzureiten. Auf einmal kam hinter mir, in schnellster Gangart, der ganze Divisionsstab, Barnekow, den ich an seinem großen Barte erkannte, voran. Nun war ich wieder diesen Herrschaften im Wege. „Was ist denn das für ein Schweinehund," brüllte Barnekow. In dem Mo­ ment sah ich links in der Infanteriekolonne eine Lücke, die ich schnell benutzte, um mich gleich über den Chausseegraben in Sicherheit zu bringen. Offiziere unseres Regiments, die -en Vorfall gesehen und Barnekows Liebenswürdigkeit gehört hatten, fingen natürlich sofort an, schlechte Witze zu machen. „Was wollte denn Barnekow von Ihnen, er war ja recht höf­ lich und nett?" Ich sagte, er habe nach Schweinehunden gefragt, ich hätte ihm aber keinen zeigen können. Jetzt ging es wieder vorwärts, wohl zwei bis drei Stunden in der Nacht nach les Etanges, wo schon viele Verwundete im Chausseegraben saßen und noch neue fortwährend hinzukamen. Johanniter und Ärzte waren in Wirksamkeit. Einzelne Bataillone vom I. Armee­ korps gingen an uns vorbei, rückwärts zum Biwak. Sie erzählten, daß sie fabelhaft gelitten hätten, daß sie aber schon in den französischen Schanzen bei Metz ge­ wesen wären. Wir marschierten auch durch einen Wald, und mein­ ten ein Nachtgefecht vor uns zu haben. Plötzlich hieß

es: Halt, das Ganze macht Kehrt. Wir sollten wieder zurück! Zurück auf den alten Biwakplatz, um morgen zum Frühstück denselben Marsch zum drittenmal zu machen. Als ob es nicht besser gewesen wäre, uns hier zu lassen! Dreckige Biwakstellen gab es auch hier genug. Wo man so hohe Ansprüche an die Kräfte der Soldaten stellt, wäre es wahrhaftig besser gewesen, sie zu schonen. Drei Stunden Nachtmarsch hatten wir nun vor uns! Und morgen früh hätten wir drei Stunden später abmarschieren können. Dennoch, was Hilsts. In Preußen wird befohlen, sagte unser Hauptmann. Am 15. August früh ging es denn auch sehr zeitig fort. Nach Chesny, wo Quartiere sein sollten. Doch kam nur das 1. Bataillon unter Dach. Wir sahen Metz vor uns liegen, d. h. den hochragenden Mont St. Quentin. Dann Marsch durch Courcelles. Wir waren sehr erstaunt, hier, so nahe bei Metz, preußische Lokomotiven und Eisenbahnzüge ganz gemütlich hinund herfahren zu sehen. Es war ein sehr anstrengender, heißer, langer Marsch; die Soldaten, die wenig Nacht­ ruhe gehabt hatten, waren bald müde und schlapp. Wieder wimmelte es geradezu von Soldaten, die meist südwärts zogen, während wir, die Hauptzüge kreuzend und dadurch immer wieder aufgehalten, gerade nach Westen, nicht auf Wegen, sondern immer querfeldein, von Generalstäblern geführt, marschierten. Chesny, wo wir biwakierten, war ein kleines, hoch­ liegendes Dorf mit einem alten, vielbetürmten Schlosse. Auf der Suche nach etwas Eßbarem fand ich ein Feld mit wunderschönen Mohrrüben von der kurzen, dicken Art und nahm ein ganzes Bündel mit. Außer

diesen Rüben habe ich während des ganzen Tages nichts gegessen. Wir hatten weder etwas geliefert be­ kommen, noch Zeit gehabt, Kaffee zu kochen. Als ich mit meinen Rüben ankam, holten sich die Soldaten ebenfalls dieses „Obst", und in fünf Minuten war das Feld leer. Es wurden Feldwachen ausgestellt, weil mitgeteilt war, wir stünden unmittelbar am Feinde. Aber wir fanden vor uns die ganze hessische Division. Die Hessen trugen ähnliche lange, graue Mäntel wie die Franzosen, beinahe wären sie beschossen worden. 2m andern Falle, wenn wir nämlich dem Feinde unmittelbar gegenüber­ gestanden hätten, wäre allerdings unser Biwakplatz sehr schlecht gewählt gewesen, denn dicht vor uns war überall dichter Laubwald, aus dem man uns einzeln am Biwak­ feuer hätte aufs Korn nehmen können. 2ch blieb „um­ geschnallt" liegen, und sagte meinem Burschen, sobald es losginge, solle er den Sattelgurt festziehen und auf mich warten. 2ch brauchte nur meine Decken zusammen­ zuraffen und saß in zwei Minuten auf dem Pferde. Vor dem Abmarsch am 16. August früh hielt der Major dem Bataillon eine kurze Rede über Essen von rohem, unreifen Obst und Wassertrinken. Er schloß: „Wir haben einen anstrengenden Marsch vor uns, kommen aber in gute Quartiere." Mit diesen Worten begann der verhängnisvolle 16. August. Ja, in gute Quartiere kam fast die Hälfte des Regiments: unter die Erde und ins Lazarett. Ich hatte mich noch am Tage vorher mit den Offizieren über das Marschieren gestritten. Nun wollte ich durch die Tat beweisen, daß ich es auch könnte, und machte

in meinen schweren, langen Reiterstiefeln den Marsch zu Fuß. Abwechselnd ließ ich befreundete Offiziere rei­ ten. Dies Vergnügen dauerte aber nicht lange. Als es der Major bemerkte, untersagte er es; es gäbe ein schlechtes Beispiel. Wie anstrengend der Marsch war, merkte ich bald sowohl an mir, wie an der großen Zahl Schlapper. Mit allergrößtem Eifer ging ich an jeden einzelnen heran und redete ihm freundlich zu: Er möge doch mitkommen, möge sich aufraffen, er solle sich vor den andern schämen, wir bekämen ja Quartiere, und was man so zur Belebung der Schlappen sagt. Aber wenn sie auch aufstanden, beim Zurückschauen sah ich, daß sie sich bald wieder im Straßengraben befanden. Ich möchte behaupten, daß ein Soldat, wenn er fest entschlossen ist, sein liebes Leben zu retten und seine Knochen wieder heil nach Hause zu bringen, das bei einiger Konsequenz wohl fertig bringen kann. So kannte ich einen, der nach zwei Stunden Marsch regel­ mäßig mit affektiert jammervoller Miene im Chaussee­ graben saß. Dabei strafte ihn sein hübsches, gesun­ des, rundes Gesicht Lügen! „Ach, Herr Doktor, geben Sie mir etwas, daß ich weiter kann," rief er weiner­ lich klagend. Nun bekam er Hofmanns Tropfen und versprach weiterzugehen. Aber nicht zwei Minuten — bums — da lag er wieder im Graben, als wenn er totgeschossen sei. Nun ging das Jammern wieder los: er wolle ja so gerne, aber könne nicht vorwärts, er er­ sticke usw. Schließlich sagte man sich, daß man Besseres und Wichtigeres zu tun habe, als immer in den einen Schlappen hineinzureden. Courage, teelöffelweise ab-

zugeben, führten wir nicht im Medizinkarren. Am andern Morgen, wenn die Schlacht oder das Gefecht vorbei war, konnte man sicher sein, den Drückeberger wiederzusehen. Im Chausseegraben liegend, schob er sich langsam in den Wald oder das Feld und wartete da, bis das Regiment vorüber war. Dunkelte es, so schlich er nach, markierte die größte Erschöpfung, sobald Trup­ pen an ihm vorbeimarschierten, und so schlängelte er sich in der Nacht wieder zu seiner Kompagnie. Machten auch seine Kameraden schlechte Witze, so überwog doch die Lebensliebe bei weitem das Pflichtgefühl. Und nach Jahrzehnten sah ich ihn wieder, den tapfern Krieger. Vorstand aller möglichen Kriegervereine, hochgesinnter Patriot, Blut und Leben auf dem Altar des Vater­ landes zu opfern jederzeit bereit. Es gibt eben verschiedene Arten von Mut. Ich habe Leute gekannt, die Dutzende von Duellen mit tadel­ loser Haltung ausfochten, die sich aber später im Leben als miserable Menschen zeigten. Ohne Initiative, ohne Tatkraft und charakterlos gingen sie als schlaffe, energie­ lose Menschen zugrunde. Und andererseits habe ich stille, fast ängstlich bescheidene, scheinbar unbedeutende Menschen gesehen, die im Moment der Gefahr sich zu Helden herauswuchsen, im Vergleich zu denen jene Renommisten als minderwertige, lächerliche Persönlich­ keiten erschienen. Höchst gefährlich ist es für Soldaten, und namentlich für Offiziere» gelegentlich Mangel an Mut zu verraten. Als das Regiment vor der Schlacht das Gepäck ab­ legte, rief der Major, jeder Feldwebel solle ein paar zuverlässige Leute bestimmen, die hier zur Bewachung der

Tornister bleiben sollten, bis wir Wagen schicken und die Tornister holen lassen würden. Da meldete sich ein Sol­ dat, der entweder sehr müde war, oder die Schlacht nicht mitmachen wollte. Er bat den Feldwebel, ihn zu wäh­ len, er sei verheiratet und sehr zuverlässig. Dies hatten seine Kameraden gehört. Und nun wurde der arme Mensch monatelang von den Soldaten gepeinigt. Sie nannten ihn den Tornistermajor und den Zuverlässigen. Einmal vor Metz bekam er eine starke Kolik. Ich gab ihm Opium und packte ihn fest in eine Krankendecke ein. Plötzlich sah ich, daß die Soldaten hinter seinem Kopfe einen Stab in die Erde steckten, an dessen Ende «in Papierblatt befestigt war. Als jeder Vorbeigehende lachte, merkte der Kranke, daß hinter ihm sich etwas befand, das allgemeine Heiterkeit erregte. Auf dem Blatte stand: Hier ruht in Frieden der Tornistermajor, er meldete sich zu einer Schleichpatrouille, bekam aber vorher die Kränke, an der er verstarb. Kaum hatte er das gelesen, als er wütend aufsprang, den Stock aus der Erde zog, den Zettel zerriß, die Krankendecke auf den Kompagniewagen warf und schimpfte und fluchte. In dieser Weise wurde der arme Kerl während des ganzen Feldzugs gehänselt. Viel verderblicher, die Disziplin untergrabend, wer­ den solche Witze, wenn sie einen unbeliebten Offizier, oft ganz ungerechterweise, betreffen. So war einem Offizier der Säbel abgeschossen worden — wenigstens sagte er es. Er hatte einen Burschen, den er sehr schlecht be­ handelte, er rief ihn stets dreisilbig „Friederich". Nun ritt er auf dem Marsche hinter der Kompagnie. Auf einmal rief es vorn in der Kompagnie mit ängstlicher

Stimme in dumpfem Baß: „Friederich, se schießen". Dann quiekste im Diskant an einer andern Stelle ein Soldat: „Friederich, se schießen." Dann rief wieder einer „Friederich, der Sabel ist schon kaput". Und so ging es dann eine Stunde lang weiter. Es war eigent­ lich gar nichts dagegen zu machen. Noch schlimmer wurde es später. Wenn der Offizier sich abends in seinem Zelte niederlegen wollte, so waren seine Decken aus der Hütte gestohlen. Und wenn er früh aufstand, so lagen die Decken schön zusammengelegt vor der Hütte. Eine Unverschämtheit, die, wenn der Täter gefaßt wor­ den wäre, ihn auf die Festung gebracht hätte. Aber keiner verriet den andern. Schließlich stellte der Offi­ zier einen Posten vor die Hütte. Da unterblieb natür­ lich der Scherz. Nach dem 18. August nannten die Soldaten das Opfer ihres Witzes: den Duc de Gravelotte t Später einmal, bei einem Gefecht mit Franktireurs oder Garibaldianern, war der Betreffende mit seiner Kompagnie abgeschickt, um durch eine Umgehung die Franktireurs von hinten zu fassen, während sie vorn im Feuergefecht angegriffen wurden. Diese Umgehung glückte nicht, weil sich die Kompagnie zu lange beim Suchen nach Waffen in einem Dorfe aufgehalten hatte und weil man im verschneiten Walde nicht schnell vor­ wärts kam. Es lag wohl eine Schuld des Kompagnie­ führers nicht vor. Trotzdem gab das den Soldaten wieder Veranlassung zu allen möglichen Witzen. Der Offizier ging bald nach Hause und ward nicht mehr gesehen. Viel Freude hatte er im Feldzuge nicht er­ lebt. -

Nach sehr heißem Marsche, halb verdurstet, kamen wir nach Arry, oder vielmehr auf eine Höhe hinter Arry. Unter und vor uns breitete sich ein schönes, grünes Tal mit mehreren silberglänzenden, von der Sonne beschienenen Flußläufen aus: Mosel und Seille. Eine Brücke sah man nicht. Auf dem linken Ufer hob sich das Gelände zu einer weiten Hochebene hin­ auf. Von dorther dröhnte ununterbrochen der Kanonen­ donner. Man sah Kolonnen vorwärts, rückwärts gehen, langsamer, schneller. Schwarze Linien bewegten sich hin und her. Rauch wälzte sich vor den Kämpfenden zum Himmel und vereinigte sich mit den tiefstehenden Wol­ ken. Es war sicher eine große Schlacht! Aber wir wußten nicht, ob die rechts oder links die Unsrigen waren. Während wir voll brennendem Interesse zu­ sahen, ertönte auf einmal der Befehl: Gepäck ablegen. Das war kurz vor dem Gefecht. Dem Soldaten ist mit dem Weglegen des Tornisters gar nicht so sehr gedient. Muß er die ganzen Patronen im Brotbeutel tragen, so ist auch dieser schwer. Der Tornister gewährt dem dahinterliegenden Schützen einen gewissen Schutz, und der Soldat ist übel daran, wenn er oft zwei bis drei Tage seine Sachen entbehren muß. Andererseits wird er unendlich erleichtert, wenn er nur Mantel und Brot­ beutel trägt. Die Schlacht war gewiß drei bis vier Stunden ent­ fernt. Es war mittags 1 Uhr. Die Mannschaft, sehr erschöpft, war in großer Sonnenglut schon mindestens acht Stunden unterwegs, ohne zu essen, ohne einen Tropfen Wasser. Kein Mensch dachte und glaubte, daß wir heute noch ins Feuer kommen könnten. Selbst

die Offiziere meinten, es sei keine Möglichkeit, noch bei Tage bis auf jenes Plateau zu gelangen. In Arry kaufte ich noch schnell in einem Privathause zwei Flaschen Wein und erquickte mich und andere damit. Bei Noveant hielten wir wohl eine halbe Stunde. Es wurde massenhaft Wasser getrunken, die Flaschen wurden gefüllt. Von hier marschierten wir über eine Kettenbrücke, die wunderbarerweise nicht zerstört war, über die Mosel. Als die starken Schwankungen begannen, stieg ich schnell vom Pferde, auf das ich mich in Arry todmüde wieder gesetzt hatte. Denn das viele Bücken und Hinundherlaufen von einem Schlappen zum andern auf dem heißen Marsche nach Arry hatte mich sehr müde gemacht. Aber einige Wasserläufe der Seille hatten mittler­ weile die Pioniere Bockbrücken geschlagen, sodaß wir ohne Aufenthalt vorwärts kamen. Als die Mannschaften merkten, daß es vorwärts ging, um noch in die Schlacht einzugreifen, war alle Müdigkeit vergessen. Endlich an den Feind! Stets waren wir zu spät gekommen, sowohl bei Saarbrücken als bei les Etanges. Immer, wenn ein Gefecht war, marschierten wir seitlich ab. Die Soldaten hatten nur einen Wunsch: Endlich an den Feind! Es wurde flott marschiert. Kein Schlapper blieb zurück. Mutig und freudig ging es vorwärts. Die schnell versuchten Requi­ sitionen waren bis auf Wein erfolglos. Es wurde weitergehungert. Hinter Noveant, auf dem Marsche nach Gorze, sah es schon kriegerischer aus. Einige Equipagen fuhren vorbei. Man rief, der König sitze darin. Alles jubelte

und rief Hurra. Wie ich hörte, war es der Prinz Fried­ rich Karl, der zur Schlacht eilte. Jetzt hörte man schon deutlich das Kleingewehrfeuer und das Schnarren der Mitrailleusen. Gefangene Franzosen, leicht verwundete Preußen in großer Menge, einige dezimierte Bataillone standen oder lagen rechts und links am Wege. Sie riefen uns zu: Nur immer druf! Nicht stehenbleiben, sonst werdet ihr getroffen; wenn ihr draufgeht, reißen sie aus! Nie­ mand zeigte Mutlosigkeit. In Gorze trennten wir uns. Das erste und das Füsilier-Bataillon marschierten links durch Gorze. Ebenso drei Batterien, die bis dahin bei uns gewesen waren. Wir gingen rechts, erst querfeldein bei einem Schlößchen St. Catherine vorbei, dann auf einem engen Waldweg. Ein Husarenoffizier mit vier Mann und ein Bauer in blauer Bluse führten uns. Die Waldränder stießen hier rechtwinkelig zusammen, und in dieser Ecke begann der schmale Fußweg im Wald. Ich saß zu Pferd und trug einem Soldaten, der mich darum gebe­ ten hatte, eine Zeitlang sein Gewehr. Dieser Soldat, „der Russe", ein kleiner, tüchtiger Mann mit großem Vollbart, der, sobald er etwas vom Kriege vernommen, aus Rußland zu seinem Regiments herbeigeeilt war, wurde schlapp, wollte aber keinesfalls zurückbleiben. So faßte er meinen Steigbügel, ich trug ihm das Ge­ wehr, und vorwärts ging es. Er war ein ausgezeichneter Schütze, und die Soldaten erzählten nach der Schlacht, er habe mindestens zehn Franzosen getroffen. Da, auf einmal pfiff etwas über uns, und knatternd stürzten zersplitterte Zweige herab. Die Soldaten fielen

vor Schreck hin. Ich kletterte vom Pferde. Kein Mensch war verwundet. Wir schämten uns und mußten uns selbst auslachen. Es waren die ersten Kugeln, die wir pfeifen hörten und die wir durch unsere „Diener" be­ grüßten. Hier klatschte eine Kugel in die Erde, dort gegen einen Baum. Dann pfiff wieder eine von hinten vorbei. Kein Feind war im dichten Walde zu sehen. Von der Tete tönte lautes Hurrarufen, endlich kamen wir ins Freie. Mitten im Walde war ein kleines freies Feld. Da hatten gewiß die Franzosen gestanden. Vorn und an der Ecke, wo wir aus dem Walde kamen, lag der erschossene Bauer, der uns geführt und gesagt hatte, nirgends im Walde seien Franzosen. Bei dem ersten Pfeifen von Kugeln hatten ihn die Husaren als Verräter erschossen. Ob gerecht oder ungerecht, wer weiß das? Als ich aus dem Walde trat, lagen ungefähr zwan­ zig Verwundete da, Preußen und Franzosen. Unsere Leute hatten eben den Waldrand im ersten Ansturm ge­ nommen. Man sah die Franzosen im Walde verschwin­ den, die Unseren ihnen nach. Auf dem Felde tönten noch einige Schüsse. Ein verwundeter Franzose, mit zerschmettertem Arm und einem Schuß durch den Oberschenkel, auf den ich mit dem Lazarettgehilfen los­ ging, um ihn zu verbinden, schoß noch mit der einen gesunden Hand auf uns. Man wollte chn totschlagen, als ich dazu kam. Fast instinktiv lief ich heran und rettete ihn vom Tode, den er gewiß verdient hatte. Denn auf sechs Schritt schoß der Kerl, der unbemerkt eine Patrone in das Gewehr gebracht hatte, auf mich und den Lazarettgehilfen. Das war nicht etwa ein Afrikaner, sondern ein alter Troupier mit vielen Kriegsmedaillen.

Nun wurden schnell die Verwundeten verbunden. Wie lange dauerte das 1 Ehe man schonend den gerollten Mantel herunter hatte, ehe man dem widerstrebenden, bei jeder Berührung am Arm schreienden Mann die Wunde bloßgelegt hatte, ehe die Schere sich durch die zähe Uniform hindurchgekaut hatte — verging sehr viel Zeit. Und was konnte man denn machen, hier int Wald, ohne Wasser. Man drückte Charpie auf die Schußöffnungen und suchte durch eine feste Binde die Blutung zu stillen. Trotz größter Beschleunigung brauchte man bei einem Verwundeten eine halbe Stunde. Durch diesen Zeitverlust war ich zurückgeblieben. Ich lief also, so schnell ich konnte, in den Wald und stieß gleich auf meinen Stabsarzt. Der sagte: „Sie handeln nicht richtig. Wir Arzte sind in einer Schlacht nur zur Dekoration da. Jeder Soldat soll sehen: da ist der Mann, der dir hilft, wenn es dich trifft. Wollen Sie aber wirklich gut verbinden, so brauchen Sie viel zu viel Zeit und können ohne alle Hilfsmittel doch nichts leisten. Das erste, was der nächste Arzt tut, ist doch, ihren Verband abnehmen und wegwerfen, mag er gut oder schlecht sein. Leicht kommen Sie vom Bataillon ab. Hier greift es an und geht anderswo weiter oder zurück. Verlaufen Sie sich dann und sieht man Sie nicht immer beim Bataillon, so heißt es, Sie hätten sich gedrückt. Sie verlieren Ehre und Reputation. Immer beim Ba­ taillon bleiben, das ist die Hauptsache. Verwundete müssen stets sofort zurückgeschafft werden, wenn sie irgendwie transportabel sind". „Wo ist denn nun aber das Bataillon," fragte ich.

Im Walde! Und richtig, überall kamen im Laube einzelne Pickelhauben zum Vorschein; bald drei bis vier Mann, bald auch mehr. Teils mit Verwundeten, teils ohne. Wir Arzte hatten keine Ahnung, wohin das Bataillon dirigiert war. Eine ganze Menge schma­ ler und breiterer Waldwege durchkreuzten den Wald nach allen Richtungen hin. Deshalb gingen wir auf dem breitesten Wege weiter. Von Zeit zu Zeit, wenn der fortwährend über uns pfeifenden Kugeln zu viele kamen, stellten wir uns hinter einen dicken Baum und horchten. Wir drangen aber immer weiter vorwärts. Endlich kamen wir an eine Waldpartie, wo das Unter­ holz weggeschlagen war. Die großen Bäume standen noch. Hier und da war das gespaltene Holz in Klaftern aufgebaut. Wir fanden einen durch die Brust geschosse­ nen Preußen, der eben sein Leben aushauchte, und einen Feldwebel hüt durchschossenem Oberarm. Un­ gefähr zehn Leute sammelten sich bei uns, ebenso ein Landwehroffizier, der auch nicht wußte, was er machen sollte. Während wir so ruhig standen, sahen wir plötzlich auf zwanzig Schritt Entfernung sechs französische Infante­ risten, die aus dem dichten Walde traten und wohl eben­ so erstaunt über die Begegnung waren wie wir. Gewiß hatten sie vorher die zwei Leute angeschossen. Sowie wir sie sahen, stürzten wir auf sie los. Sie hatten nicht Zeit, das Gewehr anzulegen. Ihre Schüsse gingen nach oben, niemand wurde verwundet. Dann warfen die Fran­ zosen die Gewehre fort. Drei, darunter ein deutsch­ redender Elsäßer, der in dem Oberschenkel eine Fleisch­ wunde hatte, ergaben sich, die anderen verschwanden Ukitsch, 1870/71. 5

ohne Gewehre im Walde. Die Chassepots, die sämt­ lich abgeschossen waren, wurden an den Bäumen zerkeilt, die Patronentaschen ausgeleert, die Patronen in den Wald geworfen. Das war gewiß ganz gut, denn als ich mich später nach den Gefangenen erkundigte, hörte ich, daß sie entkommen waren. Dies war das erstemal, daß ich den Feind in solcher Nähe sah. Bald sollte es aber noch besser kommen. Wir gingen jetzt wieder etwas zurück, da wir an­ nahmen, daß das Bataillon nach rechts oder links abgebogen war. Hier trafen wir einen Offizier mit etwa 40 Mann, der die Fahne bei sich hatte. Einer der Soldaten sagte: „Da unten liegt ein Mann, der am Kopfe verwundet ist." Wir, der Stabsarzt und ich und ein Lazarettgehilfe, machten uns auf, um ihn zu suchen. Kaum waren wir aber 60—80 Schritt an das dichte Unterholz heran, als eine förmliche Salve auf uns abgefeuert wurde. Das Feuern ging weiter. Herum­ drehen, flüchten und uns hinter die nächste Klafter Holz ducken, war eins. Jetzt wurde dieser Holzhaufen noch eine Zeitlang beschossen, aber die Kugeln gingen nicht durch, sondern klatschten in das Holz. Wir warteten noch einige Zeit in dem Gedanken, daß die obenstehenden Unsrigen angreifen würden, allein sie blieben stehen und sahen sich den Fall an. Das Feuer hörte auf, wir gingen dann noch herum, fanden aber trotz sorgfältigen Suchens keinen Ver­ wundeten. Hier bückte sich mein Stabsarzt wiederholt, als ob er etwas auf der Erde suche. Ich fragte ihn, was er denn suche. „Ich pflücke Veilchen, die sende ich meiner

Frau als einen Gruß aus der Schlacht." Es blühten hier sehr viele der geruchlosen, blaßblauen Hunds­ veilchen. Ich war damals ein etwas „überlustiger Ge­ sell". Solche Regungen begriff ich nicht. Frauenliebe hatte sich in meinem Leben noch nicht geltend gemacht. Ich hielt das für eine eines „Mannes" unwürdige Sentimentalität. Später habe ich oft daran gedacht, als an eine Zartheit der Empfindung, ein liebens­ würdiges Gedenken des treuen Ehemannes, gewiß der Nachahmung wert. Wir gingen nun ziemlich planlos nach links hinüber, wo heftig geschossen wurde. Hier senkte sich das Gelände in eine Schlucht, wohl einen Wasserlauf. Zwischen den hohen dicken Bäumen hindurch sahen wir auf einer kahlen Erhöhung am andern Rande der Schlucht Fran­ zosen, gewiß mehrere Kompagnien. Sie lagen auf der Erde, knieten auch und schossen nach einer andern Rich­ tung. Dahinter standen französische Kanonen, die eben­ falls nach Süden und Westen feuerten. Wir gingen am Rande der Schlucht weiter und sahen bald auf dem Felde eine Mitrailleusenbatterie ohne Infanteriebedekkung. Soldaten von uns, die bis zum Waldrande vorgedrungen waren, tagen an der Erde und schossen, obwohl es zu weit war, nach den Mitrailleusen. Als die Franzosen dies bemerkten, gaben sie nach uns eine Mitrailleusenladung ab. Viel zu hoch. Wohl sechs Meter über uns fuhren die Kugeln durch die Kronen der Bäume. Was sie aber doch für Kraft hatten, konnte man aus den armdicken Zweigen sehen, die auf uns herunterprasselten. Wäre hier das Bataillon zusammengewesen, oder 5*

wären die Hessen zwei Stunden eher gekommen! Gerade in den Rücken der Franzosen hätten wir von hinten stoßen können. Aber so, mit dem Dutzend Soldaten, blieben wir lieber im Schutze des Waldes. Dann suchten wir alle wieder den Anschluß an die obenstehenden Soldaten zu erreichen. Hier trafen wir plötzlich den größten Teil des Bataillons, der auch hinter uns von links herkam. Wir waren also nach vorn, weit vom Bataillon abgekommen. Das Feuer war noch sehr stark. Die Mitrailleusen knatterten ohne Unterlaß. Die Offiziere berieten sich. Es wurde zurück nach der freien Ebene marschiert, wo das Gefecht be­ gonnen hatte. Hier wollte man das völlig auseinander­ gekommene Bataillon sammeln. Das Signal „zweites Bataillon sammeln" ertönte von der Ebene her. Man fürchtete auch umgangen, abgeschnitten zu werden. Schon brach die Dämmerung herein. Es dunkelte. Auf dem Felde lagen noch zwei Schwerverwundete, die ich hier wegen Transportunmöglichkeit unter dem Schutze eines Lazarettgehilfen hatte liegen lassen. Ein dritter war gestorben. Links von uns, im Halbdunkel, zog die hessische Infanterie in auffallender Stille in den Wald. Kaum war die Tete der Hessen im Walde, so begann das Feuer sofort wieder. Ein Beweis, daß uns die Fran­ zosen wieder gefolgt waren. Das Bataillon zog nun den Weg, den wir durch den Wald gekommen waren, wieder hinab. Mir wurde be­ fohlen, mit den Verwundeten nachzukommen. Es war etwas ungemütlich, hier allein zu bleiben. Ich bat, mir wenigstens zwölf Mann zu lassen, um die Verwundeten

hinuntertransportieren zu lassen, denn hier zu bleiben war ganz unmöglich, da kein Wasser zu haben war. Es heißt immer in den Erzählungen und Romanen: einige junge Bäume wurden abgeschlagen, Tragbahren wurden schnell hergestellt, die Verwundeten darauf gelegt und fortgetragen. Das liest sich ganz gut. Aber ohne alle Hilfsmittel ist es gar nicht zu machen. Ich ließ zwei Gewehre an die Erde legen, die abgeschnallten Koppel oben und unten herumschlingen, darauf kamen zwei entfaltete Mäntel, und der Verwundete wurde darauf gelegt. Man brachte mir noch mehr Verwundete, die sehr enttäuscht waren, daß sie keinen Verbandplatz, sondern mich allein, ohne Hilfsmittel, fanden. Ein durch Brust und Schulter geschossener ausgebluteter Verwundeter starb unter meinen Händen. Seine letzten Worte waren: „Kinder, haben wir auch gewonnen?" Als ich ihm ver­ sicherte, die Franzosen seien geschlagen, überflog ein Lächeln sein Gesicht. Er atmete noch einige Male röchelnd auf und war tot. Meine improvisierten Tragbahren waren entsetzlich unbequem, mochten sie mit der Hand oder auf der Schulter getragen werden. Der Kolben des Gewehres drückte, und das Bajonett schnitt in die Hände. Es war nun ganz dunkel, der Mond schien nicht, wohl aber flimmerten Millionen' Sterne hell am Himmel. Der Weg war uneben, die Träger glitten aus und stolperten hin und her, noch ein paar Schritte und sie behaupteten, sie könnten nicht mehr. Ich mußte bitten, schimpfen, befehlen, nur um den Transport im Gange zu erhalten. Die Verwundeten wollten nichts

Wissen von Warten, Tragbahren holen usw., nur fort, fort aus dem Walde zu einem Lazarett l Sn den Wald auf demselben Wege eingetreten, der uns hierher­ geführt hatte, war es vollkommen dunkel. Langsam schritt ich vor den Bahren her, den Weg untersuchend, ermutigend und bittend. Nach und nach wurde meine Schar immer größer. Wohl 50—60 Vierziger und Zwei­ undsiebziger kamen aus dem Walde und schlossen sich an. Doch waren alle zu abgespannt und müde, als daß ein menschliches Mitgefühl in ihnen wach gewesen wäre. Stumm und stumpfsinnig marschierten sie hinter­ her. Keiner wollte die Träger ablösen, die von den Gewehren hart gedrückt wurden. Ich mußte selbst mit anfassen. Dabei jammerte ein durch die Brust Ge­ schossener fortwährend. Er bekam krampfartige Zuckun­ gen. Ich suchte seine Hand, der Arm hing schlaff herab, die Hand war eiskalt, ein Puls nicht mehr zu fühlen. Vor dem Munde lag klebrige Flüssigkeit — eine Lungenblutung hatte seinem Leben ein Ende gemacht. Wir ließen ihn am Wege liegen, damit er leicht zu finden war. Ein anderer, dem der Oberschenkelknochen zerschossen war, schrie laut vor Schmerzen. Wenn ein Träger ausglitt oder stolperte, rollte das haltlose Bein hin und her. Dabei der scheußliche Waldweg und die größte Finsternis. Endlich nach tausend Ermahnungen, Bitten und Zusprechen kamen wir ins Freie, aber noch nicht in Sicherheit. Hier schoß man wieder auf uns. Ich konnte es genau an der Zeit merken, wenn der Posten wieder eine Patrone im Laufe hatte. Wir riefen alle, nicht schießen, nicht schießen, Preußen, Preußen! Endlich

hörte der Posten auf zu schießen, kam auf uns zu und wunderte sich, wo wir herkamen. Dann gings durch die Weinberge, über unebene Fel­ der und Abhänge hinab, querfeldein am Biwakplatz der hessischen Dragoner vorbei. Ein Offizier bezeichnete mir die Richtung nach dem Schloß St. Catherine, wo ein Verbandplatz etabliert sei. Ich war glücklich und mun­ terte die Träger zur letzten Anstrengung auf. Meine vielen unverwundeten Begleiter, die sich im Walde an­ geschlossen hatten, verkrümelten sich langsam, ihre Regi­ menter aufsuchend. Endlich sah ich Licht. Nicht lange dauerte es und durch eine schöne Allee, an der rechts und links tod­ müde Soldaten ohne Feuer biwakierten, kam ich an ein Schloßtor. Es wurde nach Anpochen sofort geöff­ net, und ich trat auf einen mittelalterlichen Burghof, erleuchtet von einigen Fackeln. Welche Enttäuschung! Ich hatte gehofft, Arzte und ein etabliertes Feldlazarett zu finden. Nichts von alledem, kein Arzt war vorhan­ den. In den Zimmern lagen die Verwundeten so eng und dicht nebeneinander, daß man kaum die Tür öffnen konnte. Auch auf dem Hofe, ohne Stroh und ohne Mäntel, todmüde und todeswund, zitternd vor Kälte und jammernd nach Wasser, lag dicht nebeneinander Soldat bei Soldat. Es taute stark und war sehr kalt. Auch das Gewächshaus war vollgestopft. Ich fand aber hier noch Platz für meine Verwundeten, nachdem zwei Tote an den Beinen herausgezogen waren. Sie blieben auf dem Hofe, alle vier Glieder von sich gestreckt, liegen. Der Hausherr kam mit zwei Töchtern. Er war schreck­ lich aufgeregt, aber sehr freundlich zu den Verwun-

beten. Lebensmittel habe er absolut nicht mehr, was ihm gern zu glauben war. Plötzlich kam durch das Tor ein Ulanenoffizier, ohne Tschako, ohne Säbel. Er erzählte, er sei bei der Attacke gestürzt und gefangen. Verletzt sei er nicht. In der Dunkelheit sei er in den Wald entkommen. Seit drei Stunden suche er den Ausgang. Jetzt wolle er nur Ruhe, Ruhe und Wasser. Ich sagte dem Hausherrn, er müsse für den Herrn ein Lager schaffen, was auch sofort geschah. Ich ging wieder in das Schloß; wo ich noch etwas helfen konnte, half ich. Namentlich fand ich in einem Parterreraum Stroh, das ich auf dem Hofe an die Ver­ wundeten verteilte. Mittlerweile kamen auch schon leichtverwundete Hessen an. Alle waren notdürftig, doch vorläufig genügend, verbunden. Sie mußten sich auf dem Hofe aufs Stroh legen. Die Treppe des Haupt­ gebäudes befand sich in einem runden, in den Hof hineinragenden Turm. Um seinen Fuß herum, an ihn angelehnt, lagen dicht nebeneinander, fast aufeinander, Verwundete. Endlich, als ich sah, es war augenblicklich nichts zu tun, ging ich hinaus. Es war stockdunkel, Mitter­ nacht. Was hält der Mensch nicht in der Aufregung aus, mehr als achtzehn Stunden war ich ununterbrochen in Tätigkeit. Nun legte ich mich auf die blanke Erde, da ich es für ein Verbrechen hielt, mich in das Schloß zu legen, wo so viele arme Verwundete auch auf der bloßen Erde nächtigen mußten. Dicht neben mir lag ein verwundetes Pferd in Todeszuckungen. „Das Pferd tritt Sie," sagte mein Nachbar, an den ich mich frierend

drückte. Ich regte mich nicht, ich war zu müde. So strampelte das Pferd mit allen Vieren in der Luft herum. Nach und nach wurde es stiller, fiel auf die Seite und war tot. Ich schlief etwa zwei Stunden. Sobald es hell wurde, stand ich auf. Das Pferd hatte einen Schuß durch den Leib. Um mich herum lagen Reste vom 8. Regiment. Kein fröhliches Gesicht sah man. Alles war ernst und finster. Im Schlosse wurde der Jammer wieder lebendig. Man rief nach Ärzten. Da kam ein hessisches Feldlazarett an. Gott sei Dank 1 Die Arzte waren sehr liebenswürdig gegen mich und sehr erstaunt, mich hier als einzigen Arzt zu finden. Ich half noch zwei Stunden mit. Da ich seit zwei Tagen nichts gegessen hatte — das letzte waren die Mohrrüben von Chesny — bat ich um ein Stück Brot, und der hessische Major schenkte mir die Hälfte eines großen französischen Weißbrots. Jetzt marschierte auch unser Bataillon vorbei. Es hatte in der Nähe biwakiert. Auch mein Bursche kam mit dem Pferde. Ich zog den Mantel an, denn es war sehr kalt, setzte mich aufs Pferd und gab dem Stabs­ arzt die Hälfte meines Brotstückes. Es war wirklich ein erhebender Moment, als ich nach 36 Stunden! wieder in etwas Eßbares biß. Bald erreichten wir Gorze und warteten hier auf Befehl. Da kam die Kunde zu uns von den unge­ heuren Verlusten des ersten Bataillons. Aber die Hälfte war tot und verwundet. So viele gute Kameraden, so viele tüchtige Männer — ja, man konnte sagen: Die Besten waren gefallen. Ich ging nach Gorze hinein. Hier wimmelte es von

Truppen. Auf der Straße sah ich Langenbeck, den Ber­ liner Chirurgen. Ich stellte mich vor. Mit seiner all­ bekannten Liebenswürdigkeit und wohlwollenden Höf­ lichkeit dankte er, entließ mich aber wieder zu meinem Bataillon, da er Arzte mehr als genug zur Verfügung habe. Es war in Gorze mit preußischer Schnelligkeit Ordnung gemacht. An jedem Hause — denn jedes Haus war Lazarett — stand: Verwundete vom Regi­ ment Nr. 50 oder 30. Von verwundeten Offizieren war meist der Name an die Haustür angeschrieben. An den Ecken der Straßen waren Brettchen befestigt: Moltkestraße, Friedrich-Karl-Straße usw. Zu haben war wenig. Ein Bäcker brachte einen großen Korb voll frisches Weißbrot. Ich kaufte für zwei Taler zwei große runde Weißbrote, die ich an die Kompagnie verteilte. Dann marschierten wir den Berg hinan zu den andern zwei Bataillonen, die auf einem freien Platz hinter den Weinbergen vor dem Walde rechts vom Wege sich be­ fanden. Auch das 40. Regiment lag hier. Links war ein Lazarett etabliert. Um die arbeitenden Arzte herum lagen, teils auf der Erde, teils auf Stroh, teils auf Bahren, eine Unzahl Verwundete. Auch schon Ge­ storbene lagen dazwischen. Eben verband man einen am Unterschenkel Amputierten. Neben ihm lag sein Fuß, eine schmutzige, blutige, formlose Masse, noch von Stiefelfetzen bedeckt. Ich meldete mich und bat, mir irgendeine Arbeit zuzuweisen. Die bestand darin, daß ich leicht Perwundete verband, transportfähig machte und beim Ausladen auf die Wagen hob, stützte und half. Ein Musketier unseres Regiments hatte durch eine Kugel sechs Löcher erhalten. Die Kugel

hatte erst die Weichteile eines Arms durchbohrt, dann die Brust oberhalb der Rippen und dann den andern Arm. Er war zwar hilflos, befand sich aber ganz gut. Nur war er entrüstet, als ich ihm sagte, er habe rechtes Glück gehabt. Ein richtiger Sachse, sagte er: „Na, das heest, sechs Löcher uf eemal, und das nennen Sie ooch noch Glück!" Als ich ihm aber auseinander­ setzte, daß, wenn die Kugel einen Zentimeter weiter gefaßt hätte, beide Armknochen und der Brustkasten zerschmettert wären, begriff er das „Glück". Ms Mittag machte ich mich nützlich, dann suchte ich die Fleischtöpfe meines Bataillons auf. Es gab wieder einmal Kartoffeln und Speck, aber auch Wein und Zigarren waren geliefert. Nachmittags, bis zum Abend, schlief ich. Am Abend brachte ein Offizier zwei Feldkessel mit schwerem, guten Rotwein, „frisch vom Faß". Wir setzten uns um ein Feuer und aßen mühe­ voll altes Kommißbrot zum Wein. Auch Offiziere vom ersten und Füsilierbataillon setzten sich zu uns. Sie schimpften, daß das zweite Bataillon nichts ausgerich­ tet, sondern nach dem ersten Anlauf sich im Walde zerstreut hätte. Ein geschlossener Vorstoß auf die Flanke der Franzosen wäre gewiß geeignet gewesen, den an­ deren Bataillonen Luft zu machen. Statt dessen habe niemand etwas vom 2. Bataillon gesehen. Das war wohl richtig, aber höchst wahrscheinlich hätten es die andern auch nicht besser gemacht. Im dichten Wald geht bald die Führung verloren. Unser Hauptmann Kraewell von der 8. Kompagnie verlebte seinen letzten Abend. Er war merkwürdig weich gestimmt, scherzte nicht, wie sonst, und riet, beim Streit

doch alles Kleinliche beiseite zu lassen. Wir sollten alle treu kameradschaftlich zusammenhalten und nach Kräften fröhlich sein. Es war ein trauriger Abend. Leutnant Zähle und Dizefeldwebel Helemann, mit denen ich so fest und treu als guter Zeltkamerad zusammen­ gehalten hatte, waren zum 1. Bataillon versetzt. So war es denn ein allgemeines, wehmütiges Abschied­ nehmen. Zuletzt schlief man doch ein und hoffte auf Ruhe am andern Tage. Denn da heute, am 17., die Fran­ zosen nicht angegriffen hatten, nahmen wir an, sie wären nach Metz hinabgezogen, hätten den Marsch nach Westen aufgegeben. Nun würde Metz belagert werden. Am andern Morgen, den 18. August, kam früh General Barnekow, der Divisionskommandeur, an. Die Bataillone traten an. Das sah freilich anders aus als beim Abmarsch von der Kartause. Das 1. Bataillon

war kaum stärker als eine Kompagnie, auch die andern Bataillone waren zusammengeschmolzen. Ich hörte nur stückweise Barnekows Rede: „Das Regiment hat sich ausgezeichnet," begann er — dann aber, als ob es ihm leid täte, etwas Gutes gesagt zu haben, kam eine Flut von Schimpfworten über Requirieren, Stehlen und Plündern. Zum 40. Regiment, vor dem ich zufällig stand, war er noch gröber: „Das Regiment ist stärker aus dem Gefecht gekommen als es hineingegangen ist. Sollten sich die braven Vierziger gedrückt haben, ich kann das nicht glauben." Natürlich war das Regiment stärker, nachdem die vielen Schlappen nach den heißen, langen Märschen und der schlechten Verpflegung erst nachts wieder sich eingestellt hatten. Dann wendete

er sich an einen Offizier. „Und Sie sind zwei Stun­ den auf dem Wege auf und ab gegangen, um Ihre Kompagnie zu suchen. Wenn es wieder ein Gefecht gibt, so rate ich Ihnen, nicht wieder zwei Stunden die Kompagnie zu suchen." So schimpfte er noch eine Zeit­ lang weiter. Auf die Soldaten machte das gar keinen Eindruck. Einer rief laut: „Boonecamp of Maag bitter“, worauf alles lachte. Wenn man bedenkt, daß unsere Brigade ohne Speise und Trank einen sonnenheißen, langen, beschwerlichen Marsch gemacht hatte, daß Dutzende der besten Soldaten völlig erschlafft am Wegrande liegen geblieben waren, daß sie dann noch drei bis vier Stunden im Feuer ge­ standen, also über zwölf Stunden in Marsch und Kampf hatten aushalten müssen, so hätten sie wohl etwas mehr Lob verdient. Tut der Soldat, was er kann, und wird er trotzdem getadelt, so macht auch das böses Blut. Während wir noch anhörten, wie wir herunter­ geputzt wurden, kam ein Adjutant int Galopp ange­ sprengt : „Marsch, vorwärts". Wir rückten durch den Wald vor, auf dem Wege, auf dem gestern das 1. Bataillon vorgegangen war. Hier sah es toll aus. Überall, wie gesät, lagen Helme, Gewehre, Tornister, Seitengewehre und Patronen­ taschen herum. Die Chausseegräben waren mit Toten angefüllt, die man, um den Weg marschfrei zu haben, auf die Seite geschafft hatte. Neben dem Weg, im Walde, waren kleine, verlassene, ausgebrannte Biwak­ feuer und -Plätze. Auch bezeichneten dünne Kreuze aus Asten, auf frischen Gräbern, wo schon Tote be­ graben waren.

