Aufbaustil und Weltbild Chrestiens von Troyes im Percevalroman [Reprint 2020 ed.] 9783112324042, 9783112324035

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German Pages 242 [251] Year 1936

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Aufbaustil und Weltbild Chrestiens von Troyes im Percevalroman [Reprint 2020 ed.]
 9783112324042, 9783112324035

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BEIHEFTE ZUR Z E I T S C H R I F T FÜR

ROMANISCHE PHILOLOGIE B E G R Ü N D E T VON PROF. DR. G U S T A V G R Ö B E R f

F O R T G E F Ü H R T UND H E R A U S G E G E B E N VON DR.

W A L T H E R

v.

W A R T B U R G

PROFESSOR AN DER UNIVERSITÄT LEIPZIG

LXXXVIII. HEFT WILHELM

KELLERMANN

A U F B A U S T I L UND W E L T B I L D C H R E S T I E N S VON T R O Y E S IM P E R C E V A L R O M A N

MAX NIEMEYER

VERLAG

/ HALLE/SAALE

1936

AUFBAUSTIL UND WELTBILD C H R E S T I E N S VON T R O Y E S IM P E R C E V A L R O M A N VON

WILHELM KELLERMANN

MAX NIEMEYER VERLAG / H A L L E / S A A L E 1936

Alle Rechte, auch das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten Copyright by Max Niemeyer Verlag, Halle (Saale), 1936 Printed in Germany

Gedruckt bei A . Heine GmbH., Gräfenhainichcn

MEINER FRAU

Vorwort Aufbau und Weltbild des Percevalromans zu erkennen, ist das erste Ziel der vorliegenden Arbeit. Hinter ihm steht als umfassenderes Streben, den Platz dieses Erzählwerkes im Gesamtschaffen seines Dichters und im Literaturraum der höfischen Zeit zu bestimmen und damit eine Gesamtwürdigung Chrestiens zu geben. Der Begriff des Aufbaues wurde dabei sehr weit gefaßt, denn es wurde alles darunter verstanden, was das Verhältnis der Strukturteile zum epischen Ganzen bedingt. Nur die formalen Tatsachen der Szenenund Abschnittsteilung, der Wiederholungs- und Übergangsverse blieben so gut wie ausgeschlossen, weil sie eng zu den Problemen der Metrik gehören, deren Erörterung hier nicht in Frage stand. Mit Absicht wurde von Aufbaustil gesprochen. Die hierher gehörigen Erscheinungen bestimmen ja nicht weniger eine künstlerische Physiognomie als der Sprachstil im eigentlichen Sinn. Um zur Darstellung dieser Physiognomie zu gelangen, galt es, die verschiedenen kompositioneilen „Stilmittel", die ja an sich selbstverständliches Element jeglichen erzählenden Dichtens sind und als solche unmöglich auf eine immer gleichbleibende feste Wirkung eingegrenzt werden können, als sinntragende Funktionen in einem bestimmten, einmaligen epischen Organismus namhaft zu machen. Daß sie freilich auch damit nicht als freier Ausdruck einer dichterischen Selbstdarstellung, sondern nur als persönliche Darbietung eines für den Dichter verpflichtenden Zeitstils und Weltbildes gekennzeichnet sind, ergibt sich aus den besonderen Verhältnissen jeglicher mittelalterlichen Kunst, in der Zeit und Personalstil praktisch überhaupt nicht auseinander gelöst werden können. Immerhin ergibt sich auch für epische Werke des Mittelalters die Möglichkeit, die mehr oder minder adäquate Anschmiegung der Form an den Sinn, den Grad der Verlebendigung und die Intensität der Ideenvermittlung als Leitbilder der Analyse aufzustellen. Wenn trotz des ständigen Bestrebens, den „darstellenden" Charakter des Kompositionsstils herauszuarbeiten, in einen Aufbau- und einen Weltbildteil getrennt wurde, so ist diese aus Gründen der Materialverarbeitung vorgenommene Scheidung im letzten Grunde willkürlich, denn Tatbestände der einen oder der anderen Art waren des öfteren in beiden Teilen nicht

VIII

Vorwort

nur in die Randzone, sondern auch in den Mittelpunkt der Besprechung zu rücken. Der Arbeit ist es um den objektiven Befund einer Kunstwelt und um seine Deutung zu tun. Jeder Interpretation haftet naturgemäß etwas Subjektives an, weil der Eindruck, der sie primär veranlaßt und der dann verstandlich zu klären ist, von einem subjektiven Sehen und Finden ausgelöst wird. Gerade im vorliegenden Falle, wo es sich um die Aufbauuntersuchung an einem literarischen Fragment handelt, war die Gefahr des persönlichen Deutens sehr groß. Um sie zu mindern, wurden die Parallelen und die Vergleiche mit den übrigen Romanen Chrestiens beständig gesucht und verwendet. Aber auch der Percevalroman selbst ist vom Dichter so weit gefördert, daß sich der Grundplan des Erhaltenen klar übersehen und daß sich vor allem ein Urteil über den Stil seines Aufbaues sprechen läßt. Auf andere Erwägungen gehen die Parallelen zurück, die zu den beiden Meistern des mittelhochdeutschen Artusromans, Hartmann von Aue und Wolfram von Eschenbach, gezogen wurden. Die Vergleichung geschah nicht systematisch, sondern mehr als Materialsuche für eine spätere umfassendere Gegenüberstellung. Nur das Motivierungsproblem, die schwierigste und für die Romandeutung ausschlaggebendste Frage der Handlungsführung, wurde mit ausdrücklichem Bezug auf Wolfram behandelt. Welche Fülle von sachlichen und methodischen Erkenntnissen ich in diesem ganzen Gedankenbereich der germanistischen Forschung verdanke, wird im Verlauf der Arbeit sichtbar, soll aber auch hier dankbar bekannt werden. Das die Arbeit beschließende Gralkapitel, das vor allem die epische und geistige Bedeutung des Gral für Chrestiens Roman klarstellen will, führt jene ausführliche Wolfram-Chrestien-Parallele nicht fort, sondern rückt statt dessen die für das Verständnis des Chr.schen Gral wesentliche Beziehung des Percevalromans zur Estoire dou Graal Roberts von Boron in den Vordergrund. Das Verhältnis Chr.s zu Wolfram selbst ist weniger ein stoffgeschichtliches als ein stilistisches und psychologisches Problem. Wolframs künstlerische und geistige Größe ist unbedingt. Dieses Thema hat aber noch eine andere Seite. Wolframs Gipfelstellung in der höfischen Literatur hindert nicht, zu erkennen, daß die zwischen beiden Epikern feststellbaren mannigfachen Abstände zwei verschiedenen volkspsychologischen Verhaltungsweisen entspringen. So ist der Chrestien-Wolfram-Vergleich eine wichtige, wenn nicht die wichtigste Grundlage einer Wesenskunde der französischen und der deutschen mittelalterlichen Nationalliteraturen. Der Verfasser hofft, zu diesem hohen Ziel einen kleinen Beitrag geliefert zu haben. Er gedenkt durch sein Vorhaben, auch über Metrik und Sprachstil des Percevalromans zu handeln, diesen Beitrag noch zu vervollständigen.

Vorwort

IX

Die Arbeit hat der philosophischen Fakultät der Universität Würzburg im Jahre 1934 a l s Habilitationsschrift vorgelegen. Die seitdem erschienene Literatur ist, soweit sie mir bekannt geworden ist, nachgetragen und eingearbeitet worden. Herrn Universitätsprofessor Dr. Adalbert Hämel, der diese Arbeit angeregt und ihre Entstehung und Drucklegung mit steter Anteilnahme und immer hilfsbereitem Rat verfolgt hat, schulde ich großen Dank. Außerdem fühle ich mich Herrn Universitätsprofessor Dr. Walther von Wartburg für die Aufnahme der Arbeit in die Beihefte zur Zeitschrift für romanische Philologie dankbar verpflichtet. Würzburg, im Oktober 1936.

Wilhelm Kellermann.

Inhaltsverzeichnis i. Teil. D e r A u f b a u s t i l I. D i e T e k t o n i k d e r h ö f i s c h e n R o m a n e Die poetische Theorie des Mittelalters i . — Die stoffgenetische Betrachtungsweise 2. — Die Frage der kompositioneilen Tektonik 3. — Die soziologische Fragestellung 4. — Das Vortragsprinzip 4. — Sarans „Einschachtelungstechnik" 5. — Das Prinzip der kompositionellen Zweiteilung 6. II. E i n h e i t u n d G l i e d e r u n g d e s G e s a m t w e r k e s u n d d e s Percevalromans Die poetische Gesamtatmosphäre 7. — Einheitsfunktion der „Füllmotive" 8. — Charakterisierung der Einzelromane 9. — Das Grundschema der Chr. sehen Artusromane 11. — Die Doppelkomposition des Percevalromans 15. — Die Tektonik des Percevalromans 16. — Die Gliederung der Percevalhandlung 21. — Die Gauvainhandlung 27. — Widersprüche und Inkonsequenzen der Handlung 28. — Die Probleme des Romanschlusses 29. — Die kompositionelle Rolle der Zeit 31. III. D a s k o m p o s i t i o n e l l e G e f ü g e der H a n d l u n g . . . . Der Romancharakter der Chr. sehen Erzählwerke 34. — Objektivität des Chr.schen Aufbaustils: Die Prologe 35. — Literarische Anspielungen 37. — Die dichterische Selbstrede 37. — Die Vorausdeutungen 40. — Die Rückverweise 42. — Erzählerische „Induktion" 42. — „Dramatische" Züge im Aufbau 44. — Das epische Gleichzeitigkeitsproblem 46. — Kompositionelle Sammelpunkte 50. — Steigerungen und Kontraste 52. — Die Arten der Wiederholungen und Parallelismen 54. IV. R e t a r d a t i o , W u n d e r u n d D o p p e l s i n n als E r w e c k e r der k o m p o s i t i o n e l l e n S p a n n u n g Chr.s Namenstechnik 61. — Die Spannung der Vorstellungen 64. — Unterbrechung der Handlung 65. — Der griechische Roman und die Legende als literarische Parallelen 67. — Die Spannung des wunderbaren Geheimnisses 69. — Mißverhältnis zwischen Spannung und Lösung 72. — Die Spannung des Doppelsinns 72. — Das Verkleidungsmotiv 73. — Die Guiromelantszene 76. — Mögliche literarische Quellen: Der Eneasroman 79. — Ovids Verwandlungsszenen 80. — Die Lyrik der Troubadours 81. V. D i e S c h i c h t e n der M o t i v i e r u n g Trennung von Aufbau und Motivierung 84. — Der gelenkte Zufall 87. — Das „mythische Analogon" 90. — Die kompositionelle Deutung des Questemotivs 93. — „Thesen" und Konflikte 95. — Vergleichung von Wolframs und Chr.s Schuldmotivierung: Das Mutter-Sohn-Verhältnis in beiden Romanen 99. — Die Schweigeregel 101. — Die Gralfragen

Seite i x

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Inhaltsverzeichnis

X Seite

als Eindrucksfragen 102. — Verfehlung und Läuterung im Parzival 104. — Das Schuldgeflecht im Percevalroman 108. — Chr.s Einsiedlerszene 115. — Geistesgeschichtliche Bedeutung der beiden Motivierungen 120. — Die Rolle der psychologischen Motivierung 123. — Die Liebe im Percevalroman 125. — Motivierungen v o m Menschen aus 126. — Die Motivierungsprobleme der Orguelleusehandlung 128. — Humor und K o m i k 130. — Ironie 133. VI. Die e p i s c h e n F i g u r e n Zusammenhang mit der Motivierung 135. — Die Percevalhandlung als Entwicklungshandlung 138. — Gauvain als höfischer Musterritter 146. — Artus 150. — Guenievre 151. Die Ritter 152. — Die Frauengestalten 153. 2. T e i l .

Das Weltbild

I. D a s S y s t e m d e r h ö f i s c h e n W e r t e Schichtung des E t h o s 156. — Beispiele vorhöfischer Kulturauffassung und ihre Rolle im R o m a n 157. — Der R o m a n als Spiegelung höfischer Lebensweise 159. — Die höfische Kulturgesinnung 162. — Rolle der „reflektierten H a n d l u n g " 164. — Der höfische Ordo: Die Sphäre des utile 166. — Temperantia 168. — Die fortitudo als Grundtugend der Chr.schen Gestalten 170. — Die Bedeutung der justitia für das höfische Handeln 172. — Prudentia 176. — Die drei Unterweisungen Percevals 177.

135

156 156

II. V o r h ö f i s c h e u n d h ö f i s c h e R e l i g i o s i t ä t 180 Verhältnis von Weltlichem und Religiösem in der höfischen E t h i k 180. — Der Percevalroman als W e r k der höfischen Literatur 183. — Die gedankliche Bedeutung des Prologs für die Romaninterpretation 185. — Formelhafte religiöse Wendungen 187. — Primitive Religionsanschauungen 188. — Dichterische Hebung alten Formelgutes 190. — Traditionelle und höfische Gottesbezeichnungen 192. — Die religiöse E n t w i c k l u n g Percevals 194. — Das Gottesnamengebet in der Einsiedlerszene 198. — Der untragische Charakter der Chr.schen Weltanschauung 202. III. D e r G r a l , s e i n S i n n , s e i n e U m g e b u n g u n d s e i n e Geschichte 205 Einführung der Gralzene und ihre Beschreibungstechnik 206. — D a s Gralschwert 207. — Die Gralburg 208. — Der Fischerkönig 209. — Doppelheit der Frage 209. — Die Lanze und ihr Ursprung 211. — Genetische Einheit v o n Lanze und Fischerkönig 214. — Der G r a l t e x t der Einsiedlerszene 214. — Die Lebensverlängerung des Gralhüters 217. — Die Wesensbestimmung von graal 218. — Chr.s Gralvorstellung 220. — Das Verhältnis Chr.s zu R o b e r t von Boron 221. — Verbindung v o n Perceval- und Gralstoff 224. — Die H y p o t h e s e einer gemeinsamen Quelle Chr.s und Borons 227. — Versuch einer positiven Rekonstruktion des Gral-livre 228. — Chr.s Verschmelzung von Märchen und Legende 231.

Die in der Arbeit verwendeten A b k ü r z u n g e n sind dem Abkürzungsverzeichnis in Karl Voretzschs Einführung in das Studium der altfranzösischen Literatur (3. Aufl., Halle a. d. S. 1925), S. 529—531, entnommen. Dazu kommen noch: Arch. Rom. = Archivum Romanicum und DV. = Deutsche Viertel]ahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte.

i. T e i l

Der Aufbaustil I. Die Tektonik der höfischen Romane Das Verhältnis der Teile zum Ganzen ist wesentlich für die Eigenart eines erzählenden Dichtwerkes. Ist Einheit eine Grundbedingung jeglicher künstlerischer Wirkung, so ergibt sich die Gliederung als notwendiger Faktor der e p i s c h e n Schöpfung aus den besonderen Verhältnissen der nur in der Zeit nacherlebbaren Dichtkunst. Die Art, wie die Beziehung dieser beiden, nur theoretisch auseinander lösbaren epischen K r ä f t e gestaltet wird, ist genau so charakteristisch für einen Erzähler wie die sprachliche und stilistische Formung im eigentlichen Sinn. Das gilt für jede Epoche, ist aber für das Mittelalter bisher nur wenig untersucht worden, weil dieser Zeitraum der Forschung vordringlichere textliche und stoffgeschichtliche Aufgaben gestellt hatte. Es ist das Verdienst Edmond Farals 1 ), d i e p o e t i s c h e T h e o r i e d e s M i t t e l a l t e r s in aller Ausführlichkeit dargelegt zu haben. Erkannt war ihre Bedeutung, namentlich von deutscher Seite, schon längst. Für die Frage der Komposition sind diese Lehrschriften jedoch sehr wenig ergiebig. Sie beschäftigen sich wohl mit der Methode, eine Dichtung zu beginnen oder zu schließen, sagen aber nichts über die Gliederungsmöglichkeiten des Werkes selber. D a f ü r lassen sich auch keine bindenden Regeln aufstellen. Hier war deshalb ein Betätigungsfeld für das freie Schaffen des mittelalterlichen Dichters. Faral gibt das auch unumwunden zu*). Die Würdigung mittelalterlicher Kompositionskunst wird deshalb ihre Maßstäbe aus der Analyse und Vergleichung der Dichtwerke selbst entnehmen müssen. Überhaupt sind wir zu ungenügend über die Geltung dieser poetischen Theorie unterrichtet, um ihre Vorschriften ohne weiteres als Wertungskriterien verwenden zu können. D a ß aber die Forschung E. Farals, ebenso wie die Blickwendung zur Scholastik, in der Germanistik vor allem 3 ), zu fruchtbarem methodischen Neuansatz geführt hat, ist damit mit keinem Worte bestritten. Beide haben im Gegenteil die neue historische und verstehende Wertung erst mög>) Les arts poétiques du X I I e et du X I I I e siècle (Bibliothèque de l'Ecole des Hautes Etudes, fasc. 238, Paris 1924). 2) a. a. O., S. 60. 3) Literaturangaben bei Hennig Brinkmann, Zu Wesen und Form mittelalterlicher Dichtung (Halle a. d. S. 1928), S. 1, Anm. B. z. ZRPh. Heft 88. Kellermann

I

2

I. Die Tektonik der höfischen Romane

lieh gemacht l ). Farals Arbeit ist in Deutschland von Hennig Brinkmann weitergeführt worden 2 ). Dieser geht von der Voraussetzung aus, daß sich die poetische Zielsetzung und die poetische Wirklichkeit im Mittelalter durchaus entsprechen. Da es nun den Poetiken aber nur um die Schauseite der Kunst zu tun ist, kommt er zu der Feststellung, daß in der mittelalterlichen Dichtung „offenbar das Formale im Vordergrund" steht 8 ). Brinkmann setzt außerdem Stoff und Inhalt gleich und bestreitet ein Aufeinanderwirken von Inhalt und Form, und zwar wieder deshalb, weil die „Beziehung zwischen I n halt und Form [in den Poetiken] kaum gesehen" sei 4 ). Solches Auseinanderreißen der literarischen Schöpfung in Inhalt und Form läßt sich jedoch auch für das Mittelalter nicht mehr durchführen. Unabhängig von dem Vorhandensein oder dem Fehlen theoretischer Äußerungen in den Traktaten wird die Einzelinterpretation derartige Entsprechungen aufzusuchen und sie in ihrer dichterischen Einmaligkeit zu deuten haben. Die Erklärung mittelalterlicher Kunstwerke tut das schon längst, ohne immer den betreffenden Dichter um seine, oft gar nicht ausgesprochene oder gar nicht bewußte Theorie zu befragen. Wenn für die scholastische Philosophie „der künstlerische Schaffensprozeß . . . ein Ordnen" bedeutet, so ließe das doch eher auf strenges Gliedern als auf ,,mosaikartige[s] . . . Fügen" schließen. Tatsächlich ist auch der Satz: „Die Epik reiht Szene an Szene, Handlung an Handlung, ohne auf die Tektonik des Werkes sonderlich bedacht zu sein" *) aus den theoretischen Voraussetzungen Brinkmanns nicht abzuleiten. E r verallgemeinert einen älteren epischen Zustand für das ganze Mittelalter. So ist es, alles in allem genommen, unmöglich, von der Poetik des Mittelalters her das Problem des Aufbaues mittelalterlicher Erzählwerke zu lösen. Während Brinkmann von der Theorie der Kunstform ausgeht, richtet d i e s t o f f g e n e t i s c h e B e t r a c h t u n g s w e i s e Hendricus Sparnaays') ihr Hauptaugenmerk auf die Entstehung der Motivkomplexe. Der holländische Forscher faßt demnach Komposition nicht als Resultat der dichterischen Arbeit, sondern, dem eigentlichen Wortsinn entsprechend, als Komponieren ursprünglich heterogener Teile; nicht als Tektonik des epischen Werkes, sondern als Schaffensprozeß der höfischen Epiker. Mit Recht betont er (S. 8), daß man sich einen mittelhochdeutschen [oder auch höfischen Dichter schlechthin] nicht frei genug in der Verwendung und Variierung übernommener Stoffe vorstellen dürfe. In der Regel seien die „Abenteuerreihen" durch Aneinanderfügen bekannter Stoffe entstanden. Das ergebe sich daraus, daß die einzelnen Motive auch in anderer l ) von s ) •) •)

Zur Zielsetzung dieser Arbeiten vgl. die Einleitung des Aufsatzes Günther Müller, Gradualismus, DV. 2 (1924), S. 681 ff. 3 4 a. a. O. ) a. a. O., S. 93. ) a. a. O., S. 92. Die drei Zitate a. a. O., S. 93. Compositie-techniek van den hoofschen roman (Groningen 1924)..

I. Die Tektonik der höfischen Romane

3

Reihenfolge und in anderen Verbindungen gefunden werden könnten (S. 9). In der späteren höfischen Zeit seien sogar ganze Romane miteinander verkoppelt worden (S. 15). Aus diesen Gedankengängen Sparnaays läßt sich ermessen, daß Chrestien eine weit mühevollere Arbeit des „Komponierens" zu leisten hatte als viele seiner Nachfolger, die aus der Menge der ihnen vorliegenden Romane einfach je nach Bedarf diese oder jene Einzelheit oder Abenteuerreihe herauslösten. Andererseits, und das ist besonders hervorzuheben, betontSparnaay, daß die Frage, wie Chr. zu seinem Stoff gekommen ist, anders gelagert sei als die nach dem literarischen Wert seiner Werke (S. 10). Das bedeutet, daß zwischen stofflicher und poetischer Einheit und Komposition streng zu scheiden ist 1 ). Chr. habe Einheit, während man sich die späteren Romane in der Regel willkürlich verlängert denken könnte (S. 10). Um diese poetische Einheit handelt es sich, wenn Sparnaay in seinem Hartmann-Buch von den größten epischen Leistungen der höfischen Dichtung schreibt: „Der schöpferische A k t lag vor allem in der Tat der Komposition"») und wenn er sich in dem gleichen Werke bestrebt, den Sinn der einzelnen Episoden des Chr.schen Erec für das dichterische Ganze zu deuten. Diese wichtige F r a g e d e r k o m p o s i t i o n e i l e n T e k t o n i k tritt sehr stark in dem Werke Friedrich Schürrs über „ D a s altfranzösische Epos" •) hervor, wo für Chr. ein „gewisser Sinn f ü r architektonische Gestaltung des Stoffes, für Parallelismus im Aufbau [und eine] gewisse Symmetrie [der] Komposition" festgestellt werden 4 ). Schürr, der architektonischen und dichterischen Kunstausdruck miteinander vergleicht, begegnet sich in seiner Bewertung der Episoden innerhalb des epischen Aufbaues mit den nur vom Wortkünstlerischen her gewonnenen Ergebnissen Franz Sarans und Karl Voretzschs. In der Tat kommt es zur Kennzeichnung eines epischen Kompositionsstiles in erster Linie auf dieses Verhältnis von Einzelepisode und Gesamtplan an. Ihm gegenüber ist d a s P r o b l e m d e r E p i s o d e n v e r b i n d u n g erst von sekundärer Bedeutung. Es verursacht, wie die Ausführungen Heinrich Hempels: „Französischer und Deutscher Stil im höfischen E p o s " •) beweisen, eine andere Beurteilung der kompositionellen Tektonik. Hempel trennt den „additiven" (romanischen) Stil, „der das Ganze aus gleichwertigen Gliedern reiht" von einem „kontinuierenden" (frühgotischen) Stil, „in dem die Glieder ineinander übergehen und nur im Ganzen Existenz haben" und von einer „konstruktiven" (hochgotischen) Phase, in der die Epiker danach streben, „den Ver*) Die Frage nach der stofflichen Komposition des Percevalromans wird am Schluß dieser Arbeit im Zusammenhang mit den Gralproblemen zu stellen sein. J ) H. Sparnaay, Hartmann von Aue", Studien zu einer Biographie (Halle a. d. S. 1933), I, S. 108. *) München 1926. ') a. a. O., S. 420. ') G R M . 23 (1935). S. i f f .

I. Die Tektonik der höfischen Romane

4

lauf zu Gliedstücken, zu Szenen zu organisieren" 1 ). Dieser dritte Stil werde bereits von Hartmann erreicht. Da sich Hempel bei seiner Chrestien-Hartmann-Vergleichung im wesentlichen nur mit der engeren syntaktischen Verbindung der Szenen und Schauplätze und mit den Abschnittsübergängen beschäftigt, gewinnt er Beweismaterial für die „frühgotische" Festlegung des Dichters. Aber vom Standpunkt der epischen Gesamtstruktur aus widerspricht die erzählerische Wirklichkeit Chrestiens der Charakterisierung Hempels. Die „kontinuierenden" Übergänge verbinden ja, wie Arthur Franz 2 ) mit allem Nachdruck gezeigt hat, Szenen von durchaus verschiedenem epischem Gewicht, deren verschiedene Beschwerung allerdings nur dann festzustellen ist, wenn man die einzelnen Szenen als Ganzheiten miteinander vergleicht 3 ). In diesem Aufsatz von A. Franz über „Die reflektierte Handlung im Cliges" wird d i e s o z i o l o g i s c h e F r a g e s t e l l u n g genutzt. Franz sucht Zeitliches unmittelbar in Dichterischem nachzuweisen und beschreibt in dieser Absicht die Spiegelung der höfischen Gesittung im Aufbau des Romans. Weniger die epische als die effektische Gliederung lag Chr. am Herzen. Deshalb ist bei ihm mehr die reflektierte Handlung als der bloße Bericht der Geschehnisse betont. Der Dichter behandelt erzählerisch Notwendiges knapp und kurz, Stellen jedoch, bei denen er der Resonanz in seinem höfischen Publikum sicher sein konnte, breit, rhetorisch und wirkungsvoll. Von hier aus ergibt sich mit aller Deutlichkeit, daß Chr. nicht „aggregierend" oder „kontinuierend", sondern „akzentuierend" komponiert. D a s V o r t r a g s p r i n z i p hat zuerst Eduard Wechssler zu dem Versuch einer strengen Gliederung der einzelnen Chr.sehen Romane veranlaßt 4 ). Wechssler teilt Erec, Cliges, Lancelot und Yvain in drei Alle angeführten Stellen a. a. O . , S. 16. Die reflektierte Handlung im Cliges, ZrP. 47 (1927), S. 61 ff. s ) Die mit der „wechselseitigen Erhellung der K ü n s t e " gegebenen Probleme müssen hier außer A c h t bleiben. Sie stellen sich für die höfische Literatur unter der speziellen Frage der Periodisierung der Gotik. Nun ist aber der architektonische Begriff „ F r ü h g o t i k " selbst für D e u t s c h land und Frankreich entwicklungsgeschichtlich zu verschieden, als daß er ohne vorherige genaue wort- und kunstgeschichtliche Klärung und Abgrenzung für die Literaturgeschichte übernommen werden könnte. Anders steht es dagegen mit den Begriffen „ R o m a n i k " und „ G o t i k " , die als Epochenbezeichnungen allgemeinster geistesgeschichtlicher Bedeutung verwendet werden können. Vgl. Julius Schwietering, Anzeiger für deutsches Altertum 46 (1927), S. 26f. Zu dem Problem der Übertragung kunstgeschichtlicher Begriffe auf die Literaturgeschichte und zu dem Verhältnis deutscher und romanischer Kunst im Mittelalter vgl. Gottfried Weber, Wolfram von Eschenbach, Seine dichterische und geistesgeschichtliche Bedeutung (Deutsche Forschungen, H. 18, Frankfurt a. M. 1928), S. 187, Anm. 163; S. 201/202, Anm. 228; S. 209, Anm. 253. 2)

4) Die Sage v o m heiligen Gral in ihrer Entwicklung bis auf Richard Wagners Parsifal (Halle a. d. S. 1898), S. 1 5 9 — 1 6 1 .

