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German Pages 612 Year 1987
HERMAEA GERMANISTISCHE FORSCHUNGEN NEUE FOLGE HERAUSGEGEBEN VON HANS FROMM UND HANS-JOACHIM MÄHL
BAND 53
M I C H A E L VOGES
Aufklärung und Geheimnis Untersuchungen zur Vermittlung von Literatur- und Sozialgeschichte am Beispiel der Aneignung des Geheimbundmaterials im Roman des späten 18. Jahrhunderts
MAX NIEMEYER VERLAG T Ü B I N G E N 1987
Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft
CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Voges, Michael: Aufklärung und Geheimnis : Unters, zur Vermittlung von Literatur- und Sozialgeschichte am Beispiel d. Aneignung d. Geheimbundmaterials im Roman d. späten 18. Jh. / Michael Voges. — Tübingen : Niemeyer, 1987 (Hermaea ; N.F., Bd. 53) Zugl.: Kiel, Univ., Diss., 1985 NE: GT ISBN 3-484-15053-x
ISSN 0440-7164
© Max Niemeyer Verlag Tübingen 1987 Alle Rechte vorbehalten. Ohne Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus photomechanisch zu vervielfältigen. Printed in Germany. Druck: Guide-Druck GmbH, Tübingen. Einband: Heinr. Koch, Tübingen
Inhaltsverzeichnis
EINLEITUNG I.
Literaturgeschichte und Sozialgeschichte
ι
II.
Z u m G a n g der Untersuchung
6
ι. Kapitel
G E S C H I C H T E U N D SOZIALE F U N K T I O N DER GEHEIMEN G E S E L L SCHAFTEN IN D E U T S C H L A N D IM 18. JAHRHUNDERT. Beiträge zu einer Sozialgeschichte des politischen und kulturellen Bewußtseins der Aufklärung I.
9
Prolegomena zu einer Sozialgeschichte aufklärerischer A r k a n gesellschaften
9
ι. Probleme einer Sozialgeschichte der Aufklärung in Deutschland 2. Z u Reinhart Kosellecks Gesellschaften
II.
Funktionsbestimmung
der
.
9
geheimen 12
3. Das Paradigma der Aufklärungsgesellschaft
18
D i e Freimaurerei in Deutschland im 18. Jahrhundert
21
ι. Zur historischen Entwicklung
21
(Englische Ursprünge S. 22, Konstitutionenbuch S. 25, Geschichtslegende S. 27, Anfänge der Freimaurerei in Deutschland S. 28, Hochgradorden S. 32, Ramsay S. 33, Strikte Observanz S. 37, Betrüger und Hochstapler S. 49, Reformbestrebungen S. 52, Große Landesloge von Deutschland S. 52, Wilhelmsbader Konvent S. 54, Eklektischer Bund S. 55, Logen der Aufklärung in Hamburg und Wien S. 56, Freimaurerei und Staat S. 60) 2. Zur sozialen Funktion
63
2.1
Die Verbreitung der Freimaurerei im 18. Jahrhundert
2.2
Sozialstruktur und Ordenshierarchie
....
63 67
2.3
Organisationsstruktur und Geheimnis
78
V
2-4
Die freimaurerische Arbeit (Initiationsrituale S. 85, Logenreden S. 90, Geselligkeit und Wohltätigkeit S. 95)
84
III. Der Bund der Illuminateli
98
IV. Der Orden der Gold- und Rosenkreuzer
112
V.
Geheime Gesellschaften, Französische Revolution und Öffentlichkeit: Die Debatte um das Geheimbundmodell in Deutschland im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts
123
V I . Die Freimaurerei zwischen Utopie und Reform: Lessings und Herders Freimaurergespräche
146
ι. Lessings Ernst und Falk
147
1.1
Die Entstehungsgeschichte von Ernst und Falk und Lessings freimaurerische Biographie
147
1.2
Das Geheimnis des Dialogs
155
1.3
Lessings Konzeption der Freimaurerei
167
1.3.1 Die historische Realität der Logen
167
1.3.2 Lessings Freimaurerei zwischen Utopie und Geschichte 1.4
..
170
»Philosoph« und »Schwärmer« : Zum politischen Gehalt von Ernst und Falk
180
2. Herders Auseinandersetzung mit der Freimaurerei 2.1
Auf den Spuren Lessings
2.1.1
Glaukon und Nicias (1783)
188 188 191
2.1.2 Die ,heimlichen Fortsetzungen' von Ernst und Falk
194
2.1.3 Die Fortsetzung von Ernst und Falk in den Briefen zu Beförderung der Humanität (1793) 202 2.2
Herders Beitrag zu Friedrich Ludwig Schröders Reform der Freimaurerei (1800—1803) 204
2.2.1 Die Zusammenarbeit mit Schröder 2.2.2 Herders Abhandlung Ursprung, Mystery und der FrM aus dem alten ins neue Wort (1800) 2.2.3 Die Adrastea-Gespräche
205 Verwandlung
(1803)
213 217
2. Kapitel
GEHEIMNIS UND LITERATUR. Erzähltheoretische Implikationen und gattungsgeschichtliche Voraussetzungen der Aneignung des Geheimbundmaterials im Roman des 18. Jahrhunderts
VI
225
I.
Erzähltheoretische Implikationen
227
ι. Literatur und Wirklichkeit. Vorüberlegungen zum Problem der Fiktionalität
227
2. >Material< und >Struktur< ästhetischer Texte
II.
236
2.1
Geschichts- und Handlungsebene
2.2
Ebene der erzählerisch-sprachlichen Realisierung/Diskurs
2.3
Ebene der abstrakten Konzepte
Literarisierungsprozesse
am
Beispiel
240 .
247 248
der
Rezeption
des
Geheimbundmaterials in fiktionalen und nicht-fiktionalen Prosatexten im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts
249
ι. Der Rahmen: Sachprosa und erzählerische Kurzformen in der deutschen Aufklärung
252
2. Literarisierungsprozesse im Geheimbundmaterial
261
2.1
Ordensliteratur
261
2.2
Aufklärerische Geheimbundliteratur
272
III. Z u m Problem des Geheimbundromans
284
ι. Forschungsgeschichtlicher Uberblick
285
2. Der triviale Geheimbundroman
293
IV. Gattungstheoretische und gattungsgeschichtliche
Implikatio-
nen der Bearbeitung des Geheimbundmaterials im Roman des späten 18. Jahrhunderts ι. Grundzüge der Entwicklung des Romans im 18. Jahrhundert
301 ...
2. Aspekte der gattungsgeschichtlichen Bedürfnislage des Romans am Ende des 18. Jahrhunderts 2.1
Die romanhafte Wirklichkeit und die Wirklichkeit des Romans: Zur Funktion des Geheimbundmaterials für die Veränderung des Wirklichkeitscharakters des Romans . . . .
305
311
312
2.2
Neue Ritterlichkeit, Abenteuer und bürgerliche Epopöe: Das Geheimbundmaterial und die öffentlichen Begebenheiten im modernen Roman
318
2.3
Das Geheimbundmaterial und das >Wunderbare< im Roman
327
2.4
Zufall und Lenkung: Zur Funktion des Geheimbundmaterials für die Gestaltung des transzendentalen Erzählhorizonts im Roman
333
VII
3· Kapitel TEXTANALYSEN
I.
343
Schillers Der Geisterseher oder: Die Grenzen der Aufklärung 343 ι. D i e Entstehung des Geistersehers
im Kontext des Schillerschen
Prosawerkes
346
2. Textanalyse
355
2.1
D e r »Aufsatz« : D e r Geisterseher als literarisch-publizistische Z w e c k f o r m der aufklärerischen Geheimbundliteratur . . . .
355
2.2
Konturen des Romans im Geisterseher
366
2.3
Realitätshabitus und Ästhetisierung: D i e Funktion Geheimbundmaterials in der Struktur des Geistersehers
2.4
des ...
372
Reflektierte Struktur und strukturelle Reflexion: D a s philosophische Gespräch als die Sinnmitte des Romans
385
3. Aporetische Vermittlung: D e r Beitrag des Geistersehers sierung und Ästhetisierung des Geheimbundmaterials
zu Literari392
II. Wielands Peregrinus Proteus und Agathodämon oder: Legitimationsprobleme der Spätaufklärung 398 1. D a s Geheimniss des Kosmopoliten-Ordens·. Wielands Stellung in der Debatte u m das G e h e i m b u n d m o d e l l der A u f k l ä r u n g
400
2. E x k u r s : Wieland, die A n t i k e und das Problem des historischen Romans< 3. Geheime
410 Geschichte
des Philosophen
Peregrinus Proteus
3.1
D i e Rahmenfiktion oder: D a s transparente Geheimnis
3.2
D a s Geheimbundmaterial in der Struktur des Romans
414 . . . ....
416 419
3.2.1 Schwärmerische Politik und politische Schwärmerei: Z u r politisch-gesellschaftlichen Bedeutung des G e h e i m b u n d modells im Peregrinus Proteus 422 3.2.2 D i e Psychologie des Wunderbaren
433
3.2.3 Zufall und L e n k u n g
439
3.3
Ich und Welt oder: D i e abenteuerlichen Kollisionen des »irrenden Ritters von der cynischen Tugend«
4. Agathodämon
447
4.1
Initiatorische Strukturen im R o m a n
448
4.2
Arcana imperii oder: D e r Agathodämon roman der späten A u f k l ä r u n g
4.3
Reflexive U t o p i e : D e r Agathodämon
als Gesellschafts455
als A n t w o r t auf die
Legitimationsprobleme der Spätaufklärung
VIII
442
463
III. Moritz' Fragmente Andreas Hartknopf. Predigerjahre
aus dem Tagebuche Eine Allegorie
eines
und Andreas
Geistersehers, Hartknopfs
oder: Der Roman als Medium einer Didaxe des
Arcanum
472
ι. Verkündung und Analyse: Zum werkbiographischen Ort des Andreas Hartknopf
475
2. Programmatische Selbstverständigung im Zeichen des Geheimen: Fragmente aus dem Tagebuche eines Geistersehers
482
3. Verrätselung: Esoterische und exoterische Strukturen im Andreas Hartknopf 491 3.1 Das Geheimnis der »hohen Menschen« — Aspekte der Figurenkonzeption im Andreas Hartknopf 496 3.2
Okkulte Aufklärung. Bildlichkeit und Narration im Andreas Hartknopf
511
4. Das Arcanum der Didaxe oder: Der Roman als Erziehung zur Resignation 525
4. Kapitel PERSPEKTIVEN DER A N E I G N U N G DES GEHEIMBUNDMATERIALS IM ROMAN AM ENDE DES 18. JAHRHUNDERTS
$37
I.
Jean Paul Die unsichtbare Loge
538
II.
Tieck Die Geschichte des Herrn William Lovell
551
III. Goethe Wilhelm Meisters Lehrjahre
563
QUELLEN- UND LITERATURVERZEICHNIS
571
IX
Einleitung
I.
Literaturgeschichte und Sozialgeschichte
Die vorliegende Untersuchung der Aneignung des Geheimbundmaterials im Roman des späten 18. Jahrhunderts bemüht sich in mehrfacher Hinsicht, zu einer Vermittlung von Literaturgeschichte und Sozialgeschichte beizutragen. Ihr Ausgangspunkt war die Beobachtung einer kontinuierlichen Rezeption von Geheimbundelementen in >hohen< Romanen und in einer Fülle von Trivialromanen zwischen 1780 und 1800. 1 Die Beschränkung auf ein enges und rein literarisches Textkorpus, das, ohne Rücksicht auf die realhistorische Erscheinung und die soziale Funktion der geheimen Gesellschaften, allein in Hinblick auf die ästhetische Verarbeitung von Geheimbundelementen analysiert wird, erschien aus einer Reihe von Gründen als problematisch. Von vornherein bestand die Erwartung, daß die besondere Gegenständlichkeit des Geheimbundmaterials seine literarische Bearbeitung folgenreich bestimmte. Ist schon die Identifikation von Geheimbundelementen in der ästhetischen Struktur der Romane ohne eine genaue Kenntnis dieser Gegenständlichkeit schwierig, wenn nicht unmöglich, so sind eine historisch angemessene Bewertung ihrer kontextuellen Funktion und die Rekonstruktion ihrer historischen Semantik zwingend angewiesen auf eine breite Einbeziehung auch des nichtliterarischen Geheimbundmaterials. Dies gilt umso mehr, als ein Großteil der untersuchten Romane noch im Rahmen der aufklärerischen »Institution Kunst« (P. Bürger) entstand, die eine strikte Trennung von Kunst- und Zweckformen nicht kannte. Hier geriet die Form des Romans zum publizistischen Medium; die öffentliche Debatte um das Geheimbundmodell der Aufklärung fand eine literarische Fortsetzung im Roman. Die Entscheidung, sowohl das realhistorische Phänomen der geheimen Gesellschaften, als auch seine im weitesten Sinne litera-
1
Zum Begriff des >Materials< vgl. 2. Kapitel, I., 2.
ι
rische Verarbeitung einer eingehenden Analyse zu unterziehen, warf eine Reihe methodologischer und methodischer Fragen auf, die insbesondere die Vermittlung von Literaturgeschichte und Sozialgeschichte betreffen. Das gewählte Vorgehen sucht dem methodologischen Selbstverständnis einer kritischen Hermeneutik gerecht zu werden. 2 Das hermeneutische Verfahren der Selbstreflexion fungiert dabei als eine übergreifende Form der methodischen Orientierung, in deren Rahmen durchaus auch andere, explanatorisch-analytisch ausgerichtete Erkenntnistypen etwa der strukturalen Erzählanalyse und der historischen Sozialwissenschaften integriert werden können. Bislang liegt, so weit sich sehen läßt, kein unangefochtenes wissenschaftlich fundiertes Erklärungsmodell vor, mit dessen Hilfe der Zusammenhang zwischen gesellschaftlicher Wirklichkeit und literarischer Produktion regelhaft bestimmbar würde. 3 Am ehesten noch ließe sich ein solches Modell im Zusammenhang einer kritischen Gesellschaftstheorie denken, die explizit als eine Kommunikationstheorie der Gesellschaft angelegt ist, als eine »Theorie des kommunikativen Handelns«. 4 Den Gegenstand der Literaturwissenschaft bildete im Kontext einer solchermaßen reformulierten Kritischen Theorie die literarische Form der ästhetischen Kommunikation, die auf eine historisch differenziert beschreibbare Weise in die gesellschaftliche Kommunikation eingelagert ist. Ist der gesellschaftliche Ort der Literatur von hier aus systematisch zu bestimmen, so verbleibt doch der historisch-soziologische Nachweis ihrer jeweiligen Funktion Postulat einer allererst prospektierten kritischen Theorie der ästhetischen Kommunikation.' 2
Vgl. dazu Bürger, Peter, Vermittlung - Rezeption - Funktion. Ästhetische Theorie und Methodologie der Literaturwissenschaft, Frankfurt/M. 1979, aber auch das methodisch überaus interessante Kapitel zu Problemen sozialgeschichtlicher Werkinterpretation in: Schlaffer, Heint^, Der Bürger als Held. Sozialgeschichtliche Auflösungen literarischer Widersprüche, Frankfurt/M. 1976, S. 126-156. Die prospektierte Annäherung von Kritischer Theorie, Hermeneutik und historischen Sozialwissenschaften sieht sich bestätigt durch neuere Überlegungen zu einer methodologischen Reformulierung der Kritischen Theorie, die deren chronisches Empiriedefizit aufzuheben sucht: So^ialforschung als Kritik. Zum so^ialwissenschaftlichen Potential der Kritischen Theorie, hg. von Wolfgang Bonß und Axel Honneth, Frankfurt/M. 1982. ' So zuletzt Hübinger, Gangolf, Literaturgeschichte als gesellschaftswissenschaftliche Disziplin. Ihre Begründung durch Georg Gottfried Gervinus, in: Geschichte und Gesellschaft 9, 1983, S. 5-25, S. 4 Dazu Habermas, Jürgen, Theorie des kommunikativen Handelns, 2 Bde., Frankfurt/M. 1981. ' Vgl. dazu Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2, S. 548-595: 2
Daher erscheint es zum gegenwärtigen Zeitpunkt wenig sinnvoll, die wissenschaftshistorisch seit langem bekannten Modellvarianten einer Verknüpfung von Literatur und Wirklichkeit (seien sie nun materialistischer oder idealistischer Provenienz) ein weiteres Mal historisch-illustrativ nachzuzeichnen. Methodisch ergiebiger und überdies forschungsstrategisch geboten ist vielmehr eine Konzentration auf die exemplarische Darstellung und Deutung bisher nicht oder nur unzureichend bekannter Vermittlungsformen von gesellschaftlicher und ästhetischer Kommunikation, die den gemeinsamen Gegenstand von Literatur- und Sozialgeschichte ausmachen. Die Kategorie der »Vermittlung« ist ein zentrales Element literaturwissenschaftlicher Methodenreflexion.6 Unmittelbarkeit, ein Zugang zu literarischen Werken ohne Berücksichtigung ihrer spezifischen Literarizität und ihrer im doppelten Sinne geschichtlichen Vermittlung liegt außerhalb des Erkenntnisinteresses kritisch-hermeneutischer Literaturwissenschaft. Drei Arten der Vermittlung literaturwissenschaftlicher Gegenstände stehen dabei im Vordergrund. ι. Die literarische Vermittlung selbst. Literarische Texte sind zugleich Bestandteil eines als synchron verstandenen literarischen Systems und einer diachron verlaufenden literarischen Reihe. Eine historisch angemessene Semantisierung, ja selbst eine zuverlässige Identifikation relevanter Strukturmerkmale ist ohne eine Einbeziehung textueller Formen der Vermittlung, die zugleich ästhetische und außerästhetische Textsorten umfassen, nicht möglich. Komplexe Literarisierungsprozesse im Bereich der aufklärerischen Sachprosa schaffen eine wichtige Voraussetzung für die Ästhetisierung des Geheimbundmaterials im Roman des späten 18. Jahrhunderts. 2. Die Rekonstruktion der literarischen Vermittlung vollzieht sich nicht unabhängig von einer Funktionsbestimmung der Literatur und ihrer Gattungen im Ensemble der künstlerischen Produktionsweisen einer Zeit. Beide haben eine geschichtlich fundierte Bestimmung der »Institution Kunst« zur bedingenden Voraussetzung.7 Im Zusammen»Aufgaben einer kritischen Gesellschaftstheorie«, bes. S. 5 71 ff. Interessante Ansätze zu einer Theorie der ästhetischen Kommunikation bieten auch die Beiträge von
Helmut Dubielund Douglas Kellner in: So^ialforschung 6 7
als Kritik, s. Anm. 2, S. 45 6-481
und S. 482-515. Dazu Bürger, Vermittlung, S. 79fr., i47ffDazu Bürger, Vermittlung, S. 175-199, ders., Theorie der Avantgarde, Frankfurt/M. 2 1980, Bürger, Christa, Der Ursprung der bürgerlichen Institution Kunst. Literatursoziologische Untersuchungen zum klassischen Goethe, Frankfurt/M. 1977.
3
hang der Institution Kunst sind die Rahmenbedingungen ästhetischer Produktion und Rezeption zu beschreiben: die epochalen Funktionsbestimmungen von Kunst in ihrer sozialen Bedingtheit. 3. Die Historizität des literarischen Gegenstandes. Die Rekonstruktion des historischen Erfahrungsraumes, der die Produktion und Rezeption von Kunstwerken wesentlich bestimmt, gelingt nur dann, wenn sie zunächst weitgehend unabhängig vom literarischen Medium selbst erfolgt. Der Beitrag literarischer Werke zum Selbstverständnis einer Epoche ist dann erst ganz zu ermessen, wenn er in den Zusammenhang epochaler sozial- und bewußtseinsgeschichtlicher Strukturen gestellt wird, die unabhängig von ihnen gewonnen wurden. Das gilt selbst dann, wenn Kunstwerke den Rahmen eines solchen Epochenverständnisses sprengen, oder, was häufig der Fall ist, wesentlich erweitern. N u r so ist der verbreitete Zirkelschluß zu vermeiden, dem auch die neuerdings zahlreichen >Sozialgeschichten der Literatur< nicht entgehen, wenn sie den literarischen Gegenstand allzu rasch als einen unvermittelt gesellschaftlichen begreifen, ohne die im Titel implizierte methodische Herausforderung wirklich anzunehmen. Nicht selten werden komplexe gesellschaftsgeschichtliche Zusammenhänge im Rahmen sozialgeschichtlicher >Abrisse< und >Skizzen< verkürzt zum werkbezogenen Epochenkommentar, ein Befund, der dadurch kaum gemildert wird, daß die ihrerseits komplexe ästhetische Struktur literarischer Texte zur willkommenen Illustration >sozialgeschichtlich< fundierter Epochenklischees verkommt. Als »fait social« (Durkheim) erweist der ästhetische Text sich aber erst nach Aufdeckung seiner literarischen u n d gesellschaftsgeschichtlichen Vermittlung. Das Aufdecken der historischen Vermittlung literarischer Gegenstände ist das Ziel einer gesellschaftsgeschichtlichen Untersuchung, die ihre Ergebnisse prinzipiell unabhängig von den literarischen Objektivationen gesellschaftlichen Bewußtseins gewinnt. Das 1. Kapitel dieser Arbeit, das mit der Darstellung von Geschichte und Funktion der geheimen Gesellschaften in Deutschland im 18. Jahrhundert zugleich Beiträge zu einer politischen und sozialen Bewußtseinsgeschichte der Aufklärung liefern möchte, ist daher mehr als eine Skizze der sozialhistorischen >VoraussetzungenMythologieGeheimbundroman< im Sinne einer eigenständigen generischen Variante kann dagegen sinnvollerweise nur im Zusammenhang der zeitgenössischen Trivialliteratur gesprochen werden. A m Ende des Kapitels steht der Versuch, zentrale Aspekte der gattungsgeschichtlichen Bedürfnislage des Romans am Ende des 18. Jahrhunderts zu skizzieren, um von hier aus die auffällige Häufigkeit epochal wichtiger Romane zwischen 1785 und 1800 zu erklären, die das Geheimbundmaterial bearbeiten. Die Überlegungen zum Wirklichkeitscharakter des Romans, zur >neuen Ritterlichkeit^ zum Wunderbarem, zu Zufall und Lenkung und zum transzendentalen Erzählhorizont im Roman, greifen zurück auf die noch immer bedeutendsten und tragfahigsten Bestimmungen zur Romantheorie in der Hegeischen Ästhetik. Alle Romane, die im 3. K a p i t e l in Hinblick auf die Verarbeitung des Geheimbundmaterials untersucht werden, bleiben dem Epochenkonzept der Aufklärung und der aufklärerischen Institution Kunst verpflichtet. In der aporetischen Struktur von Schillers Geisterseher, die den Roman ebenso zum Prototyp des trivialen Geheimbundromans werden läßt wie zum Vorläufer einer entschiedenen Ästhetisierung des Geheimbundmaterials im Roman von Klassik und Romantik, geraten die Grenzen der Aufklärung in Sicht. Wielands Peregrinus Proteus setzt die Debatte um das Geheimbundmodell der Aufklärung fort im Roman. Die öffentliche Auseinandersetzung erst hat die politischen Implikationen des Geheimnisses voll entfalten können. Aus dem politischen Denkmodell der Spätaufklärung wird bei Wieland ein Handlungsmodell, das gleichsam experimentell den abstrakt verdichteten Bedingungen gesellschaftlicher Wirklichkeit ausgesetzt wird: im ästhetisch-fiktionalen Kontext. In der reflexiven Utopie des Agathodämon dagegen sucht Wieland nach einer Lösung für die Legitimationskrise der Spätaufklärung im Zusammenhang der Französischen Revolution. Noch in Moritz' Andreas Hartknopf steht die konsequente Ästhetisierung des Geheimbundmaterials im Dienst einer neu verstandenen »wahren Aufklärung«. Der Roman wird zum Vehikel einer Didaxe des Arcanum, die freilich schon den Weg einer ästhetischen Erziehung< des Menschen beschreitet, einer Erziehung zur »Weißheit der Resignation«. 7
Die vier untersuchten Romane weisen über die Bearbeitung des Geheimbundmaterials hinaus eine - in diesem Ausmaß zunächst unerwartete — gemeinsame Thematik auf, die aufs neue die seltene Verdichtung epochaler Strukturen von Literatur- und Sozialgeschichte im Phänomen der geheimen Gesellschaften verdeutlichen kann. Das politische, philosophische und ästhetische Epochenkonzept der Aufklärung wird in ihnen kritisch reflektiert. Schillers Geisterseher thematisiert die Verselbständigung einer instrumenteilen aufklärerischen Vernunft, die am Ende umschlägt in ihr genaues Gegenteil, in einen neuen Zauber, der mit menschenverachtender Gewalt vom Protagonisten Besitz ergreift. In Wielands Gesellschaftsromanen verliert das aufklärerische Programm zusehends seine soziale und politische Unschuld. Der aufklärerische Rückgriff auf die arcana imperii stellt die Universalität des bürgerlichen Reformprogramms in Frage: Das Geheimnis der wenigen wird zum problematischen Instrument einer Aufklärung der vielen. Moritz' Andreas Hartknopf schließlich treibt die Kritik an einer instrumentell verkürzten Rationalität auf eine bislang ungekannte Spitze. Die »Dialektik der Aufklärung« (Horkheimer/Adorno) scheint allenthalben der ästhetischen Erfahrung zugänglich, lange bevor sie auf den philosophischen Begriff gebracht werden konnte. Im Geheimnis als ihrem vermeintlichen Gegenteil erfährt die Aufklärung mit ihren Grenzen am Ende sich selbst. Die untersuchten Romane entstanden sämtlich an einer geschichtlichen Bruchstelle; der transitorische Charakter der Epochenschwelle haftet ihnen unübersehbar an. Er steigert die Reflexivität der Aufklärung bis an die Grenze ihrer Selbstaufhebung. Genau hier, in der radikal selbstkritischen Rückwendung der Aufklärung auf sich selbst, mag ein aktuelles Interesse an >Aufklärung und Geheimnis< seine letzte Begründung finden. »Die Welt des tradierten Sinnes erschließt sich dem Interpreten nur in dem Maße, als sich dabei zugleich dessen eigene Welt aufklärt.« 12
,z
8
Habermas, Jürgen, Erkenntnis und Interesse, in: ders., Technik und Wissenschaft als »Ideologie«, Frankfurt/M. 1968, S. 158.
Ι. K A P I T E L
Geschichte und soziale Funktion der geheimen Gesellschaften in Deutschland im 18. Jahrhundert Beiträge zu einer Sozialgeschichte des politischen und kulturellen Bewußtseins der Aufklärung
I.
Prolegomena zu einer Sozialgeschichte aufklärerischer Arkangesellschaften
ι.
Probleme einer Sozialgeschichte der Aufklärung in Deutschland
Auf der Makroebene von politischer, Gesellschafts- und Wirtschaftsgeschichte betrachtet, stellt das 18. Jahrhundert eine Zeit des Übergangs dar, eine »Sattelzeit« (Koselleck), in der epochale Strukturwandlungen die Transformation Alteuropas in die Moderne bewirken. Aus einer agrarisch-feudal bestimmten Gesellschaft, in der Hof, Adel und Kirche die wichtigsten Machtpositionen untereinander aufteilten, wird allmählich eine Gesellschaft mit überwiegend industriellem Charakter, in der die zugleich zu Wirtschafts- und Staatsbürgern avancierten ehemaligen Stadtbürger eine zentrale Rolle einnehmen. Durch die schon im Ancien Régime sich abzeichnende Bürokratisierung und Entpersönlichung vorbereitet, geht der absolutistische Staat über in den modernen institutionellen Staat, der seine Legitimation aus Verfassungen konstitutioneller oder demokratischer Spielart bezieht. Verläßt man indessen die epochale Ebene gesellschaftlichen Wandels, nähert man sich der historischen Realität der europäischen Staaten im 18. Jahrhundert, so verliert diese Entwicklung viel von ihrer scheinbaren Eindeutigkeit; Brüche werden sichtbar, das Nebeneinander widerspruchsvoller Tendenzen, Ungleichzeitigkeiten. Traditionale Institutionen und Mentalitäten behaupten zäh ihre Wirksamkeit gegenüber vereinzelten emanzipatorischen Entwicklungen. Nahezu 80 Prozent der deutschen Bevölkerung im 18. Jahrhundert lebte in oder aber von der Landwirtschaft. 1 Für sie waren die traditionalen Institu1
Z u r Sozialstruktur der absolutistischen Gesellschaft: Böhme, Helmut, Prolegomena zu einer Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Deutschlands im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt/M. 1976, S. 9ÍT. und Kiesel, Helmutb und Paul Münch, Gesellschaft und Literatur im 18. Jahrhundert. Voraussetzungen und Entstehung des literarischen Marktes in Deutschland, München 1977, S. i j f f .
9
tionen des Dorfes und der adligen Grund- und Gerichtsherrschaft lebensbestimmend. Gilden und Zünfte beeinflußten nicht nur das Leben von Handwerkern und kleinen Kaufleuten, sondern prägten ebenso das Wirtschaftsverständnis der wenigen Großkaufleute und Bankiers, für die nicht Gewinnmaximierung, sondern der Versorgungsgedanke des »ganzen Hauses« (Brunner) entscheidend war. Der heuristisch legitime und fruchtbare Rekurs auf idealtypische Modelle epochalen Wandels verliert seinen Wert dann, wenn Modelle und Wirklichkeit vorschnell ineins gesetzt werden oder wenn die Diskrepanz beider - etwa im internationalen Vergleich - simplifizierend als >verspätete< oder >verfrühte< Normalabweichung begriffen wird. Die Abweichung ist das Entscheidende. In ihr tritt das Charakteristische der jeweiligen historischen Realität hervor, in ihr wird Geschichte als komplexe Vielfalt sich überlagernder, teil unstimmiger, teils ungleichzeitiger Entwicklungsmomente erfahrbar. Die Geschichte der geheimen Gesellschaften in Deutschland im 18. Jahrhundert ist ein getreues Abbild der >deutschen AbweichungAufklärung< Verwendung. 2 Der Begriff Aufklärung, der schon von den Zeitgenossen als programmatischer Leitbegriff wie als politisches Schlagwort benutzt wurde, diente zur Kennzeichnung einer europäischen Geistesbewegung, die durch Stichworte wie Säkularisierung, »Entzauberung der Welt« (M. Weber), Emanzipation von traditional definierten geistigen und sozialen Autoritäten, Erziehung, Herrschaft von Vernunft und Moral über Geschichte und positive Religion, rationale Naturbeherrschung bestimmt wurde. Solchermaßen definiert, stand >Aufklärung< lange Zeit mehr oder weniger unvermittelt neben dem Epochenbegriff des >AbsolutismusAufgeklärten Absolutismus< in Ländern wie Preußen oder Österreich-Ungarn; doch auch hier ging es zunächst um den Nachweis ideengeschichtlicher Einflüsse der Aufklärung auf die Regenten der betreffenden Staaten. 5 Erst in jüngerer Zeit zeichnet sich 2
3
Zur Begriffsgeschichte vgl. den Artikel »Aufklärung« in: Brunner, Otto / Conze, Werner / Koselleck, Reinhart, Hrsg., Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon %urpolitisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. i, Stuttgart 1972, S. Z4jff. Einen Uberblick über die Diskussion zum >Aufgeklärten Absolutismus< gibt Aretin, Karl Otmar Freiherr von, Hrsg., Der Aufgeklärte Absolutismus, Köln 1974, insbesondere die Einleitung des Herausgebers, S. 1 1 - 5 1 , wo auch auf die widersprüchliche Begriffsbildung eingegangen wird.
IO
eine Verschiebung des Epochenbegriffs ab. >Aufklärung< be2eichnet nicht länger nur Ideen und P r o g r a m m e , sondern bezieht deren Träger, die realhistorische Wirksamkeit und Reichweite der A u f k l ä r u n g s b e w e g u n g mit ein. 4 N e b e n der Ideengeschichte ist eine Sozialgeschichte der A u f k l ä r u n g im Entstehen begriffen, die das gesamte S p e k t r u m gesellschaftlicher Aktivitäten im 1 8 . J a h r h u n d e r t z u m G e g e n s t a n d hat. D i e A u s g a n g s l a g e f ü r eine Gesellschaftsgeschichte der A u f k l ä r u n g ist problematisch, die F o r s c h u n g steht, im G e g e n s a t z zur politischen oder Ereignisgeschichte des A b s o l u t i s m u s , noch am A n f a n g . » N o t r e connaissance des sociétés du X V I I I e siècle reste, on le sait, rudimentaire«, konstatiert F r a n ç o i s - G . D r e y f u s in seiner Pionierarbeit über M a i n z in der zweiten Hälfte des χ 8. Jahrhunderts, in der er eine ganze Reihe pauschaler Urteile über >das< deutsche B ü r g e r t u m und >die< R e v o l u t i o n in den Bereich der L e g e n d e verweisen kann.' E i n e n ähnlichen E i n druck vermittelt Franklin K o p i t z s c h s Forschungsbericht zur Sozialgeschichte der deutschen A u f k l ä r u n g : D i e Forschungslücken sind in so wesentlichen Bereichen w i e B ü r g e r t u m und A d e l , Familie, H a n d w e r ker und Z ü n f t e , B i l d u n g , Geselligkeit und Alltagsleben trotz zahlreicher Vorarbeiten noch beträchtlich. 6 E i n Beitrag zur Sozialgeschichte 4
5 6
Methodisch vorbildlich und weit fortgeschritten ist in mancherlei Hinsicht die französische Sozialgeschichte zum i8. Jahrhundert. Vgl. dazu: Reichardt, Rolf, >Histoire des MentalitésGeheimnismehr< stecke, das Geheimnis nicht doch einen anderen Inhalt habe, als bisher in seiner englischen Ausformung zu erkennen war. Gut dreißig Jahre später faßte eine vielbeachtete Apologie des Ordens der Frey Maurer die unverändert gebliebenen Hauptpunkte der Kritik zusammen' 5 : i. Das Geheimnis als solches widerspreche der Aufklärung. Was nützlich und gut sei, müsse offengelegt werden. 2. Die Freimaurerei bilde einen Staat im Staate. 3. Der Eid der Maurer sei schrecklich, die angedrohten Sanktionen unmenschlich. Zudem stelle der Eid ein Monopol der Obrigkeit dar. 4. Der Orden der Freimaurer sei ohne wahren Nutzen und daher überflüssig. 5. E r betreibe unerlaubte Zusammenkünfte, die einen Herd für Verschwörungen bilden könnten. 6. E r schränke die natürliche Freiheit des Menschen ein. 7. Die Freimaurerei verursache einen gefahrlichen Indifferentismus gegenüber Nation und Religion. Das alles hielt den preußischen Kronprinzen Friedrich, den späteren Friedrich II., nicht davon ab, ein Mitglied dieser geheimen Gesellschaft zu werden. Angeworben von dem Grafen von der LippeBückeburg, wurde er in der Nacht vom 14. auf den 15. August 1738 von einer Deputation der oben erwähnten Hamburger Loge in einem Braunschweigischen Gasthof als Maurer aufgenommen. 1 4 Die Aufnahme hatte weitreichende Folgen für die Entwicklung der Freimaurerei IJ
[Starck, Johann August], Apologie des Ordens der Frey-Mäurer. Von dem Bruder Mitglied der xx Schottischen Loge zu P x , Philadelphia im Jahr 5681 d. i. 5882, [Königsberg 778]. Dazu Freimaurer Bibliothek, 1. Stück, Berlin '1792, S. ;6ff.
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im Königreich Preußen. Obwohl seine Begeisterung für die königliche Kunst rasch erlosch, gewährte Friedrich als König der Organisation seinen Schutz und sorgte so für eine enge Bindung der Maurerei an den Staat. Im Juli 1740, wenige Monate nach seiner Thronbesteigung, meldete das Journal de Berlin·. Une Société infortunée, à laquelle il semble, qu'on prépare le même sort, qu'aux anciens Templiers, peut aussi se promettre un azyle dans la généreuse protection de S. M. J e parle des Francs-Maçons. Ils peuvent mettre leur L o g e à l'abri du Trône et jouir d'un repos, qu'aucune persécution en troublera.' '
In den nächsten Jahren verbreitete sich die Freimaurerei in Deutschland in schnellem Tempo. Bis 1750 wurden insgesamt 58 Logen gegründet.' 6 Diese Entwicklung kann hier nicht im einzelnen nachgezeichnet werden, dazu fehlten vielfach schon die nötigen Vorarbeiten. Eine Ausnahme bildet die gut erforschte Geschichte der Frankfurter Loge »Zur Einigkeit«, die daher neben der Hamburger Gründung als exemplarisch für die Frühzeit der deutschen Freimaurerei behandelt werden soll.' 7 Die Logengründung im Jahre 1742 stand in engem Zusammenhang mit der Vorbereitung und Durchführung der Kaiserkrönung Karls (VII.). Von zwanzig bekannten Gründungsmitgliedern gehörte etwa die Hälfte dem Adel an. Die noch im gleichen Jahr gewählten Beamten der Loge standen fast alle im diplomatischen Dienst von Gesandtschaften, die ihre Länder bei der Vorbereitung der Krönungsfeierlichkeiten vertraten. Diese Gruppe hatte 1742 die Initiative zur Logengründung ergriffen, sie bestimmte das soziale Bild der Loge bis 1746, als die diplomatischen Aktivitäten ein Ende fanden. Von 137 bis zu diesem Jahr aufgenommenen Maurern waren immerhin 65 Adlige. Die so gewonnene Reputation der Loge veranlaßte zahlreiche Angehörige der patriziatsähnlichen Schicht des Frankfurter Großbürgertums, in die Loge einzutreten. Nach dem Abzug des diplomatischen Korps war es diese Gruppe, die die soziale Basis der Loge »Zur Einigkeit« bildete. Hinzu kamen hohe bürgerliche oder adlige Beamte aus den umliegenden Duodezfürstentümern. '' Zitiert nach Keller, Ludwig, Die Freimaurerei. Eine Einführung in ihre Anschauungswelt und ihre Geschichte, Leipzig '1923, S. 38f. 16 Zahlen nach Bröcker, Carl, Die Freimaurer-Logen Deutschlands von 1737 bis einschließlich 1895, Berlin 1894. Vgl. auch unten S. 63fF. 17 Dazu Demeter, Karl, Die Frankfurter Loge zur Einigkeit 1742-1966. Ein Beitrag zur deutschen Geistes- und Sozialgeschichte, Frankfurt/M. 1967. 31
Die elitäre Zusammensetzung der Frankfurter Loge schlug sich in ihrer Ausstattung nieder. Der als Versammlungsort dienende Festsaal eines Gasthauses wurde, so weist es das Kassabuch aus, mit einem Nußbaumtisch, einer blausamtenen Decke mit kostbaren Stickereien, einem Samtkissen sowie einem wertvollen Staatsschwert ausgerüstet. Diese Gegenstände allein machten einen Betrag von über 400 Gulden aus, eine beträchtliche Summe, die die soziale Exklusivität der Loge unterstreicht. Die feste Verankerung der Loge im Frankfurter Wirtschaftsbürgertum, desses führende Familien im gesamten 18. Jahrhundert das Logenleben bestimmten, sorgte dafür, daß die in der zweiten Jahrhunderthälfte auftretenden Hochgradorden wie die Strikte Observanz hier keine Aussicht auf E r f o l g hatten. Karl Demeter hat mit großer Sorgfalt die unterschiedliche soziale Basis beider Ausformungen der Freimaurerei herausgearbeitet. 18 Die in der Frankfurter »Distel«-Loge organisierten höheren Beamten, die sich durch hervorstechenden Intellekt, idealistische Einstellung, Dienstethos und materielle Abhängigkeit auszeichneten, waren ungleich anfälliger für die freimaurerische Renaissance der mittelalterlichen Ritterorden und deren utopische Projekte als die behäbigen Großkaufleute und Bankiers, für die die Loge eher ein Element exklusiver Geselligkeit war. Stand die erste Periode der Freimaurerei in Deutschland - sie reichte etwa bis 1 7 5 0 - vorwiegend unter englischem Einfluß, so zeichnete sich um die Jahrhundertmitte eine grundlegende Veränderung in der Geschichte des Bundes ab. Die Unzufriedenheit mit dem oft genug unvollständig und sinnentleert aus England überlieferten Ritual verband sich mit einer durch die antimaurerische Diskussion noch verstärkten Erwartungssteigerung. Die Enttäuschung über die drei Johannesgrade der englischen Maurerei führte zu der verbreiteten Annahme, daß es noch mehr und höhere Grade geben müsse, die das >eigentliche< Geheimnis der Freimaurerei, ihren >wahren< Zweck enthielten. In dieses Vakuum stießen in den folgenden dreißig Jahren eine Vielzahl sogenannter H o c h g r a d o r d e n , deren Anfänge in Frankreich aufzusuchen sind. Die Entstehung der Hochgradmaurerei in Frankreich ist umstritten.' 9 Übereinstimmung besteht jedoch darüber, daß es insbesondere ,8 19
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Ebd., S. 63flF. Vgl. dazu Chevalier, Pierre, Histoire de la Franc-Maçonnerie Française. L a Maçonnerie: É c o l e d'Égalité 1 7 2 5 - 1 7 9 9 , Paris 1974, S. zi^R., sowie die Artikel »Schottischer Ritus«, »Frankreich« und »Hochgrade« in LennhoffjPosner.
der französische Adel gewesen ist, der durch die Entwicklung neuer Grade eine elitäre Stufe in die Freimaurerei einbringen wollte, auf der Bürgerliche und Aristokraten auf gleicher Stufe miteinander verkehren sollten. Der dem Geheimnis innewohnende Charakter der Separation wurde hier also bewußt - durch die Erfindung neuer exklusiver Geheimnisse im Geheimnis der Maurerei - zur Wiederherstellung der gesellschaftlichen Rangordnung eingesetzt. Sicher ist es auch, daß es das weitgehend unbestimmte Geheimnis selbst war, das das Eindringen aller möglichen ideengeschichtlichen Strömungen in die Freimaurerei erlaubte. »La Maçonnerie mystique, occultiste et hermétique qui est la Maçonnerie des Hauts-Grades utilise l'héritage des alchimistes de la Renaissance, celui de la Kabale juive, comme du Christianisme, tan disque la Maçonnerie symbolique s'inspire en gros des doctrines des philosophes et des hommes de science du X V I I I e siècle anglais.« 20 Die Hochgradfreimaurerei geriet in den Bereich der hermetischen Tradition der europäischen Geistesgeschichte. Die Geheimlehren der schwarzen und weißen Magie, der Alchemie, der Kabbala und der Theosophie, die sämtlich auf der Grundlage gnostischer oder neoplatonischer Ideensysteme entstanden, beeinflußten besonders vier Hochgradsysteme des 18. Jahrhunderts: das Kapitel von Clermont, die Strikte Observanz, die Gold- und Rosenkreuzer sowie die Elus Coëns des Martines de Pasqually. 21 Die beiden ersten Systeme zeichnen sich zusätzlich dadurch aus, daß sie eine bemerkenswerte Veränderung an der Ursprungslegende der Freimaurerei vornahmen. Die Maurerei wurde als Nachfolgeorganisation des mittelalterlichen Tempelherrenordens angesehen, eine Verknüpfung, die außerordentlich folgenreich für die Entwicklung des Bundes im 18. Jahrhundert geworden ist. Grundlage der freimaurerischen Tempelherrenlegende ist der Discours prononcée à la reception des frée-maçons [!], den der Chevalier Ramsay am 2i. März 1737 in der Pariser Großloge hielt. 22 Ramsays Rede ist zo
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Chevalier, Histoire, S. 216. Vgl. dazu auch Frick, Karl R., Die Erleuchteten. Gnostisch-theosophische und alchemistisch-rosenkreuzerische Geheimgesellschaften bis zum Ende des 18. Jahrhunderts - ein Beitrag zur Geistesgeschichte der Neuzeit, Graz 1975. Das Kapitel von Clermont und die Strikte Observanz werden im folgenden behandelt. Zu den Gold- und Rosenkreuzern vgl. unten S. 11 i f f . Eine knappe Information zum Martinismus gibt Lennhoffj Posner, Sp. 41 iff. Ramsays Rede ist abgedruckt im Anhang zu Anderson, Neues Constitutionen Buch, S. 127-140. Die Seitenangaben erfolgen im Text. - Zu Ramsay vgl. insbesondere Werner, Claus, Die französische und deutsche Freimaurerei des 18. Jahrhunderts und ihr Verhältnis zur Aufklärung, Diss. (Masch.) Berlin/Ost 1966, S. 2iff.
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deswegen besonders aufschlußreich, weil sie einerseits in radikaler Weise die Konsequenzen aus den aufklärerischen Implikationen des freimaurerischen Konzepts zog, andererseits aber auch Formulierungen anbot, die später zur Legitimation der aristokratisch-ritterlichen Spielart der Maurerei herangezogen werden konnten. »Die gantze Welt ist nichts anders, als eine grosse Republick, worin jedes Volck eine Familie und jeder Einwohner ein Kind abgibt. Diese wesentliche Grund=Regeln, welche aus der Natur des Menschen hergenommen sind, wieder hervor zu bringen und auszubreiten, ist unsere Gesellschaft anfänglich aufgerichtet worden.« (128) Um dieses Ziel, die Wiederherstellung einer der Natur des Menschen gemäßen gesellschaftlichen Ordnung, zu erreichen, sucht die Maurerei »alle Menschen von erleuchtetem Verstände, guten Sitten und aufgeräumtem Gemiith, nicht allein durch die Liebe der schönen Künste, sondern noch mehr durch die grossen Grund=Sätze der Tugend, Wissenschafft und Religion, zu vereinigen.« Als Vorbild für ein solches Programm gelten die Kreuzfahrer, die Ramsay zu den »Vor=Eltern« der Freimaurerei erklärt. Sie ersannen eine Verfassung, »deren eintziger Zweck die Vereinigung der Gemüther und Hertzen ist, um solche zu verbessern, und mit der Zeit eine gantz vernünfftige Nation aufzurichten, worin man, ohne den Pflichten der verschiedenen Stände einen Abbruch zu thun, ein neues Volck hervorbringen wird, welches alle die Nationen, woraus es bestehet, gewisser Massen durch das Band der Tugend und Wissenschafft verknüpfet.« (129) Es wird deutlich, wie sehr sich dieses anspruchsvoll-utopische Vorhaben, die antizipierende Hervorbringung einer neuen Gesellschaft auf der Grundlage von Moralität und Wissenschaft, von der englischen Maurerei abhebt. Ramsays Discours bewegt sich zwischen Aktualisierung und Historisierung der Freimaurerei. Einerseits werden hier so bahnbrechende Ideen proklamiert, wie die der Schaffung einer internationalen Enzyklopädie alles verfügbaren Wissens: »Alle Groß=Meister in Teutschland, Engelland, Italien und andern Landen, ermahnen alle Gelehrten und alle Künstler der Brüderschafft, mit vereinigtem Fleiß die Materialien zu einem allgemeinen Wörter=Buch der freyen Künste und nützlichen Wissenschafften, die Gottes=Gelahrtheit und Staats=Kunst allein ausgenommen, zu sammlen.« (134^) Nur vierzehn Jahre später begann bekanntlich Diderots und D'Alemberts Encyclopédie zu erscheinen. Andererseits wird — bei klarer Erkenntnis des Legendencharakters der Andersonschen Geschichtskonstruktion - ein histori34
scher Zusammenhang zwischen der Freimaurerei und dem Ritterorden St. Johannis zu Jerusalem behauptet. Allerdings darf weder in dem Ritterorden noch in der Freimaurerei selbst der eigentliche Ursprung des Bundes gesehen werden. Vielmehr tritt der »sittliche Orden«, der, so Ramsay, »seit den ältesten Zeiten gestifftet und in dem heiligen Lande durch unsere Vorfahren erneuert worden« (137), in historisch jeweils sehr unterschiedlichen Formen auf. Hier zeichnet sich zum ersten Mal eine Unterscheidung von Kern und Hülle der Freimaurerei ab. Sie erlaubte die Aneignung so unterschiedlicher historischer Vorläufer wie der Pythagoräer, der Essener, der Chiliasten und eben der Tempelherrn. Andererseits bedeutete die Historisierung der Form des Bundes potentiell ein Transzendieren der gegenwärtigen Form der Freimaurerei, indem sie die Angemessenheit von maurerischer Organisation und Programm und der jeweiligen historischen Realität prinzipiell in Frage stellte. Die Brücke zwischen Aktualisierung und Historisierung der Freimaurerei wird bei Ramsay schon ansatzweise erkennbar; eine geschichtsphilosophische Argumentation taucht am Horizont auf, in deren Rahmen die Maurerei zum historisch relativierten Mittel wird, die Gegenwart auf einen in die Zukunft verlegten Zweck hin zu verändern. Doch wurde dieser von Ramsay angesponnene Faden nur selten in der Geschichte der Freimaurerei wieder aufgenommen oder gar weitergesponnen. Lessings Freimaurergespräche werden in diesem Zusammenhang zu behandeln sein.25 Unmittelbar wirksam wurde dagegen die von Ramsay herausgestellte Verbindung von Maurerei und mittelalterlichen Ritterorden, die vielen adligen und bürgerlichen Brüdern nicht wenig schmeichelhaft erschien. »Der Name Frey=Maurer muß also nicht in einem wörtlichen, groben und materiellen Verstände genommen werden . . . Sie [die Freimaurer, M. V.] waren nicht allein geschickte Baumeister, welche ihre Fähigkeiten und Güter dem Bau äußerlicher Tempel wiedmen wollen, sondern auch gottesfürchtige und kriegerische Prinzen, welche die lebendigen Tempel des Allerhöchsten zu erleuchten, zu erbauen und zu schützen bemühet gewesen.« (135) Einer der ersten Hochgrade, der die Templerlegende als die wahre Geschichte der Freimaurerei ausgab, war der »Maitre Ecossais«, der Schottische Meister, der 1742 zuerst erwähnt ist. 24 An die Stelle Hirams im alten englischen Meister2J 24
Vgl. unten S. 147fr., bes. S. 170fr. LennhoffjPosner, Sp. 499 und 1402fr. Zum Ritual vgl. die aufschlußreiche Schrift: Das Freimaurerthum in seinen sieben Graden. Nach den Archiven der Großen Loge Englands von einem Royal-Arch-Mason dargestellt, Leipzig 1857, S. 87ÍF.
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grad - Hiram, der Baumeister von Salomos Tempel, wird noch vor Fertigstellung des Tempels ermordet; seine Mörder, Jubelo und Jubelum, werden bestraft - trat Jacques de Molay, der letzte TemplerGroßmeister, der 1314 auf Befehl Ludwigs des Schönen hingerichtet worden war. Die Geheimnisse des Templerordens wurden von der Freimaurerei in Schottland überliefert. Ein anderes französisches Hochgradsystem, das Kapitel von Clermont, konnte beträchtliche Erfolge in Deutschland verzeichnen.2' Es bestand aus vier Graden, die erst nach dem Durchgang durch die dreistufige Johannisfreimaurerei erworben werden konnten. Die Hochgrade lehrten eine leicht veränderte Version der Templerlegende. Der Orden, so wurde behauptet, ist eine göttliche Einrichtung. Seine Geschichte erstreckt sich von Adam über Noah, Nimrod und Salomo zu Christus und Konstantin und schließlich zu den Kreuzrittern und Tempelherren. Nach der Zerstörung des Tempelherrenordens haben dessen übriggebliebene Mitglieder zu ihrem Schutz die maurerische Kleidung und das Brauchtum angenommen. Jetzt, in der siebten Periode seiner Geschichte, habe der Orden seinen Höhepunkt erreicht: »Er sammelt seine Kräfte, um eines Tages Macht in der Welt wiederzuerlangen.«26 Auffällig ist die verstärkte Betonung christlicher Elemente, wobei deistisch-irenische neben chiliastischen Zügen stehen. Ganz deutlich tritt auch der weltliche Anspruch hervor. Allerdings bleibt der Aktivismus des Ordens papieren. In den vier neuen Graden - neben einem Schottischen und einem Elu-Grad gab es den Eques illustris und den Chevalier sublime werden hermetische Wissenschaften, aber auch Mechanik und Physik bearbeitet. Ein kriegsgefangener französischer Offizier führte das System während des Siebenjährigen Krieges in Deutschland ein. Es konnte in Berlin die aus der früheren königlichen Loge hervorgegangene Mutterloge »Zu den drei Weltkugeln« für sich gewinnen. Ab 1760 fand das System durch die Aktivität des Hallenser Theologen und Konsistorialrats Philipp Samuel Rosa in Norddeutschland viele Anhänger. Rosas überdimensionierte Organisationspläne, seine dunklen Finanzgeschäfte und das Auftreten von Schwindlern, die vom Verkauf von Geheimnissen an die gutgläubigen Rosaschen »Kapitel« - so wurden die Hochgradlogen genannt — lebten, bereiteten dem System
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Dazu Frick, Die Erleuchteten, S. 2i6ff., LennhojfjPosner, Sp. 28off. Nach Frick, Die Erleuchteten, S. 222.
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ein schnelles Ende. Seine Nachfolge trat die wohl größte und einflußreichste Organisation der Hochgradmaurerei in Deutschland an, die Strikte Observanz. Als Begründer der Strikten Observanz gilt der sächsische Reichsfreiherr Karl Gotthelf von Hund und Altengrotkau, dessen mit der Freimaurerei aufs engste verbundene Leben wohl zu Recht die Bezeichnung Sozialbiographie beanspruchen kann. 27 1722 als Sohn eines kursächsischen Kammerherrn und Rittergutsbesitzers geboren, trat er nach dem Studium in Leipzig 1739 die standesgemäße Reise an. In Paris kam von Hund, der vermutlich 1741 in Frankfurt Freimaurer geworden war, in Kontakt mit den gerade entstehenden Hochgradsystemen. Genaueres ist über diese Periode seines Lebens nicht bekannt. Der eigentümlich schwebende Charakter der Strikten Observanz zwischen Realität und Fiktion umhüllt diese Jahre, die konstitutiv sind für die Geschichtslegende des Ordens. Hund behauptete nämlich, er sei 1742 am Hofe des in Paris lebenden schottischen Thronprätendenten Charles Edward von einem geheimnisvollen Ritter »a penna rubra« (»von der roten Feder«) in die Geheimnisse des in Schottland fortbestehenden Tempelherrenordens initiiert worden. Zugleich hätte man ihn dort zum Heermeister der V I I . Provinz dieses Ordens (Deutschland) ernannt. Als Beweis dafür empfing er ein entsprechendes Patent, das aber in einer unauflösbaren Chiffre ausgestellt war. Dessen ungeachtet wurde dieses Patent für die folgenden dreißig Jahre zur Grundlage der wichtigsten freimaurerischen Organisation in Deutschland. Hunds adlig-feudale Existenz als Rittergutsbesitzer verschaffte ihm materielle Unabhängigkeit. E r widmete sein Leben vollständig der freimaurerischen Sache und scheute sogar vor erheblichen materiellen Opfern nicht zurück. Unablässig arbeitete er am Aufbau der Strikten Observanz, die 1775, ein Jahr vor seinem Tod, 26 Fürsten zu ihren Mitgliedern zählte und über ein ganz Deutschland und große Teile Europas umfassendes Logennetz verfügte. Wenn über Hund geurteilt wird, er sei »eine pathologisch leichtgläubige Persönlichkeit mit großem Geltungsbedürfnis gewesen« 28 , so ist dem hinzuzufügen, 27
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Zur Geschichte der Strikten Observanz und zur Biographie Hunds vgl. Lennhoffj Posner, Sp. 719fr. und 1520fr., Boos, Geschichte, S. 204fr., Runkel, Geschichte, S. 18 iff., Werner, Freimaurerei, S.96 ff., Böttner, Friedrieb John, Zersplitterung und Einigung. 225 Jahre Geschichte der deutschen Freimaurerei, hg. von der Loge »Absalom zu den drei Nesseln«, Hamburg 1962, S. ; iff. und Frick, Die Erleuchteten, S. 223fr. Lennhoffj Posner, Sp. 7 2 ; .
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daß diese Pathologie so wenig wie das Geltungsbedürfnis allein auf individueller Ebene erklärt werden können. Hund wie die Strikte Observanz müssen als Fälle gesellschaftlicher Pathologie betrachtet werden, ihr zeitdiagnostischer Wert ist erheblich. Der sächsische Reichsfreiherr gehört in die lange Reihe der >betrogenen Betrügen des 18. Jahrhunderts, wie sie in Wielands späten Romanen gestaltet worden sind. 29 Die Frage darf nicht unbeantwortet bleiben, wer oder was den Betrüger betrog. Die Herleitung der gegenwärtigen Freimaurerei als legitime Nachfolgerin des im 14. Jahrhundert erloschenen Templerordens entspricht in etwa der des Clermontschen Kapitels. Gegenüber Ramsays Discours ist aber eine bemerkenswerte Veränderung zu beobachten. Die Maurerei wurde nicht als ein Bund verstanden, der einer Idee, einem Programm unter historisch wechselnden Formen zur Wirklichkeit verhilft. Sie ist nur Tarnung, ein Schutz, den die Tempelherren aus Angst vor Verfolgung gesucht haben, der ihrem eigentlichen Anliegen jedoch äußerlich ist. Nicht so sehr die Realisierung eines inhaltlich bestimmten Zwecks ist das Ziel, der Strikten Observanz, sondern die tatsächliche Wiederherstellung des mittelalterlichen Ritterordens. Weniger um eine antizipatorische Utopie handelt es sich hier, als um eine restaurative Feudalidylle, die gleichwohl eine erstaunliche gesellschaftliche Sensibilität verrät, legte sie doch durch die Beschwörung einer stolzen und unabhängigen Vergangenheit den Finger auf die Wunden des domestizierten Adels im 18. Jahrhundert. Der Aufbau der Strikten Observanz war daher folgerichtig am Vorbild des Tempelherrenordens ausgerichtet. An der Spitze einer streng ausgebildeten Hierarchie standen die Superiores Incogniti, die Unbekannten Oberen, nach deren Instruktionen der aus neun Provinzen bestehende Orden angeblich geleitet wurde.' 0 Die Provinzen: I. Arragonia II. Albernia (Auvergne) III. Occitania (Languedoc) I V . Legio V . Burgundia V I . Britannia (Bretagne) V I I . Germania inferior (Norddeutschland) V I I I . Germania superior (Süddeutschland, Österreich, Norditalien) I X . Graecia und Archipelagus. An der Spitze dieser teils imaginären, teils wirklich (im Ordenssinne) existierenden Provinzen standen ein Heermeister und ein Großmeister. Hund hat bis zu seinem Tode die Heermeisterwürde für die V I I . Provinz innege29
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Etwa im Peregriniti Proteus und Agathodämon. Vgl. dazu die Textanalysen unten S. 414fr., 447fr. Zum folgenden: Frick, Die Erleuchteten, S. 226fr.
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habt. Unterhalb der Provinzebene gab es Präfekturen, wie die Hochgradkapitel der Strikten Observanz bezeichnet wurden. Auch hier fanden alte Templernamen Verwendung. So taucht Berlin in Dokumenten des Ordens als Templin auf, Leipzig als Derla und Hamburg als Ivenak. Die Logen selbst hießen bei der Strikten Observanz Hauskommenden, sie wurden von einem Hauskomtur geleitet. Der Orden fügte den weiterbestehenden englischen Johannisgraden drei, ab 1770 vier Hochgrade hinzu. Grundlage für alle Stufen des Systems war die sogenannte Obödienzakte, ein Revers, in dem der Aufzunehmende strengste Verschwiegenheit über den Inhalt der Grade, vor allem aber bedingungslosen Gehorsam gegenüber den bekannten und unbekannten Obern geloben mußte. Hierher stammt der Name des Ordens. Der vierte, »schottische Grad« sah für den Kandidaten die Rolle des Angeklagten in einer Gerichtszene vor. Der Baumeister Hiram, dessen Ermordung ihm vorgeworfen wird, ist aber nicht tot, sondern im Begriff, als Notuma wiederaufzuerstehen. Notuma bildet das Anagramm von Aumont, dem Nachfolger de Molays. Der Kandidat wird begnadigt. Es folgen als fünfter Grad das Noviziat, als sechster die eigentliche Ritterweihe, die den Aufzunehmenden in den »Inneren Orden« und seine Geschichte einführt. 1770 wurde noch der Grad eines Eques professus (»Ritter des großen Gelübdes«) hinzugefügt. Die Zeremonien der höheren Grade waren verbunden mit einer außerordentlichen Prachtentfaltung. Der Ritterschlag sah die Einkleidung des Kandidaten vor: »Unter feierlichen Zeremonien wurde er in die Ordenstracht gekleidet und mit Helm und Harnisch bewehrt. Die Ordenstracht bestand aus einem kurzen weißwollenen Untergewand, darüber ein Mantel mit dem roten Templerkreuz auf der linken Seite. Auf dem purpurfarbenen Rock waren neun kleine goldene Schleifen gestickt, darunter wurde eine hellblaue Weste getragen. Die Ritter trugen um den Hals ein rotes Kreuz am roten Band.« 5 ' Doch damit nicht genug. Die Inhaber höherer Grade, die schon bei ihrer Beförderung einen nom de guerre erhielten - Hund z. B. hieß im Orden »eques ab ense« (»Ritter vom Degen«) - , wurden für würdig erachtet, so wohlklingende Ämter wie die eines Priors, Großkomturs, Präfekten oder Kommendators zu verwalten. Friedrich Ludwig Schröder hat in JI
Runkel, Freimaurerei, Bd. 1, S. 192. Das folgende Patent wird zitiert nach Materialien, Bd. i, S. 2 54Í. Abaß, Geschichte, Bd. i, S. 267fr, stellt eine regelrechte Kleiderordnung für die Ordensämter 1775 vor.
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seinen Materialien Geschichte der Maurerei ein solches Patent für die Verleihung der Würde eines »Großcomthurs« überliefert: Demnach S. H. G . Carl, R . v. D . derzeit Heermeister mit Z u z i e h u n g des hohen O . K a p . der Tempelherren an der E l b e und O d e r , auf geschehene gehorsamste Vorstellung des Br. G e o r g , R . v. d. Säule, Subprior zu D r o y sig, den H o c h w . Br. Ritter v o m A d l e r ins Großpriorats K a p . eingeführt, und ihm die erledigte Stelle eines G r o ß c o m t h u r s zu Rathenau gnädigst ertheilt zu haben; . . . anbefohlen, Ihn f ü r einen G r o ß c o m t h u r zu Rathenau zu halten, zu achten, und zu erkennen; auch ihm die E h r e und die Prärogativen . . . wiederfahren zu lassen . . . Sonnenburg, den 9. J u l y 5441 Restaur. Ord. Carl, Ritter v o m D e g e n . Christian, Ritter v o m rothen L ö w e n .
Derartig eingesponnen in den Schein einer untergegangenen Feudalwelt, könnte man den Orden vorschnell als untauglichen Versuch abschreiben, mittels eines anachronistisch erborgten So2ialpathos, den BedeutungsVerlust des Adels im 18. Jahrhundert zu kompensieren. Das trifft jedoch nur eine Seite dieses schillernden Phänomens. Die Mittel, deren man sich zur Durchsetzung seiner Absichten bediente oder doch bedienen wollte, weisen in eine andere Richtung. 1755, noch vor der eigentlichen Ausbreitung des Systems, verabschiedete das »Gros=Capitel« auf Hunds Gut Unwürde den Entwurf zu einem »Operations=Plan, wornach die Vortheile des hohen Ordens und fürnehmlich des deutschen Heer=Meisterthums hinfort beobachtet werden können«.' 2 Bei diesem Plan fallt zunächst die an moderne Kadertaktiken erinnernde Reflexion des Zusammenhangs exoterischer Maßnahmen und esoterischer Zwecke auf. Ein Ziel des Ordens ist die Vermehrung der Tempelherren. Niemand, so heißt es, solle ohne Absichten zum Ritter geschlagen werden: »Es gibt Leute, welche theils wegen ihrer Geburt, ihres Alters und Standes, ihrer Geschäfte, theils wegen Ihrer Denkungsart ungeschickt sind, dem Orden als wirkliche Ritter verbunden zu werden.« (228) Dennoch sollen diese Männer dem Orden »nützlich« werden, bis auf weiteres jedoch ohne wirkliche Beförderung in den Glauben gesetzt werden, sie spielten eine wesentliche Rolle.
'2 Materialien, Bd. 2, S. 225fr. enthält als Beilage 1 »Project zu einem Operations=Plan, wornach die Vortheile des hohen Ordens und fürnehmlich des deutschen Heer=Meisterthums hinfort beobachtet werden können, welcher von dem ersten Gros=Capitel zu Unwürde ist ausgearbeitet worden«. Seitenangaben erfolgen im Text. Schröder brachte den Plan in der unwesentlich veränderten Fassung von 1765.
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Dann kommt der Plan zu seinem Hauptanliegen: Es geht um die Errichtung einer Ordenskasse, die einerseits eine regelmäßige Besoldung der im Dienst des Ordens stehenden Würdenträger ermöglichen sollte - Hund als Heermeister etwa sollte jährlich 2000 Gulden erhalten, ein Präfect 180 Gulden - , andererseits die Schaffung eines Pensionssystems für alle Ritter des Ordens. 33 Dazu waren neben den außerordentlich pedantisch errechneten Ordenseinnahmen aus den zahlreichen Gebühren, die die Mitglieder aufzubringen hatten, auch dons gratuits und Legate hochgestellter Persönlichkeiten vorgesehen. Der Orden, so das »Gros=Capitel«, solle »etwas unternehmen, das sich der Welt zeigt«. (230) Gedacht ist an wohltätige Stiftungen, unter deren Deckmantel sich die eigentlichen Geschäfte des Ordens verbergen. Ich setze voraus, daß die Stiftung eines Waisenhauses eine solche wäre, auf welche der Orden am ersten reflektiret hätte; und daß zwar aus folgenden Ursachen: 1) Ist solche der G e s i n n u n g der meisten Menschen, wenn man sie den Unterschied des Standes und der Geschäfte nach betrachtet, am angemessensten und hat man sich also vermuthlich eines größern Beitrags fremder Leute zu versprechen. 2) K a n n man mit derselben viele andre uns nützliche Einrichtungen kombiniren. 3) Läßt sich dieselbe, so wie die Ordens Bereicherung erfolgt, unter allen anderen am besten verändern, um den allgemeinen E n d z w e c k des Ordens, der Welt sich mit der Zeit als ein Ritter Orden zu zeigen, immer näher zu kommen. Ζ . E . solche Waisenhäuser ließen sich bei zunehmenden R e v e n u e n auf Mechanische K ü n s t e ausbreiten und darauf in Krieges=Schulen verwandeln. (23 2f.)
Wie genau der Orden sich der sozial abgestuften Reaktion auf seine Vorhaben bewußt war, wird im weiteren Verlauf deutlich. Durch ein Waisenhaus, so heißt es, »hätten wir den Beifall des größern Haufens, das ist: der Leute niedern Standes gewonnen.« Eine Kriegsschule dagegen erbringe »die Achtung großer Herrn und Standes=Personen. . . So ist der Zeitpunkt gekommen, Fürsten zu kultiviren, um von ihnen für den Orden wirkliche Vortheile zu ziehen.« (233) Zwanzig Jahre vor dem Bund der Illuminaten plante die Strikte Observanz bereits, junge Adlige zu erziehen, die dann die Sache des Ordens »bei diesem oder jenem Prinzen« vertreten und so dessen Größe und Ausbreitung befördern sollten. Mittel und geheimer Zweck des Ordens wurden säuberlich geschieden. Öffentlich muß der Orden »allezeit das Ansehen behalten, daß er das Beste des gemeinen Wesens befördern will. Thut er das Gegentheil, " Zu den Einzelheiten vgl. Abafi, Geschichte, Bd. 1, S. ιηοί.
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so verstopft er sich selber die Quellen, aus deren Zufluß er sich vergrößern und bereichern kann.« (234) Die unbeugsame Strenge, die im Orden herrschte, wurde im Plan mit der Sorge um den Zusammenhalt der Gesellschaft begründet, die gezwungen war, unter so unterschiedlichen Gestalten und zerstreut arbeiten zu müssen. Nicht etwa, daß der Operationsplan von 1755 den Orden nicht in seiner Weltfremdheit zeigte. So wird im weiteren beispielsweise das Projekt einer Ordenskolonie in Amerika erörtert; auch später taucht dieser Gedanke, der deutliche Bezüge zu den Assekuranz- und Auswanderungsplänen der Turmgesellschaft in Goethes Wilhelm Meister aufweist, als »Labrador-Plan« wiederholt auf. Das problematische Wirklichkeitsverständnis des Ordens wurde ebenso in dem Versuch erkennbar, eine »Laborantenklasse« einzurichten, in der alle Ordensmitglieder, die über naturwissenschaftliche Kenntnisse und Fähigkeiten verfügten, zusammengefaßt waren. Neben dem Bemühen, Gold und Silber auf dem Wege der Metallveredelung herzustellen, und neben der experimentellen Entwicklung eines Lebenselixiers erwog man auch die Produktion von Pulvern und Tinkturen, die dem Orden kommerziellen Nutzen einbringen sollten.34 Auffallig ist aber die merkwürdig anachronistische Kombination fortschrittlicher Methoden mit einem restaurativen Zweck. Die Strikte Observanz vereint ungleichzeitige Zeitschichten, deren offene Widersprüchlichkeit nur durch den fiktiven Wirklichkeitscharakter des Ordens verdeckt werden konnte. Nur so wird die Zusammenarbeit so unterschiedlicher Persönlichkeiten erklärbar, wie sie von Hund und der Finanzplaner des Ordens, Johann Christian Schubart, später als Edler von Kleefeld geadelt, darstellten." Schubart war es, der den ehrgeizigen Kassenplänen des Ordens wenigstens teilweise zur Wirklichkeit verhalf. Von 1763 bis 1768 war er - von Beruf hannoverscher Kriegslieferant und Landwirt, - für die Strikte Observanz tätig. Schubart verkörperte die Spannung zwischen der wissenschaftlich-technischen Welt der Aufklärung und der feudalen Aura des Ritterordens, wirkte aber zugleich als personelle Klammer. Er galt als ein hervorragender agrarwissenschaftlicher Schriftsteller des 18. Jahrhunderts; seine Verdienste um die Entwicklung neuer Futtermittelträger in der Landwirtschaft (Klee!) brachten ihm 1782 einen Preis der Berliner Akademie der Wissen-
' 4 Dazu Frick, Die Erleuchteten, S. 229fr. " Zu Schubart vgl. LennhoffjPosner, Sp. 1419F., Werner, Freimaurerei, S. 101.
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Schäften ein, später den Adelstitel. Es war der gleiche Mann, der knapp zwanzig Jahre zuvor den »ökonomischen Plan« der Strikten Observanz entwarf, der neben der Errichtung einer Tabakmanufaktur, einer Kriegsschule und einer wissenschaftlich-technischen Hochschule auch den höchst komplizierten Vorschlag zu einer Altersversorgung der Ritter des 18. Jahrhunderts enthielt. Es scheint, als habe die Strikte Observanz beiden, dem rückwärts gewandten Aristokraten Hund wie dem bürgerlichen Pionier zukunftsträchtiger Technologien, Raum gegeben, Phantasien zu leben, deren Erfüllung die Wirklichkeit versagte. Die bisherige Darstellung hat zeigen können, wie bestimmend Schein, Illusion und Fiktion für die mythologische Realität der Strikten Observanz waren. Nur sie vermochten den latenten Widerspruch von restaurativem Zweck und modernen Mitteln zu überspielen, das verblüffende Nebeneinander von bürokratischer Normalität - etwa in der Korrespondenz des Ordens — und phantastischsten Projekten. Da, w o das Bewußtsein von der eigentümlichen Unwirklichkeit des Bundes hervortrat, war seine Wirklichkeit bedroht. Die Strikte Observanz ging schließlich an ihrem Scheincharakter zugrunde. Nachdem verschiedene Betrugsaffaren Mißtrauen und Zweifel an Hunds Legitimation genährt hatten, nachdem das Hundsche Patent seine illusionsstiftende Rolle verlor, war es um den Orden geschehen. 56 Die als fiktiv entlarvte Wirklichkeit des Geheimbunds war reif geworden für ihre fiktional-ästhetische Rezeption in der Literatur. Aus der fingierten, aus kollektivem Selbstbetrug gespeisten Realität des Ordens wurde schrittweise wirkliche Fiktion. Sie war immer schon latent in der unwirklichen Wirklichkeit der geheimen Gesellschaften angelegt. Und es war dieser eigentümlich schillernde Wirklichkeitscharakter der Bünde, der ihre literarische Behandlung wesentlich bestimmt hat. Der im Geheimbundwesen außerordentlich bewanderte Adolph Freiherr von Knigge, der vor seiner aktiven Mitgliedschaft im Illuminatenorden der Strikten Observanz angehörte, versuchte in seinem Beytrag %ur neuesten Geschichte des Frejmaurerordens (1786) eine Antwort auf diese Frage zu geben. 37 E r läßt Weller und Brink, zwei Lessings Ernst und Falk nicht unähnliche Gesprächspartner, die Geschichte der Freimaurer erörtern.
36
"
Vgl. dazu unten S. 49fr. [Knigge, Adolph Freiherr von], Beytrag zur neuesten Geschichte des Freymaurerordens in neun Gesprächen. Mit Erlaubniß meiner Obern, Berlin 1786, S. 67.
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Sein [d. i. H u n d s , M . V . ] System w a r v o n der A r t , daß jeder etwas darinn fand, das seinen N e i g u n g e n schmeichelte. D e r Geldgeizige: H o f n u n g , einst den Stein der Weisen zu finden; der Ehrgeizige: Gelegenheit zu herrschen, eine hohe Befehlshaberstelle in einem militärischen Ritterorden zu bekleiden; der rangsüchtige Bürger: den V o r z u g , mit einem Ritterorden geziert, unter den Adelichen in gleicher Reihe zu stehen; der Wißbegierige: A u s sicht, höhere Kenntnisse zu erlangen; der Schwärmer: in die Tiefen mystischer Weisheit zu dringen.
Der Orden leistete also, so Knigge, Ersatzbefriedigung für Ansprüche und Bedürfnisse, die in der Realität nicht oder nur teilweise erfüllt werden konnten. Dabei standen gesellschaftliche und materielle Interessen neben wissenschaftlichen oder gar religiösen. Soweit es die verwendeten Quellen erkennen lassen, gehörten der Strikten Observanz, insbesondere der Ordensspitze nahezu ausschließlich Adlige sowie Angehörige eines gehobenen Bürgertums (Beamte, Intellektuelle) an.58 1764 waren 23 Mitglieder des Inneren Ordens adlig, neun bürgerlich. Auffallend ist dabei die hohe Zahl von Offizieren (18), die Unterrepräsentation des Landadels und das gänzliche Fehlen des Wirtschaftsbürgertums. Um die Attraktivität der Strikten Observanz für den domestizierten Adel und das bürokratische und Bildungsbürgertum zu erklären, muß die scheinhafte Realität des Ordens in Beziehung gesetzt werden zur sozialen Lage seiner gesellschaftlichen Träger. Dabei wird Bezug genommen auf die von Habermas idealtypisch charakterisierten Formen der repräsentativen und der bürgerlichen Öffentlichkeit. Habermas beschreibt die Entfaltung der repräsentativen Öffentlichkeit als »an Attribute der Person geknüpft: an Insignien (Abzeichen, Waffen), Habitus (Kleidung, Haartracht), Gestus (Grußform, Gebärde) und Rhetorik (Form der Anrede, förmliche Rede überhaupt) . . ,«59 Diese Form der Öffentlichkeit ist nach Habermas wesentlich der feudalen Aristokratie vorbehalten, die, Autorität und öffentliche Person darstellend, ist, was sie repräsentiert. Im kritischen Gegenzug zur repräsentativen Öffentlichkeit entfaltete sich eine genuin bürgerliche Öffentlichkeit von innen her, »als öffentlich relevant gewordene Privatsphäre der Gesellschaft«. (33) Die fundamentale Gegensätzlichkeit bürgerlicher und repräsentativer Öffentlichkeit bringt Habermas pointiert zum Ausdruck, indem er feststellt: »Der Edelmann
' 8 Die Zusammensetzung des Innern Ordens der Strikten Observanz nach Materialien, Bd. 2, S. 46fr Zur Sozialstruktur des Ordens insgesamt vgl. unten S. 67fr. " Habermas, Strukturwandel, S. 20.
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ist, was er repräsentiert, der Bürger, was er produziert.« (26f.) Diese modellhafte Zuspitzung stellt aber noch keine angemessene Beschreibung der gesellschaftlichen Realität der beiden sozialen Gruppen dar. Historisch adäquater wäre die Formulierung: Der Adlige ist nicht mehr, was er repräsentiert, der Bürger noch nicht, was er produziert. In dem >noch nicht< und >nicht mehr< liegt eine mögliche Erklärung dafür, warum Adlige und Bürgerliche ihre soziale Befriedigung in Scheingebilden wie der Strikten Observanz suchten. Der Orden erfüllte jedes einzelne Kriterium der von Habermas gegebenen Beschreibung repräsentativer Öffentlichkeit. E r war ein - notwendig zum Scheitern verurteilter - Versuch, Öffentlichkeit in ihrer repräsentativen Form zu entfalten. 40 Nicht umsonst hatten Ämter und Titel, Anreden und Patente, Kleidung und Ritual der Strikten Observanz eine so große Bedeutung. Die ganze Scheinwelt des Ordens erhielt ihre Relevanz erst dadurch, daß sie - als Surrogatform repräsentativer Öffentlichkeit - den verschiedenen Mitgliedergruppen spezifische Möglichkeiten sozialer Selbstdarstellung verschaffte. Dem Adligen, der als Offizier oder Hofbeamter in das Beziehungsgeflecht des absolutistischen Systems eingebunden war, wurde die Gelegenheit gegeben, eine drohende Statusinkonsistenz bei zunehmendem gesellschaftlichen Prestigedruck dadurch zu kompensieren, daß er etwa als »Großcomthur von Rathenau« oder »Präfekt von Templin« ritterliche Dienste leistete. Der Professor der Theologie, durch den Ritterschlag erhöht, in voller Ordensuniform, mit Degen und gespornten Stiefeln, erhielt die Möglichkeit, die starren Grenzen des absolutistischen Sozialsystems zu überschreiten, indem er teilhatte an normalerweise adlig-exklusiven Formen gesellschaftlicher Distinktion. Knigges Analyse der Anziehungskraft des Ordens war erstaunlich treffsicher. Jede einlinige Interpretation hält jedoch der Vielschichtigkeit des historischen Phänomens nicht stand. So ist für die beteiligte Aristokratie noch ein weiterer Motivationskomplex anzuschließen, der eng zusammenhängt mit der Verhofung und Funktionalisierung des Land- und Reichsadels im Z u g e der Ausbildung der absolutistischen 40
D a s Phänomen der Hochgradorden steht so gewissermaßen neben anderen zeittypischen Formen des Wirklichkeitsverlusts - denn das ist der Preis, der für den scheinhaften Z u g e w i n n an Prestige bezahlt werden muß - , etwa der »Schwärmerei« oder der »Theatromanie«, wie sie u. a. in Goethes Theatralischer Sendung oder Moritz' Anton Reiser dokumentiert sind.
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Herrschaft. Die Strikte Observanz war durchaus Ausdruck einer Realitätsflucht, einer rückwärts gewandten Utopie, die ihr Ziel in der Wiederherstellung der Ursprünglichkeit einer vor-staatlichen Heldenzeit sah, in der der Kriegsadel eine tragende Rolle innehatte. Die Aufhebung des erlittenen Funktionsverlusts durch die Glorifizierung der eigenen Vergangenheit wurde freilich auf fast ironische Weise kontrastiert durch den pedantischen Pensionsplan der aufgeklärten Ritter, der sehr realitätsnah die schwierige Lage der oft hochverschuldeten grundbesitzenden Aristokratie reflektierte. Es erstaunt nicht, wenn die zeitgenössische Satire die Rolle des Adels in der Freimaurerei nach dem Muster des Don Quixotte behandelte, wie etwa Ernst Anton August von Göchhausen in seinen Freimaurerischen Wanderungen des Junkers Don Quixotte von 1787. 4 1 Die Scheinhaftigkeit der bloß eingebildeten Welt der Ritterorden fand so eine angemessene Darstellung. Die Strikte Observanz war damit Wegbereiter und Träger einer umfassenderen Romantisierung der ritterlichen Welt des Mittelalters, die in Deutschland - anders als bei der englischen >Gothic Revival< — zunächst nur literarischen Niederschlag fand: im Ritterdrama, im historischen Trivialroman und schließlich in der Romantik. Eine ähnliche Einschätzung der Hochgradfreimaurerei findet sich bei Ernst Manheim, der in ihr eine frühe Ausdrucksform moderner Entfremdung sieht: »All das ist der erste und äußere Niederschlag eines noch unausgereiften intimen Affronts gegen den öffentlichen Geist des bürokratischen Absolutismus, gegen die Vernunftreligion, die schulphilosophische Pedanterie, gegen ihr wachsendes Monopol auf die Publizität, gegen die Auflösung überlieferter Verhältnisse und gegen die allmähliche Kommerzialisierung und rechtliche Kodifikation des persönlichen Dienstverhältnisses.« 42 Diese Interpretation ist zutreffend, aber unvollständig. Sie vergißt hinzuzufügen, daß der zumeist unbewußte Protest gegen Bürokratismus und die Verrechtlichung persönlicher Beziehungen, gegen eine geistige Pedanterie eben von dem charakterisiert war, gegen das er sich wandte. Ein Blick auf die komplizierte Organisationsstruktur geheimer Gesellschaften, auf die in Ordensdokumenten verwendete Sprache, auf die von Detailfetischismus geprägten Logenstatuten beweist, wie schnell ein kritisch 41
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Nähere Angaben im Literaturverzeichnis. Dem satirischen Desillusionsschema folgen auch die dort genannten Romane von August Siegfried von Goué und Theodor Gottlieb Hippel. Manheim, Aufklärung, S. 1 1 2 .
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gemeintes Gegenbild zum Spiegelbild geriet, waren es doch nicht zuletzt Bürokraten, die als eine der größten Mitgliedergruppen den geheimen Gesellschaften ihren Stempel aufdrückten. Beides ist richtig: Hochgradorden wie die Strikte Observanz waren Ausdruck einer latenten Zivilisationskritik, doch griff die Zivilisation auch in ihnen Raum. 43 Die eigentliche Geschichte der Strikten Observanz, zu der es jetzt zurückzukehren gilt, ist rasch erzählt. Der Aufstieg des Ordens begann nach dem Siebenjährigen Krieg. Hund vermochte es, die meisten der deutschen Hochgradkapitel seinem System einzuverleiben. Eine Affäre um den Hochstapler Johann Samuel Leucht überstand der Orden unbeschadet. Schubart gelang es, eine Reihe einflußreicher Männer für die Ziele des Ordens zu gewinnen. Das - neue Illusion stiftende! Auftreten eines von dem Theologen Johann August Starck begründeten »Klerikats«, das vorgab, als geistlicher Zweig des Tempelherrenordens im Besitz der wahren Geheimnisse der Templer zu sein, endete mit einem Vergleich auf dem Konvent von Kohlo 1772, wo der formelle Anschluß der Kleriker an die Strikte Observanz vollzogen wurde. 44 Der Aufschwung des Ordens wurde begleitet von einer zunehmenden Verstrickung in die deutsche und internationale Politik. Das Interesse, das zahlreiche Angehörige des Hochadels der Strikten Observanz entgegenbrachten, verweist auf den hohen Prestigewert, den ein Ordensamt versprach. Eine Reihe prächtiger, mit großem Aufwand ausgestatteter Konvente - 1766 in Altenberge, 1772 in Kohlo, 1775 in Braunschweig, 1777 in Leipzig, 1778 in Wolfenbüttel und schließlich 1782 in Wilhelmsbad - verschaffte dem ritterlichen Geheimbund eine Art exklusive Halb-Öffentlichkeit. 1775 gehörten 26 deutsche und ausländische Fürsten der Strikten Observanz an. Die Inszenierung des Altenberger Konvents läßt erahnen, wie detailliert das Zeremoniell dieser auf Wirkung berechneten Veranstaltungen geplant, wie streng die am höfischen Vorbild orientierte Etikette genommen wurde. 45 »Es 4J
Daß die Logen der Strikten Observanz Orte waren, an denen eine bürgerliche Öffentlichkeit sich entfalten konnte, ist bei der Darstellung bewußt in den Hintergrund getreten. Vgl. dazu unten S. 78, ausgespieltprominente< Mitglieder wie Gotthold Ephraim Lessing, der 1772 eher zufällig in eine Loge dieser Observanz geraten war, und Karl Philipp Moritz, der in der Berliner Loge »Zur Beständigkeit« das Redneramt versah. 62 "
60 61
LennhoffjPosner, Sp. 1437. Dazu unten S. 6 7 ff. Abgedruckt bei Runkel, Geschichte, Bd. 2, S. 1 ηηί.
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Eine entscheidende Station auf dem Weg der Reform der Freimaurerei war der Konvent der Strikten Observanz in W i l h e l m s b a d 1782, der praktisch das Ende dieses Systems zur Folge hatte. 6 ' Schon vor dem Konvent hatte der Braunschweiger Herzog Ferdinand als GeneralGroßmeister seiner Sorge Ausdruck verliehen, Oberhaupt einer Gesellschaft zu seyn, die mit ihren Beschäftigungen keinen anderen Endzweck verbindet, als einerseits durch vervielfältigte Aufnahmen . . . die Masse des Reichthums in der Loge so sehr als möglich zu vergrößern, einzelnen Gliedern dadurch oeconomische Vortheile zu verschaffen und das beste, menschlichste Institut in eine Leibrenten-Gesellschaft umzuschaffen, auf der anderen Seite aber durch die Erwerbung dieses Reichthums an der Wiederherstellung eines Ordens zu arbeiten, der unserem Geiste und dem Geiste unsers Jahrhunderts nicht mehr anpassend ist. . . (96f.) Der Konvent sollte denn auch die Frage nach den Unbekannten Oberen des Ordens endgültig beantworten, seinen wahren Zweck bestimmen und in diesem Zusammenhang seine Verbindung mit dem Tempelherrenorden prüfen. 36 Delegierte, die aus ganz Europa nach Wilhelmsbad gekommen waren, versuchten in zahlreichen Sitzungen diese Probleme einer Lösung näherzubringen. Das Schlußkommuniqué verrät, daß sie dabei auf halbem Wege stehengeblieben sind. Da keinerlei Beweise für eine direkte Kontinuität von Tempelherren und Freimaurern gefunden werden konnten, wurde der Anspruch auf Wiederherstellung des Ritterordens und mit ihm die Idee Unbekannter Oberer aufgegeben. Eine gründliche Neubestimmung des Zwecks unterblieb allerdings ebenso wie eine konsequente Abschaffung der Hochgrade. Drei >ideologische< Gruppierungen bemühten sich, ihre jeweiligen Vorstellungen von einem künftigen Orden durchzusetzen. Die hermetisch-alchimistischen Interessen konnten dabei genausowenig E r f o l g für sich verbuchen wie die radikalaufklärerisch-rationalistischen Ideen, die eine Gruppe um Johann Joachim Christoph Bode und den Wetzlarschen Reichskammergerichtsassessor Franz Dietrich von Ditfurth vertrat. 64 Die meisten Delegierten gewann eine my61 6j
64
Zu Lessing vgl. unten S. 147fr., zu Moritz S. 476fr. Zum Konvent in Wilhelmsbad jetzt: Hammermayer, Ludwig, Der Wilhelmsbader Freimaurer-Konvent von 1782. Ein Höhe- und Wendepunkt in der Geschichte der deutschen und europäischen Geheimgesellschaften ( = Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung Bd. V/2), Heidelberg 1980. Nicht nur über den Braunschweiger Herzog, auch über Bode mögen Vorstellungen aus Lessings Freimäurergesprächen den Konvent beeinflußt haben. Vgl. dazu Hammermayer, S. 26f. und unten S. 15 2.f. Auf Bode wird im Verlauf der Untersuchung
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stisch-spiritualistisch-martinistische Faktion um den Braunschweiger Herzog und den Lyoner Großkaufmann Jean-Baptiste Willermoz. Schließlich einigte man sich auf die Übernahme des dem Martinismus verpflichteten Systems des »Chevalier de Bienfaisants«. 6 ' Der halbherzige Reformkonvent von Wilhelmsbad und seine tendenziell anachronistischen Ergebnisse konnten weder die Delegierten noch die Mehrzahl der Logen der Strikten Observanz auf Dauer befriedigen. Der Versuch einer neuen Sinnstiftung für die von einem permanenten Sinnvakuum bedrohte Freimaurerei war gescheitert. Gerade dadurch aber wurde der Konvent zum Auslöser für eine Reihe grundlegender Erneuerungsversuche, die die folgenden drei Jahrzehnte der Freimaurerei bestimmten. Schon ein Jahr nach dem Konvent kam auf Betreiben des Wilhelmsbader Delegierten von Ditfurth der E k l e k t i s c h e B u n d zustande, in dem sich einige Logen »zur Wiederherstellung der königlichen Kunst der alten Freymaurerey« vereinigten. 66 Das als Bundesurkunde fungierende »Eklektische Rundschreiben« konstatierte, »daß Freyheit und Gleichheit die Grundlage unseres S. E. W. Ordens ausmache«. (124) Diesem Anliegen widerspreche die maurerische Wirklichkeit. Aus Salomos Tempel sei der Turm Babels geworden. Sektengeist habe Zwietracht und Verfolgung unter den Brüdern hervorgerufen. »Mit ihnen drangen Despotismus, Hass, Stolz, Eigennutz, Schwärmerey und Durst nach Ehrenstellen ins Heiligthum der Eintracht, und droheten dem Gebäude den gänzlichen Untergang.« (125) Das Rundschreiben kritisiert die Verstrickung der Freimaurerei in die internationale Politik und fordert statt dessen eine »kluge Neutralität«. Nach dem Beispiel der eklektischen Philosophie der Antike solle man alle Systeme untersuchen, das jeweils Beste aus ihnen übernehmen und so die »erste und edle Einfalt des Ordens« wiederherstellen. Die Organisation des
6>
66
noch wiederholt zurückzukommen sein. E r war einer der einflußreichsten Vermittler zwischen dem Geheimbundmodell der deutschen Aufklärung und der literarisch-künstlerischen Intelligenz, insbesondere in Weimar. Das SchluBkommuniqué des Konvents ist abgedruckt bei Böttner, Zersplitterung, S. 5 jñ. Zum »Chevalier de Bienfaisants« vgl. Frick, Die Erleuchteten, S. 54off., und Faivre, Antoine, L'Esotérisme au X V I I I e siècle en France et en Allemagne, Paris
1973· Das »Eklektische Rundschreiben« ist abgedruckt bei Böttner, Zersplitterung, S. 124fr. Vgl. auch LennboffjPosner, Sp. 41 zf. Auf die Verbindung des Bundes mit den Illuminaten, deren Mitglied Ditfurth ebenfalls war, kann hier nicht eingegangen werden. Dazu: Dülmen, Richard van, Der Geheimbund der Illuminaten. Darstellung, Analyse, Dokumentation, Stuttgart/ Bad Canstatt 1975, S. 58f. et passim.
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Bundes war locker, eine Abhängigkeit der Logen untereinander oder von einer dominierenden Großloge sollte so verhindert werden. 1786 hatten sich bereits 2 5 Logen dem Bund angeschlossen, der sich berufen fühlte, »der unterdrückten Menschheit und verfolgten Tugend zum Zufluchtsort zu dienen, und die Rechte der befleckten Weisheit in die Herzen der Menschen zurückzurufen«. (128) Sein Programm verriet ein gewachsenes Bewußtsein von der potentiell politischen Funktion der Freimaurerei und knüpfte teilweise an Überlegungen an, wie sie schon in Ramsays Discours angeklungen waren. Die aufklärerische Botschaft sollte jedoch den weiteren Verlauf der maurerischen Reform nur sehr vermittelt beeinflussen. Wie schnell reformerische Aktivitäten an die engen Grenzen der Freimaurerei selbst stießen, zeigt das Beispiel zweier Logen aus Wien und H a m b u r g . Die 1781 gegründete Loge »Zur wahren Eintracht« in Wien war aus der zum Zinnendorfschen System gehörenden Loge »Zur gekrönten Hoffnung« hervorgegangen. 67 Überwog hier noch das aristokratisch-militärische Element mit seinen pseudo-ritterlichen Neigungen, so wurde die »Eintrachts«-Loge im Gegenteil zu einem Forum der bürgerlichen Intelligenz und der aufgeklärten bürokratischen Elite der Reichshauptstadt. Abafi nennt sie zu Recht eine »Eliteloge mit ausgesprochen literarisch-wissenschaftlicher Tendenz«. 68 Dem heimlichen Vorbild in Paris nacheifernd, der Loge »Les Neuf Sœurs«, die Helvétius und Benjamin Franklin, Condorcet und den Abbé Sieyès, Lafayette und den greisen Voltaire zu ihren Mitgliedern zählte, versuchte man in Wien mit beträchtlichem Erfolg, eine Art >Gelehrtenrepublik< in Logenform zu errichten, eine lebende Enzyklopädie, die öffentlich einen Anspruch auf aktive Mitgestaltung des josephinistischen Österreich artikulierte. 1783 hatte die L o g e 96 Mitglieder, darunter Ignaz von Born, Joseph von Sonnenfels, die Dichter Blumauer und Alxinger, Haydn, viele Professoren und Schriftsteller, hohe Beamte und Geistliche. 69 Für sie war die Loge ein Ort freier wissenschaftlicher Untersuchung, nicht eine Stätte der Initiation in unveränderlich wahre, ewig bestehende Geheimnisse. A b 1783 veröffentlichte die 67 68
69
Dazu Abafi, Geschichte, Bd. 4, S. 2 7 8ff. Ebd., S. 281. Zum Verhältnis von Freimaurerei und Aufklärung in Wien vgl. auch Rosenstrauch-Königsberg, Edith, Freimaurerei im josephinischen Wien. Aloys Blumauers Weg vom Jesuiten zum Jakobiner, Wien/Stuttgart 1975, und Großegger, Elisabeth, Freimaurerei und Theater 1770-1800. Freimaurerdramen an den k. k. privilegierten Theatern in Wien, Wien/Köln 1981. Abafi, Geschichte, Bd. 4, S. 3 0 8 f r .
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Loge die Physikalischen Arbeiten der Einträchtigen Freunde in Wien, für die herausragende Wissenschaftler Beiträge zu naturwissenschaftlichen Themen - darunter auch solche zu hermetisch-alchemistischen Problemen - lieferten. Daneben erschien das von Blumauer redigierte Journal für Freimaurer (1784-1791), das wohl als das gehaltvollste freimaurerische Periodikum im 18. Jahrhundert gelten kann. Die Loge verfügte über ein Naturalienkabinett und einen botanischen Garten, zudem über eine reich ausgestattete Bibliothek. Ihre künstlerischen Mitglieder, Maler, Bildhauer, Musiker und Poeten, trugen zur feierlichen Ausgestaltung der zahlreichen maurerischen Festlichkeiten bei. Die Frage drängt sich auf, inwieweit hier überhaupt noch von Freimaurerei im engeren Sinne gesprochen werden kann. Ist nicht diese Wiener Loge unvermerkt aus einer ursprünglich freimaurerischen Einrichtung zu einer Art Akademie der Künste und Wissenschaften geworden, die nicht auf staatlich-fürstliche Initiative, sondern getragen von der starken Bildungs- und Beamtenelite Wiens entstand? Allerdings wurde auf freimaurerische Einkleidungen auch hier nicht verzichtet. Vermutlich aus zwei Gründen. Der eine hängt eng mit dem ausgesprochen elitären Charakter der freimaurerisch-geheimbündlerischen Organisationsform zusammen. Das Geheimnis, wie öffentlich auch immer die auf ihm beruhende Loge agieren mochte, verlieh dem Ganzen einen exklusiven Charakter, erlaubte die Abschließung der sich als geistige Elite der Aufklärung verstehenden Mitglieder. Zugleich bildete es die Grundlage für die innerhalb der Eliteformation entfaltete Egalität von Angehörigen verschiedener Stände und Berufsgruppen. Zum anderen aber muß hier noch einmal an den Prestigewert der maurerischen Zeremonien und Rituale erinnert werden. Die Loge benutzte die freimaurerische Einkleidung zur Herstellung einer nichtabsolutistischen Form repräsentativer Öffentlichkeit. Der weltoffene Akademiecharakter der Loge konnte auf seine Überhöhung in einer Art säkularisierten Sakralität nicht verzichten. Wie kaum sonst wird an dem Wiener Beispiel die Verschränkung bürgerlicher und repräsentativer Öffentlichkeitsformen erkennbar. Diese Verschränkung hatte übrigens eine zeitliche Dimension. Schon 1781/82 hatten die Illuminaten, die die freimaurerische >Hülle< radikal instrumentalisierten, in Wien Fuß gefaßt, und zwar hauptsächlich unter den Mitgliedern der aufklärerischen Loge »Zur wahren Eintracht«.70 Hier zeichnet sich eine 70
Dazu Dülmen, Illuminateli, S. 67fr.
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Verschiebung innerhalb der Aufklärungsgesellschaften ab, in deren Gefolge die Organisationsform des Geheimbundes zunehmend eine explizit politische Komponente gewann, bevor sie schließlich von anderen öffentlich-politischen Formen der bürgerlichen Assoziation abgelöst wurde. Im Vorfeld der Französischen Revolution verloren die Freimaurerlogen ihre Funktion als dominanter Vereinstyp der Aufklärung. 1789 wurde in der Hamburger Loge »St. Georg« der mit der Revolution in Frankreich sympathisierende Großkaufmann Georg Heinrich Sieveking zum Meister vom Stuhl gewählt. 7 ' In seiner Antrittsrede forderte er die Abschaffung der freimaurerischen Gebräuche, der symbolischen Sprache und des Eides, die er »für Possen erklärte, mit denen vernünftige Männer sich nicht beschäftigen müßten. Er könne nur dann ihr Meister sein«, so Sieveking, »wenn sie [die Logenbrüder, M. V.] ihm zur Einrichtung einer vernünftigen, Herz und Geist befriedigenden, auf Freiheit und Gleichheit ruhenden Freimaurerei behülflich wären«. Wenig später fand diese Rede eine scharfe Erwiderung durch Friedrich Ludwig Schröder, den Stuhlmeister der Loge »Emanuel zur Maienblume«. Schröder bestimmte prägnant die Grenzen einer Reform der Freimaurerei. »Daher ist mir der Fall so außerordentlich befremdend, daß Brüder Freymaurer sich einen Meister wählen, dem ich in jeder Rücksicht aus vollem Herzen huldige, der den Brüdern seiner Loge vorträgt: er wolle nur dann ihr Meister bleiben, wenn die Freymaurerey aufgehoben wird. Denn die Symbolen aufheben, heißt die Freymaurerey aufheben.« Schröders These von der unlösbaren Verkettung von Freimaurerei und Symbolik, die einherging mit einer strikten Abschottung der Logen vor jeder Form der Politisierung, fand vielfach Zustimmung; in den folgenden Jahren wurde er selbst zu einem der wichtigsten Reformer der Freimaurerei in Deutschland.72 Aber auch Sievekings radikaler Vorstoß blieb nicht ohne Folgen. Walter Grab berichtet über die Hamburger »Demokratenloge« »Einigkeit und Toleranz«, die 1792/93 unter dem Vorsitz des norddeutschen 71
Z u Sieveking vgl. Grab, Walter, Norddeutsche Jakobiner. Demokratische Bestrebungen zur Zeit der Französischen Revolution, Frankfurt/M. 1967, S. iz. Die folgenden Zitate entstammen einer indirekten Wiedergabe der Sievekingschen Rede bei [Wiehe, Karl], Das Schröder'sche Ritual und Herders Einfluß auf seine Gestaltung, Hamburg 1904, S. 15. Schröders Erwiderung enthält in Auszügen: Hintue, Wilhelm, Friedrich Ludwig Schröder. Der Schauspieler - Der Freimaurer, Hamburg 1974, S. I4f.
72
Zu Schröders Reformbestrebungen vgl. unten S. 204fr.
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Jakobiners Friedrich Wilhelm von Schütz arbeitete. 75 In ihr versammelten sich Juden und Christen, die ernst machen wollten mit den maurerischen Forderungen nach Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Bei gemeinsam zu regelnden Angelegenheiten entschied demokratisch die Stimmenmehrheit; Geheimabstimmungen und Ballotagen entfielen ebenso wie Hochgrade und Geheimniskult. Die Loge entwickelte eine eigene Bildlichkeit und entfaltete eine rege Wohltätigkeit, die ihrer sozialen Zusammensetzung angemessen war. Mehr noch als am Wiener Beispiel wird in Hamburg deutlich, wie die Freimaurerei im Laufe der achtziger und neunziger Jahre des 18. Jahrhunderts gerade dann ihren eigenständigen Charakter verlor, wenn sie sich konsequent auf die kritischen Implikationen ihrer Entstehungsgeschichte besann. Der weitgehende Verzicht auf Ritual und Symbolik und die >Bearbeitung< partikularer öffentlicher Zwecke führten in der Tat, wie Schröder vorausgesagt hatte, zur Aufhebung der Freimaurerei. Das Netz der Aufklärungsgesellschaften war im letzten Viertel des Jahrhunderts dichter geworden. Neben explizit politischen Geheimbünden wie den Illuminaten oder der hermetischen Gesellschaft der Gold- und Rosenkreuzer existierten jetzt mehr und mehr Lesegesellschaften, patriotische Vereine und, nach 1789, auch Jakobinerklubs, die auf ein eindeutig politisches Engagement festgelegt waren. Gesellschaftliche Bedürfnisse, die bewußt oder unbewußt in freimaurerischen Organisationen befriedigt worden waren, forderten und fanden jetzt andere Formen der Befriedigung. Die Freimaurerei als Form der Gesellung war obsolet geworden, jedenfalls was ihre bisherige soziale Funktion anbelangte. Die Dialektik von Moral und Politik, wenn sie überhaupt nennenswerte Bedeutung für die große Zahl der Logen und ihrer Mitglieder gehabt hat, war angesichts des Entwicklungsstandes einer politischen Öffentlichkeit, wie er in Publizistik und Literatur, aber auch im Spektrum der zunehmend politisch differenzierten Aufklärungsgesellschaften sich abzeichnete, im Grunde anachronistisch geworden. Es ist bezeichnend für die deutsche Aufklärungsbewegung, daß in dem Moment, w o die den Arkangesellschaften potentiell innewohnende Dialektik von Geheimnis und Öffentlichkeit, von Moral und Politik bewußtseinsgeschichtlich eingeholt wurde - zu denken "
Grab, Jakobiner, S. 3 5 ff. Entgegen Grab, S. 37, gibt es keinerlei Hinweis darauf, daß Schröder der Loge »Einigkeit und Toleranz« angehörte. Darauf machte den Verf. mündlich Herr Herbert Schneider, Hamburg/Bayreuth, aufmerksam.
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wäre dabei etwa an Lessings Freymäurergespräche oder den Geheimbund der Illuminaten - , deren realgeschichtliche Wirkungsmöglichkeit sich erledigt hatte. Die geheimen Gesellschaften wurden zu einem zentralen D e n k m o d e l l der Spätaufklärung; als politisches H a n d l u n g s m o d e l l waren sie weitgehend bedeutungslos. Erst die Literatur verschaffte dem fortgeschrittenen Bewußtsein eine angemessene Praxis in der Fiktion. Die latente Politisierung der aufklärerischen Öffentlichkeit wurde begleitet und gefolgt von einer Entpolitisierung der Freimaurerei. Die Logen, lange Zeit Antizipation und Surrogat öffentlichen Handelns und sozialer Reputation in der absolutistischen Gesellschaft, wurden allmählich zu vergleichsweise biederen Stätten bürgerlichen Gemeinsinns und bürgerlicher Geselligkeit. Wenn die deutsche Freimaurerei im Laufe ihrer Geschichte immer wieder Opfer staatlicher oder kirchlicher Verfolgung geworden ist - vorerst letztes Beispiel war die brutale Zerschlagung der Logen im Dritten Reich, die massenweisen Verhaftungen und Demütigungen von Freimaurern durch die Schergen des Nazi-Regimes - , dann gab es in den wenigsten Fällen einen realen Anlaß, gab es selten eine tatsächliche Gefahr, die von ihr ausging. Die Maurer fielen wiederholt der potentiellen Sprengkraft zum Opfer, die dem Geheimnis als Organisationsform innewohnt; vor allem aber wurden sie von der Mythologie der geheimen Gesellschaften eingeholt, die den Demagogen noch jeden Zeitalters dienstbar war. Verfolgung wie Protektion kennzeichnen denn auch das Verhältnis von F r e i m a u r e r e i und S t a a t im 18. Jahrhundert. Das Hamburger Senatsverbot und die Bulle des Papstes 1738 wurden oben schon erwähnt; andere Verbote, etwa in Haag, in der Toskana, in Frankreich und Venedig gingen ihnen voraus, weitere folgten: in Polen, Florenz, Spanien und Neapel. Einen Einschnitt in der Geschichte der Freimaurerverfolgung bildete das Verbot des Illuminatenordens in Bayern 1784/85, das erstmals in Deutschland eine Welle von gesetzlichen und polizeilichen Maßnahmen gegen geheime Gesellschaften heraufbeschwor und nach der Revolution in Frankreich eine geradezu hysterische staatliche Furcht vor derartigen Verbindungen nährte. A u f der anderen Seite stand der Schutz, den der Staat oder doch einzelne Fürsten den maurerischen Organisationen gewährten. Z u erinnern ist an die indirekte Protektion, die Friedrich II. den Freimaurern schon 1740 zukommen ließ, aber auch an die große Zahl von Fürsten, die als Oberhäupter oder doch als einflußreiche Mitglieder den freimaurerischen Systemen nicht nur erheblichen Prestigegewinn bescherten, son60
dem sie auch weitgehend vor Übergriffen staatlicher Stellen schützten. Als 1779 der Magistrat von Aachen ein Freimaurerverbot erließ, da war es in erster Linie der konzertierte Einsatz weltlicher und geistlicher Potentaten, der durch Druck auf die städtischen Behörden eine Aufhebung der Verordnung bewirkte. 74 Dabei ging der Erbprinz von Hessen-Darmstadt sogar so weit, seine Ehre als Fürst mit der der Freimaurerei zu identifizieren. In einem Brief an den Magistrat wies er daraufhin, »wie beleidigend sie [die Aachener Verordnung, M. V.] für ein so ansehnliches Corps, das so viele Souverains und Fürsten Teutschlands unter seine Mitglieder zählt, seyn müsse«. Eine rechtlich und politisch neue Entwicklung bahnte sich an, als maurerische Dachverbände wie die Große Landesloge, die National-Mutterloge »Zu den drei Weltkugeln« und die Große Loge »Royal York zur Freundschaft« vom preußischen K ö n i g Schutzbriefe erhielten. Sie wurde in Ansätzen vorweggenommen im sogenannten Freimaurerpatent Josephs II., mit dem der Kaiser auf die Ausbreitung geheimer Gesellschaften in Österreich-Ungarn reagierte. 7 ' »Die sogenannten Freymaurergesellschaften«, heißt es im Handbillet des Kaisers vom I i . Dezember 1785, »deren Geheimnisse Mir ebenso unbekannt sind, als Ich deren Gaukeleyen zu erfahren wenig vorwitzig jemals war, vermehren und erstrecken sich itzt auch schon auf alle kleinsten Städte; diese Versammlungen, wenn sie sich selbst ganz überlassen und unter keiner Leitung sind, können in Ausschweifungen, die für Religion, Ordnung und Sitten allerdings verderblich seyn können, . . . ganz wohl ausarten . . .« Der Kaiser konstatierte die potentielle Gefährlichkeit geheimer Verbindungen, ohne sie mit deren Wirklichkeit gleichzusetzen. Was Joseph vorschwebte, war die Einbindung dieser Gesellschaften in den Staat, ihre staatliche Kontrolle, nicht ihr Verbot. Die Freimaurerei gewann so zwar die förmliche Anerkennung des Staates, verlor aber gleichzeitig ihre bisherige rechtliche und organisatorische Unabhängigkeit. Das Billet bestimmte denn auch pedantisch die Anzahl der Logen pro Stadt, Meldepflichten für Versammlungen sowie die Veröffentlichung von Mitgliederlisten. Das Freimaurerpatent von 1785 stand am Anfang einer staatlichen Vereinsgesetzgebung. Die Abkehr vom bloßen Entweder-Oder der Verbote und Protektionsmaßnahmen tritt deutlich hervor. 74
1S
Pauls, Geschichte, S. 128-407. Der Brief des Prinzen an den Aachener Magistrat ebd., S. 222fr. Abafi, Geschichte, Bd. 4, S. 145fr. Der Text des kaiserlichen Handbillets ebd., S. 146-148. 61
Eine vergleichbare Entwicklung gab es in Preußen. Schon in den Kronprinzenvorträgen 1791/92 hatte der Staatsrechtslehrer und Mitverfasser des »Allgemeinen Landrechts«, Johann Carl Svarez, unter dem Titel »Von der Oberaufsicht« zur Frage der geheimen Gesellschaften Stellung genommen. 76 Unter den »Gesellschaften«, die außerhalb von Familie und Hausgemeinschaft sich befinden, werden neben »gelehrten« und »geistlichen Gesellschaften« auch »Ordensverbindungen« und »Klubs« genannt: »Alle diese Gesellschaften stehen unter der Aufsicht des Staates . . . Eine Gesellschaft, die vom Staat und seinen Gesetzen unabhängig sein und sich seiner Oberaufsicht nicht unterwerfen will, formiert statum in statu.« Das Recht zur Oberaufsicht sollte jedoch nach Svarez eine differenzierte Anwendung erfahren. Der Staat dürfe »keinen Gebrauch machen, sobald keine vernünftige Besorgnis einer Gefahr vorhanden ist. Exempel von Freimaurern«. Anders verhalte es sich, wenn eine geheime Gesellschaft unmittelbar auf den Staat einzuwirken beabsichtige. Hier sei der Staat berechtigt, »die Gesellschaft aufzuheben und ihre Fortsetzung bei Strafe zu untersagen. Exempel von den Illuminaten in Bayern«. Zweierlei machen Svarez' Feststellungen deutlich. Der Staat erkannte die Existenz gesellschaftlicher Vereinigungen an, behielt sich aber gleichzeitig das Recht vor, bestimmend auf diese Einfluß zu nehmen. Mit der Gesellschaft zugleich entstand der Versuch des Staates, sie zu bevormunden und zu kontrollieren. Daneben enthält der Vorschlag einer differenzierten Auslegung der Staatsaufsicht eine aufschlußreiche politische Einschätzung der Freimaurerei durch den Staat. Im Gegensatz zu den Illuminaten wurde die Maurerei als ungefährlich betrachtet, sie genoß eine weitgehende Freiheit, die gemeinsam mit den schon erwähnten Schutzbriefen für die drei wichtigsten Großlogen in Preußen einen sichtbaren Beweis ihrer Loyalität darstellt. A m Ende des 18. Jahrhunderts war es den Logen gelungen, sich von ihrer Mythologie zu distanzieren. Die politische Differenzierung und Polarisierung innerhalb des Spektrums geheimer Gesellschaften kam ihnen dabei zu Hilfe, denn der zuweilen hysterisch anmutende Verfolgungswahn staatlicher Stellen in bezug auf Geheimbünde hatte neue Opfer gefunden. Das preußische »Vereinsedikt« von 1798 sicherte der Freimaurerei ausdrücklich eine Sonderbehandlung zu. 77 Sie blieb als nunmehr staat76
77
Svareζ, Carl Gottlieb, Vorträge über Staat und Recht, hg. von Conrad, Hermann und Gerd Kleinheyer, Köln/Opladen i960, S. 46-49. Abgedruckt bei Huber, Ernst Rudolf, Hrsg., Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. ι, Stuttgart 1961, S. 58-61. Der 1816 als »Vereinsedikt« er-
62
lieh legitimierter Verein mit humanitär-karitativer Zielsetzung verschont von den drakonischen Strafandrohungen, die andere Gesellschaften betrafen. Die kritischen Implikationen ihres moralischen Programms, die potentielle Gefährlichkeit ihrer Organisationsform, des Geheimnisses, waren vorerst einer öffentlichen politischen Auseinandersetzung mit dem Geheimbundmodell der Aufklärung vorbehalten. 78
2.
