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German Pages 249 [252] Year 2010
Johannes Rohbeck
AUFKLÄRUNG UND GESCHICHTE Über eine praktische Geschichtsphilosophie der Zukunft
Johannes Rohbeck
AUFKLÄRUNG UND GESCHICHTE Über eine praktische Geschichtsphilosophie der Zukunft
Gedruckt mit Hilfe der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein Abbildung auf dem Einband: Edouard Durandelle: Montage der zweiten Plattform. 21. August 1888, aus: Gustave Eiffel: La Tour de 300 mètres (Reprint), hg. von Bertrand Lemoine, Köln u. a.: Taschen, S. 24.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
ISBN 978-3-05-004686-0 © Akademie Verlag GmbH, Berlin 2010 Das eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Lektorat: Mischka Dammaschke Einbandgestaltung: Petra Florath, Berlin Satz: Tom Handrick, Dresden Druck und Bindung: Druckhaus »Thomas Müntzer«, Bad Langensalza Printed in the Federal Republic of Germany
Inhalt
Einleitung
9
Aktualität von Aufklärung und Geschichte Aufklärung in der Geschichte Geschichte in der Aufklärung Geschichtsphilosophie der Zukunft Praktische Geschichtsphilosophie
Erster Teil Aufklärungskultur und Geschichtsphilosophie
1.
11 13 15 18 20
. . .
25
Aufklärung und Moderne
27
Kultur der Aufklärung Historizität und Aktualität der Aufklärung Kritik an der Aufklärung Aufklärungskritik und Aufklärungsforschung Vielfalt und Einheit der Aufklärung Aufklärung in Europa Zur Originalität der Philosophie im 18. Jahrhundert . . . Neuzeitliche, moderne und postmoderne Aufklärung . . .
28 30 32 36 41 42 44 49
6
2.
INHALT
Geschichtsphilosophien der französischen Aufklärung Theologie der Geschichte (Bossuet) Vergleichende Kulturgeschichte (Lafitau) Chronologie und historische Methode (Fréret) Polygenese der Kulturen (Goguet) Kulturgeschichte der Völker (Voltaire) Fortschrittsidee und Geschichtsteleologie (Turgot) . . . Fortschritt als Verfallsgeschichte (Rousseau) Kritische Geschichte der Kolonialisierung (Diderot und Raynal) Melancholie und Geschichte (Volney) Medialität und Geschichtlichkeit (Servan) Zukunftserwartung und Prognostik (Condorcet) . . . .
54 59 62 65 68 71 75 80 83 87 89 93
Zweiter Teil Teleologie und Evolutionstheorie
101
3.
Rettende Kritik der Geschichtsteleologie
103
Narrative Synthesis Erklärung und Erzählung Kontingenzerfahrung Teleologie - praktisch gewendet Normative Dimension Säkularisierte Heilsgeschichte oder Gesellschaftsmodell? Teleologie als Naturmodell
106 109 113 115 118 120 122
INHALT
4.
5.
Naturgeschichte und Geschichte der Menschheit
7
.
.125
Naturalisierung der Geschichte Historisierung der Natur Wechselseitige Modellübertragungen
126 129 132
Evolution und Geschichte
139
Evolutionstheorie und Theorie der Geschichte Zwei Kulturen Universalismus - oder der Umfang der Evolutionstheorie Naturalismus - oder die Differenz zwischen Natur und Kultur Sozialdarwinismus - oder der Modellcharakter der Evolution Determinismus - oder Evolution und Kontingenz . Schematismus - oder Evolution als Erzählung
140 147 149 152 .156 160
Dritter Teil Zeit-Räume der Geschichte
163
6.
Weltgeschichte und Globalisierung
165
Vom >Verschwinden< des Raumes Wiederkehr des historischen Raumes Ungleichzeitigkeit und Ungleichräumlichkeit Philosophie des Raumes in der Geschichte Globalisierung und historischer Raum Der Raum globaler Kooperation
168 170 171 173 177 183
8
7.
INHALT
Zukunft als Projektionsraum der Geschichte.
.
.
Zukunft der Vergangenheit Gegenwart der Zukunft Zukünftige Vergangenheit Alternative Erwartungshorizonte Kontrafaktische Erklärungen Kontingenz in praktischer Absicht
8.
Geschichtsphilosophie und Zukunftsethik
.186 188 195 201 206 209 211
.
.
.
.217
Ethische Geschichtsphilosophie und Historisierung der Ethik . 218 Zeitstrukturen in ethischen Diskursen 223 Vom Standpunkt der Gegenwart 226 Die Geschichtlichkeit der Fernverantwortung 229 Das historische Dilemma der Zukunftsethik 233 Modelle der Langzeitverantwortung: Generationenfolge und Erbschaft 236
Personenverzeichnis
245
Nachweise
248
Einleitung
Heute ist es ein Gemeinplatz, dass die Philosophie der Geschichte in eine Krise geraten ist. Dieser Befund betrifft vor allem die materiale Geschichtsphilosophie, in der ursprünglich die Verlaufsstrukturen und Wirkfaktoren historischer Prozesse sowie der »Sinn« des Geschichtlichen thematisiert wurden. Seit dem Historismus und der analytischen Philosophie verlagerte sich das Interesse auf formale Aspekte wie die Methoden der Geschichtswissenschaften. Im Zuge des linguistic turn kulminierte es in der Sprach- und Diskursanalyse, der Semiotik temporaler Begriffe und der Analyse narrativer Strukturen. Komplementär dazu entstanden Untersuchungen über kollektives Gedächtnis und Erinnerungskultur. Auf diese Weise wurden inhaltliche Probleme des Historischen zurückgedrängt. Man traute sich nicht mehr zu, die >großen< Fragen nach der Geschichte im Ganzen zu stellen. Außerdem setzte sich eine derart universale Betrachtung dem politischen Verdacht eines totalitären Standpunktes aus. In jüngster Zeit sind jedoch Anzeichen einer Wiederkehr der materialen Geschichtsphilosophie zu erkennen. 1 Zunehmend regen sich 1
Herta Nagl-Docekal (Hg.), Der Sinn des Historischen. Geschichtsphilosophische Debatten, Frankfurt a. M. 1996; Heinz-Dieter Kittsteiner, Listen der Vernunft. Motive geschichtsphilosophischen Denkens, Frankfurt a. M. 1998; ders., Wir werden gelebt. Formprobleme der Moderne, Hamburg 2006; Schwerpunkt: Ist eine Rehabilitierung von Geschichtsphilosophie möglich?, in: Deutsche Zeitschrift ßr Philosophie 48 (2000), 49-105; Johannes Rohbeck, Technik - Kultur - Geschichte. Eine Rehabilitierung der Geschichtsphilosophie, Frankfurt a. M. 2000; ders., Geschichtsphilosophie zur Einfiihrung, Hamburg 2004; Johannes Rohbeck und Herta Nagl-Docekal (Hgg.), Geschichtsphilosophie und Kulturkritik. Historische und systematische Studien, Darmstadt 2003; Antonio Gómez Ramos, Reivindicación del centauro. Actualidad de la filosofia de la historia, Madrid 2003; Peter Koslowski (Hg.), The Discovery of Historicity in German Idealism and Historism, Berlin, Heidelberg 2005; Manuel Cruz, Las malas pasadas del pasado. Identidad, responsabilidad, historia,
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EINLEITUNG
Zweifel, ob die Beschränkung auf Erkenntnisverfahren und Darstellungsformen für eine Philosophie der Geschichte wirklich so zwingend ist, wie der bisherige Konsens suggerierte. Es ist nicht plausibel, dass ein geschärftes Methodenverständnis eine philosophische Reflexion über historische Sachverhalte prinzipiell ausschließen soll. Aus diesem Grund mehren sich die Versuche, wieder über die Inhalte der Geschichte zu philosophieren. Sie sind auch Thema dieses Buches, in dem zum Beispiel das Verhältnis von Aufklärung und Moderne, Teleologie und Kontingenzerfahrung, Natur und Geschichte, Weltgeschichte und Globalisierung diskutiert wird. Daraus folgt jedoch nicht, dass die Methoden der historischen Erkenntnis und Darstellung ausgeblendet würden; insbesondere die Erzähltheorie wird an zahlreichen Stellen eine wichtige Rolle spielen.2 Es geht mir vielmehr um eine methodisch reflektierte und zugleich inhaltliche Geschichtsphilosophie. Doch bei einer solchen Verschränkung von formalen und materialen Aspekten bleibt die hier ins Auge gefasste Geschichtsphilosophie nicht stehen. Sie verfolgt noch einen anderen Zweck, die quer zur Unterscheidung zwischen Inhalt und Methode steht, indem sie ihren Blick in die Zukunft richtet. Üblicherweise bezeichnet man mit dem Begriff Geschichte dasjenige, was in der Vergangenheit geschehen ist. Demgegenüber stelle ich die Frage, ob nicht auch die Zukunft einen Projektionsraum darstellt, den man unter bestimmten Voraussetzungen als Geschichte begreifen kann. Es ist in erster Linie diese zukünftige Geschichte, die ich philosophisch reflektiere. Eine derartige Geschichtsphilosophie zeichnet sich dadurch aus, dass sie mit der Zukunft einen sich eröffnenden Handlungsraum und überhaupt zukünftiges Handeln thematisiert. Sofern sie dabei Probleme der moralischen Verantwortung für zukünftige Generationen aufwirft, begibt sich die Geschichts-
2
Barcelona 2005. - Vgl. Jürgen Große, Geschichtsphilosophie heute, 1. Teil in: Philosophische Rundschau, Bd. 55, Heft 2, Juni 2008, 123-155; 2. Teil in: ebd., Heft 3, 209-236. Siehe die entsprechenden Abschnitte »Narrative Synthesis« sowie »Erklärung und Erzählung« im dritten Kapitel; die Abschnitte »Evolutionstheorie und Theorie der Geschichte - Zwei Kulturen« und »Schematismus - oder Evolution als Erzählung« im fünften Kapitel; ebenso den Abschnitt »Kontrafaktische Erklärungen« im siebten Kapitel.
EINLEITUNG
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philosophie in die Nähe der Ethik und stellt sich damit in den Kontext der praktischen Philosophie. Mein Projekt besteht also in einer praktischen Geschichtsphilosophie der Zukunft. Die in diesem Band zusammengetragenen Bausteine für eine so verstandene Geschichtsphilosophie bestehen aus historischen und systematischen Studien. Der Titel »Aufklärung und Geschichte« bedeutet zunächst, dass ich an das Geschichtsdenken der europäischen Aufklärung anknüpfe, d.h. an eine historische Epoche, in der die Philosophie der Geschichte mit einer ausgeprägten Zukunftsperspektive entstanden ist. »Aufklärung und Geschichte« bedeutet zugleich aber auch Aufklärung über die Geschichte, d.h. ein systematisches Programm, das seit dieser Epoche seine Aktualität nicht eingebüßt hat. In diesem doppelten Sinn enthalten meine historischen Untersuchungen, die sich der Epoche der Aufklärung und ihrer Geschichtsphilosophie widmen (Kapitel 1 bis 4), ausdrücklich eine systematische Perspektive, so wie die systematischen Analysen zur Evolutionstheorie und zu den Themen globaler Raum, Philosophie der Zukunft und Zukunftsethik die philosophische Tradition fortzuschreiben versuchen (Kapitel 5 bis 8). Ziel ist sowohl eine rettende Kritik der Philosophie der Aufklärung als auch eine Rehabilitierung der Geschichtsphilosophie.
Aktualität von Aufklärung und Geschichte »Aufklärung und Geschichte« stehen insofern im Brennpunkt gegenwärtiger Kritik, als sich die Debatten um Postmoderne und Posthistoire auf diese beiden Begriffe beziehen. Die Postmoderne richtet sich indirekt gegen die Aufklärung, indem sie die Aufklärung als Ursprung der Moderne betrachtet und daraus ihre Kritik ableitet. Das Posthistoire verabschiedet direkt den Begriff der Geschichte, indem behauptet wird, die Geschichte sei an ihr »Ende« gelangt. Damit ist nicht gemeint, dass in Zukunft keine historischen Ereignisse mehr zu erwarten wären, wohl aber, dass der zukünftige Prozess keinen historischen Sinn mehr hervorbringe und daher wesentlich geschichtslos sei; auf diese Weise wird das Ende der Geschichte letztlich dem Sinnverlust
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EINLEITUNG
der Moderne angelastet. Doch beide Kritiken haben ihre Plausibilität mittlerweile eingebüßt. Im Hinblick auf die Aufklärung ließ sich der Gegensatz zwischen Moderne und Postmoderne nicht aufrechterhalten, da sich die Postmoderne als Strukturwandel der Moderne herausstellte. Während schon früh auf Kontinuitäten hingewiesen wurde,3 gingen die diagnostizierten und gar nicht zu bestreitenden Brüche in das Programm einer Zweiten Moderne über.4 Von einschneidender Bedeutung war hier ein historisches Ereignis, das die vorausgegangenen kulturkritischen Debatten relativierte: Erst der Fall der Berliner Mauer schuf eine eindeutige Post-Situation, weil der Zusammenbruch der sozialistischen Staaten ins Stadium des Postkommunismus fìihrte. Auf der Gegenseite lässt sich nicht behaupten, dass wir den Post-Kapitalismus erreicht hätten. Im Gegenteil, der globale Kapitalismus boomt und kriselt in einer Weise, wie es sich Marx in seinen extremsten Befürchtungen nicht vorstellte. Im Zuge der Globalisierung ist es mit der Moderne ernst geworden. Ernst ist noch ein anderer Vorgang, der weniger in einem punktuellen Ereignis als in einem schleichenden Prozess besteht. Auch das Bewusstsein der ökologischen Krise drängte die früheren postmodernen Debatten an den Rand. So kann man in der drohenden Selbstvernichtung der ganzen Menschheit den tieferen Sinn des »post« erblikken.5 Mit der weltweit zunehmenden Armut, der jüngsten Finanz- und Wirtschaftskrise und der befürchteten Klimakatastrophe ist die Moderne zu einem Problem geworden, das einen reflektierten und zugleich nüchternen Umgang erfordert. Schien es lange Zeit ausgemacht zu sein, dass die Menschen gegenüber den sozialen Systemen machtlos sind, kommt inzwischen Skepsis gegen die behauptete Ohnmacht auf. Ein trotziges »Dennoch« macht sich bemerkbar: Auch wenn die Chancen für rettende Eingriffe noch so gering sind, lohnt sich der Versuch, die noch verbliebenen Handlungsspielräume auszuloten und zu nutzen. Philosophisch werden damit Kategorien wie Freiheit, Sub3 4 5
Wolfgang Welsch, Unsere postmoderne Moderne, Weinheim 1987. Ulrich Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt a. M. 1986. Peter Sloterdijk, Eurotaoismus. Zur Kritik der politischen Kinetik, Frankfurt a. M. 1989,266.
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jekt und Verantwortung wieder aufgewertet. Um diese neue Art Aufklärung geht es auch in den folgenden Texten. Hinsichtlich der Geschichte stellt sich die Situation etwas modifizierter dar. Zunächst einmal schien das historische Ereignis des Mauerfalls die Position des Posthistoire insofern zu stärken, als nur noch der Kapitalismus übrig geblieben war.6 Nachdem die ideologischen Kämpfe zur Vergangenheit gezählt wurden, glaubte man eine langweilige und endlose Zukunft der Technokratie vor sich zu haben. Doch durch die katastrophalen Ereignisse des beginnenden 21. Jahrhunderts kehrte die Geschichte auf energische Weise wieder. Nach dem 11. September, dem Irakkrieg und dem aufkommenden Islamismus wurde klar, dass die Geschichte weitergeht, nicht nur als Folge unerwarteter und spektakulärer Ereignisse, sondern auch als Auseinandersetzung um Sinnentwürfe. Wie schrecklich diese Ereignisse auch waren, so hatten sie doch die unbeabsichtigte Nebenfolge eines neuen historischen Bewusstseins. Doch erschöpft sich die Aktualität der Geschichte nicht in der Erfahrung mit vergangenen Ereignissen. Der tiefere Grund liegt in einer gewandelten Einstellung zur Zukunft, die im Zuge sozialer, ökonomischer und ökologischer Krisen immer dringendere Probleme stellt. Dies geschieht nicht mehr in der bornierten Erwartung, das zukünftige Leben sei ohnehin gesichert und daher ohne Überraschungen. Vielmehr stellt die Zukunft die eigentliche Herausforderung dar. Damit verstärkt sich nicht nur die Geschichtsreflexion überhaupt, sondern eine in die zukünftige Geschichte gerichtete Erwartung. Es gibt also gute Gründe für eine Aktualisierung von Aufklärung und Geschichte. Deren Verhältnis zueinander soll nun näher erläutert werden.
Aufklärung in der Geschichte Auf der einen Seite ist die Aufklärung eine konkrete Epoche der Philosophiegeschichte, die im ersten Kapitel thematisiert wird. Das ist nicht nur von historiographischem Interesse, sondern von systemati6
Francis Fukujama, The End of History?, in: The National Interest 16, 1989, 3 ff.; ders., Das Ende der Geschichte, München 1992.
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scher Bedeutung, weil die postmodernen Kritiker häufig nur Pauschalurteile abgeben über dasjenige, was sie fur Aufklärung halten. Zu den verbreiteten Vorwürfen gehört, die Aufklärung sei universalistisch oder gar totalitär, individualistisch und instrumentalistisch. Dabei wird die Aufklärung zum allgemeinen Prinzip stilisiert, das entsprechend generalisierende Vorwürfe auf sich zieht. Im Rückblick werden dann die Vorbehalte gegenüber einem solchen Programm in die historische Epoche der Aufklärung projiziert. In der Zwischenzeit hat sich diese unbefriedigende Situation insofern gewandelt, als die historische Aufklärungsforschung und die postmoderne Kritik in einen neuartigen Dialog getreten sind. Die Philosophiehistoriker prüfen die postmodernen Einwände, so wie die Theoretiker der Postmoderne genauere philosophiegeschichtliche Studien betreiben. Dabei machen sie nicht nur die Erfahrung, dass sich die Zerrbilder über die Epoche der Aufklärung angesichts der vielfältigen Autoren und Texte nicht halten lassen, sondern die eher überraschende Entdeckung, dass sich viele Theoreme der Postmoderne bereits im 18. Jahrhundert aufspüren lassen. Anstelle der vermuteten Einheit werden die mannigfaltigen Positionen der Aufklärung entdeckt, anstelle des beargwöhnten Universalismus öffnen sich Einblikke in das bereits in der Aufklärung vorhandene Differenzdenken wie zum Beispiel auf den Feldern der Vielheit der Kulturen und der Differenz der Geschlechter. Dieser Tendenz möchte ich mich anschließen, indem ich das Verhältnis von Aufklärung und Postmoderne noch um das Moment der Moderne ergänze. Denn die Debatte über die Aktualität der Aufklärung ist auch deshalb unglücklich verlaufen, weil dabei die Moderne übergangen wurde. Die postmoderne Kritik zielte vorschnell auf die Anfänge der Moderae, ohne zwischen Aufklärung und Moderne zu unterscheiden, wie auch die Protagonisten der Moderne sich häufig auf die Ideale der Aufklärung beriefen, ohne die Spezifik der Moderne gegenüber der Aufklärung zu beachten. Demgegenüber betone ich den Unterschied zwischen Aufklärung und Moderne. Meine noch zu erläuternde These lautet, dass um die Mitte des 18. Jahrhunderts völlig neue Erfahrungen theoretisch verarbeitet wurden, die sich auf die Selbständigkeit und Eigendynamik sozialer und kultureller Systeme
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beziehen und die man von heute aus als spezifisch »modern« bezeichnen kann. Wenn diese Beobachtungen zutreffen, zeigen sich innerhalb dieser historischen Epoche verschiedene Typen, die ich als neuzeitliche, moderne und postmoderne Aufklärung bezeichne. Diese Typologie enthält theoretische Potenziale, die es in systematischem Kontext zu nutzen gilt. So erübrigt sich die pauschale Kritik an der Aufklärung mit der Konsequenz, dass ein solches Phantom weder in den Anfängen noch im weiteren Verlauf der Moderne existierte. Die Katastrophen des 20. Jahrhunderts haben eigene Ursachen und sind keineswegs in der aufklärerischen Vernunft angelegt, die man daher nicht für alle negativen Kehrseiten der Moderne verantwortlich machen darf. Das entlastet die gegenwärtige Moderne von dem Zwang, sich von ihrer eigenen Tradition befreien zu müssen. Die behaupteten Gegensätze zwischen Aufklärung bzw. Moderne einerseits und Postmoderne andererseits verlieren ihre Plausibilität, so dass die Tradition von Aufklärung, Moderne und Postmoderne wieder anerkannt werden kann, ohne die Diskontinuitäten zu verleugnen. In diesem Sinn kann die Epoche der Aufklärung als Modell für ein Verständnis der Moderne dienen, demzufolge verschiedene Aspekte nebeneinander bestehen und sich gegenseitig ergänzen. Darin sehe ich einen Beitrag zu einem integrativen Verständnis der Moderne.
Geschichte in der Aufklärung Damit gelange ich zur anderen Seite im Verhältnis von Aufklärung und Geschichte, d.h. zur Geschichte als philosophischer Disziplin in der Aufklärung, die Thema des zweiten Kapitels sein wird. Denn die Philosophie der Geschichte ist sowohl in Großbritannien als auch in Frankreich ziemlich genau um das Jahr 1750 entstanden. Während andere Disziplinen wie Metaphysik, Ethik oder Politik bereits seit der Antike existierten, bildete sich das geschichtsphilosophische Denken erst ziemlich spät heraus. Diese Verspätung, die selbst ein historisches Phänomen ist, hängt wesentlich mit dem Typus der Moderne zusammen, der sich in dieser Zeit bemerkbar machte. Vor allem in der politischen Ökonomie wurde die Eigendynamik des bürgerlichen Systems
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reflektiert, die zu den praktischen und theoretischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie gehörte. Indem die Theorie der Geschichte die Erfahrung mit sozialen Systemen auf ihren eigenen Bereich übertrug, repräsentierte sie selbst den Typus der »modernen« Aufklärung. Das Verhältnis von Aufklärung und Geschichte bedeutet hier Aufklärung über die Geschichte oder historische Aufklärung.7 In diesem Zusammenhang stehen meine exemplarischen Untersuchungen über die Geschichtsphilosophie der französischen Aufklärung. Auch auf diesem Feld weise ich die Vorwürfe des Universalismus, Totalitarismus und naiven Fortschrittsglaubens zurück und lenke stattdessen das Augenmerk auf Differenzen und Randphänomene. Es soll gezeigt werden, wie vielfältig das historische Denken im Frankreich des 18. Jahrhunderts war. Daher verbietet es sich, die Geschichtsphilosophie entweder pauschal zu kritisieren oder naiv aktualisieren zu wollen; Thema sind stattdessen die sehr unterschiedlichen Geschichtsphilosophie» von Bossuet bis Condorcet. Gleichwohl ist es meine Absicht, an gemeinsamen Grundzügen in den Werken dieser Autoren festzuhalten. Neue Aktualität beansprucht zunächst das Konzept der Universalgeschichte, das alle geographischen Räume und die Zeit von den Anfangen bis in die Zukunft umfasst. Im sechsten Kapitel werde ich versuchen, die Idee der Weltgeschichte mit der gegenwärtigen Tendenz zur Globalisierung zu verbinden. Im Hinblick auf die Universalisierung der historischen Zeit zeigt sich die generelle Eigenart der Geschichtsphilosophie, mehr in die Zukunft als in die Vergangenheit gerichtet zu sein. Im Anschluss an die christliche Eschatologie im 18. Jahrhundert entwickelten sich zum einen die säkularisierte Teleologie der Geschichte und zum anderen die rationale Prognostik.8 Im siebten Kapitel werde ich an den von Condorcet begründeten Typ der Prognostik anknüpfen. Im Fall der Teleologie der Geschichte halte ich eine rettende Kritik fur möglich, die ich im dritten Kapitel versuchen werde. Mit dem Einwand, die Geschichtsphilosophie enthalte teleologische Deutungs-
7 8
Herbert Schnädelbach, Vernunft und Geschichte, Frankfurt a. M. 1987; Jürgen Kocka, Geschichte und Aufklärung, Göttingen 1989. Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher
Zeiten, Frankfurt a. M. 1979,17 ff.
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muster, lässt sich dieser Typus nicht abfertigen. Denn zum einen erschöpft er sich nicht in der Teleologie, weil Autoren wie Voltaire, Turgot und Condorcet in erster Linie Ursachenforschung betrieben und damit eine erklärende Historiographie beanspruchten. Zum anderen verbergen sich in der Teleologie vielschichtige Probleme, die erst noch zu rekonstruieren sind. Schließlich stellt sich diese Denkfigur als ein Naturmodell heraus, das auf die Beziehung zwischen Naturgeschichte und Geschichte der Menschheit verweist, die im vierten Kapitel analysiert wird. Indem ich die wechselseitigen Modellübertragungen untersuche, möchte ich zeigen, dass sich der Wandel des historischen Denkens im übergreifenden Kontext von Natur- und Geschichtswissenschaft vollzog. Ein ähnliches Bild komplexer Transformationen bietet die moderne Evolutionstheorie des 19. und 20. Jahrhunderts, die im fünften Kapitel thematisiert wird. Einerseits gibt es Unterschiede zwischen Teleologie und Evolution, die fur Evolutionstheoretiker nicht groß genug sein können; andererseits zeigt sich eine gewisse Nähe, wenn etwa die Entwicklung sozialer Systeme zwar nicht linear, zielgerichtet oder fortschrittsoptimistisch, wohl aber mit einer Tendenz zu gesteigerter Komplexität und Effizienz beschrieben werden. Meine Intention besteht darin, die Evolutionstheorie gegen Vorbehalte wie Naturalismus und Determinismus in Schutz zu nehmen, indem ich anhand jüngster Forschungen zeige, wie das Modell der Evolution gerade die Trennung zwischen Natur und Kultur voraussetzt, und indem ich in diesem Modell einen Ansatz einer Theorie der Kontingenz aufspüre, die Spielräume für alternative Handlungsmöglichkeiten und freie Entscheidungen antizipiert. Das Ziel besteht hier darin, eine Verbindung zur praktischen Geschichtsphilosophie herzustellen. Wenn ich mich sowohl historisch als auch systematisch dem Verhältnis von Natur und Geschichte widme, beabsichtige ich insgesamt, die Trennung in »Zwei Kulturen« zu überwinden und damit eine Brükke zwischen Evolutions- und Geschichtstheorie zu schlagen.9 Während die Sozialwissenschaftler, sofern sie die Entwicklung ihrer Gegen9
Charles P. Snow, Die zwei Kulturen. Literarische und naturwissenschaftliche Intelligenz, Stuttgart 1967; vgl. Jost Halfmann und Johannes Rohbeck (Hgg.), Zwei Kulturen der Wissenschaft - revisited, Weilerswist 2007.
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stände thematisieren, in der Mehrzahl das evolutionäre Modell übernehmen, halten sich die meisten Historiker, die doch gerade für die Genese von Gesellschaften zuständig sind, von der Evolutionstheorie fern. Demgegenüber versuche ich, diesen kulturellen Graben zu überbrücken, der die naturwissenschaftlich orientierte Evolutionstheorie und die sich als Geisteswissenschaft verstehende Geschichtsschreibung scheidet. Es geht um eine kulturtheoretisch gewendete Theorie der Evolution, die es erlaubt, Geschichte als evolutionären Prozess zu fassen.
Geschichtsphilosophie der Zukunft Wenn ich eine kritische Rekonstruktion der aufklärerischen Geschichtsphilosophie im Sinn habe, übernehme ich diesen Denktyp keineswegs im Ganzen, sondern schreibe nur diejenigen Theoreme fort, die einer Aktualisierung standhalten, d.h. die sich heute noch als theoretisch ergiebig erweisen. Diese Art der Rehabilitierung halte ich bei solchen Theorieelementen fur besonders wichtig, die in den darauf folgenden Formationen wie dem Historismus und dem Posthistoire wie auch der analytischen Geschichtsphilosophie ins Hintertreffen gerieten oder gar verloren gingen. Ausdrücklich gilt dies auch fur die Fortsetzung der >klassischen< Geschichtsphilosophie von Hegel und - mit Einschränkungen - von Marx, die unter systematischen Gesichtspunkten ebenfalls zu Wort kommen werden. Dieses Vorhaben ist jedoch nicht so zu verstehen, als ob etwa die Ergebnisse des Historismus und des Posthistoire negiert oder ignoriert werden sollten. Es kommen auch Grunderkenntnisse des Historismus zur Geltung, wenn etwa die Unhintergehbarkeit des gegenwärtigen Standpunktes bei der Geschichtsbetrachtung angemahnt wird.10 Gleichwohl wird dabei die Orientierung an der Geschichtsphilosophie der Aufklärung nicht aufgegeben. Das Projekt besteht vielmehr darin, die
10 Siehe die Abschnitte »Vom Standpunkt der Gegenwart« und »Die Geschichtlichkeit der Fernverantwortung« im achten Kapitel.