Bald war der Wald zu Ende, das freit Feld lag vor uns. Hier sah es furchtbar aus. Wan konnte wahrhaftig sagen: hier lag Toter bei Toten. Reihen­ weise, wie sie ausgeschwärmt waren, lagen bit Schützen­ schwärme da. Dann wieder mitten im Felde zehn bis zwölf Soldaten um ein Granatenloch in der Erde, strahlenförmig hingestürzt. Weiterhin erhob sich das vollständig freie £e(b etwas. Niedere Hecken, die keine Deckung gewährt hatten, teil­ ten einzelne Stücke des Feldes ab. Links and rechts war eine Schlucht mit ziemlich steil abfallerden Rän­ dern. Auch in diesen Schluchten, die einm einiger­ maßen gedeckten Anmarsch ermöglichten, sah man viele Leichen. Auf der Höhe, links an der Stuße, stand ein kleines weißes Häuschen mit zwei Feistern. Es war dreimal genommen und dreimal wiede verlassen worden. Die Mauern und Fensterläden varen mit Kugelspuren dick besät. Vom Haus an und wn da an, wo die Preußen lagen, war das Feld zirä hundert Schritt leer. Dann aber kamen die toten Franzosen. Es waren Gardisten mit breiten weißen Litzm über der Brust. Viel große, schon ältere Männer. Um das Haus herum lagen wohl fünfzig. Dann nach rechts und links Leiche an Leiche. So weiterhin bis nach ^ezonville. Auch links, auf der Höhe von Vionville, ägen noch viele Tote. Dazwischen eine große Menge Pferde mit unmäßig dicken Bäuchen, die Beine nach obm gestreckt. Als ich einen kleinen Abhang hinabritt, sch ich einen toten preußischen Feldwebel, der eben mit »er rechten Hand nach seinem Degen griff. Er lag so ot dem fast senkrechten Abhange, daß er den Eindruck eims Stehen»

den, Lebenden machte. Drei Schritt vor ihm lag ein französischer Gardist mit geballten Händen. Zwischen beiden ein Granatloch von einer geplatzten Granate. Beide waren wohl durch Sprengstücke von demselben Geschoß getötet. Einer also von den eigenen Leuten. Auf dein Felde, namentlich auf der französischen Seite, sah man eine unzählige Menge von Granat­ löchern oder Granattrichtern in der Erde. Granatsplit­ ter, lange, dicke Mitrailleusenkugeln, Flintenkugeln, un­ geplatzte französische Granaten lagen massenhaft herum. Wir machten Halt. Es hieß, der König wolle uns besichtigen. Von rechts herüber tönten fortwährend einzelne Ge­ wehrschüsse, als wenn Vorposten sich herumschössen. Von einer Salve aber konnte man nicht reden. Es war 11 Uhr vormittags. Nach einer halben Stunde gings wieder querfeldein nach Gravelotte zu, durch einige tiefe Gründe. Rechts zog sich weit der Wald hin, in dem wir gestern gewesen waren. Auf einem Hügel lagen große Haufen von Mitrailleusenkartuschen. Hier hatte gestern eine große Batterie stundenlang ge­ feuert. Hinter der letzten Terrainerhöhung rechts von Gravelotte stellte sich die ganze Division Barnekow auf. Mittlerweile wurde das Feuern heftiger. Die Pio­ niere machten in den Abhang durch Einebnen Wege, auf denen mühsam die Artillerie die Höhen erklomm. Aber und vor uns, ungefähr hundert Schritt höher als wir standen, fuhr nun auch unsere Artillerie auf und griff sofort in das Gefecht ein. Binnen einer Viertelstunde wurde es eine Kanonade, wie wir sie noch nicht gehört hatten. Kleingewehrfeuer, Mitrail-

teufen und Kanonen machten einen betäubenden Lärm. Noch kamen nur spärlich französische Granaten bis zu uns. Die Franzosen schienen hier sehr wenig Artillerie zu haben. Weit hinter uns, an einem Bergesabhang, lagen die abgelegten Tornister einiger Regimenter. Da­ hin besonders schossen die Franzosen, und es sah drollig aus, wie die Tornister in der Luft herumsprangen. Sie wurden wohl in der Entfernung für Truppen gehalten. So warteten wir zwei bange Stunden. Vor uns zur Linken, an einer Chaussee, die rechtwinklig die Chaussee Gravelotte—Rezonville schnitt, tag ein großes Gebäude, auf dem man deutlich eine große weiße Fahne flattern sah. Es war ein französisches Lazarett. Wir sahen, wie plötzlich massenhaft Granaten in das Haus schlugen, man konnte auch deutlich an den Wölkchen in der Luft merken, daß sie von der französischen Seite kamen. Das Haus brannte ab. In ihm sollen viels französische Verwundete verbrannt sein. Endlich ertönte das Artilleriesignal: „3m Trab avan­ cieren". Diese Musik klang uns sehr lieblich. Sie war ein Beweis, daß es vorwärts ging, daß wir also im Vorteil waren. Die Kanonen schwiegen wohl eine Viertelstunde. Dann begann die heftige Kanonade aufs Neue. Nun kamen wir auch wieder vorwärts und hielten rechts von der Chaussee, neben den letzten Häusern von Gravelotte. In Gravelotte wehte von jedem Hause die weiße Fahne mit dem roten Kreuz. Ungefähr um 2 Uhr mittags bemerkten wir unabsehbare Truppen­ züge, die alle, hinter uns vorbei, nach Norden zogen.

Es war die Garde, und ihr nach zog das XII. Säch­ sische Armeekorps. Auch bei uns vorbei, durch Gravelotte hindurch, marschierten immer neue Regimenter. Die Offiziere begrüßten sich mit frohen Gesichtern. Die Soldaten riefen sich Mut zu. Dann kamen auf einem Felde hinter uns große Massen Kavallerie herangeritten. Sie marschierten auf. Ein prächtiger Anblick: die Masse von Reitern und glänzenden Kürassen, mit den vielen flatternden Ulanenfähnchen. Verwundete zogen fortwährend an uns vorbei nach rückwärts. Sie schienen ganz befriedigt, daß sie nun die Berechtigung hatten, dem Feuer fern zu sein. Fast jeder Verwundete hatte sich schnell aller Waffen ent­ äußert. Als ob sie die Pflicht und das Recht hätten, alles, was sie irgend beschwerte, fortzuwerfen, kamen sie ohne Gewehr, Patronentaschen und ohne Helm an. Stets wenn ein neues Regiment ins Gefecht ein­ trat, konnte man es hören. Ein furchtbares Geknatter des Kleingewehrfeuers begann. Auch von links her, wo nun wohl die Garde im Feuer war, tönte die hef­ tigste Kanonade. Wir konnten den Teil der Schlacht prächtig übersehen. Wohl eine Meile weit standen, in einem Halbkreise, die Kanonen auf den Höhen hinter uns. Sie unterhielten ein furchtbares Feuer, während wir auf feindlicher Seite keine Batterien bemerkten. Vor uns begrenzte den Blick ein lang sich hinstrecken­ der Wald. Man sah deutlich, wie die Franzosen immer wieder aus dem Walde hervorbrachen. Ja, man sah die Offiziere vorauseilen mit hoch erhobenem Säbel. Sobald die Franzosen wieder aus dem Walde herausFrltsch, 1870/71.

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kamen, verdoppelte sich das Granatfeuer über uns. Und schneller als sie aus dem Walde kamen, waren die Franzosen wieder in dem Walde verschwunden. Auch die Kavallerie links von uns ging einmal vor. Wir merkten aus der Schnelligkeit, mit der sie wieder zurückkam, daß wohl nichts ausgerichtet war. Verwundete Kürassiere, die zu Fuß zurückgingen und sich zu uns verlaufen hatten, erzählten, sie seien zu stark beschossen, auch sei das Feld uneben und un­ günstig gewesen, sie hätten nicht vorwärts kommen können. Da auf einmal kam von rechts her eine Schar Rei­ ter. Es war der König mit großem Gefolge. Er ritt im Galopp voran. Einige Schritt hinter ihm sah man eine Schar von wohl hundert Reitern in den verschie­ densten bunten, fremden Uniformen. Auf der höchsten Stelle des Berges machte der König einen Augenblick Halt, beobachtete und ließ sich von einem Offizier etwas berichten oder auseinandersetzen. Ein Reiter hinter ihm stürzte, nachdem das Pferd einen großen Satz gemacht hatte. Wir fürchteten schon, daß eine Granate eingeschlagen wäre. Dies war aber nicht der Fall. Der Reiter stand wieder auf. Nun, dachte ich, ist es vorbei. Es geht wie bei Königgrätz: „der König setzte sich an die Spitze der ver­ folgenden Reiterei, die Schlacht war gewonnen". Leider aber war dem nicht so. Ich beobachtete den König genau, bald sah man ihn wieder in die Gegend nach Rezonville zurückreiten. Von allen bejubelt und mit Hurra begrüßt. Ein von vielen begrüßter Zivilist war an uns heran»

getreten. Ein kleiner, sehr vergnügt aussehender Herr. Er stellte sich als Hans Wachenhusen, Berichterstatter, vor und schenkte uns aus einer riesigen Umhänge­ zigarrentasche sehr gute Zigarren. Alles mögliche wollte er wissen und machte sich fortwährend Notizen. Wir zählten sorgenvoll die Stunden, bis es Abend werden sollte. Große Lust, die Flintenkugeln wieder pfeifen zu hören, hatte wohl niemand. Da kam der Divisionsadjutant, und ich hörte, wie er den Befehl brachte: „das Regiment soll noch einen kleinen Vor­ stoß machen". Nun, das wußte man ja, was ein „kleiner Vorstoß" bedeutet. Zwischen den letzten Häusern von Gravelotte hindurch marschierten wir wieder auf die Chaussee. Gleich vor dem Dorfe befand sich eine tiefe Schlucht, die sich auf beiden Seiten sehr steil herabsenkte, und deren Rän­ der mit Laubwald dicht bedeckt waren. Quer durch die Schlucht führte die Landstraße auf einem Damme. Links oben sah man ein Gehöft: St. Hubert. Rechts und links auf der Seite von Gravelotte feuerten unsere Batterien. Kaum standen wir hier auf dem Damme, die Spitze des Regiments bei St. Hubert, als wir wieder Kehrt machen und in unsere alte Stellung abmarschieren muß­ ten. Es war 6 Uhr, und sehnsüchtig warteten wir auf das Eintreten der Dunkelheit. Da kam wieder der verhängnisvolle Adjutant, krähte den Obersten an, und wir mußten wieder vorwärts. Wir stellten uns jetzt auf der rechten Seite der Chaussee in langer Linie auf. Don hinten, über unsere Köpfe hinweg, flogen ununter­ brochen die preußischen Granaten. Obwohl wir alle 6*

ba3 wußten, duckten sich doch viele unwillkürlich, wenn mit scharfem Pfeifen die Geschosse über sie hinweg­ flogen. Als wir bei dem letzten Hause von Gravelotte vor­ beikamen, wurde mein Stabsarzt zum Generalarzt ge­ rufen, der in einer Tür stand. Er kam zurück und erzählte, der Generalarzt habe ihm gesagt, er solle doch im Haus bleiben, er könne ja helfen. Beim Bataillon, das eben ins Feuer marschierte, könne er doch nichts machen. Aber der tapfere Mann hatte geantwortet: „Ich verlasse mein Bataillon nicht." Er kam wieder und marschierte mit in den Kugelregen. Bor uns war ein wahnsinnig heftiges Geknatter von Kleingewehr und von Mitrailleusen. Um uns flogen von rechts her fortwährend die Kugeln. Dummerweise stand ich am linken Chausseerande. Während das rechts heranstehende Bataillon durch das sich erhebende Ge­ lände gut gedeckt war, fehlte links jede Deckung. Fort­ während schrien um mich herum Leute auf und wur­ den getroffen. Ununterbrochen pfiff es mir um die Ohren. Eben wollte ich einen Jäger verbinden, der, im Fleisch des Oberschenkels verwundet, zurückkam. Ich gab einem Lazarettgehilfen Scharpie und eine große Binde zum Halten, während ich die Wunde freilegte. Da, als ich eben die Binde nehmen wollte, pfiff es mir hell zischend an der Base vorbei, und es gab einen Klatsch. Der Lazarettgehilfe ließ die Binde fallen, fluchte und schlenkerte die durchschossene Hand in der Luft. Er hatte gerade mitten durch die Hand ein kleines Loch, das sich leicht und schnell verbinden ließ. So­ fort zog er ab nach hinten und machte ein ganz ver»

gnügtes Gesicht. In demselben Moment fühlte ich einen starken Schlag gegen das rechte Schienbein. Ich zuckte zusammen und faßte hin. Alles war unverletzt, selbst am Stiefel sah man nichts. Eine Kugel war in einen Haufen Chausseesteine geflogen und hatte wohl einen solchen Stein gegen mein Bein geworfen. Oder es war ein Streifschuß. Jedenfalls war ich völlig heil. Ich überlegte, ob ich nicht doch lieber auf die andere Seite der Chaussee, in eine gute Deckung, mich begeben sollte. Aber ich mußte mich dann zwischen die Soldaten hindurchdrängen. Und warum ich das tat, hätte natürlich jeder gewußt. Ich hatte Angst, daß mir die Soldaten etwas anhängen würden, und blieb lieber. Da bekam ich auf einmal einen starken Stoß von einem Soldaten in die Seite. Ich sah ein paar sich wild bäumende, galoppierende Pferde lose an eine Kanonen­ protze gespannt, die hin und her geschleudert wurde. Die Pferde, ohne Führer, rasten in die dichtgedrängten, auseinanderstürzenden Soldaten hinein. Zufällig warf ich einen Blick nach hinten. Ich erblickte gerade noch die Genfer Fahne auf meinem Medizin­ karren, stark hin und her schwankend. Der Karren machte Kehrt und verschwand in dem Chaos der vielen Sol­ daten. Plötzlich begann ein furchtbares Gewehrfeuer. Don St. Hubert her drängte eine aus vielen Regimentern gemischte Masse rückwärts auf den Damm. Ehe ich michs versah, war ich an den Rand und über den Rand geschoben und bekam noch ein paar Puffe. Eine Menge Soldaten kollerten die Dammböschung hinunter. Auch ich fiel hin und rollte nach unten. Aber mir Ge-

wehre, die klappernd aneinanderschlugen, Bajonette, Soldaten. Ich wußte gar nicht» wie mir geschah. Unten, auf der Wiese, raffte ich mich auf. Um mich standen viele Soldaten, die ebenso verblüfft waren und eben­ sowenig wußten, wie sie eigentlich herabgekommen waren. Oben auf der Chaussee war ein Höllenlärm: Schie­ ßen, Schreien, Rufen, Signale! Die Kanonen, die schon aufgehört hatten zu schießen, begannen wieder aufs Neue. Die Franzosen schienen anzugreifen und vor­ wärts zu kommen. Eine Mitrailleuse knarrte gar nicht allzuweit entfernt. Da ertönten Wehrufe und ich entdeckte einen Tunnel, einen Wasserdurchlaß unter dem Damme. In ihm lagerten und kauerten soviel Menschen, daß absolut keiner mehr hineinkonnte. Ich rief hinein: „Ist jemand noch nicht verbunden?" „Ich, ich," jammerten alle durcheinander, seit vier oder fünf Stunden lägen sie schon hier. Nun begann ich eine Reise ins Innere. Bald war mein Bindenvorrat zu Ende, und die Sol­ daten hatten keine Binden. Aus einem gewissen Aber­ glauben werfen ja viele die Binden weg. Fortwährend drängten auch Nichtverwundete nach in den sic^rn Tunnel. Mit Grobheit, Freundlichkeit, Schimpfen und Bitten warf ich alle Nichtverwundeten hinaus. Doch immer kamen neue. Es war ein entsetzliches Getümmel. Die Gesunden traten die Verwundeten auf die zer­ schossenen Glieder. Hier weinte, dort heulte einer laut; der bat um Wasser, jener fluchte. Einige wedelten immer am Tunneleingange mit einem weißen Tuche, weil sie glaubten, die Franzosen wären schon da.

In der Mitte des Tunnels lag ein durch den Leib geschossener Major, von Reinhard, vom 33. InfanterieRegiment. Draußen fand ich eine Bahre, auf die ich mit großer Mühe den Major legte. Nun wollte aber niemand anfassen und nach oben tragen, wegen der vielen Kugeln, die man pfeifen hörte. Oben auf der Chaussee war es stiller geworden. Die Unsrigen waren ohne Zweifel vorgedrungen. Auf ein­ mal wurde das Feuern wieder heftiger. Eine Mitrailleuse schnarrte ganz in der Nähe dazwischen. Der Major jammerte: „Um Gottes willen, nun werde ich auch noch gefangen." Eine Menge Soldaten kam wie­ der von oben herab. Ich beschwor sie wegzugehen. Mit lautem Geschrei drangen die Franzosen wieder vor. Ganze Regimenter von uns gingen links zurück. Auf der rechten Seite aber ging es mit Hurra! und mit Signalen vorwärts. Soviel ich sah, waren es Jäger. Aber noch einmal schienen die Franzosen an­ zugreifen und näher zu kommen. Doch kamen jetzt immer neue preußische Regimenter. Es war ein furchtbares Durcheinander und ein Feuer, stärker als am Anfang. Auf einmal ertönte das Signal: „Hahn in Ruh". Dazwischen blies und trommelte man wieder von an­ derer Stelle zum Vorrücken. Und so gingen hier Trup­ pen vor, dort zurück. Aber jedenfalls war sicher, daß die Franzosen endgültig zurückgedrängt waren. Trotz des Signals „Hahn in Ruh" schoß man wohl noch eine Stunde lang. Alles rief: nicht schießen, trotzdem knallte es fortwährend. Ich war wieder oben auf der Chaussee und hatte jetzt Soldaten gefunden, die zum Transport der Verwundeten in der Schlucht

bereit waren. Zunächst wurde der Major nach Gravelotte getragen. Ich blieb bei den Abriggebliebenen vom Bataillon. Wie völlig geistesabwesend die Leute in dieser Panik waren, sah ich hier deutlich. Ein Soldat hatte den Kolben des Zündnadelgewehres gegen den Oberschenkel gestemmt, lud und schoß direkt nach oben in den Himmel hinein. Der Major faßte das Gewehr und rief dem Mann zu: „Nicht schießen!" Der Soldat sagte: „Zu Befehl, Herr Oberstwachtmeister!" steckte aber ganz mechanisch wieder eine Patrone in die Kam­ mer und knallte weiter in den Himmel hinauf. Er wußte gar nicht, was er tat. Jetzt fand ich noch einen Soldaten, der am Weg­ rande saß. Er war durch den Hals geschossen, atmete schwer und krampfhaft. Fortwährend warf er große Blutmassen aus. Ich rief laut, alle Verwundeten, die gehen könnten, sollten sich mir anschließen. Als ein großer Trupp zusammen war und wir uns aufmach­ ten, um auf der Chaussee nach Gravelotte zu gehen, wurde von irgendwo auf unseren Trupp geschossen. Wer konnte, rief laut: „Nicht schießen, Preußen, Ver­ wundete." Es half aber wenig. Endlich, tief auf­ atmend, kam ich in Gravelotte an, jetzt gedeckt durch die Häuser. Hier schickte ich die Verwundeten in die Lazarette und bot mich wiederholt zur Mitarbeit an. Doch überall wurde ich von den Kollegen sehr grob abgewiesen. Wie höflich war dagegen Langenbeck ge­ wesen ! Es war fast ganz dunkel, alle Häuser waren voll­ gepfropft von Soldaten der verschiedensten Regimenter.

„Hierher 16. Division, hierher 72. Regiment, hier 69., hier 40.," rief es durcheinander, und so sammelten sich die Leute. Vorn wurde wieder geschossen. Da traf ich einen Offizier von der 8. Kompagnie, der mir die Schmerzenskunde brachte, daß unser so hochverehrter und geliebter Hauptmann Kraewell eben an seiner Seite durch die Brust geschossen, sofort tot umgefallen sei. Und vor wenigen Stunden noch hatten wir ganz vergnügt geplaudert. Er hatte mir eine riesengroße, importierte Zigarre geschenkt. Morgen wollte er neue aus dem Bagagewagen holen. Mit meinem Freunde Dr. Vogel, der auch unten am Tunnel war, hatte ich mich verabredet, immer dicht zusammen zu bleiben. Wir gingen zusammen rückwärts, einen Platz für die Nacht zu suchen, denn wir waren ohne Mäntel. Auf dem Felde ritten Ge­ neralstabsoffiziere umher und wiesen den Brigaden Stellungen an. Auch General Barnekow stand zu Fuß neben der Chaussee. Er sammelte schon nicht mehr nach Regimentern, sondern nach Divisionen. „Hier 16. Division, wozu gehören die Herren," rief er uns freundlich an. Ein Soldat neben mir sagte: „Donner­ wetter, Boonekamp ist höflich, dann steht die Sache schlecht". Es hatten sich noch zwei Offiziere zu uns gesellt, und nun gingen wir vier aus, um eine Unterkunft zu suchen, denn Mäntel hatten wir nicht. Wo unsere Pferde waren, wußten wir nicht. Wir fanden ein kleines Häuschen, schlugen ein Parterrefenster ein, hoben es aus und blickten in das dunkle Zimmer. Vor der ver­ schlossenen Haustür kochten sich zwei verlaufene Ar-

tilleristen Kaffee. Da sah ich auf einmal eine lange Gestalt wie betrunken herantaumeln. Es war ein Ar­ tillerieoffizier, ohne Helm, ohne Säbel. Er hatte einen Streifschuß über die Stirn hinweg, oder er war auf die Stirn gestürzt, die eine fast handtellergroße Hautab­ schürfung zeigte. Die Erschütterung schien dem Offizier das Bewußtsein genommen zu haben. Er wankte auf dem Felde hin und her; was er sagte, konnte man nicht verstehen. Ich übergab ihn den Artilleristen, die ihn zwischen sich legten, ihm Kaffee zu trinken gaben und ihn beruhigten. Dann krochen wir, einer nach dem andern, durch das Fenster in den finstern Raum. Wir steckten ein Streichholz an und fanden in der einen Ecke einen großen Haufen neuer Säcke, in der andern einen wohl sechs Fuß hohen Haufen Lumpen. Sn diesen wühlten wir uns, legten die Säcke auf uns, und nun, todmüde, geistig und körperlich völlig abgespannt, ver­ fiel ich bald in einen tiefen, traumlosen Schlaf. Von Zeit zu Zeit wachte ich frostschauernd auf, dann kroch ich noch tiefer in die Lumpen und zog neue Säcke über die Schultern. Am andern Morgen sahen wir in einem Garten einen Brunnen und erfrischten uns durch Waschen und Wassertrinken. Dann suchten wir das Regiment auf. Das erste, was ich sah, war mein Bursche mit dem Pferd. Er sah ganz verstört aus, das Pferd war matt, zitterte und ließ den Kopf tief hängen, als ob es hinstürzen wollte. Der Woilach und die Schabracke fehlten. Der Sattel, etwas verschoben, zerrissen, sodaß das Werch herausfiel, lag schief auf dem blanken Rükken. Aber Gott sei Dank hing am Sattel noch der

Mantel int Wachstuchfutteral, und vorn waren auch die Packtaschen noch vorhanden. Ich war so erfreut, daß ich dem Burschen gar keine Dorwürfe machte. Er war mit der andern Bagage durchgebrannt. 3m Galopp seien sie alle, als die Franzosen bei St. Hubert vor­ drangen, auf der Chaussee nach Westen ausgerissen. Wer weiß wie weit l Im Gedränge, beim Galopp habe er Decken und Schabracke verloren. Ich war nur froh, daß der Mantel gerettet war, und zog ihn gleich an, denn es war empfindlich kalt. Dann tränkten wir das verdurstete Pferd, und ich schickte den Burschen auf das Schlachtfeld, dahin, wo unzählige Pferde auf dem Rükken lagen. Er solle mir einen guten englischen Sattel, Woilachs und einen Sack Hafer suchen. Der Bursche war sehr bald wieder zurück. Ich warf den alten, zer­ rissenen Sattel fort, befestigte an dem neuen meine Packtaschen und hinten den Wachstuchüberzug, in dem ich noch eine gute Decke fand. Der Bursche brachte auch einen Sack Hafer und zwölf Hufeisen mit, die er von französischen Sätteln abgeschnitten hatte. Die französischen Kavalleristen trugen hinten, am Sattel angeschnallt, neue Hufeisen. Ich konnte sie sehr gut brauchen, denn alle vier Wochen mußte man immer das Pferd frisch beschlagen lassen. Und dann fehlte es stets an Hufeisen oder man mußte lange darauf warten. Es war jetzt große Ruhe. Nur links hinter uns ertönten fortwährend einzelne Schüsse. Ich ging ein­ mal hin, um zu sehen, was das bedeutete. Es war eine Menge verwundeter, hinkender Pferde zusammen­ getrieben. Ein unendlich trauriger Anblick, wie diese

Tiere auf drei Beinen heranhumpelten. Dann wurde ihnen alles Lederzeug abgenommen, ein Kavallerist setzte den Karabiner ans Ohr, ein Knall, und in dump­ fem Falle stürzte das Pferd hin. Gewiß mußte das sein. Aber voll Wehmut wendete ich mich ab. Das war nun der Lohn für die treuen Dienste. Man brachte auch immer noch Verwundete, oben vom Berge, jenseits der Gravelotter Schlucht. Sn dem Hohlweg sah es schlimm aus. Als wenn zehn Regi­ menter alle ihre Habseligkeiten weggeworfen hätten, so lag eine Unmasse der verschiedensten Ausrüstungs­ gegenstände umher. Krankenträgerkompagnien gingen vor und kamen zu­ rück. Sie hatten auch die Pflicht, von den Toten die Blechmarken von der Brust zu sammeln. Jeder Soldat trug auf der Brust eine Blechmarke mit kurzer Be­ zeichnung des Regiments und seiner Nummer der Stammrolle. Die Soldaten nannten das die Toten­ marken und warfen sie oft aus Aberglauben weg. Da nun auf der Brust auch das Geldbeutelchen getragen wurde, so meinten die Soldaten, die Krankenträger suchten nach dem Gelde. Deshalb hießen diese Leute die „Universalerben". Der Name wurde ihnen nachge­ rufen, da sie aber auch kein Wort schuldig blieben, gab es, wo sie auftauchten, ein Wortgefecht, bis die Offi­ ziere eingriffen. Prinz Adalbert kam mit seinem Adjutanten ange­ ritten. Zivilisten, Schlachtenbummler, wimmelten schon in Menge herum. Sn Wagen kamen ganze Scharen von Nonnen und Krankenpflegerinnen an. Auch viele Juden wirkten schon! Sie zogen den toten Pferden

das Fell ab, ein höchst widerlicher Anblick. Für mich gab es nirgends etwas zu tun. Wo man fragte, wo man sich auch anbot, wurde man mehr oder weniger unfreundlich und grob abgewiesen. So legte ich mich denn in die Sonne und schlief. Dabei wurde ich von Zeit zu Zeit für einen Toten gehalten. Ich hörte, wie eine Anzahl Offiziere vorbeiritt und einer sagte: „Da liegt auch ein toter Doktor." Ich sprang auf und rief: „Borläufig noch nicht." Vor mir lagen zwei Berge von Chassepotgewehren — häuserhoch. Und immer noch neue wurden mit großem Schwünge hinaufgeworfen. Kanonen und Mitrailleusen aber waren nicht erobert. Schließlich fanden wir uns zusammen, der Capitaine d'armes kochte Kaffee und brachte Kommißbrot, und wehmütig dachten wir an die vielen Gefallenen. Wie war das Regiment zusammengeschmolzen l Fast die Hälfte der Mannschaften fehlte. Der einzige übrig­ gebliebene Stabsoffizier kommandierte das Regiment, drei Hauptleute die Bataillone. Sämtliche Kompagnie­ führer waren Sekondeleutnants, und unter den zwölf noch vorhandenen nur vier Linienofsiziere. Gerade das aber war das Angenehme bei der Infanterie, daß das Offizierkorps so groß war. Wenn man einen Feldzug mitmachen muß oder will und man hat die Möglichkeit, sich die Truppe zu wählen, so sollte man stets zur Infanterie gehen. Bei der Infanterie sind von den fünfzig bis sechzig Offizieren die Hälfte Reserveoffiziere. Alle Stände: Gymnasiallehrer, Juristen, Kaufleute, Landwirte, Be­ amte sind vertreten. Man kann sich sympathische Men-

schen zum Umgang aussuchen. Kein Stand wiegt in unangenehmer Weise über. Die Berufsoffiziere ver­ tragen sich mit den Reserveoffizieren im eigensten Inter­ esse gut. Es ist oft ein Wettstreit, wer am meisten kameradschaftlich ist. Niemals habe ich einen Streit er­ lebt ; stets waren alle Offiziere bemüht, das Verhältnis so gut als möglich zu gestalten. So erklärte ein Hauptmann, der einen alten Vize­ feldwebel, im Frieden Bankier, wiederholt zur Dekora­ tion mit dem eisernen Kreuz vorgeschlagen hatte, daß er das Kreuz nicht eher tragen würde als sein tapferer, viel erprobter, pflichtgetreuer Vizefeldwebel. Da für die Mannschaften und niederen Chargen die Kreuze erst ziemlich spät eintrafen, so hat der Hauptmann tat­ sächlich monatelang sein Kreuz nicht getragen. Erst als der Dizefeldwebel dekoriert war, zeigte sich auch der Hauptmann mit der Auszeichnung. Die Landwehroffiziere bewiesen oft eine außerordent­ liche Pflichttreue. So bat mich ein nach den Schlach­ ten zum Kompagnieführer avancierter Landwehroffizier, ich möchte doch einmal sein Bein nachsehen. Er habe einen Streifschuß erhalten, der ihn jetzt viel mehr be­ lästige als zu Anfang. Ich fand an der Innenseite des rechten Oberschenkels eine Schußrinne von zirka acht Zentimeter Länge. Sie sah sehr unsauber und entzündet aus und war nur schlecht mit einem Taschen­ tuche verbunden. Als ich fragte, warum er sich nicht verwundet gemeldet habe, sagte der Landwehroffizier: „Ja, wenn ich Linienoffizier wäre, hätte ich es ge­ meldet, da hätte es bei der Karriere vielleicht ge­ nützt. Aber warum soll ich es melden? Wegen dieser

Kleinigkeit gehe ich nicht nach Zaus, in ein Lazarett erst recht nicht. In der frischen Luft wird es besser heilen, und da ich als Kompagnieführer Pferde habe, so komme ich vorwärts. Gehen freilich kann ich kaum". Die Stelle war eine sehr ungünstige. Binden rutsch­ ten stets, wenn der Patient nicht ruhig lag. Ich ver­ band dann früh und abends mit reichlicher Salbe und verpflasterte den Verband, als richtiger „Pflaster­ kasten", welchen schönen Namen uns die Soldaten gaben. Der olle und der junge Pflasterkasten waren der Stabsarzt und ich. Ich hörte es zuerst, als mein Pferd, das nicht stillstehen konnte, stets hin und her trippelte, da rief mein Bursche: „Verfluchter Pflasterkasten, kannst du nicht stillstehen", denn die Pferde trugen dieselben Namen wie die Reiter. Bei der Unruhe des Patienten dauerte es wochen­ lang, bis sich die Rinne völlig geschlossen hatte. Immer wieder rieb sich am Beinkleid die weiche Narbe auf,aber nach Hause ging der Herr nicht, weil ja so wenig Offiziere noch vorhanden wären. Die Infanterie hat im Feldzuge auch vieles ange­ nehmer und leichter. Kommt der Infanterist ins Quar­ tier, so ist er fertig; wird abmarschiert, so steht er in einer halben Stunde oder noch eher bereit. Dagegen hat der Kavallerist oder Artillerist noch stundenlang mit den Pferden zu tun. In einem Stall, wo sechs bis acht Pferde stehen, findet eine ganze Kompagnie Unterkunft! Wird alarmiert, so dauert das Satteln und Anspannen lange Zeit, während der Infanterist sofort bereit ist. Er kann querfeldein, durch Wald und auf Berge mar­ schieren, die Artillerie und Kavallerie ist an die großen

Straßen gebunden, so daß vom Feinde unerwartete Be­ wegungen gar nicht gemacht werden können. Wie oft warteten wir unendlich lange, bis die Kanonen fertig zum Abfahren waren! Kollegen von der Kavallerie, wo nur sehr wenig Reserveoffiziere eingezogen waren, klagten oft über die gesellschaftlichen Verhältnisse, die nicht entfernt so angenehm waren. Was die Gefahr anbelangt, so ist ja richtig, daß in der Schlacht die Genfer Binde nichts nützt. Schließ­ lich ist das bei der Kavallerie und Artillerie auch nicht anders. Man kann nur einmal sterben! Ist einem das bestimmt, so findet der Tod sein Opfer überall! Unser alter Feldwebel sagte: „Nur der Infanterist ist ein wirklicher Soldat, die Kavalleristen sind tzanswurschte und die Bombe sauft und ist grob!" Am 19. blieben wir bei Gravelotte. Man beschäf­ tigte sich damit, die Leichen der Menschen und Pferde zu begraben. Dazu waren auch Franzosen requiriert. Ich sah einen französischen Bauer, der einen dicken Percheronschimmel führte. An dem Sielzeug über den Leib waren Leinen befestigt, und diese Leinen hatte der Bauer um das Bein einer Leiche geschlungen. Nun trieb der Bauer den alten Schimmel an, die Leichen zu dem Massengrab für die französischen Leichen, zu großen Gruben, zu schleppen. 2m Trabe gings vor­ wärts) die Leichen wurden quer über die Chaussee, über die Chausseegräben und das unebene Gelände ge­ schleppt. Johlend, die Peitsche schwingend, das Pferd antreibend lief der Bauer nebenher. Es sah ganz scheußlich aus! Man hatte aber wohl bald diese