Zur sozialen Funktion
2.1.
Die Verbreitung der Freimaurerei im 18. Jahrhundert
Dem historischen Überblick folgt unter systematischem Aspekt eine Darstellung von Verbreitung, Sozialstruktur, Organisationsstruktur und der eigentlichen >Arbeit< der Freimaurerei. Damit soll die soziale Funktion dieser Aufklärungsgesellschaft in Deutschland im 18. Jahrhundert näher bestimmt werden. Soweit es das Quellenmaterial zuläßt, wird dabei auch eine Quantifizierung sozialgeschichtlicher Daten im Sinne einer deskriptiven Statistik vorgenommen. 1 Eine Untersuchung der freimaurerischen Bewegung im Rahmen des Forschungsparadigmas >Aufklärungsgesellschaften< ist nur dann sinnvoll möglich, wenn eine Vergleichsgrundlage auch quantitativer Natur zur Verfügung steht. Abgesehen davon besteht bei einem noch heute derart unbekannten Gegenstandsbereich, dessen Zugänglichkeit durch einen Wust zeitgenössischer und historiographischer Legendenbildung erschwert wird, das dringende Bedürfnis, die vorwiegend auf historisch-hermeneutischem Wege gewonnenen Ergebnisse anhand quantitativer Strukturen zu überprüfen.
78 1
neuerte Erlaß war 1798 überschrieben: »Edikt wegen Verhütung und Bestrafung geheimer Verbindungen, welche der allgemeinen Sicherheit nachtheilig werden könnten«. Schon terminologisch zeichnet sich eine Kontinuität von geheimen Gesellschaften und Vereinswesen ab. Vgl. unten S. 123fr. Dabei wurden nur gedruckte Quellen verwendet, die erst relativ spät für quantitative Untersuchungen geeignetes Material bieten. Staatliche Auflagen zwangen die Logen am Ende des 18. Jahrhunderts zur Veröffentlichung von Mitgliederlisten, die erstmals eine größere sozialstrukturelle Analyse ermöglichen. Wünschenswert wäre eine Ergänzung oder Korrektur durch gezielte lokale Einzelstudien, die aber wegen der schwierigen Quellensituation zumindest für den größten Teil des 18. Jahrhunderts nur in wenigen Fällen zu realisieren sein dürften.
63
Mit Carl Bröckers Zusammenstellung der Freimaurer-Logen Deutschlands von ¡y}? bis einschließlich 1893 besteht die Möglichkeit, Aussagen über die Logengründungsaktivität im 18. Jahrhundert zu machen. 2 Die folgende Tabelle 1 gibt, in der Regel für Dezennien, die Anzahl von Logengründungen für Deutschland. Tabelle 1: Logengründungsaktivität in Deutschland im 18. Jahrhundert Logen I
davon in Süddeutschland
737"I75°
58
4
1751-1760 1761-1770 1771-1780 1781-1790 1791-1800
40 117 148 82 45
4 10 18 27 4
490
67
Die Entwicklung der Logengründungsaktivität - sie darf nicht mit der Gesamtzahl zu einem Zeitpunkt vorhandener Logen verwechselt werden — beschreibt eine charakteristische Kurve, die, nach steilem Anstieg am Ende des Siebenjährigen Krieges und in den ersten Nachkriegsjahren, ihren Höhepunkt in den sechziger und siebziger Jahren des 18. Jahrhunderts hat, um anschließend, nach deutlichem Abstieg in den achtziger Jahren, im letzten Jahrzehnt vor der Jahrhundertwende ihre Anfangshöhe wiederzuerreichen. Die drei Perioden in der Geschichte der Freimaurerei spiegeln sich im Verlauf der K u r v e in etwa wider. Wenn es am Beginn der zweiten, durch die Hochgradorden bestimmten Periode um 1750 zunächst nicht zu einer Zunahme der Logengründungen kommt, so bestätigt dies eine Interpretation, die diese Orden als Ausdruck von Unzufriedenheit und Enttäuschung über die Freimaurerei in ihrer englischen Form deutet. Erst langsam, besonders in den letzten Kriegsjahren, die viele französische Offiziere wichtige Vermittler für die französischen Hochgradsysteme - in die deutschen Länder verschlugen, kommt es zu einem Aufschwung, der in den siebziger Jahren kulminiert. Die Reformphase schließlich hat weniger die Gründung neuer Logen zur Folge, als eine Erneuerung der bestehenden. Das Logennetz erfährt nach 1780 keine wesentliche Erweiterung mehr, der Sättigungsgrad ist erreicht. !
Bröcker, Die Freimaurer-Logen, s. K a p . i / I A n m . 16. >Süddeutschland< bedeutet für die folgende Aufstellung südlich der Mainlinie.
64
Dem korrespondiert in aufschlußreicher Weise die Entwicklung der Lesegesellschaften im 18. Jahrhundert, wie sie von Marlies Prüsener dargestellt worden ist.3 Von insgesamt 433 Neugründungen von Lesegesellschaften in der zweiten Jahrhunderthälfte fallen in die Zeit vor 1770 13, 1770-178050, 1780-1790 170 und 1790-1800200. Das bedeutet, in dem Maße, in dem die Gründungsaktivität der Lesegesellschaften zunimmt, verringert sich die der Freimaurerlogen. Auch wenn keine unmittelbare Beziehung zwischen beiden Vorgängen nachgewiesen werden kann, so zeichnet sich in dieser Korrelation doch ab, daß die Freimaurerei ihre dominante Rolle im Gefüge der Aufklärungsgesellschaften etwa um 1780 verliert. Sie wird abgelöst von den Lesegesellschaften. Ein Strukturwandel der Öffentlichkeit bewirkt die Hinwendung zu neuen Formen bürgerlich-adliger Assoziation, die eine effizientere Befriedigung genuin gesellschaftlicher Bedürfnisse versprechen.4 Eine vergleichende Analyse der Sozialstruktur beider Gesellschaftstypen kann zudem zeigen, daß mit diesem Ablösungsprozeß eine latente Verbürgerlichung der Assoziationsformen einhergeht. Von Interesse ist noch ein anderes Charakteristikum der Logengründungsaktivität. Die geographische Verbreitung der Logengründungen zeigt ein deutliches Nord-Süd-Gefälle. Die Freimaurerei ist, wie die Aufklärung insgesamt, ein spezifisch nord- und mitteldeutsches Phänomen. Nur knapp 14 Prozent aller Logengründungen zwischen 1737 und 1800 fanden südlich der Mainlinie statt. Dabei zeigt sich, auch hier in Übereinstimmung mit der Entwicklung der Lesegesellschaften, ein klarer Phasenverzug zwischen Nord und Süd. Bis 1770 machen die süddeutschen Gründungen jeweils weniger als zehn Prozent vom Gesamt aus; von 1771 bis 1780 sind es bereits zwölf Prozent, 1781 bis 1790 sogar fast ein Drittel, wobei allerdings die stark gesunkene Gesamtzahl von Gründungen in Rechnung gestellt werden muß. Material für die Bestimmung einer Gesamtzahl von Logen liegt für das Jahr 1778 vor.' Ein Alphabetisches Verzeichnis aller bekannten Freimaurer Logen führt für eine Reihe europäischer Länder insgesamt 891 ' 4
1
Prüsener, Lesegesellschaften, S. 4 1 2 . Eine Ablösung der Freimaurerei als Vereinsparadigma der Aufklärung durch die Lesegesellschaften wird nicht zuletzt durch die zahlreichen Doppelmitgliedschaften wahrscheinlich gemacht. Dazu u. a. Dreyfus, Sociétés, S. 5ooff. Alphabetisches Verzeichnis aller bekannten Freimaurer Logen, aus öffentlichen Urkunden dieser ehrwürdigen Gesellschaft zusammen getragen, Leipzig 1778.
65
Logen auf. Grundlage sind der englische Logenkalender sowie deutsche, französische und holländische Almanache. Folgt man diesem Verzeichnis, so gab es 1778 in Deutschland 136 Logen. Diese Angabe wird als ungefähre Richtzahl durch andere Logenlisten aus früherer und späterer Zeit bestätigt. 6 Aufschlußreich ist dabei die Verteilung der Logen auf die verschiedenen Systeme und Großlogen. Tabelle 2: Die deutschen Logen 1778, geordnet nach Systemzugehörigkeit 66 36 17 I 16
oder
48,2% 26,5% 12,5% 0,1%
11,8%
Strikte Observanz Große Landesloge Englisches System Asiat. Brüder Zugehörigkeit unbekannt
Vier Jahre vor dem Wilhelmsbader Konvent hatte die Strikte Observanz noch die Hälfte der deutschen Freimaurerlogen hinter sich, gefolgt von der Zinnendorfschen Großen Landesloge, die etwa ein Drittel aller Logen vereint, und der englischen Maurerei. Es muß an dieser Stelle allerdings darauf hingewiesen werden, daß diese Zahlen zwar in etwa die Verteilung der >gesetzmäßigen< Logen in Deutschland wiedergeben können; außer Betracht bleibt jedoch die wahrscheinlich nicht unbeträchtliche Zahl von sogenannten Winkellogen, das sind ohne die Legitimation einer Großloge gegründete Logen. Diese Einschränkung gilt auch für den Versuch, die Gesamtzahl von Freimaurern am Ende der siebziger Jahre des 18. Jahrhunderts festzustellen. Legt man die für 1803 errechnete durchschnittliche Logengröße von 48,9 (Maurer/Loge) zugrunde, so kann, bei aller gebotenen Skepsis, die Zahl der Freimaurer in Deutschland 1778 zwischen 6000 und 8000 geschätzt werden. 7 Berücksichtigt man dabei, daß die Freimaurerei eine 6
7
Vgl.: Almanach oder Taschen-Buch für die Brüder Freymäurer der vereinigten Deutschen Logen auf das Jahr Christi 1776. Mit Genehmigung der Obern %ufindenin den Logen, o. O. [Leipzig] o. J . , verzeichnet 60 Logen für die Strikte Observanz, der Almanach für 1778 88. In: Ephemeriden der gesammten Freimaurerei in Deutschland. Auf das Logenjahr J 7 Í ; [d. i. 1785], o. O. o. J . , werden 89 Logen der ersten drei Grade für die frühere Strikte Observanz, 47 für die Große Landesloge aufgezählt. Vgl. dazu unten S. (>Schichtungen< in sozialen Systemen, in: Klassenbildung und Sozialschichtung, hg. von Seidel, Bruno und Siegfried Jenkner, Darmstadt 1968, S. 567-397, Kocka, Jürgen, Quantifizierung in der Geschichtswissenschaft, in: Quantitative Methoden der historisch-sozialwissenschaftlichen Forschung, hg. von Best, Heinrich und Reinhard Mann, Stuttgart 1977, S. 4-10. Vor allem: Dreyfus, Sociétés, S. 197fr., Mejbeyer, Wolfgang, Bevölkerungs- und sozial-
67
den exklusiven Charakter der Maurerei wurde dadurch Rechnung getragen, daß das Schichtungsmodell nur einen Ausschnitt der sozialen Pyramide erfaßt, diesen aber differenziert beschreibt. Die ständische Komponente fand Berücksichtigung durch die Aufteilung der Population in Adlige bzw. Nichtadlige. Die Adelsgruppe wurde unterteilt in Hochadel, Hofadel, Offiziersadel, Landadel und Klerus. Die nichtadligen Maurer wurden auf fünf Klassen verteilt, wobei das Berufskriterium und damit zusammenhängend das vermutete Sozialprestige für die Klassifizierung entscheiden war: i. Höhere Beamte (Räte und aufwärts); 2. Akademische Berufe, Intelligenz (Professoren, Gelehrte, Schriftsteller, Journalisten, Ärzte); 3. Wirtschaftsbürgertum (Kaufleute, Bankiers, Verleger); 4. Mittleres Bürgertum (Beamte, niederer Klerus, Lehrer, Hofmeister); 5. Wirtschaftliches Kleinbürgertum (Handwerker, Händler). Dabei darf die Abfolge der Gruppen nicht als strikte soziale Hierarchisierung mißverstanden werden. Differenzierter sozialer Information wurde der Vorrang vor eindeutigen Schichtungskriterien eingeräumt. Quellengrundlage für die folgende Darstellung sind die Logenlisten der Großen National-Mutterloge »Zu den drei Weltkugeln«, die der Almanach für Freimaurer 1803 veröffentlichte." Der Zeitpunkt ist für die Geschichte der Freimaurerei im 18. Jahrhundert zugegebenermaßen spät. Insbesondere für die letzten zwanzig Jahre des Jahrhunderts ist ein allmähliches soziales Absinken der Maurerei in Rechnung zu stellen, so daß die Ergebnisse für den Adel etwas nach oben, für die nichtadligen Gruppen nach unten hin korrigiert werden müssen. Auch innerhalb der nichtadligen Population sind Verschiebungen in Richtung auf die beiden letzten Gruppen wahrscheinlich. Einzelergebnisse aus dem 18. Jahrhundert, die im Anschluß vorgestellt und erörtert werden, sollen versuchen, diese Trends zu präzisieren.12 geographische Differenzierung der Stadt Braunschweig um die Mitte des 18. Jahrhunderts, in: Braunschweigisches Jahrbuch 47, 1966, S. 1 2 5 - 1 5 7 , Saalfeld, Dietrich, Kriterien für eine quantifizierende Darstellung einer historischen Gesellschaft - Das Beispiel Göttingen 1760-1860, in: Quantitative Methoden der historisch-sozialwissenschaftlichen Forschung, s. Anm. 9, S. 65-87. 11
Almanach für Freimaurer aufs Jahr ;Soi¡4. Vom Verfasser des Taschenbuchs für Maurer j S o ' l p Berlin 1803, S. 1 - 1 1 3 : »Personale der Großen National=Mutterloge zu den drei Weltkugeln und ihrer sämmtlichen Tochterlogen«. - Bei den folgenden Zahlen und Bewertungen ist zu berücksichtigen, daß fast alle untersuchten L o g e n auf preußischem Staatsgebiet angesiedelt waren, so daß streng genommen die Preußische Freimaurerei (und hier auch nur ein System) Gegenstand der Untersuchung ist.
12
Die absoluten Zahlen der einzelnen Gruppen von Adel und Bürgertum addieren sich nicht zu den für die beiden Großgruppen angegebenen Summen; diese ergeben
68
Tabelle y. Die Sozialstruktur der Freimaurerei nach dem Logenverzeichnis der Großen National-Mutterloge »Zu den drei Weltkugeln« für das Jahr 1803 absolut Prozent total Adel insgesamt davon: Hochadel Hofadel Offiziersadel Landadel Klerus
504
30.32
4 100
0,24 6,01 2i,54 2,1 0,12
358 35 2
Nichtadlige insgesamt 1158 davon: Höhere Beamte 358 Akademische Berufe/Intelligenz 156 Wirtschaftsbürgertum 306 Mittleres Bürgertum 320 Wirtsch. Kleinbürgertum 23 Freimaurer insgesamt
69,67 21,54 9,38 18,41 19,24 1,38
Prozent Adel bzw. Bürgertum 100 °,79 19,84 79,°3 6,94 °>39 100 3°,9! 13,47 26,42 27,63 1,98
1662
In den 34 Logen der Großloge »Zu den drei Weltkugeln« sind 1803 1662 Maurer vereinigt. Davon gehören 1 1 5 8 oder 69,67 Prozent nichtadligen gesellschaftlichen Gruppen an, 5 04, das ist fast ein Drittel, dem Adel. Dieser ist damit gegenüber der sozialen Normalverteilung (etwa ein Prozent) deutlich überrepräsentiert. Daß im Jahr 1803 der Hochadel mit nur vier Mitgliedern vertreten ist, weist auf die veränderte gesellschaftliche Bedeutung der reformierten Freimaurerei hin. Diese Gruppe dürfte im 18. Jahrhundert erheblich größer gewesen sein. Auffällig ist die dominierende Rolle, die der Offiziersadel einnimmt. Jeder fünfte Freimaurer war ein adliger Offizier. Auch der Hofadel ist mit einem Anteil von sechs Prozent am Gesamt, fast 20 Prozent an der Adelsgruppe, stark vertreten. Bedeutungslos dagegen sind Land- und geistlicher Adel, die zusammen etwa zwei Prozent der Logenpopulation ausmachen. Die nichtadligen Mitglieder der Logen können im weiteren Sinne als Angehörige bürgerlichen Gruppen bezeichnet werden. Die Untersich vielmehr aus der Standesbezeichnung. Fünf Angehörige der Aristokratie (Nobilitierte?) gingen als Kaufleute einer bürgerlichem Profession nach und sind entsprechend in der Rubrik Wirtschaftsbürgertum verzeichnet.
69
schichten, die in der Regel etwa 50 Prozent der städtischen Bevölkerung stellen, sind überhaupt nicht vertreten, das wirtschaftliche Kleinbürgertum der Handwerker und Händler nur mit einem sehr geringen Prozentsatz (1,38 Prozent). 1 ' Von entscheidener Bedeutung für die Zugehörigkeit bürgerlicher Gruppen zur Freimaurerei sind die Kriterien Bildung und Bürokratie. 21,54 Prozent der Freimaurer in der Großen National-Mutterloge gehören der Schicht der höheren Beamten an, die vom Rat bis zum Minister reicht, aber auch die Spitze der kommunalen Bürokratie einbezieht. Zählt man den Hofadel und die Angehörigen der Bürokratie aus der Gruppe des mittleren Bürgertums hinzu, so sind rund 40 Prozent der Logenmitglieder dem Staat als Beamte verbunden, zusammen mit den Offizieren sind es fast zwei Drittel. Die Freimaurerei ist eine Organisation von Staatsdienern. Der besondere Charakter des deutschen Bürgertums und der deutschen Aufklärung insgesamt schlägt sich in der sozialen Zusammensetzung der Logen deutlich nieder. Die Gruppe der akademisch gebildeten Intelligenz ist mit knapp zehn Prozent in der Freimaurerei vertreten. Hier ist, wie beim Hochadel, von einer gegenüber dem 18. Jahrhundert verminderten Beteiligung auszugehen. Die Gruppe der akademisch gebildeten Freimaurer, zu der neben den eigentlichen >Akademikern< noch der größte Teil von Hofadel und höheren Beamten zu rechnen ist, umfaßt immerhin knapp 37 Prozent, also mehr als jeden dritten Freimaurer. Einen erstaunlich hohen Anteil - der für das 18. Jahrhundert wohl wesentlich niedriger anzusetzen ist — hat die Gruppe des mittleren Bürgertums, in der der niedere Klerus (Prediger), Hofmeister, Lehrer und Beamte unterhalb der Ratsebene zusammengefaßt sind. Es scheint, als wenn der Einstieg in die sozial exklusive Freimaurerei am ehesten von hier aus möglich war, nicht aber aus den Reihen des ökonomischen Kleinbürgertums. Bildung und Bürokratie behaupten auch hier ihre Wirksamkeit als Faktoren der Mobilität. Dieses Globalbild der sozialen Zusammensetzung der Freimaurerei wurde gewonnen durch die Addition sozialstruktureller Daten aus 34 Einzellogen. Seine Konturen verlieren an Eindeutigkeit, gewinnen aber an Wirklichkeitsnähe, wenn zumindest einige Ergebnisse aus den Einzellogen angeführt werden. Die durchschnittliche Logengröße von 48,9 (Maurer/Loge) nivelliert beträchtliche quantitative Unterschiede:
l>
Saalfeld, Kriterien, S. 80, nennt für Göttingen 4 2 , 1 % , Mejbejer, Differenzierung, S. I42Í., für Braunschweig sogar 54% für den Unterschichtenanteil.
70
Die tatsächlichen Zahlen schwanken zwischen 13 (Wesel) und 142 (Königsberg). Die Logengröße ist abhängig von der Einwohnerzahl, besonders aber von der jeweiligen sozialen Zusammensetzung der Städte. Wo Bürokratie und/oder Militär stark vertreten sind, da ist auch die Zahl der Logenmitglieder hoch. Ähnlich extreme Unterschiede zeigt die soziale und berufliche Zusammensetzung der Logen. So gehören in der Stargarder Loge von 52 Mitgliedern 43 - das sind fast 8 3 Prozent - dem Adel an, 3 5 von ihnen sind Offiziere. Daß in dieser Loge das wirtschaftliche Bürgertum und Kleinbürgertum nur einen Vertreter aufweist, dürfte nicht zufällig sein. Der Nachweis signifikanter Zusammenhänge dieser Art würde jedoch das Material überstrapazieren. Umgekehrt ist der Adel in den Logen von Neuchâtel, Iserlohn und Locle stark unterrepräsentiert, während das Wirtschaftsbürgertum gerade in diesen Logen über einen Anteil von mehr als zwei Dritteln verfügt. Das weist auf einen stark ausgeprägten lokalen Charakter der Logenzusammensetzung hin und läßt zugleich eine Tendenz zur Bildung von ständischen oder beruflichen Sonderlogen, zur Absonderung in der Exklusivität sichtbar werden. Die Frage, ob sich die gegebene gesellschaftliche Hierarchisierung auch innerhalb der Logenorganisation niederschlägt, läßt sich anhand der Verzeichnisse von Großlogen- und Logenbeamten beantworten. Im »Altschottischen Direktorium«, dem höchsten kollegialen Leitungsgremium der Großen National-Mutterloge, stellt der Adel drei von acht Vertretern, also ein gutes Drittel. Die restlichen Mitglieder entstammen der Gruppe der höheren Beamten (4) und der Intelligenz (1). Die Reihe der Großbeamten weist nur einen Vertreter des Adels auf, die Nichtbürgerlichen kommen je zur Hälfte aus der Gruppe der höheren Beamten und aus den Gruppen der Akademiker, des mittleren Beamtentums und des Wirtschaftsbürgertums.14 Auf dieser Ebene der Organisation bildet sich lediglich das ohnehin vorhandene Sozialgefälle in der Freimaurerei ab; der Adel ist, verglichen mit der Mitgliedsstruktur, sogar unterrepräsentiert. Das ändert sich, wenn die soziale Gliederung der lokalen Logenbeamten, der Meister vom Stuhl, hinzugezogen wird, die ganz deutlich innerorganisatorische Hierarchisierungsbestrebungen auf der Grundlage der gesellschaftlichen Ungleichheit zum Ausdruck bringt. 14
Manheim, Aufklärung und Öffentlichkeit, S. 95, untersucht die Sozialstruktur eines Verzeichnisses von Logenbeamten aus dem Jahr 1801. Von 128 Beamten gehören 55 dem Adel an, 49 dem mittleren und unteren Beamtentum, 12 sind Kaufleute und Bankiers.
71
Tabelle 4: Die soziale Verteilung der Meister v o m Stuhl in 34 Logen der Großen National-Mutterloge 1803 absolut Prozent total
Prozent Mitgliedschaft
Adel insgesamt davon: Hochadel Hofadel Offiziersadel Landadel Klerus
14
41,17
3°,3 2
I 6
2,94 i7¿4 20,58
0,24 6,1
Nichtadlige insgesamt davon: Höhere Beamte Akademische Berufe/Intelligenz Wirtschaftsbürgertum Mittleres Bürgertum Wirtsch. Kleinbürgertum
20
58,83
69,67
II
3 2 ,35 14,7 11,76
2i,54 9,38 18,41
7 -
-
-
-
5 4 -
-
-
-
21,54 2,1 0,12
19,24 1,38
Der Adel insgesamt, und zwar insbesondere der Hofadel, ist in der lokalen Organisationsspitze der Logen stark überrepräsentiert. Auch innerhalb der nichtadligen Gruppe ist eine charakteristische Verschiebung erkennbar. Die drei untersten Sozialschichten sind überhaupt nicht an der Stellung des Logenoberhaupts beteiligt, das Wirtschaftsbürgertum ist relativ unterrepräsentiert, die Gruppen der Akademiker und insbesondere der gehobenen Bürokratie sind klar stärker vertreten, als es ihrem Anteil an der Mitgliedschaft entspricht. Die schon in der Mitgliedsstruktur festgestellte Tendenz zum »Bildungshonoratiorentum« (Manheim) - ob bürgerlich oder adlig - verstärkt sich noch in der lokalen Logenhierarchie. ' ' Bevor eine sozialhistorische Wertung der bisherigen Ergebnisse versucht wird, sollen diese noch durch frühere oder spätere Einzelresultate auf ihre Gültigkeit hin überprüft werden. Zugleich geht es dabei um eine Einbeziehung der zeitlichen Komponente, das heißt um die verstärkte Herausarbeitung von Wandlungstendenzen im sozialen Gefüge der Freimaurerei. Die Zusammensetzung des Inneren Ordens l!
72
Vgl. Taschenbuch für Freimaurer auf dasJahr 1S0 j, S. 3 ; iff., wo ein Beamtenverzeichnis der Zinnendorfschen Logen abgedruckt ist. Von ¡4 Meistern vom Stuhl sind 37 bürgerlich, 17 adlig; 19 Logenmeister sind Beamte, 11 Offiziere, 5 Kaufleute.
der Strikten Observanz im Jahr 1764 wurde oben schon behandelt.' 6 Von 32 inneren Ordensbrüdern gehörten 23, das sind über 70 Prozent, dem Adel an, davon allein 18 dem Offiziersstand. Der aristokratischmilitärische Charakter der Ordensspitze tritt hier klar hervor. Die fünf nichtadligen Ordensbrüder gehörten sämtlich den beiden Gruppen der höheren Beamten und der akademischen Berufe an. Ein ähnliches Bild ergibt eine Analyse der Meister vom Stuhl in den Altschottischen und Vereinigten Logen der Strikten Observanz von 1776. 1 7 Von 23 Stuhlmeistern der Altschottischen Logen (Hochgradlogen) sind 19 oder 82,6 Prozent adlig; die vier beteiligten Bürgerlichen sind entweder Beamte (3) oder Akademiker (1). Von 5 5 der Vereinigten Logen haben immerhin 30 ein adliges Oberhaupt. Die oben ausgesprochene Vermutung, daß die Ergebnisse von 1803 als Ausdruck einer Verbürgerlichungstendenz gesehen werden müssen, hat sich also bestätigt. Zumindest die Strikte Observanz, die bis in die frühen achtziger Jahre den Großteil der deutschen Freimaurer vereinigte, war in der lokalen und zentralen Logenhierarchie adlig dominiert. Wie sehr das Interesse des Hochadels an der Freimaurerei mit der Zeit erlahmte, wird sichtbar, wenn man die Zahl der fürstlichen Mitglieder in der Strikten Observanz 1776 vergleicht mit der der Großen National-Mutterloge 1803. Der Freimaurer-Almanach von 1776 - er ist dem Großmeister der Strikten Observanz, Herzog Ferdinand von Braunschweig, gewidmet - enthält ein »Verzeichnis der höchsten und hohen Fürstlichen Respective Protectoren, Obern und Mitgliedern des Ordens«.' 8 Hier werden nicht weniger als 15 Fürsten aufgezählt, angefangen beim K ö n i g von Preußen und endend beim Herzog von Sachsen-Usingen. 1803, in einer Organisation vergleichbarer Größe, sind es nur noch vier Angehörige des Hochadels, die sich für die Ziele des Ordens engagieren. Daß sich die Bildung von Sonderlogen nicht notwendig auf die Angehörigen höherer Stände beschränken mußte, dokumentiert das Beispiel der Altonaer Loge »Carl zum Felsen«.' 9 Eine Bestandsliste aus Vgl. oben S. 44 und Materialien, Bd. 1, S. 46S. ' 7 Nach dem Almanach . . . auf das Jahr Christi ijj6 waren von 23 altschottischen Stuhlmeistem 19 adlig (meist Offiziere und Beamte, wenige Gutsbesitzer), von den 4 bürgerlichen Meistern waren ebenfalls drei Beamte und einer Arzt. Von 60 Meistern vom Stuhl in Johannislogen gehörten immerhin 30 der Aristokratie an. 18 Ebd. 19 Bestand-Liste der gerechten und vollkommnen Freymaurer-Loge Carl %um Felsen in Altona. Ausgefertigt den [Lücke] 1796, o. O. o. J . Ein gedrucktes Exemplar dieser »Bestand-Liste« befindet sich in der Universitätsbibliothek Kiel, Sign. H 879.
73
dem Jahr 1796 weist unter 26 Mitgliedern keinen Adligen aus, dafür aber acht Handwerker, neun Kaufleute, Händler und Fabrikanten, zwei Buchhändler, zwei Apotheker, je einen Boten, Buchhalter, Gymnasiallehrer, Zollcontrolleur und Theologiestudenten. Die relative soziale Homogenität dieser Loge bestätigt die Beobachtung, daß eine Dominanz von Gruppen niedrigeren bzw. höheren gesellschaftlichen Ansehens zum Fernbleiben der auf der sozialen Skala jeweils am weitesten entfernt piazierten Gruppen führt. Die Bestandsliste enthält zudem eine interessante Zusatzinformation. Sie gibt das Alter der Logenmitglieder an, das im Durchschnitt bei 37,4 Jahren liegt. Das erscheint angesichts der verbreiteten Klage, die Freimaurerei verführe die Jugend, relativ hoch. Eine vorbildliche Untersuchung zur maurerischen Sozialstruktur liegt mit Hugo de Schampheleires L'Égalitarisme Maçonnique et la Hierarchie Sociale dans les Pays-Bas austrichiens vor. 20 Die von ihm für die Jahre 1763 bis 1786 errechneten Zahlen über die soziale Zusammensetzung der Freimaurerei in den österreichischen Niederlanden dokumentieren sowohl die gesellschaftliche Exklusivität dieser Organisationsform als auch eine allmähliche Verschiebung im sozialen Gefüge der Maurerei, die sich als Verbürgerlichungsprozeß beschreiben läßt. Interessant ist der außerordentlich hohe Prozentsatz des Adels 1763 bis 1770 mit 5 3 Prozent. 1781 bis 1786 gehörte nur noch ein gutes Viertel (26 Prozent) der Freimaurer der Aristokratie an. Nimmt der Anteil des wirtschaftlichen Großbürgertums in den gut zwanzig Jahren nur leicht zu (von 14 auf 18 Prozent), so steigt der des mittleren und des Kleinbürgertums erheblich an: von 32,5 auf 46 bzw. von 0,5 auf 10 Prozent. Die >classes populaires< sind weder 1763 noch 1786 vertreten. Innerhalb von zwanzig Jahren also hat die Freimaurerei in den österreicherischen Niederlanden von einer überwiegend adligen zu einer bürgerlichen Institution sich gewandelt.21 Weit entfernt davon, ein vollständiges und endgültiges Bild der sozialen Zusammensetzung der Freimaurerei im 18. Jahrhundert geben zu können, zeichnet sich doch in den bisherigen Ergebnissen in zo
21
Schampheleire, Hugo de, L'Égalitarisme maçonnique et la Hierarchie Sociale dans les Pays-Bas austrichiens, in: Klasse en ideologie, S. 435-491. Dazu Dot^auer, Winfried, Freimaurergesellschaften am Rhein. Aufgeklärte Societäten auf dem Linken Rheinufer vom Ausgang des Ancien Régime bis zum Ende der napoleonischen Herrschaft, Wiesbaden 1977, S. 233: »Für die Logen des 18. Jahrhunderts ist die Präponderanz von Adel und Regent. . . ein charakteristisches Moment.«
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groben Umrissen ihr Sozialcharakter ab. Die Freimaurerei wird ihrem Anspruch, Menschen unabhängig von ihrer ständischen, religiösen oder nationalen Zugehörigkeit als bloße Menschen zu vereinigen, nur in sehr beschränktem Ausmaß gerecht. Das Gleichheitspostulat - so wichtig es für die Herausbildung einer aufklärerischen Programmatik war - besaß in der Logenrealität immer schon einen ideologischen Charakter. Freimaurer buhlten um die Gunst der Großen, sie briisteten sich öffentlich - nicht nur aus Sicherheitsgründen - mit der Mitgliedschaft hochadliger Persönlichkeiten. Der Hochadel hatte, wenn nicht als Schicht, so doch durch die Teilnahme vieler einzelner Vertreter großen Einfluß auf die Entwicklung der Freimaurerei. Der Adel, dessen Anteil im 18. Jahrhundert deutlich über den für 1803 errechneten 30 Prozent gelegen haben wird, bestimmte als Schicht, durch den Versuch der Durchsetzung eigener sozialer Bedürfnisse und Interessen, wesentlich das Bild der Maurerei bis in das 19. Jahrhundert hinein. Beteiligt sind insbesondere die beiden Gruppen des Adels, die im absolutistischen System ihre Unabhängigkeit einbüßten, indem sie zu nichtfeudaler Dienstleistung für den Staat verpflichtet wurden: Hofund Militäradel. Damit bestätigt die Untersuchung der freimaurerischen Sozialstruktur Einschätzungen, wie sie bei der Darstellung der Strikten Observanz vorgenommen wurden. Die Wiederkehr ursprünglich ritterlicher Lebensbedingungen durch die Wiederaufrichtung des Tempelherrenordens im 18. Jahrhundert war ein sozialromantischer Traum von Adligen, deren Wirklichkeit von Verhofung, Bürokratisierung oder Militarisierung gekennzeichnet war. Ausdruck von Zivilisationskritik einerseits, war die Hochgradfreimaurerei andererseits doch der tatsächlichen sozialen Lage ihrer Träger unmittelbar verbunden: Der Plan zur Errichtung einer adlig-ritterlichen Altersversorgung parodiert auf bezeichnende Weise das Ritterspiel der aufgeklärten Helden, das auf Netz und doppelten Boden nicht verzichten mag. Die größten Erfolge, die die Freimaurerei bei der Annäherung von Angehörigen verschiedener Stände verbuchen konnte, finden sich in einem Bereich, der als nahezu außerständisch gelten kann. Die nichtadligen Mitglieder der Logen entstammten in erster Linie den Schichten der Beamten und der Gebildeten. Es wurde versucht, die Beteiligung dieser Gruppen an der Freimaurerei u. a. damit zu erklären, daß hier ein Zugang zu ansonsten adlig-exklusiven Formen der Statusexpression bestand. Wie der politisch integrierte Adel bemüht war, dem
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sozialen Z w a n g zu repräsentativer Öffentlichkeit nachzukommen, indem er partizipierte an der scheinhaft feudalen Aura der Rittermaurerei, so versuchten >bürgerliche< Beamte und Gelehrte dem starren Sozialsystem des Absolutismus auszuweichen durch den (Schein-)Aufstieg in die Hierarchie geheimer Gesellschaften. Daß der Bürger als Bürger sich aufgeben mußte, wollte er seine soziale Position steigern, galt zumindest für Teile der Hochgradmaurerei zwischen 1750 und 1780. Doch sollte das den Blick dafür nicht verstellen, daß insbesondere in den Anfangen und in der Reformphase der Maurerei Bürgerliche den Versuch unternahmen, die Loge als Organisationsform spezifisch bürgerlicher Geselligkeit und Selbstbildung zu gestalten. Ein Blick auf die später zu behandelnden maurerischen Reden zeigt, daß die Johannislogen während des gesamten 18. Jahrhunderts eine entscheidende Stellung als Popularisatoren aufklärerischen Gedankenguts einnahmen. Selbst die scheinbar irrealen Planvorhaben der Strikten Observanz erhalten einen Sinn, betrachtet man sie als >Spieldienende Brüder< auf - geht einher mit einer Unterrepräsentation des Wirtschaftsbürgertums, das aber mit einem Anteil von gut 18 Prozent eine nicht unbeträchtliche Gruppe innerhalb der nichtadligen Population stellte. Es liegt nahe, daß die im 18. Jahrhundert vielfach noch reisenden Kaufleute das weitverbreitete Logennetz in Anspruch nahmen, um unterwegs oder an ihren Bestimmungsorten gesellige und wohl auch geschäftliche Kontakte pflegen oder anknüpfen zu können. Angewiesen auf Gasthäuser, die wenigen Kaffeehäuser und bestenfalls die Gastfreundschaft von Privatpersonen, mußte die Freimaurerei ihnen als eine willkommene Alternative erscheinen. Diese kommunikative Funktion der Freimaurerei war insbesondere für die mobilen Gruppen der absolu-
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tistischen Gesellschaft von Bedeutung. Daß Logen zu Instrumenten eines geheimen oder offenen Protektionismus werden konnten, hat die anti-freimaurerische Kritik von Anfang an beschäftigt. Z u erinnern ist schließlich an das Frankfurter Beispiel, w o die Loge zu einem obligatorischen Bestandteil der exklusiven Geselligkeit einer bürgerlichen Oberschicht wurde. Die männlichen Angehörigen von Familien des Kaufmanns- und Finanzpatriziats wurden traditionell in die Loge aufgenommen. Neben der sozialen Benachteiligung in der Freimaurerei gab es die konfessionelle: Freimaurerlogen nahmen in der Regel keine Juden auf, ebensowenig Freigläubige oder Atheisten. 22 Der Gleichheitsanspruch der Maurer wurde nicht nur in den sozialen und religiösen Aufnahmebeschränkungen nicht eingelöst; auch in der Loge selbst herrschte durchaus keine >Brüderlichkeit< der Gleichen, es kam nicht zu einer Aufhebung der gesellschaftlichen Schranken, wie es das Konstitutionenbuch forderte. Die gesellschaftliche Ungleichheit setzte sich in den Logen fort. Die organisationsinterne Rangordnung ist nur beschränkt Ausdruck sozialer Mobilität, die hier als neue Hierarchisierung nach vollzogener Egalisierung zu definieren wäre. 23 Sie ist viel eher ein verkürztes Spiegelbild der sozialen Wirklichkeit. Die Rittergrade der Strikten Observanz beispielsweise waren lange Zeit für die adligen Angehörigen des Ordens reserviert, Bürgerliche hatten nur aufgrund besonderer Verdienste und Fähigkeiten in Ausnahmefällen die Chance, sie zu erwerben. Zwar läßt die Zusammensetzung der Logenmitgliedschaft die sozial integrative Funktion der Freimaurerei im 18. Jahrhundert erkennen. Das von der Maurerei erfaßte gesellschaftliche Spektrum reichte vom Hochadel bis zum mittleren und in Ausnahmen sogar bis zum ökonomischen Kleinbürgertum. Doch würden vermutlich weitere Detailuntersuchungen auf einer breiteren Materialbasis Vorbehalte und Einschränkungen gegenüber einer allzu starken Betonung der sozial nivellierenden und mobilitätsfördernden Wirkung dieser Institution eher vermehren. Schon das vorhandene Zahlenmaterial zeigt eine lokale resp. soziale Differenzierung mit einer deutlichen Tendenz zur sozialen, stände-, schichten- und teilweise sogar berufsspezifischen Homogenität der jeweiligen Logenmitgliedschaft. Weitreichende Generalisierungen über >die< soziale Zusammensetzung " Vgl. dazu zusammenfassend Katu^, Jacob, Jews and Freemasons in Europe 1723-1959, Cambridge/Mass. 1970. 2J Dazu Ludζ, Überlegungen, S. 93f.
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der Freimaurerei und damit über deren soziale Funktion sind dadurch in Frage gestellt. Der künftigen Erforschung der geheimen Gesellschaften bleibt die Erstellung einer Art >Logentypologie< vorbehalten, die die Differenziertheit des historischen Phänomens angemessener zu erfassen vermag. 24 2.3
Organisationsstruktur und Geheimnis
Organisationsstruktur und Geheimnischarakter der Freimaurerei sind eng miteinander verbunden. Wenn auch die Freimaurerei nur bedingt dem Gesellschaftstypus des Geheimbunds zugerechnet werden kann, so sind doch ihre wesentlichen interpersonellen und institutionellen Strukturen durch das Geheimnis bestimmt. Die historische Analyse hat gezeigt, daß das maurerische Geheimnis keine >Erfindung< des 18. Jahrhunderts war. E s löste sich in der Periode der »accepted masonry« aus seinem ursprünglichen pragmatischen Kontext und ging ohne eigentliche inhaltliche Festlegung - Gegenstand des Geheimnisses waren die Rituale und Gebräuche der Maurer - ein in die spekulative englische Maurerei des frühen 18. Jahrhunderts. In der Geschichte der englischen Freimaurerei war das Geheimnis weitgehend frei von einer mystifizierenden Überhöhung, es wurde je länger je mehr zum bloßen Akzidenz des Bundes. Dieser Prozeß der »Vergleichgültigung« (Simmel) des Geheimnisses setzte in England viel früher ein als auf dem Kontinent. In Deutschland wie in Frankreich wurde das Geheimnis zum zentralen Organisationsprinzip der Maurerei, Geheimnis und Freimaurerei wurden miteinander identifiziert. Reinhart Koselleck hat mit Recht darauf hingewiesen, daß es nicht der Inhalt, sondern die Funktion des maurerischen Geheimnisses war, die seine eigentliche Bedeutung ausmachte. 2 ' Die Freimaurerei war nicht von Anfang an Trägerin einer bestimmten Idee, eines expliziten Programms, das nur unter dem Schutz des Geheimnisses verwirklicht werden konnte. In Ländern, wo die Maurerei nicht auf eine kontinuierliche Tradition zurückblickte, w o die besonderen historischen Bedingungen des englischen Vorbilds keine Entsprechung hatten, da wurde das Geheimnis zur zentralen Leerstelle, offen für Interpretationen 24
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Diesen Vorschlag macht auch Hammermayer, Geschichte, S. 3off., wobei er eine Typologie horizontaler Ordnung (etwa nach Stadttypen) und eine Typologie vertikaler Ordnung (nach sozialen Kriterien) unterscheidet. Koselleck, Kritik und Krise, S. 5 6ff.
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verschiedenster Art. Es war die Unbestimmtheit, die prinzipielle Offenheit des Geheimnisses, die seine wichtige Rolle in der kontinentalen Geschichte der Freimaurerei begründete. Fast scheint es, als wenn auch die auf das 18. Jahrhundert beschränkte fruchtbare Allianz von aufklärerischer Intelligenz und Freimaurerei in diesem merkwürdigen inhaltlichen Vakuum einer sichtbar existierenden Organisation eine Ursache hatte. Die Loge war einer der wenigen Orte, an denen gesellschaftlich ausgerichtete Kreativität sich entfalten konnte. Angezogen von dieser fordernden Leere oder von den zahlreichen in der Öffentlichkeit kursierenden Gerüchten über den Zweck der Maurerei, bewarben sich viele Intellektuelle um die Aufnahme und wurden häufig, wie Lessing, enttäuscht von der Realität der Loge. Thesenartig sollen hier einige zentrale Funktionen des freimaurerischen Geheimnisses im 18. Jahrhundert umrissen werden. 26 ι. Aus der diffusen Zwecksetzung der Freimaurerei erwächst die i n t e g r a t i v e F u n k t i o n des maurerischen Geheimnisses. Eine Organisation relativ unbestimmter Identität mußte sich des neutralen motivationsstiftenden Instruments des Geheimnisses bedienen, um divergierende Einzelmotivationen zu vereinigen und dauerhaft binden zu können. Nur eine streng gestufte (tendenziell infinite) Geheimhaltungshierarchie erzeugte die zur Herstellung von Gruppenkohäsion notwendige permanente Erwartungsspannung. Wer unbefriedigt mit den Enthüllungen der unteren Grade war, wurde vertröstet auf höhere und höchste, deren Erhalt ihn im Laufe der Zeit auf der Leiter der Logenhierarchie so weit emporbrachte, daß das Interesse an der Beibehaltung der Hierarchie größer wurde als die Enttäuschung über die erhaltenen Aufschlüsse. Daß sich neben der Freimaurerei und den Geheimbünden auch andere Aufklärungsgesellschaften der integrierenden Funktion des Geheimnisses bedienten, verweist grundsätzlich auf die Zwischenstellung dieser Gruppierungen zwischen K o r poration und Assoziation, wie sie die Vereinsgeschichte des 18. Jahrhunderts kennzeichnet. 27 Das Maß an Freiheit, das dem Beitritt zu einer assoziativen Organisation wie der Freimaurerei innewohnte, bedurfte 26
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Vgl. dazu auch die immer noch grundlegenden Gedanken von Georg Simmel über »Das Geheimnis und die geheime Gesellschaft«, in: ders., Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Leipzig 1908, S. 337-402. - Die thesenartige Beschreibung von Funktionen des Geheimnisses im 18. Jahrhundert kann eine detaillierte soziologische Untersuchung nicht ersetzen. Eine solche hätte jedoch den Rahmen der vorliegenden Arbeit gesprengt. Vgl. oben S. 18ff.
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zunächst eines Korrelats wie des Geheimnisses mit seinen drastischen Sanktionierungen, um das gruppenerhaltende Maß an Bindung zustande zu bringen. Je selbstverständlicher der in dem neuen Verein erfahrene Gruppenzusammenhang wurde, desto unwichtiger wurde das Geheimnis oder aber diejenigen Organisationen, die auf seiner Grundlage beruhten. Zu erinnern ist an die Ablösung der Freimaurerei als dominantem Vereinstyp durch die Lesegesellschaften am Ende des 18. Jahrhunderts. 2. Das maurerische Geheimnis hatte eine s c h ü t z e n d e F u n k t i o n . Zwar ist die Maurerei keine verborgene Gruppe, ihre Existenz ist öffentlich bekannt; doch verheimlicht sie ihren Zweck und die Identität ihrer Mitglieder. Das Geheimnis schaffte die notwendigen Bedingungen für eine von Staat und Kirche freie Sphäre, es förderte die Entstehung eines genuin gesellschaftlichen Zwischenbereichs, der vor Vereinnahmung von staatlicher oder religiöser Seite geschützt war. Anders als die mit dem ständischen System eng verknüpfte Korporation entfaltete die Assoziation ihre Wirksamkeit außerhalb der traditionalen Gewalten. Deren Schutz zu ersetzen, bis eine öffentliche gesellschaftliche Existenz möglich wurde, war eine Funktion des Geheimnisses. Diese Schutzfunktion hatte potentiell einen kritischen Charakter. Ihn hat Koselleck im Auge, wenn er diese vom Staat freie Sphäre als Ort der Genese einer bürgerlichen Freiheit gegen den Staat, einer moralisch sich gebenden kritischen Gegenöffentlichkeit interpretiert. Diese Möglichkeit des Geheimnisses wurde in der deutschen Freimaurerei nicht zu seiner Wirklichkeit; diese war weit mehr durch eine Kooperation mit dem Staat charakterisiert. Am Ende des 18. Jahrhunderts war die Freimaurerei ein staatlich legitimierter Verein. Bevor eine kritische Öffentlichkeit lebensfähig wurde, hatte der Staat - nicht ohne Mithilfe seiner Untertanen - wirksame Instrumente zu ihrer Integration und Kontrolle entwickelt. Die Geschichte der Freimaurerei in Deutschland zeigt, daß die Staatlichkeit - ob im Bewußtsein der Untertanen antizipiert oder institutionell verankert - der Gesellschaftlichkeit immer einen Schritt voraus war. So war es auch nur konsequent, daß nicht eine freie und kritische bürgerliche Gesellschaft das Erbe der schützenden Funktion des Geheimnisses antrat, sondern die Vereinsgesetzgebung des spätabsolutistischen Staates. 3. Eng mit der schützenden Funktion des Geheimnisses verbunden ist seine s o z i a l e F u n k t i o n . 2 8 Die Annäherung verschiedener Stände 28
Dazu Koselleck, Kritik und Krise, S. ; ηί.
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und die damit verbundene begrenzte gesellschaftliche Mobilität war möglich nur im Geheimen, wo die Wirksamkeit der starr reglementierten Sozialordnung gebrochen oder doch entscheidend geschwächt war. Die von den Logen geschaffene maurerische Gleichheit war jedoch eine exklusive. Die Logen waren eine Organisationsform gesellschaftlicher Eliten, denen das Geheimnis ein willkommenes Instrument zur Abgrenzung nach außen (d. h. nach unten) wie zur Differenzierung im Innern wurde. Die durch Absonderung entstandene Gleichheit schaffte neue Ungleichheit. Eine Uberbrückung dieses Widerspruchs in Form geschichtsphilosophischer oder politisch-strategischer Konzepte (Avantgarde-Theorien) gelang nur selten; die maurerische Realität wurde von ihnen kaum beeinflußt. 4. Insbesondere in der zweiten, der Hochgradphase der deutschen Freimaurerei wird eine Tendenz erkennbar, Realitätsentwürfe spezifisch maurerischer Prägung zu konzipieren. Die zeitgenössische Gegenwart wurde im Horizont der Entstehungslegenden und Planvorhaben zu einem Übergangsstadium erklärt, das in eine verheißungsvolle Zukunft zu überführen die vergangenheitsorientierten Bünde angetreten sind. Wenn es auch übertrieben erscheint, von einer »Geschichtsphilosophie« der Hochgradfreimaurerei zu sprechen, so wirkte diese doch als eine Schule der Möglichkeit, die lehrte, daß die Gegenwart in ihrem Sosein nicht als unveränderlich hingenommen werden muß. Das Geheimnis fungierte dabei als eine temporal bestimmte Vermittlungskategorie zwischen Bundeswirklichkeit und historischer Realität. Restaurativ-regressive Entwürfe standen dabei neben utopisch-antizipierenden. Allen gemeinsam war, daß sie, um ein Ungenügen an der Realität zu beseitigen oder zu kompensieren, Zuflucht zu quasi-fiktiven Ersatzbildungen wie der Strikten Observanz nahmen. Dem Geheimnis kam dabei eine i l l u s i o n s s t i f t e n d e F u n k t i o n zu. Sie war grundsätzlich ambivalent. Öffnete sie einerseits die Augen für die Möglichkeit einer anderen besseren Welt, die der bestehenden als kritisches Regulativ gegenübergesetzt werden konnte, so führte sie andererseits zu einem verbreiteten gesellschaftlichen Selbstbetrug, zu einem Sicheinrichten in einer Welt des Scheins, die vorschnell und unkritisch mit der Wirklichkeit ineins gesetzt wurde. 5. Das maurerische Geheimnis hatte schließlich eine p ä d a g o g i s c h e F u n k t i o n . Die durch das Geheimnis gesetzten Schranken waren durchlässig, und diese Durchlässigkeit war es, der die Freimaurer einen pädagogischen Wert beimaßen. Das Geheimnis war attraktiv, es zog 81
Menschen an, die hinter ihm etwas Wesentliches und Bedeutsames vermuteten. Idealisierungstrieb und Furcht wirkten zusammen und erzeugten eine Erwartungsspannung, die zu meistern der Aufzunehmende angehalten wurde. Es war die Kunst des Verschweigenkönnens, die der Maurer erlernen sollte, sowie die Einsicht in die Notwendigkeit, daß große Wahrheiten für ein angemessenes Verständnis ein stufenweises Eindringen erfordern. Selbstvervollkommnung und Menschenbildung waren Ziele der Freimaurerei, aber auch der Aufklärung überhaupt. Die dialektische Instrumentalisierung des Geheimnisses zum Zwecke der Aufklärung gehörte zu den zentralen Themen der freimaurerischen Realität im 18. Jahrhundert, wie sie sich in Logenreden und Freimaurerliteratur niederschlugen. Berücksichtigt man die große Zahl von Logen, so tritt die bedeutende Rolle der Freimaurerei als Bildungsinstitut der Aufklärung in Deutschland hervor. So wichtig das Geheimnis für die Organisationsstruktur der Freimaurerei war, so wurde es doch kontrastiert durch Elemente, die einen betont öffentlichen Charakter hatten. Die Prachtentfaltung bei Konventen, Zeremoniell und Uniformen, Titel und Ränge erhielten Wirksamkeit erst dann, wenn eine Öffentlichkeit hergestellt war. In diesem Zusammenhang ist auch auf die ausgedehnte maurerische Publizistik hinzuweisen, auf die zahlreichen freimauerischen Schriften, Kalender, Almanache und Zeitschriften/ 9 Es war diese >Halböffentlichkeitsozialen Frage< Herr zu werden. Mit der Entstehung der modernen Gesellschaft eng verknüpft war die systematische Ausgrenzung derer, die ihre Ansprüche nicht oder nur teilweise erfüllen konnten. Arme und Waisen, Irre und Krüppel wurden ver-anstaltet, Armen-, Waisen-, Tollhäuser wurden gegründet und mit ihnen die Arbeitshäuser. J e mehr die gesellschaftliche Verantwortung für diese >Randgruppen< als solche bewußt wurde, desto schärfer wurde deren Ausgrenzung betrieben. 57 Daß die Hilfe der Freimaurer einen quasi-institutionellen Charakter annahm - von ihnen gingen viele Initiativen zur Gründung von >Häusern< aus - , hing mit der gerade skizzierten Entwicklung zusammen. Gleichwohl bleibt festzuhalten, daß die freimaurerische Wohltätigkeit einen wichtigen Akt praktischer Aufklärung im 18. Jahrhundert darstellte. Eine bedeutende >soziale Funktion< hatte die Freimaurerei nicht zuletzt in diesem Bereich.
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Materialien, 3. Theil, S. 61 f., Demeter, Die Frankfurter Loge, S. 13 5 ff. Dazu: Dörner, Klaus, Bürger und Irre. Zur Sozialgeschichte und Wissenschaftssoziologie der Psychiatrie, Frankfurt/M. 1969, Foucault, Michel, Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft, Frankfurt/M. 1973. 97
III. D e r B u n d der Illuminateli Im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts kam es zu bedeutsamen Verschiebungen im Gefüge der Aufklärungsgesellschaften. Die Freimaurerei mündete nach Beendigung ihrer turbulenten Allianz mit den Hochgradsystemen ein in die Phase der Reform, die weitgehend aus der Rückbesinnung auf die bescheidenen englischen Anfange bestand. Die enge Verbindung von Aufklärungsbewegung und Freimaurerei näherte sich ihrem Ende. Die Gründung von Lesegesellschaften, einer öffentlicheren Organisationsform, nahm in gleichem Maße zu wie die Gründung von Logen zurückging. Allerdings blieben die potentiellen politischen und kritischen Implikationen der geheimbündlerischen Organisationsform nicht ohne Erben. Die allgemein zu beobachtende Tendenz zu einer politischen Polarisierung der gesellschaftlichen Öffentlichkeit, die noch vor der Französischen Revolution einsetzte und später durch sie erheblich verschärft wurde, fand ihren Niederschlag auch im Spektrum der geheimen Gesellschaften. 1776 entstand im Studierzimmer eines Ingolstädter Professors für Kirchenrecht der Plan zur Gründung des Illuminatenbundes, der später als ein Beispiel für »die politisch-emanzipatorische Dimension der radikalen Aufklärung« bezeichnet werden wird; 1 schon vorher war der Bund der Gold- und Rosenkreuzer (wieder) ins Leben gerufen worden, der als Sammelbecken für konservative und reaktionäre Strömungen im Zeitalter der Aufklärung gilt. Da der Bund der Illuminaten besonders in den letzten Jahren eine erfreuliche Beachtung durch die historische und soziologische Forschung gefunden hat,2 kann sich seine Behandlung hier auf eine knap1 2
So Dülmen, Geheimbund, S. 13. Neben der genannten Analyse und Dokumentation von van Dülmen wären zu nennen: Die klassische Arbeit von René Le Forestier, Les Illuminés de Bavière et la Franc-Maçonnerie allemande, Paris 1914, Hofter, Wolfgang, Das System des Illuminatenordens und seine soziologische Bedeutung, Diss. Heidelberg 1956, Engel, Leopold, Geschichte des Illuminatenordens. Ein Beitrag zur Geschichte Bayerns, Berlin 1906, Schindler, Norbert, Aufklärung und Geheimnis im Illuminatenorden, in: Geheime Gesellschaften, S. 203-229; wichtig zu Dülmens Studie: Fehn, Ernst-Otto, Zur Wiederentdeckung des Illuminatenordens. Ergänzende Bemerkungen zu Richard von Dülmens Buch, in: Geheime Gesellschaften, S. 231-264, und Schlaffer, Rezension. Zur sozial- und geistesgeschichtlichen Einordnung der Illuminaten vgl. Graßl, Hans, Aufbruch zur Romantik. Bayerns Beitrag zur deutschen Geistesgeschichte 1765-1785, München 1968, Manheim, Aufklärung und öffentliche Meinung, Koselleck, Kritik und Krise, insbes. S. 68ff. Die »politische« Relevanz der Illuminaten behandelt jetzt auch Fischer, Michael W., Die Aufklärung und ihr Gegenteil. Die
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pe, die bisherige Forschung kritisch einbeziehende Darstellung von Entstehung, Aufbau, Programm, Verbreitung und Nachwirkung des Ordens beschränken. Mehr noch als bei den freimaurerischen Vereinigungen besteht bei der Erforschung dieser Aufklärungsgesellschaft die Gefahr, ihren eigentümlichen Charakter zu verzeichnen, wenn nicht der schwebende Wirklichkeitscharakter, die ihr Wesen kennzeichnende Verbindung realer und quasi fiktiver Momente in die methodische Reflexion einbezogen wird. Beim ersten Hinsehen scheint es, als zögen Programm und Struktur dieses Ordens die notwendigen politischen Konsequenzen aus Morallehre und Geheimnis der Freimaurerei. Was dort als aus der englischen Tradition überkommenes Element Objekt bewußter oder unbewußter Projektion sozialer Phantasie war, wurde hier zu nüchternem Kalkül, zum organisatorisch, psychologisch und strategisch-taktisch raffiniert eingesetzten Instrument der Ordenspolitik: Das maurerische Geheimnis war nicht mehr unbestimmter Zweck, Artikulationsform irrationaler Bedürfnisse oder latent sozialer Interessen, sondern rational beherrschtes Mittel, eingesetzt zur Erreichung ordensinterner und -externer Ziele. Doch trügt der Schein. Mit der bewußten Handhabung der Geheimbundtechnik ging keineswegs die Entwicklung einer >realistischen< politisch-gesellschaftlichen Programmatik einher. Wer die in großer Zahl erhaltenen Ordenspapiere, die Statuten und Grade, die Ordenskorrespondenzen als Ausdruck eines nüchternen gesellschaftlichen Selbstverständnisses und wirklichkeitsnaher politischer Intentionen liest, der fragt sich unwillkürlich, welche Wirklichkeit denn Gegenstand dieser Pläne gewesen sein könnte; ob hier nicht ein papierner Radikalismus über die tatsächlich vorhandene Ohnmacht, die Diskrepanz zwischen Programm und Wirklichkeit zu schließen, hinwegtröstet. Es steht außer Zweifel, daß die Illuminaten das Geheimbundmodell kritisch verschärft haben; inwieweit dieses radikalisierte Modell jedoch verwirklicht worden ist, inwieweit es überhaupt realisierbar war, das ist auch beim gegenwärtigen Forschungsstand noch immer nicht eindeutig zu beantworten. Für die folgende Darstellung wird die Rolle der Geheimbünde in Wissenschaft und Politik, Berlin 1982, S. 213ÍT. Die Arbeit, die ihr Hauptinteresse im Nachweis von »Institutionalisierungsprozessen« in der Wissenschaftsgeschichte der Neuzeit hat, gelangt dabei kaum über die bei Koselleck und van Dülmen formulierten Erkenntnisse hinaus. Vgl. jetzt auch die wichtige Studie von Agethen, Geheimbund und Utopie, die die Illuminaten auf den Typus der Sekte festzulegen versucht (s. Kap. 1, II, Anm. 1).
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- etwas überspitzte - These Heinz Schlaffers im Auge zu behalten sein, daß der Bund der Illuminaten »weniger die fortschrittlichste politische Institution als die fortgeschrittenen politischen Illusionen des aufgeklärten Absolutismus« repräsentierte. 3 Die Gründung des Illuminatenbundes und die ersten Jahre seines Bestehens, etwa bis 1 7 8 1 , waren in starkem Maße bestimmt durch die besonderen Bedingungen der Aufklärung in Bayern. Das ohnehin vorhandene Nord-Süd-Gefálle der Aufklärungsbewegung, wie es sich beispielsweise an den Zahlen von Logen und Lesegesellschaften ablesen ließ, erfuhr eine Vertiefung, als 1777 mit Karl Theodor von der Pfalz ein Fürst die Regierung übernahm, der die vorhandenen zaghaften Ansätze zu einer Aufklärung bedrohte, neue unwahrscheinlich werden ließ. Seit 1774 beschäftigte sich Adam Weishaupt, Hochschullehrer in Ingolstadt, w o der 1773 verbotene Jesuitenorden noch eine feste Bastion hielt, mit dem Plan zur Gründung einer geheimen Gesellschaft. E r war begeistert vom Geheimbundmodell, wie er es aus unzähligen einschlägigen Schriften kennengelernt hatte. Nicht eigene, sondern literarisch vermittelte Erfahrungen standen am Beginn des Illuminatenprojekts. A b 1776 nahm der Bund Gestalt an, zunächst als Studentenzirkel, der versuchte, den reaktionär-verstaubten Bildungskanon der Universität durch das Studium aufklärerischer Schriftsteller zu ergänzen - eine Art Gegenuniversität also - , später, nach dem verstärkten Zulauf nichtstudentischer Mitglieder, als eine Bildungsorganisation elitär sich verstehender bayerischer Aufklärer. Der Nachholbedarf, den der von Helvetius, Holbach, Abt, Feder und Ferguson beeinflußte Weishaupt für die bayerische Aufklärung konstatierte, fand seinen Niederschlag in der frühen Struktur des Bundes. 4 Das Fehlen einer breiteren Basis für aufgeklärtes Gedankengut riet zu einer geheimen Vereinigung der fortgeschrittensten Geister. Der schon früh sich abzeichnende autokratische Charakter des Bundes und die strenge Hierarchisierung des Wissens, die später besonders bei den norddeutschen Illuminaten auf Widerspruch stießen, lassen sich von hier aus als Ausdruck notwendiger Vorsicht und als ein angemessenes Mittel aufklärerischer Didaxe verstehen.
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Schlaffer, Rezension, S. 142. Zu den Bedingungen der bayrischen Aufklärung vgl. insbes. Graßl, Aufbruch, S. 21 ff. Zur Geschichte des Bundes die oben genannten Arbeiten von van Dülmen, Engel, Le Forestier.
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i779> drei Jahre nach seiner Gründung, hatte der Bund 5 5 Mitglieder, darunter viele adlige und bürgerliche Hofbeamte und Kleriker. Eine Diskrepanz zwischen der personellen Erweiterung und dem stagnierenden Ausbau des Ordensplans führte zu häufigen Konflikten zwischen Weishaupt und den Mitgliedern des »Areopags«, der aristokratischen Ordensleitung, die die monarchische Regierung Weishaupts abgelöst hatte. 1780 wurde Adolph von Knigge Mitglied des Bundes. In den folgenden Jahren stieg er auf zur zweitwichtigsten Persönlichkeit im Orden.' E r wirkte außerordentlich erfolgreich als Ordenswerber in Nord- und Westdeutschland und arbeitete, gemeinsam mit Weishaupt, das Gradsystem des Ordens aus. Nach einem Ende 1781 beschlossenen Plan sollte der Orden aus drei Klassen bestehen, die jeweils für sich wiederum in Grade unterteilt waren: I. Klasse: Minervale (Novize, Minervale, Illuminatus minor), II. Klasse: Freimaurer (Lehrling, Geselle, Meister), III. Klasse: Mysterien (Illuminatus maior, Illuminatus dirigens). 6 Zusätzlich zu den drei Klassen waren noch sogenannte »höhere Mysterien« vorgesehen, zu denen der Priester- und der Regentengrad gehörten. Später sollten noch die Grade eines »Magus« und eines »Rex« hinzukommen. Neben dem Gradsystem, das dem Aufbau der freimaurerischen Hochgradorden ähnelt, wurde eine geographische Ordensstruktur entworfen. (D 49f.) Danach war Deutschland (Assyrien) in drei Inspektionen aufgeteilt, die jeweils aus mehreren Provinzen und Präfekturen bestanden. Der Areopag sollte schließlich von einem Provinzialkollegium aus Inspektoren und Provinzialen abgelöst werden: ein frühes Beispiel für den Gedanken einer föderalen Repräsentation in Deutschland. Knigge war insbesondere an der Ausgestaltung der II. Klasse und der höheren Mysterien beteiligt. E r zeichnete verantwortlich für die verstärkte Einbeziehung freimaurerischer Rituale und spielte eine entscheidende Rolle bei dem noch nicht in allen Einzelheiten geklärten Versuch, den '
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Knigge gehörte zu den Schlüsselfiguren der Geheimbundszene des 18. Jahrhunderts. Mit Recht ist vor kurzem eine Ausgabe: Knigge, Adolph, Freiherr von, Sämtliche Werke, hg. von Paul Raabe, 24 Bde., Nendeln/Liechtenstein 1978, erschienen, die in den Bänden 12 und 13 auch dem publizistischen Engagement Knigges für Freimaurerei und Illuminaten Rechnung trägt. Vgl. im übrigen: Fehn, Ernst-Otto, Knigges >ManifestPflanzschule< des Bundes und war hauptsächlich der Erziehung und Bildung der neuen Ordensmitglieder gewidmet. Diese wurden angehalten, antike und aufklärerische Schriftsteller zu lesen sowie kurze Abhandlungen über die Mangelhaftigkeit der bürgerlichen Gesellschaft zu verfassen. Zugleich sollten sie in den Zusammenkünften und Gesprächen die Vorteile einer Einigkeit der Gleichgesinnten erfahren, einen Esprit de corps ausbilden. Eine Lektüreliste enthielt die Werke Senecas, Epiktets, Plutarchs, Wielands (.Agathon, Beiträge %ur geheimen Geschichte des menschlichen Verstandes und Hertens, Der goldne Spiegei), Wezeis (Tobias Knauf), Popes, Smiths, Basedows, Meiners', Abts und Helvetius'. Besonderen Wert legte Weishaupt darauf, daß nur Schriften, die die Moral behandeln, in der I. Klasse Verwendung fanden. »Denn wenn sie die Politic vor der Moral lernen, so werden Schelmen daraus. Ganz allein Moral, Geschieht, Menschenkenntniß und Einsicht in die menschliche Natur.« (Brief an Zwack, 5. März 1778, D 220) Der Satz verrät einen beinahe naiven Glauben an die Macht der Erziehung und scheint hinsichtlich der bayrischen Zielgruppe von einer Art tabula rasa der Lektüre auszugehen. Das immer wieder formulierte Bemühen, dem Orden » e i n e Seele einzuhauchen«, alle Mitglieder auf » e i n e n Ton« zu stimmen, steht in bezeichnendem Gegensatz zur Lage der beteiligten bürgerlichen und adligen Gruppen in der historischen Realität. Neben Bildung und Lektüre gehörte die Vermittlung von Menschenkenntnis und eine moralische Lebensführung zu den Hauptzielen der Minervalklasse. Der Orden - in diesem wie in anderen Merkmalen seinem Feindbild, dem Jesuitenorden, nicht unähnlich - führte zu diesem Zweck sogenannte »Quibus-licet«-Berichte ein, kurze schematisch angelegte Personalstudien mit latent denunziatorischem Charakter.8 Die Mitglieder wurden angehalten, Vorgesetzte und Gleichgestellte im Orden zu beobachten und auszuspionieren und die Ergeb-
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Dazu Dülmen, Geheimbund, S. 47, 240fr., 285. Außerdem die Arbeit von Fehn, Knigges >Manifest< und Werner, Freimaurerei, S. n 6 f f . , 134fr. Dazu Hofter, System, und Agethen, Manfred, Mittelalterlicher Sektentypus und Illuminatenideologie. Ein Versuch zur geistesgeschichtlichen Einordnung des Illuminatenbundes, in: Geheime Gesellschaften, S. i z i - i 50und ders., Geheimbund und Utopie, S. 187fr.
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nisse ihrer Recherchen auf geheimem Wege der Ordensleitung zukommen zu lassen. Diese Methode der Menschenführung beleuchtet die eigentümliche Verschränkung von Aufklärung und Despotismus im System des Ordens. Einerseits steht sie deutlich in Verbindung mit dem aufklärerischen Menschenbild und der Entwicklung der Psychologie als Erfahrungsseelenkunde im 18. Jahrundert. 9 Die systematische Beobachtung der Ordensmitglieder war aber zugleich auch ein Herrschaftsinstrument der Ordensspitze, die damit über ein geradezu erschreckend perfektes Informationssystem verfügte. Ein starker Wille zu Uniformität, Hierarchie und Gehorsam sowie ein erstaunliches Ausmaß an kalter Überlegung und berechnendem Kalkül stehen neben dem erklärten Ziel, die Aufklärung allgemein zu machen und die ursprünglichen Rechte der Menschheit wiederherzustellen. Fast scheint es, als wäre in der Janusköpfigkeit des Illuminatenbundes, dem Nebeneinander von humanem Ziel und rational-despotischen Mitteln, schon die Selbstzerstörung der Aufklärung vorweggenommen, wie Horkheimer/Adorno sie in der Dialektik der Aufklärung beschrieben haben.10 So heißt es in der »Instruction der Präfecten oder Local-Obern« von 1782 unter dem Titel »Unterricht, Bildung«: »Was nützt dem Orden eine Menge Menschen, die sich auf keine Art ähnlich sehen? Alle diese Männer müssen von ihren Schlacken gereinigt werden, und zu edeln, großen, würdigen Menschen umgeschaffen werden.« (D 203) Dem Ordensneuling sollten nach dem Eintritt »die Seele erweitert und große Entwürfe fühlbar gemacht werden . . . Der Candidat wird den bekannten Vorschriften gemäß geleitet, aber nicht auf einmal, sondern nach und nach, damit durch die Ueberlegungs-Fristen das Bild sich tiefer einpräge. Er muß bitten, nicht sich bitten lassen.« (ebd.) Befördert schließlich wurde ein Zögling nicht eher, »als bis er so ist, wie wir ihn haben wollen.« (D 204) Diese Instruktionen lesen sich ebenso wie die über »Anhänglichkeit«, »Folgsamkeit« und »Verborgenheit« wie eine despotische Rezeptur für den Retortenmenschen der Aufklärung. Die Ordensnovizen wurden als unmündige Objekte der Erziehung behandelt, die nach unbefragt geltenden Prinzipien auf autoritärem Wege zu nützlichen Mitgliedern des Bundes gemacht werden sollten. 9
Dazu Schings, Hans-)Urgen, Melancholie und Aufklärung. Melancholiker und ihre Kritiker in Erfahrungsseelenkunde und Literatur des 18. Jahrhunderts, Stuttgart
10
Horkheimer, Max und Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt/M. 1975.
1977·
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Wie überlegt die Illuminateli auf die Bedingungen des Zeitalters reagieren konnten, zeigt die »Instruction für den ganzen Regentengrad«, in der Vorschläge für die Werbung neuer Mitglieder gemacht wurden. Um den »Hang der Menschen zum Wunderbaren« und den »Reitz mächtiger Verbindungen« ausnutzen zu können, sei es »zuweilen nöthig, den Untergebenen vermuthen zu lassen (ohne jedoch selbst die Wahrheit zu sagen) als wenn insgeheim von uns alle übrigen Orden und Freymaurer-Systeme dirigiert, oder als wenn die größten Monarchen durch den Orden regiert würden, welches auch wirklich hie und da der Fall ist.« (D 195) Es folgen Regeln für die Inszenierung einer Geheimbundwirklichkeit, deren atmosphärische Qualitäten die Illuminaten bewußt ihren Werbungsversuchen dienstbar machen wollten: Wo ein großer sonderbarer Mann lebt, da müßte man glauben er sey v o n den Unsrigen. Man ertheile zuweilen ohne weitern Z w e c k mystische Befehle, lasse z. B . einen Untergebenen an einem fremden Orte, in einem G a s t h o f e unter seinem Teller ein Ordens-Sendschreiben finden, das man ihm viel bequemer zu Haus geben können. Man reise zu Zeiten der Messe . . . in die großen Handelsstädte, bald als K a u f m a n n , bald als A b b é , bald als Offizier, und erwecke sich aller Orten den R u f eines vorzüglichen achtungsw ü r d i g e n , in wichtigen Angelegenheiten und Geschäften gebrauchten Mannes . . . Oder man schreibe wichtige Befehle mit einer chymischen Tinte, die nach einiger Zeit v o n selbst wieder verlöscht, und dergleichen mehr. ( i 9 5 f . ) "
Die »Reflexivität des Geheimnisses« (Schindler), die bewußt berechnende Handhabung geheimbündlerischer Herrschaftstechniken mag einerseits Ausdruck der >Verspätung< oder der Sonderentwicklung Bayerns sein und zugleich ein Zeichen für die Labilität der Aufklärungsbewegung in Deutschland insgesamt. Wo das Bürgertum nicht über eine kollektive Subjekterfahrung verfügte, w o es nicht als geschlossene Klasse seine Interessen von unten, aufgrund eigener Initiative durchsetzen konnte, da lag es nahe, der Aufklärung von oben her, auf autoritärem Wege eine breitere Basis zu verschaffen. Andererseits tritt gerade hier die Verwandtschaft dieses Konzepts mit dem (aufgeklärten) Absolutismus deutlich hervor. Hier wie dort wurden unter Mißachtung der Würde und Rechte, der Subjektfähigkeit des Menschen apriorisch formulierte Wahrheiten in die Wirklichkeit umgesetzt. Es erstaunt daher nicht, daß eine Unterwanderung der absolutistischen 11
An diese »Instruktion« scheint Goethe sich bei der Exposition der Turmgesellschaft in Wilhelm Meisters Lehrjahren beinahe buchstäblich gehalten zu haben.
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Institutionen zu den erklärten Zielen des Ordens gehört. Noch die Abschaffung des Staates geschah auf staatlichem Wege: von etatistischem Denken, wie es die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft in Deutschland von der Preußischen Reform bis zum Faschismus und darüber hinaus durchzog, waren auch die Illuminaten nicht frei. Nur folgerichtig erscheint es, wenn ein früherer Illuminât, der Graf Montgelas, später als Minister des absolutistischen Staates Bayerns Reformphase bestimmend beeinflussen wird. Die Geschichtsphilosophie des Bundes und seine moralisch-politische Programmatik enthält die »Anrede an die neu aufzunehmenden Illuminatos dirigentes« von 178z. 1 2 Die Initiation in das Geheimnis des Bundes ist eine Einführung in seine Geschichte und damit in die Geschichte überhaupt. »Sie stehen hier in der Mitte zwischen der vergangenen und künftigen Welt: einen Blick in die vergangenen Zeiten zurück, und so gleich fallen die zehntausend Riegel hinweg, und die Thore der Zukunft öffnen sich.« (D 168) Der Blick zurück befreit nach vorn; er ermöglicht eine Orientierung in der Gegenwart, die nunmehr als notwendige, aber zeitlich begrenzte Durchgangsstufe zwischen Gestern und Morgen begriffen wird. Z w a r ist die Befreiung eine Befreiung zur Erkenntnis, doch kann diese Erkenntnis zur Legitimation eines tätigen Eingreifens in den notwendig sich vollziehenden Prozeß dienen, zumindest aber eine Infragestellung der gesellschaftlich-politischen Verhältnisse der Gegenwart bewirken. Die Illuminaten entfalteten zum ersten Mal vollständig die mit den maurerischen Geschichtskonstruktionen potentiell gegebene revolutionäre Dynamik, die schon der Discours des Chevaliers Ramsay erkennen ließ. Der Ablauf der Geschichte korrespondiert dem Plan des Bundes, beide werden, was die Zukunft angeht, ineins gesetzt. »Gott und die Natur« so heißt es, »welche alle Dinge der Welt, die größten so gut, wie die kleinsten zur rechten Zeit und am gehörigen Ort geordnet haben, bedienen sich solcher [d. h. geheimer Gesellschaften, M. V.] als Mittel, um ungeheure sonst nicht erreichbare Zwecke zu erreichen.« (ebd.) Das Geschichtskonzept der Illuminaten besteht aus einem ansatzweise historisierten Dreistufenmodell. Wie im Leben des einzelnen 12
Abgedruckt bei Dülmen, Geheimbund, S. i66ff. Z u r Geschichtsphilosophie der Illuminaten vgl. auch ebd., S. i66ff., Koselleck, K r i t i k , S. i o j f f . , ders., A d a m Weishaupt und die A n f ä n g e der bürgerlichen Geschichtsphilosophie in Deutschland, in: Klasse en Ideologie, S. 3 1 7 - 3 2 7 , Schindler, A u f k l ä r u n g , Agethen, G e h e i m b u n d und Utopie, S. io6ff. 105
Menschen Kindheit, Jugend und männliches Alter voneinander abgesetzt sind, so vollzieht sich auch der Plan Gottes und der Natur - die Geschichte wird hier noch nicht als eigentliches Agens, als Subjekt der Entwicklung verstanden! - in drei Stufen: ursprüngliche Unschuld wird von einer Phase der Knechtschaft, diese wiederum von einer Zeit der Freiheit abgelöst. Ist diese deutlich chiliastisch-joachitische Züge tragende Geschichtskonstruktion auch nicht frei von transzendenten Agentien - sei es die Providenz Gottes oder die »stufenweise Entwickelung eines unendlichen Planes« der Natur - , so kommt es doch zu erstaunlichen Formulierungen immanenter historischer Bewegungsgesetze: »Die Geschichte des Menschen Geschlechts ist die Geschichte seiner Bedürfnisse.« (169) Der Mensch wurde vertrieben aus dem Reich natürlicher Freiheit und Gleichheit durch die Entwicklung neuer Bedürfnisse, die Leidenschaften und materielle Begierden zur Folge hatten. Die Bildung von Privateigentum bewirkte Ungleichheit, die Schwachen unterwarfen sich Starken, die ihnen Sicherheit garantieren sollten: Unfreiheit entstand. Die ursprüngliche Begründung für Unterwerfungs- und Herrschaftsakte ging im Laufe der Zeit verloren, »die Könige fiengen an, sich in die Stelle der Nation zu setzen, sie als ihr Eigenthum zu behandeln, und sich nicht weiter als Vorsteher zu betrachten.« (D 175) Eine kriegerische Außenpolitik, die Eroberung und Unterdrückung fremder Völker verschärfte die Herrschaftsverhältnisse im Innern: »Die Sklaverey der Ueberwundenen wurde das Modell von der Sklaverey der Ueberwinder.« (ebd.) Revolutionen bewirkten einen Kreislauf der Herrschaftsformen, gestürzte Despotien wurden abgelöst von demokratischen oder aristokratischen Verfassungsformen, diese gingen über in Oligarchien, und am Ende des Zirkels stand erneut der Despot. Als »die Höfe durch die Erfindung des Systems vom Gleichgewichte der Staaten die Revolutionen erschwerten«, war »wirklich die äußerste Stuffe vom menschlichen Verderben« erreicht. (D 178) Aber die Zeit schlimmster Unterdrückung ist zugleich der Beginn neuer Hoffnung auf Befreiung: »Eben da, indem sich alles verschworen, sich wechselweise zu Grund zu richten, muß das Gift zum Rettungsmittel dienen. Weil man Unterdrückung begünstigt, so hört solche auf, und die Vernunft fangt an, in ihre Rechte zu tretten, da wo man sie verdrängen will.« (ebd.) Die Menschen der »Mittelzeit« besinnen sich auf ihre ursprünglichen Rechte und auf die geeigneten Mittel, »die bevorstehende Revolution des menschlichen Geistes zu befördern.« (D 179) Die dauerhaftesten und 106
ältesten Mittel, »dereinst die Erlösung des Menschen-Geschlechts zu bewirken . . . sind geheime Weisheitsschulen«. Diese waren vor allzeit die Archive der Natur, und der menschlichen Rechte, durch sie wird der Mensch von seinem Fall sich erholen, Fürsten und Nationen werden ohne Gewaltthätigkeit von der Erde verschwinden, das Menschen Geschlecht wird dereinst eine Familie, und die Welt der Aufenthalt vernünftiger Menschen werden. Die Moral allein wird diese Veränderungen unmerkbar herbeyführen. (ebd.) Die Moral wird durch die Vervollkommnung des Menschen dafür sorgen, daß der »Grund aller Herrschaft« hinwegfällt und damit die Herrschaft selbst. »Wer alle Menschen frey machen will, der vermindre ihre unedle Bedürfniße, deren Befriedigung nicht in ihrer Gewalt ist. . . . Wer den Menschen Mäßigkeit, Genügsamkeit und Zufriedenheit mit ihrem Stand predigt, ist den Thronen weit gefahrlicher, als wenn er Königsmord predigte.« (D 183) Hier ist die Dialektik von Moral und Politik, wie sie von Koselleck beschrieben worden ist, deutlich zu erkennen. Die moralische Argumentation verdeckte die eigentlich politische Zielsetzung der Illuminaten. Die Morallehre selbst ist identisch mit der wahren Religion Christi, als deren alleinige Hüter sich die Illuminaten nach der Entartung von Kirche und Freimaurerei verstehen. 1 ' Der Bund vereinigt die Elite der Aufklärung, seine Aufgabe ist es, den Weg zur dritten, männlichen Stufe der Weltgeschichte bahnen zu helfen, den Weg zur Freiheit. Die Illuminaten wecken »ErfindungsGeist« und Erwartung der Menschen, sie machen gleichgültig gegenüber dem Interesse des Staates, diesem und der Kirche rauben sie die fähigsten K ö p f e , indem sie die Macht der gesellschaftlichen Vereinigung lehren. Damit untergraben sie »den Staat, wenn sie es gleich nicht zum Zweck haben; . . . sie schwächen dahero den Feind, wenn sie ihn gleich nicht besiegen.« (D 192) Als »Zuschauer und Werkzeuge Gottes und der Natur« enthalten sich die Illuminaten aller gewaltsamen Mittel: Wir beruhigen uns dabey in unserm Gewissen gegen jeden Vorwurf, daß wir den Umsturz, und Verfall der Staaten und Thronen, eben so wenig veranlasset, als der Staatsmann von dem Verfall seines Landes Ursach ist, weil er solchen ohne Möglichkeit der Rettung vorhersieht. Als fleißige und genaue Beobachter der Natur verfolgen und bewundern wir ihren unaufhaltbaren majestätischen Gang, freuen uns unsers Geschlechts, und wünschen uns Glück, Menschen und Kinder Gottes zu seyn. (D 193) '' Vgl. dazu den Brief von Weishaupt an Zwack, Ende 1782, abgedruckt bei Dülmen, Geheimbund, S. 273^
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Die Rolle der illuminatistischen Geschichtsphilosophie ist ambivalent. Sie legitimiert die Wirksamkeit des Ordens und verdeckt den potentiell politischen Charakter seines moralischen Anliegens. Zugleich aber verschleiert sie die tatsächliche Ohnmacht der Aufklärer, begünstigt durch ein Ausblenden der gegenwärtigen Machtverhältnisse gesellschaftliche Illusionen. Aus der Prognose bezieht das Programm der Illuminaten seine revolutionäre Sprengkraft, die »Temporalisierung der Moral« (Koselleck) erlaubt die Antizipation herrschaftsfreier Verhältnisse und einer paradiesischen Zukunft, die auf der Selbstbestimmung der Menschen beruhen wird. Als kritisches Regulativ greift diese Zukunft in die Gegenwart ein, stellt den herrschenden Despotismus in Frage. Doch haben die geschichtsphilosophischen Pläne der Illuminaten ihre Kehrseite. Das Sichverlassen auf die Prognose enthebt eigener politischer Aktivität, unterstützt bequeme Selbsttäuschung angesichts der ungelösten Widersprüche der Gegenwart. Die in der Geschichtsphilosophie der Illuminaten vorbereitete Identifikation von Theorie und Praxis leistete einer Illusion der Aufklärer Vorschub. Aus der theoriegeleiteten Negation der schlechten Wirklichkeit entstand der Dualismus von Theorie und Praxis, von Moral und Politik, an dessen Ende die doppelte Moral, die affirmative Untätigkeit steht. Der kritische Rückbezug der Prognose auf die Realität, das offene Verbergen ihrer Diskrepanz ist die Ausnahme. Die Regel ist das Weiterspielen der Zuschauerrolle, die aber nicht mehr durch kritische Distanz, sondern durch Selbsttäuschung und schließlich durch den ideologischen Selbstbetrug des Bürgers in seiner schlechten Welt sich auszeichnet. Die Doppelmoral war schon angelegt in der sozialen Schizophrenie der Illuminaten, die, selbstgewiß sich als Werkzeuge Gottes und der Natur wähnend, vom Orden angehalten wurden, ihre Rolle als brave Bürger des bestehenden Staates unverändert weiterzuspielen. Eine andere Seite des Ordens enthüllt der Priestergrad, der, Lehrer und Gelehrte des Ordens vereinend, Kultur und Aufklärung nach dem Plan der Illuminaten leiten sollte. Auch dieser Grad steht deutlich in der Tradition der bekannten Rede Ramsays von 1737. Es geht um die Sammlung alles in der Welt verfügbaren Wissens und die Errichtung eines neuen Wissenschaftssystems. Für Physik, Medizin, Mathematik, Naturgeschichte, Politik, Künste und Handwerk und geheime Wissenschaften sollten je eigene Ordensklassen eingerichtet werden. Eine kollektive Bildungs- und Wissenschaftsorganisation sollte dem Orden ein »absolutes Monopol für Wissen und Erkenntnis« (Dülmen) ver108
schaffen. Auf einer Ebene mit dem Priestergrad stand der Regentengrad, dem die politischen Leiter des Bundes angehörten. Über den Magus und Rex, die beiden höchsten Grade der Illuminaten, fehlen genauere Angaben. Vermutlich sind sie nie vollständig ausgearbeitet worden. In Wirklichkeit ist der Illuminatenbund kaum über den Status einer elitären »Bildungsgesellschaft entschiedener Aufklärer« hinausgekommen. 14 Seine praktisch-politischen Ziele - die personelle Infiltration der wichtigsten politischen Kollegien und Behörden, die Beeinflussung von Erziehung und Schulen, eine Beherrschung des Zeitschriften- und Buchwesens — hat er nur in sehr geringem Ausmaß erreicht. 1 ' Der Orden hatte sich in den Jahren 1781 bis 1784/85 schnell ausgebreitet. Besonders durch Knigges rührige Werbetätigkeit waren viele Illuminatenzirkel in Nord- und Westdeutschland entstanden. Die Quellenlage erlaubt zwar keine auch nur ungefähre Schätzung der Mitgliederzahl; bekannt sind die Namen von 635 Illuminaten, die tatsächliche Zahl dürfte weit darüber gelegen haben.' 6 Die Bedeutung des Ordens als Organisationsform der aufklärerischen Elite ist aus der Mitgliedschaft Goethes, Herders, Bodes, Nicolais, Ferdinand Baaders, Karl Theodor von Dalbergs und Joseph von Sonnenfels' ersichtlich.' 7 Der vollständige Aufbau des Ordens und sein eigentliches Programm war den meisten Mitgliedern sicher nicht bekannt; beide wurden erst nach dem Verbot des Bundes durch die Publikation von Ordensschriften einer größeren Öffentlichkeit zugänglich. Motivierend dürfte insbesondere der Gedanke einer Allianz von Aufklärung und Geheimnis, die Beförderung aufklärerischer Ziele auf geheimem Wege gewesen sein. Viele Mitglieder waren vermutlich enttäuschte Freimaurer, die sich von den Illuminaten die Erfüllung dort betrogener Hoffnungen versprachen.' 8 Aufschlußreich ist auch, daß insbesondere bei den westdeutschen Illuminaten zuweilen ein späteres Engagement in den Jakobinerklubs zu beobachten ist. Ebenso waren gleitende Übergänge zwischen Illuminatenzirkeln und Lesegesellschaften nicht selten.' 9 14
So Dülmen, Geheimbund, S. 133. '' Dazu Dülmen, Geheimbund, S. 74. ' 6 Zu den Zahlen: Fehn, Wiederentdeckung, S. 253. 17 Vgl. dazu die Mitgliederliste bei Dülmen, Geheimbund, S. 43 9fF. 18 Aufschlußreich für mögliche Motivationen ist der bei Dülmen, Geheimbund, S. 279fr., abgedruckte Werbebrief Knigges. 19 Dazu: Braubach, Max, Ein publizistischer Plan der Bonner Lesegesellschaft aus dem Jahr 1789. Ein Beitrag zu den Anfangen politischer Meinungsbildung, in: Fest-
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Die Sozialstruktur des Ordens ist nur in groben Umrissen erkennbar. Offenbar wurde der Hauptteil der Mitglieder von bürgerlichen und adligen Hofbeamten und Angehörigen der Intelligenz gestellt.20 Weitere wichtige Gruppen bildeten Kleriker und Offiziere. Das Wirtschaftsbürgertum scheint unterrepräsentiert gewesen zu sein, kleinbürgerliche Mitglieder waren die Ausnahme und bäuerliche Schichten überhaupt nicht im Bund vertreten. Damit ähnelt die soziale Zusammensetzung der Illuminaten der der Freimaurerei: Bildung und Bürokratie beschreiben den gesellschaftlichen Bereich, aus dem die meisten Mitglieder stammen. Idee und Wirklichkeit des Bundes wären von den Interessen, Bedürfnissen und sozialen Phantasien dieser Trägerschaft her zu erklären. Die Zeit größter Ausbreitung des Ordens läßt schon erste Anzeichen seines Zerfalls erkennen. Der Ausbau der Organisation hielt nicht Schritt mit dein Zulauf neuer Mitglieder. Die diffuse Zielsetzung der unteren Ordensklassen verhinderte das Zustandekommen des nötigen Ausmaßes von Identifikation und Kohäsion. Die Kritik an Weishaupts >jesuitischer< Regierungsart verstummte nicht. Die Diskrepanz zwischen den Ordenszielen und den Mitteln ihrer Durchsetzung wurde schon von den Zeitgenossen erkannt. Als Bode 1787 Schiller für die Illuminaten werben wollte, riet Körner, der Dresdner Freund und selbst Freimaurer, ab: »Wenn er aber wider Anarchie der Aufklärung eifert, so möchte man ihn fragen: ob denn durch Despotismus der Aufklärung viel mehr gewonnen sein würde. Der edelste Zweck in den Händen einer Gesellschaft, die durch Subordination verknüpft ist, kann nie vor einem Mißbrauch gesichert werden, der den Vortheil weit überwiegt.«21 Nach jahrelangen Streitigkeiten mit Weishaupt, die ihre Ursache nicht zuletzt in dessen autoritärem Führungsstil hatten, verließ Knigge 1784 endgültig den Orden. Die größte Wirkung bescherte den Illuminaten das Ordensverbot von 1784/85. Wie die Gründung stand auch das staatliche Eingreifen gegen den Orden ganz im Zeichen der bayerischen Verhältnisse. Hatte der Bund aber schnell weit über Bayern hinaus Anklang und Verbreischrift für Ludwig Bergstraesser, hg. von Alfred Hermann, Düsseldorf 1954. S. 21-39, Becker, Alfred, Christian Gottlob Neefe und die Bonner Illuminaten, Bonn 20
21
Diese beiden Gruppen dominieren jedenfalls in dem bei Dülmen, Geheimbund, abgedruckten Mitgliederverzeichnis. Briefwechsel £wischen Schiller und Körner, hg. von Ludwig Geiger, Bd. 1, Stuttgart 1892, S. 183f. Vgl. dazu auch unten S. 362fr.
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tung gefunden, so sollte auch die staatliche Verfolgung von größter Bedeutung für die Entwicklung eines politischen Selbstverständnisses der deutschen Aufklärung werden.22 Die Illuminaten waren nach ihrer Verwicklung in das bayerisch-österreichische Tauschprojekt denunziert worden. Auf ein allgemein gehaltenes Verbot vom Juni 1784 folgten weitere öffentliche Denunziationen, die schließlich zur Entlassung Weishaupts als Hochschullehrer und zum Erlaß eines zweiten, schärferen Edikts im Mai 1785 führten. Im Laufe dieses Jahres kam es zu Hausdurchsuchungen, Verhaftungen und teilweise zu prozeßlosen Verurteilungen ehemaliger Mitglieder des Ordens. In ganz Deutschland und in Österreich erhöhte sich die staatliche Sensibilität gegenüber geheimen Gesellschaften. Während der Französischen Revolution schließlich steigerte sich die Geheimbundfurcht zu einer regelrechten Hysterie.25 Die mit der Illuminatenverfolgung verbundene Veröffentlichung von Ordensdokumenten durch die bayerische Regierung setzte eine intensive Diskussion in Literatur und publizistischer Öffentlichkeit in Gang, die das Denkmodell der geheimen Gesellschaft und damit Möglichkeit und Grenzen einer Aufklärung in Deutschland überhaupt zum Thema hatte. Die bayerischen Verbotsedikte bedeuteten nicht das Ende des Ordens insgesamt. Illuminatenzirkel außerhalb Bayerns arbeiteten weiter, und der schon mehrfach erwähnte J . J. Chr. Bode nahm noch 1787 an dem Pariser Kongreß der Philalethen teil: als offizieller Repräsentant der Illuminaten.24 Auch gab es eine Reihe mehr oder weniger direkter Nachfolgeorganisationen wie Karl Friedrich Bahrdts »Deutsche Union« oder die schlesischen »Euergeten«. 2 ' Von einem planvollen Weiterbestehen des Ordens, der im April 1785 von seinem Nationaloberen formell für aufgehoben erklärt worden war, kann jedoch keine Rede sein. Daß der Plan der Illuminaten großenteils nur papierne " 2J 24 11
Dazu Dülmen, Geheimbund, S. 83fr. Zur Wirkung des Illuminatenverbots in der publizistischen Öffentlichkeit der Aufklärung vgl. unten S. 1 i 6 f f . Werner, Freimaurerei, S. iójff. Dazu Roberts, Mythology, S. i j 2 f f . et passim. Fessier, Igna\ Aurelias, Actenmässige Aufschlüsse über den Bund der Euergeten in Schlesien, Freyberg 1804, Kobuch, Agatha, Die Deutsche Union. Radikale Spätaufklärung, Freimaurerei und Illuminatismus am Vorabend der Französischen Revolution, in: Beiträge zur Archivwissenschaft und Geschichtsforschung, hg. von Groß, Rainer und Manfred Kobuch, Weimar 1977, S. 277-291, und Mühlpfordt, Günter, Europarepublik im Duodezformat. Die internationale Geheimgesellschaft »Union« - Ein radikalaufklärerischer Bund der Intelligenz (1786-1796), in: Freimaurer und Geheimbünde, S. 319-364. I I I
Radikalität entfaltete, daß viele Ordensziele und der vollständige Ausbau der Organisation nicht verwirklicht werden konnte, war nicht allein die F o l g e äußerer Umstände. D i e Illuminaten unterschieden sich zwar hinsichtlich der Reflexivität ihres Vorgehens und der dezidiert politischen geschichtsphilosophischen P r o g r a m m a t i k v o n ihren freimaurerischen V o r g ä n g e r n ; hier wie dort aber schaffte sich die soziale Phantasie im G e h e i m b u n d ein Projektionsfeld utopischer W ü n s c h e und Hoffnungen. D e r O r d e n legte die kritischen Implikationen des D e n k m o d e l l s G e h e i m b u n d offen; seine Wirklichkeit hatte aber wie bei den maurerischen Hochgradsystemen einen fast fiktiven Charakter. Sie beruhte a u f der gesellschaftlich begründeten kollektiven Selbsttäuschung elitärer Aufklärer oder, bestenfalls, auf der Hoffnung auf die Wirksamkeit einer konkreten Utopie. U m die F o r m u l i e r u n g
vom
Anfang noch einmal aufzugreifen: die fortschrittlichsten gesellschaftlichen Institutionen und die fortgeschrittensten politischen Illusionen schlossen sich in Deutschland keineswegs aus, sie waren tendenziell identisch. D e r B u n d der Illuminaten entsprach exakt der besonderen deutschen A u s f o r m u n g der europäischen Aufklärung: Denn wie ihre fortschrittlichsten Kräfte, die aus Literaten und Beamten bestehende deutsche Intelligenz, ausschließlich im elitär-geistigen Bereich blieb, so war ein Geheimbund mit utopischer Zielsetzung auch die ihnen adäquate, ja ideale Form eines politischen Engagements. 26
IV.
D e r O r d e n der G o l d - und R o s e n k r e u z e r
D i e Geschichte des O r d e n s der G o l d - und Rosenkreuzer, seine E n t stehung, Ausbreitung, Organisationsstruktur und Arbeitsweise sind noch weitgehend unerforscht. 1 Wenn er hier dennoch besondere E r w ä h n u n g erfährt, so v o r allem aus drei G r ü n d e n : ι . I m Spektrum der 26
'
Dülmen, Geheimbund, S. 139. Grundlegend: Marx, Arnold, Die Gold- und Rosenkreuzer. Ein Mysterienbund des ausgehenden 18. Jahrhunderts in Deutschland, in: Das Freimaurer-Museum, Bd. 5, 1950, S. 1-168. Möller, Horst, Die Gold- und Rosenkreuzer. Struktur, Zielsetzung und Wirkung einer anti-aufklärerischen Geheimgesellschaft, in: Geheime Gesellschaften, S. 15 3-202, bringt gegenüber Marx keinen erweiterten Informationsstand, kommt aber zu einer neuen Interpretation des Faktenbefundes aus sozialgeschichtlicher Sicht. Fischer, Aufklärung, begreift die Freimaurerei unproblematisch als Nachfolgeorganisation der älteren Rosenkreuzer. Seine Behandlung der neueren Gold- und Rosenkreuzer (S. 242fr.) verbleibt an der Oberfläche. Vgl. auch Jennings, H. C., Die Rosenkreuzer. Ihre Gebräuche und Mysterien, Berlin 1912.
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geheimen Gesellschaften des 18. Jahrhunderts sind die Gold- und Rosenkreuzer der äußerste Gegenpol zum Bund der Illuminaten. Obwohl beide Gruppierungen formal dem Typus Geheimbund zugeordnet werden können, scheint die ideologische Ausrichtung diametral entgegengesetzt. Wie die Illuminaten zu den Vorformen liberal-demokratischer »politischer Strömungen« (Valjavec) gezählt werden, so die Rosenkreuzer zu den ersten Sammlungsversuchen konservativreaktionärer Kräfte im Zeitalter der Aufklärung/ 2. Die Gold- und Rosenkreuzer sind ein seltenes Beispiel für einen Geheimbund, dem es in Ansätzen gelungen ist, die Politik eines Staates direkt zu beeinflussen. Die Ordensspitze in Berlin verstand es, über Friedrich Wilhelm II. eigene politische Vorstellungen in die Wirklichkeit umzusetzen. Die Frage wird allerdings zu klären sein, in welchem Maße Ordensspitze und Orden miteinander identifiziert werden dürfen, d. h. ob es legitim ist, die politische Ausrichtung der Ordensleitung pauschal auf die Mitgliedschaft zu übertragen. 3. Der Orden gehört zu den wichtigsten Artikulationsformen der hermetischen Tradition in Deutschland im 18. Jahrhundert. 3 Mehr noch als die Hochgradorden der Freimaurerei nehmen die Rosenkreuzer teil an der eklektischen Rezeption von Magie, Alchemie, Kabbala und Theosophie, die allesamt bemüht wurden, die unabwendbar scheinende Dissoziation von Religion, Philosophie und Wissenschaft im Zeichen der Moderne aufzuhalten. Seinen Namen erhielt der Bund der Gold- und Rosenkreuzer von der angeblichen geheimen Brüderschaft, die Johann Valentin Andreae in seiner Fama Fraternitatis (1614), in der Confessio Fraternitatis (1615) und in der Chymischen Hochzeit (1616) beschrieben hatte.4 Ob eine solche geheime Verbindung tatsächlich bestand (Frances Yates), oder ob es sich um ein Mißverständnis einer religiösen Programmschrift handelte, die fiktiver Mittel sich bediente (Dülmen), ist für die Rosen2
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Vgl. dazu: Valjavec, Frits^, Die Entstehung der politischen Strömungen in Deutschland 1770-1815, Kronberg/Ts. 1978 (zuerst 19; 1), S. 25 5ff., Epstein, Konservativismus, insbes. S. I28ff., Garber, Jörn, Kritik der Revolution. Theorie des deutschen Frühkonservativismus 1790-1810, Bd. 1: Dokumentation, Kronberg/Ts. 1976. Dazu: Frick, Die Erleuchteten, S. 303fr., Zimmermann, Rolf Christian, Das Weltbild des jungen Goethe, München 1969, S. 98fr. Andreae, Johann Valentin, Fama Fraternitatis (1614), Confessio Fraternitatis (161 ;), Chymische Hochzeit (1616), hg. von van Dülmen, Richard, Stuttgart 1973. Vgl. dazu auch Yates, Frames Α., The Rosicrucian Enlightenment, London/Boston 1972, Fischer, Aufklärung, S. j6ff.
Hi
kreuzer des i8. Jahrhunderts unerheblich. Eine organisatorische Kontinuität vom frühen 17. bis ins 18. Jahrhundert läßt sich jedenfalls nicht nachweisen, wohl aber eine literarische Tradition des Rosenkreuzer-Motivs, die unabhängig von einer realen Existenz des Ordens denkbar ist. Bis hin zu Goethe, Herder und Nicolai gab es immer wieder Versuche, die märchenhafte Züge tragende Biographie Christian Rosenkreutz' und seine Brüderschaft tiefer zu ergründen.' Die Gold- und Rosenkreuzer des 18. Jahrhunderts verfügten seit etwa 1760 über eine festere Organisation in Deutschland.6 Ihre Wirksamkeit war zunächst geographisch begrenzt auf Teile Süddeutschlands und Böhmen. Für die sechziger Jahre kann eine rosenkreuzerische Aktivität vor allem innerhalb der Freimaurerei angenommen werden. Bevor es zur Gründung eigener Basisorganisationen kam, wurde das weitgespannte Logennetz der Maurerei in Anspruch genommen. Über die späteren Ordensstrukturen unterrichtet der »Hauptplan für das gegenwärtige Decennium«, der nach der Ordensreformation von 1777 in Kraft trat.7 Allerdings ist durchaus ungewiß, ob die Ordenswirklichkeit den Bestimmungen des Planes in allen Punkten entsprach. Wie bei fast allen (Selbst-)Zeugnissen des Ordens verschwimmen auch hier die Grenzen von Fiktion und Realität. Der Plan nennt die neun Grade des Ordens, die Zahl ihrer Mitglieder, die Erkennungszeichen und Farben, die Hauptversammlungsplätze und die ihnen zugeordneten Wissenschaften. Wer Freimaurer ist und einer christlichen Religion angehört, wird in die Klasse der Junioren aufgenommen; in ihr sind, folgt man den deutlich von der kabbalistischen Zahlensymbolik inspirierten Angaben des Plans, 909 Rosenkreuzer vereinigt. Eine erste Einführung in die alchemistische Praxis erfolgt erst im siebten Grad, wo »das chaotische Electrum minerale« zubereitet wird. Die höchsten Geheimnisse des Ordens sind den drei obersten Graden vorbehalten, den sieben Magi, den 77 Magistri und den 777 Adepti exempti. Hier werden »Cabbala« und »magia naturalis« gelehrt, 5
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Vgl. dazu unten S. icjof. Hinweise zur literarischen Motivgeschichte des Rosenkreuzes auch bei Schneider, FerdinandJosef, Die Freimaurerei und ihr Einfluß auf die geistige Kultur in Deutschland am Ende des 18. Jahrhunderts. Prolegomena zu einer Geschichte der deutschen Romantik, Prag 1909, S. 8 5 ff. et passim, Marx, Gold- und Rosenkreuzer, S. 1-38. Zum folgenden: Möller, Gold- und Rosenkreuzer, S. 15 4ff., Marx, Gold- und Rosenkreuzer, S. 17 und 2off., Frick, Die Erleuchteten, S. 317fr., Graßl, Aufbruch, S. 96fr., 300ÍÍ. Abgedruckt bei Frick, Die Erleuchteten, S. 368f.