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jeweiligen Stärken der genannten Grundformationen miteinander zu kombinieren.11 Den Versuch einer systematischen Philosophie der Geschichte setze ich im dritten Teil dieses Buches über »Zeit-Räume der Geschichte« fort, indem ich zuerst die räumliche Seite angesichts der Tendenz zur Globalisierung und dann die zeitliche Seite mit Blick in die Zukunft und ihrer ethischen Dimension behandle. Das Konzept der Universal- oder Weltgeschichte ist unter dem Eindruck der Globalisierung aktuell geworden, wie im sechsten Kapitel gezeigt wird. Nachdem früher gefordert wurde, den Kollektivsingular Geschichte in partielle Geschichten aufzulösen, sind heute globale Handlungszusammenhänge und damit die real gewordene Weltgeschichte anerkannt. So sehen Historiker in der Universalgeschichte eine durchaus legitime und besondere Betrachtungsweise, die weiträumige Handlungszusammenhänge zum Gegenstand hat. Dieser Befund sollte auch Philosophen dazu ermutigen, über die Geschichte im Ganzen anders nachzudenken. Im Anschluss an die Geschichtsphilosophie der Aufklärung untersuche ich, welche systematischen Konsequenzen die heutige »Wende zum Raum« fur eine aktualisierte Philosophie der Geschichte haben kann. Nach der Behandlung des historischen Raumes folgen im siebten Kapitel Untersuchungen zur Zeit der Geschichte. Auch in diesem Fall setze ich einen anderen Akzent, da ich an einer handlungsorientierten Philosophie der Geschichte interessiert bin. Wiederum kann ich an die Epoche der Aufklärung anknüpfen: Während der Historismus des 19. Jahrhunderts eine Formation war, die sich vor allem der Vergangenheit widmete, und während sich die Kritik an der Geschichtsphilosophie und das Posthistoire vorwiegend mit den Katastrophen des eigenen 20. Jahrhunderts auseinandersetzten, wurde die Geschichtsphilosophie des 18. Jahrhunderts von emphatischen Erwartungen an die Zukunft geprägt, was sowohl in der Teleologie als auch in der Prognostik zum Ausdruck kam. Im Anschluss daran ist beabsichtigt, Theorien und Methoden der modernen Geschichtswissenschaft auf die Analyse von
11 Vgl. Johannes Rohbeck, Geschichtsphilosophie - Historismus - Posthistoire. Versuch einer Synthese, in: ders., Nagl-Docekal (Hgg.), Geschichtsphilosophie und Kulturkritik, a.a.O. (Anm. 1), 306-328.
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Darstellungen vorhersehbarer und erwartbarer Ereignisse anzuwenden. Dazu gehören Erzähltheorien und damit zu vermittelnde Handlungstheorien, Methoden kontrafaktischer Erklärungen sowie Theorien historischer Kontingenz. Das Thema Zukunft der Geschichte fuhrt im achten Kapitel zur Ethik der Zukunft, die einen bereits etablierten Diskurs der angewandten Ethik darstellt, indem Fragen nach der langfristigen Verantwortung für zukünftige Generationen gestellt werden. Schon für das historische Denken der Aufklärung war die normative Dimension typisch, die im Verlauf des Historismus mit seinen positivistischen Tendenzen wie auch in den radikalen Kritiken an der Geschichtsphilosophie in Vergessenheit gerieten. Auch die Reduzierung der Philosophie der Geschichte auf Methodologie und Diskursanalyse klammerte den ursprünglichen Bezug der Geschichtsphilosophie zur Ethik weitgehend aus. Wenn ich hingegen eine Synthese dieser beiden Disziplinen anstrebe, werfe ich die Frage auf, ob die Zukunftsethik einer geschichtsphilosophischen Ergänzung bedarf oder ob die Geschichtsphilosophie zur Thematik der Langzeitverantwortung etwas beizutragen vermag.
Praktische Geschichtsphilosophie Wie angekündigt, besteht das systematische Ziel dieses Buches in einer praktischen Geschichtsphilosophie der Zukunft. Beide Aspekte hängen insofern miteinander zusammen, als sich die Zukunftsphilosophie auf ein menschliches Handeln bezieht, das nicht vergangen und damit irreversibel ist, sondern erst noch bevorsteht, das also beeinflussbar ist und der praktischen Orientierung bedarf. Eine solche Geschichtsphilosophie, die sich als zukunfts- und handlungsorientiert zugleich versteht, geht über die Theorie der Geschichte hinaus. Um diesen besonderen Charakter zu verdeutlichen, unterscheide ich noch einmal grundsätzlich zwischen Geschichtstheorie und Geschichtsphilosophie. Auch wenn die Theorie der Geschichte innerhalb der Geschichtswissenschaft ein eher marginales Dasein fristet, sind die Aufgaben doch klar definiert: Sie bestehen in der Methodenreflexion historischer
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Forschung und Darstellung, insbesondere in Analysen von Raum- und Zeitstrukturen sowie in Theorien der historischen Erklärung und Erzählung.12 Wenn sich Philosophen an diesen Forschungen beteiligen,13 verwischen sich zwar die Grenzen zwischen den Fächern, aber diese Unscharfe scheint mir so lange unproblematisch zu sein, wie sie nur eine institutionelle Rolle spielt und keine inhaltliche Bedeutung hat. Innerhalb der wissenschaftlichen Institutionen lässt sich beobachten, dass Historiker, die über Geschichte theoretisch reflektieren, in ihrer eigenen Zunft häufig am Rande stehen, so wie die Bemühungen von Geschichtsphilosophen bei Historikern nicht gerade hoch im Kurs stehen. Doch in sachlicher Hinsicht ist es ziemlich gleichgültig, ob eine bestimmte Theorie der Geschichte von einem Historiker oder einem Philosophen stammt. Ob Koselleck oder Lübbe über Zeitstrukturen nachdenken, ob Lorenz oder Ricoeur die Struktur historischer Erzählung analysieren, sie unterscheiden sich lediglich im Stil. Dennoch halte ich die Frage für berechtigt, worin die besondere Funktion der Geschichtsphilosophie bestehen kann. Über die Rehabilitierung der materialen Aspekte hinaus lautet meine Antwort, dass sich die Geschichtsphilosophie dann prinzipiell von der Geschichtstheorie abhebt, wenn sie die Zukunfts- und Handlungsorientierung zu ihrem zentralen Thema macht. Während man der Erzähltheorie vorgeworfen hat, zu sehr auf die Vergangenheit fixiert zu sein,14 vollzieht 12 Exemplarisch seien genannt: Kocka, Geschichte und Aufklärung, a.a.O. (Anm. 7); Koselleck, Vergangene Zukunft, a.a.O. (Anm. 8); Jörn Rüsen, Grundzüge einer Historik, 3 Bde., Göttingen 1983-89; Chris Lorenz, Konstruktion der Vergangenheit. Eine Einfiihrung in die Geschichtstheorie, Köln u.a. 1997. 13 Ebenso exemplarisch: Arthur C. Danto, Analytische Philosophie der Geschichte, Frankfurt a. M. 1974; Hans Michael Baumgartner, Kontinuität und Geschichte. Zur Kritik und Metakritik der historischen Vernunft, Frankfurt a. M. 1973; Karl Acham, Analytische Geschichtsphilosophie. Eine kritische Einfiihrung, Freiburg, München 1974; Hermann Lübbe, Geschichtsbegriff und Geschichtsinteresse. Analytik und Pragmatik der Historie, Basel, Stuttgart 1977; Paul Ricoeur, Zeit und Erzählung, 3 Bde., München 1988-1991. 14 Paul Ricoeur, Gedächtnis - Vergessen - Geschichte, in: Klaus E. Müller und Jörn Rüsen (Hgg.), Historische Sinnbildung. Problemstellungen, Zeitkonzepte, Wahrnehmungshorizonte, Darstellungsstrategien, Reinbek bei Hamburg 1997,139 f.
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die handlungsorientierte Geschichtsphilosophie, die den narratologischen Aspekt ja nicht ausschließt, eine Kehrtwendung in Richtung Zukunft. Die Bezeichnung »praktische Geschichtsphilosophie« lehnt sich an die traditionelle Unterscheidung zwischen theoretischer und praktischer Philosophie an. Analog dazu könnte man diejenige Disziplin, die Geschichtstheorie heißt, nachträglich »theoretische Geschichtsphilosophie« als Wissenschaftstheorie oder Methodologie der Geschichtswissenschaft nennen. In einem erweiterten Kontext könnte sich dieses theoretische Interesse auch auf Inhalte des Historischen beziehen wie etwa auf Verlaufsstrukturen, Wirkfaktoren und Sinn der Geschichte. Wie im Titel »praktische Geschichtsphilosophie der Zukunft« zum Ausdruck kommt, lege ich Wert auf die Nähe zur praktischen Philosophie. Weil auch Historiker nicht selten beanspruchen oder sich dem Anspruch ausgesetzt fühlen, mit Hilfe von Erkenntnissen über die Vergangenheit zur Orientierung in der gegenwärtigen Welt beizutragen, fuge ich das Wort Zukunft hinzu, um damit zu betonen, dass sich die von mir konzipierte praktische Geschichtsphilosophie unmittelbar mit Problemen der Zukunft, insbesondere auch der »fernen« Zukunft, auseinandersetzt, um daraus Orientierungen für langfristig verantwortliches Handeln zu gewinnen. Eine solche Zukunfts- und Handlungsorientierung widerspricht der Rede von der angeblichen »Unverfügbarkeit der Geschichte«.15 Obwohl die Geschichte im Ganzen nicht planbar ist, eröffnen sich doch zu jedem Zeitpunkt begrenzte Horizonte für praktische Eingriffe in das historische Geschehen. Die Aufgabe besteht darin, alternative Handlungsmöglichkeiten in der Geschichte freizulegen, um die gegenwärtigen Lebensbedingungen nach ethischen Maßstäben verändern zu können. Dieses Programm, das an Rousseau, Nietzsche und Benjamin anschließt, lässt sich mit gegenwärtigen Theorien der Kontingenz so operationalisieren, dass neue Chancen für praktische Freiheit und verändernden Eingriff sichtbar werden. So verstärkt sich in der 15 Heinz-Dieter Kittsteiner, Out of Control. Über die Unverfügbarkeit des historischen Prozesses, Berlin, Wien 2004, 34; ders., Wir werden gelebt, a.a.O. (Anm. 1), 18 f., 23; hierzu die Abschnitte »Kontingenzerfahrung« und »Teleologie - praktisch gewendet« des dritten Kapitels und den Abschnitt »Kontingenz in praktischer Absicht« des siebten Kapitels.
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Geschichtswissenschaft das Interesse für ungenutzte Optionen, wie in methodologischen Reflexionen über kontrafaktische Erklärungen zum Ausdruck kommt.16 In den Sozialwissenschaften bis hin zur evolutionären Ökonomik richtet sich die Aufmerksamkeit zunehmend auf Kontingenzen, um dem Mythos einer linearen Optimierung entgegenzutreten. Der Grundtenor besteht darin, trotz erdrückender Systemzwänge mit Kontingenzen vernünftig und verantwortungsvoll umzugehen. In diesen Tendenzen erkenne ich ein Zeichen dafür, dass die Rolle handelnder Subjekte wiederentdeckt und aufgewertet wird. Selbstverständlich sind damit nicht nur Individuen gemeint, sondern vor allem auch kollektive Subjekte und Institutionen. In der Auflösung derartiger Knotenpunkte in sozialen Prozessen sehe ich die Funktion einer praktischen Geschichtsphilosophie der Zukunft.
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Die vorliegenden Texte sind im Rahmen mehrerer Forschungsprojekte und Kooperationszusammenhänge entstanden. Der Schwerpunkt Aufklärung steht im Kontext des »Grundrisses der Geschichte der Philosophie« (begründet von Friedrich Ueberweg), dessen Band zur Philosophie Frankreichs im 18. Jahrhundert ich zusammen mit Helmut Holzhey (Zürich) herausgegeben habe. Ihm verdanke ich zahlreiche Hinweise, die sich in den ersten beiden Kapiteln dieses Bandes niederschlagen. Dem Lektor vom Schwabe Verlag (Basel), Wolfgang Rother, danke ich für die freundliche Genehmigung zur Transformation der beiden Lexikonartikel in diskursive Fassungen. Im Rahmen dieses Projektes, das von der Robert Bosch Stiftung, von der Deutschen Forschungsgemeinschaft und vom Schweizer Nationalfond gefordert wurde, fanden mehrere Tagungen an der Universität Zürich, an der Technischen Universität Dresden und am Einstein Forum Potsdam statt, wo ich meine Thesen und Forschungsergebnisse vortragen
16 Siehe den Abschnitt »Determinismus - oder Evolution und Kontingenz« des fünften Kapitels sowie die Abschnitte »Kontrafaktische Erklärungen« und »Kontingenz in praktischer Absicht« des siebten Kapitels.
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konnte. Außerdem hatte ich Gelegenheit zu mehreren Vorträgen über Themen des 18. Jahrhunderts am Forschungszentrum für Europäische Aufklärung Potsdam und am Interdisziplinären Zentrum für die Erforschung der Europäischen Aufklärung an der Martin-Luther-Universiät in Halle-Wittenberg. Ebenso wichtig ist für mich die Teilnahme an einem seit vier Jahren vom Spanischen Ministerium für Erziehung und Wissenschaft geförderten Forschungsprojekt zum Thema »Una nueva filosofía de la historia« am Consejo Superior de Investigaciones Científicas (CSIC). Besonderer Dank gilt der Direktorin des Instituts für Philosophie am CSIC, Concha Roldán, für die intensive und anregende Zusammenarbeit. Ich danke Peggy H. Breitenstein, Anne Koban, Susann Thiele und Sonja Asal für diffizile Recherchen, insbesondere Peggy H. Breitenstein für weiterführende Hinweise und konstruktive Kritik; Susann Thiele, Christian Baumann und Tom Handrick besorgten die Redaktion der einzelnen Manuskripte. Nicht zuletzt verdanke ich Lieselotte Steinbrügge viele fachliche und motivierende Gespräche. Der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften sei für den großzügigen Druckkostenzuschuss gedankt.
Erster Teil Aufklärungskultur und Geschichtsphilosophie
1. Aufklärung und Moderne
Kaum eine historische Epoche und die daraus hervorgegangenen Leitideen waren und sind derart unerbittlichen und dauerhaften Kritiken ausgesetzt wie die Aufklärung. Paradigmatisch ist die Dialektik der Aufklärung, in der Horkheimer und Adorno behaupten, dass im aufklärerischen Programm der Keim fur die Selbstvernichtung der Vernunft angelegt sei.1 In der Postmoderne und im Posthistoire wird diese Argumentationsfigur forciert mit den Vorwürfen, die Aufklärung vertrete einen einseitigen Rationalismus, Universalismus oder gar Totalitarismus. Konservativen Kritikern gilt die Aufklärung als zu politisch oder ideologisch, insgesamt als zu radikal; sie beklagen mit ihr eine unheilvolle Tendenz, die in der Französischen Revolution zum Ausbruch gekommen sei. Schließlich halten Historiker die Philosophie der Aufklärung fur wenig originell, indem sie ihr abstreiten, theoretisch überhaupt etwas Neues hervorgebracht zu haben. Mit derartigen Kritiken werde ich mich in diesem Kapitel auseinandersetzen, um im Kontext aktueller Debatten eine sowohl historische als auch systematische Neubewertung der Aufklärung zu versuchen. 2 Aus der Sicht der Philosophiegeschichte ist die Kritik so pauschal, dass sie der Epoche der Aufklärung nicht gerecht wird; dagegen sind die konkreten und vielfältigen Strömungen dieser Periode ins Feld zu fuhren. In systematischer Perspektive krankt diese Kritik daran, dass die Aufklärung des 18. Jahrhunderts für die negativen Kehrseiten der modernen Zivilisation verantwortlich gemacht wird. Aufklärung und Moderne werden gleichgesetzt, die Spezifik der Aufklärung 1
Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, in: Max Horkheimer, Gesammelte Schriften, Bd. 5, hg. von Gunzelin Schmid Noerr, Frankfurt a. M. 1987, 11-290. 2 Da ich mich hier auf die Diskussion über die Aufklärung konzentriere, werde ich nur die entsprechende Literatur dokumentieren und die Originaltexte kursorisch behandeln.
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gegenüber der Moderne missachtet. Dabei übersieht man, dass die Philosophie der Aufklärung keineswegs einheitlich ist, sondern verschiedene Denktypen enthält, die auf spätere Entwicklungen verweisen. Demgegenüber vertrete ich die These, dass sich um die Mitte des 18. Jahrhunderts ein theoretischer Bruch vollzog, durch den sich dasjenige, was wir gegenwärtig Moderne und Postmoderne nennen, in Ansätzen herausgebildet hat. In der Wissenschaft und Philosophie entstanden Theoreme, die man vom heutigen Standpunkt aus als spezifisch modern und postmodern bezeichnen kann. Folgt man dieser Interpretation, begann die Differenzierung der Aufklärung in Aufklärung, Moderne und Postmoderne bereits innerhalb der Epoche der Aufklärung.
Kultur der Aufklärung Der Begriff der Aufklärung gab der Epoche des 18. Jahrhunderts ihren Namen. Vor allem in Frankreich gehörte der Begriff »siècle des lumières« zum Selbstverständnis der fuhrenden Philosophen, Wissenschaftler und Literaten. Die Metapher drückte die Leitidee aus, nach dem »finsteren« Mittelalter von nun an das »Licht der Vernunft« leuchten zu lassen. Damit wurde der Anspruch erhoben, die Vernunft in allen Bereichen des menschlichen Lebens zur Geltung zu bringen: zunächst im Bereich wissenschaftlicher Erkenntnis, später auch auf den Gebieten Staat, Gesellschaft, Moral und Geschichte. Ziel war die Autonomie der Menschen, die in die Lage versetzt werden sollten, die Maßstäbe ihres Denkens, Handelns und Zusammenlebens selbst zu bestimmen. Obwohl sich nicht alle Autoren des 18. Jahrhunderts zur Bewegung der Aufklärung zugehörig fühlten und viele ihr aus heutiger Sicht fern standen, markiert sie doch einen gemeinsamen Bezugspunkt, an dem sich in dieser Epoche sowohl Anhänger als auch Gegner orientierten. Näher betrachtet lässt sich das historische Phänomen der Aufklärung auf unterschiedlichen Ebenen beschreiben. Zunächst bieten sich bestimmte Paradigmen an, die diese Geistesbewegung maßgeblich geprägt haben: die Naturwissenschaft Newtons, eine sozial- und ge-
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schichtsphilosophisch erweiterte Anthropologie und Lockes radikalisierter Empirismus.3 Den wichtigsten wissenschaftlichen Hintergrund der Philosophie bildete die Mechanik Newtons, die eine neue Kosmologie, Naturphilosophie und Erkenntnistheorie ermöglichte. Das mechanistische Modell wurde auf die Natur des Menschen übertragen, indem man versuchte, den alten Dualismus von Leib und Seele zu überwinden sowie die Entwicklung des Menschen und seines Wissens auf natürliche Faktoren zurückzufuhren. Als maßgebliche Quelle sowohl der wissenschaftlichen als auch der alltäglichen Erkenntnis galt die Sinneserfahrung, auf der die geistigen Operationen wie Vorstellung, Gedächtnis und Denken aufbauen. Aufklärung lässt sich auch als ein Kanon gemeinsamer Werte charakterisieren.4 Sie bedeutete Kritik an sogenannten Vorurteilen und ungerechtfertigten Autoritäten. Damit verband sich die Forderung nach gedanklicher Freiheit, praktischer Autonomie und Kosmopolitismus. Als Grundlage sollte eine Vernunft fungieren, welche die Gewähr für Wahrheit und Selbstbestimmung bot, indem sie alle Geltungsansprüche kritisch überprüft und zugleich auch die eigenen Grenzen erkennt. Schließlich kann man die Aufklärung als einen Denkstil betrachten, der darin besteht, dass die Menschen selbstständig denken und ihre Probleme möglichst rational lösen.5 Sie ist in wesentlichen Zügen profan, indem sie vorrangig irdische Fakten und Ursachen gelten lässt; sie ist reflexiv, weil sie das neue Wissen im eigenen Vermögen der Menschen zu begründen versucht; und sie ist ihrem Anspruch nach tolerant, weil der Verlust alter Gewissheiten zu der Konsequenz führt, sich mit prinzipiell widerlegbaren und unterschiedlichen Auffassungen auseinanderzusetzen. 3
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Harvey Chisick, The Limits of Reform in the Enlightenment: Attitudes toward the Education of the Lower Classes in Eighteenth-Century France, Princeton, N.J. 1981,4-12. Jean Starobinski, L'invention de la liberté, 1700-1789, Genève 1964; René Pomeau, L'Europe des Lumières. Cosmopolitisme et unité européenne au XVIIIe siècle, Paris 1966. Panajotis Kondylis, Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus, Stuttgart 1981; Roland Mortier, Le cœur et la raison: recueil d'études sur le dix-huitième siècle. Préface de René Pomeau, Oxford, Bruxelles, Paris 1990; Werner Schneiders, Das Zeitalter der Aufklärung, München 1997, 7 - 2 0 .
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Nicht zuletzt wird von der Aufklärung eine praktische Orientierung erwartet. Als »philosophe« verstand sich ein Gelehrter, welcher der Gesellschaft diente und praktisch verwertbares Wissen produzierte. Um dieses Ziel zu erreichen, wurden die Ergebnisse von Wissenschaft und Philosophie verbreitet, so dass möglichst viele Menschen davon profitieren könnten. Dies geschah mit Hilfe von Erziehung und Unterricht, der zunehmend an Privatschulen erteilt wurde, und mittels neuer Kommunikationsformen wie den häufig von gelehrten Frauen geführten Salons. Auch durch einen sprunghaft expandierenden Buchmarkt, durch populäre Sachwörterbücher und Zeitschriften bildete sich überhaupt erst eine Öffentlichkeit heraus. Zur Aufklärung gehörte die Popularisierung der Philosophie, die sich verständlich und unterhaltsam zu präsentieren wusste.
Historizität und Aktualität der Aufklärung Indem die Philosophen des 18. Jahrhunderts als Verkünder der Aufklärung auftraten, machten sie ihre Epoche selbst zu einem besonderen Thema. Durch die Streitfrage, ob die Ziele der Aufklärung schon erreicht oder erst noch zu verwirklichen seien, setzte die Aufklärung bereits in ihren Anfängen einen Prozess der Selbstreflexion in Gang. In seiner Schrift Was ist Aufklärung? fragte Kant, ob die eigene Epoche als »aufgeklärtes Zeitalter« oder vielmehr als »Zeitalter der Aufklärung« gelten könne, das sich auf dem Wege zu einer »wahren« Aufklärung befinde.6 In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erhielt dieser Reflexionsprozess eine geschichtliche Dimension. Denn die Vertreter der Aufklärung betrachteten ihre Epoche als das Ergebnis einer historischen Entwicklung, die bereits in der griechischen Antike begonnen und in der europäischen Zivilisation ihren vorläufigen Gipfelpunkt erklommen habe. Wie sich die Aufklärung im Medium der Geschichte selbst thematisierte, so führte die Historisierung zu einer Veränderung
6
Immanuel Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, in: ders., Werke in 12 Bänden, hg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt a. M. 1977, Bd. XI, 53-61, hier 59.
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ihres Selbstverständnisses. Während noch bis Mitte des Jahrhunderts der Stolz über das bisher Erreichte überwog, verbreitete sich danach die ernüchternde Einsicht, dass die Aufklärung ein langfristiges Projekt sei, das auch scheitern könne oder dessen Realisierung zumindest noch auf sich warten lasse. Die Konsequenzen einer solchen Geschichtsreflexion waren indessen zwiespältig. Einerseits lässt sich die Transformation der Aufklärung von einem vermeintlichen Zustand in einen unvollendeten Prozess als Relativierung interpretieren. Andererseits kann man in einer solchen Vertagung der Aufklärung in die Zukunft auch einen Akt der Totalisierung sehen, durch den sich die Aufklärung zum epochenübergreifenden Prozess erhob. Wie man diese Ambivalenz auch beurteilen mag - in jedem Fall besteht die Ironie darin, dass aus der Historisierung der Aufklärung zugleich deren Enthistorisierung folgte. Sie verdoppelte sich in die Aufklärung als historische Epoche auf der einen und in die Aufklärung als systematisches Programm auf der anderen Seite.7 Diese Doppelung in einen Epochen- und in einen Aktionsbegriff ist für den Begriff der Aufklärung charakteristisch und bestimmt bis heute die Diskussion. Die überhistorische Verallgemeinerung der Aufklärung tendiert zum Anspruch auf universelle Geltung dieses Denktyps und provoziert damit eine kontroverse Debatte. Auf diese Weise hat die Aufklärung selbst die Frage nach ihrer eigenen Aktualität gestellt, an der sich die Geister scheiden. Doch die Aktualisierung der Aufklärung fuhrt nicht zwangsläufig zu einem Verlust des Geschichtsbewusstseins. Möglich ist auch ein reflektiertes Verhältnis, in dem aus der zeitlichen Distanz darüber nachgedacht werden kann, wie die Errungenschaften der historischen Epoche der Aufklärung für die heutige Gegenwart reformuliert werden können. Dabei erhält die Erforschung des 18. Jahrhunderts eine wichtige Funktion, so dass sich für den Philosophiehistoriker eine zweifache Aufgabe stellt. In erster Linie betrachtet er die Aufklärung als eine geschichtliche Erscheinung, die er zu erforschen und darzustellen hat, auch wenn diese Einstellung die Gefahr birgt, dass die Aufklärung ihre aktuelle Bedeutung verliert und zum bloßen Archiv verkommt. Aber 7
Robert Darnton, George Washingtons falsche Zähne oder noch einmal: Was ist Aufklärung?, München 1996, 5.
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sofern der Philosophiehistoriker sein systematisches Interesse an der Philosophie wach hält, wird auch er sich der Problematik einer aktualisierten Aufklärung nicht entziehen können. An dieser Stelle ist an den hermeneutischen Grundsatz zu erinnern, dass Texte von ihrer Rezeption nicht zu trennen sind. In unserem Fall folgt daraus, dass nicht nur das historisch überlieferte Korpus den Horizont für vielfaltige Deutungen bildet, sondern dass auch die gegenwärtige Stellungnahme zur Aufklärung die Deutung der vergangenen Epoche prägt. Das fuhrt zu einem historisch aufgeklärten Umgang mit der Aufklärung, durch den sie weder nur historisiert noch zum zeitlosen Prinzip stilisiert wird.
Kritik an der Aufklärung Der sowohl historische als auch systematische Anspruch der Aufklärung hat eine Reihe von Kritiken hervorgerufen. Seit ihren Anfängen bis in die Gegenwart ist die Aufklärung wesentlich mit Kritik verbunden. Zum einen hat die Epoche der Aufklärung als Kritik an der ihr vorausgegangenen Tradition begonnen. Aufklärung bedeutete zunächst Kritik an den Dogmen der katholischen Kirche, ebenso Kritik an der bestehenden politischen Herrschaft, insbesondere am Absolutismus. Zum anderen bezieht sich die Kritik der Aufklärung von Anfang an auf sich selbst. Etwa 1750 bildete sich innerhalb des Klerus eine Kritik an der Religionskritik heraus, die nicht pauschal als Gegenaufklärung abgetan werden kann. Parallel dazu vollzog sich, wie erwähnt, eine Historisierung der Aufklärung, die bereits selbstkritische Züge trug und ihre radikalste Gestalt in der Geschichts- und Sozialphilosophie von Rousseau fand. Am Ende des 18. Jahrhunderts entstanden dann Kritiken, die zum Teil an die selbstkritischen Ansätze der Aufklärung anknüpften. Im aktuellen Streit um die Aufklärung lassen sich in groben Zügen drei Typen der Kritik unterscheiden. Der erste Typ besteht in einer konservativen Kritik, die der Aufklärung vorwirft, mit einer bewährten Tradition gebrochen zu haben, ohne an deren Stelle eine eigene verbindliche Ordnung zu setzen.8 Die Idee der Emanzipation habe nur 8
Paul Hazard, Die Krise des europäischen Geistes, 1680-1715, Hamburg 1939; Hermann Lübbe, Religion nach der Aufklärung, Graz, Wien, Köln
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zu einem verabsolutierten Individualismus und Subjektivismus gefuhrt. Mit der Rebellion des Bürgertums gegen Kirche und Monarchie habe nur eine andere gesellschaftliche Gruppe die Herrschaft erobert, die sich als ebenso totalitär und ungerecht erwies. Insgesamt werden Rationalisierung und Säkularisierung für Irrwege gehalten, auf denen sich die Vernunft selbst überschätzt. Letztlich habe die Aufklärung nur Surrogate des Christentums statt tragfahiger Orientierungen geschaffen und dadurch ein weltanschauliches Vakuum hinterlassen, in das im 19. und 20. Jahrhundert verhängnisvolle Ideologien eindringen konnten. Aufklärung sei daher nur der misslungene Versuch der Kompensation einer verloren gegangenen Orientierung, die sie nicht zu ersetzen vermöge. Die zweite Art der Kritik setzt indessen tiefer an. Bereits Rousseau glaubte, wie im folgenden Kapitel gezeigt wird, einen inneren Widerspruch der Aufklärung entdeckt zu haben, der seiner Auffassung nach in einer Schere zwischen wissenschaftlich-technischen Fortschritten und moralisch-politischer Entwicklung bestand. Diese Denkfigur ähnelt bereits der genannten Dialektik der Aufklärung, der zufolge im Programm der Aufklärung die Katastrophen des 20. Jahrhunderts angelegt seien.9 Nach den Erfahrungen von zwei Weltkriegen und Auschwitz glaubten Horkheimer und Adorno in der einseitigen Naturbeherrschung seit den Anfängen der abendländischen Kultur eine Ursache für die Pervertierung sozialer Herrschaft und für die Selbstzerstörung der Vernunft gefunden zu haben. Letztlich führten sie die Vernichtung der Kultur auf eine zum Prinzip stilisierte aufklärerische Denk- und Handlungsweise zurück. Diesem Muster folgen seitdem viele Kritiker, die in der Aufklärung nur noch die »lumières perdues«
1986, 207; Rüdiger Bubner, Rousseau, Hegel und die Dialektik der Aufklärung, in: Jochen Schmidt (Hg.), Aufklärung und Gegenaufklärung in der europäischen Literatur, Philosophie und Politik von der Antike bis zur Gegenwart, Darmstadt 1989, 416 f.; Sylviane Albertan-Coppola und Antony McKenna (Hgg.), Christianisme et Lumières, Dix-Huitième Siècle 34, Paris 2002,15. 9 Horkheimer, Adorno, Dialektik der Aufklärung, a.a.O. (Anm. 1); vgl. Jonathan Irvine Israel, Radical Enlightenment: Philosophy and the Making of Modernity, 1650-1750, Oxford, New York 2001.