Methode der Leichenbeförderung verboten, denn später brachte man die Leichen auf Tragbahren oder an Hän­ den und Beinen getragen. Von jetzt an wurde jeden Abend der Zapfenstreich gespielt, der stets einen großen Eindruck auf mich machte. Sn dem schrillen Pfeifen und dem Trommeln liegt etwas eigentümlich Tapferes und Trotziges I Wenn die schwarzen Silhouetten der Soldaten in langen Rei­ hen vor der Musik standen, die Dunkelheit der Nacht sich über uns senkte» wenn die Millionen flimmernder Sterne am Firmament blinkten und glitzerten, wenn man rings um Metz die unzähligen Wachtfeuer wie die Lichter einer großen Stadt sah, wenn die Musik, sich immer wiederholend, aus der Ferne von andern Regimentern herüberklang, um dann mit dem Choral zu schließen, , so hatte dies stets etwas Ernstes, From­ mes, Feierliches und Erhebendes. Jetzt waren wir also ein Teil der Zernierungsarmee. Aber leider lagen wir nicht stets an derselben Stelle. Wenn auf Grund direkter Beobachtung ein Ausfall der Franzosen vermutet wurde, wenn die Franzosen ihre Lager verschoben hatten oder ein Spion eine Nachricht brachte, so wurde die Division näher aneinandergerückt, oder ein in Reserve stehendes Regiment wurde nach vorn verlegt. Es war also fast alle paar Tage, nachts­ öder tagsüber, ein Marsch nach anderem Gelände hin zu machen. Auch stellte das Regiment oft 500 ja 1000 Arbeiter, um durch Schützengräben, Verhaue, Schan­ zenbau für Batterien, Eingraben von Kanonen unsere Stellung zu verstärken. Durch die zwischen den Reser­ ven und den Vorposten liegenden Wälder waren KoKrltsch, 1870/71. 7

lonnenwege gehauen, oft im Zickzack, sodaß man sie von einer höheren Stelle nicht einsehen konnte. Jeden­ falls war hier auf dem linken Moselufer, im Westen von Metz, die Stellung so befestigt und der Durchbruch so erschwert, daß kaum ein Franzose durchgekommen wäre. Als wir einmal die Chaussee überschritten, brachte man ein gefangenes Bataillon Mobilgarde an. Ganz blau gekleidete, schmutzige, elend aussehende, kleine, schwache Leute. Marschierten sie zu langsam, so riefen die eskortierenden polnischen Landwehrleute: „Dalli, dalli, grande nation!“ Ich hörte von den Gefangenen zum erstenmal die Marseillaise singen und war er­ staunt, daß dieser Gesang gar nichts Begeisterndes, Aufreizendes, Mutmachendes hatte, sondern eigentlich eher traurig und melancholisch klang. Oder drückte sich in der Art und Weise, wie gesungen wurde, nur die Stimmung der Leute aus? Jedenfalls klang es wie ein Grabgesang. In späteren Jahren habe ich die Marseillaise öfter in Paris bei offiziellen Gelegenheiten, z. B. bei einem Feste, das der Minister gab, gehört. Da wurde sie von der Militärkapelle in so schnellem Tempo gespielt, daß durch die Schnelligkeit die Melodie sehr viel verlor. Vom 20. bis zum 26. August standen wir an gleicher Stelle, dicht hinter dem Bois de Genivaux. Die Laub­ hütten der Soldaten waren immer besser geworden, immer tiefer in die Erde gewühlt, sodaß sie jetzt vor Regen und Wind vollkommenen Schutz gewährten. Als ich eines Morgens an unserm Zelt vorbeiritt,

sank plötzlich der linke Vorderfuß des Pferdes tief ein, sodaß ich beinahe gestürzt wäre. Und als das Pferd das Bein wieder hervorzog, ragte ein Bein mit der roten Hose aus dem Loch heraus. Ein Franzose — vielleicht auch mehrere — waren zu flach begraben. Wir haben diesem Franzosen einen wunderschönen, großen Tumulus erbaut, zwei Meter hoch und wohl vier an der Basis im Durchmesser, sodaß der üble Geruch, der uns immer schon aufgefallen war, wenn wir vor dem Zelte saßen, nun verschwand. Die Erde entnahmen wir einem um unser Zelt gezogenen Graben, wodurch das Zelt sehr trocken wurde und bei Regen sehr geschützt war. Auf der höchsten Stelle vor Gravelotte, etwas weiter als St. Hubert, nach Metz zu, war ein wundervoller Blick auf Metz. Vor uns, gar nicht weit, auf steilem Berge das berühmte Fort St. Quentin. Dahinter, in der Tiefe, erblickte man die Stadt mit der alles über­ ragenden Kathedrale. Rings um Metz, zwischen den Forts, massenhaft Zelte der französischen Truppen. Hier, auf dem point du jour, sollte auch eine Schanze ge­ baut werden. Ich ritt einmal hin. Die Profile waren schon von den Pionieroffizieren gesteckt, und Arbeiter waren da. Aber es fehlte an Erde; der Grund und Boden bestand hier aus lauter kleinen Steinen. Sam­ melten sich zu viel Neugierige an, so schoß man voni Mont St. Quentin eine Granate herüber. Man be­ merkte das aber so zeitig, daß man sich an einen ge» schützten Ort drücken konnte. Dann prasselte die Granate in die Steine, die in großer Garbe in die Luft flogen. Schließlich hatten wir genug gesehen und ritten nach 7*

Haus. Ob es gelungen ist, hier eine Schanze zu bauen, weiß ich nicht. Am 26. August hieß es, die Franzosen wollten durchbrechen. Von einem guten Aussichtspunkt aus, auf der Höhe über St. Hubert, sah man die Franzosen in Unruhe. Sie marschierten in dem engen, ihnen ge­ bliebenen Raume hin und her, schlugen Zeltlager auf, brachen sie wieder ab und schossen auf die Vorposten. Das VII. Korps, auf unserm rechten Flügel, mar­ schierte deshalb zur Verstärkung der auf dem rechten Moselufer stehenden Truppen mehr rechts ab, und wir kamen nach Gravelotte. Als sich weiter nichts zutrug, kamen wir am 27. August zurück nach Amanvilliers. Am 28. bezogen wir nachmittags die Ferme la Folie. Es waren sehr enge Alarmquartiere. Die Wände waren wegen der eingeschlagenen Schießscharten nicht dicht, aber man lag doch im Trocknen l In allen Zimmern lag massenhaft Stroh. Als wir näher hinsahen, waren es Garben noch ungedroschenen Weizens. Die lagernden und gehenden Soldaten hatten das Getreide ausgedroschen, und die Weizenkörner bedeckten in dichter Schicht den Boden. So verwüstet der Krieg alles, wo er hinkommt. Hier kam der neue Oberst von Schönholz. Es ging ihm der Ruf voraus, er sei der größte Exerziermeister im IV. Korps. Er wurde nicht mit großer Wärme empfangen. Sein Vorgänger, der bis jetzt komman­ dierende Major Einecke, war bei den Offizieren und bei den Mannschaften ungemein beliebt. Er war wohl­ wollend und auf die Offiziere sehr einflußreich. Unter ihm herrschte ein ausgezeichneter kameradschaftlicher

Geist. Er hatte das Bataillon am 16. und das Regi­ ment am 18. August in der Schlacht geführt, also alle Gefahren mitgemacht. Seine Soldaten hatten ihn als tapferen Mann vielfach gesehen. Was Wunder, daß man ihn allgemein bedauerte, weil er einen Vorge­ setzten bekam, dem kein guter Ruf vorausging. Der neue Oberst war auch nicht geschickt. Der erste Regimentsbefehl tadelte, daß die Soldaten ihre Seiten­ gewehre geschärft hatten und untersagte es. Das sei unerlaubt. Nun war doch ein scharfes Seitengewehr besser als ein stumpfes, sei es zum Abhauen von Bäu­ men, zum Spalten von Brennholz, sei es zum Beef­ steakklopfen oder als Waffe. Aber es war nun nicht mehr erlaubt, die Seitengewehre zu schärfen. Die Soldaten gaben ja jedem einen Spitznamen, um frei von jedem sprechen zu können. Der neue Oberst von Schönholz bekam einen sehr wenig schönen, nach einer andern drastischen tzolzsorte. Die Soldaten nann­ ten ihn Sch—beerholz. Sobald er Herumritt, annon­ cierten ihn die Soldaten mit dem Rufe: „Es stinkt nach Sch—beerholz." Dagegen war gar nichts zu machen, man mußte es ignorieren. Wollte der Oberst das Regiment auf dem Marsche besichtigen, so ritt er meist im Chausseegraben im schnel­ len Trabe vorbei. Nun ist ja bekannt, daß sich einer marschierenden Truppe gern die Dorfhunde anschließen. Teils gelockt, teils auch ungelockt laufen sie mit der mar­ schierenden Truppe mit. Dies war auch bei uns der Fall. Und als der Oberst wieder einmal im Chaussee­ graben ritt, kamen dem Pferd ein paar Hunde zwischen die Vorderbeine. Es bäumte sich hoch auf, schlug mit den

Hufen nach den Hunden, und der Herr Oberst lag tm Chausseegraben. Die Soldaten fingen an zu lachen, und es kam ein Regimentsbefehl, daß alle Hunde ab­ zuschaffen seien. Das nützte natürlich gar nichts, denn immer neue kamen hinzu. Mit meinem Stabsarzt hatte der Oberst schon am zweiten Tage Streit, der zur Folge hatte, daß wir Arzte stets von ihm etwas schnöde behandelt wurden. Er redete den Stabsarzt an: „Euch Doktors will ich auch mal sehen." Worauf der Stabsarzt sagte: „Entschul­ digen Herr Oberst. Ich bin der Stabsarzt Alker, dies ist der Feldassistenzarzt Fritsch, Ihre Doktors aber sind wir nicht." Nun, das klärte dann gleich von Anfang an die Situation! Leider blieben wir nicht lange in Amanvilliers unter Dach, sondern wir bezogen Biwak in der Nähe von Montigny. Am 29. regnete es ununterbrochen; am 30. und 31. war gutes Wetter, sodaß unsere Sachen wieder trockneten. Am 31. waren das II. und III. Korps, die vor einiger Zeit in der Richtung nach Sedan ge­ zogen waren, wieder bei der Zernierungsarmee einge­ troffen. Jetzt geschah der große Ausfall der Franzosen, der zur Schlacht von Noisseville führte. Nachts 2 Uhr, am 1. September, wurden die Wagen bespannt, die Pferde gesattelt und alles zum Abmarsch bereitgemacht. Die Franzosen hatten mit Vorliebe stets die Landwehr, die sie an den Tschakos erkannten, angegriffen, weil sie diese für kriegsuntüchtiger als die Linie hielten. Da kamen sie aber einmal sehr schlecht an, als sie ein Iägerbataillon für Landwehr hielten. Das VII. Korps war wieder nach rechts geschoben.

und wir nahmen zum Teil seine Stellung ein. Nachts lagen wir, zu spät angekommen, um noch Hütten zu bauen, bei Ars im Moseltal im Regen. Früh kam das 2. Bataillon nach Vaux, oben auf den Berg gegenüber von Mont St. Quentin. Um Metz war jetzt eine zweite Festung entstanden. Geschützbänke, Schützengräben, int Zickzack aufgeworfene tiefe Furchen in Etagen über­ einander, dichte Verhaue und Schanzen! Man konnte sich sagen: hier kommt keiner durch! Es war hier eine sehr anmutige, herrliche Gegend. Auch Industrie gab es in Ars, mit öden Arbeiterwohnungen, die jetzt von uns belegt waren. Der Weg nach Vaux wand sich durch Weinberge, vom Mont St. Quentin aus überall zu sehen, um einen Berg herum nach einer Waldspihe, wo wir noch Sol­ daten vom VII. Korps trafen, die nur darauf warteten» abgelöst zu werden. Es war ein aufregender Marsch, auf dem wir nach dem französischen Fort hin völlig ungedeckt waren. Wir sahen deutlich die Franzosen in den großen Schieß­ scharten des Forts hin und her springen und uns be­ obachten. Jede Minute warteten wir auf eine Granate vom Fort; man konnte vom Fort aus nach uns wie nach der Scheibe schießen. In den Weinbergen war keine Deckung, man konnte sich nicht verstecken. Auch unser Major war erregt und sah sorgenvoll nach dem Fort hinüber. Deckung gab es auf dem Bergabhange nicht. Das Bataillon machte einen Augenblick Halt, um die Kompagnien auseinanderzuziehen und auf ver» schiedene Stellen zu verteilen. Da latschte auf einmal in schlechtester Laune mit

dem stets mißvergnügten Gesicht, schlaff und Müdigkeit markierend, unser Fähnrich als Nachzügler heran. Er sah den Major, der vom Pferde abgestiegen war, nicht und sagte, ohne einen Morgengruß zu bieten: „Es ist ein Skandal, nicht einmal Kaffee habe ich heute be­ kommen." Der Major drehte sich wütend um: „Was, Sie wollen Soldat werden und beklagen sich wie ein Kind, daß Sie keinen Kaffee hatten! Keiner von uns hat einen Bissen gefrühstückt. Sehen Sie dort die fran­ zösischen Kanonen? In jedem Moment kann eine Gra­ nate zwischen uns sitzen, und Sie schreien nach Kaffee!" So ging es noch eine Zeit weiter. Der arme Fähnrich wurde sehr madig gemacht. Er kam dann zu mir, schüttelte mit dem Kopfe und hatte absolut nicht be­ griffen, was man ihm eigentlich zum Vorwurf machte. Dieser Fähnrich sah sehr wenig militärisch, sondern stets blaß und elend aus. Er war aber auch ein Muster von Unverstand. Drei Tage vorher kam er zu mir, blaß und krank mit Brechdurchfall. Und als ich fragte» was er gegessen habe, erzählte er, der Marketender habe nur noch einen holländischen Backsteinkäse gehabt. Den habe er für einen Taler gekauft und in einer Sitzung aufgegessen. Man stelle sich vor: einen halbverfaulten, großen Limburger Käse in einer Sitzung» in 2 Minuten, ohne irgendeine Zuspeise aufzuessen! Und dann wun­ derte er sich noch, wenn er Magenschmerzen bekam. Das konnte ich seinem Vater, der um Bericht bat, gar nicht schreiben. Die 8. Kompagnie kam oben auf die Bergspitze. Unten bei Ars sahen wir eine Truppe, meist Kavalle­ risten, von Metz her nrarschieren. Es waren 730 preu-

ßische Gefangene, die von den Franzosen entlassen waren, weil das Essen in Metz knapp wurde. Auf der Bergspitze befanden sich, hinter einer Gruppe von Fichten, die man hatte stehen lassen, mehrere wun­ dervolle mit Stroh austapezierte dichte Hütten, sodaß wir eine gleich beziehen konnten. Ein Soldat von den Abziehenden zeigte mir am steilen Abhange des Berges eine große Plantage von Mirabellenbäumchen. Die massenhaften Früchte waren gerade reif. Er erzählte, man könne ganz ruhig hinuntergehen und Mirabellen sammeln. Aber allein; auf einen einzelnen Mann schössen die Franzosen nicht. Kämen aber mehrere auf einmal, so würde mit Kanonen geschossen. Dies er­ probte ich auch und brachte die Mühe voll Mirabellen nach oben. Wir faßten den kühnen Entschluß, Kloß mit Mirabellen zu kochen, da wir Mehl geliefert bekamen. Allein das mißlang, der Kloß war nur ein zäher, un­ genießbarer Kleister. Wir mußten deshalb schimmeliges Kommißbrot zu den Mirabellen essen. Leider blieben wir an dieser landschaftlich wunder­ vollen Stelle nur diesen einen Tag und marschierten, da die Schlacht bei Noisseville vorüber und die Fran­ zosen wieder nach Metz hineingeworfen waren, wieder an unsern alten Biwaksort hinter dem bois de Genivaux. Das VII. Korps kam wieder anmarschiert und bezog seine frühere Stellung. Bei diesem Hin- und tzermarschieren arbeitete natürlich die Post schlecht, wir litten unter Mangel von Zeitungen und hungerten oft geradezu auf etwas Gedrucktes. Meine eigene Verpflegung hatte ich jetzt so geregelt: früh brachte mein Bursche, wenn er mit dem Pferde

von der Tränke kam, einen Feldkessel voll Wasser. Dies war sehr trübe, Grashalme schwammen darin und Fettaugen darauf. Die Hälfte wurde zum Waschen verbraucht, die andere Hälfte zum Teekochen. Hatte der Bursche einmal wenig Wasser, so unterblieb das Waschen. Einmal konnte ich mich vier Tage lang nicht waschen, nur ein Glas blieb übrig zum Zähneputzen. Das Wasser entstammte einem der Wasserlöcher, die in der Wiese, möglichst von Gräbern entfernt, von Pionieren ausge­ stochen waren. Wer spät kam, fand nur trübes Wasser, da der Bedarf wegen der Pferde sehr groß war. Als ich tagelang kein Wasser zum Waschen hatte, beschloß ich, einmal in Gorze eine Generalwäsche zu halten. Ich ritt gleich nach dem Frühstück nach Gorze und kaufte mir daselbst Seife, ein großes Stück Baum­ wollzeug zum Abtrocknen, neue wollene Unterkleider, die ich merkwürdigerweise hier gut bekam. Dann blickte ich in alle Tore hinein und fand endlich, was ich suchte, einen großen Hof, in der Mitte einen Brunnen ntü fließendem Wasser. Ringsum waren Ställe voll Ar­ tilleriepferde. Ein gutes Trinkgeld bereitete auch mei­ nem Pferde eine freundliche Aufnahme und ein gutes Frühstück bei den Artilleristen. Ich selbst entkleidete mich, reinigte mich vollkom­ men und wechselte die Wäsche. Dabei bemerkte ich, daß viele Leute aus dem Fenster teilnahmsvoll zu­ sahen. Das war mir gleichgültig. Ich mußte an meinen Vater denken, dessen frühzeitigste Erinnerung war, daß nach der Schlacht bei Leipzig Kosaken auf dem Hofe vor dem elterlichen Haus geschlafen hatten, und daß ihre Toilette darin bestanden hätte, daß sie früh den

Kopf in einen Kübel voll Wasser steckten. So kam ich den Franzosen bei meiner ungenierten Toilette wohl auch etwas kosakisch vor. Ich suchte nun noch in Gorze „einzukaufen", hatte ich doch den Kameraden versprochen, allerhand mit­ zubringen. Allein es gab nichts, absolut nichts. Hätte sich hier ein Metzger etabliert, was hätte er für Ge­ schäfte machen können, so aber mußte ich mich begnügen, bei einem Bäcker ein frisches Weißbrot mitzunehmen. Schließlich schmeckte unser Kommißbrot immer noch besser als dies fade, strohige französische Weißbrot, das wir bloß genießbar fanden, wenn es ganz frisch war. Auch einen Luxemburger Viktualienhändler traf ich hier, der leider schon ausverkauft hatte. Diese Luxem­ burger waren vielfach als Spione tätig. Man hatte in Ars einen abgefaßt, der in einer gut verschlossenen Weinflasche Briefe und Nachrichten nach Metz schickte. Die Flasche wurde einfach in die Mosel geworfen und schwamm friedlich nach Metz. Als man dann große Netze in der Mosel anbrachte, fing man eine ganze Menge solcher Flaschen ab. Einmal eine solche, die unsere ganze Zernierungsstellung mit Angabe der Truppenzahl enthielt. Also ein hochwichtiges Dokument. Auch unterhalb Metz wurden im Netz derartige Flaschenposten aufgefangen. Man ließ hier der Be­ satzung von Thionville Nachrichten und Befehle zu­ kommen. Abrigens wird dies wohl bei Metz nicht die einzige Verbindung zwischen drinnen und draußen ge­ wesen sein. An jedem Morgen kochte ich mir einen halben Liter Tee, in den ich eine Handvoll Kakes tat. Kakes hatte

ich noch von dem französischen Lager bei Saarbrücken her massenhaft. Zucker gab es oft beim Marketender. Dann wurde ein Weinglas Kognak in den Tee ge­ schüttet, was ein sehr wohlschmeckendes und gesundes Frühstück gab. Der gelieferte Kaffee war scheußlich, scharf schmeckend, auch fehlte eine Kaffeemühle, mit der er hätte zerkleinert werden können. Mittags gab es jeden Tag Reissuppe mit zähem, ungenießbarem Rindfleisch. Dann noch Erbsen und Kartoffeln mit Speck. Die Kartoffeln oder Erbsen wurden gekocht, mit einem Holzspatel fein zerstampft, zum Schluß goß man ausgebratenen Speck darüber und rührte alles gehörig durcheinander. Gab es ein­ mal nichts, so aßen wir Kommißbrotrinden mit aus­ gebratenem Speckfett, das wir in leeren Patronen­ blechschachteln mitnahmen. Das Kommißbrot war stets verschimmelt. Oft war es eine große Arbeit, den Schim­ mel abzukrahen. Merkwürdigerweise saß er nicht außer­ halb, sondern inwendig, in den großen Zwischenräumen zwischen der Rinde und der Krume. Es war kein Wunder, daß viele, namentlich ältere Leute, bei der höchst mangelhaften Ernährung magen­ krank wurden. Auch die Soldaten erkrankten oft an ruhrartigen Durchfällen. Sie waren, wie unser Fähn­ rich, unverständig, verschlangen trotz aller Abmahnung rohe, unreife Weintrauben und tranken aus jeder Pfütze. Ich sah, daß Soldaten das in den Geleisen angesammelte Wasser ausschlürften. Die Verpflegung muß in einem künftigen großen Kriege entschieden besser werden, wenn man die Trup­ pen dauernd leistungsfähig erhalten will. Dies ist ja

schon der Fall durch die Einführung von Feldküchen. Freilich, das Ideal, daß dem Soldaten, wenn er das Biwak bezieht, das fertig gekochte, schmackhafte Essen präsentiert wird, ist vielleicht im Manöver zu erreichen, im Kriege aber, namentlich bei der Anhäufung von Truppen vor einer großen Schlacht, werden die Sol­ daten auch späterhin hungern. Es hatte am Nachmittag fürchterlich geregnet. Ein Gewitter mit Blitz und Donner zog über uns hin. Wir saßen zusammengekauert im Zelt. Mancher dicke Tropfen fand doch den Weg durch das Zeltdach und fiel auf uns. Plötzlich schien die Sonne wieder, die Wolken teilten sich, der Wind hörte abends auf. Ein großer Regenbogen zeigte sich über den Bergen vor Metz. Die untergehende Sonne im Westen vergoldete noch einmal die weiten Wälder. Da kam der Brigadeadjutant im Galopp. Die Bri­ gade formierte ein Karree. Unser Brigadegeneral, von Rex, sprengte in die Mitte. Er verlas mit laut­ schallender Stimme, sodaß es jeder verstand, die König­ liche Botschaft, die Siegesdepeschen von Sedan. Napo­ leon gefangen! Das ganze Heer gefangen! Unendlich viel Kanonen und Kriegsmaterial erobert! Der alte, weißhaarige Brigadegeneral hob sich als Silhouette von dem blutigroten» goldenen Abend­ himmel gegen den Horizont ab. Als die Sonnen­ scheibe langsam schwand, deutete der General auf sie hin und rief: „Sehet dort, wie im Westen blutigrot die Sonne untergeht, so ging auch der Glanz und die Sonne von Frankreich unter. Und wenn morgen im Osten in Deutschland die Sonne aufgehen wird, so be-

ginnt eine neue Zeit für unser Vaterland. Wie alle deutschen Stämme im Kriege Schulter an Schulter als treue deutsche Brüder gefochten und den Sieg errungen haben, so wird uns im Frieden bald ein einiges, deut­ sches Reich vereinen. Eine schöne, neue Zeit beginnt für unser heißgeliebtes, deutsches Vaterland. Die Blut­ periode in der Weltgeschichte, die mit dem Schaffst in Paris begann, erhält erst heute den Abschluß. Und einen Abschluß, den — das weiß Gott — Deutschland in Krieg und Frieden der Welt erkämpft hat." Es war ein erhabener, unvergeßlicher Augenblick! Tränen tiefster Bewegung traten in die Augen der harten Krieger. Wir drückten uns die Hände, dankbar gegen Gott. Und, fast wie selbstverständlich, wie nach der Schlacht bei Leuthen, erklang tausendstimmig das alte Lied: Nun danket alle Gott! Solche Augenblicke sind selten in unserem Erden­ leben. Wer sie aber erlebt, gesund an Leib und Seele, der muß Gott von ganzem Herzen dankbar sein, wie auch wir es waren und durch unsern Gesang be­ kundeten. Nun, sagten wir uns, beginnt eine neue Periode der Weltgeschichte, eine freie, nationale Kulturentwickelung nach ehrenvollem, tapfer erkämpftem Frieden! Der Jubel war unbeschreiblich, dachte doch jeder, nach vierzehn Tagen zu Haus zu sein. Diesen Siegen mußte doch der Frieden bald folgen. Es gab ja kein franzö­ sisches Heer. Daß wir noch vier Monate Krieg führen würden, dachte niemand. Wir wollten uns einen feierlichen Punsch brauen, hatten auch Kognak, aber Zucker war nicht aufzutreiben.

Da meinte jemand, in der Schokolade sei doch viel Zucker. Nehmen wir doch statt Zucker Schokolade. Und nun wurde ein höllisches Gebräu aus Schokolade, schlechtem Kognak und heißem Wasser fabriziert. Am andern Morgen war ich so elend, daß selbst die Revierkranken Mitleid mit mir hatten. Ich saß auf der Wagendeichsel, sagte ihnen, ich sei viel kränker als sie alle zusammen und schickte sie fort. Dann legte ich mich in unser Zelt. Am vierten blieben wir noch hier, aber am fünften ging es wieder einmal durch Gravelotte in das Tal der Mosel. Wir kamen so spät in der Nacht an, daß an das Aufschlagen des Zeltes nicht mehr zu denken war. Am andern Morgen rückten wir nach Augny, dem schönen Schloß des Bankiers Simon aus Metz. Das Schloß, ein weißes Gebäude, steht mitten in herrlichen Parkanlagen. In den Salons hingen die Wände voll schöner Bilder, alles war prachtvoll möbliert. Die schön­ sten Gardinen hingen an den Fenstern. Bronzestatu­ etten standen herum. Im Schlosse lag der Brigadestab. In den Wirtschafts- und Obstgärten war auch nicht eine Zwiebel, nicht eine Rübe mehr zu finden. Hier war gründlich aufgeräumt. In den Moselwiesen lag enorm viel Kavallerie. Bor ihr befanden sich Schanzen, Ver­ haue, Schützengräben. Bazaine sollte beabsichtigen, nach den vergeblichen Versuchen im Norden, nun im Süden und Westen, in dem breiten Moseltale, wo er die Truppen gut entwickeln konnte, durchzubrechen. Des­ halb sei hier viel Kavallerie versammelt. Hier war auch ein Haferdepot. Die Säcke, vielfach beregnet, lagen bergehoch. Sie sahen alle grün aus, weil der keimende

Hafer durch die Maschen der Säcke durchgewachsen war. Hinter uns, auf der Höhe von St. Blaise, war eine große Batterie mit schweren Geschützen erbaut. 3m Tale sah man noch den Rest der alten römischen Wasser­ leitung nach Metz: efeuumwachsene hohe Bogen. Am 7. September kamen vom „Schwamm", dem Ersatzbataillon, 600 Mann mit fünf Offizieren. Auch viele Leichtverwundete trafen allmählich wieder beim Regiment ein, sodaß die Verluste beinahe vollständig ersetzt waren. Abends marschierten wir wieder ab und bezogen seitlich von der Chaussee im Dunkeln ein Biwak. — Wan sagt: Gott schützt die Betrunkenen! Den Be­ weis erlebte ich heute! Als wir durch Ars marschierten, mußte das Bataillon einmal halten. Zufällig war eine Kneipe gerade da, wo unser Fähnrich stand. Er war schnell im Laden und hatte, wie er mir selbst erzählte, in zehn Minuten zwei Flaschen Rotwein ausgetrunken. Nun war er so betrunken, daß er kaum gehen konnte. 3ch ließ ihn meinen linken Steigbügel ergreifen, faßte ihn am Kragen, und so schleppte er sich wankend und schwankend weiter. Aber als wir die Chaussee über­ querten, machte mein Pferd einen Satz. Ich ließ los und der Fähnrich auch. Er war fort. 3ch konnte seinet­ wegen nicht zurückbleiben und hoffte, daß die nach uns Kommenden ihn mitbringen würden. Am andern Morgen war mein erster Gedanke, was ist aus dem Fähnrich geworden? Er war nicht bei der Kompagnie, nicht beim Bataillon. 3ch ging den Weg, den wir gekommen, zurück, um ihn zu suchen. Und richtig, da, wo ich über den Graben gesetzt war, lag

mein Fähnrich mit den Beinen im Chausseegraben, mit dem Oberkörper auf der Landstraße, fest schlafend und schnarchend. Nach uns waren mehrere Batterien hier auf der Chaussee im Trabe vorbeigerasselt. Man sah die tiefen Geleise der schweren Geschütze, kaum eine Handbreit von seinem Kopfe entfernt. Eine kleine Ver­ schiebung des Körpers, und er wäre überfahren und getötet worden. Er aber hatte ruhig den Schlaf des Gerechten geschlafen 1 Nur war er greulich mit Schmutz beworfen, sodaß man kaum die Farbe der Uniform durch den Schmutz erkennen konnte. Ja, Betrunkene haben Glück! Jetzt ging es wieder nach Augny. Ganz dicht vor Augny befand sich ein kleines französisches Fort, St. Privat. So nahe, daß die Franzosen auf Vorposten mit Chassepots in die Fenster von Augny schießen konn­ ten. Deshalb war es unmöglich, abends, bei Licht, in den Zimmern nach Metz zu sich aufzuhalten. Es wurde dann in die erleuchteten Fenster geschossen. Ich hatte ein sehr nettes Quartier in der Fermierwohnung hinter dem Schloß in einem kleinen Häuschen, wohl der Gärtneroder Kutscherbehausung. Hier war zur ebenen Erde eine hübsche Stube mit einem Tisch, ein paar Stühlen und einer Bettstelle. Hier war auch die ganze 8. Kompagnie in Scheunen gut untergekommen. Wir bekamen fünfzig Zigarren geliefert und einen halben, sehr guten Schin­ ken. Wir waren ungeheuer vergnügt. Vor einer Stunde noch auf dem nassen Felde, ohne Schutz vor Regen, und jetzt saßen wir auf Stühlen, trockneten unsere Sachen und sahen zu, wie der Regen auf die Steine des Hofes klatschte und sich die Bäume im tzerbststurme Fritsch, 1870/71. 8

bogen. Freilich lagen wir auf Vorposten. Die Soldaten mußten stets umgeschnallt haben, die Pferde standen gesattelt im Stalle. Die Franzosen schossen, sobald sich ein Soldat zeigte. Aber auf den Feldwachen wurde gut aufgepaßt. Verwundete gab es nicht. Mit dem „Schwamm" war auch ein junger Freiwilliger gekom­ men, der mir als erkrankt gemeldet wurde. Ich ging zu ihm hin und fand ihn bewußtlos, delirierend, mit hohem Fieber. Er kam gleich ins Lazarett und lag wochenlang am Typhus. Auch ein Feldzug! Auf der Feldwache war es ganz interessant. Die Posten hatten sich in einem tiefen, mit dicken Weiden besetzten Graben eingerichtet. Hinter den Weiden stehend, konnte man sehr gut beobachten. Man sah in dem Moseltale eine große Menge Pferde frei herum­ laufen. Ein gut deutsch sprechender Deserteur saß zwi­ schen den Soldaten und erzählte, er sei vierzehn Jahre in Algier gewesen. Die Pferde seien die schlechten Trainpferde, die man aus Metz weggejagt hätte, weil das Futter zu knapp wäre. Auch die Kavallerie wolle unbrauchbare Pferde fortjagen, insoweit man nicht chr Fleisch zur Verpflegung gebrauchte. In Metz bekämen die Truppen seit langer Zeit nur noch Pferdefleisch. Es seien dort 25000 Kranke und Verwundete. Während er noch erzählte, erschien zirka 200 Schritt vor uns, von der französischen Seite her, ein altes Weib, das mühsam an einem Stocke hin und her hinkte. Sie holte Kartoffeln heraus, tat sie in einen Korb und kümmerte sich gar nicht um uns. Endlich schoß ein Soldat nach ihr hin, aber absichtlich vorbei. Kaum knallte der Schuß, als das Bauernweib uns den Rücken

zudrehte und leichtfüßig davonsprang. Dabei hob sie die Röcke in die Höhe und zeigte uns den von roten Hosen bekleideten Hintern. Der verkleidete Soldat sprang schnell fort. Alles schoß hinterher, aber niemand traf. Ich kehrte in mein behagliches Quartier zurück. Da ich Decken genug hatte und mich doch nicht ausziehen konnte, so ließ es sich in der Stube gut aushalten, zu­ mal ein kleiner eiserner Ofen zum Kaffee- und Tee­ kochen vorhanden war. Am 7. nachmittags schickte ein mir befreundeter Offi­ zier zehn Flaschen Rotwein. Sein Bursche habe in einem Misthaufen ein großes Depot von Flaschen­ weinen entdeckt. Er müsse das natürlich melden, schicke aber vorher seinen Freunden ein paar Flaschen. Es war wundervoller alter Bordeaux — feinste Marke I Und dabei waren seit Monaten Hunderte und Tausende an dem Misthaufen vorbeigegangen, bis diesem Bur­ schen der regelrechte, schön viereckig erbaute Misthaufen aufgefallen war. Er kam ihm verdächtig vor, und als er ihn abräumte, fand er die Flaschen. Nach einer Stunde erhielt ich nochmals aus der allgemeinen Verteilung drei Flaschen. Ich schämte mich fast, sie anzunehmen. Ich saß höchst behaglich beim Wein, als die Tür auf­ ging und der neue, vom Ersatzbataillon gekommene Hauptmann eintrat. Als er mit steigendem Interesse ein paar Glas Wein getrunken und meinen Vorrat gesehen hatte, meinte er: „So einen Empfang laß ich mir gefallen. Das ist ja ein ganz vorzügliches Wein» chen." Wir freundeten uns bald an. Ich hatte einen guten Kameraden in ihm gewonnen. Er ritt oft mein Pferd, denn das große Pferd, das er von seinem Vor8*

ganzer geerbt hatte, war nicht musikalisch gebildet. Musik und aller Lärm waren ihm zuwider. Hieß es beim Ein­ marsch mitMusik in eine Ortschaft, „die Herren Hauptleute an die Tete", so fing das Pferd sogleich an zu tanzen und machte solche Kapriolen und Sätze, daß die ganze Um­ gebung in Unordnung gebracht wurde. Mein Pferd da­ gegen war nicht nervös. Ich glaube, wenn hinter ihm eine Kanone abgeschossen worden wäre, es hätte sich noch nicht einmal umgesehen. Und somit wechselten wir vor einem Einzug, auch bei einem Gefecht, oft die Pferde. Denn hinter dem Bataillon lief der musikscheue Gaul mit den andern wie ein Lamm. Somit hatte zwar nicht ich, aber mein Schlachtroß oft die Ehre, an der Spitze des Bataillons einzumarschieren! Es hieß, am Abend des 9. September sei große Be­ schießung von Wetz. Jede Kanone solle zwölf Schüsse abgeben. Wan wolle Bazaine gleichsam ins Gewissen reden; er solle unsere Wachsamkeit und die Menge unserer Kanonen sehen. Vielleicht entschlösse er sich eher zu kapitulieren, vielleicht glaube er auch, es sei Vor­ bereitung zu einem Sturm auf Metz und versuche in­ folgedessen einen Ausfall. Deshalb rückte die Infan­ terie aus und besetzte die Schützengräben bei den Vor­ posten. Dies war nun ein sehr zweifelhaftes Ver­ gnügen. 2n den Schützengräben stand mindestens einen halben Fuß hoch Wasser, in das die Soldaten hinein­ patschen mußten. Ich stellte mich an eine dicke Weide, gespannt, was da kommen würde. Die Franzosen fingen auch an zu schießen, man sah in den Forts die Kanonen aufblitzen. Doch wußte man nicht, wohin sie schossen. Jedenfalls fiel bei uns keine Granate ein.

Es regnete und war so stockfinster, daß man absolut nichts sehen konnte. Dies war wohl der Grund, wes­ halb auch bei uns sehr bald mit dem Schießen ein Ende gemacht wurde. Das Bataillon blieb noch eine Stunde lang im Regen stehen, dann begab sich alles zur Ruhe. Ich be­ zog mein nettes Stübchen, wo ich noch Feuer anmachte, um die Kleider zu trocknen. Es wurden auch noch ein paar Flaschen Rotwein erledigt. Die Verpflegung frei­ lich war mangelhaft: Kommißbrot mit Speckfett! Am andern Morgen wurde ich durch eine Ordonnanz von der Feldwache geweckt, die mir einen Kollegen in schrecklichem Zustande brachte. Der Kollege hatte keinen tzelm, keinen Säbel, keinen Mantel. Er sah aus, als wenn er in eine Pfütze gelegt und darin sechsmal umgedreht worden wäre. Gesicht, tzände und Kleidung voll dicker, halbnasser, halbtrockener Schmutzborken. Er habe sich verlaufen, erzählte er, sei zwischen die fran­ zösischen Vorposten gekommen, gefangen genommen worden und wieder entflohen. An der Ecke des Parkes habe er unsere Feldwache erblickt und sie gebeten, ihn zu einem Arzt zu führen. Er stände bei einem Kaval­ lerieregiment, der Division, die im Moseltale lägen. Jetzt ahne er nicht, wo er sei. Ich konnte ihm leider Säbel und tzelm oder Mütze, die er gern gehabt hätte, nicht verschaffen. Aber er frühstückte bei mir. Der Bursche mußte seine Uniform möglichst säubern. Er wusch sich und ließ sich von mir auf der Karte zeigen, wo er gelandet war. Danach orientierte er sich schnell. Es war gar nicht weit zu seinem Regiment, das hinter dem Berge von grünen tzafersäcken im Biwak lag.

Er machte sich also bald auf und wir schieden. Erst nach Jahren erhielt ich die Aufklärung zu dieser wunder­ baren Geschichte! Es war in Halle, wo ich den Kollegen wiedersah. Bolkmann führte damals die moderne Listersche Wund­ behandlung in Deutschland ein. Zu ihm wallfahrteten viele ältere Arzte, namentlich Krankenhaus-Direktoren, die die moderne Behandlung in ihrer Technik kennen lernen wollten. Abends saßen dann die Herren gewöhn­ lich mit uns Assistenten zusammen. Wir besuchten stets dasselbe Stammlokal» weil wir stets in der Bähe der Kliniken und leicht zu finden sein mußten. Da kam auch ein Herr, der mich ansah, ich sah ihn wieder an, und er kam mir bekannt vor, doch ich wußte nicht, wohin ich ihn tun sollte. Beim Aufbruch gab er mir einen Wink; wir setzten uns noch zu einer Flasche Wein zusammen und er sagte: „Ich habe Sie gleich wiedererkannt. Erinnern Sie sich noch, daß vor Metz eines Morgens ein Assistenzarzt zu Ihnen kam, früh aus den Vorposten, entsetzlich beschmutzt? Das war ich. Und nun will ich Ihnen den Zusammenhang erzählen; ich spreche ungern davon, denn sehr ruhmreich ist die Geschichte nicht. Eigentlich schäme ich mich noch jetzt. Wir hatten eine große Bowle bereitet. Die Offi­ ziere des Kavallerieregiments und ich waren etwas an­ gebläut, und es wurde wieder einmal besprochen, warum eigentlich Bazaine nicht kapituliere. Ruhm zu ernten, Erfolge zu erzielen, mit einer kampffähigen Armee durch­ zubrechen, sei doch seit Sedan unmöglich. Da meint« jemand im Scherz: Man müßte es dem Manne einmal sagen pnd ihm höflich zureden. Dann täte er es gewiß.