I. Die Tektonik der höfischen R o m a n e

5

durchschnittlich je 2000 Verse lange Abschnitte, „deren jeder als die Vorlesung eines Tags beabsichtigt w a r " l ). Wenn es naturgemäß auf diese Weise nicht gelingen konnte, die eigentlich tektonischen mit den rhapsodischen Abgrenzungen in Deckung zu bringen, so war dieses erste Unternehmen, in den Romanen Chr.s einen genauen architektonischen Aufbau zu finden, bahnbrechend und zukunftsweisend für alle späteren Versuche dieser Art 2 ). Gerade angesichts einer Theorie, wie der Frances H. Titcheners"), die in den Romanen Chr.s nur eine Folge von (durch die Initialen bezeichneten) stückweise abgefaßten Episoden sieht, die notdürftig und fehlerhaft aneinander gereiht seien, erscheint Wechsslers scharfsinnige Methode der Teilung von viel größerer Wahrscheinlichkeit. Die willkürliche Aufbauinterpretation Titcheners ergibt sich schon aus der Erklärung der auffallenden Abschnittslängen im Y v a i n . Da der Dichter damals auf der Höhe seines Ansehens gestanden sei, habe ihm der Hof der Marie der Champagne lieber und länger zugehört als ehedem. Mit solch kunstfremder biographischer Konstruktion können freilich Fragen des Werkes nicht gelöst werden, zumal über die Art und Weise der Publikumsvermittlung der höfischen Romane noch zu wenig bekannt ist 4 ). Wechssler ist nicht der erste Forscher gewesen, der in der Kunst der höfischen Epiker kompositionelles Wollen nachgewiesen hat. Franz Saran s ) war ihm mit seiner auf die Artusromane bezogenen T h e o r i e d e r „ E i n s c h a c h t e l u n g s t e c h n i k " vorangegangen. E r findet in den Chansons de geste und den höfischen Romanen verschiedene Kompositionsideale, indem er den ersten, in der „ f a s t alle Momente wesentliche Bestandstücke einer fortlaufenden Handlung" sind, eine „historisch verknüpfende", den Artusromanen hingegen, bei denen !) a. a. O., S. 1 5 9 . 2 ) Über die sachliche Geltung dieser Theorie vgl. das nächste Kapitel. 3 ) The Romances of Chrétien de Troyes, Rom. R e v . 1 6 (1925), S . 1 6 5 ff. 4 ) So wissen wir gar nicht, ob Chr. bei der Abfassung seiner Werke mehr an ein fürstliches Auditorium oder an private Vorleser oder Leser gedacht hat. Der Dichter selber berichtet Y v a i n V 5 3 6 2 ff. von einem den Eltern im Garten vorlesenden Fräulein. E i n e Fülle hierher gehörenden Materials bringt Ruth Crosby, Oral Delivery in the Middle Ages, Spéculum 1 1 (1936), S. 8 8 f f . — E s ist kaum anzunehmen, daß die höfischen Dichter bei ihrem starken Selbstbewußtsein nicht gerade auch an das dauernde Fortleben ihrer Werke über den ersten mündlichen Vortrag hinaus gedacht haben sollten. Die materialreiche Arbeit von Werner Fechter, Das Publikum der mittelhochdeutschen Dichtung (Deutsche Forschungen, B d . 28, Frankfurt a. M. 1 9 3 5 ) bringt für das Mittelhochdeutsche zwar keine eigenen Hinweise auf die A r t der Publikumsaufnahme der höfischen Literatur, aber das dort über: „Handschriftenbesteller, -besitzer und -leser" Gesagte enthält implicite einen Gegenbeweis gegen die Auffassung, als seien die höfischen Romane dem Publikum nur „spielmannsmäßig" nahegebracht worden. ' ) Über W i r n t von Grafenberg und den Wigalois, P B B . 2 1 (1896), § 1 2 . Zur Komposition der Artusromane, S. 2 9 0 — 2 9 2 .

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I. Die Tektonik der höfischen Romane

„die Stücke selten innerlich" zusammenhängen, eine „episodenhafte Technik" zuweist 1 ). Er nimmt bei den letzten eine „Abenteuerverschränkung nach dem Schema A B A B A " an, „und zwar als bewußte Kompositionsmanier" 4 ). Er unterscheidet Hauptmotive und Episodenmotive. Für Chr. genügt dieses Schema natürlich nicht. Ihm stehen noch eine Fülle anderer Kompositions- und Verknüpfungsmittel zu Gebote. Saran scheint auch Chrestien eine Sonderrolle zugedacht zu haben, aber seine Ankündigung: „Für Chrestien werde ich die Frage genauer untersuchen" 3 ), hat er leider nicht ausgeführt. Diese Sonderstellung Chrestiens hat Voretzsch 4 ) in einem fünfteiligen Romanschema, das den Vergleich mit dramatischer Struktur nahelegt, gesehen. Das Verhältnis Chrestiens zum allgemeinen Einschachtelungsschema der Artusromane hat dann Sarans Schüler Rudolf Putz am Beispiel des Yvain untersucht 5 ). Seine Arbeit bedeutet insofern einen wichtigen Beitrag zur Erforschung des Chr.schen Aufbaustiles, als er d a s P r i n z i p der k o m p o s i t i o n e i l e n Z w e i t e i l u n g aufstellt und Chrestiens Eigenart darin sieht, daß bei ihm, im Gegensatz zu anderen Artusromanen, die Episoden nicht „in loser Verbindung", sondern vielmehr „in innerer Beziehung zur Hauptfabel" stehen und „der Erörterung des Problems" (des Romanthemas) dienen®). Noch weiter geht Arthur Witte in seiner Arbeit über „Hartmann von Aue und Kristian von Troyes"'). Er zeigt, daß der Yvain „so sorgsam gegliedert, so harmonisch gebaut ist, daß er selbst den Vergleich mit den klassischen Epen nicht zu scheuen braucht" 8 ) und vertritt demnach eine Brinkmanns Aggregattechnik unmittelbar entgegengesetzte Theorie. Er weist im Yvain einen bewußt angelegten, bis ins kleinste durchgeführten Handlungsplan mit Untergruppen und genau sich entsprechenden Gliedern nach. Das Prinzip dieser strengen Tektonik ist der Handlungsablauf. Wittes Grundeinsichten sind richtig. Er zeigt den Verfasser des Y v a i n als bewußt schaffenden Künstler, als logischen Ordner, als epischen Baumeister. Ganz anders als ein lässiger Kompilator steht Chrestien hier vor uns. So sind von der völligen Kompositionslosigkeit bis zur logisch ausgeklügelten Architektonik alle Kompositionsweisen aus Chrestien a. a. O . , S. 290. *) a. a. O., S. 291. a. a. O . , S. 291, Anm. 1. 4) Einführung in das Studium der altfranzösischen Literatur (3. Aufl., Halle a. d. S. 1925), S. 291. Vgl. auch Voretzsch, Die Komposition des Huon von Bordeaux (Epische Studien, H. 1, Halle a. d. S. 1900), S. 150 bis 152. ') Chrestiens „ Y v a i n " und Hartmanns „ I w e i n " nach ihrem Gedankengehalt verglichen (Diss. Erlangen 1927). •) a. a. O., S. 64. ') P B B . 53 (1929), S. 6 5 f f . «) a. a. O . , S. 91. s)

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herausgelesen worden 1 ). Eines ist klar geworden, daß sich nämlich ein Urteil über die Kompositionskunst des gesamten höfischen Romans einschließlich Chrestiens nicht übers Knie brechen läßt. Chrestiens Romane, in erster Linie der Perceval, stellen der Interpretation besondere Aufgaben. Sie werden darin bestehen, zu zeigen, wie Chrestien die Szenen durchaus nicht episch gleichmäßig behandelt, wie er mit aller Absicht Gruppierungsmittel verwendet, um die Handlungsglieder in gegenseitige Beziehung zu bringen, wie er zwar eine kompositioneile Zweiteilung im Aufbau bevorzugt, sie aber keineswegs rein symmetrisch anordnet, wie er die Haupthandlung aus einem epischen Konflikt entspringen und sie von einem durchgehenden Gedanken getragen sein läßt, wie er sie nach effektischen und spannungsmäßigen Prinzipien akzentuiert und wie er ihr vor allem in der Atmosphäre des Artushofes poetische Einheit verleiht.

II. Einheit und Gliederung des Gesamtwerkes und des Percevalromans Der Percevalroman erweist sich von vornherein charakterisiert als Glied eines dichterischen Gesamtwerkes. Als solches hat er Teil an dessen poetischer und motivischer Einheit. Die Einzelromane Chrestiens sind soziologisch betrachtet der Ausdruck einer literarischen Mode, die ihrerseits eine Spiegelung der höfischen Kultur bedeutet. In den epischen Figuren des Königs Artus und seiner Ritter sind die Ideale der höfischen Lebenskunst objektiviert. Sie sind die Musterbilder des ritterlichen Ethos und zugleich Träger einer einmaligen p o e t i s c h e n G e s a m t a t m o s p h ä r e , die Chrestien geschaffen hat ä ). Mit der Märchenstimmung zusammen bietet der Artushof die „Rahmen-Stücke" 8 ) für die Ritterromane Chrestiens. Die Gleichheit dieses Rahmens verbürgt die poetische Einheit des Gesamtwerkes. Manchmal, wie im Cliges, sind diese Zusammenhänge Wendelin Förster ging es bei seiner Chrestien-Forschung vor allem um die Textgestalt, die geschichtliche Fixierung und die Sinndeutung. W o er sich über Fragen des Aufbaues ausspricht, neigt er zur Ansicht Sarans. Vgl. die kleine Yvainausgabe (2. Aufl., Romanische Bibliothek, Bd. 5, Halle a. d. S. 1902), S. X X V / X X V I und: Der Karrenritter und das Wilhelmsleben (Christian von Troyes, Sämtliche erhaltene Werke, Bd. 4, Halle a. d. S. 1899), S. L X X X I , Anm. 1. — Das Werk Gustave Cohens, Chrétien de Troyes et son œuvre (Paris 1931) gibt nirgendwo Aufschluß über eine Gesetzlichkeit in der Komposition der Chrestienschen Romane. 2) Auf der poetischen Rolle dieser Atmosphäre in Chr. s Romanen verweilt mit großem Nachdruck Reto R. Bezzola, Zur künstlerischen Persönlichkeit Chrétiens, Archiv 167 (1935), S. 42ff. A u c h Bezzola betont die Notwendigkeit, Chr.s K u n s t vor allem von der Seite der Komposition aus zu deuten. s ) Robert Petsch, Motiv, Formel und Stoff, Z d P . 54 (1929), S. 380. I c h mache mir im folgenden einige Termini dieses Aufsatzes zu eigen.

I I . Einheit und Gliederung des Gesamtwerkes und des Percevalromans

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herausgelesen worden 1 ). Eines ist klar geworden, daß sich nämlich ein Urteil über die Kompositionskunst des gesamten höfischen Romans einschließlich Chrestiens nicht übers Knie brechen läßt. Chrestiens Romane, in erster Linie der Perceval, stellen der Interpretation besondere Aufgaben. Sie werden darin bestehen, zu zeigen, wie Chrestien die Szenen durchaus nicht episch gleichmäßig behandelt, wie er mit aller Absicht Gruppierungsmittel verwendet, um die Handlungsglieder in gegenseitige Beziehung zu bringen, wie er zwar eine kompositioneile Zweiteilung im Aufbau bevorzugt, sie aber keineswegs rein symmetrisch anordnet, wie er die Haupthandlung aus einem epischen Konflikt entspringen und sie von einem durchgehenden Gedanken getragen sein läßt, wie er sie nach effektischen und spannungsmäßigen Prinzipien akzentuiert und wie er ihr vor allem in der Atmosphäre des Artushofes poetische Einheit verleiht.

II. Einheit und Gliederung des Gesamtwerkes und des Percevalromans Der Percevalroman erweist sich von vornherein charakterisiert als Glied eines dichterischen Gesamtwerkes. Als solches hat er Teil an dessen poetischer und motivischer Einheit. Die Einzelromane Chrestiens sind soziologisch betrachtet der Ausdruck einer literarischen Mode, die ihrerseits eine Spiegelung der höfischen Kultur bedeutet. In den epischen Figuren des Königs Artus und seiner Ritter sind die Ideale der höfischen Lebenskunst objektiviert. Sie sind die Musterbilder des ritterlichen Ethos und zugleich Träger einer einmaligen p o e t i s c h e n G e s a m t a t m o s p h ä r e , die Chrestien geschaffen hat ä ). Mit der Märchenstimmung zusammen bietet der Artushof die „Rahmen-Stücke" 8 ) für die Ritterromane Chrestiens. Die Gleichheit dieses Rahmens verbürgt die poetische Einheit des Gesamtwerkes. Manchmal, wie im Cliges, sind diese Zusammenhänge Wendelin Förster ging es bei seiner Chrestien-Forschung vor allem um die Textgestalt, die geschichtliche Fixierung und die Sinndeutung. W o er sich über Fragen des Aufbaues ausspricht, neigt er zur Ansicht Sarans. Vgl. die kleine Yvainausgabe (2. Aufl., Romanische Bibliothek, Bd. 5, Halle a. d. S. 1902), S. X X V / X X V I und: Der Karrenritter und das Wilhelmsleben (Christian von Troyes, Sämtliche erhaltene Werke, Bd. 4, Halle a. d. S. 1899), S. L X X X I , Anm. 1. — Das Werk Gustave Cohens, Chrétien de Troyes et son œuvre (Paris 1931) gibt nirgendwo Aufschluß über eine Gesetzlichkeit in der Komposition der Chrestienschen Romane. 2) Auf der poetischen Rolle dieser Atmosphäre in Chr. s Romanen verweilt mit großem Nachdruck Reto R. Bezzola, Zur künstlerischen Persönlichkeit Chrétiens, Archiv 167 (1935), S. 42ff. A u c h Bezzola betont die Notwendigkeit, Chr.s K u n s t vor allem von der Seite der Komposition aus zu deuten. s ) Robert Petsch, Motiv, Formel und Stoff, Z d P . 54 (1929), S. 380. I c h mache mir im folgenden einige Termini dieses Aufsatzes zu eigen.

8 II. Einheit und Gliederung des Gesamtwerkes und des Percevalromans gepreßt, aber sie sind trotzdem da. Die gleichen Ideale durchziehen die Romane Chrestiens: die Ideale der proesce, der hautesce, des hardemant, der corteisie, der largesce, der chevalerie. Sie gewähren eine Einheit der Stimmung, die aus der Typik der dargestellten Helden herauswächst. Das Publikum kannte bereits die wichtigsten Gestalten; Ii rois war für den Leser ohne weiteres gleich Artus, la reine wurde sofort als Guenievre verstanden, Ii seneschaus als Keu und man wußte sogleich, was man von Gauvain zu erwarten hatte, nämlich auserlesene Rittertaten und höfische Liebesverhältnisse. Aber nicht nur das Rahmenwerk, sondern auch die „ F ü l l m o t i v e " gewährleisten eine Verbindung der verschiedenen Romane 1 ). Vom Erec bis zum Perceval, den Guillaume d'Angleterre hier nicht ausgenommen, verwendet der Dichter eine Anzahl erstaunlich gleicher oder ähnlicher Motive, die ständig mit neuem Handlungssinn erfüllt werden. Es sind die immer wieder vorkommenden verzauberten Burgen, die schwierigen Flußübergänge, die Zauberringe und wundertätigen Salben, die gemeinen Zwerge, die schwierig zu bestehenden Abenteuer, die volles Entsetzen erregen und doch als höchste Ritterbewährung empfohlen werden. Nicht nur der Märchenrahmen 2 ), sondern auch die ritterlich-höfische Umkleidung des Geschehens wird mit solchen Motiven „erfüllt". So gibt es da Verpflichtungen zu Kampf oder Rückkehr, übermenschlich schwere Kämpfe, bei denen häufig der moralisch minderwertige Gegner zuerst zu siegen scheint, vertraute Untergebene, die durch überlegene List die Handlung fördern und die Lösung herbeiführen, Turniere, die mehrere Tage dauern und an denen der Held unerkannt in wechselnder Rüstung teilnimmt. Die Füllmotive können sogar als Parallelen wirken, die es dem Leser oder Hörer freistand, herzustellen. Dazu sind zu rechnen: die Bestrafung verfrühten Hochmutes (an Keu gezeigt im Erec, Lancelot, Y v a i n und Perceval), die unverdiente Schmach eines tapferen Helden (Lancelot auf der Karre, Gauvain auf seinem Klepper und in der Gesellschaft der Orguelleuse), blinde Ergebenheit gegen die Dame (Lancelot, Gauvain im Percevalroman), der Wachtraum eines Ritters, meistens in Gedanken an die ferne Geliebte (wie im Lancelot, Y v a i n und Perceval), Steigerung des Schmerzes über ihren Verlust bis zu Todessehnsucht und Wahnsinn (Lancelot und Yvain). Solche motivische Gleichklänge finden sich allerorten bei Chrestien, oft versteckt, meistens mit ihrer Umgebung zu vollkommen neuer gedanklicher und künstlerischer Einheit verschmolzen. Das ist j a auch Chrestiens besondere Leistung angesichts der ihm vorliegenden Stoffe. Zwischen dieser Stoffanpassung und *) Schon Förster gibt, Kristian von Troyes, Wörterbuch zu seinen sämtlichen Werken (Romanische Bibliothek, Bd. X X I , Halle a.d. S. 1914), S. 163 f. der Einleitung, eine Liste solcher Motive. 2 ) Zu den in Frage kommenden Märchenmotiven vgl. Gustav Ehrismann, Märchen im höfischen Epos, PBB. 30 (1905), S. 14ff.

II. Einheit und Gliederung des Gesamt Werkes und des Percevalromans g -Umwandlung und der Arbeitsweise der Epigonen des höfischen Romans besteht mehr als nur ein gradueller Unterschied. Überhaupt spielt von diesem Blickwinkel aus die Frage nach der Herkunft der Stoffe nur eine sekundäre Rolle. Auch das Aufdecken neuer Stoffquellen würde das Verdienst Chrestiens, mannigfaltigste Materialien in erzählerische Einheit gebunden zu haben, nicht schmälern können. In diesem Sinn muß er weiterhin als der Schöpfer des A r t u s r o m a n s angesehen werden. Die Einzelzüge des Rahmens, wie den größten Teil seiner Füllung, hat er mit der souveränen Unbekümmertheit des frei schaffenden Künstlers übernommen. Auch die ,,Kernmotive" sind größtenteils nicht seine Erfindung. Aber das, was die Flächen und Linien erst zum Bild macht, der große Zusammenhalt, der atmosphärische Grundton, in dem sich die Einzelfarben lösen, der Vorwurf des Ganzen, ist sein Eigentum. D i e s e Verschmelzung hat nicht vor Chrestien bestanden. Neben der motivischen Einheit sind gelegentliche Verbindungsfäden von Roman zu Roman festzustellen. Am deutlichsten wirkt hier die dreimalige Anknüpfung an den Lancelotroman im Yvain (37o6ff., 39i8ff., 474off.). Ähnlich kann der Hinweis auf den stets hilfsbereiten Y v a i n im Percevalroman (V 2884/85) gewertet werden. Besonders die Figuren Gauvains und Keus wirken in dieser Weise episch bindend. So wurde der Zusammenhang unter den einzelnen Romanen lebendig erhalten. Zur Einheit der Stimmung kam, wenn auch vage, der Eindruck einer handlungsmäßigen Ganzheit. D i e E i n z e l r o m a n e heben sich nun innerhalb dieser doppelten Einheit voneinander ab durch ihren Eigenstil, ihren Aufbau, ihre „Kernmotive" (die aber anderswo auch als „Füllmotive" auftreten können), durch die Besonderheit des Konfliktes und dessen seelische und geistige Bedeutung 1 ). Der E r e c ist gekennzeichnet durch ein Überwiegen optischer Beschreibungselemente, durch das starke Hervortreten der Kampfszenen, durch das Fehlen der psychologischen Kasuistik und dementsprechend der rhetorisch-spielerischen Redeszenen, durch die betonte „Rolle des Erzählers" und eine noch zurückhaltende Vers- und Reimbehandlung. Im Erec steht die Handlungsszene im Vordergrund, im C l i g e s die Rede- und Monologszene. Der Unterschied zwischen den beiden Romanen ist nicht zu verkennen. Das Tempo des Geschehens ist verlangsamt. Das r e f l e x i v e Erzählerelement gewinnt an Raum. Wie der Erec reich an rein menschlichem Gehalt ist, so ist der Cliges kurios durch die spiritualistische Gegensatzspielerei. Durch den Einfluß der höfischen Lyrik wird der Stil preziös. Die Beschreibung ist mit Vorliebe indirekt, die dichterische Anteilnahme an der Einzelszene richtet sich nach dem Grad des Publikumsinteresses für den betreffenden Stoff. l ) Den Guillaume d'Angleterre scheide ich aus dieser kurzen Übersicht aus, da es hier wesentlich darum geht, den Kunstcharakter des Artusromans klarzustellen.

XO II- Einheit und Gliederung des Gesamtwerkes und des Percevalromans Gegenüber diesem rhetorischen Prunk ist der L a n c e l o t voll spannender Rätsel und märchenhaften Dunkels. Das beschreibende und seelenzergliedernde Moment ist beinahe völlig abwesend. Das Queste-Motiv erscheint hier schon so wie in den Gralfortsetzungen und in den Prosa-Gralromanen, wo es scheinbar völlig gesetzlos Geschehen an Geschehen fügt. Wie im Erec die Schachtelung und Szenensteigerung, im Cliges die Doppelsinnigkeit und die rhetorisch unterstrichene Antithese, so ist im Lancelot die Spannung das inhaltliche Hauptmotiv des Aufbaues. Im Erec schafft Chrestien eine von Sinn durchleuchtete Abenteuerfolge, im Cliges eine bis in die Einzelheiten mehrdeutige Handlung, im Lancelot eine Fülle von nie ganz gelüfteten Geheimnissen. Der Erzähler ist hier kaum hinter dem Geschehen spürbar. Der Stoff steht oft weit vom Sinn ab (vgl. Prolog V 26 matiere e t san). Der Lancelot ist der eigentliche ,,Thesen"-Roman, der j a die Gefahr der außerkünstlerischen, dem Stoff aufgezwungenen Ideenpropagierung mit sich bringt. Erec, Y v a i n und Perceval weisen dagegen eine stärkere Gemeinsamkeit von Sinn und Stoff auf. Der Y v a i n schließlich zeichnet sich durch seine virtuose Behandlung der Redeszenen, seine Hyperbolik und den stark sentenzenhaften Ton aus. Im Y v a i n ist die Schuldfrage ganz anders klar als im Erec und Cliges. E r stellt wirklich die Kernfrage der höfischen Moral zur Debatte. Im Erec geht es um viel mehr „privates" Geschehen, weil hier die Abenteuer individuelleren Charakter haben, im Cliges um die persönliche Vermeidung des Tristanschicksals. Y v a i n muß Ritter im Vollsinn des Wortes, also humaner Ritter sein, um seine o b j e k t i v e Schuld zu sühnen. Da seine Taten so als Exempla einer ritterlich-höfischen Wertlehre wirken, sind sie nicht unzusammenhängend. Sie haben ihre Verknüpfung in dem G e s a m t s i n n der Handlung. E s liegt nahe, die Abfolge dieser Werke in eine E n t w i c k l u n g s r e i h e bringen zu wollen. Den ersten Versuch dieser Art hat M. LotBorodine unternommen 1 ). Aber ihr an gelungenen Einzeldeutungen und feinsinnigen Interpretationen reiches Buch mußte in der Schlußsynthese scheitern, weil es die so komplexen Romanhandlungen Chrestiens auf die Liebeskonflikte einengte. Eine Entwicklungslinie kann nur in der verschiedenen Akzentuierung der Titelhelden gesehen werden, und auch da nur in der Reihe: Erec-Yvain-Perceval; denn der Cliges ist stofflich kein reiner Artusroman und der Gehalt des Lancelotromans wurde dem Dichter von seiner Gönnerin vorgegeben. E s lockt weiterhin, die Entwicklung des Werkes auf eine Entwicklung der Dichterpersönlichkeit zurückzuführen, mit anderen Worten die literarische Betrachtung zur biographischen abzubiegen. Aber *) Myrrha Borodine, La femme dans l'œuvre de Chrétien de Troyes (Paris 1909).