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sehen, die ihr Spiel längst verloren haben. 10 Wie in Horkheimers Eclipse of Reason11 wird die Metapher »Aufklärung« in ein Verdunklungsgeschehen umgedeutet. Allerdings ist zu beachten, dass Adorno und Horkheimer einen sehr weiten, zeitlich und inhaltlich »entgrenzten« Begriff von Aufklärung verwenden, der die Entstehung und Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft von der griechischen Antike bis in die Gegenwart umfasst. Der Beginn der Neuzeit wird an Machiavelli, Bacon, Descartes und Hobbes demonstriert; die Aufklärung im engeren Sinn setzt erst mit Kant ein; aus der Philosophie des 18. Jahrhunderts wird allein die Histoire de Juliette des Marquis de Sade einer genaueren Analyse unterzogen,12 um die verborgenen Schatten der Aufklärung freizulegen, die auf Nietzsche verweisen. Gleichzeitig ist auf das Paradoxon aufmerksam zu machen, dass die Autoren trotz ihrer Aufklärungskritik das aufklärerische Denken prinzipiell bewahren wollen,13 damit die Möglichkeit einer »anderen« Aufklärung offen gehalten werden könne. Der dritte Kritiktyp steht im Kontext der sogenannten Postmoderne, deren Vertreter einige der genannten Vorwürfe fortschreiben und radikalisieren. Während die »Dialektik der Aufklärung« noch die Chance einer Selbstkorrektur barg, spricht die postmoderne Kritik der Aufklärung ein solches Reflexionsvermögen kategorisch ab. Mit dem Zweiten Weltkrieg hätten sich die Ideale der Aufklärung wie Rationalität und Humanismus selbst endgültig diskreditiert; die utopische Hoffnung auf eine bessere Zukunft sei für alle Zeiten aufgebraucht. Hinzu kommt die Diagnose, dass die moderne Zivilisation mit ihrer totalen Kommerzialisierung und Technisierung zu Kulturverlust und Entfremdung führe. Foucault bezweifelt, ob uns die Aufklärung jemals »mündig« gemacht habe, und behauptet, dass die zunehmenden technischen Fähigkeiten nicht in der Weise zur Freiheit des Individuums geführt haben, wie es sich die
10 Peter Strasser, Die verspielte Auflclärung, Frankfurt a. M. 1986, 7. 11 Max Horkheimer, Eclipse of Reason, N e w York 1947. 12 Horkheimer, Adorno, Dialektik der Aufklärung, a.a.O. (Anm. 1), 104143. 13 Ebd., 18; siehe Peggy H. Breitenstein, Die Befreiung der Geschichte. Grundlinien einer kritischen Geschichtsphilosophie bei Adorno und Foucault, Diss. Dresden 2009, 219 f.
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Autoren des 18. Jahrhundert erhofft hatten, und dass beide Seiten entkoppelt werden müssen.14 Auch Lyotard hält die Visionen von Emanzipation und Solidarität und damit die »großen Erzählungen« des Christentums wie auch der Aufklärung für delegitimiert, weil sie die vielen »kleinen Erzählungen« der Lebenswelt unterschlügen und unterdrückten.15 Folgt man anderen Autoren, hat sich die beschleunigte Moderne in einen sinnlosen Stillstand verkehrt, der einem »Ende der Geschichte« gleichkomme.16 Die Folge sei eine sinnentleerte Hegemonie der bourgeoisen, eurozentrischen und maskulinen Kultur. Dies alles gipfelt in der Überzeugung, dass die Aufklärung unwiderruflich tot und mit ihr die moderne Vernunft am Ende seien.17 Gegen diese vernichtenden Kritiken wenden sich die Anhänger der Aufklärung, die an den übrig gebliebenen Rest einer Hoffnung in der »Dialektik der Aufklärung« anknüpfen. Nach dem katastrophalen 20. Jahrhundert soll zum Aufklärungsbegriff auch die Kritik am im Namen der Aufklärung angerichteten Unheil gehören. Die Forderung lautet, dass sich die Aufklärung über sich selbst aufzuklären habe. Dieser Versuch einer Rehabilitierung mündet in die vielfach postulierte »Aufklärung über die Aufklärung« oder auch »Selbstaufklärung der Aufklärung«.18 So relativiert zwar Habermas die Aufklärung als »un-
14 Michel Foucault, Was ist Aufklärung?, in: ders., Schriften, Bd. IV, hg. von Daniel Defert und François Ewald, Frankfurt a. M. 2005, 687-707, 8 3 7 848, insbes. 704 f.; Breitenstein, Die Befreiung der Geschichte, a.a.O. (Anm. 13), 288 ff. 15 Jean-François Lyotard, Das postmoderne Wissen. Ein Bericht, Graz, Wien 1986,96 ff. 16 Vilém Flusser, Nachgeschichte - eine korrigierte Geschichtsschreibung, hg. von Stefan Bollmann und Edith Flusser, Frankfurt a. M. 1997, 28; Peter Sloterdijk, Eurotaoismus. Zur Kritik der politischen Kinetik, Frankfurt a. M. 1989, 266; Paul Virilio, Rasender Stillstand, Frankfurt a. M. 1997; Bernard Stiegler, Die Logik der Sorge. Verlust der Aufklärung durch Technik und Medien, Frankfurt a. M. 2008. 17 Peter Hulme und Ludmilla Jordanova (Hgg.), The Enlightenment and Its Shadows, London, N e w York 1990; Robert C. Bartlett, The Idea of Enlightenment: A Post-mortem Study, Toronto, Buffalo, London 2001, IX. 18 Jürgen Habermas, Die Moderne - ein unvollendetes Projekt, in: ders., Kleine Politische Schriften, Frankfurt a. M. 1981, 444-^»64; Herbert Schnädelbach, Was ist Aufklärung?, in: Gunzelin Schmid Noerr (Hg.),
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vollendetes Projekt«, hält aber im Ganzen am »Projekt der Moderne« fest; »Aufklärung als Aufgabe« lautet die Losung. Doch kommen dabei nur abstrakte Prinzipien wie Selbstkritik, Selbstdenken, Autonomie und Toleranz zum Zuge. Für Rorty bleibt von der Aufklärung lediglich die Inspiration übrig, sich durch praktisches Handeln fur eine menschliche Gesellschaft einzusetzen.19 Die drei Typen der Kritik an der Aufklärung wie auch der skizzierte Rettungsversuch verhalten sich insofern komplementär zueinander, als die Aufklärung aus beiden Perspektiven wie ein monolithischer Block erscheint. Die Befürworter der Aufklärung betrachten sie als einen ebenso homogenen Denktyp wie ihre Kritiker. Aufklärung wird zum überhistorischen Prinzip stilisiert, sei es als Unvermögen zur Kritik, sei es als zeitlos verfügbare Kritikkompetenz. Wie gegensätzlich die Standpunkte auch sein mögen, gemeinsam ist ihnen die Betrachtung der Aufklärung als eines identischen Wesens, dem man entweder Reflexion verordnet oder die Potenz dazu abstreitet. Ob sich die Aufklärung vervollkommnet oder zerstört, in jedem Fall wird die Aufklärung als eine Totalität verstanden, die sich im Positiven wie im Negativen selbst erhält, d.h. an ihren eigenen Ursprung zurückkehrt und am Ende nur vollbringt, was in ihr von Anfang an angelegt war.
Aufklärungskritik und Aufklärungsforschung Angesichts derartiger Kritiken und Gegenkritiken macht sich ein generelles Defizit bemerkbar, das darin besteht, dass die Grundsatzdebatten der historischen Epoche der Aufklärung selten gerecht werden, ja häufig sogar mit philosophiegeschichtlicher Ignoranz gefuhrt werden. Zwischen Aufklärungsforschung und Aufklärungskritik klafft eine
Metamorphosen der Aufklärung: Vernunftkritik heute, Tübingen 1988, 15-19; Jürgen Mittelstraß, Kant und die Dialektik der Aufklärung, in: Schmidt (Hg.), Aufklärung und Gegenaufklärung, a.a.O. (Anm. 8), 341-360. 19 Richard Rorty, The Continuity Between the Enlightenment and >PostmodernismGoldenen Zeitalter< - als »die glücklichste und dauerhafteste Epoche« der Menschheitsgeschichte (209). Der zweite Entstehungsgrund der »Ungleichheit« ist nach Rousseau viel einschneidender, nachhaltiger und verhängnisvoller, weil er nicht mehr nur persönliche Eigenschaften, sondern gesellschaftliche Institutionen betrifft. In der Entstehung des Privateigentums entdeckt er die Umkehrung des Fortschritts in eine Geschichte des Niedergangs. Rechtfertigte Turgot das ungleiche Eigentum als Motor fur wirtschaftliche Prosperität, die allen Menschen zugute kommen sollte, sieht Rousseau darin den wahren Ursprung der Selbstzerstörung. »Der erste, der ein Stück Land eingezäunt hatte und dreist sagte: >Das ist mein< und so einfältige Leute fand, die das glaubten, wurde zum wahren Gründer der bürgerlichen Gesellschaft.« (191) Doch gilt es zu differenzieren. Rousseaus Kritik an der »Einzäunung« richtet sich gegen den Großgrundbesitz, während er das bäuerliche Eigentum gelten lässt, sofern das Land vom Besitzer selbst bestellt wird. Auf dieser kleinbürgerlichen Eigentumsform beruht ja gerade der glückliche Zustand des vorangegangenen Stadiums. Privateigentum wird durch Arbeit gerechtfertigt: Weil jeder Eigentümer prinzipiell nur gleich viel Land zu bearbeiten vermag, ist die Gleichheit des Eigentums gewährleistet. Die Frage ist nun, wie aus solchen egalitären Eigentumsverhältnissen die Ungleichheit des Eigentums hervorgehen kann. In der zitierten Passage hat es noch den Anschein, als ob Privateigentum nur aus Gewalt und Täuschung hervorgegangen wäre. Doch zugleich gelingt es Rousseau, diese Ungleichheit aus der technisch-ökonomischen Ent-
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wicklung abzuleiten (213), d.h. aus der gesellschaftlichen Teilung der Arbeit zwischen städtischer Industrie und ländlicher Agrikultur. 39 Theoretisch bemerkenswert ist, dass er damit die Arbeit überhaupt als ein gesellschaftliches Verhältnis begreift. Nur so ist die These plausibel, weder die eigene Natur des Menschen noch der bloße Stoffwechsel mit der äußeren Natur, sondern die Gesellschaft sei fur den Verfall der Sitten verantwortlich. Es sind also Arbeitsteilung und Warentausch, aus denen die einseitige Anhäufung des Eigentums hervorgeht; daraus folgen wiederum Luxus, Habgier und Konkurrenz, schließlich »Herrschaft und Knechtschaft« sowie »Gewalt und Raub«, bis die »Reichen« einen bürgerlichen Staat mit entsprechenden Eigentumsgesetzen gründen, um die »Armen« zu unterdrücken (221 ff.). Für Rousseau hat dieser historische Diskurs die Funktion, der gleichsam krank gewordenen bürgerlichen Gesellschaft eine Diagnose zu stellen, um später eine Therapie vorzuschlagen. Dabei interpretiert er die Stadientheorien der philosophischen Tradition völlig neu. In der politischen Theorie des 17. Jahrhunderts von Hobbes und Locke wurde ein mehr oder weniger kriegerischer »Naturzustand« unterstellt, der mittels Staatsvertrag in einen friedlichen Zustand überfuhrt werden sollte. Rousseau kehrt diese Reihenfolge um: Er setzt den Frieden an den Anfang, zuerst das natürliche Leben des »guten Wilden«, sodann das glückliche Zeitalter der in kleinen Gemeinschaften lebenden Bauern. Die geschichtsphilosophische Pointe liegt darin, dass die daraus entstandene bürgerliche Gesellschaft den eigentlichen, jetzt historisch entstandenen Kriegszustand darstellt, der nur durch einen neuen gerechten Vertrag überwunden werden könne. Nun sind sich auch die Anhänger der Fortschrittsidee über die negativen Kehrseiten der technischen Zivilisation durchaus im Klaren. Was jedoch Rousseaus Position davon unterscheidet, ist die Tatsache, dass er solche Phänomene nicht als unerwünschte und langfristig behebbare Nebenfolgen bagatellisiert, sondern seine Kritik wesentlich tiefer ansetzt, indem er in der Geschichte einen inneren Widerspruch
39 Jean Starobinski, La transparence et l'obstacle: suivi de sept essais sur Rousseau, Paris 1971; Maximilian Forschner, Rousseau, Freiburg 1977; Johannes Caspar, Wille und Norm. Die zivilisationskritische Staatskonzeption J.-J. Rousseaus, Baden-Baden 1993.
Rechts- und
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entdeckt. Denn er macht die menschliche Vernunft selbst dafür verantwortlich, das Gegenteil ihrer guten Absichten hervorgebracht zu haben. In dieser Radikalisierung besteht gewissermaßen die originelle Urform einer Kritik der instrumentellen Vernunft im Sinne der »Dialektik der Aufklärung«. Zunächst kritisiert Rousseau die aufklärerische Formel von der Vernunft als »Dienerin der Leidenschaften« mit dem bekannten Argument, es handle sich in der Regel um eigennützige Interessen, die sich der Vernunft bedienen. Doch zieht er daraus die Schlussfolgerung, die Vernunft habe selber zur Entstehung und Verbreitung der Laster beigetragen: »Es ist der Verstand, der die Selbstsucht erzeugt. Sie ist es, die den Menschen sich auf sein Ich zurückziehen läßt. Sie ist es, die ihn vereinzelt. Sie ist daran schuld, daß er beim Anblick eines leidenden Menschen heimlich sagt: stirb, wenn du willst; ich bin in Sicherheit.« (175) In diesem Umkehrschluss bringt er zum Ausdruck, dass sich die Vernunft keinesfalls auf die traditionelle Rolle der Realisation mehr oder weniger moralischer Interessen beschränkt, sondern darüber hinaus eigene Wirkungen hervorbringt, die ihrer ursprünglich beabsichtigten Funktion widersprechen. Sehen die Vertreter der Aufklärung und später vor allem Hegel die Vernunft in der Geschichte walten, beschreibt schon Rousseau das Leiden an der Vernunft. In der Kritik der Geschichtsphilosophie und im Posthistoire des 20. Jahrhunderts radikalisiert sich diese Kritik zu einem Plädoyer für einen Ausstieg aus der Vernunft.
Kritische Geschichte der Kolonialisierung (Diderot und Raynal) In der Geschichte beider Indien (1770) von Diderot und Raynal macht sich der Einfluss von Rousseau bemerkbar.40 Indem die Autoren die Verbreitung der europäischen Kultur auf dem ganzen Erdball be-
40 Guillaume Raynal und Denis Diderot, Die Geschichte beider Indien, ausgewählt und erläutert von Hans-Jürgen Lüsebrink, Nördlingen 1988; vgl. die Erläuterungen, 329-347; Seitenzahlen im Text. - Siehe auch Michèle Duchet, Diderot et l'Histoire des deux Indes ou l'écriture fragmentaire, Paris 1978.
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schreiben, klagen sie die destruktiven Kräfte der modernen Zivilisation an. Vor allem Diderot verknüpft die Darstellung der europäischen Kolonien mit kritischen Reflexionen über die moralische und politische Situation Europas. Aus seiner Feder stammen die im Text verstreuten emotionalen Anklagen gegen Vernichtung, Ausbeutung und Sklaverei sowie die pathetischen Deklamationen, Anrufe an den Leser und Appelle an den König. Die Einleitung, die ebenfalls von Diderot verfasst wurde, exponiert eine geschichtsphilosophische Problemstellung. Die Entdeckung der Neuen Welt und des Seewegs nach Indien habe die Zivilisation aller Völker tiefgreifend verändert. Menschen aus den entferntesten Gegenden seien sich nähergekommen, indem sie ihre Erzeugnisse und damit auch ihre Meinungen, Gesetze, Sitten, Krankheiten, Tugenden und Laster miteinander austauschten. Doch der Autor fragt: »Aber sind die vergangnen Veränderungen der Menschheit nützlich gewesen? Können sie es, können es noch die künftigen ihr werden? Werden sie einstens dem Menschen mehr Ruhe, Glück und Vergnügen verschaffen? Wird sein Zustand vollkommner werden, oder wird er sich immer bloß ändern?« (9) So stellt er am Ende die skeptische Frage, ob die zivilisatorischen Fortschritte auch das Leben der Menschen verbessert haben. Raynals Verdienst besteht darin, das umfangreiche Material für eine vollständige Geschichte der europäischen Expansion zusammengetragen zu haben. Der Leser erhält Informationen über fremde Kulturen und »wilde« Völker, über ihre Lebensweisen, Wirtschaftsformen und politischen Verfassungen, über die entsprechenden geographischen und klimatischen Bedingungen sowie über exotische Tiere und Pflanzen in aller Welt. Nach einer kurzen Vorgeschichte der Besiedlung Indiens durch die Portugiesen schildert Raynal die ursprüngliche Lage Asiens und seiner Bewohner einschließlich Geographie, Religion, Technik und Politik (42-79). Im Anschluss an Montesquieu schreibt er den naturgegebenen Bedingungen einen bestimmenden Einfluss auf die Kultur der Völker zu (47 f.). So habe das mäßige und angenehme Klima zu einer moderaten und friedlichen Zivilisation beigetragen, in der die Menschen »sanftmütig, menschenfreundlich und furchtsam« seien (50).
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Die Sympathie des Autors, in diesem Fall wieder Diderot, geht in Mitleid über, sobald er an die grausame Eroberung und spätere Fremdherrschaft denkt. Auf die Geschichte Spaniens und der Entdekkung Amerikas durch Kolumbus folgt eine Beschreibung der Ureinwohner auf Haiti und St. Domingo (91-100). Es entsteht das Bild des »guten Wilden«, der sein glückliches Leben ohne Arbeit verbringt, jedoch »tugendhaft« und »wohltätig« sei (100-102). Nur rhetorisch gemeint ist deshalb der fragende Anruf: »Leser, sage mir, waren es gesittete Völker, die bei wilden, oder wilde, die bei gesitteten gelandet sind?« (99) Ein anderes Bild bietet Mexiko mit strenger Staatsverfassung, jedoch mit einer Zivilisation, der es an den nötigen Techniken, insbesondere an der Schrift, mangelt (134-143). Die Gemeinwesen in Afrika werden als despotische Erb- oder Wahlmonarchien beschrieben, die Einwohner, die ohne Zivilisation leben, als geistig träge und ohne eigene Tugend (203-206). Solche Charakterisierungen finden sich verstreut in einer detaillierten und schonungslosen Geschichte der Versklavung (206-230), die nach Auffassung des Verfassers »vielleicht weniger blutig, aber umso empörender ist« (195). Die Ethnographie handelt jetzt von den Einwanderern, die ihre Länder wegen Ausbeutung und Unterdrückung verlassen haben - für Raynal und Diderot ein Anlass, das Ancien Régime in Europa zu geißeln (246 f.). Davon unterscheiden sich die Sitten in Nordamerika, wo die Menschen im Wesentlichen Ackerbau betreiben und sowohl durch die sie erfüllende Arbeit als auch durch die natürlichen Bedürfnisse ein ruhiges, genügsames, tugendhaftes und glückliches Leben führen (253-255). Die ländliche Idylle Amerikas wird allein durch den kolonialen Status getrübt, über dessen gerade begonnene Überwindung detailliert berichtet wird. Den Abschluss bildet eine sozialphilosophische Legitimierung der Unabhängigkeitsbewegung (286-300). Während die Einleitung einen kurzen Abriss der Geschichte Europas bis zur Kolonialisierung bietet, enthält das Nachwort eine Untersuchung der rückwirkenden Einflüsse der Kolonialisierung auf den europäischen Kontinent (301-304). Die idealisierenden Darstellungen der »wilden« Völker, die von »zivilisierten« Eroberern versklavt und ermordet wurden, enthalten eine mehr oder weniger explizite Anthropologie. Der Mensch im
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Naturzustand wird wie ein höher entwickeltes Tier betrachtet, geleitet von Instinkten, die ihm das Überleben ermöglichen. Indem er technische und wissenschaftliche Fortschritte macht und dadurch die äußere Natur beherrscht, verwandelt er seine »natürlichen« in »artifizielle« Bedürfhisse. Da er von Natur aus ein soziales und mitfühlendes Wesen ist, bildet die Familie die erste Form der Gesellschaft. Der Mensch gilt als frei, gut und glücklich, bevor er in den Zustand der Zivilisation eintritt. Das erinnert an Rousseau, dem sich manche idealisierende Schilderung verdankt. Doch im Unterschied zu ihm ist der Mensch hier weder ein Einzelgänger, noch werden für den Kulturverfall Technik und Wissenschaft verantwortlich gemacht, sondern allein die Korruption von Moral und Politik. Der Verlauf der Geschichte wird skeptisch beurteilt (9-32). Einerseits werden die segensreichen Effekte des Handels beschworen, andererseits kommen die negativen Folgen, vor allem der modernen Sklaverei, drastisch zur Sprache. So ist die Geschichte der Zivilisation eine Leidensgeschichte, die vom Blut ihrer Opfer getränkt wird. An einigen Stellen macht sich sogar ein zyklisches Geschichtsbild bemerkbar. Zuerst leben die Menschen in einem Stadium der »Wildheit«, in dem sie moralisch und glücklich sind. Doch dann gehen sie notgedrungen in ein Stadium der Zivilisation über, in dem die Sitten korrumpiert werden (100 f.). Demgegenüber erscheint die amerikanische Agrikultur als eine Zivilisation auf mittlerem technischem Niveau, die in der Manier von Rousseau als ländliche Utopie idealisiert wird. Raynal und Diderot sind der Überzeugung, dass in Amerika eine weitere Versittlichung möglich sei, weil die nachkommenden Generationen unter neuen Verhältnissen aufwachsen und erzogen werden (256-258). Dem »alten« Europa hingegen sprechen die Autoren eine solche Entwicklungsmöglichkeit ab. Amerika erscheint als Regenerationsraum Europas; hier kann die Kulturentwicklung noch einmal beginnen, ohne von den Zivilisationsverwerfungen Europas behindert zu werden. Der Zustand Europas wird durch zwei historische Brüche markiert: Zum einen hat sich Europa von der »alten Geschichte« gelöst, weil dort die heroischen Zeiten von »Gründung« und »Umsturz« vergangen seien und jetzt eine »düstere Ruhe« der Knechtschaft herrsche
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(91). Zum anderen ist nach dieser Konzeption Europa so weit von der Entwicklung Amerikas getrennt, dass ihm der Weg in eine bessere Zukunft versperrt bleibt. Insofern wird der Weltgeschichte eine neue Richtung zugeschrieben: Inhaltlich verweist sie auf eine mögliche moralische Besserung der Menschheit, geographisch ist die Gattungsvernunft inzwischen von Europa nach Amerika gewandert.
Melancholie und Geschichte (Volney) Ein weiteres Beispiel fur die Vielfalt des historischen Denkens im Frankreich des späten 18. Jahrhunderts sind Die Ruinen oder Betrachtungen über die Revolutionen der Reiche (1791) von Volney. Angesichts der Ruinen als Zeugnisse untergegangener Kulturen ergreift ihn Melancholie über den ewig wiederkehrenden Aufstieg und Niedergang der menschlichen Zivilisation. Wie ansatzweise bei Raynal und Diderot kehrt das zyklische Geschichtsbild wieder und verweist damit auf Denkmotive der Romantik, während zur gleichen Zeit Condorcet die Idee des gradlinigen Fortschritts auf die Spitze treibt. Das Werk Die Ruinen changiert zwischen Philosophie und Literatur; es enthält einen theoretischen Traktat zur Geschichtsphilosophie und ist zugleich ein philosophischer Roman.41 Wie ein Mosaik setzt es sich aus vielen Gattungen zusammen und wirkt wie eine theatralische Inszenierung. Die Darstellung wechselt zwischen monologischen und dialogischen, narrativen und dramatischen, sachlich-argumentativen und fiktionalen Elementen. Anlass für die geschichtsphilosophischen Reflexionen ist eine Reise nach Syrien (20 ff.). Die dort betrachteten Überreste einer früheren Kultur, die das »Andenken vergangener Zeiten« wach rufen, fuhren schmerzlich den Unterschied zwischen der früheren Blüte und der heute zu beklagenden Verödung vor Augen. Sie sind Sinnbild der
41 Constantin François de Volney, Ruinen oder Betrachtungen über die Revolutionen der Reiche, mit einem Essay und hg. von Günther Mensching, Frankfurt a. M 1977; Seitenzahlen im Text. - Vgl. Roland Lambrecht, Der Geist der Melancholie. Eine Herausforderung philosophischer Reflexion, München 1996; Nicole Hafid-Martin, Volney, Paris 1999.
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»Revolutionen der Reiche« (24-29) und damit für den Kreislauf in der Geschichte. Doch Volney beschränkt sich nicht auf das christliche oder romantische Motiv der Vergänglichkeit, sondern schreibt den Ruinen die Funktion zu, Ankläger vergangener Tyrannenherrschaft und Lehrer fur das zukünftige Handeln der Menschen zu sein. Wenn das »Zepter der Welt« von einem Volk zum anderen wandert, dann drängt sich beim Vergleich mit der Antike der schreckliche Gedanke auf, Europa könne seine bisher fuhrende Rolle verlieren. Bei dieser Befürchtung geht die anfangliche »Träumerei« in »tiefe Schwermut« über (28 f.). Solche Umwälzungen führt Volney auf ein »blindes Verhängnis« oder auf einen »unerforschlichen Gott« zurück (29-35). Doch ein erscheinender »Geist« widerspricht dem Autor und nimmt Gott gegen die ungerechtfertigten Vorwürfe in Schutz. Da sich die von diesem geschaffene Natur nicht verändert habe, könne er nicht Ursache der menschlichen Übel sein. Gott wird entlastet und der Mensch selbst verantwortlich gemacht; er sei »Werkmeister seines Schicksals« (43). Die Menschen werden zu historischen Subjekten erhoben, während der schattenhafte »Genius« als personifizierte Vernunft der Geschichte interpretiert werden kann. Aus solcher Einsicht folgt ein theoretisches und praktisches Programm: Zunächst sind die Ursachen der Übel zu erforschen, um darin zugleich die »Heilmittel« zu erkennen und anzuwenden (42). Dabei bilden Kosmologie, Geographie, Geschichte und Anthropologie die neuen Grundlagen einer Philosophie der Geschichte, in welche die Menschen verändernd eingreifen. Die anfängliche Melancholie schlägt in Optimismus um. Volney wird zum Verkünder der Französischen Revolution, in welcher er die Möglichkeit einer Regeneration des Menschengeschlechts sieht. An diese Meditationen schließt sich ein idealtypischer Abriss der Universalgeschichte an, aus dem konkrete Lehren für die Zukunft gewonnen werden sollen. Im Urzustand ist der Mensch »nackt an Körper und Geist«, ein auf die Erde geworfener »hilfloser Fremdling«, der nur von seinen natürlichen Bedürfhissen angetrieben und von einem Naturinstinkt gelenkt wird (44 f.). Indem er allmählich lernt, sich den Lebensunterhalt zu erleichtern, erwirbt er Verstand. Die
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ersten Gesellschaften entstehen aus interessegeleiteter Kooperation, die zu den historischen Stadien der Viehzucht und des Ackerbaus fuhrt (45-47). Doch mit zunehmenden technischen Fertigkeiten und entsprechend wachsenden Bedürfnissen entwickeln sich Luxus, Begierde und Raub, so dass die ehemals friedliche Gesellschaft in einen Kriegszustand pervertiert. Es sind dann Verträge, durch die Sicherheit und Gerechtigkeit wiederhergestellt werden. Dieselbe blinde »Selbstliebe«, die im Anfangsstadium der Antrieb zur Zivilisierung war und sich im Kriegszustand in ein »verderbliches Gift« verkehrte, wandelt sich in der bürgerlichen Gesellschaft zur »aufgeklärten Selbstliebe« (48-53). Demnach werden Auf- und Abstieg der Völker von denselben Grundsätzen bestimmt. Mit der positiven Beantwortung der Frage »Wird sich das Menschengeschlecht verbessern?« fuhrt Volney in seiner Schrift den Fortschrittsgedanken ein (85). In den Ruinen vollzieht Volney mehrere Wendungen: von den Ruinen, die den ewig wiederkehrenden Geschichtszyklus versinnbildlichen, zur Idee einer neuen Zeit, in der ein universeller Fortschritt mit der Perspektive des Weltbürgertums möglich wird; von der melancholischen Vorstellung einer Geschichte als Schicksal zur optimistischen Erwartung künftiger Machbarkeit der Geschichte; schließlich von der sentimentalen Kontemplation zur politischen Aktion. Die Ruinen werden zum Symbol der Revolution - im Übergang von der Revolution als Zyklus zur Revolution als linearem Fortschritt.
Medialität und Geschichtlichkeit (Servan) Mit Servan und später mit Condorcet tritt der Fortschrittsgedanke wieder in den Vordergrund - allerdings mit einem sozialen Funktionswandel. Während Turgot den Begriff des Fortschritts mit politischen und ökonomischen Reformen verband und als Finanzminister Ludwigs XVI. die Revolution zu verhindern versuchte, und während Rousseau zwar nicht ohne Einfluss auf die Französische Revolution war, gerade weil er den zivilisatorischen Fortschritt kritisierte, verschmilzt die Fortschrittsidee am Ende des 18. Jahrhunderts mit der Parteinahme für die Revolution, wie sich soeben bei Volney andeute-
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te.42 In diesem Sinn interpretieren nun Servan und Condorcet als politische Vertreter des Dritten Standes die Französische Revolution als einen weiteren »Fortschritt« in der Geschichte der Menschheit. Diese Bedeutungsverschiebung kommt in der Rede über den Fortschritt des menschlichen Wissens zum Ausdruck, 43 die Servan 1781 vor dem Parlament von Lyon vortrug. Wenn er darin sagt, der menschliche Geist habe seine »Revolutionen« (2), verbindet er die Vorstellung des Zyklus nahtlos mit der Idee des Fortschritts. Während die schönen Künste vom Süden nach Norden fortschritten, sei die Philosophie im Norden angekommen und wandere gegenwärtig nach Süden. Auf diese Weise vereinigten und verbreiteten sich alle Künste in Europa. Servan möchte die »Spur« des menschlichen Geistes zurückverfolgen, indem er nach den Ursachen der Fortschritte wie auch nach deren Grenzen fragt. Wie ein Reisender, der innehält und nachdenkt, misst er den zurückgelegten Weg ab, um daraus neue Kräfte zu schöpfen. Originell ist Servans Einteilung der Menschheitsgeschichte in vier große Epochen, die er durch die Erfindungen Agrikultur, Geld, Schrift und Buchdruck geprägt sieht (4). Mit der Agrikultur seien die ersten Techniken der Naturbearbeitung sowie das Eigentum an Grund und Boden entstanden. Durch das Geld habe sich der Reichtum vermehrt, so dass sich neue Bedürfnisse herausbildeten, deren Befriedigung wiederum neue Künste erforderten. Die Folge waren soziale Ungleichheit und politische Regierungen. Die Schrift diente dazu, nützliche Ideen zu fixieren, so dass der menschliche Geist größere Fortschritte machen konnte. Schließlich habe der Buchdruck, mit dessen Hilfe die nützlichen Ideen akkumuliert und für alle Menschen und Zeiten verbreitet werden, den menschlichen Geist auf eine bisher nicht gekannte Höhe gebracht. Zwar gehen nach Servan alle Techniken auf die Metallverarbeitung zurück; dem Eisen verdankten die Menschen sogar ihre Intelligenz. Aber das größte Reservoir des menschlichen Geistes sei zweifellos der Buchdruck. Ohne Bücher gehen die Kenntnisse der Wissenschaften, die durch Experimente
42 Karl Griewank, Der neuzeitliche Revolutionsbegriff, Frankfurt a. M. 1973, 172. 43 Joseph-Michel-Antoine Servan, Discours sur le progès des connoissances humaines en général, de la morale, et de la legislation en particulier, o.O. 1781; Seitenzahlen im Text.