Ein junger Leutnant, sehr stark bekneipt, erklärte sich bereit, nach Metz zu reiten und Bazaine den Standpunkt klar zu machen. Auf seine Frage, wer mitkäme, bot ich mich an. Wir ließen die Pferde satteln, die andern glaub­ ten natürlich, daß wir bloß einen Ulk vorhätten, und küm­ merten sich nicht weiter um uns. Wir gaben uns das Ehrenwort, daß Keiner, möge passieren was wolle, den andern verlassen dürfe, und dann ritten wir nach der Metzer Chaussee ab. An einer schmalen Lücke im Ver­ hau stand ein Posten. Er sah uns verwundert an, sagte aber nichts. Kaum fünf Minuten ritten wir, als ein französischer Doppelposten aus dem Wald über den Chausseegraben sprang und uns Halt zurief. Wir setzten ihm auseinander, daß wir nach Metz wollten, um dem Marschall Bazaine eine wichtige Nachricht zu überbringen. Man solle uns nur passieren lassen. Die zwei Franzosen handelten ganz korrekt, der eine trat etwas zurück, das Gewehr in Anschlag; er befahl uns zu warten. Den anderen schickte er zurück nach dem Repli. Ein Offizier erschien mit mehreren Sol­ daten. Nun wurde mit ihm unterhandelt. Plötzlich stieg das Pferd des Leutnants, machte kurz Kehrt und sauste im Galopp zurück. Mein Pferd hinter­ her. Schneller als ich es erzähle. Die Soldaten schossen nicht sofort; entweder waren sie zu sehr überrascht, oder der zwischen uns und ihnen stehende Offizier verdeckte uns. Aber nach etwa einer halben Minute begann ein wüstes Flintenfeuer. Rechts an der Chaussee war ein Wäldchen. Der Leutnant setzte über den Chausseegraben und war bald im deckenden Walde verschwunden. Mein Pferd sprang

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Bei Metz.

nach, aber ich, natürlich kein guter Reiter, purzelte beim Sprung über den Graben herunter und lag nun in der Lehmbrühe im Graben. Selbstverständlich blieb ich still liegen. Das Schießen hörte bald auf. Der Hufschlag der Pferde verklang in der Entfernung. Es war schon dunkle Nacht. Ich hörte noch, daß die Franzosen auf der Chaussee, bei mir vorbei, hin und her gingen, schwatzten, sich aber bald beruhigten. Als alles still war, kroch ich leise und langsam dem Walde zu. Mein Helm war nicht zu finden. Der lederne Riemen des Säbels war zerrissen, und der Säbel war fort. In den Wald gelangt, ging ich weiter, wußte aber nicht die Richtung. Von Zeit zu Zeit hörte ich Schritte, auch französische Zurufe der Patrouillen. Ich sah nun die bekannten Umrisse des Forts Queleu und orientierte mich darnach. Nun schlug ich die Richtung nach der Zernierungsarmee ein. Ich kam sehr langsam vorwärts, da ich, sobald ich Franzosen sah oder hörte, mich wieder in eine Ackerfurche oder hinter einen Strauch ver­ kroch. Endlich sah ich einige alte, schiefe und krumme Weiden und dazwischen Gestalten: Ihre Feldwache an der Ecke der Parkmauer. Die Musketiere waren über mein Aussehen sehr erstaunt, glaubten mir aber natür­ lich, daß ich als Gefangener den Franzosen ausgerissen sei und brachten mich auf meine Bitte zu Ihnen. Die Sache hatte aber noch ein Nachspiel. Als ich zum Regiment kam, schnauzte mich der Rittmeister — und gewiß mit Recht — gehörig an. Er würde die Sache melden, ein paar Monate Festung seien mir sicher. Eine so versoffene Geschichte sei noch gar nicht dagewesen. Daraus erlaubte ich mir zu erwidern, er habe ja recht

und möge tun, was er wolle. Ich behielte mir aber vor, in den Zeitungen zu berichten, daß der Leutnant trotz seines Ehrenwortes mich im Stiche gelassen hätte. Dies wirkte. Alle Mitwisser gelobten Schweigen, und nicht einmal der Regimentskommandeur hat erfahren, daß wir Metz zur Kapitulation auffordern wollten. Abrigens habe ich mich mit dem Leutnant wieder sehr gut vertragen. Er war durchaus unschuldig. Er hatte die Zügel ganz lose gehalten. Bei einer schnellen Armbewegung des französischen Offiziers sei das un­ ruhige Pferd erschreckt, habe gescheut und Kehrt ge­ macht und sei davongesprengt. Er habe erst die ent­ glittenen Zügel suchen müssen und sich deshalb nicht umsehen können. Auch habe er die Galoppsprünge meines Pferdes hinter sich gehört. Als er dann später das Pferd ohne Reiter gesehen habe, hätte er um so weniger etwas machen können, als er ja gar nicht gewußt hätte, wo ich läge, ob ich tot oder gefangen sei. So habe eigentlich ich ihn und nicht er mich ver­ lassen. Das Pferd hatte er mir gerettet. Ich mußte force majeur zugeben, und wir blieben die besten Freunde. „Diese Geschichte," so schloß er, „erzähle ich ungern, denn sehr ruhmreich ist sie wahrhaftig nicht. Aber Ihnen mußte ich doch Aufklärung bringen."

Zn Saarlouis. Am 10. September traf bei uns das 70. Regiment ein und löste uns von Vorposten ab. Wir marschierten zurück nach der Garnison Saarlouis, aber mit sehr ge­ mischten Gefühlen. Einerseits war es gewiß angenehm, in geordnete Verhältnisse zu kommen, heraus aus dem Schmutze fortwährenden Biwakierens. Andererseits kam es uns aber als eine Strafe vor, mitten im Kriege nach Preußen zurückgeschickt zu werden und, ehe der Krieg zu Ende war, in eine friedliche Garnison zu kommen. Drei linksrheinische Regimenter waren zu Beginn des Feldzuges nicht mobilisiert, resp, hatten die Re­ serven nicht übernommen. Man hatte wohl den Ge­ danken gehabt, daß die Franzosen viel schneller bei uns einbrechen würden. Deshalb waren die Reser­ visten vorläufig zurückgehalten, um nicht den Fran­ zosen in die Hände zu fallen. Da im IV. Armee­ korps einige Brigaden mit drei Regimentern sich be­ fanden, darunter auch unser Regiment Nr. 72, so waren wir, an die Stelle des Regiments 70, zum VIII. Korps verseht. Besonders angenehm ist es nicht, aus dem Ver­ band seines heimatlichen Korps herauszukommen. Lag

zwischen den vielen Schlappen mit blauen Achselklappen auch einer von unserm Regiment mit roten Achsel­ klappen, so fiel er gewiß auf. Auch ein näheres Ver­ hältnis mit den rheinischen Regimentern, die bei der Zernierung neben uns lagen, bildete sich nie heraus. Man begrüßte sich natürlich, aber kaum kam es vor, daß ein Wort gewechselt wurde. Die zwei Märsche nach Saarlouis vollendeten wir bei fortwährendem Regen. Vor der Festung wurden wir vom Kommandanten begrüßt. Es war dies der Oberst des Barres, der sich 1866 bei Langensalza so ausgezeichnet hatte. Von den Reden, die gehalten wurden, hörte ich hinter dem 2. Bataillon natürlich nichts. Als wir zum französischen Tore hineinrückten, blickte ich über die Bajonette hinweg und sah am Ende der Straße wieder ein Tor. Das war das deutsche. Saarlouis hatte nur zwei Tore, kam man in das eine herein, so sah man gleich durch das andere hinaus! Bekanntlich war Saarlouis infolge einer Wette ent­ standen. Louvois, der Kriegsminister Ludwig XIV., hatte mit seinem König gewettet, daß er binnen eines Jahres eine komplette, fertige Festung bauen, armieren und bevölkern könne. Er gewann die Wette. Nach Jahresfrist stand die Festung fix und fertig da. Nach damaliger Befestigungskunst, nach dem alten Schema, eine Musterfestung. Selbst eine großartige Inundation des Vorterrains war vorhanden. Die Festung lag in der Saarebene, das Gebirge so weit entfernt, daß die damaligen Geschütze von den Bergen aus die Festung nicht erreichten. Jetzt, im Kriegs­ zustände, waren noch eine Anzahl Vorwerke, Lünetten,

Schanzen und Verpallisadierungen an den zwei Toren hinzugekommen. Es heißt, Louvois habe damals alle zu den Galeeren verurteilten Soldaten als Bürger nach Saarlouis ge­ schickt. Ebensoviel Puellae publicae aus Paris und an­ deren Städten. So habe er innerhalb des Jahres Saar­ louis auch bevölkert. Jedenfalls war der kriegerische Geist in der Saar­ louiser Bevölkerung erblich. Fast in jedem Hause hing noch 1870 in der „guten Stube" ein großes Bild mit den Namen aller Offiziere, die Saarlouis der Armee Napoleons I. geliefert hatte. In der Mitte natürlich der Tapferste der Tapfern: Marschall Ney, und um ihn herum eine Anzahl Generäle, Colonels und niedere Offiziere — wohl 200. Auf dieses Bild, auf diese Vorfahren, waren die Bürger der Stadt ganz besonders stolz. Wer wollte ihnen das auch verdenken! Von irgendeiner preußischen Gesinnung oder von Patriotismus war gar nicht die Rede. Fünfundfünfzig Jahre war Saarlouis preußisch und genoß schon durch die Garnison viele Vorteile. Ungeachtet dessen galt Metz als „Hauptstadt". Die Töchter kamen dort in Pension. Alle Dinge, die man nur in einer Großstadt haben kann, wurden aus Metz bezogen. Viele Söhne angesehener Bürger dienten als Offiziere in der fran­ zösischen Armee. Mein erstes Ouartierbillett lautete auf „Witwe Puich, Weinhandlung". Das Lokal lag zur ebenen Erde, ein Zimmer, das sonst auch Kneipzimmer war, hatte man für mich mit einem Bett ausgestattet. Die Witwe, eine Spanierin, hatte zwei sehr hübsche Töchter, schwarz-

lockig, feurig, etwas korpulent. In diesem Lokal wurde allabendlich kräftig Hazard gespielt. Wenn nun nachts die Ronde kam, blies man die Lichter aus, und die ganze große Spielgesellschaft zog sich in mein Zimmer zurück. Ein einfaches und praktisches, aber für meine Nachtruhe gewiß nicht angenehmes Verfahren. Eines Nachts war ein Skandal, daß ich dachte, es müsse min­ destens nebenan einer totgeschlagen worden sein. Am andern Morgen kam ein Offizier zu mir und erzählte, ein Reservekavallerieoffizier, ein Ostpreuße, sei nach Saarlouis kommandiert, er habe abends hier gespielt und sei schließlich betrunken, unzurechnungsfähig und wütend geworden. Er habe den Säbel gezogen und den Ofen umgestürzt. Nur mit Mühe sei er überwältigt und zur Wache geschleppt worden. Jetzt, früh, sei er schon wieder fort nach Metz. Nun hätten sich alle Mitwisser das Wort gegeben, zu schwei­ gen, da ja die Sache sehr üble Folgen für alle haben könnte. Auch ich müsse also versprechen zu schweigen. Dies konnte ich um so eher tun, als ich ja nur den entsetzlichen Lärm gehört hatte, sonst aber nichts Näheres wußte. Jedenfalls reifte dieses Erlebnis meinen Entschluß auszuziehen. Ich ging nach der Kommandantur und setzte dem Adjutanten auseinander, daß in einem so stark belegten Lazarett wie in Kaserne VI, das mir an­ vertraut sei, wenigstens ein Arzt wohnen müsse. Ehe ich geholt wäre, könnten Verwundete verbluten. Abrigens sei das schon dagewesen. Es sei unerhört, daß wäh­ rend der ganzen Nacht nur ein Lazarettgehilfe zur Ver­ fügung stände. Es sei ja kein Vergnügen, in dieser

Dreckhöhle, diesem Typhusloch zu wohnen, allein ich hielte es für meine Pflicht. Der Adjutant war durchaus einverstanden, und ich bezog das „Frühstückzimmer" im Lazarett. Hier war nämlich früh, ehe die Visite anfing, großes Liebesgaben­ frühstück. Der Inspektor, einige Studenten und Lazarett­ gehilfen aßen hier Schinken, Würste und versetzten sich durch Portwein und Kognak in die nötige Stim­ mung. Es war mir unmöglich, an diesem Frühstück teilzunehmen. Es wurde ja niemandem, am wenigsten den Kranken etwas entzogen, denn Liebesgaben wur­ den überreichlich geliefert, aber ich hielt es doch unter meiner Würde, mich hier mit den Lazarettgehilfen usw. anzubiedern. Die Lebensmittel waren ja auch für Ver­ wundete und Kranke» nicht für die Pfleger geliefert. Außerdem hatte ich gar keine Zeit zu langem Früh­ stücken übrig, und das ganze Mileu erregte nicht meinen Appetit. Schließlich bekam einer nach dem andern vom Per­ sonal Typhus! Natürlich, denn von einer sorgfältigen Reinigung, geschweige denn Desinfektion der Geräte war gar nicht die Rede. Ich allein blieb stets gesund. Als ich nach drei Tagen abends kam, stand mein Koffer vor meiner Stube auf dem Korridor. Der In­ spektor kam und sagte: Es sei ein kranker Offizier ge­ kommen, dem habe er auf Befehl das Zimmer ein­ räumen müssen. Direkter Befehl der Kommandantur! Natürlich wollte man mich aus dem Lazarett los sein! Ich schlief nun diese Nacht auf dem Sofa bei meinem Stabsarzt, und am nächsten Tage gingen wir zur Kom­ mandantur. Aber auch dort hieß es, das Zimmer sei

mir nur in der Voraussetzung eingeräumt worden, daß es nicht anderweitig gebraucht würde. Das sei aber jetzt der Fall. Es sei in Kaserne VI kein Arztzimmer vor­ gesehen. Ein Ouartierbillett in einem Hause recht nahe an der Kaserne wurde mir übergeben. Ich lag nun bei einem Bürger im Quartier, der früher die Lieferungen für die Garnison besorgt hatte. Er trug das Band des roten Adlerordens IV. Klasse in allen Röcken, auch int schäbigen Hausrock — vielleicht auch int Nachthemd. Don diesem Herrn wurde folgen­ der Witz erzählt: Als Friedrich Wilhelm IV. das letztemal in Saarlouis war, stand auch der Lieferant bei der begrüßenden Bürgerdeputation. Der König habe auf den Orden gedeutet und gefragt: „Wohl Verdienste um den Staat?" „Majestät," habe jener geantwortet, „die letzten Jahre war nichts zu verdienen, die Kar­ toffeln waren zu teuer und faulten schon zu Weih­ nachten." Als ich eines Abends mit meinem Ouartiergeber zusammensaß, er wieder die Vorzüge der Franzosen pries und seinen Neffen bedauerte, der in Metz als französischer Offizier stand, sagte ich: „Jetzt heben Sie die Franzosen in den Himmel. Was hätten Sie aber gesagt, wenn da oben über Wallerfangen die franzö­ sischen Kanonen Saarlouis in Grund und Boden ge­ schossen hätten?" „Niemals", erwiderte er voll Ent­ rüstung, „hätten die Franzosen eine so französische Stadt wie Saarlouis bombardiert." Also fünfundfünfzig Jahre preußisch, und da war die Stadt in den Augen der alten Leute noch eine französische Stadt!

Ich ging einmal in Bonn mit einem Kollegen, einem echten, gemütlichen, heitern Rheinländer, am Rhein spa­ zieren. Gerade vor uns führte über den Rhein die neue, von der Stadt Bonn bezahlte Rheinbrücke. In Bonn hatte man lange Zeit ziemlich sicher gehofft, daß der Staat zu den Kosten der Brücke beitragen würde. Allein dies war nicht geschehen. Als wir die Brücke sahen, marschierte das Bonner Infanteriebataillon über die Brücke. Mein Kollege wies darauf hin und sagte: „Sehen Sie, so sind die Preußen, ihre Soldaten lassen sie über die Brücke marschieren, aber dazu bezahlen — das fällt ihnen gar nicht ein." Diesem eingefleischten Rheinländer waren die Preu­ ßen noch gleichsam eine fremde Ration, wie man ja auch am Rhein von den Einjährig-Freiwilligen sagt: Er dient bei den Preußen. Man muß sich deshalb nicht wundern, wenn man von dem langsamen Fortschreiten der deutschen Sym­ pathien in Elsaß-Lothringen hört. Da wird es auch nicht schneller gehen! Denn es kommt im Elsaß noch die fabelhafte Unkenntnis der deutschen Verhältnisse hinzu. Vielfach traf man im Elsaß auf die Meinung, daß das Land von einer tief unter ihm stehenden, jeden­ falls inferioren Rasse vergewaltigt würde. Freiheit, Gleichheit herrsche bei ihnen, in Preußen und in Deutschland herrsche nur der Stock und die Polizei. Wiederholt hörte man selbst bei Gebildeten die Meinung, daß in Deutschland die Prügelstrafe noch existtere. Von unserer Städteordnung, von der Dezen­ tralisation, der Selbstverwaltung, von unserem Steuer­ system, alles Einrichtungen, die zehnmal freiheitlicher

waren als die französische Präfekturwirtschaft, hatte nie­ mand in Frankreich eine Ahnung! Erzählte man da­ von, so schüttelten sie den Kopf, als wenn man Jagd­ geschichten vorbrächte. Auch im Elsaß wird es lange Zeit dauern, bis die Erkenntnis kommt und die Wahrheit durchbricht. Und zeigt dann die Regierung bei solcher Beschränktheit des Volkes noch Liebenswürdigkeit, Nachsicht und Ent­ gegenkommen gegen einzelne Personen, statt Gerechtig­ keit, Konsequenz und Strenge, so wird es noch länger dauern, da man dieses Verhalten so auslegen wird, als hätten wir das Gefühl der Schwächeren. Es ist eine alte Kriegsregel, die schon Friedrich der Große und Napoleon stets beobachtet haben, daß in einer Festung unmittelbar hinter der Front Kriegslazarette nicht angelegt werden dürfen. Dann könnten ja schließ­ lich, wenn nach einer verlorenen Schlacht die Festung belagert würde, tausende von Verwundeten da liegen, wo Platz für die Verteidiger nötig wäre. Krankheiten würden entstehen, die Verproviantierung wäre erschwert. So hatte man natürlich auch nicht in Aussicht genom­ men, in Saarlouis große Lazarette einzurichten, zu­ mal es in der Stadt an Lokalitäten für Lazarette durch­ aus fehlte. Die Kranken sollten prinzipiell weiter zu­ rück, jedenfalls auf das rechte Rheinufer „evakuiert" werden. Aber die Verhältnisse waren viel stärker als die Befehle! Saarlouis lag nun einmal in der Nähe der Schlachtorte, und so hatten wir Schwerverwundete noch vom 14. August und später her. Jetzt kamen auch solche von der Belagerung von Thionvilles. Brachte man sie im Leiterwagen an und war der Zustand ein schlechKrltsch, 1870/71. 9

ter, so mußte man wohl oder übel die Nichttransportabeln behalten. Auf diese Weise war es gekommen, daß zeitweise mehr als 2000 Kranke und Verwundete in Saarlouis lagen. Es war ein großes Glück, daß eine eigentliche Epidemie nie entstanden war. Die Typhus- und Ruhrerkrankungen stammten nicht aus Saarlouis, sondern von der Zernierungsarmee. Die Zivilbevölkerung blieb dauernd gesund, obwohl die Ver­ hältnisse gar nicht günstig lagen. Um Saarlouis herum war durch die Inundation, wenn auch längst wieder das Wasser abgeflossen war, eine große Feuchtigkeit und Nässe im Gelände zurückgeblieben. Für die Lazarettkranken war natürlich nicht vor­ gesorgt, da sie ja offiziell gar nicht da sein durf­ ten. Namentlich waren viel zu wenig Arzte vorhanden. Mir war Kaserne VI mit zirka 100 Betten zugewiesen, die allerdings nicht immer sämtlich belegt waren. Der Bau der Kaserne war eben fertig. Klosets z. B. waren nicht vorhanden. Dann war in der Stadt ein kleines Lazarett, wo ich auch die Verwundeten verband, dann das große Garnisonlazarett. Hier war Chef ein alter „Wundarzt erster Klasse", die es ja nicht mehr gibt. Er mußte den Posten des Chefs an unsern Stabs­ arzt Dr. Alker abgeben. Der alte Herr war ebenso ver­ nünftig wie liebenswürdig; er sagte, die Stelle sei ihm mit sehr guten Diäten angeboten worden, und er habe sie natürlich angenommen, jetzt aber — cedo majori. Nebenbei bemerkt sei, daß die einzige Badegelegen­ heit in Saarlouis sich in diesem Garnisonlazarett befand. Es war meist mit Ruhrkranken belegt. Am Bahnhof Fraulautern gab es noch ein Lazarett unter

Obhut von katholischen Schwestern. Wir legten dahin die Rekonvaleszenten, die wir nur ein- bis zweimal in der Woche sahen. Sn einem Dorfe in der Nähe hatte ein sehr reicher Fabrikant, der zwar preußischer Unter­ tan, sonst aber mehr Franzose war, ein kleines Lazarett eingerichtet. Man sagte, für französische Offiziere. Da es diese aber nicht gab, so hatte man nach den Siegen der Deutschen gute Miene zum bösen Spiel gemacht und die Einrichtungen preußischen verwundeten Offi­ zieren zur Verfügung gestellt. Auch hierher führte mich einigemal mein Beruf. Sn der Stadt war die höchste militärärztliche Per­ sönlichkeit der Garnisonarzt, ein schon recht alter Ober­ stabsarzt. Mit ihm war sehr gut auszukommen, nur mußte man von ihm nichts verlangen. Er hatte mit der Etappe, mit Krankenverteilung, Rapporten und aller­ hand Verwaltungsangelegenheiten soviel zu tun, daß er für die Krankenbehandlung vollkommen ausfiel. Dann zeigte sich manchmal ein früherer „Kompagniechirurgus", jetzt Assistenzarzt, der reaktiviert war und eine sehr schöne neue Uniform trug. Er war aber absolut taub, so daß man nur durch Stift und Schiefertafel mit ihm verkehren konnte. Dies war alles! Die Arzte des 70. Regiments, die in Kaserne VI tätig gewesen waren, marschierten schon vor vier Tagen ab. Und in dieser Zeit waren die Kran­ ken, wenn man von ein paar jungen Studenten und von wenigen Besuchen des Garnisonarztes absehen will, ganz ohne Arzt gewesen. Srgendwelche Aufzeichnungen, Krankengeschichten, ja die Tafeln über den Betten fehl­ ten. Selbst ein großer Teil der Lazarettgehilfen war 9*

mit dem 70. Regiment abgerückt. Der einzige Zurück­ bleibende war eigentlich nur der Inspektor. Er war auch mit Arbeit überhäuft, hatte Listen zu führen, Lebensmittel zu beschaffen, Rapporte zu erstatten, kurz, die größten Anforderungen mußten an seine Arbeits­ kraft gestellt werden. Sein Bureau bestand aus einem großen Schreibtisch und zwei Kaufleuten, die in Lazarett­ dieneruniform die Schreibereien besorgten. Eine große Anzahl der Verwundeten war hoff­ nungslos krank an Blutvergiftung. Sie konnten nicht mehr lange leben. Ein Schüttelfrost folgte dem andern. Nachblutungen beschleunigten den traurigen Ausgang. Dabei kein Arzt im Lazarett! Ich — früherer Assistenz­ arzt an einer Frauenklinik — ohne spezielle chirurgische Ausbildung, ganz allein auf mich angewiesen, erdrückt von der Verantwortung, ttostlos über die vielen ungün­ stigen Fälle, fand nicht einmal Diagnosen vor und mußte erst festzustellen suchen, was bei jedem vorlag. Typhus-, Ruhrkranke, schwer und leicht Verwundete lagen durch­ einander. Oft vermehrte sich in einer Nacht der Be­ stand um zehn bis zwanzig Kranke, da benachbarte Lazarette nach uns hin „evakuierten". Ich erinnere mich, daß einmal ein delirierender, hochfiebernder Typhuskranker von Pont ä Mousson nach Trier als Psychose, von da zu uns wieder als Typhuskranker fortwährend hin und her geschickt wurde. Auf meiner Station lag in extremis ein Verwun­ deter vom 14. August. Der Inspektor sagte, er habe es ost gehört: Beckenschuß. Mitten aus dem Gesäß ragte aus einer scheußlichen Iauchehöhle ein schwarzer Knochen hervor. Jede Bewegung war so schmerzhaft,

daß wir ihn nicht anfassen konnten. Als der Verwundete tot war, wollte ich doch wissen, was eigentlich vorlag. Ich ging nach der Leichenkammer, dem Sektionsraume. Nachdem wir unter zwölf Leichen die betreffende gefun­ den und auf den Tisch gelegt hatten, zeigte sich, daß der schwarze Knochen der Oberschenkel war, der durch Muskelzerrung langsam Muskeln und Haut durchbohrt hatte. Welche Qualen hatte dieser Unglückliche auszu­ halten gehabt!

So könnte ich noch manches recht Traurige, um so Traurigeres, weil es vermeidbar war, hier erzählen. Und dabei hatte ich immer das niederdrückende Be­ wußtsein, daß ich zwar guten Willen, aber doch nicht genug Kenntnisse besaß, um mein Amt zu verwalten, meine Pflicht zu erfüllen.

Ich wüßte nichts im ganzen Kriege, was mich mehr ergriffen, mich unglücklicher gemacht hätte, als diese Verhältnisse. Ein frisches Schlachtfeld ist schrecklich, aber um vieles schrecklicher waren die Leiden in einem solchen Lazarette. Da lagen z. B. drei am Oberschenkel Amputierte in einem Zimmer. Bauernjungen, an die frische grüne Natur gewöhnt, kaum des Nachts hatten sie sich int bisherigen Leben im Zimmer aufgehalten. Weiße, schmucklose Wände, nicht einmal ein Christusbild! Vor dem Fenster der kahle Festungswall. Jetzt bekam der eine Kranke lange, kaum endende, furchtbar anstrengende Schüttelfröste, nach denen er wie eine Leiche dalag. Dann gabs nachts in der jauchenden Amputations­ wunde eine Nachblutung. Bei spärlicher Beleuchtung,

ohne Assistenz, suchte man die Blutung zu stillen. Noch ein paar Fröste, noch eine Blutung — das Leben erlosch. Die andern zwei Verwundeten sahen alles mit an. Es wurde ihnen gleichsam ihr Ende vorgespielt. Nun sin­ gen auch sie an zu schütteln, zu bluten! Welche er­ schütternde Hoffnungslosigkeit, welche verzweiflungs­ volle Sehnsucht nach der Heimat, nach den Eltern, nach Hilfe! Wie oft saß ich in der Nacht an einem solchen Bett und hatte nichts als Tränen des Mit­ gefühls — und die Morphiumspritze! Es gab aber auch trotz ihrer Tragik erhebende Mo­ mente. Ein Soldat hatte ein von einem Granatsplitter tatsächlich völlig zerrissenes Gesicht. Der zerschmetterte Ober- und Unterkiefer war in vielen Stücken beweglich. Die Nase saß oben, fast zwischen den Augen. In primi­ tivster Weise schob ich Weinflaschenkorken, in die Rinnen für die wackelnden Zähne geschnitten waren, zwischen Ober- und Unterkiefer, so daß alle Stücke möglichst an die richtige Stelle kamen. Dann wurde die Nase her­ untergedrückt und alles durch einen Verband fixiert. Nun konnte sich der Kranke mit einer Glasröhre leicht ernähren, ja sogar einmal betrinken! Den ganzen Tag saß er im Hof am Brunnen, füllte seinen Irrigator und -spülte ununterbrochen den Mund aus. Jetzt heilte afles mit großer Schnefligkeit aneinander. Aberhaupt heilen die Gesichtsschüsse schneller als alle andern. In Saarlouis war niemand, der den Gipsverband kannte. Ich kannte ihn eigentlich auch nicht, hatte jedenfafls selbst noch keinen solchen Verband gemacht, wohl aber als Student in der Volkmannschen Klinik

sehr viele Gipsverbände gesehen. Das Prinzip kannte ich also. Nun gab es sehr viele Verwundete mit Oberarm-, Ellbogen-, Unterarm- und Handgelenkzerschmetterun­ gen. Seit Wochen waren diese Kranken ans Bett ge­ fesselt, mit dem zerschmetterten Glied in der Blech­ schiene. Jede Bewegung, jedes Verbinden war enorm schmerzhaft und langwierig. Es gelang mir, eine Tonne Gips zu beschaffen. Gipsbinden gab es damals noch nicht. Nun legte ich oberhalb und unterhalb der Wunde einen Gipsring um den Arm. Darauf wurde oben ein Holzstück oder ein Brett befestigt. War alles fest und trocken und lag der Arm in der Schlinge, so konnte der Mann sofort aufstehen und nach Belieben herum­ gehen. Er konnte sich selbst seine Wunde ausspülen, berieseln und verbinden. Das kam den Leuten ganz zauberhaft vor. Überall wurde ich hingeholt, um solche Verbände zu machen. Es war für die Kranken und nicht minder für das Pflegepersonal eine ungeheure Erleichterung. Ich erntete viel Dank, obwohl die Gips­ klötze, die ich fabrizierte, sehr wenig schön aussahen und noch weniger kunstgerecht waren. Ein Polack vom I. Korps, der seit dem 14. August festlag, begrüßte mich im Garten, küßte mir die Hände und sagte: „Wenn Sie kommen ist mir lieber, als wenn Vatterche kommt!" Nun möchte ich ihm noch einen Aderlaß machen, dann wäre er gesund. Oft kamen auch Drückeberger von Metz zurück. Mit­ unter gesunde, wohlgenährte Leute, denen nur das Biwakieren „lästig" wurde. Für diese Leute hatte mein Stabsarzt eine vorzügliche Behandlung, die er schon

1866 erprobt hatte. Er tat zunächst so, als ob er alles glaube, mitleidsvoll ließ er sich von den „Muskel­ schmerzen", „der Appetitlosigkeit" usw. erzählen. Der Drückeberger war höchst befriedigt, gleich auf Anhieb den Arzt dumm gemacht zu haben. Dann bekam er alle zwei Stunden einen Teelöffel ranziges Rizinusöl. Dies wurde als unfehlbares Mittel bei solchen Krank­ heitszuständen gepriesen. Und das Wohlwollen wurde immer größer. Bat der Drückeberger, weil sein Zustand schon viel besser sei, die Medizin wegzulassen, so wurde auf die Schilderung seiner fürchterlichen Leiden hin­ gewiesen und regelmäßig wurde ihm das öl einfiltriert. Schließlich mit Gewalt. Auch bekam er weder Speise noch Trank, bis die Medizin genommen war. Dieser fortwährende Ölgeschmack im Munde machte die bösesten Drückeberger zahm. Sie wurden außerordentlich kampf­ lustig und erklärten sich oft schon nach zwei Tagen gesund und bereit, zur Truppe zurückzukehren. Dann wurde ihnen zum Abschied eine Rede gehalten, sie sollten sich doch schämen, solche Komödien aufzuführen, und gewöhnlich waren sie endgültig kuriert. Mitunter meldeten sich wilde Krankenschwestern, Frauenzimmer, die sich zur Pflege anboten. Wir hätten sie ausgezeichnet gebrauchen können, vor allem zum Herumtragen und Verabreichen der Speisen. Sollten sie aber das leisten, so verdufteten sie sofort. Sie woll­ ten „pflegen", worunter sie Wunden verbinden meinten. Bedienen war ihnen viel zu langweilig. Man sah recht deutlich, daß ohne Organisation, ohne Gehorsam, ohne strenge Zucht mit diesen Frauenzimmern nichts anzu­ fangen war. Wie gut bewährten sich dagegen die katho-

lifchen Schwestern. Durch ihre Kleidung gegen jede Rohheit der Soldaten geschützt, walteten sie still und immer freundlich ihres Berufes! Wir hatten auch den Besuch von berühmten Medi­ zinern. Erst war Frerichs dagewesen. Er hatte als Normaltemperatur im Typhuslazarett 8° Reaumur empfohlen. Sn dieser Temperatur bestand eigentlich unsere ganze Behandlung. Die Typhuskranken lagen in der bombensicheren Defensionskaserne, in der statt Fenster oben Schießscharten, durch ganz schmale Fenster verschlossen, angebracht waren. Um die Temperatur niedrig zu erhalten, hatte ich einige Fenster an den Schießscharten zerstoßen. Hier herrschte auch bei Tage Halbdunkel. Die Kranken bekamen eine Schleimmedizin mit Opium und sehr viel Rotwein, soviel sie wollten. Bäder waren unmöglich. Es gab gar kein Wasser und keine Badewanne. Dabei waren unsere Resultate nicht schlecht. Ich machte mir den Spaß, die Rapporte auszu­ ziehen und stellte fest, daß wir nur acht Prozent Todes­ fälle hatten. Das stimmt auch mit anderen Beobachtungen. Gott sei Dank gab es ja keinen Flecktyphus, diese im höchsten Grade gefährliche und ansteckende Kriegskrankheit. Die Franzosen hatten sie 1812 und 1813 mit aus Rußland gebracht, und die Seuche infizierte ganz Deutschland. Mein Großvater, der damals Apotheker in Halle war, hatte mir oft davon erzählt. Sn Halle seien wohl 10000 Menschen nach der Schlacht bei Leipzig am Flecktyphus gestorben. Nachdem alle Schulen, alle irgendwie passenden Häuser als Lazarette eingerichtet gewesen seien, und immer neue Kranke heranfluteten,

hätte man damals die Kranken in die Kirchen gelegt. Das Gestühl sei herausgebrochen worden, ganz rohe Bettstellen habe man gezimmert, und Stroh, ein Bettuch, eine wollene Decke sei für das Bett vorhanden gewesen; so hätten in einer Kirche 200, ja 300 solcher Kranke nebeneinander gelegen. Und merkwürdigerweise seien hier bei der schlechten Pflege und der Kälte viel mehr Kranke gesund geworden als bei bester Pflege in Bürger­ quartieren und besser eingerichteten Lazaretten. Jeden­ falls war es ein großes Glück, daß wir diese schreckliche Krankheit nicht hatten. In Deutschland eingeschleppt, kam sie ja im Osten von Zeit zu Zeit vor. In Ruß­ land erkrankte deutsche Fabrikarbeiter wurden von den Russen nach Deutschland abgeschoben oder reisten auch selbst, als sie sich ernstlich unwohl fühlten, nach dem Vaterlands zurück. Sie kamen nicht weit. Als Kranke wurden sie in den Grenzstädten schon angehalten. Aber mitunter kam doch ein Fall nach Breslau, nach Berlin, ja bis Halle. Fast regelmäßig erkrankte der behandelnde Arzt oder Wärter. Es ist eine der gefährlichsten Krank­ heiten, mit der man bei einem Kriege mit Rußland sehr zu rechnen hat. Denn, so weiß ich aus mündlicher Mitteilung, in den schlechten, engen polnischen Quar­ tieren, wo die Russen jetzt sehr zusammengepfercht liegen, stirbt der Flecktyphus nicht aus. Auch betreffs der Ruhr konnte man von einer wirk­ lichen Epidemie bei Metz doch nicht sprechen. Die Revierkranken merkten bald, daß wir einige Kranke, die Blut entleerten, nach der Heimat schickten. Nun berich­ teten so viele von Blutabgängen, daß ich die Sache kontrollierte. War es Schwindelei, so wurde der Be-

treffende zur Strafe „angebunden". Dies ist die leich­ teste Strafe, die im Felde ein Ersatz ist für ein oder zwei Tage Arrest. Eine Art An-den-Prangerstellen. Da, wo alle Soldaten vorübergehen, wurde der Simulant mit dem Arm lose an das Rad eines Wagens angebunden. Die Hauptstrafe waren dann die schlechten Witze der Vorübergehenden. Nach höchstens zwei Stunden war diese Strafe zu Ende. Also nur eine Ehrenstrafe ohne weitere Folgen. Man mußte aber doch irgendeine Möglichkeit der Bestrafung haben. So waren beim Bataillon einige Zeitzer Fabrikarbeiter, die sich durch maßloses Schimpfen und allerhand Unfug auszeichneten. Einer hatte den Trick, sobald er in ein Gefecht oder auf Vorposten kam, die tzelmspitze abzu­ schlagen und dann zu behaupten, sie sei abgeschossen wor­ den. Als nur ihm und sonst niemand sechs- bis achtmal die Helmspitze abgeschossen war, wurde er doch einmal angebunden. Danach blieben dann die tzelmspitzen fest auf dem Helm. Ich aber, hinter der Kompagnie reitend, hörte fortwährend das widerwärtige Schimpfen der „Zeitzer".

Eines Tages erschien Professor Gurlt aus Berlin. Durch seine Bücher als einer der gelehrtesten literari­ schen Chirurgen mir wohlbekannt. Was wollte nun ein solcher Theoretiker? Wer schickte ihn? Wer glaubte den Kranken dadurch zu nützen? Gurlt hielt mir einen großen Vortrag, es sei völlig falsch, eine Wunde zu sondieren, um Fremdkörper festzustellen. Jeder Schuß­ kanal müßte mit dem Finger ausgetastet werden. Er fragte, ob ich denn das stets getan hätte. Als ich

verneinte, fing er an, jeden Verwundeten zu unter­ suchen. Trotz der Schmerzensschreie der armen Kerls bohrte er den Finger in jede Wunde hinein. Resultat: eine großartige Endemie von Wundrose! Gestorben ist ja niemand, das möchte ich ausdrücklich bemerken. Aber höchst überflüssig und nach unseren heutigen Begriffen höchst gefährlich waren diese Untersuchungen ohne sorg­ fältige Fingerreinigung gewiß. Wie viele Abszesse, zwischen den Muskeln am Handrücken und anderswo, mußte ich in den nächsten Wochen aufschneiden. Ein ganz anderer Mann war der Professor Wagner, der Chirurg von der Universität Königsberg. Eines Morgens kam er von Metz, wo er wegen Manteuffels Beinbruch viel beschäftigt war. Schon oben erwähnte ich, daß die Kaserne VI neu erbaut» aber nicht fertig war. So z. B. waren noch keine Klosetts im Haus vorhanden. Die leicht Verwundeten und das Personal mußten auf den Hof gehen, die Schwerkranken wurden im Bett versorgt. Für die anderen war in der Ecke des unteren Korridors zehn Zentimeter hoch Sand geschüt­ tet. Diese Ecke wurde als Klosett benutzt. Jeden Mor­ gen, vor Tagesanbruch, wurde der scheußlich stinkende Sand hinausgeschaufelt und fortgeschafft, und eine neue Sandschicht wurde gebracht. Als Wagner dies und die ganze untere Station ge­ sehen» als er eine Anzahl Verwundete für den nächsten Tag zur Operation bestimmt hatte, sagte er: „Das ist ja eine grandiose Schweinerei". Nun gingen wir nach der Eingangstüre, und als Professor Wagner fortgehen wollte, fragte ich ihn: „Wollen Sie nun nicht auch die andere Hälfte der Schweinerei im oberen Stockwerke

sehen?" Er fuhr auf und sah mich recht unfreundlich an. Ich gab ihm dann die Erklärung, erzählte ihm, daß ich erst vor wenigen Tagen das Lazarett übernommen habe, daß ich der einzige Arzt sei, daß einmal 164 Patienten hier gelegen hätten, meist über 100, daß ich weder Diagnosen noch Krankengeschichte gesehen habe, daß Schwerkranke und Verwundete untereinanderlägen, daß oft in der Nacht unangemeldet Dutzende von Kranken kämen, die eben untergebracht werden müßten, daß meine Visite von 8—2 Uhr oder länger dauere, daß die Kranken nicht vor 5 oder 6 Uhr nachmittags die früh verschriebenen Medizinen oder Verordnungen er­ hielten, daß von verschiedenen Diäten gar nicht die Rede sein könne usw. Danach wurde Wagner freundlicher und sah wohl ein, daß mich die Schuld an der „Schweinerei" nicht treffe. Nun gings ans Operieren, Amputieren, Resezieren! Ich habe niemals wieder in meinem Leben einen so ausgezeichneten Operateur gesehen. In großartiger Weise beherrschte er die Technik. Zart, schonend, schnell und sicher! Am Knochen wendete er nur eine schmale, lange Stichsäge an, die er mit größtem Geschick und einer enormen Ausdauer handhabte. Namentlich rese­ zierte er eine ganze Anzahl vereiterter Ellbogengelenke und amputierte eine Reihe von am Fuß Verwundeten. Die Resultate waren gut, freilich starben viele, die schon Schüttelfröste gehabt hatten. Wie alle Chirurgen, war er „messerneidisch". Am Schlüsse jeder Operation sagte er regelmäßig zu mir: „Morgen früh sollen Sie ope­ rieren, ich assistiere Ihnen". Ging es aber los, so nahm

er das Messer und machte alles selber. Jedenfalls besser als ich und somit auch brauchbarer für die Ver­ wundeten. Am 26. wurde Wagner leider wieder nach Metz berufen. Wir dachten schon, es sei ein neuer Aus­ fall im Gange. Auch ein paar amerikanische „Stabsärzte" erschienen eines Tages in Saarlouis. Sie kamen zuerst in Zivil, ließen sich aber dann vom preußischen Militärschneider sehr schöne amerikanische Uniformen machen, in denen sie ganz stattlich aussahen. Der eine ging in das Garnisonlazarett, der andere kam zu mir nach Ka­ serne VI. Es war ein sehr liebenswürdiger Kollege, hatte den ganzen Sezessionskrieg in Amerika mitgemacht und log geradezu wundervoll. Die verschiedenen Natio­ nen haben ja einen verschiedenen Humor. Nehmen wir Deutsche ein ausländisches Witzblatt, so begreifen wir oft nicht, wie dies oder jenes dort als Witz gilt, was uns als höchst fade vorkommt. So haben auch die Nord­ amerikaner einen ganz besonderen Witz, den wir ja genugsam aus ihren Schriften kennen. Wie oft habe ich später, als ich Mark Twain kennen und schätzen lernte, an die Erzählungen meines Bekannten aus Saarlouis zurückgedacht. So erzählte er, als er den großen Reiterzug durch die Mississippilande mitmachte, hätten sie einmal gar nichts zu essen gehabt. Nur eine große Tonne mit Zwieback habe im Lager gestanden, hätte aber erst am anderen Tage geöffnet werden sollen. Da sei eine feind­ liche Granate gerade in die Tonne gefahren, sei ge­ platzt, und mit einem kolossalen Geprassel seien die Zwie­ bäcke in die Luft geflogen. Zu Boden gefallen, habe

dann jeder drei bis vier Zwiebäcke vor sich gefunden, sodaß sie nicht einmal notwendig gehabt hätten, sich zu erheben. Gerade vor dem Munde hätten die Zwiebäcke gelegen. Ihr Oberst sei ein Mann aus dem wilden Westen gewesen, wo die Kinder schon mit einem Brei von Maismehl und Whisky groß gezogen würden. Ein an­ deres Getränk als Whisky, von dem er täglich drei bis vier Flaschen zu sich genommen, habe er nicht ge­ kannt. Einmal, als er sehr durstig war und um etwas zu trinken bat, habe ihm ein Soldat ein Glas Wasser geboten. Kaum hatte er einen Schluck Wasser im Munde, als er es wieder ausspuckte und höchst ver­ wundert fragte: „Was war denn das?" Ich berichtete schon, daß die Kaserne VI kein medi­ zinisches Inventarium hatte. Brauchte man Messer oder Scheren und Pinzetten, so wurden diese im Gar­ nisonlazarett verabfolgt. Aber für das kleinste Stück mußte eine Empfangsbescheinigung ausgestellt werden. Dies war mir aber unheimlich. Denn natürlich gingen diese Sachen verloren, und ich haftete für alles durch meine Unterschrift. So ließ ich denn jede Empfangs­ bescheinigung vom amerikanischen Stabsarzt unter­ schreiben. Nach vielen Jahren bekam ich dann ein­ mal die Anfrage, ob mir ein Stabsarzt dieses Namens bekannt sei. Ich verneinte, denn sonst hätte wohl der zähe, preußische Militärfiskus die paar Messer und Scheren noch auf diplomatischem Wege wieder zu er­ langen gesucht. Bald wurde es den amerikanischen Kollegen in Saarlouis zu langweilig und sie gingen ab nach Paris.