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die Abwesenheit jeglicher Anhaltspunkte über die Lebensgeschichte Chrestiens weist uns immer wieder auf das Werk zurück. Dagegen kann die Entwicklung von der privaten Ethik im Erec zur humanen im Yvain und zur religiös begründeten im Perceval mit Sicherheit behauptet werden. Sie ist in hervorragendem Maße sichtbar am Übergang vom vorletzten zum letzten Roman. Es liegt eine Steigerung vor, auf die bereits Förster aufmerksam gemacht hat 1 ). Wie Witte mit Recht hervorhebt, ist schon der Yvain ein Entwicklungsroman und „eine Vorstufe zum Perceval"'). Der schuldige Perceval wird zu Sünde und Gottvergessen getrieben, wie der von Laudine verstoßene Yvain zu Lebensüberdruß und Wahnsinn. In beiden Werken zeigt der Dichter „die tiefe menschliche Erfahrung, daß man das allzu rasch gewonnene Glück erst dann zu schätzen weiß, wenn man es verloren h a t . . . Was hier im Yvain noch ganz im Irdischen befangen ist, das wird dort, im Perceval, zum Göttlichen erhoben" 3). Der Vergleich der einzelnen Romane läßt sich auch nach dem Prinzip des Aufbaues durchführen. Diese Gegenüberstellung ergibt in sämtlichen Artusromanen Chrestiens die W i r k s a m k e i t e i n e s ü b e r r a s c h e n d g l e i c h e n S c h e m a s 4 ) . Die Einheit des Gesamtwerkes ist gewährleistet durch die höfische Atmosphäre des Artushofes. Es ist bedeutsam, daß vom gleichen Rahmenwerk auch die Gliederung der Romane gestützt und getragen wird: Einheit und Gliederung sind somit von einem Prinzip getragen. Schon im Aufbau erweist sich demnach die Form vom Gehalt bedingt. Die Romane Chrestiens bestehen aus zwei mehr oder minder eng miteinander verbundenen Teilen. Lose ist ihr Zusammenhalt im Cliges, wo Chrestien das dem Mittelalter so geläufige genealogische Schema verwendet und so die oströmische Atmosphäre mit der Artuswelt koppelt. Im Erec und Yvain ist die Gewinnung Enidens bzw. Laudinens abgesetzt vom eigentlichen Romangeschehen. Der Percevalroman ist durch die Scheidung in Perceval- und Gauvainepisoden am schärfsten getrennt. In allen vier Werken erfolgt nun diese wichtigste Handlungsgliederung in unmittelbarem epischem Zusammenhang mit der wegen ihrer kompositionellen Bedeutung so zu nennenden H a u p t - A r t u s s z e n e . Sie beginnt an folgenden Stellen: Erec V 2135 (Beginn des Hochzeitturniers), Cliges V 2383 (Ende der Vorgeschichte), Yvain V 2639 (Yvain vergißt die Heimkehrverpflichtung), Perceval V 4603 (Ankunft der häßlichen Botin). In allen Fällen ist das Romangeschehen bereits vor dieser zentralen Szene längere Zeit im Bann der Artusatmosphäre. Das Mittelstück des Artusrahmens trennt ja nicht nur, sondern es verbindet auch !) Kleine Yvainausgabe, S. X X f. ») a. a. O., S. 129. ») Ebd. ) Dem Lancelot muß auch hier eine Sonderstellung eingeräumt werden. 4

12 II. Einheit und Gliederung des Gesamtwerkes und des Percevalromans nach vorne und rückwärts. Es befindet sich im Yvain an der Stelle, da der Held nach der Gewinnung Laudinens, der Besiegung Keus und der Anerkennung Gauvains auf dem Gipfel seines Glückes steht, im Erec, wo Erec Enide heimgeführt hat und das Ziel des Romans sich scheinbar erfüllt hat. Im Perceval ist die große mittlere Artusszene von größter kompositioneller Wichtigkeit. Der Held ist nach langem Suchen von Artus gefunden und geehrt worden. Hier liegt also ein Handlungseinschnitt vor, der in diesem Roman deswegen erhöhte Bedeutung besitzt, weil sich unmittelbar darauf die Handlung durch die parallele Beschuldigung der beiden Helden gabelt. In allen drei Fällen h a t das Geschehen mit einer Auszeichnung der Titelgestalt einen Ruhepunkt erreicht. Zwei weitere Beobachtungen erhärten die Übereinstimmungen in den betrachteten Mittelszenen zum Gesetz. Der entscheidende Konflikt, der die Handlung von neuem in Gang setzt, befindet sich jedesmal am Beginn des zweiten Romanteiles: im Erec das Gespräch zwischen den beiden Gatten über die Zweifel an Erecs Rittertum, im Cliges die bindende Abmachung zwischen Alis und Alixandre über des ersten Ehelosigkeit, im Yvain das schuldhafte Versäumnis des Helden, im Perceval die Verfluchung wegen der Unterlassung der Fragen. Außerdem aber ist die Bedeutung dieser Angelpunkte der Handlung episch dadurch wirkungsvoll unterstrichen, daß vor oder unmittelbar nach ihnen eine Zeitpause liegt. Und da Chrestien sonst das Geschehen außerordentlich verdichtet, überhaupt die Zeit als wesentlichen Faktor der Handlungsführung, sowohl nach der „Längserstreckung" wie der „Dauer" 1 ) nutzt, kann hier wiederum nur von künstlerischer Absicht gesprochen werden. Noch über diese Zweiteilung hinaus aber lassen sich die Artusszenen bei Chrestien als die tragenden Pfeiler der Romanarchitektur aufweisen. In den vier verglichenen Werken begegnet auch eine e r s t e A r t u s s z e n e , im Erec und im Yvain ganz zu Beginn, im Cliges und im Perceval als zweite bzw. als dritte Szene der Gesamthandlung. Der Unterschied kommt daher, daß in den beiden ersten Romanen die Ereignisse als Beginn einer streng höfischen Erzählung angesponnen werden 8 ), im Cliges als ein der Artuswelt im Grunde fremdes Geschehen, im Perceval dagegen als Anlauf einer seelischen Entwicklung. Die zentrale Artusszene, die die zweite Episodenreihe vorbereitet, verhindert das Zurückgleiten der Handlung in die Ruhe. Die neuen Impulse kommen dann im zweiten Romanteil zur Durchführung und werden schließlich auf einer d r i t t e n A r t u s s z e n e , die einen Teilungspunkt von untergeordneter Bedeutung darstellt und deren Platz weniger fest ist, unterbrochen. So kommt Erec auf seiner l

) Robert Petsch, Wesen und Formen der Erzählkunst (Halle a. d. S. '934). S. 97. a ) Ebenso ist es auch im Lancelot.

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Abenteuerfahrt unvermutet zum Artushof (V 3931 ff.). Da die Läuterungsfahrt aber noch nicht abgeschlossen ist, zieht er mit Enide weiter. Cliges hält alle Verwicklungen ein erstes Mal hintan durch seine Reise an den Artushof (V 4237 ff.). Selbst Lancelot durchbricht seine Gefangenschaft und erscheint am Hof zum Damenturnier (V 5379ff.). Im Y v a i n findet sich, der Besonderheit seiner Handlung gemäß, eine das Ende vorbereitende Laudineszene, in der der Held unerkannt seiner zürnenden Dame gegenübertritt (V 4385ff.). Im Perceval bricht der Dichter unmittelbar vor dieser dritten wichtigen Teilungsszene ab. Sie ist in jedem Falle wieder (für den Perceval allerdings läßt sich das nicht erkennen) durch eine, im Erec nur sehr schwache. Zeitpause markiert und beruht erzählerisch auf einer Kampf- oder Turnierschilderung. Der Anfangsszene am Artushofe entspricht schließlich in jedem der vollendeten Romane eine ebensolche S c h l u ß s z e n e , auf der die Handlung wiederum in die Rahmenatmosphäre einmündet. Wichtig ist hier, daß auch im Cliges (V 6673 ff.) und im Y v a i n (V 5872—6527) der Erledigung aller äußeren und seelischen Konflikte eine Artusszene vorgelegt ist. Es besteht keine Veranlassung, daran zu zweifeln, daß das im ausgeführten Percevalroman anders gewesen wäre. So bestätigt sich, durch die konsequente Verdoppelung der Romanteile (1. Handlungsteil: Erec: 2134, Cliges: 2382, Y v a i n : 2638, Perceval : 4602 Verse; Beginn der Zwischenteilungsszene: Erec: V 3 9 3 1 , Cliges: 4237, Y v a i n : 4385 2 ), Perceval: unmittelbar vorbereitet von V 9 1 5 5 ab) die schon von Wechssler») ausgesprochene Vermutung, daß der letzte Roman Chrestiens den doppelten Umfang der früheren erhalten sollte. Der frühe Beginn dieser Szene im Erec erklärt sich durch die Ausweitung der in ihrer geistigen und kompositioneilen Bedeutung wohlberechneten Episode der Hoffreude, die zwischen dem E n d e der L ä u terungsfahrt und Erecs Krönung eingeschoben ist. Daß sie mehr ist, als nur ein willkürliches Anhängsel, haben zuletzt R . R . Bezzola, a. a. O. und Ernest Hoepffner, 'Matière et sens' dans le roman d ' E r e c et Enide, Arch. rom. 1 8 (1934), S. 4 4 7 f f . gezeigt. 2 ) Ich sehe in der Vergleichung der einzelnen Romane einen Beweis, daß, trotz Wittes scharfsinnigem Gliederungsschema des Y v a i n , die Wahnsinnsszene schon zum zweiten Teil des Romans gerechnet werden muß. Wenn Witte (S. 90) dagegen ins Feld führt, daß die Schallanalyse vor den V 3 3 4 1 ff. eine längere Pause erweist, so läßt der von mir als Neubeginn angenommene Abschnittsanfang in V 2 6 3 9 ff. wohl dieselbe Deutung zu. V g l . :

Mes sire S'est de Mes sire Par une

Y v a i n s mout a anviz la dame departiz . . . mit: Y v a i n s pansis chemine parfonde gaudine . . . (V 3 3 4 1 ! . ) .

Inhaltlich ist die kurze Zusammenfassung in V 2 6 3 9 f . sogar noch besser als A n f a n g des neuen Teiles geeignet. ») a. a. O., S. 1 6 1 .

X4 II. Einheit und Gliederung des Gesamtwerkes und d e s P e r c e v a l r o m a n s Die vergleichende Betrachtung der Romane ergibt also eine auffallende G e s e t z m ä ß i g k e i t d e s A u f b a u e s . Sie beweist, daß viel romanischer Form- und Gliederungswille bei Chrestien lebendig ist. Damit widerlegt sich die Behauptung von der Aggregattechnik. Sodann ist eine erste Bestätigung für die neuerdings wieder bestittene Einheit des Percevalromans geliefert. Diese Einheit kann freilich deswegen leicht als fragwürdig erscheinen, weil eine unmittelbare Verbindung zwischen Perceval- und Gauvainhandlung fehlt. Nicht ein einziges Mal wird Perceval in den Gauvainszenen genannt. Doch stellt wenigstens das Motiv der Lanzensuche eine äußere kompositioneile Verbindung her. Daß der Gauvainanteil überhaupt von Chrestien stammt 1 ), wird sich in seiner Übereinstimmung mit den dem Dichter eigenen tektonischen und stilistischen Zügen zeigen; daß sein heutiger Platz im Roman der von Chrestien beabsichtigte ist, wird durch eine Fülle paralleler und gegensätzlicher Einzelheiten klar, die darauf hin weisen, daß die sich aus dem Nebeneinander der beiden Helden ergebenden Kontrastwirkungen der beiden Romanteile vom Dichter gewollt waren2). Es war die Leistung Wolframs, die fehlenden 1 ) Über den T e x t u m f a n g des Percevalromans vgl. den A u f s a t z des Verfassers, Wege und Ziele der neuen Chrestien de Troyes-Forschung, G R M . 23 (1935), S. 207. Die A r b e i t von Frl. Thomasse, L a langue et le style de Chrétien de Troyes dans Perceval comparés à ceux de ses continuateurs (Mémoire de diplôme d ' E t u d e s supérieures présenté à la Faculté des lettres, Paris 1934) war mir nicht zugänglich. A u s dem Inhaltsbericht in Annales de l'Université de Paris, 10 (1935), S. 72t. läßt sich aber ersehen, d a ß es der Verfasserin um die Widerlegung der Wilmotte'schen These (vgl. G R M . ebd.) zu tun ist, und zwar hauptsächlich mit linguistischen Argumenten. Seit dem Erscheinen jenes Aufsatzes hat Philipp A u g u s t B e c k e r seine Verfasserschafts-These dahin weitergebildet, daß nicht einer, sondern zwei Fortsetzer Chr.s T e x t a n t e i l weitergeführt hätten. Vgl. Der gepaarte Achtsilber in der französischen Dichtung (Abhandlungen der phil.-hist. K l a s s e der Sächsischen A k a d e m i e der Wissenschaften, Bd. 43, Nr. 1, Leipzig 1934), S. 1 1 0 — 1 1 2 u n d : V o n den Erzählern neben und nach Chrestien de Troyes. II. Wieder in der Champagne, Z r P . 55 (1935), S. 400—416. Nach Becker liegen die Grenzen der einzelnen Anteile „ d a s einemal beim Erwachen Percevais auf der Gralburg, etwa bei V 3356 oder beim Verlassen der Burg, zwischen V 3420 und 3430, das andere Mal bei seinem Wiederauftauchen zur Beichte beim Einsiedel, also bei V . 6 2 1 7 (oder 6199)" (S. 400). Da ich mir keinen sachlichen Vorteil a u s einer polemischen Umorientierung meiner einzelnen K a p i t e l erwartet hätte, habe ich an ihrem Gedankengang nichts geändert. Die in Frage kommenden kompositionellen Fugen und Schwächen des Romans hatten j a ohnehin schon zur Diskussion der gleichen strittigen P u n k t e veranlaßt. E s k o m m t im Vorausgehenden und im Folgenden vor allem darauf an, die Einheit des „ P e r c e v a l le v i e i l " aus kompositioneilen, poetischen und geistigen Gründen zu beweisen. Entscheidend ist jedoch der Nachweis Beckers, „ d a ß Guiot de Provins als Fortsetzer des Gralromans voraussichtlich nicht in Betracht k o m m t " (ebd.). s ) E s handelt sich bei Chr.s Doppelkonstruktion natürlich nicht u m eine gedankliche oder ethische Antithese, sondern um die Gewichtsverlagerung auf eine andere Stufe der Wertwirklichkeit. Der Ausdruck „ K o n t r a s t " wird oben nur zur übertreibenden Veranschaulichung d e s

IX. Einheit und Gliederung des Gesamtwerkes und des Percevalromans

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kompositionellen Bindeglieder zu schaffen und die Aufmerksamkeit des Lesers immer wieder während der Gauvainhandlung auf den Titelhelden hinzulenken. Im Percevalroman haben wir eine Doppelheit der geistigen Welt vor uns, der eine D o p p e l h e i t in d e r R o m a n t e c h n i k entspricht. Chrestien hat einen Entwicklungsroman neben einen Ereignisroman stellen wollen. Rein prinzipiell gesehen ist es möglich, daß ein mittelalterlicher Dichter sich gleichzeitig auf zwei verschiedene Stufen (gradus) der (als Einheit verstandenen) Weltwirklichkeit stellte. Wenn Günther Müller diese Tatsache von zwei Werken Lamprechts, die aus einem verschiedenen Grundcharakter heraus „stilistisch und ethisch verschiedene Normen" befolgen 1 ), aussagt, warum sollte nicht eine solche Doppelheit in e i n e m Werk als künstlerische und vor allem als kompositioneile Absicht von höchster Eindrucksgewalt denkbar sein ? Chrestien hat in der Tat, das läßt auch das heutige Fragment deutlich genug erkennen, diesen Plan seinem Werke zugrunde gelegt. Die Überzeugung von der Existenz eines solchen Grundplanes im Perceval braucht freilich nicht die Tatsache übersehen zu lassen, daß dieser Plan nicht in allem künstlerisch verwirklicht ist. Die Verlagerung des Romangeschehens auf zwei Haupthelden ist bereits in früheren Werken Chrestiens vorbereitet. Gauvain ist j a im Lancelot geradezu zu einer Parallelfigur des Titelhelden geworden und wirkt im Y v a i n vom Standpunkt der Minnetheorie aus sogar als gegensinnig. Die beiden Handlungen des Percevalromans sind in Motivierung, Szenenverknüpfung und Kompositionsmitteln verschieden. Auch das ist im Gesamtwerk Chrestiens nichts grundsätzlich Neues. Der Erec zeigt im ersten Teil (so klar wie sonst nirgends bei Chrestien) die Geltung des Saranschen A B A B - S c h e m a s , im zweiten eine deutliche A b e n t e u e r s t e i g e r u n g mit gelegentlichen Verknüpfungen. Im Cliges ist es nicht anders. Die Vorgeschichte schachtelt Alixandreund Soredamors-Szenen konsequent ineinander, während der Hauptteil (von der durch die Zwischen-Artushandlung gegebenen Retardierung abgesehen) eine aufsteigende, an Spannung ständig wachsende Verwicklung der scheinbaren Konflikte bringt. Wenn auch im Lancelot der Übergang über die Schwertbrücke nur als schwache Mittelteilung wirkt, so hebt sich doch die Queste im ersten Teil von Verwicklung und Lösung im zweiten sichtbar ab. Diese Unterschiede werden durch die verschiedengewichtige Verwendung der Märchenstoffe noch deutlicher. Auch das weist auf den Percevalroman hin, wo (von der Sonderrolle der Gralszene abgesehen) in den Gauvainszenen reichlicher als im Percevalgeschehen Märchenmotive verwendet werden. Der Y v a i n kennt solche Gegensätze nicht. E r ist Romanaufbaues gebraucht. Über Chr.s Stellung zu Dualismus und Gradualismus vgl. die Kap. über die Motivierung und das Weltbild. !) G. Müller, a. a. O., S. 710.

l 6 II. Einheit und Gliederung des Gesamtwerkes und des Percevalromans von allen Romanen Chrestiens am konsequentesten aufgebaut und leistet Besonderes in der Verklammerung und Zusammenordnung der Einzelhandlungen. Die starke, fast schematische Symmetrie mancher Handlungsteile, die Witte aufzeigt, kann nur mit den parallel geführten ersten Szenen der Percevalhandlung verglichen werden. Auch d i e G l i e d e r u n g d e s P e r c e v a l r o m a n s ist von innen her bedingt. Zwar gilt hier nicht weniger als früher das für Chrestien typische Normalschema des höfischen Rahmens, aber der epische R a u m zwischen den festen Eckkanten der Artusszenen (833—1300, 4603—4796, 9 i 5 5 f f . ) hat eine vom speziellen Stoff und von dessen charakteristischen Kernmotiven geforderte eigenartige Struktur. Der Handlungsplan des Romans ist in dem „inneren B i l d e " 1 ) verhaftet, nach dem sich gemäß mittelalterlicher Philosophie und Poetik die Entstehung des künstlerischen Werkes ausrichtet. Damit aber entfällt jede Möglichkeit, den höfischen Roman als unzusammenhängende Episodenmasse oder als für stückweises Vorlesen abgefaßte Abschnittsreihe zu erklären. Wenn wir es unternehmen, die Gesetze des Romanaufbaues in einem Schema darzustellen, so gehen wir von der Überzeugung aus, daß sich seine Geltung nur am gestalteten W e r k e (ob vollendet oder wie in unserem Falle unvollendet, ist hier ohne Belang) erweisen kann. Die Symmetrien und Parallelismen, Wiederholungen und Kontraste in der Struktur des Romans sind vom Dichter mit dem Stoff gewollt. Also sind sie wirklich. Nur bestehen sie nicht, wie es die Interpretation in dem Bewußtmachen der unbewußten dichterischen Entstehungsfaktoren zu zeigen scheint, außerhalb des Stoffes, sondern im Stoff. Dieses Ineinander muß notwendigerweise in der Zergliederung des Kunstganzen zum Nebeneinander werden. Daß infolgedessen der aus den Geschehnissen herausgelöste Plan dem schaffenden Epiker nicht in dieser bewußten Abstraktion vorgelegen ist, ist kein stichhaltiger Einwand dagegen, daß dieser Plan von Chrestien nicht trotzdem in seinem Werk angelegt und verwirklicht ist. Die Tektonik des Romans 1—4602 I. R o m a n t e i l : D i e E n t w i c k l u n g P e r c e v a l s v o m D ü m m l i n g zum A r t u s r i t t e r . 1—68 Prolog 69—1698 I. P e r c e v a l s R i t t e r w e r d u n g 69—634 I. Aufbruch des Dümmlings in die Welt 69—306 a) Perceval entdeckt das Rittertum 307—504 b) Perceval erfährt seine ritterliche Abstammung 505—598 c) Die Lehren der Mutter 599—634 d) Percevals Eigenwille verschuldet den Tod der Mutter *) H. Brinkmann, a. a. O., S. 9.

11. Einheit und Gliederung des Gesamtwerkes und des Percevalromans 635--832 635-—686 687-—780 781-- 8 3 2

833-—1300 833—902 (903)-—1032 1033-—1206 120 7-—1300

I3OI- -1698 I30I--1472

I473- - 1 5 9 2 I593- -1698 1699--2932 1699-- 1 7 7 0 I77I-—2160 I77I-—1920 I92I-—2066 2067-—2160 2161-—2708 2161-—2392

2393- —2560 2561-—2708

2709--2932 2709-—2906 (2907)-—2932

(2933)- -3690 poetisch getragen. Es scheint, als ob zwei Ritter gekommen seien, um in den Kampf einzugreifen. Die Spannung der Hofdamen wird noch lebendiger gestaltet durch ihre Überlegungen und Erklärungsversuche. Gauvain wird für einen Kaufmann, einen Geldwechsler, einen Zollschwindler gehalten. Eine andere Hofdame glaubt, er habe Urfehde geschworen (V 5054ff.). Nur die „Pucele as Manches Petites" glaubt an seine Ritterschaft. Lebendig und zugleich erheiternd ist in das Motiv der Täuschung der Streit der beiden Schwestern verwoben. In der Greoreasepisode verbindet der Dichter die Täuschung mit anderen Spannungsmotiven. Greoreas ist der Todfeind Gauvains. Aber der Dichter sagt es nicht sofort, vielmehr wird erst vorgeführt, wie Gauvain um sein Pferd gebracht wird (V 7041 ff.). Nicht Gauvain erkennt Greoreas, sondern dieser erkennt ihn: S'a mon seignor Gauvain veü: Lors primes l'a reconeü (V 7065f.).

IV. Retardatio, Wunder und Doppelsinn

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Dies einseitige Spiel dauert eine Weile und es ist tragische Ironie, daß es Gauvain lachend für einen Witz nimmt, daß der hinterlistige Greoreas auf seinem Roß hin und her reitet. Der Greoreas gibt sich aber noch nicht zu erkennen. Die Spannung wird weiter angehalten. Gauvains Unschuldserklärung und des Greoreas Enthüllung stehen im Gegensatz (V 7090ff.). V 7118 erst, nachdem Gauvain noch einmal festgestellt hatte, daß er den Ritter nie gesehen habe, fällt der Name. Die Szene ist auf dem Höhepunkt: Gauvain gehen endlich die Augen auf. Die Szene fällt dann rasch ab. Der Leser erfährt jetzt auch die Vorgeschichte der ganzen Episode (V yiogff.). Diese unterbricht die Orguelleusehandlung, knüpft aber andererseits an die spätere Besiegung des Furtwächters an. Das System der Handlungsverschlingung wird auch hier deutlich. Chr. läßt die Gestalten der Handlung oft ein Doppelspiel spielen, sie anders reden, als sie denken. Der Leser durchschaut dabei das Spiel, während die angeredete Person ernsthaft auf etwas reagiert, das nur als Täuschung gemeint sein kann. Als Blancheflor Perceval zum Kampf gegen Anguingueron anstacheln will, da sagt sie ihm in höfisch gewundenen Worten, es tue ihr keineswegs leid, daß Perceval abziehe, da sie ihn doch nicht standesgemäß bewirten könne. Perceval will natürlich trotzdem in den Kampf ziehen und erbittet ihre Minne als Siegespreis. Blancheflor verflicht so geschickt Abreden von dem Wagnis und Anstachelung des Ehrgeizes, daß sie Perceval ohne weiteres für ihre Sache gewinnt. Der Dichter tritt hier hinter dem Bericht hervor und verrät sein Spannungsprinzip, das er mit der ihm eigenen Kürze in die wenigen Worte, die in nuce die ganze Szene enthalten, zusammendrängt: Qu'ele Ii a mis an corage Ce qu'ele Ii blasme mout fort (V 2136f.). Höhepunkte doppeldeutigen Erzählens liefert dann die epische Ausnutzung des Verkleidungsmotivs. Echte Kunst Chr.s ist das rhetorische Spiel mit superlativischen Antithesen, als Gauvain vor der alten Königin Yguerne über sich selber spricht, aber seinen Namen nicht nennt. Die Stelle gibt den ähnlich gearteten im. Yvain nichts nach. Yguerne fragt Gauvain, ob er zu den gefeiertsten Rittern der Welt, denen der Tafelrunde gehöre. Und Gauvain: „Dame", fet il, „je n'oseroie Dire que des plus prisiez soie, Ne me faz mie des meillors, Ne ne cuit estre des peors" (V 8i27ff.). Der Leser befindet sich im Einverständnis mit dem Dichter und freut sich über das Wissen, das er einem Teil der handelnden Personen voraushat. Gleich darauf wird die doppelsinnige Situation noch einmal ausgenützt, als der Wunsch Yguernes, ihre Enkel

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IV. Retardatio, Wunder und Doppelsinn

bei sich zu haben, was Gauvain betrifft, schon in Erfüllung gegangen ist. Das Beispiel jedoch, an dem sich am besten die Verwertung des Verkleidungsmotivs zeigen läßt, befindet sich im Gespräch zwischen Gauvain und dem Guiromelant (V 8721 ff.). Dieser erzählt Gauvain von den Personen der Wunderburg, auch von der Mutter seines Todfeindes Gauvain. E r weiß j a nicht, wen er vor sich hat, hat auch noch nicht nach dem Namen seines Gesprächspartners gefragt. Auch diesmal wieder befindet sich der Leser mit dem Dichter auf der Seite Gauvains, der seine Lage in ihrer ganzen Tragweite und Gefährlichkeit überschaut. Reizvoll ist, wie Gauvain mit dem Guiromelant über sich selber spricht: . . . Gauvain, biaus sire, Conois je bien et bien os dire . . . (V 8753f.). Der Doppelsinn wirkt da weiter, wo der Guiromelant Gauvain ohne es zu wissen anspricht. E r würde ihm wahrhaftig, wenn er ihn vor sich hätte, Si con je taing vos ci elu6s . . . (V 8767), den Kopf abschlagen. Schon fragt sich der Leser, wie und wann wohl das Erkennen der Feinde erfolgen werde. Die gewöhnliche Verzögerungstechnik Chr.s wirkt in die Szene hinein, denn über den Grund der Feindschaft ist noch gar nichts gesagt worden. E r wird V 8778 ff. nachgeholt. Ganz zu Unrecht beschwert sich der Guiromelant außerdem darüber, daß er noch nie Gelegenheit gehabt habe, seinen angeblich von Gauvain ermordeten Vetter zu rächen (V 8784f.). Jede dieser Stellen hat doppelten Sinn, ist zugleich wahr und falsch, vom Guiromelant dem ganzen Inhalt der Worte nach gemeint, von Gauvain gespielt. So wickelt sich das Geschehen tatsächlich in einem Zwischenreich der Wortbedeutungen ab. Täuschung und Erkenntnis, Schein und Wirklichkeit stehen sich gegenüber. Die Illusion umgibt das ganze Gespräch mit schillernder Zweideutigkeit. Den Spaß hat natürlich der Leser, für den der Dichter jede nur mögliche Spannungswirkung aus der Szene herausholt. Die Verwicklungen komplizieren sich noch dadurch, daß der Guiromelant Gauvains Schwester Clarissant im Wunderschloß liebt, an die er ihm eine Botschaft aufträgt. Diese enthält eine Schmähung des Bruders (V 879off.). Unerkannt hat Gauvain für sich gesprochen (V 8772 ff.) und seine Schwester mit den höchsten höfischen Attributen gerühmt (V 8802ff.). E r erklärt sich bereit, die Liebesbotschaft seines Todfeindes an seine Schwester auszurichten. Einmal jedoch muß das Versteckspiel ein Ende nehmen. Chr. hat auch das Ende der Szene schon vorbereitet. Beim Beginn der Unterhaltung hatten sich die beiden Ritter feierlich mit ihrem Ehrenwort verpflichtet, einander alle Auskünfte der Wahrheit gemäß zu geben. Die V 864gff. erfolgte Frage Gauvains nach dem