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wird der »Stein der Weisen« hergestellt. Den Magi schließlich ist »in der Natur nichts verborgen und [sie] sind vermöge dieser Kenntnisse gleichsam wie Moses, Aaron, Hermes, Hiram-Abif Meister über Alles.« Über sie heißt es im Plan: »Der erste aus den 7. ist der Majus majorum, ein geborner Venetianer, und lebte in Egypten. Nach der neuen Transposition dominiren dermalen drei davon in Asia; zwei in Europa und einer in Amerika; diese formiren eigentlich das höchste, den ganzen Orden beherrschende Generalat, wovon die drei jüngsten das erste Triumphirat ausmachen.« Neben der Einteilung in Grade gab es eine organisatorische Hierarchie, die, zumindest was die oberen Ränge anbetrifft, nicht weniger imaginär anmutet. Die lokale Organisationsform der Rosenkreuzer war der Zirkel, dem nicht mehr als neun Mitglieder angehören durften. Geleitet wurde er von einem Zirkeldirektor, der dem Meister vom Stuhl der Freimaurerei entsprach. Es folgten Hauptdirektor, Oberhauptdirektor, Großpriorat, Vize-Generalat, Generalat und an der Spitze ein Magus. Trotz zahlreicher Spekulationen ist eine Identifizierung der Träger der oberen vier Ränge nie gelungen. Es ist nicht unwahrscheinlich, daß diese Ämter, ähnlich wie bei den Hochgradorden der Freimaurerei, pure Fiktion waren, eine Fiktion, die, als Herrschaftsinstrument der Ordensspitze eingesetzt, durchaus reale Wirksamkeit haben konnte. Den autoritären Charakter des Bundes legt der Eid offen, den der Novize bei seiner Einweihung abzulegen hatte.8 Der Orden verlangte Gottesfurcht, strenge Askese, christliche Nächstenliebe, Verschwiegenheit, unverbrüchliche Treue, Gehorsam und die Entdeckung jedes für die Ordensleitung wichtigen Geheimnisses. Die Rosenkreuzer formulierten in ihrem Eid einen totalen Anspruch auf das einzelne Mitglied. »Der einzelne Bruder«, so schreibt Horst Möller, »sollte willenloses Werkzeug in der Hand der gottähnlichen Ordensoberen sein, die oben erwähnte >Abtödtung der Eigenheit war also nicht nur mystisch-asketischer Natur, sondern ebenfalls ein Herrschaftsinstrument des Ordens, als dessen Eigentum sich der Bruder bekennen mußte.«9 Die eigentliche Lehre der Gold- und Rosenkreuzer ist schwer zu beschreiben. Ein krauser Eklektizismus und eine seltene Verbindung nichtssagender Wort- und Satzschablonen mit einem autoritäts8 9
Dazu Möller, Gold- und Rosenkreuzer, S. iöiff. Ebd., S. 163. 115
erheischenden Gestus der Mission lassen nur ungefähre Vermutungen über ihre möglichen Ziele zu. Zudem fehlte eine dem Illuminatenbund vergleichbare zentrale Formulierungsinstanz, die autorisiert war, verbindliche Ordenslehren zu verkünden. »Der durch den kläglichen Sündenfall von seiner ersten Würde tief gesunkene Mensch soll wieder emporgehoben werden, das durch die Sünde verunstaltete Ebenbild Gottes soll wiederhergestellt und die durch Jesum Christum teuer erkauften Seelen sollen vor dem Satan gerettet werden.« 10 Durch Askese und durch die Initiation in geheime Natur- und Weisheitslehren sollen dem Menschen Steigerung und Erhöhung zuteil werden, eine geistige Wiedergeburt, die zur Gottebenbildlichkeit führt. Dieses Ziel zu erreichen, bearbeiten die Rosenkreuzer antike, gnostische und neoplatonische Kosmogonien, Seelen- und Seelenwanderungslehren, Dämonologien, Zahlen- und Farbensymbolik, Kabbala, Magie und Alchimie. Der rosenkreuzerische Lektürekanon unterscheidet sich charakteristisch von dem der Illuminaten: statt Seneca und Plutarch, Pope und Adam Smith, d'Holbach und Helvetius liest man hier Plotin und Ficino, Böhme und Weigel, Paracelsus und Welling. Diese »Renaissance des theoretischen und praktischen Neuplatonismus« (F. J. Schneider) zeichnet sich durch eine polemische Wendung gegen die moderne Naturwissenschaft im Gefolge Newtons aus. So heißt es in einer Rosenkreuzerschrift von 1788: Unsere weisen Meisters sind allein echte Naturforscher . . ., sie allein können mit unwidersprechlicher Wahrheit behaupten, dass sie die Natur in ihrem ganzen Umfange kennen, weil ihre Kunst in das Innerste derselben eindringt und ihnen den sichersten Leitfaden darbietet, sich in dem tausendfachen Labyrinth ihrer unzählig mannigfaltigen Wirkungen sicher heraus zu finden . . . und an dem Centro der Natur alle, in ihrem weiten Reiche befindliche Erscheinungen zu erklären und zu beweisen. Die profanen Physiker hingegen, sogenannte Naturforscher und Naturlehrer, hüpfen stets an der Oberfläche aller drei Naturreiche herum, betasten mit ihren Händen und allen fünf Sinnen die Produkte und Phänomene derselben und bilden sich ein, solche erklären zu können, häufen daher Hypothesen auf Hypothesen, um die verborgenen Kräfte, die Triebfedern der Natur zu entdecken, und gleichen einem Menschen, der mit verbundenen Augen von der Peripherie eines Zirkels Linien nach dem Mittelpunkt ziehet, tausendmal fehlet, ohne den Mittelpunkt treffen zu können. Hinweg mit diesen!"
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Zitiert nach Frick, Die Erleuchteten, S. 369. ' 1 Zitiert nach Schneider, Freimaurerei, S. 1 ; zi.
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Man darf sich durch den spöttisch-selbstgewissen Ton dieser gelungenen Polemik gegen die empirisch und induktiv vorgehende moderne Naturwissenschaft nicht täuschen lassen. Das Konstatieren einer ideologischen Ignoranz< der Rosenkreuzer, die Erkenntnis, daß es sich bei den Lehren des Ordens »in keinem Fall um Wissenschaft« gehandelt habe 12 , greift zu kurz, ist doch zu diesem Zeitpunkt der Wettstreit zwischen analytisch experimentierender Naturwissenschaft und traditioneller Naturlehre als Naturgeschichte noch keineswegs endgültig entschieden. Wenige Jahre nach dem Erlöschen rosenkreuzerischer Aktivität entstanden die naturphilosophischen Gedankengebäude Baaders, Schellings und Ritters, direkte Wege führen von dem Wirken dieses Geheimbunds zu der Neuaneignung der hermetischen Tradition im Zeichen der Romantik, und auch Goethes Naturauffassung und Naturwissenschaft ist durchzogen von einer polemischen Attitüde gegenüber Newton, von einem Rückgriff auf hermetische Konzepte.' 3 Der säkulare wissenschaftsgeschichtliche Paradigmawechsel der Aufklärung verlief nicht reibungslos; er zeigte Verzögerungen, scheinbare Rückschritte und Brüche, krisenhafte Entwicklungen, gezeichnet von einer Sensibilität, die nicht nur verlorenen Sicherheiten nachtrauerte, sondern oft genug kritisch die Doppelgesichtigkeit des >Fortschritts< und seiner Methodologie herausspürte. Ein unverdächtiger Zeuge dafür, daß die rosenkreuzerischen Propagandaschriften nicht notwendig die Einstellung der Ordensmitgliedschaft insgesamt repräsentierten, ist der Naturwissenschaftler und Schriftsteller Georg Forster, der von Ende 1780 bis 1783 einem Rosenkreuzerzirkel in Kassel angehörte. 14 Seine aus zunehmender Distanz geschriebenen Briefe an Sömmering bemühen sich rückblickend, Motive für die vier Jahre dauernde Verirrung bloßzulegen. Gleichzeitig Professor der Naturkunde am Kasseler Karolinum, glaubte er auf die hermetischen Lehren 12
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So Möller, Gold- und Rosenkreuzer, S. 167. Vgl. dazu Schneider, Freimaurerei, S. nyfi·, Craßl, Aufbruch, S. 295fr., und jetzt auch lépenles, Wolf, Das Ende der Naturgeschichte. Wandel kultureller Selbstverständlichkeiten in der Wissenschaftstheorie des 18. und 19. Jahrhunderts, Frankfurt/M. 1978. Zu Forster vgl. Uhlig, Ludwig, Georg Forster, Tübingen 1965, S. 7, Blaivis, B., Einiges aus dem Leben und der Zeit zweier wenig bekannter Freimaurer des 18. Jahrhunderts, in: Das Freimaurer-Museum, Bd. 5, 1930, S. 169-313, darin zu Forster: S. 171-199. Die im folgenden zitierten Briefe an Sömmering sind hier abge^ druckt. Seitenangaben erfolgen im Text. " 7
nicht verzichten zu können. Jahrelang forschte er bis an die Grenzen der psychischen und physischen Selbstaufgabe in seinem Kasseler Laboratorium und versuchte durch zahlreiche alchimistische Experimente die prima materia herzustellen. »Ehedem glaubte ich, man könne die Transmundation nicht annehmen, ohne zugleich an die Existenz der Geisterwelt und die Möglichkeit der Communication mit ihr zu glauben; jetzt [d. i. 1791, M. V.] ist mir die Natur alles und ich sehe wirklich noch nicht ab, wie man auf immaterielle Dinge schließen könne, wenn auch die Transmundation wahr wäre.« (191) Aber das wissenschaftliche Interesse ist aufgehoben in einer allgemeineren Unsicherheit, die Orientierungslosigkeit mit intensiver Wahrheitssuche vereint: D u kennst meinen Charakter, Wahrheitsliebe, brennender Durst nach Gewißheit und Uberzeugung von gewissen Wahrheiten, mit etwas schwärmerischem Hange, sie gern für möglich und wahr zu halten, - das war's ja einzig, was mich bewegen konnte, 4 Jahre lang in C. zu laboriren, mit mehr Ehrlichkeit als unsere Brüder . . . an meiner vermeintlichen Geistesreinigung zu arbeiten, mich zu kasteien, allen unschuldigen Freuden des Lebens zu entsagen, herzlich, andächtig, inbrünstig und mit vollem redlichen Enthusiasmus in unsern Versammlungen zu reden . . ., kurz alle Kräfte aufzubieten, um das Ziel zu erringen, welches man mir als erreichbar gezeigt hatte. (187)
Ganz ähnlich beschreibt Adolph von Knigge, dessen wechselndes Engagement für Freimaurer, Rosenkreuzer und Illuminaten auf ein allen geheimbündlerischen Tätigkeiten gemeinsam zugrundeliegendes Bedürfnis verweist, seine biographische Disposition: »Ich war ohne bestimmte Geschäfte; . . . voll Thätigkeits=Trieb; durstig nach Weisheit; nicht befriedigt durch die gewöhnlichen philosophischen Systeme; . . . und was die Religion betrifft, schwebend zwischen Glauben und Unglauben, nicht zufrieden mit den Kirchen=Systemen, nicht beruhigt durch bloße Vernunft=Religion, voll Zweifel über die Wahrheit einiger geoffenbarter Sätze, voll Sehnsucht nach besserer, übernatürlicher Erleuchtung.« 1 ' Fast gleichzeitig mit diesem Bekenntnis Knigges hatte Schiller im Geisterseher ein treffendes sozialpsychologisches Portrait des Geheimbundopfers verbunden mit einer tiefgehenden Analyse gesellschaftlicher Strömungen am Vorabend der Franzö1
' [Knigge, Adolph Freiherr vori\, Philo's endliche Erklärung und Antwort, auf verschiedene Anforderungen und Fragen, die an ihn ergangen, seine Verbindung mit dem Orden der Illuminaten betreffend, Hannover 1788, S. 21 f.
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sischen Revolution. 1792 erschien unter dem Titel Geheime Geschichte eines Rosenkreu^ers Heinrich Christian Albrechts kritische Aufarbeitung der Verirrung seines Freundes C. F. Radike. Der Hamburger Aufklärer versuchte mit den Mitteln der Erfahrungsseelenkunde und den Regeln des common sense die Anziehungskraft der Rosenkreuzer für den gemeinen Bürger des 18. Jahrhunderts zu erklären.' 6 Es ist somit wahrscheinlich, daß die Motivation und die politische Einstellung der Mitglieder des Rosenkreuzerordens nicht pauschal gleichgesetzt werden dürfen mit der ideologischen Ausrichtung der Bundesoberen. 17 Allerdings wurde das Bild des Ordens in der Öffentlichkeit vorrangig von seiner anti-aufklärerischen Propaganda und später auch von seiner reaktionären politischen Wirksamkeit in Preußen bestimmt. Schon 1777 wurde französischen Aufklärern wie Bayle, Voltaire und Argens vorgeworfen, »daß sie alle auf nichts anders, als auf den Umsturz der ganzen Religion, welche doch die stärkste Stütze des Thrones eines Landesherrn, und unstrittig der wichtigste Theil des sittlichen Zustandes der Unterthanen ist, abzielen.« 18 Eine solche Argumentation weist schon voraus auf die konservativ-reaktionäre K o m plottheorie der Starck, Barruel, Robison und anderer, wie sie wenige Jahre später formuliert werden sollte. Vermutlich hatten die Rosenkreuzer auch Einfluß auf die Verfolgung der Illuminaten in Bayern und anderswo.' 9 Ihren größten Erfolg, was die Durchsetzung ihrer antiaufklärerischen politischen Ziele angeht, erzielten die Rosenkreuzer in Preußen, w o mit Johann Christoph Wöllner und Hans Rudolf Bischoffswerder zwei führende Ordensmitglieder König Friedrich Wilhelm II. zu ihrem Werkzeug zu machen versuchten. 20
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Zu Albrechts Geheimer Geschichte eines Rosenkreu^ers vgl. unten S. 282fr., zu Schillers Geisterseher, S. 343fr. Über die einzelnen Rosenkreuzer-Zirkel gibt es bislang nur wenige Informationen. Aussagen zur Sozialstruktur der Mitgliedschaft sind daher schwierig. Möllers diesbezügliche Angaben (Gold- und Rosenkreuzer, S. 165 F.) scheinen mir nicht ausreichend empirisch abgesichert. Plumenoek, Carl Hubert Lobreich von, Geoffenbarter Einfluß in das allgemeine Wohl der Staaten der ächten Freymäurerey aus dem wahren Endzweck ihrer ursprünglichen Stiftung erwiesen . . ., Zweite Auflage Amsterdam 1779, S. 20. Z u m Einfluß der Rosenkreuzer auf die Illuminatenverfolgung vgl. Dülmen, Geheimbund, S. 9off., Graßl, Aufbruch, S. 226fr. Dazu: Schnitte, Johannes, Die Rosenkreuzer und Friedrich Wilhelm II., in: ders., Forschungen zur Brandenburgischen und preußischen Geschichte, Berlin 1964, S. 240-265, Marx, Gold- und Rosenkreuzer, S. 1 o ; ff., Möller, Gold- und Rosenkreuzer, S. 174fr.
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17B1 schon war es gelungen, Friedrich Wilhelm in den Orden aufzunehmen. Nach dem Thronwechsel glaubten die Rosenkreuzer am Berliner H o f , ihre Stunde sei gekommen. Wöllner, der wenig später zum Staatsminister und Chef des geistlichen Departements avancierte, schreibt an seinen Vertrauten Bischoffwerder: »Oh Herzensbrüderchen, wie freudig will ich Gott danken, wenn ich das unwürdige Instrument in der Hand von O(rmesus) gewesen bin, Millionen Seelen vom Untergange zu retten und ein ganzes Land wieder zum Glauben an Jesus zurückzubringen.« 21 Ist hier die religiöse Motivation Wöllners nicht zu übersehen, so zeigt die tatsächliche Politik, gegen wen die Rosenkreuzer vorzugehen beabsichtigten. Zwei Jahre später spricht er denn auch wörtlich von einem »Krieg gegen die Aufklärer«, in dem er das Generalkommando zu übernehmen gedenke. Fiktive Briefwechsel mit ebenso fiktiven Ordensoberen, eine ausgeklügelte Psychologie, alchimistische Experimente im Gartenhaus des Charlottenburger Schlosses - Fontane hat sie beschrieben - und nicht zuletzt Geisterbeschwörungen dienten als Mittel, den schwächlichen König im Ordenssinne zu lenken. Die »ersten bewußt konservativen Politiker der deutschen Geschichte« (Epstein) hinterließen deutliche Spuren. Das berüchtigte Religionsedikt vom Juli 1788 ist ebenso auf ihren Einfluß zurückzuführen wie das Wiederanziehen der Zensurschraube im »Erneuerten Censur=Edikt« vom Dezember des gleichen Jahres/ 2 Im folgenden Jahr versuchte Wöllner sogar, sich in die preußische Außenpolitik einzumischen. E r berichtete dem König von einem im April 1789 gegebenen Erlaß Hannagerons, eines der phantastischen Oberen der Rosenkreuzer, in dem dieser die französischen Ereignisse vom 14. Juli vorausgesehen habe. Die Allwissenheit des Ordens sollte den K ö n i g in seiner unnachgiebigen Haltung gegenüber dem revolutionären Frankreich bestärken. 2 ' Zusammenfassend läßt sich sagen, daß die politische Wirksamkeit der Rosenkreuzer in erster Linie ihrer religiös-hermetischen Überzeugung entsprang - in diesem Sinne kann auch hier von betrogenen Betrügern gesprochen werden - und sich daher großenteils auf reli21
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Zitiert nach Schüttle, Rosenkreuzer, S. 261. Der folgende Auszug ebd., S. 262. Das »Königlich Preußische Religions=Edict« ist abgedruckt in: Die neuesten Religionsbegebenheiten, mit unpartheyischen Anmerkungen für das Jahr 1788, S. 625-639, das »Erneuerte Censur=Edict«, ebd., 1789, S. 252-269. Dazu: Schult^e, Rosenkreuzer, S. 2Ó2Í.
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gionspolitische Maßnahmen beschränkte. Die autoritäre Bevormundung der preußischen Staatskirche, die Kontrolle von Erziehung und Schule, die Einschränkung der Pressefreiheit durch Zensuredikte und die Einschüchterung von staats- und religionskritischen Schriftstellern im Staatsdienst zeigen allerdings, wie schnell die Aufklärung und ihre wichtigsten Träger in Mitleidenschaft gezogen wurden, machen deutlich, daß der eigentliche Gegner der rosenkreuzerischen Politik in Preußen die Aufklärung selbst war. Die Vorgänge in Berlin blieben nicht geheim. Ein scharfsinniger Beobachter der preußischen Verhältnisse, Graf Mirabeau, kommt in seiner diplomatischen Korrespondenz wiederholt auf den Einfluß des Geheimbunds zu sprechen. 24 Schon im Juli 1786 schreibt er: »Es zeigen sich bei dem Nachfolger [d. i. Friedrich Wilhelm, M. V.] alle Symptome einer unheilbaren Charakterschwäche . . ., und seine nächste Umgebung, die von der verderbtesten Art ist, gewinnt täglich mehr Herrschaft über ihn, vor Allem der düstere Geisterseher Bischoffswerder.« Und im Dezember des gleichen Jahres: »Was soll wohl . . . aus einem Lande werden, in welchem . . . eine den Mord predigende Secte sich um den Thron drängt? Eine Secte, die alle Könige, alle Philosophen, alle im Kampf der Geister Stehenden unter dem Bann von Schwert und G i f t hält, die ihre Chefs, ihre Minister, ihre Hohepriester, Alle in geheimem, regelmäßigem Verkehr mit einander stehend, hat?« Gespeist durch Informationen dieser Art, wurde das Geheimbundmodell in den Jahren nach der Französischen Revolution in der Öffentlichkeit rasch diskreditiert. Das Beispiel der Rosenkreuzer in Berlin machte deutlich, daß der Zusammenhang von Aufklärung und Geheimnis kein notwendiger war, daß der Geheimbund als Organisationsform auch anderen, besonders obskurantischen Kräften zur Verfügung stand. Die Zeit der größten politischen Erfolge der Ordensspitze war zugleich eine Zeit des Niedergangs für den Orden insgesamt. Obwohl die Rosenkreuzer nach der Ordensreformation 1777 von der Krise der Freimaurerei im Gefolge der Auflösung der Strikten Observanz profitierten, begann spätestens in der Mitte der achtziger Jahre ein Zerfallsprozeß, der mit der Verkündigung eines Silanums (d. h. des Ruhens aller Ordensarbeiten) 1787 auch äußerlichen Niederschlag fand. 14
Mirabeau in Berlin, als geheimer Agent der französischen Regierung 1786-1787. Nach Originalberichten in den Staatsarchiven von Berlin und Paris, hg. von Welschinger, Henry, Leipzig 1900, S. 1 1 2 , 384.
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Das Ende des Ordens liegt bisher ebenso im Dunkeln wie sein Anfang. Die Chronologie macht deutlich, daß der Orden als Ganzes nur sehr mittelbar mit den politischen Aktionen der Ordensspitze in Berlin in Verbindung gebracht werden darf. E s war nicht die tatsächliche Macht des Ordens, nicht der Druck einer großen weitverbreiteten Organisation, die die Beeinflussung der preußischen Politik ermöglichten; viel wirksamer waren wiederum die fiktive Realität eines Geheimbunds mit einer phantastischen 'allwissenden Spitze, die Täuschung und Selbsttäuschung des preußischen Regenten. Die missionarische Besessenheit und der politische Ehrgeiz weniger Ordensoberer waren am Ende wichtiger als der Orden selbst, dessen reale Existenz für das Berliner Experiment unerheblich war. Nicht um eine bewußte politische Funktionalisierung eines konservativen Geheimbunds handelt es sich hier, sondern um eine Instrumentalisierung des Staates zum Zwecke der Durchsetzung reaktionärer politischer Vorstellungen auf dem Hintergrund einer eingebildeten und/oder vorgetäuschten Realität einer geheimen Gesellschaft. Die Existenz des esoterischen Ordens der Goldund Rosenkreuzer - das hat Arnold Marx überzeugend nachgewiesen wurde sogar eher gefährdet durch das exoterische Erscheinungsbild des Bundes, wie es die Propagandaschriften und die Gerüchte über sein Berliner Wirken entstehen ließen. Klaus Epsteins Diktum, die Rosenkreuzer seien der »Kristallisationspunkt aller in Deutschland latent vorhandenen konservativen und obscurantistischen Kräfte« gewesen 26 , erscheint daher überpointiert und bedarf für die Ordensbasis noch eines überzeugenden Nachweises. Berechtigung hat Epsteins These aber insofern, als in der öffentlichen Diskussion des Geheimbundmodells am Ende der achtziger und in den neunziger Jahren des 18. Jahrhunderts der Orden eindeutig dem konservativ-reaktionären Pol der geheimen Gesellschaften zugeordnet wurde. Ausschlaggebend dafür war aber weniger seine tatsächliche Beschaffenheit — die Ordensarbeit ruhte ohnehin zu diesem Zeitpunkt - , sondern die phantastische Realität, wie sie sich aus Ordensschriften, der Geheimbundliteratur und den politischen Gerüchten und Informationen aus Berlin und München ergab. Der Orden wirkte also wohl politisch formierend - er wurde zum Identifikationsträger der >Rechten< in dem entstehenden politischen Spek-
2
' Marx, Gold- und Rosenkreuzer, S. 127, 138-140. Epstein, Konservativismus, S. 128.
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trum des i8. Jahrhunderts - , er war jedoch keinesfalls eine politisch organisierende Kraft. Die Mythologie der geheimen Gesellschaft war auch in diesem Fall stärker als ihre faktische Existenz.
V.
Geheime Gesellschaften, Französische Revolution und Öffentlichkeit: Die Debatte über das Geheimbundmodell in Deutschland im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts
In den Jahren zwischen der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und der Französischen Revolution hat wohl kein einzelnes Thema die aufklärerische Publizistik so anhaltend und so intensiv beschäftigt wie die Frage der geheimen Gesellschaften.1 Selbst nach 1789 büßte das Thema nur wenig an Aktualität ein, es wurde, mit der Revolution in Frankreich in einen ursächlichen Zusammenhang gebracht, weiterdiskutiert bis zum Ende des Jahrhunderts. Hier soll der Versuch unternommen werden, den ungefähren Verlauf der Debatte nachzuzeichnen und ihre Ergebnisse für eine Sozialgeschichte des politischen Bewußtseins im Zeitalter der Aufklärung auszuwerten.2 Zuvor ist noch einmal nachdrücklich darauf hinzuweisen, daß Gegenstand der Auseinandersetzung nicht etwa die >historische Wirklichkeit von Freimaurern und Geheimbünden war, sondern die wiederholt angesprochene >Mythologie< der geheimen Gesellschaften. Eine derartige Feststellung mag überflüssig scheinen, ist es doch unbestritten, daß historische Erscheinungen in ihrer Wirkung auf die Zeitgenossen nicht identisch sind mit ihrer nachträglichen Rekonstruktion durch die Geschichtswissenschaften, die die Bezeichnung >wirklich< auch nur 1
Z u m Gesamtkomplex vgl. Valjavec, Entstehung, Epstein, Konservativismus, Graßl, Aufbruch, S. 2}iff., 2J9ff., 275fr., Roberts, Mythology, Kapitel 5 und 6, S. 132-202, Vierhaus, Rudolf, Aufklärung und Freimaurerei in Deutschland, in: Freimaurer und Geheimbünde, S. 1 1 5 - 1 5 9 . * Die folgende Untersuchung beruht im wesentlichen auf der Durchsicht wichtiger aufklärerischer Zeitschriften (Jenaische Allgemeine Litteratur^eitung, Allgemeine Deutsche Bibliothek, Das Graue Ungeheuer, Berlinische Monatsschrift, Neueste Religionsbegebenheiten, Eudämonia) und der Auswertung der herausragenden Einzelbeiträge zur Diskussion um das Geheimbundmodell, die auch in der Literatur eine Fortsetzung gefunden hat. Insofern ist hier zu verweisen auf spätere Teile der Arbeit, insbes. V I . (Freimaurergespräche Lessings und Herders), das 2. Kapitel, Teil II (Literarisierungsprozesse in der Ordensliteratur und der aufklärerischen Geheimbundliteratur) und die Textanalysen der Romane Schillers, Wielands und Moritz'. - Zum fiktiven Charakter des Geheimbundmaterials vgl. unten S. 227fr.
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nach einer Reihe methodologischer Qualifikationen rechtfertigt. Nicht darum geht es hier, daß zu gleicher Zeit verschiedene individuell und sozial bestimmte Wirklichkeitsentwürfe miteinander konkurrierten, daß es Diskrepanzen gibt zwischen wissenschaftlichen Realitätskonstrukten und zeitgenössischen Wirklichkeitsentwürfen. Entscheidend ist vielmehr, daß die mit dem Geheimnis gegebene prinzipielle Unbestimmtheit der Bünde ein interpretatorisches Vakuum schuf, das offenstand für Projektionen verschiedenster Art. Das Geheimnis rief soziale Phantasien hervor, sowohl in den geheimen Gesellschaften selbst wie außerhalb. War schon die für den Historiker erkennbare Wirklichkeit der Bünde von fiktiven Momenten durchsetzt, geprägt von den ausschweifendsten Vorstellungen über deren Zweck und Beschaffenheit, umso mehr war es die öffentliche Diskussion. Die Mythologie der geheimen Gesellschaften, das, was man über sie dachte und sagte, besaß jedoch eine ähnlich starke, wenn nicht stärkere soziale Wirksamkeit als ihre faktische Existenz selbst. Es scheint, als wenn die Freiheiten, die mit der fiktionalen Behandlung eines Gegenstandes gegeben sind, hier durch die latente Fiktivität der Geheimbundwirklichkeit schon in einer Sphäre sichtbar wurden, die durchaus nicht der Literatur im engeren Sinne zugeordnet werden kann. Der besondere Wirklichkeitscharakter der geheimen Gesellschaften schuf gleitende Übergänge zwischen einer literarisch fiktionalen und einer nichtliterarischen Behandlung dieses Themenbereichs. Die schrittweise Literarisierung von Wirklichkeitselementen aus dem Geheimbundmaterial wird im zweiten Teil dieser Arbeit nachgewiesen. Hier interessieren zunächst die gesellschaftliche Qualität und die Funktion der Projektionen, die das Geheimbundmodell in der Öffentlichkeit provozierte. Die geheimen Gesellschaften waren - durch ihre organisatorische Wirksamkeit wie als Gegenstand der Diskussion - ein zentrales Medium der politischen Bewußtseinsbildung für die aufklärerischen Eliten in Deutschland. Das bis hin zu Lessings bekanntem Streit mit Goeze überwiegend durch religiöse Themen bestimmte öffentliche Gespräch >fingierte< hier erstmals einen potentiell politischen Gesprächsgegenstand. Man mag einwenden, daß die endlosen Debatten um den Einfluß der Jesuiten, Kryptokatholizismus, die Rolle der Illuminaten bei der Vorbereitung der Revolution in Frankreich und um die Verschwörungstheorien reaktionärer Provenienz (Barruel, Robison, Starck) nur abgelenkt hätten von den >eigentlichen< Widersprü124
chen der Zeit, sinnlos gesellschaftliche Energie verschlungen, die besser im Kampf für die Ziele der Französischen Revolution hätte eingesetzt werden können. Eine solche Argumentation aber hieße die Jakobiner zum Maßstab der politischen Reife und des gesellschaftlichen Bewußtseins in Deutschland machen. Die Widersprüche des absolutistischen Systems wurden auch hier erfahren, nur sehr viel mittelbarer als etwa in Frankreich, wo die Antinomien von Staat und Gesellschaft ungleich stärker ausgebildet waren. Die Diskussion um das Geheimbundmodell war, teils bewußt, teils unbewußt, eine Stellvertreterdiskussion. Sie ist Ausdruck der besonderen deutschen Situation am Ende des 18. Jahrhunderts, ein Indikator für Mentalität und Bewußtseinsstand großer Teile der bürgerlichen und adligen Eliten. Eine Politisierung und Polarisierung der Öffentlichkeit war nur auf Umwegen möglich. Die öffentliche Auseinandersetzung mit Freimaurerei und Geheimbünden ist so alt wie diese selbst.3 Etwa 1780, also zu einem Zeitpunkt, als die ernüchternde Reformphase der Freimaurerei begann, als aber auch Rosenkreuzer und Illuminaten den Höhepunkt ihrer Tätigkeit erreichten, läßt sich eine vermehrte und modifizierte öffentliche Aufmerksamkeit für das Phänomen geheime Gesellschaften beobachten. Einerseits hatte die Freimaurerei selbst einen respektierten halb-öffentlichen Status in der spätabsolutistischen Gesellschaft erworben. Eine Flut maurerischer Schriften, Almanache und anderer einschlägiger Periodika erschien Jahr für Jahr. 1778 veröffentlichte die Freymäurer Bibliothek in Berlin ihr erstes Stück und versprach, dem starken Bedürfnis des Publikums nach mehr und besserer Information über die geheimen Gesellschaften nachkommen zu wollen. 1790 kündigte die Göttingische Compendióse Bibliothek der gemeinnützigen Kenntnisse für alle Stände als X X V . Abteilung an: »Der Freymaurer oder compendiose Bibliothek alles Wissenswürdigen über geheime Gesellschaften«.4 In fünf Heften bemühten sich die Herausgeber, den eiligen, aber interes' 4
Vgl. oben S. 6off. Freymäurer Bibliothek, 8 Stücke, Berlin 1778-1803. (Nach Kirchner, Joachim, Die Zeitschriften des deutschen Sprachgebietes von den Anfängen bis 1830, Stuttgart 1969, S. 357 wurde die Freymäurer-Bibliothek herausgegeben von J . A. Hermann und J . W. Β. v. Hymmen), Compendiose Bibliothek der gemeinnützigen Kenntnisse für alle Stände, X X V . Abtheilung, j Hefte, Göttingen 1790-1796. Vgl. auch: [Uden, Konrad Friedrich], Fragmente. Für und wider die Freimaurerei, Berlin 1782, und Die neuesten Religions Begebenheiten mit unpartheyischen Anmerkungen für das Jahr 1779, 3.-6. Stück, wo auf fast 300 Seiten die Freimaurerei behandelt wird.
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sierten Leser durch Auszüge aus der gängigen Geheimbundliteratur auf dem Laufenden zu halten. Zugleich aber mehrten sich die Versuche, der Freimaurerei und anderen Geheimbünden ihre Harmlosigkeit zu nehmen, indem ihnen bewußt oder unbewußt Zwecke gigantischen Ausmaßes untergeschoben bzw. die Orden als von bösartigen Infiltratoren unterwandert bezeichnet wurden: Die Mythologie holte die geheimen Gesellschaften ein, in den folgenden Jahren sollte sie sie überholen. Im April 1785 richtete die angesehene Jenaische Allgemeine hitteratur¡ζeitung (ALZ) eine eigene Sparte für die Besprechung freimaurerischer Schriften ein: Die Herausgeber begründeten ihre Entscheidung damit, daß »die innern Angelegenheiten des ehrwürdigen Ordens der Freymaurer seit einiger Zeit eine ganz besondere Publicität bekommen haben, und mehr als eine Ihrer öffentlichen Schriften . . . das Publikum endlich gleichsam auffordern, Theil an ihren Fehden über das Wesentliche ihres Ordens zu nehmen.«' Schon ein Jahr zuvor hatte die Berliner Allgemeine Deutsche Bibliothek (ADB) ihr Schweigen in freimaurerischen Dingen gebrochen: »Wir haben uns bisher enthalten, eigentliche Freymaurerschriften in unserer Bibliothek anzuführen . . . Aber es fängt doch an nöthig zu werden, von einigen dieser Schriften zu reden, besonders von solchen, worin mit unerhörter Unverschämtheit, Unsinn und Aberglauben unter dem Scheine von großen Geheimnissen fortgepflanzt, und noch dazu Katholicismus unter einer verdeckten seynsollenden geheimnißvollen Sprache empfohlen wird.« ( A D B 58, 1784, S. 293) Zwei Themen insbesondere waren es, die die öffentliche Diskussion in Gang setzten und lange Zeit bestimmten: Die 1784/85 einsetzende Verfolgung der Illuminaten in Bayern und die im aufklärerischen Lager entwickelte These, daß die 1773 verbotenen Jesuiten hinter Teilen der Freimaurerei und insbesondere hinter den reaktionären Machenschaften der Rosenkreuzer steckten. Zunächst zu den Illuminaten. Zu den öffentlichen Denunziationen, die die Verfolgung der Illuminaten begleiteten und verschärften, gehörte Josef Marius von Babos Flugschrift Ueber Freymaurer. Erste Warnung von 1784. 6 Aus der Perspektive eines ehemaligen Freimaurers schreibend, bemühte sich Babo 1
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Allgemeine Litteratur^eitung, hg. von Christian G . Schütz, Friedrich J . Bertuch und Georg Hufeland, Jena 1785-1799, hier: Nr. 8}, 1 7 8 ; , S. 33. Babo, Josef Marius von, Ueber Freymaurer. Erste Warnung. Sammt zwey Beylagen, o. O. 1784. Seitenangaben erfolgen im Text.
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nachzuweisen, daß die Rollen von Staatsbürger und Maurer/Illuminat prinzipiell unvereinbar wären. Unter der friedlichen Hülle der Freimaurerei würden Entwürfe ausgebrütet und Komplotte geschmiedet, von denen die meist unschuldigen Mitglieder des Ordens nichts wüßten. »Aus euren Logen strömt ein Haufen zerrütteter Phantasten, lachend über Religionsgebräuche und Religion, über Gesetze und Pflicht raisonniren sie dem gutmüthigen Bürger seinen besten Trost weg, geben ihren Aeltern Arroganz statt Dankes zurück, spotten der väterlichen Ermahnung, weil sie's nun besser wissen. Nichts ist ihnen heilig, nichts bleibt unangetastet.« (21) Angesichts einer derartigen unterminierenden Wirksamkeit der Freimaurer/Illuminaten bleibt dem Staat, um dessen Wohl Babo vorrangig besorgt ist, nichts übrig, als alle Logentätigkeit zu untersagen. Babos folgenreiche Schrift stand am Anfang der konservativ-reaktionären Kritik an den geheimen Gesellschaften. Sie ist ganz einem patriarchalisch verklärten Absolutismus und einer religiösen Orthodoxie verpflichtet und wird sich schnell Ansätze dazu sind schon bei Babo zu erkennen - zu einer Fundamentalkritik der Aufklärung entwickeln. Noch im Jahr 1784 nahm sich Wekhrlins Graues Ungeheuer der Sache der Illuminaten an. 7 Es druckte die landesherrliche Verordnung gegen geheime Orden vom Juli 1784 ab und ergänzte sie um eine Vorrede, die Verständnis für die Illuminaten, Verachtung hingegen für die Denunzianten und die staatliche Verfolgung zeigt. Die Vorrede schloß mit dem Aufruf, dem »ehrwürdigsten und sublimesten Institute von der Welt [zu helfen], die eben so falschen als giftigen Vorwürfe . . . entweder [zu] verwirren oder ihre Urheber zu einer öffentlichen Erklärung [zu] bringen.« ( G U 2, 1784, S. 140) Der nächste Band der Zeitschrift berichtete ausführlich über Babos Pamphlet, dessen pauschale Verdächtigungen gegen die Freimaurerei mit bissiger Ironie zurückgewiesen wurden. Wekhrlin erkannte sehr genau die anti-aufklärerische Zielrichtung dieser Schrift, die, wie er meinte, zuerst auf »heimlichen Schleichwegen« verbreitet, später »dem Volk von öffentlicher Kanzel angepriesen wurde.« {GU 3, 1784, S. 1 2 1 ) Interessanterweise ist diese Stellungnahme für die verfolgten Illuminaten mit einer Ablehnung des Arkanmodells der Aufklärung verbunden. Das Ungeheuer kritisierte das »ewige Geheimnisspiel« und den »Alleinhandel mit der Tugend«, die es, gemessen am Stand von Aufklärung und Offentlich7
Das Graue Ungeheuer, von Wekhrlin, 1 . - 1 2 . Bd., o. O. 1784-1787.
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keit, für anachronistisch hielt. Die Verbindung von Aufklärung und Geheimnis war für Wekhrlin ein Widerspruch, der allenfalls historisch zu legitimieren wäre. »Ists nicht drolligt«, fragt er, »daß man die meisten und berühmtesten Mitglieder der L o g e am Ruder der Weltgeschäfte, selbst auf Thronen . . . sitzen siehet, ohne daß der G a n g der Dinge sich ändert«? {GU 3 , 1 7 4 , S. 262) Wekhrlin nahm die Freimaurer in Schutz, weil er sie harmlos und unschuldig angeklagt und verfolgt sah. 8 Harmlosigkeit in Verbindung mit dem Geheimnis machte sie aber für die Zwecke der Aufklärung unbrauchbar. Die bis zum Ende des Jahrhunderts erscheinenden Schriften für und wider die Illuminaten - van Dülmens Liste allein enthält 88 Titel 9 wurden von den Zeitschriften der Aufklärung immer wieder zum Anlaß genommen, die Diskussion um das Geheimbundmodell fortzusetzen. Seitenlange Auszüge aus den Originalschriften des Ordens sorgten dafür, daß das Programm der Illuminaten besser bekannt war als das jedes anderen Geheimbundes im 18. Jahrhundert. Die Neuesten Religionsbegebenheiten mit unpartheyischen Anmerkungen, die im Laufe der Jahre immer deutlicher ihren orthodox-protestantischen, anti-aufklärerischen und revolutionsfeindlichen Standpunkt hervorkehrten, hatten schon 1779, im zweiten Jahr ihres Erscheinens, auf über dreihundert Seiten die Freimaurerei behandelt. 1 0 1786 erwähnten sie zuerst die Illuminaten, die für das folgende Jahrzehnt zu einem Hauptthema der Zeitschrift werden sollten. Was bis zu diesem Zeitpunkt von dem Bund bekannt war, erlaubte dem Herausgeber festzustellen, daß ihr Hauptzweck »dahin gieng, das ganze Ruder des Staates in die Hände zu bekommen«. ( N R B 9, 1786, S. 132) Darüber hinaus, so wurde spekuliert, müsse es aber noch einen anderen, höheren Zweck geben, der nur den Inhabern der höchsten Grade bekannt sei. D e r Herausgeber der Religionsbegebenheiten dachte dabei bezeichnenderweise an die Abschaffung aller Religion. Schon hier kündigt sich eine Argumentationsfigur an, die die zukünftige Diskussion folgenreich beeinflussen wird. Das Spiel der Hochgrade in der Freimaurerei wiederholte sich. Sobald der Zweck einer geheimen Gesellschaft bekannt war, setzte die Spekulation über den höheren, eigentlichen Zweck ein. Das Geheimnis
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»So lang das Logesystem mehr nicht ist als eine geschloßne Gesellschaft, um sich aufzuheitern, zu eßen, zu musiciren und mit unter E t w a s v o n den Wißenschaften zu reden . . .: so ist Alles was man dagegen sagt, höchst kühl.« (GU 3, 1784, S. 264).
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Vgl. Dülmen, Geheimbund, S. 423fr. Vgl. oben A n m . 4.
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eröffnete eine Spirale der Spekulation und Verdächtigung, die tendenziell ohne Ende war. Die schon genannte Litteratur^eitung schlug sich in einer Reihe von Rezensionen ganz auf die Seite der Illuminaten. 1 ' Die Identifikation mit dem Bund ging hier weiter als beim Grauen Ungeheuer, sie umfaßte nicht nur die Solidarität mit dem Opfer absolutistischer Willkür, sondern Schloß bewußt Programm und Mittel des Ordens ein. »Sind diese Grundsätze etwa die gefährlichen, verabscheuungswiirdigen, die die Illuminaten haben sollen? oder stimmen sie nicht vielmehr mit den lautersten, die man über Aufklärung haben kann, aufs genaueste überein?«, fragt der Rezensent von Weishaupts Apologie der Illuminaten. (ALZ Nr. 194, 1786, Sp. 311 f.) Und am Ende heißt es: »Zu dieser weitläufigen Anzeige haben wir uns, der guten Sache dieses wohl offenbar ungerecht verschrieenen Instituts und des ehrlichen Namens seiner. . . Mitglieder wegen, verbunden gehalten.« (ebd., Sp. 312) Wie eng mit dieser Parteinahme für die Illuminaten eine Ablehnung der Rosenkreuzer und ihrer Anhänger verbunden, wie weit die pseudo-politische Polarisierung der öffentlichen Meinung in Deutschland fortgeschritten war, zeigt die Rezension von Albrechts 1792 erschienenen Geheimen Geschichte eines Rosenkreus^ers: D a es, leider, ungeachtet aller seit verschiedenen Jahren erschienenen Schriften, worinn die Thorheiten und schädlichen Absichten des Ordens der >Gold- und RosenkreuzerMythologien< geheimer Gesellschaften führen kann. Zugleich zeigt sie aber auch ein feines Gespür für die radikaldemokratischen Implikationen, die Organisationsform und Programm der Freimaurerei innewohnten. Das Buch bietet eine verwirrende Mischung scheinbar disparater Elemente. Einerseits nahm es in großen Teilen die reaktionäre Variante der Verschwörungstheorie vorweg, andererseits wurde als Urheber aller verderblichen Aufklärung der Jesuitenorden ins Spiel gebracht bzw. »Rom« selbst. Ein mißverstandener Freiheitsbegriff macht die Logen, so Göchhausen, zu »moralischen und politischen Pesthäusern«. ( X I I f.) Aufklärung und Philosophie wirkten Hand in Hand mit der Freimaurerei, »den reinen himmlischen Saamen, Freyheit der Denkkraft, Weltbürgersinn auf der Erde zu erhalten«. (215 f.) Sie wollen »jedem Vorurtheil mit ehernem Fuß aufs Genick treten, die Menschheit entfesseln, sie in ihre ursprünglichen Rechte unantastbarer geheiligter Freyheit zurücksetzen, und - das goldne Weltalter wiederherstellen«. (216) Wenn die Welt aus nationaler Sklaverei befreit sein wird, »wenn die gantze Erde Bruderland ist, - wozu, sagen Sie mir, dann noch Despoten, und ihr Interesse? wozu noch Verhältnisse, die nur um ihrentwillen da sind, nur durch sie erfunden wurden?« (235f.) "
Koselleck, Kritik, S. 209, schließt sich Roßberg, Freimaurerei und Politik, S. 38, an, der unter Berufung auf eine Tagebuchaufzeichnung Bodes behauptet hatte, Göchhausen hätte die Illuminaten vor Augen gehabt. Dagegen spricht ein bisher nicht herangezogenes Schreiben Göchhausens vom 12. Juli 1798 an den Herausgeber des Taschenbuchs für Freimaurer, das ebd., Bd. 2, 1799, S. 293-506 abgedruckt wurde. Hier berichtet Göchhausen ausführlich über die Entstehung seines Buches. Das folgende Zitat ebd., S. 298.
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Sèine verschwörungstheoretische Pointe aber erhalten Göchhausens Enthüllungen dadurch, daß Aufklärung, Philosophie und Freimaurerei nicht Zwecke an sich sind, sondern Mittel in einem weit umfassenderen Plan; sie sind unwissende Werkzeuge in den Händen von Jesuiten, die die Wiederherstellung der römisch-katholischen Universalmonarchie anstreben. »Tausende arbeiten für unseren Plan, ohne zu wissen für wen, und zu welchem Endzweck« (244), sagt der Meistermaurer in Göchhausens Buch, und: »Dencken Sie sich bey Kirche allzeit Rom; bey Rom den Sitz der Cäsarn, und der Universalmonarchie, bey Catholicism, Cosmopolitism; bey Jesuiten Cosmopoliten, und bey Freymaurerey Jesuiterey. Das ist der rechte Schlüssel.« (271) Bei alledem vergißt der ehemalige Offizier Göchhausen nicht, in militärisch-strammen Formulierungen — intellektuellenfeindliche Attitüden sind unüberhörbar - , seine eigenen politischen Ansichten auszubreiten: »Du bist Staatsbürger, oder du bist Rebell. Kein Drittes [d. h. Kosmopolitismus, M. V.] giebt es nicht.« (177) Und: »Es ist also von Natur und Geschichte bewiesen, daß bürgerliche Freyheit ein Unding, und Königsrecht ein von Gott selbst anerkanntes Recht sey.« (3 34F.) Oder: »Zum Glauben ist der Mensch geboren. Er muß glauben lernen, ehe er dencken lernt.« (362) Sein politisches Ideal sieht Göchhausen in einer patriarchalischen Monarchie, in der ein orthodox-protestantischer Glaube und militärische Ordnung herrschen. Am Ende des Buches steht denn auch folgerichtig der Ruf nach dem starken Staat, der Aufklärung, Philosophie und Freimaurerei in ihre engen Grenzen verweist. Göchhausen zählt zu Recht zu den >Vätern< der reaktionären Verschwörungstheorie. Wie schon bei Babo sichtbar, übergreift die Theorie rasch ihren Gegenstand, die geheimen Gesellschaften, und wird zu einem universalen Erklärungsmodell für die für schädlich befundenen Entwicklungen der modernen Gesellschaft. Nach anfanglicher Verwirrung 2 ' beeilen sich die Berliner Aufklärer, sich von diesem pervertierten Spiegelbild zu distanzieren. Zwar kämpfe Göchhausen gegen die Jesuiten, meint die Berlinische Monatsschrift, »aber nun übertreibt er 2
' In der ALZ erschienen nacheinander zwei Rezensionen zu Göchhausens Buch, die erste positiv, die zweite negativ: ALZ Nr. 143, 1786, Sp. ;24ff., Nr. 283/284, 1786, Sp. 385fr. Erstaunlich positiv fallt auch die Besprechung im Hamburgischen Unparthejischen Correspondenteη. Staats- und Gelehrte Zeitung des Hamburgischen unpartheyischen Correspondenten 1786, Nr. 88, aus. Dagegen überrascht es nicht, wenn die Neuesten Religions Begebenheiten 10, 1787, S. 5 57fr. die Schrift enthusiastisch begrüßen.
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die Sache nicht allein aufs höchste, sondern spielt gar klüglich den Krieg in Feindesland«. (BM 8, 1786, S. 563) Der Rezensent der Allgemeinen Litteratur^eitung legt den Etatismus Göchhausens frei, der das Mittel Staat auf Kosten des eigentlichen Zwecks, der Glückseligkeit der in ihm vereinten Menschen, verabsolutiert, und warnt seine Leser nachdrücklich vor dieser »unter den Blumen verborgenen Schlange«, die Denk- und Pressefreiheit unterdrücken und der Aufklärung entgegenarbeiten will. ( A L Z Nr. 284, 1786, S. 402) Z u einer Überprüfung der eigenen Jesuitismusthese führte das Auftreten dieses peinlichen Mitstreiters jedoch nicht. Die revolutionären Ereignisse in Frankreich hoben die Diskussion um das Geheimbundmodell auf eine neue Stufe. Neben der Denunziation und Diffamierung des vermeintlichen politischen Gegners trat jetzt immer deutlicher der Erklärungswert der Komplottheorie in den Vordergrund. Gegner wie Sympathisanten der Revolution griffen auf die »Pläne« der geheimen Gesellschaften zurück, um den Erfolg der Aufklärung in Frankreich erklären zu können. 24 Schon 1790 finden sich in Frankreich erste Ansätze, Freimaurer und Revolution miteinander in Verbindung zu bringen. 2 ' Eine solche Argumentation wurde auch in Deutschland schnell aufgegriffen und fand 1791 reichlich Nahrung durch die Veröffentlichung der phantastischen Geständnisse Cagliostros, der, wie erwähnt, die Illuminaten für die Revolution verantwortlich machte. 26 Die verschwörungstheoretische Auseinandersetzung mit der Französischen Revolution spiegelt auf bezeichnende Weise die utopisch-unwirklichen Planvorhaben der Hochgradorden und Illuminaten, die Gigantomanie der geheimen Gesellschaften im 18. Jahrhundert wider. Ihre Pläne und Prognosen, die vorhergesagten »Revolutionen des Geistes« sind scheinbar in Erfüllung gegangen. Ihre geschichtsphilosophischen Konstruktionen wurden nun, von den Gegnern insbesondere, beim Wort genommen. Die hochkomplizierte Gegenwart reduzierte sich auf eine Veranstaltung geheimer Bünde. Ein realistischerer Zugang zu den Vorgängen in Frankreich wurde so erschwert. Mehr noch: Die Urheber der Pläne wurden zur Verantwor24
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Hier geht es nicht um die deutsche Rezeption der Revolution in Frankreich insgesamt, sondern um den Anteil und die Bedeutung, die verschwörungstheoretische Erklärungsmodelle daran hatten. - Zur Rezeption vgl. die Arbeiten von Gooch, Grab, Vogel und Garber im Literaturverzeichnis. Dazu Roberts, Mythology, S. 167fr., für die deutsche Situation Rogalla von Bieberstein, These, S. gfiff. Vgl. oben S. 4 9 f f .
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tung gezogen nicht nur für die französische Entwicklung, sondern für jede revolutionäre Regung im eigenen Land. Insbesondere nach 1793, das heißt nach der Ablösung der bürgerlich-liberalen Revolutionsphase durch die Jakobinerherrschaft, veranstalteten die Verschwörungstheoretiker eine regelrechte Hexenjagd auf vermeintliche oder tatsächliche Befürworter und Unterstützer der Revolution. Die von einem Agenten Leopolds II. herausgegebene Wiener Zeitschrift verbreitete die wohl einflußreichste Version der Verschwörungsthese, die Illuminaten hätten die Revolution in Frankreich ins Werk gesetzt.27 Zwei Illuminaten, gemeint sind Bode und sein Freund Busche, seien 1788 nach Paris gereist und hätten die Loge »Amis Réunis« der Philalethen für den Weltrevolutionsplan gewonnen. Aus den Logen dieses Systems wären die »comités politiques« der Revolution hervorgegangen. Die französische Revolution sei also eigentlich eine deutsche! »Nicht Franzosen, sondern Deutsche sind die Erfinder des großen Entwurfs, die Welt umzukehren. Aber die Franzosen sind die ersten, welche denselben auszuführen versucht haben.« ( N R B 1793, S. 292) Ahnliche Behauptungen wurden in den nächsten Jahren immer wieder aufgestellt und taktisch geschickt gegen aufklärerische und revolutionsfreundliche Tendenzen im eigenen Land eingesetzt.28 Man muß sich die Inkommensurabilität der Ereignisse in Frankreich in Erinnerung rufen, die schockierende Neuheit der Geschwindigkeit und der Radikalität des gesellschaftlichen Wandels während der Revolution, um die weite Verbreitung derartiger Erklärungsmodelle verstehen zu können. »The scale and the violence of the changes that men were called upon to account for soon seemed to exhaust all conventional and familiar categories of explanation.«29 Die Französische Revolution veränderte die Erlebniskategorie geschichtlicher Zeit. Von 1785 bis 1815 beschleunigte sich der Ablauf der Geschichte, 27
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Der Artikel der Wiener Zeitschrift wird ausführlich mit vielen Auszügen besprochen in NRB 16, 1793, S. 287fr. Der dortigen Wiedergabe folgt die obige Darstellung. Zur Wiener Zeitschrift vgl. Valjavec, Entstehung, S. 308, Rogalla von Bieberstein, These, S. 105. Dazu Ragot^ky, Kart August, Über Maurerische Freiheit. Für Eingeweihte und Uneingeweihte Leser. Nebst einem Wort ans Publikum über eine vermeintliche Ursache der Revolution, Berlin 1792, S. 19fr., BM 21, 1793, S. 570-593, NRB 18, 1795, S. 249fr. [Grotman, Friedrich Ludwig Adolph vori\, Freyherrn von Knigge Welt- und Menschenkenntniß - Ein Pendant zu dem Buche >Umgang mit MenschenJakobinern< vgl. die Arbeiten von Stephan, Segeberg, Grab und Garber im Literaturverzeichnis. " Valjavec, Entstehung, S. j 18f. >4 Das Edikt ist abgedruckt in NRB 14, 1791, S. 1 1 - 1 9 , hier S. 16. 1
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stischen Reaktion, die selbst ihren abenteuerlichen Theorien zum Opfer gefallen waren. Dieser reaktionäre Flügel des politischen Spektrums am Ende des 18. Jahrhunderts - zu ihm zählten Männer wie der Ritter von Zimmermann, L.A.Chr. Grolmann, H.A.O. Reichard, L . A . Hoffmann - ist nicht zu verwechseln mit dem frühen Konservativismus ständisch-feudaler oder reformierter Ausprägung. 5 ' Interessanterweise gehörten dieser Gruppe von Reaktionären viele ehemalige Aufklärer an, die ihre etatistische Grundeinstellung nun ins Lager der Reaktion trugen. Schon 1790 trat der Ritter von Zimmermann seinen Kampf gegen die »Berliner=Aufklärungs=Synagoge« (!) und den »Illuminatismus« an, den er für weit verbreiteter und gefahrlicher hielt als den Orden der Illuminaten selbst. 56 Ein Jahr später veröffentlichte Carl von Eckartshausen seine Schrift Ueber die Gefahr, die den Thronen, den Staaten und dem Christenthume den gänzlichen Verfall drohet. Durch das falsche Sistem der heutigen Aufklärung, und die kecken Anmassungen sogenannter Philosophen, geheimer Gesellschaften und Sekten}1 Gewidmet war sie »den Grossen der Welt von einem Freunde der Fürsten und der wahren Aufklärung«. Eckartshausen fragt: »Ist es nicht Hochverrath, die Ruhe der Bürger zu stören, die Gewalt der Gesetze zu schwächen, und schädliche Irrthümer in schwachen Seelen zu bringen?«; er fordert dementsprechend die Abschaffung aller Pressefreiheit und schlägt am Ende die Gründung eines Fürstenbundes gegen Aufklärung, Philosophie und geheime Gesellschaften vor. Ein Beispiel dafür, wie eng sich die Zusammenarbeit von Staat und Reaktion gestaltete, aber auch dafür, wie schnell beide die einst geschmähte Macht der öffentlichen Meinung zu schätzen gelernt hatten, ist die Zeitschrift Eudämonia (1795-1798). 3 8 Z u den " Dazu Epstein, Konservativismus, S. igff. Dazu NRB 13, 1790, S. 265-283. 37 \Echartshausen, Carl vori\, Ueber die Gefahr, die den Thronen, den Staaten und dem Christenthume den gänzlichen Verfall drohet. Durch das falsche Sistem der heutigen Aufklärung, und die kecken Anmassungen sogenannter Philosophen, geheimer Gesellschaften und Sekten. An die Grossen der Welt von einem Freunde der Fürsten und der wahren Aufklärung. Mit Datei und Urkunden belegt aus dem Archiv unsers Jahrhunderts, o. O. 1793 [zuerst 1791], S. 41. Vgl. auch NRB 14, 1791, S. 355ff., ADB 1 1 5 , 1793, S. 276?., wo Eckartshausens Pamphlet dem »schreibseligen Jesuiten« Benedikt Stattler zugeschrieben wird. - Zu Eckartshausen: Faivre, Antoine, Eckartshausen et la Philosophie Chrétienne, Paris 1969. 38 Eudämonia oder deutsches Volksglück, ein Journal für Freunde von Wahrheit und Recht, 6 Bde, Leipzig, Frankfurt, Nürnberg 1795-1798. - Zur Eudämonia vgl. Braubach, Max, Die >Eudämonia< (1795-1798). Ein Beitrag zur deutschen Publizistik im Zeitalter der Aufklärung und der Revolution, Historisches Jahrbuch 47, 1927, S. 309-339, Krüger, Gustav, Die Eudämonisten. Ein Beitrag zur Publizistik des
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Initiatoren dieser Zeitschrift zählten J . A . Starck und L.A.Chr. Grolmann, später auch Zimmermann, Göchhausen und H.A.O. Reichard, allesamt Vertreter der norddeutsch-protestantischen Reaktion. Als Grolmann und Starck 1789 während einer Brunnenkur in Schwalbach von den Ereignissen in Frankreich hörten, dachten beide sogleich an die Illuminaten, die »leiblichen Brüder der Jakobiner«, als an deren Urheber. Wenig später planten beide, »gegen den teuflischen Bund eine Gegenassociation zu machen«. (476) An Projekten Eckartshausens in München und Hoffmanns in Wien wollte man sich aus konfessionellpatriotischen Gründen nicht beteiligen. Für ihr geplantes Journal, das »alle Ränke der Gegner auf frischer Tat auf[zu] decken, die Aufwiegler geißeln und die verkehrten und mißhandelten Schriftsteller durch Wahrheit rächen« (479) sollte, gewannen beide fürstliche Protektion. Auf einem Konvent in Wilhelmsbad 1794 erhielten sie das Versprechen zweier deutscher Fürsten, das Zeitschriftenprojekt zu unterstützen und auf je hundert Hefte des »Anti-Revolutions-Almanach« zu subskribieren. Die Imitation des angeblichen geheimen und politischen Gegners war perfekt. Das Redaktionskollegium organisierte sich nach dem Muster einer geheimen Gesellschaft; alle Artikel erschienen anonym, die Korrespondenz untereinander verwandte Geheimchiffren und Decknamen, deren Aufdeckung erst in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts gelang. Zudem ist der Anspruch auf eine Manipulation der Öffentlichkeit unübersehbar: »Es muß zu gleicher Zeit durch Flugschriften und durch Journale geschehen, just wie es die Gegenpartei gemacht hat, um sich der Volksmeinung zu bemächtigen.« (483) Was dabei herauskam, war übelste Hetzpublizistik. Versprach der »Prospectus« des ersten Stücks der Eudämonia noch einiges Niveau ζ. B. waren Abhandlungen über die »glükliche Verfassung Deutschlands« sowie philosophische, politische und historische Untersuchungen über »den allgemeinen Schaden aller Empörungen« vorgesehen —, so wurde schon im ersten Band deutlich, wie sehr ein persönlich-denunziatorischer und gehässiger Journalismus - noch dazu hinter der Maske der Anonymität versteckt - den Charakter der Zeitschrift bestimmte. Der ursprünglich formulierte Zweck des Journals, »Deutschlands glükliche religiöse und politische Verfassung zu erhalten« (1, IV), stand schon bald zurück hinter der mit heiligem Eifer betrieausgehenden 18. Jahrhunderts, Historische Zeitschrift 145, 1 9 3 1 , 8.467-500 (auf Krüger beziehen sich die Nachweise im Text), und jetzt auch Fischer, Aufklärung, S. 241 ff.
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benen Aufgabe, »die Verbrecher an der allgemeinen Volksglükseligkeit bis in ihre geheimsten Schlupfwinkel aufzusuchen, daraus hervorzuziehen, und sie dem furchtbaren Richterstuhl der Publicität zu übergeben«. (XI f.) Knigge, Eleugius Schneider, Fichte, Campe, Rebmann, viele tatsächliche und angebliche Aufklärer, Philosophen, Illuminaten und Jakobiner wurden persönlich angegriffen und verunglimpft. Züge einer kollektiven Paranoia trug die hysterische Suche nach Komplotten gegen Kirche und Staat: »Die Absichten dieses abscheulichen Bundes [gemeint sind die Illuminaten, M. V.] gehen dahin, die Altäre umzustürzen, die Thronen zu untergraben, die Moral zu verderben, die gesellschaftliche Ordnung übern Haufen zu werfen, kurz jede bürgerliche und religiöse Einrichtung einzureißen, und Heidenthum, Mordgericht und alle Gräuel einer demagogischen Anarchie dafür einzuführen.« (2, 2 32f.) An anderer Stelle wurden die Illuminaten gar zum »Krebs der Societät« erklärt. (2, 448) Es genügte nicht festzustellen, daß die Zauberflöte allegorische Verweise auf die französischen Vorgänge enthalte; die Oper wurde verdächtigt, das Werk einer allgemeinen Verschwörung zu sein. (1, 196) Die Jenaische Litteratur^eitung und die Allgemeine deutsche Bibliothek waren nicht nur Blätter mit einer der Eudämonia nicht genehmen politischen Ausrichtung, sie waren »Illuminations-Fabricen«. (2, 126) Die Denunziation von Personen, Publikationen und Institutionen, die Aufdeckung angeblicher Komplotte wurde verbunden mit Warnungen an die Adresse der Fürsten, mit Forderungen nach einem Verbot geheimer Gesellschaften, einer wirksamen Verfolgung und Bestrafung von Illuminaten und Jakobinern sowie nach der Abschaffung der Pressefreiheit. Die Eudämonisten erwiesen sich als reaktionäre Verteidiger des absolutistischen status quo. Paradoxerweise wurde die Eudämonia 1797 ausgerechnet in Österreich auf den Index gesetzt, angeblich weil — wie nicht anders zu erwarten - Illuminaten die Wiener Zensur unterwandert hätten. (3> 533-551) Wenig später stellte die Zeitschrift ihr Erscheinen endgültig ein, die näherrückenden französischen Revolutionstruppen machten Druck und Verbreitung der in Frankfurt erscheinenden Eudämonia zu gefährlich. Ihre wohl systematischste Ausformulierung erfuhr die Verschwörungstheorie zu einer Zeit, als die französischen Verhältnisse anfingen sich zu konsolidieren — kurz vor dem 18. Brumaire —, als die wenigen Ansätze zu einer jakobinischen Tätigkeit in Deutschland zu ersticken drohten und die Spätaufklärung resigniert sich ihres Anachronismus 142
bewußt zu werden begann. 1797/98 erschien das Werk des Abbé Barruel Mémoires pour servir à l'Histoire du Jacobinisme.59 In fünf Bänden verarbeitete der fanatische Revolutionsgegner ein immenses Material, um seine zentrale These zu belegen, daß ein gerader Weg von den »philosophes« über die Freimaurer und Illuminaten zu den Jakobinern führte und damit zur Revolution. Gerüchte und Verleumdungen, die phantastische Geschichtsphilosophie der Bünde und ihre utopischunwirklichen Planvorhaben, historische Fakten und die >Mythologie< der geheimen Gesellschaften vereinte Barruel - getrieben von einem »hochgradigen Beziehungswahn« (W. Krauss) - in einem System, das den Gang der Geschichte des 18. Jahrhunderts als Werk einer einzigen Verschwörung erklären sollte. Das Buch hatte eine nicht zu überschätzende Wirkung auf die europäische Öffentlichkeit, beeinflußte aber auch das Aufklärungs- und Revolutionsbild der nachfolgenden Generationen und der historischen Forschung bis ins 20. Jahrhundert hinein.40 Die Versatzstücke von Barruels Theorie waren lange zuvor entwickelt worden; neu war der systematische Versuch einer lückenlosen >BeweisLärm um nichts< gemacht wurde, hat ihn vermutlich dazu bewogen, intensiver über mögliche Inhalte und Funktionen der zeitgenössischen Freimaurerei nachzudenken. Bode überliefert, Lessing hätte auf die Bemerkung Rosenbergs, er habe doch nichts wider Religion und Staat in der Freimaurerei gefunden, geantwortet: »Ha! ich wollte, ich hätte dergleichen gefunden, das sollte mir lieber seyn.«12 Eine Loge hat Lessing, soweit sich erkennen läßt, nie wieder besucht.15 Was aber geschah mit dem »Manuscript«, dem »Aufsatz« über den Ursprung der Freimaurerei? Rosenberg behauptete, Lessing wollte ihm den Text nach seiner Ankunft in Braunschweig zuschicken. Zu12
Bonneville, Die Schottische Maurerey, S. i i j f . - Ahnliche Urteile überliefert Daunicht, Lessing im Gespräch, Nr. 3 51 und 558. '' Der Meister vom Stuhl Rosenberg meldete nach Lessings Aufnahme an seinen Ordensoberen Zinnendorf, Lessing sei an einer Geheimhaltung seiner Mitgliedschaft im Bund interessiert, »in Ansehung der Braunschweigischen Herrschaft«. Das Braunschweigische Haus stand der Strikten Observanz nahe, der Bruder des regierenden Herzogs, Ferdinand, wurde schon bald zum Magnus Superior dieses Ordens gewählt. - Durchaus unglaubwürdig ist dagegen die Behauptung Rosenbergs, Lessing beabsichtige, »in Wolfenbüttel eine Loge nach seiner Art zusammenzusetzen und wolte Meister derselben sein«. Nach Wald, Lessings Aufnahme, S. 242Í. 150
gleich meldete er, dieser bleibe dabei, »daß er von dem Grunde der Sache [der Freimaurerei, M. V.] gut instruiert wäre.« 14 Daß Lessing unbeeindruckt von den drei ersten Graden der Großen Landesloge auf seiner Herleitung der Freimaurerei beharrte, möglicherweise noch immer an eine Veröffentlichung dachte, rief den Unwillen Zinnendorfs hervor. A m 19. Oktober 1771 schrieb er an Lessing: »Denken Sie sich hierbei . . . nur nicht, . . . dass dero Scharfsinn gleichsam mit einem Blicke, weder jez2o, noch ehe Ihnen die Binde von den Augen genommen worden, schon alles entdeckt habe, was Weisheit, Schönheit u. Stärke daselbst in einen Punkt vereinigt haben! . . . Suchen Sie diesem nach, bitte ich, aldort zuforderst derjenige zu werden, welcher Sokrates ehedem den Atheniensern war; allein, dem widrigen Schicksale zu entgehen, welches leider seine Tage verkürzte, müssen Sie den Zirkel nicht überschreiten, den Ihnen die Freymaurerey jedesmahl vorzeichnet . . .«"' Mit dieser Drohung verband Zinnendorf die Aufforderung an Lessing, sich hierüber zu erklären und ihm die besagte Schrift zuzuschicken. Es ist nicht bekannt, wie Lessing auf dieses Schreiben reagierte. E r hat wohl Zinnendorfs energischer Bitte um Erklärung nicht entsprochen, aber auch die Abhandlung über den Ursprung des Ordens nicht veröffentlicht. Daß dabei Angst vor möglichen Sanktionen eine Rolle gespielt hat, ist so gut wie ausgeschlossen. Lessing hat in den Jahren seiner Wolfenbüttler Tätigkeit zuviel Zivilcourage gegenüber fürstlichen Gängelungsversuchen gezeigt, als daß er vor der Drohung Zinnendorfs zurückgeschreckt wäre.' 6 Überdies begann er schon fünf Jahre später eine Schrift, die nicht mehr nur Aufschluß über den wahren Ursprung des Ordens geben wollte, sondern radikal die gegenwärtige Form der Freimaurerei in Frage stellte. So liegt der Schluß nahe, daß Lessing unterdessen das Interesse an dieser Form der Beschäftigung mit der Freimaurerei verloren hatte und den - ohnehin vermutlich erst halbfertigen - »Aufsatz« vorläufig liegen ließ.
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Nach Wald, Lessings Aufnahme, S. 242^ '' Ebd., S. 24Óf. - Welche Bedeutung Zinnendorf Lessings Aufnahme zumaß, zeigt sein Brief an Rosenberg vom 22. Oktober 1771: »Es ist schon genug und bedarf keines weiteren Beweises, wenn ein Lessing heimlich und öffentlich saget, die Gesellschaft der strikten Observanz sei nichts weniger als Freymaurerey, und solches dem regierenden Herrn Herzog gleichwie des Herrn Herzog Ferdinand . . . des baldigsten zu versichern würde ich dem p. Bruder G . E. Lessing eben nicht abrathen.« Zitiert nach Wald, Lessings Aufnahme, S. 251. ,δ Vgl. dazu auch Schneider, Lessing, S. i 8 i f .
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Auf dem Rückweg von der Italienreise 1775/76, auf der Lessing möglicherweise in Prag mit dem österreichischen Aufklärer und Freimaurer Ignaz von Born zusammengetroffen war, 17 diskutierte er in Berlin mit Friedrich Nicolai seine alte These von der Entstehung der Maurerei.18 Hier fiel zum ersten Mal der Name Christoph Wrens. Der Londoner Baumeister soll während des Baues der St. Pauls-Kathedrale eine dort erhaltene >Massoney< umfunktioniert haben zu einer maurerischen Gesellschaft, die sich aber nur symbolisch der Gebräuche und Werkzeuge des Handwerks bediente. 1776 begann dann die Ausarbeitung der Gespräche für Freymäurer, die am Ende des Jahres 1777 vollständig vorlagen. Nicht allein ihr Inhalt, sondern auch die Art und Weise ihrer Veröffentlichung zeigt, wie sehr diese mit Blick auf die historische Freimaurerei geschrieben wurden. Die Gespräche entstanden zu einer Zeit, in der die deutsche Freimaurerei sich dem Höhepunkt einer Krise ihrer Identität näherte.'9 Die Strikte Observanz begann zu zerfallen. Entgegen aller äußerlichen Pracht, wie sie sich noch auf den Konventen von Braunschweig 1775 und Wolfenbüttel 1778 entfaltete, wurde - insbesondere nach dem Tod ihres Begründers von Hund, 1775, - immer deutlicher erkennbar, auf welch fragwürdigen Voraussetzungen dieser Hochgradorden beruhte. Eine Verquickung in die internationale Politik und zahlreiche Betrugsaffären prägten das Bild der Strikten Observanz in der Öffentlichkeit. Die zunehmende Verunsicherung über Herkunft und Zweck des Ordens setzte eine öffentliche Diskussion in Gang. Lessings Freimaurergespräche reihen sich ein in die vielfältigen Bestrebungen, das offensichtliche Sinnvakuum der geheimen Gesellschaft zu füllen, der Freimaurerei eine neue Bestimmung zu geben. Damit hatte sich der Ansatzpunkt für eine Beschäftigung mit der Freimaurerei beträchtlich verschoben. Nicht mehr nur ein sprachlich17
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So Schneider, Lessing, S. 184F. Schneider vermutet, daß Lessing bei dieser Gelegenheit Born das Original des Zinnendorfschen Briefes vom 19. Oktober 1771 übergab. Von Born jedenfalls erhielt Feßler diesen Brief während eines Wiener Aufenthaltes 178; zum Geschenk. Vgl. Feßler, Sämmtliche Schriften, S. 42 iff. - Schneiders Spekulation ist insofern von Bedeutung, als Born u. U. als der bislang unbekannte Veranlasser des Drucks der Fortsetzung von Ernst und Falk 1780 in Frage kommt. Dazu auch Schneider, Lessing, S. 191fr. Über ein solches Gespräch berichtet Friedrich Nicolai, Versuch über die Beschuldigungen welche dem Tempelherrenorden gemacht worden und über dessen Geheimniß. Nebst einem Anhang über das Entstehen der Freymaurergesellschaft, Berlin und Stettin 1782, S. 15 iff. Dazu oben S. 54fr.
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historisches Interesse leitete Lessing in Ernst und Falk, nicht mehr nur den geschichtlichen Ursprung der geheimnisumwobenen Organisation wollte er aufspüren: die geheime Gesellschaft wurde ihm zum Denkmodell der Aufklärung, zum Vehikel einer in Ansätzen erkennbaren Geschichtsphilosophie und zum Projektionsfeld politisch-gesellschaftlicher Idealvorstellungen, die Lessing so radikal und so unvermittelt sonst nirgends geäußert hat. Bemerkenswert ist, daß die letztendlich utopische Vorstellung einer »wahren Freimaurerei« gegründet ist auf einer kritischen Analyse der geheimen Gesellschaften und der politisch-sozialen Realität, die die Bedingung für deren Wirklichkeit und Möglichkeit darstellte. Ob diese Konfrontation von schlechter Wirklichkeit und utopischem Entwurf beabsichtigt war, ob sie eine appellative Funktion hatte oder nur Ausdruck für das Dilemma der Aufklärung, ein Eingeständnis ohnmächtiger Erkenntnis angesichts der tatsächlichen politischen Machtverhältnisse war, das wird die Textanalyse beantworten müssen. Zeitpunkt und Art der Veröffentlichung von Ernst und Falk zeigen jedenfalls, daß Lessing mit seinen Gesprächen für [!] Freymäurer Einfluß nehmen wollte auf eine Reform der Freimaurerei. Nach der Fertigstellung kursierten die Gespräche zunächst unter Freunden Lessings - Mendelssohn, Claudius, Bode - , aber auch unter Freimaurern in Braunschweig und Wolfenbüttel.20 Während des Wolfenbütteler Konvents der Strikten Observanz im Juli/August 1778 schickte Lessing eine Abschrift aller fünf Gespräche von Ernst und Falk an den Braunschweiger Herzog. 21 Aus dem Begleitschreiben geht hervor, daß der Herzog, der das Amt des Magnus Superior in der Strikten Observanz bekleidete, die Gespräche schon kannte und den Wunsch geäußert hatte, eine Kopie von ihnen zu besitzen. Diese Kopie ließ der Herzog dann unter Würdenträgern des Ordens kursieren, möglicherweise in der Absicht, sie der Reformdiskussion im Orden zugänglich zu machen.22 Für den Druck der ersten drei Gespräche, den ° Dazu Petersen/O/shausen, Anmerkungen zu Teil 1-7, S. zyoi. und Schneider, Lessing, S. 190fr. 21 Das Begleitschreiben an den Herzog ist abgedruckt bei Schneider, Lessing, S. 14. Es ist datiert vom 28. Juli 1778. 22 Ein bisher unberücksichtigtes Schreiben des Braunschweiger Herzogs, das dessen Verunsicherung durch Lessings Gespräche dokumentiert, findet sich bei Dot^auer, Freimaurergesellschaften, S. 63. Ferdinand schreibt im April 1779 an den Landgrafen von Hessen: ». . . bin ich mit denenselben [dem Landgrafen, M. V.] vollkommen einerley Meynung, daß es allerdings von dem Verfasser derselben [Lessing, M. V.] viel gewagt ist, wenn derselbe ohne hinreichende Kenntnisse über die Maurerey Urtheile fallt, die sich auf bloße Vermuthungen gründen . . .«. Die herzogliche Kritik bezieht sich besonders auf das fünfte Gespräch. - Zu Lessings Ver2
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er im Frühherbst 1778 in Göttingen vornehmen ließ, verfaßte Lessing eine Widmung an den Her2og, die einzige, die er Zeit seines Lebens geschrieben hat. »Auch ich war an der Quelle der Wahrheit, und schöpfte. Wie tief ich geschöpft habe, kann nur der beurteilen, von dem ich die Erlaubnis erwarte, noch tiefer zu schöpfen. - Das Volk lechzet schon lange, und vergehet vor Durst.«25 Die zur Schau gestellte Devotion der Widmung - bei Lessings Bruder Karl rief sie helle Empörung hervor - darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß Lessing sich hier - ohne Erlaubnis einzuholen - geschickt der freimaurerischen Autorität des Herzogs bediente. Damit gelang es ihm, der kleinen anonym erschienenen Schrift eine Art offiziösen Charakter zu geben. Zugleich umriß Lessing schon in der Dedikation die prekäre Lage, in der sich die Freimaurerei befand. Das »Volk«, das nach »Wahrheit« »lechzet«, stand für die Maurer, die verzweifelt nach Sinn und Zweck ihres Ordens suchten. Nicht darum ging es, das Geheimnis der Freimaurerei zu verraten, sondern darum, ihr allererst zu einem Geheimnis zu verhelfen. Und das Geheimnis war für Lessing identisch mit der »wahren Ontologie« der Maurerei, mit der Bestimmung ihres Wesens, wie sie die »Vorrede eines Dritten« versprach. Mit welchem Selbstbewußtsein er dabei zu Werke ging, zeigt der Brief, den er am 19. Oktober 1778 zusammen mit einem Druckexemplar von Ernst und Falk an den Herzog schickte. D a ich mir schmeicheln darf, daß v o n den bewußten Gesprächen die drey erstem, das Ernsthafteste, Rühmlichste, Wahrste sind, was vielleicht jemahls über die Freymäurerey geschrieben worden: so habe ich der Versuchung, sie drucken zu lassen, nicht länger widerstehen können. Meine Absicht dabey, die schwanken, falschen, verkleinerlichen Ideen, welche o f t v o n Freymäurern selbst, über ihre Bestimmung geäußert werden, zu berichtigen und zu veredeln, können E w r . Durchlaucht weder verkennen noch mißbilligen. 1 4
Hier wird die Absicht einer Einflußnahme auf die zeitgenössische Freimaurerei noch einmal deutlich ausgesprochen. Druck und Widmung der Gespräche fanden allerdings nicht die Billigung des Herzogs. Dieser hätte eine vorherige Information für angebracht gehalten und erinnerte Lessing zugleich an seine Verschwiegenheitspflicht als Frei-
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such, die Reform der Strikten Observanz zu beeinflussen, vgl. auch Der Wilhelmsbader Freimaurer-Konvent, S. 26f.
LachmannjMunck,er, Bd. 13, S. 541. Schneider, Lessing, S. ι^ί.
Nach
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Hammermayer,
maurer. Lessing legte den Brief des Herzogs als ein indirektes Verbot für die Publikation der restlichen Gespräche aus und verzichtete von sich aus auf jede weitere Veröffentlichung.2' Zwar erhielten in den beiden folgenden Jahren eine Reihe von Freunden und Bekannten die Fortsetzung von Ernst und Falk, unter ihnen Jacobi, Hamann, Herder, Campe, Lichtenberg und J. Α. H. Reimarus.26 Es gibt aber keinerlei Hinweis dafür, daß Lessing an der Publikation des vierten und fünften Gesprächs 1780 bei Brönner in Frankfurt/M. beteiligt war.27 1.2
Das Geheimnis des Dialogs
In der »Vorrede eines Dritten«, die er dem Druck der ersten drei Freimaurergespräche 1778 hinzufügte, versprach Lessing dem Leser eine »wahre Ontologie der Freymäurerey«.28 Er bezweifelt, daß in irgendeiner der unzähligen Schriften, die die Freimaurerei hervorgerufen hat, »ein mehr bestimmter Begriff von ihrer Wesenheit« gegeben wird als in seinem Ernst und Falk. (LM 13,341) Ein solches 25
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Der Antwortbrief des Herzogs vom 2 1 . 1 ο. 1778 ist abgedruckt bei Schneider, Lessing, S. i6{. Eine Zensurdrohung läßt sich in diesem Brief allenfalls sehr indirekt erkennen. Vgl. aber Lessings Briefe an seinen Bruder Karl vom 20.10.1778 und 19.5.1779, Lachmann\Mmcker, Bd. 18, S. 289^ und 309F. Dazu Schneider, Lessing, S. i ç i f . Wer von den genannten Personen eine Abschrift von Lessings Handschrift genommen hat, die dann dem Frankfurter Druck zugrundelag, ob noch ein Unbekannter etwa Ignaz von Born - das Manuskript erhielt und gegen Lessings Willen veröffentlichte, ob ein oder zwei Handschriften der Fortsetzung kursierten: diese Fragen sind m. E. auf der Grundlage der bisher bekannten Zeugnisse nicht zweifelsfrei zu beantworten. Vgl. dazu auch PetersenjOlshausen, Anmerkungen zu Teil 1-7, S. 290^, Schneider, Lessing, S. i84f. und i9iff. - Gleiches gilt für die Frage eines »sechsten Freimaurergesprächs«, das nach wie vor als verschollen zu gelten hat. Karl S. Guthkes Versuch einer Rekonstruktion dieses Gesprächs aus Nachlaßnotizen Lessings (Lessings »Sechstes Freimaurergespräch«, Z f D P h 8;, 1966, S. 576-597) habe ich in meinem Aufsatz: »Notitzen« oder »critische Anmerkungen«? - Noch einmal zu Lessings »Sechstem Freimaurergespräch« (DVjs. 55, 1981, S. 135-149) zurückgewiesen. Vgl. dazu auch Guthkes Erwiderung (»Notitzen«=»critische Anmerkungen«? Zur Stützung meiner Hypothese über das »Sechste Freimaurergespräch«, DVjs. 55, 1981, S. 150-160), auf die einzugehen sich erübrigt, da sie den alten Argumentationsstand nicht wesentlich überschreitet. Die bislang überzeugendste Analyse und eine historisch orientierte Deutung der Freimaurergespräche hat Gonthier-Louis Fink vorgelegt: Lessings »Ernst und Falk«. Das moralische Glaubensbekenntnis eines kosmopolitischen Individualisten, in: Recherches germaniques io, 1980, S. 18-64. Fink bestimmt das dialogische Verfahren in der esoterischen Tradition als progressive Initiation des Lesers. Vgl. ebd., S. 2 2ff.
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Versprechen überrascht. Wer glaubt, er könne nach der Lektüre der Lessingschen Gespräche gesicherte Erkenntnisse über die Freimaurerei in begrifflich exakter Form nach Hause tragen, wird enttäuscht. Hintergründige Anspielungen und lakonische Winke, Verknappungen und scheinbare Paradoxien, das unverhoffte Abbrechen eines Gedankens und plötzliche thematische Sprünge, bildliche Ausdrücke und immer wieder Rätsel erschweren den Zugang zu derartigen Antworten. Und doch ist die Hermetik der Gesprächsführung nicht abstoßend. Sie verunsichert, aber sie schließt nicht aus; sie problematisiert an die Gespräche herangetragene Erwartungen, die von der Vorrede noch einmal deutlich verstärkt werden, aber sie hebt doch den Anspruch nicht auf, mit Ernst und Falk das zu liefern, was die »systematischen Lehrbücher« für das Christentum waren. Nach einem kurzen Präludium, das - beiläufig fast - ein methodisches Leitmotiv der Gespräche anspielt: »Nichts geht über das laut denken mit einem Freunde.« (LM 13,342), kommt Ernst rasch zur Sache. Er möchte wissen, ob sein Freund Falk Freimaurer ist. Statt mit einem einfachen Ja oder Nein zu antworten, macht Falk die Frage selbst zur Antwort: sie verrät ihm, daß Ernst nicht Mitglied der Loge ist. Er würde nicht mit Worten gefragt, sondern die dafür vorgesehenen Griffe und Zeichen benutzt haben, um seinen Freund als Freimaurer zu erkennen. Solchermaßen entlarvt, gibt Ernst doch nicht auf, sondern drängt Falk ein zweites Mal, er möge ihm antworten. »Gerader zu - bist du ein Freymäurer?« Falks überraschende Antwort: »Ich glaube es zu seyn.« Der freimaurerische Katechismus der Lehrlingsaufnahme, zu dem Lessings Frage- und Antwortspiel in bewußtem Kontrast gestaltet ist, sah eine andere Antwort vor. Dem »Seid Ihr ein Maurer?« des aufnehmenden Meisters folgte auf Seiten des Initianden: »Ich bin als ein solcher unter den Brüdern und Gesellen zugelassen und aufgenommen worden.«29 Falk verlegt die Frage, ob jemand ein Freimaurer ist oder nicht, aus dem Bereich objektiver Gewißheit in die Sphäre subjektiver Vergewisserung. Die formelle Aufnahme, die der Katechismus zum Kriterium des Freimaurerseins erklärte, ist für Falk zweitrangig. Er glaubt, ein Freimaurer zu sein, »weil ich einsehe und erkenne, was und warum die Freymäurerey ist, wenn und wo sie gewesen, wie und wodurch sie befördert oder gehindert wird.«
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Vgl. dazu den Aufnahmekatechismus nach Pritchards »Zergliederter Frey-Maurerey«, in: Anderson, Neues Constitutionen-Buch, S. 386fr., hier S. 590.
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(LM 13,343) Einsicht und Erkenntnis zeichnen den Freimaurer aus, ein Wissen um Wesen und Ursache der Maurerei, das Studium ihrer Geschichte. Damit ist noch einmal der Rahmen der Gespräche abgesteckt. Aber dann folgen Schlag auf Schlag rätselhafte Bestimmungen. Die Freimaurerei sei »notwendig«, wird behauptet, nicht »willkührlich« oder »entbehrlich«. Sie sei, als im Wesen des Menschen und der »bürgerlichen Gesellschaft« gegründet, immer schon gewesen. Worte, Zeichen, Gebräuche und die »Taten ad extra« blieben ihrem eigentlichen Wesen äußerlich. Die »wahren Taten« der Freimaurer dagegen, die alles Gute in der Welt bewirkten, was je geschah und noch geschehen wird, bezeichneten das eigentliche Geheimnis der Freimaurerei. Das Ende des ersten Gesprächs zeigt Ernst verwirrt und enttäuscht. Falk habe ihn zum Besten gehalten, klagt er, seine Bestimmungen der Freimaurerei seien ihm ein Rätsel: »Und über ein Räthsel denke ich nicht nach.« (LM 13,350) Später beschuldigt er Falk gar, ein typischer Freimaurer zu sein: Er spiele mit Worten, lasse sich fragen und antworte, ohne zu antworten. (LM 13,3 5of.) Und tatsächlich: die aufklärenden Züge des ersten Gesprächs verstärken nur den Geheimnischarakter ihres Gegenstandes, der Freimaurerei. Auf den ernsten Hintergrund des Spiels mit den Worten wird schon im ersten Gespräch eingegangen. Falk verweist auf grundlegende Kommunikationsprobleme, wenn er sagt, das Geheimnis des Ordens lasse sich nicht wörtlich mitteilen. Er mißtraut dem Medium Sprache. Worte sind mehr als die Einkleidung von Gedanken, als gesellschaftlich verabredete Zeichen haben sie ein Eigengewicht, das sich in der vertrauten Unterredung störend zwischen die beiden Partner schiebt. Das »laut denken mit einem Freunde« hat sich Wort für Wort zu vergewissern, ob die intendierte Bedeutung vom Partner auch verstanden wird. Emsts Leichtfertigkeit im Umgang mit Begriffen und Worten gibt immer wieder Anlaß zu Wortgrübeleien, zum kritischen Aufbrechen scheinbar fraglos gültiger Wort- und Begriffsschablonen. Es verwundert nicht, wenn gerade in jüngerer Zeit die hier sich artikulierende Sprachskepsis Lessings das Interesse der Forschung hervorgerufen hat.30 Für Jürgen Schröder ist Ernst und Falk »ein tiefsinniger Vgl. etwa Schröder, Jürgen, Gotthold Ephraim Lessing. Sprache und Drama, München 1972, Hoensbroech, Marion Gräfin, Die List der Kritik. Lessings kritische Schriften und Dramen, München 1976, Häskens-Hasselbeck, Karin, Stil und Kritik. Dialogische Argumentation in Lessings philosophischen Schriften, München 1978. Z u Sprache und Dialog vgl. auch die Arbeiten von Helmut Cöbel, August Lehmann, Rudolf Hirtel und Gerhard Bauer im Literaturverzeichnis.
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Traktat über die Schwierigkeit des Fragens und Antwortens«, und Marion Gräfin Hoensbroech hält die Gespräche gar für eine Demonstration grundsätzlicher Einsichten in gesellschaftliche Kommunikationsverhältnisse: Lessing habe am besonderen Fall< der Freimaurerei nur >Allgemeines< sichtbar machen wollen. 3 ' Eine solche Argumentation geht - so treffend die Einzelbeobachtungen zu Lessings erstaunlich reflektiertem und kritischem Umgang mit der Sprache auch sein mögen - am Kern von Ernst und Falk vorbei. Weil Wortgrübelei und Sprachskepsis losgelöst vom thematischen und methodischen Kontext der Gespräche betrachtet werden, kommt es zu einer Überschätzung ihres Gewichts und vor allem zur Verkennung ihrer eigentlichen Funktion. Mit einer Sensibilisierung gegenüber sprachlichen Trennungen und Schranken läßt Falk es nicht bewenden. Diese ist vielmehr aufgehoben in einem umfassenderen didaktischen Konzept, das Ernst - und in vermittelter Weise auch den Leser der Gespräche hinführen soll zur Erkenntnis von Wesen und Geheimnis der Freimaurerei. Die Verrätselung des Gegenstandes und die Verunsicherung des Kandidaten sind durchaus beabsichtigt. Die mäeutische Kunst des Verschweigens und Erratenlassens, der kryptische Gestus von Falks Reden sind nur zu einem sehr geringen Teil bedingt durch genuin sprachliche Mitteilungsprobleme. Vielmehr weisen sie den allein angemessenen Weg zur Aneignung dessen, was Lessing in der Vorrede der Gespräche versprach: der wahren Ontologie der Freimaurerei. 175 9, im elften der Briefe, die neueste Literatur betreffend, heißt es: »Das große Geheimnis, die menschliche Seele durch Übung vollkommener zu machen . . ., besteht einzig darin, daß man sie in steter Bemühung erhalte, durch eigenes Nachdenken auf die Wahrheit zu kommen.«' 1 Diese Bestimmung hilft, eine Dimension des Lessingschen Freimaurergeheimnisses freizulegen, die hier die didaktisch-erkenntniskritische genannt werden soll, und die zugleich die Methode des Dialogs in Ernst und Falk charakterisiert. Der Standort der Wahrheit ist nicht exakt anzugeben. Wahrheit, und zu ihr zählt auch das Wissen um das Wesen der Freimaurerei, entzieht sich der »objektiven Verfügbarkeit eines im Begriff vorliegenden Resultats.«35 Die Wahrheit wird bei Lessing in die Suche nach der Wahrheit verlegt. Suchen und Finden '' Schröder, Sprache, S. 21, Hoensbroech, List, S. 4Öf. '' PetersenjOlshausen, Bd. 4, S. 41. " Bohnen, Klaus, Geist und Buchstabe. Z u m Prinzip des kritischen Verfahrens in Lessings literar-ästhetischen und theologischen Schriften, Köln/Wien 1974, S. 13.
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der Wahrheit sind tendenziell identisch. Wahrheit ist nicht unveränderlich, auch sie ist dem universalen Gesetz der Perfektibilität unterworfen, die Lessing in einem Brief an Mendelssohn einmal als die »Beschaffenheit eines Dinges« definierte, »vermöge welcher es vollkommener werden kann; eine Beschaffenheit, welche alle Dinge in der Welt haben, und die zu ihrer Fortdauer unumgänglich nötig war.« 34 In der Erziehung des Menschengeschlechts, die nicht allein zeitlich in engster Nähe zu Ernst und Falk entstand, erhielt der Perfektibilitätsgedanke zudem eine geschichtsphilosophische Dimension. Wahrheit erscheint hier als eine Kategorie, die, einer in der Geschichte sich entfaltenden Perfektibilität von Mensch und Menschheit unterworfen, nicht an jedem beliebigen Punkt des historischen Prozesses ganz erfaßbar ist; ihre vollständige Erkenntnis wird erst mit dem Eintritt in die Endzeit, der letzten Stufe der Menschheitsentwicklung, möglich sein. Das Ende der Geschichte ist für Lessing aber insofern von Bedeutung, als es zum systematischen und >historischen< Ort der Sinnstiftung für Geschichte und Gegenwart wird." Wenn er in der Erziehung des Menschengeschlechts die Gegenwart am Übergang von der zweiten zur dritten Stufe der Menschheitsentwicklung ansiedelt, so kommt es dabei weniger auf die damit verbundene Erwartung eines raschen Eintritts in die Endzeit an. Insoweit weicht Lessings geschichtsphilosophische Konzeption von ihrem Vorbild, dem joachitischen Geschichtsmodell, deutlich ab. Entscheidend ist ihm die kritische Wirksamkeit des geschichtsphilosophischen Horizonts für die eigene Zeit. Zwar ist die Erkenntnis der Wahrheit an den jeweiligen Stand des Geschichtsprozesses gebunden. Ihre Erkenntnis bezieht jedoch ihre Bd. 17, S. ; i i . Der Brief datiert vom 2 1 . 1 . 1 7 5 6 .
34
Lachmann\Mancher,
"
Zur Frage der Verbindlichkeit von Lessings Geschichtsphilosophie vgl. Naumann, Dietrich, Politik und Moral. Studien zur Utopie der deutschen Aufklärung, Heidelberg 1977, S. 3 2 5 ff., Bohnen, Klaus, »Nathan der Weise«. Uber das »Gegenbild einer Gesellschaft« bei Lessing, in:DVjs. ; 3, 1979, S. 394-416, hier S. 595ff. Zwar weist Bohnen gegenüber Naumann mit Recht auf die Relativierungen hin, denen Lessings utopisch bestimmtes Ende der Geschichte unterworfen ist. Mit seiner Formel von der »Ambivalenz von Begründung und Kritik« entschärft er aber Lessings aporetisch formulierten utopischen Anspruch in unangemessener Weise. Gerade der besonderen Qualität der Relativierung soll hier unter dem Titel »Geheimnis des Dialogs« nachgegangen werden. Z u diesem Komplex vgl. auch insgesamt die Beiträge zur Sektion »Geschichte, Politische Theorie und Rezeption« des Internationalen Lessing-Mendelssohn-Symposiums in Los Angeles 1979 in: Humanität und Dialog: Lessing und Mendelssohn in neuer Sicht, hg. von Ehrhard Bahr et al., Detroit/München 1982, S. 289-352.
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Maßstäbe aus einem letztendlich utopischen Rekurs auf das Ende der Geschichte. In der Erziehung des Menschengeschlechts heißt es: »Der Schwärmer tut oft sehr richtige Blicke in die Zukunft«, und in Ernst und Falk ist es den »Weisesten und Besten«, den Freimaurern aller Zeiten und Länder, vorbehalten, sich aus der Begrenztheit ihres historischen Standortes zu befreien. Von hier aus wird verständlich, wie Lessing eine Ontologie der Freimaurerei versprechen und dieses Versprechen mit Hilfe eines scheinbar durch und durch enigmatischen Gesprächs erfüllen konnte. Ernst und mit ihm der Leser der Gespräche für Freymäurer müssen allererst in die Lage versetzt werden, teilhaben zu können an dem Geheimnis der Freimaurerei. Die besondere Art des Dialogs ist selbst wesentlicher Teil des Lessingschen Geheimnisses, der dialogische Gestus ist ein konsequenter Ausdruck von dessen didaktisch-erkenntniskritischer Dimension.' 6 Didaktisch: Falks noch näher zu beschreibendes geheimnisvolles Gesprächsverhalten eröffnet den einzig möglichen Zugang zur »Wahrheit« und damit zur Erkenntnis des Wesens der Freimaurerei. Jeder Maurer hat der Wahrheit selbst sich zu vergewissern. Der Dialog fungiert als eine Initiation d u r c h das Geheimnis, die sich charakteristisch unterscheidet von der Einweihung in bestimmte feststehende Geheimnisse, wie sie die historische Freimaurerei kannte. »Stete Bemühung« und »eigenes Nachdenken« sind erforderlich, um auf das Geheimnis der Freimaurerei zu kommen, das nicht als unveränderliches Resultat Gegenstand eines einmaligen Vermittlungsprozesses sein kann. Ernst wird durch das Prinzip des »Unbefriedigtseins« gezwungen, eigene Schlüsse aus Falks Andeutungen zu ziehen. Sich selbst vervollkommnend wird er im Verlauf des Gesprächs reif für die Erkenntnis wichtiger Wahrheiten über die Freimaurerei. Eine letzte Sicherheit ist auf diesem Weg nie zu gewinnen. Auch Falk »glaubt« nur, Freimaurer zu sein, und als er im vierten Gespräch einer freimauerischen Realität sich konfrontiert sieht, die seine schlimmsten Erwartungen übertrifft, tritt zum Glauben noch die Hoffnung hinzu. Erkenntniskritisch: Das Geheimnis umfaßt nicht nur den Weg zur Wahrheit, es ist zugleich wesentlicher Teil ihrer qualitativen Bestim5Funde< adäquat verarbeiten zu können. Das Geheimnis des Dialogs hat zu »steter Bemühung« und zu »eigenem Nachdenken« über die Wahrheit veranlaßt; sich selbst vervollkommnend hat Ernst sich dem Wesen der Freimaurerei genähert. Die Dialoge spielen in der vertrauten Atmosphäre zwischen Freunden. Über das Leben und die Vergangenheit der beiden Personen, über ihre sozialen und privaten Verhältnisse wird nichts ausgesagt. Gesellschaftliche Rücksichten, Ränge und Titel, Stand und Beruf, Konfession und Nation sind außer Kraft gesetzt in diesem intimen Diskurs »bloßer Menschen«. Damit antizipiert das Gespräch ein auch die Gesellschaft verpflichtendes Ideal, das aber zum gegenwärtigen Zeitpunkt nur außerhalb ihrer selbst Wirklichkeit werden kann. Die gesellschaftliche Realität, obwohl zentraler Gegenstand des Gesprächs, berührt seinen Ablauf kaum. Ort der Unterredungen ist vermutlich ein Landgut Falks in der Nähe Pyrmonts. 39 Das Gespräch scheint bewußt abgesetzt gegen andere, genuin gesellschaftliche Formen der Kommunikation. »Der bloßen Unterhaltung bin ich auf heute müde«, sagt Falk nach einem Tag im »Gedrenge der Gesellschaft«. ( L M 13,362) Und über die Mittagsgäste seines Freundes bemerkt Ernst: »Endlich sind sie fort! O die Schwätzer!« ( L M 13,400) Nicht nur sind die Gespräche deutlich unterschieden von der seichten geselligen Konversation, sie ergeben sich auch außerhalb des alltäglichen Lebens der beiden Freunde. Falk befindet sich auf einer Brunnenkur, die seine gewohnte Beschäftigung in der Stadt unterbricht. Die Stadt ist auch Emsts gewöhnlicher Aufenthaltsort, hier tritt er in die Loge ein, hier will Falk ihm - in seiner Bibliothek - die im fünften Gespräch vorgetragene Ursprungshypothese der Freimaurerei beweisen, nach den normalen Gepflogenheiten wissenschaftlicher Diskussion. Der der Stadt und dem gesellschaftlichen Leben prononciert gegenübergestellte Kuraufenthalt auf dem Landgut, das intime Gespräch der Freunde bezeichnet den quasi utopi59
Bezeichnenderweise fehlen exakte Angaben über den Ort der Gespräche. Ihre raumzeitliche Verankerung geschieht eher beiläufig, so ihren unwirklich-utopischen Standort unterstreichend.
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sehen Standort, von dem aus Erkenntnis und Kritik formuliert werden. Distanz zur gesellschaftlichen Realität war der Preis, den Lessing für kritisch-utopische Erkenntnisse zahlen mußte. Die fünf Gespräche finden an zwei Tagen statt, die durch die Rückkehr Emsts in die Stadt und seinen Eintritt in die Loge unterbrochen werden. Die beiden ersten Unterredungen verlegt Lessing in die morgendliche Natur. Damit sind Ort und Zeit deutlich abgesetzt von den gewöhnlichen Logensitzungen der Freimaurer, die in der Regel abends und noch dazu in einem nur mit künstlichem Licht beleuchteten dunklen Raum stattfanden. Der mathematisch konstruierten Symbolwelt der Loge, der die Natur nur als Steinbruch für Allegorien diente, stellt Lessing hier unmittelbare Naturanschauung gegenüber. Zwar ist es nicht in erster Linie der landschaftsästhetische Wert, der Falks sommerlichen Garten auszeichnet. Die Natur wird ohnehin nur mit wenigen Strichen angedeutet. Von Baum und Bach ist die Rede, von Schmetterling und Ameisenhaufen. Gewiß wird auch bei Lessing die Natur geradezu »penetrant« symbolisiert. 40 Nur wird dabei die Natur als Natur ernst genommen und nicht, wie bei den Freimaurern, geometrisiert. Wie das Bild des Ameisenhaufens zeigt, benutzt Lessing allegorisch konstituierte Naturvergleiche, um die Eigenheiten der menschlichen Natur, die ja dem Wesen der Freimaurerei eng verbunden ist, herauszustellen. Die Ameisen haben wie die Menschen eine gesellschaftliche Natur, nur daß diese bei ihnen schon zur vollen Entfaltung gelangt ist, während die Menschen noch immer unter dem notwendigen Übel des Staates leiden. Der Schmetterling kann — wie die letztendlich utopische Wahrheit, wie das Wesen der Freimaurerei nicht eingefangen werden, nicht für immer in den Besitz eines einzelnen übergehen. Sein lockend-flatterhaftes Wesen, dessen metamorphotischen Charakter die Erwähnung der Wolfsmilchraupe andeuten soll, verhindert es, daß Falk seiner habhaft wird. Das durch das Frühstück unterbrochene Gespräch wird abends in der intimen Atmosphäre von Falks Schlafzimmer fortgesetzt. Wo die am zweiten Tag geführten Unterredungen stattfinden, ist nicht näher bezeichnet. Vermutlich treffen sich die Freunde in einem Zimmer auf Falks Landgut. An diesem Tag sorgt das Mittagessen für eine wiederum gesellschaftliche Unterbrechung. Am Ende des fünften Gesprächs 40
So Michelsen, Die »wahren Taten«, S. 299, der überhaupt zur Gesprächssituation und zum Ablauf des Dialogs aufschlußreiche Beobachtungen anstellt. 165
ruft der Sonnenuntergang Falk zurück in die Stadt. Das Abendrot des Endes weist zurück auf den morgendlichen Beginn der Gespräche, der Kreis scheint geschlossen; daß das Ende in Wirklichkeit aber ein neuer Anfang ist, daß die Suche nach Wahrheit andauert, beständige Herausforderung ist, zeigt die Bemerkung Emsts: »Eine andre [Sonne, M. V.] gieng mir auf.« (LM 13,410) Das Abendrot der Natur spiegelt sich im Morgenrot menschlicher Erkenntnis. Szenerie, Figurengestaltung und Handlung haben ebenso wie der temperamentvolle Dialog wiederholt zu der Vermutung Anlaß gegeben, es handele sich bei Ernst und Falk um einen philosophischen Dialog von dramatischer Qualität.4' Peter Michelsen ging kürzlich sogar so weit, dramatische Handlungsstrukturen nachweisen zu wollen. Der Schluß von Ernst und Falk sei »der Auflösung eines dramatischen Knotens nicht unähnlich: das Licht, das sich Ernst auftut, fällt auch auf die vorherigen Phasen der Gespräche zurück und vermag das dort bisher dunkel Gebliebene zu erleuchten.« Davon kann jedoch nicht die Rede sein. Michelsen überschätzt das Gewicht des Schlusses, weil er Lessings »Geheimnis« mißversteht. Er glaubt, Falks historische Enthüllungen seien der Schlüssel für die enigmatischen Bestimmungen der Freimaurerei und ihres Geheimnisses. Mit der Erkenntnis, daß die Freimaurerei eigentlich nur das Gespräch unter Freunden meint - ließ sich doch der etymologische Ursprung der Freimaurerei auf >massoney< ( = > Tischgesellschaft) zurückführen! —, könne Ernst nun alle Rätsel der vorangegangenen Unterredungen auflösen. Eine solche Behauptung ist hier nicht im einzelnen zu widerlegen. Sie fallt schon hinter Michelsens eigene subtile Beobachtungen zum Gesprächsverlauf zurück und wird indirekt durch die hier vorgelegte Interpretation der Lessingschen Gespräche in Frage gestellt. Die Grobstruktur der Gespräche jedenfalls läßt es keinesfalls zu, von der Schürzung und Auflösung eines dramatischen Knotens zu sprechen. Die Gesprächsmethode, die als das Geheimnis des Dialogs beschrieben worden ist, kennt keine derartige Abfolge von Verrätselung und abschließender Aufklärung. Aufklärung und Geheimnis sind nicht Gegensätze, nicht getrennt und nacheinander sich vollziehende Schritte, sie bilden eine widerspruchsvolle dialektische Einheit. An keiner Stelle des Gesprächs wird das Geheimnis oder das Wesen der Freimaurerei ausdrücklich >verratenSchlüssel< aufzufinden, der in der Lage 41
Michelsen, Die »wahren Taten«, S. 294.
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wäre, alle Fragen zu beantworten. Die Spannungsbögen brechen nicht wirklich ab. Das »ewige Suchen und nie ganz finden können« (Schlegel) macht jede endgültige Auflösung unmöglich. Zwar werden in Lessings Gesprächen Antworten gegeben, nicht aber >die< Antwort, eine feststehende und unveränderbare Lösung der gestellten Probleme. Wohl kaum ein anderer Text Lessings hat derartige Verständnisschwierigkeiten heraufbeschworen wie die Gespräche für Frejmäurer. Zwar hat sich Lessing nirgendwo sonst so deutlich und unverstellt geäußert zu Fragen von Staat und Gesellschaft, Politik und Geschichte. Nirgendwo sonst aber hat er einen derart hermetischen Rahmen benutzt, so geheimnisvolle Vermittlungsformen gewählt wie in Ernst und Falk. Ohne die Berücksichtigung dieser besonderen Art der Vermittlung, die die Freimaurergespräche zu einem Lehrstück philosophischer Praxis wie praktischer Philosophie werden läßt, ist deren Gehalt nicht auszumachen: die Vermittlung ist selbst wesentlicher Teil dieses Gehalts. ι. 3
Lessings Konzeption der Freimaurerei
Wenn bisher von Freimaurerei die Rede war, so wurde dabei unausgesprochen unterstellt, es handele sich dabei um Lessings Begriff der Freimaurerei. Dieser Begriff entstand aber auf der Grundlage der historischen Freimaurerei, die Lessing aus eigener Erfahrung und aus der umfangreichen freimaurerischen Literatur der Zeit kannte, und er ist im Sinne der reformatorischen Intention der Gespräche auch auf diese zurückbezogen. Die Freimaurergespräche stellen eine erstaunlich treffsichere Abrechnung mit den Mängeln und Gebrechen der Freimaurerei des 18. Jahrhunderts dar. Zugleich aber wird die historische Freimaurerei Lessing zum Gefäß geschichtsphilosophischer Spekulation und einer damit eng verbundenen Projektion politisch-gesellschaftlicher Vorstellungen. 1.3.1 Die historische Realität der Logen Die zeitgenössische Freimaurerei wird insbesondere im ersten und vierten Gespräch thematisiert. Die »schalen Reden und Lieder«, in denen sich die Freimaurer Eigenschaften rühmen, die guten Bürgern und rechtschaffenen Menschen selbstverständlich sind, die »schreienden« Wohltaten waren - wie gezeigt - zentrale Bestandteile der Frei167
maurerei der Zeit. Freundschaft, Gehorsam, Patriotismus und Wohltätigkeit sind dem Wesen der Maurerei jedoch, so Lessing, nur exoterische Hülle, die »Taten ad extra« sollen dem Bund allgemeine Achtung, staatliche Duldung und gesellschaftliche Attraktivität verschaffen, sie sind keineswegs identisch mit seinem Zweck, seinem Geheimnis. 42 Hat es im ersten Gespräch noch den Anschein, Falk wolle der historischen Freimaurerei bedeutendere Zwecke unterschieben, als deren äußerliche Erscheinung erkennen läßt, so verschiebt sich der Ansatzpunkt im vierten Gespräch erheblich. Emsts praktische Erfahrung mit der Loge löst eine fundamentale Kritik der bestehenden Freimaurerei aus. Die vermeintliche Exoterik erweist sich als identisch mit deren Esoterik. Weil die ursprünglichen Zwecke der Freimaurerei verschüttet sind, ist sie sich zum Selbstzweck geworden. Ernst ist - wie Lessing - bis zum Meistergrad gestiegen. Immer wieder wurde er vertröstet auf höhere Grade, zuletzt auf den »Schottischen Meister« der Strikten Observanz. Aber seine Erwartungen haben sich nicht erfüllt und werden sich nicht erfüllen, weil in der zeitgenössischen Freimaurerei - in Hippels Worten - »der Vorhang alles ist.« 4 ' Lessing belegt dies am Beispiel der Strikten Observanz des Braunschweiger Herzogs, die sich zum Ziel gesetzt hat, den Orden der Tempelherren wiederherzustellen. Aber statt »den gehörigen Punkt [zu] bestimmen, in welchem die Tempelherren die Freymäurer ihrer Zeit waren«, sonnen sich die Maurer des 18. Jahrhunderts im Schein vergangener Herrlichkeit, nehmen sie die maurerische Hülle für den Kern. »Erkennen und fühlen sie ihn aber nicht, jenen Punct; hat sie ein bloßer Gleichlaut verführt; . . . haben sie sich nur in das rothe Kreutz auf dem weißen Mantel vergafft; mögen sie nur gern einträgliche Comthureyen, fette Pfründen sich und ihren Freunden zutheilen können; - Nun so schenke uns der Himmel recht viel Mitleid, damit wir uns des Lachens enthalten können.« ( L M 13,395) Falks bittere Kritik legt den Finger auf die Wunden der Freimaurerei in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Der eitle Wunsch nach 42
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Zu diesen »Taten ad extra« wird also explizit die Freundschaft gerechnet, die nach Michelsen, Die »wahren Taten«, S. 3i4ff., die Quintessenz des freimaurerischen Geheimnisses darstellen soll! Zur Behandlung der historischen Realität der Logen vgl. auch Fink, Das moralische Glaubensbekenntnis, S. 5 off. Vgl. oben S. 89. Für die folgenden Bemerkungen ist insgesamt auf die Untersuchungen zur Geschichte und sozialer Funktion der Freimaurerei zu verweisen, auf die hier nicht im einzelnen Bezug genommen werden kann. Vgl. Kapitel 1, II-V.