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voranschreiten, immer wieder verloren. Auch die Moral bleibt unsicher, wenn sie nicht schriftlich fixiert und verbreitet wird. Der Schrift und dem Buchdruck, deren Hervorhebung auf Condorcet verweist, sind die inhaltlichen Ausführungen gewidmet. Was uns heute von Griechenland und Rom bekannt ist, hängt wesentlich von der schriftlichen Überlieferung ab (7 f.). Man stelle sich vor, fuhrt Servan anschaulich vor Augen, dass sich die Unsterblichkeit der Genies einiger Papierblätter verdankt, die von der Zeit, vom Zufall und von den Insekten verschont wurden. Durch den Buchdruck seien die Gedanken nicht nur unsterblich geworden, sie haben auch ihr Tribunal gewechselt, indem an die Stelle des Hörens das Lesen getreten sei. Während die Menschen beim Sprechen und Hören kaum lernen, bilden sie sich beim Lesen. Das Ohr sei das Organ des Erleidens, so dass der Irrtum schnell zur Seele vordringe. Demgegenüber breite sich im Auge, welches das Licht von außen empfange, die Wahrheit wie Feuer aus und erleuchte den menschlichen Geist. Diese Differenz, so unscheinbar sie auch sein mag, bringe die größten Wirkungen hervor. Deshalb habe der Buchdruck zur Beschleunigung der Wahrheit beigetragen. Die Funktion der Geschichtsphilosophie sieht Servan darin, den gegenwärtigen Zustand zu beschreiben und die Aufgaben für die Zukunft zu benennen. Es folgt daher zuerst eine Übersicht, die dokumentieren soll, welche Fortschritte bisher erreicht wurden und welche Mängel noch zu beheben seien (10). Betont wird dabei die Wendung zum Nützlichen in den Wissenschaften einschließlich in der Philosophie, die sich um die Bedürfhisse der Menschen kümmern sollen. Ein Desiderat sieht Servan hingegen in der Moral, die sich darin von der Physik unterscheide, dass diese ständig neue Gesetze entdecke, während jene die bekannten Prinzipien wiederhole (29). Gleichwohl gebe es auch einen Fortschritt in der Moral, der darin bestehe, dass die erkannten Wahrheiten praktisch, d.h. nicht zuletzt auf die Gesetzgebung, angewendet werden. Die »perfektionierte Vernunft« habe mittlerweile eine Reise um die ganze Welt absolviert (63). Aber, so fragt Servan besorgt, wo kommen wir nach 5000 Jahren an? Angesichts der »Weltkarte« fallt die Unvollkommenheit und Bedürftigkeit auf, da bisher nur sehr wenige Länder kultiviert worden seien (71). Der Fortschritt verlaufe wie die Spur eines Reisenden im Wüstensand. Die
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künftigen Herausforderungen sieht Servan weniger auf dem Gebiet der Moral, die ohnehin nicht wissenschaftsfähig sei, als auf dem Feld von Recht und Politik. Ausdrücklich verzichtet er auf eine Teleologie der Geschichte und betont den pragmatischen Aspekt der Geschichtsphilosophie, der in der Selbstvergewisserung der Gegenwart und in der Formulierung von Zukunftserwartungen besteht. Im Buchtitel fallt der Begriff »Fortschritt« auf, einer der seltenen philologischen Belege fur den Kollektivsingular Fortschritt, der lediglich der Sache nach in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts verbreitet war. Wenn nun Servan ankündigt, die Ursachen dieses Fortschritts zu klären, ist interessant zu beobachten, dass er dies mit dem Hinweis auf die Medien der Geschichte versucht: Das Geld ist Medium der Warenzirkulation, Schrift und Buchdruck sind Medien der Kommunikation. In beiden Bereichen handelt es sich um Möglichkeitsbedingungen fur eine beschleunigte Akkumulation von Reichtum und Wissen. Und jedes Mal entstehen Effekte, die den verwendeten Mitteln nicht anzusehen sind und über das anfangliche Ziel hinausschießen. Auch wenn die Erörterung über das Lesen nicht über die damals übliche Aufklärungsmetaphorik hinauskommt, dürfte die Einschätzung der historischen Bedeutung des Buchdrucks nicht übertrieben sein. Ein Leitmotiv ist dabei die geographische Verbreitung des Wissens und Könnens über den gesamten Erdball, wodurch die menschliche Vernunft nicht nur verzeitlicht, sondern auch verräumlicht wird. Servans origineller Beitrag zur Geschichtsphilosophie besteht darin, dass er nach den Voraussetzungen von Geschichte überhaupt fragt. Dabei unterscheidet er zwischen der Geschichte als realem Prozess und der Geschichtsschreibung. Auf beiden Ebenen legt er die Schrift und insbesondere den Buchdruck als Medium des historischen Bewusstseins zu Grunde. Auf der sachlichen Ebene setzt die Geschichte die Tradierung des Wissens und Könnens der einzelnen Epochen voraus, wozu seit der Neuzeit gedruckte Bücher maßgeblich beigetragen und den Fortschritt beschleunigt haben. Auf der Ebene der Geschichtsschreibung stützt sich der Historiker auf Quellen, die in der Mehrzahl aus schriftlichen Dokumenten bestehen. Servan spricht damit die Medialität von Geschichte an und erreicht damit ansatzweise ein reflexives Niveau, das später als Geschichtlichkeit bezeichnet wird.
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Zukunftserwartung und Prognostik (Condorcet) Condorcet gilt neben Turgot, mit dem er befreundet war und über den er eine Biographie verfasste,44 als prononcierter Vertreter des Fortschrittsglaubens. Diesen Ruf erwarb er sich vor allem durch seine »optimistischen« Erwartungen an die Zukunft. Näher betrachtet zeigt sich jedoch, dass er in seinen Analysen sehr viel vorsichtiger und kritischer vorgeht, als die plakativen Äußerungen vermuten lassen. Vor allem aber unterscheidet sich Condorcet von seinem Vorbild Turgot darin, dass er - wie schon Servan - keinerlei Teleologie bemüht. Stattdessen geht er den anderen Weg der rationalen Prognostik, aus der er seine Hoffnung auf zukünftige Verbesserungen der Lebensumstände schöpft. Im Entwurf einer historischen Darstellung der Fortschritte des menschlichen Geistes (1795)45 betrachtet Condorcet die »Universalgeschichte« der Völker als ein Kontinuum, innerhalb dessen die historischen Epochen vom Beginn bis ins gegenwärtige Jahrhundert eine »ununterbrochene Kette« bilden (35). Er zieht eine Parallele zwischen der Entwicklung eines Individuums und der Geschichte des »Menschengeschlechts«, dessen Fortschritte über die individuelle Vervollkommnung hinausgehen. Die »historische Darstellung« stützt sich nicht allein auf gesicherte »Tatsachen«, sondern auch auf allgemeine und gleich bleibende »Gesetze«. Auf dieser Basis soll es möglich sein, auch die künftigen Fortschritte vorauszusehen, zu lenken und zu beschleunigen (30 f., 38). Die vergangene Geschichte wird in neun »Epochen« eingeteilt; die zehnte liegt bereits in der Zukunft. Über die Anfänge der Menschheit, so Condorcet, lassen sich nur Vermutungen anstellen, indem man die intellektuellen, moralischen und physischen Fähigkeiten der Menschen erforscht. Die Menschen der ersten Epoche waren Sammler, Jäger und Fischer; sie wurden von elementaren Bedürfnissen getrieben, stellten primitive Werkzeuge her, besaßen eine artikulierte Sprache und lebten in Familien. Es entstand 44 Marie-Jean-Antoine-Nicolas Caritat Marquis de Condorcet, Vie de M. Turgot, Londres [richtig: Paris] 1786. 45 Condorcet, Entwurf einer historischen Darstellung der Fortschritte des menschlichen Geistes, hg. von Wilhelm Alff, Frankfurt a. M. 1976; Seitenzahlen im Text. - Vgl. Jean-Paul Frick, Condorcet et le problème de l'histoire, in: Dix-huitième siècle 18 (1986), 337-356.
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bereits eine Klasse von Priestern, die sowohl Wissen bewahrten als auch Irrtümer verbreiteten (40-44). Die zweite Epoche wurde von Hirtenvölkern bestimmt, die zur Stufe des Ackerbaus übergingen. Das sesshafte Leben gewährte Muße, die sich auf die Entwicklung des menschlichen Geistes günstig auswirkte. Allerdings entsprach diesen geistigen Fortschritten keine gesellschaftliche Besserung im Blick auf das Glück und die Tugend der Menschen (45 f., 49 f.). Aus Reichtum und sozialer Ungleichheit gingen Sklaverei, Unterdrückung der Frauen und Aberglauben hervor. In der dritten Epoche machten die Ackerbauvölker weitere technische und wissenschaftliche Fortschritte bis zur Erfindung der Schrift (51-53, 65 f.). Die Erfindung der Schrift leitet diejenige Epoche ein, mit der von Geschichte überhaupt gesprochen werden kann. Schon bei Turgot hieß es: »Die geschichtlichen Zeiten können nicht weiter zurückliegen als die Erfindung der Schrift.« 46 Wie Servan bemisst auch Condorcet die Reichweite der Geschichtsschreibung nach der Tradierung schriftlicher Zeugnisse, durch welche die Darstellung der Fortschritte des menschlichen Geistes »wahrhaft historisch geworden« sei (36). Demnach sind vergangene Ereignisse erst dann im strengen Sinne geschichtlich, wenn sie zum Bestandteil einer schriftlich vermittelten Überlieferung werden. Mit der Agrikultur verbindet Condorcet die Entstehung gesellschaftlicher Klassen und den politischen Despotismus. Obwohl er üblicherweise als Inbegriff eines naiven Optimismus gilt, weicht er vom traditionellen Schema der Aufklärung ab. Denn auf die erste Fortschrittsgeschichte lässt Condorcet eine zweite Geschichte des Verfalls folgen. Nach anfänglichen technischen Errungenschaften, die den Hirtenvölkern eine gewisse »Muße« verschafften, verbesserten sich auch die sozialen Verhaltensweisen der Menschen: »Die Sitten mußten milder werden; die Sklaverei der Frauen war weniger hart; die Frauen der Reichen brauchten nicht länger mühselige Arbeiten zu verrichten.« (46) Das gilt auch fur das erste Stadium des Ackerbaus. Aber wenn ein gewisser Überfluss erwirtschaftet ist und eine Klasse von Kriegern heranwächst, schlägt der bisherige soziale Fortschritt in Barbarei um (58). Demzufolge gibt es nicht nur - wie bei Turgot - Ungleichzeitigkeiten zwischen verschiedenen Kulturen, sondern auch innerhalb einzelner Kulturen. 46 Turgot, Über die Fortschritte des menschlichen Geistes, 170, vgl. 144.
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Auch im weiteren Verlauf seines Entwurfs geht Condorcet eigene Wege. Im Unterschied zu Turgot lässt Condorcet nach der vierten und fünften Epoche, während denen in Griechenland bis zum Ende des römischen Reiches Wissenschaft, Philosophie und Kunst einen ersten Aufstieg erlebten, in der sechsten Epoche einen »Niedergang der Aufklärung« folgen mit Unwissenheit, abergläubischem Betrug und religiöser Unduldsamkeit (102). Erst in den italienischen Stadtstaaten (siebente Epoche) wurden die Wissenschaften und Künste wiederentdeckt, obwohl die moralischen und politischen Sitten noch verderbt blieben. Originell ist wie schon bei Servan die Hervorhebung des Buchdrucks, dessen Erfindung für eine so einschneidende Zäsur gehalten wird, dass er die Epochen sieben und acht markiert (113-145). In der Gegenwart (neunte Epoche) vervollständigt sich die Aufklärung durch neue wissenschaftliche Disziplinen und universalisierbare Methoden. Dieser Entwurf enthält das gesamte begriffliche Inventar der aufklärerischen Geschichtsphilosophie. Während Turgot und viele andere Autoren den Begriff des Fortschritts noch im Plural verwendeten, wird bei Condorcet - wie schon bei Servan - der Kollektivsingular Fortschritt geläufig (31). Diesem Sprachgebrauch entspricht der erklärte Versuch, die Einzelfortschritte der Individuen in der Gesamtheit darzustellen: sowohl in der Zeitenfolge der Generationen als auch in der Gleichzeitigkeit räumlich ausgedehnter Gesellschaften. Zwar sind die Individuen mit ihren Entdeckungen und Erfindungen am Fortschritt beteiligt, aber das Subjekt der Universalgeschichte ist die »menschliche Gattung« oder das »Menschengeschlecht«. Das Ziel sieht Condorcet in der »Vollkommenheit«, der eine in der menschlichen Natur angelegte Fähigkeit zur »Vervollkommnung«, die Tätigkeit des »Sich-Vervollkommnens« und der Prozess der Vervollkommnung entsprechen (31, 193f., 219).47 Da dieser Prozess selbst als grenzenlos gilt, wird die Zielbestimmung der Perfektion zu einer Bewegungskategorie verzeitlicht und in den Vollzug hereingeholt. Auf diese Weise stellt sich die Geschichte als eine universelle, kontinuierliche, beschleunigte, gerichtete und grenzenlose Entwicklung dar. Beabsichtigt ist eine »hypothetische Geschichte«, die sich auf die überlieferte »Abfolge der Tatsachen« stützt und zugleich aus den Geschichten der verschiedenen Völker die 47 Koselleck, Fortschritt, a.a.O. (Anm. 2), 379.
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Geschichte der Menschheit als »Geschichte eines einzigen Volkes« herzuleiten sucht (35 f.). Das tiefer liegende Problem der Fortschrittsidee besteht jedoch in der Diskrepanz zwischen Wissen und Lebensglück. Nachdem Rousseau die sozialen Kehrseiten des wissenschaftlich-technischen Fortschritts offenbarte, stellt sich auch Condorcet dieser moralphilosophischen Herausforderung. In den ersten Epochen untersucht er, »warum der geistige Fortschritt nicht immer mit dem gesellschaftlichen, dem zu Glück und Tugend, zusammenging« (50). Einen der Gründe sieht er im erwirtschafteten Überfluss, der eine Klasse von Kriegern heranwachsen lässt und so zu Eroberung, Despotismus und Aberglaube fuhrt. Am Ende der neunten Epoche gelangt Condorcet zu dem Resümee, zwar habe der »menschliche Geist« Fortschritte gemacht, aber für das »Glück« der Menschen sei beinahe nichts erreicht (189). Im Grunde handelt es sich um zwei Geschichten: um eine Erfolgsgeschichte menschlicher Vernunft und um eine Geschichte missglückter Mitmenschlichkeit. Dieser Zwiespalt setzt sich in der Darstellung der zehnten Epoche fort, die »den künftigen Fortschritten des menschlichen Geistes« gewidmet ist (193-222). Einerseits formuliert Condorcet darin lediglich seine »Hoffnungen der Fortschritte, die den künftigen Generationen vorbehalten sind«. Andererseits glaubt er reale Anhaltspunkte dafür zu erkennen, dass dasjenige, »was uns heute als unbegründete Hoffnung scheinen mag, nach und nach möglich, ja selbst leicht werden muß« (36). Die materiale Basis für eine derart begründete Hoffnung sieht er vor allem in den wissenschaftlichen und technischen Hilfsmitteln, die eine Vermehrung des Wissens und Reichtums ermöglichen (205, 207). Die methodische Voraussetzung seiner Prognose glaubt Condorcet, der selbst Mathematiker war, mit der Theorie der »Wahrscheinlichkeit« entwickelt zu haben.48 Zwar trennt er noch nicht zwischen beschreiben-
48 Condorcet, Tableau général de la science qui a pour objet l'application du calcul aux sciences politiques et morales, in: Œuvres de Condorcet,
publiées par A. Condorcet O'Connor et M. F. Arago, 12 vol., Paris 1847-1849. Nouv. impr. en facs, Stuttgart-Bad Cannstatt 1968, Bd. I, 539-573; vgl. Keith Michael Baker, Condorcet: From Natural Philosophy to Social Mathematics, Chicago 1975; Matthias Arning, Die Idee des Fortschritts. Der sozialphilosophische Entwurf des Marquis de Condorcet als
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der Vorhersage und wertender Hoffnung, aber indem sich seine Zukunftserwartungen auf Berechnungen stützen, gehört er zu den Begründern der rationalen Prognostik. Indem er dabei »keine höhere Gewissheit« (216) anerkennt, bietet er zur Teleologie eine Alternative. Sie besteht in einer »sozialen Mathematik«, mit deren Hilfe das mathematische Kalkül auf die »politischen Wissenschaften« angewendet werden kann, um zum Beispiel Geburts- und Sterberaten zu berechnen. So wird versucht, aus beobachtbaren »Tatsachen« möglichst »allgemeine Gesetze« abzuleiten, die es erlauben, »anhand der Erfahrung der Vergangenheit die Ereignisse der Zukunft mit großer Wahrscheinlichkeit vorherzusagen« (193). Eine Kostprobe gibt Condorcet mit seiner Prognose zur Bevölkerung, deren Vermehrung er durch die zur Verfugung stehenden Lebensmittel fur begrenzt hält; diese Grenze veranlasst ihn sogar zu einer pessimistischen Aussicht auf eine »dauernde Ursache periodisch sich einstellenden Elends« (208). Wesentlich zuversichtlicher betrachtet er hingegen die Möglichkeiten für eine allgemeine Versicherung und für ein Kreditwesen, das den Unternehmern das nötige Startkapital verschafft (201). Geradezu optimistisch und aus heutiger Sicht wohl auch naiv beurteilt er die Auswirkungen des Binnenmarktes auf die Verteilung des ökonomischen Wohlstands sowie den positiven Einfluss des freien Außenhandels auf den Weltfrieden (196,214). Im Grunde drückt Condorcet damit Hoffnungen aus, in denen er die ethischen Maßstäbe sowohl seiner Geschichtsschreibung als auch seiner Zukunftserwartung offen legt. Sie richten sich auf den Ausgleich zwischen den Nationen, auf mehr soziale Gleichheit innerhalb eines Volkes und auf die Steigerung kognitiver und moralischer Fähigkeiten der Menschen (193). Nach außen setzt er sich für die Abschaffung der Sklaverei und für die Verminderung von Kriegen ein.49 Im Innern fordert er, dass sich der gesellschaftliche Reichtum auf alle Bevölkerungsschichten gerechter verteilt, damit sich die Ungleichheit verringert und die Volksbildung weiter ausbreitet (199). Dazu konzi-
alternative Synthesis- Vorstellung zum Konzept der politischen Tugend, Frankfurt a. M. 1998. 49 Condorcet, Réflexions sur l'esclavage des nègres, in: Œuvres, a.a.O. (Anm. 48), Bd. VII, 61-140.
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piert Condorcet ein eigenes Erziehungsprogramm,50 wodurch die Prognose in politische Aktion mündet. In der Geschichtsphilosophie kommen die im ersten Kapitel diagnostizierten Typen Neuzeit, Moderne und Postmoderne besonders deutlich zum Vorschein. Der erste Typ, der die Tradition der Neuzeit fortschreibt, drückte sich in der normativen Dimension der Fortschrittsidee aus. Zu den erklärten Zielen der Geschichte gehörten zunächst die Befriedigung elementarer und kultivierter Bedürfnisse, die Vermehrung des allgemeinen Wohlstandes und vor allem die gerechte Verteilung der produzierten und gehandelten Güter. Ein weiteres Anliegen bestand darin, den ökonomischen Zuwachs in eine Verbesserung der moralischen und politischen Verhältnisse zu überfuhren. Gerade die Kritiker dieses Konzepts wie Rousseau und Diderot reklamierten die durch Kommerzialisierung und Kolonialisierung verloren gegangenen Werte wie Autonomie und Humanität. Während seit dem beginnenden 19. Jahrhundert Autoren wie Saint-Simon und Comte die moralisch-utopischen Aspekte zunehmend aus den Augen verloren und durch technokratische Lösungsvorschläge verdrängten, möchte ich die Erinnerung an die Geschichtsphilosophie der Aufklärung wach halten, um deren ethische Ansprüche zu bewahren. Der zweite Typ einer spezifisch modernen Aufklärung, in der die Eigendynamik sozialer und kultureller Systeme entdeckt und anerkannt wurde, zeigte sich in der grundlegenden Einsicht, dass sich Geschichte im Ganzen nicht planen lässt. Dabei ging es nicht um Kontingenz überhaupt, deren Feststellung ja trivial wäre, sondern um eine genau bestimmbare Erfahrung, die Kant so treffend »ungesellige Geselligkeit« genannt hat. Wie sich der Zusammenhang der bürgerlichen Gesellschaft nur - nach einer Formulierung von Marx - als »planloser Plan« herstellt, setzen sich historische Prozesse »blind« und »hinter dem Rücken« der Individuen durch. Die Wirtschaftstheoretiker und Geschichtsphilosophen des 18. Jahrhunderts hatten eine Ahnung davon, dass die Handlungskompetenz der Individuen von einer »Kompetenz der Systeme« ergänzt zu werden begann. Für die Politik folgte 50 Condorcet, Sur l'instruction publique, in: ebd., 167-448.
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aus dieser Erkenntnis, dass die Rückkehr zu staatlicher Steuerung weder möglich noch wünschenswert erschien und dass indirekte Formen politischer Einflussnahme zu erkunden waren. Diese Problematik soll im Zusammenhang der Teleologie noch eingehender erörtert werden. Der dritte Typ innerhalb der Aufklärung, die bereits einen Sinn für das Differenzielle und Marginale entwickelte, findet sich zuerst in der vergleichenden Kulturgeschichte und dann in der Kritik der Kolonialisierung. So unterstellte Lafitau nicht mehr den »guten Wilden«, sondern beschrieb die Lebensgewohnheiten unterschiedlicher Indianerstämme. Ebenso wurden die damals bekannten Weltkulturen so miteinander verglichen, dass sich vor allem die Besonderheiten voneinander abhoben. Schließlich lassen sich in der französischen Geschichtsphilosophie Ansätze des Posthistoire aufspüren. Diderot und Raynal sahen einen solchen Zustand in Europa erreicht, in dem nach Phasen von Auf- und Umbrüchen bloß noch »düstere Ruhe« herrschte, so dass sich die Weltgeschichte in Richtung Amerika fortbewegte. Auch Volneys anfangliche Melancholie galt der europäischen Kultur, die wie vergangene Hochburgen als Ruinen zu verfallen drohte. Damit verflüchtete sich die zentrale Stellung Europas als Anfang und Endzweck aller Fortschritte. Parallel dazu hatte Fréret das Selbstverständnis der Chinesen angezweifelt, als einziges Volk der Erde über Geschichte zu verfugen. Aus diesen wechselseitigen Reflexionen resultierte eine Dezentrierung der Kulturen in der Geschichte. Derartige interkulturelle Diskurse werden uns im Kontext der Globalisierung des sechsten Kapitels noch systematisch beschäftigen. Im siebten Kapitel dieses Buches knüpfe ich an die von Condorcet begründete Prognostik an. Eine derartige Zukunftsperspektive unterscheidet sich von der Utopie durch die empirisch gestützte Vorhersage und damit durch die Anbindung an die vorausgegangene Entwicklung. Indem die Zukunft als eine »Epoche« innerhalb einer »historischen Darstellung« figuriert, wird sie in die Geschichte im Ganzen integriert und gehört damit zu einem übergreifenden Verständnis von Geschichte. In Anlehnung an diese Interpretation werde ich die Frage stellen, mit welcher Berechtigung und in welchem Umfang man von einer zukünftigen Geschichte sprechen kann.
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Doch wie angekündigt, halte ich auch im Fall der Geschichtsteleologie eine rettende Kritik für gerechtfertigt. Mit dem Vorwurf teleologischer Deutungsmuster lässt sich die Geschichtsphilosophie der Aufklärung nicht abfertigen. Denn zum einen erschöpft sich dieser Typus nicht in der Teleologie, wollte doch auch Turgot in erster Linie Ursachenforschung betreiben. Zum anderen stecken in der Teleologie Implikationen, die noch zutage gefördert werden müssen. Im folgenden dritten Kapitel werde ich eine solche Rekonstruktion versuchen. Dabei stellen sich Parallelen sowohl zur »Naturgeschichte« des 18. Jahrhunderts als auch zur modernen Evolutionstheorie heraus, die jeweils im vierten und fünften Kapitel zur Sprache kommen.
Zweiter Teil Teleologie und Evolutionstheorie
3. Rettende Kritik der Geschichtsteleologie
Die Teleologie der Geschichte markiert ein Kernproblem der neuzeitlichklassischen Geschichtsphilosophie. Denn die Idee des Fortschritts setzt stillschweigend voraus, dass aus den Handlungszwecken der Individuen ein einheitliches Ziel der Geschichte hervorgeht. Doch mit dem Vorwurf eines versteckten telos ist die Geschichtsphilosophie nicht erledigt. In diesem Kapitel versuche ich eine kritische Rechtfertigung der Geschichtsteleologie, wozu ich ein defensives und ein offensives Argument verwende. Das defensive Argument besteht im Hinweis auf den historiographischen Befund, dass teleologische Positionen in den Geschichtsphilosophien des 18. Jahrhunderts relativ selten sind. Das offensive Argument besteht in einer systematischen Rekonstruktion der Teleologie, um die darin enthaltenen Probleme und Lösungsversuche freizulegen. Für die erste Argumentation verweise ich auf meine vorausgegangene Darstellung, in der sich zeigte, dass die Teleologie der Geschichte eher die Ausnahme bildete. Der einzige Autor, der die »Vorsehung« in Anspruch nahm, war Ende des 17. Jahrhunderts Bossuet, der damit eine theologische Position vertrat. Diese tauchte zwar bei Goguet noch einmal auf, wirkte dort aber bereits antiquiert und hatte keine theoretische Funktion mehr. Ausdrücklich gegen Bossuet wandten sich Fréret und Voltaire, ohne jedoch eine säkulare Geschichtsteleologie an die Stelle zu setzen. Kritik an einer theologischen und zugleich teleologischen Zielbestimmung der Geschichte übte Rousseau, weil er die Idee des Fortschritts radikal in Zweifel zog; man könnte hier allenfalls von einer negativen Teleologie sprechen. Diderot und Raynal verhielten sich in dieser Hinsicht ambivalent, indem sie in ihre Kolonialgeschichte auch rousseauistische Elemente einfugten. Volney distanzierte sich zunächst vom linearen Geschichtsbild und rehabilitierte den Zyklus der Lebensaltermetapher. Obwohl sich bei Condorcet, der die Fortschrittsidee am stärksten vertrat, eine Geschichtsteleologie vermu-
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TELEOLOGIE UND EVOLUTIONSTHEORIE
ten ließe, begründete er seine Zukunftserwartungen gerade nicht auf teleologische Weise, sondern mit Hilfe der rationalen Prognostik. Nach diesem Resümee bleibt allein Turgot übrig, der tatsächlich der erste und wohl auch einzige Protagonist der säkularen Geschichtsteleologie in Frankreich war. In Deutschland spielte dieser Denktypus eine größere Rolle: zunächst bei Kant, auch wenn er ein skeptischer Anhänger der Fortschrittsidee war und die Idee der »Naturabsicht« erkenntnistheoretisch relativierte, vor allem als Hegels »List der Vernunft«. 1 Hegel hat die Teleologie der Geschichte wohl am weitesten getrieben und damit die meiste und schärfste Kritik auf sich gezogen. Darin kann man auch die historischen Gründe für die verbreitete Identifizierung von Geschichtsphilosophie und Teleologie erkennen. Daher war es mir wichtig, dieser üblichen Fixierung auf Hegel die Darstellung der Aufklärung entgegenzusetzen. Sie demonstriert, dass es sehr unterschiedliche Spielarten geschichtsphilosophischen Denkens gab. Meine offensive Argumentation besteht in einer kritischen Rekonstruktion der Teleologie in systematischer Perspektive. Selbst dort, wo diese Denkfigur explizit vertreten wird, handelt es sich um reflektierte Positionen, die sich genauer zu analysieren lohnen. Keineswegs wird die Theologie durch einen naiven Glauben an eine angeblich höhere Macht ersetzt, von der die Geschichte gelenkt würde. Weder die Vertreter der französischen Aufklärung noch die des deutschen Idealismus postulieren ein »reales« Subjekt, das den historischen Prozess irgendwie bestimmen oder auch nur beeinflussen könnte. Demgegenüber ist die Geschichtsteleologie von Anfang an eine hypothetische Konstruktion. Die Menschen stellen sich die Geschichte so vor, als ob sie auf ein Ziel hin ausgerichtet wäre. Formulierungen wie »Genie«, »Naturabsicht«, »Vernunft«, ja selbst »Vorsehung« sind nur Metaphern, die lediglich eine heuristische Funktion erfüllen.
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Immanuel Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, in: Werke in 12 Bänden, hg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt a. M. 1965, Bd. XI, 34; Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, in: ders., Werke in zwanzig Bänden, hg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Bd. 12, Frankfurt a. M. 1979,25,49.