IV. Retardatio, Wunder und Doppelsinn

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Namen des Wunderschlosses wird erst V 8 8 i 3 f f . beantwortet. So lange war die Spannung in der Schwebe geblieben. Schließlich hat Gauvain nichts mehr zu fragen. E s drängt ihn fort aus der gefährlichen Nähe des Todfeindes. Unerkannt scheint er sich davonmachen zu können. Aber da stellt sein Todfeind die letzte Frage, zu deren Beantwortung Gauvain natürlich gezwungen ist: die Frage nach seinem Namen. Gauvain sagt j a nie von selbst seinen Namen, verschweigt ihn aber auch nie, wenn er aufgefordert wird, ihn zu nennen. Das ist ein verbreitetes Motiv der Artusepik. Schon seit V 8627 weiß Gauvain, wie der von ihm angetroffene Ritter heißt. Ohne diese Ungleichheit wäre j a das poetische Leben der Szene gar nicht denkbar. Gauvain hat also Urlaub vom Guiromelant verlangt. Dieser antwortet : . . . „Sire, vostre non Me diroiz, se il ne vos poise, Einz que de moi partir vos loise" (V 8826ff.). Das „se il ne vos poise" hat hier wieder den für das Gespräch charakteristischen Doppelsinn. Gauvain muß den Ausdruck anders empfinden, als er vom Guiromelant gemeint ist, nicht als pleonastische Höflichkeitsformel, sondern als Ernst, denn es tut ihm j a tatsächlich leid, die Maske lüften zu müssen. Hier also bekommt die abgegriffene Redensart wieder Leben und Sinn. Das gleiche gilt von der Antwort Gauvains : „Sire, se Damedeus m'ait. Mes nons ne vos iert ja celez: J e sui cil que vos tant haez : J e sui Gauvains." — „Gauvains ies tu ?" „Voire, Ii niés le roi Artu." (V 883off.). Der sonst formelhafte Ausdruck der religiösen Beteuerung gewinnt hier, wo jedes Wort von Sinn angefüllt ist, ungewohntes Gewicht. Zu beobachten ist auch die Reihenfolge der Enthüllungen. Der ganzen Lage entsprechend nennt sich Gauvain zuerst als den Feind des Guiromelant und dann erst mit seinem Namen. Der Chiasmus in V 8833 gibt treffend die Verblüffung des Guiromelant wieder, der glaubt, falsch gehört zu haben. Kein Zweifel ist aber mehr möglich, als sich Gauvain als den Neffen Artus bezeichnet. „Voire" ist die letzte Bekräftigung seiner Aussage. Die Spannung ist gelöst. Chr. wäre einem Dramatiker zu vergleichen, der alle Theaterwirkung in den Schluß des vierten oder den Anfang des fünften Aktes zusammenballt. Wir kennen schon den Brauch Chr.s, nach solchen dramatischen Ausbrüchen die Szene rasch wieder in die Ruhe zurückgleiten zu lassen. Es bleibt abzuwarten, was der Guiromelant, dem jetzt die vorangehende Szene in ganz neuer Beleuchtung erscheinen muß, gegen Gauvain veranlassen wird. Die folgende Verschiebung des Kampfes wird in ruhigem epischen Fluß erzählt. Gerade dadurch erweist sich

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XV. Retardatio, Wunder und Doppelsinn

Chr. als ein Meister des Versromans, daß er, wie auf Bilder heiterer Freude solche düsteren Elends, auf Momente höchster Wirkung Partien unkomplizierter Ruhe folgen läßt. Stilistisch wäre hier das Abwechseln von lebhaften, stark verbalen Bewegungsschilderungen mit Szenen von breit ausladenden synonymischen und pleonastischen Wiederholungen als Parallele zu nennen. Wie keine andere Stelle des Romans zeigt diese Guiromelantszene das auf Spannung zielende E r zählen Chr.s, im besonderen aber die virtuose Verwendung des Doppelsinnes. Die Beurteilung der Szene bei Martin Paetzel 1 ) verlangt eine kurze Besprechung. Dieser Kritiker glaubt, Chr. die so spät erfolgte Namensnennung Gauvains als Fehler anrechnen zu müssen. Wolfram hat nämlich die Szene auf den ethischen Kern zu komponiert, er läßt Gauvain seinen Namen aus eigenem Antrieb sagen und sich zugleich als Kämpfer für seinen (auch bei Chr. schon) angeklagten toten Vater erbieten. Gewiß fehlt das bei Chr., der in die Szene keinerlei moralische Problematik gelegt hat. Wenn aber Paetzel meint, daß Gauvain seinen Namen „in einem Zusammenhang, in dem [er] kaum Eindruck machen kann" nenne, so beweist das, daß er sich über den Aufbau der Szene bei Chr. nicht klar geworden ist. Die Percevalvergleichung Paetzels zeigt wohl ein hervorragendes Eindringen in den Geist Wolframs, aber des öfteren ein Verkennen der Kunst- und Gedankenwelt Chr.s. Paetzels Methode, für Wolfram nur Chr. als Quelle gelten zu lassen, diesen aber ständig gegenüber Wolfram künstlerisch zu verkleinern, muß zu solchen Mißverständnissen führen. E s ließ sich durch die eingehende Interpretation der Guiromelantszene zeigen, daß hier im Gegenteil eine Meisterleistung epischer Kunst vorliegt, die gerade das in höchstem Maße enthält, was ihr Paetzel abspricht, nämlich die Wirkung. Wolfram hat durch mannigfache Umstellungen und Streichungen den Charakter der Szene verändert. E r hat ihr Tempo und ihren Rhythmus verlangsamt. E r hat eben hier, wie so oft, seinen Stoff mit neuem e t h i s c h e n Gehalt erfüllt. Kurz lebt die Spannung des Doppelsinnes noch einmal auf, als Gauvain seiner Schwester die Liebesbotschaft überbringt. E r sagt auch Clarissant nicht, wer er ist und spricht unerkannt über sich selbst (V 9027ff.). Clarissant ihrerseits ist unglücklich, daß ihr Bruder nichts von ihr weiß; und doch ist sie bei ihm (V goßSff.). In dieser Weise klingt die Szene aus. Übrigens hat der Dichter auch im Percevalteil dieses Kunstmittel ganz ähnlich verwendet, als der Held das zweite Mal mit dem Orguelleus de la Lande zusammentrifft. E r bekommt die ganze Geschichte von dem unerzogenen wallisischen Junker vorerzählt (V 3845ff.). Der Doppelsinn, der dadurch entsteht, daß der wütende Ritter Perceval gegen*) Martin Paetzel, Wolfram von Eschenbach und Chrestien von Troyes, Parzival, Buch 7—13 und seine Quelle (Diss. Berlin, 1931). Das folgende Zitat S. 99.

IV. Betardatio, Wunder und Doppelsinn

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über vom „vaslez galois" (V 3850) als von einer fremden Person, der er Rache androht, spricht, ist eine, wenn auch flüchtige und nicht in allen Spannungsmöglichkeiten erschöpfte Vorstufe zu jener Guiromelantszene. Das Verkleidungsmotiv läßt sich noch an vielen anderen Stellen des Romans nachweisen. So besiegt Perceval in der Blutstropfenszene Keu, ohne es zu wissen. Gauvain, der Feind Guiganbresils, wird in Escavalon mit den höchsten Ehren der Gastfreundschaft ausgezeichnet (V 5792 ff.). Die Schwester des Königs nimmt auf dessen Geheiß den angeblichen Mörder ihres Vaters auf. Der Tochter Yguernes erscheinen Clarissant und Gauvain füreinander geschaffen wie „frere et suer" (V9062). Sie sind es aber nicht in dieser übertragenen, sondern in der wirklichen Bedeutung des Wortes. Der Dichter zergliedert auch hier die Situation mit seinen eigenen Erzählerworten (V 9065 ff.). Auch hier drängt sich die Frage nach dem Ursprung dieses Kompositionsmittels auf. Die Frage zu stellen, bedeutet allerdings schon von vornherein den Verzicht auf eine eindeutige Lösung. Denn zu vielerlei historische Beeinflussungsmöglichkeiten lassen sich für das eine Phänomen aufdecken. Das für die Spannung des Doppelsinns so überaus ergiebige Motiv der Trennung und Wiedererkennung konnte Chr. schon in der Legende begegnen, in die es nach mannigfachen Zwischengliedern wahrscheinlich aus dem spätgriechischen Roman gekommen war (vgl. oben das bezüglich der Retardatio Gesagte). Wir dürfen wohl aus den späteren Bearbeitungen der Eustachiuslegende entnehmen, daß schon die vor dem Guillaume d'Angleterre liegende Fassung diese Motive enthalten hat. Die mit dem Vers: ,,Qui weult olr sarmon novel" beginnende Achtsilberfassung hat sie, trotz der äußerlichen Motivierung durch göttliche Stimmen, künstliche Erschwerungen und häufiges prologhaftes Dazwischendrängen des Erzählers zu geschickter Abstufung der Spannung verwendet. Allerdings fehlt völlig die rhetorisch-dialektische Zuspitzung der Enthüllungsmomente. Gerade dazu aber zeigt der Guillaume Chr.s bemerkenswerte Ansätze. Hier ist die säkularisierte Legende ohnehin bereits streckenweise verhöfischt. Die Bilder, wie der unerkannte König als Kaufmann in seiner eigenen Stadt die Treue des für ihn regierenden Neffen prüft (V 2i43ff.), oder wie die beiden Königssöhne als Feinde ihrer Mutter auftreten (V 297off.), sind typisch für Chr., nur daß wir hier, wie so häufig im Wilhelmsroman, die Motivierung als wenig zwingend und die lange Verzögerung der Lösung als unwahrscheinlich empfinden. Auf jeden Fall aber ist die kompositioneile Ähnlichkeit mit den späteren Romanen unverkennbar. Chr. konnte die Spannung des Gegen- und Doppelsinns aber auch in der Romankunst und Lyrik seiner Zeit kennenlernen. Am nächsten liegt es, an die L i e b e s e p i s o d e n des E n e a s r o m a n s zu denken. Einen sicheren Beweis für diese Beeinflussung liefert neben den stili-

8o

IV. Retaidatio, Wunder und Doppelsinn

stischen und sachlichen Parallelen, die A. Dreßler 1 ) gesammelt hat, die Anspielung auf die Liebe Eneas und Lavinias im Percevalroman (V 9057 ff.). Dreßler hat diese Stelle, die die einzige dieser A r t bei Chr. ist, völlig übersehen. Wie die Eneas-Lavinia-Episode gegenüber Virgil inhaltlich neu ist, so trägt sie auch sprachlich und kompositionell deutlich den Stempel der h ö f i s c h e n Romankunst. Bezeichnend hierfür ist das Gespräch zwischen L a v i n i a und ihrer Mutter (V 8445ff.). Beide sprechen über Lavinias Geliebten. Die Tochter wagt den Namen E n e a s nicht zu nennen, die Mutter glaubt, sie meine den Turnus. Die Doppeldeutigkeit der Worte herrscht so lange, bis Lavinia unter heftigster Erregung den Namen Eneas herausstammelt: ,,. . . II a non E . . . " Puis sospira, se redist: ,,ne . . .", D'iluec a piece noma: „ a s . . ." (V 8553ff.) 2 ). Daß gerade die Namensnennung spannend verzögert ist, verstärkt die Parallelität mit den entsprechenden Szenen bei Chr. In ähnlicher Weise steht auch das Liebesbekenntnis Didos (V 1 2 7 3 ff.) der Technik Chr.s, die Handlung spannend zu stauen, sehr nahe. J a es ist sogar zu überlegen, ob nicht schon solche Fälle der Retardatio im Eneasroman Chr. zu seiner Ausbildung der objektiven Spannung angeregt haben. Allerdings ist hier die noch nicht endgültig geklärte Frage von Bedeutung, wann Chr. mit dem Eneasroman bekannt geworden ist"). Die Veränderung der Didoepisode und die gegenüber Virgil völlig neue Liebesrolle der Lavinia zeigen nicht virgilischen, sondern ovidischen Geist. F a r a l hat gerade f ü r die beiden oben bezeichneten Fälle der Namensspannung eine Parallele in O v i d s M e t a m o r p h o s e n gefunden 4 ). Chr. kann diese Stelle natürlich auch selbst gekannt haben, denn er hatte j a Ovids Ars Amatoria und mehrere Episoden aus den Metamorphosen übersetzt. Die von F a r a l herangezogene X . Metamorphose zeigt nun in dem Selbstgespräch Myrrhas 6 ) einen F a l l von Doppelsinn, der dessen x ) Alfred Dreßler, Der Einfluß des altfranzösischen Eneas-Romanes auf die altfranzösische Literatur (Diss. Göttingen, 1906), S. i i 7 f f . 2 ) Ausgabe von J . J . Salverda de Grave (Classiques français du moyen âge, Bd. 44 und Bd. 62, Paris 1925 und 1929). 3 ) Ph. A. Becker, Achtsilber, S. 64t., möchte überhaupt Erec und Cliges vor dem Eneasroman entstanden sein lassen. In diesem Falle hätte Chr. die Weise des doppelsinnigen Erzählens unmittelbar aus Ovid weitergebildet. Das Folgende wird diese Annahme stützen. 4 ) Recherches sur les sources latines des contes et romans courtois du moyen âge (Paris 1913), S. 129. (Metamorphosen X , 4i9ff.). 6 ) et quot confundas et jura et nomina, sentis! tune eris et matris paelex et adultéra patris ? tune soror nati genetrixque vocabere fratris? (X, 34ôff.).

I V . Retardatio, Wunder und Doppelsinn

8l

Verwendung bei Chr. außerordentlich ähnelt und der in den Metamorphosen keineswegs allein dasteht 1 ). Das Thema der Verwandlung lud ja zur Schaffung und Betonung solcher doppeldeutigen Situationen geradezu ein. Von hier aus gesehen, erscheint es im höchsten Maße wahrscheinlich, daß Chr. auch kompositioneil (nicht nur stilistisch und stofflich) von Ovid beeinflußt worden ist. Denn für Chr. ist nicht weniger als für Ovid wichtig: „die Betonung der Paradoxie der Ereignisse, für die er die mannigfachsten Pointierungen findet" 2 ). „Das Schwanken der A f f e k t e " und die „scharfen Antithesen"'), auf die es Ovid in epischen Zuspitzungen und in lyrischen Seelenschilderungen besonders ankam, konnte Chr. auch in der L y r i k d e r T r o u b a d o u r s vorfinden. Und damit ist ein weiterer literarischer Bezirk angegeben, der Chr. zur Ausbildung antithetischen und doppelsinnigen Erzählens veranlaßt haben kann. Es ist nun einerlei, ob der Minnesang diese künstlerischen Züge unmittelbar aus Ovid bezogen hat oder ob er sie, wie ebenso wahrscheinlich ist, ') A u c h die folgenden Beispiele werden zitiert nach der Ausgabe v o n Moritz H a u p t und Otto Korn (Sammlung griechischer und lateinischer Schriftsteller mit deutschen Anmerkungen, begründet v o n M. H a u p t und H . Sauppe, Berlin 1915, 1916). Vgl. u. a. den Seelenkampf der A l t h ä a in V I I I , 4Ö3f.: pugnat materque sororque, et diversa trahunt unum duo nomina pectus ( V I I I , 463 t.); die Verwandlung des Actaeon in einen Hirsch (III, 193—205); die Verschmelzung der Salmacis und des Hermaphroditus: nec duo sunt sed forma duplex, nec femina dici nec puer u t possit, neutrumque et utrumque videtur (IV, 3 7 8 f . ) ; die unheilvoll falsche Deutung der doppelsinnigen W o r t e des Cephalus durch Procris: v o c i b u s ambiguis deceptam praebuit aurem nescio quis nomenque aurae tarn saepe v o c a t u m esse p u t a t nymphae: n y m p h a m me credit amare (VII, 821 ff.); den unersättlichen Hunger des Erysichthon: sie epulas omnes Erysichthonis ora profani aeeipiunt poscuntque simul. eibus omnis in illo causa eibi est semperque locus f i t inanis edendo ( V I I I , 840ff.). Eine ausführliche Arbeit über „ D i e K u n s t Ovids in der Darstellung des Verwandlungsaktes'* ist die Gießener Diss. (1930) von W i l h e l m Quirin. Trotz ihrer Schematik gibt sie einen guten Begriff über die unendliche Variierungsfähigkeit des Erzählers Ovid. D a s Fehlen eines grundlegenden Werkes über die K u n s t Ovids erschwert die Erforschung seines Einflusses. s ) Hans Diller, Die dichterische Eigenart v o n Ovids Metamorphosen, Das humanistische Gymnasium 45 (1934), S. 29. Der A u f s a t z g i b t eine sehr gute E i n f ü h r u n g in die epische K u n s t des Dichters. 3 ) E b d . , S. 32. B. z. Z.R.Ph. Heft 88. Kellermann 6

I V . R e t a i datio, W u n d e r und D o p p e l s i n n

82 auf

Grund

seiner eigenen antithetischen Haltung zur Welt ent-

wickelt hat 1 ),

hier k o m m t

zur Kunst Chr.s zu betonen.

es

nur darauf

an,

ihre

Parallelität

Durch e i n e Tatsache wird die Be-

kanntschaft Chr.s mit der L y r i k des Südens als sicher erwiesen: durch

die beiden ihm bestimmt zugehörenden

Lieder®),

die

im

Inhalt und „auch in der Form für die aus der Provence entlehnte L y r i k , besonders die Gattung der chanson, charakteristisch" sind8),, und in denen Carl Appel unverkennbare Anklänge an Bernart von Ventadorn festgestellt hat 4 ). Gerade das zweite sicher von Bernart beeinflußte Lied: D'Amors, qui m'a tolu a moi N ' a soi ne me viaut retenir . . . weist jene A r t des Doppelsinns und der Antithetik auf, die unmittelbar an die Beispiele aus den Romanen erinnert. So hat Chr. „nicht nur die provenzalische Poesie im allgemeinen, sondern auch gerade Bernarts Gedichte gekannt 6 "). Das letzte ist wichtig, denn Chr. hatte hier eine K u n s t vor sich, die groß ist „in plötzlichen» launischen, überraschenden und scherzhaften Sinnesänderungen und Rückläufen'*'), eine

Kunst,

deren

„Unmittelbarkeit

. . . keine

lyrische, sondern eine dramatische und gewissermaßen handelnde" ist 7 ). Diese Dramatik wird auf die Spitze getrieben durch die Verwendung des Oxymoron (einer Art der Antiphrasis), das in unmittelbarem Nebeneinander

zwei widerstreitende

Begriffe verbindet 8 ).

S t a r k wird der E i n f l u ß O v i d s und der A n t i k e b e t o n t v o n K l a u s J. Heinisch, A n t i k e Bildungselemente i m frühen deutschen Minnesang (Diss. B o n n , 1934). D i m i t r i S c h e l u d k o dagegen s c h r ä n k t in seinem A u f satz über „ O v i d und die T r o b a d o r s " Z r P . 54 (1934), S. I29ff. diesen E i n f l u B auf „ d i e Ü b e r n a h m e v o n E i n z e l m o t i v e n " ein (S. 173). A u f das A n t i t h e t i s c h e im Minnesang weist n a c h d r ü c k l i c h s t hin F r a n z R o l f Schröder in dem ausgezeichnet orientierenden Forschungsbericht „ D e r M i n n e s a n g " G R M . 21 (1933), S. 271 ff. (s. a u c h d o r t die Literatur zu der Frage). Eine ebenso originelle wie e x a k t e Vergleichung der ovidischen W e l t s c h a u m i t einer minnesängerischen Lebenseinstellung h a t E r i c h v o n D r y g a l s k i gegeben in der Göttinger Diss. (1928) über „ H e i n r i c h von Morungen und O v i d " . D a s E r g e b n i s ist für Morungen negativ und erlaubt auch allgemeinere Schlußfolgerungen. ! ) N e u a b g e d r u c k t in H i l k a s Percevalausgabe, S. 800—803. 8 ) V o r e t z s c h , a. a. O . , S. 302. 4 ) B e r n a r t v o n V e n t a d o r n , Seine Lieder m i t Einleitung und Glossar (Halle a. d. S . , 1915), S. L V I I f., A n m . 1. 8) E b d . 6 j K a r l Vossler, Der Minnesang des B e r n h a r d v o n V e n t a d o r n (S.-B. d. b a y e r . A k a d . d. W i s s . , Philosophisch-philolog. und hist. K l . , Jahrg. 1918,. A b h a n d l . 2, München 1918), S. 37. 7 ) E b d . S. 3 2 . 8 ) V g l . Beispiele und D e u t u n g bei K o n r a d B u r d a c h , R e i n m a r der A l t e und W a l t h e r v o n der V o g e l w e i d e (2. A u f l . , H a l l e a. d. S . , 1928), S. 66 bis 71. V g l . auch Heinisch, a. a. O . , S. 6i und S. 131, A n m . 59. — Zum polaren D e n k e n bei B e r n a r t v o n V e n t a d o r n v g l . beispielsweise die Lieder. 19, 35, 40, 43 der Appelschen A u s g a b e .

IV. Retardatio, Wunder und Doppelsinn

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Ihren klarsten Ausdruck aber findet diese, das innerste Gesetz des Minnesangs ausdrückende Antithetik in den Gattungen der Tenzone und des Jeu parti, die die Konflikte der Minne in verstandesmäßigem, scharfsinnigem Wechselgespräch vorführen. Sie hängen mit den Minnefragen zusammen, die gegen 1200 dann in dem Traktat „ D e amore" des Andreas Capellanus thesenhaft formuliert worden sind. An den scharfen Formulierungen dieser Streitgedichte merkt man auch, daß viel scholastische Subtilität in die Lyrik der Zeit eingedrungen war 1 ). Und wenn nun rückblickend an jenen Konflikt zwischen Amor und Haine im Y v a i n , oder an jene Gleichzeitigkeit von Gastfreundschaft und Todfeindschaft in der Escavalonszene des Percevalromans oder an die Schlauheit Blancheflors, die ihren Helden dadurch zur Verteidigung ihrer Burg antreibt, daß sie ihn scheinbar in ein friedvolles Land entläßt, oder an das Paar Gauvain-Clarissant, das nicht frere et suer der Minne, sondern des Blutes ist, erinnert wird, so ergibt sich die Verwandtschaft der lyrischen und der epischen Situationen von selbst. Chr. kannte solche Zuspitzungen aus der Theorie der Liebe wie aus der höfischen Dichtung. Hier lagen sie ihm allerdings nur in lyrischer Fassung, d. h. „als zuständliche Gefühle" 2 ) vor. Episch gestaltet wurden sie auf provenzalischem Boden erst nach Chr., und wohl unter seinem Einfluß, in dem psychologisch und kompositionell meisterhaft gebauten Versroman Flamenca (um 1235)®). Chr. war also der erste, der die antithetischen Zustandsschilderungen der höfischen Lyrik in epische Bewegung auflöste. Wollte er sie auch romanhaft wirksam werden lassen, so war das Ergebnis die Spannung des Doppelsinns. In dieser Umschmelzung bewährte sich sein Talent als Erzähler nicht minder als in der Verbindung der verschiedensten Stoffelemente zur Einheit oder in der kompositionellen Gliederung seiner Romane. Somit läßt sich Försters Vermutung, „daß es, außer dem Dreigestirn, auch die Bekanntschaft und Beschäftigung mit der provenzalischen Minnedichtung war, die Kristian zu seinen Neuerungen im Roman geführt und ihm die glänzende Ausnahmestellung verschafft haben, deren er sich erfreut hat" 4 ), auch für einen der wichtigsten Punkte seines Aufbaustiles, die Spannung, als richtig erweisen. Der Versuch, für jede der einzelnen Spannungsarten neben der poetischen und psychologischen auch eine historische Deutung zu 1 ) Über „Minne und Scholastik" vgl. Eduard Wechssler, Das Kulturproblem des Minnesangs (Halle a. d. S., 1909), I, Kap. 16; zu den hier behandelten Zusammenhängen besonders S. 400 ff. 2 ) E. Winkler, Dichterisches Kunstwerk, S. 57. 3 ) Vgl. Kurt Lewent, Zum Inhalt und Aufbau der „Flamenca", ZrP. 53 (1933), besonders S. 53—73. Lewent behandelt die Erscheinungen der spannenden Doppelsinnigkeit unter dem Stichwort „Humor und Komik". 4 ) Wörterbuch, S. 203*.