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Teilhabe am falschen repräsentativen Schein, der von Ritteruniformen und feudalen Titeln ausgeht, die ausgedehnten finanziellen Aktivitäten auf der Grundlage des »ökonomischen Plans« der Strikten Observanz, das verbreitete maurerische Protektionswesen haben mit Lessings Vorstellungen von der Freimaurerei nichts zu tun; sie beschreiben aber präzise große Bereiche ihrer institutionellen Wirklichkeit im Zeitalter der Aufklärung. Die zeitgenössischen freimaurerischen Organisationen verstießen offen gegen Grundgesetze der Freimaurerei, die nicht nur Lessings Projektion entsprachen, sondern schon im Konstitutionenbuch niedergelegt waren. Die Gleichheit der Maurer, die Emsts »ganze Seele mit so unverwarteter Hoffnung erfüllte«, existierte nicht in der Wirklichkeit der Loge. Die sozialen und konfessionellen Schranken wurden in der Freimaurerei nicht nur nicht aufgehoben, sie wurden sogar noch verschärft. Juden, Schuster, Dienstboten, »Leute, . . . die sich die Farbe zu ihrem Rocke nicht selbst wählen«, wurden aus der Loge ausgeschlossen. Lessing charakterisiert treffend die soziale Exklusivität der historischen Freimaurerei, wenn er Ernst die »gute Gesellschaft« der L o g e aufzählen läßt: »Prinzen, Grafen, Herrn von, Officiere, Räthe von allerley Beschlag, Kaufleute, Künstler - alle die schwärmen freilich ohne Unterschied des Standes in der Loge unter einander durch - Aber in der That sind doch alle nur von einem Stande, nämlich von dem, den Langeweile und Bedürfnis sich zu beschäftigen zu einem Stande macht.« ( L M 13,397^·) Das kritische Postulat der maurerischen Gleichheit verkommt zu einer Ideologie der Gleicheren auf Kosten der Ungleichen. Mehr noch. Lessing erkennt die etatistischen Tendenzen der zeitgenössischen Freimaurerei, die sie auf Dauer den gleichen Übeln aussetzte wie den Staat, Übeln, denen sie eigentlich entgegenwirken sollte. Immer häufiger, berichtet Falk, ließen sich freimaurerische Systeme fürstliche Privilegien geben. Die staatliche Protektion verschaffe ihnen Reputation und eine Gewalt, die sie »zu Unterdrückung der Brüder anwenden, die einer andern Observanz sind als der, die man so gern zum Wesen der Sache machen möge.« ( L M 13,398) Nachdenklich fragt er seinen Partner: »Was, denkst du, wird eine solche Verfassung [eine Verquickung von Staat und Freimaurerei, M. V.] für Einfluß auf sie selbst haben? Gerathen sie dadurch nicht offenbar wieder dahin, wovon sie sich losreißen wollten? Werden sie nicht aufhören zu seyn, was sie seyn wollen?« (LM 13,399) Lessing sieht die Freimaurerei — zu Recht in Gefahr, ein >Staat im Staat< zu werden, der den Mängeln des 169
wirklichen Staates in nichts nachsteht. Als etablierte Organisation verliert die Freimaurerei die ihr zugedachte kritische Funktion. Andererseits ist die Organisation die Bedingung ihrer gesellschaftlichen Wirksamkeit. Auf dieses die Gespräche durchziehende Dilemma von Organisation und Programm, das tendenziell in Gefahr steht, zu einem von Utopie und Wirklichkeit zu werden, ist später noch ausführlicher einzugehen. So negativ das von Lessing gezeichnete Bild ist, die historische Freimaurerei bleibt der Ansatzpunkt seiner Vorstellungen einer neuen Freimaurerei, die Wesen und Form miteinander in Einklang zu bringen vermag. Falk söhnt sich aus mit Goldmachern, Geisterbeschwörern und Tempelherren, weil »in allen diesen Träumereyen Streben nach Würklichkeit« erkennbar ist, weil sich »aus allen diesen Irrwegen noch abnehmen läßt, wohin der wahre Weg geht.« (LM 13,393) »Vielleicht«, so heißt es am Ende des vierten Gesprächs, »soll dieses eben der Weg seyn, den die Vorsicht ausersehen, dem ganzen jetzigen Schema der Freymäurerey ein Ende zu machen.« (LM 13,399)
1.3.2 Lessings Freimaurerei zwischen Utopie und Geschichte Die Freimaurerei war immer. Sie ist im Wesen des Menschen und der »bürgerlichen Gesellschaft« gegründet, das heißt sie ist notwendige Bedingung menschlichen und staatlichen Daseins. Wie die Erziehung dem Menschen nichts gibt, »was er nicht auch aus sich selbst haben könnte« (LM 13,416), so ist die Freimaurerei etwas, dessen man sich durch eigenes Nachdenken - mittels der sich selbst überlassenen menschlichen Vernunft - oder durch Anleitung bewußt wird. (LM 13,344) Die Verbreitung der Freimaurerei geschieht nicht durch Worte, sondern durch Thaten, die zugleich ihr Geheimnis ausmachen. »Die wahren Thaten der Freymäurer sind so groß, so weit aussehend, daß ganze Jahrhunderte vergehen können, ehe man sagen kann: das haben sie gethan! Gleichwohl haben sie alles Gute gethan, was noch in der Welt ist,- merke wohl: in der Welt! . . . die wahren Thaten der Freymäurer zielen dahin, um größten Theils alles, was man gemeiniglich gute Thaten zu nennen pflegt, entbehrlich zu machen.« (LM 13,349) Nicht wohltätige Flickschusterei, nicht die Bemäntelung schlechter Verhältnisse ist das Ziel der Freimaurerei; ihr geht es darum, Bedingungen zu schaffen, die gute Taten unnötig machen. Freimaurerei wäre also, folgt man den Bestimmungen des ersten Gesprächs, eine 170
spezifische, in der geselligen Natur des Menschen angelegte Disposition zu sozialem Verhalten und Handeln. Dieses Handeln ist orientiert an einem endzeitlich verorteten Zustand sozialer Sittlichkeit, in dem die Motivation des einzelnen in Einklang steht mit den Interessen der menschlichen Gesellschaft. Der Analyse vorausgreifend, soll schon an dieser Stelle die These formuliert werden, daß die wahren Taten der Freimaurer die Realisation des freimaurerischen Wesens bedeuten, das identisch ist mit der gesellschaftlichen Natur des Menschen. Die Gesellschaftlichkeit des Menschen entfaltet sich im Verlauf der Geschichte; erst mit deren Ende ist ihre vollständige Verwirklichung möglich. In dem Bild des Ameisenstaates sind aber ihre wesentlichen Bestimmungen vorweggenommen. Die Wirklichkeit des Ameisenstaates als einer solidarischen Gesellschaft sich selbst regierender Individuen wird Lessing zur sozialen Utopie der Menschheitsgeschichte. Die Freimaurer haben die gesellschaftliche Qualität der menschlichen Natur erkannt, sie antizipieren sie, soweit die jeweiligen historischen Verhältnisse es zulassen, und mit ihren wahren Taten schaffen sie die Bedingungen für eine zunehmende Entfaltung der Gesellschaftlichkeit des Menschen. Eine wichtige Voraussetzung für die Verwirklichung der menschlichen Natur, für die Einlösung des gesellschaftlichen Ideals, ist die Aufhebung des Staates. Das zweite Gespräch behandelt das Arbeitsfeld der Freimaurer. Hier erweist sich Lessing als ein radikaler Kritiker aller Staatlichkeit. Seine Vorstellungen sind weit entfernt von dem so einflußreichen etatistischen Modell der deutschen Aufklärung, das noch die wichtigsten Staatsromane des 18. Jahrhunderts beherrschte. 44 Kein Wort von den Idealen der Prinzenerziehung, von aufgeklärten Despoten ist nicht die Rede. Z w a r teilte Lessing mit der aufklärerischen Staatstheorie die Gedanken der Mittelhaftigkeit des Staates und seiner Bindung an die Glückseligkeit der einzelnen Untertanen. 45 In der historischen Realität gerade der dem Aufgeklärten Absolutismus verpflichteten Staaten bestand jedoch die Gefahr, daß Mittel und Zweck vertauscht wurden, daß der absolutistische Staat mit Hilfe einer omnipotenten Bürokratie die noch traditionell definierten Freiheitsrechte der Bürger zu Gunsten einer sich selbst zum Zweck werdenden Staatlichkeit radikal einschränkte. Tiefes Mißtrauen gegen jede Form von Staatlichkeit und 44
45
Vgl. dazu Naumann, Politik und Moral, S. 3 2 5 ff., Fink, Das moralische Glaubensbekenntnis, S. 37-50. Vgl. dazu Naumann, Politik und Moral, Kapitel 1-5.
17 1
Bürokratie, ja gegen jede Form institutioneller Verfestigung gesellschaftlicher Beziehungen kennzeichnet die Freimaurergespräche. Der Staat ist ein von Menschen erfundenes notwendiges Mittel, die Glückseligkeit jedes einzelnen seiner Mitglieder zu befördern und zu garantieren. Jede andere Definition, mit der das Leiden auch nur weniger Glieder des Staates einhergeht, »ist Bemäntelung der Tyranney. Anders nichts!« (LM 13,352) Als menschliche Erfindung - Lessing schließt ausdrücklich göttliche oder >natürliche< Legitimationen des Staates aus - ist der Staat weder unfehlbar noch unantastbar. Im Gegenteil, er bringt notwendig Übel hervor, denen entgegenzuarbeiten eine Aufgabe der Freimaurerei ist. Auch aus der besten Staatsverfassung, lehrt Falk, müssen Dinge entspringen, »welche der menschlichen Glückseligkeit höchst nachtheilig sind, und wovon der Mensch in dem Stande der Natur schlechterdings nichts gewußt hätte.« (LM 13,354) A m Beispiel des Nationalinteresses, der positiven Religionen und der sozialen Stände zeigt er, »daß das Mittel, welches die Menschen vereiniget, um sie durch diese Vereinigung ihres Glückes zu versichern, die Menschen zugleich trennet.« ( L M 13,356) Staaten, Religionen und Stände verursachen notwendig »jene Trennungen, wodurch die Menschen einander so fremd werden.« ( L M 13,361) Nicht »bloße Menschen«, »Menschen im Stande der Natur« begegnen einander, sondern »solche Menschen«, das heißt Deutsche und Franzosen, Christen und Juden, Vornehme und Geringe. Die staatlich bedingte Vergesellschaftung bringt unvermeidlich die Entfremdung der Menschen untereinander und von sich selbst mit sich. Die im ersten Gespräch begonnene Wesensbestimmung der Freimaurerei wird in der letzten Unterredung der beiden Freunde vorangetrieben. »Ihrem Wesen nach«, heißt es dort, »ist die Freymäurerey eben so alt, als die bürgerliche Gesellschaft. Beide konnten nicht anders als miteinander entstehen - Wenn nicht gar die bürgerliche Gesellschaft nur ein Sprößling der Freymäurerey ist. Denn die Flamme im Brennpuncte ist auch Ausfluß der Sonne.« ( L M 13,4οι) 4 6 Staat und Freimau46
Zum Begriff »bürgerliche Gesellschaft« vgl. Wierlacher, Alois, Zum Gebrauch der Begriffe »Bürger« und »bürgerlich« bei Lessing, in: Neophilologus 51, 1967, S. 147-156, Riedel, Manfred, Studien zu Hegels Rechtsphilosophie, Frankfurt/M. 1969, S. 135-166, und den Artikel »Bürger« in Geschichtliche Grundhegriffe, Bd. 1, S. 672-725. - Bei Lessing ist der Gebrauch von »bürgerliche Gesellschaft« und »Staat« (»societas civilis«) nahezu identisch. Dies wird bezeichnenderweise in den Interpretationen der Freimaurergespräche bei Habermas, Strukturwandel, S. 51, und Koselleck, Kritik, S. 68ff., bes. S. 5 7, übersehen. Beide verstehen »bürgerlich« als
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rerei stehen in enger gegenseitiger Verflechtung. Die gesellschaftliche Natur des Menschen benötigt zu ihrer vollen Entfaltung notwendig überindividuelle Institutionen wie den Staat. Insofern kann der Staat durchaus als Sprößling der Freimaurerei bezeichnet werden. Eine vollständige Verwirklichung der dem Menschen von Natur, Geschichte und Vorsehung aufgegebenen gesellschaftlichen Humanität aber wird von eben diesem Staat - so unverzichtbar er für ihre Ausbildung auch ist - unmöglich gemacht. Wiederum wirft ein Vergleich mit der Erziehung des Menschengeschlechts Licht auf die Argumentation der Freimaurergespräche. Dort werden die Offenbarung und die Elementarbücher des Christentums (das Alte und das Neue Testament) als angemessene didaktische Mittel in einer bestimmten Phase der Menschheitsgeschichte gerechtfertigt. Selbst Widersprüche und die Vermischung falscher und richtiger Lehren tun der positiven Wirkung der Elementarbücher keinen Abbruch. (§63) Sie fördern im Gegenteil die Tätigkeit der kritischen Vernunft und der Spekulation, die notwendige Voraussetzungen für den Eintritt des dritten Weltalters sind. Ganz ähnlich heißt es in Ernst und Falk. »Wenn die bürgerliche Gesellschaft auch nur das Gute hätte, daß allein in ihr die menschliche Vernunft angebauet werden kann: ich würde sie auch bei weit größern Übeln noch segnen.« (LM 13,359) Eine >List der Erziehung< sorgt dafür, daß wie durch die Offenbarung die Vernunft durch den Staat selbst die Voraussetzungen seiner Überwindung befördert werden. Denn die Aufhebung des Staates steht am Ende der Geschichte wie das Reich sozialer Sittlichkeit und Vernunft: das eine ist die notwendige Bedingung des anderen. Die im Verlauf der Geschichte sich entfaltende Vollkommenheit des einzelnen und der Menschheit insgesamt erübrigt den Menschen den Staat. Wo die Gesellschaftlichkeit des Menschen und seine Vernunft ganz entwickelt sind, da weiß, wie bei den Ameisen, »jedes einzelne sich selbst zu regieren.« ( L M ^»îîO Lessings Argumentation geht bezeichnenderweise aus von einem Dualismus von Staat und Individuum, in dem die Kategorie der >Gesellschaft< noch nicht existent ist. »Bürgerliche Gesellschaft« meint hier noch ganz deutlich >societas civilisUtopie der Erkenntnismasonryδ
17
Zeugnisse zur Rezeption von Ernst und Falk bei Contiades, Ernst und Falk, S. 13off. Wenig überzeugend ist die Behauptung von Werner, Freimaurerei, S. 143 und 148, Lessings Gespräche hätten die Grundlage für die freimaurerische Reform am Ende des 18. Jahrhunderts abgegeben. - Eine eingehende Untersuchung der Wirkungsgeschichte der Freimaurergespräche, die auch etwaigen Zusammenhängen mit dem Programm der Uluminaten nachgeht, steht noch aus.
Lachmann ¡ Muncker, Bd. 18, S. 270.
'8 LachmannjMuncker, Bd. 16, S. 293-301. 186
merei Einhalt zu tun ist: so tut der Philosoph gegen die Schwärmerei gar nichts.« ( L M 16,299) Allerdings sind die Schwärmer auch von Bedeutung für den Philosophen. Der »Enthusiasmus der Darstellung« ist dem Philosophen eine Quelle von Beobachtung und Vergnügen, der »Enthusiasmus der Spekulation« »eine so reiche Fundgrube neuer Ideen, eine so lustige Spitze für weitere Aussichten.« (ebd.) Ironisch nimmt Lessing hier das Bild des Hügels aus der Erziehung des Menschengeschlechts vorweg, wenn er hinzufügt, der Philosoph würde die Spitze des Berges so gerne besteigen, verhinderte nicht so oft das Wetter eine klare Sicht. Immerhin sieht der Philosoph unter den Schwärmern »so manchen tapfern Mann, der für die Rechte der Menschheit schwärmt, und mit dem er, wenn Zeit und Umstände ihn aufforderten, ebensogern schwärmen, als zwischen seinen vier Mauern Ideen analysieren würde.« (299^) In Ernst und Falk und in der Erziehung des Menschengeschlechts hat Lessing sich weit vorgewagt unter die »Schwärmer«, aber er hat dabei den »Philosophen« nicht vergessen. Philosophischer Enthusiast oder enthusiastischer Philosoph: der Verfasser der Freimaurergespräche bemühte sich, beide Rollen fruchtbar miteinander zu verbinden. Die Vermittlung von gesellschaftlichem Ideal und historisch-politischer Wirklichkeit gelang nur im Rahmen einer Geschichtsphilosophie, die die Frage einer konkreten politisch-gesellschaftlichen Veränderung stellte, ohne sie zu beantworten. Lessing wußte um die potentielle politische Gefährlichkeit seiner Geschichtskonstruktion, aber er unterließ es, die praktisch-politischen Konsequenzen aus ihr zu ziehen. Als Schwärmer war er zu sehr Philosoph, um an die Selbstverwirklichung seiner gesellschaftlichen Ideale im Rahmen der notwendigen Entwicklung des Menschengeschlechts zu glauben; als Philosoph zu sehr Schwärmer, um deswegen auf sie Verzicht zu leisten. Beide aber, Philosoph und Schwärmer, entbehrten die Fähigkeit, Organisationsformen und Strategien einer philosophischen Praxis zu entwerfen, die geeignet waren, den utopischen Ideen zur Wirklichkeit zu verhelfen. Wie in Deutschland überhaupt die Kritik der bürgerlichen Gesellschaft ein hohes Niveau erreichte, bevor noch eine solche Gesellschaft in nennenswertem Umfang sich ausgebildet hatte, so scheint in Lessings Ernst und Falk eine Kritik politischer Praxis formuliert zu sein, zu einer Zeit, w o von einer effektiven politischen Aktivität bürgerlicher Gruppen nicht die Rede sein konnte. Wie viele von 187
Lessings dramatischen Werken - von den Juden bis zur Minna von Barnhelm (von den Fragmenten Samuel Hen?J und Spartacus ganz zu schweigen!) - einen offenen Schluß aufweisen, so kann auch bei den Freimaurergesprächen von einer appellativen Offenheit gesprochen werden. Der Widerspruch zwischen dem utopisch verankerten Ideal einer solidarischen Gesellschaft sich selbst regierender Individuen und der kritischen Erkenntnis der sozialen und politischen Realität des Spätabsolutismus wird nicht praktisch aufgehoben. Eine neue Form der Freimaurerei, entwickelt auf der Grundlage der herrschenden Verhältnisse, aber orientiert an den Zielen einer utopischen Geschichtsphilosophie, eine überzeugende Praxis politisch-gesellschaftlicher Veränderung, sie kommt nicht in Sicht. Wie sonst die ästhetische Vermittlung, so sorgt hier die Methode des Dialogs, die Verpflichtung zu permanenter Aufklärung, dafür, daß dieser Widerspruch seine fordernde Aktualität nicht verliert. 2.
Herders Auseinandersetzung mit der Freimaurerei
2.1
Auf den Spuren Lessings
Herder wurde 1766, im dritten Jahr seines Rigaer Aufenthalts, Mitglied der dortigen Loge der Strikten Observanz »Zum Nordstern«. 1 Die Gründe für den Eintritt in die Freimaurerei liegen im Dunkeln; in Herders Briefen aus dieser Zeit finden sich nur spärlich Anzeichen für sein freimaurerisches Engagement. 2 Vermutlich versuchte der Lehrer und Prediger Herder, die Loge als gesellschaftliche Plattform - ihr gehörten u. a. der Stadtpräsident von Riga, derBürgermeister, der 1
2
Vgl. dazu insgesamt Haym, Rudolf, Herder nach seinem Leben und seinen Werken, 2 Bde., Berlin 1880/88, hier Bd. i, S. iojf., Müller, Untersuchungen, S. 5off., Keller, Ludwig, Johann Gottfried Herderund die Kultgesellschaften des Humanismus. Ein Beitrag zur Geschichte des Maurerbundes, Berlin 1904, und [Wiehe, Karl], Das Schrödersche Ritual und Herders Einfluß auf seine Gestaltung, Hamburg 1904, S. yff. Die Absicht, in die Loge einzutreten, wird zuerst erkennbar in einem Brief an Hamann von Mitte Mai 1766, in dem Herder davon spricht, daß er Leibniz nachahmen wolle, der in eine Gesellschaft von Chymikern eintrat. Ein Brief an Scheffner vom 21.6.1766 verwendet erstmals das Logenzeichen (1 1). Diese Anspielung wird von Scheffner so interpretiert, daß er in seinem Antwortbrief vom 16.8.1766 Herder als Bruder anredet. Dieser ist der Freimaurerei also vermutlich im Mai/Juni 1766 beigetreten. Zu den beiden ersten Briefen vgl. Herder, Johann Gottfried, Briefe. Gesamtausgabe 1761-1803, Bd. ι Weimar 1977, Nr. 22 und 23. Scheffners Brief wird zitiert in Keller, Herder, S. 26.
188
Schulrektor und Herders späterer Freund und Verleger Friedrich Hartknoch an3 - sowie als Instrument seiner ausgreifenden pädagogischen Pläne zu nutzen. Caroline Herder berichtet in ihren Erinnerungen, ihr Mann habe in Riga das Amt des Logensekretärs bekleidet. Aufzeichnungen in Herders damaligen Studienheften legen nahe, daß er auch das Amt des Bruder Redners ausübte.4 Beide Tätigkeiten verdeutlichen die soziale Funktion der Loge in einer Stadt wie Riga. Sie gab Außenseitern der Gesellschaft eine Möglichkeit zu öffentlicher Wirksamkeit und erleichterte einen Eintritt in die Honoratiorenschicht. Das Amt des Redners war zusätzlich eine wichtige Quelle sozialer Reputation für die kleinbürgerliche Intelligenz, der Herder entstammte.5 Wie lange Herder die Loge besuchte, ist nicht bekannt. Wahrscheinlich stellte er seine freimaurerische Tätigkeit schon ein, bevor er 1769 Riga endgültig verließ. 1800 versicherte er Friedrich Ludwig Schröder brieflich, er habe seit seinem 2 3. Lebensjahr, das wäre seit 1767, keiner Loge beigewohnt, 1803 fügt er dem hinzu, daß er nur zwei Grade der Maurerei erworben habe.6 Beides verweist darauf, daß sein persönliches Engagement in der Freimaurerei nur von kurzer Dauer war. Die kritische Abrechnung mit der Enge und Beschränktheit des Rigaer Daseins im Journal einer Reise im Jahre 1769 wird auch die Loge als Versammlungsort der lokalen Prominenz nicht ausgenommen haben. Noch 1779 betonte er Lessing gegenüber, daß er »leider« ein Mitglied der Freimaurerei wäre.7 Lessings Ernst und Falk ließ Herders Interesse an der Freimaurerei ein weiteres Mal aufleben.8 1779/80 bemühte er sich gemeinsam mit Hamann um die »Fortsetzung« von Lessings Freimaurergesprächen. Wenn auch seine direkte Reaktion nur wenig über die Aufnahme der 5 4
'
6
7 8
Dazu Keller, Herder, S. 26. Erinnerungen aus dem Leben Job. Gottfried von Herders. Gesammelt und beschrieben von Maria Caroline v. Herder, geb. Flachsland, hg. von Johann Georg Müller, 3 Theile, Stuttgart und Tübingen 1830, Theil i, S. 102. Zu den Aufzeichnungen Herders vgl. Haym, Herder, Bd. 1, S. 106. Vgl. dazu oben S. cjoff. Der Brief vom 28.11.1800 ist abgedruckt bei Wiehe, Das Schrödersche Ritual, S. 63 f., der Brief vom 10.5.1803 bei Regine Otto, Herders Briefe in einem Band, Berlin und Weimar 1970, S. j86ff. Herder, Briefe. Gesamtausgabe, Bd. 4, S. 94 (Nr. 76). Lediglich am 25.10.1775 bezeugt Herder sein privates Interesse an der Rigaer Loge, wenn er an Hartknoch schreibt: »Sic transit - u. Euer ganzes sic transit izzi stirbt wohl mit ihm«. Die Stelle bezieht sich auf den Tod des Freimaurers Zuckerbecker. In: Herder, Briefe. Gesamtausgabe, Bd. 3, S. 225 (Nr. 201). 189
Gespräche verrät - »Vor der Hand aber kann ich nichts als danken. Ich weiß von der ganzen Sache zu wenig.« - , so enthält doch Herders Werk wiederholt Anspielungen auf Ernst und Falk, und 1793, in der zweiten Sammlung der Humanitätsbriefe, verfaßte Herder sogar eine eigene Fortsetzung zu den Gesprächen. Bis heute ist nicht endgültig geklärt, ob Herder 1783 auf Betreiben Bodes Mitglied der Illuminaten geworden ist.9 Zwar haben Ott und der wohl beste Kenner der Illuminatengeschichte, René Le Forestier, unter Bezug auf einen Revers, der sich in dem heute verschollenen Archiv der Gothaer Loge befand, eine solche Mitgliedschaft behauptet. Danach wäre Herder nach Goethe, Fritsch, Musäus u. a. im Juli 1783 in den Bund aufgenommen worden. In der Korrespondenz und im Werk Herders findet sich jedoch dafür keine Bestätigung; im Gegenteil, wiederholte Beteuerungen der Unabhängigkeit von allen geheimen Verbindungen stehen zu einer solchen Bindung im Widerspruch. Es sei denn, man liest die scharfe Absage an alle geheimen Gesellschaften vom Januar 1786 als Ausdruck persönlich erfahrener Enttäuschung bei den Illuminaten. »Ich hasse alle geheime Gesellschaften auf den Tod und wünsche sie nach den Erfahrungen, die ich aus und in ihrem Innersten gemacht habe, zum Τ - ; denn der schleichende Herrsch-, Betrug- und Kabalengeist ist's, der hinter ihrer Decke kriechet.«10 Schon 1782 hatte Herder das erste Mal öffentlich in den Streit um die Freimaurerei eingegriffen. In Wielands Teutschem Merkur attackierte er Friedrich Nicolais Versuch über die Beschuldigungen, welche dem Tempelherrenorden gemacht worden, der im gleichen Jahr erschienen war. 11 Nicolai hatte nachzuweisen versucht, daß die Anklagen gegen den mittelalterlichen Ritterorden, die der französische König und die Kirche erhoben 9
Arthur Ott, Goethe und der Illuminaten=Orden, in: Stunden mit Goethe, hg. von Wilhelm Bode, Bd. 6, 1910, S. 85-91, behauptet, Herders Illuminatenrevers habe sich im Gothaer Logenarchiv befunden; ähnlich: he Forestier, Les Illuminés, S. 396. Dülmen, Der Geheimbund der Illuminaten, S. 66 und 73, bezweifelt Herders Mitgliedschaft aus nicht ersichtlichen Gründen. 10 Herders Briefe, eingeleitet, ausgewählt und erläutert von Wilhelm Dobbek, Weimar 1959, S. 265f. Ob Herder Mitglied der Illuminaten war oder nicht, ist im Grunde nicht von allzu großer Bedeutung, da nicht davon auszugehen ist, daß dem Eintritt die Mitteilung der eigentlichen Ordensziele vorausging. Die Minervalkirche in Weimar arbeitete zudem nur für kurze Zeit. " Herders Sämmtliche Werke, hg. von Bernhard Suphan, Berlin 1877-1913, Bd. 15, S. 5 7ff., 82ÍF. Im folgenden im Text zitiert mit SW. Z u Nicolais Schrift über die Tempelherren vgl. oben S. 152, I77f. Zum Streit mit Herder siehe Möller, Aufklärung, S. 394fr., 439fr., Haym, Herder, Bd. 2, S. 157fr. und Keller, Herder, S. 74fr.
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hatten, zum großen Teil berechtigt waren. Er hatte zugleich in einem Anhang »Ueber die Entstehung der Freymaurergesellschaft« Lessings Thesen über den Zusammenhang von Freimaurerei und Tempelherren zurückgewiesen und seinerseits die Rosenkreuzer als vermutliche Vorfahren der Maurerei bezeichnet. Herder verteidigte leidenschaftlich die Tempelherren, ohne Nicolai in der Sache widerlegen zu können. 12 In seiner überzogenen Polemik bemühte er sich zugleich um Verständnis für Lessings Hypothese, konnte jedoch dessen etymologischer Spekulation nicht folgen. Der mit viel Verve ausgetragene gelehrte Streit endete mit einer deutlichen öffentlichen Niederlage Herders. 1 ' 2. ι. ι Glaukon
und Nicias
(1783)
Herder blieb ein aufmerksamer Beobachter der geheimen Gesellschaften seiner Zeit. Wahrscheinlich war er über J . J . Chr. Bode recht genau über die Vorgänge innerhalb der Freimaurerei informiert. 14 1781, ein Jahr vor dem Wilhelmsbader Konvent, schrieb er an Hamann: »Der FreiMaurerOrden geht mit einer großen Zusammenkunft schwanger, woraus der Hohepriester ihres Nichts, der Herzog Ferdinand, die ganze Welt durch die Frage zubereitet: >welches der wahre Zweck des FreiMaurerOrdens sey?< Alles, was Kopf haben will, arbeitet drauf; u. die Möglichkeit u. Existenz der Frage selbst zeigt, was an den Antworten seyn werde.«'5 Herder zeigte sich in diesem Jahr als entschiedener Gegner aller Aufklärung im Geheimen. Mit Sorge registrierte er das Eindringen obskurantistischer Kräfte in das von ihm erkannte Vakuum der freimaurerischen Bestimmung. In diesem Zusammenhang entstand 1783 sein nach dem Vorbild von Lessings Ernst und Falk gestalteter Dialog Glaukon und Nicias.16 Glaukon und sein 12
Vgl. dazu oben S. 32, 37fr. sowie Suphan, Bd. 5, S. 6z6(. '' Herder ging es vermutlich nicht nur um die Sache der Tempelherren und Freimaurer, sondern auch um die Verteidigung der Lessingschen Gespräche und besonders um die Begleichung einer alten Rechnung mit dem früheren Freund Nicolai, der Herders Schrift Die Alteste Urkunde des Menschengeschlechts in einer Rezension verrissen hatte. - Dazu Haym, Herder, Bd. 2, S. 157, Herder, Briefe. Gesamtausgabe, Bd. 4, Nr. 212 und 221. 14 So Caroline Herder, in: Erinnerungen, Theil 1, S. 102. 15 Herder, Briefe. Gesamtausgabe, Bd. 4, S. 178 (Nr. 171). '6 Suphan, Bd. 15, S. 165-178. Zur Datierung vgl. ebd., S. 628. Suphan zitiert dort Herders Brief an Heyne vom 13.6.1786: »Seit drei Jahren gehe ich mit einigen Gesprächen oder einer Abhandlung ü. geh. Gesellschaften, geh. Wissenschaften und Symbole schwanger; das Ferment ist aber noch nicht reif, und da ich lauter Belege und Fakten anbringen will, so fürchte ich zu viel kleinfügige Mühe und zu viel 191
erfahrener älterer Freund Nicias unterhalten sich gelegentlich der gerade stattfindenden Aufnahme des jungen Adymant in die Freimaurerei über Sinn und Unsinn dieser und anderer geheimen Gesellschaften. In einem zweiten Gespräch, das am nächsten Morgen spielt, berichtet der desillusionierte Adymant dem väterlichen Nicias über seine freimaurerischen Erfahrungen. Nicht im entferntesten erreicht Herders Gespräch sein vermeintliches Vorbild Ernst und Falk. Szene und Dialog, Figurenzeichnung und Handlung, die hier nicht im einzelnen dargestellt werden können' 7 , zeigen deutlich, daß die literarische Vermittlung Herders Anliegen im Grunde äußerlich blieb. Sie war nicht - wie bei Lessing wesentlicher Teil der Aussage selbst, sondern eine - überflüssige Einkleidung einer Botschaft, die sich auch der Form der Abhandlung hätte bedienen können. Die Auseinandersetzung mit dem Problem geheimer Gesellschaften ist in diesem Dialog oberflächlich, sie überschreitet nicht den Rahmen der verbreiteten zeitgenössischen Urteile und Vorurteile. Herder wird sein Gegenstand nicht Gefäß kritischutopischer Projektionen, eigene Pläne und Hoffnungen formuliert er wie zu zeigen sein wird - außerhalb des freimaurerischen Zusammenhangs. Wie er in der Kritik des Phänomens hinter seinem Vorbild Lessing zurückbleibt, so auch in der Erkenntnis seiner potentiell politischen Funktion. Eine kurze Zusammenfassung des Gesprächsinhalts mag hier genügen. Herder spricht sich ausdrücklich gegen das Arkanmodell der Aufklärung aus. Geheime Wissenschaften, eine geheime Religion, Philosophie oder Moral sind für Herder Widersprüche in sich. Minister, Pfaffen und schöne Frauen, meint Nicias, mögen eine geheime Moral haben oder doch benötigen, für die Menschheit im Zeitalter ihrer Aufklärung schicke sie sich nicht. »Allenthalben geht die Wissenschaft jetzt darauf hinaus, daß man Gesetze in der Natur anerkenne und sie auffinde; je allgemeiner diese Gesetze anerkannt werden, desto reiner,
17
mächtige Feinde.« Nimmt man als Entstehungsdatum 1783 an, so ergäbe sich zumindest ein zeitlicher Zusammenhang zwischen der Schrift, die übrigens zu Lebzeiten Herders nie veröffentlicht wurde, und dem möglichen Eintritt in den Illuminatenbund. Bezeichnenderweise hatte Herder selbst zwischen einer Abhandlung und der Gesprächsform geschwankt. (Vgl. Anm. 16) Die Figuren des Dialogs verbreiten längst erkannte Wahrheiten; eine mangelnde Profilierung verhindert gemeinsam mit der penetranten Szenerie jede Dialogspannung. Der >plot< der Gespräche erinnert ebenso wie das rührselige Ende eher an eine moralische Erzählung.
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aber auch allgemeiner wird die Moral, die für Menschen daraus folget. Sie liegt in der Natur des Menschen und hanget von keiner Willkühr ab; geschweige v o m willkührlichen Institut einer geheimen Gesellschaft.« (SW 15,170) Daß Lessing das Wesen der Freimaurerei gerade mit der Natur des Menschen eng verbunden hatte, das wollte oder konnte Herder nicht erkennen. E r sieht nur die Äußerlichkeiten des gegenwärtigen >Schemas< der Maurerei. Wo das Geheimnis herrscht, da ist blinder Gehorsam für unsichtbare Obere nicht fern, da wird der Mensch zur willenlosen Maschine, zum Werkzeug in der Hand unbekannter Zwecke degradiert. »Kein Fürst, dünkt mich, müßte eine Gesellschaft dulden, in welcher dieser Name [geheime Moral, M. V.] nur gehört würde; denn der Name selbst schmähet die Vernunft und die unmittelbarsten, völlig unveräußerlichen Rechte der Menschheit; ja er untergräbt die Sicherheit seines Staates.« (SW 15,169) Als besonders markantes Beispiel für die von den geheimen Gesellschaften ausgehenden Gefahren betrachtet Herder das Buch des Marquis de Saint Martin Des erreurs et de la vérité, das einige Jahre zuvor von Matthias Claudius ins Deutsche übersetzt worden war. 1 8 »Es war eine Lockpfeife. Eine Reihe von Jahren schlich es im Finstern umher, verwirrete K ö p f e verwirrete es noch mehr und stiftete Glauben im Dunkeln.« (SW 1 5 , 1 7 3 ) Herder beklagt, daß die ehrbaren Mitglieder des Freimaurerbundes nicht öffentlich die Ziele ihrer Gesellschaft verteidigen gegen die vielfältigen obskuren Interpretationen und Vereinnahmungen, denen sie ausgesetzt seien.' 9 Die Freundschaft schließlich, die Adymant in den Reihen der Freimaurer suchte - »Thrasymachus sprach mir so viel von einer verborgnen Brudergesellschaft großer, guter, edler, erlesener Seelen . . .« - , findet sich, so Nicias, viel eher außerhalb der »Quartalbesuche einer gemischten Gesellschaft«, in der »bei Manchem, Manchem der Bruderkuß und die Bruder-Umarmung schwer ward.« (SW 1 5 , 1 6 9 , 1 7 6 , 178) Geheime Gesellschaften, so könnte man das Ergebnis des Gesprächs zusammenfassen, haben im Zeitalter der Aufklärung keine Existenzberechtigung. Ihre Ziele sind heillos verworren, ihre Methode, das Ge-
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Z u diesem Buch vgl. Lennhoff\Posner, Sp. 999Í- Herder erwähnte Saint Martin auch in dem Brief an Hamann von März/Mai 1781, vgl. Anm. 15. Die Forderung nach öffentlicher und historisch-kritischer Untersuchung des Ursprungs und der Bestimmung der Freimaurerei ist ein Grundzug von Herders Auseinandersetzung mit diesem Problem. Noch die Mitarbeit an der Reform Schröders 1800-1803 basiert zum großen Teil auf diesem Postulat. Vgl. unten S. î o j f f .
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heimnis, ist anachronistisch und steht im Widerspruch zum Selbstverständnis der Aufklärung. Statt Gutes zu wirken, ermöglichen sie unter dem Deckmantel des Geheimen eine Restauration mystischer und obskurantistischer Tendenzen. Bei einer so dezidierten Absage an die geheimen Gesellschaften stellt sich die Frage, was überhaupt Herders Interesse an Lessings Freimaurergesprächen hervorrief und was ihn in späteren Jahren dazu bewog, den Dialog fortzusetzen. 20 Um diese Frage zu beantworten, soll zunächst ein Blick auf die >heimlichen Fortsetzungen von Ernst und Falk geworfen werden. Das heißt, es soll die Wiederaufnahme und Weiterführung von Gedanken aus Lessings Freimaurergesprächen in Schriften Herders verfolgt werden, die bezeichnenderweise nicht von der Freimaurerei handeln. 2.1.2 Die >heimlichen Fortsetzungen von Ernst und Falk Herder hat den engen Zusammenhang der beiden philosophischen Spätschriften Lessings, der Erziehung des Menschengeschlechts und der Gesprächefür Frejmäurer, erkannt. E r begriff die Erziehung des Menschengeschlechts nicht nur als Rahmen für die Entfaltung religiös-moralischer Reife des Menschen, sondern auch für die Entstehung einer solidarischen Gesellschaft der Menschheit. Das Reich der Vernunft war von Lessing zugleich als ein - mit Herders Worten - »Reich der Humanität« gedacht. Die Ideen %ur Philosophie der Geschichte der Menschheit lassen sich in Teilen als aufschlußreiche Interpretation und entscheidende Weiterentwicklung der Lessingschen Spätschriften verstehen. Herder gelangte durchaus zu einem angemessenen Verständnis der Freimaurergespräche. Nur abstrahierte er von dem freimaurerischen Rahmen, in dem Lessing seine Gedanken nicht grundlos artikuliert hatte. E r war nicht bereit, Projektionen politischer, gesellschaftlicher oder geschichtsphilosophischer Art in Verbindung zu bringen mit einer Institution, der er Positives nicht abgewinnen konnte. E r beschränkte sich auf den >Philosophen< Lessing und ignorierte den >Politiker< und >Schwärmer(. Siehe auch Schröders Briefe vom 2.1., 20.1. und 24.4.1804, ebd., S. 276-278. ' 6 Dazu Suphan, Bd. 24, S. 597f.
217
Fortsetzung der gedruckten Gespräche unterblieb, obwohl das Material dafür fertig vorlag und nur eine geringfügige Überarbeitung erfordert hätte. Die Gründe für einen Verzicht auf die Fortsetzung sind nicht bekannt. Es muß dahingestellt bleiben, ob Schröders Einwände, eine allgemeine Abwendung von der Freimaurerei oder seine angegriffene Gesundheit Herder bewogen haben, auf die Fortsetzung zu verzichten. Wie schon bei
so ist auch der Dialog in den Adrastea-Gesprädrien mühsam und schleppend, dem Anliegen Herders weitgehend äußerlich.'7 Der Brief an Schröder vom io. Mai 1803 ließ erkennen, daß Herder die polyperspektivische Form des Dialogs wählte, um dem Gesagten seine Verbindlichkeit zu nehmen, das heißt, um der maurerischen Geheimhaltungspflicht Genüge zu tun. Dem historischen Interesse und der Qualität des zugrundegelegten Materials wäre die Form der gelehrten Abhandlung angemessener gewesen. Die Ergebnisse des Aufsatzes vom Dezember 1800 gingen - geringfügig verändert und ergänzt - in die Gespräche ein. Die Figuren, Horst, Faust und Linda - später sollte noch ein Hugo auftreten, der einzige Freimaurer unter den Gesprächspartnern - , haben die Aufgabe, das vorhandene Material auszubreiten und kritisch zu kommentieren. Ihre Positionen unterscheiden sich nicht grundsätzlich voneinander, so daß eine Dialogspannung schon von der Figurenkonstellation her eher behindert als befördert wird. Besonders in den historisch ausgerichteten Teilen der Gespräche tritt der Charakter des Dialogs vor den Erfordernissen gelehrter Argumentation zurück: Horst und Faust lesen seitenweise aus Büchern über die Freimaurerei oder aus wissenschaftlichen Abhandlungen vor. Einzig die Figur Lindas, als Frau vom Geheimnis der Maurerei ausgeschlossen, sorgt für eine gelegentliche Auflockerung des trockenen Disputs. Sie schwärmt von den humanitären Zwecken der Freimaurerei, singt Lieder zur Aeolsharfe, die die Leiden der Welt - das heißt das Arbeitsfeld der Freimaurer — beklagen, und sie erzählt sogar, den prosaischen Inhalt der Gespräche überhöhend, das Märchen vom Vogel Phönix, dem »verborgenen Schutzgeist der Menschen«, einem Sinnbild für das Wesen der Herderschen Freimaurerei. Glaukon
und Nicias,
" Nur allzu sehr trifft zu, wenn der »Herausgeber« über die Gespräche sagt, daß sie »keine Ansprüche auf Leßings dialogische Grazie« zu machen scheinen. Suphan, Bd. 24, S. 127.
218
Die Gespräche, die angeblich dem Herausgeber der Adrastea nur »zugekommen« sind - die Herausgeberfiktion unterstreicht ein weiteres Mal Herders Bemühen um eine Relativierung der freimaurerischen Inhalte! - , beanspruchen, eine zweite »fama fraternitatis« zu sein. Sie wollen Aufschluß geben »ueber den Zweck der Freimäurerei, wie sie von außen erscheint«. (SW 24,127)'' Schon in der ersten Unterredung wird die Notwendigkeit einer öffentlichen Untersuchung der Geschichte der Maurerei hervorgehoben. Die legendenhafte Darstellung des Konstitutionenbuchs habe durch ihre geheimnisvolle Unbestimmtheit der maurerischen Sache schweren Schaden zugefügt. Es sei an der Zeit, die wahre Geschichte des Bundes offenzulegen. »Wären, wie die Sage geht, die Freimäurer denn auch zuerst wirkliche Mäurer gewesen, was schadete es ihnen ?« (SW 24,130) Das Gespräch wendet sich zunächst dem gegenwärtigen Zweck der Freimaurerei zu, der weniger von der Geschichte der Institution abhängt, als von den Bedürfnissen der Zeit. Oberflächlich auf Lessing anspielend, werden »rein-menschliche Bemühungen und Pflichten« als charakteristisch für die Maurerei betrachtet. Es sind besonders Faust und Linda, die enthusiastisch Sinn und Zweck der Freimaurerei im 19. Jahrhundert verkünden. Die Maurer arbeiten am »Bau der Menschheit. . . Alle Anliegen der Menschheit können, dürfen sich an dies unsichtbare Institut wenden; es denkt, es sorgt für sie . . . Aus einer Wolke gleichsam kam die helfende Hand, und zog, ehe man sie gewahr ward, sich wieder zurück in die Wolke.« (SW 24,131) Lindas zuweilen ins Rührselig-Sentimentale abgleitenden Bestimmungen, die die Freimaurerei als eine Art >Kummerkasten der Humanität^ als die >gute Fee< der Notleidenden und Bedrückten erscheinen lassen, wird im Gespräch nicht widersprochen.' 9 Im Gegenteil, als Frau, einer »gebohrenen Freimäurerin«, bleibt es gerade ihr vorbehalten, die humane Wirksamkeit des Männerbundes zur Sprache zu bringen. Auch Faust spricht von »Unsichtbaren«, die »wie Bedürfnißlose Geister, sich selbst vergeßend, 58
Zu den Gesprächen vgl. insgesamt Müller, Freimaurerei, S. 63ff. Müller beschränkt sich hier - wie auch sonst - auf eine abgehobene, auf wenige geistesgeschichtliche Problemzusammenhänge konzentrierte Analyse, die die freimaurerische Artikulationsform weitgehend ignoriert. " So sagt Linda im ersten Gespräch: »Ich erinnere mich eines Romans, da ein hülfreicher Mönch so erschien; fast allgegenwärtig war er bei jeder Verlegenheit da, blickte, den Knoten lösend, hinein, und verschwand wieder. Je vester sich der Knoten schürzte, desto pochender wünschte mein Herz: >ach, daß doch bald der Mönch käme! Wo mag er jetzt seyn? Warum ist er nicht schon da?«< (Suphan, Bd. 24, S. 131). 219
nach außen wirkten.« (SW 24,134) Die Gesellschaft bezeichnet er als einen »Areopag des Verdienstes, der Sitten und der Talente.« Wohltätigkeit ist also der Hauptzweck der Maurerei, Wohltätigkeit, gegründet auf moralischen Prinzipien, die nach dem Ideal praktischen Christentums im Sinne der Nächstenliebe, gebildet sind. Von hier erst bekommt das Geheimnis seinen Sinn. »Das Geheimniß spricht sich selbst aus, stillschweigend; anders muß es sich nicht aussprechen wollen.« (SW 24,135) Rollengemäß zitiert Linda Klopstock, um die edle Zurückhaltung der wohltätigen Freimaurer zu begründen: »Und da sagt mein Klopstock: >ein Mann sagt nicht, was er thun will, noch weniger was er gethan hat; er thut und schweigetAn ihren Früchten sollt ihr sie erkennend, sprach unser Meister.« (SW 24,138) Linda verweist damit auf die relative Unabhängigkeit der jetzigen Maurerei von ihrer Geschichte, ihrer Wurzel. Wenn die folgenden Gespräche sich also ausschließlich mit der Entstehung und Entwicklung des Bundes beschäftigen, so ist doch von ihnen kein neuer Aufschluß über seinen gegenwärtigen Sinn und Zweck zu erwarten. Ein historischer Unterton in der Argumentation ist unverkennbar. Der Ursprung der Maurerei muß aus den Bedingungen des Mittelalters erklärt und verstanden werden. Auf eine Restauration vergangener »barbarischer« Zustände und Gebräuche - man denke an den grausamen Eid der Maurerei! - kann es dem Historiker des 19. Jahrhunderts nicht ankommen. Linda erinnert in den Gesprächen daher immer wieder an die anfangs gegebene Definition der Freimaurerei als eines rein-menschlichen wohltätigen Männerbundes. Diese Bestimmung wird durch die histo220
rischen Enthüllungen nicht in Frage gestellt. In diesem Sinne ist auch das Märchen vom Vogel Phönix zu verstehen. Ein Sohn der Sonne, baute er sich sein Nest aus Zweigen der paradiesischen Bäume der Erkenntnis und des Lebens. Als die Zeit der Erneuerung kam, zündete die Sonne sein Nest an. Die Zweige des Baumes der Erkenntnis gaben dem alten Phönix den Tod, die des Lebensbaumes gaben dem neuen Vogel Leben. Was aus der Asche erstand, war aber kein neuer Phönix, sondern »ein lichter Genius . . ., ein verborgner Schutzgeist der Menschen.« (SW 24,147^) E s ist nicht eindeutig zu erkennen, ob Herder mit der Figur Lindas, einer eifrigen Romanleserin, die für den Menschheitsbund der Freimaurer schwärmt, klagende Lieder singt und Märchen aus Dschinnistan erzählt, die in den Gesprächen gegebene humanitäre Bestimmung der Maurerei ironisch brechen wollte. Vor dem Hintergrund des Briefwechsels mit Schröder und der Beteiligung an dessen Reform der Freimaurerei, die ja vom Programm des ersten Gesprächs nicht zu weit entfernt war, ist es wahrscheinlich, daß Herder die Figur Lindas eher zur Steigerung der Wirksamkeit seiner Reformbotschaft eingesetzt hat, daß die Ironie also eine unfreiwillige war. Jedenfalls wird an keiner Stelle der gedruckten und ungedruckten Gespräche eine wesentliche Korrektur an diesem freimaurerischen Programm vorgenommen. Der Rest der Adrastea-Ges.pri.che behandelt überwiegend die Geschichte der Freimaurerei. Neu gegenüber dem Aufsatz aus dem Jahr 1800 ist dabei die orientalische Herleitung der Hiramlegende, die Herder für so wichtig hielt, daß er sie dem zweiten (gedruckten) Gespräch nachträglich einfügte. E r zitiert die 34. Sure des Korans zum Beweis dafür, daß die hiramitische Zunftlegende der Werkmaurer hier ihre Quelle hatte. Der Inhalt der ungedruckten Gespräche entspricht dagegen weitgehend der früheren Abhandlung. Ausführlich werden hier schriftliche Beweise ausgebreitet, baugeschichtliche und etymologische Hypothesen entwickelt, die insgesamt zeigen, daß Herder an dem Aufsatz von 1800 intensiv weitergearbeitet hatte. Das vierte Gespräch (Massone!), das fast ausschließlich aus dem Verlesen und der Kommentierung schriftlichen Materials besteht, verlegt Herder denn auch konsequent in Horsts kleines »Lebendiges Viereck«, in dessen Bibliothek. Herders Beitrag zur Schröderschen Reform der Freimaurerei verdeutlicht ein weiteres Mal, daß ihm die kritischen Implikationen des Arkanmodells der Aufklärung verborgen geblieben sind. Wie eine oberflächliche Kritik ihn zum Gegner aller Aufklärung im Geheimen 221
gemacht hatte, so Schloß die Wiederannäherung an die zeitgenössische Freimaurerei jede politisch-gesellschaftliche Funktion dieser Institution explizit aus. Herders Wertschätzung der Maurerei stand in einem zeitlich umgekehrten Verhältnis zu ihrer historischen Bedeutung. Nicht hat er, wie Contiades meint, deren Anachronismus kritisch erkannt, er ist ihm vielmehr auf eigene Weise verfallen. 60 Die Begegnung mit Schröder im Sommer 1800 war der Beginn einer zeitweise intensiven beratenden Mitarbeit an dessen Reform. Herders Rat und der Aufsatz vom Dezember 1800 haben einen — angesichts der Quellenlage schwer abzuschätzenden - Einfluß auf die Gestaltung und Begründung des Schröderschen Rituals gehabt. Schröder wie Herder wollten auf historischem Wege zu einer Entmystifizierung der Maurerei beitragen, zu einer Wiederherstellung ihrer einfachen, auf den drei englischen Johannisgraden beruhenden Form. Beide suchten in der Geschichte nicht nach dem gegenwärtigen Zweck der Freimaurerei; diesen sahen sie verwirklicht in dem Modell eines humanitären Männerbundes im Dienst tätiger Nächstenliebe. Ein solches Modell entsprach den maurerischen Reformtendenzen an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, die die Trennung von Freimaurerei und kritischer Aufklärung endgültig besiegelten. Die Reform war nicht getragen von einer Einsicht in die mögliche politische Funktion, die dem Geheimnis als Organisationsform gesellschaftlicher Gruppen zukommen konnte. Das Geheimnis wurde von Herder und Schröder ethisiert, es wurde zur moralischen Pflicht des Maurers, seine guten Taten anonym zu tun. Der Rekurs auf die Geschichte geschah nicht im Horizont einer utopischen Geschichtsphilosophie, die mit dem Blick zurück die Gegenwart als werdende Zukunft interpretierte. Allerdings gelang es Schröder und - mit deutlichem Abstand - auch Herder in einem erstaunlichen Ausmaß, die tatsächliche Geschichte der Freimaurerei bloßzulegen. Herders Mitarbeit an der Reform trug schließlich auch kirchliche Akzente. Seine Kommentare zum Ritual weisen ihn als liturgischen Praktiker aus, seine Entstehungshypothese und seine christlichen Interpretationen maurerischer Zeremonien zeigen, daß es ihm bei der Reform auch um praktisch-religiöse Ziele ging. Wie Herders utopische Geschichtsphilosophie nicht praktisch wurde, so mangelte es seiner reformerischen Praxis an utopischer Kraft. Zwar sind Beziehungen zwischen reformierter Freimaurerei und Hu60
Vgl. oben S. zoif. und Anm. 31.
222
manitätsideal nicht zu übersehen; in dem Maße jedoch, in dem Herders Humanitätsideal konkret wurde, verlor es seine Funktion als kritisches Regulativ, die mit seiner Verankerung in der gesellschaftlichen Natur des Menschen und mit der Entfaltung dieser Natur im Verlauf der Geschichte gegeben war. Das Niveau von Lessings Auseinandersetzung mit der Freimaurerei wird in den hier behandelten Schriften Herders nicht wieder erreicht. Die appellative Widersprüchlichkeit, mit der dieser eine zutiefst kritische Realitätserkenntnis mit einer utopisch orientierten Geschichtsphilosophie verbunden hatte, die politische Reflexivität der Gespräche für Freymäurer, ihre dialektische Schärfe, haben keine Nachfolge gefunden.
"3
2. KAPITEL
Geheimnis und Literatur Erzähltheoretische Implikationen und gattungsgeschichtliche Voraussetzungen der Aneignung des Geheimbundmaterials im Roman des 18. Jahrhunderts Das sozial- und kulturgeschichtliche Phänomen der geheimen Gesellschaften am Ende des 18. Jahrhunderts ist im ersten Kapitel dieser Arbeit ausführlich dargestellt worden. Das literarhistorische Phänomen der Aneignung des Geheimbundmaterials im Roman wird Gegenstand der im letzten Teil folgenden Textanalysen sein. Zuvor aber müssen eine Reihe von Voraussetzungen erzähl- und gattungstheoretischer sowie gattungsgeschichtlicher Art eingeführt werden, ohne die der Prozeß der Rezeption nicht angemessen erfaßt werden kann. Untersuchungen zur Vermittlung von Literatur- und Sozialgeschichte sind zunächst zurückverwiesen auf eine grundsätzliche Reflexion des Verhältnisses von Literatur und Wirklichkeit, das noch jeder seiner historischen Konkretisationen vorausliegt. Eine solche Reflexion scheint um so dringender geboten, als die realgeschichtliche Analyse der geheimen Gesellschaften schon deren schillernden Wirklichkeitscharakter zutage gefördert hat. Die Unbestimmtheit des Geheimnisses schuf eine Sphäre gesellschaftlichen Scheins, genährt aus kollektiven Illusionen, in der die Grenzen zwischen Betrug und Selbstbetrug, Täuschung und Einbildung bis zur Unkenntlichkeit verwischt wurden. Kein Wunder, daß in einer solchen Sphäre geheimnisvoller Verunsicherung die Seinsmodi durcheinandergerieten, daß nicht nur Mögliches als wirklich, sondern auch Unmögliches und Unwirkliches als möglich und wirklich gedacht wurden. Damit aber tat sich inmitten der gesellschaftlichen Wirklichkeit des Spätabsolutismus ein Bereich des Geheimen auf, dem gewissermaßen nur der Realitätsgehalt einer Fiktion zukam. Der spezifische Wirklichkeitscharakter des Geheimbundmaterials blieb nicht folgenlos für seine literarische Rezeption; im Gegenteil, er war die entscheidende Voraussetzung für seine Literarisierung, die sich in einem komplexen Prozeß außer- und innerliterarischer Aneignung im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts vollzog. Breite und Intensität der Aufnahme des Geheimbundmaterials, insbesondere in der erzäh225
lenden Literatur, sind nur verständlich vor dem Hintergrund der der aufklärerischen Institution Kunst eigenen Einheit einer literarischen Öffentlichkeit, die zwar in Ansätzen schon eine Aufspaltung in Kunstund Zweckformen erkennen läßt, nicht aber schon ihre kategoriale Unterschiedenheit zur Voraussetzung hat. 1 So war auch noch der als pragmatische Zweckform in Dienst genommene Roman der Aufklärung ein Bestandteil der oben behandelten Debatte um das Geheimbundmodell; als Medium der gesellschaftlichen Kommunikation stand er neben Formen der publizistischen Sachprosa, von der er zudem spezifische Struktureigentümlichkeiten übernahm. Allerdings erfuhr die Rezeption des Geheimbundmaterials im Laufe der Zeit eine grundlegende Veränderung, die auf vielfältige Weise mit Wandlungen des literarischen Selbstverständnisses im Rahmen der Institution Kunst, die allmählich zu einer bürgerlich-autonom bestimmten wurde, verknüpft war. Überwog bei der Aneignung zunächst die thematische Komponente, so gewann später die ästhetisch-formale Verwendbarkeit des Geheimbundmaterials an Bedeutung. Eine immer schon gegebene ästhetische Überschüssigkeit ließ das Geheimbundmaterial schließlich in das zeitgenössische Repertoire einer literarischen Formensprache eingehen. Ursprünglich eng der gesellschaftlichen Wirklichkeit verbunden, wurde es durch komplexe Literarisierungs- und Ästhetisierungsprozesse am Ende verfügbar für die Gestaltung neuer Thematiken. Für den Roman zwischen Aufklärung und Romantik bedeutete dies: aus dem erzählten Geheimnis wurde allmählich ein erzählerisches, das Geheimnis des Erzählens. Vorerst sind die erzähltheoretischen Implikationen einer solchermaßen als Literarisierung und Ästhetisierung verstandenen Rezeption des Geheimbundmaterials im Roman darzulegen. Überlegungen zum Problem der Fiktionalität sowie zum Verhältnis von Literatur und Wirklichkeit folgt die Skizzierung eines Strukturmodells narrativer Texte, das es erlaubt, sowohl den Begriff des >Materials< als auch den Ort seiner Aneignung in der ästhetischen >Struktur< präziser zu bestimmen. Erst nach einer historisch-exemplarischen Entfaltung der These von der Literarisierung des Geheimbundmaterials im Bereich aufklärerischer Sachprosaformen wird die in der Forschung verschiedentlich aufgeworfene Frage nach der Existenz eines Geheimbundromans aufgenommen. Eine letzte Voraussetzung für die Text1
Vgl. dazu oben S. ι.
226
analysen erbringt der Versuch, die gattungsgeschichtliche Bedürfnislage des Romans in Hinblick auf die Aneignung des Geheimbundmaterials zu umreißen. Erst die Darstellung bestimmter gattungstheoretischer und gattungsgeschichtlicher Implikationen ermöglicht eine angemessene Analyse und Interpretation der ästhetischen Funktionalisierung des Geheimbundmaterials im Roman zwischen Aufklärung und Romantik.
I.
Erzähltheoretische Implikationen
ι.
Literatur und Wirklichkeit. Vorüberlegungen zum Problem der Fiktionalität
Im folgenden geht es um den Wirklichkeitsstatus literarischer Texte und die Kategorie der Fiktionalität. 2 Wenn auch >Fiktionalität< als textbzw. kommunikationstheoretisch bestimmtes Merkmal keineswegs ausschließlich literarischen Texten zukommt, so gehört diese Kategorie doch zu den entscheidenden Differenzqualitäten ästhetischer Texte. Der Wirklichkeitscharakter von Literatur betrifft zwei Phänomene: die Wirklichkeit der Literatur, als literarische Wirklichkeit, wie die Wirklichkeit in der Literatur, die literarisch dargestellte Wirklichkeit. Die beiden Aspekte des literarischen Realitätsproblems existieren nicht isoliert nebeneinander; vielmehr ist der spezifische Modus literarischer Wirklichkeit nur in Zusammenhang mit den in der Literatur gegebenen Formen der Wirklichkeitsaneignung angemessen zu erfassen. Infolgedessen richtet sich das Augenmerk nicht so sehr auf fiktionstheoretische Ansätze, die ontologisch, sprachlogisch, text- oder kommunikationstheoretisch eine strenge Abgrenzung fiktional-literarischer und nichtfiktional-nichtliterarischer Texte vorzunehmen bemüht sind. Eine solche kategoriale Scheidung ist lediglich insofern von Interesse, als sie indirekt dazu beiträgt, gerade die Grenzbereiche und Übergänge von Fiktion und Wirklichkeitsaussage präziser zu beschreiben, auf die es hier ankommt. Ein Beitrag zu einer Theorie der Fiktion ist dabei nicht beabsichtigt. Die folgenden, eher pragmatisch motivierten Überlegungen wollen vielmehr einige vorhandene literatur- bzw. fiktionstheo* Z u m Problem der Fiktionalität vgl. die Arbeiten von Johannes Anderegg, Jürgen Landwehr, Siegfried J. Schmidt, Egon Werlich, Dieter Janik, Hans Ulrich Gumbrecht und Henrichjlser im Literaturverzeichnis.
227
retische Ansätze und Ergebnisse in modifizierter F o r m nutzbar machen für die Beschreibung v o n Literarisierungsprozessen in Sachprosa und Roman am Ende des 18. Jahrhunderts. Die sich anschließende historische Untersuchung (II.) geht allerdings nicht in einer einfachen Applikation eines vorab entwickelten theoretischen Begriffsinstrumentariums auf. D e r historische Befund wird vielmehr den theoretischen Bezugsrahmen selbst auf die Probe stellen; die Prämissen literatur- und
fiktionstheoretischer
Denkgebäude werden konfrontiert
mit der komplexen Realität historischer Textproduktion. Roman Ingardens grundlegende phänomenologische Untersuchungen zur Seinsweise des »literarischen Kunstswerks« sind für die literaturtheoretische Reflexion des Verhältnisses v o n Literatur und Wirklichkeit noch längst nicht ausgeschöpft.' Käte Hamburgers teilweise berechtigte, das Problem v o n Fiktion und Realität jedoch ihrerseits sprachlogisch verkürzende Kritik an Ingardens K o n z e p t der »quasi-urteilsmäßigen Behauptungssätze« in literarischen Texten mag dazu beigetragen haben, daß auch andere wichtige Ergebnisse dieses Buches übersehen oder aber nur verzerrt wahrgenommen worden sind. 4 In einem literarischen Text sind nach Ingarden weder echte Urteils- noch reine Aussagesätze im logischen Sinne möglich, (169ÍF.) Z w a r teilt die Literatur mit anderen Aussageweisen eine rein intentionale Gegenständlichkeit, doch fehlt literarischen Aussagen und Urteilen die ernste und nicht nur vorgetäuschte Hinausversetzung der intentional entworfenen Sachverhalte und Gegenstände in eine reale bzw. ideale Seinssphäre und damit letztlich ihre existentielle Setzung. Das heißt nicht, daß rein intentionale Gegenstände und Sachverhalte nicht ihrem Seinsmodus noch als real/irreal, ideal, möglich/unmöglich charakterisiert sein können, nur werden sie eben »nicht als in dem Seinsmodus tatsächlich existierende gesetzt«. (176) Das ermöglicht den A u f b a u einer
komplexen
innerliterarischen
Wirklichkeitsstruktur,
ohne doch den gleichsam schwebenden Wirklichkeitscharakter des literarischen K u n s t w e r k s als Ganzem aufzuheben. Diese besondere referentielle Beschaffenheit der Literatur hat Konsequenzen für ihren Wahrheitsanspruch, der nurmehr in modifizierter Weise aufrecht erhal-
'
4
Ingarden, Roman, Das literarische Kunstwerk. Mit einem A n h a n g v o n den Funktionen der Sprache im Theaterschauspiel, Tübingen ΑιMaterial< und >Struktur< narrativer Texte zu unterscheiden. Kann Struktur in Anlehnung an Wellek/Warren als die Art und Weise definiert werden, in der die Elemente eines Kunstwerks zu ästhetischer Wirkung organisiert sind,' 4 so ist Material, abweichend von den beiden amerikanischen Literaturtheoretikern, als eine genetische Kategorie zu bestimmen, die alle die Bestandteile eines literarischen Kunstwerks enthält, die einer je besonderen ästhetischen Gestaltung vorausliegen. Material umfaßt potentiell das gesamte zu einem bestimmten Zeitpunkt verfügbare Textuniversum, in dem Weltaneignung vor sich geht. Nicht unmittelbar, sondern vermittelt über individuell und gesellschaftlich bestimmte Bewußtseinsakte, die ihren Niederschlag in verschiedenen textuell-kommunikativen Objektivationsformen finden, wird die historische oder zeitgenössische Wirklichkeit zum >Material< künstlerischer Bearbeitung. So verstan15
14
Zum folgenden vgl. Haubrichs, Wolfgang, Hg., Erzählforschung i. Theorien, Modelle und Methoden der Narrativik, Göttingen 1976, ders., Hg., Erzählforschung 2, Göttingen 1977, Kan^pg, Klaus, Erzählstrategie. Eine Einführung in die Normeinübung des Erzählens, Heidelberg 1976, hämmert, Eberhard, Bauformen des Erzählens, Stuttgart 6 197 5, Stängel, Fran% K., Typische Formen des Romans, Göttingen "1976, ders., Theoriedes Erzählens, Göttingen 2 1982, Lotman,Jurij M., Die Struktur literarischer Texte, München 1972, Sklovskij, Viktor, Theorie der Prosa, hg. von Gisela Drohla, Frankfurt/M. 1966, Todorov, T^vetan, Poetik der Prosa, Frankfurt/M. 1972 sowie Janik, Kommunikationsstruktur. Wellek, René und Austin Warren, Theorie der Literatur, Frankfurt/M. 1972, S. 146.
236
den, können sämtliche sprachliche Objektivationsformen, vom privaten Brief oder Tagebuch über Gerichtsakten, Zeitungsmeldungen, Geschichtsschreibung bis hin zu literarischen Gestaltungen wie Novelle, Roman oder Märchen potentiell als Material eines literarischen Textes fungieren. Der Materialstatus solcher Texte ist dabei an je konkrete literarische Realisierungen gebunden. Durchaus ist denkbar, daß literarische Werke, die selbst auf der Grundlage bestimmter Materialien entstanden sind, wiederum anderen Werken als Material zugrunde liegen. Daher erscheint es sinnvoll, das künstlerische Material i. e. S. aus dem Gesamt des auch nicht-literarische Texte umfassenden Materials hervorzuheben, gleichsam eine inner- und eine außerliterarische Materialbearbeitung zu unterscheiden. Zum künstlerischen Materiah zählen nicht nur die literarisch vorgeformten Texte als Ganze, sondern auch einzelne in ihnen gestaltete Themen, Motive und Formen." Das künstlerische Material umfaßt das gesamte Repertoire literarischer Formen einer bestimmten historischen Epoche; wird es auch über Einzelwerke vermittelt, so ist doch seine Bearbeitung in hohem Maße genrespezifisch formulierten literarischen/gesellschaftlichen Normen verpflichtet. Auf den Begriff des künstlerischen Materials wird daher bei der Behandlung der gattungsgeschichtlichen Voraussetzungen für die Aneignung des Geheimbundmaterials zurückzukommen sein. Material wird hier also nicht als reine Analysekategorie verstanden, als ein Konstrukt, das die »an sich keiner ästhetischen Wirkung fähigen Bestandteile eines literarischen Kunstwerks« enthält.' 6 Vielmehr liegt Material in verschiedensten literarischen und nichtliterarischen Ausformungen der künstlerischen Bearbeitung tatsächlich voraus und zugrunde. Aktualisiert sich der latent gegebene Materialstatus von Texten auch erst in je besonderen literarischen Realisierungen, so ist das Material auch über die Rekonstruktion der Materialbasis von Einzelwerken hinaus einer systematischen oder historischen Untersuchung zugänglich. Reichweite und Problematik einer solchen allgemeinen Materialgeschichte der Literatur können im Rahmen dieser Arbeit nicht weiter verfolgt werden. Gegenüber der von der Forschung in den letzten Jahrzehnten vernachlässigten und methodisch stark veralteten herkömmlichen Stoff-, Motiv- und Symbolgeschichte bietet eine MaM 16
Dazu Bürger, Vermittlung, S. 19τfF., Bürger, Chr., Ursprung, S. 14fr. Vgl. dagegen Wellek\Warren, Theorie, S. 146. 237
terialgeschichte den Vorteil einer methodisch klaren Unterscheidung von Material und Struktur eines literarischen Werkes.' 7 Die problematische Inhalt-Form-Dichotomie verläuft quer sowohl zum Strukturais auch zum Materialbegriff. Anders als bei den traditionellen Definitionen von Stoff, Motiv etc. ist der genetisch gefaßte Materialbegriff deutlich geschieden von bestimmten, nur analytisch zugänglichen tiefenstrukturellen Schichten literarischer Texte. 18 Material
Außerliterarisches Material
Künstlerisches Material
Struktur (Oberflächen-/ Tiefenstruktur)
I Geschichts- und Handlungsebene - Geschehen und Geschichte - Figur/Konfiguration - Deskriptiv-handlungssituierende Elemente - Transzendentaler Erzählhorizont II Ebene der erzählerisch-sprachlichen Realisierung/Diskurs III Ebene der abstrakten Konzepte
Anhand der obigen Skizze soll schließlich der Versuch unternommen werden, in stark vereinfachter Form die Relevanz einer Materialgeschichte für die Darstellung elementarer Prozesse literarischen Wandels zu demonstrieren.' 9 Deutlich zeigt sich hier die Schlüsselstellung des Einzelwerks (Struktur) bei der Gewinnung künstlerischen Materials. Im Rahmen der Struktur eines literarischen Textes werden Materialien nicht-literarischer und literarischer Provenienz ästhetisch organisiert. Eine Erzählung beispielsweise könnte auf der Grundlage von Gerichtsakten geschrieben worden sein, zugleich aber das künstlerische Material der conte moraux verwendet haben. Nun ist es keineswegs so, daß nicht-literarisches Material ausschließlich oder überwiegend >inhaltliche< Elemente enthält, also etwa im angeführten Beispiel die biographischen Details einer kriminellen Persönlichkeit. Ge17
18
19
Vgl. dazu die forschungsgeschichtliche Ubersicht bei Frenke!, Elisabeth, Stoff-, Motiv-und Symbolforschung, Stuttgart '1970, S. 3ff., 23ff. — Ansätze zu einer Materialgeschichte der Literatur birgt indessen schon Wilhelm Scherers Taxonomie der »Stoffe«, in: ders., Poetik. Mit einer Einleitung und Materialien zur Rezeptionsanalyse, hg. von Gunter Reiss, Tübingen 1977, S. 1 3 7 ? . Vgl. dazu die unten vorgenommenen Bestimmungen von »Geschehen«, »Geschichte« etc., S. 24off. Vgl. dazu insgesamt den Abschnitt II (Literarisierungsprozesse am Beispiel der Rezeption des Geheimbundmaterials in fiktionalen und nicht-fiktionalen Prosatexten im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts).
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nauso könnte aus diesem Bereich die Erzählfolie bezogen werden, indem der Erzählung eine Protokollfiktion untergelegt wird. Die Struktur des entstandenen Werkes insgesamt, aber auch die einzelnen ihr eigentümlichen Strukturzüge werden zu Bestandteilen des künstlerischen Materials, das heißt sie werden aufgenommen in das zeitgenössische Repertoire literarischer Formen. Die Erzählung wiederum kann, ganz oder in Teilen, anderen literarischen Werken als Material zugrundeliegen. Wenn A d o r n o feststellt, daß »ästhetische F o r m sedimentierter Inhalt« sei, wenn Jurij Lotman in der K u n s t »eine ständige Tendenz zur Formalisierung der Inhaltselemente, zu ihrer Erstarrung, ihrer Umwandlung in Klischees, ja zum völligen Übergang aus der Inhaltssphäre in den auf Konvention beruhenden Bereich eines Kodes« beobachtet, 20 so wird dies zumindest teilweise erklärbar aus den beiden grundlegenden Prozessen literarischen Wandels, nämlich der künstlerischen Bearbeitung nicht-literarischen Materials und der >Materialisierung< einmal geschaffener literarischer Strukturen im Zusammenhang der Entstehung neuer Texte. Soviel ist hier deutlich geworden, daß Materialgeschichte nicht ohne Rekurs auf die Strukturgeschichte literarischer Gattungen geschrieben werden kann, eine Einsicht, die zumindest der herkömmlichen Stoff- und Motivgeschichte weitgehend fremd geblieben ist. Beide Formen literarischer Evolution werden zentraler Gegenstand der Untersuchungen zu Literarisierung und Asthetisierung des Geheimbundmaterials in Sachprosa und Roman des ausgehenden 18. Jahrhunderts sein. >Struktur< wurde als die A r t und Weise bestimmt, in der die Elemente eines Kunstwerks zu ästhetischer Wirkung organisiert sind. Dabei geht es hier insonderheit um die Struktur fiktionaler narrativer Texte. Narrative Texte bilden gemeinsam mit beschreibenden und systematischen das Spektrum elementarer Textschemata, als deren systematische Ausdifferenzierung je historische Textuniversen zu begreifen sind. 21 Dominantes Kriterium f ü r die Bestimmung von Narrativität ist die Organisation der Sachlage, das heißt des sprachlich, 20
21
Adorno, Theodor W., Ästhetische Theorie, hg. von Gretel Adorno und Rolf Tiedemann, Frankfurt/M. ''igeo, S. 15, Lotman, Struktur, S. 33. Z u m folgenden vgl. vor allem Stierle, Karlheinz, Text als Handlung. Perspektiven einer systematischen Literaturwissenschaft, München 1975, ders., Die Einheit des Texts, in: Funk-Kolleg Literatur, Bd. 1, Frankfurt/M. 1977, S. 168-187, ders., Die
Struktur narrativer Texte, ebd., S. 210-233, Gülich, Elisabeth
und Wolfgang
Raíble,
Linguistische Textmodelle, Grundlagen und Möglichkeiten, München 1977.
2
39
syntaktisch und semantisch konstituierten Schemas eines denkbaren Wirklichkeitszusammenhangs, nicht nur im Raum, sondern in der Zeit. Die temporale Dimension ist also das entscheidende Charakteristikum narrativer Texte, das sind Texte, denen eine Handlung mit den nach Aristoteles schlicht als Anfang, Mitte und Ende zu bestimmenden Teilen zugrundeliegt. Im folgenden werden drei Strukturebenen narrativer Texte vorgestellt: die Geschichts- und Handlungsebene, die Ebene der erzählerisch-sprachlichen Realisierung (Diskurs) und schließlich die Ebene der abstrakten Konzepte. 22 Dabei wird unterstellt, daß der Ort der Aneignung des Bundesmaterials im Roman als einer genrespezifischen Ausprägung des Schemas narrativer Texte sowie deren ästhetische Funktion nur im Rahmen dieser Strukturebenen hinreichend bestimmbar sind. 2.1
Geschichts-und Handlungsebene
Anders als beim Material handelt es sich bei den Begriffen » G e s c h e h e n * und > G e s c h i c h t e < nicht um genetisch rekonstruierbare Realbegriffe, sondern um analytisch gewonnene Konstrukte, die durch bestimmte Transformationen aus dem Oberflächendiskurs narrativer Texte abgeleitet werden können. Die Geschehensebene eines narrativen Textes enthält sinnindifferente, diffuse und noch unartikulierte Geschehensmomente, die erst im Rahmen der >Geschichte< narrativ angeeignet werden. Diese Aneignung ist zu denken als ein Prozeß narrativer Funktionalisierung des Geschehens, wobei die formal-inhaltliche Vorgabe der Geschehenselemente nicht unterschätzt werden darf. Vielmehr fungiert die Geschehensebene als eine Sphäre der Verknüpfungsmöglichkeiten, die zugleich den Spielraum für die K o n struktion der Geschichte begrenzt. Geschehensmomente besitzen eine spezifische narrative Wertigkeit, die in der Textstruktur eine determinierende Wirkung ausübt. Auf die narrative Wertigkeit von Elementen aus dem Geheimbundmaterial wird noch wiederholt einzugehen sein.
"
V g l . dazu die Übersicht auf S. 258. N o c h einmal sei betont, daß das hier vorgestellte Strukturmodell lediglich als vortheoretischer Bezugsrahmen gelten kann. Selektion, A n o r d n u n g und Interdependenz der Strukturebenen erfahren keine systematische G r u n d l e g u n g im Rahmen einer Theorie narrativer Texte. Allerdings besteht der Anspruch, mit Hilfe einer theoretisch reflektierten historisch ausgerichteten Untersuchung (Kapitel 2, II. und Kapitel 3) einer solchen erst noch zu erstellenden narrativen Theorie relevantes Material zur V e r f ü g u n g zu stellen.
240
>Geschichte< soll mit Karlheinz Stierle als das spezifische Arrangement »der Geschehensmomente im Kontext eines Verlaufszusammenhangs, die den narrativen Sinn bewirkt und damit zugleich die Geschehensmomente selbst in ihrer Funktion vereindeutigt«, definiert werden. 2 ' Die Elemente der Geschichte, die als solche nicht auf der Diskursebene des Texts erscheint, sind angeordnet auf einer Achse linearer Sukzession zwischen Anfang und Ende. Die Geschichte ist von ihrer Präsentation, das narrativ bedeutend Dargestellte von der Darstellung selbst zu unterscheiden. Der narrative Diskurs, das heißt die erzählerisch-sprachliche Realisierung der Geschichte, die hier als zweite Strukturebene zu behandeln ist, muß allerdings in engster Wechselbeziehung zu Geschehen und Geschichte betrachtet werden. So ist das erzählte Geheimnis aus dem Bundesbereich immer schon erzählerisch vermittelt, bis es schließlich aufgehoben wird im Erzählen selbst. Zu den wichtigsten Konstituenten der Geschichte und ihrer erzählerischen Realisierung zählt die Handlung, verstanden als eine Sequenz von Einzelhandlungen. 24 Handeln erfordert neben einem anthropomorphen Subjekt das Vorhandensein einer spatialen und einer temporalen Dimension und ist genauer zu bestimmen als die intentionale Uberführung einer gegebenen Situation in eine andere. Handlung verweist so einerseits auf die sie tragenden Elemente, die Figuren bzw. die Konfiguration; andererseits lenkt sie den Blick auf die Existenz d e s k r i p t i v e r M o m e n t e in narrativen Texten, die primär handlungssituierende Funktion haben. 2 ' Das narrative Textschema tendiert zur Integration beschreibender oder auch systematischer Texteinheiten auf mikrostruktureller Ebene. Das Narrative ist von deskriptiven Texten, um die es hier zunächst gehen soll, durch die fehlende temporale Dimension geschieden. Die deskriptiven Elemente insbesondere fiktionaler narrativer Texte sind in verschiedenen Graden von Komplexität systematisch organisiert. Sie haben nur in den seltensten Fällen eine ausschließlich handlungssituierende Funktion; je nach der ästhetischen Dichte eines Textes sind sie überstrukturiert, also in eines oder mehrere der semantischen Ver2> Stierle, 24
25
Struktur, S. 216.
Die Kategorie der Handlung untersucht P f i s t e r , Manfred, Das Drama. Theorie und Analyse, München 1977, S. 268fr. Vgl. aber auch GülichjRaíble, Linguistische Textmodelle, S. 26off. Da2u Link, Jürgen, Literaturwissenschaftliche Grundbegriffe, München 2 1979, S. 27;ff., Dubois, Jacques u. a., Allgemeine Rhetorik, München 1974, S. 310fr.
241
weisungsnetze eines Werkes einbezogen: sie werden, ebenso wie die Handlungselemente selbst, erzählerisch instrumentalisiert. Ihre Funktion reicht dabei von der lokalen oder figuralen Charakteristik über den Aufbau handlungskonstitutiver Oppositionen (ζ. B. Stadt/Land, Berg/Ebene) und leitmotivischer Verkettungen bis hin zur Ausgestaltung atmosphärischer oder gar geschlossen symbolischer Ausdruckslandschaften. Die wichtige Rolle des Geheimbundmaterials innerhalb der deskriptiv-handlungssituierenden Ebene von Romanstrukturen im späten 18. Jahrhundert ist von der Forschung schon relativ früh erkannt worden. Der Jolles-Schüler Hansjörg Garte versuchte 1935 in seiner morphologisch ausgerichteten Untersuchung der »Kunstform Schauerroman« eine eingehende Analyse der Ausdruckslandschaften einschlägiger Texte, und Marianne Thalmanns 1923 erschienene Arbeit über den Trivialroman des 18. Jahrhunderts beschränkte sich sogar weitgehend auf eine bloße Auflistung der in Romanen der Zeit vorfindlichen deskriptiven Elemente aus dem Bundesbereich. 26 Auch die dritte hier zu behandelnde Teilstruktur der Geschichts- und Handlungsebene narrativer Texte ist für die Aneignung des Geheimbundmaterials im Roman von besonderer Bedeutung gewesen. Dabei geht es um den jeweils charakteristisch vorherrschenden Nexus der Elemente der erzählten Welt, das heißt um dominante Fügungs- und Verkettungsmuster, die entscheidend an der Entstehung eines für die geschichtsphilosophische Deutung des Romans unverzichtbaren t r a n s z e n d e n t a l e n E r z ä h l h o r i z o n t s beteiligt sind. Der transzendentale Erzählhorizont reflektiert die Bedingungen der Möglichkeit des Erzählten wie des Erzählens selbst. Der Nexus der erzählten Welt kann von Zufall oder Notwendigkeit, von Kausalität und psychologischer Wahrscheinlichkeit oder von providentieller Lenkung bestimmt sein. Er steht in engem Zusammenhang mit epochenspezifisch dominanten geschichtsphilosophischen Grundmustern, die sich nun allerdings nicht allein aus dem Arrangement der erzählten Welt ablesen lassen, sondern ebenso in der Erzählweise und den Erzählformen selbst zum Ausdruck kommen. Gerade dann aber, wenn epochale
i6
Garte, Hansjörg, Kunstform Schauerroman. Eine morphologische Begriffsbestimmung des Sensationsromans im 18. Jahrhundert von Walpoles »Castle of Otranto« bis Jean Pauls »Titan«, Diss. Leipzig 1935, Thalmann, Marianne, Der Trivialroman des 18. Jahrhunderts und der romantische Roman. Ein Beitrag zur Entwicklungsgeschichte der Geheimbundmystik, Berlin 1923. Vgl. die ausführliche Kritik beider Arbeiten unten S. 285(1.
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geschichtsphilosophische Konzeptionen problematisch werden oder im Umbruch befindlich sind, ist es wahrscheinlich, daß die transzendentale Verunsicherung zunächst auf der Ebene der Erzählgegenständlichkeit Folgen zeitigt und dann erst ihr angemessene Erzählformen entwickelt werden. Der Roman als die literarische Form gesellschaftlichen Bewußtseins von Wirklichkeit reflektiert zeitgenössische Formen der Wirklichkeitserfahrung und -bewältigung und bringt ihr Problematischwerden in seiner Struktur zum Ausdruck. Offenbar barg die vom Geheimnis und Wunderbaren, die von geheimer Lenkung beherrschte narrative Wertigkeit des Geheimbundmaterials besondere Möglichkeiten, dieser gattungskonstitutiven Aufgabe gerecht zu werden. Die auffällige Häufung von epochal wichtigen Romanen am Ende des 18. Jahrhunderts, die sich auf der Ebene der erzählten Welt wie der des Erzählens selbst des Geheimbundmaterials bedienten, wird in diesem Zusammenhang zu erklären sein. Zwei Gründe lassen eine ausführlichere Behandlung der f i g u r a l e n Teilstruktur geraten erscheinen. Mehr als andere Elemente der Geschichte- und Handlungsebene fungieren Figuren und Konfiguration nicht nur als Teile der Erzählgegenständlichkeit, sondern zugleich als wichtige Instrumente der erzählerischen Realisierung. Nicht zuletzt die Möglichkeit einer verhältnismäßig unaufwendigen ästhetischen Funktionalisierung erzählter Figuren im Rahmen narrativer Texte, die gleichzeitige Teilhabe der Figuren an Gegenstand und Medium des Erzählens, mag dazu beigetragen haben, daß figurale Elemente aus dem Geheimbundbereich für den Roman des späten 18. Jahrhunderts besondere Bedeutung erlangten. Auch dies ist in der Forschung zum Geheimbundroman schon früh erkannt worden, etwa in den Arbeiten Thalmanns, Schneiders und Gartes. 27 Allerdings blieb die allgemeine erzählstrukturelle Reflexion dieses Faktums ebenso in Ansätzen stecken wie die konkrete Analyse der Funktion dieser figuralen Elemente, die objektsprachlich als Magier, Genius, Emissär und Bundestochter in Romanen des 18. Jahrhunderts identifiziert wurden. Aus dem Geheimbundbereich bezog die zeitgenössische Figurenkonzeption neues Material, das die Gestaltungsmöglichkeiten des herkömmlichen Romanpersonals entscheidend erweiterte. Die psychologisch-
27
Garte, Schauerroman, S. I22ff., Thalmann, Trivialroman, S. 94fr., und Schneider, Freimaurerei, S. 196fr.
243
soziale Merkmalskomplexion literarischer Geheimbundfiguren entstand auf der Grundlage einer historischen Sozialtypologie (sie ergab sich aus dem zeitgenössisch bekannten Personal der geheimen Orden und ihrer Mythologie), rekurrierte aber, wie sich zeigen wird, gleichermaßen auf das traditionelle Repertoire von Romanfiguren. Folgenreich für die Rezeption figuraler Elemente aus dem Geheimbundmaterial war vor allem die Tatsache, daß die in der publizistischen Öffentlichkeit der Zeit weithin bekannten geheimnisvollen Akteure als überaus schillernde Persönlichkeiten galten, denen eine Reihe außergewöhnliche oder übermenschliche Eigenschaften und Fähigkeiten zugeschrieben wurden. Ohne gegen das aufklärerische Gebot pragmatisch-realistischen Erzählens zu verstoßen, erwarb der Roman im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts über die Darstellung literarischer Geheimbundfiguren die poetische Lizenz für die Gestaltung wunderbarer Bereiche, die in der poetologischen Reflexion der Zeit eigentlich einem Genre wie dem Märchen vorbehalten war. In den gattungsgeschichtlichen und textanalytischen Teilen dieser Arbeit soll der Nachweis geführt werden, daß die Bundeselemente einen zwar zeitlich limitierten, aber doch nicht unbeträchtlichen Beitrag zu einer gattungsgeschichtlich bedeutsamen Veränderung des Wirklichkeitscharakters des Romans geleistet haben. Die zeitliche Begrenztheit dieses Beitrags erklärt sich zumindest teilweise aus dem oben beschriebenen Prozeß literarischen Wandels, der hier exemplarisch veranschaulicht werden kann. Die romanhafte Bearbeitung des figuralen Materials aus dem Bundesbereich erweiterte das künstlerische Material der Zeit, das wiederum anderen literarischen Realisierungen zur Verfügung stand. Im weiteren Verlauf der Aneignung von Geheimbundelementen trat die ästhetische Funktion der schon literarisierten Bundespartikel immer mehr in den Vordergrund und hatte, oberflächlich betrachtet, ihre >Entwirklichung< zur Folge. Die ursprünglichen Wirklichkeitspartikel wurden jedoch zu literarischen Versatzstücken, die im Rahmen einer neuverstandenen genuin literarischen Wirklichkeit beitrugen zur Erkenntnis historisch-gesellschaftlicher Realität. Nur scheinbar ging mit dem Verlust scheinhafter Wirklichkeit die Wirklichkeit selbst verloren, die erst im wirklichen Schein, in der Literatur, ihrem Wesen nach zu sich kommen sollte. Nicht nur bereicherten die Geheimbundfiguren das zeitgenössische Repertoire von Romanfiguren, sie bewirkten auch die charakteristische Modifikation traditioneller Konfigurationen, die hier als 244
synchrone Systeme der literarischen Figuren je besonderer narrativer Texte definiert werden sollen. 28 Das Personal eines Romans ist durch eine Reihe von Kontrast- und Korrespondenzbeziehungen gekennzeichnet, die in unterschiedlichem Ausmaß handlungskonstitutive Relevanz besitzen. Eine Weiterentwicklung der traditionellen Konfigurationsmuster, deren Oppositionen zugleich der Konfliktgestaltung narrativer Texte zugrundeliegen, leisteten die literarischen Geheimbundfiguren auf mehrfache Weise. Ohne den Ergebnissen der Textanalysen vorgreifen zu wollen, sei auf drei wesentliche Charakteristika von Konfigurationen hingewiesen, in denen Geheimbundfiguren, als Protagonisten oder Antagonisten, eine wichtige Rolle spielen. Zunächst gewinnt durch sie die politisch-gesellschaftliche Dimension romanfiguraler Interaktion an Bedeutung. Der politisch kontroverse Status der geheimen Gesellschaften, zu erinnern ist an die strategischprogrammatische Diskussion über das Geheimbundmodell in der aufklärerischen Öffentlichkeit am Ende des 18. Jahrhunderts, wird auf die literarische Gestaltung von Geheimbundfiguren mehr oder minder direkt übertragen. Akteure aus dem Geheimbundbereich verfolgen in unterschiedlichem Ausmaß gesellschaftsbezogene politische Programme, die sich auf zeitgenössische Ideologieformen zurückführen lassen. Zweitens ist mit der romanhaften Bearbeitung des Geheimbundmaterials die Möglichkeit zur Darstellung kollektiver Protagonisten oder Antagonisten gegeben. Die hier in Ansätzen erkennbare gesellschaftlich-institutionelle Fundierung überwiegend individuell vermittelter romankonstitutiver Konflikte widerspiegelt die problematische Genese eines gesellschaftlich-politischen Bewußtseins des sich allmählich als Klasse entdeckenden Bürgertums. Die differenzierte Erscheinungsweise kollektiver Helden oder heroischer Kollektive wird insbesondere anhand der Romane Wielands zu untersuchen sein, sie hat auch für Goethes Wilhelm Meister und Jean Pauls frühe Romane eine entscheidende Bedeutung. Drittens schließlich ist auf den Geheimnischarakter der Bundesfiguren hinzuweisen, der an dieser Stelle besonders in bezug auf seine erzählstrukturelle Funktion behandelt werden soll. Wie selten sonst, tritt hier die dialektische Bezogenheit von Figur und Handlung, von Erzählgegenstand und erzählerischem Diskurs hervor. Das Geheimnis, in dessen Horizont die Figuren aus dem Bundesbereich agieren, 28
Dazu hink, Grundbegriffe, S. 235.
245
das sie repräsentieren und zuweilen sogar personifiziert darstellen, erweist sich nämlich als ein wichtiges Mittel der erzählerischen Informationsvergabe. 29 Charakteristisch für Konfigurationen mit Geheimbundbeteiligung ist das Phänomen diskrepanter Informiertheit, das sich aus Unterschieden im Grad der Informiertheit zwischen Romanfiguren, je nach Wahl der Erzählperspektive aber auch zwischen einzelnen Romanfiguren und dem Leser ergibt. Informationsvorsprünge bzw. -rückstände von Figuren und Leser können zwar als Regelfall literarischer narrativer Texte gelten; Handlungsmotivation und Erzählspannung beruhen zum großen Teil auf dem Mehrwissen oder Nicht- bzw. Noch-Nicht-Wissen einzelner Figuren. Die Aufnahme von Figuren, die aufgrund scheinbar oder tatsächlich übermenschlicher Fähigkeiten den Status geheimnisvoller Allwissenheit und unbegrenzter Macht erworben haben, gibt jedoch der diskrepanten Informiertheit eine neue Dimension, und dies selbst dann, wenn am Ende die Fähigkeiten und Machenschaften sich als >natürlich< erklärbar erweisen. Wenn in der Romanpraxis der Zeit zumeist unter Anlehnung an die Perspektive und damit aus dem Informationsstand des Helden heraus erzählt wird, der nicht (noch nicht) über Zugang zu den Geheimnissen eines Bundes verfügt, so zeigt dies, daß die Reziprozität der Allmacht und Allwissenheit der Bundesfiguren, die Ohnmacht, die Unwissenheit und die Passivität des als Opfer oder Initiand gestalteten Protagonisten, mindestens ebenso wichtig für dieses Konfigurationsmuster war wie diese selbst. Was die Relevanz einer diskrepanten Informiertheit für die Relation Roman - Leser angeht, so wird im Rahmen der Textanalysen noch ausführlich auf die damit gegebenen Formen des verrätselnden und aufklärenden sowie des initiatorischen Erzählens einzugehen sein. Hier war zunächst nur grundsätzlich zu zeigen, inwiefern die spezifische narrative Wertigkeit figuraler Elemente aus dem Bundesbereich Auswirkungen über die Geschichts- und Handlungsebene hinaus auf die erzählerisch-sprachliche Realisierung narrativer Texte hat. Die sich abzeichnende wechselseitige Bedingtheit von Erzählgegenstand/Geschichte und Diskurs war aber eine wichtige Voraussetzung der ästhetischen Funktionalisierung des Geheimbundmaterials im Roman.
29
Zu Begriff und Erscheinungsweise der Informationsvergabe in narrativen Texten vgl. Pfister, Drama, S. 67fr.
246
2.2
Ebene der erzählerisch-sprachlichen Realisierung/ Diskurs
Die Ebene der erzählerisch-sprachlichen Realisierung oder die Ebene des narrativen Diskurses als der konkreten Darstellungsweise eines Erzähltexts braucht hier nicht ausführlich behandelt zu werden, da ein Großteil der elementaren Ergebnisse der Erzählforschung in diesem Bereich gewonnen wurde und als bekannt vorausgesetzt werden darf. 30 Der Diskurs besteht aus der szenischen/narrativen Präsentation einer Geschichte, wobei das Prinzip der Sukzession zugunsten der erzählerischen Bedeutungsstiftung aufgehoben werden kann. Die Geschichte kann nach bestimmten Regeln segmentiert und dann in neuer Weise komponiert werden. Mehrsträngige Handlungen sind auf verschiedene Weise verknüpfbar: über das Geschehen, über einzelne Figuren oder über thematische Relationen. Konstitutiv für den narrativen Diskurs ist die vermittelnde Erzählfunktion, die, als mehr oder minder konkretisierte Erzählerfigur, zwischen Rezipient und dargestellter Geschichte steht. Sämtliche Redeformen narrativer Texte, auch die dialogische Figurenrede, sind auf diese Erzählfunktion bezogen und werden nur über diese an den Rezipienten vermittelt. Die Erzählfunktion respektive die Erzählerfigur ist das wichtigste Medium narrativer Präsentation. Personale, auktoriale und die Erzählsituation des Ich-Erzählers sowie die damit verknüpften Erzählperspektivierungen sind zentrale Kategorien der traditionellen Erzählanalyse. Das Zeitgerüst des Erzählens, das Netz von Vorausdeutungen und Rückbezügen, die Darbietungsformen und Erzählweisen auf mikrostruktureller Ebene: sie alle sind an die Erzählfunktion gebunden, deren fiktionstheoretische Bedeutung schon behandelt worden ist.' 1 A u f die Ebene der sprachlichen, das heißt semantisch-syntaktischen Realisierung der Geschichte kann hier nur verwiesen werden; eine eingehende Analyse dieser Strukturschicht narrativer Texte liegt außerhalb des Interesses dieser Arbeit und wäre, wollte man über die allgemeine Funktionszuweisungen an künstlerische Sprache hinausgelangen, , 2 ohnehin nur im Zusammenhang konkreter Textuntersuchungen zu leisten. Nur auf eine Besonderheit künstlerischer Sprache als der Sprache literarischer Texte soll an dieser Stelle kurz eingegangen s
° Vgl. etwa die >klassischen< Arbeiten zur Erzählforschung von Percy Lubbock, Edward Morgan Forster, Käte Friedemann, Käte Hamburger, Günther Müller, Eberhard Lämmert, Franç Κ. Stängel, Wolfgang Kajser im Literaturverzeichnis. '' Zur Erzählfunktion vgl. zusammenfassend Hamburger, Logik, S. i i 2 f . ' 2 Vgl. dazu Pfister, Drama, S. 149fr.
247
werden, da sie für die erzählerische Realisierung narrativer Texte insgesamt von Bedeutung ist. Literarische Texte können als komplexe mehrfachstrukturierte sprachliche Zeichen aufgefaßt werden." Z w a r rekrutieren sich die Elemente dieser Zeichen aus normalsprachlichem Material; doch werden sie im Kontext des komplexen literarischen Zeichens (Text) auf das Niveau von Elementen dieses Zeichens reduziert. Ihr normalsprachliches Denotat wird aufgehoben in eine konnotative Bedeutungsebene, die sich aus dem engeren und weiteren Kontext des Werks ergibt. Ästhetische Bedeutung erwächst aus diesem Netz sekundärer Semantik, das sich über die normalsprachlichen Denotate erstreckt. Gleiches gilt aber auch für die Gegenständlichkeiten und Präsentationsweisen des Erzähltexts, für die die Sprache eine überwiegend referentielle Funktion besitzt. Narrative Bedeutung konstituiert sich nicht aus einer Addition des Inhaltswertes bestimmter Erzählsegmente, sondern aus der bestimmten Präsentation einer bestimmten Gegenständlichkeit. Wie die normalsprachlichen Elemente des literarischen Textes, so bringen auch die erzählerischen Versatzstücke festgelegte denotative Bedeutungen mit, die im Rahmen einer narrativen Syntax und Semantik konnotativ überformt werden. Narrative Bedeutung läßt sich daher grundsätzlich nicht als eine eigene Ebene des Textes begreifen; sie ergibt sich erst aus Aufbau, Funktion und Zusammenspiel der verschiedenen Strukturebenen des Erzählwerks sowie aus der interpretatorischen Bewertung der zunächst deskriptiv-analytisch gewonnenen Ergebnisse im Rahmen eines historisch und genrespezifisch zu differenzierenden literarischen und außerliterarischen Kontexts.
2.3
Ebene der abstrakten Konzepte
Von der narrativen Bedeutung ist als letzte Teilstruktur des Erzähltextes die Ebene der abstrakten Konzepte zu unterscheiden, die in Anlehnung an Karlheinz Stierle bestimmt werden soll. 34 Die Ebene der abstrakten Konzepte enthält die für eine Uberführung von Geschehensmomenten in eine Geschichte zentralen Relevanzgesichtspunkte. Die leitenden Konzepte eines Textes, die als Personen- und Rollenkonzepte (Fürst - Mensch), Handlungskonzepte, moralische Wertkon" 54
Dazu Lotman, Struktur, S. 4off., 95. Stierle, Struktur, S. zioff. Stierle gewinnt die Kategorie der abstrakten Konzepte in Anlehnung an die Strukturale Anthropologie Claude Lévy-Strauss'.
248
zepte (Tugend vs. Staatsklugheit, Liebe vs. gesellschaftlich herrschende Moralnormen) oder historische Epochenkonzepte (Bürgertum und Adel, Bewahrung und Veränderung) weiter differenziert werden können, sind noch nicht narrativ gerichtet, das heißt, sie sind achronisch. Aus den häufig in Opposition stehenden abstrakten Konzepten eines Textes, die in der Regel schon an dessen Konfiguration ablesbar sind, ergeben sich die zentralen Handlungsverläufe einer Erzählung oder eines Romans. Die abstrakten Konzepte sind im Zusammenhang von Literarisierungs- und Ästhetisierungsprozessen insbesondere deshalb von Interesse, weil sie eine unterschiedliche Funktion in fiktionalen und pragmatisch narrativen Texten haben. Pragmatischen Texten werden Wirklichkeitsausschnitte nur dann zum Gegenstand narrativer Erfassung, wenn sie bestimmte Relevanzgesichtspunkte erfüllen. Fiktionale Texte sind dagegen nicht auf die bloß bloße Abbildung und Darstellung besonderer Wirklichkeitsausschnitte gerichtet; ihr eigentliches Thema sind Konstellationen allgemeiner und abstrakter Konzepte, für deren Veranschaulichung literarisch fungible Wirklichkeitsäquivalente benutzt werden. Dabei ist zu beachten, daß die so gestellte Alternative, Darstellung für sich relevanter, besonderer Wirklichkeit oder literarische Verarbeitung wirklichkeitserschließender abstrakter und allgemeiner Konzepte, historisch nicht immer in dieser Ausschließlichkeit bestand. Gerade der aufklärerische Literaturbegriff kannte keine strikte Trennung von Kunst- und pragmatischen Zweckformen, so daß fließende Übergänge zwischen beiden zu beobachten sind. Die Untersuchung der Literarisierungsprozesse wird nachweisen, daß Übergangsformen zwischen pragmatischer Wirklichkeitsdarstellung und literarischer Wirklichkeitsaneignung vermitteln.
II.
Literarisierungsprozesse am Beispiel der R e z e p t i o n des G e h e i m b u n d m a t e r i a l s in fiktionalen u n d nicht-fiktionalen Prosatexten im letzten Viertel des 18. J a h r h u n d e r t s
Das Phänomen der Literarisierung hat in jüngerer Zeit verstärkt die Aufmerksamkeit der literaturwissenschaftlichen Forschung gefunden. Zwar gelangten schon André Jolies' 1930 erschienenen Untersuchungen zur »einfachen Form« und ihrem Verhältnis zur »Kunstform« zu bemerkenswerten Einsichten in die Konstitution komplexer narrativer 249
Texte, 1 doch bedurfte es nach der Ablösung des werkimmanent bestimmten Methodenparadigmas der Literaturwissenschaft in der Mitte der sechziger Jahre noch der vereinten Anstrengung formalistischstrukturalistischer, kommunikationstheoretischer und rezeptionsästhetischer Ansätze, um die traditionelle Grenzziehung von literarischen und nicht-literarischen Texten zu problematisieren. Erst ein erweiterter, historisch differenzierter Literaturbegriff, der auch die in unterschiedlichem Ausmaß literarisierten Gebrauchsformen wie Brief, Essay, Biographie, Tagebuch, Reisebeschreibung einschloß, verschaffte der Erkenntnis Raum, daß Zweck- und literarische Kunstformen in einer engen und produktiven Wechselbeziehung stehen, daß »die Problematisierung v o n Schemata pragmatischer Sprachhandlungen als einer der großen Quellenbereiche für den Ursprung poetischer Formen« gelten kann. 2 Wurde Literarisierung bislang zumeist als ein Prozeß literarischer F o r m u n g und/oder Fiktionalisierung bestimmter pragmatisch narrativer oder systematischer Textsorten verstanden, die zu einem guten Teil v o n ihrer Gegenständlichkeit her definiert waren, so weicht die folgende Analyse v o n Literarisierungsvorgängen im Geheimbundmaterial des 18. Jahrhunderts davon entscheidend ab. Ausgangspunkt ist nicht eine über ihren spezifischen Gegenstand bestimmbare Z w e c k f o r m , sondern eine besondere G e g e n s t ä n d l i c h k e i t , ein historisch greifbarer realer Sachverhalt selbst. Das Textkorpus besteht aus systematischen, pragmatisch narrativen und im engeren Sinne literarischen Texten, deren Gemeinsamkeit zunächst allein auf der Ebene der dargestellten Gegenständlichkeit zu sehen ist. Erst im Verlauf der Analyse wird sich zeigen, daß mit dem Gegenstand und beruhend auf der ihm eigentümlichen narrativen Wertigkeit bestimmte Darstellungsformen verbunden sind, die als typische Strukturzüge des Geheimbundmaterials angesehen werden dürfen, wenn sie auch nur in
1
Jolies, André, Einfache Formen. Legende, Sage, Mythe, Rätsel, Spruch, Kasus, Memorabile, Märchen, Witz, Tübingen 1930. Von Interesse für Literarisierungsprozesse sind insbesondere die Ausführungen über Kasus und Novelle, S. 1 7 1 f r sowie S. z66ff.
2
Stierle, Text, S. 3 1 . - Zum Problem der Literarisierung vgl. auch Füger, Wilhelm, Die Entstehung des Historischen Romans aus der fiktiven Biographie in Frankreich und England. Unter besonderer Berücksichtigung von Courtilz de Sandras und Daniel Defoe, Diss. München 1963, Belke, Horst, Literarische Gebrauchsformen, Düsseldorf 1973, Sengle, Friedrich, Die literarische Formenlehre. Vorschläge zu ihrer Reform, Stuttgart 1967, und besonders Müller, Autobiographie, S. 1-8, 53fr.