Leider kam in dieser Zeit das 1. und das Füsilier­ bataillon zu den Zernierungstruppen vor Thionville, sodaß wir die Mitarbeit von zwei Kollegen einbüßten. Hier in Saarlouis traf ich auch einen alten studenti­ schen Bekannten, der ein Landwehrbataillon bei Metz ärztlich versorgte und in Saarlouis verschiedene Medi­ kamente holen wollte. Er war ein sehr netter Mann, hatte aber von der Medizin keine Ahnung. Nicht einmal das erste Examen hatte er gemacht. Noch nie hatte er eine Klinik gesehen. Ich fragte ihn: „Aber um Gottes willen, wie behandelst du denn die Kranken, die es doch auch bei euch gibt, du kennst ja nicht einmal die Arzneimittel?" Da meinte er, er habe von einem Mittel erst immer seinem Hunde in Fleisch einen Teelöffel voll gegeben, sei der Köter dann vergnügt geblieben, so habe er das Mittel tropfenweise den kranken Soldaten verabfolgt. So hatte er mit größtem Erfolge den Kranken eine Tinktur gegeben, die zur Vertreibung von Ungeziefer aus den Kleidern bestimmt war. Fieberte ein Patient, so sei er gleich ins Lazarett abgeschoben worden. Beim zehntägigen Truppenkrankenrapport, den er als Bataillonsarzt habe machen müssen, habe er nur die Gesamtzahl der Kranken gekannt. Diese habe er dann auf die aufgeführten Krankheiten verteilt. Natürlich nicht jetzt bei der Nässe auf tzitzschlag und nie auf übertragbare Krankheiten» denn als er einmal in eine Rubrik die Zahl fünf geschrieben habe, sei er in die größte Verlegenheit gekommen, er habe über „die Epidemie" berichten sollen. Er habe dann geschrieben, daß er sich in der Diagnose geirrt hätte. Den Überschuß

von Kranken habe er in die Rubrik „andere innere und andere äußere Krankheiten" geschrieben. Jeden­ falls hätten immer die Zahlen gestimmt, weiter sei ja nichts nötig. Ich suchte ihn noch nach Kräften zu instruieren, namentlich über Opiumtinktur und Mor­ phium. Beides habe er nie verordnet, weil es ihm zu gefährlich schien. Höchst befriedigt von seinen ärzt­ lichen Erfolgen schrieb er mir dann noch von Metz: „Man sieht, es geht auch so!"

Nun hatte endlich Metz kapituliert. Vom 1. bis 9. November kamen die Gefangenen durch Saarlouis. Sie wurden in Fraulautern, dem Bahnhof von Saar­ louis, eingeladen, zum Teil in offene Kohlenwagen, und dann über die Eifel per Bahn in die Gefangen­ schaft geführt. 2m November, in offenen Wagen, durch das Gebirge! Oft, wenn die Beförderung stockte, lagen drei bis vier Transporte auf einmal in Saarlouis, das von einem schwachen Bataillon Infanterie bewacht war. Die Gefangenen, nur Gemeine ohne Offiziere, waren aber physisch und moralisch so entsetzlich heruntergekommen, daß jeder Unternehmungsgeist fehlte. Es machte einen sehr traurigen Eindruck, wenn wieder, in Sturm und Regen, durch die Pfützen der aufgeweichten Chaussee, ein Zug Gefangener angetrieben wurde, von der Be­ gleitmannschaft noch verhöhnt: Marsch, marsch, dalli, dalli, grande nation! Eines Abends erhielt ich Befehl, nach einer Lünette zu gehen, wo unter 1000 Gefangenen einige Schwer­ kranke hilflos lägen. Man wollte mir eine große PaFrttsch, 1870/71

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trouille mitgeben. Dies wartete ich aber nicht ab. Sie war unnötig, denn die armen Leute waren wirklich unfähig zu irgendeiner Revolte. Hier in der Lünette, in der überall Pfützen standen, lagen ein paar erst für morgen angemeldete Kavallerieregimenter. In der Verlegenheit um Platz hatte man sie hier unterbringen müssen. Zum Teil trugen sie noch die ungeheuer großen, renommistischen Helme, alle mit weißen Mänteln, die entsetzlich verschmutzt waren. Einige unterhielten müh­ sam ein kleines Feuer, andere lagen wie Tote umher. Als ich nach den Kranken fragte, blickten sie sich kaum um und zeigten nur stumpfsinnig auf ein paar Leichen. Man mußte an den Rückzug aus Rußland 1812 den­ ken, wenn man diese großen, kriegerischen, abgemagerten, ausgemergelten Gestalten sah, in solchem Elend, so physisch und moralisch heruntergekommen, schlaff und teilnahmlos. Auf dem Glacis waren ein paar große Ofen mit Waschkesseln erbaut. Hier kochte man aus den Be­ ständen der Festung Bohnen mit Speck und Erbsen mit Speck. Als die Franzosen diese Nahrung mit einem halben schwarzen Kommißbrot empfingen, sahen sie die Schüssel an und wollten und konnten es nicht essen. Erst allmählich verstanden sie sich dazu, als es nichts anderes gab. Bald aber etablierten sich Marketender, die Weiß­ brot und allerhand Würste und Käse verkauften. Mild­ tätige Damen der Stadt, vom Kommandanten auf­ gefordert, brachten den armen Leuten große Topfe mit Bouillon, Fleisch und Weißbrot. Das war aber stets zu wenig für die Tausende von Hungrigen. Es kam

vor, daß, wenn die Eisenbahnverwaltung nicht genug Wagen stellte, die neuen Gefangenentransporte kamen, ehe die anderen abgefahren waren. Einmal hatten wir 12000 Gefangene. Die ganze Garnison betrug knapp 1400 Mann. Es war daun leider gar nicht möglich, die armen, nassen, halb erfrorenen Gefan­ genen unter Dach zu bringen. Dabei war es im No­ vember und fror schon nachts. Wohin nun aber mit den Kranken? Eigentlich waren ja alle krank. Der fortwährende Genuß von Pferde­ fleisch erzeugte Darmkatarrhe. Man hätte eigentlich die ganze Armee von über 100000 Mann ins Bett legen müssen. Aber so wurden nur die ganz Schwer­ kranken und Fiebernden ausgeschieden, solche, denen man eine tagelange Eisenbahnfahrt nicht zutrauen konnte. In den leeren Pferdeställen der Ulanenkaserne hatte ich für diese Tage auch eine Art Lazarett etabliert. Wo ein Pferd stand, lagen drei Franzosen. Hier in dem vielen Stroh war es wenigstens trocken und warm. Die armen Leute wollten nur Ruhe und Wärme haben. Ich ging mit einer großen Flasche Kognak, in die ich fünf Gramm Opiumtinktur gegossen hatte, mit einem großen Eimer heißen Kamillentees und einem Korbe voll Weißbrot zu jedem. Für den Abend hatte ich für eine gute Fleischbrühsuppe sowie für Fleisch und Kaffee gesorgt. Am andern Morgen waren sie schon trans­ portfähig geworden. Die Bevölkerung von Saarlouis war sehr mildtätig und unterstützte uns bei dem Bestreben, unseren Mit­ menschen zu helfen, in ausgezeichneter Weise. In jedem io*

Hause wurden Fleischbrühsuppen gekocht, und die Fran­ zosen waren völlig zufrieden, wenn sie diese Suppen und ausreichend Weißbrot bekamen. Nie waren sie un­ bescheiden oder unhöflich. Unsere kräftige, „däftige" Kost widerstand ihnen geradezu. Bemühte man sich aber, chnen eine Ernährung zu verschaffen, die ihren Ge­ wohnheiten und Wünschen entsprach, so waren sie un­ endlich dankbar und bescheiden. Sehr gut wurden wir von den Sergeantmajors unterstützt, die sich ihrer Sol­ daten in kameradschaftlicher Weise annahmen, aber auch sehr streng auf Ordnung hielten. 3it Fraulautern, dicht am Bahnhöfe, befand sich ein kleines Rekonvaleszentenhospital, von katholischen Schwestern versorgt. Wir schickten dahin solche Ver­ wundete oder Kranke, die nur schwach, aber nicht mehr pflegebedürftig waren. Ich kam in der Woche einbis zweimal hin. Es kam aber auch vor, daß, z. B. nachts, von einem Eisenbahntransport ein Schwer­ kranker oder Sterbender hierher gelegt wurde, weil er so bald als möglich Ruhe haben mußte. Hier lag ein junger Franzose, wohl kaum 18 Jahre alt, den ich mit einer Lungenentzündung und hohem Fieber nicht reisen lassen konnte. Als er schon Rekonvaleszent war, bekam er noch eine Nierenkrankheit und war am ganzen Körper wassersüchtig geschwollen. Auch das ging vorüber. Wie mir die Schwester mitteilte, war der Vater, ein reicher Bauer in der Nähe von Metz, schon wiederholt dagewesen. Er wollte gern den Sohn holen, denn er fürchtete, daß der Kranke den Trans­ port nach Deutschland in die Gefangenschaft nicht aus­ halten würde.

Das war nun schwer zu machen. Andererseits scha­ dete es dem Vaterland wahrhaftig nicht, wenn man den armen Kranken laufen ließ. Deshalb sagte ich den Schwestern, mir wäre es gleichgültig, wenn er weg sei, so sei er eben weg. Nun kam der Alte an; ein typischer Bauer, wie man sie aus dem vorigen Jahrhundert abgebildet sieht. Großer blauer Mantel mit fünf bis sechs Kragen, lange Stiefeln, langer Rock, rote Weste, hoher, rup­ piger Zylinder. Auf der Etappe waltete ein wohl 70 Jahre alter, weißhaariger, irgendwo ausgegrabener Sekondeleutnant. Ihm erzählte ich den Fall; er meinte, wenn wir das ordnungsmäßig machen wollten, gäbe es eine Schrei­ berei bis ins Ministerium. Ich solle den Mann doch verschwinden lassen, wir hätten ja genug. Also ging ich mit Vater und Sohn, der sich Zivilkleidung verschafft hatte, nach dem Bahnhöfe, um sicher zu sein, daß diese auffallenden Menschen nicht hier noch arretiert würden. Vater und Sohn drückten mir unzähligemal die tzände knd waren ganz glücklich. Zum Abschied — recht wie so ein alter Bauer — wollte er mir zwei Francs in die tzand drücken. Ich hätte sie ihm am liebsten an den Kopf geworfen, denn ich ärgerte mich sehr. Aber schließlich hatte ich doch das Gefühl, eine gute Tat getan zu haben. Die Sterblichkeit bei den Franzosen war sehr groß. Diele hatten sich noch bis Saarlouis zu schleppen ver­ mocht, nun aber waren sie zusammengebrochen. Ich hatte aber jetzt eine gute tzilfe in einigen französischen Lazarettgehilfen, die ihre Kranken gut besorgten, gegen

uns, wenn man sie höflich behandelte, außerordentlich bescheiden und freundlich waren, und die doch mit großer Strenge auf Ordnung und Reinlichkeit hiel­ ten. Binnen weniger Tage sahen sie auch so sauber und propper aus, daß es eine Freude war, mit diesen dienstwilligen, fleißigen Leuten zusammen zu arbeiten. Täglich gab es 20—30 Beerdigungen. Die Leichen­ halle war vor dem deutschen Tore, der Gottesacker vor dem französischen. Starb ein Soldat in der Stadt, z. B. bei mir, so wurde er erst durch die Stadt zum deutschen Tor hinausgetragen in die Leichenhalle. Dann ging am andern Tage der Leichenzug durch die Stadt zum französischen Tore hinaus. Täglich hörte man mit­ tags das Trommeln des Trauermarsches. Die Soldaten nannten die kleinen, schwarzgestrichenen, niedrigen Särge die Nasenquetscher. Jede Leich« erhielt einen Sarg. Der Friedhof lag in dem Inundationsgebiete. War das Wasser auch längst wieder abgelassen, so war doch sehr viel Wasser im Boden. Die abends gegrabene Grube füllte sich in der Nacht mit Wasser, das wohl einen Fuß hoch die Sohle bedeckte. Gelangte der Sarg in die Tiefe, so gab es stets einen großen Klatsch, das Wasser spritzte hoch auf, und die dabei beschäftigten Arbeiter sprangen zurück.

Jeder Begrabene bekam Flintenschüsse über das Grab, und dann, wie bei jedem militärischen Begräb­ nisse, zog die Musik mit lustigem Marsche ab.

Wie viele—ach wie viele—„französische unbekannte Leichen" wurden hier namenlos beerdigt. Die Solda­ ten waren halb bewußtlos angekommen, hatten keine

Schriftstücke bei sich, niemand kannte sie mit Namen, und sie starben, ohne daß man wußte, wer sie waren. Nur das Regiment wurde notiert. Und auf alle diese Armen warteten und hofften sehnsuchtsvoll Eltern in der französischen Heimat. Alle waren mit mütterlicher Liebe und Sorgfalt großgezogen, um nun als Kanonen­ futter für den Ehrgeiz eines Menschen in den Krieg zu ziehen, bis sie als „unbekannte Leiche" eingescharrt wurden. Wieviel Trauriges bringt doch ein Krieg mit sich, täglich, stündlich, in der Front und hinter der Front! Am 5. Dezember verbreitete sich das Gerücht, wir würden von Landwehr abgelöst und würden am 6. ab­ marschieren ; zunächst zur engen Besetzung der Ortschaf­ ten bei Metz. Am 6. sollte das Bataillon mit der Eisen­ bahn bis dicht vor Metz fahren. Die halbe 8. Kom­ pagnie, mit -em Hauptmann und mir, käme nach Cour­ celles für Nied, die andere Hälfte käme nach Remilly ins Quartier. Man müsse die Gegend zwischen Metz und Saarlouis immer noch dicht besetzen, da Frank­ tireurs sich vielfach zeigten und namentlich durch nächt­ liches Zerschneiden der Telegraphendrähte, Lockern der Schienen und ähnliche Heldentaten Schaden anrichte­ ten. Vor allem bei St. Avold, wohin der Bataillons­ stab kam. Dort seien alte Bergwerke, die den Frank­ tireurs einen schwer zu erforschenden Unterschlupf ge­ währten. Am Abend des 5. Dezember kam ein befreundeter Offizier zu mir. Er war jung verheiratet und hatte, was ihm ja.niemand verwehren konnte, seine Frau nach Saarlouis kommen lassen. Nun aber wollte er sie auch

mit nach Frankreich nehmen. Aber wie? Da sollte ich nun helfen. Die Abfahrt des Bataillons war auf 11 Uhr festgesetzt. Es ging aber schon uM 8 Uhr ein Zug nach Metz, der in Courcelles, unserm Bestim­ mungsort, anhielt. Wenn ich nun mit der Dame um 8 Uhr fuhr, so würde sich kein Mensch um mich küm­ mern, mein Fehlen beim Abmarsche würde kaum be­ merkt werden. Ich hätte nur in Courcelles drei Stun­ den zu warten, dann käme der Mann nach. Unsere Quartiere seien gewiß von den Fourieren schon abends vorher bestimmt. Natürlich konnte ich diesen Freund­ schaftsdienst nicht verweigern, und am andern Morgen 8 Uhr fuhr ich also mit der Dame, die ich bis da­ hin noch nie gesehen hatte, nach Courcelles ab. Hier traf ich weder die Fouriere, noch die Burschen. Auch war der Ort dicht mit Landwehr belegt. Diese Land­ wehrleute waren über unsere Ankunft mit Recht sehr erstaunt. Sie rupften gerade Gänse und sagten: Heute kämen die „Gagerte" dran, morgen aber wäre großes Schweineschlachten und Wurstfest. Sie hätten ein Schwein geschenkt erhalten. Ein Offizier war nicht unter ihnen, wohl aber ein Feldwebel. Er war sehr zuvor­ kommend, hatte gute Manieren und stellte sich wie ein gebildeter Mann vor. Er erzählte, er sei Kaufmann, habe wohl das Geld zum Dienen als Einjährig-Frei­ williger, aber nicht zum Offizierwerden zusammen­ gebracht. Deshalb sei er nun bei der Landwehr ein­ gezogen. Er lud mich zum Schweineschlachten für mor­ gen früh ein. Ich sagte ihm: „Sie leben nicht schlecht, heute Gänseessen, morgen Schweinebraten, wo bekom­ men Sie denn das Schwein her?" Da lachte er und

erzählte, noch von der Zernierung her beständen hier Depots von Hammeln und Schweinen. Diese Tiere könnten nicht so gut marschieren wie die Menschen, bekämen bald Schmerzen in den Beinen, dicke Gelenke und blieben liegen. So könnte man sie schlecht fort­ schaffen. Nun wäre es doch wahrscheinlich, daß einmal ein Schwein krepiere. Die Rapporte der Mehlwürmer — so nannte der Soldat die Jntendanturbeamten — müßten aber stimmen I Zugang, Abgang, Bestand 1 Zu­ gang gäbe es nicht mehr, in die Rubrik „Abgang" würde von Zeit zu Zeit ein Strich gemacht; so ein Strich sei das Schwein, das morgen geschlachtet würde. Die Zahlen des Rapports stimmten aber vorzüglich! Wei­ ter sei nichts nötig. Jedenfalls merkten die Schweine, warum sie in der Welt wären: sie wurden gegessen. Von wem, wäre ja gleichgültig. In dem Dorfwirtshaus fand sich noch eine leere Stube. Möbel waren nicht darin, ebenso kein Ofen. Nur eine sehr feste Bettstelle, zum Teil eingemauert, befand sich an der Wand, ohne Stroh, ohne jede Matratze, nur mit festem Holzboden. Mittlerweile wurde es dunkel. Ich trieb ein paar Lichte und leere Wein­ flaschen als Leuchter auf. .Bei mir hatte ich für den äußersten Notfall eine Braunschweiger Wurst in einer Blechdose. Kommißbrot war zu haben. Ich gab meiner Schutzbefohlenen, was ich an Decken hatte und, nach­ dem wir etwas gegessen, riegelte ich die Tür zu und legte mich frierend auf die Dielen. Bald war das Licht ausgebrannt. Schlafen konnte man wenig, denn auf den Korridoren und Treppen des großen Hauses liefen die Landwehrleute hin und her, sie zechten, spektakel-

ten, machten laut Witze, sangen und lärmten bis tief in die Nacht hinein. Als ich früh, noch vor Sonnenaufgang, das Fenster öffnete und auf die öde Landstraße hinaussah, dachte ich über die Situation nach. Sie war sehr ungemüt­ lich, und ich hoffte nun bald auf Erlösung, da doch der Herr Gemahl seine Frau bald holen würde. Da kam von der Höhe ein Leiterwagen herab. Ich erkannte meinen Burschen auf meinem Pferde. Auf einem Strohbund im Wagen saß der Sergeant. Gott sei Dank l Er erzählte, im letzten Moment habe man die Quartiere anders verteilt. Wir hätten in Remilly ganz ausgezeichnete Quartiere. Hier sei ja nichts los, zu­ mal die Landwehr noch nicht abmarschiert sei. Diese Lösung und .Erklärung war sehr angenehm. Die Land­ wehrleute waren mit Wurststopfen beschäftigt, sie riefen uns noch allerhand schöne Abschiedsworte nach. In Remilly erwartete sehnsuchtsvoll der Gatte die Gattin. Ich bekam hier eine reizende, völlig verlassene, kleine Villa eines Malers Rolland. Die Mahagonimöbel waren sämtlich mit Samt und Seide bezogen. Dadurch, daß das Haus als Lazarett diente, war zwar alles in Unordnung, aber es war nichts entwendet oder zer­ stört. Schöne Pastellbilder schmückten die Wände. Ein großer Bücherschrank mit prachtvollen Bild- und Kunst­ werken, auch eine Menge interessanter Journale, stan­ den zu meiner Verfügung. Ich las viel Französisch und dachte an die französische Konversationsstunde in der Kindheit. Es war doch viel hängen geblieben und kehrte immer bei Übung wieder zurück. Abends dinier­ ten wir in einem Restaurant. Ich plauderte viel mit dem

Wirte. Er war Orleanist und schwärmte für Thiers. Der Zorn der Leute auf Napoleon und seine Generale war unbeschreiblich. Seit der Einnahme von Metz waren viele Einwohner in ihre Wohnungen zurückge­ kehrt. Doch sah man sie nicht. Alle waren des Krieges überdrüssig, und das war erklärlich. Die Ortschaften in der Zernierungslinie hatten durch Einquartierung und Requisitionen fabelhaft gelitten. Aber trotz allem war die Verblendung und Arroganz der Franzosen immer noch sehr groß. So verlangte der Maire neulich ganz im Ernst, man solle nur fran­ zösisch sprechende Beamte an der Bahn anstellen, da die Bevölkerung kein Deutsch spräche. Alle Offiziere sprächen ja französisch, man könne doch nicht ver­ langen, daß er, der Maire, Deutsch lerne. Der Re­ frain ist dann immer: La France est perdue pour longtemps. Jeder hat aber eine andere Ansicht über die Regie­ rungsform. Nur Napoleon will keiner wieder haben; er soll aufgehängt werden. Die Bourbonen hätten kein französisches Herz; die Orleanisten hätten große Ta­ schen, behielten aber das Geld für sich. Die Republik bedeute die Herrschaft aller nach Paris geflohenen Schufte Europas. Diese wollten nur eine Rolle spielen und mit französischem Gelde sich amüsieren. Auf die französische Armee schimpften alle. Beim unordent­ lichen, fluchtartigen Durchmärsche nach der Schlacht von Saarbrücken hätten sie ihre Niederlage mit der bar­ barischen, hunnischen Todesverachtung und Tapferkeit der zahllosen, zehnfach an Zahl überlegenen Preußen entschuldigt. Die französischen Soldaten hätten gestoh-

len wie die Raben, ja geradezu geplündert, sie wollten nichts für die Preußen Nützliches zurücklassen und hätten alle Bauern beschworen, sie sollten fliehen, sonst würden sie umgebracht. Wer aber geflohen sei, wäre für lange Zeit ruiniert. Wer geblieben wäre, sei ein reicher Mann geworden, denn die Preußen hätten alles bar bezahlt. Schlimmer als die Franzosen seien sie auch nicht gewesen. Die Lebensmittel hier in Remilly sind sehr teuer. Aber unsere Wirtin, eine Pariser Köchin, kocht aus­ gezeichnet und schafft, was man haben will. Es gibt hier viel Gesindel; fast täglich wird wohl ein Dutzend Arrestanten nach Deutschland abgeführt. Das Zerstören der Telegraphen und Eisenbahnen kommt trotz aller Wachsamkeit immer noch vor. 3m Park unserer Villa lag haufenweise gebrauchtes und beschmutztes Verbandzeug. Der Wind trieb die Watte zwischen den Bäumen hin und her. Oben in den Fichten flatterten Gaze und Binden. Daß man dies nicht verbrannt hatte! Ich kaufte ein Liter Petro­ leum, goß ihn über den größten Haufen und brannte ihn an. Beinahe hätte es eine Feuersbrunst gegeben, so flatterte die brennende Watte und Gaze im Winde herum. Es blieb aber immer noch genug liegen, so­ daß das Spazierengehen im Parke höchst widerwärtig war. Nachmittags kam mein Stabsarzt, ziemlich entsetzt über meine Desertion, wie er meine eigenmächtige Ab­ reise um 8 Uhr früh nannte. Ich müsse unbedingt sobald als möglich zum Major nach St. Avold kom­ men und mich bei chm entschuldigen. Es sei eine sehr

unangenehme Szene beim Abschied in Saarlouis ge­ wesen. Der Kommandant, Oberst des Barres, habe zum Schluß seiner Abschiedsrede noch „des unermüdlichen Eifers des Dr. Fritsch" gedacht. Er habe mich zur Dekoration eingeben wollen, da das aber schon seitens des Regiments geschehen sei, nehme er Abstand. Nun möchte er mir aber doch zum Abschied die Hand drücken. Der Dr. Fritsch sei nun vor die Front gerufen worden — aber kein Dr. Fritsch war vorhanden. Es sei in die Stadt in die Lazarette geschickt worden, ich sei aber nicht zu finden gewesen. Der Major sei sehr aufgebracht. Schließlich ginge das doch nicht, daß ich mir Zeit und Marschroute selbst bestimme und abführe, wenn es mir paßte. Ich war erstaunt, daß der Gatte meiner Schutz­ befohlenen nicht die Situation aufgeklärt hatte. Natürlich ritt ich schon am andern Morgen nach St. Avold und kam gerade an, als im Hotel die Tafel aufgehoben war. Ich bat den Major um Entschuldigung. Schließlich mußte er lachen, als ich ihm den ganzen Zu­ sammenhang schilderte und erklärte die Sache für er­ ledigt. Der Offizier aber bekam sehr bald einen Be­ fehl, seine Frau aus „Feindesland" nach Haus zu schicken. Noch monatelang aber wurde ich mit meiner „Desertion" geneckt. Besonders behaglich war es in meinem Quartier am Morgen. Der Gärtner, der in einem kleinen Hause da­ neben wohnte und der als Hausverwalter galt, hatte nach einigem Zögern, gegen Trinkgelder und Versprech­ ung von Bezahlung, mir sogar vollständige Bettwäsche gebracht, so daß ich wie im Hotel wohnte. Früh wurde

im Kamin ein schönes tzolzfeuer gemacht. War es warm, so stand ich auf. Nach dem Frühstück las ich in einem der vielen schönen Bücher. Dann wieder saß ich mit Besuchern am Kamin, im brennenden Holz herum­ stochernd und die züngelnden Flammen beobachtend. Bor dem Kamin lag ein zusammengebogener, metallener Präsentierteller, der als Aschenschaufel benutzt wurde. Als ich ihn näher ansah, stellte ich fest, daß er aus massivem Silber war. Das mußte auch der Hauswirt voll Erstaunen bestätigen. In den vier Monaten, wo das Haus zum Lazarett gebraucht war, hatte sich nie­ mand an dem silbernen Teller vergriffen! Und wie oft haben uns die Franzosen in törichter, unbedach­ ter Weise Diebstahl vorgeworfen. Pendulendiebe hießen wir! Welcher Unsinn! Sollten etwa die Soldaten sich eine viele Pfund schwere Pendule mit Mar­ mor und Bronze in den Tornister packen? Sollte ein Offizier in den Equipagewagen eine Pendule legen? Er konnte jeden Tag fallen und dann war seine Ehre dahin, wenn man gestohlenes Gut fand l Sollte er da­ mit seinen guten Namen beschmutzen! Was hatten solche Sachen überhaupt für Wert? Gold und Silber, Schmuck und Geschirr auf die Seite zu bringen, zu verstecken oder mitzunehmen, hatten die Franzosen stets noch Zeit genug! Wohl kein Soldat wird solche Pre­ ziosen überhaupt nur gesehen haben. Der Besitzer konnte sie ja in jeder Kleidertasche fortschaffen! Dagegen ist Tatsache, daß die Franzosen am Ende des 18. und zu Anfang des 19. Jahrhunderts kolossal ge­ stohlen haben. Sie berichten das ja ganz harmlos selbst, z. B. vom italienischen Feldzuge und von Moskau. Ich

selbst besitze eine Menge solcher Sachen. Sie stammen von einer Verwandten, deren Vater, napoleonischer Offizier, nach der Schlacht bei Leipzig verschollen blieb. Noch gibt es viel alte Chroniken und Memoiren, teils von Städten, teils von Privaten. Marschierten die Sanskulotten in eine rheinische Stadt ein, so wurde Monsieur le commandant stets dadurch begrüßt, daß er ein paar Rollen Goldstücke und hundert oder mehr Flaschen spanischen oder Portwein, auch Liköre als Douceur erhielt. Unser Wein war den Herren zu leicht und zu sauer. Als höchst wertvolles Gegengeschenk errichtete man dann auf dem Markte einen Freiheits­ baum, der mit „patriotischen Gesängen", Umzug, pathe­ tischen Reden, Tanz und allgemeiner Trunkenheit ein­ geweiht wurde. Oft war das Geld nicht genug. Der Herr Kommandant war nicht blöde und verlangte eine neue Leistung. Stahlen die höheren Offiziere, so waren die andern Offiziere ungehalten und mußten eben­ falls durch ein Douceur in ihrem Patriotismus ge­ bändigt werden. Und der gemeine Mann, dem alles dies nicht verborgen blieb, hieß alles mitgehen, was ihm irgendwie wertvoll erschien. Waren die Einwohner eines Hauses geflohen, so wurde dies eo ipso als Nationaleigentum erklärt, als Lazarett eingerichtet oder völlig ausgeraubt. Wer kennt nicht Fritz Reuters Schilderung aus der Franzosenzeit? Als ich sie zum erstenmal las, war es mir, als wenn mein Großvater neben mir im Lehn­ stuhl säße und mir das alles als Selbsterlebtes er­ zählte. So oft hatte er Ähnliches von den Franzosen berichtet. So dramatisch schildert Fritz Reuter.

War das Essen nicht nach dem Geschmack, nicht nach der tzabitude der Herren Franzosen, so wurde es samt dem Geschirr zum Fenster hinausgeworfen und anderes verlangt. Die napoleonischen Generale später stahlen nicht weniger, sondern mehr en gros. Meist stammten sie aus niederen Ständen und nahmen es mit der Ehrlichkeit, Wahrheit und dem Worthalten nicht sehr genau. Aus­ nahmen, wie z. B. Narbonne in Torgau, bestätigten erst die Regel. Man muß nur ihre Memoiren lesen, die oft eigentlich nur Rechtfertigungsschriften sind. Die Herren haßten sich untereinander. Ein Unglück, das den einen traf, begrüßte der andere als einen Erfolg für sich. Der erste Dorwurf, der gewöhnlich dem Kameraden gemacht wurde, ist der, daß er kolossal gestohlen habe. Und Napoleon machte es, nur in großartigster Weise, nicht anders. Wie hat er Italien, das fast hundert Jahre im Frieden Reichtümer angesammelt hatte, ausge­ plündert. Wieviel Kunstwerke hat er gestohlen! Wie­ viel Millionen Geld zapfte er den italienischen Fürsten, den Städten, dem Papste ab! Wie hat er nach der Schlacht bei Jena unser armes Vaterland ausgeraubt und bis auf den letzten Pfennig, das letzte Bund Heu, den letzten Hafersack, das letzte Pferd ausgesaugt! Im­ mer eine neue Niederträchtigkeit wurde von der fran­ zösischen Intendantur erfunden, damit die Schuld in der Verschuldung nie zu Ende kommen konnte! Napoleon sah es ganz gern, wenn seine Generale sich durch Diebstahl und Gemeinheit kompromittierten. Er hatte sie dadurch nur noch mehr in der Gewalt.

Denn er erfuhr, er wußte alles. Nur wenn sie es zu toll machten, wurde er zornig. So mußte Massona, der bei einer Bank in Livorno viele Millionen gestohlenen Geldes stehen hatte, einige Millionen wieder heraus­ geben. Championnet nannte die Bestechungsgelder, die er von Landschaften und Städten bei einem Zug nach Neapel erpreßte: „Mandelkuchen" und schickte seinen Offizieren gelegentlich ein paar tausend Francs als „ein Stück Mandelkuchen". Sein Generaladjutant rech­ net uns in seinen Memoiren ganz gemütlich vor, daß er genug Geld erhalten habe, um sich in Frankreich ein Landgut kaufen zu können.

Auch seine Verbündeten steckte Napoleon an, die Kleinen und die Großen. Die Armee, die nach der Schlacht bei Jena 1806 und 1807 Schlesien eroberte und Breslau zur Kapitulation zwang, befehligte Jerome, der ebenfalls sehr gern größere Summen Gel­ des einsteckte. Die Armee bestand zumeist aus Bayern und Württembergern. Sie haben entsetzlich in Schlesien gehaust. Noch heute erinnert man sich in Schlesien der Württemberger, die den Namen „Kühdiebe" erhiel­ ten. Sie stahlen alles, was irgendeinen Geldeswert hatte. Das grandiose Stehlen in Vürskau erwähnte ich schon. Wie mancher Unglückliche verdankte seinen Tod auf dem Rückzüge der Habsucht, die ihn verhinderte, sich von gestohlenem, wertvollen Gute zu trennen. Und der französische Hauptdiplomat Talleyrand? Wie viele Millionen Bestechungsgelder flössen in seine griff*, 1870/71. 11

Taschen! Nicht Recht und Gerechtigkeit leiteten die Beschlüsse des Wiener Kongresses, sondern die Höhe der Gelder, die der Petent für Talleyrand flüssig machen konnte.

Ist so etwas von den Deutschen zu berichten? Hat ein General, ein Oberst, ein Offizier für sich Be­ stechungsgelder verlangt und genommen? Man denke sich Männer wie Bork, wie Blücher und Bülow! Nicht die törichtste Verleumdung hat gewagt, je einen derartigen Vorwurf zu machen. In den Freiheits­ kriegen geschah nichts dergleichen, 1870 erst recht nicht! Gneisenau legte in jedem Hause, wo er nächtigte, beim Verlassen des Hauses ein 20-Francsstück auf den Tisch, weil er von dieser ihm widerwärtigen Nation nichts umsonst annehmen wollte!

Etwas ganz anderes ist es, wenn der Soldat oder sein Führer das nimmt, was er braucht. Wenn wir 3. B. in Gray alles erreichbare Sohlenleder requi­ rierten, um die völlig zerrissenen Stiefeln der Sol­ daten zu besohlen, so war diese Aneignung nur ein pflichtgemäßes Handeln, um die Truppe marschfähig zu machen. Hing in der Küche eines Bauernhauses eine Speck­ seite und jeder Soldat schnitt sich ein Stück herunter, so war sie bald verbraucht. Sehr mit Recht! Sollte etwa der Soldat „Privateigentum achten", hungern und schlapp werden? Hatte er doch ein Recht auf Ver­ pflegung. War sie bei eiligen Märschen nicht als Magazinverpflegung zu beschaffen, so mußte man sich anderweitig umsehen.

Wie oft wurde bei uns, von sehr humanen Offizieren, allen Ernstes besprochen, daß wir doch den Franzosen den Krieg viel zu leicht machten. Wäre ein Krieg mit so wenig Unannehmlichkeiten verknüpft, wie wir sie bereiteten, so würden die Franzosen nach einem Jahre von neuem anfangen. Man müßte sie viel mehr die Leiden des Krieges kosten lassen, damit sie ihn nicht so bald vergäßen. Nähmen wir ihnen nur Wein, Brot und Käse und täten ihnen sonst nichts zu leide, so wüßten sie ja gar nicht, was Krieg wäre. Wie hatten die Franzosen 1806—12 bei uns ge­ haust! Gutsbesitzer zogen vom Lande mit dem letzten Rest ihrer Habe in die Stadt, um nur wenigstens des Lebens sicher zu sein. Auf dem Lande war alles aus­ geraubt. Täglich kamen neue durchmarschierende Trup­ pen. Sie verlangten Schlachtvieh, Vorspann, Pferde, Wagen, Wein, Brot, obwohl keine Brotrinde mehr vor­ handen war. Wie die Heuschrecken jeden Halm auf dem Felde fraßen und es völlig kahl zurückließen, so hinter­ ließen die Franzosen nur die Wände der Häuser. Die Möbel, ja die Stubentüren waren längst als Brenn­ holz verbraucht, die Häuser waren leer, die Ruinen straflos angesteckt und verbrannt. Seit Jahren blieben die Felder unbestellt, weil Pferde, Arbeiter und Saat­ korn fehlten. Wie schonend führten wir dagegen Krieg. Wir nah­ men nichts ohne Bezahlung oder stellten wenigstens Requisitionsscheine aus, sodaß die Depossedierten chre Verluste nachweisen und ersetzen konnten. Möglich war es, daß die Marketender stahlen, die vielfach ein internationales Gesindel waren. Man fand 11*

unter ihnen viel Belgier, Luxemburger, auch deutsch­ redende Franzosen, die dieses Geschäft mit dem des Spions geschickt verbanden. Mein Bursche, eine ehr­ liche Haut, erzählte mir eines Tages, ein Marke­ tender habe ihm in gebrochenem Deutsch gesagt, wir kämen doch immer in gute Quartiere. Da solle er in den Schränken nach frischer Wäsche suchen, sie auf den Bauch binden und ihm bringen, dafür würde er Zi­ garren, Schnaps, Wein oder auch Geld bekommen. So hörte man oft, daß die Marketender gestohlene Sachen „kauften". Ihr Wagen war schwerer bei der Heimfahrt als bei der Ausfahrt. Freilich erschien das als ein gefährliches Geschäft, bei dem nicht viel Segen war. Wer schützte diese Marketender, wenn sie auch irgendeine Legitimation von einem Regiment erhalten hatten? Die Franktireurs fingen sie ab, beraubten sie und schossen sie tot. Nicht viel besser ging es ihnen bei uns, wenn der Wagen revidiert und mit gestoh­ lenen Sachen angefüllt gefunden wurde. Mühsam wandten sie sich durch die Kolonnen hin­ durch und mußten ost froh sein, nach Verlust des Wagens und der Pferde das nackte Leben gerettet, zu haben. Was nun Grausamkeit, Mord und Totschlag anbe­ langt, so kann ich nur das berichten, was ich gesehen und erlebt habe. Bei uns ist jedenfalls dergleichen nie vorgekommen. Eher das Gegenteil! Die Soldaten waren viel zu gutmütige Leute. Ich habe die Briefe Napoleons I. gelesen. Wie oft kommt da, z. B. an Murat in Madrid, der Ratschlag vor: „Lassen Sie 100 Personen füsilieren. Erst dann

werden Sie Ordnung und Ruhe haben." Und daß er es im Ernste meinte, zeigt die öftere Frage, ob sein Rat befolgt sei. 1814 hat Napoleon in Trohes städtische Beamte, auf die Denunziation hin, sie hätten mit den Verbündeten unterhandelt, ohne weiteres er­ schießen lassen.

Palm, der Duc d'Enghien, Andreas Hofer und viele andere wurden von ihm hingerichtet oder ermordet, nur weil er einen „heilsamen" Schrecken verbreiten wollte. Und wer kennt nicht die blutigen Grausamkeiten der Franzosen bei der „Pazifizierung" Algeriens? Halb Affen, halb Tiger nannte Voltaire seine Landsleute.