V. Die Schichten der Motivierung

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finden, hatte auch einen allgemeinen Zweck. Er sollte an einer bestimmten Beispielsreihe die Stellung Chr.s zur literarischen Tradition und Umwelt veranschaulichen. Dieses literarische Klima läßt sich nunmehr bestimmen. Es wird aus folgenden Einzelströmungen gebildet: der höfisch interpretierten und umgebildeten Antike, der säkularisierten Legende, der wunderträchtigen Erzählwelt des Märchens und der an polaren Spannungen reichen provenzalischen Minnedichtung. V. Die Schichten der Motivierung Der Percevalroman besitzt, wie oben eingehend dargelegt wurde, eine klare tektonische Ordnung. Freilich war seine Gliederung nur dadurch zu erfassen, daß vom Resultat der Handlungsbewegungen aus nach rückwärts geschritten wurde. Der Roman ist Fragment. Es fehlt ihm, wie aus Vergleichen mit den früheren Werken des Dichters berechnet werden kann, ungefähr ein Viertel der Gesamtlänge. Die Unmöglichkeit, ihn in seinem ganzen Verlauf zu überblicken, hat es manchmal als zweifelhaft erscheinen lassen, ob ein blindes oder ein episch erfülltes Motiv vorliegt. Um trotzdem die Architektur des Aufbaues erkennen zu können, wurden die übrigen Romane Chr.s, vor allem der Yvain, herangezogen. Von dieser Frage des Plans wesensmäßig verschieden ist die Frage der Motivierung. Sie muß es gerade für die Betrachtung mittelalterlicher Erzählkunst sein, denn gemäß der scholastischen Trennung von Konzeption und Ausführung des Kunstwerkes 1 ) geht die planvolle Ordnung des Gesamtstoffes der Ausgestaltung des einzelnen voraus. Die Glieder des epischen Baues haben demnach ihre Verknüpfung im inneren Gesamtbild des Dichters. So muß denn gerade von der scholastischen Kunstlehre aus die Theorie der ,,Aggregattechnik" abgelehnt werden. Sie wird dem Wesen des mittelalterlichen Kunstwerkes nicht gerecht, vielmehr müssen bei diesem, wie M. Grabmann unmißverständlich aus Thomas herausliest, „die mannigfachen Teile miteinander und zum Ganzen in Einklang stehen, es muß eine Einheit in der Mannigfaltigkeit bestehen" 2 ). Zu dem Gesagten kommt nun hinzu, daß das Kunstwerk des Früh- und Hochmittelalters seine Einheit von der Idee her besitzt und zwar von einer überindividuellen Idee. Die Neigung der mittelalterlichen Kunst zu lehren, hängt damit zusammen. Sie erklärt sich aus der Totalität der mittelalterlichen Weltbetrachtung, die selbst da noch, wo sie durchbrochen wird, ihre Geltung und Wirkung *) Vgl. Brinkmann, a. a. O., S. 9. Martin Grabmann, Die Kulturphilosophie des hl. Thomas von Aquin (Augsburg 1925), S. 150. a)

V. Die Schichten der Motivierung

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finden, hatte auch einen allgemeinen Zweck. Er sollte an einer bestimmten Beispielsreihe die Stellung Chr.s zur literarischen Tradition und Umwelt veranschaulichen. Dieses literarische Klima läßt sich nunmehr bestimmen. Es wird aus folgenden Einzelströmungen gebildet: der höfisch interpretierten und umgebildeten Antike, der säkularisierten Legende, der wunderträchtigen Erzählwelt des Märchens und der an polaren Spannungen reichen provenzalischen Minnedichtung. V. Die Schichten der Motivierung Der Percevalroman besitzt, wie oben eingehend dargelegt wurde, eine klare tektonische Ordnung. Freilich war seine Gliederung nur dadurch zu erfassen, daß vom Resultat der Handlungsbewegungen aus nach rückwärts geschritten wurde. Der Roman ist Fragment. Es fehlt ihm, wie aus Vergleichen mit den früheren Werken des Dichters berechnet werden kann, ungefähr ein Viertel der Gesamtlänge. Die Unmöglichkeit, ihn in seinem ganzen Verlauf zu überblicken, hat es manchmal als zweifelhaft erscheinen lassen, ob ein blindes oder ein episch erfülltes Motiv vorliegt. Um trotzdem die Architektur des Aufbaues erkennen zu können, wurden die übrigen Romane Chr.s, vor allem der Yvain, herangezogen. Von dieser Frage des Plans wesensmäßig verschieden ist die Frage der Motivierung. Sie muß es gerade für die Betrachtung mittelalterlicher Erzählkunst sein, denn gemäß der scholastischen Trennung von Konzeption und Ausführung des Kunstwerkes 1 ) geht die planvolle Ordnung des Gesamtstoffes der Ausgestaltung des einzelnen voraus. Die Glieder des epischen Baues haben demnach ihre Verknüpfung im inneren Gesamtbild des Dichters. So muß denn gerade von der scholastischen Kunstlehre aus die Theorie der ,,Aggregattechnik" abgelehnt werden. Sie wird dem Wesen des mittelalterlichen Kunstwerkes nicht gerecht, vielmehr müssen bei diesem, wie M. Grabmann unmißverständlich aus Thomas herausliest, „die mannigfachen Teile miteinander und zum Ganzen in Einklang stehen, es muß eine Einheit in der Mannigfaltigkeit bestehen" 2 ). Zu dem Gesagten kommt nun hinzu, daß das Kunstwerk des Früh- und Hochmittelalters seine Einheit von der Idee her besitzt und zwar von einer überindividuellen Idee. Die Neigung der mittelalterlichen Kunst zu lehren, hängt damit zusammen. Sie erklärt sich aus der Totalität der mittelalterlichen Weltbetrachtung, die selbst da noch, wo sie durchbrochen wird, ihre Geltung und Wirkung *) Vgl. Brinkmann, a. a. O., S. 9. Martin Grabmann, Die Kulturphilosophie des hl. Thomas von Aquin (Augsburg 1925), S. 150. a)

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beweist. Das System dieser Welt aber trägt den Menschen nicht an der Spitze, sondern enthält ihn als Glied. Gewiß besitzt der Mensch der mittelalterlichen Dichtung die Freiheit der Handlung, ebensosehr aber ist er Objekt eines über seine Einsicht und Zulänglichkeit hinausragenden Geschehens 1 ). Seiner Aktivität sind Grenzen gesetzt. Er ist tief in dieser Welttotalität verhaftet, kann sich nicht von ihr losmachen oder sich ihr trotzbietend gegenüberstellen. Er ist untragisch und undramatisch. Die Unfähigkeit des Mittelalters zu wahrhaft dramatischen Schöpfungen erklärt sich von hier aus. Gleichzeitig aber wird die überragende Rolle der Epik in der Literatur des Mittelalters verständlich, denn „Mittelbarkeit, Begebenheitlichkeit ist der Charakter des Epos dem Drama gegenüber"®). Von diesem Standpunkt aus gilt es, an das Problem der Motivierung heranzutreten. Von einem „ H e l d e n " läßt sich da nur sehr bedingt sprechen, denn weder wird das Geschehen, das ihn umgibt, ausschließlich von seinem Charakter und von seinem Wollen gelenkt, noch auch steht er ihm als einsamer, tragischer Held gegenüber. Diesem Verhältnis aber kann nicht ausschließliche psychologische Verknüpfung der einzelnen Episoden eines Romans entsprechen. Sie ist jedoch, nicht nur als Ausnahme, wie Brinkmann anzunehmen scheint 8 ), innerhalb der dem M e n s c h e n zukommenden Sphäre durchaus möglich. Das bedeutet episch: vor allem innerhalb der Einzelszene, weniger in der Verbindung der großen Handlungsglieder zum Ganzen, nicht als Begründung der Gesamthandlung. Der Reichtum an seelischen Beobachtungen und Motivationen, den das Mittelalter in seiner erzählenden Literatur ausbreitet, ist ungeheuer. Nicht diese Tatsache bedarf einer Erörterung, sondern vielmehr ihre Bewertung von der mittelalterlichen Sicht aus. Für diese ist das Seelenleben gewiß ein Eigenbezirk der Wirklichkeit. Die Welt aber einzig vom Seelischen her erklären zu wollen, war ihr unvorstellbar. Ebenso falsch aber wäre, um es noch einmal zu betonen, die Auffassung, das Mittelalter habe zwischen Seele und Welt eine Scheidemauer errichtet 1 ). So ist also Brinkmanns Satz: „Der Aufnehmende ist befriedigt dadurch, daß etwas geschieht, ohne nach dem Wie und Warum zu fragen" •) in seiner Ausschließlichkeit abzulehnen. Er ist aus der kritischen Wertung des modernen, nicht des mittelalterlichen Standpunkts heraus geschrieben. l ) Zum Stufencharakter des mittelalterlichen Weltaufbaues vgl. die schon angeführte Studie von G. Müller über „Gradualismus", D V . 2 (1924), vor allem S. 693ff.

*) O t t o Ludwig, a. a. O . , S. 104. *) a. a. O . , S. 85. 4) Ein Blick auf die Darstellung der Psychologie im 1. Hauptteil der thomistischen Summa widerlegt das. *) Brinkmann, a. a. O., S. 85.

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V. Die Schichten der Motivierung

Aus dem Vorausgehenden ergibt sich nun die Berechtigung, Aufbau und Motivierung des mittelalterlichen Romans scharf zu scheiden. Das mag moderner Epik gegenüber einen Mangel bedeuten. Es gilt jedoch, das Kunstwerk nicht als einen Gegenstand des verbessernden Zensierens, sondern des deutenden Verstehens anzusehen. Es soll um seine Art befragt werden, ohne Rücksicht auf irgendwelche scheinbar absolute Kunstmaßstäbe. In solcher Absicht wollen wir die Motivierung im Percevalroman zu finden und zu erklären versuchen. Von neuem ist darauf hinzuweisen, daß die Handlung des Romans von zwei Helden getragen wird, von Perceval und Gauvain. Sie bilden den Mittelpunkt des jeweiligen Geschehens. J a die Handlung ist eigentlich nichts anderes als die Aufeinanderfolge ihres Erlebens. Mag sie im Percevalteil des öfteren auch an den Artushof verlegt werden, so hat sie doch immer Beziehung zum Helden. Auch in der Gauvainhandlung betont Chr. diese Einheit der Mittelpunktsfigur, denn er läßt sie nie aus dem Auge und denkt erst spät wieder daran, die Artushandlung fortzusetzen. Natürlich h a t der Dichter die mit diesen beiden Helden zusammenhängenden Geschehnisse durch eine Menge anderer Personen orchestriert. Aber deren Charaktere und Erlebnisse sind nicht verselbständigt. Chr. hat, darüber läßt der aus der Masse der im Roman berichteten Ereignisse herausgeschälte Plan keinen Zweifel, das Erleben Percevals und Gauvains in eine ganz bestimmte, allerdings verschieden gemeinte Ordnung gebracht. Er wollte in der Percevalhandlung den Weg des naiven Dümmlings zum fertigen Ritter und darüber hinaus zum Erlöser der Gralburg und zum Gewinner des Gral vorführen. In der Gauvainhandlung dagegen sollte eine Reihe ritterlicher und märchenhafter Ereignisse gezeigt werden, deren Sinn auf das HöfischWeltliche beschränkt blieb. Die Geschehnisse sind dort als Stufen einer Entwicklung aufzufassen, hier aber nur als spannende und höfisch-heldisches Verhalten veranschaulichende Episoden. Chr. selbst deutet nun mit keinem Wort die Folgerichtigkeit seines Romanaufbaues an. Die Art, wie er die Szenen einführt, scheint Willkür, ist es aber nicht. Zwei Gründe dienen dafür als Beweis. Der eine beruht auf der geringen Rolle der reinen psychologischen Motivierung für das Hauptgeschehen, der andere auf dem objektiven Aufbaustil Chr.s. Denn da die einzelnen Situationen dem Helden auf seinem Wege b e g e g n e n und ihn dann erst zu seelischer Reaktion veranlassen, entfällt für den Leser alle Möglichkeit, aus dem Charakter der epischen Hauptfigur den Verlauf des folgenden Handlungsabschnittes zu berechnen oder auch nur zu erahnen. Damit gibt Chr. im Percevalroman Beispiele reinster epischer Menschengestaltung. Denn für den epischen Helden sind, wie Willi Flemming trefflich formuliert „besondere Eindrucksleichtigkeit und Lenkbarkeit erwünscht; er darf nicht so in sich gefestigt der Welt in kämpferischer Selbstbehauptung gegenüber verharren. Vielmehr

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muß er sich mit ihr einlassen, j a von ihr getrieben werden, muß der Aufnehmende und Empfangende bleiben" 1 ). Man kann auch sagen, daß das Wesen der ,, Queste", die j a für den gesamten höfischen Roman die wichtigste Kompositionsform ist, in ihrem epischen Charakter liegt. Die Episoden, die sie zur Einheit zusammenschließt, werden nicht durch die seelische Aktivität des Helden heraufbeschworen, sondern sie „fallen" dem Erlebenden „ z u " : d e r Z u f a l l ist das Gesetz des Abenteuers. Bevor aber näher auf die Rolle des Zufalls bei Chr. eingegangen wird, muß auch der "Wichtigkeit der Spannung für die Motivierung gedacht werden. Früher schon wurde ausgeführt, wie der objektive Aufbaustil Chr.s sich in der sparsamen Verwendung der epischen Vorausdeutungen kundgibt. Ein Dichter, der so die Überraschungen liebt, muß darauf verzichten, immer wieder den Plan anzugeben, nach dem seine Handlungen in allen ihren Phasen verlaufen. Die Technik des spannenden, überraschenden Erzählens bedingt ja, daß der Dichter ständig den Aufbau zu zerstören scheint, den er sich selber zur Verwirklichung aufgegeben hat. Aber gerade dieses scheinbare Abirren von einem festen Plan ist bewußt und ist nichts anderes als Berechnung, in die jene undurchsichtige Handlungsführung als Hauptfaktor eingesetzt ist. Alles, was bisher von der Kunst Chr.s im Perceval gesagt worden ist, erlaubt ja, von dichterischer Bewußtheit zu sprechen. So gehört es auch zu Chr.s bewußt geübtem Aufbaustil, das Geschehen als neu, unerwartet, unmotiviert erscheinen zu lassen. Hätte der Dichter jedoch zu Beginn seines Romans oder im Verlaufe der Handlung Ausblicke auf zukünftige Ereignisse gegeben, so empfänden wir das folgende als notwendig, wichtig und begründet. Aber es gibt eine Tatsache, die die scheinbare Nachlässigkeit, Kunstlosigkeit und Willkür der Motivierung als bewußte Absicht des Dichters erweist. Einige Episoden nämlich hat Chr. im Roman vollkommen zu Ende geführt. Und das ermöglicht es uns, nicht nur Schlüsse auf das projektierte Romanende zu ziehen, sondern auch auf die Besonderheit der Motivierung. Deutlich ist in dieser Hinsicht die Episode, die sich zwischen Perceval, dem Orguelleus de la Lande und dessen Geliebten abspielt. Die Szene ist zweigeteilt, ist es notwendigerweise, denn Perceval mußte j a erst Ritter werden, um die Schmach des Fräuleins zu beenden und um sein eigenes Unrecht wieder gutzumachen. Schon diese Teilung der Szene also war aus inneren Gründen gefordert. Vor der Gralszene hätte ihre Beendigung gestört. Unmittelbar nach der Gralszene aber folgt die Aufklärung der Base über den Gral. Nach diesem Gespräch, das kompositioneil von der größten Bedeutung ist, weil es die Percevalhandlung für kurze Zeit in eine Ebene der Ruhe führt (der Antrieb für den Helden, zur Mutter zurückzukehren, fällt jetzt weg), braucht der *) Willi Flemming, Epik und Dramatik, Versuch ihrer Wesensdeutung (Wissen und Wirken, Bd. 27, Karlsruhe 1925), S. 67.

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Dichter eine Überleitung zur Artushandlung. Wir kennen die Technik Chr.s, den Artushof mit den Taten Percevals in Verbindung zu bringen. Sie besteht darin, einen besiegten Ritter zum König zu schicken mit einer Botschaft an ihn und an die von Keu gezüchtigte Jungfrau. Wollte der Dichter keine neue Person einführen, so bot sich ihm nur die Beendigung der Orguelleusepisode als Möglichkeit der Verknüpfung. Sie rundet Vorausgehendes zum Abschluß und weist gleichzeitig den Blick auf das Geschehen am Artushof hin. Der Platz der Szene läßt demnach über die innere Festigkeit der Komposition keinen Zweifel. Wie ist nun der Übergang zu dieser Szene motiviert ? Der Dichter sagt kein Wort über seine kompositioneilen Absichten. E r motiviert scheinbar zufallsmäßig. Perceval reitet von seiner Base weg einer Spur nach: Percevaus la santele v a Toz uns esclos t a n t qu'il trova Un palefroi et megre et las, Qui devant lui aloit le pas (V 3691 ff.). Von dem epischen „ Z w a n g " , der dieses Zusammentreffen Percevals mit dem Orguelleus an dieser Stelle fordert, läßt der Dichter nichts merken, nichts auch von dem inneren Wachsen des Helden. Und doch ist das alles implicite im Text enthalten. E s kommt nur in Handlung zum Ausdruck. Der Leser ist gezwungen mitzudenken und die Zusammenhänge selber zu finden. Die besprochene Szene scheint mir bezeichnend für die Motivierungsabsichten des Dichters. Als wäre sie vertauschbar und könnte am betreffenden Platz jederzeit durch eine andere ersetzt werden, so steht sie im Gesamtgeschehen. Zufällig findet Perceval die Spur. E r reitet einfach solange, bis er auf die vom Orguelleus gequälte Dame stößt. Ein Zufall führt sie ihm in den Weg. Aber der Zufall ist nur scheinbar. Ihn bewegt das Kunstwollen des Dichters zu beabsichtigter Wirkung. Andere Beispiele würden das gleiche erkennen lassen. Wir dürfen von solchen Stellen aus auf die allgemeine Tendenz des Dichters schließen, die dahin zu formulieren wäre, daß Chr. die Geschehnisse seines Romans scheinbar ohne innere Ordnung aufeinanderfolgen läßt, sie in Wirklichkeit aber nach Gründen des Handlungsaufbaues an einer ganz bestimmten Stelle einsetzt. Der Nerv dieses epischen Prinzips ist wieder nur die Spannung, die durch eine offen zutage liegende Motivierung unmöglich gemacht würde. Der mit tant que eingeleitete Nebensatz ist der eigentliche syntaktische Typus, der die Einzelepisoden miteinander verknüpft. Besonders da besteht er zurecht, wo er nach Ausdrücken der Bewegung auftritt. Perceval kommt zum Zelt: S'a au chevauchier antandu Tant que il vit un tref tandu . . . (V 637t.).

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Fast genau so heißt es V 834!., 863, i3o6f., 1706, 2994t., 3428ff. An dieser letzten Stelle wird berichtet, wie Perceval, als er der Spur der Knechte folgt, um Auskunft über den Gral zu bekommen, seine Base findet. Hier sagt der Dichter: Lors s'esleisse parmi le bois T a n t c o n cele trace Ii dure, T a n t q u e il vit par avanture Une pucele soz un chesne . . . (V 3428ff.). Diese Szene ist auch inhaltlich konsequent mit dem Vorausgehenden verbunden. Perceval findet Aufklärung über seine Erlebnisse auf der Gralburg, wenn auch von anderer Seite, als er sie erwartet hatte. Im Gauvainteil ist dasselbe Prinzip der Szeneneinführung zu beobachten: V 566of., 5703, 65i9ff., 6657ff., 7224ff., 8535!. In all diesen Fällen scheint die Szenenverbindung nur vom Zufall bedingt zu sein. Aber die Häufigkeit dieser syntaktischen Erscheinung, ihre fast automatische Verwendung an den Gelenken der Handlung berechtigen von einem stilistischen Typus der Motivierung zu sprechen. Im höfischen Roman Chr.s ist gleichsam alles hergerichtet für das Abenteuer. Der Held braucht nur zu kommen und die Handlung beginnt. Scheinbar zufallsmäßig stellen sich ihm die Personen in den Weg. Aber diese Technik darf dem Dichter nicht als künstlerische Schwäche ausgelegt, sondern muß als sein Kunstwille beurteilt werden. Andernfalls hätte er so wichtige Übergänge, die in bewußter psychologischer Steigerung angelegt sind, wie den zwischen Blancheflor- und Gralhandlung nicht mit dieser Motivierung durchgefühlt. Denn nichts anderes als Unkenntnis des Weges führt Perceval zum Gralabenteuer (V 2976ff., besonders 2994f.). Die Motive des Zufalls wiederholen sich. Mehrmals kommt Perceval an unbekannte Schlösser (Gornemant, Blancheflor, Fischerkönig). Dasselbe erlebt Gauvain (Wunderschloß). Zweimal stößt Perceval auf klagende Jungfrauen (die Base; die Geliebte des Orguelleus); Gauvain trifft „zufällig" den verwundeten Greoreas in den Armen der Freundin, öfters haben früher nie erwähnte Ritter eine bedeutende Rolle im Fortgang der Handlung (der Rote Ritter, Greoreas, Guiganbresil, der Guiromelant). Das letzte Beispiel ist am deutlichsten: Si s'an vet le passet petit T a n t que u n seul Chevalier v i t . . .

(V 8 5 3 5 ! ) .

In mehreren Fällen setzt Chr. P e r s o n e n a l s H a n d l u n g s v e r m i t t l e r ein. Dazu sind die Boten zu rechnen, die nach der Zusammenstellung von Hilka 1 ) neunmal im 1. Romanteil verwendet werden. Dazu kommen dann noch die häßliche Botin und Guiganbresil in der zentralen Artusszene, Gauvains Boteneigenschaft in der ») a. a. O., S. X X X V I I / X X X V I I I .

go

V. Die Schichten der Motivierung

Guiromelantszene, der Knappe, durch den Gauvain den Artushof als Publikum seines Kampfes mit dem Guiromelant aufbietet (V goyöff.) und andere Fälle. Das Motiv der Verfluchung durch eine Botin ist auch im Y v a i n (V 2704ff.) in ganz ähnlicher Funktion verwendet 1 ). Zur selben Klasse der Kompositionsmittel gehören die Berater (V 2394ff., 4922ff., 6o88ff.) und die Mittelspersonen, wie der notonier in der Wunderburgepisode, die keinen eigentlichen Handlungssinn haben, sondern nur dazu dienen, Szenen einzuführen und zu verbinden. Diese Personen sind plötzlich da, wenn der Dichter sie braucht. Wie zufällig sind sie in das Geschehen hineingestellt. Ihr Auftreten erschöpft sich in einer bestimmten, meistens einmaligen Rolle. Der Leser kommt gar nicht dazu, sich von ihnen ein deutliches Bild zu machen. Sie beweisen, wie wenig es dem höfischen Epiker darauf ankommt, den Ablauf der großen Gesamthandlung seelisch zu begründen. Gewiß sind die Menschen auf das Geschehen zu gerichtet; es „ g e h t " sie „ a n " , aber sie bewegen es nicht; es besteht vor ihnen, nicht durch sie. Diese Deutung der Motivierung wird bestätigt durch die einsichtsvollen Untersuchungen von Clemens Lugowski über „Die Form der Individualität im Roman" 2 ). Lugowski ist es darum zu tun, den „Vorgang, in dem sich der Mensch von der dunklen Selbstverständlichkeit einer innigen und unbedingten Weltverbundenheit löst und langsam die Vorstellung der E i n z e l h e i t realisiert"'), in der Kunst der „frühen deutschen Prosaerzählung'* des 16. Jahrhunderts zu zeigen. Dieses Beispiel ist deshalb so glücklich gewählt, weil hier augenscheinlich die seinshafte Totalität einer dem Mythos ähnlichen Dichtwelt (weshalb Lugowski ihr Wesen mit dem Begriff des „ m y t h i s c h e n A n a l o g o n " erfassen will) durch „die ersten Regungen des Einzelmensch-Bewußtseins" 4 ) zu zerbröckeln beginnt. Folgende Erscheinungen sind nun die wichtigsten sprachlichen Ausdrucksweisen des „mythischen Analogon": i . „Lineare Anschauung" (der Dichter gibt ein Nacheinander, keine Gleichzeitigkeit); 2. „Aufzählung und Unverbundenheit" (das Geschehen wird in unverbundenen Einzelphasen gegeben, die alle auf einen Endpunkt, ein „ R e s u l t a t " zueilen und von ihm ihre Einheit empfangen); 3. „Funktion" (deckt sich genau mit dem, was oben über die „zufällige" Rolle der Randpersonen gesagt wurde); 4. „Gehabtsein und Wiederholung" (das erste ist nichts anderes als die „Begebenheitlichkeit" O. Ludwigs, demnach ein epischer Grundzug; ') Die Wiederholung solcher Aufbaumittel ist keineswegs als gewollt zu betrachten. Der Dichter beabsichtigte damit nicht irgendwelche künstlerischen Wirkungen, sondern die Wiederholung ergab sich von selber im Laufe der Konzeption der Handlung. 2 ) a. a. O. >) Ebd., S. 200. *) Ebd., S. 201.

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unter dem zweiten versteht Lugowski Wiederholung schon berichteter Ereignisse, der es um das Berichtete an sich, nicht um eine neue, variierte Art des Berichtens zu tun ist); 5. „Motivation von hinten". Sie ist „das strukturelle Glied, das alle diese Erscheinungsformen des Ergebnismoments zur Einheit zusammenschließt" l ) und besagt im Gegensatz zur „vorbereitenden Motivierung" 2 ), „daß nicht das Ergebnis . . . durch die Prämissen der Handlung bestimmt [ist], sondern [daß] die Einzelzüge der Handlung durch das nur seine Enthüllung fordernde Ergebnis" s ) erklärt werden müssen. Ein Rückblick auf den Aufbau und die Motivierung des Percevalromans ergibt klar, daß die wichtigsten dieser kompositioneilen Formen auch für die höfische Erzählung Chr.s gelten, nämlich „Funktion", „Gehabtsein", „Motivation von hinten". Nicht so steht es indessen mit der Linearität des Aufbaues und dem Prinzip der lockeren Reihung. Wie kommt das ? E s ist daraus zu verstehen, daß das bei Chr. wirksame „mythische Analogon" ein anderes ist als das für Jörg Wickram entscheidende. Dieses ist bestimmt durch die „nicht zeitlich gegliederte Totalität" 4 ). Das Chr.s aber erwächst, wie noch näher zu zeigen sein wird, der Geschlossenheit und Harmonie einer s e i n s h a f t orientierten und gegliederten Welttotalität. D i e s e Anschauung verträgt sich episch ohne weiteres sowohl mit der Gleichzeitigkeitsschilderung wie mit dem für Chr. so bezeichnenden „ordo artificialis". Das sind Erzählformen, die j a auch die so stark dem religiös-nationalen Mythus verpflichtete E p i k Virgils enthält 5 ). Ob sie Chr. unmittelbar von hier oder auf dem Umweg über die Poetiken kennengelernt hat, oder ob ihn sein eigenes episches Talent in diese Richtung gedrängt hat, ist eine Frage, die nicht sicher beantwortet werden kann, deren Lösung aber für den vorliegenden Zusammenhang belanglos ist. Wichtig ist einmal, daß die Motivierungs- und Kompositionsformen Chr.s gehaltlich durchaus auf die Totalität des Weltbildes hinweisen. Dann aber ist der Vergleich der Lugowskischen Untersuchungen mit den aus Chr. gewonnenen Resultaten deshalb so lehrreich, weil auch bei Jörg Wickram die scheinbar zufällige (in Wirklichkeit nur vom Ergebnis her zu betrachtende) Motivierung keineswegs „dem Bestreben, einen folgerechten Handlungsbau von größeren Ausmaßen aufzuführen" 6 ) im Wege steht. Wir können im Gegenteil sagen: ') Ebd., S. 73. Vgl. zu den folgenden Begriffen den Abschnitt „Das Mythische im ,Galmy"', S. 56—91. 0) Ebd., S. 74f. ») Ebd., S. 82. «) Ebd., S. 201. ') Heinze, a. a. O., S. 3i9ff. und 381 ff. •) Paul Merker, Das Zeitalter des Humanismus und der Reformation, Aufriß der deutschen Literaturgeschichte nach neueren Gesichtspunkten (3. Aufl., Leipzig-Berlin, 1932), S. 8r.