RETTENDE KRITIK DER GESCHICHTSTELEOLOGIE
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Es besteht zudem kein Zweifel darüber, dass sich die Aufklärer über diesen methodischen Status im Klaren sind. Bereits Hobbes konstruiert den Staat so, als ob seine Mitglieder in einen allgemeinen Vertrag eingewilligt hätten. Und sofern die Geschichtsphilosophen an diese Tradition anknüpfen, weil auch sie die sozialen Institutionen von den Menschen für »gemacht« halten, übernehmen sie den hypothetischen Charakter ihrer zentralen Aussagen. In diesem Sinn sieht auch Turgot seine Aufgabe nicht mehr darin, einen verborgenen Heilsplan zu ermitteln. Erst Kant expliziert jedoch diese Als-ob-Konstruktion, indem er sie als »regulative Idee« bezeichnet. Selbst Hegels Rede von Zweck und Mittel in der Geschichte ergibt nur unter dieser Voraussetzung einen Sinn. Vom Standpunkt eines Resultats, das sich am Ende einer historischen Entwicklung offenbart, hat es den Anschein, als ob die Handlungen der Menschen wie Mittel zur Realisierung eines höheren Zwecks fungierten. Diese Vorstellung wird von ihm besonders drastisch formuliert, indem er die Individuen und Völker als »Werkzeuge des Weltgeistes« instrumentalisiert.2 Doch auch er formuliert nichts anderes als eine Hypothese, die er durch die historische Darstellung überprüft. Wie Kant gewinnt Hegel aus der entwickelten Philosophie die Vernunftidee, welche das Kriterium zur Beschreibung und Beurteilung der Geschichte bildet. Anders als Kant postuliert er die Vernunft nicht »a priori«, er versucht vielmehr eine rationale Rekonstruktion der Geschichte, die er als Verwirklichung der Vernunft begreift. Während Kant letztlich an die Moral appelliert, will Hegel zeigen, in welchem Umfang die Vernunft in der bisherigen Geschichte verwirklicht worden ist. In diesem Kontext stellt sich die Aufgabe, die Bedeutung einer solchen Metaphorik zu explizieren. Um zu zeigen, dass sich hinter den zitierten Ausdrücken vielfältige und komplexe Probleme verbergen, verfahre ich in zwei Schritten, in denen ich von formalen zu materialen Aspekten übergehe. Im ersten Schritt untersuche ich die methodische Seite und betrachte die Teleologie als Erzählung. Dabei geht es
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Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, 40, 49; vgl. zum Folgenden Pirmin Stekeler-Weithofer, Vorsehung und Entwicklung in Hegels Geschichtsphilosophie, in: Rüdiger Bubner und Walter Mesch (Hgg.), Die Weltgeschichte - das Weltgericht?, Stuttgart 2001, 141-168.
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nicht nur um die narrative Funktion, sondern insbesondere um das Verhältnis von Erzählung und Erklärung. Im zweiten Schritt behandle ich die inhaltliche Seite, zu der die Themen historische Kontingenz und das Unbewusste im Geschichtsdenken gehören. Ferner analysiere ich die normative Dimension der Teleologie und die darin implizite politische Utopie. Die Frage, ob dabei eine säkularisierte Heilsgeschichte im Spiel ist, versuche ich in der Weise zu beantworten, dass ich die Herkunft des teleologischen Modells erörtere. Dazu führe ich vor allem profane Gründe in der Sozialphilosophie dieser Epoche wie auch Analogien zur zeitgenössischen Naturtheorie an.
Narrative Synthesis Betrachtet man die geschichtsphilosophische Darstellung als Erzählung, erfüllt die Teleologie eine narrative Funktion. Die Metaphern »Genie« oder »Naturabsicht« bis zur »List der Vernunft« repräsentieren die Erzählperspektive eines fiktiven Subjekts. Sie bezeichnen den gegenwärtigen Standpunkt, von dem aus die vergangene Geschichte retrospektiv dargestellt wird. Die Gegenwart bildet das vorläufige Ende, aus dessen Sicht die historischen Ereignisse geordnet und interpretiert werden.3 Erst im Rückblick erhalten sie ihre historische Bedeutung. Wenn Geschichte nun einmal nicht anders geschrieben werden kann, dann verfahrt die Historiographie in diesem schwachen Sinn immer >teleologischeigentliche< Geschichte, mit der die zukünftige Geschichte nicht gleichzuset31 Hölscher, Die Entdeckung der Zukunft, a.a.O. (Anm. 1), 18,20.
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zen ist. Doch in erweiterter Bedeutung scheint es mir angemessen zu sein, auch den zukünftigen Zeitraum als Geschichte zu bezeichnen. Im Unterschied zur Geschichtsschreibung und Geschichtstheorie der Historiker, die sich ausschließlich der Vergangenheit widmen, hat die Geschichtsphilosophie auch die Zukunft in der ausgeführten historischen Bedeutung zum Thema. In der Reflexion auf den übergreifenden Zusammenhang von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bzw. auf die Relation von Erfahrungsraum und Erwartungshorizont in praktischer Perspektive hat sie ihre besondere Aufgabe.
Zukünftige Vergangenheit Betrachtet man die Zukunft als Geschichte, ist in analoger Weise eine differenzierte Zeitstruktur zu erwarten. Wenn man nämlich die vorhandenen Strukturanalysen der Geschichtstheorie auf den zukünftigen Zeitraum projiziert, lassen sich wie in der Historiographie der Vergangenheit kurze, mittlere und lange Zeiten unterscheiden.32 »Kurze« Zeiten von wenigen Jahren liegen meist bei ökonomischen Prognosen vor, vor allem dann, wenn sie sich auf konjunkturelle Schwankungen und Finanzplanungen beziehen. Von »mittleren« Zeiten kann gesprochen werden bei Vorhersagen über das Bevölkerungswachstum, das in der Regel für ein bis zwei Generationen, also für etwa fünfzig Jahre berechnet wird. Bei ökologischen Themen, die mit Naturprozessen verbunden sind, kommen überwiegend »lange« Zeiten ins Spiel. Zum Beispiel wird vorausgesagt, dass die Reserven von Erdöl und Gas in etwa fünfzig bis hundert Jahren aufgebraucht sein werden, wenn der Konsum durch Verkehr, Heizung und Industrie nicht spürbar sinkt. Nimmt man zusätzliche Ressourcen hinzu, d.h. Quellen, die heute aus Kostengründen noch nicht wirtschaftlich genutzt werden, ergibt sich eine Reserve von 150 bis 200 Jahren. Beim vorherrschenden Thema Klima sind die Prognosen zeitlich gestaffelt: So wird errechnet, dass die Emission von Kohlendioxid
32 Fernand Braudel, Schriften zur Geschichte, Bd. 1., Gesellschaften und Zeitstrukturen, übers, von Gerda Kurz und Siglinde Summerer, Stuttgart 1992, 49 ff.
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(C0 2 ), die gegenwärtig 8 PgC pro Jahr beträgt, im Jahr 2020 auf 12, 2040 auf 16, 2060 auf 19, 2080 auf 23 und 2100 auf 29 PgC pro Jahr steigen könnte. Außerdem werden von einem in der Zukunft fixierten Zeitpunkt aus bestimmte Ereignisse an verschiedenen Orten prognostiziert: Es wird angenommen, dass am Ende des 21. Jahrhunderts die mittlere Temperatur auf der ganzen Erde um 2,5 bis 4 Grad Celsius steigen wird, was 80-90 % weniger Schnee in Europa, 30-50 % weniger Schnee in den Hochalpen und Norwegen sowie einen 20-30 cm höheren Meeresspiegel der Ozeane zur Folge hat.33 Extrem »lange« Zeiten entstehen durch die Abfälle aus Atomkraftwerken bei der so genannten Endlagerung, die sich auch mit bestimmten Orten verbinden. Auf diese Weise stellen sich differenzierte Zeiten und Räume der Zukunft heraus. In den darauf reagierenden Zukunftsethiken bzw. Ethiken der Langzeitverantwortung, die uns im achten Kapitel beschäftigen werden, gibt es ebenfalls den Unterschied zwischen einer »kurzen« und »langen« Zeit, die durch die Generationenfolge bestimmt wird. Während die Zeitspanne der »nahen« Generationen das Zusammenleben von Eltern, Kindern und Kindeskindern bzw. Großeltern und Enkeln meint, verliert sich die »ferne« Zukunft ins Ungewisse mit einer immer vager werdenden Verantwortung. Für manche Ethiker ist diese Zäsur so wesentlich, dass sie nur die Nahverantwortung fur realistisch halten.34 Geht man dabei von jungen Erwachsenen aus, ergibt sich die Zeitspanne eines Menschenlebens, für die sie zur Lebensqualität ihrer Kinder noch selbst beitragen können. Noch innerhalb der Zeit von zwei Generationen können die Eltern persönlich für ihre Verdienste und Versäumnisse zur Verantwortung gezogen werden. Allerdings lauten die Prognosen so, dass gerade nach diesem Zeitraum der familiären Fürsorge die »Katastrophen« zu erwarten sind, ein Umstand, der die Verantwortung für zukünftige Generationen zu einem neuartigen und besonders schwierigen Problem macht.
33 Max-Planck-Institut für Klimaforschung, Klimaprojektionen fiir das 21. Jahrhundert, Hamburg 2006. 34 Siehe Anm. 14 des achten Kapitels.
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Wurde der historische Zeitraum seit der Geschichtsphilosophie der Aufklärung »entfristet«,35 so schleichen sich mit den genannten Daten neue Fristen in die zukünftige Geschichte ein. Es werden bestimmte Zeitpunkte fixiert, von denen aus die bis dahin verbleibende Zeit wie eine Frist erscheint, die man nicht verstreichen lassen sollte. Im Anschluss an McTaggart und Koselleck bezeichne ich diesen Zeitraum als zukünftige Vergangenheit, die sich grammatikalisch als zweites Futur beschreiben lässt. Damit möchte ich verdeutlichen, dass in der strukturierten Zukunft retrospektive Betrachtungsweisen entstehen, die sowohl praktische als auch narrative Aspekte haben. Im Hinblick auf Handlungen enthalten diese Fristen Konditionen folgender Art: Wenn wir nicht spätestens bis zum Jahr 2040 gehandelt haben werden, wird diese Klimakatastrophe eingetreten sein; oder: Nachdem die Klimakatastrophe Tatsache geworden sein wird, werden uns zukünftige Generationen dafür verantwortlich machen bzw. wir werden uns für das Versäumnis gegenüber den später Lebenden verantworten müssen. Ein Subjekt soll sich in der Zukunft rückblickend verantworten für Leistungen und Fehler, die bis zu einer bestimmten Frist entstanden sind. Die zukünftige Verantwortung wird also aus der retrospektiven Verantwortung abgeleitet. Die sowohl problematischen als auch konstruktiven Seiten dieser Perspektive sollen im Zusammenhang der Zukunftsethik noch näher erörtert werden. Hinsichtlich der Erzählungen, zu denen ja auch Prognosen gehören, kommt die im dritten Kapitel erläuterte narrative Funktion der Teleologie noch einmal zum Zuge. Wie Historiker ihre Darstellung nicht selten teleologisch organisieren, indem sie die Gegenwart als Fluchtpunkt der Erzählung wählen, tritt dieselbe teleologische Struktur auch in Zukunftserzählungen auf. Die antizipierte Frist fungiert wie ein Endpunkt, von dem aus die Katastrophengeschichte rückwärts erzählt wird. Indem alle Faktoren auf dieses Ereignis hin aufgereiht werden, kommen auch funktionale Erklärungen ins Spiel. Wie Schiller davon sprach, dass bestimmte Voraussetzungen erfüllt sein »mussten«, um die moderne Zivilisation zu erreichen, so wird auch die zukünftige Katastrophe so erklärt, dass der katastrophale Zustand mit Notwendigkeit eingetreten sein wird, wenn keine Maßnahmen ergrif35 Siehe Anm. 1 des zweiten Kapitels.
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fen worden sein werden. Auf diese Weise erscheint auch die Geschichte der Zukunft als linear, kontinuierlich und irreversibel.36 Darüber hinaus gibt es auch philosophische Erzählungen, die mit der Zeitstruktur der Frist operieren. Notorisch spielt dabei meist ein einziges katastrophales Ereignis die entscheidende Rolle. Ich erinnere an Marx' vorgezogene Grabrede auf den Kapitalisten, die aus der Perspektive eines bereits zusammengebrochenen Kapitalismus gehalten wurde. In offenbarer Anspielung darauf verband Anders mit dem Begriff der Frist den Tod der ganzen Menschheit, die sich durch einen Atomkrieg selbst vernichtet hätte. Während die menschliche Gattung früher als endlos oder zeitlos angenommen wurde, da nur einzelne Menschen starben, war jetzt zu befürchten, dass die »Gattung selbst sterblich« werden würde, und zwar nicht im alten Sinne eines SterbenMüssens, sondern durch ein selbst verursachtes Sterben-Können.37 Angesichts dieser globalen Bedrohung versetzt sich Anders in die Zeit nach der Katastrophe, in der keine Zeit mehr sein wird: Es wird einmal eine Geschichte gewesen sein. Die Ironie bestand in einer vorgezogenen Totenrede: Darum gedenken wir schon heute der künftigen Vergangenheit, in der auch das vorkommt, was, von heute aus gesehen, noch Zukunft sein mag. Mit Blick auf die ökologische Katastrophe modifiziert Sloterdijk die Geste des Nachrufs als vorweg gehaltenen Nekrolog auf die Menschheit.38 Für ihn ist schon die Prognostik die radikalste Form der Totenrede, worin er die tiefere Bedeutung der Postmoderne sieht: als das »Nach« der Nachmoderne oder das Nach der Selbstnachrede. Da jedoch die Katastrophe auf sich warten lasse, entstehe eine Zwischenzeit, die Sloterdijk wie schon Anders als Frist bezeichnet. Weil die Frist kein präziser Termin ist, richten sich die Menschen in der gedehnten Frist so ein, als wären sie sicher. Auf diese Weise bildet die Frist den Spielraum fur Illusionen und Hoffnungen, die Teil der Katastrophe sind. Hatten Aufklärung und Moderne die Heilsgeschichte in 36 Rom Harre, Jens Brockmeier und Peter Mühlhäuser, Greenspeak. A Study of Environmental Discourse, London, New Delhi 1999, 69 ff., 119 ff. 37 Günther Anders, Die Atomare Bedrohung, durch ein Vorwort erweiterte Auflage von Endzeit und Zeitende, München 1986, 5. 38 Peter Sloterdijk, Eurotaoismus. Zur Kritik der politischen Kinetik, Frankfurt a. M. 1989,271 ff.; zum Folgenden 276.
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die profane Geschichte eines offenen Prozesses umgedeutet, so schlägt bei Sloterdijk die Weltgeschichte in ein neuerliches Endzeitdenken um, in dem die christliche Eschatologie wiederkehrt. Die Kategorie der Frist halte ich zwar für geeignet, die Zeitstruktur der Zukunft zu beschreiben, die eschatologische Konnotation aber für unangemessen, weil keinerlei Jüngstes Gericht und damit auch kein »Ende der Geschichte« zu erwarten sind. Angesichts eines atomaren Schlags konnte ein solches »Ende« noch plausibel erscheinen. Doch bei der ökologischen Krise ist eher ein langsames Sterben wahrscheinlich, in dem die Geschichte endlos weiter geht. Außerdem halte ich es für verfehlt, von der einen Katastrophe zu reden oder der Frist im Singular. Vielmehr gibt es, wie angedeutet, mehrere Fristen, die sich sowohl zeitlich als auch räumlich zuordnen lassen. Es gibt zahlreiche raum-zeitliche Grenzen oder tödliche Markierungen (deadlines im wahrsten Sinne des Wortes), die nicht überschritten werden dürfen; mithin Grenzen, über die im Zweiten Futur gesprochen werden kann: Was wird sein, nachdem bestimmte Fristen verstrichen sind? Im Übrigen kann Sloterdijks Geschichtsphilosophie auch als eine »große Erzählung« interpretiert werden. Zunächst wird wie selbstverständlich der Typ technischen Herstellens vorausgesetzt, der die natürliche Umwelt zerstört und langfristig den gesamten Globus erfasst. Sodann wird dieser negativ bewertete Handlungstyp in eine Geschichte transformiert, welche die typischen narrativen Merkmale besitzt. Die Erzählung beginnt mit dem »Ende«, nämlich der Katastrophe, von der aus gesehen alle Ereignisse ihre Bedeutung erhalten. Mit Hilfe der eschatologischen Fabel wird diese Geschichte auf einen Endpunkt zugespitzt, dadurch dramatisiert, vereinfacht und wohl auch übertrieben. Schließlich will diese Erzählung der praktischen Orientierung dienen; das Narrativ mündet in einen moralischen Appell an den Leser, der die bisherige Geschichte revidieren soll, indem er das ursprüngliche Handlungsmodell der Zweckrationalität zugunsten des ausdrücklich utopischen Handlungssinns des »Noch-Seins« überwindet. Im Ganzen liegt hier eine narrative Argumentation vor, in der geschichtsphilosophische und ethische Motive ineinander greifen. Die Erzählung im Zweiten Futur hat für den oben erörterten Begriff einer in die Zukunft projizierten Geschichte Konsequenzen. Wie
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wir sahen, wird die gegenwärtige Zukunft im Laufe der Zeit ständig in Gegenwart verwandelt. Doch die dazwischen verstrichene Zeit wird vom Standpunkt einer zukünftigen Gegenwart bereits als vergangene Geschichte erinnert. Sofern man sich diese Erinnerung an die Zukunft aus der heutigen Gegenwart vorstellt, betrachtet man die Zukunft bis zu diesem Zeitpunkt in der Form einer zukünftigen Vergangenheit als Geschichte. Die Frist ist also diejenige Kategorie, welche die zukünftige Vergangenheit und damit zukünftige Geschichte denkbar macht.
Alternative Erwartungshorizonte Um die Zukunft als mögliche Geschichte und zugleich als Spielraum von alternativen Handlungsmöglichkeiten zu begreifen, knüpfe ich wiederum an Kosellecks Vergangene Zukunft an, hier an die damit zusammenhängenden Kategorien »Erfahrungsraum« und »Erwartungshorizont«.39 Wenn die Zukunft der Spielraum des real Möglichen oder des Horizonts von Möglichkeiten ist, bezeichnet der Begriff Erwartungshorizont die subjektive Perspektive. Mit ihr ist der Erfahrungsraum insofern verbunden, als sich die Erwartungen aus Erfahrungen mit vergangenen Ereignissen orientieren. Dabei ergeben sich zwei verschiedene Sichtweisen. Auf der einen Seite verschränken sich Vergangenheit und Zukunft derart, dass die Erwartungen an zukünftige Entwicklungen die Betrachtung der Vergangenheit prägen, wie auch die Erfahrungen mit vergangenen Ereignissen die Erwartung an die Zukunft leiten. Folgt man dieser Konzeption, eröffnet sich die Möglichkeit eines integralen Begriffs von Geschichte, die sich nicht nur auf die Vergangenheit bezieht, sondern ausdrücklich Gegenwart und Zukunft mit einschließt. Auf der anderen Seite betreffen diese Kategorien unterschiedliche Seinsarten. Während die Erfahrung gegenwärtige Vergangenheit darstellt, bezieht sich die Erwartung auf vergegenwärtigte Zukunft, d.h. auf das noch nicht Erfahrene und nur Erschließbare. Diese Differenz enthält das Paradox, dass sich die Prognose zwar auf die bisher gemachten Erfahrungen stützen muss, aber aus dieser Erfahrung keines39 Koselleck, Vergangene Zukunft, a.a.O. (Anm. 1), 349 ff.
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wegs lückenlos ableitbar ist, weil die Zukunft immer auch Überraschungen bereithält. Schließlich stiftet die Überholung der Erwartung wiederum neue Erfahrungen. Historisch betrachtet setzt dieser Prozess der Differenzierung mit der Neuzeit ein, als sich die Erwartungen immer mehr von den Erfahrungen entfernen. Infolge der beschleunigten Veränderungen der technisch-ökonomischen Zivilisation sowie der damit verbundenen Fortschrittsidee erschließt sich ein neuer Erwartungshorizont mit einer tendenziell offenen Zukunft. Da sich die in die Zukunft erstreckenden Erwartungen von den historischen Erfahrungen ablösen, sind die neuen Erfahrungen nicht mehr mit Hilfe der bisherigen Erfahrungen zu bewältigen. Allerdings ist nicht zu übersehen, dass die Idee des Fortschritts zwar kontinuierliche, beschleunigte und irreversible Veränderungen enthält, aber letztlich doch eine qualitativ gleichförmige Schrittfolge in eine vorgezeichnete Richtung, so dass in Zukunft nichts wirklich Neues eintreten kann. Diese Uniformität innerhalb der Fortschrittsidee wie auch der modernen Zivilisation überhaupt ist schon früh erkannt und kritisiert worden. Sie kommt in der paradoxen Formel »rasender Stillstand« und in der treffenden Metapher der »Rolltreppe« zum Ausdruck.40 Darüber hinaus stellt sich das brisante Problem, dass der bisher verlaufene »Fortschritt« nicht nur als »langweilig«, sondern wegen seiner negativen Kehrseiten vor allem auch als bedrohlich empfunden wird. Das Auseinanderdriften von Erfahrung und Erwartung ist daher nicht nur ein theoretisches Problem, dem sich die wissenschaftliche Prognose zu stellen hat. Vielmehr handelt es sich um eine praktische Aufgabe, die darin besteht, den Bruch zwischen den Erfahrungen der Vergangenheit und den Erwartungen an die Zukunft durch ein verantwortliches Handeln, das eine Kehrtwendung vollzieht und eine Alternative ergreift, überhaupt erst herzustellen. Aus diesem Grund schlägt Derrida eine »Erwartung ohne Erwartungshorizont« vor, um das Erwartete radikal offen zu lassen.41 Doch ist mit und gegen Ko-
40 Paul Virilio, Rasender Stillstand, Frankfurt a. M. 1997, 100; Sloterdijk, Eurotaoismus, a.a.O. (Anm. 38), 266 ff. 41 Jacques Derrida, Marx' Gespenster, Frankfurt a. M. 1995, 110, 264; vgl. Ricoeur, Das Rätsel der Vergangenheit, a.a.O. (Anm. 19), 85.
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seileck vorstellbar, dass die Erwartungen von den bisher gemachten negativen Erfahrungen zwar abweichen, aber gleichwohl zukunftsweisende Erkenntnisse aus der Vergangenheit gewinnen. Trotz der geforderten Distanzierung bleiben die Erwartungen an ihre erfahrungsgeleiteten Horizonte gebunden, ohne die überhaupt keine Orientierungen möglich wären. Entscheidend ist vielmehr, dass dabei mehrere und unterschiedliche Erwartungshorizonte entstehen. An die Stelle des einen Erwartungshorizonts von Koselleck und anstelle der radikalen Absage an jede Art Erwartungshorizont von Derrida setze ich den Plural alternativer Erwartungshorizonte. Eine solche geschichtsphilosophische Haltung in Abgrenzung sowohl vom Fortschrittsdenken als auch vom Historismus verbindet sich mit den Namen Rousseau, Nietzsche und Benjamin. Bereits Rousseau wollte gleichsam das Rad der Geschichte zurückdrehen und auf mittlerem zivilisatorischem Niveau einen alternativen Weg einschlagen. Da er dies in Frankreich fur nicht realistisch hielt, entwarf er entsprechende Verfassungen fur Korsika und Polen. Später erblickte Volney in Amerika die Chance einer von Europa getrennten und besseren Geschichte. Auch wenn Nietzsche die Aufklärung noch radikaler kritisierte, sehe ich hier eine gewisse Ähnlichkeit, die darin besteht, dass die Kontinuität der Geschichte in Frage gestellt wird. Seine »kritische Historie« setzte sich bekanntlich zum Ziel, die »Vergangenheit zu zerbrechen und aufzulösen, um leben zu können«.42 Indem er die Brüche, Verwerfungen und Verletzungen in der Geschichte hervorhob, beabsichtigte er, »Vergangenes und Fremdes umzubilden und einzuverleiben, Wunden auszuheilen, Verlorenes zu ersetzen, zerbrochene Formen aus sich nachzuformen«. Weniger bekannt ist, dass Benjamin an Nietzsche anknüpfte, wenn er im Gegensatz zur kritisierten Sozialdemokratie forderte, »das Kontinuum der Geschichte aufzusprengen«, um das darin »Unabgegoltene« und damit die nicht erfüllten Hoffnungen wach zu rufen.43 Während die Vorstellung des 42 Friedrich Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie, in: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, 2. Auflage, Berlin, München 1988, Bd. 1,269. 43 Walter Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, in: Gesammelte Schriften, Bd. 1.2, hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a. M. 1974, 701 f.
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Fortschritts die »homogene und leere Zeit« voraussetzt, ging es ihm um eine Gegenwart, die kein nahtloser Übergang von der Vergangenheit in die Zukunft sein darf, sondern in der die Zeit erst einmal »zum Stillstand gekommen ist«. Diese Lesart wird hier so reformuliert, dass in einer solchen Zäsur die Chance fur eine Kehrtwende gesehen werden kann. Die Aufgabe einer in diesem Sinn kritischen Geschichtsphilosophie der Zukunft besteht folglich darin, die angebliche Linearität und Abgeschlossenheit der Geschichte in Frage zu stellen, damit die Geschichte als vielfaltiger und offener Prozess denkbar wird. Das bedeutet keine prinzipielle Abkehr von der Idee eines historischen Kontinuums. Denn die Geschichte ist, wenn auch nicht als linearer Fortschritt, so doch als Entwicklungszusammenhang vorzustellen, in dem Alternativen konzipierbar und realisierbar sind. Es kommt nicht darauf an, die Kontinuität als solche aufzubrechen, sondern alternative Traditionslinien zu erschließen. Eine solche Reflexion auf genutzte und versäumte Möglichkeiten der Vergangenheit kann dazu dienen, in der Gegenwart und fur die Zukunft mehr Sensibilität fur Handlungsalternativen zu fordern. Dieses Programm soll in den folgenden beiden Abschnitten konkretisiert und operationalisiert werden. Zunächst wird dafür die Methode der kontrafaktischen Erklärung bereit gestellt, die es erlaubt, falsche Linearitäten, scheinbare Teleologien und angebliche Notwendigkeiten in Frage zu stellen, um durch die Suche nach versäumten Alternativen in der Vergangenheit alternative Spielräume für die Zukunft zu entwerfen. Sodann wird dafür die Handlungstheorie der Kontingenz aufgeboten, die nicht nur negativ als Zufall verstanden werden soll, der verantwortliches Handeln letztlich verunmöglicht, sondern positiv als eine Chance für praktische Freiheit und verändernden Eingriff.
Kontrafaktische Erklärungen Dem Zweck, Alternativen in der Geschichte sichtbar zu machen, dient in der Geschichtswissenschaft die kontrafaktische Erklärung. Die Frage: »Was wäre geschehen, wenn ...?« gewinnt seit einiger Zeit an
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Bedeutung, weil sie auf alternative Möglichkeiten menschlichen Handelns aufmerksam macht.44 In der Historiographie soll diese Methode der »ungeschehenen Geschichte« oder auch »experimentellen Geschichte« die Erklärung schärfen und differenzieren, indem die realen und virtuellen Faktoren miteinander verglichen und gegeneinander abgewogen werden. Doch auch im Hinblick auf das Thema Zukunft lohnt sich der Versuch, die kontrafaktische Erklärung als methodisches Instrumentarium einzusetzen. Gegen die Apologie einer deterministischen Prognostik kann die relative Offenheit von Handlungsräumen sichtbar werden. Denn das Kontrafaktische hat eine Affinität zum real Möglichen in sozialen Prozessen. Gegen die häufig politisch missbrauchte Behauptung, es gäbe keine Alternative, wird das konkrete Anders-Sein-Können ins Feld gefuhrt. Indem die kontrafaktischen Überlegungen Möglichkeitshorizonte der Akteure ausloten, tragen sie dazu bei, Spielräume für alternatives Handeln zu erkennen, wahrzunehmen und zu realisieren. Übrigens ist die kontrafaktische Erklärung mit dem Gedankenexperiment verwandt, das in unserem Kontext einen fiktiven Eingriff in die Geschichte darstellt.45 Das Verfahren besteht darin, bei der Untersuchung von Kausalfaktoren die Bedeutung eines Faktors dadurch zu bestimmen, dass im Gedankenspiel bestimmte Faktoren als nicht existent betrachtet werden, um die Folgen im Fall seines Ausbleibens vorzustellen. An die Stelle einer solchen Negation bestimmter Ereignisse kann auch die Konkurrenz von Faktoren treten, um dadurch die zweitstärkste Kraft zu ermitteln. Ebenso ist die Umkehrung denkbar, indem nach Alternativen zu wirklichen Resultaten, d.h. zu faktischen Wirkungen gefragt wird gemäß der Formel: »Was hätte geschehen müssen, damit nicht...?« Auf diese Weise wird die Frage gestellt, wie man etwas Bestimmtes hätte besser machen können. 44 Alexander Demandi, Ungeschehene Geschichte. Ein Traktat über die Frage: Was wäre geschehen, wenn ...?, Göttingen 1986; Amd Hoffmann, Zufall und Kontingenz in der Geschichtstheorie. Mit zwei Studien zu Theorie und Praxis der Sozialgeschichte, Frankfurt a. M. 2005, 141 ff. 45 Albrecht Behmel, Was sind Gedankenexperimente? Kontrafaktische Annahmen in der Philosophie des Geistes — der Turingtest und das chinesische Zimmer, Stuttgart 2001; Daniel Cohnitz, Gedankenexperimente in der Philosophie des Geistes, Paderborn 2006.