250
beschränktem Ausmaß zur Ausprägung eigenständiger Zweck- oder Kunstformen geführt haben. Die narrative Wertigkeit des Geheimbundmaterials und die Struktureigentümlichkeiten seiner textuellen Vermittlung sind die beiden wesentlichen Quellen für die literarisierende und fiktionalisierende Wirkung, die von ihm ausging. Literarisierung bedeutet in diesem Zusammenhang zweierlei: einmal die durch die Bundeselemente bewirkte literarisch-fiktionale Veränderung von Formen aufklärerischer Sachprosa, zum andern die Transformation der Realitätspartikel aus dem Geheimbundbereich in Versatzstücke einer fiktionalen Gestaltung in Erzählungen und Romanen des späten 18. Jahrhunderts. Beide Erscheinungsweisen der Literarisierung existierten nicht isoliert nebeneinander, sondern waren vermittelt über die aufklärerische Institution Kunst, die eine strenge Trennung von Zweck- und Kunstformen nicht kannte, die im Gegenteil alle publizistischen Äußerungsformen, vom Zeitungsartikel bis zum Roman, als Beitrag zu einer primär literarisch sich verstehenden kritischen bürgerlichen Öffentlichkeit betrachtete. 5 Die Untersuchung konzentriert sich auf die Beschreibung und versuchsweise Erklärung von Literarisierungsvorgängen im Geheimbundmaterial. Das methodische Vorgehen dabei ist überwiegend historisch-empirisch, bleibt allerdings bezogen auf die im letzten Kapitel erörterten Prämissen einer Fiktionalisierung sowie auf das Strukturmodell narrativer Texte. Das in Frage kommende Textkorpus ist weder vollständig erfaßt, noch kann und soll das Erfaßte hier vollständig präsentiert werden. Es geht zunächst darum, wesentliche nicht-fiktionale und fiktionale Formen der Geheimbundliteratur (Ordensschriften, Zeitschriftenbeiträge, wissenschaftliche und populärwissenschaftliche Sachbücher, Erzählungen, Romane) exemplarisch in Hinsicht auf ihren Anteil an der Literarisierung des Geheimbundmaterials zu untersuchen. Die unübersehbare Affinität von Geheimbundmaterial und fiktionaler Literatur, die schon die Voraussetzung für diesen Literarisierungsprozeß darstellt, ist zugleich die Grundlage für eine zunehmende ästhetische Funktionalisierung von Geheimbundelementen im Roman zwischen Aufklärung und Romantik. Ursprünglich im Zeichen realistisch-pragmatischen Erzählens vom Roman der Aufklärung
3
Zur aufklärerischen Institution Kunst vgl. Bürger, Chr., Ursprung, S. 7-14, Habermas, Strukturwandel, S. 28-75. Vgl. außerdem oben S. 1. 251
angeeignet, tragen diese Elemente schon bald zur Überwindung eben dieses realistischen Nexus von Literatur und Wirklichkeit bei. Ihr vom Geheimnis beherrschter Wirklichkeitscharakter eröffnet nicht nur die Möglichkeit zur Gestaltung wunderbar-irrealer Bereiche auf der Gegenständlichkeitsebene des Romans. Die Erzählweise selbst verändert sich. Aus dem erzählten Geheimnis wird allmählich ein ästhetisch aufgehobenes, das nur noch in einem sehr geringen Ausmaß auf die Existenz realer Geheimgesellschaften bezogen ist. Das literarische Geheimnis wird identisch mit der ästhetischen Funktion, die ihm im Rahmen einer neu verstandenen Wirklichkeit des Romans zukommt. ι.
Der Rahmen: Sachprosa und erzählerische Kurzformen in der deutschen Aufklärung 4
Aufschlußreich für die Geschichte der Kurzprosaformen wie der aufklärerischen Prosa überhaupt ist die Tatsache, daß an ihrem Anfang eine publizistische Gattung stand, die kürzere, meist fiktionale Texte lehrhaften Inhalts in einen eindeutig pragmatischen Kontext stellte: die Moralischen Wochenschriften.' Die Fiktivierung der Produzentenrolle durch die Erfindung von Verfasser-Masken stand ebenso wie die moralischen Abhandlungen, Charaktere und Erzählungen, die Traumund Fabeleinkleidungen, die Allegorien und die fiktiven Briefe und Leseranreden im Dienst einer didaktisch verstandenen publizistischen Absicht. Das für die Erzählerfiguren des Aufklärungsromans folgenreiche Spiel mit der fiktiven Verfasserschaft hatte keineswegs die Illusionierung des Lesers zum Ziel. Fernab von jedem Anspruch auf historische Authentizität und Wahrheit, wurde sie als ein transparentes Mittel eingesetzt, um das Gespräch mit dem Leser zu beleben und zu intensivieren und so die lehrhafte Intention der Gattung zu verwirklichen. Nur scheinbar stehen also die Erfindung absonderlicher Verfasser-Ichs und Figuren und die Gestaltung wunderbarer, grotesker 4
'
E s fehlt noch immer eine zusammenfassende Darstellung zur Prosa der Aufklärung. Unbefriedigend bleibt das Bändchen von Jacobs, Jürgen, Prosa der Aufklärung. Kommentar zu einer Epoche, München 1976. Noch immer informativ, wenn auch methodisch veraltet: Fürst, Rudolf, Die Vorläufer der modernen Novelle im achtzehnten Jahrhundert. Ein Beitrag zur vergleichenden Litteraturgeschichte, Halle 1897. Einen umfassenden Überblick über Prosaformen der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gibt die zu wenig beachtete Untersuchung von Gonthier-Louis Fink, Naissance et apogée du Conte Merveilleux en Allemagne 1740-1800, Paris 1966. Dazu Martens, Botschaft der Tugend, S. 15 -99.
252
und zuweilen märchenhafter Erzählgegenständlichkeiten in den Moralischen Wochenschriften im Gegensatz zu deren pragmatisch-zweckhaftem Anliegen. Der pragmatische Gestus wurde gewährleistet einerseits über den lehrhaften Gehalt der Texte, der sie als Beiträge zur moralischen Selbstverständigung der aufklärerischen Gesellschaft qualifizierte, andererseits über die Durchsichtigkeit des Spiels mit der literarischen Fiktion, die hier eigentümlich zurückgenommen und relativiert erscheint. Dann erst wurde die Fiktionalität als solche problematisch, als der realistische Anspruch das Dargestellte und seine Vermittlungsformen selbst einbezog, als das pragmatisch motivierte Spiel mit der Fiktion literarischer Ernst geworden war. Nach der Jahrhundertmitte kam es zu einer Auflösung der Gattung der Moralischen Wochenschriften. Ihre Nachfolge traten auf der einen Seite die politischen, ökonomischen, kulturellen und literarischen Zeitschriften an, auf der anderen Seite eine Reihe narrativer literarischer und nicht-literarischer Formen, bis hin zum Roman. Noch die Dissoziation der Gattung weist so zurück auf die ursprüngliche Symbiose von Sachprosa und Kunstform, die ihren engen wechselseitigen Bezug auch in den folgenden Jahrzehnten nicht verloren. Das gilt auch für die moralische Erzählung, die in Deutschland insbesondere nach der Übersetzung von Marmontels Contes moraux 1766 weite Verbreitung fand. 6 Die zumeist in der Form des literarisierten Exemplums gehaltene moralische Erzählung rekurrierte nicht selten auf katechetische Muster theologischer Unterweisung, hier zugleich die Tradition der Moralischen Wochenschriften wie der pietistischen Erbauungsliteratur fortsetzend. Typische Figuren im Sinne einer zeitgenössischen Sozialtypologie wurden in moralisch verfängliche Situationen gebracht, die ihre Tugendhaftigkeit auf die Probe stellten. Die zunehmend komplexeren Handlungsabläufe thematisierten wichtige Bereiche der bürgerlichen Alltagswelt, wobei die gattungskonstitutive Handlungszuspitzung, wie schon zuvor im Roman Richardsons und Gellerts, durch den Rückgang auf genuin literarische Erzählmuster des Abenteuerlichen ermöglicht wurde. Stand am Anfang der Gattung die exemplarische Veranschaulichung fixierter mo6
Dazu Fürst, Vorläufer, S. iozff., Beyer, Hugo, Die moralische Erzählung in Deutschland bis zu Heinrich von Kleist, Diss. Frankfurt/M. 1939, F lessau, Kurt-Ingo, Der moralische Roman. Studien zur gesellschaftskritischen Trivialliteratur der Goethezeit, Köln/Graz 1968, Mortier, Roland, Diderot in Deutschland 1750-1850, Stuttgart 1967, S. 154fr.
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raiischer Wert- und Unwertvorstellungen, so trat im Laufe ihrer Entwicklung die Veranschaulichung selbst mehr und mehr in den Vordergrund. Die latent gegebene ästhetische Überschüssigkeit einer fiktionalen Gestaltung der ursprünglich pragmatisch verfaßten Textform Exempel hatte zur Folge, daß nicht länger der Geschichte die Moral als kanonisierte Tugendvorschrift vorausging, daß vielmehr die Geschichte als komplexe literarisch gestaltete Erfahrung die Moral selbst auf die Probe stellte, die, aus dem Glashaus rationalistischer Moralkasuistik entlassen, jetzt gleichsam experimentell den Bedingungen gesellschaftlicher Wirklichkeit ausgesetzt wurde. Freilich darf diese Entwicklung der moralischen Erzählung von der exemplarischen Demonstration moralischer Lehrsätze zu einer eigenständigen Geschichte mit moralischem Gehalt nicht vordergründig mit einem Zurücktreten der pragmatischen Funktion dieser Form zugunsten einer ästhetischen Autonomie gleichgesetzt werden. Ganz sicher stand sie in Zusammenhang mit dem epochalen wissenschaftsgeschichtlichen Paradigmawechsel der Aufklärung vom Rationalismus zum Empirismus/Sensualismus, in dessen Verlauf die Erfahrung, auch die literarisch vermittelte, einen völlig neuen Stellenwert erhielt. Ohne wesentliche Preisgabe ihrer pragmatischen Funktion konnte aber jetzt im Rahmen eines realistischen Literaturkonzepts die ästhetische Funktion der moralischen Erzählung zu ihrem Recht gelangen. Nicht länger war Literatur bloße Einkleidung, Ornament oder Instrument a priori feststehender Einsichten philosophischer oder wissenschaftlicher Provenienz; sie legitimierte sich ansatzweise als eine eigenständige Erkenntnisform, die ihren kritischen Anspruch nur dann einlösen konnte, wenn ihr in Hinsicht auf ihre unbestrittene pragmatische Funktion ein Status relativer ästhetischer Autonomie eingeräumt wurde. Dazu steht nicht in Widerspruch, daß die aufklärerische Prosa im Zeichen dieser Wendung zum realistischen Erzählen sich zunehmend pragmatische Zweckformen aneignete, die eine Erschließung der neu gewonnenen Erfahrungswirklichkeit allererst ermöglichten. 7 Eine wichtige Rolle spielte dabei die Fallstudie, die im Zusammenhang der 7
Beispiele für pragmatische Zweckformen, die Eingang in die Literatur der Aufklärung fanden, wären etwa der Brief, das private Tagebuch, die Reisebeschreibung und die Autobiographie. Aufschlußreich für die Rolle des Pietismus bei der Ausbildung der Erfahrungsseelenkunde und bei der Literarisierung privater Aufzeichnungen noch immer: Günther, Hans R. G., Psychologie des deutschen Pietismus, in: DVjs. 4, 1926, S. 144-176.
254
Ablösung der rationalistischen Psychologie durch die Erfahrungsseelenkunde eine erhebliche Aufwertung erfuhr. 8 Persönliche Aufzeichnungen, Tagebücher, Korrespondenzen, Gerichtsakten, Protokolle, Krankenberichte und eigene Erlebnisse wurden die Grundlage für mehr oder minder ausführliche Fallbeschreibungen, die durch zeitgenössisch relevante deviante Verhaltensweisen und ein grundsätzliches Interesse an der »Seelenkrankheitskunde«, wie die entsprechende Sparte in Karl Philipp Moritz' Magazin %ur Erfahrungsseelenkunde überschrieben ist, motiviert waren. 9 Die »Geschichten« von Schwärmern und Melancholikern, Geistersehern und Telepathen, Wahnsinnigen und Kriminellen wurden hier erzählt, wobei Faktenausbreitung und psychologische Analyse in recht unterschiedlichem Ausmaß aufeinander bezogen waren. Von Anfang an hat sich die Zweckform Fallstudie zur Erreichung ihrer pragmatischen Absicht literarische Mittel zunutze gemacht. Das beginnt mit der Titelgebung, die teils sensationelle Züge trägt {Gewalt der hiebe, Eine Unglücksweissagung, Eine fürchterliche Art von Ahndungsvermögen, Ein Dichter im Schlaf, Ein neuer Werther), teils auf zeitgenössische Genres anspielt (Eine Schat^gräbergeschichte, Stärke des Selbstbewußtseins, Etwas aus Robert G. . .s Lebensgeschichte oder die Folgen einer unzweckmäßigen öffentlichen Schuler^iehung, Verrückung aus Liebe, Beispiel einer außerordentlichen Vergessenheit, Schack Fleurs fugendgeschichte). Eine ganze Reihe von Beiträgen in Moritz' Magazin sind deutlich literarisch überformt. 10 Narrative Eingangsund Schlußformeln, RafFungstechniken, die Erzeugung von Erzählspannung, Dialogisierung, szenische Vergegenwärtigung, vor allem aber die narrative Geschlossenheit einiger Geschichten, die sich nicht auf die Darstellung von Fakten beschränken, sondern diese einem einheitlichen, meist psychologisch fundierten Erzählnexus unterord8
Dazu Schings, Hans-Jürgen, Melancholie und Aufklärung. Melancholiker und ihre Kritiker in Erfahrungsseelenkunde und Literatur des 18. Jahrhunderts, Stuttgart 1977, S. 21 off., Dessoir, Max, Abriß einer Geschichte der Psychologie, Heidelberg 1911.
9
Gnothi sauton oder Magazin \ur Erfahrungsseelenkunde, als ein Lesebuch für Gelehrte und Ungelehrte. Mit Unterstützung mehrerer Wahrheitsfreunde, hg. von C. Ph. Moritz,
10
10 Bde., Berlin 1783-1793. Für ausführliche Beispielanalysen ist hier nicht der Ort. Statt dessen sei auf folgende deutlich literarisch überformte Texte im Magazin verwiesen: Etwas aus Robert G. . .s
Lebensgeschichte oder die Folgen einer un^weckmässigen öffentlichen Schuler^iehung (MESK 1,3, 1783, S. 1-28, 2,1, 1784, S. 1-13), Eine Unglücksweissagung (MESK 3,1, 1785, S. 47-56), Stärke der Einbildungskraft (MESK 5,1, 1787, S. 62-64), Gewalt der Liebe ( M E S K ;,2, 1787, S. 47-53), Eine Traumahndung
( M E S K 5,3, 1787, S. 75-77).
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nen, treiben die Literarisierung der Zweckform zuweilen so weit, daß diese, sieht man einmal von dem eindeutigen wissenschaftlich-pragmatischen Kontext der Zeitschrift ab, von fiktionalen narrativen Textformen wie der psychologischen Erzählung nicht mehr zu unterscheiden sind. Denn zu gleicher Zeit, da die Zweckform Fallstudie literarische Mittel einsetzte, um ihre Wirksamkeit zu erhöhen, wurde im Gegenzug literarischen Texten die Fiktion eben dieser - oft zu einer Art biographischen Anamnese erweiterten - Zweckform unterlegt, wobei die authentische Grundlage in den Hintergrund trat oder gänzlich fehlte. Schillers 1786 erschienene Erzählung Der Verbrecher aus verlorener Ehre etwa, auf die später noch ausführlicher einzugehen sein wird, läßt sich durchaus als eine zeitgemäße Bearbeitung des künstlerischen Materials der moralischen Erzählung begreifen." Unverkennbar liegt hier aber auch eine psychologische Erzählung vor, die sich die literarisierte Zweckform der Fallstudie produktiv zu eigen macht. Es verwundert daher nicht, daß ausgerechnet Moritz dieser als »wahre Geschichte« deklarierten Erzählung hohes L o b zollte. Als ein weiteres Beispiel der zumeist in Zeitschriften publizierten Form der psychologischen Erzählung seien Christian Heinrich Spieß' Biographien der Wahnsinnigen genannt, die zuerst 1795/96 erschienen. 12 In der Geschichte der Esther L., der der Herausgeber Wolfgang Promies 1966 bezeichnenderweise die Uberschrift Das arme irre Judenmädchen gab, ist aus der literarisierten Zweckform, wie sie für das Magazin für Erjahrungsseelenkunde charakteristisch war, längst die eigenständige fiktionale Form der psychologischen Erzählung geworden. Hier wird auf erzählerisch anspruchsvolle Weise, im Rahmen einer überwiegend narrativ funktionalisierten Geschichte und auf der Grundlage einer elaborierten Figurengestaltung, nicht etwa der Fall oder die Biographie der realen Esther L. dargestellt; vielmehr schafft sich die Erzählung allererst ihren eigenen "
Vgl. dazu unten S. 347fr. In einem Brief an Körner vom 10.12.1788 berichtet Schiller von einem Besuch Moritz' in Weimar. »In Rom fand er meine Thalia, und einige ähnliche Empfindungsarten, die im Sonnenwirth (in meinem Verbrecher aus Infamie) ausgestreut sind und mit seinem Reiser übereintreffen überraschten ihn sehr.« {Schiller, Friedrich, Briefe, hg. von Fritz Jonas, 7 Bde., Stuttgart 1892-1896, hier Bd. 2, S. 173) - Große Nähe zu Schillers früher Prosa weist auch die Erzählung Ein Diebstahl aus Großmuth von einem siebzehnjährigen Knaben ( M E S K 2,1, 1784, S. 54-59) auf.
11
Spieß, Christian Heinrich, Biographien der Wahnsinnigen, hg. von Wolfgang Promies, Neuwied/Berlin 1966. Die Geschichte der Esther L. befindet sich ebd., S. 1 3 0 - 1 8 1 .
256
Gegenstand, dem die authentische Biographie, wenn es sie überhaupt gegeben hat, nurmehr als Material zugrundeliegt. Ihre Relevanz im Sinne eines abstrakten Konzepts gewinnt diese Erzählung ebenso wie ihre narrative Bedeutung im einzelnen nicht mehr aus einem besonderen realen Sachverhalt, sondern aus ihrer ästhetischen Struktur selbst. Der kritische aufklärerische Anspruch, der schon die Zweckform kennzeichnete, wird hier auf genuin literarische Weise verwirklicht. Der Fallstudie bzw. der psychologischen Erzählung nahe verwandt ist die in ihren Anfängen stark sozialpsychologisch ausgerichtete Kriminalerzählung, die ebenfalls aus der Bearbeitung authentischer Fälle hervorging. 1 ' August Gottlieb Meißners Kriminal-Geschichten ν on 1796 etwa zeigen deutlich die Literarisierung von pragmatischen Zweckformen in analytisch-lehrhafter Absicht. 14 Wiederum ist hier auch Schiller zu nennen, der 1792 als Herausgeber eine Bearbeitung »merkwürdiger Rechtsfälle« initiierte, die er als einen »Beitrag zur Geschichte der Menschheit« verstanden wissen wollte. Solche einschlägigen Anthologien waren in der Regel nicht die erste Veröffentlichungsform für diese Texte. Wichtigster Publikationsort war - und das gilt für die aufklärerische Kurzprosa insgesamt, nicht selten sogar den Roman — die Zeitschrift. Der publizistische Rahmen der Zeitschrift war nicht ohne Bedeutung für den eigentümlichen pragmatisch-fiktionalen Gestus der Erzählprosa des 18. Jahrhunderts. Ein Blick in Heinrich Christian Boies Neues Deutsches Museum oder in Meißners Apollo zum Beispiel verschafft nicht nur einen Überblick über den reichen Formenkanon der aufklärerischen Kurzprosa; zugleich wird in dem vielgestaltigen Nebeneinander von Texten die noch nicht vollzogene Trennung von Zweck- und Kunstform, von pragmatischer und ästhetischer Funktion der Literatur erkennbar, sie findet hier gleichsam ihren institutionellen Ausdruck. 1 ' Geschichtserzählungen und historiogra-
14
1!
Vgl. dazu Schönhaar, Rainer, Novelle und Kriminalschema. Ein Strukturmodell deutscher Erzählkunst um 1800, Berlin/Zürich 1969, Marsch, Edgar, Die Kriminalerzählung. Theorie, Geschichte, Analyse, München 1972, Fürst, Vorläufer, S. 144fr. Schönert, Jörg, Kriminalgeschichten in der deutschen Literatur zwischen 1770 und 1890. Zur Entwicklung des Genres in sozialgeschichtlicher Perspektive, in: Geschichte und Gesellschaft 9, 1983, S. 49-68. In diesem Zusammenhang wären auch die von Schiller angeregten Bearbeitungen des Pitaval zu nennen. Dazu s. unten S. 346fr. Meißner, August Gottlieb, Kriminal-Geschichten, Nachdruck der Ausgabe Wien 1796, Hildesheim/New York 1977 Neues Deutsches Museum, hg. von Heinrich Christian Boie, 3 Bde., Leipzig 1789/90, Apollo. Monatsschrift, hg. von A . G . Meißner, 9 Bde., Prag und Leipzig 1793-1797.
257
phische Essays, philosophische Erzählungen und politische Reportagen, Dialoge und Gedichte, Märchen und Rittergeschichten, Kriminalerzählungen und moralische Beispielgeschichten, statistische Untersuchungen und »wahre Geschichten« sind hier unter dem Dach einer Zeitschrift versammelt, deren Programm, wie Meißner in der Ankündigung seines Apollo es formulierte, auf »eine Mannichfaltigkeit in Ansehung des Inhalts und der Nuzbarkeit« aus ist. Wie sehr sich seit der Zeit der Moralischen Wochenschriften Realitätsanspruch und Fiktionsbewußtsein der aufklärerischen Prosa verändert haben, dokumentiert eine »wahre Geschichte« von Christian Heinrich Spieß, die ausgerechnet den reißerischen Titel Der Thorwächter an der Höllenpforte trägt.' 6 Das durchsichtige Spiel mit der Fiktion ist hier abgelöst worden von einer Authentizitätsfikfion in legitimatorischer Absicht. Der Erzähler hat, wie er vorgibt, den Protagonisten und den Schauplatz seiner Geschichte, die die Höllenvisionen eines wahnsinnigen Jägerburschen aus Tirol erzählt, selbst besucht. Die Lizenz zur Gestaltung unwirklich-wunderbarer Bereiche wird gerade durch die mehr oder minder Glaubwürdigkeit erheischende Versicherung ihrer authentischen Qualität erworben. Das Ergebnis scheint auf den ersten Blick paradox: Gerade die Wendung der fiktionalen Literatur zur Realität hat das Problematischwerden des Fiktionsbewußtseins zur Folge. Erst wenn die fiktionale Gegenständlichkeit als wirkliche sich ausgibt, wird eine eventuelle Umdeutung ihres in der Realität vorhandenen Seinsmodus, wird ihre Fiktivierung als solche spürbar. Erst wenn das literarisch Unwirkliche, Wunderbare aus der literarischen Konvention (Gattungsbeschränkung: Märchen, Legende etc.) ausbricht und in der Fiktion als wirklich existierendes erscheint, wird die Diskrepanz zwischen Realität und Fiktion wirksam, die zuvor durch die konventionell abgesichterte Trennung beider Bereiche unproblematisch blieb. Die Häufung von Authentizitätsfiktionen verrät den gesteigerten Legitimationsdruck der pragmatisch-realistischen Erzählprosa, die auf die traditionellen literarischen Bestände des Abenteuerlichen und des Wunderbaren nicht Verzicht leisten mochte. Da mußten Bezirke der zeitgenössischen Wirklichkeit als Material literarischer Gestaltung willkommen erscheinen, die schon dort potentiell abenteuerlich-wunderbare Qualitäten besaßen. Dieser letzte Aspekt ist es insbesondere, der den Zusammenhang von Realitätsanspruch und ,6
Apollo,
258
Bd. 2, Julius 1793, S. 247-278.
Fiktionsbewußtsein f ü r eine Erklärung der literarischen Rezeption des Geheimbundmaterials wichtig werden läßt. N u r so ist auch die Beliebtheit und Verbreitung der Gespenster-, Geister- und Schauergeschichten zu verstehen, die zwar gleichfalls aus literarisierten pragmatischen Z w e c k f o r m e n hervorgegangen sind, jedoch schon relativ bald ihren kritischen aufklärerischen Anspruch hinter sich ließen, um in massenhafter Verbreitung dem zunehmend über das gedruckte Buch befriedigten Bedürfnis nach Kolportage neue Nahrung zu verschaffen. 1 7 Beide Möglichkeiten der literarischen Auswertung dieser besonderen Realitätsbezirke des Kriminellen und des Wahnsinns, des Geheimen und des Magischen, die im Geheimbundbereich eine einzigartige Verdichtung erfahren, werden noch weiter zu verfolgen sein: die trivialliterarische Verarbeitung im Geheimbundroman ebenso wie die subtile ästhetische Funktionalisierung der Geheimbundelemente in den hier ausgewählten Romanen des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Dabei wird sich zeigen, daß die literarische Rezeption des Geheimbundmaterials nur als Ganze angemessen darstellbar und erklärbar wird, da auch die Trivialliteratur zu dem Bestand des künstlerischen Materials beitrug, das die hohen Romane der Zeit bearbeiteten. Selbst das Märchen der A u f k l ä r u n g konnte sich in bestimmten Phasen seiner Entwicklung einer pragmatischen Funktionalisierung nicht entziehen. 18 Weder die rationalistischen Feenmärchen französischer oder orientalischer Provenienz, noch die »Volksmärchen der Deutschen« (Musäus), noch etwa Wielands freie Märchenbearbeitungen beließen es bei der f ü r die Gattung typischen unvermittelten Konfrontation v o n realer Welt und der Welt wunderbar-phantastischer Begebenheiten. Das paradoxe Nebeneinander v o n Zauber und Alltag wurde aufgehoben durch die L ö s u n g des Zaubers mittels seiner rationalistischen Erklärung, was letztlich eine Entzauberung auch des Alltags bewirkte. D e r narrative Zusammenhang von Geheimnis und 17
18
Dazu Appell, Jobann Wilhelm, Die Ritter-, Räuber- und Schauerromantik. Zur Geschichte der deutschen Unterhaltungsliteratur, Leipzig 1859, Müller- Fraureuth, Carl, Die Ritter- und Räuberromane, Halle 1894, Fink, Naissance, S. 535 ff., und nicht zuletzt Ernst Blochs anregende Aperçus »Technik und Geistererscheinungen« und »Philosophische Ansicht des Detektivromans«, in: Bloch, Ernst, Literarische Aufsätze, Frankfurt/M. 1965, S. 558-365 und S. 242-263. Dazu Fink, Naissance, Hillmann, HeinWunderbares in der Dichtung der Aufklärung. Untersuchungen zum französischen und deutschen Feenmärchen, in: DVjs. 43, 1969, S. 76-113.
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Aufklärung, der auch für das Geheimbundmaterial von größter Bedeutung war, fand sich hier schon in der Form des explained supernatural, des merveilleux expliqué, des aufgeklärten Wunderbaren.'9 Das Schema von Geheimnis und Aufklärung war vorgeprägt in der literarisierten Sachprosa der Aufklärung, deren Selbstverständnis in diesem Bereich durchaus wörtlich zu nehmen ist. Ob Fälle von Aberglauben oder Gespensterfurcht, ob Weissagungen oder Visionen, Zauberei oder Geisterzitationen: die aufklärerische Publizistik war - hier das Erbe der Theologie antretend — zu einem guten Teil damit beschäftigt, »unerhörte Begebenheiten« und »geheimnisvolle Vorfalle« dieser Art einer vernunftgeleiteten und zunehmend auch erfahrungsgegründeten Untersuchung zu unterziehen.20 Noch Goethes Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten, die durch die poetologischen Reflexionen des Rahmens wie durch den Formenkanon der eingelegten Erzählungen so etwas wie die poetische Summe der aufklärerischen Erzählprosa zogen, versäumten nicht, mit der Erzählung von der Sängerin Antonelli eine Gespenstergeschichte aufzunehmen.21 Es entspricht durchaus der ursprünglich pragmatischen Indienstnahme dieser Erzählform, wenn die Geschichte, vom Abbé mit einem um die poetische Lizenz wissenden Augenzwinkern dem Divertissement der adligen Gesellschaft dargeboten, eine diskursive Rezeption erfährt. Das »Urteilen und Meinen« der Gesellschaft, die auf eine »Aufklärung der Geschichte« aus ist, kulminiert in der Erzählung einer »wahren Begebenheit«, die ein geheimnisvolles Klopfen in einem benachbarten Schloß zum Gegenstand hat. »Es ist schade«, resümiert der Erzähler, »daß man solche Vorfälle nicht genau untersucht und daß man bei Beurteilung der Begebenheiten, die uns so sehr interessieren, immer zwischen verschiedenen Wahrscheinlichkeiten schwanken muß, weil die Umstände, unter welchen solche Wunder geschehen, nicht alle bemerkt sind.« (HA, VI, 159) Allerdings zogen Goethes Unterhaltungen 19
20
21
Vgl. dazu Fink, Naissance, S. 573fr., sowie unten S. 272fr. Eine Berücksichtigung internationaler Aspekte, eine Einbeziehung des Gothic Novel oder des Roman noir ist hier nicht möglich. Dazu Bausinger, Hermann, Aufklärung und Aberglaube, in: DVjs. 37, 1963, S. 345-362, Wehn, Carl, Der Kampf des >Journals von und für Deutschland< gegen den Aberglauben seiner Zeit. Eine volkskundliche Untersuchung auf geisteswissenschaftlicher Grundlage, Diss. Köln 1937. Bestimmte Formen des Aberglaubens sind Gegenstand auch des Magazins Erfahrungsseelenkunde und der in Kapitel 1, V. untersuchten Zeitschriften. Goethes Werke, Hamburger Ausgabe, hg. von Erich Trunz, Bd. V I , München 1977, S. 146-157, S. 157-159. Nachweise erfolgen im Text (HA).
260
nicht nur die poetische Summe, sondern auch den Schlußstrich unter die aufklärerische Prosa und ihren pragmatischen Anspruch. Mit dem Märchen entstand eine entschieden poetische Kunstform, die den pragmatisch-realistisch bestimmten Rahmen des künstlerischen Materials der aufklärerischen Institution Kunst längst verlassen hat. 2.
Literarisierungsprozesse im Geheimbundmaterial
2.1
Ordensliteratur
In Anbetracht der unübersehbaren Affinität von Geheimbundbereich und Literatur wird es kaum mehr verwundern, wenn Mitglieder der geheimen Gesellschaften sich selbst der literarischen Fiktion bedienten, um eine quasi-öffentliche Verständigung über Zwecke und Mittel, über das Geheimnis der Freimaurerei voranzutreiben. 1781 erschien anonym das Buch des Hofpredigers und einflußreichen Freimaurers J o hann August Starck Ueber den Zweck des FreymäurerordensDie vom Titel geweckte Erwartung eines systematischen argumentativen Texts, ob Traktat oder Programmschrift, wird zunächst enttäuscht. Die beiden ersten Abschnitte behandeln die »Wichtigkeit des Freymäurerordens« und seine »angeblichen Endzwekke«. Eine Antwort auf die im Titel enthaltene Fragestellung bleibt ausgespart, oder besser: aufgespart. Der dritte Abschnitt unterbricht nämlich unvermittelt den systematischen Textzusammenhang durch die Erzählung der Geschichte des Herrn von L.; ihr folgen zwei weitere »Geschichten«, die insgesamt mehr als die Hälfte des Buches ausmachen. Erst im achten Abschnitt Betrachtungen über die vorhergehenden Erzählungen - wird die systematische Argumentation wieder aufgenommen und der »Endzweck des Ordens« näher untersucht. Jede dieser drei ausdrücklich als authentisch bezeichneten Geschichten, die gleichsam als literarisch-fiktionale Argumente eines systematischen Begründungszusammenhangs fungieren, bedient sich einer Autobiographiefiktion. Im ersten Text erzählt ein Herr von L. seinem Freund die eigene »Geschichte in so weit sie den Orden betrift«. (30) Der schon durch den Rahmen betonte didaktische Gestus der Erzählung wird noch verstärkt durch die fiktive Erzählsituation. Die Ordenserfahrungen L.'s sollen den Freund vor Unheil bewahren, "
[Starck, Johann August], Ueber den Zweck des Freymäurerordens, Germanien [Berlin] 1781. Zu Starck vgl. auch oben S. 30. 261
indem sie exemplarisch die Gefahren demonstrieren, die die Freimaurerei für den Suchenden birgt: »Sie können es auch von mir fordern, daß ich Sie für die Irrwege sichere, in welche Sie ohne die Hand eines zuverläßigen Führers, zuversichtlich gerathen würden.« (ebd.) Starck rekurriert in seiner Erzählung deutlich auf das künstlerische Material der moralischen Erzählung, das über das autobiographische Erzählmuster mit dem Geheimbundmaterial verknüpft wird. Die maurerischen Streifzüge des schon in seiner Jugend von übermäßiger Neugier, Eitelkeit und einem sonderbaren Hang zum Verbotenen und Geheimen geplagten Helden verwickeln diesen in eine Reihe von Betrügereien, Skandalen und Logenzwisten, die zusammengenommen durchaus treffende Skizzen der zeitgenössischen Freimaurerei ergeben. Zwar erliegt der Held mancherlei Versuchungen, zwar mißachtet er in gefahrlicher Situation den Rat eines von ihm verkannten Freundes, wird dadurch »schändlich betrogen« und hat sich selbst »schrecklich hintergangen«. (56) Doch sind alle Irrungen und Wirrungen letztlich nur Vorbereitung auf das eigentliche Mysterium, dessen Eröffnung dem Helden nach Einsicht und Reue winkt: »Ich legte alle meine Cordons, Zierrathen und Buntwerk ab, und ging so von allen Kennzeichen des Irrthums, die ich ehemals so hoch geschätzt hatte, von der Hand meiner beiden Freunde geleitet, in das Heiligthum, das von der ächten Maurerey der Wahrheit, und einer von der Welt noch immer unerkannten Weisheit geweihet ist. - « ( 5 6£.) Auch die zweite Erzählung, die Geschichte des Grafen von P. an den Abt von R-d, folgt noch dem Muster der moralischen Erzählung. Allerdings wird hier sehr viel stärker schon von dem Abenteuerlich-Sensationellen des Geheimbundbereichs Gebrauch gemacht. Der Graf von P., der sich auf diplomatischer Mission in London aufhält, läßt sich dort als Freimaurer aufnehmen. Enttäuscht von der Inhaltsleere des maurerischen Geheimnisses und der Monotonie des Logenlebens, findet er bald Anschluß an einen alchemistischen Zirkel, in dessen Labor mit dem Ziel experimentiert wird, aus unedlen Metallen Silber herzustellen. Der Versuch gelingt schließlich, doch bevor die Silberproduktion den erhofften finanziellen Gewinn einbringt, greift die Polizei ein. Der Graf kann sich seiner Verhaftung nur durch eine Flucht nach Paris entziehen. Erneut erliegt er der maurerischen Versuchung, er durchläuft eine Vielzahl von Hochgraden verschiedener Systeme und reist schließlich mit einem Erzbischof nach Rom. Dort wird er eines Abends zufällig der Zeuge eines Überfalls auf einen ihm unbe262
kannten mysteriösen Freimaurer namens G-li. Das Opfer fühlt sich seinem Retter, dem Grafen von P., verpflichtet, ist aber aus Sicherheitsgründen gezwungen, noch in der gleichen Nacht nach Ό * abzureisen. Auf seine Bitte hin folgt ihm der Graf, kann G-li jedoch dort trotz intensiver Nachforschungen nicht finden. Statt dessen gerät er auf geheimnisvolle Weise dem Magier und Alchemisten Sarpelli in die Hände, der nach vergeblichen Versuchen, den Geist G-li's zu beschwören, schließlich dessen Gesicht auf einem magischen Spiegel erscheinen läßt. Die Begegnung mit Sarpelli steht deutlich im Zeichen des Unheimlichen. »Ich bin nicht furchtsam«, erinnert sich der Graf, »aber die Entlegenheit des Ortes, die Todtenstille der Nacht, die Düsternheit des Zimmers, und endlich der Anblick des Mannes selbst, der hereintrat, machte daß ich mich zehn Meilen weit von dem Ort entfernt zu seyn wünschte . . .« (87) In der Person des Magiers, des Unbekannten, dessen Identität sich erst später aufklärt, entfaltet sich schon sichtlich das atmosphärische Potential der figuralen Elemente des Geheimbundmaterials. »Der Bewohner dieser dunklen Wohnung war lang und sehr mager, sein Gesicht war todtenbleich, ein Paar schwarze funkelnde Augen lagen tief im Kopfe, und waren mit Augenbraunen bewölkt, die einem wilden Dornenstrauch nicht unähnlich waren, und eine große pechschwarze Perücke setzte noch das übrige hinzu was seinem fürchterlichen Ansehen fehlen mogte.« (88)23 Doch bleibt das Unheimliche Episode. Es greift, noch Eigenschaft nur eines Teils der erzählten Welt, erst ansatzweise auf die Erzählweise selbst über. Der Graf wird schon bald ein Schüler Sarpellis, der, Mittelpunkt eines geheimen Zirkels einflußreicher Persönlichkeiten, in einem entlegenen Landhaus seinen alchemistischen Arbeiten nachgeht. Als eines Abends überraschend die Inquisition bei einer Séance auftaucht, wird auch der Graf verhaftet und ins Gefängnis gebracht. Jetzt erst, gerade zur rechten Zeit, erscheint der längst vergessene G-li wieder auf der Bühne des Geschehens. Als Dominikaner verkleidet, verhilft er seinem früheren Retter zur Flucht, indem er ihm die zu einer Befreiung notwendigen Utensi2
' D i e Beschreibung Sarpellis weist verblüffende Ähnlichkeiten mit der Erscheinung anderer Magiergestalten im R o m a n des späten 18. Jahrhunderts auf. Vgl. etwa Schillers Armenier (Schiller, Friedrich, Sämtliche Werke, hg. v o n Gerhard Fricke und Herbert G . G ö p f e r t , Bd. 5, München ' 1 9 7 7 , S. ; 6 ) oder Wielands Kerinthus im Peregrinas Proteus ( Wielands Gesammelte Schriften, hg. v o n Hans Werner Seiffert, Erste Abteilung, Bd. 1 7 , Berlin 1 9 7 6 , 8 . 1 2 3 ) . Weitere Belege bei Thalmann, Trivialroman,
S. 94fr. 263
lien ins Gefängnis schmuggelt: Federfeile, Seife, Schwamm und Strick. Starcks kein abenteuerliches Detail auslassende Erzählung versäumt am Ende nicht, den (ordens-)moralischen Nutzen anzugeben, der allein ihre Aufnahme in den pragmatischen Kontext seiner Schrift über den Zweck der Freimaurerei rechtfertigt. G-li, so beschließt der Graf seine Erzählung, habe ihm nicht nur Freiheit und Leben gerettet, »sondern er hat mich auch der Wahrheit des Ordens zugeführt, die sich aber so sehr von jenen falschen Geheimnissen unterscheidet, in welche ich ehemals verstrickt worden, als sie über das kindische Spielwerk, das andere mit dem Orden treiben, erhaben ist, und die gegenwärtig meine größte Beruhigung und Zufriedenheit ausmacht.« ( 1 1 5 ) Die ausführliche Inhaltsangabe zeigt, in welchem Maße sich die auf Geheimbundelementen beruhende Abenteuerhandlung verselbständigt hat auf Kosten der ursprünglichen, pragmatisch begründeten Erzählintention. Der moralische Gestus der Erzählung verkommt zum Feigenblatt einer erzählerischen Doppelmoral, die ihre eigentliche Absicht zu kaschieren sucht. Keineswegs benutzt Starck das literarische Medium zur kritisch-experimentellen Untersuchung möglicher Vorund Nachteile des Geheimen. Im Gewand der Aufklärung wird hier die Mystifikation des Geheimen vorangetrieben. Literatur steht im Dienst der Ordenspropaganda. Nicht wird die wirkliche Täuschung aufgehoben zur bewußten Fiktion, vielmehr lebt diese Täuschung in der Fiktion auf literarische Weise fort. Starcks Erzählung setzt die Mythologie der geheimen Gesellschaften in der Fiktion für wirklich und verwendet sie so als negative Folie für die von seinem freimaurerischen System versprochenen Beglückungen. Auf die manipulativen Absichten Starcks kann hier nicht näher eingegangen werden. 24 Interessant ist aber zu sehen, inwieweit diese Absichten eine Literarisierung des Geheimbundmaterials zur Folge haben. Deutlich werden Geheimbundelemente zu Versatzstücken einer durchaus die Spannung des Geheimnisses nutzenden Abenteuerhandlung verarbeitet. Die Reisen des Helden sind motiviert allein durch dessen Hang zum Geheimen, die einzelnen Episoden rekurrieren unverkennbar auf die zeitgenössische Mythologie geheimer Gesellschaften, wenn auch die tatsächliche Ausgestaltung der Abenteuer - Überfall, Verhaftung, Gefängnis, Flucht und Befreiung - sichtlich typische Handlungselemente des kolportagehaften Abenteuerromans verwen24
Vgl. dazu oben S. 13off.
264
det. Die figuralen Elemente des Geheimbundmaterials verdichten sich in der Person des Magiers Sarpelli, die mehr oder minder variiert in einer Vielzahl anderer Erzählungen und Romane mit Geheimbundkonfiguration enthalten sein wird. Das autobiographische Erzählmuster, dessen fiktionale Durchlässigkeit dem realistischen Anspruch der Erzählung entgegenkommt, verhindert durchaus nicht den Einsatz spannungserzeugender literarischer Mittel. Es wird zukunftsungewiß erzählt, die wenigen bewußt unklar gehaltenen negativen Vorausdeutungen erhöhen eher die Erwartung des Lesers, steigern die auf dem Geheimnis beruhende Verlaufsspannung der einzelnen Episoden, die zudem häufig szenisch-dialogisch vergegenwärtigt werden. Das episodisch gestaltete Geheimnis erweist sich in jedem Fall als Betrug, seine Aufklärung besteht aus dessen Entlarvung. Das Schema von Geheimnis und Aufklärung bleibt auf die Episoden bezogen, die Gesamtstruktur der Erzählung ist eher von dem künstlerischen Material des Abenteuerromans, der moralischen Erzählung und dem Schema autobiographischen Erzählens bestimmt. 2 ' Das Geheimnis ist episodisches Abenteuer, das ein Ich-Erzähler seinem Freund unter dem Vorwand moralischer Belehrung mitteilt; zugleich aber geht es schon ein in die Handlungsmotivation des Helden, wenn auch dessen Geheimnissucht die durch den Zufall dominierte Verkettungsstruktur der literarischen Aventuriers nicht gänzlich zu verdecken vermag. Die Literarisierung des immer schon literarisch disponierten Geheimbundmaterials erfolgt hier im Rahmen traditioneller literarischer Genres und der für sie typischen Strukturen. Die unerwartete Nähe von Abenteuerroman und der zumindest dem Anspruch nach vorhandenen pragmatisch-realistischen Erzählintention erklärt sich aus der potentiellen Abenteuerlichkeit des Geheimbundmaterials selbst. Erst der Realitätshabitus der dargestellten Gegenständlichkeit legitimiert den Rekurs auf literarische Versatzstücke und Erzählweisen des Abenteuerlichen, die hier im pragmatischen Kontext als realistisch ausgegeben werden können. Nur allzu deutlich zeigt Starcks Erzählung die Gefahr, die mit der pseudo-realistischen Literarisierung von Geheimbundelementen gegeben ist: Die Annäherung von Literatur 2
' Zum künstlerischen Material des Abenteuerromans vgl. Jenisch, Erich, Vom Abenteuer- zum Bildungsroman, in: G R M 14, 1926, S. 339-351, Mildebrath, Berthold, Die deutschen >Avanturiers< des achtzehnten Jahrhunderts, Diss. Würzburg 1907, Beaujean, Marion, Der Trivialroman im ausgehenden 18. Jahrhundert, Diss. Köln 1962, S. 134fr. 265
und Realität geschieht im Zeichen der literarischen Manipulation des Wirklichen. Indem derart Fiktion für Wirklichkeit sich ausgibt, ohne diese Setzung als solche bewußt zu machen, setzt sie die von Betrug und Täuschung bestimmte Mythologisierung der geheimen Gesellschaften in der historischen Realität in die Sphäre der Literatur hinein fort. Die Indienstnahme der literarischen Fiktion für die Propagierung bestimmter Interpretationen des Ordensgeheimnisses war kein Einzelfall. Ein Jahr nach Starcks Schrift Ueber den Zweck des Freymäurerordens erschien, in deutlicher Anlehnung an diese, August Siegfried Friedrich von Goués Roman (!) Ueber das Garthe der Maurerey mit dem anspruchsvollen, den pragmatischen Ansatz noch von verstärkenden Untertitel Zum Er sat^ aller bisher von Maurern und Profanen herausgegebenen unnützen Schriften.z6 Auch die Geschichte dieses Romans beruht weitgehend auf einer Abenteuerhandlung um zwei freimaurerische Helden, wobei der romanhafte Charakter des Textes durch die Einbeziehung einer breit angelegten Liebeshandlung eine zusätzliche Betonung erfahrt. Die Liebeshandlung bindet einen großen Teil der Abenteuerlichkeit und entlastet so indirekt die Geheimbundhandlung, die Goué, mit satirischen Seitenhieben nicht sparend, weitaus glaubwürdiger darzustellen weiß als Starck. In den Briefen der beiden Protagonisten werden die wichtigsten deutschen Ordenssysteme ausführlich vorgestellt. Der Roman zeichnet insgesamt ein durchaus treffendes Bild der zeitgenössischen Auseinandersetzung mit der Freimaurerei, wobei auf reale Personen und Orte, soweit sie nicht namentlich im Text genannt sind, unmißverständlich angespielt wird. 1789, in einer Fortsetzung seines Romans, reflektiert Goué den merkwürdigen pragmatisch-literarischen Charakter dieses Genres, das er mit einiger Berechtigung »Freymaurer=Roman« nennt.27 »Da haben nun die Leser den Anfang meines Buchs . . . Der Titel kündigt einen Roman an, folglich nicht grade, Geschichte. Der Roman kann eine Geschichte ergreifen; aber er darf sie nicht nackend darstellen; er muß ihr ein reizendes Gewand zu geben wissen. Er ist ein Brennspiegel, der mehren That=Sachen in eine zusammenfasset.« 26
27
[Goué, August Siegfried Friedrich], Ueber das Ganze der Maurerey. Aus den Briefen der Herren von Fürstenstein und von Stralenberg, die sie auf ihren Reisen durch Deutschland, eines Theils Frankreich, der Schweiz und Hungarns gewechselt, gezogen. Zum Ersatz aller bisher von Maurern und Profanen hg. unnützen Schriften, Leipzig 1782. Goué, August Siegfried Friedrich, NOTUMA nicht Ex-Jesuit über das Ganze der Maurerey, Dritter und letzter Theil, Leipzig 1789, S. XXV,9.
266
Goués problematische Trennung von »Geschichte« und »Roman«, die gleichbedeutend ist mit der pragmatischen Instrumentalisierung der literarischen Fiktion, bleibt sicherlich hinter den gattungspoetischen und romanpraktischen Möglichkeiten der Zeit zurück. Damit beschreibt sie aber gleichwohl zutreffend den literarisch-pragmatischen Status einer Gruppe von Texten aus dem letzten Viertel des 18. Jahrhunderts, die hier als Ordensromane oder Ordenserzählungen aus dem Gesamtkorpus des Geheimbundmaterials hervorgehoben werden. Damit soll nicht etwa die Zahl der ohnehin problematischen Untergattungen im Bereich der Erzählliteratur um eine weitere, noch dazu historisch kurzlebige Species vermehrt werden.28 Eine solche Gruppenbildung hat eine überwiegend heuristische, auf den Gegenstand dieser Arbeit bezogene Ordnungsfunktion. Die Ordensliteratur verbindet über die dargestellte Gegenständlichkeit hinaus die Tatsache, daß sie zu der historischen Diskussion um die geheimen Gesellschaften von innen her beitrug. Ihre Verfasser waren sämtlich mehr oder minder einflußreiche Ordensmitglieder, die sich der Literatur als eines bloßen Vehikels bedienten, um ihren programmatischen Vorstellungen Wirksamkeit zu verschaffen. Die pragmatische Funktion dieser Texte überwiegt in der Regel ihre poetische bei weitem. Grenzfalle wie Karl Philipp Moritz' Hartknopf-Romane oder Carl von Eckartshausens Kostis Reise, deren Literarizität außer Zweifel steht, bestätigen diese Regel eher, als daß sie sie in Frage stellen: sie bleiben die Ausnahme.29 Ausnahmen bleiben die beiden Texte auch insofern, als ihr allegorischsymbolischer Realitätscharakter entscheidend abweicht von dem der anderen Ordensschriften. Deren literarischer Wirklichkeitscharakter nähert sie tendenziell der Wirklichkeitsaussage an. Meist handelt es sich hier um Romane oder Erzählungen, die in der Form der Ich-Erzählung die Erfahrungen eines fiktiven Helden in einer Welt erzählen, deren Gegenständlichkeit, mit Ingarden zu sprechen, ein »Realitätshabitus« zukommt. Deren Seinscharakter ist zwar nicht mit dem wirklich existierender Gegenstände identisch. Die vorgetäuschte Ähnlichkeit von literarischer Welt und realer Welt - sichtbar schon in der Verwendung 28
19
Die von der Forschung zuweilen gebrauchte Bezeichnung >Freimaurerroman< (Vgl. etwa Jan, Eduard von, Der französische Freimaurerroman im 18. Jahrhundert, G R M XIII, 1925, S. 391 -403) ist zu eng gefaßt, da vergleichbare Texte nicht nur im Rahmen der Freimaurerei, sondern auch in anderen geheimen Orden entstanden. Zur Gattungsfrage vgl. auch unten S. 293fr. Vgl. dazu unten S. 47iff.
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realer Orts- und Personennamen sowie in der Darstellung wirklich existierender Ordenssysteme - läßt die fingierte Welt aber wirklich scheinen und damit die Modifikation von Fiktion und Wirklichkeitsaussage in den Hintergrund treten. Die externe Verweisungsdichte, das heißt die Zahl der verständnis-konstitutiven Anspielungen, ist so hoch, daß diese Texte fiktionsimmanent, also ohne Rekurs auf den realen historischen Kontext, nicht angemessen rezipiert werden können. Damit ist ein weiterer Indikator gewonnen, um den Wirklichkeitscharakter dieser Texte an der Grenze zwischen Wirklichkeitsaussage und Fiktion bestimmen zu können. Ein Spezialfall der externen Verweisung liegt bei esoterischen Texten vor, zu deren Verständnis besondere, meist der Geheimhaltungspflicht unterliegende Kenntnisse über Ritual und Zweck bestimmter Systeme oder Grade nötig sind. Fast alle hier berücksichtigten Ordenserzählungen und -romane setzen elementare Informationen über das zeitgenössische Ordenswesen als bekannt voraus. Nicht selten werden Ritualtexte zitiert, an entscheidender Stelle jedoch unterstreichen Auslassungszeichen oder Chiffren den esoterischen Gestus den initiatorischen Charakter der Ordensschriften, die vorgeben, den Leser je nach dem Stand seines Wissens in ihr eigentliches Arcanum eindringen zu lassen. In diesem Sinne sind auch die Untertitel zu verstehen, die sich allein an »Brüder« oder aber an »Geweihte und Profane«, »Geweihte und Suchende« etc. wenden. Desgleichen zeigen pseudonyme oder anonyme Verfasserschaften, die Chiffrierung von Verlagsorten und die Verwendung einer eigenen, auf bestimmte Ordenskalendarien rekurrierenden Zeitrechnung das Bemühen vieler Autoren von Ordensschriften, die exklusive Aura des Geheimen für sich zu nutzen. Die legitimatorische Funktion dieser esoterischen Techniken dürfte in der Mehrzahl der Fälle wichtiger gewesen sein, als die durch sie gegebene tatsächliche Vorenthaltung der durch das Geheimnis vor ihrer Profanation geschützten Wissensbestände. Angesichts des Nebeneinanders miteinander konkurrierender Auslegungen des niemals zentral autorisierten maurerischen Geheimnisses verwundert es nicht, wenn Täuschung und Ulusionierung in Form einer Pseudo-Esoterik auch in der Sphäre der Literatur eingesetzt wurden, um die scheinhafte Existenz der zeitgenössischen Ordenssysteme in der Realität sichern zu helfen. Um wirklich esoterische Texte handelt es sich vermutlich bei den wenigsten Ordensschriften; am 268
ehesten verdienen diese Bezeichnung noch reine Ritualtexte, wobei allerdings zu berücksichtigen ist, daß die Auslegung selbst hier konfligierend war. Der esoterische Gestus dieser Texte hatte also in der Regel einen rein ostentativen Charakter. Abgesehen von ritualistischen Details, die durch Verräterschriften längst bekannt geworden waren, wurden hier keineswegs Informationen ausgespart, die allein bestimmten Kreisen von Eingeweihten aufgrund ihres esoterischen Wissens zugänglich waren. Der Akt des Aussparens diente im Gegenteil der öffentlichen Verbreitung neuer Interpretationen des Geheimnisses, die sich auf diese Weise der auratisch-legitimatorischen Funktion des Arcanums zu versichern suchten. Auf die Problematik einer spezifisch literarischen Esoterik wird bei der Analyse von Moritz' Andreas Hartknopf noch ausführlicher einzugehen sein. Den äußerst problematischen Zusammenhang von Pseudo-Esoterik und literarischem Wirklichkeitscharakter verdeutlicht Ernst Anton August von Göchhausens 1786 angeblich in Rom erschienene anonyme Schrift Enthüllung des Systems der Weltbürger^ Republik, deren Relevanz für die Entstehung der reaktionären Variante der Verschwörungstheorie schon erörtert worden ist.'° Göchhausen bedient sich der Form eines fiktiven Briefwechsels und unterlegt seinen »Enthüllungen« eine - allerdings stark reduzierte - Familienhandlung. Steht so der fiktionale Charakter des Texts außer Zweifel, so sorgen die vielfältigen Anspielungen auf die zeitgenössische Freimaurerei, vor allem aber die vorgeblich decouvrierende Pseudo-Esoterik dafür, daß das Buch als Wirklichkeitsaussage aufgefaßt wurde. Gerade die Aussparungen und kryptischen Verknappungen - »Dencken Sie sich bey Kirche allzeit Rom; bey Rom den Sitz der Cäsarn, und die Universalmonarchie; bey Catholicism, Cosmopolitism; bey Jesuiten Cosmopoliten, und bey Freymaurerey Jesuiterey. Das ist der rechte Schlüssel.« - , gerade der esoterische Gestus der »Enthüllungen« verschaffte ihrem Verfasser die Aura des Wissenden und Eingeweihten und besorgte damit seinen zum Teil grotesk übertriebenen und unbegründeten Warnungen eine breite Wirksamkeit. Die Rezensionen zeigen deutlich, daß Göchhausens Buch mehr oder minder bewußt wie ein nicht-fiktionaler Text gelesen wurde. Zwar wird vereinzelt die Richtigkeit seiner Behauptungen in Frage gestellt; ,0
Göchhausen, Enthüllung, Das folgende Zitat befindet sich auf S. 271. Z u Göchhausen und seinen Intentionen vgl. oben S. 13 5ff.
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daß diese als fiktionale Aussagen in einem literarischen Kontext sich aber überhaupt einer Verifizierbarkeit entziehen könnten, das sehen auch die Gegner des Verfassers nicht.' 1 Dabei wäre es eine nicht zulässige Vereinfachung, diese Rezeption der »Enthüllungen« aus einem bloßen Mißverständnis ihres fiktionalen Charakters heraus zu erklären. Vielmehr hat die pragmatische Instrumentalisierung literarisch -fiktionaler Mittel hier ein solches Ausmaß erreicht, daß Wahrheit im Sinne einer Verifikation ein angemessenes Kriterium zur Beurteilung eines fiktionalen Textes darstellt. So heißt es in einer zeitgenössischen Rezension des Saint Nicaise, eines in der aufklärerischen Publizistik äußerst umstrittenen Ordensromans von Starck: »Unter der Hülle des Romans, die wir, nebst dem mysteriösen Vorbericht über die Publicität dieser Schrift, darum unberührt lassen, weil beyde nur Vehikel zu seyn scheinen, entwickelt dieser sehr ernsthafte Verfasser . . ., dass der Orden in seinem prunklosen einfachen Innern Wahrheit und Geheimnis enthalte.«'2 Der Rezensent hält die Verbindung von pragmatischem Anliegen und fiktional-literarischen Mitteln für unproblematisch. Ungerührt referiert er die umfangreiche Liebes- und Abenteuerhandlung des Romans, den er doch zugleich für ein »Ordens-Lehrbuch« hält, das »zur Grundlage in Beurtheilung aller künftig erscheinenden Ordensschriften und zum eigentlichen Prüfstein des Geistes derselben dienen kann.« (40) Das Leben des Helden sei eben ein Ordensleben: »Daher ist der Orden in alle seine Begebenheiten verwebt, und eben dies Gewebe verursacht die wunderbarsten romantischen Verwickelungen seines Schicksals.« (34) In einer Rezension des gleichen Romans in der Berlinischen Monatsschrift, deren entgegengesetzter Tenor schon aus der Überschrift »Beweis, daß das Buch Saint Nicaise der Religion, allen öffentlichen Staaten und auch den guten Sitten zuwider sei« - hervorgeht, wird gleichfalls an der »Verkleidung« dieser Schrift kein Anstoß genommen." Die »schöne Schreibart«, so wird geklagt, mache das Buch eher 31
Vgl. die Rezensionen zu Göchhausens Buch in der Staats- und Gelehrten Zeitung des Hamburgischen unparthejischen Correspondenten, Nr. 8 8,1786, in der Berlinischen Monatsschrift 8, 1786, S. 565-567, in der Allgemeinen Litteratur^eitung, Nr. 145 und Nr. 283/84, 1786. '2 [Starck, Johann August], Saint Nicaise oder eine Sammlung merkwürdiger maurerischer Briefe für Freymäurer und die es nicht sind. Aus dem Französischen übersetzt, [Frankfurt/M.] 178;. - Dazu die Rezension in der Allgemeinen Litteratur^eitung Nr. 83, 1785, Sp. 33-37 und Nr. 84, 1785, Sp. 40. " B M 7, 1786, S. 127-154, hier S. 127. 270
noch gefahrlicher. Daß es sich bei den in ihm aufgestellten Behauptungen um Wirklichkeitsaussagen handelt, wenn auch falsche, das steht nicht in Frage. Die literarische Wirklichkeit der Ordensschriften hat einen eigentümlich ambivalenten Charakter: die Grenze zwischen Fiktion und Wirklichkeitsaussage wird zwar nicht aufgehoben, doch sind Übergänge zu erkennen, die es nahelegten, einen fiktionalen Text direkt auf wirkliche Vorgänge zu beziehen, ihn als Wirklichkeitsaussage ernst zu nehmen, ohne seinen fiktionalen Charakter zu verkennen. Diese Übergänge zwischen Fiktion und Wirklichkeitsaussage werden ermöglicht zum einen durch den unbestimmten Wirklichkeitscharakter der Bundeselemente selbst, die schon als Referenzbereich pragmatischer Texte eine Aktivierende Wirkung ausüben; wichtig ist in diesem Zusammenhang aber auch die Tatsache, daß die meisten Ordensromane und -erzählungen das Schema der Ich-Erzählung realisieren, die als »Mimesis von Wirklichkeitsaussage« (Hamburger) eine besondere fiktionale Qualität ausbildet. Selbst wenn man Hamburgers Unterscheidung von Fingiertheit und Fiktion nicht folgt - obwohl gerade im Bereich der Ordensschriften eine solche Differenzierung naheliegend wäre — und die Ich-Erzähler in Brief-, Memoiren- und in Romanen mit einer Autobiographiefiktion als fiktive Ich-Origines auffaßt, ist doch die Affinität dieser Art von Fiktion zu Formen der Wirklichkeitsaussage unübersehbar. Nicht zuletzt der esoterische Gestus der fiktionalen Ordensschriften, die sich als authentische ausgeben, rückt diese in die Nähe jener fingierten Legitimationen, Patente und Geschichtslegenden, die die historische Realität der geheimen Gesellschaften so nachhaltig und folgenreich beeinflußten. Die Wirkung der Ordensliteratur war entsprechend ihrem ambivalenten Wirklichkeitscharakter eine doppelte: Trug sie einerseits zur Literarisierung des Geheimbundmaterials bei, indem sie es im Rahmen einer von traditionellen künstlerischen Materialien (Moralische Erzählung, Abenteuererzählung) bestimmten narrativen Struktur verarbeitete, so wurde doch eben diese Literarisierung tendenziell wieder aufgehoben, insofern die Ordensschriften als Wirklichkeitsaussage verstanden wurden und auf diese Weise die Mythologie geheimer Gesellschaften um zahlreiche Mythen und Legenden bereicherten. Die so gestiftete Wechselbeziehung zwischen Literatur und Realität war widersprüchlich und nicht selten prekär, besonders dann, wenn — wie im Fall der verschwörungstheoretischen Schriften - die literarischen Un271
terstellungen wirkliche, nämlich handfest politisch-gesellschaftliche Verfolgungen nach sich zogen. So wie die Mythologie der geheimen Gesellschaften eine wichtige Voraussetzung für die Literarisierung des Geheimbundmaterials darstellte, so trieb umgekehrt gerade diese Literarisierung, die Amalgamierung der Bundeselemente mit den traditionellen literarischen Elementen des Abenteuerlichen und Wunderbaren, die Mythologisierung der Geheimbundrealität voran. Aus der Gruppe der Ordensschriften kamen einige der wichtigsten Beiträge zu der Diskussion um das Geheimbundmodell der Aufklärung. Neben den schon erwähnten Schriften von Starck, Goué und Göchhausen, die eine große Verbreitung fanden und zum Teil außerordentlich einflußreich waren, sind hier noch Ludwig von Baczkos Abenteuer eines Maurers %ur Warnungfür Geweihete und Profane (i 788) und Karl August von Ragotzkys zuerst als Fortsetzungsroman im Taschenbuch für Freimaurer erschienener Fran% Hell oder die Irrwege, für Geweihte und Suchende (1799fr.) zu nennen. 34 Die freimaurerischen Periodika waren der bevorzugte Publikationsort für Ordenserzählungen, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann." 2.2
Aufklärerische Geheimbundliteratur
Im Gegensatz zur Ordensliteratur nähert sich die unabhängige aufklärerische Publizistik von außen und zunächst ausschließlich im Bereich der nicht-fiktionalen pragmatischen Sachprosa dem Phänomen der geheimen Gesellschaften. Fungierten die Geheimbundelemente bisher als Objekt einer Literarisierung, die sich aus ihrer Verarbeitung in traditionellen literarischen Strukturen ergab, so kam es im Bereich der aufklärerischen Sachprosa eher zu einer Literarisierung bestimmter pragmatischer Zweckformen, die die Geheimbundthematik behandelten. Hier wirkten die Bundeselemente nicht mehr nur als Gegenstand, ,4
Zu den genannten Texten vgl. das Literaturverzeichnis. - Eine erstaunlich frühe Bearbeitung des Geheimbundmaterials liegt vor mit [Korn, Christian Heinrich], Die Begebenheiten eines Freymäurers, beschrieben von ihm Selbst, Frankfurt und Leipzig 1769. Korn widmete sein Buch »Denen Verehrungswürdigen Brüdern der rechtmäßigen Freymäurer-Loge zur Aufrichtigkeit«. Wie schon bei Starck dominiert auch in Korns Ordensroman eine locker gefügte Abenteuerhandlung die Intention, der Welt »einen bessern Begriff von der Gesellschaft der Freymäurer beyzubringen.« (S. τι).
" Vgl. zum Beispiel die Erzählung Die Extreme, in: Taschenbuch für Freimaurer auf das fahr iSoj, S. 244-258.
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sondern als Medium von Literarisierungs- und Fiktionalisierungsvorgängen, in die nur äußerst zögernd das herkömmliche künstlerische Material einbezogen wurde, das die Ordensliteratur von Anfang an ihren propagandistischen Zielen zunutze machte. Vielmehr überführte die aufklärerische Publizistik vorhandene Zweckformen in literarisierte Zweckformen, die dann erst im Kontext traditioneller literarischer Genres (Roman, Erzählung) angeeignet wurden. Die Literarisierung von Sachprosaformen stand, ähnlich wie bei den Ordensschriften, im Dienst einer pragmatisch-didaktischen Intention. Der kritische Anspruch der Aufklärung verlangte zunächst nach der Aufklärung realer Geheimnisse; schrittweise aber wurde das zunehmend literarisierte Geheimnis der Aufklärung selbst dienstbar gemacht, bis schließlich die Aufklärung das literarische Geheimnis als eine ihr adäquate Ausdrucks- und Vermittlungsform begreifen und beherrschen lernte. Die Entdeckung der aufklärerischen Potenz des Arcanums, die Erkenntnis seiner von Ramsay und Lessing herausgearbeiteten kritisch-utopischen Implikationen, ging einher mit der schon berührten Entdeckung der literarischen Fiktion als einer eigenständigen Erkenntnisform, die ihre unverändert pragmatische Funktion nur dann erfüllen kann, wenn ihr ein Status relativer ästhetischer Autonomie zugebilligt wird. Erst als die Möglichkeiten einer durch die Fiktion gewährleisteten genuin literarischen Wirklichkeit wahrgenommen und genutzt wurden, konnte die Diskussion um das Geheimbundmodell der Aufklärung in der Sphäre der Literatur fortgesetzt werden, ohne die fatalen Konsequenzen der Ordensliteratur in Kauf nehmen zu müssen, die, bewußt oder unbewußt, realistische Fiktion mit fingierter Realität gleichsetzte und so die Mythologisierung der geheimen Gesellschaften auf literarischer Ebene vorantrieb. Wenn solchermaßen das literarische Geheimnis mit dem >Geheimnis der Literatur^ mit der Entdeckung der ihr innewohnenden genuin ästhetischen Möglichkeiten der Wirklichkeitsaneignung, in Verbindung steht, so mag die Untersuchung von Literarisierungs- und Ästhetisierungsprozessen im Bereich des Geheimbundmaterials über ihren besonderen Gegenstand hinaus einen Beitrag leisten zur Erforschung jenes epochalen literarischen Wandels am Ende des 18. Jahrhunderts, der gemeinhin als Autonomisierung der Kunst im Zeichen von Klassik und Romantik beschrieben wird. Die mysteriösen Begleiterscheinungen der geheimen Gesellschaften, das Auftreten von Magiern und Geistersehern, Goldmacherei, Le273
benselixiere und der Stein der Weisen, Magnetismus und Telepathie, wurden von der frühaufklärerischen Öffentlichkeit als Aberglaube betrachtet und aus diesem Grund der Theologie überantwortet. In dem Maße aber, in dem das rationalistisch-deduktive Modell der Aufklärung abgelöst wurde von erfahrungsgeleiteten induktiven Denk- und Untersuchungsmethoden, gewann der Aberglaube als Gegenstand der Naturwissenschaften (Physik), später auch der Erfahrungsseelenkunde an Bedeutung für eine breitere aufklärerische Öffentlichkeit, die aus der kritischen Entzauberung der Welt einen nicht geringen Teil ihres Selbstverständnisses bezog.' 6 Daß diese Entzauberung eine Grenze hat, jenseits derer sie umschlägt in ihr Gegenteil, in einen neuen, technischen Aberglauben; daß der Aberglaube selbst nicht aufgeht in seiner psychologisch-physikalischen Erklärung; die Erfahrung also der Begrenztheit einer Aufklärung und der Entgrenzung des Aberglaubens als ihres vermeintlichen Gegenteils: diese Erfahrungen wurden nicht zufällig literarisch antizipiert, bevor sie einer systematischen Reflexion zugänglich und formulierbar wurden. Schon Schillers Geisterseher, der unverkennbar auf das Schema von Geheimnis und Aufklärung in der aufklärerischen Sachprosa rekurriert, verzichtete schließlich auf eine mechanische Auflösung der Rätsel, und auch die Vor- und Frühgeschichte der Novelle war durch eine intensive Auseinandersetzung mit den Problemfallen rationalistischer Aufklärung bestimmt.37 Der Übergang vom theologischen zum naturwissenschaftlichen Erklärungsparadigma der Aufklärung wird in den Sammlungen von Briefen und Aufsätzen über die Gaßnerischen und Schröpf erischen Geisterbeschwörungen erkennbar, die der angesehene Hallenser Theologe Johann Salomo Semler 1776 herausgab.38 Zwar behandelt Semler die betreffenden Geisterzitationen im Kontext einer »theologischen Geschichte des Teufels«, doch ist sein Buch nicht mehr beherrscht von einem theologischen Diskurs, sondern besteht bereits zu großen Teilen aus empirischen, physikalischen und psychologischen Analysen ausführlich zitierter Zeugenberichte. »Ich leugne, daß die Erzählungen von Geisterse56
" j8
Z u Aufklärung und Aberglauben vgl. oben Anm. 20. Vgl. dazu unten S. 38¡ff. und Köhti, Lothar, Dialektik der Aufklärung in der deutschen Novelle, in: DVjs. ; 1, 1977, S. 436-458. Semler, Johann Salomo, Sammlungen von Briefen und Aufsätzen über die Gaßnerischen und Schröpferischen Geisterbeschwörungen, Halle 1776. Z u Gaßner und Schröpfer vgl. oben S. 49ff.
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hern nicht aus gewöhnlichen und natürlichen Ursachen erklärbar seyn sollen«, heißt es dann 1780 in Justus Christian Hennings Schrift Von Geistern und Geistersehern.'9 Auf 844 (!) Seiten versucht der Verfasser zunächst eine systematische Darstellung der »Quellen betrüglicher Empfindungen«, bevor er dazu übergeht, extensiv einzelne Fälle von Geisterseherei aufzuklären. Johann Christian Wieglebs vierbändiges Werk Die natürliche Magie, aus allerhand belustigenden und nützlichen Kunststücken bestehend wendet sich wie schon Hennings, an ein breiteres Publikum. 40 »Die Beschaffenheit des jetzt gangbaren Modetriebes, Liebe zum Wunderbaren, ist mir sehr wohl bekannt, und ich erfahre es oft, daß sie bey manchen, sogar über den Aberglauben hinaus, in Schwärmerey ausartet.« Wiegleb will die »Unwissenheit« und »Halbgelehrtheit« auf diesem Gebiet dadurch bekämpfen, daß er die scheinbaren Wunder, nach einschlägigen Rubriken geordnet, als elektrische, magnetische, optische, mechanische etc. Kunststücke erklärt. Überblickt man jedoch die einzelnen Abschnitte des Buches - Das wunderbare Orakel, Der Pallast der Liebe, Die Ζauberportraite, Die sympathetische Lampe etc. - , so entsteht eher der Eindruck, daß es sich hier um eine Art Rezeptbuch der Magie handelt, und tatsächlich hat Schiller für die »Kunststücke« in seinem Geisterseher bis ins Detail hinein Wieglebs Ratschläge befolgt. 4 ' Das Interesse und Vergnügen an magischen Wundern und ihrer technischen Auflösung ist auch in Christlieb Benedikt Funks Natürlicher Magie nicht zu verkennen, die 1783 im Verlag Friedrich Nicolais in Berlin erschien. 42 Allerdings ist der wissenschaftliche Anspruch in diesem Werk auf überzeugendere Weise vertreten als bei Wiegleb: Funk war Professor für Naturlehre in Leipzig, das Buch entstand aus der Überarbeitung dort gehaltener Vorlesungen. »Zauberey« ist für "
Hennings, Justus Christian, V o n Geistern und Geistersehern, hg. v o m Verfasser der A b h a n d l u n g v o n den A h n u n g e n und Visionen, Leipzig 1780. - Ironisch kündigte G o e t h e seine Gespenstergeschichte in den Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten als Bemühen an, »mit dem großen Hennings zu wetteifern«. (Brief an Schiller v o m 10. Januar 1 7 9 5 , zitiert nach: Der Briefwechsel çwischen Schiller und Goethe, hg. von E m i l Staiger, Frankfurt/M. 1966, S. 82).
4
° Wiegleb, Johann Christian, H g . , Die natürliche Magie, aus allerhand belustigenden und nützlichen Kunststücken bestehend, 4 Bde., Berlin und Stettin 1 7 7 9 - 1 7 9 0 , hier Bd. i , S. 2.
41 4
'
Vgl. dazu unten S. 360fr. Funk, Christlieb Benedict, Natürliche M a g i e oder Erklärung verschiedener Wahrsager· und Natürlicher Zauberkünste, Berlin und Stettin 1 7 8 5 . Nachweise erfolgen im Text.
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Funk gleichbedeutend mit »Experimentalphysik« (IV), eine Formel, die selbst dann, wenn man auf ihre polemische Umkehrung verzichtet, ein bezeichendes Licht auf das szientistisch-technizistische Selbstverständnis der aufklärerischen Naturwissenschaften wirft. Interessant ist nun, daß die systematische Argumentation immer häufiger unterbrochen wird durch eine narrative Präsentation von Fällen (Geisterzitationen, Gespenstererscheinungen etc.), die sich tatsächlich ereignet haben. Die pragmatische Zweckform der Fallstudie findet hier Verwendung, und zwar in der Weise, daß der Verfasser auf einen ausführlichen Bericht des betreffenden Vorfalls eine systematische Analyse der in Frage stehenden Phänomene folgen läßt. So berichtet Funk am Ende seines Buches von einer Geisterbeschwörung in Leipzig, der er selbst beigewohnt hat. Die Wiedergabe der Geschehnisse erfolgt sachlich, präzise und distanziert, doch ist nicht zu übersehen, daß die Beschwörung dem aufgeklärten Feldforscher der Magie mehr als nur den wissenschaftlichen Schweiß auf die Stirn trieb. Abends um zehen Uhr giengen wir in ein entlegnes Haus, in dem ich noch nie gewesen war . . . Alle Vorbereitungen geschahen in möglichster Stille und Feyerlichkeit. Es war niemand mehr zugegen als wir drey, der Beschwörer mit seinem schwarzen Rock von Damast, mit einem groben weissen Tuche über den Schultern, empfieng uns an der Thür . . . mit vielbedeutender Mine und einem düstern Gemurmel, als ob er innerlich betete . . . Ich gestehe, daß ich mich in diesem Augenblicke etwas entsetzte, Thür und Fenster hatte ich immer genau beobachtet, keine andere Oeffnung schien mir möglich . . . Nun spürte ich auf einmal ein viertes lebendiges Wesen in der Kammer, und stutzte. (25 8ff.)
Ohne Zweifel bleibt der Bericht über die Geisterbeschwörung im Rahmen einer pragmatisch narrativen Wiedergabe des tatsächlich Geschehenen. Doch hinterläßt die Spannung des Ereignisses, der aller vorherigen Berechnung sich entziehende und damit zumindest zeitweise beunruhigende Vorgang einer Geisterzitation, Spuren im Bericht des Gelehrten, wobei paradoxerweise die Perspektive wissenschaftlicher Beobachtung die Spannung eher noch steigert: auf der Folie kühl-sachlicher Berichterstattung heben sie Überraschung und Schrecken sehr viel wirkungsvoller ab. An die Erzählung der Beschwörung schließt sich eine Aufklärung an, in der die geheimnisvolle Veranstaltung minutiös als Betrug entlarvt wird. Erst jetzt erfährt der Leser: »Die stille feyerliche Vorbereitung, die Kreise, das Beschwörungsbuch, die Kerzen, das lange Gebet, die Verzerrungen des Gesichts, das sind alles bekannte Kunstgriffe, Schrecken und Erwartung 276
zu erregen.« (266) Die Aufklärung, so scheint es, findet Geschmack am Geheimnis, insofern es sich als aufklärbar sich erweist. »Mit Vergnügen« kündigte die Allgemeine deutsche Bibliothek 1788 eine periodische Schrift Gegen den Aberglauben an, in der unverkennbar literarische Mittel eingesetzt werden, um den Kampf gegen Aberglauben und Magie effizienter zu gestalten. 43 Satirische Darstellungen, Biographien von Magiern und Geistersehern, Skizzen aus dem Leben ehemals dem Aberglauben verfallener Menschen und nicht zuletzt »Geschichtserzählungen«, »Beispiele aufgedeckter Gaukeleyen«, sollen dem »grossen Haufen« wie der »feinern Welt« die Gefahren abergläubischer Schwärmerei vor Augen führen. Aufschlußreich ist der Vorschlag, den Lesern besondere Fälle von Geisterseherei zur Prüfung vorzulegen, die erst im nächsten Heft der Zeitschrift aufgeklärt werden. Die zeitliche Trennung von Geheimnis und Aufklärung ist zukunftsweisend. Z w a r steht sie eindeutig im Dienst einer pragmatischen Absicht: sie soll die kritische Urteilsfähigkeit der Leser fördern. Doch geht mit der zeitlichen Aufeinanderfolge von Geheimnis und Aufklärung eine stärker literarische Gestaltung des Geheimnisses einher, das jetzt ohne die detaillierte Vorwegnahme seiner betrügerischen Grundlagen spannend erzählt wird. Die zunehmend freigesetzten atmosphärischen Qualitäten des Geheimen, die aus der Verrätselung des Geschehens herrührende unheimliche Ungewißheit, der sich »Held« und Leser ausgesetzt sehen, werden dabei legitimiert durch eben diese pragmatische Absicht. Gleichfalls 1788 rückte die Berlinische Monatsschrift als Beleg für die Tätigkeit einer unbekannten geheimen Gesellschaft den Brief eines gewissen Herrn Röllig aus Wien ein, in dem dieser von einem mysteriösen Erlebnis berichtet, das er selbst auf einem Landgut in der Nähe der Stadt hatte.44 Auch hier wird die Aufklärung des geheimnisvollen Geschehens zunächst suspendiert; bewußt unklar gehaltene Andeutungen erzeugen von Anfang an eine gespannte Aufmerksamkeit des Lesers. Der Briefschreiber bemüht sich, diesen sein eigenes Abenteuer nacherleben zu lassen. Der Brief, der angeblich unter dem unmittelbaren Eindruck des Geschehenen entstand — »Ich schreibe Ihnen dieses nach einem kurzen und unruhigen Schlafe.« (170) - , vergegenwärtigt die unheimlichen Begebenheiten, indem er sie ohne 4
> ADB 84, 1788, S. 128-130. Β Μ 1 1 , 1788, S. 167-174. Der unverkennbar publikumsorientierte Brief war schon andernorts gedruckt worden. Nachweise im Text.
44
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Vorwegnahme ihrer Aufklärung zukunftsungewiß und spannend erzählt. Bei einem nächtlichen Gang durch den Garten des Landgutes folgt Röllig, »durch Neugierde getrieben, dem dumpfen Tone einiger Posaunen . . ., der - aus der Tiefe des Kellers zu kommen schien. Denken Sie sich mein Erstaunen, als ich die Treppe des Kellers über halb hinunter gestiegen war, und eine Todtengruft erblikte, in der man unter Trauermusik einen Leichnam in den Sarg legte, und zur Seite einem weißgekleideten aber ganz mit Blut bespritzten Menschen die Ader am Arme verband . . . Sah ich je etwas Feenmährchen=ähnliches so wars im Augenblick des Eintritts in den Garten.« (i68f.) Erst später folgt die Aufklärung der geheimnisvollen Vorgänge — »Die Sache ist folgende . . .« - , die sich als Teile des Initiationsrituals eben dieses unbekannten Ordens erweisen. Das nächtliche Abenteuer entpuppt sich als theatralisch inszenierter ritueller Schein, den nur der Erzähler und nach ihm der Leser, der hier gleichsam als literarischer Initiand fungiert, als eine bedrohlich-unheimliche Wirklichkeit empfinden. Die Poetisierung der Wirklichkeit im Klima der Bünde hat eine allmähliche Literarisierung der Sachprosa zur Folge, die eine scheinhafte Realität spannend als Wirklichkeit schildert, um sie erst anschließend als betrügerischen Schein zu entlarven. Mit dieser Darstellungsweise leistete die Sachprosa selbst einen Beitrag zur Fiktivierung der geheimen Gegenständlichkeit und verstärkte damit zugleich die latent gegebene Tendenz zu einer Fiktionalisierung ihres eigenen Aussagemodus. Denn zumindest zeitweise folgte sie der rituellen Täuschung und setzte den theatralischen Schein des Zeremoniells für Wirklichkeit. Die in Ansätzen erkennbare Literarisierung pragmatischer Zweckformen führte jedoch zunächst nicht zu deren Fiktionalisierung. Sie ist vergleichbar den erzählerisch aufbereiteten Fallstudien, wie sie etwa in Moritz' Magazin für Erfahrungsseelenkunde zu finden waren. Auf Moritz bezieht sich denn auch explizit Carl von Eckartshausens Sammlung der merkwürdigsten Visionen, Erscheinungen, Geister- und Gespenstergeschichten.'"'' Hier werden literarisierte Fallbeschreibungen in einen systema45
Eckartshausen, Carl von, Sammlung der merkwürdigsten Visionen, Erscheinungen, Geister- und Gespenstergeschichten. Nebst einer Anweisung dergleichen Vorfalle vernünftig zu untersuchen und zu beurtheilen, München 1792. Auf Seite j verweist Eckartshausen auf Moritz' Magazin als Vorbild seines Unternehmens. - Vgl. dazu auch die überaus kritische Rezension in NADB 3, 1793, S. 33ff. »Solchen Leuten, ihren Führern und Anhängern liegt alles daran, durch dergleichen Bücher, die Geister und Erscheinungen bestätigen, oder durch andre in Romane eingekleidete Geschichten, die oft nur blos nach Personal und Lokalumständen eines oder des andern eingerichtet sind, die Einbildungskraft und Leichtgläubigkeit ihrer erhabenen
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tischen Argumentationszusammenhang eingebracht. Die einzelnen Er-
zählungen - Eine Zaubergeschichte, als Factum erzählt, Geschichte der Anna G., Eine sonderbare Erscheinung aus Originalbriefen - , deren authentische Grundlage nicht in Zweifel steht, verwenden in der Regel das Schema von Geheimnis und Aufklärung, wobei insbesondere das Geheimnis mit Hilfe literarischer Techniken der Vergegenwärtigung und der Spannungserregung gestaltet wird. Das Schwergewicht der Aufklärung hat sich bei Eckartshausen von der objektiv-naturwissenschaftlichen Seite auf die psychologischen Quellen der Wahrnehmung wunderbarer Vorfalle verschoben. Zugleich ist der Glaube des Autors an die Möglichkeit von Geistererscheinungen so stark, daß Betrug, ob objektiv oder subjektiv gegründet, nicht mehr alle in Frage stehenden Fälle zu erklären vermag. Die mehr als zweihundert Geschichten in Samuel Christian Wage-
ners Die Gespenster.
Kur%e Erzählungen
aus dem Reiche der Wahrheit
zeigen, daß sich die literarisierte Fallbeschreibung auf dem Gebiet der Geister- und Gespenstererscheinungen in den neunziger Jahren des 18. Jahrhunderts zu einem eigenen Genre der Sachprosa ausgebildet hat.46 Noch immer behandeln die Erzählungen »unwidersprechliche Thatsachen« (VI), noch immer werden reale Geheimnisse aufgeklärt, die eigenen Erfahrungen, den Berichten glaubhafter Personen oder aber früheren Publikationen entstammen. Entscheidend ist, daß Wagener alle Geschichten, auch die schon in anderer Form publizierten, hier neu, »auf eine meinem Zwecke angemeßnere Art erzählt.« (VII) Der Zweck ist der Vorrede zufolge ein pragmatischer, nämlich der Kampf gegen »das Gebäude des Wahnglaubens in Beziehung auf das Reich der Geister«. (III) Die »angemeßnere Art« aber, das zeigt besonders der Vergleich der Wagenerschen Erzählungen mit ihren früheren Fassungen, ist eine literarische Überformung der Geschichten.47 Wagener zitiert am Ende seiner Vorrede das für das literarische Selbstverständnis der Aufklärung zentrale Horazische >prodesse et delectareGeheimnisse< und der erst aus dem Zeitabstand heraus möglichen >Aufklärung< wird dabei interessanterweise zugleich gesetzt und aufgehoben durch eine synoptische Präsentation: jeweils auf der linken Seite des Buches werden ausführlich Dokumente und Tagebuchaufzeichnungen aus der Zeit von Cagliostros Anwesenheit in Mitau zitiert, während auf der rechten Seite psychologische und politische Kommentare (die Gräfin war eine Anhängerin der jesuitischen Verschwörungstheorie der Berliner Aufklärer!), die nach der »Bekehrung« geschrieben wurden, aufklärendes Licht auf die psychischen und sozialen Voraussetzungen der recht erfolgreichen Tätigkeit des angeblichen Wundermannes werfen sollten. Ein Prototyp der literarisierten psychologischen Fallstudie mit Geheimbundthematik liegt vor in Heinrich Christian Albrechts Geheime Geschichte eines Rosenkreu^ers von 1792." Obwohl zeitlich gesehen später als Schillers Geisterseher und Wielands Peregrinus Proteus, kann diese sowohl von der Länge als auch von der literarischen Gestaltung her romanhafte Schrift einiges zur Erhellung dieser beiden spätaufklärerischen Romane beitragen, da diese mit ähnlichen Intentionen und unter Verwendung der gleichen pragmatischen Zweckform verfaßt worden sind. Albrecht schildert in seinem Buch, das bei aller Sachlichkeit ein leidenschaftlicher Beitrag zur Diskussion um das Geheimbundmodell ist — »O! Ehrlicher Mann, wo du lebst, was du auch tust: hüte dich vor Gesellschaften, die das Licht scheuen!« - , die authentische Geschichte seines Hamburger Freundes C. F. Radicke, der im Roman mit seinem Ordensnamen Cedrinus heißt. Der Untertitel des Werks, »Aus seinen eigenen Papieren«, ist also durchaus wörtlich zu nehmen; es handelt sich keineswegs um eine bloße Herausgeberfiktion. Albrechts Schrift kann in eben dem Sinne »psychologischer Roman« genannt werden, in dem auch Moritz' Anton Reiser auf diesen Titel Anspruch erhebt.'4 Albrechts Roman ist gleichfalls eine »diagnostische Pathographie«
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Cagliostro Aufenthalt in Mitau im Jahre 1779 und von dessen dortigen magischen Operationen, Berlin und Stettin 1787. Albrecht, Geheime Geschichte. - Ähnlich: Waller, Friedrich, Gustav Herrmann oder der pythagoreische Bund. Ein psychologischer Roman, 2 Theile, Frankfurt/M. 1812/13. Schrimpf, Hans Joachim, Nachwort 2u: Karl Philipp Moritz, Andreas Hartknopf, hg. von H. J . Sch., Stuttgart 1968, S. 29. - Z u r Gattungsbezeichnung >psychologischer Roman< vgl. auch Müller, Autobiographie, S. 147fr.
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(Schrimpf), die anhand eines authentischen Falles modellhaft die Geheimbundwirklichkeit der Zeit kritisch einer psychologisch-kausalen Analyse unterzieht. Wenn auch die Rezensionen den Text nicht explizit als Roman zur Kenntnis nehmen, so beziehen sie doch ihre Beurteilungskriterien in Hinblick auf seinen literarischen Wert aus der zeitgenössischen Poetik des Romans." Lückenlose Kausalität und psychologische Wahrscheinlichkeit in der Motivierung von Charakteren und Begebenheiten werden als positive Eigenschaften der Albrechtschen »Geschichte« hervorgehoben. Tatsächlich erweist sich der Autor in der Beschreibung der psychischen und sozialen Disposition seines Protagonisten und in der Schilderung von dessen — zwischen Täuschung und Selbstbetrug, Illusion und Desillusion sich bewegenden - Ordensgeschichte als ein außerordentlich präziser Beobachter der zeitgenössischen geheimen Gesellschaften. Längere Auszüge aus wichtigen Ordensschriften, ein eingelegter Abriß der Geschichte der Freimaurerei, die Darstellung von Ritualen und Zeremonien verschiedener Grade und Systeme verraten Albrecht als intimen Kenner seines Gegenstands. Nicht diese Kennerschaft aber macht die eigentliche Leistung des Texts aus, sondern der gelungene Versuch einer Integration aller dieser Realitätspartikel in eine geschlossene psychologische Modellanalyse. Die hier verwendeten Literarisierungstechniken dienen keineswegs einer Verstärkung des geheimnisvoll-abenteuerlichen Charakters der Geheimbundgegenständlichkeit. Aus einer sachlich-distanzierten biographischen Erzählhaltung heraus werden die Stadien der Dissoziation einer psychisch problematisch disponierten Persönlichkeit bis hin zu einem Zustand pathologischer Schwärmerei geschildert. Nur im Sinne einer erzählerischen Verdeutlichung dieser Entwicklung kann von einer Literarisierung des Texts gesprochen werden. Diese psychologisch-analytische Darbietung der Geheimbundthematik weist zurück auf die Romane Wielands und Schillers, die auf ähnliche Weise einen Beitrag zur Diskussion um das Geheimbundmodell geliefert haben. " Vgl. etwa ALZ Nr. 104, 1793, Sp. 95-96, NADB 14, 1795, S. i 2 i f . - Eine satirische Version der aufklärerischen Geheimbundliteratur liegt vor in Knigge, Adolph von, Des seligen Etatsraths Samuel Conrad von Schaafskopf hinterlassene Papiere; von seinem Erben herausgegeben, Breslau 1792, sowie in Steimer, Magn. Nodehard, Erscheinung und Bekehrung des Don Quichotte de la Mancha, im letzten Viertel des achtzehnten Jahrhunderts, von M. N. St., Mitglied verschiedener geheimer Gesellschaften, Wesel 1786. 283
III.
Z u m P r o b l e m des G e h e i m b u n d r o m a n s
Es ist bisher die Frage bewußt ausgespart worden, inwiefern es berechtigt ist, von der Existenz eines >Geheimbundromans< als einer historischen Untergattung oder gar eines ahistorisch-konstanten Typus des Narrativen auszugehen. ] Untersuchungen zur Literarisierung und Ästhetisierung des Geheimbundmaterials haben einen derartigen >Geheimbundroman< weder zur Voraussetzung noch notwendigerweise zum Ergebnis. Die hier beobachtete Zurückhaltung hängt mit einer grundsätzlichen Einschätzung generischer Konzepte zusammen, deren Abstraktionsniveau auf der Ebene der dargestellten Gegenständlichkeit verbleibt. Zwar ist der gemeinsame Nenner, die Schnittmenge aller hier berücksichtigten Romane aus der Zeit zwischen 1769 und 1817 die Verarbeitung von Bundeselementen; 2 aber ganz abgesehen von der nach Gewicht und Beschaffenheit sehr unterschiedlichen Funktion, die diese Elemente in der ästhetischen Struktur der betreffenden Texte besitzen, ist mit der Feststellung einer gegenständlichen Gemeinsamkeit noch keineswegs der Nachweis erbracht, daß diese von gattungsbildender Relevanz ist. Romane, die Geheimbundmaterial aneignen, sind nicht schon deshalb Geheimbundromane. A u f der anderen Seite kann nicht ausgeschlossen werden, daß im Gesamtkorpus der Texte mit Geheimbundgegenständlichkeit solche Romane enthalten sind, deren strukturelle Gemeinsamkeiten quantitativ und qualitativ so hoch zu veranschlagen sind, daß sie einer noch präziser zu bestimmenden Gattung >Geheimbundroman< zugerechnet werden können. Bevor die Frage nach einem Geheimbundroman (Bundesroman, Geheimnisroman) literarhistorisch definitiver beantwortet wird, sollen ihre gattungstheoretischen Implikationen im Zusammenhang einer kritischen Sichtung der Forschungsliteratur zu diesem Thema verdeutlicht werden.
Z u r hier verwendeten Terminologie vgl. Hempfer, Klaus W., Gattungstheorie. Information und Synthese, München 1973. Grundlegend für das hier und im folgenden entwickelte Gattungsverständnis auch: Voßkamp, Wilhelm, Gattungen als literarisch-soziale Institutionen (Zu Problemen sozial- und funktionsgeschichtlich orientierter Gattungstheorie und -historie), in: Hinck, Walter, Hg., Textsortenlehre- Gattungsgeschichte, Heidelberg 1977, S. 27-42. - Vgl. auch die gattungstheoretischen Reflexionen im Anschluß an Hegels Bestimmungen zur Theorie und G e schichte des Romans unten S. 31 iff. * Vgl. dazu das Literaturverzeichnis. 1
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ι.
Forschungsgeschichtlicher Überblick
Die bisher vorgelegten Arbeiten zum Geheimbundroman lassen sich nach ihrem methodischen Vorgehen sowie nach Art und Ergebnis ihrer gattungstheoretischen Reflexion grob drei verschiedenen Gruppen zuordnen. ι. Nachdem schon 1907 der Freimaurerforscher Reinhold Taute eine Bibliographie der »Ordens- und Bundesromane« veröffentlicht hatte, die, ohne auch nur den Versuch einer präziseren Definition dieser Romanspecies zu unternehmen, 447 Romane von Thomas Morus'
Utopia bis hin zu Tolstoj s Krieg und Frieden vereinigte, war es zuerst Ferdinand Josef Schneider, der sich 1909 mit dem Einfluß der Freimaurerei »auf die geistige Kultur in Deutschland am Ende des XVIII. Jahrhunderts« beschäftigte. 3 Schneiders Untersuchung ist geistesgeschichtlich ausgerichtet. Sie geht dem Zusammenhang zwischen der Renaissance neoplatonischen Ideenguts in den geheimen Gesellschaften und der Entstehung der Romantik, insbesondere der »romantischen Schicksalsidee« nach. Der literarhistorische Aspekt des Geheimbundwesens ist dabei nur insofern von Belang, als er diese geistesgeschichtliche Entwicklungslinie zu stützen vermag. Wenn auch die Literarizität der untersuchten Texte weitgehend unberücksichtigt bleibt und ihre Historizität nur rudimentär durchscheint in Schneiders den zeitgenössischen Epochenklischees von Aufklärung und Romantik verpflichteten Argumentation, 4 so gelangt seine auf einer erstaunlich breiten Materialgrundlage entstandene Arbeit doch erstmals zu einer Feststellung struktureller, insbesondere figuraler Gemeinsamkeiten von Romanen, die die Geheimbundthematik behandeln. Schneider entdeckt und benennt zuerst die typischen literarischen Geheimbundfiguren des Genius, des Bundesemissärs und der Bundestochter, und mit dieser Entdeckung geht ansatzweise schon eine Erkenntnis der ästhetischen Funktionalisierung der Bundeselemente einher. Einen »Beitrag zur Entwicklungsgeschichte der Geheimbundmystik« nennt Marianne Thalmann ihre 1923 erschienene Untersuchung zum Trivialroman des 18. Jahrhunderts und zum roman' 4
Taute, Reinhold, Ordens- und Bundesromane. Ein Beitrag zur Bibliographie der Freimaurerei, Frankfurt/M. 1907, Schneider, Freimaurerei. In der epochalen Opposition v o n Verstand und G e f ü h l fungiert das Geheimbundwesen als irrationalistische Ausdrucksform der intellektuell überforderten »Volksseele«. Vgl. etwa Schneider, Freimaurerei, S. iff.
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tischen Roman.' Thalmann knüpft an Schneiders Ergebnisse an. Sie übernimmt nicht nur dessen auf die Romantik zielende teleologische Argumentation, indem sie die Entwicklung »geheimnisvoller Motive«, die angeblich zuerst im Trivialroman der Aufklärung zu finden sind, bis hin zum romantischen Roman verfolgt; zugleich bezieht sie, wie schon zuvor Schneider, ihre Kenntnisse der geheimen Gesellschaften der Zeit überwiegend aus eben den trivialen Romanen, in denen sie, der überzeugenden Logik des Kreisschlusses folgend, einen Niederschlag der zeitgenössischen geheimen Gesellschaften konstatiert. Einen »Beitrag zur Entwicklungsgeschichte der Geheimbundmystik« leistet Thalmanns Arbeit damit durchaus, wenn auch in einem anderen Sinn, als der Untertitel ihres Buches es vermuten läßt. Mit der unkritischen Ineinssetzung von literarischer und historisch-gesellschaftlicher Wirklichkeit geheimer Gesellschaften wird eine präzise Bestimmung von Stellenwert und Funktion der trivialliterarischen Bearbeitung des Geheimbundmaterials geradezu unmöglich gemacht: die Mythologisierung geheimer Gesellschaften setzt sich im Bereich der Literaturwissenschaft fort. Es wäre ein forschungsgeschichtlicher Anachronismus, wollte man Marianne Thalmanns Untersuchung methodische und historische Defizite vorwerfen, die erst heute formuliert und, zumindest teilweise, eingeholt werden können. Wenn aber solchermaßen eine Kluft zwischen gänzlich unbescheiden formulierten Ansprüchen und Ergebnissen auf der einen und ihrer methodischsachlichen Begründung auf der anderen Seite sich auftut, so mag eine deutliche Kritik gerechtfertigt sein. Dies gilt um so mehr, als Thalmanns Arbeit bis heute als grundlegender Forschungsbeitrag zur Geheimbundliteratur gelten muß und noch 1970 eine höchst problematische Neuformulierung gefunden hat.6 »Aus dem Barock, dem Nachzügler der aufgeklärten, selbstischen Renaissancewelt regte sich ein metaphysischer Unterton, der Ruf nach kosmischen Zusammenhängen, nach romantischer Totalität.« (3) Die anthropomorphisierende Metaphorik verrät ein historisches Verständnis und Selbstverständnis, dem Literaturgeschichte zu einem bizarren '
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Thalmann, Trivialroman. Nachweise erfolgen im Text. Vgl. auch dies., Probleme der Dämonie in Ludwig Hecks Schriften, Weimar 1919, dies., Die Romantik des Trivialen. Von Grosses »Genius« bis Hecks »William Lovell«, München 1970. Vgl. oben Anm. 5. Im Kontext der Aufwertung der Trivialliteratur als Gegenstand der Literaturwissenschaft versucht Thalmann in der Arbeit von 1970 eine Rehabilitierung trivialer und frühromantischer Romane.
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Epochenpuzzle gerät, für das nach Maßgabe subjektiver Phantasie und Willkür, aber unter Verwendung zeitgenössisch vorherrschender Epochenklischees, Paßformen zurechtgeschnitten werden, die auf die spezifische Beschaffenheit einzelner literarischer Gegenstände und ihre komplexe ästhetische und historische Vermittlung keinerlei Rücksicht nehmen. Die Paßform wird dabei nicht selten zur Streckform, etwa dann, wenn unkritisch gewonnene Figurenschemata des Geheimbundmaterials in Romanfiguren projiziert werden, die mit diesem in keinem erkennbaren Zusammenhang stehen. Natalie als weiblicher Genius, Mignon als androgyne Version der Bundestochter, der Harfner als Emissär: in diesen kontextuell unbegründeten, philologisch (textgenetisch) kaum haltbaren und interpretatorisch zu abstrusen Ergebnissen führenden Behauptungen zeigt sich die methodische Crux eines Vorgehens, das den sozial- und gattungsgeschichtlichen Kontext der Rezeption geheimbündlerischer Elemente ebenso außer acht läßt wie ihre spezifische Verarbeitung in den ästhetischen Strukturen der Einzelwerke.7 Thalmanns Untersuchung von weit über 100 Romanen aus dem Zeitraum von 1780 bis 1840 gelangt im Grunde nicht wesentlich hinaus über eine groß angelegte, aber problematisch kommentierte Zettelkartei »geheimnisvoller Motive« in »Trivialromanen«, »vorromantischen Kunstromanen« und »romantischen Romanen«. Die Selektion der Romane im einzelnen, ihre Anordnung in einem deutlich wertenden und teleologischen Zusammenhang (Romantik) und die Gewinnung der für die Analyse maßgeblichen Kriterien bleiben methodisch und historisch weitgehend unbegründet, bzw. ihre Begründung ergibt sich aus der von vornherein als Ergebnis gesetzten Ausgangsthese einer noch unvollkommenen »geheimnisvollen« Vorwegnahme der Romantik im Trivialroman der Aufklärung. Unter Überschriften wie »Die Landschaft im Trivialroman«, »Tiere und Pflanzen«, »Der Erlebniswert der Nacht«, »Geheime Gesellschaften«, »Der Bundesemissär und Genius«, »Die rationale Aufklärung des Geheimnisses« stellt Thalmann überwiegend deskriptive und figurale, teilweise jedoch auch Handlungselemente der von ihr untersuchten 7
Thalmann, Trivialroman, S. 166-172. Vgl. auch Schneider, Freimaurerei, S. 210, der zu einer ähnlichen Einschätzung kommt. Rosemarie Haas, Die Turmgesellschaft in Wilhelm Meisters Lehrjahren. Zur Geschichte des deutschen Geheimbundromans im 18. Jahrhundert, Diss. Kiel 1964, S. 17-22, gelangt dagegen auf der Grundlage einer detaillierten Analyse des Texts und seiner Entstehung zu anderen Ergebnissen. Vgl. auch unten S. 291 f. 287
Romane zusammen. Insbesondere für den Trivialroman entsteht auf diese Weise ein erstaunlich geschlossenes Bild von Personal, Requisite und »Trickkiste« dieser serienmäßig gefertigten Romanspecies. Problematisch ist erst die Semantisierung dieser oft nur durch stenogrammartige Excerpte repräsentierten Romanelemente, die ohne Rekurs auf ihren jeweiligen Kontext unmittelbar auf Epochenkonzepte bezogen werden. Ein merkwürdiger Argumentationsduktus, in dem beschreibende und spekulative Teile, Aussagen über Literatur und die historische Wirklichkeit unterschiedslos miteinander vermischt werden, verbindet geniale Einsichten mit grandiosen Fehlurteilen, doch bleiben die einen wie die anderen seltsam folgenlos, da die Beweisführung sich auf weiten Strecken verselbständigt und so einer Verifikation anhand ihrer nicht immer klaren Gegenständlichkeit entzieht. 8 Thalmanns Untersuchungen können nur in einem sehr begrenzten Ausmaß einer literarhistorischen Analyse der Rezeption des Geheimbundmaterials nutzbar gemacht werden. Selbst eine Materialgeschichte der Literatur, das konnte oben gezeigt werden, ist nicht ohne Rekurs auf die textuell-strukturelle Vermittlung des künstlerischen und nicht-künstlerischen Materials zu erstellen. Daher bleibt die bloße Inventarisierung der dargestellten Gegenständlichkeit ein unzureichender Versuch der Beschreibung des trivialen Geheimnisromans der Aufklärung. Auf der anderen Seite ist die in fataler Weise Epochenvorurteilen verpflichtete Bewertung dieser Romane und die darauf beruhende Semantisierung ihres »geheimnisvollen« Inventars ein gänzlich untauglicher Ausgangspunkt für eine Untersuchung der »Entwicklung« des Geheimbundmaterials, das heißt für die Beschreibung seiner ästhetischen Funktionalisierung in klassischen und romantischen Romanen. Bei aller Problematik der Thalmannschen Arbeit, die hier gerade ihrer forschungsgeschichtlich fruchtbaren und anregenden Wirkung wegen so ausführlich behandelt worden ist, 8
Das Kapitel über »Die strikte Observanz und die Frau« ist, insoweit dort Aussagen über die Rolle der Frau in den geheimen Gesellschaften der Zeit gemacht werden, pure Phantasie! ( T h a l m a n n , Trivialroman, S. 105-110) »Die vom Freiherrn von Hund begründete strikte Observanz eröffnete den Frauen doch immerhin einen gewissen Zutritt. Man kann, vergleichend mit den Tatsachen des Jahrhunderts, sagen, daß der Trivialroman in gleicher Weise die Häufung der dämonischen Motive brachte, wie das Hund'sche System die Häufung der Zeremonien für die Logen . . . Die Sehnsucht der Seele nach Irrationalen [sie!] war grundlegend. Der Druck eines so ausgesprochen aufklärerischen und kalten Jahrhunderts hat die Blüten dieser Sehnsucht wohl ins Abenteuerliche gelockt.« (105).
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bleibt es doch ihr Verdienst, den Blick der Forschung auf einen nur scheinbar entlegenen Gegenstand der Romangeschichte des späten 18. Jahrhunderts gelenkt zu haben. Durch die Analyse einer große Bewunderung abnötigenden Zahl von Romanen konnte sie zumindest quantitativ die Bedeutung des Geheimbundmaterials für die Gattungsgeschichte des Romans nachweisen. Ihr klassifizierendes, zum Schematismus neigendes Untersuchungsverfahren verspricht Ergebnisse noch am ehesten im Bereich des trivialen Geheimbundromans. Die von Thalmann nicht gestellte Gattungsfrage wird daher im Zusammenhang der Behandlung der trivialen Bearbeitung des Geheimbundmaterials im zweiten Teil dieses Kapitels wieder aufgegriffen. 9 2. Walter Bussmann geht es in seiner i960 erschienenen Dissertation über Schillers Geisterseher und seine Fortsetzer weniger um das historisch begrenzte Phänomen der Bundesliteratur im 18. Jahrhundert; er will einen »Beitrag zur Struktur des Geheimbundromans« leisten, den er nicht als eine besondere Untergattung, sondern als einen »allgemeingültigen Typus« des Narrativen betrachtet.10 Durch die Analyse des Geistersehers soll ein Strukturschema dieses »Typus« gewonnen werden, für den Bussmann unterstellt, daß er noch Romanen wie Gutzkows Ritter vom Geiste, Gides Les Faux-monnajeurs und Orwells 1984 zugrundegelegen habe. Dieses typische Strukturschema des Geistersehers ist jedoch zu weitmaschig, um das historisch Signifikante der ästhetischen Struktur des Schillerschen Romans erfassen zu können; für eine sinnvolle, ertragreiche Analyse und Interpretation der genannten Romane aus dem 19. und 20. Jahrhundert aber sind die Kategorien des »Typus« wiederum zu eng gewählt. Übergroße Enge und Weite verdeutlichen das Dilemma der unhistorisch vorgehenden Typus-Forschung im allgemeinen, insbesondere aber dann, wenn, wie im Fall des Geheimbundromans, überwiegend stoffliche Kriterien der Gegenstandsbestimmung zugrundegelegt werden. Bussmanns »Geheimbundroman« ist durch eine in Anlehnung an Thalmann bestimmte Geheimbundkonfiguration (Genius, Emissär, Bundestochter, Geheimbundopfer) sowie durch eine Fabel charak9
10
Vgl. dazu unten S. 293fr. - Auf die partiell dem Thalmannschen Ansatz verpflichtete Arbeit von Jürgen Viering, Schwärmerische Erwartung bei Wieland, im trivialen Geheimnisroman und bei Jean Paul, Köln/Wien 1976, wird im Zusammenhang der Textanalysen einzugehen sein. Vgl. unten S. 437. Bußmann, Walter, Schillers >Geisterseher< und seine Fortsetzer. Ein Beitrag zur Struktur des Geheimbundromans, Diss. Göttingen i960. 289
terisiert, deren typische Handlungsmuster aus der »Einfachen Form« (Jolies) des Rätsels erklärt werden können.11 Ihre Fruchtbarkeit entfalten Bussmanns Untersuchungen erst dann, wenn man sie, entgegen ihrer erklärten Absicht, als Beitrag zur Erforschung einer historisch begrenzten Untergattung Geheimbundroman versteht, deren Prototyp, Schillers Geisterseher, hier exemplarisch analysiert wird. Erst eine historische Relativierung des typologischen Anspruchs ermöglicht die Berücksichtigung gattungsgeschichtlich relevanter Ergebnisse einer Strukturanalyse, die erstmals die ästhetische Funktionalisierung von Geheimbundelementen im Roman nachweisen kann. Zwar führte der Verzicht auf eine Rekonstruktion des sozial= und gattungsgeschichtlichen Kontexts des Geistersehers dazu, daß wesentliche Strukturmerkmale übersehen oder mißverstanden wurden; doch arbeitet Bussmanns gründliche, mit Hilfe der traditionellen Instrumente einer strukturalen Erzählforschung erstellte Analyse einige wichtige strukturelle Merkmale des Schillerschen Textes heraus, die dieser mit seinen »Fortsetzern« und einer Reihe weiterer trivialer Bearbeitungen des Geheimbundmaterials gemeinsam hat. Ein überzeitlich-konstantes Strukturschema »Geheimbundroman«, das zeigt Bussmanns Untersuchung ebenso wie die vergleichbaren Arbeiten Hansjörg Gartes über den »Schauerroman« und Garleff Zacharias-Langhans' über den »Unheimlichen Roman«, steht in Gefahr, seinen Gegenstand gleich auf doppelte Weise zu verfehlen: einerseits tendiert eine unhistorische Analyse dazu, ihren besonderen literarischen Gegenstand auf die Dimensionen eines relativ willkürlich konstruierten Schemas zu verkürzen, das ohne Rücksicht auf das zeitgenössische Repertoire literarischer Formen entstanden ist; andererseits kann eben dieses Schema seiner Bestimmung als einer überzeitlichen typischen Ausprägung des Narrativen nicht gerecht werden, da seine thematisch-stoffliche Grundlegung zu sehr einem spezifischen historischen Kontext verpflichtet bleibt.12 Der »Geheimbundroman« 11
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Die methodisch verursachte Verengung von Bußmanns Untersuchung wird deutlich, wenn er Schiller vorwirft, dieser habe »die in der Fabel des >Geistersehers< angelegte >Einfache Form< des Rätsels wahrscheinlich nicht klar erkannt«. ( B u ß m a n n , >Geisterseher2
Eine ausführliche Darstellung des Materials und selbst sein detaillierter Nachweis würde den Rahmen dieser Untersuchung sprengen. Die Rezensionen entstammen in der Hauptsache der Allgemeinen deutschen Bibliothek, der Neuen Allgemeinen deutschen Bibliothek und der Jenaischen Allgemeinen Litteratur^eitung.