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je „mythoider" 1 ), seinshafter eine Erzählung bestimmt ist, desto schärfere Gliederungsmöglichkeiten bietet sie. Die Ilias, die Odyssee, die Äneis und vor allem die Göttliche Komödie mit ihrer strengen Maßsymmetrie beweisen das durch ihren ebenmäßigen Bau. Nicht allein das Motiv der Queste ist im Percevalroman dem scheinbaren Zufall verpflichtet. Dieser spielt auch sonst eine Rolle in der Abfolge der Ereignisse. Die Wendung in der Belrepeireszene wird durch die Ankunft des Kaufmannschiffes herbeigeführt, das dem ausgehungerten chastel neuen Proviant liefert (V 2524 ff.). Hier ist der Zufall, der die Handlung weitertreibt, religiös verkleidet: „ S i con Deu plot" (V 2528). Diese Wendung ist freilich nur formelhaft zu verstehen. E s ist nicht die Art Chr.s, die Handlung durch den plötzlichen Eingriff eines Deus ex machina in eine für den Leser unerwartete Richtung zu steuern. Das widerspräche j a dem Prinzip der objektiven Handlungsführung, das gerade darin besteht, dem Geschehen seine eigene Gesetzlichkeit (gleichbedeutend mit scheinbarer Zufälligkeit) zu lassen und den Leser nur dann davon abzulösen, wenn es zur Stauung der Spannung und zur Erhöhung des Mitspiels gerechtfertigt erscheint. Eine Kunst aber wie die Virgils, die trotz aller handlungsmäßigen Veranschaulichung die geistigen Hintergründe der Erzählung stark durchleuchten läßt, verträgt sich leichter mit jener außermenschlichen, übernatürlichen Lenkung der Ereignisse 1 ). Noch stärker muß das natürlich bei jeder Art von Legende, ob rein hagiographischer oder verweltlichter Art der Fall sein. Denn hier kommt es mehr auf das Beispielhafte als auf das rein Erzählerische an. Darin sehe ich, um auf das mittelhochdeutsche Gebiet zu kommen, den Grund, daß Hartmann von Aue, dessen Kunst, wie K . Drube bemerkt 8 ), nur mit außerästhetischen , nämlich ethischen Maßstäben vollgültig beurteilt werden kann, sich mit der knappen, verhüllenden Motivierung Chr.s nicht begnügt und „den Zufall begründen" muß. Daß da wieder Wolfram mit Hartmann übereinstimmt, ist ein weiterer Beweis für die Tatsache, daß hier Unterschiede vorliegen, die nur volkstypologisch erklärt werden können. Deswegen, weil auch Wolfram in viel stärkerem Maße als Chr. bestrebt ist, den ethischen Kern der Handlung, ihren „idealen Nexus" 4 ) sichtbar werden zu 1

) Petsch, Erzählkunst, S. 143, Anm. 1. ) Vgl. Heinze, a. a. O., „Das Übernatürliche", S. 291—318 und „Der jähe Umschlag", S. 323—326. *) a. a. O., S. 102. Das nächste Zitat ebd., S. 71. 4 ) R. Petsch, Erzählkunst, S. 46ff. Der Methode seines Buches gemäß, das es überall vermeidet, Gehalt und Gestalt auseinanderzureißen und immer das Erzählwerk als ein Ganzes betrachtet, hat Petsch die scharfe Trennung Otto Ludwigs zwischen dem (von diesem überbetonten) idealen und dem pragmatischen Nexus durch die Einführung eines mittleren „realen Nexus" (S. 48) beseitigt. s

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lassen, hat er dem altfranzösischen Dichter gegenüber den Vorzug, „Klarheit zu schaffen" 1 ). Können wir die Chr.sche Motivierung als kompositioneilen Zufall, die Hartmanns und Wolframs als begründeten Zufall bezeichnen, so gibt es auch Erzählstile, in denen die Handlungsbegründung so lose ist, daß sie sich in der Richtung auf den reinen Zufall bewegt. Dazu sind zwei in sich so verschiedene literarische Welten wie der griechische Liebesroman a) und das keltische Märchen zu rechnen 8 ). Auch die Umbildung des keltischen Seefahrtmotivs ins Christliche in der lat. und altfranz. Brendanlegende hat den keltischen Wunderberichten nicht zu größerer epischer „ R e a l i t ä t " verholfen 4 ). Gerade diese Realität des epischen Nexus aber besitzt Chr.s Darstellung in vollstem Maße. E r hat nicht die Gewohnheit, die Themen seiner Romane programmatisch kundzutun. Seine Ideen sind in konkreten Gestalten und Bildern objektiviert; der Weg seiner Helden ist, ohne daß der Leser dessen sofort innewird, von der ebenso überlegenen, wie über ihre eigenen Ziele schweigsamen Kompositionskunst gezeichnet. Wenn in der Gauvainhandlung des Percevalromans das Motiv der Queste sich sehr stark dem Pol des reinen, wenig „hintergründigen" (Petsch) Zufalls nähert, so liegt das an der Tatsache, daß hier der Stil des Märchens unverkennbarer als sonst durch die höfische Erzählung hindurchscheint. Wenn irgendwo in der Chr.-Interpretation, so muß bei der k o m p o s i t i o n e i l e n D e u t u n g d e s Q u e s t e - M o t i v s die Forderung erhoben werden, die mittelalterliche Welt aus sich heraus, und nicht mit modernen psychologischen und realistischen Ansprüchen zu erklären. Dieser Notwendigkeit trägt Wilhelm Diltheys tief dringende Arbeit über „Die ritterliche Dichtung und das nationale E p o s " 5 ) in hervorragendem Maße Rechnung. Dilthey betont hier, daß die Realität der höfischen Welt eigenen Gesetzen der Phantasie folge. „Die souveräne Phantasie, die von den Notwendigkeiten losgelöst ist, genießt sich selbst, ihre K r a f t und ihre Freiheit: sie sucht jedes einzelne Abenteuer zu einer eigenen Wirkung zu erhöhen und verschmäht daher nicht, die K r a f t und die Schönheit der Männer und Frauen ins Äußerste zu steigern; in der Folge der Abenteuer entdeckt sie Wirkungen des Kontrastes oder der Verwandtschaft, unabhängig von der Wirkung durch den realen Zusammenhang; in der bunten Fülle derselben entdeckt sie neue Wirkungen, die aus dem ') M. Paetzel, a. a. O., S. 115. 2 ) Vgl. dazu Petsch, a. a. O., S. 50, 77, 3i4ff. und Erwin Rohde, a. a. O. 8 ) Vgl. z. B. „Die Reise des Maelduin", bei Ernst Tegethoff, Märchen, Schwänke und Fabeln (Bücher des Mittelalters, hrsg. von Friedrich von der Leyen, München 1925), S. 45ff. 4 ) Realität ist hier verstanden im Sinn des „realen" epischen Nexus. 5 ) Von deutscher Dichtung und Musik (Aus den Studien zur Geschichte des deutschen Geistes, Leipzig-Berlin 1933), S. 63—187.

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freudigen Gefühl von der Fülle des Lebens hervorgehen" 1 ). Daraus folgt klar, daß die höfische Literatur nicht mit den heutigen Maßstäben der Logik und der kausalen Gesetzmäßigkeit beurteilt werden kann. Die Phantasie der höfischen Erzähler „liegt in der von den Notwendigkeiten des realgeschichtlichen Daseins losgelösten Richtung, die Bewährung der Persönlichkeit im Abenteuer in der Phantasie auszubilden. Hier ist also die Abfolge der Abenteuer dem Zufall unterworfen; sie werden auf dem Wege des dahinreitenden Ritters gefunden" 2 ). Dilthey ist bestrebt, die Form des ritterlichen Romans mit der Kategorie des Romantischen zu erfassen. E r will damit nichts anderes als die Eigengesetzlichkeit der Phantasie hervorheben. Daraus erhellt zur Genüge, daß er nicht vom blinden Zufall, sondern vom Zufall als einer besonderen Kompositionsform spricht. Mit Ausnahme des Cliges enthält jeder Roman Chr.s eine Queste. Nicht nur deren einzelne Wegstationen sind vom Ganzen des Romans her motiviert, sondern die Abenteuerfahrt als solche ist auch im jeweiligen Thema der Dichtung begründet. Die des Erec hat zum Ziel die Wiedererlangung der rechten Lebensharmonie zwischen den beiden Gatten. Im Y v a i n hat sich der Held des Romans als vollkommener Ritter zu erweisen, um die Übertretung von Laudinens Rückkunftsgebot zu sühnen und die Gunst seiner Dame wieder zu erringen. Auf seinem Abenteuerweg erprobt er seine Tapferkeit im Dienste der anderen, vor allem aber durch seine vorbildliche Treue 8 ). E s kann kein Zweifel bestehen, daß nicht das Jokaste- oder gar das Quellenmotiv den geistigen Mittelpunkt des Romans bildet, sondern das Schuld-Sühnemotiv 1 ), für das Chr. keiner irgendwie vorgegebenen Quelle, sondern seinem eigenen erzählerischen Genius verpflichtet war. Die Queste im Lancelot ist verschieden begründet: Lancelot „sucht" Guenievre und kommt dadurch in moralisch heikle und kämpferisch fast undurchführbare Situationen, in denen er seine blinde Liebesergebenheit, sein auserlesenes Rittertum, aber auch seine schicksalmäßige Sendung (Friedhofszene, Befreiung der im Lande Gorre Gefangenen) beweist. Über die Motivierung der beiden Questen im Percevalroman ist schon gesprochen worden. Die Percevals enthält die Entwicklung des zur Erlösung des Gralschlosses berufenen Dümmlings, der jedoch in der Erfüllung dieser hohen Aufgabe durch sittliche Schuld gehemmt ist. In der Queste Gauvains versucht der Dichter (in g r a d u a l i s t i s c h e m , nicht in 2 ») Ebd., S. 112. ) Ebd., S. 120. ) Vgl. die unmittelbar vor der Aussöhnung zu Laudine gesprochenen Worte Lunetens: Ains n'eüstes ne ja n'avroiz Si buen ami come cestui (V 6748^). 3

4 ) Zur Bedeutung dieses Motivs für die Handlungsweise der einzelnen Gestalten vgl. Witte, a. a. O., IV, „Die Gestalten im Yvain", S. 100 bis 130.

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ethisch antithetischem Sinn) ein Gegenbild der Percevalhandlung zu zeichnen. E r führt das rein weitliche Rittertum vor neben dem stark ethisch-religiös unterstrichenen; das rein märchenhafte Befreiungsmotiv neben der schicksalmäßigen Berufung, die zu ihrer Verwirklichung seelische Läuterung voraussetzt; das rein höfische (stellenweise unhöfisch sinnliche) Liebesverlangen Gauvains neben Percevals Bindung an Höheres. Gewiß ist der Sinn der Gegenhandlung von Wolfram erzählerisch viel besser als von Chr. gestaltet 1 ). Nichtsdestoweniger aber ist sie auch im Percevalroman klar erkennbar. Von der Frage nach dem Sinn der Abenteuerfahrt führt nur ein Schritt zu dem Problem der M o t i v i e r u n g d e r G e s a m t h a n d l u n g , oder wenn man will, der „ T h e s e " . Ich habe schon in meinem früheren Aufsatz ausgeführt 2 ), daß der Streit um den „Thesen"-charakter der Chr.schen Romane teilweise ein Streit um Worte gewesen ist, denn Förster verstand unter „Thesenroman" keineswegs die programmatische Gestaltung von höfischen Moralforderungen, sondern die epische Behandlung psychologischer Themen, die selbstverständlich in der Ideenwelt der Zeit verankert waren. Für Chr. ist nun nicht so sehr entscheidend, daß er solche Themen gestellt hat, als vielmehr daß er ihre erzählerischen Möglichkeiten erkannt u n d verwirklicht hat. E r erreicht ihre Umsetzung in episches Leben durch die Schaffung spannender K o n f l i k t e . Diese Konflikte stellen nicht wie in den Lais der Marie de France und im Tristanstoff Kräfte des dunklen Schicksals gegen die Ohnmacht menschlicher Handlungen. Chr.s Gestalten sind nicht traumwandlerisch einem Zauber verfallen. Der Dichter hat vielmehr die Nebel der Sage durch die Helle einer optimistischen und völlig untragischen Tatfreudigkeit gelichtet. Die Helden seiner Romane kämpfen energisch gegen Spuk, Wunder und Verzauberung und setzen sich gegen alle Fährnisse siegreich durch. In der Tat leben alle Werke Chr.s aus der Geschlossenheit einer harmonischen Weltbetrachtung. Diese Welt ist so festgefügt, daß ihre Geltung nur vorübergehend, nur s c h e i n b a r in Frage steht. Die für den Aufbaustil so charakteristische Spannung des Gegensinns findet sich demnach auch in der Ideensetzung, j a sie ist nichts als deren kompositioneller Ausdruck. Stets läßt Chr. seine Figuren von einer gedanklichen und erzählerischen Grundebene aus handeln. Zwischen diesen Grundpositionen der einzelnen Romane bestehen keine g r u n d s ä t z l i c h e n Verschiedenheiten, wenn man vom Lancelot absieht. Es ist nicht zu leugnen, daß dessen „These" (hier hat das Wort *) Vgl. Gustav Ehrismann, Geschichte der deutschen Literatur bis zum Ausgang des Mittelalters, 2. Teil, 2. Abschnitt, 1. Hälfte (München 1927), S. 2öof. ») GRM. 23 (1935), S. 221 ff.

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am meisten Sinn) einer anderen Welt als der Chr.s entstammt. Die Vermutung W. Försters, der Roman sei „vom Verfasser im Stich gelassen worden und unvollendet geblieben, aus Mißmut mit dem unsympathischen Gegenstand" 1 ) hat jedenfalls das Richtige getroffen. Aber sonst sind die Abstände zwischen den Werken des Dichters, die inhaltlichen wie die sprachlichen, solche des Grades, der Interessenverlegung, der Tönung, aber nicht des prinzipiellen Standortwechsels. Nur wenn man das im Auge behält, wird man von einer „Entwicklung" Chr.s reden dürfen. So muß auch von hier aus das bestechende, aber konstruierte Entwicklungsschema LotBorodines 8 ) abgelehnt werden. Keineswegs ist ja im Erec das ritterliche Lebensideal stärker als die Liebe, auch wird im Yvain die Liebe nicht als die höchste Macht betrachtet®), sondern in beiden Romanen lebt, nicht thesenhaft aufdringlich, sondern lebendig und eindrucksvoll, die Auffassung, daß nicht gefahrloses Glück bzw. ehrgeiziger Mannesegoismus der wahre Inhalt des ritterlichen Lebens sind, sondern die Innehaltung des notwendigen Gleichmaßes, der „mesure", der harmonischen Mitte. Gewiß sind in beiden Romanen die Konflikte verschieden gelagert, aber doch nur so, daß eine und dieselbe Tatsache von verschiedenen Blickpunkten aus ins Auge gefaßt wird. Im Erec besteht der Konflikt in der Störung des jungen Eheglücks, die durch Erecs zeitweiliges unheldisches Verhalten und Enidens unglückliche Reaktion verursacht wird 4 ), im Y v a i n in dem Vergessen der rasch eingegangenen Ehebindung, die erst durch Leid und Kraft auch i n n e r l i c h unzerreißbar festgeschmiedet werden muß 6 ). Im ersten dieser Romane wird die Harmonie zwischen Mann und Frau, im zweiten die zwischen Rittertum und Ehe schließlich erreicht. Ja die beiden Haupthandlungen sind im Grunde nur ein Hindrängen auf diese „glückliche" Endlösung. Förster hat auch hier recht, Erec und Yvain als „Gegenstücke"') zu bezeichnen. !) W . Förster, Wörterbuch, S. 94*. *) a. a. O . , S. 278. 3) E b d . *) Der ,,san" des Erec besteht in einer Darstellung und Verherrlichung der in gemeinsamem Kämpfen, Leiden und Dulden erprobten und geläuterten ehelichen Liebe. Vgl. dazu Schürr, Epos, S. 409 ff. und E . Hoepffner, Arch. Rom., 18 (1934), S. 44off. Sehr schön legt Sparnaay, Hartmann von Aue, S. 104, die Idee des Chr.sehen Erec dar: „Der Ritter, der seine K r a f t und Tüchtigkeit in der Gefahr einbüßte, mußte die Untreue seiner Geliebten befürchten. Indem Erec ausreitet, seine ungebrochene K r a f t zu beweisen, wird er also einer doppelten Aufgabe gerecht: er widerlegt die Beschuldigung, daß er ein Feigling geworden wäre und erhält sich Enidens Liebe." Hier arbeitet Sparnaay mit letzter Klarheit die E i n h e i t s b e g r ü n d u n g - der Abenteuerfahrt Erecs und Enidens heraus. e) Vgl. Y v a i n s Handlungsrolle bei Witte, a. a. O., S. ir3—125. •) Wörterbuch, S. 44*.

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Am schwierigsten scheint dem Dichter die Aufrechterhaltung seines Weltbildes im Cliges zu fallen. Wenn im Erec und Y v a i n untätiges Ritterleben und selbstsüchtiges Ruhmstreben sich deutlich als „Gegenwelten" niederen Wertes von der rechten Harmonie des Lebens abheben, so ist deren Beibehaltung im Cliges nur dadurch möglich, daß der Dichter zu allen Mitteln wendiger Dialektik und listiger Erfindung greift. Fenice und Cliges begehen wohl einen Betrug, indem sie den Kaiser Alis hintergehen. Dieser aber hat Fenice gegen die Abmachung mit seinem Bruder Alixandre geheiratet und gelangt, durch einen Zaubertrank gehemmt, gar nicht in den Besitz seiner Frau. Die letzte Tatsache ist nicht immer genügend beachtet worden. Ohne sie wäre Cliges wirklich ein Tristan, Fenice eine Isolde. Aber die Vermeidung eines solchen Schicksals bildet gerade das Thema des Romans. Deshalb m u ß Chr. Alis ins Unrecht setzen. Formell zwar hat Alis Fenice rechtmäßig geheiratet, Chr. läßt aber keinen Zweifel, daß der liebende Cliges moralisch im Recht ist. So wird Täuschung zum Recht und Wirklichkeit zum Schein. Und die Verdrehung aller realen Verhältnisse wird von Chr. mit großem Aufwand an kompositionellen Spannungen und sprachlichen Doppelsinnigkeiten geschildert. Abweichend von den übrigen Romanen entsteht hier der Konflikt nicht zwischen den Hauptpersonen der Handlung, sondern er wird durch die Schuld einer dritten Person hervorgerufen. Alis hat sich verfehlt. E r ist der Vertreter der „Gegenwelt" im obigen Sinne, da er sich zwischen die Liebe derer hineindrängt, die zusammengehören. Deshalb auch läßt der Dichter Cliges bei der Brautgewinnung die große ritterliche Rolle spielen. Wenn man so den gewichtigen Anteil Alis an dem Aufbau des Cliges in Betracht zieht, kann die Vorgeschichte, wo am Beispiel Alixandres und Soredamors der natürliche Weg einer Liebe geschildert wird, nicht mehr als bloße Einleitung erscheinen. Sie zeichnet gerade jene Harmonie des Lebens, die, nicht anders als in den übrigen Romanen Chr.s, durch einen Konflikt gestört und erst am Schluß des Hauptteiles wieder erreicht wird. Genau so wie die Hoffreude im Erec ist die Geschichte des Elternpaares im Cliges eine vom Dichter wohl berechnete Kontrasthandlung; genau so wie jene verdeutlicht sie das Grundthema des Buches und ist daher mehr als nur ein Mittel, den Roman auf die vorgeschriebene Durchschnittslänge von 7000 Versen zu bringen. Daß der Dichter sie hier voransetzt, sie dort aber der Haupthandlung folgen läßt, beweist nur, wie sicher er seine Kompositionsmittel beherrscht und wie glücklich er zu variieren versteht. Auch in anderen kompositionellen Zügen, dem Fehlen des Queste-Motivs und der märchenhaften Spannung, unterscheidet sich der Cliges von den übrigen Werken Chr.s. Worauf es in diesem Zusammenhang aber ankommt, ist, daß auch im Cliges die Einheit des Chr.sehen Weltbildes nicht durchbrochen ist. Zwar ist sie hier erzählerisch als eine Moral des Scheins B . z. Z.R.Ph. Heft 88. Kellermann

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gestaltet. Der Schein dient aber gerade zu dem Zweck, die Zertrümmerung jener Einheit zu verhindern. Freilich ist, wie A. Franz bemerkt, im Cliges nie „von Moral, nur von Korrektheit die R e d e " *). Und wenn der Cliges „eine Tendenz hätte, wäre es nicht eine moralische, sondern eine gesellschaftliche Tendenz" 2 ). Aber noch in diesem Streben, die lockere sittliche Bindung Cliges und Fenicens höfisch-gesellschaftlich zu rechtfertigen (im Lancelot wäre das unmöglich), beweist das sittliche Bewußtsein Chr.s indirekt seine Wirksamkeit. Denn, wie später bei der zusammenfassenden Darstellung der geistigen Fragen gezeigt werden wird, ist die höfischweltliche Ethik bei Chr. von der höfisch-religiösen Ethik gradhaft, aber nicht wesensmäßig verschieden. Nichts zeigt diese Schichtung deutlicher als die Motivierung der Percevalhandlung. Cliges und Percevalroman bezeichnen so die Weite des hochmittelalterlichen Weltbildes. E s hat keinen Wert, über die biographischen Ursachen zu grübeln, weshalb Chr.s Ton im Perceval gegenüber jener virtuosen Leichtigkeit so schicksalhaft ernst, gegenüber jener Kunst des „Als-Ob" so eindeutig geworden ist. Allein die Tatsache, daß uns Chr.s letztes Werk mit dieser neuen Stimmung überrascht, entscheidet. Bewegt sich der Cliges in den Bezirken einer ethisch gerade noch angängigen Weltlichkeit, so steigt die Percevalhandlung viel tiefer zum transzendenten Sinn der mittelalterlichen Lebensordnung hinab. Chr. wird aber nicht allegorisch und lehrhaft wie die Verfasser der Prosagralromane. E r erzählt auch hier eine spannende Geschichte, hinter der er nur als Gestalter, nicht als dreinredender Moralist steht. Trotzdem ist jenes neue Element seiner Kunst, die Vertiefung der sittlichen Begründung nicht zu verkennen. Wir haben uns indessen mit ihm vorerst nur insoweit zu befassen, als es die Motivierung des Romans bedingt. Wie im Y v a i n wird auch im Percevalroman der Konflikt durch eine Schuld des Helden verursacht und durch eine überraschend einsetzende Verfluchungsszene handlungsmäßig veranschaulicht. Dabei ist aber die „Gegenwelt", der Y v a i n zeitweise verfallen war, eine falsche Auffassung vom ritterlichen Wert (von der Y v a i n mehr durch inneres Wachstum als durch die Verzeihung Laudinens loskommt), während die Perceval bedrohende „Gegenwelt" eine richtige sittliche Schuld darstellt, die nur durch eine religiöse Läuterung gesühnt werden kann. Gleich sind die beiden Romane dagegen wieder darin, daß auf das Bewußtwerden der persönlichen Schuld jeweils eine heftige seelische Reaktion folgt (Yvains Wahnsinn, Percevals Gottferne). Noch lehrreicher aber, um die Sonderart der Chr.schen Motivierung im Percevalroman klarzustellen, ist die V e r g l e i c h u n g Chr.s u n d W o l f r a m s aus diesem einen begrenzten Blickwinkel. 1

) A. Franz, a. a. O., S. 66. ) Ebd., S. 67.