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Mein Ziel ist es jedoch, die Methode der kontrafaktischen Erklärung der vergangenheitsorientierten Geschichtsschreibung mit der Analyse von Zukunftsprognosen zu verbinden. Während der Historiker mit Hilfe hypothetischer Alternativen die Vergangenheit theoretisch besser zu fassen versucht, besteht der praktische Nutzen des Geschichtsphilosophen darin, dass alternative Optionen für zukünftiges Handeln reflektiert werden können. Das Durchdenken mehrfacher Möglichkeiten, vor denen wir heute stehen, lässt sich am Planspiel vergangener Alternativen studieren.46 Mit dem Bewusstsein, das alles hätte auch anders kommen können, lassen sich diejenigen kritisieren, die heute behaupten, es werde so kommen, wie sie behaupten. Die Geschichte ist zwar nicht »Lehrmeisterin« für das Leben; doch schließt das nicht aus, dass in die Vergangenheit zurückverlegte Gedankenexperimente nicht nur der historischen Erkenntnis, sondern auch der praktischen Orientierung dienen können. Wendet man das Verfahren der kontrafaktischen Erklärung oder des Gedankenexperiments auf die gegenwärtige Situation an, stellen sich am Beispiel der ökologischen Krise Fragen wie: Was wäre geschehen, wenn die Atomkraft nicht entdeckt worden wäre oder nicht hätte genutzt werden können? Was wäre geschehen, wenn sie später entdeckt worden wäre? Was wäre geschehen, wenn vorher schon alternative Energien bekannt gewesen wären? Die Antwort lautet möglicherweise, dass in solchen Fällen die Suche nach Alternativen früher verstärkt worden wäre. Daraus ist wiederum die Konsequenz zu ziehen, dass heute trotz zeitlicher Verspätung das damals Versäumte nachgeholt werden sollte. Nach diesen methodologischen Überlegungen folgt nun eine handlungstheoretische Reflexion zur Kontingenz in der Geschichte.
Kontingenz in praktischer Absicht Wie sich zeigte, verweisen kontrafaktische Erklärungen und Gedankenexperimente auf das Problem der Kontingenz, das bereits im dritten und fünften Kapitel zur Sprache kam. Demnach gehört es zum 46 Demandi, Ungeschehene Geschichte, a.a.O. (Anm. 44), 39.
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Topos der Geschichtsschreibung wie auch der Philosophie der Geschichte bis hin zur Evolutionstheorie, dass Geschichte wesentlich ein kontingentes Geschehen ist. Bereits in den vierziger Jahren konstatierte Raymond Aron: »Le fait historique est, par essence, irréductible à l'ordre: le hazard est le fondement de l'histoire«. 47 Dieses Zitat taucht immer wieder in der deutschen Theorie und Philosophie der Geschichte auf. Zunächst in einem Artikel von Koselleck mit dem ironischen Titel: »Der Zufall als Motivationsrest in der Geschichtsschreibung«. 48 Der Zufall wird hier als »Rest« bezeichnet, der bei der theoretischen Durchdringung der Geschichte übrig bleibt und den Historiker erst zu motivieren scheint. Auch Lübbe zitiert Aron und verbindet damit das Anliegen, das »nicht-theoretische Element der Historie« zu analysieren. 49 Weil Geschichte in einem Sichdurchkreuzen und Sichüberlagern von Handlungen, also in Handlungsinterferenzen bestehe, widersetze sich Geschichte jeder Handlungsraison und damit auch der rationalen Erklärung. Weil Geschichte theorieresistent sei, könne sie nur erzählt werden. Lübbes Pragmatismus wird durch die Existenzphilosophie von Bubner noch überboten, der die These vertritt, Kontingenz sei konstitutiv fur Geschichte überhaupt, in der Kontingenz bestehe geradezu das besondere Wesen der Geschichte. 50 Auch er sieht in der Kontingenz die Grenzen des theoretischen Umgangs mit Geschichte. In diesen Stellungnahmen zum Problem der Kontingenz sind gemeinsame Gegner erkennbar: Zum einen richtet sich die Kritik gegen die christliche Eschatologie von Augustinus bis Bossuet sowie gegen die säkularisierte Variante in der Geschichtsteleologie von der Leibnizschen Theodizee über Turgots »Vorsehung«, Kants »Naturabsicht« bis zu Hegels »List der Vernunft«. 51 Ihnen wird eine falsche Kontingenzbewältigung vorgeworfen, welche den Zufall in der Geschichte letztlich nicht wahrhaben will. Zum anderen gilt die Kritik einer sozialwissenschaftlich fundierteren Geschichtsschreibung der siebziger und 47 Raymond Aron, Introduction à la philosophie de l'histoire, Paris 1948, 20. 48 Koselleck, Vergangene Zukunft, a.a.O. (Anm. 1), 158. 49 Hermann Lübbe, Geschichtsbegriff und Geschichtsinteresse. Analytik und Pragmatik der Historie, Basel, Stuttgart 1977,25; zum Folgenden 54 ff. 50 Bubner, Geschichtsprozesse und Handlungsnormen, a.a.O. (Anm. 19), 34. 51 Siehe das zweite und dritte Kapitel.
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achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts, in Frankreich gegen die Schule der Annales um Fernand Braudel, in Deutschland gegen die Sozialgeschichtsschreibung von Hans-Ulrich Wehler und anderen. Auf diese Weise ist eine paradoxe Situation entstanden: Während die Theoretiker sozialer Strukturen die Kontingenz weitgehend eliminieren oder nur am Rande explizieren, werten Koselleck, Lübbe und Bubner die Kontingenz zwar auf, sprechen ihr aber zugleich die Eignung ab, theoretisch erfasst werden zu können. Beide kontroversen Positionen fuhren am Ende zum selben Ergebnis: Kontingenz ist kein Thema, weder in der Geschichtstheorie der Historiker noch in der Philosophie der Geschichte. Ganz im Gegensatz zur historischen Erfahrung wird Kontingenz aus der theoretischen Reflexion über Geschichte ausgegrenzt. An dieser Stelle setzen meine Überlegungen ein, indem ich im Anschluss an neuere Forschungen versuche, die Kontingenz in der Geschichte nicht nur zu thematisieren, sondern die Kontingenz selbst zum Gegenstand einer Theorie und Philosophie der Geschichte zu machen, kurz: die historische Kontingenz theoriefahig zu machen. Dabei geht meine spezifisch philosophische Intention über die Geschichtstheorie von Historikern hinaus, indem ich das Problem der Kontingenz nicht nur auf die Vergangenheit beziehe, sondern vor allem auch auf das Handeln in der Zukunft. Um den Begriff der Kontingenz zu klären, definiere ich Kontingenz weder als Wesensbestimmung der Geschichte noch in der falschen Alternative Kontingenz versus Notwendigkeit. Ebenso wenig reduziere ich Kontingenz auf ein reines Erkenntnisproblem in dem Sinne, dass die Kontingenz nur einen Mangel an Kausalerklärung darstellt. Vielmehr betrachte ich die Geschichte als einen funktionalen Zusammenhang von Handlungen, in dem Kontingenz sowohl objektiv gegeben ist als auch subjektiv erfahren wird. Ziel ist es, die Kontingenz vom negativen Charakter des Defizitären zu befreien und zu einer positiv gefassten Kategorie zu machen, d.h. die Kontingenz in praktischer Absicht aufzuwerten. Dazu ist es hilfreich, zwischen Zufall und Kontingenz zu unterscheiden.
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Der Zufall ist ein Ereignisbegriff;52 er bezeichnet eine Koinzidenz, also ein Zusammentreffen oder Zusammenfallen verschiedener Ereignisabläufe an einem Ort und zu einer Zeit. Für das Denken in kausaltheoretischen Ordnungen bedeutet das: Der Zufall ist die Koinzidenz kausaler Wirkzusammenhänge, die zwar als einzelne kausal determiniert sind, aber eben nicht in der Form von Ursache und Wirkung voneinander ableitbar sind. Für das Denken in handlungstheoretischen Ordnungen bedeutet das: Der Zufall ist die Koinzidenz voneinander unabhängigen Handlungsketten, die zwar als einzelne Handlungen auf Motiven und Zielsetzungen basieren, aber in ihrem Zusammentreffen und in ihren Auswirkungen für die Akteure selbst als das Unbeabsichtigte, Unvorhergesehene, Unerwartete, Unwahrscheinliche oder Überraschende erfahren werden. Der Begriff der Kontingenz bezeichnet hingegen den Bereich, innerhalb dessen der Zufall überhaupt möglich ist. Kontingenz bezieht sich auf die Möglichkeiten eines Wirklichkeitsbereichs, die nicht in der Regel oder nicht immer stattfinden. Sie bedeutet die Möglichkeit einer Sache zu sein, anders zu sein oder nicht zu sein. Daher betrifft sie nicht die Ereignishaftigkeit, sondern die Strukturiertheit des Handelns. Sie ist immer die Kontingenz von Strukturen, d.h. von politischen Institutionen, sozialen Systemen oder gesellschaftlichen Dynamiken. Durch das Handeln wird die Kontingenz derartiger Strukturen zur strukturierten Kontingenz, indem die Kontingenz erfahren und damit bewusst wird. Zufall und Kontingenz sind strukturell verschränkt. Der Bereich, in dem sich der Zufall realisiert, muss kontingent sein oder Kontingenzen ermöglichen. Die Kontingenz ist also die Bedingung der Möglichkeit des Zufalls. Umgekehrt ist der Zufall die Bedingung der Möglichkeit von Kontingenz. Denn er realisiert die Kontingenz, indem er sie überhaupt erfahrbar und faktisch bestimmbar macht. Ohne den Zufall, der passiert, könnte man die Wirklichkeit im Horizont anderer Möglichkeiten nicht als kontingent erfassen. Erst der Zufall qualifiziert die Möglichkeit als Kontingenz - als Möglichkeit des Anders-Sein-Könnens. 52 Hoffmann, Zufall und Kontingenz, a.a.O. (Anm. 44), 48 ff.; zu den folgenden beiden Absätzen 58 ff.
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Transformiert man die Kategorien Zufall und Kontingenz in den historischen Raum der Zukunft, sind einige Modifikationen erforderlich. Im Rahmen der kontrafaktischen Erklärung spielt der Zufall keine Rolle, weil es nicht möglich ist, mit dem Zufall zu experimentieren; auch beim Gedankenexperiment fällt der Zufall kategorisch aus. Demgegenüber vermag die Kategorie der Kontingenz im Hinblick auf Zukunftsfragen gute Dienste zu leisten. Die Kontingenz beschreibt die systemischen Bedingungen, d.h. den Spielraum oder den Horizont, unter denen alternatives Handeln möglich ist. Aus diesem Grund ist die Kategorie des Zufalls in die Kategorie der realen Möglichkeit zu transformieren. Wenn man es in Zukunft gerade nicht dem Zufall überlassen will, wie es in der Geschichte weitergeht, dann ist an dessen Stelle die bewusst zu realisierende Handlungsmöglichkeit zu setzen. Es ist Ricoeur, der demonstriert, wie der Begriff der Kontingenz in praktischer Absicht aufgewertet werden kann. Wenn er vorschlägt, den historischen Determinismus aufzubrechen und in die Geschichte wieder Kontingenz einzuführen,53 beabsichtigte er wie Benjamin, die nicht realisierten Wünsche und Erwartungen der Menschen in der Vergangenheit zu thematisieren, um damit die Möglichkeiten des praktischen Eingriffs fur die Gegenwart und Zukunft zu erkunden. Auch Adorno und Bloch wissen den »Zufall« zu schätzen, indem sie in ihm die Negation einer naturwüchsigen Totalität54 und ein »relatives Anders-Seinkönnen« sehen.55 Interessanterweise entdecken auch einige Evolutionstheoretiker die kritischen Potenziale des Kontingenzbegriffs gegenüber einer angepassten Optimierungsstrategie.56 Zufall und Kontingenz stehen hier fur die Kritik am Bestehenden und für die Möglichkeit der Änderung. Resümiert man diese Ansätze, lassen sich aus der Erfahrung der Kontingenz zwei völlig konträre Konsequenzen ziehen: Zum einen ist 53 Ricoeur, Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, a.a.O. (Anm. 19), 446 f. 54 Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, in: Gesammelte Schriften, 20 Bände, Bd. 6, hg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt a. M. 1977, 315. 55 Ernst Bloch, Experimentum Mundi, in: Gesamtausgabe, 16 Bände, Bd. 15, Frankfurt a. M. 1977, 133. 56 Siehe den Abschnitt »Determinismus - oder Evolution und Kontingenz« des fünften Kapitels.
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die Kontingenz als »Unverfügbarkeit der Geschichte« interpretierbar.57 Wie im dritten Kapitel ausgeführt, kann man mit Freud diese Erfahrung als eine geschichtsphilosophische Kränkung der Menschheit bezeichnen. In Analogie zur Psychoanalyse erzeugt die Kontingenz eine traumatische Angst, die in der Teleologie der Geschichte kollektiv und unbewusst verdrängt wird. Geschichte erscheint als Geschick oder Widerfahmis,58 in unserem Fall als Zukunft im ursprünglichen Wortsinn. Der Philosophie der Geschichte bleibt dann nur übrig, sich mit der angeblichen Ohnmacht der Menschen abzufinden. Zum anderen kann man die Kontingenz auch positiv als eine Chance für praktische Freiheit und verändernden Eingriff verstehen.59 Mit dem gewonnenen Spielraum menschlichen Handelns stellt sich nun die Frage nach der ethischen Verantwortung. Zwar haben wir keine Verantwortung für die Geschichte im Ganzen, wohl aber eine geschichtliche Verantwortung mit unseren partiellen Handlungen. Wir sind mitverantwortlich für die zurechenbaren gegenwärtigen und zukünftigen Handlungen. An dieser Stelle mündet die Geschichtsphilosophie in die praktische Philosophie und insbesondere in die Ethik der Zukunft.
57 Zu Heinz Dieter Kittsteiner siehe Anm. 17 des dritten Kapitels. 58 Wilhelm Kamiah, Philosophische Anthropologie. Sprachkritische Grundlegung und Ethik, Mannheim, Wien, Zürich 1972, 34 ff.; Odo Marquard, Apologie des Zufälligen, Stuttgart 1986. 59 Schnädelbach, Kulturelle Evolution, a.a.O. (Anm. 17), 348 f.; Manuel Cruz, La tarea de pensar, Barcelona 2004, 114 ff.; Concha Roldán, Nuevas vueltas a la historia. Por una filosifia de la historia doblada de ética, in: Disenso e incertidumbre, eds. José Francisco Alvarez y Roberto R. Aramayo, Theoria cum Praxi, Impronta 2, Madrid, México 2006, 543 f.
8. Geschichtsphilosophie und Zukunftsethik
Um die ethische Dimension einer handlungsorientierten und zukunftsgerichteten Geschichtsphilosophie weiter auszuarbeiten, lohnt es sich, eine Brücke zur Ethik der Zukunft zu schlagen, die sich inzwischen als eigenständiger Diskurs etabliert hat. In ihm werden Fragen nach der moralischen Verantwortung für zeitlich nahe stehende oder entfernte Generationen gestellt. Es liegt auf der Hand, dass dabei Zeitverhältnisse eine wichtige Rolle spielen - nicht nur das Verhältnis von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft überhaupt, sondern auch speziell die ins Auge gefassten Zeiten der nahen oder fernen zukünftigen Generationen, fur die Verantwortung übernommen werden soll. Doch in den aktuellen Debatten über das Problem der Langzeitverantwortung wird das Thema Zeit und Geschichte wenig berücksichtigt. Demgegenüber beabsichtige ich zu zeigen, dass die Untersuchung der spezifisch temporalen und historischen Dimension der Verantwortung für zukünftige Generationen die ethische Argumentation zu ergänzen vermag. Für die Ethik der Zukunft bedeutet dies, dass sie sich gegenüber geschichtsphilosophischen Fragestellungen öffnet und bestimmte Einsichten in die Struktur und Funktion historischen Bewusstseins in ihre eigene Grundlegung integriert. Für die Philosophie der Geschichte hat das zur Konsequenz, dass sie sich mit der Zukunftsperspektive an der Lösung bestimmter Probleme der praktischen Philosophie beteiligt. Das Ziel besteht daher in einer Verbindung von Zukunftsethik und Geschichtsphilosophie. An dieser Stelle knüpfe ich an meine vorausgegangenen Überlegungen an, indem ich hier voraussetze, dass der zukünftigen Zeit als Wirkhorizont gegenwärtigen Handelns ein bestimmter Grad von Wahrscheinlichkeit zugeschrieben werden kann. Sofern man die Zukunft als Zeit-Raum von Handlungsmöglichkeiten fasst, lässt sie sich auch als spezifisch historische Zeit begreifen. Die Geschichtlichkeit der Zukunft resultiert letztlich aus individuellen und kollektiven Erwartungs-
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haltungen sowie aus der Bewertung zukünftiger Güter und Interessen. Die Ethik der Zukunft hat es daher wesentlich mit einer zukünftigen Geschichte zu tun, deren Möglichkeit im Folgenden unterstellt wird. Zunächst werde ich die mehr oder weniger impliziten Zeitstrukturen der Zukunftsethik kritisch analysieren. Dabei wird sich herausstellen, dass einige dieser Ethiken die Zeit teilweise ausblenden. Wenn einige Philosophen beklagen, die Ethik leide an Zukunftsvergessenheit, so bescheinige ich der gegenwärtigen Zukunftsethik eine tendenzielle Zeitvergessenheit. Über diese Kritik hinaus versuche ich in systematischer Perspektive eine geschichtsphilosophische Fundierung der Langzeitverantwortung, die sich auf den Standpunkt Gegenwart und auf die Geschichtlichkeit der Fernverpflichtung bezieht; sodann skizziere ich konkrete Modelle, die ich dafür geeignet halte, eine Verbindung zwischen den nahen und fernen Zeiten der Verantwortung zu konstruieren.
Ethische Geschichtsphilosophie und Historisierung der Ethik Wie zuvor meine ich mit dem Begriff »Geschichtsphilosophie« nicht diesen Denktyp in toto, sondern die philosophische Reflexion über historische Aspekte der Ethik. Das schließt nicht aus, dass bestimmte Elemente der >klassischen< Geschichtsphilosophie aktualisiert werden können, so wie auch Denkmotive des Historismus und anderer Strömungen zum Zuge kommen. In einem solchen Rückblick zeigt sich indessen, dass Geschichtsphilosophie und Ethik keineswegs immer so getrennt auftraten, wie es in der heutigen Ethik der Fall ist. Seit der Epoche der europäischen Aufklärung verschränkten sich beide Disziplinen miteinander, indem die Geschichtsphilosophie Ansätze einer Zukunftsethik enthielt und die Ethik infolge der Entstehung des historischen Denkens verzeitlicht wurde. In diesem Sinn kann man sowohl von einer ethischen Geschichtsphilosophie als auch von einer Historisierung der Ethik sprechen. An diesen Zusammenhang, der im vorliegenden Buch mehrfach angeklungen ist, möchte ich mit meinem
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Vorschlag einer Synthese von Ethik und Geschichtsphilosophie anknüpfen. Auf der einen Seite stellt die Geschichtsphilosophie der Aufklärung eine frühe Form von Zukunftsethik dar. Das ergab sich aus der utopischen Perspektive, wie im zweiten und dritten Kapitel gezeigt wurde. Weil eine solche Ethik historisches Bewusstsein darüber voraussetzt, dass sich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft voneinander unterscheiden und dass die Geschichte einem steten Wandel unterworfen ist, verwundert es nicht, dass die Frage nach dem Beitrag der gegenwärtig lebenden Menschen für das Wohlergehen zukünftiger Generationen zuerst im Kontext der Geschichtsphilosophie gestellt wurde. Insbesondere die Fortschrittsidee drückte die Erwartung aus, dass sich die Lebensbedingungen der Menschen kontinuierlich verbessern, so dass die zukünftige Zivilisation den gegenwärtig erreichten Zustand überträfe. Unbegründet ist freilich der Vorwurf, die Geschichtsphilosophen forderten von den gegenwärtig lebenden Menschen den Verzicht auf ihre Glücksansprüche zugunsten zukünftiger Generationen. Bezeichnenderweise lässt sich diese Forderung in der von mir dargestellten französischen Geschichtsphilosophie des 18. Jahrhunderts nicht nachweisen. Es war vielmehr Kant, der das darin steckende moralische Problem auf ambivalente Weise explizierte. Zum einen mahnte er an die Pflicht der Menschen, die »Hoffnung besserer Zeiten« nicht aufzugeben, um den Willen zur praktischen Anstrengung wach zu halten.1 Zum anderen kritisierte er die »befremdende« Vorstellung, »dass die ältern Generationen nur scheinen um der späteren willen ihr mühseliges Geschäft zu treiben, [...] ohne doch selbst an dem Glück, das sie vorbereiteten, Anteil nehmen zu können«. 2 Diese Kritik am Fortschrittsglauben ist im Laufe der Zeit häufig geübt worden; bereits im 19. Jahrhundert war sie im deutschen Historismus verbreitet; im 20. Jahrhundert richtete sie sich vor allem gegen den Marxismus; sie hat
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Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden, in: Werke in 12 Bänden, hg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt a. M. 1965, Bd. XI, 351. 2 Immanuel Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, in: Werke, Bd. XI, 37.
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sich bis in die gegenwärtige Ethik der Zukunft erhalten.3 Als Zielscheibe diente wiederum die Geschichtsphilosophie Hegels, der den Glücksanspruch der Individuen in der Weltgeschichte für zweitrangig erklärte. Während Volney angesichts des historisch erfahrbaren Unglücks in »Melancholie« fiel, hielt Hegel diese »Trauer« für unbegründet, weil sie den geschichtlichen Endzweck verkenne, »dem alle Opfer auf dem weiten Altar der Erde und in dem Verlauf der langen Zeit gebracht worden« sind.4 Es ist mir wichtig, daran zu erinnern, dass in der Geschichtsphilosophie der Aufklärung weder die Forderung eines Glücksverzichts erhoben wurde noch die Distanzierung von einer derartigen Zumutung unausgesprochen blieb. Auf der anderen Seite folgte auf das Geschichtsdenken eine Historisierung der Ethik - allerdings mit zeitlicher Verzögerung. Obwohl Hume in seinen Prinzipien der Moral Beispiele aus der Geschichte wählte und selbst Historiker war, konzipierte er die moralischen Maßstäbe noch völlig ungeschichtlich. Und obwohl Kant einige Schriften zur Philosophie der Geschichte verfasste, konstruierte er das Sittengesetz fern von der Vorstellung eines geschichtlichen Wandels. Erst im Utilitarismus des 19. Jahrhunderts machte sich das neue historische Bewusstsein bemerkbar. Indem Bentham und Mill den Folgen menschlichen Handelns besondere Beachtung schenkten, erhielt die Ethik eine zeitliche Perspektive.5 Weil sie dabei - in der Tradition der Aufklärung - eine Verbesserung der Lebensverhältnisse anstrebten,
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Das kann hier nur exemplarisch belegt werden, etwa Heinrich Heine, Aufsatz über die verschiedene Geschichtsauffassung, in: Werke, Berlin 1972, Bd. 8, 233 f.; Leopold von Ranke, Über die Epochen der neueren Geschichte, hg. von Theodor Schieder und Hans Bending, München, Wien 1971, 54 f.; Hans Joncis, Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethikfiir die technologische Zivilisation, Frankfurt a. M. 1984 (1979), 45 f. Zu Volney siehe das zweite Kapitel; Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, in: Werke in 20 Bänden, hg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt a. M. 1969, Bd. 12, 33; zur Anspielung Hegels auf Volney vgl. Jacques d'Hondt, Hegel secret: recherches sur les sources cachées de la pensée de Hegel, Paris 1968, 83 ff. Thomas Macho, Künftige Generationen. Zur Futurisierung der Ethik in der Moderne, in: Claus Langbehn (Hg.), Recht, Gerechtigkeit und Freiheit, Paderborn 2006, 318 ff.
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machten sie die Ethik zu einem Unternehmen für die Zukunft. Wenn sie sich das »größte Glück der größten Zahl« zum Ziel setzten, schlossen sie das Glück der zukünftig lebenden Menschen ein. So wie die Glücksansprüche in der Gegenwart bilanziert wurden, legten sie die theoretische Basis für eine Bilanzierung des zu verteilenden Glücks von Gegenwart und Zukunft. An diese Art Zukunftsethik konnten die späteren Theoretiker der Langzeitverantwortung unmittelbar anschließen. Den Auftakt zu einer expliziten Ethik der Zukunft gab indessen Jonas mit Das Prinzip Verantwortung, das sich in erster Linie auf die Verantwortung für zukünftige Generationen bezog.6 Er verzeitlichte die Ethik, indem er den Zeitraum der moralischen Verantwortung radikal in die Zukunft verlängerte. Den Grund sah er in einer neuen Größenordnung der »Fernwirkung« moderner Technologien, die der entsprechenden Verantwortung eine größere »Reichweite in die Zukunft« abverlangten. Auf Jonas berufen sich gegenwärtige Theoretiker der Langzeitverantwortung wie etwa Birnbacher in Verantwortung für zukünftige Generationen. Weil die technische Verfügungsmacht in die weite Zukunft reicht und die Gattungsexistenz der Menschheit aufs Spiel setzt, bedarf es der neuen Disziplin der Zukunftsethik, welche in der Lage ist, den Zeithorizont zu erweitern.7 Die theoretischen Mittel, um die Probleme der Langzeitverantwortung zu lösen, gewinnt Birnbacher aus der utilitaristischen Tradition, die bereits Ansätze zu einer Zukunftsethik enthielt. Dem Utilitarismus gemäß soll die Lösung in einer Gesamtbilanz der Interessen der gegenwärtigen und zukünftigen Generationen bestehen. Seit einigen Jahren werden die Chancen einer praktisch wirksamen Zukunftsethik jedoch wesentlich skeptischer beurteilt. Den Grund sieht man darin, dass der raum-zeitliche Horizont überschritten wird und damit der neue Typ der Verantwortung ins Ungewisse, Anonyme und 6
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Jonas, Das Prinzip Verantwortung, a.a.O. (Anm. 3), 9, 39, 64, 84, 220. - Zum Unterschied zwischen den Begriffen »Pflicht« und »Verantwortung« siehe Ludger Heidbrink, Grenzen der Verpflichtung. Zum Verhältnis von Verantwortung und Pflichten, in: Langbehn (Hg.), Recht, Gerechtigkeit und Freiheit, a.a.O. (Anm. 5), 239-268. Dieter Birnbacher, Verantwortung für zukünftige Generationen, Stuttgart 1988, 11 ff.
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Unverbindliche zu laufen droht.8 Wenn man von den real erlebbaren Beziehungen zwischen den Generationen ausgeht, erscheint die Verantwortung für zeitlich entfernt lebende Menschen als Zumutung.9 Setzt man nämlich Generationen statt interessengeleitete Personen voraus, entsteht die Gefahr moralischer Überforderung.10 Schwierigkeiten bereiten auch die Bestimmung eines Adressaten der Fernverpflichtung und die Begründung der Motivation handelnder Subjekte." Diese Probleme sollen nun diskutiert werden, indem sie in den theoretischen Kontext von Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit gestellt werden. Auf diese Weise möchte ich die anfangliche These stützen, dass die Reflexion auf die historische Dimension der Zukunftsethik zur Lösung der gesamten Problematik etwas beizutragen imstande ist. Damit stellen sich zwei Aufgaben: Zunächst gilt es, die temporalen und historischen Implikationen der vorliegenden Zukunftsethiken freizulegen. Darüber hinaus ist die geschichtsphilosophische Fundierung einer Ethik der Zukunft systematisch auszuarbeiten. Ich beginne mit dem kritischen Geschäft, indem ich in Fortsetzung des siebten Kapitels die in den Zukunftsethiken enthaltenen Zeitstrukturen expliziere und analysiere.
8 Carl Friedrich Gethmann, Langzeitverantwortung als ethisches Problem im Umweltstaat, in: ders., Michael Kloepfer, Hans G. Nutzinger, Langzeitverantwortung im Umweltstaat, Bonn 1993, 7; Christoph Hubig, Langzeitverantwortung im Lichte provisorischer Moral, in: Jürgen Mittelstraß (Hg.), Die Zukunft des Wissens, Berlin 2000,298 ff., insbes. 302. 9 Anton Leist, Ökologische Gerechtigkeit: Global, intergenerationell und humanökologisch, in: Julian Nida-Rümelin (Hg.), Angewandte Ethik. Die Bereichsethiken und ihre theoretische Fundierung. Ein Handbuch, Stuttgart 2005,455 f. 10 Dieter Sturma, Die Gegenwart der Langzeitverantwortung, in: Langbehn (Hg.), Recht, Gerechtigkeit und Freiheit, a.a.O. (Anm. 5), 221 ff. 11 Carl Friedrich Gethmann, Wer ist der Adressat der Langzeitverantwortung?, in: Carl Friedrich Gethmann und Jürgen Mittelstraß (Hgg.), Langzeitverantwortung. Ethik, Technik, Ökologie, Darmstadt 2008, 16 ff.; Dieter Birnbacher, Langzeitverantwortung - das Problem der Motivation, in: Gethmann, Mittelstraß (Hgg.), ebd., 29 ff.
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Zeitstrukturen in ethischen Diskursen Auf einer elementaren Ebene operieren die Theoretiker der Langzeitverantwortung mit der Unterscheidung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, wobei die Perspektive auf die Zukunft als das wesentlich Neue der gegenwärtigen Ethik angesehen wird.12 Diese Aussage ist nicht so trivial, wie sie erscheint, weil dagegen eingewendet werden kann, die Ethik sei immer schon auf Zukunft ausgerichtet. Jede moralische Regel und jeder Imperativ bezieht sich auf zukünftiges Handeln. Sofern dabei universelle Geltung beansprucht wird, ist in deren Bereich die Zukunft aus prinzipiellen Gründen eingeschlossen. Daher lässt sich behaupten, die Zukunft sei in der Ethik per definitionem enthalten, so dass es keiner »neuen« Disziplin bedürfe.13 An dieser Argumentation ist erkennbar, dass die Konzeption einer Zukunftsethik nur dann sinnvoll ist, wenn der entsprechende Zeitraum näher definiert wird. Wie sich bei den in die Zukunft projizierten »Fristen« zeigte, zielt auch die Langzeitverantwortung auf den Unterschied zwischen einer »kurzen« Zeit, der sich die klassische Ethik widmet, und einer »langen« Zeit, die den weiter reichenden Folgen moderner Technologien geschuldet ist. Während das »Ende« des eröffneten Zeithorizonts notgedrungen unbestimmt bleibt, weil sich die Wirkungen gegenwärtigen Handelns irgendwann verlieren, lässt sich hingegen die Zäsur zwischen »naher« und »ferner« Zukunft ziemlich präzise festlegen. Konsens besteht über die ethisch relevante Grenze nach jeweils drei Generationen, die gleichzeitig miteinander
12 Jonas, Das Prinzip Verantwortung, a.a.O. (Anm. 3), 27 f., 64; Birnbacher, Verantwortung für zukünftige Generationen, a.a.O. (Anm. 7), 15; Hubig, Langzeitverantwortung im Lichte provisorischer Moral, a.a.O. (Anm. 8), 296 f.; Leist, Ökologische Gerechtigkeit, a.a.O. (Anm. 9), 453; Sturma, Die Gegenwart der Langzeitverantwortung, a.a.O. (Anm. 10), 227. 13 So argumentiert Birnbacher, Verantwortung für zukünftige Generationen, a.a.O. (Anm. 7), 92-98; vgl. Gethmann, Langzeitverantwortung als ethisches Problem, a.a.O. (Anm. 8), 4; ähnlich auf dem Gebiet des Rechts Johannes Caspar, Generationen-Gerechtigkeit und moderner Rechtsstaat. Eine Analyse rechtlicher Beziehungen innerhalb der Zeit, in: Dieter Birnbacher und Gerd Brudermüller (Hgg.), Zukunftsverantwortung und Generationensolidarität, Würzburg 2001, 74.