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Handlungsebene, der deskriptiven und der Ebene der Konfiguration besteht. Dieses Strukturschema gilt nur, das sei hier nochmals betont, für das gerade beschriebene Textkorpus des trivialen Geheimbundromans, das - mit Ausnahme von Schillers Geisterseher - keinen der im dritten Kapitel dieser Arbeit untersuchten Romane einschließt. Dennoch läßt sich unschwer zeigen, daß etwa Jean Pauls Unsichtbare Loge oder der Hesperus das künstlerische Material des trivialen Geheimbundromans bearbeiten. Das Strukturschema dieser Gattung und sein Zusammenhang mit den beiden anderen Formen der Bearbeitung des Geheimbundmaterials, den Ordensschriften und der aufklärerischen Geheimbundliteratur, wird im Rahmen der Analyse von Schillers Geisterseher ausführlich behandelt werden. Ein detailliertes Eingehen auf einzelne Vertreter des trivialen Geheimbundromans erübrigt sich weitgehend schon deshalb, weil die serielle Fertigungsweise diese Romanprodukte in einem Maße einander ähnlich werden ließ, daß ein exemplarisches Vorgehen nicht nur gerechtfertigt, sondern geradezu geboten erscheint." Doch ergibt sich eine gewisse Schwierigkeit aus der Tatsache, daß die Autoren des trivialen Geheimbundromans zwar in Tltelgebung, Figurengestaltung und Handlungsverlauf Schiller bis ins Detail, zum Teil sogar wörtlich gefolgt sind, daß aber ihre vermeintlichen Nachahmungen nur eine Lesart des Romans darstellen, die dessen komplexe und, wie sich zeigen wird, widersprüchliche ästhetische Struktur einseitig auf das Modell des trivialen Bundesromans reduziert. So wenig Schillers Roman in seiner Funktion als Prototyp dieses Genres aufgeht, so wenig gelingt seinen Nachahmern eine den kritischen und literarischen Ansprüchen des Fragments genügende Gestaltung. Der kritisch-pragmatische Anspruch des Vorbilds gerät zur legitimatorischen Floskel, die schon bald als unnützer Ballast empfunden und nicht selten gänzlich aufgegeben wird. Gerade hierin liegt aber eine wichtige Voraussetzung für den Beitrag, den die trivialen Geheimbundromane zur Literarisierung und Ästhetisierung des Geheimbundmaterials geleistet haben. Mit der Aufgabe der pragmatischen Grundhaltung ging nämlich ein Zurücktreten " Eine erste Übersicht über die begrenzte Zahl von Versatzstücken des Serienprodukts trivialer Geheimbundroman vermag die Zusammenstellung von Thalmann, Trivialroman, zu geben. Vgl. aber auch die Arbeiten von Bußmann, >Geisterseherontologische< Qualität des Abenteuers als Welterfahrung im christlich-dualistischen Horizont in den Hintergrund tritt zugunsten einer stärkeren erzähltechnischen Funktionalisierung, deren Bedeutung aber erst in einem veränderten ästhetischen und geschichtsphilosophischen Rahmen ganz ermessen werden kann. - Zum Abenteuer im Roman vgl. auch die genannten Untersuchungen von Arnold Hirsch und Beaujean, Trivialroman, S. 154fr. - Zur Kritik des Abenteuers in der aufklärerischen Romantheorie vgl. Blankenburg, Versuch, S. 307fr. und S. 524: ». . . daß jeder Roman nur die Begebenheiten einer Person enthalten könne, inwiefern nämlich diese Begebenheiten zur Bildung und Formung dieses Charakters beygetragen haben.«
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Die geheimen Gesellschaften des 18. Jahrhunderts waren ein wichtiger Träger sozialer Phantasien und heroischer Illusionen bestimmter bürgerlicher und adliger Gruppen. Die Debatte um das Geheimbundmodell der Aufklärung, die weniger die gesellschaftliche Realität der Geheimbünde als deren verbreitete Mythologie zum Gegenstand hatte, setzte sich in der Literatur fort. Das gilt, wie sich zeigen wird, insbesondere für den pragmatischen Roman der Aufklärung. Doch nur für kurze Zeit war das literarische Interesse an den geheimen Gesellschaften ein unmittelbar gesellschaftliches, das sich thematisch auf die reale Existenz der Bünde bezog. Von Anfang an wurde das Geheimbundmaterial ästhetisch funktionalisiert, wobei die gattungsgeschichtliche Bedürfnislage des Romans Häufigkeit und Art seiner künstlerischen Bearbeitung entscheidend beeinflußte. Das Geheimbundmaterial war ein bevorzugter Träger der neuen Ritterlichkeit im Roman am Ende des 18. Jahrhunderts. Geheimbundhandlungen ermöglichten jene sozialen Abenteuer mit politischer Dimension, wie sie die gesellschafts- und gattungsgeschichtliche Situation wünschenswert erscheinen ließ. Hier konnten die neuen Ritter antreten, »ein Loch in diese Ordnung der Dinge hinein zu stoßen, die Welt zu verändern, zu verbessern«; (HÄ ι, 5 67) hier erhielten die Lehrjahre des Individuums in der modernen Welt jene öffentliche Qualität, die es verhinderte, daß die hausväterliche Rechtschaffenheit nicht nur das Ziel, sondern die Reise selbst schon bestimmte. Hielten mit den geheimen Gesellschaften und ihren Plänen öffentliche Begebenheiten substantielleren Gehalts Einzug in den modernen Roman, so waren dies doch Begebenheiten, deren Form und Inhalt einem bürgerlichen Heroismus in besonderer Weise angemessen war. Wie die Wirklichkeit geheimer Gesellschaften oft dem Realitätsgehalt einer Fiktion entsprach, so nährte sich ihre fiktionale Existenz hauptsächlich aus den subjektiven Illusionen der Romanhelden. Die Gebrochenheit bürgerlicher politischer Aktion scheint allenthalben durch. »Die heroische Moderne«, schreibt Benjamin, »erweist sich als ein Trauerspiel, in dem die Heldenrolle verfügbar ist.«42 Die späten Romane Wielands - die zudem deutlich machen, wie das Geheimbundmaterial den Übergang vom Staatsroman der Aufklärung zum bürgerlichen Gesellschaftsroman ermöglichte — und die frühen Romane 42
Benjamin, Walter, Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus, in: W. B., Gesammelte Schriften, hg. v o n R o l f Tledemann und Hermann Schweppenhausen Frankfurt/M. 1980, Bd. I, 2, S. 509-690, hier S. 600.
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Jean Pauls demonstrieren, in welchem Ausmaß die Geheimbundritterlichkeit eine Ritterlichkeit der Gesinnung, der Geheimbundheroismus ein Heroismus der Innerlichkeit war. Das Geheimbundmodell der Aufklärung stand als wirkliche Möglichkeit einer kollektiven Auflehnung gegen die verdinglichte Wirklichkeit der prosaischen Welt bereit; es bot Gelegenheit zu heroischer Aktivität des einzelnen oder mehrerer zugunsten oder zuungunsten individueller, partikularer oder allgemeiner Interessen. Der abenteuernden Ritterlichkeit der Romanhelden wird der Bund zum organisatorischen Vehikel oder zum Antipoden ihrer Kämpfe in der Welt. Es ist bezeichnend für den Realismus des Romans, daß in keinem der hier untersuchten Romane Held oder Bund unbeschadet ihr Ziel erreichen. Die Bundesabenteuer scheitern. Sie scheitern, weil sie als Träger heroischer Illusionen und als Gegenstand subjektiver Projektionen nur in einem sehr beschränkten Ausmaß eine objektive gesellschaftliche Realität und Wirksamkeit besitzen. Die geheimen Gesellschaften im Roman sind nicht Ausdruck eines bewußten politischgesellschaftlichen Kalküls, sie sind Projektionen eines sozial abstrakten Idealismus, einer bürgerlichen Ritterlichkeit< eben, die der zum Staat verfestigten äußeren Ordnung der prosaischen Wirklichkeit notwendig unterlegen ist. Aber noch im Scheitern zeigen die Bundesabenteuer mit den Bedingungen ihrer Niederlage die Möglichkeit ihres Gelingens. Wo, wie in Goethes Wilhelm Meister, am Ende ein positiver Ausgleich zwischen Ich und Welt sich anbahnt, da ist der gattungsbedingte Realismus des Romans gefährdet. Goethe vermeidet die dilemmatische Lösung eines utopischen Romanschlusses, indem er den Roman partiell die Gattungsgrenze transzendieren läßt. Der Roman realisiert sich als Roman dadurch, daß er seine epische Vergangenheit in romanhafter Umgebung aktualisiert. Schon Schiller hatte beobachtet, daß »der Roman, so wie er da ist . . . sich in mehreren Stücken der Epopöe« annähert.43 Die Turmgesellschaft fungiert nicht als Träger der heroischen Illusionen des Romanhelden; im Gegenteil trägt sie deutlich Züge einer objektiven Verkörperung allgemeiner Interessen. Mit Recht hat Schiller sie mit den poetischen »Maschinen« des Epos, mit den Göttern und dem regierenden Schicksal der Alten verglichen. So 43
Brief an Goethe vom 8. Juli 1796, in: BriefwechselSchillerjGoethe, auch Jean Paul, Vorschule, Werke, Bd. 5, S. 251, und Lukács, Textanalyse des Wilhelm Meister siehe unten S. jójff.
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S. 236. - Vgl. dazu Theorie, S. izóff. Zur
wie im Wilhelm Meister die materiale Utopie des Romanschlusses aufgehoben wird in einer ästhetischen Utopie des Romans als Form des Epischen in der Moderne, so ist die Turmgesellschaft eine überwiegend ästhetische Instanz, deren unmittelbar gesellschaftlicher Gehalt mehrfacher formaler Brechung ausgesetzt ist. Der am Ende des Romans sich abzeichnende Ausgleich zwischen Bürgertum und Adel hat einen unverkennbar utopischen Charakter. Mit der Verwendung epischer Elemente im Kontext des Romans gelingt es Goethe, dem Realismus der Gattung zu genügen, ohne auf den tendenziell utopischen Standesausgleich verzichten zu müssen. Die epischen Zitate bestätigen den Gattungscharakter des Romans, indem sie seine Grenzen als realistische zugleich kenntlich machen und doch aufzuheben in der Lage sind. Die ästhetisch bewußt gesetzte Aufhebung der Gattungsgrenzen des Romans verweist auf die Bedingungen einer Verwirklichung der in ihm angedeuteten gesellschaftlichen Möglichkeiten. Auf die Verwendung des Geheimbundmaterials im Rahmen einer ästhetischen Re-Integration epischer Elemente im Roman wird im Zusammenhang der Wilhelm-Meister-Yntztiprct&üon noch einzugehen sein. Schon bislang dürfte deutlich geworden sein, in welchem Maße die besondere Beschaffenheit des Geheimbundmaterials der gattungsgeschichtlichen Bedürfnislage des Romans am Ende des 18. Jahrhunderts korrespondierte. Als potentieller Träger der neuen Ritterlichkeit verhalf es dem Abenteuer, der zentralen Form der Auseinandersetzung zwischen Individuum und Welt im Roman, zu substantiellerer Gestalt; als Basis einer epischen Konstruktion im Roman ermöglichte es den einzigartigen Ausgleich zwischen Gattungsrealismus und utopischem G e h a l t im Wilhelm
2.3
Meister.
Das Geheimbundmaterial und das >Wunderbare< im Roman
Der pragmatische Roman der Aufklärung entstand im bewußten Gegenzug zum >Romanhaftenwunderbare< Dimension der literarischen Wirklichkeit entbehren. Im Gegensatz zum Abenteuerlichen war das Wunderbare ein zentraler Gegenstand der poetologischen Diskussion des 18. Jahrhunderts.44 Die Kritik des roman44
Zur Theorie und Praxis des >Wunderbaren< im 17. und 18. Jahrhundert vgl. Stahl, 327
haften Wunderbaren ging einher mit immer neuen Bestimmungs- und Begründungsversuchen, die dem Wunderbaren als ästhetischer Kategorie einen legitimen Platz im poetischen System der Zeit zu verschaffen suchten. Das Bedürfnis nach einem zeitgemäßen Wunderbaren, das die antike Göttermaschinerie ebenso zu ersetzen in der Lage war wie deren abergläubische Nachfolger, das Bedürfnis nach einem Wunderbaren, das weder dem Realitätsanspruch des Romans widersprach, noch die ihm zugeschriebene ästhetische Funktion verfehlte, führte in den achtziger und neunziger Jahren des 18. Jahrhunderts zu einer verstärkten literarischen Rezeption der >wunderbaren< Elemente des Geheimbundmaterials. Das Geheimbund-Wunderbare verlor allmählich seinen unmittelbaren Bezug zur zeitgenössischen Realität, aus dem pragmatischen Anspruch, der seine künstlerische Bearbeitung zunächst legitimierte, wurde eine poetische Lizenz: Der Prozeß der Ästhetisierung erfaßte auch das geheimnisvolle Wunderbare aus dem Bundesbereich, das zugleich als Ausdruck wie als Medium des Übergangs von einer mimetischen zu einer ästhetisch autonom verfaßten Romanwirklichkeit gelten kann. Das literarische Wunderbare steht in engstem Zusammenhang mit dem Wirklichkeits- und Fiktionsbewußtsein einer Zeit; seine Behandlung verlangt eine epochen- und genrespezifische Differenzierung, wobei hier das Wunderbare im Roman des späten 18. Jahrhunderts im Vordergrund stehen soll. Als ursprünglich religiöse Kategorie zunächst der Theologie überantwortet, wurde das Wunderbare nur allmählich ein Gegenstand der philosophischen, psychologischen und schließlich der ästhetischen Reflexion. Die bedeutungsgeschichtliche Entwicklung des Wunderbaren läßt sich sowohl als schrittweise Säkularisierung wie als zunehmende Ästhetisierung beschreiben. Das Wunderbare wurde zum Problem der poetologischen Diskussion in dem Maße, wie im Rahmen der Nachahmungskonzeption der Aufklärung ein eigenes Fiktionsbewußtsein sich auszubilden begann. Die theonome Poetik des 17. Jahrhunderts behandelte das Phänomen nach Maßgabe außerästhetischer theologischer Festlegungen, wenn auch erste wirkungsästhetische Argumentationsansätze, etwa bei Opitz, nicht zu übersehen sind.45 Die aufklärerische Dichtungstheorie
45
Karl-HeinDas Wunderbare als Problem und Gegenstand der deutschen Poetik des 17. und 18. Jahrhunderts, Frankfurt/M. 1975, Voßkamp, Romantheorie, S. 152fr., Fink, Naissance, und Hillmann, Wunderbares. Opit%, Martin, Buch von der Deutschen Poeterey (1624), hg. von Cornelius Sommer, Stuttgart 1970, insonderheit das III., V. und VIII. Kapitel.
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begegnete dem wachsenden Legitimationsdruck, unter den sich das Wunderbare im Zeichen der realistisch-pragmatischen Literaturkonzeption gestellt sah, auf zweierlei Weise. Mit ihrer auf die Leibnizsche Theorie der möglichen Welten zurückgreifenden Bestimmung des Wunderbaren als des in sich widerspruchsfreien »wahrscheinlichen Wunderbaren« bereitete die rationalistische Poetik Gottscheds schon die psychologisch-wirkungsästhetische Rechtfertigung des Wunderbaren vor, die die poetologische Reflexion von den Schweizern bis an die Schwelle der autonomen Kunsttheorie beherrschen sollte. Im Roman unterlag die Verwendung des Wunderbaren - einer in der Regel genrespezifisch bestimmten Kategorie - besonderen Einschränkungen. Schon Johann Adolf Schlegel unterschied 1 7 5 1 m seiner Abhandlung Von dem Wunderbaren in der Poesie das streng »wahrscheinliche Wunderbare« des Romans, dem er die Nachahmung des »hypothetisch Wahrscheinlichen« zuwies, deutlich von dem Wunderbaren in antiken Epen und Tragödien. Und noch 1774 hieß es bei Blankenburg: »Die Epopee gestattet ein gewisses Wunderbares, das man Maschienen nennt; und der Roman dürfte es vielleicht nicht vertragen.«46 Ein letzter Paradigmawechsel in der poetologischen Reflexion des Wunderbaren fand am Ende des Jahrhunderts beim Übergang zur autonomen Kunsttheorie statt. Die philosophisch-psychologischen Legitimationsansätze der aufklärerischen Poetik wurden abgelöst von einer rein ästhetischen Argumentation, die nicht das Ob, sondern nurmehr das Wie des literarischen Wunderbaren zum Gegenstand hatte. Das Wunderbare hatte als legitimer Bestandteil des wirklichen Scheins die mit der Nachahmungskonzeption verbundenen außerästhetischen Rechtfertigungsversuche endgültig hinter sich gelassen. Mit dem Geheimbundmaterial stand dem Roman des 18. Jahrhunderts ein Realitätsbezirk zur Verfügung, der selbst schon wunderbar-phantastische Qualitäten besaß. Nicht umsonst hatten die zahlreichen zeitgenössischen Abhandlungen über den »Hang zum Wunderbaren« häufig den Geheimbundbereich zum Gegenstand.47 Das Geheimnis selbst, die mysteriösen Rituale der Hochgradorden, die 46
47
Schlegel, Johann Adolf., Von dem Wunderbaren der Poesie, besonders der Epopee, in: Batteux, Einschränkung, S. 451-460. - Blankenburg, Versuch, S. 22. Vgl. oben S. 272fr. sowie die Untersuchungen von Viering, Schwärmerische Erwartung, S. ;2ff., Zacharias-Langhans, Der unheimliche Roman, S. 2-37 sowie die einschlägige Bibliographie im Anhang der Arbeit. Zu Wielands Bestimmung des Wunderbaren vgl. unten S. 400ff. 329
legendenhaft kolportierten Biographien der Wundermänner, ihre in Geisterbeschwörungen sich äußernden magischen Kräfte, die gesamte Mythologie geheimer Gesellschaften ließ in der gesellschaftlichen Wirklichkeit einen Bereich des Wunderbaren und Phantastischen entstehen, der bei der literarischen Bearbeitung des Geheimbundmaterials seine Spuren hinterließ. Die Poetisierung der Wirklichkeit im Klima der Bünde hatte zunächst die Literarisierung bestimmter Sachprosaformen zur Folge, die den Geheimbundbereich zum Gegenstand hatten. In der aufklärerischen Geheimbundliteratur wurde das Wunderbare in der Form des explained supernatural vorbereitet für seine romanhafte Rezeption. Der pragmatische Anspruch, der nicht zuletzt in der verbreiteten Verwendung von literarisierten Sachprosaformen im Roman seinen Ausdruck fand, und ein realistischer Rahmen legitimierten die künstlerische Bearbeitung potentiell wunderbarer Elemente des Geheimbundmaterials. Die lange Zeit bestehende poetologische Diskriminierung des Wunderbaren im Roman konnte so ausgerechnet im Zeichen des pragmatischen Realismus der Aufklärung unterlaufen werden. Tatsächlich verfügte das Wunderbare aus dem Geheimbundbereich über Eigenschaften, die für den Aufklärungsroman hohe narrative Funktionalität besaßen. Pragmatischer Roman und Geheimbundmaterial schlossen sich keineswegs gegenseitig aus.48 Wielands Schwärmerroman Don Sylvio fand im Peregrinus Proteus einen konsequenten Nachfolger, nur hat das Wunderbare jetzt über seine Erscheinung als subjektiver Wahn hinausgehend eine objektivere Gestalt in Form von Bundesveranstaltungen gewonnen. Schillers Geisterseher läßt sich durchaus als eine psychologische Erzählung lesen, die im Rahmen einer seelenexperimentellen Versuchsanordnung sich der extremen Möglichkeiten des Geheimbund-Wunderbaren bedient. Wezel schließlich beschreibt eine dritte Art des pragmatischen Wunderbaren^ die unverkennbar eine Affinität zum Geheimbundmaterial und der ihm innewohnenden Struktur von Geheimnis und Aufklärung besitzt. Das Wunderbare, welches sie [die bürgerliche Epopöe, M. V.] gebraucht, besteht einzig in der sonderbaren Zusammenkettung der Begebenheiten, der Bewegungsgründe und Handlungen . . . Die einzelnen Begebenheiten können und müssen häufig geschehen - denn sonst wären sie nicht wahrscheinlich - aber nicht ihre Verknüpfung und Wirkung zu Einem Zwecke. 49 48
So aber Hahl, Reflexion, S. 7 1 . - Vgl. dazu auch die Textanalysen der Romane Wielands und Schillers im dritten Kapitel dieser Arbeit.
33°
Eben dieses Wunderbare der Kombination wird aber vom Geheimbundmaterial mit der ihm eigentümlichen zeitlichen Verschiebung von Geheimnis und Aufklärung ermöglicht. Der rätselhafte Zusammenhang scheinbar zufälliger Ereignisse ergibt sich aus der Aufdeckung der ihnen zugrundeliegenden geheimen Lenkung. Doch schon die Untersuchungen zur Literarisierung des Geheimbundmaterials haben gezeigt, wie der pragmatisch-realistische Anspruch der Texte allmählich zurücktrat. Die wunderbare Geheimbundhandlung verselbständigte sich und wurde zunehmend zum Bestandteil einer neuartigen, genuin-ästhetischen Wirklichkeit des Romans. Schon in Schillers Geisterseher kann eine noch so detaillierte Aufklärung die (ästhetische) Wirkung des Geheimnisvoll-Wunderbaren nicht aufheben. Die Ästhetisierung der wunderbaren Geheimbundelemente hatte ihre partielle Entwirklichung zur Folge; als weitgehend formalisierte Mittel des Erzählens schwächte sich im Laufe der Zeit ihr Bezug zur zeitgenössischen Bundeswirklichkeit ab. Die ästhetische Funktionalität dieses Wunderbaren, seine Bedeutung für die Gestaltung der deskriptiv-handlungssituierenden und der figuralen Ebene der Romanstruktur wurde schließlich zum Hauptmotiv seiner literarischen Verarbeitung. Die wunderbare Wirklichkeit der geheimen Gesellschaften blieb nicht länger nur Gegenstand romanhaften Erzählens. Das Geheimbundmaterial war zum künstlerischen Material geworden, seine wunderbaren Elemente bereicherten das zeitgenössische Repertoire der literarischen Formensprache, sie standen, als Mittel der erzählerischen Realisierung, für die Behandlung neuer Thematiken zur Verfügung. Wenn auch die so skizzierte Entwicklung des Geheimbund-Wunderbaren einen Regelfall literarischer Evolution darstellt, so hat sie doch einen besonderen historischen Ort. Die wunderbare Geheimbundwirklichkeit wurde zum legitimen Gegenstand einer künstlerischen Bearbeitung im pragmatisch-realistischen Roman der Aufklärung; als wirksamer Bestandteil der Romanwirklichkeit und als spezifisches ästhetisches Mittel des Romandiskurses trug das Geheimbund-Wunderbare zu einer Überwindung eben jener pragmatischrealistischen Erzählweise im Rahmen des Übergangs von der mimetischen zur autonomen Literaturkonzeption bei. Von Jean Pauls Theorie des Wunderbaren heißt es dann schließlich: »Alles wahre Wunderbare ist für sich poetisch.« Es überrascht nicht, 49
Wfí(el, Herrmann
und Ulrike, S. III.
531
wenn er seine einschlägigen Beispiele, in der Vorschule der Ästhetik wie in den Romanen selbst, zu einem großen Teil aus dem Geheimbundmaterial wählte, das ihm bereits als künstlerisches Repertoire zur Verfügung stand. 50 Mit der Setzung des Wunderbaren als poetisch, mit seiner Behandlung als ausschließlich ästhetischer Kategorie ist der Endpunkt einer Entwicklung erreicht, die bereits im 17. Jahrhundert ihren Anfang nahm. Das Wunderbare hatte seinen legitimen Ort im Roman des Barock, doch war seine Verwendung nicht ästhetischen, sondern theologischen Maßstäben verpflichtet. Die auf der MimesisVorstellung basierende Literaturtheorie der Aufklärung wandte sich gegen das romanhafte Wunderbare< des Barockromans, entwarf jedoch gleichzeitig aufwendige philosophisch und psychologisch ausgerichtete Teiltheorien, die das streng wahrscheinliche Wunderbare< im Roman zu rechtfertigen suchten. Mit dem Verzicht auf den Nachahmungsgrundsatz entfiel der Zwang zu einer außerästhetischen Legitimation des Wunderbaren im Roman, der jetzt eine Wirklichkeit eigener Art begründete: Das Wunderbare als das Poetische schlechthin wurde zum wesentlichen Bestandteil der Wirklichkeit des Romans. Aus der theologischen Kategorie des 17. Jahrhunderts war am Ende des 18. Jahrhunderts eine ästhetische Kategorie geworden, die allerdings noch deutliche Spuren ihrer philosophisch-psychologischen Bestimmung erkennen ließ. Das Ende des aufklärerischen Romans verweist in mancherlei Hinsicht auf seinen Beginn. Stand am Anfang die Emanzipation vom Abenteuerlichen und Wunderbaren des Barockromans, so stand an seinem Ende die Emanzipation zum wunderbaren Abenteuer, das jetzt allerdings als Bestandteil einer autonom verstandenen ästhetischen Struktur einen veränderten Stellenwert gewann. Das Wunderbare des Geheimbundmaterials, das gleichsam als trojanisches Pferd die poetische Potenz des literarisch Wunderbaren in den pragmatisch-realistischen Roman der Aufklärung trug, half den Übergang bruchlos zu bewerkstelligen.
Jean Paul, Vorschule, Werke, Bd. 5, S. 44.
352
2.4
Zufall und Lenkung: Zur Funktion des Geheimbundmaterials für die Gestaltung des transzendentalen Erzählhorizonts im Roman
Im Kunstwerk regiert die Vergangenheit, weniger die Gegenwart, mehr die Zukunft.''
Von Interesse ist weiter die spezifische Verfaßtheit der Romanwelt, die jeweils dominanten Fiigungs- und Verkettungsmuster, die Aufbau und (sinnhaften) Zusammenhang der Welt des Romans ermöglichen. Dem Roman ist als Form aufgegeben, die epische Forderung nach Darstellung der Totalität einer Welt unter den Bedingungen der prosaischen Wirklichkeit der Moderne einzulösen. Als Form der »transzendentalen Obdachlosigkeit« (Lukács) ist der Roman die ästhetische Objektivation eines geschichtsphilosophischen Bewußtseins, das den Verlust der extensiven Totalität der Welt wie der Lebensimmanenz des Sinnes reflektiert. Die biographische Form, der abenteuerliche Lebenslauf eines problematischen Individuums in einer ihm fremd gegenübertretenden Welt verbleibt als einzig mögliche Darstellungsform von Totalität im Roman. Ist damit der Rahmen der formalen Gestaltung der Gattung abgesteckt, so kann doch nicht übersehen werden, daß die dem Roman innewohnende Gesinnung zur Totalität zu epochenspezifisch unterschiedlichen Gestaltungsweisen geführt hat. In diesen Gestaltungsweisen finden die jeweils vorherrschenden Strukturen der Wirklichkeitserfahrung und -bewältigung ihren Niederschlag. Der Roman ist als literarische Form gesellschaftlichen Bewußtseins von Wirklichkeit in hohem Maße den zeitgenössischen Anschauungsformen von Wirklichkeit verpflichtet. Die Verfaßtheit der Romanwelt, der transzendentale Erzählhorizont, korrespondiert epochalen (geschichts-)philosophischen Konzeptionen, die wiederum die grundlegenden Formen der Wirklichkeitsbestimmung einer Zeit reflektieren. Diese strukturelle Korrespondenz von Romanwelt und Wirklichkeit ist keineswegs an mimetisch verstandene Literatur gebunden. Im Gegenteil: Für den Roman, der im Zeichen eines Wirklichkeitsbegriffs zu seiner vollsten Entfaltung gelangt, der die Realität als die »Realisierung eines in sich einstimmigen Kontextes« (Blumenberg) begreift, wird der transzendentale Erzählhorizont zur funktionalen Entsprechung einer Wirklichkeit, die materiale Äquivalente nicht länger zuläßt. Die Struktur der Wirklichkeitserfahrung wird zum bestimmenden 11
Jean Paul, Vorschule, Werke, Bd. 5, S. 247.
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Muster einer ästhetischen Herstellung und Gestaltung von Wirklichkeit. Noch im Nexus der erzählten Welt des Romans wird der Sozialcharakter dieser Form, ihre unaufhebbare Verpflichtung auf Wirklichkeit sichtbar. Der spezifische Nexus der erzählten Welt eines Romans wird daher mit dem Hinweis auf seine erzähltechnische Funktion als Mittel der ästhetischen Reduktion welthafter Totalität noch nicht ausreichend bestimmt. Zwar ist die Beschaffenheit der dargestellten Wirklichkeit eines Romans abhängig von ihrer erzählerischen Präsentation und als solche Ergebnis ästhetischen Kalküls. Daneben aber sind die dominanten Fügungs- und Verkettungsmuster eines Romans bedeutungstragende Formen narrativer Wirklichkeitskonstitution, die strukturelle Bezüge zu epochal vorherrschenden Konzeptionen der Wirklichkeitserfahrung aufweisen. Mit der Kontingenz, der Providenz und der Kausalität werden hier drei Kategorien realer und ästhetischer Wirklichkeitskonstitution von hohem Abstraktheitsgrad behandelt. Dabei liegt die Annahme zugrunde, daß jeweils spezifisch gewichtete Kombinationen dieser drei Kategorien wichtige Aspekte des romanhaften Weltaufbaus vom 17. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts beschreiben können. Es ist methodisch sinnvoll und trägt überdies der ästhetischen Funktionsgeschichte dieser drei Formen der Wirklichkeitskonstitution Rechnung, wenn ihrer erzähltechnischen Bedeutung besondere Aufmerksamkeit zuteil wird. So konnte kürzlich überzeugend nachgewiesen werden, daß der Zufall im Roman - zumindest im Rahmen einer teleologischen Erzählweise — entgegen seiner außerästhetischen Bestimmung ein entscheidendes Mittel der erzählerischen Sinnstiftung darstellt: die ontologische Qualität des Zufalls verhält sich gegenläufig zu seiner ästhetischen Funktionalität im Roman.' 2 Der Zufall im Roman geht aber nicht auf in seiner erzähltechnischen Funktion. Als Moment der narrativen Konstitution von Welt behält auch die ontologische Qualität des Zufalls ihre Wirksamkeit. Mag die Zufälligkeit der Romanwelt im Kalkül der ästhetischen Gesamtstruktur zur erzählerischen Notwendigkeit aufgehoben sein: sie bleibt, ebenso wie der providentielle ' 2 Dazu Müller, Klaus-Detlef, Der Zufall im Roman. Anmerkungen zur erzähltechnischen Bedeutung der Kontingenz, in: G R M 28, 1978, S. 265-290. Zur Bedeutung der Kontingenz in der Literatur vgl. auch Köhler, Erich, Der literarische Zufall, das Mögliche und die Notwendigkeit, München 197}, und N e f , Ernst, Der Zufall in der Erzählkunst, Bern/München 1970.
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und der kausale Nexus romanhafter Wirklichkeit, ein wichtiger Ausdrucksträger ästhetischer Welterfahrung und -bewältigung. Gerade weil der Roman als Form den Verlust der epischen Koinzidenz von Zufall und Notwendigkeit reflektiert, erfüllt der Zufall in ihm eine doppelte Funktion: einerseits Medium ästhetischer Sinnstiftung, ist er doch zugleich bestimmendes Merkmal romanhafter Wirklichkeit und ihrer romanfiguralen Wahrnehmung. Die ästhetische Struktur des Romans enthält mit der Zufälligkeit ihres Weltentwurfs zugleich die bedingende Voraussetzung für die ihr eigentümliche sinnhafte Funktionalität des Zufalls. Die noch weiter zu untersuchende Doppelfunktion des Zufalls, der Mittel ebenso kontingenter Weltdarstellung wie erzählerischer Providenz zu sein vermag, läßt tendenziell schon jenes Auseinandertreten von erzählter Welt und erzählerischem Sinn, von Handlungs- und Bedeutungsebene des Romans erkennen, die die Gattungsgeschichte des Romans zunehmend bestimmt hat. Die fortschreitende Dissoziation von Welt und Individualität führt dazu, daß die traditionelle Weise romanhafter Gestaltung von Totalität, in deren Zentrum die individuelle Begebenheit steht, problematisch wird. Wenn der Sinn der Erzählung aus dem Erzählten mehr und mehr sich verflüchtigt, wird das Erzählen selber zum zentralen Ort der Sinnstiftung, die Totalität aber vollends eine ästhetische Kategorie, die den Verlust eines Weltganzen kritisch zum Ausdruck bringt. 53 Der Roman hat seinen geschichtsphilosophischen Ort auch dann noch, wenn seine Form den geschichtlichen Sinn negiert. Der transzendentale Erzählhorizont ist aber nicht ein Problem der Geschichtsphilosophie allein; er ist ein wichtiger Bestandteil der ästhetischen Struktur des Romans, der allerdings als Gattung auf epochenspezifische Muster einer geschichtsphilosophisch vermittelten Wirklichkeitserfahrung Bezug nimmt. Kontingenz, Providenz und Kausalität sind bestimmende Erscheinungsformen der Wirklichkeit im modernen Roman, sie bestimmen den Aufbau der Wirklichkeit, wie sie dem Helden des Romans erscheint und wie sie objektiv verfaßt ist. Das Geheimbundmaterial, um dessen Bedeutung für den Aufbau eines transzendentalen Erzählhorizonts es im folgenden gehen soll, ist in besonderer Weise dazu geeignet, sowohl subjektive Erfahrungsweise wie objektive Verfaßtheit ästhetischer Wirklichkeitsstrukturen " Zum weiteren Zusammenhang vgl. Kabler, Erich von, Untergang und Übergang. Essays, München 1970, Adorno, Theodor W., Standort des Erzählers im zeitgenössischen Roman, in: ders., Noten zur Literatur I, Frankfurt/M., 1958, S. 61-72.
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zu gestalten. Der Zusammenhang und damit der Sinn der Welt des barocken Romans wird durch eine außerästhetische Instanz gewährleistet.' 4 Die Romanwirklichkeit ist ein Ort heilsgeschichtlichen Geschehens; zwar ist der Zufall das vorherrschende Fügungs- und Verkettungsmuster, doch ist die Zufälligkeit der Welt am Ende aufgehoben in einer alles umfassenden göttlichen Vorsehung. Der Barockroman kennt jedoch auch schon eine kausale Verknüpfung der Geschichtselemente. Die gigantische Verwirrung des fast unüberschaubaren Romangeschehens, die unzähligen Verkleidungen und Quiproquos, die Intrigen und Mißverständnisse stehen in einem geheimen Zusammenhang, der im Roman nicht eigentlich erzählt, sondern aus verschiedenen einander überlagernden Perspektiven rekonstruiert wird. Die Rekonstruktion des verborgenen providentiellen Zusammenhangs eines rätselhaften Romangeschehens legt bis ins Detail die kausale Verknüpftheit der komplizierten Handlungsstruktur bloß. Mit Recht hat Lugowski diesen höchst unwahrscheinlichen »Kausalrealismus« der Gesinnung des Märchens zugeschrieben und ihn von einer realistischen Kausalmotivation im Roman abgegrenzt. Doch wird schon hier eine aufschlußreiche und zukunftsweisende Konstellation von Providenz, Kontingenz und Kausalität erkennbar. Der Zufall erscheint als noch nicht durchschaute Kausalität des Geschehens, die ihrerseits den Beweis für die sinnstiftende Wirksamkeit der göttlichen Vorsehung in der Welt erbringt. Die Welt des Barockromans scheint kontingent; die erzählerische Rekonstruktion des kausalen Geschehensnexus (nachgeholte Vorgeschichten) hebt diese für die Romanfiguren bestimmende Kontingenzerfahrung auf: Die Zufälligkeit der Welt wird damit zur irdischen Erscheinungsweise göttlicher Providenz, deren kausale Wirklichkeit dem Menschen weitgehend verschlossen bleibt. Der Kontingenz der barocken Romanwelt liegt eine verborgene, aber providentiell garantierte Kausalrealität zugrunde, die nicht oder nur teilweise dem Helden, wohl aber dem Romanautor durchschaubar wird, der sein ästhetisches Kalkül im Rahmen einer heilsgeschichtlichen Weltdarstellung entwickelt. Schon der barocke Zufall ist ein Zufall der Perspektive, einer Perspektive allerdings, die 14
Dazu Röder, Gerda, Glück und glückliches Ende im deutschen Bildungsroman. Eine Studie zu Goethes »Wilhelm Meister«, München 1968, S. 25-49, Lugowski, Clemens, Die märchenhafte Enträtselung der Wirklichkeit im heroisch-galanten Roman, in: Deutsche Barockforschung, hg. von Richard Alewyn, Köln/Berlin 1 1966, S. 572-391, sowie Hirsch, Bürgertum, S. j5f., 68, 130 et passim.
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nur v o n einem außerweltlichen göttlichen Standpunkt aus vollständig aufzuheben ist: D e r Roman steht im Dienst der Theodizee. A n der Wende zum 18. Jahrhundert vollzieht sich eine charakteristische Gewichtsverschiebung zwischen den drei grundlegenden Verknüpfungsformen von Wirklichkeit.
Das geschlossene
christliche
Weltbild des Barock wird abgelöst v o m philosophisch-naturwissenschaftlichen Weltbild der Aufklärung, dessen rationalistisch-empiristische Ausrichtung zunehmend auch die Geschichte aus ihrer theologischen Umklammerung als Heilsgeschichte befreit. Die Kausalität ist jetzt die beherrschende Kategorie einer Welt, für die die potentielle Erkennbarkeit zur philosophischen Prämisse ihres epochalen Selbstverständnisses wird. Die Möglichkeit menschlicher Erkenntnis und Selbsterkenntnis läßt die providentielle Garantie der Welt in den Hintergrund treten. Durch den Nachweis der vernünftig-kausalen Harmonie des Weltganzen wird zugleich der Beweis der Göttlichkeit der irdischen Ordnung erbracht. Mit der christlichen Vorsehung verliert auch der auf sie bezogene Zufall an Bedeutung. Im Rahmen einer kausal-historischen Weltvorstellung fungiert er nicht mehr als Deutungskategorie; er wird zu einer Restkategorie der Erklärung, die aus der mangelnden Konsistenz der Vorgegebenheit resultiert." Wiederum ist der Zufall ein Perspektivbegriff, doch hat die A u f h e b u n g der Zufallsperspektive, die rekonstruktive Erklärung des Zufälligen als (kausal) Notwendiges, weniger theologische als vielmehr (geschichts-) philosophische und ästhetische Implikationen. D i e Neubewertung von Kontingenz, Providenz und Kausalität hat Folgen f ü r den Roman, der nicht mehr länger ein Ort heilsgeschichtlicher Rechtfertigung der Welt ist; kann er im Rahmen der aufklärerischen Nachahmungskonzeption als ästhetisch vermittelte Historiodizee gelten, so erwirbt er im Kontext der autonomen Kunsttheorie den Status einer ästhetischen Theodizee. Mit der Säkularisierung von Zufall und Vorsehung geht ihre Ästhetisierung im Roman einher. Die Kausalität wird zum Grundnexus der Welt des an der Historiographie orientierten pragmatischen Romans der A u f k l ä r u n g , doch behalten auch Providenz und Kontingenz ihre Bedeutung für den romanhaften A u f b a u v o n Wirklichkeit.' 6 D e r Zufall, der als verkürzte Motivation einen Beitrag zur ästhetischen Weltreduktion leistet, wird " Koselleck, Der Zufall als Motivationsrest. ' 6 Dazu Röder, Glück, S. 50-86, Köhler, Der literarische Zufall, S. 44fr., Müller, S. 267E
Zufall,
337
als bedeutender Zufall - zum zentralen Medium erzählerischer Sinnstiftung. Die Providenz verliert allmählich ihre theologische Bestimmung: Stellte sich zunächst der Erzähler in den Dienst einer außerästhetischen Vorsehung, sei sie christlicher oder (geschichts-)philosophischer Provenienz, so wird die Vorsehung jetzt selbst zu einer ästhetischen Instanz, zum Agenten einer ästhetischen Theodizee. Im Horizont dieser ästhetischen Theodizee wird der Zufall wiederum zur Notwendigkeit, die als solche zu erkennen dem welterfahrenden Protagonisten nicht oder noch nicht gegeben ist. Als notwendig erweist sich der Zufall nurmehr in der ästhetischen Formung selbst, im Kalkül einer ästhetischen Gesamtstruktur, die ihm einen Sinn verleiht, der dem Romanhelden verborgen bleiben muß. Auch der ästhetische Zufall ist ein Zufall der Perspektive. Die ästhetisch begründete Totalität des Romans ist auf der Handlungsebene nicht einholbar. Der Sinn der Welt ist dem Protagonisten als Suche aufgegeben, als Suche, die mit dem Ende des romanhaften Lebenslaufes nur vorläufig einen Abschluß findet. Der Zufall ist einerseits eine Ausdrucksform individueller Welterfahrung; aus der Perspektive des Helden scheint er beherrschendes Kennzeichen moderner Wirklichkeit. Auf der anderen Seite ist der Zufall als Notwendigkeit Teil der ästhetischen Sinnstruktur, er ist eine Erscheinungsform der erzählerischen Providenz im Roman. Es ist hier nicht der Ort, die komplexen philosophischen und gesellschaftlichen Implikationen der bewußtseinsgeschichtlichen Entwicklung im 18. Jahrhundert aufzuzeigen. Die auf Kausalität abgestellte philosophisch-naturwissenschaftliche Weltaneignung war auf Dauer nicht in der Lage, die mit der Aufgabe des christlichen Weltbildes radikal gestellte Sinnfrage hinreichend zu beantworten. Von hier aus erklärt sich, daß providentielle Vorstellungen in philosophischer oder geschichtsphilosophischer Gestalt die Reflexion gerade der kritischsten Denker der Aufklärung bestimmten. Lessings Erziehung des Menschengeschlechts, Kants Idee einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht und Herders Ideen %ur Philosophie der Geschichte zeugen auf je besondere Weise von dem Fortleben nunmehr historisierter providentieller Konzeptionen. Gleiches gilt für die Geschichtslegenden und die ausgreifenden geschichtsphilosophischen Entwürfe geheimer Gesellschaften wie der Uluminaten. Mit der Vorsehung, die jetzt als Notwendigkeit, Schicksal, Fügung oder Lenkung auftritt, überlebt aber auch ihr vermeintliches Gegenteil, der Zufall, der je nach Standort als noch nicht erkannte Kausalität oder Notwendigkeit, als Residuum 33»
der Freiheit in einer zu maschinenhafter Ordnung erstarrten Welt, oder als unaufhebbare Bedingung menschlichen Daseins gedeutet wird. Das Ungenügen an der Kausalität wurde schon im Aufklärungsroman thematisch; im Roman von Klassik und Romantik fand es zugleich einen formalen Niederschlag.' 7 Die romanhafte Konstitution von Wirklichkeit ist zunehmend von kontingenten und providentiellen Strukturen bestimmt, wobei diese Unterscheidung einen bloß perspektivischen Charakter hat und auf der Ebene der Gesamtstruktur des Romans ästhetisch aufgehoben wird. Diese Dialektik von Notwendigkeit und Zufall, genauer: von Zufall und Lenkung zu gestalten, ist eine wichtige Funktion des Geheimbundmaterials im Roman am Ende des 18. Jahrhundert. Erzähltechnisch relevant sind dabei besonders die narrative Wertigkeit des Geheimnisses und die mit dem Bund gegebene Möglichkeit geheimer Lenkung. Die erzähltechnische Verarbeitung des Geheimnisses setzt unterschiedliche Informiertheitsgrade unter den Romanfiguren voraus, die erst im Verlauf des Erzählens einander angeglichen werden.' 8 Das Geheimnis ist ein Mittel erzählerischer Informationsvergabe, mit ihm einher geht das Phänomen diskrepanter Informiertheit: Was dem Helden eines Romans als rätselhafter Zufall erscheint, das ist in Wahrheit Teil eines Plans, dessen Existenz oder doch zumindest dessen Absichten ihm verborgen sind. Der Zufall der Perspektive wird mit der Bundeshandlung auf der Geschichtsebene der Romanstruktur gestaltbar. Insofern der Roman die Aufklärung des Geheimnisses zum Inhalt hat, ist der Zufall der Perspektive ein Zufall auf Zeit. Die temporale Dimension des Geheimnisses verzeitlicht die im Grunde ahistorische Kategorie des Zufalls und bereichert so zugleich die perspektivischen Möglichkeiten seiner narrativen Gestaltung. Hebt sich am Ende auch die vermeintliche Zufälligkeit der Romanwirklichkeit auf, so behält sie doch ihre subjektive Wirksamkeit als Form der Wirklichkeitserfahrung durch den Romanhelden. Schon im pragmatischen Roman ist die geheime Lenkung durch den Bund nicht nur Gegenstand des Erzählens, sondern auch ein wichtiges Mittel der erzählerischen Realisation, des Romandiskurses. Ein Grundproblem des aufklärerischen Romans, der tendenzielle Wider,7
Vgl. dazu die Textanalysen des dritten Kapitels, insbes. die Deutung des philosophischen Gesprächs im Geisterseher (Reflektierte Struktur und strukturelle Reflexion: Das philosophische Gespräch als die Sinnmitte des Romans), unten S. 585fr. " Vgl. oben S. 2 4 5 f f .
339
spruch kausaler und finaler Erzählansprüche im Rahmen eines pragmatischen Realismus, löst sich insofern auf, als mit dem Bund eine intentionale Instanz geschaffen wird, die, ohne gegen die Gesetze der Kausalität zu verstoßen, umfassende Pläne zu verwirklichen sucht. Die Romanwirklichkeit erscheint als Veranstaltung eines geheimen Bundes, dessen Absichten zunächst verborgen sind und erst im Erzählverlauf enthüllt werden. Das Geheimnis ist ein Zufall auf Zeit, wie dem Zufall als Geheimnis immer schon die Möglichkeit seiner endlichen Aufklärung innewohnt. Die Aufklärung des Geheimnisses nimmt dem Zufall seine Zufälligkeit und erklärt ihn zum notwendigen Bestandteil einer verborgenen intentionalen Handlungskette. Die Aufklärung ist eine Form rekonstruktiver Sinnstiftung im Roman. Der Bund fungiert dabei als ein zentraler Sinnträger, als eine allwissende Instanz, der nach Maßgabe des ästhetischen Kalküls eine providentielle Funktion zukommt. Medium einer säkularisierten Vorsehung, reflektiert der Bund das Problematischwerden einer kausalen Weltstruktur; geheime Gesellschaften im Roman wirken als Agenten geschichtsphilosophischer Konzepte, die in der Romanwirklichkeit gleichsam experimentell erprobt werden können. In dem als Ästhetisierung angelegten Prozeß der Säkularisierung providentieller und kontingenter Wirklichkeitsstrukturen übernimmt das Geheimbundmaterial eine vermittelnde Funktion. Seine Verarbeitung erfolgt zunächst im Kontext des auf eine Historiodizee ausgerichteten Romans der Aufklärung; es ermöglicht jedoch aufgrund seines spezifischen Wirklichkeitscharakters den Ubergang zur genuin ästhetischen Theodizee des klassischen und romantischen Romans. Denn zunehmend wichtiger wird die fiktionsimmanente ästhetische Funktion der geheimen Lenkung im Roman, die der erzählerischen Notwendigkeit als »gelenktem Zufall« zu romanhafter Wirklichkeit verhilft. Im Wilhelm Meister schließlich fungiert die Turmgesellschaft als eine Art poetische Providenz, in deren Horizont die gattungskonstitutive Kontingenz romanhafter Welterfahrung aufgehoben scheint: der Zufall erweist sich als Lenkung durch die Notwendigkeit. Erneut wird hier der tendenziell gattungsüberschreitende epische Charakter der Turmgesellschaft sichtbar. Notwendigkeit und Zufall erweisen sich im Nachhinein als identisch, getrennt nur durch die temporale Dimension des Geheimnisses, die zugleich den Bildungsweg des Helden umfaßt. Die Aufhebung der Zufallsperspektivik im Erzählten selbst mittels einer ästhetischen Instanz wie der Turmgesellschaft, die auf der Handlungsebene 340
der Romanstruktur das »Schicksal spielt« (Fr. Schlegel), hat ein tendenzielles Uberschreiten der Gattungsgrenze, eine epische Gattungsutopie zur Folge. In diesem Zusammenhang sind auch die ironischen Brechungen zu sehen, denen die Turmgesellschaft und einzelne ihrer Mitglieder ausgesetzt sind, ohne daß dadurch ihre ästhetische Funktion wesentlich eingeschränkt würde. Das Geheimnis ist zugleich eine Weise der Welterfahrung und der Weltgestaltung. Als rätselhafter Zufall begegnet es dem Helden auf seiner Reise durch die Welt. Seine Wirkungen sind unterschiedlich. Neugierde und Erwartung, Angst und Verunsicherung stellen mögliche Reaktionen auf die vielfältigen Täuschungen und Intrigen, auf die Verrätselungen dar, die auf einen noch verborgenen Zusammenhang des Geschehens hindeuten. Vergangenheit, Gegenwart und Z u k u n f t besitzen in dem geheimen Plan des Bundes einen verdeckten intentionalen Zusammenhalt. In der Vergangenheit entsteht sein Plan, der die Gegenwart als Feld seiner Mittel begreifen läßt, die in die Z u k u n f t verlegten Zwecke zu realisieren. Das Geheimnis aber sorgt dafür, daß der Romanheld das Feld der Mittel, die Gegenwart, der Herrschaft des Zufalls überlassen wähnt. Was wie Zufall scheint, ist das Werk geheimer Lenkung. Ohnmacht und Beschränkung sind die notwendige Ergänzung zu Allmacht und Allwissenheit des Bundes, der im Extremfall sogar den Erzähler und mit ihm den Leser im Zustand ohnmächtiger Ungewißheit beläßt. Das Geheimnis macht die Grenzen menschlicher Erkenntnis ebenso darstellbar wie die Folgen unbegrenzter menschlicher Herrschaft. Die Nähe dieser Darstellungs- und Erfahrungsform zu Formen und Inhalten des gesellschaftlichen Bewußtseins v o n Wirklichkeit am Ende des 18. Jahrhunderts wird im Zusammenhang einzelner Textanalysen noch ausführlicher zu behandeln sein.' 9 »Im Kunstwerk«, schreibt Jean Paul in Hinblick auf den Roman, »regiert die Vergangenheit, weniger die Gegenwart, mehr die Z u kunft.« 6 " Das Geheimnis war in besonderer Weise dazu geeignet, den transzendentalen Erzählhorizont und die ihm korrespondierende geschichtsphilosophisch vermittelte Wirklichkeitserfahrung ästhetisch zum Ausdruck zu bringen.
59
60
Vgl. die Analyse von Schillers Geisterseher, unten S. 5 5 iff. Vgl. oben Anm. 51.
bes. S. 385fr., zu Tiecks William
Lovell,
341
3· K A P I T E L
Textanalysen
I.
Schillers Der Geisterseher oder: Die Grenzen der Aufklärung
Schillers einziger, im wesentlichen zwischen 1786 und 1789 entstandener Roman Der Geisterseher ist - wie seine historische und erzählerische Prosa insgesamt - lange Zeit dem klassischen Zugriff auf den Autor zum Opfer gefallen. Die reichlich dokumentierte Abneigung Schillers gegen sein Romanprojekt, die unübersehbar ökonomischen Motive, die die Arbeit am Geisterseher bestimmten, die wirkungsvolle Verarbeitung von Kolportageelementen in diesem einer ebenso breiten wie trivialen Rezeption ausgesetzten Text und nicht zuletzt die Tatsache, daß der Geisterseher Fragment blieb, ließen eine eingehende Behandlung dieses aus dem vorgefertigten Rahmen des klassischen Werkes fallenden Romans überflüssig erscheinen. Allenfalls folgte man Körners späterer Rekonstruktion, Schiller habe »blos in dieser Gattung seine Kräfte versuchen« wollen. 1 Neuere Versuche einer Rehabilitation des Erzählers Schiller, wie sie etwa in den Arbeiten von Storz, Wiese, Mayer und insbesondere Martini vorliegen, verweisen mit Recht auf die Historizität der Formensprache in Schillers Prosa, die nur im größeren Kontext der Aufklärungsprosa angemessen behandelt werden kann. 1 Dieser Weg soll hier konsequent weiter beschritten werden. 1
2
Körner, Gottfried, Nachrichten von Schillers Leben, in: Schillers Sämtliche Werke, Stuttgart und Tübingen 1847, Bd. 1, S. X I I I - X L V I , hier S. X X I I I . - Zur älteren Forschung vgl. etwa Varney, Friedrich, Schiller als Erzähler, Unna 1915, aber auch noch Keller, Heinrich, Schillers Prosa, Winterthur 1965. Martini, Frit%, Der Erzähler Friedrich Schiller, in: Schiller. Reden zum Gedenkjahr 1959, Stuttgart 1961, S. 124-168, Mayer, Hans, Zur deutschen Klassik und Romantik, Pfullingen 1963, S. 147-164, Stor%, Gerhard, Der Dichter Friedrich Schiller, Stuttgart 1959, S. 178-196, Wiese, Benno v., Bemerkungen über epische und dramatische Strukturen bei Schiller, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 2, 1958, S. 60-67, den., Friedrich Schiller, Stuttgart 1959, S. 299-329. - Vgl. aber auch die schon besprochene Arbeit von Bußmann, >Geisterseher Der Geisterseher weist in Schauplatz, Motivik, Handlungsführung und Personal eine Reihe erstaunlicher Parallelen zu der Starckschen Erzählung auf. Die Figur des Magiers Sarpelli ähnelt bis ins Detail Schillers Armenier. Eine direkte Abhängigkeit ist nicht nachzuweisen. Nicht darauf kommt es jedoch an, sondern auf die Tatsache, daß Schiller mit dem Geisterseher schon vorhandene textuelle Vermittlungsformen des Geheimbundmaterials bearbeitete. Und dafür spricht auch die oben zitierte Briefäußerung, in der er »Cagliostros und Starkes [!], Flamels Geisterseher« als lohnende Objekte einer Zeitschrift benennt. (SJ 2,76) Wenn Schiller im Geisterseher das Material der Ordensliteratur verwendet, so übernimmt er damit keineswegs deren esoterisch-propagandistische Perspektive. Zwar ist ein früher Rezensent des vierten Heftes der Thalia sich noch im unklaren, ob der Geisterseher für oder gegen Cagliostro Stellung beziehen wird. 27 Doch überwiegt von Anfang an und erst recht nach dem Erscheinen des aufklärenden fünften Heftes der Charakter einer fiktionalen Zweckform der aufklärerischen Geheimbundliteratur. Das »Wunderbare« ist psychologisch sorgfältig motiviert, seine Aufklärung gelingt, so scheint es zunächst, ohne daß die Grenzen von Kausalität und Wahrscheinlichkeit überschritten werden müssen. »Wenn eine gewisse Vorstellung auf eine feierliche und ungewöhnliche Art in die Seele gebracht worden«, so erklärt der Herausgeber die psychologische Wirkung des pantomimischen Tanzes, 25 26 27
So aber Hans Heinrich Borcherdt, in: Schillers Werke, Bd. 16, S. 390. Vgl. oben S. 2Ó2f. Schiller und Goethe im Urtheile ihrer Zeitgenossen, 1/1, S. 176. - Schon die Fragestellung verrät viel über den Fiktionscharakter des Schillerschen Aufsatzes! 361
der dem Prinzen am Ufer der Brenta dargebracht wird, »so kann es nicht fehlen, daß alle darauf folgende, welche nur der geringsten auf sie fähig sind, sich an dieselbige anschließen und in einen gewissen Rapport mit ihr setzen.« (SF 5,1070) Als literarisierte F o r m der psychologischen Fallstudie, als ästhetisch wirkungsvoll aufbereitete Geistererzählung, die unverkennbar auf zeitgenössische Erklärungsmuster derartiger Erscheinungen rekurriert, ist der Aufsatz in Schillers Geisterseher noch nicht hinreichend bestimmt. E r ist zugleich ein Beitrag zur Debatte um das Geheimbundmodell, die die bürgerliche Öffentlichkeit des ausgehenden 18. Jahrhunderts
intensiv
beschäftigte. Auch
hier vermögen
frühe
Re-
zensionen wichtige Hinweise zu geben. Zu einer Zeit, wo von geheimen Gesellschaften so viel geredet und geschrieben wird, wo so manche Schröpferiaden, wo die Cagliostros und Philidors mit ihren taschenspielerischen Geisterbeschwörungen selbst in Zirkeln, wo der Nähme Aufklärung am lautesten tönt, oft noch ihr Glück machen, müßen Schriften, die daraufhinarbeiten, das feinere oder plumpere Gewebe solcher oft von weitergreifenden Absichten geleiteten Betrügereyen aufzulösen, und durch treue Darstellung und Entwicklung von Thatsachen in ihrer wahren Gestalt aufzudecken, dem Menschenfreunde immer willkommen seyn.28 D e r Rezensent der Tübingischengelehrten Anzeigen beschreibt präzise den pragmatisch-didaktischen Zweck des Schillerschen Aufsatzes. Wie in einer Besprechung der Oberdeutschen Litteratur^eitung, die den Geisterseher als »meisterhaft dargestellte Warnung v o r dem unseligen Hang zur Geisterseherey« begrüßt, wird v o n ihm die Frage offen gelassen, »wie viel in dieser Erzählung würklich Geschichte sey«. Aufschlußreich f ü r den Realitätscharakter des Schillerschen Fragments ist die Vermutung, der A u t o r selbst habe sich hinter der Maske des Grafen v o n O x x versteckt, um »einen auf Facten gebauten Roman in eigner Manier« schreiben zu können. Die Wirklichkeitsnähe des Geistersehers ließ seinen fiktionalen Status problematisch werden. Marion Beaujean hat kürzlich vorgeschlagen, den Geisterseher und den Don Carlos, die zeitlich weitgehend parallel entstanden, unter dem Aspekt der »Prinzenerziehung« miteinander zu vergleichen. 2 ' Schiller 28
29
Schiller und Goethe im Urtheile ihrer Zeitgenossen, I/i, S. 262. Der folgende Auszug ebd., S. 264. Die von Schiller begrüßte Rezension der A L Z von 1790, ebd., S. 266-272. (Vgl. oben S. 354.) Beaujean, Marion, Zweimal Prinzenerziehung: >Don Karlos< und >GeisterseherGeisterseherGeisterseherGeisterseherEin König ist unter unsim Spielaufs Spiel setztauf ZeitNovelle< hebt hier weniger auf eine präzise Gattungsdefinition ab, sondern meint die relative A b g e schlossenheit der Erzähleinlage, in der allerdings novellistische Strukturen zu finden sind.
380
Novelle ist ein Meisterstück der Dialektik von Geheimnis und Aufklärung. Ihre strukturellen und thematischen Verbindungen zum Roman sind vielfältig. Die Rätselhaftigkeit des Armeniers wird durch die angeblichen Aufklärungen des Sizilianers noch verstärkt. Die scharfsinnigen Zwischenfragen des Prinzen, die, geleitet von einem fast detektivischen Instinkt, auf dem Weg des Indizienbeweises den trügerischen Charakter der Erzählung bloßlegen, markieren zugleich den Beginn seiner »freigeisterischen Epoche«. Das gleiche detektivische Argumentationsmuster, das am Ende doch nicht anders als mit dem Rückgriff auf den Syllogismus sich zu retten weiß, findet sich auch im philosophischen Gespräch; mit dem nicht geringen Unterschied allerdings, daß hier kein Kriminalfall, sondern der Sinn menschlicher Existenz überhaupt zur Debatte steht. Der Prinz überschreitet die Grenzen der Aufklärung schon in dem Versuch, die geheimnisvollen Begebenheiten des ersten Buches restlos aufzuklären. Die pseudo-rationale Argumentation, die jedes nicht geklärte Faktum als ein nicht zu erklärendes und damit als Bedrohung begreift, verführt ihn zu gewagten Hypothesen und vermittelt ihm jene oberflächliche Sicherheit, die die Voraussetzung für den Erfolg der Intrige, für seine irrationale Flucht in den Glauben darstellen wird. In Wahrheit ist die scheinlogische Vernünftelei des Prinzen, die dem Geschehen eine märchenhaft anmutende Kausalmotivation unterstellt, nicht minder trügerisch als die fingierte Erzählung des Sizilianers. Was auf den ersten Blick wie ein Sieg des Prinzen aussieht, die >rationale< Aufklärung des erzählten Geheimnisses, bringt in Wirklichkeit die Intrige einen weiteren Schritt voran. Die Entfremdung des Prinzen wächst, nicht nur seiner Umgebung, auch sich selbst wird er allmählich zum Geheimnis. Das Thema der Novelle ist gleichfalls die Aufklärung eines Geheimnisses. Der Armenier deckt nach Jahren den Mord Lorenzos an seinem Bruder Jeronymo auf. Lorenzo suchte die okkulten Dienste des Sizilianers, um seinen Vater und die Braut des unter mysteriösen Umständen verschwundenen Jeronymos von dessen Tod zu überzeugen und so die Voraussetzung für seine eigene eheliche Bindung mit der Gräfin Antonie zu schaffen. Die Art der Aufklärung aber, die deutliche Parallelen zur zweiten Erscheinung im Pavillon an der Brenta aufweist, läßt diese selbst zum Geheimnis werden. Das Auftreten des als Franziskanermönch verkleideten Armeniers auf dem Höhepunkt des prächtigen Hochzeitsmahls und seine Entlarvung des Brudermords durch eine 381
Beschwörung des Geistes Jeronymos bleiben ungeklärt. Nur der Hinweis auf die fiktive Qualität der Geschichte, die so als weiteres Glied in der Intrige des Armeniers gelten muß, enthebt den Prinzen ihrer weiteren Klärung. Der Brudermord, die schöne Gräfin Antonie C xx tti und das dénouement durch den Ring geben der Erzählung zudem den Charakter einer - im Fragment allerdings nicht mehr realisierten Vorausdeutung des Romangeschehens. Das Verbrechen, in das der Prinz durch seine Thronbesteigung verwickelt wird, muß einen nahen Verwandten treffen; die Gräfin, die in engem motivlichen Zusammenhang mit dem Mord steht, verweist auf die Griechin, und sogar der Ring hat seine Entsprechung. Der »kostbare Ring«, den der Prinz auf den Sammelteller des Sizilianers legt, (SF 5,6of.) gehört zu den blinden Motiven des Textes. Die gekonnte Verbindung von Rückschritt und Vorausdeutung, von korrelativer und konsekutiver Verknüpfung des Erzählelements läßt die literarischen Möglichkeiten erkennen, die mit einer Bearbeitung des Geheimbundmaterials gegeben waren. Als Fiktion in der Fiktion ist mit der Novelle des Sizilianers eine neue Ebene im Wirklichkeitsaufbau des Romans gewonnen. Innerhalb der Fiktion gibt als Wirklichkeitsbericht sich aus, was in Wahrheit eine fingierte Erzählung im Dienst der Intrige ist. Der Boden der Wirklichkeitserfahrung wird brüchiger für den Prinzen, auch wenn er die Erzählung als Fiktion zu durchschauen vermag. Mehr und mehr verwischen sich die Grenzen zwischen der Realität und dem Spiel der Intrige. Alles und jeder gerät in den Verdacht, Teil des intriganten Spiels zu sein. Nicht nur für den Leser, auch für die Figuren gewinnt die Formel vom >Spiel im Spiel< an Bedeutung. Literarische Zitate weisen darauf hin. Die Erscheinung des Geistes wird durch Hamletworte vorbereitet. (SF 5,51) Schiller selbst gibt in einer Thalia-Fußnote den Hinweis auf die Parallele zwischen der Pantomime an der Brenta und den Prophezeiungen der Hexen in Macbeth. (1070) Der Königsmord wird durch eine Anspielung des Prinzen auf Richard III. >ins Spiel gebrachte (100) Nicht zufällig sind wohl auch die Erwähnungen Tassos und Ariosts, die die Motive von Liebe und Religion, Politik und Wahn anklingen lassen. (139, 144) Im Gebäude der Romanwirklichkeit gewinnt eine zweite Ebene der Fiktion an Gestalt. Eine theatralische Metaphorik durchzieht den Geisterseher von Anfang an. »Weil er sich selbst leben wollte«, lebt der Prinz in Venedig in strengstem Inkognito. (SF 5,48f.) Nur eine Rolle ermöglicht es ihm, Inneres und Äußeres in Übereinstimmung zu bringen, und der Verlauf 382
der Handlung bringt es an den Tag, daß auch das vermeintlich wahre Innere nur Schein war, der notdürftig die Schwäche seiner Persönlichkeit verdeckte. Der Auftritt des Armeniers in der Maske erweckt im Prinzen das Verlangen nach »Entwicklung dieser Komödie«. (50) Nach dem »Gaukelspiel« des pantomimischen Tanzes, nach dem verunglückten Geisterbetrug ist es der Sizilianer, der zugeben muß: »Meine Rolle ist ausgespielt.« (71) Masken und Verkleidungen bestimmen das Bild auf beiden Seiten der Intrige. Im Aufklärungsgespräch am Ende des ersten Buches erkennt der Prinz scharfsichtig die Existenz eines doppelten Spiels. »Dieses war die Puppe, mit der er mich spielen läßt, während daß er selbst, unbeobachtet und unverdächtig, mit unsichtbaren Seilen mich umwindet.« (98) Doch die Aufdeckung des infamen Betrugs hebt dessen Wirksamkeit keineswegs auf. Im Gegenteil: der Prinz folgt nur desto eifriger dem ihm vom Bund vorgezeichneten Weg. Der Triumph der Erkenntnis ist in Wirklichkeit der Beginn ihrer Niederlage. Die Marionettenhaftigkeit des Daseins hört mit der Wahrnehmung der Fäden nicht auf. Das Bild der Marionette einmal akzeptiert, erscheint jeder Versuch, seiner Rolle zu entkommen, sinnlos. Das philosophische Gespräch thematisiert, was längst zuvor problematischer Gegenstand des Romans war. Die romanhafte Geheimbundhandlung mit der ihr eigenen Ambivalenz von Allmacht und Ohnmacht, Allwissenheit und Ungewißheit gestaltet Muster der Wirklichkeitserfahrung, in der bewußtseinsgeschichtliche Grundprobleme der Zeit ihren Niederschlag fanden. 48 Der Bund, so wurde gesagt, übernimmt zusehends die Funktion des Autors und Regisseurs eines Spiels im Spiel, das die Romanwirklichkeit als Teil einer umfassenden Inszenierung erscheinen läßt. E r verteilt die Rollen, die der Zuschauer nicht ausgenommen; er stellt Requisiten und Bühnenbild ebenso zur Verfügung wie die Intrige selbst und ihre Akteure. Die >Szenen< des ersten Buches, der schnelle Wechsel von Kulisse und Personal, erweisen sich im nachhinein als gelungene Veranschaulichung des Künstlichen und Gestellten der inszeniert wirkenden Romanrealität. Folgerichtig macht der Graf von O x x den Prinzen auf die theatralischen Fähigkeiten des Bundes aufmerksam: »Nicht einmal ein dramatischer Schriftsteller, der um die unerbittlichen drei Einheiten seines Aristoteles verlegen war, würde 48
Vgl. dazu unten S. 3 8 5 ff.
383
einem Zwischenakt soviel Handlung aufgelastet« haben. (SF 5,96) Der Vergleich mit dem dramatischen Schriftsteller trifft die Funktion der geheimen Intrige im Geisterseher sehr genau. Von hier aus erklärt sich die beunruhigende Ambivalenz der Geheimbundfiguren, wird die durchgängig zu beobachtende Doppelbödigkeit der Realität im Roman verständlich, die schließlich den Helden jeder Orientierung verlustig gehen läßt. Es ist deutlich geworden, in welch starkem Ausmaß das Geheimbundmaterial ästhetisch funktionalisiert, wie sehr insonderheit der Bund des Armeniers zu einer ästhetischen Instanz der Romanwirklichkeit geworden ist. Der Bund agiert nicht ohne Grund >hinter den KulissenGeisterseherspielt< die Rolle der Vorsehung im Roman. Der Held glaubt nicht an Zufall, er vermutet von Anfang an einen geheimen Zusammenhang der wunderbaren Vorfälle. E r spürt einen »verborgenen Aufseher«, wittert rasch einen groß angelegten »Betrug« und gesteht am Ende des ersten Buches ein, daß er »das ganze Gewebe seines Betrugs noch nicht ganz durchschaue«. (SF 5, 54, 93) Eine geheime Lenkung bestimmt tatsächlich den Ablauf des Geschehens. Das Geheimnis perspektiviert diese Lenkung: der Held - und mit ihm auf weiten Strecken der Leser - ist auf Mutmaßungen angewiesen. E r konstruiert detaillierte Erklärungsgebäude, die den kausalintriganten Zusammenhang der »Wunder« erweisen, ihre rationale Auflösung ermöglichen sollen. Der Zufall kommt nur als Restkategorie ins Spiel. Als Zufall gilt das Geheimnis, solange es nicht aufgeklärt ist. (SF 5, 97, 100, 103) 389
Der aufgeklärte Detektiv stößt bald an seine Grenzen. Die Intrige wirkt allen rationalistischen Erklärungen zum Trotz weiter. Die minutiöse Rekonstruktion ihrer geheimnisvollen Veranstaltungen erschüttert sie nicht, sie enthüllt nicht ihren Zweck, der in dem Maße an beunruhigender Größe gewinnt, in dem der Zufall als Erklärungsgrund abgewiesen wird. Wie im philosophischen Gespräch gerade die Vollkommenheit der Naturordnung jede Ausnahme ausschließt und in ihrer lückenlosen Kausalkette auch den Menschen als Glied der Notwendigkeit aufreiht, so ist es gerade der im Aufklärungsgespräch sich abzeichnende gigantisch-geniale Plan der Intrige, der den Prinzen je länger je mehr gefangen nimmt. Die Aufklärung des Geschehens entdeckt seine perfekte Inszenierung, und gerade die Perfektion verstärkt das Ohnmachtsgefühl des Aufklärenden. Nicht der Wunderglaube, die kritische Zerstörung eben dieses Glaubens, die aufklärerische Vernunft liefert ihn den okkultistischen Machenschaften der geheimen Gesellschaft aus. Die Entzauberung der Welt hat eine Grenze, jenseits derer sie umschlägt in ihr Gegenteil. Die Grenzen der Aufklärung hat der Roman im Geisterseher zum Thema. Der Prinz weiß sich als Opfer, als Mittel einer Intrige, die ihre übermächtige Wirkung nicht so sehr aus den einzelnen Wundern, sondern aus ihrem un-glaublichen, aber doch nachweisbaren erdrückenden Zusammenhang bezieht. Jeder Schritt des Prinzen ist ein Schritt auf ihrem Weg, dessen Ziel er nicht kennt, das zu befördern ihm aber keine Wahl, keine Freiheit bleibt. Nicht alle Verbindungslinien zwischen Gespräch und Roman können hier ausgezogen, nicht alle sich dadurch ergebenden Deutungsdimensionen für den Text ausgeschöpft werden. Im Roman wiederholt die Konstellation zwischen Prinz und Intrige das im Gespräch erörterte Verhältnis von Mensch und Notwendigkeit. Der Geisterseher gestaltet grundlegende zeitgenössische Probleme der Wirklichkeitserfahrung, die auch dem philosophischen Diskurs und besonders dem »System« des Prinzen zugrunde liegen. Die fundamentale Fremdheit, das Ausgeliefertsein des Prinzen an eine ihm unbekannte Macht, deren Wirksamkeit er allerorts verspürt, deren Ziel er aber nicht zu ergründen vermag, der ihn bedrohende Realitäts- und Sinnverlust antizipieren literarisch Erfahrungsweisen von Wirklichkeit, die erst später auf den Begriff" gebracht wurden. Der soziale Gehalt des modernen Entfremdungsbegriffs ist hier von einem höchst sensiblen Beobachter der Zeit in der Erzählung einer extremen Begebenheit literarisch zum 39°
Ausdruck gebracht worden. Waren die geheimen Gesellschaften, war die sie umgebende Mythologie selbst schon symptomatisch für das krisenhafte Herannahen der Epochenschwelle, die im Umfeld der Französischen Revolution sich ankündigt, um so mehr war es die ästhetisch komplexe Gestaltung des Geheimbundmaterials, die Schiller mit dem Geisterseher gelang. Die Grenzen der Aufklärung, die der Roman aufzeigt, signalisieren zugleich auch das Ende einer Epoche. Das Ende der Epoche läßt die ihr innewohnende Dialektik zum Vorschein kommen, die erst in neuerer Zeit zu formulieren möglich war. Der Umschlag von Entzauberung in neuen Zauber, die Instrumentalisierung des Menschen im Dienst rationaler Herrschaftsausübung, die Sinnlosigkeit einer rein kausal konstruierten Welt, in der jedem Teil, auch dem Menschen nur die Funktion eines fremdbestimmten Rades im Räderwerk einer undurchschaubaren Maschine zukommt, der Verlust jeder Form von Transzendenz, der hier mit dem Verlust auch der geschichtsphilosophischen Dimension zusammenfallt: der Geisterseher deckte mögliche Implikationen der Moderne auf, die viel später erst Bedeutung in der Entwicklungsgeschichte des gesellschaftlichen Bewußtseins erlangen sollten. Die Krise der Aufklärung, die bekanntlich auch in Schillers Biographie Spuren hinterließ, wird im Geisterseher greifbar. Die große Wirkung dieses Romans mag mit der in ihm gegebenen beunruhigenden Verdichtung moderner Wirklichkeitserfahrung zusammenhängen. A m Ende des Dialogs stehen Fragen von bedrückender Aktualität. »>Was ist man dem Arbeiter schuldig, wenn er nicht mehr arbeiten kann, oder nichts mehr für ihn zu arbeiten sein wird? Was dem Menschen, wenn er nicht mehr zu brauchen ist?< Man wird ihn immer brauchen. >Auch immer als ein denkendes Wesen?«< (SF 5,182) Mit Prophetie hat diese Formulierung nichts zu tun. Sie verrät eher eine seismographisch genaue Wahrnehmung der gesellschaftlichen Wirklichkeit des späten 18. Jahrhunderts und der ihr innewohnenden Widersprüche, die Gegenstand literarischer Kritik werden, lange bevor sie eine dem Begriff zugängliche Gestalt gewonnen haben. So wie die Geheimbundhandlung selbst eine extreme und zuweilen groteske Überzeichnung der historischen Realität bedeutet, so zieht das philosophische Gespräch mit den gerade zitierten Fragen die Schlußfolgerung aus einem »System«, das keineswegs direkt auf die gesellschaftliche Wirklichkeit appliziert werden kann. Im Roman dagegen kommt eine Engführung von dargestellter Wirklichkeit und philosophischem Diskurs zustande, 39 1
die die ästhetisch vermittelte Wirklichkeitserkenntnis des Textes entscheidend mitbestimmt. Das philosophische Gespräch, das den die moderne Welt bedrohenden Sinnverlust, die fundamentale Fremdheit auch Fremdbestimmtheit - des aufgeklärten Menschen zum Thema hat, kann als die Sinnmitte eines Romans gelten, dessen Struktur dieser Problematik ästhetisch Ausdruck verleiht.
3.
Aporetische Vermittlung: Der Beitrag des Geistersehers zu Literarisierung und Asthetisierung des Geheimbundmaterials im Roman
Die Textanalyse hat die problematische Doppelstruktur des Geistersehers als Aufsatz und Roman bestätigt. Als Aufsatz erwies sich der Geisterseher, insofern er versuchte, als fiktionale literarisch-publizistische Zweckform einen Beitrag zur Debatte um die geheimen Gesellschaften zu leisten. Schiller griff" dabei sowohl auf das künstlerische Material der moralischen und der psychologischen Erzählung zurück wie auf die mittlerweile literarisierte Sachprosaform der Fallstudie, wie sie in der Geheimbundliteratur der Zeit sich ausgebildet hatte. Das dem Aufsatz zugrunde liegende pragmatisch-realistische Literaturverständnis rückt den Geisterseher in die Nähe der übrigen Prosaarbeiten Schillers, insbesondere in die des Verbrechers aus verlorener Ehre. Der unmittelbare Rekurs auf Formen der aufklärerischen Geheimbundliteratur, der besonders im ersten Teil des Geistersehers zu beobachten war, läßt den Text am Prozeß der Literarisierung des Geheimbundmaterials teilhaben. Schon hier wird erkennbar, wie durch die Problematisierung ursprünglich pragmatischer Sprachhandlungen der Formenkreis der aufklärerischen Erzählprosa erweitert wurde. Die eigentliche Leistung des Schillerschen Romans aber liegt in der vielfaltigen ästhetischen Funktionalisierung des Geheimbundmaterials, die eine entschiedene Bereicherung der gattungsspezifischen Formensprache, des künstlerischen Materials des Romans zur Folge hatte. Sieht man einmal von Moritz' Andreas Hartknopf ab, der eher das Material der Ordensliteratur bearbeitet, so liegt mit dem Geisterseher erstmals ein Roman vor, dessen Struktur maßgeblich durch die ästhetische Gestaltung des Geheimbundmaterials bestimmt wird. Mit Schillers Roman, dessen widersprüchliche Struktur die wichtigsten Formen der Asthetisierung tendenziell antizipiert, ist das Geheimbundmaterial als künstlerisches Material der Gattung verfügbar geworden. 392
Die besondere narrative Wertigkeit des Geheimbundmaterials ermöglichte den vielschichtigen Realismus dieses Textes, dessen Strukturelemente ebenso durch einen Realitätshabitus gekennzeichnet waren wie durch eine ästhetische Funktionalisierung. Die romanhafte Wirklichkeit der Geheimbundelemente schuf gleitende Übergänge von der wahrscheinlichen Fiktion zu einer tendenziell autonom verfaßten Fiktionswirklichkeit. Das Geheimbundmaterial bewies seine fiktivierende Wirkung noch in der Fiktion und trug so zur Entstehung einer mehrschichtigen Fiktionshierarchie im Roman bei. Ästhetisierungsprozesse konnten im einzelnen anhand der Figurengestaltung, der Konfiguration, der >wunderbaren< deskriptiven Elemente und durch eine Untersuchung des Bundes als Handlungsträger nachgewiesen werden. Der transzendentale Erzählhorizont, der wesentlich von providentiellen und kausalen Fügungsmustern bestimmt war, ließ eine besondere Vermittlungsleistung des Geistersehers wie des Geheimbundmaterials erkennen. Indem der Bund Schicksal >spielteself-fulfilling prophecy< den Boden. Die Revolution in Frankreich konfrontierte Wieland mit einem revolutionären Handlungsmodell, das den Grundsätzen des Kosmopoliten-Ordens widersprach. 1 ' Andererseits verstärkte die Furcht vor einer Revolution in Deutschland, von der auch Wieland nicht frei blieb, die restaurativen Tendenzen im Spätabsolutismus und trug so entscheidend zum Scheitern der Aufklärung bei. Der kosmopolitische Standort geriet zusehends zwischen die Fronten eines neu entstehenden Spektrums politischer Strömungen. Immer weniger konnte es gelingen, Vernunft und Geschichte im kosmopolitischen Sinne in Ubereinstimmung zu bringen. Wielands zwiespältige Haltung in Bezug auf die Französische Revolution, sein Schwanken zwischen be14
Nur unzureichend wird Wielands politischer Standort in Bernd Weyergrafs Untersuchung: Der skeptische Bürger. Wielands Schriften zur französischen Revolution, Stuttgart 1972, bestimmt. Weyergraf berücksichtigt weder Wielands Verhältnis zu den geheimen Gesellschaften, noch die Funktion der Dialektik von Moral und Politik im Wirken des Publizisten. E s fehlt eine gründliche Reflexion der historischen Bedingungen des späten 18. Jahrhunderts, in dem es vorerst um den Aufstieg des dritten, nicht, wie es bei W. zuweilen scheint, des vierten Standes ging. Nicht zuletzt die weitgehende Ausklammerung des ästhetischen Werks führt zu einer problematischen Einschätzung des späten Wieland, die von der Forschung noch in wesentlichen Punkten zu korrigieren sein dürfte.
15
Z u Wielands Verhältnis zur Revolution in Frankreich vgl. neben Weyergraf\ Der skeptische Bürger, auch: Fink, Gonthier-Louis, Wieland und die französische Revolution, in: Deutsche Literatur und Französische Revolution. Sieben Studien, Göttingen 1974, S. 5-38, Wür^tter, Hans, Christoph Martin Wieland. Versuch einer politischen Deutung, Diss. Heidelberg 1957.
408
grenzter Zustimmung und vehementer Ablehnung verrät den problematischen Ort der kosmopolitischen »Mitte«, der der historische Prozeß selbst den unbequemen Sitz >zwischen den StühlenPeregrinus Proteusbetrogenen BetrügersHistorisierungpraktische< Erkenntnisse über das die politische Spätaufklärung in Deutschland bewegende Denkmodell der geheimen Gesellschaft. D e r Roman simuliert modellhaft-experimentell gesellschaftliche Praxis. Ästhetisch gewonnene und vermittelte Erfahrungen und Erkenntnisse verhalfen der öffentlichen Debatte um das Geheimbundmodell zu jener praktischen Dimension, an der es ihr in der historischen Wirklichkeit entschieden mangelte.
3.2.2 Die Psychologie des Wunderbaren D e r Roman bearbeitet das Geheimbundmaterial zunächst im Rahmen der strukturbestimmenden episodischen Abenteuer; doch auch das biographische Erzählmodell, der als psychologische Fallstudie gestaltete »Cursus über die Schwärmerey, in ihren wichtigsten Modificationen«, rekurriert zu einem beträchtlichen Teil auf Formen der aufklärerischen Geheimbundliteratur. Wielands Peregrinas Proteus entstand im Anschluß an den »Aufsatz« in Schillers Geisterseher. Deutlich ist die Ästhetisierung des Geheimbundmaterials einer pragmatischen Erzählintention unterstellt. D e r Roman gibt sich als Z w e c k f o r m zu erkennen, die der aufklärerischen Institution K u n s t Rechnung trägt. Auch und gerade f ü r das Wunderbare, das über das Geheimbundmaterial Eingang in den Text findet, gilt eine primär wirkungsästhetische Begründung: die explizit moralisch-pädagogische und ansatzweise politische Intention des Romans realisiert sich - ähnlich wie in den »Märchen« Der Stein der Weisen und Die Salamandrin und die Bildsäule — noch in seinen märchenhaft-phantastischen Z ü g e n . ' 6 Das in die Episoden verwebte explained supernatural der aufklärerischen Geheimbundliteratur, die Wundergeschichte bestimmt große Teile der Feinstruktur des Romans. Peregrins Abenteuer bei der Venus Urania wird charakteristisch vorbereitet durch die Erzählung
' 6 Die didaktische Intention unterstreicht Hubers Rezension in der ALZ, vgl. Anm. 29. Z u den Wundergeschichten und psychologischen Fallstudien vgl. oben S. 272fr. Grundlegend für den Zusammenhang von moralischer Intention und wunderbar-ästhetischer Gestaltung bei Wieland: Nobis, Helmut, Phantasie und Moralität. Das Wunderbare in Wielands >Dschinnistan< und der >Geschichte des Prinzen Biribinkerverschwindet< auf einen energischen Wink des Apollonius, der von vornherein über die eindeutigen Absichten der zweifelhaften Liebhaberin unterrichtet war. Als allein wirksam erweist sich die außerordentliche Persönlichkeit des majestätischen Weisen. Die Magie seiner Beredsamkeit verrichtet auf höchst irdische Weise Wunder. Mit der Wundergeschichte und ihrer Aufklärung gewinnt Wieland eine überaus wirksame Erzählfolie für das im folgenden dargestellte Abenteuer bei der Venus Urania, zu der ausgerechnet der eisgrau gewordene Menippus Peregrin den Weg weist. Die Geschichte fungiert als perspektivische Vorausdeutung, insofern die Verrätselung des Erzählens - Peregrin folgt streng der Chronologie der Ereignisse; er läßt Lucian und mit ihm den Leser teilhaben an der Initiation in die Mysterien der Göttin - letztlich aufgeht in einer genuin aufklärerischen Erzählintention. Wunderbare Ereignisse erscheinen auf dieser Folie immer schon relativiert; die den Erzählvorgang bis zur Monotonie bestimmende Abfolge von Geheimnis und Aufklärung temporalisiert das Wunderbare, das seine poetische Qualität nurmehr in den engen Grenzen der Wundergeschichte zu entfalten vermag. Von der Möglichkeit einer Potenzierung des Geheimnisses durch seine scheinbare Aufklärung macht Wieland im Gegensatz zu Schiller keinen Gebrauch. Das pragmatische Erzählprogramm gebietet es, die durch die diskrepante Informiertheit gewonnene Erzählspannung ganz in den Dienst der Aufklärung zu stellen. Die Verrätselung des Erzählgegenstandes bleibt auf die Anlage einer gleichsam detektorischen Leserrolle bezogen. Die poetische Lizenz für die überaus aufwendige Darstellung wunderbarer Ereignisse erwächst also allein aus der moralisch-pädagogischen Wirkungsabsicht. Die Grenzen der Aufklärung geraten bei dieser Art der Bearbeitung des zeitgemäßen Wunderbaren im Geheimbundmaterial nicht in Sicht. 434
Unterbrochen durch die spöttisch-ironischen Kommentare Lucians, gibt Peregrin eine ausführliche Beschreibung aller Vorbereitungen und Zeremonien, die ihm ein stufenweises Eindringen in die sehr irdischen Mysterien der wollüstigen Römerin Mamilia Quintilla ermöglichten. Die verschiedentlich als Rückwendungen eingeschobenen Aufklärungen sind als Ent-Täuschungen im doppelten Sinne angelegt.' 7 Die wunderbare Wirklichkeit entbehrt nicht nur wirklicher Wunder; sie erweist sich im Gegenteil als das Werk eines subtil berechnenden psychologischen Kalküls. Das Moment der Inszenierung beherrscht die wunderbaren Täuschungen der Venus Urania. Wir [d. h. Dioklea und Mamilia, M. V.] konnten nicht zweifeln, daß die bloße Versetzung in einen so romantischen, mit lauter schönen Gegenständen angefüllten Ort, verbunden mit dem Scheine des Wunderbaren, den alles von sich werfen sollte, auf einen Neuling, den seine eigene Schwärmerey und die ihm unbewußte Magie des noch mit seiner ganzen Stärke wirkenden Naturtriebes so ganz wehrlos in unsre Hände lieferte, schon sehr viel zur Beförderung unsers Anschlages thun würde. (106) Unversehens gerät Peregrin zum Helden einer theatralischen Veranstaltung, einem Lustspiel mit beinahe tragischem Ausgang. Die Verwechslung von Rolle und Identität macht Peregrin zur Figur eines Stückes, das mit seiner scheinbaren Desillusionierung ein unerwartetes Ende findet. Die Venus Urania erweist sich als »Theatergöttin« (i 10), die »romantische Scenerie« als perfektes Bühnenbild, das durch die zum »Zauberspiele nöthigen Maschinen in Bereitschaft« versetzt wurde. (105) Der elysische Erzähler verrät zwar durch die Sprache sein Wissen um den Charakter der Geschehnisse. E r spricht von »Drama« und »Peripetie« (79), von »Schauspiel« und »Bade-Scene«. (97,98) Doch setzen Täuschung und Inszenierung nicht nur den theatralischen Park der Villa Mamilia in Bewegung; sie sind zugleich bestimmende Elemente von Peregrins Wirklichkeitserfahrung, dessen romanhafte Reise durch die Welt nicht zufallig mit einer tödlichen Kollision endet.' 8
"
Deutlich lassen sich geheimnisvoll verrätselnde Erzählphasen von solchen unterscheiden, die aufklärerischen Charakter haben. E t w a : WA
1 7 , 1 2 j f f . (Kerinthus-
Episode), 139ff. (das Abenteuer im Wald von Pitane) und WA
17, 195fr. (Diokleas
Bericht, von Peregrin angekündigt: »Ich eile also zu einem Umstände, der . . . dir einen neuen Schlüssel zu dem wunderbaren Abenteuer, das dir zu Smyrna aufstieß, geben wird.«), zuff. 58
(Aufklärungen des Dionysius von Sinope).
Vgl. dazu unten S. 442fr.
43 5
Das (auto)biographische Erzählmuster des Romans verfügt über einen explizit psychologischen Erzählnexus. Der Peregrinas Proteus kann als eine sozialpsychologische Fallstudie gelesen werden, als die diagnostische Pathographie eines Schwärmers. Die aus der antiken Vorlage bekannten exaltierten Abenteuer Peregrins werden im Rahmen modellhaft zugespitzter Situationen re-konstruiert und erklärt. Die Künstlichkeit der Romanwirklichkeit, ihr »Laboratoriumscharakter« (J.-D. Müller) liegt durchaus im Kalkül der moralisch-psychologischen Erzählintention. Mit dem Bund bzw. dem Geheimbundmaterial insgesamt ist eine romanimmanente Instanz geschaffen, die den Bedürfnissen einer analytischen Behandlung der Schwärmerproblematik entgegenkommt. Die kunstvoll gedrechselten Weltausschnitte, die Peregrins Erzählung rekapituliert, sind zugleich Zeugnisse der großen Kunst der Menschenbeherrschung. Der Bund schafft auf höchst artifizielle Weise eine dem Helden angemessene Um-Welt. Dabei fungiert er nicht nur als Inszenator einer wunderbar anmutenden Wirklichkeit; zugleich tritt er als Veranstalter eines psychologischen Experiments auf, das auf subtile Weise die individuellen lebensgeschichtlichen Voraussetzungen, das heißt die schwärmerische Disposition seines Opfers zu nutzen versteht. Von Kindheit an zeigt sich Peregrins außerordentliche Empfindlichkeit für sinnliche Eindrücke, die mehr als genügend Nahrung bieten für eine stark entwickelte Einbildungskraft. Die großväterliche Erziehung, in der das »Wunderbare« auf vielfältige Weise eine Rolle spielt, steigert die natürlich gegebene Anlage zum Schwärmer. Ist das Wunderbare für den alten Proteus nur eine »Puppe«, mit der er spielt, so besitzt es für den Enkel eine im doppelten Sinne existentielle Bedeutung. Die zuerst ausgeprägte »magische Schwärmerey« wird Peregrin im schein-heiligen Bezirk der Venus Urania zum Verhängnis. Ausführlich klärt die schauspielbegabte Priesterin Dioklea den ernüchterten Adepten über das geschickte Arrangement des Wunderbaren auf, das allein auf psychologisches Kalkül, auf psychodramatische Wirkung angelegt ist. Anders als im Don Sjlvio verbleibt die Schwärmerproblematik im Peregrinas Proteus nicht im Bereich eines rein subjektiven Wahns, der durch eine übergroße Einbildungskraft hervorgerufen wird. Der romanbestimmende Konflikt ist nicht mehr allein auf den Gegensatz von Einbildungskraft und Natur abgestellt. Mit dem Moment der inszenierten Wirklichkeit, mit der Realität der Täuschung gewinnt der Roman jetzt eine zusätzliche Dimension. 436
Z w a r nimmt auch Peregrin das Bild für die Sache und verwechselt permanent die Dinge mit den selbsterzeugten Vorstellungen von ihnen. Neu ist jedoch die Realität der Bilder im täuschenden Arrangement wunderbarer Wirklichkeiten. Die schwärmerische Erwartung verlangt nach einer Erfüllung, die außerhalb der eigenen Person liegt. Die Phantasie hat sich noch nicht, wie Viering annimmt, von der Wirklichkeit emanzipiert, das Fühlen des Helden ist nicht autistisch, sondern hat reale Objekte, deren täuschender Charakter allerdings verkannt wird.' 9 Die Beschaffenheit der Welt als Täuschung und Intrige, an die sich anzupassen Peregrin die nötige gesellschaftliche »Klugheit« (Lucian) fehlt, ist es, die den Schwärmer hervorbringt. Wenn Peregrin auch, wie sein Gesprächspartner scharfsinnig anmerkt, »mit der Wahrheit selbst getäuscht« wird, so ist dem doch hinzuzufügen, daß diese Wahrheit weitgehend identisch ist mit einer Wahrheit der Täuschung. Eine psychologische Diagnose steht konsequenterweise am Beginn der eigentlichen Bundeshandlung. (125) Peregrin selbst resümiert später den Ausgangspunkt seiner Verwicklungen in die weltumspannenden Händel des Kerinthus auf bezeichnende Weise. E r unterstreicht, »wie dringend bey mir das Bedürfniß war, das Leere, das meine letzte Entzauberung in meiner Seele zurück gelassen hatte, wieder auszufüllen; und daß die Harmonie in meinem Innern durch nichts andres hergestellt werden konnte, als indem die ganze Thätigkeit meines Geistes wieder auf den großen Zweck gerichtet wurde, der . . . nicht aufhörte, . . . das Ziel meiner ewigen Sehnsucht zu seyn«. (129) Bei der Gestaltung der psychologisch wirksamen Geheimbundintrige macht Wieland überdeutlich Anleihen bei Schillers Geisterseher und beim trivialen Geheimbundroman. Ausführlich zitiert er aus dem mittlerweile bekannten literarisierten Repertoire des Geheimbundmaterials: mysteriöse Figuren, rätselhafte Zufälle und Zusammentreffen, unglaubliche Prophezeiungen, feierliche Zeremonien und wunderbare Erscheinungen. Doch entfaltet das Zitierte kaum jene extremen atmosphärischen Qualitäten, die Schillers Romanfragment auszeichneten. Bei Wieland erfolgt die Ästhetisierung des Geheimbundmaterials streng nach Maßgabe eines pragmatisch-psychologischen Erzählprogramms.
"
Viering, Schwärmerische Erwartung, S. 53, (., 2oiff. Zur Frage der Realität der Gefühle vgl. auch Müller, Wielands späte Romane, S. 44. 437
Allerdings wird die Schwärmerproblematik im Peregrinus Proteus keineswegs psychologisch reduziert. Mit der unauflösbaren Antinomie von Phantasie und Wirklichkeit ist ein werkbiographisch dominantes Thema berührt.60 Die relative Berechtigung einer gesteigerten Einbildungskraft wird im Dialog mehrfach thematisiert. (24fr., 61) Die Komplexität des Schwärmerproblems zeigt sich nicht zuletzt darin, daß auf der Handlungsebene selbst ein wunderbar-utopischer Bezirk aus der Romanwirklichkeit ausgegrenzt wird. Dabei spielen Elemente aus dem Geheimbundmaterial, zu genuin poetischen Zeichen der deskriptiv-handlungssituierenden Teilstruktur gesteigert, eine wichtige Rolle. Eine vom Bund geplante Verirrung führen Peregrin und seinen »Wegweiser« Hegesias in den Wald von Pitane. Im Dunkel der Nacht treffen sie auf ein kleines Landgut. Ein Gesang, der die »angenehmste Harmonie hervorbrachte«, unterbricht die Stille und läßt zugleich den Helden die Vorsätzlichkeit des Irrwegs erkennen. Im Bewußtsein der Lenkung durch den Bund und der Intentionalität des Zusammentreffens mit der Familie auf dem Meierhof betritt Peregrin den Ort auf bedeutsame Weise. Nach Beendigung des Gesangs »klopfte mein Führer dreymal an der Pforte des Vorhofs«. (140) Dem geheimnisvollen Sprachspiel an der Tür folgt das schrittweise Eindringen in den Bereich der Familie: nacheinander erscheinen der Vater, die Söhne und Töchter und, nach Fußwaschung und vegetarischer Mahlzeit, als Höhepunkt, die Mutter, die Würde und Demut, Ernst und Güte, Weisheit und Einfalt in einem verkörpert. »Die ganze Familie schien Ein Herz und Eine Seele.« (142) Die Genese des Bildes verrät seine Stimmigkeit, seine innere Geschlossenheit, die nach außen zur Abgeschlossenheit wird. Die Familie lebt durch die Abwesenheit der Welt, ihr Wesen ist der Kontrast zu ihr. Nur eine Nacht kann Peregrin, der Fremde, unter ihrem Dach verbringen. Später ist es nur noch ihr Bild, das in seiner Seele lebt. (220) Eben der Kontrast zur Welt ist es, durch den die Familie von Pitane auf ihn wirkt: ihre Vollkommenheit ist gleichbedeutend mit ihrer Unerreichbarkeit. Der Erzähler selbst macht auf den utopischen Charakter dieses Bezirks aufmerksam, wenn er ihn noch über »das goldne Alter unsrer Dichter« erhebt. (143) Bundeselemente sind an seinem Zustandekom60
A u f die romanspezifische Gestaltung des Konflikts zwischen dem schwärmerischen Individuum und der täuschenden Welt wird später noch einzugehen sein. V g l . unten 5.5.
438
men beteiligt. Die Begebenheit ist als Mittel in den Plan des Bundes eingebunden, Peregrin für seine Zwecke zu gewinnen. Dennoch hört die Täuschung vor den Toren des Hofes auf. Anders als bei den Intrigen in der Welt weiß Peregrin hier um das Scheinhafte des Zufalls. Gerade das aber erhöht die Intensität des >wirklichen BildesNatur< gilt, sondern bereits die modellhaft verkürzte Gestalt gesellschaftlicher Wirklichkeit angenommen hat. 6 ' Peregrins hoffnungslos naiver Versuch, als »ein neuer moralischer Herkules« in Gestalt eines cynischen Philosophen gegen die sittliche Verderbtheit der Welt zu kämpfen, bringt ihm bei Lucian den bezeich64 65
Vgl. oben Anm. 4. Das unterscheidet den Peregrinus Proteus grundsätzlich von Wielands erstem »Schwärmerroman«, dessen Titel in der ersten Druckfassung bezeichnenderweise lautete: »Der Sieg der Natur über die Schwärmerey oder die Abentheuer des Don Sylvio von Rosalva. Eine Geschichte worinn alles Wunderbare natürlich zugeht«. Vgl. dazu auch Wilson, W. Daniel, The Narrative Strategy of Wieland's >Don Sylvio von RosalvaNatur< des Menschen verliert zusehends ihre >natürliche< Unschuld. In der von rationalem Kalkül beherrschten geheimen Intrige des Bundes wird die Ambivalenz menschlichen Vernunftgebrauchs schon erkennbar. Die Schwärmerei des Romanhelden wird zum Gefäß heroischer Illusionen, deren abenteuerliche Kollision mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit die Prosa der schlechten Verhältnisse sinnfällig macht. Der Weg des getäuschten Peregrin durch eine täuschende gesellschaftliche Wirklichkeit decouvriert am Ende beide. Peregrinus Proteus ist der Roman einer gescheiterten Individuation. Wenn überhaupt von einer Entwicklung des Helden gesprochen werden darf, dann in Bezug auf seine zunehmende Erkenntnis der Unvereinbarkeit von Innen- und Außenwelt. Diese Erkenntnis ist letztlich tödlich. Der Protagonist entzieht sich am Ende selbst allen welthaften Verstrickungen durch einen (erfolglos) zum Fanal stilisierten Selbstmord. Die für das aufklärerische Selbstverständnis prekäre Konsequenz der antiken Vorlage erscheint bei Wieland nur wenig gemildert 445
durch die diskursive Behandlung des »Falles« im elysischen Rahmendialog. Peregrin erlebt hier gleichsam seine Wiederauferstehung im aufgeklärten Gespräch, das jedoch die fatale Bilanz seiner Lebensbeichte nicht gänzlich in die Reflexion aufzuheben vermag. Der Peregrinas Proteus zeichnete sich vor allem durch eine ausgeprägt analytische Qualität aus. Die sozialpsychologisch motivierte Rekonstruktion der rätselhaften Biographie eines Schwärmers löste dessen Geheimnis jedoch nur partiell; tatsächlich fungierte sie ebenso als Exposition der gattungsbegründenden Fragestellung nach dem Verhältnis von Ich und Welt, deren Beantwortung über die Gerichtsstruktur des Rahmens an den Leser delegiert wird. Die psychologische Aufklärung der Schwärmerbiographie weist also über sich hinaus. Der Schwärmerroman entpuppte sich bei näherem Hinsehen als ein Gesellschaftsroman der späten Aufklärung. 66 Das Geheimbundmaterial erwies sich in seinem Rahmen als hervorragendes Darstellungsmedium genuin gesellschaftlicher Erfahrung. Die den aufklärerischen Roman bestimmende Wahrheitsproblematik und die in Ansätzen erkennbare kritische Darstellung gesellschaftlicher Wirklichkeit überlagern sich. Die erzählte Welt blieb die programmatisch geforderte Versöhnung von Wahrheit, Humanität und menschlicher Gesellschaft schuldig. Insofern wich Wieland im Peregrinus Proteus der Krise der Spätaufklärung keineswegs aus. Der radikal verschärfte Konflikt zwischen Ich und Welt, Individuum und Gesellschaft wurde am Ende nicht aufgehoben, sondern zurückverwiesen an den aufklärerischen Diskurs, das kritische Gespräch der bürgerlichen Öffentlichkeit, zu dem der Roman einen überaus wichtigen Beitrag lieferte. Vermittelt über das transparente Geheimnis des Rahmens fallt dem Publikum der entscheidende Part in der aufklärerischen Sokratik des Romans zu.
66
Nicht ohne Grund ist der Schwärmer ein vieldiskutierter Sozialcharakter in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, der sogar gattungsbildende Tendenzen im Roman zeitigte. Vgl. dazu hange, Victor, Zur Gestalt des Schwärmers im deutschen Roman des 18. Jahrhunderts, in: Festschrift für R. Alewyn, Köln/Graz 1967, S. 151-164, Schings, H ans-Jürgen, Melancholie und Aufklärung, bes. S. 143fr., 197fr. und Viering, Schwärmerische Erwartung. Die Erweiterung des Schwärmer- zum Gesellschaftsroman läßt im übrigen eine Parteinahme Wielands für Peregrin, von der unproblematisch Viering, Schwärmerische Erwartung, S. 268, und Jacobs, Der Roman, S. 97, ausgehen, als extrem unwahrscheinlich erscheinen.
446
4·
Agathodämon
Wielands vorletzter großer Roman, Agathodämon,
entstand in den
Jahren zwischen 1795 und 1799. Auffällig ist die wiederholt geäußerte persönliche Verbundenheit des Autors mit diesem Text, der weniger seines analytischen Gehalts als seines programmatischen Impetus wegen einen zentralen Platz im Romanwerk der Spätaufklärung einnimmt. »Ein Geheimniß« solle, so Wieland 1796, das letzte, sechsmal von ihm umgearbeitete Buch des Agathodämon noch bleiben, in dem »das Allerheiligste meiner eigenen Haus Philosophie« aufgeschlossen werde. »Leider« sei diese nicht mit der des Archytas im
Agathon
identisch. Z w e i Jahre später bezeichnete er den Roman »als das in mehr als einer Rücksicht wichtigste und beste meiner Werke«. 67 Das Buch steht in vielfaltigen Verbindungen mit publizistischen Auseinandersetzungen der Zeit. Die in der Philologie umstrittene Biographie des Philostrat über Apollonius v o n Tyana, einen pythagoräischen Philosophen und Wundertäter des ersten nachchristlichen Jahrhunderts, der im 18. Jahrhundert nicht selten als Aushängeschild geheimer Gesellschaften benutzt wurde, die A n f ä n g e des Christentums, denen nach dem Auftrieb der neologischen Bibelkritik große Beachtung zuteil wurde, aber auch die Problematik der geheimen Gesellschaften, die der Roman aufgreift, machen dies deutlich. 68 Wiederum überliefert Böttiger angebliche Absichten Wielands. Schon 1795 - und das sichert ihm hier eine gewisse Glaubwürdigkeit - weiß er, daß dieser in dem Roman »sein letztes Glaubensbekenntnis« über »Menschenreform und Weltbeglückungspläne« ablegen wollte. Das Problem des ohnmächtigen römischen Bürgers, der »sich an geheime Gesellschaften anschließt, Volkstäuschungen für erlaubt hält und die ganze Natur seinem Zwecke unterzuordnen weiß«, würde hier verhandelt. 69 Eine Rezension der ersten beiden Bücher des Agathodämon aus dem J a h r 1798 stellt fest, daß das Geheimbundmaterial in der Biographie des Damis nur eine sekundäre Bedeutung besitzt. 70 Sie erkennt die 67
68
69 70
Die erste Äußerung entstammt Wielands Brief an seine Tochter Sophie vom 26. N o vember 1796 ( K e i l , Aus klassischer Zeit, S. 226), die zweite einem Brief an Göschen vom 28. Februar 1799 {Gruber, Johann Gottfried, C. M. Wielands Leben, 3 Theile, Leipzig 1827/28, in: WG, Zusatzband, hier 3. Teil, S. 284). Dazu W u l f f , Wielands späte Auseinandersetzung, S. 25 fr. und Sengte, Wieland, S. 486fr. Böttiger, Literarische Zustände, S. 161. ALZ 1798, Nr. 93, S. 73 7 ff.
447
Bedeutung des »moralischen Plans«, der sich schon in der Jugend des »grossen, weisen und liebenswürdigen Mannes« entwickelt. Kritik findet dagegen die Zurückführung »der wunderbarsten seiner Mährchen [des Damis, M. V.] auf ihre wahre Gestalt«. »Die Proben sorgfaltiger Enträthselung« (!) verrieten eine »allzu gewissenhafte Anhänglichkeit« an die Details der Vorlage, die auf Kosten des poetischen Werts ginge. Die Aufklärung des Geheimnisses im poetischen Kontext wird als störend empfunden, die enge Verbindung von Sachprosa und Roman, die sich bei Wieland besonders im zweiten Buch nachweisen läßt (Thessalien-Abenteuer), erweist sich als Hindernis für die Entfaltung des ästhetisch funktionalisierten Geheimbundmaterials, das 1798, ein Jahrzehnt nach dem Erscheinen von Schillers Geisterseher, bereits verändernd auf die Erwartungshaltung des Publikums eingewirkt hatte. 7 ' 4. ι
Initiatorische Strukturen im Roman
Das »Abenteuer« des Arztes Hegesias, das schon früh durch die »geheimnisvolle Art« der Erwähnung die Neugierde seines Freundes Timagenes erweckt, und das, wie Hegesias glaubt, »die Auflösung . . . [eines] verwickelten Knotens« enthält, nimmt seinen Ausgang in den abergläubischen Wundererzählungen der Ziegenhirten, bei denen der Erzähler auf einer botanischen Wanderung genötigt ist, sein Nachtlager zu nehmen. (WB 3,7; 9) Mit Unglauben nimmt er deren Berichte über einen Dämon auf, der, an unbekanntem Ort im Gebirge hausend, bald als Greis, bald als Jüngling oder Schlange erscheinend, Menschen und Tieren in der Umgebung viel Gutes tut. Nur zögernd finden sich zwei der furchtsamen Hirten bereit, Hegesias auf der Suche nach dem »Agathodämon«, zu der ihn ein »unbezwingbares Verlangen« treibt, zu begleiten. 71
Aufschlußreich ist, daß Wieland schon 1774 eine Arbeit über Apollonius von Tyana plante. Im Handbuch von 1774, das auch Notizen zu Der Neue Geisterseher und St. Germain enthält, heißt es: »Apollonius - ein Philosophischer Don Quischote. Damis — sein Sancho Pansa — und zum Unglück für Apollonius u. uns — sein Geschichtsschreiber. Apollonius war ein großer, edler, in aller Betrachtung außerordentlicher Mensch, wie D. Quisch. wenn er eine historische Person wäre, auch gewesen wäre.« Nach: Beißner, Friedrich, Neue Wieland-Handschriften, in: Abhandlungen der Preußischen Akademie der Wissenschaften 1937, Nr. 13, S. 15. - Textgrundlage für den Agathodämon bildet: Wieland, Christoph Martin, Ausgewählte Werke, hg. von Friedrich Beißner, Bd. }, S. 5-257, München 1964. Im folgenden zitiert als WB.