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Wir sammeln demnach auch hier, wie schon öfter im vorausgehenden, Material für eine ausführlichere Gegenüberstellung. Eine solche Vergleichung von Aufbau- und Stilkomplexen verspricht viel reicheren Erkenntnisertrag als die Interlinearvergleichung, der die großen Züge des Aufbaues notwendigerweise entgehen müssen 1 ). Dabei müssen zur erschöpfenden Beleuchtung der Probleme sowohl die Szenen Chr.s und Wolframs nebeneinander als auch in ihrem eigenen inneren Zusammenhang betrachtet werden. Wir gehen an die einzelnen Fragen der S c h u l d u n d L ä u t e r u n g in der Reihenfolge des Handlungsverlaufes heran. Der eindeutige Ursprung der ganzen Schuldverkettung im Percevalroman ist die Hartherzigkeit des ausziehenden Dümmlings, die den Tod der Mutter verursacht. Übereinstimmend wird von der Base und vom Einsiedler Percevals Versagen vor dem Gral auf diese Sünde zurückgeführt (V 3593 bis 3595, 6392—6409). Sie ist willentlich begangen worden und deshalb ist Perceval dafür voll verantwortlich. E r hat seine Familiengeschichte aus dem Munde der Mutter vernommen. E r weiß, warum er von allem Ritterlichen ferngehalten worden ist. Das verhindert jedoch nicht seine Barschheit und Härte (V 390, 495). Als er von der Mutter wegreitet, da schaut er noch einmal zurück und sieht sie wie tot daliegen. Aber der Wunsch, glänzende Waffen zu erlangen und Ritter zu werden, ist größer als die kindliche Liebe. Perceval setzt sich über die Regungen des Mitleids hinweg, schlägt mit dem Weidenstrick auf sein Pferd ein und beginnt seine Fahrt in die Welt. Alle die eben besprochenen Einzelzüge des Percevalbildes fehlen bezeichnenderweise bei Wolfram. Bei ihm trägt Parzival von Anfang an edlere Züge. Seine Verantwortung für dieses erste Vergehen ist so sehr abgeschwächt, daß man fragt, ob er denn überhaupt eine Schuld haben kann, wenn er nur einer unwiderstehlichen Berufung zum Rittertum folgt. Gewiß hat auch Wolfram keinen reinen Schicksalsroman schaffen wollen. Bei ihm (wie bei Chr.) ist Parzival zum Gral erwählt u n d schuldig. Nur haben sich beide Dichter auf der e r s t e n Stufe der Handlungsentwicklung bereits in verschiedener Weise zu der dem Parzival-Gral-Stoff innewohnenden Motivierung gestellt. Chr. betont die Schuldverstrickung, Wolfram die „tumpheit" des Helden. Die erste ist, wie noch zu zeigen sein wird, auch aus Wolframs Darstellung keineswegs zu streichen (sie wächst ständig gegen die Einsiedlerszene zu und erreicht dort ihren Höhepunkt). Aber es entspricht dem Werdecharakter des Wolframschen Romans, daß Parzival, s i c h s c h u l d los f ü h l e n d , in immer neue Verfehlungen hineingerät, während Chr.s Held sehr früh darüber Bescheid weiß, daß er gegen eine unverrückbare Norm: die Kindesliebe gefehlt hat. Wolfram ordnet die Vergehen Parzivals in einer aufsteigenden psychologischen Reiheni) Vgl. GRM. 23 (1935). S. 224. 7*

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folge an, Chr. bringt sie in ein logisches und kausales System. Deshalb auch wird die Tötung und Beraubung des Roten Ritters Perceval gar nicht zum Vorwurf gemacht. Denn da, wo dem Dümmling die Grundsätze der ritterlichen Ethik fremd sind, kann er sich logischerweise auch nicht dagegen vergehen. Wolfram dagegen betont diese Schuld Parzivals beinahe noch stärker als jene erste und erreicht damit hier schon eine Verritterlichung der Handlung, die Chr. in diesem Ausmaß fremd ist. Percevals Schuld am Tod der Mutter ist bei Chr. nicht nur Hauptmotiv der Schuldbegründung, sondern wird auch zu einem wichtigen Mittel des Szenenfortschrittes. Wolfram motiviert diese Übergänge konsequent anders, nämlich ritterlich-höfisch. Das Mutter-Sohn-Verhältnis spielt in seinem Roman nicht jene entscheidende Rolle wie bei Chr. Zwar ist hier Percevals Schuld gegenüber der Mutter dadurch etwas gemildert, daß ihn das unruhige Gewissen schon nach der Ritterwerdung bei Gornemant dazu treibt, sich Klarheit über das Schicksal der Mutter zu verschaffen. Aber seine Worte: Del duel de moi quant la leissai, Che! pasmee, bien le sai (V 1587 f.) beweisen doch, wie tief das Bewußtsein einer Verfehlung in ihm lebt. Parzival jedoch drängt es aus anderen Gründen, wieder so rasch als möglich von der Burg seines Lehrmeisters Gurnemanz fortzukommen: er fürchtet, sich zu verliegen (176,30—177,8). So hat Wolfram da, wo Chr.s Held ganz als der kindliche Witwensohn erscheint, das ritterliche Thema des Erec zur Motivierung des Szenenwechsels verwendet. Ähnliche Feststellungen erlaubt das Ende der folgenden Episode. Wohl kümmert sich Parzival am Ende der Cundwiramürsszenen um die Gesundheit seiner Mutter, aber er denkt gar nicht daran, daß sie tot sein könnte. Auf kurze Zeit will er zu ihr zurück und hofft, auf dem Weg zu ihr, Abenteuer zu finden (223,i7ff.). Chr. jedoch muß ganz anders motivieren. Perceval schwebt j a in der Ungewißheit, ob seine Mutter noch lebt. In jedem Fall verspricht er, nach Belrepeire zurückzukommen, entweder um die Mutter in einem Kloster unterzubringen oder für ihr Seelenheil beten zu lassen (V 2960ff.). Sein Ritt führt ihn schicksalsmäßig zu dem Fischer im Fluß und dann zum Anblick des Gral. Seine Gedanken sind vorerst noch ganz bei der Mutter. J a er verrichtet sogar ein Gebet, um ein Wiedersehn mit ihr zu erreichen (V 2980ff.). Wolfram hat eine ganz andere Szenenverknüpfung. Parzival ist noch so von dem strahlenden Bild Cundwiramürs erfüllt, daß er vor Sehnsucht beinahe den Verstand verloren hätte (224,i5ff.). Wie beim Übergang von der Gurnemanzepisode hat Wolfram auch hier ein ritterliches Motiv, das des Liebeswahnsinns anklingen lassen. Das weist von neuem auf die starke höfische Tendenz Wolframs hin. Das Mutter-Sohn-

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Verhältnis steht bei ihm kompositionell im Hintergrund. E s tritt nur noch einmal stimmungsmäßig stark hervor, als Parzival vom Einsiedler den Tod Herzeloydes erfährt (vgl. auch früher 173, 8—10). Im altfranzösischen Roman kommt der Held viel eher zu dieser schmerzlichen Gewißheit, die für ihn gleichzeitig die frühe Einsicht in seine persönliche Schuld bedeutet. E r verdankt sie seiner Base, die ihm nach dem ernüchternden Erwachen im Gralschloß begegnet. Wolframs Parzival wird an dieser Stelle wohl von den Folgen seines Versagens vor dem Gral unterrichtet, aber es erfolgt keine Auskunft über die tieferen Gründe, weshalb die Erlösung bringende Frage unterblieben ist. Alle diese Erörterungen hat Wolfram erst in der Trevrizentszene untergebracht. Nur so wird es möglich, daß Parzival, im Glauben an seine Unschuld, der Hoffart und dem Gotteshaß verfällt. Die unmittelbare Ursache für die U n t e r l a s s u n g d e r F r a g e auf der Gralburg ist in beiden Romanen übereinstimmend die falsche Auffassung von Gornemants Schweigeregel. Dieses höfische Gebot gehört zu jenen Forderungen des ritterlichen Lehrmeisters, durch deren Annahme der ungebildete Ritternovize zum weltkundigen Ritter werden soll. E s ist vor allem deshalb eingeführt, um die Schuld des Helden psychologisch und höfisch erklärlich zu machen und ist ein Beweis dafür, wie „das Märchen . . . in ritterliche Umwelt versetzt und ihr angepaßt, die volkstümliche Grundlage literarisch fortgebildet" ist 1 ). Die Abweichungen im Wortlaut jenes höfischen Gebotes sind zwar nicht bedeutend, verdienen aber doch, angemerkt zu werden. Bei Chr. ist es zu 9 Zeilen angewachsen (V 1648—1656) und wird mit einer Tendenz bekräftigt: Qui trop parole, pechid fet (V 1654). Es widerrät demnach ganz allgemein unnützes R e d e n . Darin ist allerdings auch die Warnung vor vorwitzigem F r a g e n beschlossen. Bei Wolfram ermahnt Gurnemanz Parzival nur: im sult niht vil gevrägen (171, 17). Diese genauere Fassung bewirkt eine deutlichere Zusammenordnung der Parzivalszenen. Denn sie erweckt die Erinnerung an die Fragelust des Dümmlings im Urwald und bezieht sich andererseits unmittelbar auf die Unterlassung der Gralfrage. Wolfram schließt an das Fragegebot sinngemäß eine Aufforderung zum richtigen Antworten ( 1 7 1 , 1 8 — 2 1 ) an. Alle diese Überlegungen bezogen sich nur auf den Wortlaut der Anstandsregel. Aufschlußreicher ist es, zu untersuchen, warum sie am falschen Orte und zu falscher Zeit befolgt wird. Dieses Problem ist aber identisch mit jenem anderen: warum unterbleibt die Frage auf der Gralburg ? Bevor wir also in W. Golther, a. a. O., S. 16.

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der Vergleichung der beiden Motivierungen fortfahren, sind über den Charakter dieser Frage einige Bemerkungen zu machen. Ursprungsmäßig sind zwei Motive ineinander geflossen: das der Entzauberungsfrage und das der unterlassenen Frage. Wie weit der zweite Zug mit dem irischen Tabu-Motiv des g e s s zusammenhängt, ist noch nicht geklärt 1 ). Auf jeden Fall hat er in den Parzivalbearbeitungen Chr.s und Wolframs völlig seinen märchenhaften Sinn verloren und ist ins rein Ritterliche gewendet. Vom Standpunkt der Wirkung aus aber liegt bei beiden Dichtern eine Erlösungsfrage vor. Darüber darf ihr Wortlaut nicht hinwegtäuschen. Perceval soll zwar nach dem Grunde, warum die Lanze blute und nach dem Empfänger des Gral, Parzival dagegen nach dem Leiden des Anfortas fragen. Aber dieser Unterschied der Formulierung bedingt, wie schon Birch-Hirschfeld in völliger Klarheit festgestellt hat, keine andere Wirkung der Frage, sondern ist durch die Vorstellung Wolframs „veranlaßt, der Gral sei ein Edelstein . . .; denn mit einem Edelsteine bediente man niemand" 2 ). Ursprung und Wirkung der Frage zeigen demnach bei Chr. und Wolfram gleiche Züge. Wie steht es aber mit ihrer Motivierung ? Sie ist von zwei Seiten aus zu behandeln: i. Wodurch soll die Frage ausgelöst werden ? 2. Warum unterbleibt sie ? Ist es angängig, die erste Seite des Problems damit zu lösen, daß man sagt, bei Chr. handle es sich um eine Neugierfrage, bei Wolfram um eine Mitleidfrage ? Ich glaube nicht, daß dieser scharfe Gegensatz den Handlungsgang beider Romane genügend ausschöpft, abgesehen davon, daß gerade der Terminus Neugierfrage dem Sachverhalt des Percevalromans nicht gerecht wird. Man wird zutreffender für Chr. u n d Wolfram von einem T y p u s der E i n d r u c k s f r a g e sprechen, die beim mhd. Dichter von der Barmherzigkeitsfrage ergänzt wird. In beiden Gedichten soll der Ritter, dem sich der Weg zum Gralschloß geöffnet hat, von den geschauten Wundern so bis ins Innerste erschüttert werden, daß ihm die Frage von selber auf die Lippen kommt. Wolfram hat nur durch die gewaltige Verstärkung der Wunderx) Hendricus Sparnaay, Verschmelzung legendarischer und weltlicher Motive in der Poesie des Mittelalters (Groningen 1922), S. 106, glaubt, daß die Gess-Hypothese „schwer darzutun, noch schwerer zu beweisen" sei. Stark hatte sich E. Wechssler, a. a. O . , S. 131, für sie eingesetzt. V g l . auch zum Problemkreis der „ F r a g e " G. Weber, a. a. O . , S. 106, der zwei neue Märchenbeispiele für die Verzauberungsfrage anfuhrt. Zu den Fragentypen der Heilung bringenden Entzauberungsfrage und der unterlassenen Frage vgl. Richard Heinzel, Über die französischen Gralromane (Denkschriften der Kais. Akad. d. W., Phil.-Hist. K l . , Bd. 40, Wien 1892), S. 1 4 ! Die Antithese Neugierfrage (Chr )-Mitleidsfrage (Wolfram), von der im Folgenden die Rede ist, wird von Sparnaay, a. a. O . , S. 106, vertreten. s ) Die Sage vom Gral. Ihre Entwicklung und dichterische Ausbildung in Frankreich und Deutschland im 12. und 13. Jahrhundert (Leipzig 1877), S. 283.

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atmosphäre den Zwang, der Parzivals Zunge eigentlich lösen m ü ß t e , noch eindringlicher hervortreten lassen. Wenn der Verblendete trotzdem nicht fragt, so erhöht das nur seine Schuld. Der T a t bestand der Eindrucksfrage ist aus der Überlegung Parzivals während der Gralszene deutlich zu ersehen. Heißt es da doch unmißverständlich : wol gemarcte Parzivâl die rîcheit unt daz wunder grôz: durch zuht in vrâgens doch verdrôz. er dâhte „ m i r riet Gurnamanz mit grôzen triwen âne schranz, ich solte vil gevrâgen niht. waz op min wesen hie geschiht die mâze aise dort pî im ? âne vrâge ich vernim wiez dirre massenîe steht (239, 8—17). Sigûne spricht (255, 4 — 1 1 ) den gleichen Gedanken aus. Die Fortsetzungen der beiden Stellen allerdings (240, 3—9, 255, 1 7 — 1 9 ) betonen ausdrücklich, daß Parzival aus Mitleid mit dem kranken Anfortas nach dessen Leiden hätte fragen sollen. So ist der Charakter der Frage bei Wolfram keineswegs einheitlich der einer ,,Mitleidsfrage". Wolfram hat das offenbar auch gar nicht beabsichtigt. Denn dann hätte er das Leiden des Anfortas viel eindringlicher auf Parzival wirken lassen müssen. Dieser erfährt aber in der ganzen Gralszene nur einmal ausdrücklich davon, als ihm nämlich Anfortas das Gralschwert übergibt (239, 25—27). Parzival kann auch die Verbindung zwischen dem Jammer, den das E r scheinen der Lanze auslöst und dem Leiden des Anfortas unmöglich sofort erfassen. Viel stärker als jene Worte des Fischerkönigs müßten Parzival die vielen unerklärten Gegenstände und Vorgänge, deren Zeuge er ist, zur Frage veranlassen. All diese T a t sachen erlauben nur eine Schlußfolgerung: die Gralfrage bei Wolfr a m einseitig als Mitleidsfrage aufzufassen, bedeutet Wolframs Handlungsführung mißzuverstehen. Die Interpretation seiner Gralszene muß zu dem Ergebnis führen, das M. Gerhard folgendermaßen formuliert: „ D i e Gralsfrage ist mehr als bloße Mitleidsfrage, mehr als Zeichen des Anteils am Schmerze a n d e r e r " 1 ) . „Wagners Deutung .durch Mitleid wissend' mag mit Ursache sein, daß diese E r klärung heute f a s t allgemein gilt" 2 ). „ N i c h t bloßes Mitgefühl spricht die Frage nach ihrer Bedeutung aus, sondern den Schauer eines, der von einem Erlebnis angerührt wurde, das über die Grenzen alltäglichen Daseins hinausgeht. Was Parzival beim Gral schaut, ist .wunder', ist, wie Wolfram immer wieder hervorhebt, das Höchste, >) a. a. O., S. 20. ) Ebd., S. 20, Anm. 1.

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das die E r d e birgt und ihm zeigen kann. Wem zuteil wurde, dies zu erfahren, der muß — das liegt in der Erwartung der Frage beschlossen — davon überwältigt werden, muß unwillkürlich jene Frage stellen, die nichts anderes ist als Zeichen dieses überwältigenden Eindrucks, — oder er ist stumpf, unfähig das Mysterium a u f z u n e h m e n " 1 ) . Daraus ergibt sich der weitere Schluß, auf den es im vorliegenden Zusammenhang vor allem ankommt: die Unterschiede in der Motivierung der Schuld bei Wolfram und Chr. müssen irgendwoanders liegen als in der Antithese: Neugier-Mitleidsfrage. Wir kommen einer Lösung dieser Schwierigkeit bedeutend näher, wenn wir an das Problem von der negativen Seite herangehen: warum stellt Chr.s bzw. Wolframs Held die Frage n i c h t , mit anderen Worten: warum glaubt der vom Schicksal zu dem Anblick des Gral Berufene einer ganz allgemein gefaßten ritterlichen Lebensregel da folgen zu müssen, wo es auf seine tiefste sittliche und geistige Bewährung ankommt ? Um die so wesentliche Verschiedenheit zu erfassen, mit der die beiden Dichter die Probleme der Schuld und Läuterung behandelt haben, ist es geboten, von diesem P u n k t der Untersuchung ab die vergleichende Betrachtungsweise zu verlassen und Wolframs und Chr.s Darstellung nacheinander zu behandeln. Da wir in erster Linie auf die Erkenntnis Chr.s abzielen, steht hier d i e I n t e r p r e t a t i o n W o l f r a m s voraus. Parzival fühlt die Verantwortung nicht, die in der Gralszene auf ihm ruht. E r wartet auf Belehrung, wie sie ihm in der Gurnemanzepisode geworden war (239, 1 1 — 1 7 ) . Dort war er ein Lernender, hier aber soll er aus freier Entscheidung heraus handeln. Das begreift er nicht. Die höfische Anstandsrcgel wird von ihm auch da befolgt, wo er unerhörte Wunder erblickt und unermeßliches Leid stillen sollte. So unterbleibt die Eindrucksfrage, und die Stimme der Barmherzigkeit schweigt. Ist das Parzivals Schuld oder nicht? 2 ). An diesem Entweder-Oder hat sich die Interpretation der Motivierung bei Wolfram zu entscheiden. Ist der erste Anblick des Gral für Parzival nur eine Phase in seiner Entwicklung ? Soll dieses gewaltige Erlebnis in Parzival nur „eine unauslöschliche Sehnsucht nach der größten Würde und T u g e n d " erregen, wie Lachmann") annimmt? Gewiß ist das die Wirkung der Szene, denn Parzival wird daraufhin ein Sorgenbeladener, ein Freudeloser. Aber es hieße die Bedeutungsschwere von Wolframs Gralschilderung verkennen, wollte man sie auf den Relativitätscharakter einer Entwicklungsstufe eingrenzen. Das bedeutete auch, diesen Entwicklungsstandpunkt derartig zu übersteigern, daß der von Wolfram so stark hervorgehobene >) J ) und 8 )

Ebd., S. 21. Zu diesen Zusammenhängen vgl. M. Gerhard, a. a. O., Gustav Ehrismann, Lit.-Gesch., a. a. O., S. i t f i t . Zitiert bei M. Gerhard, a. a. O., S. 23, Anm. 1.

S. igff.

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e t h i s c h e Hauptgehalt der Handlung darunter litte. Und schließlich würde dadurch auf Parzival eine solche Fülle von u n v e r d i e n t e r Tragik gehäuft, daß sein Haß gegen Gott nur zu gerechtfertigt erscheinen müßte. Wie kämen aber dann Sigüne und Cundrle dazu, gegen Parzival den Vorwurf der Falschheit zu erheben (255, 1 4 — 1 6 ; 3 1 4 , 28—315, 6), wenn der Held nicht mit einer primären Schuld belastet wäre ? Nein, Parzival hat durch die Unterlassung der Frage wirklich eine Schuld auf sich geladen, die er später als solche zu büßen hat. E r hat, wie ihm Trevrizent erklärt, einen falschen Gebrauch von seinen Sinnen gemacht (488, 26—30). E r hat nicht u n t e r s c h i e d e n zwischen dem Anstandsgebot zu schweigen und der Verpflichtung zu fragen. Insofern hat er es an der rechten E i n s i c h t fehlen lassen. ,,Er machte einen unrichtigen Gebrauch von den ihm verliehenen sinnlichen und intellektuellen Kräften . . . E r hat zu klug sein wollen. Die Lehre des Gurnemanz . . . hat er in seinem verständnislosen Bildungstriebe, der nur auf das Erlernen der höfischen Lebenskunst gerichtet war, allzu wörtlich genommen . . ." 1 ). Aber, so kann man mit Recht fragen, konnte Parzival auf dieser Entwicklungsstufe schon verständig genug sein, um das zu erfassen, was ihm im entscheidenden Punkt seiner Jugend not tat ? Konnte er schon reif genug sein, zu verstehen, daß die gelernte höfische Form im Angesicht solcher Wunder und solchen Leides keine Geltung besaß ? Wir stoßen hier auf das Nebeneinander von schicksalsmäßiger Prädestination und persönlicher Schuldbefleckung, gnadenhafter Erwählung und kampffrohem Willen, entwicklungsmäßiger Entfaltung und sittlichem Streben, das sich am deutlichsten in der Kernfrage des ganzen Werkes offenbart: wird der Gral nur einem Berufenen verliehen, oder kann er auch erkämpft werden ? Den Entwicklungsstandpunkt vertritt in der neuen Wolframforschung wohl am stärksten M. Gerhard. Sie glaubt, daß gerade die Doppelheit von Gnade und Parzivals eigener K r a f t „als seelische Tatsache" 2 ) von Wolfram gestaltet worden sei. Eindeutiger noch stellt sie ihre Ansicht bei der Besprechung von Parzivals Versagen vor dem Gral dar: „Die Folgen seiner Irrung muß er tragen, nicht nach irgendeinem Gebot von Sühne oder Strafe, sondern vermöge eines Lebensgesetzes, das der Dichter eben hier sichtbar werden läßt"'). Ihre Ausführungen richten sich gegen Ehrismann, der in der Tat die entgegengesetzte Ansicht vertritt: „Die eigene K r a f t also ist bei dem Rettungswerk der Seele das entscheidende Moment, die Gnade hat den Anstoß gegeben, den Ausschlag gibt sie nicht. Auch nach der durch die Lehre Trevrizents erfolgten inneren Umkehr Parzivals wirkt sie gleichsam nur latent mit" 4 ). Ehrismann kommt zu dieser ') G. Ehrismann, Über Wolframs Ethik, ZdA. 49 (1908), S. 442f. M. Gerhard, a. a. O., S. 31. 3 ) Ebd., S. 16. 4 ) G. Ehrismann, Ethik, S. 453.

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Feststellung trotz des Eingeständnisses: „Aber das Verhältnis zwischen Willen und Gnade und vor allem von der mitsprechenden Prädestination ist vom Dichter nicht scharf ausgeprägt. Die I d e e ist nicht genügend herausgearbeitet" 1 ). Dieselbe Bemerkung gilt auch für Parzivals Schweigen vor dem Gral. Auch da ist die Trennung zwischen Schuld und Schicksal nicht eindeutig gezogen. Daß nun aber Ehrismanns Betrachtungsweise richtig ist, ergibt die Analyse der Trevrizentszene. Denn da wird eindeutig von Sünde, Verfehlung und Schuld gesprochen. Es ist bezeichnend, daß in M. Gerhards Darstellung der Einsiedlerszene wohl von dem Kampf Parzivals gegen Gott und von seinem Zweifel an Gottes Gerechtigkeit die Rede ist, aber nicht von der Schuld, die er sich durch den Weggang von der Mutter und den Waffenraub an Ither zugezogen hat. Und doch stehen diese Tatsachen ausdrücklich im Text. Richtiger als M. Gerhard erklärt G. Weber dieses Nebeneinander von Schicksal und Schuld. Er führt aus, daß das subjektive Gefühl einer schicksalhaften Tragik zwar in Parzival lebe und daß dadurch „jene berühmte Irrationalität, die den Kern des Tragischen im Altgermanischen ausmacht, im Parzival — vorerst wenigstens — gewahrt"*) ist, läßt aber keinen Zweifel darüber, daß (absolut gesehen) Parzival sein Unheil selbst verschuldet hat, daß es „seine sittlichen Mängel [waren], welche ihm sein Ziel notwendig versperrten" 8 ). Die Darstellung Webers bestätigt demnach unsere Deutung der Schuldzusammenhänge bei Wolfram. Trevrizent nennt Parzivals Schuld am Tode der Mutter und die Tötung Ithers zwei große Sünden (499, 19—25). Ihre Schwere ist zwar dadurch gemildert, daß sie nicht aus v o l l e r Erkenntnis des Sachverhalts heraus begangen worden sind, sondern aus „ignorantia", aber Parzival besitzt doch ein gewisses „Maß der Verantwortlichkeit" 4 ), dem seine V e r n u n f t und sein W i l l e nicht gerecht geworden sind. Dasselbe gilt auch von der Stummheit vor dem Gral. Und worin liegt nun der Grund für jene Verblendung Parzivals ? Ehrismann formuliert ihn knapp und unmißverständlich: „Aus ein und demselben unheilvollen Triebe gehn alle diese verhängnisvollen Taten hervor: aus der Lust zur Welt . . . Die Freude am irdischen Schein trübte sein Gewissen und betörte seine Vernunft" 5 ). Es ergibt sich zusammenfassend, daß die Deutung des Parzival nicht von Wolframs Schicksalsglauben, sondern von seiner Ethik aus zu geschehen hat. Die größte Schuld Parzivals aber ist sein Haß gegen Gott, der Zweifel an Gottes Güte und Gerechtigkeit, seine Überschätzung des 1) 2 ) ») ') ')

Ebd., S. 453f. Wolfram von Eschenbach, I, S. 296. Ebd., S. 298. G. Ehrismann, Ethik, S. 448. Ebd., S. 449.

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ritterlichen Strebens, die nichts anderes ist als Hoffart. E r hat, so g l a u b t er, in bester Absicht gehandelt, als er im Angesicht des Gral und des Anfortas das Gebot des Gurnemanz befolgt hat. Von dieser Selbstverblendung befreit ihn erst der Einsiedler. Sie ist aber der unmittelbare Grund für seine Absage an Gott 1 ). Ergibt sich so eine enge ursächliche Beziehung zwischen dem Schweigen vor dem Gral und dem Haß gegen Gott, so fehlt dieses Kausalverhältnis zwischen der Schuld am Tod der Mutter, Ithers Erschlagung und der Unterlassung der Frage, wenn diese Verfehlungen auch aus e i n e r seelischen Wurzel entspringen8). Es ist gut, schon hier daran zu erinnern, daß bei Chr. diese Verbindungen ganz anders verflochten sind. Wenn auch gelegentlich die Motivierung Chr.s in Wolfram hineinverlegt worden sein mag'), Tatsache ist, daß Parzival nicht deshalb vor dem Gral stumm ist, w e i l er am Tode der Mutter schuld ist. Man könnte sowohl diese Schuld als auch den Leichenraub aus Wolframs Roman streichen, ohne daß dadurch das Werk seine Geschlossenheit und die Motivierung den Boden verlören. Auch zwischen dem Tod der Mutter und der Loslösung von Gott besteht bei Wolfram keine unmittelbare Verbindung. Denn Parzival weiß von jener unheilvollen Folge seines Auszugs bis zur Einsiedlerszene nichts. Und dann nimmt er diese Schuldanklage ohne weiteres auf sich, ohne sich gegen ihre Berechtigung zu empören (476, 12 bis 30). Wolfram läßt demnach beides nebeneinander bestehen. Sein Held trägt im ganzen vier Verfehlungen und wird über alle vier von Trevrizent belehrt. Bei Chr. dagegen folgt, wie zu zeigen sein wird, das ganze Schuldgeflecht mit logischer Konsequenz aus der einen Anfangssünde, der Hartherzigkeit gegen die Mutter. Über die Kompositions- und Gedankenunterschiede in den Einsiedlerszenen Chr.s und Wolframs ist schon viel geschrieben worden. Hier kommt die Darstellung Wolframs nur in Bezug auf Schuld und Läuterung Parzivals in Betracht. Die Umkehr des Gottfremden geschieht nicht in plötzlichem Gefühlsumsprung, sondern in allmählichem Reifen. Die Begegnungen mit Sigune und den Pilgern bereiten die Umwandlung vor, die dann bei Trevrizent zu völliger Reinigung von Schuld und Neuorientierung des Lebens führt. Dies geschieht einerseits durch die Unterweisung Parzivals in der Vgl. • zu dieser Doppelheit der Motivierung die eben angefahrten Stellen aus Webers Wolframbuch. 2 ) Wieder kommt unsre Darstellung unabhängig zu dem gleichen E r gebnis Webers, der das Fehlen solcher Motivierungszusammenhänge bei Wolfram aus dessen Abneigung vor aller „den Verstand sättigenden Psychologie" (S. 280) herleitet. 8 ) Birch-Hirschfeld, a. a. O., S. 268, nimmt an, daß Parzival die Gralfrage unterläßt aus Einfalt und Sündhaftigkeit. Barbara Jansen, Tristan und Parzival, Ein Beitrag zur Kulturgeschichte des Mittelalters (Diss. Utrecht, 1923), S. 88, will den Leichenraub an Ither als Hauptgrund aufgefaßt wissen.