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zusammen leben.14 Die Zeitspanne der »nahen« Generationen von Eltern, Kindern und Kindeskindern bzw. Großeltern und Enkeln entspricht den Anforderungen einer anwendungsorientierten Ethik, weil sie in ihrer Selbstverständlichkeit zur alltäglichen Praxis gehört. Besonders für Phänomenologen und Kommunitaristen ist diese Grenze so existentiell, dass sie jede Langzeitverantwortung nur auf der Basis einer solchen Nahverantwortung fur möglich halten.15 Der Drei-Generationen-Rhythmus erfüllt bestimmte Kriterien, die diesem Zeitraum philosophische Bedeutung verleihen. Sie ist anthropologisch begründet, weil sie den Radius kognitiv erfahrbarer und emotional bewältigbarer Verantwortung begrenzt; sie ist sozialphilosophisch begründet, weil sie den Horizont der konkreten Lebenswelt in Familie und Gemeinschaft beschreibt; sie ist ontologisch begründet, weil es sich um Menschen handelt, die schon existieren und denen daher reale Interessen, Rechte und Pflichten zugeschrieben werden können. Da diese Kriterien für die darauf folgenden Generationen nicht mehr zutreffen, stellt sich die Frage, ob und wie die lebensweltlich legitimierte Verantwortung für die »nahen« Generationen auf die »fernen« Generationen ausgeweitet werden kann. In unserem Zusammenhang interessieren wiederum die in einer solchen Argumentation enthaltenen Zeitstrukturen. Bereits Jonas reflektiert ansatzweise die »Zeitlichkeit« seiner Ethik, indem er die Gegenwart nicht nur in eine ethisch bedeutsame Zukunft verlängert, sondern auch innerhalb des »Horizonts der Zukunft« zwischen »Nah- und Fernhorizont« unterscheidet.16 Dabei erhebt er den Anspruch, die moralische Verantwortung aus der Nähe in die Ferne und damit auf die gesamte »künftige Menschheit« zu übertragen. Er postuliert eine »totale Verantwortung«, die für Menschen aller Zeiten in gleichem Maße gelten soll. Aus dieser Generalisierung 14 Jonas, Das Prinzip Verantwortung, a.a.O. (Anm. 3), 215; Bimbacher, Verantwortung für zukünftige Generationen, a.a.O. (Anm. 7), 24 f., 156; Caspar, Generationen-Gerechtigkeit und moderner Rechtsstaat, a.a.O. (Anm. 13), 82. 15 Gethmann, Langzeitverantwortung als ethisches Problem, a.a.O. (Anm. 8), 12; Leist, Ökologische Gerechtigkeit, a.a.O. (Anm. 9), 453 f. 16 Jonas, Das Prinzip Verantwortung, a.a.O. (Anm. 3), 198 f., 215; zum Folgenden 89-91, 245.
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zieht er die zeittheoretisch paradoxe Schlussfolgerung einer »fiktiven Gleichzeitigkeit mit den später Lebenden«. Auf diese Weise schlägt die »Zukunftsverantwortung« in eine »Gleichzeitigkeitsethik« um. Letztlich werden damit Zeit und Zeitlichkeit wieder zurückgenommen. Eine ähnliche Paradoxie lässt sich in utilitaristischen Ethiken beobachten, deren Universalismus auf eine Tilgung der Zeitdifferenz hinausläuft. Das ergibt sich aus einer »Zukunftsbewertung«, in der zukünftigen Interessen und Gütern derselbe Wert zugeschrieben werden soll wie denen der Gegenwart. Diese Position richtet sich gegen die sogenannte Diskontierung, mit deren Hilfe Ökonomen Güter abwerten, die erst später zur Verfugung stehen.17 Während dieses Verfahren fur produzierte Güter durchaus legitim ist, weil in Zukunft mit geringeren Kosten und niedrigeren Preisen zu rechnen ist, lässt es sich auf natürliche Güter und elementare Lebensbedingungen wie Luft und Wasser, die in der Umweltethik die entscheidende Rolle spielen, nicht mehr übertragen. Ebenso wenig sind die immer knapper werdenden Ressourcen wie etwa Öl und Gas einer Diskontrate unterworfen. Völlig unakzeptabel ist es schließlich, die Bedürfnisse und Interessen zukünftiger Menschen zu »diskontieren«, d.h. sie geringer zu bewerten als die Interessen der gegenwärtig Lebenden. Dagegen wehren sich die Ethiker zu Recht mit dem Argument, dass eine solche unterschiedliche Bewertung moralisch unhaltbar ist. Wie plausibel dieser Einwand auch sein mag, so problematisch ist doch die zeittheoretische Konsequenz. Denn die berechtigte Kritik an der Abwertung der Zukunft führt dazu, allen Zeiten gleichen Wert zuzuschreiben. Aus der Feststellung, dass alle Menschen gleiche Rechte haben, unabhängig davon, in welcher Zeit sie leben, soll eine Gleichwertigkeit aller Zeiten folgen. Was bei Jonas »Gleichzeitigkeitsethik« hieß, taucht im Utilitarismus als temporale Gleichstellung wieder auf. An die Stelle der realen Gleichzeitigkeit der drei Generationen tritt die hypothetische Gleichzeitigkeit aller denkbaren Generationen. Jede Art 17 Dieter Birnbacher, Läßt sich die Diskontierung der Zukunft rechtfertigen ?, in: ders., Brudermüller, Zukunftsverantwortung und Generationensolidarität, a.a.O. (Anm. 13), 117 ff.; Carl Friedrich Gethmann und Georg Kamp, Gradierung und Diskontierung bei der Langzeitverpflichtung, ebd., 147 f.; Dieter Cansier, Langzeitverantwortung und Diskontierung, in: Langzeitverantwortung, a.a.O. (Anm. 11), 58 ff.
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»Zeitpräferenz« steht unter dem Verdacht, damit nur die gegenwärtigen Interessen verteidigen zu wollen.18 Wie der Ethiker in der Gegenwart einen unparteilichen Standpunkt einzunehmen beansprucht, so wird auch im Verhältnis der Zeiten eine »chronologische Unparteilichkeit« gefordert. Die ethische Position zeichnet sich gerade dadurch aus, dass sie von der konkreten Zeit absieht; universalistische Ethik bedeutet daher Abstraktion von bestimmten Zeitstrukturen. Zugespitzt formuliert: Diese Art Zukunftsethik ist Ethik ohne Zeit und damit letztlich auch ohne zukünftige Zeit.
Vom Standpunkt der Gegenwart Nachdem ich die expliziten Äußerungen und impliziten Voraussetzungen der Zukunftsethiken hinsichtlich ihrer temporalen Strukturen kritisch beleuchtet habe, gelange ich nun zur systematischen Begründung. Wie angekündigt, geht es mir dabei um eine geschichtsphilosophische Fundierung der Langzeitverantwortung. Um eine solche Verbindung von Ethik und Geschichtsphilosophie zu leisten, verfahre ich im Folgenden zweistufig. Bevor ich konkrete Modelle zur Vermittlung von naher und ferner Verantwortung nenne, versuche ich eine allgemeine Grundlegung, die sich wiederum auf zwei Prinzipien stützt: in diesem Abschnitt auf das Prinzip der Unhintergehbarkeit der Gegenwart und im folgenden Abschnitt auf das Prinzip der Allgegenwärtigkeit des historischen Wandels. Das Problem einer »zeitlosen« Langzeitverantwortung besteht darin, dass die Gegenwart übergangen wird und folglich die Verantwortung für zukünftige Generationen gleichsam direkt in die Zukunft springt. An die Stelle des kritisierten Präsentismus, dem man vorwirft, die Interessen der gegenwärtig Lebenden auf Kosten der Zukünftigen zu bevorzugen, tritt ein naiver Futurismus, der dazu auffordert, sich das
18 Birnbacher, Verantwortung für zukünftige Generationen, a.a.O. (Anm. 7), 29, 35; mit Berufung auf Hare ders., Läßt sich die Diskontierung der Zukunft noch rechtfretigen?, a.a.O. (Anm. 17), 124; kritisch zu Birnbacher siehe Gethmann, Kamp, Gradierung und Diskontierung, a.a.O. (Anm. 17), 147; vgl. Leist, Ökologische Gerechtigkeit, a.a.O. (Anm. 9), 465 f.
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Schicksal der fernen Zukünftigen zu Herzen zu nehmen und die später lebenden Menschen wie unsere Nächsten zu betrachten. Während der Präsentismus die Zukunft vernachlässigt, behandelt der Futurismus die Zukunft wie eine unmittelbare Gegenwart. Um dieses Problem zu lösen, knüpfe ich noch einmal an Jonas an, der sich explizit mit der Geschichtsphilosophie auseinandersetzt. Er kritisiert das utopische Denken der Aufklärung bis Marx und Bloch, das die Gegenwart angeblich nur als »Vorgeschichte« betrachte und fordere, das Leben der Menschen um der Zukunft willen zu opfern und damit die Gegenwart als Mittel für zukünftige Zwecke zu missbrauchen.19 Mit dieser Kritik spielt er nicht nur auf Kants Einwand an, sondern beruft sich auch ausdrücklich auf den Historismus von Ranke, indem er jeder Gegenwart einen Selbstzweck und damit einen eigenen Wert zuschreibt. Natürlich beabsichtigt Jonas mit dieser widersprüchlichen Argumentation nicht, die Gegenwart auf Kosten der Zukunft zu verabsolutieren; offenbar will er nur an die Stelle des Fortschrittsglaubens eine Ethik des Bewahrens gegenwärtig erreichter Standards setzen. Doch die tiefere Einsicht besteht darin, dass die Probleme der Zukunft allein vom Standpunkt der Gegenwart gelöst werden können. Die Gegenwart der Fernverpflichtung wird auch dann zum Programm, wenn man von den gegenwärtig handelnden Personen ausgeht, um ein Auseinandertreten von personalen Interessen und Langzeitverantwortung zu vermeiden. Vordergründig bricht hier der skizzierte Interessenkonflikt wieder auf, wenn es heißt, »der Augenblick ist der temporale Ort der Erfüllung von Selbstinteresse«.20 Aber der ge-
19 Jonas, Das Prinzip Verantwortung, a.a.O. (Anm. 3), 86, 386-388, 393; vgl. Birnbacher, Verantwortung für zukünftige Generationen, a.a.O. (Anm. 7), 11 ; Dieter Birnbacher und Christian Schicha, Vorsorge statt Nachhaltigkeit - Ethische Grundlagen der Zukunftsverantwortung, in: Zukunftsverantwortung und Generationensolidarität, a.a.O. (Anm. 13), 19 f., 24; Sturma, Die Gegenwart der Langzeitverantwortung, a.a.O. (Anm. 10), 221; Friedrich Rapp, Verantwortung im Kontext, in: Carmen Kaminsky und Oliver Hallich (Hgg.), Verantwortung fiir die Zukunft, Berlin 2006, 28 f.; Wilhelm Vossenkuhl, Heute und morgen gut? Über den zeitlichen Sinn des Guten, ebd., 49. 20 Sturma, Die Gegenwart der Langzeitverantwortung, a.a.O. (Anm. 10), 221 ff.; vgl. Caspar, Generationen-Gerechtigkeit und moderner Rechtsstaat, a.a.O. (Anm. 13), 100.
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schichtsphilosophisch bedeutsame Ertrag liegt darin, dass die Verantwortung an die gegenwärtig lebenden Personen geknüpft wird und dass allein aus dieser Perspektive der Gegenwart die in die Zukunft reichende Verantwortung abgeleitet werden kann. Auch wenn sich diese Analyse von »Zeitverhältnissen« nicht geschichtsphilosophisch ausgibt, interpretiere ich sie als eine philosophische Reflexion auf die historische Dimension der Zukunftsethik. Was ich im Anschluss an McTaggarts Zeitontologie und Kosellecks Geschichtstheorie als Projekt einer Zukunft der Gegenwart formuliert habe, gilt hier fur die Zukunftsethik, die ebenfalls von der Gegenwart auszugehen hat. Dabei lässt sich eine grundlegende Erkenntnis des Historismus zum Umgang mit der Vergangenheit auf den Erwartungshorizont der Zukunft übertragen. Droysen machte darauf aufmerksam, dass der Historiker die Vergangenheit nicht unmittelbar zum Gegenstand seiner Forschungen und Darstellungen hat, sondern nur indirekt vermittelt über Zeugnisse und Dokumente, die zwar aus der Vergangenheit stammen, aber in der Gegenwart vorliegen. Ebenso steht die Darstellung auf dem Standpunkt der Gegenwart, aus deren Perspektive der Vergangenheit ein Sinn zugeschrieben wird. 21 Diese Einsicht ist nun zur Lösung von Zukunftsproblemen nutzbar zu machen. Denn auf vergleichbare Weise erschließt sich die Zukunft nur vom Standpunkt der jeweiligen Gegenwart. Wenn dabei die Gegenwart sozusagen von der vergangenen Zukunft des Historikers zur gegenwärtigen Zukunft des Ethikers wandert, zeigen sich einige Analogien. Wie es für den Historiker eine vergangene Zukunft gibt, die für Menschen, die in einer vergangenen Gegenwart lebten, Zukunft bedeutete, so stellt sich für den Ethiker die Zukunft immer als gegenwärtige Zukunft dar. Wie der Historiker es nicht unvermittelt mit vergangenen Ereignissen zu tun hat, so versetzt sich der Ethiker nicht direkt in die Zukunft, indem er den zukünftig lebenden Menschen gleichwertige Interessen und Rechte unterstellt. Wie der Historiker die Vergangenheit aus den gegenwärtig vorhandenen Zeugnissen zu rekonstruieren hat, so muss der Ethiker sein Verhältnis zu den zukünftig
21 Johann Gustav Droysen, Historik, Textausgabe von Peter Leyh, StuttgartBad Cannstatt 1977, 9; vgl. ebd., 422.
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lebenden Generationen erst noch konstruieren. Die Unhintergehbarkeit der Gegenwart bildet das Transzendental einer jeden Zukunftsethik. Ich bezeichne diesen Gegenwartsbezug als transzendental, um zu verdeutlichen, dass es sich hier um ein Prinzip handelt, das jenseits der Auseinandersetzung um aktuelle Interessen Geltung beanspruchen kann. Denn die Identifizierung von Standpunkt der Gegenwart und Präferenz für gegenwärtige Interessen ist keineswegs zwingend, so wie die Abstraktion von der Gegenwart oder von der Zeit kein Garant für moralisch korrekte Entscheidungen sein muss. Daher ist die Reflexion auf die temporale Dimension ebenso unparteiisch wie der ethische Universalismus. Ist die Perspektive der Gegenwart einmal anerkannt, eröffnet sich überhaupt erst das Feld gegenwärtiger Debatten über die gerechte Verteilung zukünftiger Güter. Wenn die gegenwärtig lebenden Personen mit ihren kontrovers geführten Diskursen den Ausgang bilden, können überzogene Zumutungen und moralische Überforderungen leichter vermieden werden. Zugleich bietet die damit vorausgesetzte Interessenlage eine bessere Chance dafür, die Menschen zum praktischen Handeln zu motivieren. Primat der Gegenwart bedeutet, von der gegenwärtigen Lebenswelt ein möglichst realistisches Verhältnis zu den später lebenden Generationen aufzubauen.
Die Geschichtlichkeit der Fernverantwortung Das zweite Prinzip meiner geschichtsphilosophischen Grundlegung der Zukunftsethik besteht darin, die Einzigartigkeit der Gegenwart als besondere historische Zeit anzuerkennen. Daraus folgt wiederum, dass auch mit der Andersartigkeit der Zukunft zu rechnen ist. Das Wissen darüber, dass sich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft voneinander unterscheiden, weil sie einem sozialen Wandel unterliegen, setzt ein historisches Bewusstsein voraus, das selbst Resultat einer geschichtlichen Entwicklung ist. Dies macht die Geschichtlichkeit der Langzeitverantwortung aus. Wie im zweiten und siebten Kapitel dargestellt wurde, ist die Vorstellung einer historischen Veränderung, in der sich der Erwartungshorizont vom Erfahrungsraum bisheriger Geschichte abkoppelt, erst
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um die Mitte des 18. Jahrhunderts mit dem Beginn der Geschichtsphilosophie entstanden. Wenn sich die Geschichte nicht wiederholt und für die Zukunft etwas Neues erwarten lässt, können aus der Vergangenheit keine »Lehren« fur zukünftiges Handeln gezogen werden. Diese Entdeckung wurde im Historismus des 19. Jahrhunderts noch radikalisiert, indem nicht nur kontinuierliche »Fortschritte« auf wissenschaftlichen, technischen und wirtschaftlichen Gebieten angenommen wurden, sondern auch ein kultureller Wandel, der das Wertesystem von Gesellschaften erfasst.22 Demnach verbietet es sich, die aufeinander folgenden Epochen nach einem einheitlichen Maßstab zu beurteilen. Überträgt man diese Erkenntnis auf die Zukunft, reicht es nicht aus, die gegenwärtige Entwicklung der wissenschaftlich-technischen Zivilisation in die Zukunft zu projizieren und dabei allenfalls prognostische Schwierigkeiten zuzugestehen. Für die ethische Urteilsfindung ist vielmehr der Umstand entscheidend, dass sich vor allem auch die Wertmaßstäbe der zukünftig Lebenden verändern werden. Was in der modernen Geschichtswissenschaft oder in der historischen Soziologie zum Standard gehört, erweist sich jedoch in der Zukunftsethik als nicht so selbstverständlich und findet dort erst in jüngster Zeit Eingang. Utilitaristische Zukunftsethiken schreiben im Grunde die Fortschrittsidee der Aufklärung fort, indem sie unterstellen, dass zukünftige Generationen zwar neue und heute schwer vorhersehbare Technologien entwickeln, aber letztlich gleich bleibende Bedürfnisse und Interessen haben werden, so dass sich jederzeit eine Nutzensumme von Gütern und Glücksansprüchen berechnen lasse. Dagegen sind Zweifel angebracht vor dem Hintergrund der Einsicht, dass die Idee des guten Lebens einen genuin zeitlichen Sinn hat und von historischen Brüchen beeinflusst wird.23 Dieser Überzeugung schließen sich inzwischen auch Utilitaristen an, indem sie die prognostische Unsicherheit der Technikfolgeabschätzung nun auch durch die Ungewissheit über die in Zukunft
22 Insbesondere Ernst Troeltsch, Der Historismus und seine Probleme. Erstes (einziges) Buch: Das logische Problem der Geschichtsphilosophie, 2. Neudruck der Ausgabe Tübingen 1922, Aalen 1977,164 ff. 23 Kritisch zu Birnbacher Vossenkuhl, Heute und morgen gut?, a.a.O. (Anm. 19), 49.
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veränderten Zielvorstellungen ergänzen. Demnach ist zu erwarten, dass sich auch die Kultur als »Wertegemeinschaft« fortentwickeln wird, die in späteren Zeiten jeweils neue Optionen ermöglicht.24 Wenn dabei von einer »offenen Zukunft« die Rede ist, drückt sich darin das seit dem Historismus standardisierte Geschichtsbewusstsein aus. Es lässt sich sogar zeigen, dass in einer derart flexiblen Zukunftserwartung bestimmte Geschichtsbilder im Hintergrund wirksam sind. Denn fragt man, was Langzeitverantwortung konkret heißen mag, fließen mitunter Deutungsmuster über den generellen Verlauf der Geschichte ein.25 So stellt sich die grundsätzliche Frage, ob wir wollen, dass es zukünftigen Generationen besser gehen soll; oder ob wir es fur ausreichend halten, dass angesichts drohender Klimakatastrophe und knapper Energieressourcen die erworbene Lebensqualität bestehen bleibt; oder ob wir notgedrungen in Kauf nehmen, dass sich die Lebensbedingungen langfristig verschlechtern, wenn sich der unvermeidbare Schaden nur in vertretbaren Grenzen hält. Unschwer erkennt man in diesen Optionen die drei Verlaufsformen Fortschritt, Stagnation und Verfall. Die Fortschrittsidee schwingt im Utilitarismus mit, wenn eine Steigerung der Zivilisation angenommen und dann auch noch zugunsten zukünftiger Generationen zur Pflicht gemacht wird. Das Denkmuster der Stagnation schleicht sich ein, wenn etwa Jonas den Utopismus verurteilt und dazu aufruft, die gegenwärtige Natur und Kultur zumindest zu bewahren. Das Verfallsszenario kommt in aktuellen Zukunftsethiken ins Spiel, wenn offen darüber debattiert wird, ob eine Verschlechterung der Lebensbedingungen moralisch gerechtfertigt werden kann, wenn die natürlichen, technischen und organisatorischen Mittel erhalten bleiben, die es einer zukünftigen Generation ermöglichen, ihr kulturelles Niveau aus eigener Anstrengung wieder zu verbessern.
24 Bimbacher, Schicha, Vorsorge statt Nachhaltigkeit, a.a.O. (Anm. 19), 19 f., 24; Leist, Ökologische Gerechtigkeit, a.a.O. (Anm. 9), 470 f.; Sturma, Die Gegenwart der Langzeitverantwortung, a.a.O. (Anm. 10), 230. 25 Sturma, Die Gegenwart der Langzeitverantwortung, a.a.O. (Anm. 10), 230; Birnbacher, Schicha, Vorsorge statt Nachhaltigkeit, a.a.O. (Anm. 19), 24; Andrea Heubach, Generationengerechtigkeit - Herausforderung fiir die zeitgenössische Ethik, Göttingen 2008, 42 f.
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Doch ist in diesen Debatten ein gemeinsamer Grundsatz erkennbar, der sich dem geschärften Geschichtsbewusstsein verdankt. Wenn von der prinzipiellen Offenheit des Geschichtsverlaufs auszugehen ist, folgt daraus für die Zukunftsethik, dass nicht primär für bestimmte Güter vorgesorgt wird, weil man ja nicht wissen kann, ob diese von den zukünftigen Generationen geschätzt werden. Vielmehr ist es geboten, die Bedingungen der Möglichkeit zu schaffen, dass verschiedenartige Güter zur Verfügung stehen.26 Ebenso wenig geht es um die Sorge für festgelegte Interessen später lebender Personen, sondern um die Entwicklung und Erhaltung von zumutbaren ökonomischen, sozialen und kulturellen Bedingungen für ein menschenwürdiges Leben. Ziel ist es, den Möglichkeitshorizont offen zu halten, indem Handlungsspielräume zur Verwirklichung je eigener Lebensentwürfe erhalten oder geschaffen werden. In diesem Kontext mutiert die »Offenheit der Geschichte« zu einer ethischen Kategorie. Die historische Erfahrung, dass es in modernen Gesellschaften einen steten und beschleunigten Wandel gegeben hat, und die daraus ableitbare Erwartung, dass dieser Wandel auch in Zukunft eintreten wird, legt das praktische Verhalten nahe, diesen Wandel aktiv zu unterstützen. In diesem Licht mag der Utilitarismus »autoritär« anmuten, weil er das Glück der in Zukunft lebenden Menschen vorsorglich festschreibt. Wie so häufig droht die gut gemeinte Absicht in Bevormundung umzuschlagen. Im Gegenzug folgt aus dem historischen Bewusstsein das moralische Gebot, den zukünftigen Generationen eine Veränderung ihrer Lebensweise nicht nur zuzugestehen, sondern auch durch gezielte Maßnahmen freizustellen. Die Ermöglichung des kulturellen Wandels wird zur moralischen Pflicht, die das Selbstbestimmungsrecht einer jeden Generation anerkennt.27 So sollen wir beispielsweise nicht nur
26 Birnbacher, Schicha, Vorsorge statt Nachhaltigkeit, a.a.O. (Anm. 19), 19 f., 23; Sturma, Die Gegenwart der Langzeitverantwortung, a.a.O. (Anm. 10), 230; Hubig, Langzeitverantwortung im Lichte provisorischer Moral, a.a.O. (Anm. 8), 309 f.; Leist, Ökologische Gerechtigkeit, a.a.O. (Anm. 9), 471; Caspar, Generationen-Gerechtigkeit und moderner Rechtsstaat, a.a.O. (Anm. 13), 100. 27 Siehe die Beispiele zur Französischen Revolution bei Ohad Parnés, Ulrike Veder und Stefan Willer, Das Konzept der Generation. Eine Wissenschafts- und Kulturgeschichte, Frankfurt a. M. 2008, 97 f.
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bestimmte Verkehrssysteme hinterlassen, sondern auch die Freiheit, bestimmte Systeme wieder rückgängig zu machen oder zu verändern wie überhaupt den Wert Mobilität neu zu definieren. Geschichtsphilosophisch formuliert, besteht die so ermöglichte Freiheit darin, generell den zivilisatorischen »Fortschritt« selbst zu bestimmen, indem auch zur Disposition steht, ob sich eine Generation auf einem bescheideneren Niveau andere Vorteile der Umwelt und sozialen Gerechtigkeit verschaffen kann. Die Geschichtsbilder fungieren wie Hintergrundmetaphern, deren theoriebildender Einfluss nicht zu unterschätzen ist. Implizit bleiben auch die Bezugnahmen auf geschichtsphilosophische Positionen. Die Wende zum Historismus kommt im Grundsatz der Gegenwart der Fernverantwortung zum Vorschein. Das gilt auch vom Prinzip der Offenheit, das ohne eine radikale Historisierung der Geschichte nicht denkbar ist. Doch von der klassischen Geschichtsphilosophie stammt die generelle Orientierung auf die Zukunft wie auch der ethische Anspruch. In diesem Sinn enthält eine reflexive Zukunftsethik eine historistisch ergänzte Geschichtsphilosophie oder einen um die Zukunftsperspektive erweiterten Historismus.
Das historische Dilemma der Zukunftsethik Abschließend gelange ich zum zweiten Schritt meines systematischen Begründungsversuchs und nenne einige Modelle, die ich dafür geeignet halte, eine Verbindungslinie von der Gegenwart zur Zukunft zu ziehen. Um die Funktion zu präzisieren, ist es hilfreich, das spezifisch historische Dilemma der Langzeitverantwortung unter diesem Gesichtspunkt noch einmal zuzuspitzen. Denn es zeigte sich, dass die bisherigen Zukunftsethiken von der temporalen und historischen Dimension und damit von konkreten sozialen Beziehungen zwischen den Generationen zum großen Teil absehen. Der Kompensation dieser Abstraktion dienen fiktive Konstruktionen, die das Verhältnis der gegenwärtigen zu den zukünftig lebenden Menschen kalkulierbar machen sollen.
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Die utilitaristische Variante besteht darin, bestimmte Interessen und Rechte der »fernen« Generationen zu unterstellen, die von den heute existierenden Personen »stellvertretend« wahrgenommen werden, um eine intergenerationelle »Nutzensumme« aufzustellen.28 Wie in der traditionellen Ethik die Interessen von Kindern und geistig Behinderten vertreten werden sollen, fungiert in der Zukunftsethik im Fall der noch nicht Geborenen das Modell der Stellvertretung. Die diskurstheoretische Variante konstruiert ihrerseits einen fiktiven Dialog zwischen den gegenwärtig lebenden und zukünftig zu erwartenden Menschen. So wird die Verbindung zur zukünftigen Menschheit durch »Antizipation einer unbefristeten Diskursgemeinschaft« hergestellt.29 Die größte Verbreitung hat in dieser Hinsicht der »Generationenvertrag« nach dem Vorbild von Rawls' Gerechtigkeitstheorie. Die Metapher »Schleier des Unwissens« wird so modifiziert, dass sie das Unwissen über die zeitliche Abstammung der Beteiligten einschließt. In diesem Fall sehen wir uns mit der »gleichzeitigen Versammlung aller nur denkbaren Generationen« konfrontiert.30 Die Stärke derartiger Konstruktionen liegt zweifellos in ihrem universellen Geltungsanspruch, der es erlaubt, das Prinzip Verantwortung auf die entferntesten Generationen auszudehnen. Doch die Grenzen kommen in der mangelnden Motivation zum Ausdruck, wodurch sich die Fernpflicht zum schwachen Appell verflüchtigt. Eine Alternative stellt der Kommunitarismus dar, deren Vertreter sowohl den abstrakten Utilitarismus als auch den hypothetischen Kontraktualismus kritisieren. Dagegen bieten sie die konkreten Beziehungen zwischen den drei miteinander lebenden Generationen auf, die bereits Elemente einer Zukunftsverantwortung enthalten. Eltern haben ein elementares Interesse an ihren Kindern, für die sie sorgen müssen.
28 Birnbacher, Verantwortung für zukünftige Generationen, a.a.O. (Anm. 7), 101 ff.; vgl. Klaus Kornwachs, Das Prinzip der Bedingungserhaltung. Eine ethische Studie, Münster 2000, 63 f. 29 Gethmann, Langzeitverantwortung als ethisches Problem im Umweltstaat, a.a.O. (Anm. 8), 12. 30 Caspar, Generationen-Gerechtigkeit und moderner Rechtsstaat, a.a.O. (Anm. 13), 96; siehe John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt a.M. 1979, 319 ff.