448
Die Kulisse wird schauerlich. In einer »furchtbaren Wildnis«, von Wieland eher zitiert als geschildert, lassen ihn seine Begleiter allein. Bei aufgehender Sonne, nicht wie Peregrin im täuschenden Dunkel der Nacht, erreicht Hegesias sein Ziel: einen anmutigen Ort, fast unzugänglich, ringsum von schroffen Felsen umschlossen. Die plötzliche »Erscheinung« der »ehrwürdigen Gestalt« des Apollonius verunsichert den sonst gefaßten Naturforscher. Sein Gefühl für die Realität gerät ins Wanken, als der »Unbekannte« mit dem »durchdringenden Blick« und der Fähigkeit, in der Seele zu lesen, auch noch durch sein Wissen um den Namen des Besuchers das Wunderbare der Situation steigert. »Ich suchte dich selbst«, antwortet er, wahrhaftiger, als er es in diesem Moment schon wissen kann. (14) Die Welt ist aus dem Agathodämonium ausgeschlossen. Es gehört zu dem Plan des Einsiedlers, sein Dasein als Rätsel zu gestalten, als »Geheimnis«, »um mich in die angenehme Täuschung zu setzen, als ob mein Leben im Elysium schon angegangen sei«. (24) Hegesias' Annäherung erfolgt auf einer Folie mythischer Verwobenheit, wie sie von den Hirten bereitgestellt und von Apollonius zunächst bestätigt wird. Der dreitägige Aufenthalt in der wunderbaren Wirklichkeit des Berges wird keineswegs zu einer Aufhebung des Mythos führen: vielmehr verändert sich dessen Qualität. Die Initiation verbindet Gegenläufiges. Die Entzauberung der legendären Gestalt des Apollonius geht einher mit einer neuen Mythisierung, die den Menschen Agathodämon, die Inkarnation des Menschen überhaupt, zum Gegenstand hat. Der Roman gestaltet die Humanisierung des Mythos, die zugleich als die Mythisierung des Humanen sich erweist. 72 Der »Unterricht« des Greises, die Wanderungen durch die Szenerie der Felsen, das Spiel mit Erwartung und Erfüllung und die Steigerung durch die schrittweise Enthüllung des Geheimnisses verweisen auf das Vorbild der maurerischen Grade, die hier allerdings in Funktionen eintreten, die ihren Ursprung weit übersteigen. Die Verknüpfung von Aufklärung und Geheimnis wird gleich zu Beginn des Romans übertragen auf den Bereich der Reflexion. Die Behauptung des als Dämon erschienenen Apollonius, es gäbe »nie andere Dämonen . . . als Menschen«, erregt eine »neue Aufmerksamkeit« bei seinem Schüler und wird zum Vorwurf für einen mehrseitigen Monolog des Alten vor bedeutsamer Szenerie. (3,15) Die Nähe zur 11
Dazu unten 4.3. 449
Quelle, der freie Ausblick auf sanfter Anhöhe lassen schon die Verbindung von Erkenntnis und Geheimnis deutlich werden. Die ambivalente Funktion der Landschaft, eine allegorische Verbildlichung von Gehalt und Ablauf des Gesprächs zu ermöglichen und zugleich die reale Umwelt Agathodämons darzustellen, macht den Zusammenhang von Leben und Reflexion ebenso klar wie den tendenziell utopischen Wirklichkeitscharakter des Romans: Die Vordergrundhandlung ist grundlegend für das Verständnis seiner Intention. 73 Aufklärungen über das Leben des Apollonius im Gebirge lassen diesen zu einem neuen Rätsel werden. Die Bestätigung und Erklärung der Gerüchte der Hirten verdoppeln die Aufmerksamkeit Hegesias'. Die Ausstrahlung des der Mitteilung bedürfenden Greises rührt ihn derart, daß er wiederholt versucht ist, sich ihm zu Füßen zu werfen. Die Spannung, die sich aus der bewußten Anspielung auf die literarische Figur des Magiers, wie sie in Schillers Armenier, im Kerinthus des Peregrinas Proteus sowie in unzähligen trivialen Geheimbundromanen gestaltet worden war, ist für Wieland ein Mittel, die detektorischen Fähigkeiten des Hegesias in Bewegung zu setzen. Andererseits gehört sie zu den zentralen Integrationsmomenten, die den philosophischen Roman davor bewahren, zu wissenschaftlicher Prosa zu geraten. Die Strukturelemente der Überraschung und des Widerspruchs gehören in den größeren kompositorischen Zusammenhang der Initiation. Widersprüche entstehen etwa beim Vergleich der Folien, die die Erzählungen der Hirten, des Damis oder Apollonius' selbst bereitstellen, mit dessen Leben im elysischen Gefilde des Berges. Überraschungen bereiten die Plötzlichkeit des Erscheinens und Verschwindens der Gestalt des Magiers, die unerwartete Politisierung seines Ordens oder die Einführung der Christusgestalt. Die Detektion des Hegesias erscheint äußerlich bei der Suche nach dem Namen des Wundermannes. Sollte er wirklich der von Damis beschriebene Apollonius von Tyana sein? »Dies schien mir noch immer etwas unerklärbares; wiewohl verschiedene, von Agathodämon selbst mit gegebene Winke mich auf eine Spur gewiesen hatten, die zur Auflösung dieses Rätsels führen konnte.« (69) Daß der »Evangelist« beim Abschied von seinem »Herrn« »eine Kraft« in sich fühlt, »die mich nie wieder verlassen würde«, zeigt, " Vgl. dazu auch Müller, Wielands späte Romane, S. 147. Einen Zusammenhang zwischen trivialen Bundesromanen und dem Agathodämon stellt auch die bisher einzige Monographie über den Roman her: Ihlenburg, Karl Hein?, Wielands >Agathodämonreligionssoziologische< Ertrag des Romans ist beträchtlich. Aus dem Rätsel des Dämons wird die Frage nach dem Leben des »außerordentlichen Menschen«, dessen Erzählung - thematisch und atmosphärisch im ersten Buch vorbereitet - im folgenden beginnt. Das Geheimnis um die Identität des Apollonius verändert seinen Charakter, als im dritten Buch Kymon das Rätsel löst, zugleich aber mit den Berichten über das irdische Wirken des Magiers die Figur erneut ins Zwielicht stellt. Nur scheinbar retardierend wirkt das vierte Buch, in dem über die zentralen Probleme des Romans, die Legitimität der Täuschung und die Funktion der Religion, gesprochen wird. Sein musikalischer Ausklang bringt mit der Körperlosigkeit seelischer Harmonie die Abwesenheit der Welt in der Sphäre des »kleinen Paradieses« sinnfällig zum Ausdruck. Im fünften Buch nimmt Apollonius die Erzählung seines Lebens wieder auf und führt Hegesias in das politische Geheimnis seines Ordens ein. Ergänzungen Kymons, eine längere Diskussion über die Notwendigkeit transzendenter Gewißheiten und schließlich die Selbsteinschätzung Agathodämons bereiten das siebte Buch vor, das das Geheimnis der Christianer, Apollonius' Geschichtsphilosophie und sein Verhältnis zum Glauben behandelt. Die Sprachgebung bestätigt die Initiation als Grundstruktur des Romans. Die Lösung des verwickelten Knotens, die die Vorrede verspricht, macht klar, daß das Geheimnis des Agathodämon nicht im Bereich seiner Biographie allein aufgehoben ist. Die Kenntnisse, die Hegesias von seiner Reise mitbringt, sind in ihrer Genese zwar an sie 74
Im Agathodämon finden sich zahlreiche Elemente christlicher Mythologie, insbesondere was das Verhältnis Jesu zu seinen Jüngern betrifft. Den Beginn machen die Hirten, die des Nachts auf dem Felde bei den Herden wachten (vgl. Lukas 2, 8ff.). Hegesias selbst vergleicht sich mit den Jüngern des Herrn. ( W B 3,209) Der drei Tage währende Aufenthalt endet mit dem >Ausgießen< des >Heiligen GeistesGoldner Spiegelnicht mehr< einer allumfassenden Vorsehung, des >noch nicht< einer mit der realen Geschichte versöhnten Philosophie. Das wird nirgends so deutlich wie im siebten, dem nach Wieland schwersten Buch des Romans, in dem die Antwort auf die Frage nach der Christusreligion unversehens zur Geschichtsprophetie gerät. Für sie ist der gesamte Bezirk des Berges konstitutiv. Nicht die halbherzig-neologischen Rettungsversuche Christi stehen an der höchsten Stelle des Romans, sondern die Einweihung in das Geheimnis der Geschichte, für deren Fortschritt es »notwendige Übel« in Kauf zu nehmen gilt. (228) Die dialektische Rolle des Widerspruchs in der Geschichte wird erkannt und aufschlußreich mit der Gegenwart in Verbindung gebracht: »Was ist der Mensch in der g e g e n w ä r t i g e n Periode seines Daseins? Welches sind seine Kräfte und Anlagen? Wie und w o z u hat er sie zu gebrauchen?« (i66f.) Das fruchtlose Nachdenken über die transzendente Erkenntnis, das allenfalls dem »müden Seefahrer« zugebilligt werden kann, tritt zurück vor den Interessen des Tages, deren produktive Wahrnehmung die geschichtliche Analyse zur Voraussetzung hat. Apollonius' »Stammeln« über seinen Glauben (Sengle), die unbefriedigte »Lösung« des Romans (Jacobs), der »totale Mißerfolg« des Magiers (Schostack) bezeichnen Urteile über den Agathodämon, die dessen über eine utopische Struktur zu ermittelnde Intention nicht ausreichend berücksichtigen. 9 ' Nicht das »Leben« des Agathodämon 91
Vgl. Sengle, Wieland, S. 492,Jacobs, Der Roman, S. 99, und Schostack, Wieland und Lavater, S. 140.
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oder sein »Elysium« allein machen die Antwort des Romans aus. Diese ist vielmehr in dem Versuch zu sehen, dem kosmopolitischen Standort, dem erkenntnistheoretischen Ort der Spätaufklärung eine Legitimation zu verschaffen, die Vernunft und Geschichte, Reflexion und Handlung miteinander in Einklang zu bringen vermag. Die Schwierigkeiten des Romanschlusses beim Agathon, das Bemühen, der fragwürdigen Alternative zwischen einer kritiklosen Anpassung an eine schlechte Wirklichkeit und deren idyllisierender Überhöhung zu entgehen, schlagen sich in der Konzeption des Agathodämon deutlich nieder. Zu der ästhetisch bedingten und relativierten Utopie der Tarent-Episode kommt hier der Verzicht auf die konkrete Ausgestaltung eines Gegenentwurfs hinzu. Das Leben auf dem Berg bietet keine Alternative, keine reale Zielprojektion für die Welt. Es ist die Art der Reflexion der mit dem Leben Apollonius' vorliegenden Erfahrungen der gesellschaftlichen Wirklichkeit, die Verbindlichkeit beansprucht. Innenwelt und Außenwelt erfahren dabei eine bedeutsame Verschiebung. Es ist ein öffentliches Anliegen, dem Apollonius im Rahmen der Geheimbundhandlung sein Leben widmet. Die Gespräche auf dem Berg erbringen alles andere als private »individualistische Minimallösungen« (Schostack). Mag auch die im Roman prospektierte Versöhnung von Geschichte und Vernunft unbefriedigend erscheinen: die historische Vision eines kommenden Reiches der Vernunft hält doch die Mitte zwischen blindem Empirismus und abstraktem Utopismus, zwei politischen Bewußtseinsformen, die die nachaufklärerische Moderne nachhaltig geprägt haben. 92 Keineswegs wird von Wieland ein reales Ziel des historischen Prozesses vorgestellt, das Bilderverbot ist im Agathodämon streng eingehalten. Vielmehr erscheint die utopische Dimension als Kritik. Die literarische Utopie fungiert als transparent fiktives Medium einer Kritik der herrschenden politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse; einer Kritik, die ihren Maßstab aus einer tendenziell utopischen Geschichtsphilosophie bezieht. In dem Maße nämlich, in dem bei Wieland die Utopie reflexiv wird, gerät die Reflexion utopisch: Der Agathodämon gestaltet die reflexive Utopie der späten Aufklärung - als Roman. Indessen bedarf der hier verwendete Begriff der reflexiven Utopie noch einiger Erläuterung, die die Eigenart dieser utopischen Form im 92
Anders Müller, Wielands späte Romane, S. i20ff., der Ansatzpunkte für eine geschichtsphilosophische Dialektik bei Wieland sieht, die dieser aber nicht benutzt.
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Kontext der neuzeitlichen Utopie deutlicher hervortreten läßt. HansJoachim Mähl definiert die literarische Utopie als den Entwurf einer hypothetisch möglichen, d. h. unter Setzung bestimmter Axiome denkbaren/vorstellbaren Welt (Gesellschaftsverfassung, Lebensform), entworfen in zeitlicher oder räumlicher Projektion als Gegenbild (Negation) zu den explizit oder implizit kritisierten gesellschaftlichen Mißständen der jeweiligen Zeit. Im Unterschied zu expositorischen Texten (ζ. B. dem philosophischen Traktat) gehört es zur Intention der literarischen Utopie, das Gegenbild zu versinnlichen, d. h. deskriptiv und/oder narrativ zu vergegenwärtigen bzw. >wahrscheinlich< zu machen. 9 '
Die literarische Utopie setzt also bedingende Gesetze der Wirklichkeit außer Kraft und entwirft auf der Grundlage hypothetischer Prämissen eine geschlossene, in sich stimmige, überwiegend sinnlich realisierte Gegenwelt. Diese bewußt elementar gehaltene Bestimmung erweist ihre Fruchtbarkeit im Rahmen historischer Konkretisationen. Die neuzeitliche Utopie ist charakterisiert durch einen epochalen Struktur- und Funktionswandel, der die materiale Gegenbildlichkeit zu jeweiligen historischen Wirklichkeiten zunehmend zurücktreten läßt zugunsten von Konstruktionen des Hypothetisch-Möglichen, die die Bedingungen der Verwirklichung ihrer Möglichkeiten in ihre in der ästhetischen Form auftretende Reflexion einbeziehen. Am Ende dieses lang angelegten und noch nicht abgeschlossenen Prozesses einer Historisierung der Utopie steht die »utopische Intention« (Neusüss), die auf eine sinnlich explizite Gegenbildlichkeit ganz Verzicht leistet. Weit eher läßt die utopische Intention sich als historisch bzw. geschichtsphilosophisch fundierte Kritik jeweils herrschender Verhältnisse begreifen. Nicht in der positiven Bestimmung dessen, was sie will, sondern in der Negation dessen, was sie nicht will, konkretisiert sich die utopische Intention am genauesten. Ist die bestehende Wirklichkeit die Negation einer möglichen besseren, so ist Utopie die Negation der Negation. 94
93
94
Mähl, Hans-Joachim, Der poetische Staat. Utopie und Utopiereflexion bei den Frühromantikern, in: Voßkamp, Utopieforschung, Bd. 2, S. 275-302, hier S. 274. - Zum folgenden vgl. auch Voßkamp, Wilhelm, Einleitung, in: ders., Utopieforschung, Bd. ι , S. 1-10, Stockinger, Ludwig, Aspekte und Probleme der neueren Utopiediskussion in der deutschen Literaturwissenschaft, ebd., Bd. 1, S. 120-142, Koselleck, Reinhart, Die Verzeitlichung der Utopie, ebd., Bd. 2, S. 1-14. Neusäss, Arnhelm, Schwierigkeiten einer Soziologie des utopischen Denkens, in: ders., Hg., Utopie. Begriff und Phänomen des Utopischen, Neuwied und Berlin 1968, S. 1 2 - 1 1 2 , hier S. 53.
467
Dabei läßt sich feststellen, daß trotz ausdrücklichen Bilderverbots, trotz des Verzichts auf eine konkrete Ausgestaltung künftiger Welten die produktive Aneignung des anachronistisch gewordenen utopischen Materials der utopischen Intention durchaus zu einer sehr zeitgemäßen literarischen Wirklichkeit verhelfen kann.9' Der kleinste gemeinsame Nenner des epochalen Wandels der neuzeitlichen Utopie besteht in ihrer Verzeitlichung. Aus der idealtypisch in Thomas Morus' Utopia realisierten Raumutopie statischen Charakters (Bild einer vollkommenen Lebensordnung) wird im Verlauf des 18. Jahrhunderts allmählich eine dynamische Zeitutopie. Diese funktionsgeschichtlich zu begründende Ausdifferenzierung des utopischen Materials steht unverkennbar in Zusammenhang mit Veränderungen des gesellschaftlichen Bewußtseins von Geschichte, das als Geschichtsphilosophie am Ende des Jahrhunderts zunehmend sich selbst als Gegenstand entdeckt. Im Horizont dieses reflexiv angelegten Historisierungsprozesses wird mit der Zukunft die Zeit als bestimmende utopische Dimension gewonnen. Die historische Antizipation künftiger Welten und Gesellschaftsordnungen löst die Insel als Prototyp der Raumutopie ab. Mit der Verzeitlichung der Utopie aber geht ihre Einverwandlung in die Geschichtsphilosophie zwingend einher. Zutreffend hat Koselleck festgestellt, daß die literarische Zeitutopie die Schriftstellerei als »das soziale Medium gleichsam der transzendentalen Geschichtsphilosophie« erscheinen läßt.96 Die Konvergenz von Utopie und Geschichtsphilosophie findet ihren sichtbaren Ausdruck in der wachsenden Selbstreferentialität der literarischen Utopie, die die Bedingung der Möglichkeit ihrer Verwirklichung als die Realisierungshoffnung des Hypothetisch-Möglichen kritisch mit reflektiert. Utopie wird derart zur begriffenen Hoffnung des historischen Prozesses selbst. Daher erscheint es nur folgerichtig, wenn die Geschichte der Utopie gleichermaßen die Geschichte materialer Utopien wie die Geschichte ihrer (utopischen) Reflexionen umfaßt. Vor dem Hintergrund dieses epochalen Struktur- und Funktionswandels der literarischen Utopie läßt sich die besondere Form der reflexiven Utopie und ihre Bedeutung für die Legitimationsproblematik der späten Aufklärung genauer bestimmen. Der Agathodämon "
96
Das gilt auch und gerade für die Literatur des 20. Jahrhunderts. Vgl. etwa Müller, Klaus-Detlef, Utopische Intention und Kritik der Utopie bei Brecht, in: Ueding, Gert, Hg., Literatur ist Utopie, Frankfurt/M. 1978, S. 335-366. Koselleck, Verzeitlichung, S. 13.
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entwirft keineswegs das Gegenbild zu den gesellschaftlichen Verhältnissen seiner Zeit. Zwar enthält er zahlreiche Elemente einer materialen Utopie. Die kleine Sozietät auf dem Berg verwirklicht sich im Rahmen einer »heiligen Familie«, die räumlich und zeitlich durchaus als Projektion im Sinne der konventionellen Utopie verstanden werden kann. 97 Das utopische Zitat ist unübersehbar, Apollonius bittet seinen Gast, keinen Anstoß daran zu nehmen, daß ich mich in der kleinen Gesellschaft, w o r i n ich hier, v o n der Welt abgesondert, w i e auf einer u n b e w o h n t e n Insel des Atlantischen Ozeans [!] lebe, v o n allem Z w a n g der Hellenischen und Morgenländischen Sitten dispensiere. Ich betrachte die kleine Familie, die m i r hierher g e f o l g t ist, als die meinige, und w i r leben mit einander, als o b w i r die einzigen in der Welt wären. (9of.)
Verbindlichkeit aber beansprucht nicht der utopische Bezirk selbst, sondern die in seinen Grenzen mögliche Reflexion, die ihrerseits utopische, d. h. geschichtsphilosophische Implikationen aufweist. Der Berg ist ein erkenntnistheoretisch bedeutender Ort. Versinnlicht wird hier nicht etwa eine Gegenwelt. Gestalt gewinnt im Berg vielmehr die geschichtsphilosophische Reflexion selber. Das Agathodämonium steht für die Bedingung der Möglichkeit der Erkenntnis der Gegenwart und der Zukunft im Horizont eines weiter gefaßten historischen Prozesses, der seinen Sinn vom human vorgestellten Ende der Geschichte her bezieht. Die utopische Tradition verfällt im Roman eindeutig der Kritik. D a h e r diese lieblichen Träume der Dichter und Philosophen v o n einèm g o l d n e n Weltalter, v o n G ö t t e r - und Heldenzeiten, v o n Unschuldswelten, A t l a n t i d e n und Platonischen Republiken, . . . die, so o f t man sie im Ernst zur Wirklichkeit bringen w o l l t e , allemal so viel Unheil angerichtet haben. (16)
Doch hindert Wieland die Kritik der materialen Utopie keineswegs daran, das utopische Material für seine romanhafte Reflexion fruchtbar werden zu lassen. Allerdings ist mit der Utopie weniger der Gegenstand als das Verfahren, die literarische Methode des Romans beschrieben, der seinen philosophischen Charakter durchaus nicht verleugnet. Mit der reflexiven Utopie des Agathodämon ist das Modell des Staatsromans endgültig überwunden. Die utopische Intention reali97
Apollonius lebt eigentümlich zeitenthoben. Die drei Tage, die Hegesias im Agathodämonium verbringt, schaffen eine eigene initiatorisch wirksame Zeitordnung. Allerdings wird die historische Chronologie zum Gegenstand der >zeitlosen< Reflexion im Bezirk des Berges. Auf die bedeutsame Abgrenzung des Raumes ist wiederholt hingewiesen worden. 469
siert sich als utopische Reflexion, die jedoch noch auf das tradierte utopische Material, auf einen mit Hilfe des Geheimbundmaterials konstituierten utopischen Bezirk angewiesen bleibt. Die »heilige Familie« des Berges und besonders ihr deutlich überhöht gezeichnetes Oberhaupt, der gute Geist der Menschheit, stehen nicht etwa Modell für eine neu zu schaffende gesellschaftliche Wirklichkeit. Genau diese ebenso naive wie gefährliche Form utopistischer »Unschuldswelten« wird ja im kritischen Diskurs des Romans heftigen Angriffen ausgesetzt. Die Utopie erscheint bei Wieland in der Form historischer Reflexion. Die herrschenden Verhältnisse werden nicht unmittelbar konfrontiert mit Vorstellungen eines »goldnen Weltalters«. Der Roman entdeckt die historische Vermittlung der Jetztzeit. E r meldet Interesse an einer politisch-gesellschaftlichen Orientierung in der Gegenwart an, die bezogen ist auf eine als human gedachte geschichtliche Entwicklung der Menschheit. Zwar antizipiert die singuläre Gemeinschaft des Berges auf ihre Weise das humane Ende des historischen Prozesses: doch zu dem Zweck allein, seinen widerspruchsvollen Verlauf erkennen und im Sinne des aufklärerischen Programms - legitimieren zu können. Die gesellschaftliche Wirklichkeit nämlich liegt modellhaft mit dem Leben des Apollonius und der Geheimbundhandlung der erzählten Welt den Reflexionen und Prognosen des Agathodämoniums zugrunde. Mit seiner reflexiven Utopie hat der Agathodämon teil an jenem skizzierten epochalen Wandel der neuzeitlichen Utopie. Wielands später Roman erweist sich in der Tat als das gesellschaftlich relevante Medium einer Art transzendentalen Geschichtsphilosophie. Das Geheimbundmaterial spielt für die Realisierung der utopischen Intention des Romans eine wichtige Rolle. Ästhetisch funktionalisierte Elemente und Strukturzüge des Geheimbundmaterials konstituieren den utopischen Bezirk des Berges und prägen die hervorstechende Gestalt des humanen Magiers. Hegesias' geschichtsphilosophisch fundierte Erkenntnis der Gegenwart wird im Roman vermittelt als Initiation in das Geheimnis des Agathodämon. Den Bezirk utopischer Erkenntnis erfährt Hegesias bezeichnenderweise als »lebendiges Bild«. (7; 236) Die mythologische Verformung der Gestalt Apollonius' bei den Ziegenhirten, über deren Station sich der Reisende dem Bezirk des Berges nähert, wird am Ende nicht korrigiert. Z w a r hat sie für Hegesias ihre Qualität verändert, die Ziegenhirten aber - und mit ihnen die zeitgenössische Umwelt — werden nur »beruhigt«, nicht aufgeklärt 470
über das wirkliche Geheimnis des Dämons. (237) E s ist eine eigene, elysische Wirklichkeit, die der Initiand kennenlernt. Die »unzugangbare Einöde«, von der der »Einsiedler« umgeben ist, kontrastiert auffällig der Ausdruckslandschaft des Berges. Apollonius selbst, der »ein Recht« erworben zu haben glaubt, für die »Welt« gestorben zu sein, betont die Unwirklichkeit des Ortes. (149) »Als eines schönen Traumgesichtes« möge sich der Schüler Hegesias des Agathodämoniums erinnern. (233) Wichtig ist, daß der Roman keineswegs als eine ästhetische Theodizee verstanden werden darf. Die ästhetische Struktur ist noch wesentlich als - wenn auch konstitutive - Vermittlung von Gegenständen des kritischen Gesprächs der bürgerlichen Öffentlichkeit gemeint. Der Agathodämon verläßt nicht den Rahmen der aufklärerischen Institution Kunst. Die Funktionalisierung des Geheimbundmaterials erfolgt nach Maßgabe einer ästhetischen Intention, die ihrerseits einem geschichtsphilosophischen Diskurs zu einer bedeutenden Gestalt verhilft. Denn hierin liegt die entscheidende Funktion der utopischen Dimension des Agathodämon: daß sie auf die sich verschärfende Legitimationsproblematik der späten Aufklärung eine verbindliche, d. h. geschichtsphilosophisch rückversicherte Antwort ermöglicht. Daß mit dem geschichtsphilosophischen Argumentationsmodell eine eminent wichtige Strategie der geheimen Gesellschaften der Zeit, insbesondere der Illuminaten, zur Debatte steht, darauf ist schon wiederholt, zuletzt bei der Behandlung von Wielands Geheimniss des Kosmopolitenordens, hingewiesen worden. 98 Der ideale Charakter der Wahrheit wird im utopischen Bezirk der Erkenntnis sinnfällig. Mit der reflexiven Utopie gewinnt die transparente Fiktion der Wielandschen Prosa eine zusätzliche Dimension, die die Bedingungen ästhetisch vermittelter Wirklichkeitserkenntnis nicht verschweigt, ihr aber zu einer neuen Dignität und Legitimität verhilft. Der philosophische Roman bewerkstelligt die Aufhebung der mit der Geheimbundhandlung der erzählten Welt vermittelten gesellschaftlichen Erfahrung in die geschichtsphilosophische Reflexion." Die mit dem Roman unternommene ästhetische Expedition der Spätaufklärung ist fündig geworden. Nicht das Experiment mit dem ' 8 Vgl. oben S. 4 0 2 f r . 99 Daher kann der Roman keineswegs, wie Müller, Wielands späte Romane, S. 32fr., glaubt, als ein Beispiel standortlosen Erzählens gelten. Eine einheitliche Perspektive, in der die Vordergrundhandlung des Berges ebenso aufgehoben ist wie die erzählte Welt des Apollonius, stiftet erst die geschichtsphilosophische Reflexion, die recht eigentlich die Totalität der Romanwelt konstituiert.
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Arkanmodell der Aufklärung, das die Handlungsebene des Romans bestimmt, ist jedoch ihr wichtigstes Ergebnis - skeptische Offenheit charakterisiert die Bewertung des politisch-strategischen Geheimnisses - , sondern die mit der reflexiven Utopie gewonnene Form einer geschichtsphilosophischen Legitimation der aufklärerischen Kritik an den herrschenden Verhältnissen. Der Berg als geschichtsphilosophisch bedeutender Ort verschafft dem kosmopolitischen Standort eine neuartige Aura; der utopische Bezirk verhilft ihm zu einer Legitimation, die der Prozeßhaftigkeit aufklärerischen Denkens hervorragend Rechnung trägt. Die These vom Philosophenroman findet sich am Ende bestätigt und modifiziert zugleich. Wohl dominiert im Agathodämon die reflexive Bewältigung von Welt; jedoch ist seine Welthaftigkeit und Welthaltigkeit nicht zu unterschätzen: das Geheimbundmaterial fungiert als ein äußerst effizientes Darstellungsmedium einer gesellschaftlichen Erfahrung von Wirklichkeit. Keineswegs darf der Roman daher als ein Dokument der Flucht oder der Resignation vor dem »Interesse des Tags«, als ästhetisches Palliativ mißverstanden werden. In der Form einer gesteigerten Reflexivität vergewissert sich Wieland zunehmend realistischer erfaßten politischen und gesellschaftlichen Problemen einer scheiternden Aufklärung. Adressat des Agathodämon bleibt die bürgerliche Öffentlichkeit. Der Roman versteht sich als genuin literarischer Beitrag zum kritischen Diskurs des aufgeklärten Publikums. Die romanhaft gestaltete reflexive Utopie des Agathodämoniums eröffnet eine neue und wesentliche Dimension bei der Lösung der epochalen Legitimationsproblematik. Wieland hat das Motto für seinen späten Roman an anderem Ort selbst formuliert: »Träume mit offenen Augen«.
III. Moritz' Fragmente aus dem Tagebuche eines Geistersehers, Andreas Hartknopf. Eine Allegorie und Andreas Hartknopfs Predigerjahre oder: Der Roman als Medium einer Didaxe des Arcanum Der Buchstabe tödtet, aber der Geist macht lebendig.
Moritz' Hartknopf&oma.nc (1786/1790) gelten bis heute als gattungsgeschichtliches Unikum. Die Ratlosigkeit, die sie bei zeitgenössischen
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Lesern auslösten, hat auch die Forschung lange Zeit bestimmt. Zwar konnte ein literarhistorischer Positivismus eine ganze Reihe von Bezügen zum gattungs- und ideengeschichtlichen Kontext nachweisen. 1 Nicht ohne eine gewisse Berechtigung läßt sich vom Andreas Hartknopf als von einem Pastoren- und Eheroman, einem Schwärmer- und Ketzerroman, einem pädagogischen und vor allem von einem satirischen Narrenroman sprechen. Affinitäten zu Schummeis Spit^bart, eine komitragische Geschichte für unser pädagogisches Jahrhundert, zu Wezeis Belphegor, zu Nicolais Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker und zu Pestalozzis Gertrud und Lienhard sind nicht zu übersehen. Doch verschärft die Pluralität der generischen Konzepte, die allenfalls oberflächliche Analogien zu zeitgenössischen Produktionen stiften, die Verwirrung eher, als daß sie sie mildert. Ungeklärt blieb die Frage, was denn die höchst disparaten Züge des Hartknopf-Komplexes zu einer, wenn auch widerspruchsvollen Einheit verbindet; was das integrierende Prinzip der Romane ausmacht, blieb verborgen. Das rätselhafte Amalgam des Andreas Hartknopf hat bis heute einer befriedigenden Gesamtdeutung widerstanden. Das mag einerseits der Esoterik der Romane selbst zuzuschreiben sein; ihr dunkel-hermetischer Charakter hat immer wieder Anlaß zu der Vermutung gegeben, >hinter< ihnen verberge sich >mehrModernität< des Andreas Hartknopf hat aber zunächst an der historischen Werkintention selbst anzusetzen. Erst aus seiner Historizität gewinnt der Text das Signum einer spezifischen Aktualität. Moritz bearbeitete mit dem Andreas Hartknopf das zeitgenössische Geheimbundmaterial. Er verwendete das Schema der Ordensliteratur an romanstrukturell entscheidender Stelle.' Ähnlich wie Eckartshausen in seinem Roman Kostis Reisen entwarf Moritz eine zunehmend ästhetisch realisierte Esoterik in pädagogischer Absicht. Die These lautet: Der Andreas Hartknopf ist nicht von einem verborgenen Sinn her konzipiert; vielmehr demonstriert der Roman die - der pädagogischen Funktion des maurerischen Geheimnisses nicht zufällig ähnliche - Figur des sinnstiftenden Verbergens.4 Der Roman praktiziert die Didaxe des Arcanum: als Roman. Insofern ist Ratlosigkeit eine nicht nur verständliche, sondern eine als notwendig intendierte, wenngleich auch keineswegs hinreichende Rezeptionsstufe des Romans; insofern hat die vielfach konstatierte Verwirrung Methode. Das Prinzip von Blasphemie und Sakralisation, das eine religiös motivierte Deutung für die weltliche Passion des Protagonisten zutreffend herausgearbeitet hat, ist verankert in diesem methodischen Grundprinzip des Romans, in der Dialektik von Geheimnis und Aufklärung.' Nicht um die Profanisierung eines vorgeblich Geheimen geht es in ihm, sondern um die überaus bedeutende Vermittlung eines Profanen. Wie der Roman selbst, so ist auch das romanhafte Arcanum Mittel zum lehrhaften !
'
4 s
So etwa tendenziell Schrimpf, Moritz, S. 9, in Hinblick auf das gesamte Oeuvre: »Gerade das Nebeneinander unterschiedlicher Tendenzen, das sich nicht als >Entwicklung< erklären läßt, die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, weisen Moritz für eine moderne Betrachtung als signifikanten Aufklärungsschriftsteller, als eine Schlüsselfigur der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts aus.« Ähnlich ders., Nachwort, S. 4*, ηο*-ηζ*, Solle, Realisation, S. 107-167. Zur Ordensliteratur vgl. oben S. 26iff. Die Gattungsbezeichnung »Freimaurerroman« sollte für den Andreas Hartknopf keine Verwendung finden. Zur Gattungsproblematik in Hinblick auf den Geheimbundroman vgl. oben S. 284ff. Zur pädagogischen Funktion des maurerischen Geheimnisses vgl. oben S. 8iff. Zum Prinzip von Blasphemie und Sakralisation vgl. Solle, Realisation, S. 155 ff.
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Zweck. In diesem Zusammenhang erst erweist das Disparate und das Enigmatische des Texts sich als konstitutiv: es konstituiert das Vermittlungsprinzip des Romans, es begründet die romanhafte, d. h. auch zunehmend ästhetisch eingelöste Didaxe des Arcanum. ι.
Verkündung und Analyse: Zum werkbiographischen Ort des Andreas Hartknopf
Der Verkündungscharakter rückt ebenso wie eine Reihe thematischer Konzepte den Andreas Hartknopf in die Nähe anderer Texte des Moritzschen Œuvres. 6 Die Stichworte Analyse und Verkündung erlauben eine grobe Orientierung in der überaus heterogenen Textproduktion, die Aufschluß nicht zuletzt über die eigentümlich parallele Entstehung so unterschiedlicher Romane wie Anton Reiser und Andreas Hartknopf verspricht. Ein autobiographischer Erlebnisgrund fundiert die seismographisch genaue Registratur innerer, nicht selten auch äußerer Vorgänge durch Moritz. Allerdings erfolgt die Verarbeitung dergestalt authentischen Materials auf gänzlich verschiedene Weise. Neben einem überwiegend analytisch-psychologisch bestimmten Textkorpus (Texte im Umkreis der Erfahrungsseelenkunde, Anton Reiser) gibt es eine Gruppe von pädagogischen, philosophischen und zunehmend auch ästhetischen Schriften, die einem mehr spekulativ-verkündenden Argumentationsduktus folgen. 7 Dabei tritt der Charakter der Selbstver6
1
Teile des Andreas Hartknopf hat Moritz später in der Sammlung: Die große Loge oder der Freimaurer mit Wage und Senkblei. Von dem Verfasser der Beiträge %ur Philosophie des Lebens, Berlin 1793, wörtlich wieder abgedruckt. Vgl. etwa Andreas Hartknopf, S. 40-42 (Große Loge, S. i;8f.), S. 108-110 (Große Loge, S. 146-148). Thematische Ähnlichkeiten ergeben sich zwischen Andreas Hartknopf, S. 56-58 und Gnothi sauton 4, 1786, 3. St., S. zi., und Andreas Hartknopf S. ioWerkzeuge< zur Verfügung. So verband sich die Suche nach Sinn in der Maurerei mit der eigenen Sinnsuche in Problembereichen, die traditionell keine maurerische Besetzung aufwie12
Z u Lessings Logeneintritt vgl. oben S. 148fr.
15
Soweit ich sehen kann, sind keine Archivalien der Berliner L o g e » Z u r Beständig-
14
Immerhin nennt der Almanach für Freymaurer aufs fahr jfo*¡4
keit« überliefert. Z u r Sozialstruktur der Freimaurerei v g l . oben S. 67fr. [1803/04], S. 5 ff., als
Großbeamten der Großen L o g e den Berliner Verleger Carl Matzdorff. M i t Matzdorffs Schwester w a r Moritz kurze Zeit verheiratet, bei ihm konnte er 1 7 9 3 Jean Pauls Erstling, Die unsichtbare Loge, lancieren.
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sen: Die Freimaurerei wurde auch für Moritz zu einem fruchtbaren Projektionsfeld philosophisch-sozialer Spekulation und Phantasie. Das vermag ein Blick auf die Texte zu verdeutlichen, die im engeren und weiteren Kontext des freimaurerischen Engagements entstanden. Zu ihnen gehören die 1780 erschienenen Beiträge %ur Philosophie des Lebens, aus dem Tagebuche eines Freimaurers, die Fragmente aus dem Tagebuche eines Geistersehers (1787) und Die große Loge oder der Freimaurer mit Wage und Senkblei (1793), die wohl die wichtigste zu Lebzeiten publizierte Sammlung von Aufsätzen Moritz' enthält.'' Einen explizit freimaurerischen Charakter haben nur die wenigsten der hier genannten Schriften. Einige als Logenreden und -lieder bezeichnete Texte bilden eher die Ausnahme. Moritz stellte vielmehr zentrale philosophische, ästhetische, sprachwissenschaftliche und pädagogische Schriften ausdrücklich in einen als freimaurerisch deklarierten Publikationszusammenhang. Dazu dürfte ihn nicht allein die publikumswirksame Aura des Geheimen bewogen haben. Das Gemeinsame der hier erwähnten Texte liegt weniger auf der Ebene einer etwa >freimaurerischen< Gegenständlichkeit. Was sie verbindet, ist ein besonderer Duktus der Aussage und des Ausdrucks. Eigensinnige Formulierungen, kühne Metaphernkonstruktionen, eine assoziativ-sprunghafte Gedankenführung, Verknappungen, enigmatische, aber auch appellative Züge charakterisieren den Gestus der Verkündung, der die Texte aufs engste mit dem Hartknopf-Roman verknüpft.' 6 Nicht nur untereinander sind diese Schriften thematisch und formal auffällig verflochten; aufschlußreich ist auch ihr Zusammenhang mit anderen Arbeiten Moritz', die keinen direkten Zusammenhang mit der Freimaurerei aufweisen: der Kinderlogik (1786) etwa, den Beiträgen zu den Denkwürdigkeiten (1786-88) und I!
16
Vgl. dazu oben Anm. 6 und 7. Eine zweite erweiterte Auflage der Großen Loge erschien 1796: Launen und Phantasien von Carl Philipp Moritz, hg. von Carl Friedrich Klischnig, Berlin 1796. Das Vorwort schrieb Moritz zu: Die Symbolische Weisheit der Aegypter aus den verborgensten Denkmälern des Alterthums. Ein Theil der Aegyptischen Maurerey, der \u Rom nicht verbrannt worden, hg. von Karl Philipp Moritz, Berlin 1793. Der Verfasser ist J . G. Bremer. Trotz intensiver Nachforschungen konnte nicht ermittelt werden: Dreymahl Drey Worte %ttr Lehre und Warnung. Eines gewesenen Freymäurers Hinterlassenschaft für seine Brüder, Berlin 1796. Nach Kloß, Georg, Bibliographie der Freimaurerei und der mit ihr in Verbindung stehenden geheimen Gesellschaften, Frankfurt/M. 1844, Nr. 542b, ist Moritz der Verfasser. Diese Verknüpfung findet einen zusätzlichen Beleg in der wörtlichen oder sinngemäßen Übernahme von Passagen aus dem Hartknopf Roman in gleichzeitig oder später veröffentlichten Texten. Dazu oben Anm. 6.
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eben dem Hartknopf-Komplex. Grundlegend ist dabei eine immer als persönlich verstandene Suche nach religiöser und philosophischer Gewißheit, die Auseinandersetzung mit bohrenden Zweifeln, das Verlangen nach Sinn, nach Beruhigung und Trost. Die Existenz zweier unterschiedlicher, gleichwohl längerfristig angelegter Tendenzen in Moritz' Gesamtwerk, die hier vorläufig mit den Stichworten Analyse und Verkündung bezeichnet werden, wirft ein bezeichnendes Licht auf die nahezu gleichzeitige Entstehung des Anton Reiser und des Andreas Hartknopf. Der »psychologische Roman« Anton Reiser gilt zu Recht als »diagnostische Pathographie«. 17 Das autobiographische Material wird hier der Erforschung eines psychologischen Phänomens nutzbar gemacht. Der Roman gibt ein zugleich ästhetisches und wissenschaftliches Modell, in dessen Rahmen Genese und Erscheinungsform einer Neurose analysiert und kritisch interpretiert werden. Der Roman dokumentiert einen Prozeß der Selbstfindung, der auf der Handlungsebene keinen befriedigenden Abschluß erfährt und erfahren kann. Die Aporie von individuellem Anspruch auf Selbstverwirklichung und den Verhältnissen einer vorgefundenen gesellschaftlichen Wirklichkeit tritt nur ansatzweise ins Bewußtsein des Protagonisten. Heilungsmodelle der gesellschaftlichen Leiden Reisers, ein Ausgleich zwischen Ich und Welt: sie geraten nicht in Sicht. Aufgehoben erscheinen die Leiden des Protagonisten allein im problematischen Bewußtsein des Erzählers, der mit den Ursachen von Reisers Scheitern auch die Bedingungen der Möglichkeit seines Gelingens reflektiert. Dieser analytischen Reflexion verleiht der Roman zugleich wissenschaftlich und ästhetisch Ausdruck. Der Andreas Hartknopf dagegen folgt wie die »freimaurerischen« Schriften dem Gestus der Verkündung. Der Roman gerät Moritz zum Vehikel philosophischer und gesellschaftlicher Projektion. Sein diagnostischer Wert ergibt sich allenfalls indirekt, etwa aus der Verwendung satirischer Darstellungsformen. Vielmehr liefert der Roman verstärkt noch durch die hagiographische Erzählsituation - therapeutisches Anschauungsmaterial. Doch so wenig der Andreas Hartknopf eine Fortsetzung des Anton Reiser mit anderen Mitteln ist, so wenig darf er als bewußter Gegenentwurf zu diesem gelesen werden. Andreas Hartknopf ist die gattungsspezifische Ausdrucksform für die spekulativ-verkündende Grundhaltung in Moritz' Werk wie der Anton Reiser 17
So Schrimpf,
Nachwort, S. 29*, vgl. dazu auch Müller,
Autobiographie, S. 145-169.
479
für die analytisch-wissenschaftliche Orientierung. Die Parallelität der Entstehung verweist nachdrücklich auf die komplementäre Relation der beiden Texte. Allerdings ist davor zu warnen, diese augenscheinliche Reziprozität vorschnell zu harmonisieren. Keineswegs schreitet Moritz konsequent fort von der Analyse zur Spekulation. Beide Grundhaltungen sind nur unzureichend miteinander vermittelt. Das nicht selten widerspruchsvolle Nebeneinander legt zunächst eine kompensatorische Erklärung nahe: oft genug tröstet die Spekulation über die Ausweglosigkeit des empirischen Befundes hinweg, übertönt der Appell anscheinend unlösbare Fragen. Andererseits - das zeigen gerade auch die HartknopfRomane - wirkt die fehlende Vermittlung von Analyse und Verkündung auch verschärfend: Die Radikalität von Moritz' spekulativem Denken ergibt sich nicht zuletzt aus seiner unmittelbaren Konfrontation mit rücksichtsloser Selbst- und Fremdbeobachtung im Zeichen der Erfahrungsseelenkunde. Bei aller berechtigten Skepsis gegenüber dem selbsternannten Freund und Biographen K. F. Klischnig: sein Bericht über die Entstehung des Andreas Hartknopf, der durch die Briefe von Moritz' Bruder an Jean Paul zusätzliche Bestätigung erfahrt, verdient Beachtung.' 8 Danach hat Moritz den Roman ohne festen Plan begonnen. Die Veranlassung gab ein Gespräch »über Resignation und den höchsten Punkt der Lebensweisheit: Unterwerfung unter die Nothwendigkeit«. Die »Geschichte«, von Klischnig bezeichnenderweise im Bild der »Kette« gefaßt, steht von vornherein im Hintergrund des Romanprojekts. In sie hinein verwebte Moritz »hin und wieder einen Einschlag von maurerischen Ideen«, die Kritik des Basedowschen Philanthropins mußte das »Knüpfgarn« hergeben. Der Bericht verdeutlicht das Problem einer Integration von Reflexion und Erzählung. »Alle seine Lieblingsideen« habe Moritz im Hartknopf aufgestellt, schreibt Moritz' Bruder, »und eben wegen dieser Planlosigkeit um so reiner, da nun weder wahre noch erdichtete Ordnung ihn nöthigte, etwas Fremdartiges einzumischen oder etwas Wesentliches zu übergehen.« 19 Der Roman und mit ihm die Bearbeitung des Geheimbundmaterials hat für diese philosophisch bestimmte Werkintention vorwiegend instrumentelle Bedeutung. 18
19
Klischnig, Erinnerungen, S. 2;6ff., 262. Der Briefwechsel zwischen Jean Paul und den Brüdern Moritz ist abgedruckt in: MoritAndreas Hartknopf (FaksimileAusgabe), S. 425-438. MoritAndreas Hartknopf, S. 436.
480
Der
Andreas
Hartknopf
ist ein philosophischer
Roman,
philo-
sophischer Gehalt w i r d in ihm z u n e h m e n d narrativ vermittelt. A u s erzählter Philosophie wird im R o m a n v e r l a u f allmählich eine philosophische Erzählung. D i e »Dunkelheit« und der »mystische Schleier« mancher Stellen dienen freilich kaum, wie K l i s c h n i g annimmt, der K a s c h i e r u n g einer inkonsistenten, weil planlosen »Geschichte«. Wohl aber enthalten diese Stellen »wenig, v o n dem, was man darin suchte«, nämlich tatsächlich existierende Geheimnisse. D e n R o m a n nämlich verfehlt, w e r den i n s t r u m e n t e l l e n Charakter der ästhetisch realisierten Esoterik übersieht. N o c h ist der R o m a n deutlich M e d i u m einer pädagogisch
intendierten
Vermittlung
philosophisch-spekulativer
Ideen. D e r G e s t u s der V e r k ü n d u n g g e w i n n t im Hartknopf
einen ro-
manhaften Zuschnitt. D i e frühe Rezeption hat eben diesen instrumenteilen Charakter des Geheimbundmaterials im Andreas Hartknopf verkannt. Z w a r stellt der Rezensent der Allgemeinen hitteratur^eitung
1786 fest: »Als R o m a n hat
diese Schrift gewiss keine grossen Verdienste.« 20 D e r Verfasser habe »unter dem Schleier eines R o m a n s « lediglich »wichtige Wahrheiten« zeigen wollen. D o c h vermutet er: »diese Wahrheiten sollen . . . A u f schlüsse . . . über die Freymaurerey seyn.« M ö g l i c h e r w e i s e hat M o r i t z selbst dieses Rezeptionsmuster zu korrigieren versucht. Im Hamburgischen unparteiischen Correspondent en v o m 19. Juli 1786 heißt es: Der Verfasser des >Andreas Hartknopf< hat nicht bloß, wie der Recensent glaubt, die Form des Romans gewählt, um gewisse Begriffe der Freymäurerey darinn einzukleiden, sondern das F r e y m ä u r e r i s c h e in seinem Buch ist s e l b s t n u r E i n k l e i d u n g , unter welcher er g e w i s s e b i s h e r n o c h zu sehr v e r k a n n t e W a h r h e i t e n , auch unter die Classe von Menschen, zu v e r b r e i t e n w ü n s c h t e , denen diese Einkleidung nun einmal lieb ist, und welche ihre Begriffe vom Guten und Schönen an Bilder zu knüpfen sich einmal gewöhnt haben." 20
ALZ, 1786, Nr. 136, Sp. 472. Vgl. auch die Rezensionen der Predigerjahre in ALZ 1791, Nr. 88, Sp. 7oif., und ADB 97, 1791, 2, S. 425-427. In Schillers Thalia 1787, 4. Heft, S. 95-97, gleich im Anschluß an einen Fortsetzungsdruck des Geistersehers, findet sich ein enthusiastisches Gedicht »An den Verfasser Hartknopfs«, das angeblich »von einem ungenannten Frauenzimmer eingeschikt« wurde. Den Tenor verraten die letzten Zeilen: »Nur eins erbitt ich mir von dir - Laß nicht,/am fürchterlichen Stein - am Hochgericht,/des Buches Helden bluten. - Laß sie süß,/im A r m e ihrer Lieben, und des bessern Lichts gewiß,/hinüber schlummern in das Paradieß.« Z u r Rezeption vgl. die Untersuchung v o n Jürgen Peters, Die Romane v o n Karl Philipp Moritz und deren mutmaßliche Leser, Diss. Hannover 1969, S. 82ff.
21
Nach Minder, Glaube, S. 221. Worauf sich Minders Feststellung stützt, daß diese Notiz »ohne Zweifel aber v o n Moritz selbst stammt«, wird nicht ersichtlich.
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Damit ist noch einmal die These der folgenden Interpretation skizziert: Der Andreas Hartknopf ist ein philosophischer Roman. Mit Hilfe einer ästhetisch realisierten Esoterik, die durch eine Bearbeitung des Geheimbundmaterials ermöglicht wird, demonstriert er die Figur des sinnstiftenden Verbergens in pädagogischer Absicht. Der Gestus der Verkündung findet eine romanhafte Gestaltung in der Didaxe des Arcanum. Der Roman steht noch deutlich als Zweckform im Rahmen der aufklärerischen Institution Kunst. Doch erreicht er seinen Zweck schon mittels einer komplexen ästhetischen Struktur. 2.
Programmatische Selbstverständigung im Zeichen des Geheimen: Fragmente aus dem Tagebuche eines Geistersehers
Die 1787, ein Jahr nach dem ersten Hartknopf-Roman, erschienenen Fragmente aus dem Tagebuche eines Geistersehers haben in der Forschung bisher wenig Beachtung gefunden. 22 Das gattungsspezifisch schwer einzuordnende Werk, das noch als Fragment ein Fragment blieb, da Moritz durch die abrupte Abreise nach Italien seinem Verleger die Hälfte des versprochenen Manuskripts vorenthielt, vermag jedoch auf eindringliche Weise den Übergang von der autobiographisch dominierten Selbstverständigung zur pädagogisch intendierten und zunehmend ästhetisch realisierten Verkündung zu demonstrieren. Die Fragmente aus dem Tagebuche eines Geistersehers enthalten zudem in nuce ein Modell enigmatischen Erzählens; mit der schrittweisen Genese dieser den Andreas Hartknopf bestimmenden Erzählweise liefern sie zugleich einen wesentlichen Teil von deren Begründung. Bereits 1780 hatte Moritz anonym Beiträge %ur Philosophie des Lebens aus dem Tagebuche eines Freimaurers veröffentlicht. 23 In der Vorrede wurden die Beiträge näher als »getreue Gemälde der Seele« qualifiziert, die vom Verfasser »eigentlich bloß zu seinem eigenen Gebrauch niedergeschrieben« wurden. (9) Damals hatte Moritz auf jede literarische Einkleidung verzichtet, eine narrative Integration der als autobiographisch eingeführten Reflexionen unterblieb. Der explizit formulierte Anspruch auf Ganzheit - »Man wird finden, daß mehrere Bruchstücke 22 2
Wegweisend wiederum Schrimpf, Nachwort, S. 4Ó*ff. ' Die dritte verbesserte Auflage der Beiträge %ur Philosophie des Lebens von 1791, in der bezeichnenderweise "der Zusatz »aus dem Tagebuche eines Freimäurers« fehlt, ist wieder zugänglich, in: MoritWerke, Bd. 3, S. 7-83. Die folgenden Nachweise beziehen sich auf diese Ausgabe.
482
aus dem Tagebuche des Verfassers hier so zusammengesetzt sind, daß sie gewissermaßen ein Ganzes ausmachen.« (ebd.) - wird keineswegs auf ästhetische Weise eingelöst. Als »Ganzes« erweist sich die Schrift lediglich in Hinblick auf ihren autobiographischen Gehalt und die thematische Kohärenz ihrer Teile. Mit dem Geisterseher geht Moritz einen entscheidenden Schritt weiter. Wohl rekurrieren die Fragmente erneut auf autobiographisches Material, Sprache und Thematik verweisen unverkennbar auf Tagebuchaufzeichnungen des Verfassers. Doch sind sie unzweifelhaft zugleich Bestandteile einer fiktionalen Erzählung. Mit der Tagebuch-Fiktion hat Moritz kaum zufällig einen autobiographischen Erzählrahmen gestaltet; der Übergang von der Reflexionsprosa zur fiktionalen philosophischen Erzählung tritt so deutlich in Erscheinung. Der als Figur nur schwach ausgeprägte Ich-Erzähler beschreibt in einem »Tagebuch über mich selbst, welches ich dreien Freunden hinterlasse« (333) seine Begegnung mit einem Hirtenknaben, dessen Vater, Sonnenberg genannt, vor kurzer Zeit gestorben ist. Einige Aufsätze des Verstorbenen fügt der Erzähler ebenso wie eine Reihe eigener Reflexionen dem Tagebuch ein. Inwieweit dieser nur ansatzweise realisierte Erzählkern Moritz' »Plan eines Briefromans« (Schrimpf) erkennen läßt, bleibt fraglich. Allerdings ist der ausdrücklich vermerkte Adressatenbezug symptomatisch für den programmatischen Charakter der Aufzeichnungen. Als programmatisch erscheinen dabei besonders die »Fragmente« Sonnenbergs, des »Geistersehers«. Dafür sorgt nicht allein ihre sprachliche Gestalt, sondern vor allem ihre Einbettung in den Erzählrahmen. Sonnenbergs Aufsätze geben Antworten auf Zweifel und Fragen, die vom Ich-Erzähler formuliert werden. Mag auch die narrative Vermittlung insgesamt nur schwach ausgeprägt sein (Narration und Reflexion stehen in diesem kurzen Text im Verhältnis von etwa 1 : 3 ! ) , ihre Funktion, die pädagogisch intendierte Überführung zentraler Gegenstände der Reflexion in einen narrativen Zusammenhang, tritt doch deutlich hervor. 24 Dabei 24
Das zentrale Erzählproblem des Texts ergibt sich unverkennbar aus der Schwierigkeit, die Reflexionen in einen narrativen Verlaufszusammenhang zu integrieren. Ein großer Teil der Fragmente ist von Moritz auch an anderen Orten veröffentlicht worden. Vgl. Fragmente, S. 309-522 (Große Loge, Der Trost des Zweiflers, S. 4off.), S. 322-325 {Große Loge, Zweijet und Beruhigung,?). 5off.),S. 351-3 (GroßeLoge, Leben und Wirksamkeit. Bestimmung der Thatkrajt, S. 54ff.), S. 370-379 (Große Loge, Die Unschuldswelt, S. 240fr.), S. 381-391 (Überschneidungen mit Gnothi sauton 8, 1791, 2. St., S. 65-71, Gegenwart und Vergangenheit), S. 391-402 (Große Loge, Des Maurergesellen Wanderschaft, S. 23fr.), S. 403-405 (Große Loge, Die Beständigkeit, S. 36fr.). Als 483
verdienen die figurale Brechung der thematischen Konzepte (IchErzähler, Sonnenberg, der Hirtenknabe), ihre Vermittlung im Rahmen einer pädagogisch dominierten Konfiguration sowie die Bearbeitung des Geheimbundmaterials besondere Beachtung. Schon am Beginn der Erzählung macht sich die Dominanz des philosophisch-pädagogischen Diskurses nachhaltig bemerkbar. Philosophische Betrachtungen des Ich-Erzählers, der auf dem Lande Heilung für seinen »siechen Körper« und seine »verwundete Seele« sucht, bestimmen die Exposition der Geschichte, deren Handlung eine eher untergeordnete Rolle spielt. Eskapistische Züge und der Hang zur Idealisierung des einfachen ländlichen Lebens erinnern, das ist wiederholt bemerkt worden, an Goethes im gleichen Jahr in zweiter Auflage erschienenen Roman Die Leiden des jungen Werther.1'' Die Unterschiede fallen jedoch entschieden schwerer ins Gewicht. Ein pathologischer Befund steht am Ausgangspunkt der philosophischen Diagnose des Tagebuchschreibers. Therapeutische Erwartungen beherrschen die Wahrnehmung der ländlichen Idylle. »Wer rettet mich von dieser Fragesucht, die mich so unwillkürlich anwandelt«? (324) Heilsamen Aufschluß, einen »Ausweg« aus dem »Labyrinthe« des menschlichen Daseins erhofft sich die »kranke Phantasie« des Erzählers von der Natur selbst. Die Handlung setzt ein mit einer frühmorgendlichen Bergbesteigung des Erzählers. Dort, wo er das erhebende Schauspiel des Sonnenaufgangs beobachten will, auf dem Gipfel des Berges, trifft er auf einen Hirtenknaben, der seine Morgenandacht verrichtet. Im hellen Kranz der Sonne sieht dieser seinen nun »verklärten« Vater, mit dem er still Zwiesprache hält. Die Annäherung an Sonnenberg und seinen Sohn steht von vornherein im Zeichen des wunderbaren Geheimnisses. Nicht allein lassen die an Ossian gemahnenden Verheißungen und die kurzgefaßten Lebenslehren, die Sonnenberg seinem Sohn auf einzelnen Papieren hinterlassen hat, den Erzähler »das Resultat meines eignen langen Nachdenkens« wiederfinden. Auch scheint »in dem Antlitz des Hirtenknaben etwas einzuleuchten, das ich erst für bloße Täuschung hielt«. (329) Der merkwürdige »Adel der Seele«, die auratische Erscheinung des Knaben, der in frühester Kindheit die weit entfernt liegende Stadt verließ, um auf dem Lande, in einfachsten Textgrundlage für die Fragmente dient hier und im folgenden: Moritζ, Andreas Hartknopf (Faksimile-Ausgabe). 2 ' Dazu Schrimpj, Nachwort, S. 46*.
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bäuerlichen Verhältnissen in der Obhut des Vaters aufzuwachsen, erregen die Neugierde des Erzählers, der sich nicht enthalten kann, genauere Nachforschungen über das Schicksal dieser beiden wunderbaren Gestalten anzustellen. Das Ergebnis ist zunächst wenig spektakulär. Sonnenberg hat sich vor zwölf Jahren als gemeiner Bauer auf einem kleinen Gut niedergelassen. »Er habe sich Sonnenberg genannt, niemand aber wisse, woher er gekommen sey.« (33of.) Seitdem hat er ein zurückgezogenes Leben geführt. Schweigsam nach außen, widmet er sich ganz der Erziehung seines Sohnes, der nach seinem Tode in die Obhut eines Schäfers gegeben worden sei. Still und nachdenklich, arbeitsam, fromm und gewissenhaft: als »rechtschaffener« Mann galt Sonnenberg in seinem Dorf. »Nichts weniger, als ein Schwärmer.« (327) Und doch gewinnt das Wunderbare auf dieser Folie der Normalität weiter an Kraft. Die bescheidene Bibliothek des Verstorbenen bestätigt die von Anfang an gespürte Nähe des Erzählers zu Gedanken und Lehren Sonnenbergs. Homer und Ossian, Horaz und Milton stehen neben Geßners Idyllen und - den pädagogischen Charakter der Figurenkonstellation noch einmal unterstreichend - Rousseaus Emile. Ein verschlossenes eisernes Kästchen, dessen Schlüssel dem Sohn erst mit Erreichen der Mündigkeit ausgehändigt werden soll, bleibt für Erzähler und Leser ein unaufgelöstes Rätsel. Ein von Sonnenberg verfaßtes Buch hingegen kann der Tagebuchschreiber mit nach Hause tragen: »und als ich nur ein wenig darin geblättert hatte, fand ich einen neuen Busenfreund, ich begrüßte in ihm einen G e i s t e r s e h e r v o n der edlern A r t mit dem ich nun Hand in Hand den Weg meiner Untersuchungen fortwandeln konnte.« (333) Diese Stelle verdient genauere Beachtung. Mit dem »Geisterseher« zitiert Moritz einen zeitgenössischen Sozialcharakter. Die Konzeption der Figur Sonnenbergs und ihre Exposition rekurrieren unverkennbar auf das Geheimbundmaterial, insonderheit auf die pseudo-esoterische Ordensliteratur. Die durch den aristokratischen Zusatz »von der edlern Art« bewirkte behutsame Relativierung tut dem zitierten Nimbus gleichwohl keinen Abbruch. Die auratische Ausstrahlung des Arcanum bleibt erhalten, das Wunderbare, das Sonnenberg umgibt, unzerstört. Nur wird die geheimnisvolle visionäre Kraft jetzt in einen Zusammenhang mit den philosophischen »Untersuchungen« des Erzählers gebracht. Nicht nur der Titel der Schrift findet so eine bezeich485
nende Aufklärung; die philosophische »Geisterseherei« legitimiert mit dem Verfasser des Tagebuchs zugleich den programmatischen Anspruch der »Fragmente«. Sonnenberg nämlich »ist den Weg zum Ziele vor mir vorangegangen - und hat mir den Pfad gebahnt, den ich bald betreten werde. - Ich will mich nun mit seinem Geiste unterreden, so lange ich noch hienieden walle - bis die Scheidewand in Staub zerfällt, die jetzt mein Wesen noch von dem seinigen trennt und eine undurchdringliche Kluft zwischen uns befestiget.« (333) Die hagiographisch anmutende Erzählsituation verweist deutlich auf den Andreas Hartknopf. Hier wie dort gibt es die Vorbildhaftigkeit eines Verstorbenen, dessen Leben, Wirken und Lehre gleichsam literarisch kanonisiert werden. Sonnenberg und sein Sohn gehören ebenso wie Hartknopf, der Grobschmied Kersting und der Gastwirt Knapp zur Gruppe derjenigen, die Jean Paul später als die »hohen Menschen« bezeichnen wird. 26 Eine elitäre Gemeinschaft bildet sich, gestiftet durch einen spezifischen Kultus der Aufklärung, der in den Fragmenten ansatzweise erkennbar wird, seine weitere Ausbildung aber erst im Andreas Hartknopf erfährt. Schmerzhaft fühlt der Erzähler die Exklusivität der Sonnenbergs. Selbst mannigfach im Irdischen gescheitert, scheinen sie ihm »auf Erden wandelnde höhere Wesen zu seyn, die auf alles um sie her einen wunderbaren Schimmer werfen, und diese alltägliche Welt in eine romantische bezauberte Gegend verwandeln, auf dem Flecke, wo sie weilen.« (363^ Die ästhetische Inszenierung des wunderbaren Scheins läßt den Scheincharakter des Wunderbaren vergessen; die »romantische« Projektion wird als verkehrter Ausdruck einer entfremdeten Existenz erkennbar. 27 Auch die erklärte Absicht der Nachfolge vermag den Abstand zu den beiden wunderbaren Gestalten nicht aufzuheben. Gleichwohl verrichtet der Erzähler am folgenden Tag zum ersten Mal seine Morgenandacht auf dem Sonnenberg. Ein langes Gespräch mit dem Hirtenknaben »über einige der erhabensten Gegenstände des Denkens« schließt ''' Vgl. dazu unten 3.1. 27 Wenig später heißt es: »Zu der Geburt eines bleibenden, unzerstörbaren Geistes, gehört nothwendig eine innere Konsistenz und Festigkeit der Gedanken, ein unerschütterliches auf innere feste Persönlichkeit sich gründendes Selbstbewußtseyn; w o dieses fehlt, da findet nicht einmal der Wunsch der persönlichen Fortdauer statt.« (364) Der utopische Charakter der Projektion der »hohen Menschen« ist in der folgenden Formulierung erkennbar: »Es sind Vereinzelungen des allgemeinen Weltgeistes in Menschenkörpern, welche vielleicht in großer Anzahl, ohne dergleichen erhabne Einwohner umherwandeln.« (ebd.) Dazu auch unten 3.1 und 4.
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sich an, ein Gespräch, das zugleich die pädagogischen Grundsätze Sonnenbergs zum Vorschein kommen läßt. Rätselhaft nämlich erscheint, »wie der Hirtenknabe wohl das geworden seyn möchte, was er war, und wie er bei dem was er geworden war, noch bleiben konnte, was er war?« (338) Die »Sparsamkeit mit Worten«, die Erziehung zum disziplinierten Denken und zum überlegten Sprechen gilt dem Erzähler als das Zentrum der »erhabensten Pädagogik« Sonnenbergs, die in seinem Sohn ihr Meisterstück vollbracht hat. Der Hirtenknabe verkörpert »den Ernst und Tiefsinn eines Mannes umgeben mit der Blüthe der Jugend«. (339) Er ist ausgenommen von der fatalen Ungleichzeitigkeit des Lebens, das den vollen Genuß der Seelenkräfte erst in einem Alter ermöglicht, in dem »die erste Blüthe des Lebens schon verwelkt ist.« (340) Und doch folgt die Ausnahme einer natürlichen Regel. Die Natur selbst schafft manches nur um seiner selbst willen; sie schmückt es mit »verschwenderischer Sorgfalt« aus, »nicht sowohl um irgend noch einen fremden Zweck dadurch zu erreichen, als vielmehr, um gleichsam zu zeigen, was sie vermag.« (ebd.) Auffällig ähnelt die Beschreibung der von aller Nützlichkeit befreiten >schönen Seele< des Knaben der Bestimmung der Autonomie des Schönen, die Moritz gleichzeitig in seinen ästhetischen Schriften unternimmt. Das utopische Potential des ästhetischen Versöhnungsparadigmas gewinnt in den >hohen Menschen< der Fragmente und des Andreas Hartknopf konkrete Gestalt. 28 Allerdings versäumt Moritz nicht, den hypothetischen Charakter dieser utopischen Konstruktion zu reflektieren. Sonnenbergs Pädagogik ahmt der Natur nach; aber ahmt sie ihr nicht gerade dadurch nach, daß sie etwas produziert, »was nicht allgemein seyn, sondern in seiner Art einzeln bleiben muß, wenn nicht das Mannesalter der Menschen, und ihre nützliche Bestimmung 28
Vgl. dazu unten 4., bes. S. 5} iff. A n Formulierungen im Andreas Hartknopf und in Das Edelste in der Natur erinnert folgende Stelle: »Einen vollkommnen Menschen hervorzubringen, ist an und für sich schon der höchste Endzweck der Natur; mag dieser vollkommene Mensch nun ich selbst, oder ein anderer seyn, genug, wenn er nur da ist, daß die vollkommene Natur sich in ihm spiegeln kann.« Die Vollkommenheit (356) des »in sich selbst vollendeten« Menschen wird v o n Moritz später in ästhetische Kategorien übertragen. Die ästhetische Reflexion, als Utopie des Ästhetischen verstanden, tritt an die Stelle des Humanitätsideals der Aufklärung. D e r kompensatorische Charakter der philosophisch-ästhetischen Reflexion bleibt nicht verborgen: »Ich muß mir also nun schon aus der N o t h eine Tugend machen, und diß Denken selbst zum Ersatz für die mir nun erst fühlbar gewordene Entbehrung des Gedachten annehmen.« (368)
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untergraben werden soll?« (34of.) Die Ausnahme ist also nicht einfach als Antizipation der neuen Regel zu begreifen. Fragen stehen am Ende der Überlegungen zu Sonnenbergs Pädagogik. Warum etwa ist »alle künftige Lebenswirksamkeit« in den »gegenwärtigen Lebensgenuß« zusammengedrängt? Wie erklärt sich die auffällige Isolation des Hirtenknaben? Warum greift dieses »seiner Natur nach wirkende Wesen« nicht ein in den gesellschaftlichen Zusammenhang der Menschen? Ist dieser Zusammenhang »zu schlecht« oder die Wirksamkeit der Ausnahme »zu gering«? Die Fragen realisieren konsequent die Maximen der Sonnenbergschen Pädagogik, die für Erzähler und Leser zunehmend verbindlich werden. Die »Kunst zu fragen« macht ihr Kernstück aus. Die Antworten, die der Hirtenknabe bzw. die Texte seines Vaters geben, werden zu Probiersteinen der an sie gerichteten Fragen: sie zeigen, ob es gelungen ist, »sie zweckmäßig einzurichten oder nicht«. (338) Dieser dialogische Grundsatz bestimmt die ästhetische Kommunikation der Fragmente insgesamt. Ihr Verständnis hängt entscheidend davon ab, Fragen zu formulieren, auf die sie eine Antwort geben. Der pädagogisch-philosophische Diskurs instrumentalisiert nicht allein die Handlung und die Konfiguration der Erzählung. 29 Der für ihn charakteristische Gestus der Verkündung ist auch in den verschiedenen Textsorten erkennbar, die Moritz, zuweilen nicht ohne Mühe, zu einem fragmentarischen Ganzen fügt. Der sententiöse Charakter der auf Blättchen überlieferten Lebenslehre Sonnenbergs ist schon berührt worden. Immer wieder wird die Erzählung unterbrochen durch eingeschobene »Fragmente«, die im Rahmen der Dokumentfiktion dem Tagebuch Sonnenbergs zugeschrieben werden. Dabei handelt es sich um kurzgefaßte theoretische Erörterungen, programmatische Reflexionen, die, nicht selten mit eigenen Titeln versehen, Antworten geben, die beruhigende Klärung von Zweifeln und Fragen versuchen, die der Ich-Erzähler exponiert hat. Mehr als die Hälfte des Gesamtumfangs der Fragmente besteht aus Texten, die Moritz gleichzeitig oder später in anderen - nicht-fiktionalen - Kontexten veröffentlicht hat.30 Es überrascht daher kaum, daß 29
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Eine pädagogische Konfiguration liegt vor in der Beziehung zwischen Sonnenberg und seinem Sohn, aber auch in der Beziehung zwischen dem Erzähler und Sonnenberg, vermittelt über die Fragmente aus dem Tagebuch und die Gespräche mit dem Hirtenknaben. Vgl. Anm. 24.
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am Ende der Fragmente die Erzählung übergeht in Formen lehrhafter Prosa, die nur noch sehr mittelbar - als Unterrichtsmaterial Sonnenbergs - mit der Geschichte in Verbindung stehen. Pädagogische Exempelgeschichten und Dialoge und eine parabolisch gehaltene Erzählung setzen stark lehrhafte Akzente, die durch die beiden abschließenden Reflexionen Sonnenbergs über den nahen Tod kaum beeinträchtigt werden. Auf den Inhalt der Maximen und Reflexionen, auf die >Erziehung zur Resignation^ wird im Zusammenhang des Andreas Hartknopf einzugehen sein. Festzuhalten bleibt aber, daß Moritz auch in den Fragmenten das zeitgenössische Geheimbundmaterial intensiv bearbeitet hat. Das didaktische Verfahren ist auffällig mit dem Geheimnis verknüpft: die Geste der Verkündung vor allem greift zurück auf die in der pseudo-esoterischen Ordensliteratur vorgeprägte Didaxe des Arcanum. 5 ' Das wurde schon in der Figurenkonzeption sichtbar, gilt aber ebenso für die pädagogische Maxime der »Kunst zu fragen«, die einen zentralen Bestandteil des im Konstitutionenbuch festgehaltenen freimaurerischen Katechismus darstellte.' 2 Sonnenberg war - zumindest eine zeitlang - Freimaurer. Der Erzähler teilt eine Rede mit, die er bei einer Gesellenaufnahme gehalten hat, ebenso ein Logengedicht. (39iff., 403fr.) Beide Texte beteiligen sich - den Rahmen zeitgenössischer Vorstellungen durchaus nicht überschreitend - an der spekulativen Auslegung der maurerischen Symbole und Rituale. Es ist nicht unwahrscheinlich, daß Moritz, der ja selbst einige Zeit das Amt des Bruder Redners bekleidete, hier eine eigene Rede verwendet hat. Die vielsagende Anrede »Geisterseher von der edlern Art« und der enigmatische Hinweis auf Verse in Sonnenbergs Tagebuch, »worin er auf eine geheimnißvolle Art nach einer verlohren gegangenen Rose schmachtet«, verstärken die Mystifikation der Zentralfigur. Sie rücken Sonnenberg bewußt in eine unbestimmte Nähe zu den Gold- und Rosenkreuzern, die die Debatte um das Geheimbundmodell der A u f '' Vgl. dazu oben S. 26iff. ,2 Der freimaurerische Katechismus ist enthalten in Pritchards Die zergliederte FreiMaurerej, abgedruckt in Anderson, Neues Constitutionenbuch, S. 386fr., hier S. 39off. - Die Figurenkonzeption Sonnenbergs hat einen ausgesprochen fragmentarischen Charakter. Im Text finden sich Hinweise darauf, daß Moritz eine Fortsetzung plante. Vgl. etwa: »Die folgenden Aufsätze . . . scheinen . . . für einem [!] seiner Freunde aufgesetzt zu seyn . . . Dieser Freund ist, wie ich von dem Hirtenknaben erfahren habe, ein Prediger, der zwei Meilen von hier wohnt: von ihm hoff ich mehr Auskunft über Sonnenbergs Schicksal zu erhalten.« (406) 489
klärung nachhaltig bestimmt haben. 53 Auch sonst finden sich verschiedentlich freimaurerische Elemente im Text: etwa die auffällige Tageszeiten- und Sonnenmetaphorik, die >orientierende< Funktion der Himmelsrichtung, das mysteriöse Kästchen des Hirtenknaben und die häufige Verwendung bildhafter Redeweisen aus dem Baubereich. Zusammenfassend lassen sich drei Funktionen des Geheimbundmaterials in den Fragmenten benennen: ι. Mit der Didaxe des Arcanum, die stark an die pädagogische Funktion des maurerischen Geheimnisses erinnert, ist das Geheimbundmaterial entscheidend an der zentralen Vermittlungsform des Texts beteiligt. Die ästhetische Kommunikation wird beherrscht von einem pädagogisch-philosophischen Diskurs, der deutlich initiatorische Züge trägt. Die Schranken des Geheimnisses sind durchlässig in dem Maße, wie es gelingt, die Kunst des Verschweigenkönnens als Kunst des Erkennenlassens zu ent-decken. Die vom Geheimnis der Zentralfigur bewirkte diskrepante Informiertheit erzeugt für Erzähler und Leser eine permanente Erwartungsspannung, deren Abbau die Initiation in die Lehre Sonnenbergs vorantreibt. 2. Moritz greift mit den Fragmenten auf das Muster der pseudoesoterischen Ordensliteratur zurück. Diese diente vorgeblich der internen Verständigung Wissender über die Substanz des Arcanum. Aus der Pseudo-Esoterik der Orden wird bei Moritz tendenziell eine ästhetisch-fiktive. Wenn auch die externe Verweisungsdichte relativ gering ist, so rekurriert das ästhetisch inszenierte Geheimnis auf geschützte Wissensbestände; die in den Fragmenten erkennbaren freimaurerischen Elemente waren jedoch in einem solchen Maße profanisiert, daß ihre Veröffentlichung kaum auf Interesse stoßen konnte. Das System von Anspielungen und Zitaten schafft ein vorwiegend textintern relevantes Bedeutungspotential. Die fiktive Esoterik, die anhand des Andreas Hartknopf noch ausführlicher zu untersuchen sein wird, macht sich so die illusionsstiftende und legitimatorische Funktion des maurerischen Geheimnisses zunutze. 54 Nicht nur schafft die Didaxe des Arcanum einen besonderen Zugang zur Lebenslehre Sonnenbergs; diese gewinnt ihre Dignität allererst in der wunderbaren Gestaltung der beiden Protagonisten, die ihrerseits auf figurale Konzepte des Geheimbundmaterials zurückgreifen kann.
" Dazu oben i. Kapitel, V. 54 Z u den Funktionen des maurerischen Geheimnisses vgl. oben S. 79fr.
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3· Schließlich erlaubte die narrative Wertigkeit des Geheimbundmaterials das Zustandekommen einer Geschichte, deren Handlung die autobiographische Substanz zu überschreiten vermag. Neben dem streng dem autobiographischen Schema verpflichteten psychologischen Roman Anton Reiser und neben dem wenig überzeugenden und kaum zufallig abgebrochenen Versuch eines Briefromans (Die neue Cecilia) hat Moritz nur zwei größere Texte in erzählerischer Prosa vorgelegt, die beide in starkem Maße auf Figuren- und Handlungskonzepte des Geheimbundmaterials zurückgreifen: die Fragmente und Andreas Hartknopf. Der schrittweise Übergang von der reflektierenden und autobiographischen Form zur programmatischen philosophischen Erzählung vollzieht sich nicht ohne Grund in einem solchen Rahmen, der eine extreme Instrumentalisierung der Geschichte nach Maßgabe philosophisch-pädagogischer Konzepte ermöglicht. Die anhand der Fragmente aus dem Tagebuche eines Geistersehers beschriebene Genese dieser philosophischen Narration bildet eine zentrale Prämisse für die Analyse und Deutung des Andreas Hartknopf.
3.
Verrätselung: Esoterische und exoterische Strukturen im Andreas Hartknopf
Der Beginn des Romans zeigt Andreas Hartknopf in einer äußerst prekären Situation. Auf dem Weg zu seinem Geburtsort Gellenhausen, bei anbrechender Nacht und schlechtem Wetter, sieht er sich plötzlich einem unüberwindlichen Hindernis gegenüber. Ein breiter Graben versperrt ihm den Weg. »Hier will ich still stehen«, so lauten die ersten, bedeutungsvoll gesetzten Worte des Romans. (3) Die derart heldenhaft praktizierte Standhaftigkeit findet ein unerwartetes Ende, als zwei betrunkene »Weltreformatoren« Hartknopf in den Graben stoßen. »Es war ein Graben, worin kein Wasser war, und durch welchen er gleich anfangs trocknes Fußes hätte durchgehen können, wenn er statt seiner philosophischen Resignation, seine beiden Sinne Gesicht und Gefühl zusammengenommen hätte . . .« (9) Was sich auf den ersten Blick wie eine ironische Brechung des Hartknopfschen Heroismus ausnimmt, wie ein Plädoyer für den sinnlichen Realismus des gesunden Menschenverstandes, erweist sich bei näherem Hinsehen als das gerade Gegenteil. Hartknopfs Reaktion verstößt gegen die Grundsätze einer aufgeklärten Erfahrungspädagogik. Er lernt aus dieser Situation - nichts. Der Gewaltstreich der 491
beiden aggressiven Aufklärer, ein Zögling des Dessauischen Philanthropins der eine, der andere ein aufsässiger Küster, der Basedows Schriften gelesen hat, ficht ihn nicht an. Das aufklärerische Exempel greift zu kurz, die mögliche Desillusionierung verbleibt an der Oberfläche. Hartknopfs philosophische Maxime verdankt sich einem Realismus, der weiter reicht als die kontingent verfaßte Erfahrungswirklichkeit, der sie sich konfrontiert sieht. Die Grabenszene ist die erste in einer Reihe bedeutender Situationen, die die Philosophie der »Resignation« zu vermitteln suchen. Ihr Adressat ist der Leser, der schrittweise eingeweiht wird in die Uberlebensweisheit eines Bundes »hoher Menschen«, dessen Kennwort »Humanitas« heißt. Das Lehrstück des Anfangs, das bleibt festzuhalten, verfügt über einen doppelten Boden. Mehrfach setzt der Erzähler an, die Handlung fortzuführen, ebenso oft aber wird sein Bericht unterbrochen durch gefühlsbeherrschte Einschübe, durch Erinnerungen an den mittlerweile verstorbenen Andreas Hartknopf, mit dem ihn eine empfindsame Freundschaft verband. »Mein lieber Hartknopf«, so heißt es gleich am Eingang des Texts, und in der Tat scheint der Roman beständig in Gefahr zu sein, in einen intim-esoterischen Dialog zwischen Held und Erzähler abzugleiten. »Ich soll v o n dir reden, mein Guter! und rede mit dir - . . . o habt Geduld mit mir meine Leser!. . . denn ich wollte euch doch seine Geschichte erzählen.« (5) Der Erzählvorgang, die häufigen K o m mentare und Wertungen des Erzählers berufen sich auf eine genaue Kenntnis innerer Vorgänge des Helden. »Weil ich das nun alles weiß, und ich mich fast ebenso in seine Seele hineindenken kann, als in meine eigne Seele - so genau waren wir miteinander verwebt - so kann ich nun auch das alles von ihm erzählen . . .« (6) Der Erzähler hatte Hartknopf in Erfurt kennengelernt und war von ihm einige Jahre später in das Geheimnis seines Lebens eingeweiht worden. Die detaillierte Beschreibung der Umstände einer nächtlichen Unterredung in der Nähe der drei Brunnen zu Erfurt läßt keinen Zweifel daran, daß es sich hier um einen initiatorischen, ritualartigen Vorgang handelt. Hartknopf hatte seinen Initianden schon Jahre zuvor, am Steigerwald, einer »ersten Lektion« für wert befunden. Jetzt war er weit genug, mehr zu erfahren. Die Szene der Einweihung ist bedeutend. Im Schoß der Natur, umschlossen vom Himmel, den Blick auf das Kartäuserkloster gerichtet, erlebt der Erzähler eine erste Offenbarung. »Ich ward zum erstenmal auf den rechten L e b e n s f l e c k geführt — Ich lernte die große Weißheit: D e s A l l e s i m M o m e n t . Ich 49 2
ward zum neuen geistigen Leben gebohren.« (128) Was Zufall scheint, darauf legt der Erzähler Wert, hat doch seinen festen Ort »in dem ewigen Zusammenhange, worin mein ganzes Daseyn gegründet ist«: Das nächtliche Zusammentreffen lag in der Konsequenz der » n o t wendigen Glückseligkeit« seines Lebens. (129) Der zeremonielle Charakter der >Lichterteilung< Hartknopfs für den Erzähler nimmt noch zu bei der Einweihung in den dritten Grad, der in dem schon früher ins Auge gefaßten Kartäuserkloster stattfindet. Anspielungen auf das Ritual des dritten Grades, des Meistergrades in der Freimaurerei, sind nicht zu übersehen." Hartknopf besucht im Kloster einen seiner Schützlinge, einen jungen Mann, dessen Jugendfreund vom Blitz erschlagen worden war. »Bei ihm gelang es Hartknopfen das zerknickte Rohr wieder aufzurichten«, eine Formulierung, die auf die freimaurerische Ritualsprache zurückgreift. (146) An diesem Jüngling hat Hartknopf seine »Weißheit« erprobt, mit seiner Heilung gelang ihm sein Meisterstück. »Hartknopf sprach: es werde Licht! und es ward Licht in der trüben Seele des Jünglings.« (153) E r lehrt ihn, seine Glückseligkeit in sich selbst zu finden, eine innere Welt zu entdecken, wo die äußere ihm verschlossen stand. Diesen Ort nun findet Hartknopf »zu einem wichtigen Fortschritt schicklich«. (154) Die anschließende Initiation des Erzählers, die den ersten Roman beendet, folgt frei dem Meisterritual der Freimaurerei. Der Kandidat wird mit der schockierenden Mitteilung konfrontiert, daß er sterben müsse. Dreimal ergreift Hartknopf die Hand des Erzählers, jeweils einen neuen Abschnitt der Zeremonie bedeutungsvoll einleitend. (155,156,158) Der Gedanke an den Tod, an Staub und Verwesung, an das endliche Schicksal des menschlichen Körpers, wirft auf radikale Weise die Frage nach Identität und Fortdauer des Ich auf. »Wer bin ich? Wo bin ich selber? Wo nimmt mein eigentliches Ich seinen Anfang? Wo hört es auf?« (156) Reflexionen über »Haben und Seyn«, den Zusammenhang der menschlichen Existenz schließen sich an. Der Initiand lernt, die Angst vor dem Tod zu verlieren. Das Ritual von Tod und Wiedergeburt lehrt ihn, die kleinste Größe einzunehmen, die Haltung, die ein Überleben ermöglicht. »Je enger der Cirkel von aussen her um mich wird, je mehr diese Denkkraft in sich selber zurückgedrängt wird, desto fester wird der innere Zusammenhang ' ' Zum Meisterritual vgl. Das Freimaurerthum in seinen sieben Graden, S. 87fr. Interessant auch die Deutungen, die Herder diesem Ritual zukommen ließ. Dazu oben S. 20 j ff.,
21}ff.
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meiner Gedanken in sich selber; desto fester und unerschütterlicher das Gefühl meines Daseyns.« (15 8f.) Das »Lied an die Weißheit« bereitet den Erzähler vor, das Innerste der Lehre zu erfahren, das am Ende des Romans offenbart wird: »Die Weißheit, welche Hartknopf seine Schüler lehrte, ist einzig, fest, und unerschütterlich; sie heißt: R e s i g n a tion.« (161) Der Erzählerbericht erzählt nicht allein eine Initiation, er treibt zugleich einen initiatorischen Prozeß voran, der tendenziell den ganzen Roman umfaßt. Der Erzähler gibt sich als ein Wissender zu erkennen, er ist eingeweiht in das Geheimnis des »Bundes der Weißheit und Tugend«. Damit ist das Grundschema der zeitgenössischen Ordensliteratur erfüllt. Obwohl Zutreffendes gesehen und erkannt wurde, greifen Bestimmungen der Erzählsituation, die auf hagiographische Muster, Rettungen, Nekrologe und die Legendenform verweisen, zu kurz.' 6 Zwar gewinnt Moritz mit der Aufspaltung des Erzählvorgangs in eine stärker konturierte Erzählerfigur und eine frei konzipierte fiktionale Romanfigur Freiheiten der Gestaltung, die weit über das autobiographische Schema hinausgehen, ohne daß dadurch die autobiographische Substanz selbst Einbußen erleidet. Andererseits identifiziert sich der Erzähler in einem solchen Ausmaß mit der HartknopfFigur, daß diese Spaltung zeitweilig ganz aufgehoben scheint.37 Die Erzählrede trägt auf weiten Strecken deutlich lehrhafte Züge; ihr sententiös-enigmatischer Charakter verweist auf die Didaxe des Arcanum, der sich Erzähler und Protagonist des Romans verpflichtet wissen. »Das Geheimniß des Erdenlebens meines Hartknopfs ist mir heilig. Mit Ehrfurcht wage ich es, allmälig den Schleier wegzuziehen, der große, der Ewigkeit werthe Thaten vor dem Auge der Welt verhüllte, die dermaleinst im höchsten Glänze schimmern, und die Thaten der Könige verdunkeln werden.« (i9f.) Nicht ohne Grund spielt die Formulierung der Erzählintention auf Lessings Ernst und Falk an, eine Schrift, die das Geheimnis nicht nur als zentralen Gegenstand, sondern als Medium der eigenen Vermittlung begreift. 58 Hartknopfs esoterisch scheinende Sokratik erinnert in manchem an Falks >Lautes Denken mit ' 6 Vgl. dazu Schrimpj., Nachwort, S. 30*ff. 37 Vgl. etwa die Äußerung des Erzählers: »Wenn wir oft so miteinander aus dem Innersten unsrer Seelen heraus sprachen, so war es eine Zeitlang, als ob wir unsre Ichheit miteinander vertauscht hätten, wir fühlten uns ineinander . . .« (59) ' 8 Zu Lessings Ernst und Falk, vgl. oben 1. Kapitel, VI.i.
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einem Freunden »Man denke nicht daß Hartknopf lehrte, wenn er so sprach - nein, Lehren, das war gewiß seine Sache nicht - er warf nur Vermuthungen hin, gab Winke - hüllte die herrlichen Wahrheiten in demüthige Zweifel ein - ließ aus der Dunkelheit der Zweifel allmälich das Licht hervorbrechen.« (126) »Non fumum ex fulgore sed ex fumo dare lucem.« Nicht allein das Horazische Motto des Romans hat mit dieser Formulierung eine einleuchtende Erklärung gefunden; sie enthält auch in nuce das Erzählprogramm des Andreas Hartknopf, das Esoterik und Exoterik aufschlußreich zueinander in Beziehung setzt. Ironische Distanz, satirische Verfremdung und bedingungslose Identifikation kennzeichnen die erzählerische Vermittlung gleichermaßen. Alle genannten Erzählhaltungen aber sind Ausdrucksformen der Didaxe des Arcanum, die den Grundgestus des Romans bestimmt. Sie wird erkennbar schon in der pädagogisch dominierten Konfiguration des Texts. Erziehungsverhältnisse charakterisieren die wichtigsten Beziehungen zwischen den Figuren: Elias und Knapp, Elias und Hartknopf, Knapp und seinem Sohn, Hartknopf und dem Erzähler. Der Roman läßt sich insgesamt als eine Art literarischer Erziehung zur Resignation verstehen. Die Erzählrede, ihre biblische Einkleidung ebenso wie ihr Hang zur freimaurerischen Ritualsprache, werden in diesem Zusammenhang zu untersuchen sein. Aber auch die Geschichte des Texts gewinnt ihr eigentliches Interesse zunächst allein im Rahmen der Arcandidaxe. Der erzählerische Diskurs beschränkt sich in beiden Romanen auf die szenische Vergegenwärtigung weniger markanter Stationen auf Hartknopfs Lebensweg. Der expositorische Charakter, der in der Darstellung von Ankunft und Aufenthalt Hartknopfs in Gellenhausen hervortritt, bestimmt erst recht den weit ausgreifenden Rückblick, der im letzten Drittel der Allegorie beginnt und noch die Handlung der Predigerjahre ganz einbezieht. Hartknopf hatte Gellenhausen mit 19 Jahren verlassen. Seine »Gesellen)ahre« als Grobschmied führen ihn nach Erfurt, wo er ein Theologiestudium aufnimmt und den Erzähler kennenlernt. In Ribbeckenau, wohin ihn die Fürsorge seines mystischen Freundes von G. . . führt, macht er als Prediger die Bekanntschaft der Geschwister Heil. Er heiratet Sophie Erdmuth Heil, verläßt sie jedoch bald nach der Geburt eines Sohnes, um seine Lebenswanderung fortzusetzen. Die Episode in Ribbeckenau, vom Erzähler unter deutlich negativen Vorzeichen als Zeit der Probe und Anfechtung des Helden dargestellt, liegt noch vor dem Besuch in Gellenhausen, mit 495
dem der Roman beginnt. Ihm folgt, nach der nur angedeuteten Hinrichtung Knapps und Elias' auf dem Rabenstein von Gellenhausen, die Initiation des Erzählers ins Innerste der Hartknopfschen Lehre und schließlich der Märtyrertod des Helden, der gleich zu Beginn des Romans sicher vorausgedeutet wird. Der Lebensweg Hartknopfs steht so von vornherein im Zeichen des Todes, der als unausweichliche conditio humana die Kunst des Lebens auf die Probe stellt. Die Präsentation der Handlung im Erzählverlauf macht ihre stark instrumentelle Funktion erneut deutlich. Auffällig ist, daß die vom biographischen Schema her erwartbare chronologische Ordnung aufgegeben ist. Die lebensgeschichtlichen Details werden nach Maßgabe des initiatorischen Prozesses angeordnet, der den Roman strukturiert. Anfang und Ende des ersten Romans korrespondieren so auf bedeutende Weise. Wer am Anfang über die halsstarrige Standfestigkeit des Helden lächelt, der wird spätestens am Ende enttäuscht, als die Initiation die »Weißheit der Resignation« feierlich bestätigt. Auch wird mit dem stets in Erinnerung gebrachten Tod das Ende des Romans nur scheinbar vorweggenommen. Der Tod steht am Anfang. Wer Mut hat ihn zu überwinden, indem er ihn ganz akzeptiert, hat das Leben noch vor sich. Das entscheidende Regulativ der Informationsvergabe ist vielmehr die schrittweise Enthüllung des Geheimnisses, das in Andreas Hartknopf lebendig verborgen liegt. »Resignation« heißt das »große Wort«, dessen ersten Buchstaben Hartknopf buchstabiert, dessen zweiten sein Vetter Knapp jedoch nicht zu ergänzen vermag, da er, wie der Leser, noch nicht zu den »Adepten« der geheimen Lehre zählt. (42>9°) Die Handlung im Andreas Hartknopf übernimmt demnach im wesentlichen drei Funktionen. Sie exponiert die wichtigsten Figuren, und sie stellt eine Reihe exemplarischer Situationen zur Verfügung, die schließlich als Elemente eines initiatorischen Prozesses Bedeutung erlangen. 3. ι
Das Geheimnis der »hohen Menschen« - Aspekte der Figurenkonzeption im Andreas Hartknopf
»Gewisse Menschen nenne ich h o h e oder Festtagmenschen«, teilt der Erzähler in der Unsichtbaren Loge, Jean Pauls erstem, 1791/92 erschienenen Roman, dem Leser mit, und er beeilt sich im »Extrablatt« des 25. Sektors nähere Einzelheiten nachzutragen." Bezeichnender» Jean Paul, Werke, Bd. 1, S. zzii. 496
weise erfolgt die Bestimmung dieser neuen Species zunächst negativ. Nicht den »geraden ehrlichen festen Mann« hat der Erzähler im Auge, nicht den Feinsinnigen oder den »Mann von Ehre«; weder der prinzipientreue Vertreter der Tugend, noch der Leidenschaftlich-Gefühlvolle oder gar der »bloße große Mensch von Genie« ist gemeint. Sondern den mein' ich, der zum größern oder geringem Grade aller dieser Vorzüge noch etwas setzt, was die Erde so selten hat - die Erhebung über die Erde, das G e f ü h l der Geringfügigkeit alles irdischen Tuns und der Unförmlichkeit zwischen unserem Herzen und unserem Orte, das über das verwirrende Gebüsch und den ekelhaften K ö d e r unsers Fußbodens aufgerichtete Angesicht, den Wunsch des Todes und den Blick über die Wolken.
Die aufwendigen Erläuterungen zur Figurenkonzeption sind begründet. Die negativen Abgrenzungen machen deutlich, daß sich Jean Paul hier nicht ohne weiteres auf das Figurenrepertoire der zeitgenössischen Literatur stützen konnte. Mit den »hohen Menschen« verstößt der Autor im Gegenteil gleich zweifach gegen geltende Normen der ästhetischen Produktion. Weder hielt er sich im Rahmen der noch immer verbindlichen Konzeption des »mixed characters«, die der pragmatische Roman der Aufklärung mit seiner Forderung nach psychologischer Wahrscheinlichkeit den abstrakten Idealfiguren des empfindsamen Prüfungsromans, aber auch den satirisch überzeichneten Figuren des niedrig-komischen Narrenromans gegenübergestellt hatte. 40 Noch konnte er sich auf ein konsensfahiges anthropologisches Modell berufen, das diesen neuen fiktionalen Figurenentwurf hätte rechtfertigen können. Mit den »hohen Menschen« zeichnet sich nicht allein eine andere Art der Figurengestaltung ab; zugleich kündigt sich ein epochaler Wandel im Selbstverständnis und in der Legitimation ästhetischer Produkte selbst an, ein Wandel, der die Grenzen der pragmatischen Funktionalisierung von Literatur in der aufklärerischen Institution Kunst zu sprengen droht. Als hervorstechendes Kennzeichen der »hohen Menschen« gilt - in buchstäblicher Auslegung der Metapher - die »Erhebung über die Erde«. Der »Blick über die Wolken« hat allerdings nicht allein die Geringschätzung des irdischen Treibens, die schmerzhafte Anerkennung der unaufhebbaren Diskrepanz zwischen menschlichem Herzen und physischer Existenz, sondern vor allem den »Wunsch des Todes« zur bedingenden Voraussetzung. Der Kult von Tod und Unsterblich4°
Dazu oben z. Kapitel, IV. 1.
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keit charakterisiert Jean Pauls »hohe Menschen« ebenso wie die Moritzschen Lichtfiguren, die im Andreas Hartknopf erstmals Gestaltung fanden. So wenig wie Todesgedanke und Lebensauffassung mit der barocken vanitas-Vorstellung verwechselt werden dürfen, so wenig bedeutet die Konzeption der »hohen Menschen« einen Rückgriff auf die Idealfiguren der romangeschichtlichen Reihe. Jean Pauls Protagonisten - weder Ottomar und Gustav in der Unsichtbaren Loge, noch Viktor und Emanuel-Dahore im Hesperus - verlieren trotz aller >Engelsgleichheit< nicht die Bodenberührung. Bewußt extreme und radikale Verkörperungen menschlicher Möglichkeiten, gleichen sie individualisierten Trägern eines gattungsbezogenen Anspruchs und rücken so die tatsächlichen Bedingungen menschlicher Existenz in ein bezeichnendes Licht. Als wirksame Instrumente einer eher als transzendental denn als transzendent zu verstehenden kritischen Instanz, lassen sie die irdische Misere als solche in den Blick treten. Die scheinbare Weltenferne dieser ästhetischen Konstrukte, die Unschuldigkeit dieser Menschheitselite gerät in Zweifel angesichts des immensen Anspruchs, der in ihnen eine wirksame Formulierung gefunden hat. Pythagoras und Piaton, Sokrates und Antonin, Shakespeare und Rousseau schmücken die illustre Ahnenreihe der »hohen Menschen«, die nicht weniger sein wollen als »die wahre Fürstenbank des h o h e n A d e l s der Menschheit, die geweihte Erde unserer Kugel, Gottes Blumengarten im tiefen Norden.« (222)
Andreas Hartknopf Anklänge an die Konzeption einiger Figuren im Andreas Hartknopf, an Andreas selbst etwa, aber auch an den Gastwirt Knapp und den Rektor Emeritus, vielleicht auch an den Grobschmied Kersting, sind alles andere als zufallig. 41 Jean Pauls - im Gegensatz zur zeitgenössischen Rezeption stehende - hohe Wertschätzung der Hartknopf-Romane ist bekannt. Noch 179 5 zählte er den Andreas Hartknopf neben Herder und Goethe, Sterne und Swift zu seinen »Schoos-Büchern«, die er auswen4
' Vgl. dazu den Briefwechsel zwischen Jean Paul und den Brüdern Moritz, in: Moritz, Andreas Hartknopf, S. 425-438. Zum Verhältnis von Moritz und Jean Paul: Dunnington, Guy Waldo, The Relationship of Jean Paul to Karl Philipp Moritz, Diss. Univ. of Illinois 1958, Hubert, Karl Philipp Moritz, S. 99fr., Unger, Rudolf, Zur seelengeschichtlichen Genesis der Romantik. Karl Philipp Moritz als Vorläufer von Jean Paul und Novalis, in: ders., Zur Dichtungs- und Geistesgeschichte der Goethezeit, Berlin 1944, S. 144-180.
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dig konnte.42 Drei Jahre zuvor hatte er als gänzlich unbekannter Autor seinen Erstlingsroman an Moritz geschickt, in der Hoffnung, dieser würde ihm sein auf geistiger Nähe beruhendes Verständnis nicht versagen. Moritz reagierte begeistert und vermittelte den Druck der Unsichtbaren Loge. Die knappe Korrespondenz zwischen Jean Paul und Moritz macht deutlich, daß für beide kein prinzipieller Unterschied zwischen Leben und Werk besteht: ästhetische Produktion gilt beiden als existentiell. In Hartknopf nimmt Jean Paul Züge Moritz' wahr, in Moritz entdeckt er Hartknopf. Als »hohe Menschen« gelten ihm beide, und es verwundert kaum, daß Moritz nachweislich zum Vorbild für die Lichtgestalt von Viktors Lehrer, Emanuel-Dahore, wurde. 45 Dieser biographisch fundierte Zusammenhang wird bestätigt durch die Tatsache, daß sowohl Moritz als auch Jean Paul für die Gestaltung »hoher Menschen« auf das zeitgenössische Geheimbundmaterial zurückgreifen. Jean Pauls früher Roman rekurriert unverkennbar auf die aufklärerische Geheimbundliteratur, deren Schema von Geheimnis und Aufklärung schon Schillers Geisterseher zugrundelag. 44 Moritz' Hartknopf-Figur verweist dagegen nachdrücklich auf die esoterische Ordensliteratur und die in ihr vorgegebenen Figurenmuster. Jean Pauls enthusiastische Begrüßung der Hartknopf-Romane dürfte sich nicht zuletzt dieser Affinität beider Autoren in der Figurenkonzeption verdanken. Zwar hat die bisherige Untersuchung zeigen können, in welchem Maße Moritz' Romane lehrhafte Tendenzen aufweisen, die in der aufklärerischen Institution Kunst ihren historisch angemessenen Ort besitzen. Doch lenken die wirkungsgeschichtlichen Zeugnisse die Aufmerksamkeit auf Romanstrukturen, die auf ein neues Verständnis von Kunst verweisen. Der epochale Wandel der Institution Kunst ist von Moritz nicht allein theoretisch (Autonomiekonzept), sondern auch praktisch vorangetrieben worden. Die Besonderheit der HartknopfRomane besteht gerade in ihrer historisch einmaligen Engführung von Kunst und Lehre: sie demonstrieren modellhaft eine Art Erziehung durch Kunst, die zwar historisch folgenreich, aber ohne wirkliche Nachfolge geblieben ist. Die Exposition von Hartknopfs Lebensgeschichte folgt dem Modell der Stifterlegenden in der pseudo-esoterischen Ordensliteratur. Sie ist 42
4i 44
So Jean Paul in einem Brief an Moritz' Bruder vom 30. Oktober 1795, in: Morit Andreas Hartknopf, S. 437. Dazu auch Hubert, Karl Philipp Moritz, S. 109fr. Dazu Moritz, Andreas Hartknopf, S. 425f., 43 if. Vgl. dazu unten S. 538fr.
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von vornherein in das System einer sekundären Semantik einbezogen, das jedes lebensgeschichtliche Detail zugleich zu einem Element eines partiell verborgenen esoterischen Bedeutungszusammenhangs macht. 4 ' Das semantische Potential der Erzählung kann nur der ganz erschließen, der einen Zugang zu exklusiven Wissensbeständen hat. Das von Moritz verwendete Zeichenrepertoire aus dem Geheimbundmaterial (Ritualsprache) war allerdings in einem solchen Maße profanisiert, daß seine konventionelle Aufschlüsselung aufmerksamen zeitgenössischen Lesern keine Schwierigkeiten bereiten konnte. Die eigentlichen Konnotationen der pseudo-esoterischen Elemente ergeben sich vielmehr romanimmanent, sie sind das Produkt der Didaxe des Arcanum, die mit Hilfe einer komplexen ästhetischen Struktur realisiert wird. Die Verständnisschwierigkeiten, die der Roman schon bei historischen Lesern hervorrief, resultieren möglicherweise aus einer verfehlten Lesestrategie, die den Roman als pragmatisches Instrument einer esoterischen Kommunikation begriff, an der nur Eingeweihte teilhaben konnten. Die profane Version von Hartknopfs Lebensgeschichte klingt wenig spektakulär. Andreas Hartknopf wird etwa 1740 als Sohn eines Alchemisten und Schmiedes in Gellenhausen geboren. Der Vater fällt nach dem Tod der Mutter dem Drang nach Gold zum Opfer, als gescheiterter Goldmacher stirbt er in Armut und Elend. Andreas, der vom Rektor der Gellenhausener Lateinschule erzogen wird, erlernt ebenfalls das Schmiedehandwerk. Seine Gesellenjahre führen ihn nach Erfurt, w o er ein Theologiestudium absolviert. Als Prediger gelangt er nach Ribbeckenau, verläßt aber nach einigen Jahren Beruf, Frau und Kind, um eine Wanderung mit unbestimmtem Ziel aufzunehmen. Über seinen Märtyrertod, der in der Mitte der achtziger Jahre eintritt, ist Genaueres nicht bekannt. Ganz anders lautet dagegen die >sakrale< Version. Hartknopf wird hier als Nachfahre Thubalkains eingeführt. Der Name des alttestamentarischen Meisters der Schmiedekunst, den schon Andersons Konstitutionenbuch erwähnt und der in einigen freimaurerischen Syste45
Stifterlegenden bestimmen die Wirklichkeit der geheimen Gesellschaften ebenso wie die Ordensliteratur. Vgl. etwa die Stifterlegenden in der Strikten Observanz, oben S. 37fr., und um Saint Martin, dessen Kultbuch Des erreurs et de la Vérité des Hommes rapelés au principe universel de la science im Andreas Hartknopf selbst Erwähnung findet. (142) Zu Saint Martin vgl. LennhoffjPosner, Freimaurer-Lexikon, Sp. 99çf. - Z u r Sinnbildlichkeit des Romans vgl. unten 3.2.
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men als Paßwort benutzt wurde, findet sich nicht nur programmatisch auf einer Petschaft Hartknopfs eingraviert, er schmückt auch das Messer, das der Grobschmied für sich selbst gefertigt hat.46 Der frühe Umgang mit dem Hammer, symbolträchtiges Ritualinstrument der Freimaurerei, stärkt die Arme des Kindes und befähigt es zur kunstvollen Schöpfung. »Der Nagel war das erste, was durch seine Hände aus der unförmlichen Masse Bildung und Form erhielt, die Fugen des zu losen zu befestigen, das zertrennliche unzertrennbar zu machen, und auf die Weise eine Schöpfung neuer Wesen zusammenzuzwängen, worüber die alte Natur erstaunt. . .« (108) Das biographische Detail ist deutlich bildhaft überhöht. Der Erzähler schließt eine längere Passage an, die die abgrundtiefe Ambivalenz des technischen Fortschritts für die menschliche Zivilisation zum Gegenstand hat.47 Das Paßwort der Freimaurer, der Ahnherr des Romanhelden: Thubalkain wird zum Vehikel zivilisationskritischer Reflexion. Kein Zweifel, wer auf einen solchen Ahnen zurückblicken kann, dem ist Großes im Leben zu tun bestimmt. »Von Kindheit auf« ist Hartknopf »geweiht, kein Unheiliges anzurühren, um einst in Unschuld und Reinigkeit des Herzens in dem großen Tempel des Heiligen und Wahren als ein Priester Gottes zu dienen.« Der Vater weicht, vom Golddurst verleitet, von der rechten Straße ab, Andreas soll es beschieden sein, den Stein der Weisen zu suchen und zu finden. Auf Anraten seines vortrefflichen Erziehers, des Rektors Emeritus, erlernt er das Schmiedehand werk. Die Schmiede aber wird ihm »zum Heiligthum der Weißheit und hoher Geheimnisse«. Hier - unter den Händen seines »Lehrers und Meisters« Elias - »bildete sich sein Geist, und wuchs mit seinem Körper, den die Arbeit abhärtete und gesund erhielt.« (i 10) Körper und Geist entfalten sich bei Andreas gleichermaßen; sein Bildungsgang wird der doppelten Bestimmung Rechnung tragen, die ihm mit seiner Geburt beschieden war: »seiner leiblichen Geburt nach war er nehmlich ein Grobschmidt - seiner geistlichen Geburt nach aber ein Priester«. (107) Die fatale Trennung der menschlichen Grundvermögen ist in Andreas exemplarisch aufgehoben.