Wer kann nachweisen, daß Deutsche je so grausam waren? Es wurde gelegentlich ein zu widerhaariger Bauer geprügelt, aber nicht gemordet. Mir ist eine einzige Geschichte von vielleicht un­ gerechtem Totschießen bekannt. Als eine unserer Kom­ pagnien ein Dorf passierte, wurde aus einem Hause geschossen und ein Soldat schwer verwundet. Sofort sprangen einige Soldaten in das Haus. Sie fanden einen Mann in blauer Bluse, das rauchende Gewehr in der Hand. Schneller als ich berichte, wurde er von den wütenden Soldaten erschossen. Später hörten wir, — ob es richtig ist, kann man ja nicht wissen —, der Franktireur, der geschossen habe, sei schnell, ohne Gewehr» zur Hintertür hinaus, in den nahen Wald geflohen. Der friedliche Bauer habe das Gewehr verstecken wollen und sei dabei überrascht und erschossen worden. Es ist ja möglich, daß die Sache sich so verhalten hat.

Ich sah auch einmal, wie eine Husarenpatrouille als Seitendeckung auf halber Höhe des Berges zwei Män­ ner erschoß. Beim Rendezvous fragte ich sie, warum sie die Leute erschossen hätten. Sie gaben zur Antwort, sie hätten drei- bis viermal Halt gerufen, die Leute seien aber trotzdem geflohen. Zu einem solchen Falle muß man sagen, daß die Hu­ saren im Recht waren. Zieht der Feind kriegsmäßig durch das Land, so soll der friedliche Bauer zu Haus bleiben. Wenn wir Rekognoszierungsvormärsche mach­ ten, so waren stets auf der Seite die hohen Berge mit beobachtenden Männern bedeckt. Auch Leute zu Pferd sah man uns beobachten. Und die Bevölkerung erzählte ganz stolz, daß diese Beobachtungsposten jede unserer Bewegungen an die nächsten Truppen von Garibaldi meldeten. Wenn man also diese Leute erschoß, falls sie dem Befehle „Halt" nicht Folge leisteten, so war das zwar hart, aber durchaus gerechtfertigt. Diese Spione schadeten uns wahrlich genug. Vieles ist ja besser geworden und wird immer noch besser durch die Genfer Konvention. In der Schlacht und als Schutz des ärztlichen Personals hat sie ja weniger Bedeutung. Ein Kanonier oder Soldat kann nicht auf einen oder mehrere Kilometer die Genfer Binde sehen und respektieren, wohl aber eine große weiße Fahne auf einem Hause oder einem Lazarett mit Ver­ wundeten. Noch in den Freiheitskriegen galt es als selbstverständlich und erlaubt, daß der Sieger die Ver­ wundeten einer andern Nation aus dem Lazarett hin­ auswarf, um für seine Verwundeten Platz zu machen. Beim Rückzug von Rußland, 1812, hätten viele Ta«-

sende gerettet werden können, hätte man damals schon die Segnungen der Genfer Konvention gehabt. Und ein anderer Punkt ist der, daß die Menschen immer besser, milder und barmherziger, vielleicht auch weichherziger werden. Es ist meine felsenfeste Äberzeugung, daß langsam — langsam — langsam die Menschheit besser und tugendhafter wird. Je mehr man einsieht, daß der wahre Gottesdienst der Menschen­ dienst ist, um so schneller wird sich ein Fortschritt voll­ ziehen. Dazu kommt noch, daß die Schlachten, trotz aller Vervollkommnungen der Kriegswaffen, immer unblu­ tiger werden. Wie wenig ist in den Berichten der Alten, ja des Mittelalters und der Renaissance­ zeit, die Rede von Verwundeten, von Ärzten, von Lazaretten und ihrer Not. Natürlich, wenn der Kampf nur mit Hieb- und Stichwaffen geführt wurde, war jede Verletzung so groß, daß sie den Tod unmittelbar zur Folge hatte. Das Furchtbare der Landsknechtschlacht bestand ja darin, daß man ganz genau wußte, die vorderen Reihen gingen in den Tod, wenn der Kampf begann. Diese vordersten Reihen hießen ja „der ver­ lorene Haufen". Zwölf und mehr Glieder hinterein­ ander zogen sie in die Schlacht und „drückten" auf den feindlichen Haufen. Die Vorderen stets ein Opfer der langen, kraftvoll geführten Spieße der Feinde oder des kurzen, schweren, beilartigen Schwertes. Leichtverwun­ dete gab es bei solchen Waffen nicht. Und jetzt berichteten die meisten Militärärzte, daß zwei-, ja dreimal hintereinander die Schwerverwunde­ ten geheilt in den Frontdienst zurückkehrten. Lungen-

schüsse heilten in vierzehn Tagen. Und die unzähligen leicht verwundeten, zunächst nur außer Gefecht gesetz­ ten Soldaten wurden bei der zweckmäßigen Behand­ lung überaus schnell geheilt.

Viel kommt dabei auch auf das Geschoß an. Das preußische Langblei des Zündnadelgewehres machte — namentlich in der Nähe — enorme Wunden und Knochenzersplitterungen. Es wurde ja damals behaup­ tet, es wären Explosionsgeschosse gebraucht worden. Der Vorwurf war lächerlich, denn woher sollten denn die Soldaten so komplizierte Geschosse haben! Ich selber sah aber Zerschmetterungen des Unterschenkelknochens durch das Langblei, die so enorm waren, als wenn drei bis vier Kugeln hintereinander den Knochen in unzählige kleine Stücke zerbrochen hätten. Noch im vorigen Jahrhundert brauchten die Griechen Kugeln, bei denen stets zwei mit einem Draht ver­ bunden waren. Dergleichen kommt nicht mehr vor und ist auch bei der Konstruktion moderner Gewehre ganz unmöglich.

Die Chassepotkugel machte nur ein kleines Loch. Das Blei war sehr weich und legte sich oft plastisch dem Knochen an, so daß man die halbmondförmige Kugel bei unverletztem Knochen von ihm abheben und herausziehen konnte. Die Franktireurs und die Garibaldianer hatten allerhand Schußwaffen» meist von unsern treuen Freunden, den Engländern, geliefert. So besonders alte Miniöbüchsen, noch vöm Krimkriege her. Ihr Kaliber war sehr groß, wohl reichlich zwei Zentimeter

im Durchmesser. Die Spitzkugel, hinten hohl, blähte sich gleichsam auf, wenn sie den Lauf verließ. Da­ durch entstanden ganz enorm große Löcher in den Weich­ teilen. Eingangsöffnungen von fünf bis sieben Zenti­ meter habe ich gesehen, namentlich bei Schüssen aus der Nähe. Auch wundervolle Repetiergewehre, eng­ lischen Ursprungs, fanden sich bei Soldaten der Armee von Bourbaki. Ich hatte in Remilly absolut nichts zu tun. Des­ halb ritt ich sehr viel. Drei Pferde standen mir zur Verfügung; mein eigenes und die zwei vom Kom­ pagnieführer, der froh war, wenn er nicht aufs Pferd mußte. In der Nähe von Remilly lag ein Dorf, wo die Bauern stets, versteckt hinter Tür oder Tor, auf die Reiter die Hunde hetzten. Ritt man durch das Dorf, so war man sicher, daß fünf bis sechs große und kleine Köter mit fürchterlichem Gekläff die Pferde scheu machten. Eines Morgens hatte ich schon vor dem Dorfe den Säbel gezogen, in die rechte Hand genommen und hinter dem Bein versteckt. Als wieder ein solcher ver­ dammter, gehetzter Köter mich ansprang, bekam er einen gehörigen Schmiß auf den Kopf und zog heulend ab. Die sausende Klinge aber, die an dem Auge des Pfer­ des vorbeiflihte, veranlaßte dieses, in Galopp abzu­ gehen. In dieser Gangart konnte ich den Säbel nicht in die Scheide bringen und sprengte mit gezogenem Säbel im Galopp davon. Dor dem Dorf traf ich meh­ rere Offiziere zu Pferde, die mich sehr erstaunt an­ sahen. Ich erzählte ihnen den Grund, worauf sie alle die Revolver schußfertig machten. Nun kehrte ich noch­ mals mit um. Richtig stürzten wieder die Hunde vor»

und man sah, wie hinter den Mauern die Bauern hetzten. Da begann aber eine große Kanonade. Hin­ kend und heulend verkrochen sich die getroffenen Hunde bei ihren Herren. Von jetzt an ritt man unangefochten durch das Dorf! Nichts tuend, Skat spielend, Sekt trinkend verbrach­ ten wir hier ein paar Wochen. Ich wollte mir wenig­ stens Metz ansehen, aber jede Stunde Urlaub wurde verweigert. Am 22. Dezember, früh, marschierten wir nach Metz, wo schon vorher die zwei anderen Batail­ lone des Regiments, nachdem Diedenhofen gefallen, eingetroffen waren. Die Freude des Wiedersehens! Längst schon war eine echt deutsche Bierstube von einem Bayern etab­ liert. Dort trafen sich alle Offiziere. Ich steckte acht­ los mein Ouartierbillett in die Tasche und blieb bis in die Nacht, denn wir waren ja erst spät am Abend in Metz eingetroffen. Einer nach dem andern ent­ fernte sich, schließlich mußte ich auch sehen, wo ich blieb. Beim Laternenlichte zeigte ich einem Vorübergehen­ den das Billett. Er brachte mich zu dem Hause. Ich klingelte einmal, zweimal, aber niemand öffnete. Das Fenster in Parterre lag sehr tief und als ich da­ gegen drückte, gab es leicht nach. Es war nicht ver­ riegelt. Als ich vorsichtig weiter drückte, gab es in­ wendig einen großen Krach, Gläser stürzten herab. Da kam denn der Hausbesitzer: ein Apotheker. Ich hielt ihm den Zettel unter die Nase, er führte mich, ohne ein Wort zu sagen, in eine eiskalte Stube und ver­ schwand. Ein Licht hatte ich nicht, wollte aber den

Wirt nicht nochmals wecken. Ich zog nur die Stiefel aus und legte mich unausgezogen auf das Bett. Zog ich aber, um oben warm zu werden» die Bettdecke her­ auf, so fror ich unten, und schob ich das Bett hinab, so fror ich oben. Es war viel zu kurz. Schließlich schlief ich doch ein, und als ich frostschauernd erwachte, war es schon hell. Nun sah ich meine Dummheit. Die Couvertüre, die Bettdecke, war, wie stets in Frank­ reich, straff und knapp über die Matratze gezogen, dar­ auf lag das kurze Oberbett. Ich hatte also statt unter auf der Decke gelegen. Der Hauswirt hätte recht ge­ habt, wenn er mich für einen Barbaren erklärt hätte, der nicht einmal mit einem anständigen Bett umgehen könne. Ich schämte mich so, daß ich die Stiefel anzog und schnell davonging. An der Straßenecke war ein Cafä. Hier frühstückte ich in behaglich warmer Stube und erhielt auch ein warmes Zimmer, in dem ich nach­ träglich Toilette machte. Als ich wieder in das Cafs kam, um nochmals zu frühstücken, war es voll von Unteroffizieren meines Bataillons, die ebenso unge­ mütlich in einer schmutzigen Kaserne die Nacht zu­ gebracht hatten. Sie erzählten, daß das 2. Bataillon schon um 11 Uhr vormittags auf dem Bahnhof ver­ laden werden und sofort abfahren würde. Wohin wußte niemand. ! ! Ich hatte also noch zwei Stunden Zeit, die ich be­ nützte, um langsam nach dem Bahnhof zu bummeln. Ich sah mir die herrliche Kathetrale von außen und innen an. Wie oft hatten wir sie während der Zer­ nierung von den bewaldeten Höhen des linken Moselufers aus gesehen!

Eine große Promenade in Metz, an deren Ende man einen herrlichen Blick in die Moselebene hatte, war dicht mit Eisenbahnwaggons beseht. Sie waren jetzt leer. Früher hatten sie den Franzosen als Lazarett und Kaserne gedient. Ich ging auch einmal in die Kaserne, wo unsere Leute eben abmarschierten. Einen solchen Schmutz hatte ich doch noch nicht gesehen. Man konnte tatsächlich die einzelnen Treppenstufen vor Schmutz, nassem Stroh und Unrat nicht unterscheiden. Die ganze große Kasernentreppe war eine SchmuhRutsch-partie. Und in den Zimmern sollte so massen­ haft Ungeziefer sein, daß der Aufenthalt ganz unmöglich war. Aberhaupt das öffentliche Sanitätswesen, nament­ lich öffentliche Aborte und ähnliches waren in Frank­ reich höchst unvollkommen. Das war nicht nur im Kriege, sondern auch in Friedenszeiten der Fall. Selbst in Paris war es nicht viel besser — wenn man von den Boulevards absah und die kleinen Gassen untersuchte. Nach Jahr­ zehnten war ich einmal in Paris in der Nähe des Montmartre. Es war an einem Sonntag Morgen. Plötzlich regnete es stark, und der Regen trieb mich in ein Cafö, das von draußen sehr nett und reinlich aussah. Aber die Gäste! Weiber mit unordentlichen, zotteligen, verwirrten, herumhängenden Haaren, mit zerrissenen, unsauberen Kattunjacken, schnapstrinkend vor einem Gläschen mit einer Pflaume in Kognak, und die Männer nicht weniger schmutzig, spuckend, rauchend, Lieder brüllend, auch laut schimpfend, saßen an den kleinen Marmortischchen l Am Sonntag Morgen, wo der ärmste Mensch in Deutschland sich sauber macht,

etwas Besseres, jedenfalls nichts Zerrissenes anzieht und damit wenigstens äußerlich den Sonntag markiert, da saß dies Volk ungewaschen beim Schnaps, kreischend, im zerrissenen Anzuge, den Pfeifenstummel im Munde, die Hände in den Taschen, die Füße auf den Stühlen, früh um 8 Uhr in der Kneipe l Und solche Bande hatte die Preußen Stinkpreußen, Dreckpreußen geschimpft!

Gegen Garibaldi. Auf dem Bahnhöfe war viel Leben. Unser Zug stand da. Vorn, gleich hinter der Lokomotive, waren für die Offiziere zwei Abteile II. Klasse reserviert. In alle Coupes hatte man viele Bund Stroh gesteckt, denn es war bitter kalt. Ein großer, dicker Herr in rotem Rocke, ein Malteser, redete mich an, ob ich nicht Nahrungsmittel aus seinem Depot haben wollte. Sie seien nicht etwa nur für Lazarette, sondern für alle Truppen bestimmt. Das Depot, eine große Bretterbude, war vollgepfropft voll Schinken, Würste, Erbswürste, Konserven, Weinflaschen und allerhand schönen Sachen. Ich bekam vier Flaschen Portwein, zwei Flaschen Kognak, einen großen Schin­ ken, gutes Brot und ein Paket Schokolade. Das alles verstaute ich über meinem Platz in meinem Coupe. Mein Bursche brachte mir noch ein Postpaket aus Halle, das von Saarlouis nachgeschickt war. Es enthielt neben Tabak, Zigarren und Strümpfen einen großen, weiten Gummimantel. Sehr schwer, wie Leder, doch war er zum Reiten bestimmt. Ein sehr guter Aus­ rüstungsgegenstand. Hüllte man sich geschickt ein, so bedeckte er die Knie, und nun, mochte es in Strö­ men regnen, brauchte man nur Schritt zu reiten, so

blieb man völlig trocken. Ich hatte das erprobt und deshalb diesen Mantel bestellt. Nun war er endlich eingetroffen, und ich hoffte, daß er mir noch gute Dienste tun würde. Allmählich füllte sich das Coups, das Stroh wurde festgestampft, die Decken um die Beine geschlagen, die Fenster geschlossen, die Zigarre angebrannt, und es war zunächst ganz gemütlich. Die Revision der Lebensmittel ergab genug für mehrere Tage. Die Soldaten hatten es nicht alle so gut, da vielfach die Glasscheiben zerbrochen waren, so daß die armen Kerle fast wie im Freien saßen. Geheizte Coupes kannte man 1870 noch nicht. Man hätte doch etwas mehr Sorgfalt anwenden und in der Nacht vorher alle Fen­ ster nachsehen können. Schließlich saßen aber die Sol­ daten so dicht und hatten die Fenster so mit Decken verhängt, daß sie es auch aushalten konnten. Ein Korpsbruder, den ich auf dem Bahnhof in Metz wiedersah, reichte mir noch, als wir abfuhren, zwei Flaschen Sherry und eine Riesendüte mit allerhand Backwerk in das Coups hinein. In Mantel und Gummimantel gehüllt, bis an den Sitz die Beine in Decken und Stroh gesteckt, so traten wir die Reise an — wohin wußten wir nicht. Es war eine fabelhafte Kälte, 10—14° minus Reaumur. Auf den Stationen gab es nirgends etwas Warmes zu kaufen. Spirituosen aber hatten wir selbst überreichlich. Teils aus Lange­ weile, teils wegen der Kälte, ertönte dann der Gesang: „Nach so langen Leiden, reicht mir mal die Kümmel­ pulle her", und die Flasche kreiste im Coups herum. Die erste Nacht brachten wir auf dem Geleise zu.

Der Lokomotivführer weigerte sich, in der Nacht weiter­ zufahren. Es sei ihm verboten. Wir befanden uns zwischen Ligny und Bar le Duc. Hier hatten wir noch für einen Franc zwei Bund schönes Langstroh gekauft, das wir unter die Sitze preßten, um den kalten Zug von unten abzuwehren. So saßen wir, fest eingewickelt, aber doch frierend, und schliefen. Natürlich wurde viel geraucht, oft glaubte man ersticken zu müssen, eine so gräßliche Luft entwickelte sich. Am zweiten Tage der Fahrt hielten wir mittags in Bar le Duc. Also zu schnell ging es nicht! Leider war der Nebel so stark, daß man außer dem Bahnhof und einigen Schuppen nichts sah. Wir hätten gerade hier, wo unser König Wilhelm als ganz junger Prinz in den Freiheitskriegen 1814 die Feuertaufe erhalten hatte, die Gegend gern kennen gelernt. Ein schlechtes Mittag­ essen wurde uns und den Soldaten geboten. Wenig­ stens aber doch etwas Warmes! Dann luden wir uns wieder einen Vorrat von Wein und Bier in das Coupe. Heute war ja der „Heilige Abend", den wir möglichst festlich begehen wollten. Festlich in Frankreich, im Eisen­ bahncoupe, ohne Tannenbaum, ohne Wärme. Nur mit Bier, Schnaps und Wein bis zum Überfluß beladen. Man sprach nicht viel von der Heimat, wir wollten nicht weich werden. In Blesmes schenkte uns ein Bahnbeamter einen großen Tannenzweig, den wir in der Mitte des Coupßs an der Laterne befestigten. Ihr war das öl schon lange ausgegangen. Nur eine Stunde am ersten Tage hatte sie gebrannt. Ich besaß aber noch von der Zernierung von Metz her , vier große Wachslichte, die wir in die

Fenster stellten. Nun war alles hell erleuchtet. In der Mitte schwankte der „Christbaum" hin und her. Alle waren wir tief und fest eingemummelt in Mäntel, Baschliks, Decken und Stroh. Die Flasche kreiste, und am Ende wurde die Stimmung sehr heiter. Wir sangen Studentenlieder und schlossen mit dem „Landesvater". Nur zum Durchstechen der Mütze kam es freilich nicht. Schon hatten wir „einen Absatz" geschlafen, als der Zug von Zeit zu Zeit hielt, dann wieder sehr langsam etwas weiter fuhr. Einmal, als der Zug hielt, trat ich heraus. Vor mir erblickte ich in der Hellen Nacht dunkle Tannen, hohe weiße Felsen, ein tiefes Tal. Der weiße Schnee ließ deutlich die Konturen hervor­ treten. Tief, tief unten sah man die Schlucht, über die der Viadukt von Chaumont führte. Der Zug hielt gerade vor der Stelle, wo unsere Pioniere das von den Franzosen abgesprengte Stück durch tzolzwerk er­ seht hatten. Posten und Eisenbahner untersuchten die Notbrücke, ob nicht etwas in Unordnung sei. Der Blick in die grausige Tiefe, das deutlich zu fühlende Schwan­ ken des Gebälkes, über das jetzt langsam rumpelnd der Zug fuhr, der Gedanke, daß jetzt im Moment alles Zu­ sammenstürzen oder in die Luft fliegen könnte, war etwas ungemütlich. Denn jetzt kamen wir in die rich­ tige Franktireurgegend. Gar nicht weit war die Festung Langres, wo 30000 Mann lagen, welche die in der Nähe marschierenden Preußen wiederholt beunruhigt hatten. Langres aber einzuschließen, fehlte es uns vorläufig an Soldaten. Es wurde nur „beobachtet". Ungefähr um 8 Uhr abends kamen wir nach Chau­ mont und mußten wieder im Waggon übernachten, Fritsch, 1870/71.

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da sich der Lokomotivführer wieder weigerte, in der Nacht weiterzufahren. Nach meiner Meinung war das töricht; in der Nacht war es noch am sichersten. Voll Hohn zeigte der Lokomotivführer zwei riesengroße, vor­ sintflutliche Pistolen, die man ihm zur Verteidigung gegeben hatte. Er konnte sie aber, mangels der Muni­ tion, nicht laden. 2n der Ecke seines Standes auf der Lokomotive, hatte er zwei Chassepots stehen, mit denen er manchmal am Tage Schießübungen machte. Früh am 25., am ersten Feiertage, wachten wir etwas verkatert auf. Wir entbehrten doch sehr die Reinlichkeit. Es hieß, in einer Stunde seien wir in Chateau-Villain, wo ein längerer Aufenthalt geplant sei. Wie gestern saßen wir friedlich im Coupö. Es war ungefähr 8 Uhr früh, wir waren kaum eine halbe Stunde gefahren, als auf einmal unser Wagen be­ denklich ins Schwanken kam. Dann gab es einen starken Ruck und der Wagen stand, ganz schräg, still. Wir waren entgleist, das war klar. Als ich — mein Platz war ein Eckplatz auf der linken Seite — die Tür öff­ nen wollte, verhinderte es der Hauptmann Tepler und zeigte mir, daß vom Walde her, der hier kaum drei­ hundert Schritt entfernt war, stark nach dem Zuge ge­ schossen wurde. Auch in unser Coups schlugen die Kugeln, so daß wir schnell an der andern Seite heraus waren. Die Franktireurs hatten die Schienen auf­ gerissen, sie aber wieder wie vorher hingelegt, so daß der Lokomotivführer nichts wahrnehmen konnte. Merk­ würdigerweise waren die zwei Lokomotiven vor unserm Zuge wieder in das Geleise gesprungen, so daß sie weiterfahren konnten, während die nächsten Wagen,

namentlich der unsrige, schräg in den Sand einge­ bohrt feststanden. Es ging hier sehr stark bergan, es wurde sehr langsam gefahren, die Schienen, zunächst angefroren, waren erst locker geworden, nachdem die Lokomotiven hinüber waren. Welches Unglück hätte passieren können, namentlich wenn die Franzosen einen Sprengstoff angewendet hätten! Als wir aus dem Coupe gesprungen waren, eilten wir am Zuge entlang zurück. Die Soldaten lagen am Damme und schossen zwischen den Rädern durch nach dem Walde, wo man 30—40 Franktireurs, ebenfalls feuernd, sah. Am Ende des Zuges war ein Äbergang über die Bahn, an dem rechts ein zweistöckiges Bahnwärterhaus stand. Hier sah man, was tüchtige preußische Soldaten lei­ sten! Die Leute waren zum Teil in Strümpfen aus den Coupes gestürzt, sie hatten, lange ehe ein Offizier vorhanden war, sofort die Franktireurs mit dem Bajo­ nett angegriffen und sie schon verjagt. Zum Teil hatten sie gar nicht schießen können, da die Patronen noch seit Saarlouis her in Leinwand eingenäht waren, um sie vor Feuchtigkeit zu schützen. Ehe mit den vor Kälte verklammten Fingern und mit stumpfen Taschenmessern die Patronen frei gemacht waren, hatten sie lieber gleich mit dem Bajonett angegriffen. Leider hatten wir zwei Mann Tote und sieben Ver­ wundete. Als schon der Kampf zu Ende war und das Bataillon vor dem Bahnwärterhäuschen stand, hatte ein Franktireur mitten zwischen das Bataillon ge­ schossen und einen Soldaten getötet, zufällig einen sehr beliebten Tambour. Welcher Unsinn! Was sollte 12*

das den Franzosen nützen oder an dem Resultate ändern? Die Folge war, daß das Haus gestürmt, die Tür zerbrochen und der Blusenmann nebst seinem Kameraden erschossen wurde. Eine geschlossene Kompagnie verfolgte die Fran­ zosen, die unter Zurücklassung von elf Toten und zwölf Gefangenen in dem tief verschneiten, dichten Walde verschwanden. Auch der Führer dieser aus Langres stammenden Expedition war, wie wir hörten, schwer ver­ wundet, aber durch seine Leute vor der Gefangenschaft gerettet worden. Was aber nun? Die zwei Lokomotiven waren nach Chateau-Dillain weitergefahren, um bei der dortigen Garnison Bericht zu erstatten. Auch von dort kam jetzt Hilfe, die aber nicht mehr notwendig war, denn von den Franzosen war nichts mehr zu sehen. Um die Ecke des Weges bog jetzt eine Kolonne von 80 Wagen mit Proviant für Chateau-Villain. Sie hatte zur Bedeckung nur sechs Mann und einen Unteroffizier vom 60. Regiment. Ohne unsere „Entgleisung" wären sie samt ihrer Kolonne verloren gewesen. Was kostete es an Menschen, daß die Patrouillen oder Bedeckungen stets viel zu schwach waren! Ein Stück weiter hin lagen am Bahndamm drei Tote, die Patrouille, die zum Schutze der Bahn abends von Chateau-Villain aus­ marschiert war. Die Franzosen hatten ihr aufgelauert und sie aus dem Hinterhalte erschossen! Ich ging nun zu unserm Coupe, um meinen neuen Gummimantel und eventuell noch Kognak und Schin­ ken zu holen. Alles war verschwunden l Auch der Vor­ rat an Wein war fort. Die Eisenbahner hatten alles

mitgenommen, denn andere Menschen waren überhaupt nicht vorhanden. Trotz aller Bemühungen bekam ich den Mantel nicht wieder — es war also ein kurzes Ver­ gnügen gewesen. Jetzt wurden noch die benachbarten Dörfer nach Waf­ fen und versteckten Franktireurs abgesucht, natürlich, wie immer, ohne Resultat. Wir hörten nur noch, daß die Franzosen abends aus Langres gekommen wären, daß sie beabsichtigt hätten, durch eine Mine den Zug in die Luft zu sprengen, und daß sie wieder nach Langres geflohen seien. Wir setzten uns zu Fuß in Bewegung, da der nach­ folgende Zug mit der Bagage noch immer nicht in Sicht war. Das Wärterhaus blieb besetzt. Es sah eigentüm­ lich aus, als das Bataillon, der Major und die Fahne an der Spitze, zu Fuß durch die verschneite Landschaft zog. Die Soldaten machten schlechte Witze und freuten sich, daß wir nun auch laufen mußten. Nach einer Stunde waren wir schon in Chateau-Villain, das vom 60. Regiment besetzt und verbarrikadiert war. Die dor­ tigen Kameraden waren sehr unglücklich, daß ihnen wieder eine Patrouille weggeschossen war, und daß sie von der ganzen Geschichte nichts gewußt hätten. Von jetzt an gingen, wie es ausdrücklich von oben befohlen wurde, immer viel stärkere Patrouillen auf den Bahn­ damm. Denn einzelne Leute kamen fast nie wieder, sie wurden, wie das Wild auf dem Anstand, von den Franzosen abgeschossen. Daß durch diese fortwähren­ den Verluste die Stimmung der Soldaten immer schlech­ ter und daß sie selbst grausamer wurden, war erklär­ lich und verzeihlich.

In Chateau-Villain bekamen wir sogar Quartier­ billetts. Als ich mein Quartier sah, verzichtete ich. Ich sollte in dem abgelegenen Gartenhäuschen, das nicht heizbar war, Unterkommen! Und mein Wirt, ein Schuster, riet mir ganz naiv, kein Licht anzubrennen, denn wären die Fenster hell, so würden sicher die Franktireurs kommen und mich umbringen. So ging ich denn in das Wirtshaus, wo fast alle Kameraden beim Grog saßen. Ich hatte den Plan, bis zuletzt zu warten. Der Letzte war sicher „bierehrlich", resp, ein starker Potator. Diese sind stets gemütlich. Er würde mich gewiß in sein Quartier mitnehmen. Der letzte war ein Reserveoffizier vom 60. Regiment, ein Gymnasiallehrer. Er fragte mich schließlich, was ich nun eigentlich in der Nacht machen wollte, denn in dem Wirtshaus könnte ich ohne Gefahr nicht bleiben. Es sei vorgekommen, daß sich die Franktireurs auf dem­ selben Platz, auf dem wir bis 12 gekneipt hätten, in der zweiten Hälfte der Nacht wärmten. Und daß der Wirt auch die Franzosen mit Nahrungsmitteln und Nach­ richten versorgte, wüßten sie ganz gut. Er schlug mir vor, mit in das Alarmhaus zu kommen, er sei Rondeoffizier, hole sich jetzt eine starke Patrouille und revidiere in der Nacht alle Posten; ich könne also sein Bett benützen. In dem Alarmhause, der Mairie, die an einem Platz in der Mitte des Städtchens stand, war es sehr angenehm. Eine große Anzahl Betten — natürlich ohne Wäsche — standen da, es war sehr schön warm, und ohne Zweifel war es der sicherste Ort in Chateau-Villain. Ich machte meine Nachttoilette, die darin bestand,

daß sämtliche Knöpfe gelockert wurden, und legte mich in dem behaglich warmen Zimmer auf ein Bett. Früh weckte mich eine Ordonnanz und brachte Kaffee und frisches Weißbrot. Als ich aus meiner Manteltasche «in großes Stück Speck zog, sah es der Soldat so sehnsüchtig an, daß ich ihm die Hälfte schenkte. Das imponierte ihm so, daß er mir noch ein großes frisch­ gebackenes Brot brachte. Als ich zum Fenster hinaus­ sah, erblickte ich schon unser eben angetretenes Batail­ lon. Die Kameraden waren sehr mißgestimmt, teils weil sie sehr schlechte, enge und kalte Quartiere gehabt hatten, teils weil es nun wieder in die Coupßs ging. Wir wurden also eingeschifft und fuhren nach Chatillon. Man hatte jetzt die Bestimmung getroffen, daß in jedem Zuge, vorn und hinten in einem Packwagen, eine Anzahl von „Notablen" mitfuhr. Aus den Dörfern wurden einfach die Maires geholt und in die Pack­ wagen gesteckt. Dazu ein paar Schildwachen. Und so mußten diese Herren Vergnügungsreisenden unter dem Hohn der Soldaten jede Eisenbahnfahrt mitmachen. Sie saßen trübselig in ihrem Wagen auf Stroh, und es war sicher für die armen unschuldigen Leute sehr un­ angenehm. Diese neue Methode wurde dem Komman­ danten von Langres mitgeteilt, und mit einem Schlage hörten Entgleisungen und Beschießungen von Eisen­ bahnzügen auf. Chatillon war dadurch berüchtigt, daß das Landwehr­ bataillon Unna und eine Schwadron Kavallerie hier von Ricciotti Garibaldi überfallen, gefangen genommen und vernichtet worden war. Die Landwehrleute hat­ ten gedacht, hinter der Armee sei es sicher. Völlig

unkriegsmäßig hatten sie sich einquartiert, ohne ge­ nügende Posten und Wachen auszustellen. Der Leicht­ sinn des Bataillons trug die Hauptschuld am Erfosge Garibaldis. Mit den eroberten Pferden hatte sich Ricciotti Garibaldi sogar etwas Kavallerie geschaffen, die ihm gänzlich fehlte. Ich kam in ein Quar­ tier, das schon von einem Telegraphisten belegt war. Er erzählte mir sehr viel. Am Tage vor dem Aberfall sei Ricciotti Garibaldi als Zivilist in Chatillon gewesen. Er habe mit den Offizieren im Hotel ge­ kneipt und sich als Kaufmann ausgegeben und so­ gar etwas deutsch gesprochen. In der Nacht sei er im Hotel geblieben, habe alles genau ausgekund­ schaftet und am Ende besser Bescheid gewußt als der Major des Bataillons. Der Telegraphist zeigte mir auch das Zimmer, wo der Major ermordet worden war. Ein großes holzgetäfeltes Zimmer. In der Ecke stand eine leere Bettstatt. Diese Ecke und das Bett zeigten wohl 20 bis 30 Kugelspuren. Gleich zu Anfang hatte man den Major im Bett erschossen, so daß es an jeder Leitung gefehlt hatte. Sehr ruhmvoll war die Geschichte gewiß nicht. Der Telegraphist wußte dann noch vieles Neue! Werder habe Dijon aufgegeben. Bourbaki folge ihm und griffe die Zernierungsarmee von Belfort an. Unsere Märsche würden sämtlich von Versailles aus von Moltke direkt befohlen und dirigiert. Die Sachen stün­ den schlimm, wenn es Bourbaki gelänge, Werder zu besiegen, Belfort zu entsetzen und durch den Elsaß nach Baden durchzubrechen. Als ich das den Kameraden erzählte, glaubten sie es nicht und lachten mich aus.

Am 27. Dezember, mittags um 1 Uhr, brachen wir auf, wir sollten nach Anxerres marschieren, und zwar alle zu Fuß, da die Pferde und die Bagage noch nicht angekommen waren. Der Marsch nach Laignes war nicht weit. Die Quartiere daselbst ließen nichts zu wünschen übrig. Ich lag bei einem Arzte, dem früheren Maire. Er bekam immer die doppelte Einquartierung, da er nicht Gambettist war. Er schimpfte denn auch gehörig auf Gambetta. Es sei die größte Lüge, daß Soldaten freiwillig kämen, im Gegenteil, viel rücksichtsloser und grausamer als je unter einem Napoleon würden die Rekruten gezwungen, sich zu stellen. Daß man schlechte Generale hätte, rief er, sei ein Unglück, aber daß ein hergelaufener Advokat wie Gambetta einen alten Briganden wie Garibaldi zum General der Franzosen machte, sei eine Schmach für Frankreich! Wir saßen dann abends noch lange zu­ sammen und politisierten. In der Nacht waren auch unsere Pferde wieder gekommen. Wir hatten einen sehr weiten Marsch von 35 Kilometern nach Tonerre vor uns. Es war furchtbar kalt. 12° minus Reaumur! Der Wind pfiff durch Mantel, Baschlik und Hosen, man fühlte ihn förmlich auf der Haut. Zitternd hing man auf dem Pferde und ging lieber von Zeit zu Zeit zu Fuß, um nicht zu sehr zu frieren. Es war auch nötig, vom Pferde zu steigen, weil sich der Schnee in den Hufen zusammenballte, so daß das Pferd ausglitt. Der Bursche mußte mit dem Beil wiederholt das Eis aus dem Huf heraus­ hacken. Mein Bursche sah sehr „wüst" aus. Er war ja nie vorher Soldat gewesen und nur als Pferdepfleger

einberufen. Unrasiert, ohne jede soldatische Haltung, ohne Helm, Koppel und Seitengewehr, was er alles schon lange nicht mehr besaß. Statt dessen hatte er einen Strick um den Leib gegürtet, darin stak, wie ein Pistol, eine Axt. Nur die Pfeife hatte er gerettet, und da ich ihn mit Tabak versah, war er völlig zufrieden.

Wir kamen durch eine reiche Gegend. Überall Wein­ berge und Weizenfelder. Chablis und viele Schlösser lagen am Wege. Hier sah ich zum erstenmale in meinem Leben Wölfe im Freien. An einem Pferdekadaver fraßen zwei solche Bestien. Die Bauern erzählten, daß es in den dichten Wäldern hier noch viel Wölfe gäbe.