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Das Prinzip einer solchen Ethik ist die familiäre Fürsorge.31 Der unbestrittene Vorteil dieser Verantwortung für die nahen Verwandten besteht, wie angedeutet, im praktisch erfahrenen, empfundenen und motivierenden Lebenszusammenhang. Aber zugleich macht sich die zeitliche Grenze der drei Generationen bemerkbar, die auf der schmalen moralischen Basis der Elternsorge nicht überschritten werden kann. An diesem neuralgischen Punkt stellt sich erneut die Frage, wie die praktische Lebenswelt der nahen Zukünftigen auf die fernen Zukünftigen übertragen werden kann. Im Rahmen des Konstruktivismus wird vorgeschlagen, die Verantwortung für die nahen Zukünftigen wenigstens zum Ausgangspunkt für die Begründung der Langzeitverantwortung zu wählen, um die Nahverpflichtung in die ferne Zukunft erweitern zu können.32 Zwar ist es ethisch nicht gerechtfertigt, zukünftige Güter und Interessen zu »diskontieren«, aber daraus folgt nicht, dass es zwischen Nah- und Fernpflicht überhaupt keinen Unterschied gibt. Es ist ja nicht gleichgültig, ob Eltern für ihre eigenen Kinder sorgen oder ob sie sich für das Wohl einer beliebig späteren Generation Sorgen machen sollen. Um diesen lebensweltlichen Unterschied abzubilden, ohne in die Falle der Diskontierung zu laufen, wird der Begriff der Graduierung aufgeboten, der den Universalismus vermeidet und zugleich an der Langzeitverantwortung festhält. Unter dieser Voraussetzung kommt es darauf an, die Fernpflicht aus der Nahpflicht zu konstruieren, indem man aus der Erfahrung mit der nahen Zukunft eine moralische Verhaltensweise für die ferne Zukunft ableitet. Ziel ist es, nach dem Modell der Fürsorge eine konkrete Beziehung zwischen den nahen und entfernt gedachten Generationen vorzustellen. Das konstruktivistische Verfahren enthält jedoch einen Widerspruch, der darin besteht, dass ein Modell der Fürsorge zugrunde
31 Jonas, Das Prinzip Verantwortung, a.a.O. (Anm. 3), 197 f.; Leist, Ökologische Gerechtigkeit, a.a.O. (Anm. 9), 459 f.; Caspar, GenerationenGerechtigkeit und moderner Rechtsstaat, a.a.O. (Anm. 13), 92 f. 32 Gethmann, Langzeitverantwortung als ethisches Problem im Umweltstaat, a.a.O. (Anm. 8), 11, 15; Gethmann, Kamp, Gradierung und Diskontierung, a.a.O. (Anm. 17), 145, 149; vgl. Sturma, Die Gegenwart der Langzeitverantwortung, a.a.O. (Anm. 10), 235; kritisch dazu Hubig, Langzeitverantwortung im Lichte provisorischer Moral, a.a.O. (Anm. 8), 300.
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gelegt wird, das es ja gerade zu überwinden gilt. Wenn die Elternsorge auf drei Generationen begrenzt bleibt, ist es erforderlich, ein anderes Modell zu finden, das es erlaubt, trotz historischer Brüche Kontinuitäten zwischen den nahen und mittleren Zeiten der Verantwortung herzustellen. Gesucht wird nach einem Modell, das zwar nicht so lebensnah sein kann und darf wie das Sorgemodell, aber doch konkreter ist als die Denkmuster der unbefristeten Diskursgemeinschaft, der intergenerationellen Nutzenbilanzierung oder des generationenübergreifenden Vertrags. Zur Überwindung dieses Dilemmas schlage ich ein Modell vor, das aus dem Bereich der Geschichte stammt: das Modell der Erbschaft in der Generationenfolge.
Modelle der Langzeitverantwortung: Generationenfolge und Erbschaft Um das Modell der Erbschaft einzuführen, erläutere ich zunächst das der Generationenfolge. Dazu ist der Begriff der Generation zu klären, der folgende Arten von Vermittlung leistet: zwischen 1. Natur und Kultur, 2. Individuum und Menschheit, 3. Synchronie und Diachronie und zwischen 4. kurzer und langer Dauer. Wenn man nicht bei der biologischen Vererbung stehen bleiben will, ist das Vermächtnis einer jeden Generation als kulturelles Erbe zu fassen. Nicht zuletzt soll das Modell der Erbschaft in der Generationenfolge zur Motivation der Langzeitverantwortung beitragen. Generationenfolge Überträgt man die Frage nach dem »Subjekt« der Geschichte auf das Gebiet der Zukunftsethik, stehen drei Kandidaten zur Verfügung: Gattung, Generation und Person. In den Anfangen der Zukunftsethik wurde die Verantwortung fur die »künftige Menschheit« postuliert bzw. der Fortexistenz der menschlichen »Gattung« ein hoher Wert zugeschrieben, so wie deren befürchtete Vernichtung als eine zu verhindernde moralische Katastrophe galt.33 Von diesem Pathos ist in späte33 Jonas, Das Prinzip Verantwortung, a.a.O., (Anm. 3), 86, 245; Birnbacher,
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ren Ethiken der Zukunft nichts mehr zu spüren. Wie selbstverständlich spricht man stattdessen von »Generationen«, die als gleichzeitig lebende oder zeitlich aufeinander folgende Altersgruppen definiert werden.34 Dagegen richtet sich eine Kritik, die dem Generationenbegriff eine soziale und ethische Bedeutung pauschal aberkennt und an dessen Stelle den Begriff der Person als einziges Subjekt und Adressaten von Verantwortung setzt.35 Trotzdem halte ich es fur sinnvoll, den Begriff der Generation zur Vermittlung von Nah- und Fernverantwortung zu verwenden, ohne damit ein neues Handlungssubjekt unterstellen zu wollen. Doch ist zu berücksichtigen, dass Personen in sozialen Zusammenhängen agieren und kollektiv verantwortlich gemacht werden können. Unter dieser Voraussetzung versuche ich, den Begriff der Generation in eine geschichtsphilosophische Kategorie mit den genannten vier Aspekten umzuformulieren. Erstens vermittelt der Generationenbegriff, wie sich im vierten Kapitel zeigte, die beiden Seiten Natur und Kultur.36 Denn das Wort generatio bedeutet Zeugung im Sinne der natürlichen Reproduktion der Geschlechter. Setzt man für eine Generation dreißig Jahre an, beträgt fur Erwachsene die Dauer der Nahpflicht ungefähr fünfzig Jahre - eine biologisch bemessene Zeitspanne, die philosophisch noch unterbestimmt bleibt. Zugleich hat der Begriff der Generation eine kulturelle Bedeutung, wie die Generationenforschung der Geschichtswissenschaft belegt, in der beispielsweise die Kriegsgeneration, 68er-Generation usw. zu den aktuellen Themen gehören.37 In unserem Kontext knüpft sich daran die Erwartung, dass der dabei verwendete Kulturbegriff, wie vage er auch erscheinen mag, zur Vermittlung von familiärer Sorge und Langzeitverantwortung beitragen könnte. Zweitens hat der Generationenbegriff den Vorzug, dass er zwischen den Ideen der Menschheit und des Individuums auf einer mittleren Ebene angesiedelt ist. Er vermeidet den Rückgriff auf das GroßVerantwortung für zukünftige Generationen, a.a.O. (Anm. 7), 102. 34 Heubach, Generationengerechtigkeit, a.a.O. (Anm. 25), 28 ff. 35 Sturma, Die Gegenwart der Langzeitverantwortung, a.a.O. (Anm. 10), 226. 36 Sigrid Weigel, Genea-Logik. Generation, Tradition und Evolution zwischen Kultur- und Naturwissenschaft, Paderborn 2006, 9, 109; Pames u.a., Das Konzept der Generation, a.a.O. (Anm. 27), 11. 37 Ulrike Jureit, Generationenforschung, Göttingen 2006.
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subjekt menschliche Gattung, das in der Geschichtsphilosophie der Aufklärung bis Hegel maßgebend war und schon vom Historismus zu Recht verabschiedet wurde. Nachdem sich auch in der Zukunftsethik das Referenzsubjekt »Gattung« als überdimensioniert herausstellte, verspricht der Generationenbegriff überschaubare und vielfaltige Populationen. Auch in diesem Fall handelt es sich um Referenzsubjekte,38 die dadurch definiert sind, dass ihnen historische Ereignisse widerfahren. Mit Blick auf die Zukunft ist hier zum Beispiel zu befürchten, dass bestimmte Umweltschäden das Leben abgegrenzter Generationen auf unterschiedliche Weise beeinträchtigen. Der Generationenbegriff kann hier eine kritische Funktion ausüben, weil er die vermeintlich gleichmäßige Betroffenheit »aller« Menschen in Frage stellt. Die beiden Aspekte verweisen drittens auf die sowohl synchrone als auch diachrone Dimension des Generationenbegriffs.39 In der Soziologie ist dieser Begriff prominent geworden, indem er altersspezifische Gruppen beschreibt, die gemeinsame Einstellungen und Lebensstile teilen.40 Generation bedeutet hier eine Erlebnis- und Erfahrungsgemeinschaft in sozialer Gleichzeitigkeit. Gegenüber dieser soziologischen Dominanz tritt der historische Aspekt in den Hintergrund.41 Denn Generation bedeutet ebenso die zeitliche Abfolge sozialer Kollektive, die man als Kulturgeschichte verstehen kann. Das entsprechende Modell ist das kulturelle Erbe,42 das sich auch für die Zukunftsethik eignet. 38 Zum Unterschied zwischen Handlungssubjekt und Referenzsubjekt in der Geschichte siehe Hermann Lübbe, Geschichtsbegriff und Geschichtsinteresse. Analytik und Pragmatik der Historie, Basel, Stuttgart 1977, 122 f.; vgl. Johannes Rohbeck, Technik - Kultur - Geschichte. Eine Rehabilitierung der Geschichtsphilosophie, Frankfurt a. M. 2000, 174. 39 Weigel, Genea-Logik, a.a.O. (Anm. 36), 108; Parnés u.a., Das Konzept der Generation, a.a.O. (Anm. 27), 10 f.; in diesem Zusammenhang ist auch von einem temporalen und intertemporalen Generationenbegriff die Rede: Heubach, Generationengerechtigkeit, a.a.O. (Anm. 25), 29. 40 Karl Mannheim, Das Problem der Generation, in: ders., Wissenssoziologie. Auswahl aus dem Werk, eingel. und hg. von Kurt H. Wolf, Berlin, Neuwied 1964, 509-565. 41 Wilhelm Dilthey, Über das Studium der Wissenschaft vom Menschen, der Gesellschaft und dem Staat, in: Gesammelte Schriften, Bd. 5, Stuttgart 1964, 35 f. 42 Weigel, Genea-Logik, a.a.O. (Anm. 36), 62.
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Im Anschluss daran vermittelt der Generationenbegriff viertens zwischen der kurzen und langen Dauer der Geschichte. Die Kategorie der Generation garantiert nicht nur soziologisch begrenzte Akteure, sondern in der Zeitenfolge auch historisch mittlere Sequenzen. Diese Dimensionierung entspricht den formulierten Grundsätzen, ausgehend von der Gegenwart in planbaren und vorhersehbaren Fristen zu agieren und darüber hinaus nach jeder Generation die Ziele jeweils neu bestimmen zu lassen. Wenn gefordert wird, vor allem die Bedingungen fur alternative und frei wählbare Möglichkeiten zu schaffen, ist diese Chance einer Neubestimmung den nachfolgenden Generationen freizustellen. Das Recht zur demokratischen Selbstbestimmung einer jeden Generation setzt das historische Denken in Kategorien der biologisch und kulturell bestimmten Generation voraus. Auf diese Weise kann der Begriff der Generation dazu beitragen, zwischen Nah- und Fernverantwortung zu vermitteln. Die aufeinander folgenden Generationen sind auch als eine »Kette der Lebewesen« zu betrachten, die im 18. Jahrhundert, so das vierte Kapitel, historisiert und in die Zukunft projiziert wurde. Der Sinn bestand darin, ein Gefühl der Solidarität zwischen den Generationen zu erzeugen mit der Aufforderung, am Wohl zukünftig lebender Menschen mitzuwirken. Im Historismus wurde die Generationenkette in die Vergangenheit verlegt, um aus dem so gewonnenen Geschichtsbewusstsein Orientierung für die damalige Gegenwart zu schöpfen. Eine so gewonnene historische Identität lässt sich auch auf die »Kette« der zukünftigen Generationen übertragen. Wie wir dazu aufgerufen werden, eine historisch begründete Haltung zu Europa zu entwickeln, so scheint es sinnvoll zu sein, ein solches Identitätsbewusstsein auch bei Themen der Zukunftsethik zu fördern. Angesichts der Anonymität der Zukünftigen bedarf es einer Reflexion der eigenen historischen Position in der Kette der Generationen und eines generationenübergreifenden Bewusstseins. Freilich reicht es nicht aus, sozusagen auf den Selbstlauf dieser »Kette« zu setzen, indem man darauf vertraut, dass sich die unmittelbare Vorsorge der Eltern für ihre Kinder auf diese überträgt, die dann ihrerseits für ihre Kinder sorgen, so wie die Eltern für sie vorgesorgt
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haben.43 Das Kalkül soll hier darin bestehen, dass, wenn die gegenwärtige Generation für die eigenen Kinder Vorsorge, es den Urenkeln möglicherweise besser gehe als mit moralischen Appellen zur Verantwortung für fern stehende Generationen. Aber mit dieser Begründung wird die Zukunftsethik wieder auf das ursprüngliche Modell der Elternsorge reduziert, als ob das Problem der Erweiterung dieses Modells gar nicht bestünde. Wie sehr es zu begrüßen ist, die Ethik der Zukunft auf ein lebensweltliches Maß zu bringen, so bedarf es eines weiter führenden Modells, das die Langzeitverantwortung mittlerer Reichweite zu begründen hilft. Diese Anforderung erfüllt das Modell der kulturellen Erbschaft. Erbschaft Fragt man nach der Art der »Verkettung« zwischen den Generationen, ist über die biologische Linie hinaus die Generationenfolge als eine Tradierung von Kultur zu verstehen. Dazu halte ich den Begriff des kulturellen Erbes für geeignet.44 Das Modell der Erbschaft vermag die gesuchte Vermittlung zwischen den Generationen zu leisten, weil es die engen Grenzen der familiären Fürsorge überwindet und zugleich wesentlich konkreter ist als die Konstruktion universalistischer Theorien. Außerdem vermittelt der Erbschaftsbegriff zwischen Natur und Kultur, indem er sowohl an die biologische Vererbung anschließt als auch und vor allem die kulturelle Überlieferung abdeckt. Er bezieht sich zunächst auf die juristisch geregelte Erbschaft materieller Vermögen, dann auch auf kulturelle Vermächtnisse. Im Kontext der Zukunftsethik lässt er sich auf die kulturell überformten natürlichen Lebensbedingen ausdehnen: Wir »vererben« auch Kulturlandschaften einschließlich ihrer natürlichen Ressourcen. Erbe bedeutet zunächst Weitergabe durch den Erblasser im Sinne von Tradierung, zugleich Fortführung, Vermehrung oder Veränderung durch den Erben. Turgot betrachtet die Kenntnisse der Menschen als
43 Im Anschluss an Passmore so Birnbacher, Langzeitverantwortung, a.a.O. (Anm. 11), 32 f. 44 Siehe die Ausführungen zum Begriff des kollektiven Erbes bei Lukas H. Meyer, Historische Gerechtigkeit, Berlin, New York 2005, 135 ff.
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einen Schatz, »den eine Generation an die nächste weitergibt wie eine Erbschaft, die um die Entdeckungen jedes Jahrhunderts erweitert wird«.45 Indem das Erbe zwischen Erblasser und Erben eine eigene Realität bildet, ermöglicht es einen flexiblen Gebrauch.46 Es determiniert nicht seine zukünftige Verwendung, sondern stellt es dem Erben frei, wie er von ihm Gebrauch machen will. In diesem Sinn stellt das Erbe die Bedingungen von Handlungsmöglichkeit dar. Es ist mit dem geforderten »offenen« Charakter des Geschichtsprozesses vereinbar, indem es das Selbstbestimmungsrecht einer jeden Generation respektiert. Die Grundidee meines Vorschlags, den Begriff der Erbschaft zur Begründung der Langzeitverantwortung heranzuziehen, besteht darin, das Thema positiv zu besetzen und dadurch mehr Motivation zu schaffen. Wenn ständig an die Zeitgenossen appelliert wird, drohende Katastrophen zu verhindern und die Menschheit zu retten, mag das zwar gut gemeint sein, aber besonders motivierend wirken solche Imperative nicht. Setzt man stattdessen die Erbschaft als Leitidee ein, lässt sich das Motiv verstärken, dass die Menschen die Errungenschaften ihrer Kultur an die späteren Generationen überliefern wollen. Wer die Malerei eines Caspar David Friedrich schätzt, legt Wert darauf, dass dessen Gemälde gut konserviert werden und auch noch von zukünftigen Generationen betrachtet werden können.47 Das Modell der Erbschaft geht sogar über einen solchen Wunsch hinaus, weil es auch die Art und Weise der Tradierung zu strukturieren erlaubt. Dabei spielt nicht nur das Anliegen des Erblassers, sondern auch das antizipierte Verhalten des Erbenden eine Rolle. Auch in diesem Fall knüpft das Modell an die lebensweltliche Praxis des Vererbens an und weist zugleich über die drei Generationen hinaus. Ferner kommt das anthropologisch fundierte Motiv ins Spiel, die eigene Person zu transzendieren und damit den individuellen Tod zu überschreiten, um im kulturellen Erbe virtuell fortzuleben. Die Menschen wehren sich gegen das Vergessenwerden und versuchen, sich 45 Anne Robert Jacques Turgot, Über die Fortschritte des menschlichen Geistes, hg. von Johannes Rohbeck und Lieselotte Steinbrügge, Frankfurt a. M. 1990,140. 46 Zum flexiblen Gebrauch technischer Gegenstände und Systeme siehe Rohbeck, Technik - Kultur - Geschichte, a.a.O. (Anm. 38), 118 ff. 47 Bimbacher, Langzeitverantwortung, a.a.O. (Anm. 11), 33 f.
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ZEIT-RÄUME DER GESCHICHTE
mit Hilfe ihrer Erbschaft als eines symbolischen Kapitals das Gedenken zukünftiger Generationen zu sichern.48 Auf diese symbolische Weise scheint die Asymmetrie der Langzeitverantwortung überwindbar, da man sich nun auch von den später Lebenden eine Gegenleistung verspricht. Es entsteht das Bild eines wechselseitigen Verhältnisses von praktischer Fernpflicht und erwarteter Gedenkpflicht. Die Erwartung des guten Gedenkens ist eine antizipierte Erinnerung, welche die zeitliche Struktur des Zweiten Futurs hat. Was im siebten Kapitel im Kontext »zukünftiger Vergangenheit« kritisch kommentiert wurde, soll an dieser Stelle konstruktiv gewendet werden. Nachdem zukünftige Generationen bestimmte Folgen unseres gegenwärtigen Handelns zu spüren bekommen haben, werden wir dafür nicht nur verantwortlich sein, sondern sehr wahrscheinlich auch rückwirkend dafür verantwortlich gemacht werden. Demnach ist eine Person fernverantwortlich, weil sie sich in der Zukunft retrospektiv zu verantworten hat fur Leistungen und Fehler, welche in der Gegenwart entstanden sind. Wer Verantwortung im zukunfitsbezogenen Sinn übernimmt, erklärt sich bereit, zu einem zeitlich späteren Zeitpunkt Rechenschaft abzulegen und sich dafür zur Verantwortung im vergangenheitsorientierten Sinn ziehen zu lassen.49 Die prospektive Verantwortung wird also aus einer retrospektiven Sichtweise abgeleitet, die eine Antizipation der Zukunft voraussetzt. Ich bezeichne diese Zeitstruktur als prospektive Retrospektivität der Langzeitverantwortung. Daraus könnte der Wunsch hervorgehen, dass man nicht nur für sein Fehlverhalten zur Rechenschaft gezogen wird, sondern für eine gelungene Vorsorge in guter Erinnerung bleibt. Formuliert man diesen Zusammenhang in Kategorien eines in die Zukunft übertragenen Erinnerungsdiskurses, lässt sich von einer möglichen Schuld gegenüber den Opfern der Zukunft sprechen, so wie die zukünftig Lebenden uns Dank schulden, sofern wir hinsichtlich ihrer Lebensbedingungen nicht schuldig geworden sind. Das Modell des konkreten Erbes, das von
48 Zum Begriff des symbolischen Kapitals siehe Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede, Frankfurt a. M. 1997, 115 ff. 49 Hubig, Langzeitverantwortung im Lichte provisorischer Moral, a.a.O. (Anm. 8), 297; Birnbacher, Langzeitverantwortung, a.a.O. (Anm. 11), 23.
GESCHICHTSPHILOSOPHIE UND ZUKUNFTSETHIK
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einer Generation zur anderen weitergegeben wird, könnte dieser Denkfigur mehr Realismus verschaffen. Mit der Denkfigur Erinnerung an die Zukunft verweise ich wieder auf die vorausgegangene zeit- und geschichtstheoretische Begründung der Langzeitverantwortung. Ich hoffe damit demonstriert zu haben, dass die Philosophie der Zukunft fähig ist, die Zukunftsethik theoretisch anzureichern. Die wichtigsten Theoreme bestanden im Gegenwartsbezug der Fernverantwortung mit einer entsprechenden Begrenzung der Reichweite moralischer Verpflichtungen, in der Einsicht in die Geschichtlichkeit der Gegenwart und Zukunft sowie in der prospektiven Retrospektivität der Langzeitverantwortung. Das hatte zur praktischen Folge, dass die Beziehung zwischen gegenwärtigen und zukünftigen Generationen ansatzweise symmetrisch gedacht wird in der Weise, dass beim späteren Umgang mit der tradierten Kultur frei wählbare und alternative Optionen mitgedacht werden. Die Erbschaft in der Generationenfolge ist ein Modell dafür, dass nicht nur das Deutungsmuster der familiären Vorsorge überschritten werden kann, ohne zu abstrakten Adressaten Zuflucht nehmen zu müssen, sondern dass auch die Vererbung kultureller Güter als kontingenter und wechselseitiger Handlungszusammenhang vorstellbar wird. Wie die Ethik durch die geschichtsphilosophische Reflexion einen historischen Charakter erhält, so wird die Philosophie der Geschichte durch die Ethik ergänzt. Dabei hat sich gezeigt, dass sowohl die Zukunftsorientierung als auch die ethische Dimension seit der Aufklärung zur Geschichtsphilosophie gehören und dass es daher gute Gründe gibt, an die Philosophie dieser Epoche anzuknüpfen. Ziel ist es, die Geschichtsphilosophie aus dem Bann der geschichtstheoretischen Methodologie zu lösen und in den Kontext der praktischen Philosophie zu stellen.
Personenverzeichnis
Adomo, Theodor W. 27,33 f., 215 d'Alembert, Jean le Rond 48 Aron, Raymond 212 Bayle, Pierre 45 f., Benjamin, Walter 22,208 Bentham, Jeremy 220 Birnbacher, Dieter 221 Bloch, Ernst 215,227 Blumenbach, Johann Friedrich 135 Bossuet, Jacques Bénigne 54, 59 ff., 65,68, 71 ff., 76, 79, 103,114,120 f. Boulanger, Antoine 132 Büchner, Ludwig 153 Buffon, Georges Louis Leclerc Comte de 129 f., 133 Burnett, James 129 f. Chladenius, Johann Martin 189 f., 199 Comte, Auguste 98 Condillac, Etienne Bonnot 47 f. Condorcet, Marie-JeanAntoine-Nicolas Caritat Marquis de 16 f., 54,56 ff., 76, 89 f., 93 ff., 99,103, 110,122,129, 135, 189
Darwin, Charles 133,139, 153 f. Derrida, Jacques 207 f. Descartes, René 45, 107 f. Diderot, Denis 47 f., 55 f., 83 ff., 99,103,115, 178 Droysen, Johann Gustav 123, 228 Ferguson, Adam 47, 122, 134 Fontenelle, Bernhard Le Bovierde 126,132 f. Foucault, Michel 34 Fréret, Nicolas 55 f., 58,65 ff., 68, 70, 72 f., 76, 99,103 Freud, Sigmund 114, 216 Gehlen, Arnold 151 Goguet, Antoine-Yves 56, 68 ff., 71 ff., 103, 107 f. Grotius, Hugo 45 Habermas, Jürgen 35, 118 Haeckel, Ernst 153 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 18,104 f., 117, 123,136 f., 139,155, 179, 191 f., 198,220 Helvétius, Claude-Adrien 39 Herder, Johann Gottfried 42,47
246 Hobbes, Thomas 45, 82,105 d'Holbach, Paul Henri Dietrich Thiry 39 Home, Henry 129 Hume, David 42,47 Husserl, Edmund 198 Horkheimer, Max 27, 33 f. Jonas, Hans 221, 224 f., 227, 231 Kant, Immanuel 30,42,44, 46, 98, 104 f., 107, 111, 122, 130 f., 135 f., 154, 190, 198 f., 219,227 Koselleck, Reinhart 21,118, 188, 195,199,203, 206 ff., 212, 228 Lafitau, Joseph François 62 ff., 65, 77, 99 Lahontan, Louis-Armand de 62 Lamarck, Jean-Baptiste 133, 139 La Mettrie, Julien Offray de 41 Leibnitz, Gottfried Wilhelm 43 Locke, John 29,45,48,82,108 Lorenz, Chris 21 Löwith, Karl 120 Lübbe, Hermann 21,193, 212 Luhmann, Niklas 158,160,198 Lyotard, Jean-François 35 Marquard, Odo 193 Marx, Karl 18,98,179 f., 192, 198, 204,227
PERSONENVERZEICHNIS
Mandeville, Bernard 46 McTaggart, John und Ellis 195, 198 f., 203, 228 Mill, John Stuart 220 Montesquieu, Charles-Louis de 42,48, 55, 77 f., 84, 110 Newton, Isaac 28 f., 45,108 Nietzsche, Friedrich Wilhelm 22, 208 Rawls, John 234 Raynal, Guillaume 55 f., 83 ff., 99, 103,115,178 Ricoeur, Paul 21, 110, 113, 195,215 Rorty, Richard 36 Rousseau, Jean-Jaques 22,32 f., 39 f., 42,47, 54, 58, 80 ff., 86, 89, 96, 103, 129,135, 208 Saint-Hilaire, Etienne Geoffroy 133 Saint-Pierre, Charles Irénée Castel de 47 Saint-Simon, Henri de 98 Schiller, Johann Christoph Friedrich von 110 ff. Servan, Joseph-MichelAntoine 89 ff., 95 Sloterdijk, Peter 204 f. Smith, Adam 42,48, 122 Spinoza, Baruch de 45 Toland, John 41
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PERSONENVERZEICHNIS
Troeltsch, Ernst 192 Turgot, Anne Robert Jacques 17, 42, 54 ff., 75 ff., 80 f., 89, 93 f., 100, 104 ff., 120 ff., 126, 128 f., 172, 176 f., 189,240 Volney, Constantin François de 55 f., 87 ff., 99,103,114 f., 208,220
Voltaire 17, 39,41 f., 46,49, 55,58,71 ff., 76, 103, 110, 122 White, Hayden 113, 199 Wolff, Christian 43
Nachweise
1. Kapitel: Aufklärung und Moderne Überarbeitete Fassung der »Einleitung«, in: Grundriss der Geschichte der Philosophie, Reihe 18. Jahrhundert, Frankreich, Bd. 2, hg. von Johannes Rohbeck und Helmut Holzhey, Basel 2008, IXX-XXXVII 2. Kapitel: Geschichtsphilosophien der französischen Aufklärung Erweiterte und völlig neu bearbeitete Fassung des Artikels »Geschichtsphilosophie«, in: Grundriss der Geschichte der Philosophie, Reihe 18. Jahrhundert, Frankreich, Bd. 2, hg. von Johannes Rohbeck und Helmut Holzhey, Basel 2008, 833-896 3. Kapitel: Rettende Kritik der Geschichtsteleologie Erweiterte und völlig neu überarbeitete Fassung von: Erklärende Historiographie und Teleologie der Geschichte, in: Zwischen Empirisierung und Konstruktionsleistung: Anthropologie im 18. Jahrhundert, hg. von Jörn Garber und Heinz Thoma, Halle 2004, 77-99; mit modifizierten Passagen aus: Universalgeschichte und Globalisierung. Zur Aktualität von Schillers Geschichtsphilosophie, in: Schiller und die Geschichte, hg. von Michael Hofmann, Jörn Rüsen und Miijam Springer, München 2006, 79-92 4. Kapitel: Naturgeschichte und Geschichte der Menschheit Erweiterte und umgearbeitete Fassung von: Historisierung des Menschen. Zum Verhältnis von Naturgeschichte und Geschichtsphilosophie, in: Innovation und Transfer - Naturwissenschaft, Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert, hg. von Carsten Celle und Walter Schmitz, Dresden 2004, 121-130
NACHWEISE
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5. Kapitel: Evolution und Geschichte Erweiterte Fassung von: Evolution und Geschichte. Zum Verhältnis von Evolutionstheorie und Geschichtsphilosophie, in: Panta Rhei. Beiträge zum Begriff und zur Theorie der Geschichte, hg. von Herbert Colla und Werner Faulstich, Paderborn 2008, 197-209 6. Kapitel: Weltgeschichte und Globalisierung Wesentlich erweiterte Fassung von: Der globale Raum in der Geschichtsphilosophie der Aufklärung und der Gegenwart, in: Transformationen der Vernunft. Aspekte der Wirkungsgeschichte der Aufklärung, hg. von Iwan-Michelangelo D'Aprile, Joachim Gessinger und Thomas Gil, Hannover 2008, 131-153 7. Kapitel: Zukunft als Projektionsraum der Geschichte Völlig überarbeitete und erweiterte Fassung von: Geschichtsphilosophie der Zukunft, in: Was ist Zeit? Philosophische und geschichtstheoretische Aufsätze, hg. von Marian Nebelin und Andreas Deußer, Münster 2009, 19-38; mit gekürzten Passagen aus: Sobre el trato razonable con la contingencia histórica, in: Aproximaciones a la contingencia. Historia y actualidad de ima idea, hg. von Concha Roldán und Óscar Moro, Madrid 2009 8. Kapitel: Geschichtsphilosophie und Zukunftsethik Originalbeitrag