46
47
Vgl. dazu die Geschichtslegende in Anderson, Neues Constitutionenbuch, und LennhoffjPosner, Freimaurer-Lexikon, Sp. 1599f. Vgl. auch 1. Mose 4,22: »Die Zilla aber gebar auch, nämlich den Thubalkain, den Meister in allerlei Erz und Eisenwerk.« Vgl. dazu auch Fragmente, S. }61f., 373-379, und Versuch einer kleinen praktischen Kinderlogik, S. j8ff. 501
Mit den Gesellenjahren beginnt Hartknopfs Lebenswanderung, die gleichfalls auf das freimaurerische Ritual zurückverweist. Die Lichtsuche des ersten und zweiten Grades ist dort als Wanderung gestaltet, die nach Osten führt. Der Katechismus der Aufnahme und der Beförderung sieht Fragen nach dem Wohin und dem Woher vor, ebenso Türwachen, die dem Kandidaten sein Geheimnis abzulisten suchen.48 Auch die beiden »Weltreformatoren« aus Gellenhausen befragen den nächtlichen Wanderer, »wo er denn eigentlich herkomme, und wo er eigentlich hinwolle?« (16) Die Antwort ist aufschlußreich: »Er kam aus dem Abend, und wanderte gerade gegen den Morgen zu; denn der Weg von Westen nach Osten hatte für ihn etwas so Reitzendes und Anziehendes, das sich zum Theil mit auf seine besondern Meinungen gründete.« (i6f.) Hartknopfs Wanderung kennt kein Ziel, das konkret angebbar wäre. Die Wanderung gilt ihm als beständige Suche, als Lebensform. Hartknopf ist wahrhaft ein peregrinus, wenngleich ohne proteische Gewalt. Früh schon hat er im initiatorischen Prozeß höchste Stufen erreicht. Im »Bund der Weißheit und Tugend« steht er neben seinem Meister, Elias, auf gleicher Stufe. Die Teilhabe am Geheimnis, die Einsicht in die Philosophie der Resignation und ihre weitere Verbreitung, der Hartknopf sich widmet, haben allerdings einen hohen Preis. Wie in Goethes Wanderjahren den Entsagenden im Bund der Wanderer auferlegt wird, nicht länger als drei Tage an einem Ort zu verweilen, so kann auch Hartknopf die Weisheit der Resignation nur leben, wenn er die Permanenz der Bewegung nicht unterbricht. Der Gewinn der Identität hat den Verzicht auf traditionelle Formen sozialer Integration zur bedingenden Voraussetzung. Lokale, ständische oder gar familiäre Bindungen sind dem Wanderer untersagt. Die Freundschaft der Bundesbrüder allein, die aus der Entfernung sich beweist, bleibt davon ausgeschlossen. Hartknopfs Wanderung hat kein erkennbares Ziel, wohl aber eine Richtung. Von Westen nach Osten verläuft die »Direktionslinie« seines Lebens, der Sonne entgegen, die als Lichtsymbol eine wichtige Rolle im freimaurerischen Ritual spielte. Wo diese »Orientierung« fehlt, da ist Hartknopf von seinem Lebensweg abgewichen. Im Zeichen einer solchen Abweichung steht die Episode in Ribbeckenau, die Andreas gleich mehrfach auf die Probe stellt.49 »Durch diese Klemme mußte 48 49
Vgl. oben Anm. 32. Die Topographie des Romans trägt dieser »Orientierung« Rechnung. Gellenhausen, Erfurt und Nesselrode lassen sich auf einer Linie von Westen nach Osten
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Hartknopfs Leben selbst noch durchgehen, ehe es ungehemmt in seinem vollen Glänze leuchten, und wohlthätige Klarheit um sich her verbreiten konnte.« (166) Die Verirrungen des Helden sind also für die Vollendung seines Entwicklungsganges notwendig. In Ribbeckenau erst erfährt seine Lebenskraft sich selbst an Widerständen, die sich ihr mit Macht entgegenstellen. Hier wird Hartknopf einer letzten Selbsttäuschung ausgesetzt, die ihn »zu einem höhern Daseyn vorbereitet«. Anfechtungen durchziehen diese Jahre der Prüfung. Im »Fichtenwald« erlebt Hartknopf »die fürchterlichsten Stunden seines Lebens«: Leere, Selbstermangelung, dumpfes Hinbrüten und gänzliche Teilnahmslosigkeit. (200) »Der Umweg« ist bezeichnenderweise das Kapitel überschrieben, in dem Hartknopf sich der Illusion häuslicher Seßhaftigkeit hingibt, in dem er die »gerade Straße« verläßt, weil »sein Innerstes . . . mit sich selbst im Streit« liegt. Die Idylle mit der Pächterstochter Heil zieht ihn unwiderstehlich an. Doch sind Hartknopfs Jahre als Prediger, Hauswirt und Bienenzüchter gezählt. Schon bald mißrät die überaus künstliche Inszenierung eines kirchlichen Festes, die, »wenn sie geglückt wäre, einen unauslöschlichen Mißlaut in Hartknopfs Leben gebracht hätte.« (261) Das Glück des liebenden Ehemanns und Vaters ist ebenfalls nur von kurzer Dauer. Hartknopf hält die Enge und Beschränktheit des häuslichen Lebens nicht lange aus. »In fürchterlicher Nähe« sieht er die beiden spitzen Kirchtürme der Orte, die seine Existenz begrenzen. »In diesem Bezirke lag nun sein Leben, seine Reisen, sein Wirkungskreiß - hier endigte sich seine Laufbahn, und war wie auf einer Landcharte ihm vorgezeichnet.« (280) Das Ziel scheint erreicht, vollendet die Reise. Keine Aussicht winkt, die Zukunft ist verschlossen. Das Stundenglas zeigt das träge Verrinnen der Zeit an und läßt doch auf mehr nicht hoffen als auf »die einförmige Wiederkehr dessen, was schon da war.« (281) Stillstand widerspricht Hartknopfs großer Bestimmung. »Kaum bin ich ausgelaufen, und finde mich am Ziele.« (291) Ein Schwertstreich schließlich durchschlägt den »labyrinthischen Knoten«, in den sich Hartknopfs Leben verwickelt hatte. Die Trennung von Stand, Beruf und häuslichfamiliärer Idylle ermöglicht ihm die Fortsetzung der Reise auf der orientierenden Direktionslinie seines Lebens: »Und Hartknopf nahm seinen Stab, und w a n d e r t e nach Osten zu.« (303) aufreihen. Vgl. auch: »Er war auch auf seiner ersten Wanderschaft schon einige Meilen nach Osten fortgerückt, hatte sich aber nachher wieder weit gegen Westen geschlagen - da ging ihm denn die Sonne seines Glücks unter, aber sie ging in seiner Seele desto herrlicher auf.« (61)
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Nur wenig ist über die Tätigkeit bekannt, die Hartknopf - nach bestandener Probe - auf seiner Lebenswanderung ausübt. Als Heilender und Lehrender tritt er auf, wobei er beide Rollen - seiner doppelten Bestimmung gemäß - in einer einzigen Kunst zu vereinen vermag. 50 Heilend übt er das formende Handwerk des Grobschmieds aus, lehrend trägt er dem erlernten Predigeramt auf neue Weise Rechnung. Ein »Arkanum für die Schwindsucht« wird ihm nachgesagt, viel größer aber ist das »Arkanum, den Leib des Menschen durch die Seele zu heilen«. (18/19) Seinen Lebensunterhalt verdient er mit dem Schmiedehandwerk; körperliche Arbeit erlaubt ihm die Fortsetzung seines »Laufes gegen Osten«, der »durch wohlthätige Handlungen« gezeichnet ist. (19) Seine Lehrerrolle demonstriert Hartknopf bei der dreifachen Initiation des Erzählers, die ihn als wahren Meister in der Didaxe des Arcanum ausweist. Seine Heilkunst zeigt sich in der Betreuung des jungen Mönches im Kartäuserkloster zu Erfurt. Hier wie auch sonst kommt ihm eine Eigenschaft zustatten, die Menschen selten zu Gebote steht: »So groß war die Herrschaft über die Gemüther, die Hartknopfen angebohren zu seyn schien.« (48) Denkbar weit entfernt scheint eine derartige Figurencharakteristik vom »mixed character«, von der Forderung nach psychologischer Wahrscheinlichkeit und einer Übereinstimmung >mit dem Lauf der NaturAUegorie< und >Symbol< im Denksystem der Goethezeit, in: Formen und Funktionen der Allegorie. Symposium Wolfenbüttel 1978, hg. von Walter Haug, Stuttgart 1979, S. 642-665. Systematische Zugänge ermöglichen: Lotman, Die Struktur literarischer Texte, Eco, Umberto, Einführung in die Semiotik, München 1972, und Kur%, Gerhard, Metapher, Allegorie, Symbol, Göttingen 1982. Vgl. etwa die Feststellung von Langen, Weg, S. 175, daß Moritz' ästhetische Theorie der Bildlichkeit ohne Belang für seine poetische Praxis geblieben sei. Vgl. dazu Schrimpfs differenzierte Kritik in: Nachwort, S. 2o*ff.
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lediglich die zentrale Vermittlungsform des verwendeten Bildmaterials. Trotz einer erkennbaren Verdichtung der allegorischen Bezüge ist die Globalstruktur des ästhetischen Zeichens, als das der Roman aufgefaßt werden kann, nicht allegorisch bestimmt. Das liegt nicht zuletzt daran, daß die allegorischen Teilstrukturen nicht auf einen, sondern auf mehrere Praetexte Bezug nehmen. Neben der freimaurerischen Ritualsprache ist besonders biblisches Bildmaterial verarbeitet worden. Der Andreas Hartknopf stellt also nicht, wie der Untertitel vermuten läßt, eine gattungsförmige »Allegorie« dar. Wohl aber weist die für den Text charakteristische sinnbildliche Verrätselung eine ausgeprägt allegorische Struktur auf. Damit sind grundsätzliche Fragen der Begriffsbestimmung und der Integration allegorisch vermittelten Bildmaterials in fiktionalen ästhetischen Texten berührt. 60 Als allegorischer Text kann der Andreas Hartknopf wegen der auffälligen Frequenz allegorischer Binnenelemente gelten, die ihrerseits zu Teilstrukturen zusammengefaßt sind. Allegorische Bildelemente und -strukturen erlauben grundsätzlich zwei Deutungen, die sich auf den sensus litteralis und den sensus allegoricus beziehen. Das semantisch oder pragmatisch motivierte Verhältnis der beiden Bedeutungsebenen läßt sowohl metonymische wie metaphorische Relationen zu. Wichtige Konstruktionselemente allegorischer Texte sind latente Polysemien, die eine für die Gattung typische semantische Ambiguität hervorrufen. Die Beziehung zwischen initialem Text und allegorischer Bedeutung kann - wie im Andreas Hartknöpf - auch die Form einer systematischen Anspielung annehmen, die durch direkte oder indirekte Zitate oder durch analoge Verweise realisiert wird. Die allegorische Bedeutung ergibt sich dann aus mehr oder minder verbindlichen Praetexten, deren Kenntnis zwingend vorausgesetzt wird. Im Fall des Andreas Hartknopf handelt es sich dabei um die Bibel als autoritative »Heilige Schrift« und um die freimaurerische Ritualsprache bzw. die ihr zugrundegelegten Arcana der geheimen Bünde. Der allegorische Modus als Form indirekten Sprechens setzt daher nicht allein eine pragmatische Kommunikationssituation voraus, sondern auch das Vorhandensein fester kollektiv verankerter Wissensbestände. Allegorische Rede ist prinzipiell sekundär. Verständlich ist 60
Vgl. zur Begriffsbestimmung bes. Kur%, Metapher, Allegorie, Symbol, S. 27-64, aber auch: Blumenberg, Hans, Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt/M. 1981, Haug, Hg., Formen und Funktionen der Allegorie.
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sie nur dem, der über das zu ihrem Verständnis notwendige primäre Wissen schon verfügt. Der allegorische Modus begründet nicht selten die auf das Geheimnis gestützte Exklusivität gesellschaftlicher Teilgruppen. Die Allegorie zählt daher zu den bevorzugten Strategien esoterischer Kommunikation. Die Ritualsprache der Freimaurerei macht von den Möglichkeiten allegorischer Verschlüsselung ausgiebig Gebrauch. Eine solche begriffliche Konzeption der Allegorie widerspricht fundamentalen Gegenstandsbestimmungen ästhetisch-fiktionaler Texte. Zwar kann die ästhetische Kommunikation wie alle anderen Kommunikationsformen als Sendung von Botschaften auf der Grundlage historisch konventionalisierter und kulturell differenzierter Codes (Regelsysteme) verstanden werden. Doch ergeben sich charakteristische Abweichungen, die insbesondere die hier spezifisch aufgehobene pragmatische Kommunikationssituation betreffen. Asthetisch-fiktionale Texte gelten als autoreflexiv; über ihre besondere Referentialität ist oben ausführlich gehandelt worden. 6 ' Sie bilden oberhalb des Systems natürlicher Sprachen »sekundäre modellbildende Systeme« (Lotman). Ästhetische Texte können als ganzheitliche Zeichen begriffen werden, die zwar Elementen der natürlichen Sprache bestehen. Diese werden hier jedoch auf das Niveau von Elementen dieses Globalzeichens reduziert. Die streng hierarchisierte vielstufige Semantik kultischer oder religiöser Texte, deren je nach Einweihungsgrad s u k z e s s i v zugängliche Bedeutungen präzise festgelegt sind, steht im Gegensatz zur Bedeutungsstruktur ästhetischer Texte. In ihnen gehört »jedes Detail und der Text als ganzer . . . zu verschiedenen Relationssystemen und empfangt dadurch gleichzeitig mehr als eine Bedeutung.« 6 * Die g l e i c h z e i t i g e Existenz einer Pluralität zulässiger Bedeutungen bewirkt den spielerischen Effekt, der Eigenart und semantischen Reichtum ästhetischer Texte begründet. Was also bedeutet die Integration praetextuell verbindlicher allegorischer Elemente in einen ästhetisch-fiktionalen Text? Ist die Entschlüsselung esoterischer Wissensbestände eine notwendige, ist sie eine hinreichende Bedingung für ein angemessenes Verständnis des Romans? Grundsätzlich muß gelten, daß die allegorische Figur selbst in ästhetischen Texten kein geringeres Gewicht besitzt als der praetextuell 61
62
Vgl. oben S. 227fr. und grundsätzlich Lotman, Die Struktur literarischer Texte. Ebd., S. 105.
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verbindliche allegorische Gehalt. Die Bedeutung allegorischer Elemente darf auch keineswegs auf den initialen oder den allegorischen Text allein reduziert werden. Vielmehr ist das Zugleich beider Bedeutungsebenen charakteristisch für die Ambiguität des allegorischen Verfahrens im ästhetischen Kontext. Weder die semantische Verschmelzung (Metapher), noch die pragmatische Substitution (Metonymie, Synekdoche), sondern das Zusammenspiel zweier gleichzeitiger Bedeutungen zeichnet die Allegorie in ästhetischen Texten aus. Die Figur selbst gewinnt ihre Funktion einmal aus einer Erweiterung des semantischen Potentials der Geschichte, dann aber auch als eine spezifische Vermittlungsform des erzählerischen Diskurses. Die semantische Ambiguität schafft zudem die Voraussetzung für die esoterische und die didaktische Verwendung der Allegorie, die die Gattungsgeschichte entscheidend bestimmt haben. Das Wissen um den Praetext ist daher wohl eine notwendige, nicht aber eine hinreichende Bedingung für ein angemessenes Verständnis allegorischer Elemente in ästhetisch-fiktionalen Texten. Einzubeziehen ist das romanimmanente Verweisungssystem, das entscheidend am Zustandekommen der Konnotation allegorischen Bildmaterials beteiligt ist. Das gilt auch und gerade dann, wenn das allegorische Verfahren, wie in den Hartknopf-Romanen, im Zeichen der Esoterik steht. Der für die Romane charakteristische Modus indirekten Sprechens rekurriert in starkem Maße auf das Vorbild der freimaurerischen Ritualsprache, die ihrerseits großenteils allegorische Strukturen aufweist. Moritz' Andreas Hartknopf folgt dem Muster der Ordensliteratur im Geheimbundmaterial. Schon dort konnte eine Differenzierung von esoterischen und fingierten, pseudo-esoterischen Texten nachgewiesen werden. 6 ' Diese Pseudo-Esoterik erscheint im Andreas Hartknopf aufgehoben zu einer fiktiven Esoterik. Das bedeutet nicht nur, daß der esoterische Modus ein fiktiver ist; zugleich kommt mit Hilfe dieses Modus eine neue Art esoterischer Fiktion zustande. Die Literarisierung des Geheimbundmaterials in der Ordensliteratur, die Pseudo-Esoterik hat die Ästhetisierung des esoterischen Verfahrens im Roman vorbereitet. Der Übergang beider Formen der Esoterik ist nicht zuletzt ablesbar an der Zahl und dem Gewicht verständniskonstitutiver textexterner Verweise. Die Ordensliteratur als vermeintlich oder tatsächlich pragmatische Kommunikation Wissender bestimmt deutlich den Erwartungs6»
Vgl. oben S. 268fr. 515
horizont, in dem die Hartknopf-Romane von den zeitgenössischen Lesern aufgenommen wurden. In einer Rezension der Predigerjahre aus dem Jahr 1790 heißt es: »Man wandert durch Tropen, Bilder, Allegorien, Mystik eine Zeitlang fort. . . Wenn man aber mühsam Sinn sucht und gar keine deutliche Vorstellung abgewinnen kann, wenn man ganze Seiten ohne Verstand liest, nicht sieht, wie es zusammenhängt, oder zu deutlich sieht, daß es nicht zusammenhängt, daß es nichts als Galimathias ist: so wird der gedultigste Leser verdrüßlich.«64 Die pragmatische Sinnvermutung, unter die die oft allegorisch vermittelte Esoterik der geheimen Bünde gestellt wurde, überträgt sich hier auf den Andreas Hartknopf mit der Folge, daß ein Verständnis ausbleibt. Moritz adaptierte das esoterische Verfahren, er usurpierte mehr oder minder willkürlich allegorische Praetexte aus der freimaurerischen Ritualsprache, ohne daß damit der Kern der eigenen Botschaft schon eine Formulierung gefunden hätte. Die allegorisch vermittelte fiktive Esoterik des Romans will praetextuellen Sinn weder verbergen noch enthüllen. Esoterisches und allegorisches Verfahren stehen vielmehr im Dienst aktueller romanbezogener Sinnstiftung. Sie sind Instrumente der Didaxe des Arcanum, die mit ihrer Hilfe Sinn allererst produziert und vermittelt. Das Motto des Romans läßt die für Esoterik und Allegorie typische Intention einer zweiten Bedeutungsebene erkennen: »Der Buchstabe tödtet, aber der Geist macht lebendig.« Der »Geist« aber ist dem Roman nicht vorgängig: er erwächst einer komplexen ästhetischen Bedeutungsstruktur, die nicht nur auf die natürliche Sprache, sondern auch auf ritualsprachlich konventionalisiertes Bildmaterial produktiv zurückgreift. In Genese und Funktion bildsprachlicher Mittel ergeben sich aufschlußreiche Unterschiede zwischen den Hartknopf-Romanen und dem Anton Reiser. Der »psychologische Roman« verwendet überwiegend figurenbezogene Symbolisierungsverfahren, die ihren Ausgangspunkt in der Wirklichkeitsbeobachtung (Natur, Landschaft) und in der psychologischen Auto-Analyse haben.6' Das allegorische Verfahren des Andreas Hartknopf ist dagegen tendenziell figurenübergreifend. Es rekurriert auf überindividuelle kollektiv verbindliche ritualsprachliche Praetexte, die zudem eine spezifisch ästhetische Objektivation erfah64
65
Zitiert nach Hubert, Karl Philipp Moritz, S. 108. Zur Rezeption vgl. auch Peters, Die Romane. Dazu Langen, Weg, S. 174-176, 182, 215.
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ren. Wesentliche deskriptive und narrative Muster des Romans verdanken sich dem allegorisch-esoterischen Modus, der auf Bestände des Geheimbundmaterials zurückgreift. Die episodenhafte, parataktisch reihende Struktur der HartknopfRomane erweist sich bei näherem Hinsehen als eine lakonisch gefügte Kette bedeutender Bilder. Das wurde schon am Beispiel der lehrstückhaft verdichteten Eingangsszene des Romans sichtbar. Ihr folgen weitere allegorisch strukturierte Situationen: die nächtliche Begegnung auf dem Friedhof, die Bergbesteigung, die Morgenandacht und das Gespräch auf dem Galgenhügel von Gellenhausen. Das »Gasthaus zum Paradies« verweist ebenso über seine initiale Bedeutung hinaus wie die Schmiede, die nicht nur Hartknopfs Kindheit, sondern auch seine Zeit in Ribbeckenau entscheidend prägt. Der Rückblick evoziert weitere bedeutende Orte: den Steigerwald, an dessen Hand die erste Initiation des Erzählers stattfindet, den Platz an den drei Brunnen und das Karthäuserkloster zu Erfurt. Die Predigerjahre schließlich weiten den Ritualraum vollends aus zur allegorischen Landschaft. Die Topographie zwischen Ribbeckenau, Ribbeckenäuchen und Nesselrode, zwischen Torfmoor und Fichtenwald ist durchwegs sinnbildlich strukturiert. 66 Die freimaurerische Ritualsprache hat mit der ihr eigenen Verbindung von Allegorie und Esoterik die Konstitution der Romanwelt beeinflußt. Ritualsprachliche Anspielungen und Zitate - Himmelsrichtungen (Osten, Westen), Gestirne (Sonne, Mond), Tageszeiten (Mittag, Mitternacht), Licht und Finsternis, geometrische Formen (Linie, Kreis, Kubus, Pyramide, der »rötliche Quaderstein«), Erkennungszeichen (Handgriffe, Losungsworte), Zahlen- und Dingsymbolik (Dreizahl, das »zerknickte Rohr«, Gold und Eisen) - geben dem narrativen Verlaufszusammenhang seine eigentümliche sinnbildlich verrätselte Struktur. Auch die Figurenkonzeption ist von einer der Freimaurerei vergleichbaren Handwerksallegorie bestimmt. Das Schmiedehandwerk, das schon in freimaurerischen Ordenslegenden frühe Belege gefunden hat, ist analog zu der Vorstellung des freien Werkmaurers konzipiert. Wie der Freimaurer im übertragenen Sinn den rohen, unbehauenen zum behauenen Stein macht, so läßt der Schmied das glühende Eisen geschmeidig werden; er gibt dem Unförmlichen Bildung und Form und sorgt dafür, daß das Zertrennliche unzertrennbar 66
Vgl. dazu die subtile Darstellung bei Langen, Weg, S. 414-422.
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wird. Eine geistige Neuschöpfung steht im Hintergrund beider Handwerksallegorien. Der Besuch Hartknopfs beim Herrn von G. . . zeigt, wie der allegorisch-esoterische Erzählvorgang bedeutsam abgegrenzte Ritualräume entstehen läßt. (199fr., zioff.) »Hoch Mittag« ist es, als Hartknopf sich vom Pächter Heil verabschiedet, um seinen mystischen Freund aufzusuchen, der drei (!) Meilen entfernt wohnt. Der Weg führt ihn zunächst in eine tote und einförmige Gegend. Hartknopfs Seele entleert sich zu gänzlicher Teilnahmslosigkeit und Passivität. Die Trennung von der kleinen idyllischen Kommunität der Geschwister Heil quält ihn. »Ach Elias!«: mit diesem Seufzer findet die erste Anfechtung des Helden ihr Ende. Das »heilige Dunkel« des Fichtenwaldes, der Schutz bietet vor der sengenden Sonne des Mittags, wird zum Schauplatz eines inneren Kampfes. Die »große leblose Natur« erweitert für kurze Zeit Hartknopfs Gefühl, stürzt aber wenig später seine Seele in einen schrecklichen Konflikt. Noch zeigt er sich der Größe des Toten nicht gewachsen. Das »zarte Gebildete« verdunkelt es, wenn es auch nicht vermag, »das Große in seinem Umfang festzuhalten«: eine bildhafte Vorausdeutung auf die Liebe zu Sophie Erdmuth und auf die idyllische Häuslichkeit, die Hartknopf für kurze Zeit seiner großen Bestimmung entfremden wird. Leere und Fülle, Chaos und Bildung liegen im Widerstreit miteinander. Wie bei seiner ersten Anfechtung zeichnet Hartknopf gedanken- und empfindungslos Figuren in den Sand. Aber diesmal leitet »sein guter Genius« seine Hand und läßt ihn den Namen »Elias« schreiben. »Durch diese trostreichen Züge stärkte die Hand des Engels ihn, und der Kelch gieng dießmal noch vor ihm vorüber.« (202) Das raumzeitliche Gefüge, deskriptive und narrative Momente verdichten sich zu einer esoterisch anmutenden allegorischen Erzählung, die eine doppelte Lesart zuläßt und erfordert. Die biographisch-psychologischen Details sind zugleich Bestandteil eines initiatorischen Prozesses, der den Helden stufenweise seinem Ziel, dem Arcanum der Resignation, näherkommen läßt. Die zweifache Anfechtung hat eine kathartische Funktion: gereinigt tritt der Held schließlich seinem Freund und Bruder gegenüber. Initiatorische Züge bestimmen auch die Annäherung an das Adyton. Die Sonne neigt sich, als Hartknopf den Fichtenwald verläßt. Gerade vor ihm erstreckt sich eine fruchtbare Ebene, die das Dorf Nesselrode in sich birgt. Entfernt zur Rechten befindet sich das herrschaftliche Schloß, dessen Fenster im Glanz der Abendsonne schimmern. Der 518
breite Fahrweg, eine Allee von Weidenbäumen, führt ins Dorf. Der Pfad zum Schloß durchquert ein Ährenfeld. Hartknopf verweilt an der Wegkreuzung. Sein Blick fallt auf das Haus des Herrn von G. . ., der ihn, den Unbekannten und doch Vertrauten, zur »Schule des Kreuzes« geladen hat. Am Fluchtpunkt des Torweges, umschlossen vom Hof, sieht er, über Stufen erreichbar, eine braune Tür, die auffallig absticht von der weißen Vorderfront des Hauses. Die emphatische Beschreibung, die die geometrischen Linien und — bei Moritz äußerst selten — die Farbkontraste herausarbeitet, unterstreicht den Eindruck eines geschlossenen Ritualraums. »Die braune Thür eröfnete sich [!], und Hartknopf blickte beim Strahl der Abendsonne [!] zuerst in dieß Heiligthum [!], das einen Geist umschloß [!], der in seiner sterblichen Hülle weit über die Erde emporragte, und doch in den Bezirk dieser Mauren [!], auf diesen einzelnen Fleck, seine bestimmte Wirksamkeit hingeheftet hatte.« (211) 67 Ein Diener führt Hartknopf in ein grün tapeziertes Zimmer, in dem der Herr von G. . ., wie gewohnt eine Stunde vor Sonnenuntergang, dabei ist, sich den Bart zu rasieren. Der alltägliche Vorgang bricht ironisch das bemüht durchgehaltene Ritual; doch wird damit zugleich Alltägliches einbezogen in den iniatorischen Prozeß. Das Prinzip von »Blasphemie und Sakralisation« (Solle) beweist auch hier seine Gültigkeit. Hartknopf beobachtet, wie »die Schärfe des Scheermessers das Kinn des Greisen umwandelte.« (212) Die nahende Gegenwart des Todes, dessen Gefahr hier rituell beschworen und gemeistert wird, findet in diesem Vorgang einen sinnfälligen Ausdruck. Doch damit nicht genug. Nach und nach enthüllt die potentiell tödliche Prozedur das greise Antlitz; nach und nach werden die Gesichtszüge erkennbar, bis schließlich der Herr von G. . . seinen langersehnten Freund umarmen kann. Die Vereinigung beider, der eine ein Liebhaber der Pyramidalform, ein Anhänger des freimaurerisch besetzten Kubus der andere, beschließt die initiatorische Zeremonie. Der zuweilen ironisch gebrochene allegorisch-esoterische Duktus ist typisch für den Erzählstil des Andreas Hartknopf. Er macht es schwierig, der sinnbildlichen Verrätselung gerecht zu werden. Praetextuelle 67
Bemerkenswert sind die selbsttätige Öffnung der Tür, die bis hier durchgehaltene Sonnenmetaphorik, die die gesamte Annäherung an das Adyton begleitet hat, die sakrale Ortsbestimmung und die gleich zweifach in den Blick gerückte Umgrenzung des geistigen Bezirks. Die bedeutende Annäherung läßt durchgängig eine doppelte Lesart zu.
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Bezüge sind bei vielen, aber nicht bei allen allegorischen Elementen erkennbar. Moritz' esoterische Allegorie dient weit eher der bedeutenden Anspielung als der Bestätigung festgelegter Bedeutungen. Indirekte Zitate und Verweise auf analoge Verfahren der freimaurerischen Allegorieproduktion rufen nicht allein die gattungsbedingte Ambiguität hervor, sie verunsichern den durchwegs sinnvermutenden Leser in hohem Maße. Die Annahme eines »stets bestimmte Bedeutungen meinende[n] Bilder- und Zeichenstils« ist daher eher problematisch und konnte kaum zufällig bisher nicht systematisch nachgewiesen werden. 68 Eine detaillierte Aufschlüsselung des allegorischen Gehalts ist nicht in jedem Fall möglich, und auch dort, wo sie möglich ist, bleibt das kontextuell Gemeinte nicht selten im Dunkeln. Die zeitgenössisch dokumentierte gescheiterte Rezeption läßt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Ein System bilden die ritualsprachlichen Elemente denn auch weniger auf der Ebene einzeln nachweisbarer allegorischer Gehalte; das eigentliche System entsteht vielmehr auf der Ebene der esoterisch-allegorischen Figuren selber. Der bedeutende Gestus übertrifft die im einzelnen vermeinte Bedeutung bei weitem. Die Figur des Verbergens ist grundsätzlich wichtiger als der in einzelnen Bildelementen verborgen liegende Sinn. Das allegorische Verfahren ist Bestandteil des Lehrvorgangs, der den gesamten Roman umfaßt. Die Entdeckung konventionalisierter Bedeutungen hebt die Verunsicherung keineswegs auf. Die Suche nach Sinn enthüllt den »Geist« aus dem »Buchstaben« scheinbar gesicherter Wissensbestände. Ritualsprachliche Klischees werden zu bedeutenden Hüllen neuer Gehalte, die im Roman explizit formuliert werden. Der Kern der Lehre bleibt nicht verborgen. Die sinnbildliche Verrätselung weiht den Leser mit Hilfe einer Reihe lehrhafter Szenen ein in das offenbarte Geheimnis des Romans. Allein im Kontext der ästhetischen Erziehung zur Resignation findet das allegorisch-esoterische Verfahren seine sinnvolle Begründung. Das gilt auch dann, wenn die allegorischen Elemente selbst eine eher narrative Qualität aufweisen. Wanderung und Initiation bilden die wichtigsten Handlungsmuster des Romans. Ihre allegorische Struktur sorgt dafür, daß das biographische Grundmuster des Andreas Hart68
So Schrimpj\ Nachwort, S. 34*, der das sinnbildliche Verfahren des Andreas Hartknopf allzu sehr auf Moritz' eigenen, pejorativ gefárbten Allegorie-Begriff bezieht. E r übersieht dabei die Funktion der Allegorie im Rahmen der Didaxe des Arcanum, deren Kern ja im Roman selbst eine explizite Formulierung findet.
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knöpf zu einer Form höherer Allgemeinheit aufgehoben wird. Die allegorische Folie schafft - ebenso wie die systematische Anspielung auf die Passion - ein zusätzliches Bedeutungspotential, das über die Handlungsebene des Romans kommentierend hinausweist. Aber auch hier verbietet sich eine detaillierte Auflösung, ein dechiffrierendes Verständnis, das sich nach dem Muster der Ordensliteratur selbst unter Sinnzwang stellt, verpaßt den esoterischen Roman: die prekäre Balance zwischen Realismus und Allegorie, zwischen Erzählung und idealem Modell, wie sie schon in der Figurenkonzeption sichtbar wurde. »Das Gleichniß hinkt! sagte Hartknopf - Laß er es hinken! erwiederte der Emeritus.« (84) In der Tat ist die Rede in Gleichnissen wichtiger als der Vergleich oder gar das Verglichene. Exoterik und Esoterik sind im Andreas Hartknopf - anders als im Evangelienbericht des Markus - tendenziell miteinander identisch. Daher kann eine parabolische Gesamtdeutung des Romans, wie sie jüngst Mark Boulby vorgeschlagen hat, nicht überzeugen. »The parable is therefore a fairly straight-forward presentation of the struggle between good and evil, seen primarily in the devoted attempt of a prophet of the Enlightenment (and perhaps also of pansophistic wisdom) to help his fellow men, an endeavour which is frustrated by obduracy, blindness, selfishness and brutality of mind.«69 Weder trifft das vermeintliche Demonstrandum die Grundintention des Romans, noch genügt der Roman dem Nachweis der vorausgesetzten These. Eine streng allegorische Deutung der Globalstruktur reduziert den Text auf unzulässige Weise. Zu Recht hat Boulby dagegen auf eine andere Funktion des Bildmaterials aufmerksam gemacht. In den »mystagogischen« Elementen des Romans sieht er die typische Manifestation eines »cult of Reason« einer Art säkularisierten Religion mit eigenen Ritualen.70 Tatsächlich wird im Andreas Hartknopf ein geheimer Kult der Vernunft praktiziert; der »Bund der Weißheit und Tugend« zelebriert eine merkwürdig okkulte Aufklärung. Erkennungszeichen sind die ritualsprachlichen Entlehnungen aus der Freimaurerei in mehr als einem Sinne. In ihnen gewinnt der Gestus der Verkündung, der die Hartknopf-Romane prägt, eine neuartige Gestalt: den Arcana der Resignation wächst so eine wirksame Aura zu, deren Ausstrahlung das Problem einer genuin 69 70
Boulby, Fringe, S. 230. Ebd.
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philosophischen Legitimation des Programms verblassen läßt. Die rituellen Bilder stiften ein Welt-Bild, dessen vermeintliche Kohärenz schadlos hält für die brüchig gewordenen theologisch-rational bestimmten Weltbilder der frühmodernen Gesellschaft. Zugleich ist mit der esoterischen Bildsprache ein intimer Code gefunden worden, der die Verzerrungen der gesellschaftlichen Kommunikation, die Moritz wiederholt diagnostiziert und kritisiert hat, aufzuheben imstande ist. 71 Das Bildmaterial im Andreas Hartknopf hat weniger wie im Anton Reiser eine analytische, sondern mehr eine synthetisierende Funktion. Eine Art aufklärerischer Mythologie verspricht Ordnung in einer zunehmend als Chaos wahrgenommenen Wirklichkeit. Schon in den rituellen Arcana der geheimen Gesellschaften des 18. Jahrhunderts war die kollektive sozialutopisch anmutende Projektion einer verlorenen Harmonie zu erkennen, der hybride Versuch, Einheit und Ordnung zu stiften, w o der historische und wissenschaftliche Prozeß Vielheit und Unordnung zu schaffen schien.72 Allemal fiel das Versprechen höchster Bedeutsamkeit gewaltiger aus als seine Einlösung, die unbefriedigend bleiben mußte. Michael Titzmann hat auf eine Eigenheit des kulturellen Wahrnehmungsraums der Goethezeit hingewiesen, die derart illusionsgetragene Projektionen verständlicher erscheinen läßt.75 Zeichen resp. ihre Bedeutung wurden apriorisch mit der Realität des Bezeichneten ineins gesetzt. Semiotische und natürliche Sachverhalte waren auf diese Weise tendenziell miteinander identisch. Gerade in okkultistischen Theorien war diese »Semiotisierung des Natürlichen« und »Naturalisierung des Semiotischen« vorbereitet worden. Hier fanden die idealistisch konzipierten Symbol- und Allegorie-Theorien der Goethezeit eine wichtige bewußtseinsgeschichtliche Fundierung. Ästhetische Theorie und poetische Praxis des Bildzeichens bemühten sich, das Desiderat zum vermeintlichen Objekt erklärend, um die Integration des Nicht-Mehr-Integrierbaren: sie versuchten die Welt als eine einheitliche Ordnung zu denken. Das allegorische Verfahren in 71
11 75
Die »Sprache der Empfindungen«, die für Moritz tendenziell identisch ist mit der ästhetischen Kommunikation, hat in dieser esoterischen Bildsprache der HartknopfRomane ein Medium gewonnen, das der Ergänzung durch die kritisch-analytische »Sprache des Verstandes« nicht gänzlich zu entraten braucht. Zum Zusammenhang von Kunst und Lehre, der in der mit dem Roman vorliegenden Erziehung zur Resignation Gestalt annimmt, vgl. unten S. 525fr. Vgl. dazu oben 1. Kap., IV. und Lepenies, Das Ende der Naturgeschichte. Tit^mann, >Allegorie< und >SymbolAllegorie< und >Symbolthe chain of beingMoments< läßt aktivistische Implikationen hervortreten. Moment meint nicht Stillstand, sondern sein genaues Gegenteil, die Bewegung. Walter Benjamin hat in seinem späten geschichtsphilosophischen Fragment Über den Begriff der Geschichte die revolutionäre Potenz radikal vergegenwärtigter geschichtlicher Momente nachgewiesen. »Erst der erlösten Menschheit ist ihre Vergangenheit in jedem ihrer Momente zitierbar geworden. Jeder ihrer ge-
78
Zum Verhältnis zwischen Moritz und der Philosophie im 18. Jahrhundert vgl. Saine, Die ästhetische Theodizee, zum folgenden bes. S. ; iff.
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lebten Augenblicke wird zu einer citation à l'ordre du jour - welcher Tag eberi der jüngste ist.«79 Nun ist bei Moritz von menschlicher Geschichte nicht, wohl aber von Lebensgeschichten von Menschen die Rede, die - noch in ihrer bewußten Negation - auf die Gesellschaftsgeschichte bezogen bleiben. Und der strikte Rat des Lehrers, das unstillbare Glücksverlangen des einzelnen auf den jeder-zeitigen Moment zu konzentrieren, bedeutet nicht allein eine Absage an weitausgreifende Lebenskonzepte, deren permanent aufgeschobene Erfüllung schadlos hält für gegenwärtig erlittene Unbill. In der »großen Weißheit« des »Alles im Moment« artikuliert sich unübersehbar und unerbittlich eine Ideologiekritik, deren Adressat nicht allein der zweckrational organisierte Apparat des absolutistischen Staates, sondern auch schon die etatistisch gesonnene aufklärerische Reformbewegung darstellt, die plan und selbstgerecht die Fortschrittsidee auf den empirischen Verlauf der Geschichte überträgt. Der Herrschafts- und Zwangscharakter utilitaristischer politisch-pädagogischer Reformmodelle wird am Beispiel von Gellenhausen und seinem aufklärerischen Regiment eindrucksvoll demonstriert. Von hier aus betrachtet, gewinnt auch der Kern der Lehre, die Resignation, einen zutiefst ambivalenten Charakter. Resignation bedeutet zunächst einmal: einverstanden sein mit der natürlichen Ordnung der Welt, sich einordnen als tätiges Glied in der Kette der Dinge. Resignation bedeutet aber auch »die Nothwendigkeit, sich der u n v e r n ü n f t i g e n S t ä r k e zu unterwerfen«. (105) Der Weise unterwirft sich der unvernünftigen Stärke, weil er einverstanden ist mit der natürlichen Harmonie der Welt, sich als notwendigen Teil des vernünftigen Ganzen weiß, das die Welt ausmacht und zusammenhält. Nicht einverstanden ist er mit der Stärke der Unvernunft. Der Weise verweigert sich im Gegenteil der kontingent verfaßten Erfahrungswirklichkeit. Das dialektische Lehrstück des Romaneingangs zeigt: er widersteht der unvernünftigen Stärke, ob sie nun in menschlicher (Hagebuck/Küster) oder natürlicher Gestalt (Sturm, Kälte, Regen) auftritt, indem er sich ihr unterwirft. Doch erweist sich dieses Einverständnis letzten Endes als >umwerfenderhabenen Egoismus< Nahrung der aus dem »Wiederfinden desselben Geistes« besteht und die »Unsterblichkeit sichern half: denn er fühlte, daß er sich nie selbst verlieren konnte - Er fand sich wieder, wohin er blickte.« (143) Die aktivistischen Implikationen des resignativen Programms und die subversive Qualität der philosophischen Resignation sind hinreichend deutlich geworden. Beide prägen nicht zuletzt die eigentümlich »negative« Tätigkeit des »Bundes der Weißheit und Tugend«.82 Die Pädagogik Knapps, die für die erzieherische Wirksamkeit des Bundes steht, gibt eine höchst angemessene Antwort auf eine politische und gesellschaftliche Realität, in der die Brauchbarkeit über den Wert des einzelnen Menschen entscheidet. Sie weiß sich im Einklang mit dem »Plan der ewigwürkenden Liebe«, wenn sie den Menschen ihren »einzelnen ächten Werth« zurückgibt. »Tausende müssen sich von Jugend auf gewöhnen, zu denken, daß sie nur um andrer willen, keiner aber um ihrentwillen da ist, und daß sie keinen eignen für sich bestehenden Werth haben.« (98) »Stützen, und nicht Statuen«, lautet der doppelsinnige Wahlspruch der in der Resignation verbundenen pädagogischen Handwerker. Die demonstrative Bescheidenheit kehrt sich - kaum verhüllt — ins Gegenteil um, wenn wenig später die einschlägige Dialektik von Herr und Knecht bemüht wird, um Knapps Verdienst zu umschreiben: »Wer wird dann wohl zweifeln, daß dieser getreue Knecht über vieles wird gesetzt werden, nachdem er hier über weniges getreu gewesen ist.« (98) Die Erziehung ist indessen nicht allein Gegenstand des Romans; der Roman ist das Medium einer gesellschaftlichen Erziehung, die so zugleich als eine ästhetische angelegt ist. Der Roman realisiert die Didaxe des Arcanum. Im Andreas Hartknopf gelingt eine Engführung 8!
Dazu oben S. 506fr. 529
von Kunst und Lehre, die, soweit sich sehen läßt, ohne Vorbild war und ohne Nachfolge geblieben ist. Von einer durch Kunst vermittelten Erziehung zur Resignation läßt sich in mehrfacher Hinsicht sprechen. Die Kunst spielt im Roman eine bedeutende Rolle. 8 ' Weder Handwerker allein, noch Künstler sind die Mitglieder des »Bundes der Weißheit und Tugend«. Die gesellschaftlich getrennten Vermögen, die im Anton Reiser die unvereinbaren Pole des Faktischen und des normativ Erstrebten bilden, sind im Andreas Hartknopf auf neue Weise vereint. Hartknopf trägt seiner doppelten Bestimmung Rechnung, wenn er sein Schmiedehandwerk als Kunst, seine Heil- und Erziehungskunst aber als Handwerk begreift. Kunst und Handwerk nähern sich einander an im Zeichen eines neuartigen Verständnisses des Ästhetischen, das nicht weit entfernt ist von Vorstellungen, wie sie in der Gestaltung der »Pädagogischen Provinz« in Goethes Wilhelm Meisters Wanderjahren ihren Ausdruck gefunden haben.84 Kunst erscheint hier wie dort als ein menschliches Grundvermögen, als ein spezifisches Medium der gesellschaftlichen Kommunikation, dessen Benutzung dem möglich ist, der über elementare Kenntnisse in der »Sprache der Empfindungen« verfügt. Das künstlerische Verfahren bleibt auf eine Nachahmung der Natur bezogen. »Da hatte nun Hartknopf der Natur auf die Spur zu kommen, und das in Kunst zu verwandeln gesucht, was sich sonst nur zuweilen wie durch Zufall ereignete.« (135) Kunst, das ist entscheidend, meint weniger das originelle Ausdrucksvermögen eines künstlerischen Subjekts als das intersubjektiv gerichtete Vermögen zu ästhetischer Kommunikation, deren »wunderbare Wirkung« teils therapeutische, teils lehrhafte Verwendungen ermöglicht. Die »Sprache der Empfindungen«, die das Ganze von Natur und Welt noch unvermittelt zum Ausdruck bringen kann, ergänzt und vervollkommnet die analytisch angelegte »Sprache des Verstandes«. Hartknopf selbst beherrscht die Flöte und das Klavier. Beide Instrumente begleiten seine Tätigkeit als Heilender und Lehrender. Das Blasinstrument, »ganz Ausdruck der Empfindung«, evoziert Affekte und erschließt ansonsten brach liegende Vorstellungs- und Erinnerungsvermögen des Menschen. Das Saiteninstrument, »schon zum 8i
84
Vgl. dazu Schrimpf, Nachwort, S. 65*ff-, hier S. 65 auch schon die Feststellung: »Moritz weist den Weg der ästhetischen Erziehung.«, Hubert, Karl Philipp Moritz, S. ii8ff., Reimers, Die Resignation. Vgl. dazu Goethes Werke. Hamburger Ausgabe, Bd. 8, S. I49ff., 226fr. und bes. S. 244fr.
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Theil den Ideen geweiht«, lehrt die meisten Wissenschaften, Lebensweisheit und Moral. (135/137) Auch die Dichtkunst, das wird ausdrücklich vermerkt, heilt kranke Seelen, sie dient als »Seelenarzenei, wo alles andre fehlschlug«. (138) Nicht in der eigenen Erfindung liegt Hartknopfs größte Stärke, sondern in der wirkungsvollen Reproduktion, in der Deklamation. Befreit vom falschen Zwang zur Originalität, hat er teil am gemeinschaftlichen Gut< der Republik des Geistes. Was auf den ersten Blick wie eine Relativierung des emphatischen Kunstbegriffs des Autonomiepostulats aussieht, erweist sich bei längerem Hinsehen eher als ambivalent. Nicht nur wird das Kunstwerk vom übermächtigen Anspruch seines Schöpfers befreit. Auch wird mit der Auffassung der Kunst als eines harmonischen Ausdrucks des Ganzen der Natur, der durch sich selbst heilsame und lehrhafte Wirkungen zeitigt, eine heteronome Zweckbestimmung implizit zurückgewiesen. Die Einbindung der Kunst in die gesellschaftliche Kommunikation geht durchaus einher mit einer Freisetzung ihrer genuin ästhetischen Potenz. In diesem Sinne ist der Roman selbst als ein Versuch zu werten, die Kunst zum Medium einer gesellschaftlichen Erziehung des Menschen zu machen. Der Andreas Hartknopf läßt interessante Bezüge zur Genese der Autonomieästhetik erkennen, deren früheste Grundlagen Moritz zwischen 1785 und 1788, also in der Entstehungszeit des Romans, entwickelt hat.8' Die vergleichsweise radikale Formulierung, die das Autonomiepostulat bei Moritz fand, verweist auf die problematische Genese dieser Doktrin, die nicht nur eine systematische kunstphilosophische, sondern auch eine sozialpsychologische Begründung erfuhr. Noch in Das Edelste in der Natur von 1786 hatte Moritz den Geist des Menschen, »auf dessen Vervollkommnung alles übrige unablässig hinarbeitet, und in welchem sich die Natur gleichsam selbst zu übertreffen strebt«, als das »Edelste« und »Schönste« in der Natur deklariert.86 Die ' ' Zum Problem der Autonomie vgl. Men%, Egon, Die Schrift Karl Philipp Moritz' »Über die Bildende Nachahmung des Schönen«, Göppingen 1968, Reimers, Poesie, Kaiser, Wolf und Gert Mattenklott, Ästhetik und Geschichtsphilosophie. Die Theorie der Kunstautonomie in den Schriften Karl Philipp Moritzens, in: Mattenklott, Gert und Klaus R. Scherpe, Hg., Westberliner Projekt: Grundkurs 18. Jahrhundert. Die Funktion der Literatur bei der Formierung der bürgerlichen Klasse Deutschlands im 18. Jahrhundert, Kronberg/Ts. ^976, S. 243-271, Bürger, Ursprung, S. 119-130. Saine, Die ästhetische Theodizee, Kap. V I und V I I , und vor allem Gravert, Kunst und Wirklichkeit, S. 78fr., i 4 6ff. 86 Morit^, Schriften zur Ästhetik und Poetik, S. 13-18. Der Aufsatz erschien zuerst in den Denkwürdigkeiten 1786 und wurde später in die Große Loge aufgenommen.
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programmatische Verkündung des Humanitätsideals erfuhr aber zugleich erhebliche Einschränkungen, die sich aus einer erstaunlich hellsichtigen Einschätzung der Lebens- und Arbeitsverhältnisse der frühmodernen Gesellschaft ergaben. Die rudimentärste Form der Arbeitsteilung zwischen K o p f und Hand, der aus der Vergesellschaftung entstehende Zwang zur Selbstentäußerung, die aus fremdbestimmter Arbeit erwachsende Trennung des Menschen von dem Produkt seiner lebendigen Arbeit, die Existenz einander beherrschender gesellschaftlicher Gruppen und vor allem die universale, alle Bereiche des menschlichen und natürlichen Lebens durchdringende instrumentelle Verkürzung der Vernunft, die den Menschen selbst zum bloßen Mittel degradiert: sie alle stehen in offenem Widerspruch zu der Vorstellung einer allmählichen vernünftigen Vervollkommnung des menschlichen Geistes.87 Moritz deutet hier wie auch sonst die jüngere Geschichte zivilisationskritisch als eine Art rückläufiger Anthropogenese. Der kumulative Fortschritt in der Ausbildung einer natur- und menschenbeherrschenden Rationalität weitet den Verdinglichungszusammenhang aus, unter dem die Vergesellschaftung der inneren und äußeren Natur gleichermaßen herrschaftlich organisiert ist. Der Prozeß aufklärerischer Zivilisation entpuppt sich als Bildungsprozeß einer herrschaftlich-instrumentell verkürzten Rationalität, die zunehmend von dem Erfahrungszusammenhang sozialen Handelns Besitz ergreift. »Die herrschende Idee des Nützlichen hat nach und nach das Edle und Schöne verdrängt - man betrachtet selbst die große erhabne Natur nur noch mit kameralistischen Augen, und findet ihren Anblick nur interessant, in so fern man den Ertrag ihrer Produkte überrechnet.« 88 Die
87
Daß im Andreas Hartknopf die Folgen einer sich verselbständigenden instrumenteilen Vernunft vor allem anhand der gesellschaftlichen Organisation der Erziehung exemplarisch demonstriert werden, hat seinen Grund nicht nur im individuellen Erfahrungshorizont des Autors. Die Erziehung muß als eines der frühesten Felder aufklärerischer Herrschaft gelten. Hier zuerst konnte das Selbstverständnis der aufgeklärten Eliten eine programmatische Umsetzung erfahren. Vgl. dazu auch in Das Edelste in der Natur. »Da ζ. B. eine Zeitlang das Erziehungsgeschäft [!] zum herrschenden [!] Gedanken in unsern Köpfen geworden war, so war die Welt, welche erst erzogen werden sollte, das einzige, worauf man sein Augenmerk richtete - die erziehende Welt, welche doch auch nun einmal da war, wurde in Ansehung ihrer eignen Bildung und Veredlung wenig oder gar nicht in Erwägung gezogen.« (ιγί.) Wenig später beklagt Moritz »jene schädliche Absonderung zwischen dem sogenannten gesitteten Theile der Menschen, und dem welcher nicht so heißt«. (18)
88
Moritz, Schriften zu Ästhetik und Poetik, S. 17.
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technisch-instrumentelle Naturbeherrschung wird zum Muster der Vergesellschaftung des Menschen. Aus der Desozialisierung der Natur folgt die Desozialisierung der Gesellschaft. Dagegen insistiert Moritz: »Der einzelne Mensch muß schlechterdings niemals als ein bloß n ü t z l i c h e s sondern zugleich als ein e d l e s Wesen betrachtet werden, das seinen eigenthiimlichen Werth in sich selbst hat. . ,« 89 Er muß »wieder empfinden lernen, daß er um sein selbst willen da ist - er muß es fühlen, daß bei allen denkenden Wesen, das Ganze eben so wohl um jedes Einzelnen willen, als jeder Einzelne um des Ganzen willen da ist.« »Wahre Aufklärung« nämlich, die notwendig eine »allgemeine« ist, besteht darin, daß jeder einzelne Mensch lernt, »sich als den Zweck des Ganzen« zu betrachten. Bezeichnenderweise sind es die gleichen hier auf den Menschen bezogenen Bestimmungen, die wenig später die Grundlage für die Definition des »in sich selbst vollendeten« Kunstwerks, für die Charakteristik einer autonomen, von Gebrauch und Nutzen freien Kunst bilden. 90 Das Autonomiepostulat, das gilt für Moritz und Schiller gleichermaßen, ist negativ bezogen auf eine Entfremdungskritik und die gesellschaftlichen Folgen einer instrumentellen Vernunft. Die Totalität des Kunstwerks repräsentiert den verlorenen >ganzen Menschern, die Autonomie das freie Individuum, das seinen Wert in sich selbst und damit im Ganzen einer natürlich garantierten Weltordnung erfährt. Die ästhetische Kommunikation wird zu einer komplementär angelegten Residualform. Die ihr eigene Form mimetischer Erkenntnis bricht das Monopol begrifflicher Erkenntnis und macht der menschlichen Erfahrung das Besondere in seiner nicht-instrumentellen Form verfügbar. Bei Moritz besitzt das Autonomiepostulat den Charakter einer »ästhetisch gewendeten Lebenslehre«. 9 ' Ihr Ziel hat diese »ästhetische Anthropodizee« (Schrimpf) in der Wiederherstellung eines ganzheitlichen, nicht-entfremdeten Bewußtseins. Der Beitrag der Kunst, der »Sprache der Empfindungen«, besteht dabei aus der umfassenden Aktivierung eines »sinnlich-geistigen Schönheitsempfindens, dessen der Mensch ursprünglich fähig ist.« 92
MoritSchriften zur Ästhetik und Poetik, S. 15, 16, 18. ° Dazu Gravert, Kunst und Wirklichkeit, S. 149. 91 So Gravert, Kunst und Wirklichkeit, S. 86ff., 11 iff.; vgl. auch Reimers, tion, S. 1 0 ; , Lindner, Die Opfer der Poesie, S. 278ff. 92 Gravert, Kunst und Wirklichkeit, S. 1 1 1 . 89 9
Die Resigna-
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Moritz' Bestimmung der Autonomie der Kunst wohnt eine Dialektik inne, die sich keineswegs auf eine starre Gegenüberstellung von Kunst und Lebenspraxis verkürzen läßt. 9 ' Die Freisetzung eines als autonom begriffenen ästhetischen Vermögens hat gesellschaftliche Folgen; das Konzept einer ästhetischen Erziehung steht im Hintergrund von Moritz' Bemühungen um eine Neubestimmung der Kunst. Indem die Kunst ganz auf sich selbst zurückgeführt wird, dient sie der Ausbildung der gesellschaftlichen Natur des Menschen, die in der Kunst zuerst sich verwirklicht sieht. Höher aber kann die Menschheit sich nicht heben, als bis auf den Punkt hin, wo sie durch das Edle in der Handlung, und das Schöne in der Betrachtung, das Individuum selbst aus seiner Individualität herausziehend, in den schönen Seelen sich vollendet, die fáhig sind, aus ihrer eingeschränkten Ichheit, in das Interesse der Menschheit hinüber schreitend, sich in die Gattung zu verlieren. 94
Die verbreitete Vorstellung, das aufklärerische Literaturkonzept verändere sich im Umfeld der französischen Revolution in zwei Richtungen, wobei die eine als die »Instrumentalisierung des moralpädagogisch-operativen Literaturkonzepts«, die andere im Gegenteil als die »Ersetzung des instrumenteil geprägten Literaturbegriffs durch einen kunst- und geschichtsphilosophisch interpretierten: Literatur als Organ der ästhetischen Erziehung des Menschen im Hinblick auf die Vervollkommnung der menschlichen Gattung« gilt, greift zu kurz. 9 ' Sie vereinfacht eine überaus komplexe bewußtseins- und literaturgeschichtliche Entwicklung in unzulässiger Weise. Moritz' Andreas Hartknopf demonstriert eine Engführung von Kunst und Lebenslehre, die eine weitgehende Realisierung genuin ästhetischen Vermögens ermöglicht, ohne daß dabei das operative Literaturkonzept der späten Aufklärung explizit aufgegeben würde. Die Kunst behält ihre gesellschaftlich eingreifende Funktion. Der Roman fungiert als wirksames Medium einer Erziehung des Menschen.
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So aber Kaiser\Mattenklott, Ästhetik als Geschichtsphilosophie, S. 243fr., Bürger, Ursprung, S. 1 1 9 - 1 3 o. Beide Arbeiten verkürzen den Moritzschen Argumentationszusammenhang und gelangen so gelegentlich zu Fehleinschätzungen der Ästhetik der Autonomie. Moriiζ, Über die Bildende Nachahmung des Schönen, in: ders., Schriften zu Ästhetik und Poetik, S. 63-93, hier S. 88. So KaiserjMattenklott, Ästhetik als Geschichtsphilosophie, S. 243f. Ähnlich Lindner, Die Opfer der Poesie, S. 276.
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Stellt sich das Moritzsche Autonomiekonzept in gewisser Hinsicht als eine verkappte, »ästhetisch gewendete Lebenslehre« (Gravert) dar, so erweist sich der Andreas Hartknopf in mancher Hinsicht als die gesellschaftliche Realisierung des ästhetischen Programms in der Fiktion. Transformiert das Autonomiepostulat die Philosophie der Resignation in einen ästhetischen Begründungszusammenhang, so läßt das Programm der Resignation seinerseits deutlich Spuren des Humanitätsideals erkennen, das der ästhetischen Autonomie nachweislich zugrundelag. In den »hohen Menschen« des Andreas H artknöpf erfährt die reflexive Utopie der ästhetischen Autonomie eine sinnlich-konkrete Gestaltung. Die »hohen Menschen«, versammelt in der esoterischen Gemeinschaft des »Bundes der Weißheit und Tugend«, zusammengehalten durch die utopischen Chiffren einer neuen Mythologie »wahrer Aufklärung«, die »hohen Menschen« verhelfen mit der Philosophie der Resignation zugleich einer neuen Lebens-Kunst zu fiktionaler Wirklichkeit. In sich selbst vollendet, realisieren sie jederzeit das Ganze der menschlichen Bestimmung.96 Die Gattung selbst findet in diesen gemeinschaftlich verbundenen Individuen eine vorzeitige Vollendung. »Auf den rechten Lebensfleck geführt«, erfährt der Erzähler: »Der Blick zum Himmel gekehrt, mußte sich von neuem Lichte gestärkt, wieder zur Erde senken - um Dort und Hier Gegenwart und Zukunft in schöne Harmonie miteinander zu vereinen . . . So war alles zusammen bis auf den innersten Gedanken in unsrer Seele ein v o l l e n d e t e s G a n z e . « (i2yf.) Der Gestus der Verkündung hat im Andreas Hartknopf die Form des Romans angenommen. Als Roman realisiert er die Didaxe des Arcanum. Deren Geheimnis ist identisch mit der Erziehung des Menschen zur Resignation. In seiner romanhaften Lebenslehre entwirft Moritz das spekulative Programm einer »wahren Aufklärung«, die die fatalen Folgen einer instrumentell verkürzten Herrschaft der Vernunft über Mensch und Natur aufzuheben sucht.
96
Für Moritz' Zentralfiguren im Andreas Hartknopf gilt stärker noch als für Wieland: »Die Utopien sind dann nichts anderes als Objektivierungsversuche der psychischen Qualitäten von Einzelsubjekten in den sozialen Strukturen. Einzelsubjekte dieser Art sind gleichzeitig die vollkommenste Ausprägung der Möglichkeiten der menschlichen Gattung.« Vgl. Fohrmann, Utopie, Reflexion, Erzählung, S. 53.
535
4· K A P I T E L
Perspektiven der Aneignung des Geheimbundmaterials im Roman am Ende des 18. Jahrhunderts
Der für diese Untersuchung gewählte Rahmen erlaubt es nicht, die weitere Aneignung des Geheimbundmaterials im Roman des späten 18. Jahrhunderts vollständig zu erfassen und - auch nur exemplarisch angemessen zu behandeln. In den neunziger Jahren des 18. Jahrhunderts kam es zur endgültigen Auflösung der aufklärerischen Institution Kunst. Im Horizont der frühromantischen und frühklassischen Bewegung zeichneten sich die Umrisse einer neuen, als autonom begriffenen Institutionalisierung der Kunst in der bürgerlichen Gesellschaft ab. Zur gleichen Zeit traten mit der rapide voranschreitenden Dichotomisierung der Literatur in eine massenhaft verbreitete Trivialliteratur und eine einem elitären Publikum vorbehaltene hohe Literatur die prekären Folgen einer Trennung von Kunst und Lebenspraxis ins öffentliche Bewußtsein. Die ästhetische Kommunikation, noch als periphere in die gesellschaftliche Kommunikation eingebunden, verlor mit der Erhöhung ihres künstlerischen Standards jene gesellschaftliche Wirksamkeit, die sie als das zentrale Medium einer diskursiven Selbstverständigung über Werte, Normen und Verhaltensweisen der bürgerlichen Lebenspraxis im 18. Jahrhundert besessen hatte. Bemerkenswert ist, daß die Aneignung des Geheimbundmaterials für kurze Zeit Gemeinsamkeiten stiftete zwischen den konkurrierenden Epochenkonzepten von Spätaufklärung, Klassik und Romantik, aber auch zwischen der Trivialliteratur und der hohen Literatur der Zeit. Die Feststellung, daß die öffentliche Debatte um das Geheimbundmodell eine Fortsetzung in der Literatur erfuhr, behält ihre Gültigkeit auch für die neunziger Jahre. Doch trat diese Funktion des Geheimbundmaterials zunehmend in den Hintergrund. Als bereits mehrfach literarisch vermitteltes heroisches Zitat erlangte das Geheimbundmaterial Wirksamkeit für eine genuin ästhetische Sinnstiftung im Roman. Die ästhetische Funktionalisierung des Materials, seine Ästhetisierung, die schon in Schillers Geisterseher erkennbar wurde, schritt entschieden voran. Die auffallige Häufung der Bearbeitung des Ge537
heimbundmaterials in hohen Romanen des späten 18. Jahrhunderts ist allein vor dem Hintergrund der gattungsgeschichtlichen Bedürfnislage des Romans angemessen zu erklären. So wie Einzelwerke als Werkantworten auf bestimmte Gattungserwartungen zu verstehen sind, so müssen die Gattungskonzepte als Antworten auf konkrete literarischsoziale Bedürfnislagen gedeutet werden. 1 Abschließend sollen wenigstens die Perspektiven der weiteren Aneignung des Geheimbundmaterials im Roman angedeutet werden. Mit Bedacht wurden dabei drei Romane ausgewählt, die, im Abstand weniger Jahre, zwischen 1793 und 1796 erschienen, höchst unterschiedlichen Epochenkonzepten verpflichtet sind: Jean Pauls Die unsichtbare Loge, Hecks Geschichte des Herrn William Lovell und Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre.
I.
Jean Paul Die unsichtbare Loge
Noch ohne Titel vermutlich hatte Jean Paul im Juni 1792 seinen Romanerstling an Karl Philipp Moritz geschickt. Einen Monat später jedenfalls bat er seinen Freund Christian Otto um Mithilfe bei der »Titelfabrikatur«. Die beigefügte Htelliste und ihre bissig-ironische Kommentierung verraten Jean Pauls überaus kalkulierten Umgang mit den Konventionen des literarischen Marktes und den durch ihn organisierten Lesererwartungen. + Marggrafenpulver. Biograph von Jean Paul - Hohe Oper etc. etc. Aeolsharfe - + die Mumien - . . . + Galgenpater - Der beste bleibt folgender: >die unsichtbare Loge oder die grüne Nachtleiche ohne den 9ten NusknakerAnti-RomanGeschichte< seiner Romane sind vielfach belegt. 10 Im Paragraphen 74 der Vorschule der Ästhetik, in den »Regeln und Winken für Romanschreiber«, heißt es: »Die Geschichte ist nur der Leib, der Charakter die Seele darin [im Roman, M. V.], welche jenen gebraucht, obwohl von ihm leidend und empfangend.« 11 Die »Attrappen-Technik« (Böschenstein) der verwickelten Romanintrigen läßt den Autor Jean Paul als Regisseur erscheinen, der die Geschichte nach Maßgabe abstrakter Konzepte aus zitierbaren Versatzstücken der literarischen Konvention arrangiert. Dieser neuartige Umgang mit Handlung und Personal darf allerdings nicht von vornherein als defizitäre Notlösung betrachtet werden. Das Pro9
Vgl. oben Anm. 2. Dazu Rasch, Wolfdietrieb, Die Erzählreise Jean Pauls. Metaphernspiele und dissonante Strukturen, München 1961, Böschenstein, Bernhard, Jean Pauls Romankonzeption, in: Schweikert, Uwe, Hg., Jean Paul, Darmstadt 1974, S. 530-352, Bosse, Heinrich, Theorie und Praxis bei Jean Paul. § 74 der »Vorschule der Ästhetik« und Jean Pauls erzählerische Technik, besonders im »Titan«, Bonn 1970, Schol%, Rüdiger, Welt und Form des Romans bei Jean Paul, Bern/München 1973. " Jean Paul, Sämtliche Werke, Bd. 5, S. 268. 10
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blematischwerden der Geschichte verrät im Gegenteil ein bemerkenswertes ästhetisches Reflexionsniveau. Aus der Krise der literarischen Spätaufklärung zieht Jean Paul Konsequenzen, die ihn, abseits von den epochalen Bewegungen der Klassik und Romantik, zu neuen Romankonzepten führen, in denen der ästhetische Sinn sich weniger aus der dargestellten Welt ergibt als aus der Art ihrer Darstellung und Reflexion im Roman. Dabei bleibt er der aufklärerischen Tradition durchaus stärker verpflichtet, als häufig angenommen. 1 2 Jean Pauls frühe Romane sind philosophische Romane. Die Romanwelt ist deutlich nach Maßgaben philosophischer Interessen >gemodeltBeseelungDinges an sich< ergibt. »Wir können nicht die wahre Gestalt der Dinge erkennen, oder könnten wir es, so ginge vielleicht das Vergnügen der Sinne darüber verloren - ich gebe also diese Wahrheit auf, denn die Täuschung ist mir erfreulicher.« (351) Und später heißt es, in einer Formulierung, die schon eine erstaunliche Nähe zum philosophischen Gehalt von Fichtes ein Jahr zuvor erschienener Schrift Über den Begriff der Wissenschaftslehre erkennen läßt: Alles, was mir entgegenkommt, ist nur ein Phantom meiner innern Einbildung, meines innersten Geistes, der durch undurchdringliche Schranken v o n der äußern Welt zurückgehalten wird. Wüst und chaotisch liegt alles umher, unkenntlich und ohne F o r m für ein Wesen, dessen K ö r p e r und Seele anders, als die meinigen organisiert wären: aber mein Verstand, dessen oberstes Prinzip der G e d a n k e v o n O r d n u n g , Ursach und Wirkung ist, findet alles im genauesten Zusammenhange, weil er seinem Wesen nach das Chaos nicht bemerken k a n n . (354)
Eine derart psychologisch verkürzte Rezeption der idealistischen Transzendentalphilosophie mußte der philosophischen Intrige neue Nahrung verschaffen. Der Höhenflug des modernen Ikarus findet indessen schon bald ein Ende. »Ich bin in ein Labyrinth geraten«, klagt Lovell in einem Brief an Eduard Burton. »O mir ist, als säß ich in eisernen Banden und träumte vergebens von Befreiung; alles umher, was ich ansehe, wird mir zu einem Geheimnisse, ganz Italien kommt mir wie ein Kerker vor . . .« (360) Die neue Ohnmacht erweist sich als die Kehrseite der angemaßten Allmacht, doch währt auch sie nur eine kurze Weile. Das beständige Wechselbad philosophischer Identitäten befördert die weitere Zerrüt" Dazu auch Wüstling, Hecks »William Lovell«, S. i68ff.
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tung des Helden. Gefangen ist er in einer Spirale höherer und immer höherer Begierden, die einen ruhigen Genuß des Erreichten, eine dauerhafte Zufriedenheit zunichte machen. Die Rosaline-Episode hat zudem die menschenverachtende Konsequenz der Sinnlichkeitsphilosophie vor Augen geführt, die in der Wollust das größte Geheimnis des menschlichen Wesens entdeckt zu haben glaubt. Schließlich bildet die angenommene Kälte des libertinistischen Helden nur die negative Folie für eine neue »magische« Spielart der Schwärmerei, für die die Maschinen des Bundes von größter Bedeutung sind. »Die verschiedenen Gedankensysteme der Menschen sind nur zufallige Kunstwerke, die jeder sich so oder so aufbaut, und mit diesen oder jenen Zierraten aufputzt, je nachdem es ihm gutdünkt.« (467) Der totale Philosophieverdacht Lovells berührt sich auf »wunderbare« Weise mit seinem vermeintlichen Gegenpart, der Gewißheit des Gefühls, das sich auf Glauben gründet. Mit dem »System der Systemlosigkeit«, der letzten Stufe seiner philosophischen Schwärmerei, überwindet Lovell zugleich die eng gesetzten Grenzen der irdischen Existenz. Gefühl und Glauben rehabilitieren den »Hang zum Wunderbaren« und verschaffen dem Helden so einen Zugang zur Geisterwelt; sie lassen die Unsterblichkeit der menschlichen Seele schon im Diesseits erfahrbar werden. Das »Wunder« wird zum neuen Zentrum der Suche nach der Identität. »O und wer bin ich selbst? - Wer ist das Wesen, das aus mir heraus spricht? Wer das Unbegreifliche, das die Glieder meines Körpers regiert?« (468) Der Zeitpunkt rückt unaufhaltsam näher, an dem Andrea Cosimo selbst als »wunderbarer Mann« die Fäden der Intrige weiterspinnt. Wiederum wachsen dem Helden Flügel, Flügel einer »magischen« Schwärmerei, die erst am Ende des Romans, mit der letzten Ent-Täuschung durch den römischen Magier, aufhören werden ihn zu tragen. Andrea Cosimo gerät immer stärker ins Zentrum von Lovells neubegründeter Existenz. »Andrea erscheint mir jetzt als ein Türhüter zu jenem unbekannten Hause, als ein Übergang alles Begreiflichen zum Unbegreiflichen. Vielleicht löst ein Aufschluß alle Rätsel in und außer uns, . . . am Ende verschwindet alle Täuschung, wenn wir auf einen Gipfel gelangen, der der übrigen Welt die höchste und unsinnigste Täuschung scheint.« (487^) Der versprochene Einblick in die Geisterwelt verhilft Lovell zu einem neuen Gefühl von der Welt und ihrer Wirklichkeit. Die Skrupellosigkeit, die der zusehends kriminelle Held in den englischen Verwicklungen unter Beweis stellt, erklärt sich nicht 558
zuletzt vor dem Hintergrund des nun dominanten theatralischen Zugangs zur gesellschaftlichen Wirklichkeit. Die Welt der Normalität erscheint Lovell immer mehr als ein Schauspiel, die Menschen als Marionetten, als willenlose Träger von Rollen, deren Text sie nicht selbst zu verantworten haben. Der Blick hinter die Kulissen, der ihm vom Regisseur in Rom versprochen ist, verhilft dem Helden zu einer neuen Perspektive auf das irdische Geschehen: Die Verächtlichkeit der Welt liegt in ihrer größten Betrübnis vor mir; ich stoße sie nur um so geringschätziger von mir, je wunderbarer ich mir selbst erscheine. Durch meine Ahndungen und seltsamen Gefühle, hat er [Andrea, M. V.] mich vom Dasein einer fremden Geisterwelt überzeugt, ich habe eigenmächtig meinen Zweifeln ein Ziel gesetzt, und ich freue mich jetzt innig, daß ich auf irgendeine Art mit unbegreiflichen Wesen zusammenhänge, und künftig mit ihnen in eine noch vertrautere Bekanntschaft treten werde. (5 34) Bis dahin bewahrt Lovell eine ruhig scheinende Kälte und übt sich selbst im Rollen-Spiel. Hier wie sonst beweist er eine schier unbegrenzte Wandlungsfähigkeit, er demonstriert eine proteische Flexibilität, die gleichwohl jeden wirklichen Wandel zu verhindern weiß. Wie der Prinz in Schillers Geisterseher findet auch Lovell vorübergehend als Spieler eine angemessene Form der Existenz. Noch in der tiefsten Erniedrigung, in der Charge des gedungenen Räubers, aber bleibt seine Erwartung auf den Magier fixiert: »Andrea hat den Schlüssel zu meiner Existenz, und er wird mir wieder ein freieres Dasein aufschließen: er wird mich in eine höhere Welt hinüberziehn und ich werde dann die Harmonie in meinem Innern wieder antreffen.« (635) Umso stärker trifft ihn am Ende die Rache Waterloos/Cosimos, dessen abgründig zynisches Testament die Maske zerreißt und dem Rollenspiel endgültig ein Ende bereitet. Als ein »unzusammenhängender philosophischer Narr« war William Lovell das willkommene Opfer einer philosophisch angelegten und psychologisch versiert ausgeführten Intrige. Die schwärmerische Disposition und die labile Geistesverfassung des Helden boten der Verführungskunst seines Gegenspielers genügend Angriffsfläche. Freilich zeigt sich im Fall William Lovell nur die extreme Zuspitzung einer epochalen Problematik. Das philosophisch-psychologische Experiment, die sozial-pathologische Fallstudie eines Schwärmers besitzt einen erheblichen symptomatischen Wert für die Zeit der Epochenwende. Zwischen Tiecks Romanexperiment und der aufklärerischen
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Fallstudie in Romanform, wie sie etwa in Wielands Schwärmerstudie Peregrinas Proteus vorlag, ergeben sich beträchtliche Unterschiede." 2 Die polyperspektivische Anlage des Briefromans bleibt den gewohnten beruhigenden Fluchtpunkt einer auktorial faßbaren Perspektive weitgehend schuldig. Die Tendenz zum personalen Erzählen radikalisiert die Fallstudie, indem sie sie und ihre Ergebnisse auf erschreckende Weise relativiert. Problematisch wird ja im Laufe des Romans nicht allein der extreme Seelenzustand des Helden, sondern auch die Folie bürgerlicher Normalität, vor der dieser sich bislang beruhigend negativ abhob. Das Problem einer sich selbst durch Spekulation untergrabenden schwärmerischen Persönlichkeit bleibt romanimmanent ohne verbindliche Lösung. Der Leser sieht sich einer sukzessiv stärker werdenden Irritation überlassen. Die Grenzen der Aufklärung werden im William Lovell nicht allein erreicht, sie werden mit beklemmender Konsequenz überschritten. Im Vergleich dazu erscheint der Schluß des Romans, das Testament des Andrea Cosimo und die sich anschließenden ergänzenden Aufklärungen Rosas, als eine inkonsequente Rücknahme. Die plane rationalistische Aufklärung des romanhaften Geheimnisses verdankt sich dem Schema der aufklärerischen Geheimbundliteratur, der Fallstudie des Geheimbundopfers und dem Vorbild des trivialen Geheimbundromans. 13 Die Figurenkonzeption Andreas und die einzelnen Züge der Geheimbundhandlung sind bis ins Detail im Geheimbundmaterial der Zeit vorgeprägt. Heck zitiert im William Lovell die einschlägige literarische Konvention, weil sie sich als überaus fruchtbar für die ästhetische Realisierung seiner philosophisch-psychologisch intendierten Fallstudie des Extremen erweist. Anders als Jean Paul oder Goethe verzichtet er aber auf eine ironische Relativierung der Kolportage des Geheimen, die im William Lovell unvermittelt zur Wirkung gelangt. Die lange vorbereitete Begegnung des Helden mit Andrea Cosimo, bei Sonnenuntergang, vor den Ruinen am Kapenischen Tor, läßt kein Detail aus der Requisite des trivialen Geheimbundromans ungenutzt. Tieck inszeniert mit Andrea Cosimo die literarische Figur des Magiers, wie sie in Starcks Sarpelli, in Schillers Armenier, in Wielands Kerinthus 12
Dazu oben S. 414fr. Dazu oben S. 261-301. Ein in sich abgeschlossenes Zitat der aufklärerischen Geheimbundliteratur ist die Erzählung Balders, S. 335-3 39. Sie ist in Hinblick auf ihre ästhetische Funktionalisierung der Novelle des Sizilianers im Geisterseher vergleichbar. Vgl. dazu oben S. 38off.
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und in zahllosen trivialen Varianten gestaltet worden war. (479-82)14 Die Ubiquität des Alten, seine Fähigkeit, Geister zu zitieren, die zweifache Erscheinung der toten Rosaline: sie entstammen dem wirkungsvollen Repertoire des trivialen Geheimbundromans. Selbst der Briefwechsel zwischen Francesco und Adriano, der die Machenschaften des Magiers kritisch relativiert, verfehlt die ihm zugedachte Wirkung, er steigert lediglich die Erwartung, macht neugierig auf weitere Begebenheiten, die die »unumschränkte Gewalt über alle Gemüter«, die dem »wunderbaren Mann« aus Rom zugeschrieben wird, erneut unter Beweis stellen. (591fr., 653ÍT.) Eine leichte Variation des überkommenen Figurenkonzepts ergibt sich bei Andrea Cosimo nur insofern, als seine Intrige rein privat motiviert ist. Waterloos Rache folgt niederen Instinkten, die sich aus der im Testament nachgereichten Entwicklungsgeschichte seiner Persönlichkeit ergeben. Die Geheimbundhandlung im William Lovell entbehrt jeder öffentlich-politischen Implikation. 1 ' Die Halbherzigkeit des Romanschlusses, die sich nicht zuletzt aus der Privatisierung der extrem klischeehaft kolportierten Geheimbundhandlung erklären läßt, erscheint in jeder Hinsicht problematisch. Der Autor gab hier einem schematischen Zwang zur rekonstruktiven Sinnstiftung nach, dessen aufklärerische Prämissen vom Roman selbst gründlich in Zweifel gezogen wurden. Im Testament Andreas wird ein weiteres Mal das Modell der Fallstudie bemüht, die hier auf eine Sozialpathologie des Verbrechers, auf die Genese einer kriminellen Persönlichkeit ausgerichtet ist.16 Spätestens hier rächt es sich, daß die Gestaltung faszinierender, bis dahin nicht gekannter Bilder philosophischen Grauens nur auf der Folie einer unvermittelt wirksamen Kolportage des Geheimen gelungen ist. Die philosophische Handlung fand in Hecks Bearbeitung des Geheimbundmaterials eine allzu grobe Veräußerlichung. Die Intrige Andrea Cosimos bleibt weit entfernt von der (romantischen) Ambiguität des Armeniers und der schönen Griechin in Schillers Geisterseher, sie läßt aber auch die erzählerische Distanz vermissen, die sich aus der ironischen Relativierung des Geheimbundmaterials in Jean Pauls Unsichtbarer Loge oder in Goethes Lehrjahren 14 15
,6
Dazu oben S. 375, 419fr. Andrea Cosimo weist Elemente der Figurenkonzeption des Schurken aus dem empfindsamen Prüfungsroman in der Nachfolge Richardsons auf, die hier mit dem Geheimbundmaterial kombiniert werden. Dazu wiederum Guret^ky-CornitVersuch, S. 126-173. 561
ergab. Der unvermittelte Rückgriff auf das kolportagehafte Material des trivialen Geheimbundromans hatte in der planen mechanistischen Aufklärung des Schlusses einen hohen Preis. Hermann von Friesen teilt in seinen Erinnerungen mit, daß Tieck das Unangemessene der philosophischen Kolportage durchaus nicht verkannt hat.17 Er hätte ihn, Friesen, im Gespräch auf die betriebsamen geheimen Gesellschaften des 18. Jahrhunderts aufmerksam gemacht. »Das war es, was ihn zu diesem Nebenwerke verführt hatte, ohne daß es ihm doch gelungen wäre, dasselbe auf eine prägnantere Weise dem Ganzen einzuverleiben.« Es scheint, als hätte der Autor bei der Uberarbeitung des Romans für die zweite Auflage 1813/14 versucht, die Geheimbundhandlung soweit wie möglich in den Hintergrund zu drängen. 18 Von 65 im Vergleich zur ersten Auflage gestrichenen Briefen waren 27 solche, die die Geheimbundhandlung im engeren Sinne betrafen. Diese Kürzungsstrategie konnte allerdings nicht lange überzeugen. Die Ausgabe für die Schriften von 1828 nahm 25 der gestrichenen Briefe wieder auf, darunter drei zentrale Dokumente der Geheimbundhandlung, deren Gewicht im Roman nach wie vor dominiert: Die >Gegenprobe< bestätigte indirekt die romankonstitutive Funktion des Geheimbundmaterials. Zu weit war seine ästhetische Funktionalisierung fortgeschritten. Nicht nur die Inszenierung des philosophisch-psychologischen Experiments, die Fallstudie des Extremen war zwingend auf die geheime Intrige angewiesen. Auch der eminent philosophische Handlungsnexus des Romans, sein transzendentaler Erzählhorizont war ohne Rückgriff auf das Geheimbundmaterial nicht zu gestalten. Die extrem zugespitzte Wirklichkeitserfahrung der Generation der Epochenwende, die Folgen ihrer realitätsfernen literarisch-philosophischen Sozialisation fanden in ihm einen sinnfälligen Ausdruck. Der Einbruch des Wunderbaren in die bürgerliche Normalität, die Wahrnehmung der Welt als Theater, die Erfahrung einer intriganten Verfaßtheit der gesellschaftlichen Wirklichkeit, die die schwindelnden Perspektiven der Allmacht und der Ohnmacht des einzelnen eröffnete: sie konnten mit Hilfe des Geheimbundmaterials eindrucksvoll in Szene gesetzt werden. Die ästhetische Funktionalisierung des Geheimbundmaterials stand in 17
18
Friesen, Hermann Freiherr von, Ludwig Heck. Erinnerungen eines alten Freundes aus den Jahren 1825-1842, 2 Bde., Wien 1871, Bd. 2, S. 60. Dazu Hassler, Karl, Ludwig Tiecks Jugendroman »William Lovell« und der »Paysan Perverti« des Restii de la Bretonne, Diss. Greifswald 1902, S. 10-69.
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offensichtlichem Widerspruch zu den trivialen und kolportagehaften Zügen seiner Verarbeitung im William Lovell. Doch war der Widerspruch letztlich nur um den Preis des Romans selbst zu beheben. Der heikle Balance-Akt, den » B e g r i f f einer Maschinerie« wieder aufzuheben, »indem doch die W i r k u n g davon bleibt«, Goethes in den Lehrjahren vollbrachtes Kunst-Stück einer vollständigen ästhetischen Aneignung des Geheimbundmaterials ist Heck nicht gelungen.' 9 Diese strukturelle Inkonsistenz hat den Wert des William Lovell als romanhaftes Dokument der Vorromantik nicht gemindert, möglicherweise hat sie seine Authentizität noch gesteigert. Mit der Fallstudie des Extremen, mit der Charakterstudie eines schwärmerischen Helden, der sich durch fortgesetzte Spekulation selbst untergräbt, hat Tîeck epochales Niemandsland betreten. Die Geschichte des Herrn William Lovell ist keineswegs ein frühes Zeugnis eines modernistisch verstandenen Nihilismus. Die extreme Zuspitzung epochaler Strukturen der Wirklichkeitserfahrung lassen den Roman eher als ein Werk des Übergangs erscheinen, das ex negativo das Epochenkonzept der Romantik vorbereiten und begründen half. Die symptomatische Bedeutung des Geheimbundmaterials für die romanhafte Darstellung zeitgenössischer Bewußtseinsstrukturen hat sich in Hecks Roman ein weiteres Mal bestätigt.
III. Goethe Wilhelm Meisters
Lehrjahre
Mit Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahren ist zwar nicht der Höhepunkt in der Geschichte des >Geheimbundromans< (Haas) erreicht - als einen solchen wird man den Roman schwerlich bezeichnen können - ; wohl aber kulminiert im Wilhelm Meister die ästhetisierende Aneignung des Geheimbundmaterials im Roman am Ende des 18. Jahrhunderts. So wie das Werk im Ganzen als die vollkommenste Realisation der gattungsgeschichtlichen Möglichkeiten des Romans gelten kann, so trägt die in ihm zu beobachtende ästhetische Funktionalisierung des Geheimbundmaterials allen Aspekten der gattungsgeschichtlichen Bedürfnislage Rechnung, die für die Bearbeitung des Geheimbundmaterials im Roman des 18. Jahrhunderts bestimmend gewesen sein dürften. Das gilt für den Wirklichkeitscharakter des Romans, der schon die 19
Briefwechsel %wischen Schiller und Goethe, S. 237.
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ästhetische Realität »als Realisierung eines in sich einstimmigen Kontextes« (Blumenberg) begreift, nicht weniger als für die Gestaltung der »neuen Ritterlichkeit« (Hegel), für das »Wunderbare« nicht weniger als für die Konstruktion eines zugleich kontingente und providentielle Züge tragenden transzendentalen Erzählhorizonts. 1 Der perspektivische Charakter des abschließenden Kapitels erlaubt keine umfassende Darstellung der ästhetischen Funktionalisierung des Geheimbundmaterials in den Lehrjahren. Die folgenden Überlegungen beschränken sich daher auf eine weitere Präzisierung der schon im 2. Kapitel entwickelten These, daß mit der Turmgesellschaft ein zeitgemäßes Zitat des Epischen vorliegt, das durch ein bewußtes Transzendieren der Gattung den Roman zugleich aufhebt und bewahrt.2 Der positive Ausgleich zwischen Ich und Welt, Individuum und Gesellschaft, der sich am Ende des Romans andeutet, gefährdet potentiell den gattungsbedingten Realismus des Romans. Als Roman aber bewahrt sich Goethes Wilhelm Meister gerade dadurch, daß er seine epische Vergangenheit in romanhafter Umgebung aktualisiert. Das epische Zitat verhindert, daß der tendenziell utopische Schluß des Romans den Roman zu einem utopischen macht. Der, wie von Friedrich am Ende ausdrücklich vermerkt wird, unverdient glückliche Ausgang der Handlung, der die Figuren nicht weniger als ihre gesellschaftliche Umwelt überfordert, der utopische Schluß des Romans wird im Gegenteil kritisch aufgehoben in die ästhetische Reflexion als einer Reflexion der Gattung. Erst durch ihre epische Aufhebung bleiben die realistischen Grenzen des Romans als solche gewahrt. Als zeitgemäße Form des Epischen aber erscheint mit der Turmgesellschaft ein ästhetisches Konstrukt, das aus der Bearbeitung des Geheimbundmaterials gewonnen wurde. '
2
Vgl. dazu oben S. 3 1 1 - 5 4 1 . Mit dem Grad der Ästhetisierung des Geheimbundmaterials hängt es zusammen, daß die ergiebigsten Arbeiten zur Untersuchung seiner Funktion im Roman nicht unter diesem Titel firmieren. Vgl. etwa Baioni, Giuliano, »Märchen« - »Wilhelm Meisters Lehrjahre« - »Hermann und Dorothea«. Zur Gesellschaftsidee der deutschen Klassik, in: Goethe-Jahrbuch 92, 1975, S. 73-127, Blessin, Stefan, Die radikal-liberale Konzeption von »Wilhelm Meisters Lehrjahren«, in ders., Die Romane Goethes, Königstein/Ts. 1979, S. 11-58, Berger, Albert, Ästhetik und Bildungsroman. Goethes »Wilhelm Meisters Lehrjahre«, Wien 1977, Müller, Der Zufall im Roman, Sagmo, Ivar, Bildungsroman und Geschichtsphilosophie. Eine Studie zu Goethes Roman »Wilhelm Meisters Lehrjahre«, Bonn 1982. - Eine umfassende Darstellung der Funktion des Geheimbundmaterials im Wilhelm Meister steht trotz der verdienstvollen Untersuchung von Rosemarie Haas, Die Turmgesellschaft, noch immer aus. Dazu oben S. 326f.
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Epische Zitate finden sich schon in Goethes erstem Roman, in Die Leiden des jungen Werthers.'' Sie sind hier ein wesentlicher Bestandteil des Systems literarischer Anspielungen und Zitate, das dem Roman eine zusätzliche Ebene der Reflexion und des Kommentars eröffnet. Die auf Homer und Ossian gerichteten literarischen Zitate des Epischen transzendieren tendenziell Handlungsstruktur und Figurenkonzeption des Textes. In ihnen gewinnt eine genuin ästhetische Reflexion Gestalt, die mit dem Verlust des Epischen zugleich die historischen Bedingungen des Romans in Erinnerung bringt. Mit Hilfe des epischen Zitats bestimmt der Roman seinen gattungsgeschichtlichen Ort. Die Hommerische Welt als Welt des epischen Zeitalters durchdringt das Realitätsmodell des Protagonisten zu Beginn des Romans. Die epische Perspektive bestimmt seine idyllische Wahrnehmung von frühlingshafter Natur und Landleben. Die ideale Gegenwart des Epos verliert ihre Bedeutung für Werther in dem Maße, in dem die leidvolle Verstrickung des Helden in die Begebenheiten der Romanwelt ihren Lauf nimmt. Aus der idealen Gegenwart wird bei Ossian die eigentümlich zeitlose Klage über die verlorene Zeit. Doch gilt die Trauer hier schon weniger der vergangenen Welt des Epischen als der Tatsache, daß sie unwiderruflich eine vergangene ist. Der Gestus der Klage ruft schmerzhaft die Zeit selbst ins Bewußtsein, die historische Zeit, die das bestimmende Maß der prosaischen Wirklichkeit ist, die die Nachfolge des Weltzeitalters des Epos endgültig angetreten hat. 4 Der Roman liefert im Zitat des Epischen die geschichtsphilosophische Begründung seiner eigenen Form. Nur konsequent erscheint in dieser Hinsicht das literarische Zitat, das pointiert an den Schluß des Romans gesetzt ist: Mit dem bürgerlichen Trauerspiel der Emilia Gaietti ist eine prototypische Gattung des prosaischen Zeitalters erwähnt, auf das auch der Roman als moderne Form des Epischen bezogen bleibt. Der tragische Ausgang des Werther ist in den Lehrjahren bewußt vermieden worden. Eine zuweilen penetrant agierende >List der Vern u n f t räumt die potentiellen Opfer des Romans, Mignon und den Harfner, recht-zeitig aus dem Weg. Das glückliche Ende des Romans, der angebahnte Ausgleich zwischen Ich und Welt trägt unverkennbar utopische Züge. Nicht nur erscheint das Glück des Endes unverdient; 3
4
Zur Funktion epischer Zitate im Roman am Beispiel der Leiden des jungen Werthers wird Verf. in naher Zukunft eine eigene Untersuchung vorlegen. Zum romantheoretischen Argumentationskontext vgl. Lukàcs, Theorie des Romans.
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auch wirkt seine Herbeiführung überaus unzeitgemäß. Auf zeitgemäße Bewußtseinsformen stößt der Leser weit eher als bei Wilhelm bei Werner, dem modernen Abenteurer, der sich die merkantile Eroberung der Welt zum Ziel gesetzt hat. Ausgerechnet er aber erscheint am Romanende als »verkrüppelter Ritter des Kapitals« in einer durchaus traurigen Gestalt.' Dagegen gelangt der »Ritter des Geistes«, Wilhelm, auf dem falschen Weg zum richtigen Ziel und findet sich am Ende, nicht ohne Überraschung für ihn selbst, aufs beste versorgt: durch die prospektierte Bindung mit Natalie und als Mitglied der aristokratischen Sozietät des Turms nicht weniger als durch das ererbte bürgerliche Kapital. Das Ende des Romans erschöpft sich aber nicht im Ende der erzählten Handlung. Seinen Sinn bezieht der Roman ebensosehr aus dem ästhetischen Diskurs, der von Anfang an Gegenstände der erzählten Welt zu instrumentalisieren vermag. Mit der Turmgesellschaft verfügt der Roman über ein episches Medium, in dem die ästhetische Reflexion mit der Reflexion über die Bestimmung und die Grenzen der Gattung eine Fortsetzung erfahrt. In diesen Diskurs wird die utopische Tendenz der erzählten Welt des Romans kritisch aufgehoben. Rosemarie Haas hat zuerst auf die eminent ästhetische Funktionalisierung der Turmkonstruktion aufmerksam gemacht. 6 Auch wenn die von ihr vorgeschlagene strikte Trennung von Turm und Sozietät nicht ganz zu überzeugen vermag - der Doppelcharakter von erzähltem Gegenstand und Mittel des Erzählens trifft beide Instanzen, wenn auch in unterschiedlicher Weise - , so verdient doch der Hinweis auf den komplexen, den Roman tendenziell transzendierenden Wirklichkeitscharakter des Turms Beachtung. 7 Dem Bezirk des Turms eignet von Anfang an eine spezifische Unwirklichkeit, die auch nach der Initiation Wilhelms, allen ironischen Relativierungen zum Trotz, keineswegs aufgehoben wird. Die Turmgesellschaft ist nicht nur eine potenzierte Form der Fiktion im Roman, mit ihr ist zugleich ein genuin ästhetischer >Einschlag< in die Wirklichkeit des Romans gegeben. Der Begriff der Utopie kann ihren Wirklichkeitscharakter kaum hinrei5 6 7
So treffend Sagmo, Bildungsroman, S. i8f. Haas, Die Turmgesellschaft, bes. S. 3 2ff. Dazu Sagmo, Bildungsroman, S. 217fr. Aufschlußreich auch die Anmerkungen zum Wirklichkeitscharakter von Edith Braemer, Zu einigen Problemen in Goethes Roman »Wilhelm Meisters Lehrjahre«, in: Studien zur Literaturgeschichte und Literaturtheorie, hg. von Hans-Günther Thalheim und Ursula Wertheim, Berlin 1970, S. 145-200.
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chend bestimmen. Die sozialutopischen Elemente im Programm der Sozietät (mit dem diese kaum identisch ist) sollten ebensowenig überschätzt werden wie die >utopische Qualität< des heldenhaften Strebens nach Ausbildung einer individuellen Totalität.8 Der Wirklichkeitscharakter des Turms transzendiert tendenziell die Realität der erzählten Welt des Romans, ohne daß er dadurch schon utopisch würde. Auch die verbindliche Unverbindlichkeit des Märchens ist glücklich vermieden. Der Bezirk des Turms ist ein ästhetischer Bezirk. Im Roman erscheint er als die zeitgemäße Form des Epischen. In Schiller haben Wilhelm Meisters Lehrjahre einen ebenso sensiblen wie kritischen frühen Leser gefunden, einen Leser zudem, der über eigene Erfahrungen in der Bearbeitung des Geheimbundmaterials verfügte. Schon im Juni 1796 bewundert er Goethes Kunst »der theatralischen und romantischen Herbeiführung und Stellung der Begebenheiten . . . Die schmerzhaftesten Schläge, die das Herz bekommt, verlieren sich schnell wieder, so stark sie auch gefühlt werden, weil sie durch etwas Wunderbares herbeigeführt wurden und deswegen schneller als alles andere an die Kunst erinnern.«9 Schiller war es auch, der als erster auf den epischen Charakter der Turmgesellschaft aufmerksam gemacht hat. Der Roman, so wie er da ist, nähert sich in mehrern Stücken der Epopee, unter andern auch darin, daß er Maschinen hat, die in gewissem Sinne die Götter oder das regierende Schicksal darin vorstellen. Der Gegenstand foderte dieses. Meisters Lehrjahre sind keine bloß blinde Wirkung der Natur, sie sind eine A r t von Experiment. Ein verborgen wirkender höherer Verstand, die Mächte des Turms, begleiten ihn mit ihrer Aufmerksamkeit, und ohne die Natur in ihrem freien Gange zu stören, beobachten, leiten sie ihn von ferne und zu einem Zwecke, davon er selbst keine Ahnung hat noch haben darf. So leise und locker auch dieser Einfluß von außen ist, so ist er doch wirklich da, und zu Erreichung des poetischen Zwecks war er unentbehrlich. 10 8
9
So jüngst Wilhelm Voßkamp, die einschlägigen Forschungsergebnisse in der Terminologie der Utopieforschung reformulierend: Utopie und Utopiekritik in Goethes Romanen »Wilhelm Meisters Lehrjahre« und »Wilhelm Meisters Wanderjahre«, in: ders., Hg., Utopieforschung, Bd. 3, Stuttgart 1982, S. 228-249. Als restaurative Utopie versteht Baioni, »Märchen«, S. 97 und 106, die Turmgesellschaft. Weitaus differenzierter zum Problem sozialutopischer Elemente im Programm der Turmgesellschaft: JanRolf-Peter, Zum sozialen Gehalt der »Lehrjahre«, in: Literaturwissenschaft und Geschichtsphilosophie. Festschrift für Wilhelm Emrich, hg. von Helmut Arntzen et al., Berlin/New York 1975, S. 320-340, und Borchmeyer, Dieter, Höfische Gesellschaft und französische Revolution. Adliges und bürgerliches Wertsystem im Urteil der Weimarer Klassik, Kronberg/Ts. 1977, S. 164fr, i8off. Briefwechsel ζwischen Schiller und Goethe, S. 2 3 6f.
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Schiller lobt die vollkommene ästhetische Funktionalisierung des Geheimbundmaterials. »Der Begriff einer Maschinerie« werde aufgehoben, »indem doch die Wirkung davon bleibt«. Andererseits versäumt er es nicht, Goethe v o r den möglichen Folgen einer Verarbeitung des Geheimbund-Wunderbaren zu warnen. E r verweist auf die Rezeptionserwartungen, die sich nach dem Muster der aufklärerischen Geheimbundliteratur und des trivialen Geheimbundromans auf die A u f k l ä r u n g des Geheimnisses richten. »Ich glaube zu bemerken, daß eine gewisse Kondeszenz gegen die schwache Seite des Publikums Sie verleitet hat, einen mehr theatralischen Zweck und durch mehr theatralische Mittel, als bei einem Roman nötig und billig ist, zu verfolgen.« (2 3 8) In einem späteren Brief rät er Goethe, die diskrepante Informiertheit f ü r den Leser so gering wie möglich zu halten und so viel wie möglich Aufschluß über die rätselhaften Begebenheiten zu g e b e n . " Grundlegend aber ist eine Unterscheidung, die Schiller in Hinblick auf die Verwendung des Geheimbundmaterials im Roman trifft. E r setzt den » h i s t o r i s c h e n Aufschluß« über die einzelnen geheimnisvollen Begebenheiten deutlich ab von einem » ä s t h e t i s c h e n A u f schluß über den innern Geist, über die poetische Notwendigkeit jener Anstalten«. 1 2 Damit findet nicht nur die der Untersuchung zugrunde liegende Behauptung von der Aneignung des Geheimbundmaterials im Roman als einer Ästhetisierung eine wichtige zeitgenössische Bestätigung. Die Differenzierung von >historischem< und ästhetischem Aufschluß< verweist noch einmal nachdrücklich auf den ambiguen Wirklichkeitscharakter der Turmgesellschaft, die zugleich ein Element der erzählten Welt und des erzählerischen Diskurses darstellt. D e r ästhetische Aufschluß< wird v o n Schiller allerdings nur zu einem Teil erfaßt. D e r Roman beschreibt nicht allein den Bildungsweg des Helden, er handelt auch v o n dessen Integration in das Kollektiv einer gebildeten Gemeinschaft. D e r R o m a n als die adäquate F o r m des Epischen im prosaischen Weltzeitalter ist gattungshaft an das Dasein und das Sosein der Wirklichkeit gebunden. 1 3 Sein Held ist der Suchende, das problematische Individuum; dessen Fremdheit zur Außenwelt konstituiert den R o man, der der unüberbrückbaren K l u f t zwischen Innerlichkeit und IO
Ebd., S. 2j6f. Ebd., S. 2 4 5 ff. 12 Ebd., S. zjyf. '' Zu den folgenden Bestimmungen Lukäcs, Theorie des Romans. "
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Abenteuer, Seele und Tat, zwischen Individuum und Gemeinschaft Form verleiht. Die Verengung der gestaltenden Gesinnung zur Totalität ins Idyllenhafte bedeutet eine permanente Gefährdung der Gattung. Der Abschluß des Romans erscheint, von hieraus betrachtet, zutiefst problematisch. Zwar krönt das Ende das ästhetische Ganze, nicht aber versöhnt es die konkrete Gesamtheit seiner Teile. Der Romanschluß, gelingt er, zeigt die Brüchigkeit und Unabgeschlossenheit der Romanwelt, deren Ende über sich hinaus verweist. Das »Reflektierenmüssen« (Lukács) der Form des Romans ist so noch an seinem Ende ablesbar, das den ästhetischen Sinn gerade dadurch bewahrt, daß es den Sinnverlust der erzählten Welt kritisch ins Bewußtsein hebt. Das in diesem Sinne Problematische des Romanschlusses ist im Wilhelm Meister nicht zu übersehen. Das Thema des Romans, die Versöhnung des problematischen Individuums mit der konkreten gesellschaftlichen Wirklichkeit, findet am Ende eine problematische glückliche Lösung, die weder ein Sichabfinden noch eine unkritische Harmonisierung der romankonstitutiven Gegensätze herbeiführt. Diese Lösung ist vorbereitet in der Relativierung des Helden, der nurmehr als »Träger der Begebenheiten« (Schiller) erscheint. Sie ist aber ebenso in der Struktur des gesellschaftlichen Gebildes selbst vorbereitet, das weder als Abbild der bestehenden Ordnung, noch als eine wirklichkeitsenthobene utopische Konstruktion mißverstanden werden darf. Georg Lukács hat in seiner Theorie des Romans mit Recht festgestellt, daß in der Turmgesellschaft, mit dem heroischen Zitat aus dem Geheimbundmaterial, ein Gemeinschaftsgebilde vorliegt, das eine »größere, objektivere Substantialität und damit eine echtere Angemessenheit an die seinsollenden Subjekte« besitzt: »Diese objektivistische Aufhebung der Grundproblematik muß aber den Roman der Epopöe annähern.«' 4 Keineswegs läßt dieses Transzendieren den Roman am Ende selbst zur Epopöe werden. Wohl aber wird der Gesellschaft vom Turm »etwas von einem problemjenseitigen Glanz der Epopöe« zuteil. Hier nämlich liegt, wie schon Schiller bemerkte, eine wesentliche Funktion der »Maschinen« des Turms, des phantastisch-wunderbaren Apparats, der mit dem Geheimbundmaterial Eingang in den Roman fand. »Goethe griff hier zu Gestaltungsmitteln der (romantischen) Epopöe, und wenn er diese Mittel, die ihm für die Gestaltung der 14
Lukács, Theorie des Romans, S. 126. Auch Ortheil, Der poetische Widerstand, S. 171-198, sieht im Wilhelm Meister ein »Transzendieren« des Romans, allerdings in einem anderen Sinne. 569
sinnlichen Bedeutsamkeit und Schwere des Schlusses unbedingt nötig waren, durch ihre leichte und ironische Behandlung wieder herabzusetzen, ihres Eposcharakters zu entkleiden und sie zu Elementen der Romanform umzuwandeln versuchte, so mußte er hier scheitern.«' 5 Erscheint auch die romanhafte Relativierung des wunderbaren Apparats nicht gänzlich gelungen: das Problematische des Schlusses bleibt ihm zu danken. Mit der Turmgesellschaft als einem zeitgemäßen epischen Zitat gelingt die zutiefst poetische Realisation eines utopischen Bedarfs, der auf der Ebene der erzählten Wirklichkeit des Romans nicht angemessen zu befriedigen war. Das glückliche Ende des Wilhelm Meister vermeidet die bloße Anpassung an die bestehende Ordnung ebenso wie deren idyllische Überhöhung. Das Problematische des Romanschlusses bleibt nicht verborgen. Der Realismus des Romans verdankt sich einer Utopie der Gattung. Erst das epische Transzendieren garantiert die gattungsgeforderte kritische Offenheit des Romans. Mit der ästhetischen Funktionalisierung in Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre hat die Aneignung des Geheimbundmaterials im Roman des 18. Jahrhunderts einen nicht wieder erreichten Höhepunkt gefunden.
1!
Lukäcs,
57°
Theorie des Romans, S. 127.
Quellen- und Literaturverzeichnis
ι.
Quellen
ι. ι
Unveröffentlichte Texte
Herder-Nachkß Staatsbibliothek Berlin Dahlem X I I , 58-40; X V I I I , 430; X X V I , 25; X X X I , I i , 15, 17, 18, 19; X X X V I I , 3. Schröder, Friedrich Ludwig - Friedrich Wilhelm Ludwig Meyer, Briefwechsel (9.4.1802-26.7.1816); provisorische Transkription nach Erlaubnis der Loge »Emanuel zur Maienblume«, Hamburg, 3 Bde., (masch). Staatsbibliothek Hamburg [1978].
1.2
Periodika
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Almanach für Freymaurer auf das Jahr 580J/4 [1803/4]. Vom Verfasser des Taschenbuchs für Maurer 580'/,, [Berlin 1803]. Almanach oder Taschen-Buch für die Brüder Freymäurer der vereinigten Deutschen Logen auf das Jahr Christi 1776 und 1778. Mit Genehmigung der Obern zu finden in den Logen, o. O. [Leipzig] o. J . Apollo. Monatsschrift, hg. von August Gottlieb Meißner, 9 Bde., Prag und Leipzig 1793-1797· Berlinische Monatsschrift, hg. von Friedrich Gedike und Johann Erich Biester, Berlin 1786-1793. Compendiose Bibliothek der gemeinnützigen Kenntnisse für alle Stände, X X V . Abtheilung. Der Freymaurer oder compendiose Bibliothek alles Wissenswürdigen über geheime Gesellschaften, ; Hefte, Göttingen 1790-1796. Denkwürdigkeiten, aufgezeichnet zur Beförderung des Edlen und Schönen, hg. von C. P. Moritz und C. F. Pockels, 2 Bde., Berlin 1786-1788. Neues Deutsches Museum [hg. von Heinrich Christian Boie], 3 Bde., Leipzig 1789/91. Eudämonia oder deutsches Volksglück, ein Journal für Freunde von Wahrheit und Recht, 6 Bde., Leipzig / Frankfurt / Nürnberg 1795-1798. Freymäurer-Bibliothek, hg. von J . A. Hermann und J . W. B. v. Hymnen, 8 Stücke, Berlin 1778-1803. Gnothi sauton oder Magazin für Erfahrungsseelenkunde, als ein Lesebuch für Gelehrte und Ungelehrte. Mit Unterstützung mehrerer Wahrheitsfreunde hg. von C. Ph. Moritz, 10 Bde., Berlin 1783-1793. 571
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Texte
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i743·
Andreae, Johann Valentin, Fama Fraternitatis (1614), Confessio Fraternitatis (1615), Chymische Hochzeit (1616), hg. von Richard van Dülmen, Stuttgart 197}. Arnim, Ludwig Achim von, Die Kronenwächter. In: ders., Sämtliche Romane und Erzählungen, hg. von Walther Migge, Bd. 1, München 1962. Augustin und Numa, und die Ritter des bessern Zeitalters. Ein wichtiger Aufschluß über die jezzige Tendenz der geheimen Gesellschaften und der Frei=Maurerei insbesondere. Aus Originalschriften, Cairo, gedruckt unter den Pyramiden 5797 [Cöthen 1797]. [Babo, Josef Marius von], Ueber Freymaurer. Erste Warnung. Sammt zwey Beylagen, o. O. 1784. - Gemälde aus dem Leben der Menschen, München 1784. [Baczko, Ludwig von], Abenteuer eines Maurers zur Warnung für Geweihete und Profane, Berlin und Litau 1788. Bahrdt, Karl Friedrich, Zamor oder der Mann aus dem Monde. Kein bloßer Roman, Berlin 1787. Barruel, Augustin, Denkwürdigkeiten zur Geschichte des Jakobinismus. Nach der in London erschienenen französischen Originalausgabe ins Teutsche übersetzt von einer Gesellschaft verschiedener Gelehrten, 4 Bde., Münster/Leipzig 180011803. Bestand-Liste der gerechten und vollkommnen Freymaurer-Loge Carl zum Felsen in Altona. Ausgefertigt von . . ., o. O., o. J . [1796]. Blanckenburg, Friedrich von, Versuch über den Roman, (Nd. der Ausgabe von 1774) Stuttgart 1965.
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Uber Maurerische Freiheit. Für Eingeweihte und Uneingeweihte Leser. Nebst einem Wort ans Publikum über eine vermeintliche Ursache der Revolution, Berlin 1792.
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