In Tanglais, dem Marquis von Tanglais gehörig, bekamen wir sogar, obwohl es nicht verlangt war, ein warmes Frühstück. Allerdings nur aus heißer Bouillon mit eingeschnittener Semmel sowie Käse und Wein bestehend. Aber es war doch etwas Warmes. Nur der Speisesaal, in dem serviert wurde, war eisig kalt. Das enorm große, prächtige Schloß hatte wohl zehn Fuß dicke Mauern, überall Eichengetäfel an den Wänden. Weite, jetzt leere Pferdeställe, schöne, figurenreiche Sandsteinportale mit großen Wappen bekundeten den Reichtum der Erbauer, nicht aber der Besitzer; denn jetzt sei die Familie verarmt; zwei leichtsinnige Söhne hätten das Vermögen in Paris durchgebracht, so be­ richtete der Maitre d'tzotel. Die Soldaten empfingen ebenfalls jeder ein Koch­ geschirr voll warmer Suppe, ein großes Stück Brot und Wein. Dies Entgegenkommen war sehr klug. Man gab wenig und rettete viel. Man schützte sich vor

Requisitionen. Gerade weil die Gabe freiwillig war, machte sie Eindruck. Nun kletterten wir wieder auf die Pferde und lang­ ten bei tiefer Dunkelheit in Lonerre an. Die Einquartie­ rung wurde sehr summarisch vorgenommen. Jede Kom­ pagnie bekam eine Straße angewiesen, sie wurde mög­ lichst eng belegt, und es wurde jedem einzelnen an­ heimgegeben, wie er sich etwas zu essen verschaffen wollte. Ich donnerte an ein anständig aussehendes Haus, bis es mir aufgetan wurde. Hier war es sehr gemütlich. Die Zimmer waren warm. Die Fanlilie saß eben bei Tisch. Mir wurde gleich ein Kuvert hingelegt. Es gab warme Suppe und einen vorzüglichen kalten Rinderbraten. Der Wirt hielt mir eine große Rede. Solange ich in seinem Hause sei, wäre ich sein Gast. Da könne mir nichts passieren. Ich solle aber ja nicht auf die Straße gehen. Wir würden wohl in der Nacht überfallen und alle gefangen. Ich hielt mich doch für verpflichtet, diese Nachricht dem Major zu überbringen. Der sagte: „Die Sache ist sehr einfach. Der Abmarsch ist auf 8 Uhr festgesetzt, das weiß Jeder, das weiß jetzt auch die ganze Bevölkerung. Um 6 Uhr lasse ich alar­ mieren, dann kommen wir ganz sicher mit gesunden Knochen aus Tonerre heraus". Richtig, am 28., früh 6 Uhr, ertönte Generalmarsch! Nun mußte man aus dem warmen Bett, in die nassen Stiefel, in den kalten Wintertag! Mein Wirt brachte mir noch den Rest des Rinderbratens, Brot und Kognak, wofür ich mich sehr bedankte. Auch Kaffee gab es früh 6V2 Uhr — mehr konnte man nicht verlangen. Ich freute mich sehr, meinem Stabsarzt, der mir so oft aus einem

besseren Quartier etwas mitbrachte, auch einmal ein schönes Stück Braten geben zu können. Beim ersten Rendezvous sahen wir vom Berge herab auf das im Tal liegende Tonerre. Don der andern Seite kamen schon die Franzosen den Berg herunter. Es war voll­ ständig hell geworden. Da sah ich aus der Tiefe vor den letzten Häusern von Tonerre in gemütlichem Schritt den Fähnrich heranlatschen. Natürlich hatte beim Alarm jeder mit sich zu tun und niemand hatte sich um ihn gekümmert. So hatte er erst in Ruhe gefrühstückt, war dann sehr er­ staunt, als er hörte, daß das Bataillon schon fort sei und kam nun ganz entrüstet nachgetrottelt. Er fand es sehr wunderbar, daß wir um sieben, statt um acht, wie doch bestimmt sei, abmarschiert wären. Gerade solche Leute haben immer Glück. Wäre er vielleicht noch zehn Minuten geblieben, so hätte man ihn gefangen oder um­ gebracht. Der Marsch ging nach Montbard, also wieder zurück, aber einen andern Weg als gestern. Mit uns mar­ schierte, aus einer Seitenstraße mit uns zusammen­ treffend, Artillerie und eine große Kolonne leerer Wagen, die nach Chatillon zurück wollten. Das metal­ lische Knirschen der Kanonenräder im Schnee machte einen unheimlichen Eindruck. Die Artillerieoffiziere meinten, es könne jede Minute losgehen, wir seien un­ mittelbar am Feinde. Das Dorf, wo wir diese Nacht bleiben sollten, hieß Lözines. Es sah arm und schmutzig aus. Wir kamen in ein Haus, wo alles eisig kalt war. Der salle ä manger, wie der Bauer in sabots das ungemütlichste

und kälteste Zimmer nannte, diente uns zum Aufent­ halt. Wider alles Erwarten bekamen wir ein Diner von vier Gängen, feine Weine, Konfitüren, getrocknete Weintrauben — kurz alles vortrefflich. Hier zu Lande gab es stets „raisins“, getrocknete Weintrauben, die ent­ weder an einem Bindfaden aufgehängt oder einfach auf einen Schrank gelegt und getrocknet waren. Die Sol­ daten hatten das bald gemerkt, und sobald sie in ein Quartier kamen, war immer der erste Griff oben auf die Schränke, um die „raisins“ zu finden. Für die Nacht hatte ich mir ein kleines, enges Zimmer ausgesucht, in dem ich mir vor dem Kamin einen großen Haufen Holz hatte aufschichten lassen. Denn hungern, dursten und alle Strapazen ertragen wollte ich, aber nur nicht fortwährend frieren. Nachts erhob ich mich oft von der Matratze und warf einen Arm Holz in das Feuer. Am 29., früh, gab es noch reichlich Cafe au lait und geröstetes Brot. Dann ging es fort. Unter den schweren Kanonen knirschte der Schnee. Schweigend marschierten wir durch die Schneelandschaft. Die Laune war schlecht. Wir kamen wieder an einem großen, wundervollen Schloß vorbei, einem gotischen, mittelalterlichen Bau, der von einem Wassergraben umgeben war. Es wurde Halt gemacht. Alle Schlappen und Kranken wurden auf die Wagen gepackt und nach Chatillon zurückge­ schickt. Nun waren nur die Gesunden und Kräftigen übriggeblieben, und das Jammern der Schwächlinge so­ wie das zwecklose Belästigen der Arzte hörte endlich auf. Unser Rendezvous mittags hatten wir bei Nuits-

Raviöres, wo die Garibaldianer die Eisenbahnbrücke in die Lust gesprengt hatten. Pioniere arbeiteten an einer Er­ satzbrücke aus Holz. Bei 12° Kälte, nur Drillicharbeits­ anzug, teilweise im Wasser stehend. Schwierigeres hatte der General Eble, als er über die Beresina die Brücke schlug, auch nicht ausgeführt. Das Dorf war verbarrika­ diert, die Häuser hatten überall Schießscharten, viele Patrouillen liefen herum, weithin standen Doppelposten. Danach kamen wir nach Aisy, das auch an der Eisen­ bahn und dem Kanal gelegen ist. Hier lag das General­ kommando des VII. Korps, Zastrow. Viele General­ stabsoffiziere, Armeegendarmen und Ordonnanzen stan­ den vor seinem Quartier. Die ganze Korpsartillerie war aufgefahren. Die Nachricht hatte sich verbreitet, wir soll­ ten durch das Gebirge gehen und im Rücken der fran­ zösischen Armee, die Werder nach Belfort nachgezogen war, Dijon nehmen. Nachtquartier hatten wir in Buffon, einem armseligen Neste. Hier war der berühmte Naturforscher Buffon ge­ boren — eine Kenntnis, die unsere Lage um nichts ver­ besserte! Wir lagen — sechs Offiziere, sechs Burschen, ein Sergeant und drei Musketiere — in einer Stube, außer­ dem die französische Familie. Wir brieten, wie im Biwak, Beefsteaks — Fleisch war stets vorhanden, denn Kühe gab es überall. Dazu tranken wir den niederträchtig schlechten Wein aus dem Keller des Wirtes. Wir waren aber doch sehr vergnügt und kamen aus dem Lachen nicht heraus. Die Franzosen sahen uns sehr ver­ wundert an und schüttelten den Kopf über unsere Fröh­ lichkeit. Besonders entrüstet waren sie immer, wenn die Soldaten das Lied anstimmten: „Malheur, malheur,

pour vous, pour nous, pour tont le monde, pour les enfants, pour tous les hommes, en tonte le ronde!“ Abends mußte der Adjutant noch in das Haupt­ quartier, Befehl zu empfangen. Ich ritt aus Langeweile mit. Neben der Chaussee lief der Kanal, und jenseits des Kanals war französisches Gebiet. Deshalb warteten wir bis es dunkel war und ritten in einiger Entfernung von einander. Nächtliche Expeditionen liebten die Fran­ zosen nicht; so kamen wir ungefährdet hin und zurück. Nachts fror es wieder gehörig. Früh 14° Kälte! Am 31. hatten wir in diesem gräßlichen Quartier Ruhetag, zu dessen Feier wir einen ganzen Feldkessel Schnaps geliefert bekamen. Die Bäuerin machte mit unserem Rindfleisch und allerhand Rüben eine sehr gute Suppe zu Mittag. Auch Geld gab es massenhaft. Der Zahl­ meister zahlte in Silbertalern. Man hatte ja hier und da, noch in Saarlouis beim Jeu, Geld verborgt. Das kam nun jetzt alles ein, da niemand das schwere Silber­ geld schleppen wollte und die Koffer nicht in Sicht waren. Ich tat also alle Taler in meine Umhänge­ tasche und, da sie mich beim Trabreiten belästigte, hing ich sie meinem Burschen um. Erst nach vielen Tagen konnte ich die Taler in den Medizinkarren ver­ packen — es fehlte kein Stück. Am 1. Januar marschierten wir nach Montbard; hier sollten wir die zwei andern Bataillone unseres Regiments treffen. Eine große Truppenzahl war hier versammelt. Nach Süden zu war Montbard die äußerste besetzte Stadt. Es verbreitete sich das Gerücht, Gari­ baldi wolle hier unsere Linien angreifen; in einer Stunde würden wir im Feuer sein.

Ich habe es im Felde immer geliebt, wenn es mög­ lich war, etwas von der Weisheit des Stabes aufzu­ schnappen. Und so stellte ich mich denn hinter die Bataillonskommandeure, als ihnen vom General eine Rede gehalten wurde. „Rekognoszierungen sollten täg­ lich vorgenommen werden, um an möglichst viel Orten Truppen zu zeigen. Kleine feindliche Truppenteile soll­ ten gefangen genommen oder zerstreut werden. Größere seien mit Energie anzugreifen. Doch sollte man recht­ zeitig das Gefecht abbrechen, wenn man überlegene feindliche Kräfte festgestellt hätte. Aberall solle man Nachrichten sammeln, um zu erfahren, wo die Garibaldianer und in welcher Stärke sie sich aufhielten. Montbard bliebe stark beseht." Das 2. Bataillon mußte noch heute zu einer solchen Rekognoszierung abrücken. Wir marschierten über Les Laumes zur Rechten und einem Tale zur Linken, zwischen dicht bewaldeten Bergen auf der Landstraße vorwärts. Wo ein freier Aussichtspunkt sich befand, war er dicht mit Zuschauern besetzt. Keine angenehme Zugabe, man mußte sich doch sagen, daß das alles Franktireurs waren oder Kundschafter, Bauern, die jede unserer Bewegungen und unsere Stärke rückwärts meldeten. Die Garibaldianer waren mit den besten Nachrichten versorgt» während wir, ohne irgend etwas vom Feinde zu wissen oder zu sehen, dreist vorwärts marschierten, „um Gefangene zu machen und mit Ener­ gie anzugreifen". Bei Les Laumes kamen Kavalleriepatrouillen zurück. Sie hatten nichts vom Feinde gesehen. So ging es denn weiter: zwei Kanonen, eine Schwadron, unser

Bataillon! Alise sahen wir links am Berge; wir gingen längs der Eisenbahn Paris—Lyon vorwärts nach Darcay und Munois. Sn den letzteren kleinen Ort kam die 8. Kompagnie, bei der ich mich befand. Wir bezogen ein großes, neu erbautes Gehöft. Die Mauern waren noch kahl, Vieh war nicht in den Stäl­ len. Nur eine heizbare Stube stand zur Verfügung. Hierhin wurde massenhaft Stroh gebracht. Ein alter Bauer schleppte eine kolossale Menge Wein heran. Die halbe Kompagnie fand Platz auf der Streu. Die andern steckten im Hofe ein großes Feuer an. Viele waren ja auch auf Feldwache oder auf einem Patrouil­ lengang. Mein Bursche besaß eine viel erprobte, gute Me­ thode, mir Geflügel zu verschaffen. Er nahm das Pferd ganz lose am äußersten Ende der Zügel, dann ging er über den Hof, tat so als ob er strauchelte und fiel, wankte hin und her, bis er mit Hilfe des Pferdes Hühner, Gänse oder was es gab, in die offene Stall­ türe getrieben hatte. Jetzt änderte sich sofort die Szene I Kaum war das Geflügel in den ihm bekannten Stall retiriert, so wurde schnell das Pferd kurz genommen, in den Stall geführt und das Tor geschlossen. Was jetzt von dem Geflügel im Stalle war, lebte nicht fünf Minuten mehr. Es wurde mit einigen Hieben mit der großen Reitpeitsche zur Strecke gebracht. So hatte ich denn auch bald ein gerupftes Huhn. Wir kochten uns eine Hühnersuppe und brieten Beefsteaks. Eins so hart wie das andere! Der Kamin heizte gut, Zigarren wurden angezündet, wir fühlten uns sehr wohl. Am andern Morgen ging es schon zeitig, um 6 Uhr, Fritsch, 1870/71. 13

bei voller Dunkelheit fort. Auf dem weiten Hofe brann­ ten noch ein paar mächtige Feuer, die schwarzen Ge­ stalten der Soldaten sprangen mit ihren Feldkesseln eilig dazwischen umher. Die vom flackernden Feuer oft grell beleuchteten Schneedächer der Ställe, die hohen weißen Berge, die dunkelgrünen Tannen, die im Winde die Schneelast abschüttelten, die wechselnde Beleuchtung durch die einmal hohe, einmal niedere Flamme, die wartenden, scharrenden Pferde, die knarrenden, knir­ schenden Wagenräder int Schnee — alles das machte einen so kriegerischen, unheimlichen Eindruck, daß, als ich sporenklirrend und säbelrasselnd die Treppe in den Hof herunter stieg und mich aufs Pferd setzte, ich mir vorkam, wie ein Ritter auf der Fehde oder wie ein Reiter aus dem 30 jährigen Kriege. Bald trafen wir die drei andern Kompagnien, die zwei Geschütze und die roten Husaren, die in Darcey genächtigt hatten. Wir sollten über Courceau und Chanceau Vordringen, bis wir Fühlung mit dem Feinde hätten, einem ernstlichen Kampfe aber ausweichen. Unser Marsch ging auf einer sehr guten Landstraße vor sich, öfter wurde gehalten, Patrouillen gingen vor und suchten seitliche Dörfer ab. Von Feinden wurde nichts gemeldet. So kamen wir gegen 11 Uhr nach Courceau, einem Dorf, das tief in einer Schlucht lag, in die sich die Land­ straße in weitem Bogen hinabsenkte. Der Ort lag tief in der Schlucht und bestand aus drei bewohnten und vier in Verfall befindlichen Häusern. Alle machten einen öden, verlassenen Eindruck. Die Häuser waren leer und verschlossen.

Als unser Zug sich auf der andern Seite der Schlucht auf die Höhe emporwand, stockte er. Die Husaren, die voranritten, wollten rechts im Walde, ja auf dem ganzen tzöhenzuge jenseits des von der Seine durch­ flossenen Tales mehrere Menschen zwischen den Bäu­ men gesehen haben. Während wir noch disputierten, der eine etwas sah, der andere nichts, wurden wir unangenehmerweise von der Richtigkeit der Meldung überzeugt. Es begann plötzlich ein heftiges Schießen vom Walde her. Die Kugeln Pfiffen uns um die Ohren, und man sah die Franzosen am Waldrande herumspringen. Jetzt hieß es schnell handeln. Die Husaren und die Kanonen stan­ den schon jenseits der Schlucht an der Tete ohne jede Bedeckung, auf kahler Höhe. Die Husaren wurden schnell durch die Schlucht zurückgeführt. Es sah sehr hübsch aus, wenn sie sich, noch von den Franzosen un­ gesehen, hinter den Häusern in Galopp setzten und dann im Galopp in kleinen Trupps durch den nach den Fran­ zosen hin offenen Teil der Landstraße jagten. Denn hier, wo der Bach floß, war eine Lücke von 300—400 Schritt zwischen den Häusern. Jedesmal, wenn wieder ein Zug Husaren durch die Lücke sprengte, begann ein tolles Feuern bei den Franzosen. Aber sie schossen stets zu hoch. Nur die Dachziegel prasselten herab. Niemand wurde verwundet. Die Artillerie fand weiter oben, hinter den Häusern, einen geschützteren Abergang, ging im Galopp hinab und hinauf, so daß sie bald auf der andern Seite stand. Da wurde mir mitgeteilt, ein Husar sei verwundet und habe große Schmerzen. Ich mußte es nun den Husaren nachmachen und in Karriere die 13*

Lücke passieren. Obwohl die Franzosen wie nach der Scheibe schossen, war doch nur ein Pferd getötet und der eine Husar verwundet worden. So hatte ich auch glück­ lich, vielfach beschossen, die Lücke passiert. Oben pellte ich den jammernden Husaren aus Mantel, Uniform und einem halben Dutzend Jacken und Hemden aus. Kein Blut, keine Wunde war vorhanden, sondern nur eine blutrünstige Stelle von einem Streifschuß. Und deshalb diese Klagen! Als ich durch das Tal jagte, riefen mir die Offiziere lauter schlechte Witze nach, und ich freute mich nun — schon in Sicherheit — daß sie auch dran mußten. Doch das war nicht der Fall. Sie fanden weiter oben, durch die Gärten des Dorfes, einen gedeckten Abergang.

Jetzt fing auch unsere Infanterie an zu schießen und ging gegen die Höhe vor. Sogar die Fahne wurde ent­ faltet. Das schien mir zu viel Ehre für die Bande von Garibaldianern. Wir stürmten gegen die Waldecke vor. Die Franzosen ließen uns nicht herankommen, son­ dern flohen unter Zurücklassung einiger Toter und Ver­ wundeter. Unsere Soldaten schossen jetzt nicht mehr, wie bei Gravelotte, ins Blaue hinein, sondern zielten sorgfältig und trafen. Sobald wieder Franzosen im Walde sicht­ bar waren, wurden sie durch wohlgezielte Kugeln hinter die deckenden Bäume zurückgetrieben. Mit Hurra be­ grüßten die Soldaten ihren Erfolg und standen nun da, von wo die Franzosen zuerst geschossen hatten. Da wurde der erste Schuß aus der Kanone abgegeben,

dem ein zweiter und dritter schnell folgte. Man konnte sehen, was das für einen Eindruck auf die Franzosen machte. Die wenigen noch zwischen den Bäumen auf dem Berge Sichtbaren verschwanden schnell. Ein Offi­ zier mit gezogenem Säbel suchte sie wieder vorzuführen. Er ging mutig voran, die andern folgten. Plötzlich stürzte er zusammen, ein Unteroffizier von uns hatte ihn getroffen. Nun war kein Halten mehr. Alles riß aus. Mit Hurra folgten die Soldaten und kamen dann herab nach Chanceau. Hätte alles geklappt, so wäre es den Franzosen sehr schlimm ergangen. Eine Kompagnie von uns war ihnen in den Rücken geschickt, um sie abzu­ fangen. Der Hauptmann hatte sich aber zu lange mit der Durchsuchung eines Dorfes aufgehalten, war wohl auch bei den schlechten Waldwegen und unkundig des Terrains nicht schnell vorwärts gekommen. So traf er erst ein, als alles schon vorüber war. Wir glaubten, die Sache sei zu Ende. Die Artillerie und Kavallerie ging wieder durch die Schlucht vor, die Infanterie sammelte sich ebenso in Chanceau, wo nach Absuchung des Waldes noch einige versprengte Fran­ zosen erschossen waren. Alles war guter Laune über den leicht errungenen Sieg. Außer dem tzusarenmantel war niemand ver­ wundet, und außer dem tzusarenpferd niemand tot. Das gar nicht so kleine Städtchen versprach Speise und Trank und Wärme für unsere erstarrten Glieder. Hammel wurden requiriert und geschlachtet, Hühner im Haus des Maires zum Braten zurecht gemacht und Wein herangeschleppt. Ich unterhielt mich mit dem Maire. Er war sichtlich in fieberhafter Aufregung und

sah immerfort ängstlich nach dem Walde links von Chanceau. 1 i j Während ich mir eben überlegte, wohin ich mich wen­ den sollte, um ein gutes Quartier zu bekommen, mel­ dete eine Vedette von rechts und links die Annäherung starker Haufen feindlicher Infanterie. Der Major über­ zeugte sich; wohl in der Stärke von zwei Regimentern standen die Garibaldianer am Walde und rückten lang­ sam vor. Hier mußte schnell erwogen werden, ob man sich in Chanceau zur Verteidigung einrichten, oder ob man zurückgehen solle. Der Major entschied sich für letz­ teres. Das lang sich zu beiden Seiten der Landstraße hinstreckende Städtchen hätte drei- bis viermal soviel Verteidiger gebraucht. Es war auch gar keine Zeit mehr, Barrikaden zu bauen oder Schießscharten in die Häuser­ wände zu schlagen. Eine gute Stellung für die Artillerie war nicht vorhanden. So hieß es denn „an die Ge­ wehre". Es lag ja auch im Sinne der Instruktion, da die Situation geklärt war. Also blieben die toten Hammel ungegessen, die schön gerupften Hühner un­ gebraten und die Weinflaschen halb geleert auf dem Tische. In aller Eile hatte man noch sechs Pferde weggenommen und zwei Gefangene gemacht. Nun war die Hauptsache, Courceau und die Höhen jenseits der Schlucht unangefochten zu erreichen. Von meinem großen Pferde herab konnte ich alles vorzüglich übersehen. Die Franzosen, ungefähr 4000 Mann stark, mehr jedenfalls als ein preußisches Regiment, breiteten sich in den Flügeln, uns weit umfassend, zu dichten Schützenlinien aus. Jede einzelne Gestalt hob sich, wie ein schwarzer Strich, deutlich von dem weißen Schnee-

selb ab. Sn der Mitte marschierte, etwas weiter zurück, eine größere geschlossene Masse zu beiden Seiten der Chaussee langsam vorwärts. Die Garibaldianer eröffneten ein fabelhaftes Schnell­ feuer, doch trauten sie ihren Gewehren zu viel zu. Die Distanz war so groß, daß wir nicht einmal die Kugeln pfeifen hörten. Wir hatten glücklicherweise einen kürzeren, abschneidenden Weg gefunden, so daß wir den großen Bogen, den die Landstraße durch die Schlucht machte, umgangen hatten. Snt Laufen folgten die Gari­ baldianer nach. Jetzt aber, auf der höchsten Höhe, machten wir Halt, um den Berg zu besetzen und die Franzosen etwas aufzuhalten. Nun änderte sich schnell das Bild. Die Artillerie hatte eine schöne Stellung gefunden. Gleich die ersten Granaten trafen in den jetzt vor Chanceau stehenden dicken Haufen der Feinde. Er stob auseinander und löste sich in Schützenlinien auf. Man sah aber deutlich, daß, als alles auseinander lief, auch einige schwarze Gestalten im weißen Schnee liegen blieben. Die Artillerie feuerte noch eine Zeitlang in die Schützenlinie, während unsere Infanterie nicht schoß. Für das Zündnadelgewehr war es zu weit. Die Franzosen stockten int Vordringen, und wir zogen die letzten Soldaten und den letzten Wagen heran. Don meinem Pferde herab sah ich eine starke Ab­ teilung Garibaldianer auf der rechten Seite des Seine­ tales und fürchtete, daß wir überholt würden. Die tzanptgefahr war aber vorüber. Wir hatten die höchste Höhe des hier kahlen Berges gewonnen und

konnten bequem übersehen, ob die Garibaldianer weiter vorgehen wollten. Doch dies geschah, dank der Kanonen, nicht. Ich ritt einmal zu den Kanonen, um recht aus der Nähe das Schießen zu beobachten. Höchst erstaunt war ich über die Treffsicherheit. Der Artillerieunteroffizier zeigte mir eine Gruppe von fünf nebeneinanderstehen­ den Garibaldianern, die am weitesten vorn waren und auf die er schießen wollte. Der Schuß knallte hier an der Kanone laut, von dort schwächer, als die Granate platzte. Drei Franzosen blieben liegen, zwei liefen fort. Auch ganz kleine Häuser wurden auf große Distanzen getroffen. Wenn die Getroffenen umfielen, freuten sich die Artilleristen wie die Kinder auf dem Jahrmarkt, wenn sie mit der Windbüchse das Ziel getroffen haben. Die Franzosen eröffneten ein riesiges Schnellfeuer, blieben aber stehen. Keine Kugel gelangte bis zu uns. Auch wir machten wieder Halt. Die Kanonen fuhren an uns vorbei an die Spitze, vor die Kavallerie. Hier suchte sich, seitlich der Chaussee, der Leutnant wieder eine gute Stellung mit klarem Schußfeld und fing wieder an, über uns hinweg, auf die Garibaldianer zu feuern. Dadurch hielt er uns die Feinde vom Leibe.

Wir setzten den Rückmarsch fort, der jetzt stark berg­ ab ging. Die Soldaten marschierten, obwohl sie seit sechs Uhr auf den Füßen waren, mit großer Schnellig­ keit. Kein Schlapper blieb zurück, denn sie wären sicher massakriert worden, wenn sie in die Hände der Gari­ baldianer gefallen wären. Oft mußte ich mein Pferd in Trab setzen, um nachzukommen. Bald meldeten die

Husaren, daß die Garibaldianer nicht mehr folgten, son­ dern abzögen. Nach und nach stellte sich auch die Heiterkeit bei den Soldaten wieder ein — trotz Hunger und Durst und Kälte. Und je weiter man vom Feinde abkam, um so lauter wurden die Heldentaten zu heroischen Mythen verarbeitet. Wenn man nach den Angaben der Solda­ ten die Garibaldianer, die jeder getroffen haben wollte, zusammenzählte, so kam ein schreckliches Blutbad her­ aus. Ich ritt hinter der Kompagnie her und hörte alle diese Heldengesänge an. Das aber stand jedenfalls fest, daß einige dreißig oder mehr getötet und verwundet waren und daß, was das Beste war, wir weder Tote noch Verwundete zu beklagen hatten. Zwei Gefangene schleppten wir mit. Warum? Ich war immer dafür, diese Leute laufen zu lassen, fü machten uns nur Mühe. Ich hörte, daß der eine ver­ wundet war, ging zu ihm und sah, daß der verwundete linke Oberarm völlig kunstgerecht verbunden war. In der Eile des Abmarsches aus Chanceau hatte man ihm keine Stiefel angezogen, er war mit der blauen Leinenbluse bekleidet und mußte den anstrengenden Marsch mit nackten Füßen und Sabots mitmachen. Er litt furchtbar und weinte wie ein Kind. Warum hatte er auch die Uniform ausgezogen und diese verdammte Franktireurbluse angezogen! Nun wurde er wie ein solcher behandelt. Diese blauen Blusen waren für die Soldaten das, was ein rotes Tuch für den Stier ist. Mit Mühe setzte ich es durch, daß er auf einen Wagen gebracht und in eine Decke gehüllt wurde. Ich gab ihm eine Flasche Wein, die ich aus Chanceau

mitgenommen hatte. Nun war er sehr dankbar und ganz vergnügt. Den andern Gefangenen hatte ein Soldat an den Füßen aus dem Stroh gezogen und bei dem schnellen Abmarsche hatte man ihn mitgenommen, um ihn auszu­ horchen. Er war sehr heiter und gab an, in Lyon Kauf­ mann gewesen zu sein. Ende Dezember habe er eintreten müssen, und da er gut schreiben konnte, habe man ihn schon am anderen Tage zum Sergeantmajor gemacht. Er wäre sehr froh, daß er gefangen sei, denn er führe ein entsetzliches Leben. Fouragieren und requirieren dürf­ ten sie nicht. Gutwillig gäben aber die Bauern nichts her. So lägen sie hungernd, schlecht bekleidet, frierend in der ungewohnten, eisigen Kälte in den verschneiten Wäldern umher; gehaßt als Garibaldianer von den katholischen Bauern, verfolgt von den Preußen, abge­ schnitten von jedem Verkehr. Und wollten sie auch alles bezahlen, es gäbe ja nichts zu kaufen. Die Bauern sagten, sie würden schon mit den Preußen fertig, wenn sie es nur nicht noch mit den Garibaldianern zu tun hätten. Sie würden überall fortgejagt. Kein Mensch wolle sie haben. Abrigens sagte er: Garibaldi stände mit 20000 Mann in Dijon, Bourbaki, Cremer und Bresolles verfolge mit 100000 Mann Werder! Wir lachten über diese großen Zahlen. Später haben sich aber seine Angaben alle bewahrheitet. Obwohl er sich uns gegenüber glücklich pries, gefangen zu sein, war er doch in der folgenden Nacht ausgekniffen. Es war schon dunkel, als wir wieder in Darcey ein­ trafen. Zu unserer großen Freude fanden wir es von einer Kompagnie Jäger besetzt, die den Sicherheits-

dienst schon geordnet hatte und für die Nacht über­ nehmen wollte. Es war hohe Zeit, daß unsere Soldaten in Ruhe kamen. 21 Kilometer hin und 21 zurück, ohne Speise und Trank, waren sie gelaufen, noch dazu vielfach in unebenem Gelände und tief verschneiten Wäldern. Man quartierte sich ein, wo man Platz fand. Die Jäger nahmen uns, trotz der Enge der Quartiere, freund­ lich auf und gaben uns zu essen und zu trinken, was sie hatten. Ich drückte mich von der 8. Kompagnie, wo gar nichts zu haben war, und ging zum Stabe, der mit drei Iägeroffizieren beim katholischen Pfarrer lag. Hier gab es Wein, Brot und Schachtelkäse, soviel man haben wollte. 3n diesen Gegenden lernte man diesen französischen, fetten Weichkäse kennen und schätzen. Zur Ernährung genügte ganz sicher Käse und Brot vollkom­ men. Im Kamin brannte ein enormes Feuer. Froh, in warmer Stube zu sitzen, legte ich mich, gestiefelt und ge­ spornt, vor dem Kamin aufs Stroh. Schon in der Nacht wurden wir fortwährend geweckt durch allerhand ein­ gehende Meldungen. Früh, am 3. Januar, berichtete ein Iägeroffizier, daß bei Courceau Garibaldianer stün­ den in der Stärke von drei Bataillonen. Sie hätten lebhaft gefeuert und die Patrouille einige Kilometer weit nach Darcey verfolgt, wären also ganz in der Nähe. Die Jäger zogen am Morgen ab. Da man aus dem im tiefen Talkessel liegenden Dorfe im Falle eines um­ fassenden Angriffs ohne große Verluste gar nicht her­ ausgekommen wäre, noch dazu behindert durch die an die Chaussee gefesselte Artillerie und Kavallerie, so wurde beschlossen, gleich um 10 Uhr abzumarschieren,

Während eigentlich der Abmarsch auf Nachmittag 4 Uhr festgesetzt war. Es war nur ein kurzer Marsch längs der im Tale laufenden Eisenbahn Paris—Lyon. Hier war klassischer Boden. Unser Ziel war Alise, das alte Alesia. Erinnerungen aus der Schulzeit tauch­ ten auf. Alesia, wo Bercingetorix von Cäsar, und dieser wiederum von den zur Hilfe herbeieilen­ den Galliern eingeschlossen waren. In monatelangem Ringen und Kämpfen hatte Cäsar sein Lager gehalten, bis Bercingetorix halb verhungert und sein Heer ver­ nichtet war. Die Ebene vor Alise hieß les Laumes — vallis lacrimarum — das Tränental! Hier wurde die Freiheit Galliens für immer ver­ nichtet. Seit dieser Zeit nahmen die Gallier die schlech­ ten Eigenschaften der Römer an, ohne das Schlechte ihres Charakters zu verlieren. Treulos, lügnerisch, hoch­ mütig im Glück, boshaft, grausam, ungerecht, schnell verzagend im Unglück, so schildert sie Cäsar, und so sind sie geblieben. Unser Weg führte am südlichen Abhange des Berges in mäßiger Steigung bergan. Rechts oben am Rande der Ebene sah man efeuumrankte Trümmer einer Burg. Auch der Felsen, in das Tal schroff hineinragend, hatte etwas festungsartiges. Die ganze Natur hier war gewaltig. Der höchste Punkt, der Mont Auxois, ist ein steiler Berg. Das obere Plateau, ganz voll Trümmer, wo die Feste der Gallier lag, ist nicht wieder bebaut. Am südlichen Abhange liegt, weithin sichtbar, ein kleines Hospiz und das elende, unfreundliche, aus Kalkstein er­ baute Dörfchen Alise. Den Berg krönt ein Denkmal Bercingetorix, von Napoleon III. gestiftet. Der gallische

Häuptling, mit großem Schnurrbart, blickt zornig, auf den Schildrand gestützt, über die Lande. Er wendet mit einer stolzen Seitenbewegung das Haupt ab von dem Tale, dem campus lacrimarum, wo er jede Hoffnung mit der besiegten Reiterschar der Gallier schwinden sah. Ein Euro, den ich ansprach, setzte mir das alles ausein­ ander. Er führte mich auch oben auf den Berg, von dem man eine wundervolle Fernsicht über die klare Winterlandschaft hatte. Eine kleine französische Schrift über Alise, von ihm verfaßt, schenkte er mir zum Ab­ schied. Bei einem Sturz mit dem Pferde ging sie mir leider mit vielen andern Sachen verloren. Von hier oben aus sah man überall auf allen andern Höhen Posten von Franzosen, die uns beobachteten. Der Cure erzählte mir ganz naiv, daß aller Stunden eine Meldung ins Hauptquartier der Garibaldianer nach Semur abginge. Sn Darcey, das wir vor zwei Stunden verlassen hatten, war schon wieder auf eine tzusarenpatrouille geschossen worden. Hier aber, inAlise, waren wir ganz sicher. Das hochgelegene Dorf war leicht zu verteidigen und schwer anzugreifen. Außer uns be­ fanden sich hier eine Schwadron Husaren und das 7. Iägerbataillon sowie vier Kanonen. Sn den Dörfern der Ebene lag das Snfanterieregiment 73. Die Iägeroffiziere, auch viele Gemeine, trugen einen merkwürdigen Orden: eine Art Kupfermünze, so groß wie ein Dreier, mit zwei krummen Säbeln darüber. Das war die Bückeburger Tapferkeitsmedaille. Bei dem Ba­ taillon stand ein Prinz von Schaumburg, ein allgemein geachteter und verehrter junger Mann, der jeden Dienst tat, vor keiner Gefahr sich scheute. Er hatte zwei wunder-

volle, große Hunde bei sich. Diesem Prinzen verdankten die Herren die Auszeichnung. Mit großem Bedauern hörten wir, daß der Artillerie­ offizier, der unsere zwei Kanonen gestern führte, von seinem Vorgesetzten schrecklich ausgeschimpft worden sei, weil er sich ganz verschossen habe. Seine ganze Muni­ tion habe er aufgebraucht. Nun, wenn ich diese An­ gelegenheit nur menschlich, nicht militärisch, — was ich ja nicht vermag —, beurteilen soll, so fand ich das Ver­ fahren des Artillerieleutnants ganz ausgezeichnet. Es ist ganz sicher, daß wir nur ihm und seinen zwei Kanonen zu verdanken hatten, daß wir nicht angegriffen wurden, daß uns die Garibaldianer nicht auf den Leib rückten. Hätten die Garibaldianer nicht so große Angst vor den Granaten gehabt, so hätten sie uns sicher bald ein­ geholt. Und wenn wir uns gewiß auch durchgeschlagen hätten oder auf Verlangen unterstützt worden wären, so hätte es doch recht viele Menschenleben und Verwun­ dete kosten können. Sn dieser weit von Lazaretten ent­ fernten Gegend, ohne gute Transportmittel, hätten es die Verwundeten sehr schlecht gehabt. Ich ließ einmal einen Verwundeten auf einer Kanone fahren, aber er war schnell wieder herunter, denn die Erschütterungen waren zu groß. Meines Erachtens war es also immer noch besser, daß abends die Granaten, als daß viele Menschen fehlten. Sn der Nacht konnte ja der Bestand an Schießbedarf ergänzt werden, wie es auch geschah. Aberhaupt urteilte jetzt mancher anders über die Artillerie. Früher hieß es immer: die verdammten Kanonen, wozu fahren sie mit uns in der Welt herum 1 Sie nützen uns nichts, wir müssen sie nur bewachen.

Mit den Kanonen sind wir immer an die Chausseen gebunden. Jedes Ausweichen in das Gebirge oder Abweichen vom guten Wege ist ganz unmöglich; die Kanonen hindern nur unsere freie Bewegung. Jetzt wurde anders geurteilt, denn jeder sah, welch großen Nutzen uns die Artillerie gebracht hatte, namentlich gegen die Garibaldianer, die nicht über Artillerie ver­ fügten. Freilich, den Artilleristen machte es einen Hauptspaß, wenn sie ein paar Granaten los werden konnten. Sie schossen gar zu gern. Es mochte ja auch sehr langweilig sein, tagelang nur herumzufahren, ohne zu zeigen, wozu sie eigentlich da waren. Bei der Einquartierung des Bataillons in Alise ging es sehr summarisch her. Jede Kompagnie bekam ein paar Häuser angewiesen. Wir fanden das einzige große Zimmer bei dem Euro schon mit einem Jäger­ offizier belegt, der uns aber sehr freundlich aufnahm. An der Wand stand das Himmelbett des Pfarrers. Ein mächtiges Feuer wurde in dem Kamin angezündet. Wein wurde in großer Menge angefahren, und nach­ dem man sich eine halbe Stunde lang, vor dem Kamin sich hin und her drehend, hatte auftauen lassen, kehrten auch gute Laune, Humor und Hunger zurück. Die Herren Burschen bereiteten die nicht mehr unbekannte Biwak­ kost, Beefsteak, mit Zwiebel und Speck gebraten. Schwe­ rer Burgunderwein war genug vorhanden. Jetzt war die Stimmung leidlich. Wir saßen um den Kamin und wärmten uns. Mit großem Behagen knöpfte man alle Knöpfe auf und entledigte sich der großen, schweren, nassen Reitstiefel. Wir hatten eine Methode kennen gelernt, beim Alarm die Stiefel schnell

an die Beine zu bekommen. Der Bursche mußte den Schaft so halten, daß man leicht hineinschlüpfen konnte. Nun wurde eine brennende, große Zeitung, ein brennen­ der Strohwisch oder eine Handvoll brennendes Heu in den Stiefel geworfen, und möglichst schnell kroch der Fuß in die Flamme hinein, sie schnell erstickend. Man behielt warme Füße, und die Wärme wiederum hatte das voll Fett gesaugte Leder schlüpfrig gemacht. Wer diese Methoden noch nicht kannte, hatte Angst, sich zu verbrennen. Das war aber bei einiger Fixigkeit nicht möglich. Eine alte Dame in Halle, die Mutter meines besten Freundes aus der Kinderzeit, versorgte mich mit Strümpfen. Ihr Lieblingssohn, mein Freund, war 1866 bei Königgrätz gefallen. Hm so schmerzlicher für sie, da sie als Süddeutsche mit dem Herzen nie eine Preußin geworden war. Sie schrieb mir, sie sei alt, das Ein­ zige, was sie noch vermöchte, sei Strümpfe zu stricken. Sie wollte mir, sobald ein Strumpf fertig sei, ihn per Feldpostbrief senden. Fast jede Woche bekam ich von ihr einen, auch zwei Strümpfe. Wie viele Kameraden habe ich damit glücklich gemacht. Eines Morgens z. B. marschierte ein junger Offizier recht trübselig neben mir. Und als ich ihn fragte, ob er krank sei, erzählte er mir, seine Stiefel seien völlig zerrissen und geplatzt. Im Schlafe sei er dem Feuer im Kamin zu nahe gekom­ men. Jetzt habe er dünne Lacklederstiefeletten an. Sie seien aber sehr eng. Heut früh sei er nicht hineinge­ kommen und habe deshalb die Strümpfe weglassen müssen. Nun marschierte er mit den nackten Füßen in den dünnen Stiefeln bei 10° Kälte in Eis und

Schnee! Jetzt zogen wir die Stiefel mit vereinten Kräf­ ten aus, zogen trockene, wollene neue Strümpfe an und bekamen auch mit Hülfe einer brennenden Zeitung die Stiefel wieder an die Füße. Da war denn das Glück groß! Und so habe ich die Strümpfe im Sinne der Geberin stets verwendet, manchem damit aus großer Not helfend. Namentlich der gemeine Soldat war ganz erstaunt, wenn man ihm ein solches, jetzt sehr wert­ volles Geschenk machte. Da ich nun als Jüngster im Range, resp, als Unter­ arzt auf den linken Flügel, dicht an die schlecht schlie­ ßende Stubentür vor den Kamin kam, so fror ich ent­ setzlich und erwachte schon vor Mitternacht. Ich setzte mich auf einen Stuhl, brannte mir eine Pfeife an und dachte über die Freuden und Leiden des Winter­ feldzuges nach. Es war damals eine recht trübe Stim­ mung in uns. Und zwar deshalb, weil wir vom Stande der Dinge fast nichts wußten. Zeitungen und Briefe gab es sehr selten. Ganz natürlich. Zu den Vorposten kam die Feldpost nicht. Wir aber wußten wieder nicht, wo sie sich befand, so daß man nichts abholen konnte. Gerüchtweise verlautete, daß Paris beschossen würde, doch glaubte niemand an baldige Übergabe. Bei uns im Süden konnte auch der Laie sehen, daß wir in zu großer Minderheit waren, um mehr zu erreichen, als den Feind irre zu führen. Man tappte auf die kühnste Weise in dem Gebirge umher und wußte in keiner Stunde, was die nächste bringen würde. Jeden Tag wurden Patrouillen zu Fuß und zu Pferd in Unzahl nach allen Richtungen hin aus­ geschickt, jedes Dorf, in dem man nächtigte, wurde verFrttsch, 1870/71. 14

barrikadiert, die Soldaten schliefen mit der Hand an der Waffe, die Pferde wurden kaum abgesattelt. So­ wohl Offiziere als Mannschaften waren in ewiger Un­ ruhe. Und was würde dann werden, wenn die Garibaldianer wirklich einmal Mut bekämen, uns mit ihrer Überzahl angriffen und unsere Linien durchbrachen? Das Einzige, was namentlich die Soldaten bei Kräften und guter Laune erhielt, waren die rücksichts­ losen Requisitionen von Nahrungsmitteln. Fleisch, Brot, Wein wurde ohne zu fragen genommen. Ein paar Kühe führten wir jederzeit mit uns. Und wenn ein Mann täglich zwei Pfund Fleisch, Brot und ein paar Flaschen guten Rotwein hat, so kann er auch etwas aushalten. Bei alledem benahmen sich die Soldaten vorzüglich. Kein Murren, keine Betrunkenheit, keine Ausschreitung oder Brutalität gegen die Bevölkerung kam vor. Das Verhältnis zwischen Offizieren und Mannschaften war ausgezeichnet. Was jeder den Kameraden nützen konnte, das tat er gewiß. Daß das Notwendige genom­ men wurde, war selbstverständlich. So besaß jeder Sol­ dat eine Bettdecke, die er irgendwo vergessen hatte liegen zu lassen. Die Soldaten schnitten in die Mitte ein Loch, steckten den Kopf hindurch und trugen so die Decke als „Poncho". Eine Decke rot, die andere braun, grün oder blau. Sehr preußisch, soldatisch sah ein solches Bataillon nicht mehr aus. Hätte nicht oben die Pickelhaube herausgeschaut, man hätte die Leute kaum für Soldaten gehalten. Aber bei der Kälte taten diese Decken sehr gute Dienste. Früh um 4 Uhr mußte der Iägeroffizier fort, um

einen andern im Alarmhause abzulösen. Als er weg war, und während die andern Kameraden vor dem Kamin noch fest schliefen, schlich ich mich leise zu dem Bett und kroch voll Wonne unter die warmen Decken. Welch schrecklicher Gedanke sonst, sich in ein gebrauchtes Bett zu legen. Und jetzt war es mir eine große, sehr willkommene Annehmlichkeit. Die Offiziere machten ein sehr verdutztes Gesicht, als am andern Morgen ich aus dem Bett hervorkroch. Früh 6 Uhr kam der Befehl: das Bataillon mar­ schiert um 2 Uhr nach Montbard ab, woselbst sich das Regiment sammelt. Die Rekognoszierungen seien be­ endet. Auf jeder Landstraße nach Osten, Süden und Westen waren fliegende Kolonnen vorgeschickt. Aberall hatte man sich, nachdem durch kleine Gefechte die An­ wesenheit, Beschaffenheit und Zahl des Feindes fest­ gestellt war, wieder in gute Stellungen zurückgezogen. Da genügend Zeit bis zum Abmarsch vorhanden war, ging ich auf die Chaussee. Ich wollte sehen, ob ich nicht einen Punkt fände, wo ein guter Aberblick über Alise, den Mont Auxois, Les Laumes und die noch erkennbaren Wälle in der Ebene zu gewinnen wäre. Als ich um eine Ecke am bewaldeten Berge kam, fand ich dahinter zwei Husaren, gemütlich ihre Pfeife rauchend, am Graben sitzend. Natürlich hatten sie es vorgezogen, statt vorzureiten und sich abschießen zu lassen, lieber vom sicheren Punkt aus ihre Beobach­ tungen zu machen. Die Husaren, alles ältere Leute, hatten es aber auch recht schlecht. Einmal eine große, blutige Attacke und dann Ruhe, das ist leicht zu er­ tragen. Aber täglich Patrouillenritte bei Tag und bei 14*

Nacht! Täglich Tote und Verwundete — das reibt die Leute auf und verdirbt ihnen die Lust am Kriege. Man konnte es als Mensch den Leuten nicht verargen, wenn sie nicht immer wieder als Zielscheibe für die auflauernden Franktireurs vorreiten wollten. Die Husaren erzählten, sie wären eine Stunde weit vorund nun wieder zurückgeritten. An der andern Seite des Tales hätten sie Truppen marschieren sehen und auch mit ihnen Fühlung gefunden. Es seien Leute vom II. Armeekorps gewesen. Sie hätten gesagt, daß sie schon seit vierzehn Tagen ohne Ruhetag von Paris hermarschierten und gefragt, ob sie nicht ein paar Ham­ mel los werden könnten. Sie trieben eine große Herde. Die Tiere seien aber alle lahm, könnten nicht mehr laufen und blieben liegen.

Dies war das erstemal, daß wir etwas von dem anmarschierenden II. Korps hörten. Aber niemand wollte es glauben. Daß es nun wieder rückwärts nach Montbard ging, war ja nicht schön. Dennoch freuten wir uns auf das Zusammensein mit den Regimentskameraden, auf die größere Sicherheit und Ruhe in der größeren Garnison, auf die Post und auf bessere Quartiere. Montbard liegt in einem weiten Talkessel, in dessen Mitte sich ein steiler Berg erhebt. Diesen Berg krönte das Schloß der Familie Buffon, eine von Karl dem Kühnen angelegte Feste. Don dem alten Gebäude steht nur noch ein alter, hoher Wartturm. Die andern Ge­ bäude hat schon Buffon abbrechen und an ihrer Stelle einen Park anlegen lassen, so daß der Gipfel des Berges

mit herrlichen Parkanlagen geschmückt ist. Das ganze Plateau umgibt eine dicke Brustwehr, von der an der Berg steil abfällt. Zwei Wege führen durch leicht zu verteidigende Mauern und Terassen serpentinartig zum Schlosse hinauf. Gegen Artillerie, wenn sie auf den gegenüberliegenden Höhen stand, hatte man keine Deckung. Aber für Infanterie war das Schloß un­ einnehmbar. Hier oben lag stets eine Kompagnie. Die Stadt selbst war auch, namentlich gegen Süden, von wo der Feind kam, leicht zu verteidigen. Hier floß der Kanal vorbei, dessen Brücken überall durch Häuser mit Schießscharten gedeckt waren. Davor, etwa drei­ hundert Schritt entfernt, bot der Eisenbahndamm von etwa fünf Meter Höhe eine vortreffliche Stellung für die Infanterie. Don diesem Eisenbahndamm waren die Höhen und Wälder überall über Flintenschußweite ent­ fernt, so daß der Feind beim Sturm über das schutz­ lose Feld unendlich viel Verluste erlitten hätte. Zahl­ reiche Barrikaden, befestigte Häuser, Feldwachen in den davor liegenden Bauernhöfen, machten unsere Stellung zu einer sehr sicheren. Bis jetzt hatten wir jedenfalls nicht erlebt, daß die Garibaldianer gute Stellungen an­ gegriffen hätten. An der tzauptbrücke lag ein Hotel. Hier aß ich zum ersten Male seit langer Zeit wieder ordentlich mit Messer und Gabel von Tellern. Das Hotel lag stets voll von Offizieren; man hatte da Unter­ haltung und war so dicht an der Derteidigungslinie, daß man, wenn es los ging, gleich bei der Hand war. Einen eigentümlichen Eindruck machten die Offiziere der Husaren, meist pommersche Gutsbesitzer. Jeder hatte eine andere Uniform an, da die Herren aus den ver-

schiedensten Regimentern stammten und ihre alten Uni­ formen trugen. Die Stadt Montbard an sich hat nichts Bemerkens­ wertes. Ich wohnte bei einem Apotheker. Es war natürlich kalt, wie überall. Der Genuß eines Bettes wurde mir nicht zuteil. Am Nachmittag gab es Briefe und Zeitungen, aus denen man wenig Erfreuliches sah. Überall wurde gekämpft, man war auch an allen Stellen im Vorteil, aber das Ende war nicht abzusehen. Immer neue Truppen in zahlloser Menge brachte Gambetta auf die Beine. Auf der Karte konnte man sehen, daß keine großen Fortschritte gemacht worden waren, ja, daß Orleans und Dijon wieder aufgegeben werden mußten. Dachte man an den großen Teil von Frankreich, der noch unbesetzt war, an die enormen Hilfsmittel dieses reichen Landes, an die stets bereite Hilfe Englands für die Franzosen, so wurde man doch recht nachdenklich. Und dabei sah man überall auf den Höhen die Posten der Franktireurs, hörte überall von den Bauern, daß sie fast alles eher wußten als wir l Wir fürchteten sehr, daß wir uns doch noch würden „rückwärts konzentrie­ ren" müssen, ehe die Soldaten bei dem ewigen Alarm, den großen Strapazen und der unregelmäßigen Ernäh­ rung leistungsunfähig wurden. Dabei bildete sich ein immer größerer Haß gegen die Garibaldianer und die Franktireurs aus, so daß selbst der Ruhigste grausame Maßregeln für notwendig hielt. Wie oft wurde darüber diskutiert: würde es nicht bald anders, so müßte man die ganze waffen­ fähige Bevölkerung gefangen nach Deutschland schlep­ pen. Man begriff jetzt die Grausamkeiten und ver-

zweiflungsvollen, blutigen Kämpfe der Guerillakriege unter Napoleon in Spanien und Tirol. Und man wunderte sich, daß unsere Soldaten sich ihre unver­ wüstliche Gutmütigkeit bewahrten. Am 5. Januar früh schrieb ich einige Briefe und wärmte mich an dem großen Feuer im Kamin. Es wurde gehörig geflickt, Knöpfe angenäht, Strümpfe ge­ waschen, die Stiefel getrocknet und neu geschmiert. Plötz­ lich horchte ich auf: Alarm! Das 2. Bataillon mußte ab­ marschieren. Wir zogen den steilen Berg auf der Straße nach Chatillon hinan. Es war grimmig kalt. Die Pferde glitten auf dem Glatteis aus. Wir gingen alle zu Fuß. Nach etwa drei Stunden, die wir durch einen großen, unheimlichen, dichten, ganz verschneiten Wald mar­ schieren mußten, kamen wir am Ort unserer Bestimmung an. Es war ein kleines Nest mit einem netten Schloß, in dem der Stab vorzüglich aufgehoben war. Wir von der 8. Kompagnie bezogen das scheußlichste Quartier, das mir in diesem Feldzuge vorgekommen ist. Eine ganz kleine Stube, eng und schmutzig. In der Mitte stand ein kleiner Kanonenofen. Das Rohr war mit einem Draht lose an der Decke befestigt und wackelte fortwährend hin und her, so daß man aufpassen mußte, um nicht zu er­ sticken. Am Ofen saß ein alter, blödsinniger, völlig gelähmter Mann in einem hölzernen Lehnstuhl in Betten verpackt. Alle zehn Minuten benützte er einen alten undichten tzolzschuh als Nachtgeschirr. Es war gräßlich! Wir fanden aber Kartoffeln und kochten einen großen Vorrat mit Speck und Zwiebeln. Eine Flasche Kognak

war auch noch vorhanden. Als die zwei alten Leute ein Glas Grog, gehörig versüßt, bekamen, wollten sie uns die Hände küssen und priesen unsere Freundlichkeit. Leider hatten sie im ganzen Haus kein Stroh, und so mußte man denn auf der blanken Erde liegen. Weckte mich die Kälte auf, so warf ich Holz in den Ofen, wofür der Greis dann stets sehr dankbar war. Am andern Morgen sollte es um 8 Uhr fortgehen. Ich ging schon eine halbe Stunde vorher in das Schloß, um zu sehen, ob ich nicht etwas für meinen leeren Magen ergattern könnte. Denn wir hatten nur kalte Kartoffeln. Während der Stab noch einige Befehle erteilte, beschäftigte ich mich mit dem Rest des Frühstücks des Stabsarztes. Dann bestieg ich mein altes Roß, und es ging wieder in die verschneite Landschaft hinein. Nach etwa bi,er Stunden, einem Marsche durch Wäl­ der und Täler, sahen wir unseren Bestimmungsort, „Aisy le duc", unten im Tal vor uns liegen. Es war ein unregelmäßiges, zerrissenes Dorf, an der direkten S'traße Chatillon—Dijon. Auf dem Platze vor der Mairie stand, mit nur zwei Mann Ulanen Bedeckung, ein Proviantwagen mit einem Intendanturbeamten. Das imponierte doch mächtig! Ehe die Garnison ein­ gerückt war, stand schon die Fourage bereit! Der Be­ amte war aber doch sehr froh, als wir kamen, denn er hatte sich selbstverständlich sehr ungedeckt gefühlt. Die Franzosen hatten sich sicher nur durch den Bericht oder die Kenntnis davon, daß die Infanterie bald einrücken würde, abhalten lassen, die paar Mann abzumurksen. Überall nach allen Seiten hin lagen einzelne Gehöfte. Gleich der Anfang war nicht angenehm. Wir sahen,

Wie die hinausreitenden Husaren jenseits des Dorfes auf einem Felde Jagd auf einige feindliche Reiter machten. Jedenfalls waren das die Reiter, die auf Befehl des Präfekten des Cöte d’or die Ankunft der Preußen melden sollten. Diese Pferde stammten von der in Chatillon durch Ricciotti Garibaldi gefan­ genen Schwadron. Einer der Reiter wurde erschossen, ein anderer entkam im Walde. Das Pferd wurde am Brande als ein preußisches erkannt. Nachdem diese aufregende Jagd zu Ende war, ging es ans Einquartieren. Jeder Kompagnie wurde ein Teil des Dorfes zugewiesen. Die Kompagnieführer wiederum verteilten die zur Verteidigung geeigneten Häuser an ihre Offiziere. Barrikaden aus Wagen, Ackergeräten, Mist, Brettern und Steinen wurden an allen Aus­ gängen erbaut, Patrouillen vorgeschickt, Lebensmittel requiriert. Ich hatte in dieser Zeit nichts zu tun und revidierte deshalb das Haus, in dem wir bleiben woll­ ten. In der Küche hing an der Decke eine große Speck­ seite, die natürlich sehr schnell kleiner wurde. Wir hielten uns alle ein Stück Speck, eine Handvoll Zwie­ beln und mit Fenchel gebackenes Weißbrot, um stets etwas zu essen zu haben. In einer Scheune lag ein großer Haufen Walnüsse. Noch am andern Tage knack­ ten die Soldaten fortwährend Nüsse. Die Bevölkerung war merkwürdig frech und hart­ näckig. Ehe nicht einige Bauern gehörig verprügelt waren, bekam man keine Nahrungsmittel. Auf der Straße versperrten die zusammenstehenden Blusenmän­ ner den Soldaten den Weg. Schließlich wurde befoh­ len, daß niemand sein Haus verlassen dürfe. Mit

drohender Gebärde wiesen die Bauern nach dem Walde hin, als ob von da unser Verderben kommen sollte. Wir hatten längst Fühlung mit dem Feinde, doch wußte niemand, wie stark er war. Das alles waren ja recht liebliche Aussichten für die Nachtruhe. Angriff von außen und Widerstand von innen. Mein Wirt war ein besonders frecher Kerl. Er verweigerte alles; erst nach Androhung von Prügel brachte er große Massen von Käse, Butter, Brot und Wein. Wir sahen uns noch die zum Alarmquartier bestimmte Mairie an. So ging der Tag unter beständiger Erwartung eines Angriffes ziemlich unruhig zu Ende. Ebenso die Nacht. Oft wachte ich auf und horchte zum Fenster hinaus. Es blieb alles ruhig. Ich lag ganz gut, da ich eine Matratze gefunden hatte. Am andern Morgen wurde etwas besser gelebt. Die Franzosen hatten wohl andere Nachrichten erhalten, jedenfalls hatten sie ihr Verhalten geändert. Gestern waren sie unverschämt und widerspenstig, heute jammer­ ten sie und heulten: es sei alles brise, casse, vole, pillö. Hier in Aisy kam mein Hauswirt mit wichtiger Miene an, sie hätten im Dorfe einen alten Mann, der die Schlacht bei Leipzig mitgemacht, lange in Deutschland gekämpft habe und deutsch sprechen könnte. Ich ließ mir natürlich den Mann holen. Es war ein alter Mummelgreis, sein Deutschsprechen beschränkte sich auf das Wort „Ja". Man konnte ihn fragen was man wollte, er antwortete stets: „Ja, Ja". Nun, die Fran­ zosen waren jetzt ja wieder so weit, daß sie „Ja, ja" sagen mußten!

Wir saßen eben beim bon vin, einem feurigen, vor­ trefflichen Burgunder in versiegelten Flaschen, als eine Patrouille kam mit dem Befehl, daß wir sofort nach Ankunft einiger Kompagnien des 60. Regiments nach Montbard zurückmarschieren sollten. Das hielten wir kaum für möglich, jetzt, abends, bei völliger Dunkelheit einen Marsch antreten zu müssen, zu dem wir zwei Tage gebraucht hatten. Doch es half nichts. Um 6 Uhr abends setzten wir uns in Bewegung, mit einer end­ losen Kolonne! Die Fouriere hatten von Chatillon noch alles mögliche Schöne empfangen, was nun un­ verteilt auf den Wagen mitgenommen wurde. Die Stunde vor dem Abmarsch war von den Soldaten be­ nutzt worden, möglichst viel Wein zu trinken, so daß die Stimmung der Mannschaften eine sehr gute war. Auch unser Proviantwagen schloß sich an. Mit Rücksicht auf den langen Nachtmarsch sollten die Tornister gefahren werden; dazu waren noch acht Ein­ spänner requiriert worden. Wir führten also wohl 30 bis 40 Wagen hinter dem Bataillon mit uns. Und damit sollten wir einen Nachtmarsch von acht Stunden machen! Erst regnete es ziemlich stark, dann fror es wieder. Es entstand Glatteis, so daß kein Mensch reiten konnte. Fast in jedem Augenblick glitt ein Soldat aus, oder ein Pferd rutschte unbeholfen über die Landstraße, als ob es Schlittschuh laufen wollte. Sn den Dörfern, durch die wir eilend marschierten, gab man mit Raketen und Leuchtkugeln Zeichen. Wir hatten keine Zeit, uns darum zu kümmern, sondern marschierten schnell weiter. Der Mond ging auf. Vor uns lag der weite, finstere Wald, durch den wir wohl vier Stunden zu marschieren hatten.

Und dabei machten die Soldaten einen ganz un­ glaublichen Lärm. Ununterbrochen sangen und brüll­ ten sie. Jedenfalls waren sie noch etwas voll „süßen Weines". Es war ein Spektakel und Skandal, als ob ein ganzes Armeekorps jubilierend anrückte. Aufregend war dieser Nachtmarsch. Stets dachte man, es müßte knallen. Man wartete gleichsam auf den ersten Schuß in diesem dunkeln Walde, in dem man nicht einen Schritt weit sehen konnte. Und hinter uns dje dreißig hochbepackten Wagen mit ein paar Soldaten zur Bedeckung. Gab es ein Nachtgefecht, so mußte die Verwirrung heillos werden. Ich ging einmal vor zum Stabe, um den Major und meinen Stabsarzt um Instruktion zu bitten resp, zu fragen, was wir Arzte denn tun sollten, wenn es losginge. Der Major sagte: „Sie wundern sich gewiß, daß ich das Singen und Lärmen nicht untersage. Ich fürchte aber, daß die Mannschaften, wenn sie schweigen müssen, die Laune und den Mut verlieren. Daß wir hier marschieren, weiß natürlich der Feind, ob wir nun singen oder schweigen." Dies war gewiß sehr klug gehandelt. Ja, viel­ leicht hat gerade dieser kolossale Lärm, das Markieren der Sorglosigkeit uns vor einem Angriff geschützt. Die Garibaldianer, ohnehin keine Freunde nächtlicher Unternehmungen, überschätzten unsere Zahl, da jeder einzelne Lärm für zehn machte.

Rechts sah man am Ende einer graben Chaussee die vielen Lichter eines Dorfes. Raketen und Leuchtkugeln flogen in die Luft. Da erbot sich ein Offizier hinzureiten,

um zu sehen, was denn dort los sei. Es war ein ritter­ licher, stets heiterer, sehr liebenswürdiger Kamerad, der über manches wunderbare Ansichten hatte. Sein Vater, früher kurhessischer Beamter, hatte einen Konflikt mit dem letzten Kurfürsten gehabt. Dieser Pflegte mißliebige Beamte zu treten oder zu prügeln, am liebsten hätte er sie köpfen lassen. Dem hatte sich der Vater unseres Kameraden entzogen, war nach Preußen ausgewandert und in Berlin angestellt. Und der Sohn dieses sehr liberalen Herren war, wie er mir mitteilte, durch einen Klavierlehrer bekehrt, katholisch geworden! Nun hatte er ein Buch gelesen: „Memoiren eines Legitimisten", in dem geschildert war, wie ein bretagnischer Edelmann sein ganzes Leben hin­ durch stets dahin zieht, wo das legitime Prinzip gegen das revolutionäre kämpft. So hatte er die Kriege der Chouans mitgekämpft, dann als österreichischer Offizier gegen Napoleon gefochten, zuletzt mit den Spaniern gegen die Franzosen, und als 1830 die französische Revolution ausbrach, hatte er Frankreich verlassen. Dies war nun das Ideal des Offiziers. Wenn es nicht bald wieder einen Krieg in Preußen gäbe, wollte er zu Don Carlos und mit den Basken gegen die Spanier kämpfen. Jetzt ritt er ab, nach dem Dorfe zu. Nach einer halben Stunde hörten wir das antrabende Pferd und waren doch recht froh, ihn ganzbeinig wiederzuhaben. Er lachte so, daß er kaum erzählen konnte. Er war im scharfen Trab geritten und hatte in der Dorfstraße sich umsehen wollen. Plötzlich — in der Dunkelheit — steht das Pferd still, er fliegt über den Kopf des Pferdes und fällt auf den Weg. Zwei Franktireurs fliehen ent-

seht, als der preußische Soldat plötzlich zwischen sie fällt und mit dem Revolver nach allen Seiten schießt. Nun stellte er fest, daß quer über die Straße eine hohe Barrikade von Dünger gebaut war, auf der er lag. Vor ihr hatte das Pferd gescheut, und er war weich gefallen. Ohne Mühe kletterte er über den Mist zurück, das Pferd stand noch ruhig dort, wo es den Reiter abgeworfen hatte. Ehe die Franzosen kamen, die wirkungslos hinter ihm drein schossen, war er schon zu Pferde und weit weg. Er schilderte es als hoch­ komisch, wie er plötzlich von oben herunter zwischen die französischen Posten gefallen war. Trotzdem überall massenhaft Garibaldianer lagen, uns sahen, uns hörten, uns signalisierten — aus allen Dörfern sahen wir Feuerzeichen aufsteigen — griff uns niemand an! So kamen wir, völlig unangefochten, um 12 Uhr nachts in Montbard an. Ich erwischte einen Quartier­ zettel und faßte einen Franzosen ab, der bewogen wurde, mir das Haus zu zeigen. Ich fand eine reizende, warme Stube. Der Wirt heulte und schrie, brachte aber noch nach Mitternacht Holz, Brot, Käse und Wein. Er er­ zählte mir von großen Siegen der Garibaldianer. Bald kam auch mein Bursche, der unten noch Platz und Futter für mein Pferd gefunden hatte. Er machte sich über den Rest des Essens und des Weines her. Und da zwei Betten in der Stube standen, hieß ich ihn in das eine kriechen. Mir war alles „Wurscht". Ich dachte, ehe ich nicht das Schießen höre, rühre ich mich nicht. Jedenfalls würden wir uns hier auf die Verteidigung beschränken, was

ich aus der geringen Anzahl der Unseren und den drei­ fachen Barrikadenreihen schloß. Der Bursche war schon früh um 5 Uhr aufgestanden, um das Pferd zu Besorgen. Um 8 Uhr kam er wieder. Er brachte Briefe und Zei­ tungen und Berichtete, daß alles ruhig sei. Das Batail­ lon sei noch im Quartier. Ich schrieb ein paar Briefe und befand mich sehr wohl. Auf einmal, gegen Mittag, kam der Bursche wieder: die Garibaldianer griffen eben an, es sei alarmiert. Ich sei zum Stabe versetzt als Bataillonsarzt. Der Stabs­ arzt sei beim ersten Bataillon. Kaum war ich mit dem Ankleiden fertig, so hörte ich auch schon Kleingewehr­ feuer. Die Bagage fuhr auf den Berg, auf dem Wege nach Chatillon. Die bespannten Kanonen standen an der Brücke. Die Husaren hielten diesseits des Kanals hinter einigen Häusern. Ich blieb nun beim Major an der Brücke. Als aber die 5. Kompagnie vorging und in das Gefecht eingriff, lief ich hinterher, wurde aber bald durch Verwundete zurückgehalten. Da das Schießen nachließ und man sich nur noch aus gedeckten Stellungen beschoß, ging ich einmal nach der Stadt, um im Lazarett nachzu­ sehen, wie man unsere Verwundeten untergebracht hätte. Es war ein hübsches, kleines Hospital, wo mich französische Kollegen sehr unfreundlich empfingen. Sie waren natürlich der Ansicht, daß die Garibaldianer in kürzester Zeit Montbard erobern würden. Ich ging dann wieder in die Gefechtslinie. Hier bekam ich wieder einmal den Beweis, wie kolossal weit die Chassepots trugen. Wir sahen kaum die Garibal­ dianer, hörten auch keinen Knall, als plötzlich hinter

uns eine Ordonnanz aufschrie. Der Mann hatte einen Fleischschuß durch den Oberschenkel. Da wir keine Trag­ bahren hatten, ließ ich eine Stubentür ausheben, zwei große Latten oben und unten darannageln, Matratzen und Betten darauf legen, den Verwundeten auf diese Tragbahre bringen, und so ging es sehr bequem, ohne Erschütterung des Verwundeten, bergab nach Montbard. Diese verlorenen Kugeln, die plötzlich, von oben kom­ mend, man weiß gar nicht woher, hinter der Front Unheil anrichten, habe ich mehrfach gesehen. So wurde am 16. August ein Korpsbruder, Assessor Jacob, ob­ wohl er hinter dem Bataillon stand, auf solche Weise getötet. Auch Stöphasius, der durch sein heldenhaftes Be­ nehmen bei Düppel berühmte Artillerist, ist so umge­ kommen. Ich hatte ihn noch am 17. August gesehen. Ein kleiner, sehr kriegerisch aussehender Mann, mit langem, wallenden Vollbart kam er zu unserem Re­ giment: „Das waren also meine lieben Torgauer Kame­ raden, die da gestern vor dem Walde so zusammen­ geschossen wurden! Das Regiment unserer lieben Frauen! Hätte ich das geahnt, dann hätte ich mit meiner Batterie auf eure Gegner hingehauen." Sicht­ lich bewegt und traurig, als er von den großen .Ver­ lusten hörte, ritt er kopfschüttelnd weg. Nach langem Feldzuge, nach unendlich vielen, glück­ lich überstandenen Gefahren fiel der tapfere Mann nach der Schlacht von le Mans. Als die Schlacht schon zu Ende war, hatte ihn eine solche verlorene Kugel in das Herz getroffen. Niemand wußte, woher sie kam.

Man sah und hörte nichts vom Feinde. So berichtete mir ein befreundeter Kollege, der dabei gewesen war. Als ich wieder in das Lazarett kam, war auch mein Stabsarzt da. Die französischen Kollegen waren jetzt höflicher. Sie hatten wohl von der Flucht der Garibaldianer gehört. Wir hatten gerade einen alten, versoffenen Garibaldianer vor, dem das Schienbein des linken Unter­ schenkels völlig zerschmettert war. Das preußische Lang­ blei, aus der Nähe auf einen Knochen aufschlagend, machte enorme Zersplitterungen. Es traf nicht mit der Spitze, sondern, sich mehrfach in der Luft überschlagend, mit der Seite auf den Knochen. Unser verwundeter Garibaldianer hatte ein Loch von fünf Zentimeter Tiefe, in dem lose und halblose Knochen­ splitter, Tuchfetzen, Strohhalme und anderer Schmutz lagen. Wir wollten es säubern, verbinden und das Bein in einen Gipsverband legen. Zu dem Zwecke sollte er nar­ kotisiert werden. Plötzlich begann bei dem alten Alkoholiker sehr heftig das Stadium exaltationis. Er fing an die Marseillaise zu singen. Und — ein schauerlicher An­ blick — er erhob dabei das zerschossene Bein mit dem pendelnden, abgeschossenen Unterschenkel, als ob er den Takt dazu schlagen wollte. „Voila l’inconvenience du Chloroforme!“ sagte der französische Kollege, der wohl eine gute Narkose noch nicht gesehen hatte. Wir verbanden lege artis und leg­ ten einen Gipsverband an. Schon am andern Tage war der Verwundete in Privatpflege gegeben, jedenfalls um ihn vor uns zu retten. Das Gefecht bei Montbard mit Ricciotti Garibaldi Fritsch, 1870/71. 15

hatte doch etwa vier Stunden gedauert. Zuletzt schossen auch unsere Kanonen etwas, gleichsam als wollten sie das letzte Wort behalten. Es war aber schon zu dunkel, um noch etwas zu sehen. Die Einwohner von Montbard waren sehr enttäuscht und sprachen das auch offen aus. Gambetta habe die Einnahme von Montbard befohlen. Man hätte Montbard überfallen wollen, weil man das 1. Bataillon abwesend wußte. Daß das 2. Bataillon in der Nacht gekommen sei, habe niemand geahnt. So hätten die Garibaldianer gehofft, mit zwei Kompagnien leicht fertig zu werden. Die Boten seien bei Ricciotti Garibaldi zu spät eingetroffen. Er habe 5000 Mann bei sich und werde mit Menotti morgen erfolgreicher wieder angreifen. Das Einzige, was den Franzosen Genugtuung ver­ schaffte, waren die verwundeten Preußen. Wir hatten wohl zehn bis zwölf, leider meist Schwerverwundete, von denen zwei starben. Die Leichtverwundeten habe ich kaum gesehen, da mit den andern zu viel zu tun war. Alles, was transportfähig war, wurde im Wagen nach Nuits bei Raviöres und von da mit der Bahn nach Chattllon weiter zurückgeschafft. Auch drei Garibaldianer, die sich als Ärzte aus­ gaben, wurden in Crepon gefangen. Sie hatten aber nicht ein chirurgisches Instrument aufzuweisen. Man sprach sogar davon, daß sie erschossen werden sollten, weil einige Soldaten ganz genau gesehen haben wollten, wie sie aus den Fenstern herausgeschossen hätten. Gott sei Daick geschah dies nicht, denn wer kann denn bei einem Gefechte in der Dämmerung so genau sehen, daß er die Gesichter später wieder erkennen könnte.

Sie wurden mit anderen Gefangenen nach Chatillon geschickt. Als nun im Lazarett alle schön verbunden und die Anordnungen für den Transport getroffen waren, ging ich in das Hotel an der Brücke. Mein Hunger war groß, denn seit morgens 8 Ahr hatte ich nichts gegessen, und jetzt war es 9 Uhr abends. Mein Wirt empfing mich um Mitternacht mit tausend Versicherungen, daß das alles ein grand malheur pour nous, pour vous et tont le monde sei. Er brachte mir aber spontan mehrere Flaschen guten Wein und ver­ sprach auch ein Dutzend Flaschen für die Verwundeten in das Lazarett zu schicken. Am 9. Januar, früh, ging ich gleich ins Lazarett, bald kam auch der Stabsarzt, es wurden noch einige Kugeln entfernt, Gipsverbände genracht und dann alle Verwundeten sorgfältig auf Wagen geladen. Wir waren froh, als die Transportfähigen fort waren, denn wir mußten hier ohne alle Hilfsmittel arbeiten. In­ zwischen war aber schon der Befehl gekommen, daß Major Einecke mit zwei Kompagnien, zwei Kanonen und einem Zug Husaren am andern Morgen, dem 10. Januar, eine Rekognoszierung nach Semur machen sollte. Es war genau eine Höhe auf der Generalstabskarte angegeben, bis wohin der Marsch fortzusetzen sei. So ging es also um 8 Uhr früh fort, auf derselben Straße, auf der die Garibaldianer anmarschiert waren. Wir glaubten sicher, daß die 4—5000 Garibaldianer noch in Semur seien und daß es ein Gefecht geben würde. Vor ein paar Tagen hatte hier das Füsilierbataillon Feuer bekom­ men. Es war eine prachtvolle Gegend. An einer 16*

großen, efeuumrankten Schloßruine kamen wir vorbei. Der weiße Schnee, der alte graue Bau, der grüne Efeu, die hohen, dunkeln Waldberge im Hintergründe, boten einen herrlichen Anblick. Doch wer achtete jetzt darauf? Aufmerksam musterte man jeden Stein, jeden Wald­ rand, ob nicht ein Franktireur dahinter säße. Oder man schaute aus nach den Seitendeckungen, den Patrouillen, die in halber Höhe seitlich die Berge, Dörfer und Häuser absuchten. Die Spitzen der Berge waren wieder mit Zuschauern bedeckt, die jedenfalls Nachrichten über un­ sern Marsch weitergaben. Unbehelligt marschierten wir durch einige Dörfer, die völlig verlassen schienen. Die Franzosen hatten sich in die Betten gelegt und behaupteten „malade“ zu sein. Es war das Klügste, was sie tun konnten, jedenfalls war es klüger, als auf den Feldern herumzulaufen und den Patrouillen nicht Folge zu leisten. Alle sagten aus, Semur sei nach dem mißglückten Angriff auf Montbard verlassen. Alle Truppen seien nach Dijon marschiert. Und dies bewahrheitete sich auch. Dijon wurde sehr stark besetzt und befestigt. Wir stan­ den noch einige Zeit auf der Höhe, bis zu der wir mar­ schieren sollten. Die Patrouillen schossen sich etwas herum; wir hatten auch einen Leichtverwundeten, der auf eine Kanone gesetzt und so zurücktransportiert wurde. Die Artilleristen hätten zu gern ein paar Granaten in die Stadt geworfen. Allein der Major erlaubte es nicht. Nach schnellem Rückmärsche waren wir um 3 Uhr schon wieder in Montbard. Das Füsilierbataillon war an diesem Tage in Darcey gewesen. Wieder waren

im Dorf zwei Husaren erschossen worden. Abends saßen wir im Hotel bei einem großen Diner zusammen. Der Wirt hatte sogar Sekt beschafft. Leider mußten wir am nächsten Morgen schon wieder fort, und zwar nach Aisey, durch Buffon, wo wir die Silvesternacht so schlecht verlebt hatten. Aisey war ein großes, schönes Dorf mit prachtvollem Schlosse, wo fast alle Offiziere lagen. Ein vorzügliches Diner tat uns nach dem Marsche bei 12° Kälte sehr gut. Nur störte es die Gemütlichkeit, daß die größte Vorsicht befohlen war. Die Pferde durften nicht abgesattelt werden. Die Soldaten mußten mit der Waffe in der Hand schlafen. Man fürchtete noch immer den Versuch eines Durch­ bruchs seitens der Garibaldianer. Als wir abends bei einem ebenso vorzüglichen Diner saßen, kam der Befehl, wir sollten sofort nach Eintreffen eines Bataillons des 13. Regiments wieder nach Montbard zurückmarschieren. Alles schimpfte und fluchte, aber es half nichts, die warmen Zimmer, die guten Betten muß­ ten verlassen werden. Abends 8 Uhr ging es in Kälte und Dunkelheit zurück nach Montbard. Ich ging wieder zu meinem alten Wirt, denn es war schwer unterzu­ kommen. Meine Wohnung war etwas abgelegen, keiner wollte da wohnen, da die Geschichte von Chatillon noch allen in den Gliedern lag. Ich aber vertrug mich mit meinen Wirten stets sehr gut, wozu auch mein Beruf und das Genfer rote Kreuz viel mit beitrug. Wir verbrachten den nächsten Tag ruhig und in Frie­ den. Kein Mensch störte uns. Ich sah mir den Schloß­ berg von Montbard genau an. Wie herrlich mußte es hier im Frühjahr sein!

13. Januar! Die Rekognoszierungen hatten nun auf­ gehört, wie ich beim Stabe erfuhr. Am heutigen Tage marschierte das ganze „Detachement Dannenberg", die Regimenter 72 und 60, Husaren und Artillerie, vor­ wärts auf der Straße nach Dijon. Ich hörte von den Franzosen, Werder sei geschlagen worden und geflohen. Man schlage sich jetzt bei Belfort. Die Franzosen woll­ ten durch die Schweiz nach Deutschland. Wir aber soll­ ten, koste es, was es wolle, Dijon angreifen, um eine Diversion zu machen. Unser heutiger Marsch nach Fresnes war ziemlich groß. Das Zusammensein mit noch einem Regiment gab aber ein großes Sicherheitsgefühl. Gleichgültiger als seit langer Zeit sahen wir die französischen Posten auf den hohen Bergen überall unsere Bewegungen be­ obachten. Fresnes, an einem Bergabhange gelegen, eignete sich gut zur Verteidigung, die auch sehr schnell vor­ bereitet wurde. Die Bauern waren sehr höflich. Das war stets ein gutes Zeichen. Garibaldianer waren dann nicht in der Nähe. Es wurde gleich ein großes Faß Wein aufgefahren, und die Soldaten holten sich in ihren Kochgeschirren so viel Wein, wie sie wollten. Es begann das bewegliche Leben nach Besetzung eines Dorfes. Jeder sorgte für seine Bedürfnisse so gut und so schlau als er konnte. Als ich in mein Quartier kam, kochte ich mir höchst eigenhändig eine Erbswurstsuppe mit Mohrrüben, stopfte mir eine Pfeife und ruhte mich, ins Feuer des Kamins sehend, ganz behaglich aus. Da fragte mich mein Ouartiergeber, ob wir von Paris kämen. Paris?

Das verstand ich nicht. Und ich glaubte ihm auch nicht, als er erzählte, ein Teil der Pariser Armee marschiere zu uns, weil Bourbaki Werder vernichtet hätte. Ich ging deshalb, um Erkundigungen einzuziehen, zum Major. Hier waren alle in freudiger Aufregung. Eben war der Befehl gekommen, mit dem Manteuffel das Kommando der Südarmee übertragen wurde. Unsere Patrouillen hatten schon mit den neumärkischen Dragonern und den Pommerschen Jägern Fühlung. Das Detachement Dannenberg sollte als Avantgarde des II. Korps durch das Gebirge gehen. Dann sollte Dijon besetzt werden. Wie immer, unterschätzten wir die Zahl der Garibaldianer. 3m Befehl hieß es: „Die Aufgabe ist schwer". Diese Phrase liebten wir nicht. Wir machten uns schon darauf gefaßt, daß wir bald im Gebirge unter fortwährenden Gefechten Vorgehen müßten. Denn links lag Langres mit 30000 Mann Besatzung. Die Zernierungstruppen waren längst fortgezogen. Rechts lag Dijon und darin Garibaldi mit ebenfalls wenigstens 30000 Mann. Sollten diese Truppen uns, und noch dazu im Gebirge, wo eine gute Berteidigungsstellung die andere ablöst, einfach nach der Saoneebene marschieren lassen? Das schien uns unmöglich. Als wir noch saßen und schwatzten, wurde ich eiligst zur 8. Kompagnie gerufen. Ich machte mich mit meinen Sabots, die man im Quartier gern trug, auf. Die Offi­ ziere lagen beim Pfarrer. Da sah es denn sehr lustig aus. Auf einem großen Tische lagen Käse, Apfel, Brot und Butter. Eine Unzahl Wein- und Likörflaschen standen umher. In der Küche saß der Pfarrer, ein

junger, elend aussehender Mann, am Kamin. Er las in einem frommen Buche und bekreuzigte sich jedesmal, wenn ein Preuße in seine Nähe kam. Die alte dicke Pfarrerköchin stand neben ihm und kochte ihm einen Kaffee. Er sah sehr gebrochen aus. DieserPfarrer hatte dieDummheit gemacht,nichts her­ zugeben. Die Garibaldianer hätten alles gestohlen. Das war ja aber das, worauf man wartete. Li vous ne donnez rien, nous chercherons, hieß es. Der Pfarrer zuckte nur mit den Achseln. Längst vorher hatten aber die Herren Burschen die Situation geklärt und mit dem chercher begonnen. Der Hof oder Garten am Hause wurde durch eine Wand des zerklüfteten Felsens be­ grenzt, und oben aus einer Spalte hatte ein verräte­ risches Strohbündel hervorgeragt. Eine Leiter war bald zur Stelle, und die große natürliche Speisekammer wurde ausgeräumt. So etwas verstanden die Bur­ schen! Ich glaube, wenn sie zehn Minuten in einem Hause waren, so konnten sie eine bessere Inventur machen als der Besitzer. Dann waren die Bestände an Vieh, Geflügel, Wein und Lebensmittel völlig ent­ deckt. Nun hieß es natürlich, da der Herr Cure, wie er sagte, nichts besäße und ihm alles geraubt sei, so ge­ hörten ihm also die gefundenen Sachen nicht, wir müß­ ten somit alles an uns nehmen und dürften es verteilen. Im Zimmer des Cure sah es wüst aus. Stühle waren nicht genügend vorhanden. So lag man auf dem Stroh. Im Kamin brannte ein ungeheures Feuer. Auf einem Dreifuß stand ein Kessel, in dem einige Hühner kochten. Leere und volle Weinflaschen rollten

im Stroh umher. Eine übermütige, lustige Stimmung hatte sich aller bemächtigt. Und das alles in einem elegant ausgestatteten Zimmer, von dessen Wänden alte Heilige auf uns herabsahen. So einen Unfug hatten sie gewiß noch nicht gesehen. Schließlich wurde der Euro zu seinem eigenen Weine eingeladen und mit übertriebener Höflichkeit behandelt. Er machte gute Miene zum bösen Spiel und kneipte ganz tapfer mit uns. Es war schon tief in der Nacht, als ich, bepackt wie eine Frau vom Markte, in meinem Quartier anlangte. Was war nun aber hier in dem großen Parterre­ zimmer los? An der Wand stand ein großes Himmel­ bett, für mich frisch überzogen. Der ganze Fußboden lag voll Stroh und voll Matratzen. Und darauf lagen, stan­ den und saßen wohl zwanzig junge Weiber oder Mäd­ chen. Eine große Gesellschaft I Ich fragte, was sie denn eigentlich wollten, ob sie denn alle verrückt seien. Da hielt mir denn das alte Weib, das ich schon kennen gelernt hatte, als ich das Quartier belegte, eine große Rede: ich sei poli, gentil und habe ihr den Eindruck eines bon gar