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Gotteslehre und in der Heilsgeschichte. Aber die Unterweisung allein genügt nicht, um Parzival zu retten. Der Wille muß dazu treten, die Lehre zu beherzigen. Das ist gerade Parzivals Buße: diz was ir zweier scheidens tac. Trevrizent sich des bewac, er sprach ,,gip mir din Sünde her: vor gote ich bin dln wandels wer. und leist als ich dir han gesagt: belip des willen unverzagt" (502, 23—28). Daß Parzival überhaupt trotz allen Zweifeins und aller inneren Einsamkeit der Gnade der Umkehr teilhaftig wird, hat er der Demut und dem Erbarmen, die er bei Gurnemanz gelernt hat, der Treue und Güte, die der Erbteil seiner Mutter sind, zu verdanken (451, 3—7). Sie waren als Anlage in ihm vorhanden, als „Möglichkeit . . . daß sein Gemüt für die sittliche Rettung, für die Reue empfänglich war" 1 ). Vor allem aber hat Parzival, gerade im ,,zwivel", der „unverzaget mannes muot" nie verlassen, denn immer war er seinem Streben nach dem Gral und der Sehnsucht nach seiner Frau treu geblieben 2 ). Die Stärkung seiner Willenskraft durch den Zuspruch des Einsiedlers, die Wiedergewinnung des Vertrauens zu Gott, die Befreiung von seinen vier großen Sünden und die Einsicht in Gottes Wesen und Walten lassen Parzival die endgültigen Proben des Weltlebens bestehen und ihn des Gralkönigtums würdig sein. Damit aber erfüllt sich sein Leben, nicht so sehr in der Spannung von Ich und Welt, als in dem Verhältnis von Seele zu Gott. Wir kommen zur S c h u l d m o t i v i e r u n g b e i Chr. und fragen auch hier wie oben bei der Darstellung Wolframs: warum schweigt Perceval auf der Gralburg ? Der Dichter gibt die Antwort schon sehr früh, in jenem Zwiegespräch zwischen Perceval und seiner Base (V 3462ff.), wo sich Frage und Auskunft, Verwunderung und Enttäuschung in hastigem Wechsel folgen. Perceval trägt die Schuld am Tode der Mutter. Und zwar hat er, wie wir gesehen haben, mit vollem Bedacht die Pflicht der Kindesliebe verletzt. Für diese Sünde wird er sehr rasch bestraft: seine Einsicht ist in dem Augenblick getrübt, wo er im Saale der Gralburg die unerklärlichen Geheimnisse der Lanze und des Gral sieht und wo es darauf ankäme, nach der Ursache des Lanzenwunders und nach dem Empfänger des Gral zu fragen. E r denkt nur an die Belehrung Gornemants, unnützes Reden zu vermeiden, und begreift nicht, daß es hier nicht geboten gewesen wäre, zu schweigen, sondern zu reden (V 3298). Der Wortlaut jener Ermahnungen: vos chasti De trop parier (V 1655^), E t gardez que vos ne soiiez Trop parlanz (V 1648f), qu'an Ii atort a vilenie (V 1652) liegt ihm noch in den Ohren: *) Ehrismann, Lit.-Gesch., a. a. O., S. 258. a ) Vgl. Ehrismann, Ethik, S. 413.

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que de trop parier se gardast (V 3209), de trop parier (V 3296), chasti (V 3206), qu'an Ii tenist a vilenie (V 3 2 1 1 ) . E r verschiebt die Frage auf den Morgen, auf den Abschied von dem gastlichen Fischerkönig (V 3305ff.). Seine Zunge ist wie gelähmt, kein Wort kommt über seine Lippen. Seine Härte gegen die Mutter und dieses unheilvolle Schweigen stehen in engstem Verhältnis von Ursache und Folge (im Gegensatz zu Wolfram, der diese Verbindung nicht herstellt). Die Unterlassung also wird bei Chr. keineswegs wie bei Wolfram aus einer eigenen seelischen Bewegung heraus erklärt (Fehlen der Mitleidsregung), sondern leitet sich in einer Art Schuldautomatismus von einer feststehenden Ursache her. In dieser ursächlichen Verkettung drückt sich aber noch ein anderes Moment aus, das in der Weiterentwicklung des Gralstoffes zu ungeheuerer Entfaltung kommen sollte: die Forderung, daß der zum Gral Auserwählte rein und schuldlos sein müßte. Sie ist die Grundbedingung für die Erlösung des Gralhüters. Das wäre von dem Augenblick an anders, wenn Perceval die Fragen in freier W i l l e n s entscheidung unterdrücken würde 1 ). Die Situation läßt sich so zusammenfassen: Perceval ist ein Berufener, denn sonst hätte er nicht den Weg zum Gralschloß gefunden. Aber er ist noch nicht würdig, sein Schicksal zu erfüllen. So paradox es klingen mag: in der Gralszene ist die Sündhaftigkeit Percevals der Beweis seiner Auserwählung zum Gral. Der wesentliche Unterschied gegenüber Wolfram ist der: Parzival fehlt vor Anfortas, weil er zu sehr der Welt verhaftet ist, weil er an die Unbedingtheit höfischer Formen glaubt, wo spontane Barmherzigkeit am Platz wäre. Diese Begründung ist bei Chr. nur B e h e l f s motivierung. Mit einem Worte: Parzival begeht auf der Gralburg eine Schuld, Perceval erleidet eine Strafe. Nicht anders ist die Aufklärung des Einsiedlers zu verstehen, der zu Perceval sagt: Pechiez la langue te trancha Quant le fer qui ainz n'estancha De seignier devant toi veis, Ne la reison n'an anqueis. E t quant del graal ne seüs Cui l'an an sert, fol san eüs . . . (V 6409ff.). Das ist nicht die Angabe einer Sünde, sondern die Entschleierung eines Beweggrundes, besser einer objektiven Ursache. Das gleiche wird die Analyse von Percevals Schuldbekenntnis in der Einsiedlerszene ergeben. Im Gegensatz zu Wolfram kommt der Held Chr.s schon sehr früh zum Bewußtsein seiner Schuld, freilich nicht so, daß ihn seine l ) Über die Beziehung von Wille und Schuld vgl. die weiteren Ausführungen dieses Kapitels.

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Einsicht gleich zum Versuch antriebe, das Verlorene gutzumachen. Jenes Bewußtsein erlischt wieder in ihm, ebenso wie er sich mit der Nachricht vom Tode der Mutter in einer merkwürdig raschen Resignation abfindet. E r zieht auf ritterliche Taten aus: Autre voie m'estuet tenir (V 3625), und da sich die Rache für den tot daliegenden Geliebten seiner Base als nächste Aufgabe ergibt, so will er vorerst dieses Abenteuer suchen. Der Gedanke an Blancheflor, der er die Rückkehr versprochen hat, kommt ihm erst später. Perceval bewährt in den folgenden Kämpfen mit dem Orguelleus, Sagremor und Keu sein Rittertum und wird schließlich mit den größten Ehren am Artushof aufgenommen. Äußerlich ist er als gefeierter Held auf dem Höhepunkt seines Ansehens. Das Sehnen, das die Begegnung mit den Rittern im Urwald geweckt hatte, ist erfüllt. Aber innerlich ist er von Vollkommenheit weit entfernt. Und das ruft ihm die häßliche Botin mit erschütternder Deutlichkeit wieder ins Gedächtnis zurück. Darin jedoch erschöpft sich der Sinn der Verfluchung nicht. Percevals persönliche Unehre wird vielmehr dem ganzen Hof bekannt. Wie der Ruhm des höfischen Ritters erst durch die Resonanz eines Publikums sanktioniert wird, so wirkt auch die unritterliche Schmach erst dadurch in vollem Maße beschämend, daß sie öffentlich verkündet wird. Den Einbruch der Schande in die freudevolle Stimmung des Hoffestes verkörpert schon die Gestalt der Botin, die Chr. mit allen ihm zu Gebote stehenden, fast ekelerregenden Zügen der schulmäßigen Häßlichkeitsbeschreibung gemalt hat. Grell, fast überdeutlich wird der Zusammenbruch einer Welt dargestellt. Die schöne Harmonie des höfischen Kosmos ist zerstört. Wir haben oben gesehen, wie die Schaffung solcher Konflikte den Kern der Chr.schen Motivierungskunst bildet. In der Schaffung dieser Kontrastszene stimmt Chr.s Darstellung mit der Wolframs überein. Nur arbeitet Wolfram den Gegensatz von Ehrung und Beschämung noch viel stärker heraus. Das hängt wieder mit seiner verschiedenen Handlungsführung zusammen. Parzival ist sich ja noch nicht im geringsten darüber klar, daß er sich wirklich auf der Gralburg verfehlt hat, ebensowenig wie er die Tötung Ithers als Schuld empfindet oder wie er vom Tode Herzeloydes weiß. Ihn muß der Spott der Welt (330, 2) viel härter treffen, weil er ihn nach seiner Meinung u n v e r d i e n t trägt. Dadurch hat ja Wolfram wenigstens eine s u b j e k t i v verstandene Schicksalstragik ermöglicht und den Gotteshaß Parzivals motiviert. Perceval dagegen muß sich s o f o r t sündig fühlen, da er bereits von seiner Schuld unterrichtet ist. Mehr als das, seit seinem Auszug in die Welt hatte ihn der Druck des belasteten Gewissens nie mehr ganz verlassen. So spielt es für den Zusammenhang der Motivierung keine Rolle, daß die häßliche Botin ihm nicht die Ursache seines Versagens vor dem Gral, sondern nur diesen Fehlschlag selbst vorwirft.

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III

Mit dem Schweigen in jener entscheidenden Stunde hat Perceval sein Glück verscherzt. Die Botin ruft es ihm zu: Que tu ne la retenis mie Fortune quant tu l'ancontras! (V 4650!.) Damit wird zweierlei ausgedrückt; vor allem: Perceval hat es nicht verstanden, sein Schicksal selber zu lenken. Daraus ergibt sich dann bei dem engen Zusammenhang von fortune und joie 1 ), daß Perceval ein Freudeloser wird, daß er die höfische Gemeinschaft verlassen wird, wo „joie feire" den Gipfelpunkt aller Lebenstätigkeit darstellt. Die „mesure" eignet ihm nicht mehr. Er muß versuchen, jenen schweren Vorwurf, am Weiterbestehen von Leid und Unheil schuld zu sein, von sich zu lösen. Das ist der Sinn seiner Abenteuerfahrt, von der wir im Roman nichts Genaueres als nur die Ergebnislosigkeit (Beginn der Einsiedlerszene) erfahren. Perceval ist in ähnlicher seelischer Lage wie Erec und Yvain. Auch ihn leidet es nicht länger in der Gesellschaft des Hofes und der Frohen. Sein Glück ist problematisch geworden. Eine Läuterungsfahrt soll das Entschwundene wieder herbeischaffen, den Einklang von außen und innen, ritterlicher Leistung und sittlicher Kraft wiederherstellen. Das Mittel ist Avanture-Suche. Das Abenteuer allein gibt Bewährung vor sich selbst und der Welt. G. Weber kann kaum diese Hauptqueste der Chr.schen Romane meinen, wenn er das „romanische" Element in der Abenteuerfreude der Artusritter als „kokette Absichtlichkeit" bezeichnet 8 ). Das mag für den entarteten Ereignisroman stimmen. Aber schon die Gauvainqueste im Percevalroman ist gleich zu Beginn durch die Verpflichtung motiviert, in Escavalon für die gekränkte Ehre einzutreten. Jede Abenteuerqueste bei Chr. ist in einer Weise begründet, die das Wort Ehrismanns rechtfertigt: „Chrestiens Natur ist durchaus aufs Ethische gerichtet, darum sind sein Erec, Yvain, Perceval wahrhaft symbolische Dichtungen. Die Handlung ist getragen von einer sittlichen Idee, die ihr erst volles Leben verleiht"*). Die Linie ErecYvain-Perceval hat sich auch für uns immer als die einzige wahrl ) Dafür sind die V 674 ff. des Eneasromans typisch, auf die Hilka in seiner inhaltsreichen Anm. zu V 4646/47 hinweist. a) Weber, a. a. O., S. 213. 3) Ehrismann, Ethik, S. 464. Wohl verkündet die häßliche Botin Gelegenheiten zu R u h m und Bewährung, aber die Aufgabe, die sich Gauvain zuerst vornimmt, ist gerade die, der bedrängten Dame auf Montescleire zu h e l f e n (V 4 7 i 8 f f . ) . Ich glaube nicht wie Hilka, Anm. zu V 4728, daß Chr. die in der Mittelszene angedeuteten 4 Fahrten geschildert hätte. Abenteuerfahrten ohne Sinn und Zweck zu schildern, war nie vorher Inhalt seiner Dichtung gewesen. Das E t h o s des edlen hilfreichen Ritters dagegen erfüllt den Y v a i n und den Percevalroman (die Gauvainhandlung ausdrücklich nicht ausgenommen).

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hafte Entwicklungslinie des Chr.schen Werkes dargestellt. E s ist der Übergang vom Y v a i n zum Perceval, der uns wie schon so oft hier von neuem zu beschäftigen hat. Y v a i n löst seine Schuldverstrickung durch zwei Verdienste: die Treue, mit der er Laudine auch nach dem Bruch anhängt und seine ritterliche Menschlichkeit, durch die er der Anwalt der Schwachen und Bedrängten wird. Das gleiche versucht Perceval. E r glaubt, seine Schuld, die er — im Gegensatz zu Parzival — klar erkannt hat, durch ritterliches Bemühen tilgen zu können. E r gedenkt, das Wissen vom Gralempfänger und der Lanze durch unerhört tapfere Leistungen zu erstreiten (V 4727ff.). Das Problem läßt sich in die Formel verdichten: ist eine ritterliche Lösung des Schuldkonfliktes im Percevalroman möglich ? Der Handlungsverlauf ergibt ein klares Nein. Und damit ist im Werk Chr.s etwas Neues geschaffen, das den dichterischen Ton des Percevalromans von dem der früheren Romane deutlich unterscheidet. E s ist, wie später zu zeigen sein wird, zwar nichts ethisch vollkommen Neues, da auch der Chr.sche Kosmos sich schichtenweise zusammenbaut und nicht dualistisch in eine diesseitige und in eine jenseitige Hälfte geteilt ist. Aber eine Schwerpunktsverschiebung ist vorgenommen, dergestalt, daß der Sinn des Rittertums nicht mehr nur im Humanen, sondern im Supranaturalen seine Krönung findet. Mehr zu sagen, verbietet die Knappheit und der Fragmentcharakter des Werkes. Jedes Wort, das die Interpretation hier zu viel aus dem Text herausläse, würde Tatbestände des 13. in das 12. Jahrhundert vorverlegen. Aber das ist sicher, daß Percevals Anstrengungen, seiner Schuld sich auf ritterliche Art und Weise zu entledigen, fehlschlagen müssen, weil er von einer ethischen Schuld bedrückt ist, die nicht durch ritterliche, sondern nur durch religiöse Sühnung tilgbar ist. Wir müssen noch einmal zum Schuldbewußtsein des Helden zurück. Perceval ist auch darin eine echte Schöpfung Chr.s, daß er sich über seine Verfehlung vollkommen im klaren ist, nicht weniger klar als Y v a i n nach der Verfluchung durch die Botin Laudinens und — fügen wir es ruhig hinzu — Erec, nach dem Geständnis Enidens 1 ). Chr. hatte keinen Zugang zu jener germanischen Welt des unverdient über einen Helden hereinbrechenden Schicksals, die sich bei Wolfram wenigstens im persönlichen Anstemmen Parzivals gegen sein Unheil Geltung verschafft. Bei Chr. erscheinen die Schuldbeziehungen in seinen Romanen in klarer Unterscheidung von Verfehlung und Strafe, Fall und Läuterung, Vergehen und Sühne. Man möchte ihn weniger einen bohrenden Philosophen, als einen scharf statuierenden Juristen nennen. Diese Kausalität von Handlungsanstoß und Handlungsbewegung läßt auch verstehen. *) Auch von hier aus gesehen erweist sich die Abfolge Erec-Yvain-Perceval von konsequenter Geradlinigkeit.

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warum Perceval auf die Verfluchung der häßlichen Botin ganz anders reagiert als Parzival. E r scheidet vom Artushofe mit dem deutlichen Bedürfnis, schuldhaft Versäumtes besser zu machen. Parzival dagegen ist von dem trotzigen Willen beseelt, auch ohne die Hilfe Gottes ans Ziel, auf die Gralburg zu kommen. Beider Ziel ist gleich, aber ihre Seelenstimmung ist anders. Perceval sagt Gott keinen Haß an, er zeiht ihn nicht der Untreue und der Ungerechtigkeit. Zu beidem hätte er keine, auch noch so subjektive Veranlassung. E r versteht nur nicht, daß der Weg, den er einschlägt, nicht der richtige ist, daß ohne die innere Läuterung ritterlicher Kampf, Streit und Sieg vergebens durchlebt werden. Und so vertieft sich der Konflikt, der aus einer individuellen Pflichtverletzung entsprungen war ins allgemeine: Perceval muß dann die Ohnmacht des Rittertums erfahren, wenn es sich um die Reinigung von sittlicher Schuld handelt. Chr. schreibt keinen Anti-Ritterroman und schafft keine Antithese Rittertum — Gott, er weist nur dem Rittertum Grenzen zu, er zeigt, um den Begriff der Schichtung wieder zu verwenden, das Rittertum innerhalb eines „ G r a d u s " . Wichtig für die Erfassung der Sondermotivierung Chr.s und Wolframs ist, daß Parzival schon mit der klaren Gottabsage von den Ufern des Plimizoel scheidet, während Percevals Gottentfremdung sich erst als Begleiterscheinung und Folge eines zwar äußerlich ruhmreichen, aber innerlich leeren Lebens einstellt. So hat Chr. auch hier wieder die Ereignisse in der objektiven Folge von Ursache und Wirkung angeordnet, während Wolfram die Handlung überwiegend aus der Seelenart Parzivals herausentwickelt. Chr. hat es versäumt, wie Wolfram seinen Haupthelden während der Gauvainabenteuer in Erinnerung zu bringen. Wir hören im altfranzösischen Roman demnach nichts von Kämpfen Percevals vor Tintaguel und mit dem König von Escavalon oder von einer Überfahrt mit dem notonier, sondern nur den Sammelbericht zu Beginn der Einsiedlerszene, in dem es heißt: Sissante Chevaliers de pris A la cort le roi Artu pris Dedanz.les eine anz anvea (V 6233ff.). Mit jeder, auch der schwierigsten Aufgabe ist Perceval fertig geworden (V 6231 f.). E r hat das Abenteuer um seiner selbst willen gesucht und ehrgeizig Erfolg auf Erfolg gehäuft. Vom Gral hat er nichts mehr gehört. Vielleicht ist dieses ruhmsüchtige Streiten zum Teil auch Reaktion auf das Mißlingen des ganzen Planes, Gral und Lanze wieder zu finden. Der Dichter verschweigt uns alle diese seelischen Bewegungen des Helden; wir sehen nur ihre Resultate und zwar da, wo sie für die Handlungsentwicklung wichtig werden: in dem Beichtgespräch mit dem Einsiedler. Wie bei Wolfram ist bei Chr. die Einsiedlerszene Höhepunkt der seelischen Handlung, wie dort ist sie von tiefgehender Stimmung getragen und bringt die Läuterung des Helden. Aber dieser gleiche epische Rahmen ist in ganz verschiedener Weise gefüllt. Nirgendwo ß. z. Z.R.Ph. Heft 88. Kellermann 8

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enthüllt sich die Stellung der beiden Dichter zu Schuld und Schicksal, Sündentragik und Erlösung so deutlich wie in dieser ergreifenden Aufgipfelung des Percevalgeschehens. E s kann uns infolgedessen nicht wundern, daß auch die Schwerpunkte der Handlung anders verteilt sind. Bei Wolfram vollzieht sich die Wandlung des Helden im Religionsgespräch zwischen Parzival und dem Einsiedler. Dreistufig ist Wolframs Trevrizentbuch angelegt. In allmählichem Umwandlungsprozeß löst sich Parzivals innere Verkrampfung. Sigüne lenkt ihn zuerst auf Gott als den Helfer in allem Kummer hin (442, 9—10). Viele Wochen später erst trifft Parzival im verschneiten Wald die Pilger. Auch sie vermögen den gegen Gott Verbitterten nicht zur inneren Umkehr zu bewegen. Aber der graue Ritter hat mit seiner heilsgeschichtlichen Rede dennoch Parzivals Inneres angerührt, zwar nicht so, daß dieser seinem R a t zufolge reuig zu Trevrizent reitet, sondern daß er es seinem Pferde überläßt, den Weg zu finden, den er nach Gottes Willen gehen muß. So drückt er mit symbolischer Geste ein vorerst noch schwaches Eingeständnis der eigenen Unzulänglichkeit aus. E s könnte fast scheinen, als wolle er Gott zwingen, zu seinem Kummer Stellung zu nehmen. Aber das erste Gefühl ist dominierend. Die Starrheit seines Trotzes beginnt sich zu biegen. Und „ G o t t ergreift die zögernd ausgestreckte Hand des Sinkenden . . . Das Orakel wird zum göttlichen Wunder, er kommt zu Trevrizent" 1 ). Und dann folgt das lange Beichtgespräch. Stufenweise erhellt sich Parzivals religiöse Einsicht. Das bedeutet aber gleichzeitig wachsendes Verständnis für die Irrigkeit seiner bisherigen Handlungsweise. Dieser Zusammenhang von Belehrung und Lebensänderung ist, wie Günther Müller ausführt, ein Beweis für den „sittlichen Realismus" des Mittelalters. „Die Umkehr erfolgt nicht durch ein Bekehrungserlebnis, sondern durch schlichteste katechetische Unterweisung". „Daß die Lehre aber in der Form, in der sie vorgetragen wird, irgend überzeugen kann, hat eine im Unbewußten verankerte Überzeugung von der .Wirklichkeit' des Geistigen, eben jenen Realismus zur Voraussetzung" 8 ). Die einzelnen Punkte der Schuld werden getrennt behandelt. Dem Dichter liegt nichts an der Herstellung einer Kausalverknüpfung. Zuerst legt Parzival seinen Gotteshaß und seine Hoffart ab, dann gesteht er den Verwandtenmord und erfährt die Schuld am Tod der Mutter. Dazwischen hinein erfolgt Aufklärung über den Gral und das Leiden des Anfortas. Und nun, da Parzival reuevoll geworden ist, gesteht er seine größte Schuld, die Unterlassung der Mitleidsfrage. Alle Linien der Szene laufen auf diese letzte Steigerung zu. Parzival wird über die Gründe belehrt, warum, J

) Ehrismann, Ethik, S. 426. *) G. Müller, a. a. O., S. 692.

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er vor Anfortas geschwiegen hat. Das Schuldgeständnis ist beendet. P a r z i v a l nimmt die Belehrung des Einsiedlers entgegen. Vierzehn T a g e teilt er das harte Leben des Klausners. Seine eigentliche B u ß e bleibt, wie Ehrismann 1 ) ausführt, im Ritterlichen: die Umk e h r soll ihre Dauer in der Befolgung der erhaltenen Lehre b e weisen. A u s dieser Tatsache schält Ehrismann schließlich d i e Grundidee der ganzen Trevrizentlehre heraus: „das Rittertum als Erscheinungsform des irdischen Daseins geläutert durch das Christent u m " 8 ) . Und dazu passen auch die beiden Ermahnungen des Einsiedlers: „ F r a u e n und Priester ehren und schützen 502, 4—22"»). D e m allen gegenüber ist d i e E i n s i e d l e r s z e n e C h r . s von ganz verschiedenem epischen Bau. Anders als der Held des mhd. Romans t r i t t Perceval in sie ein. E r ist nicht theologischer Grübler w i e Parzival, er streitet nicht mit Gott um sein Recht. E r ist nicht Gotthasser, sondern Gottfremder. Gott ist ihm gleichgültig geworden. Fünf volle Jahre hat er keine Kirche mehr betreten, fünf Jahre ist kein Gebet mehr über seine Lippen gekommen (V 6217 bis 6224). Auch Parzival gesteht dem Einsiedler diese Schuld (461, 3—7), aber er setzt gleich hinzu, daß er gegen Gott H a ß und Zorn empfinde. Wirklich liegt auf dieser zweiten inneren Schuld der ganze Nachdruck des Bekenntnisses. In ihr muß jene Verletzung der kirchlichen Pflichten begründet sein. Chr. dagegen entwickelt eine andere seelische Handlung. Sein Held ist sündig geworden, weil er trotz größter Mühen kein zweites Mal auf die Gralburg gekommen ist. Und der Schmerz darüber hat ihn lebensüberdrüssig gemacht (V 6381 f.). Der Glücklose hat Gott nicht mehr um Gnade angefleht und auch nichts unternommen, um seine Verzeihung wieder zu erlangen (V 6584ff.). Der innere Prozeß, der hier vorliegt, hat einige Ähnlichkeit mit dem des Liebeswahnsinns. Y v a i n verliert aus Qual über die Absage Laudinens den Verstand, Perceval aus Schmerz über den Verlust des Gral das Gottbewußtsein. Perceval hat nicht nach den frommen Lehren der Mutter und Gornemants gelebt. Die Taten, die er in seinem gnadenlosen Zustand vollbringt, sind, äußerlich gesehen, große Rittertaten, aber sie werden sittlich nicht durch ein reines Gewissen sanktioniert. So meint es Perceval, wenn er dem Einsiedler gesteht: N'onques puis ne fis se mal non (V 6367). Ihren schärfsten Ausdruck findet die Gottlosigkeit Percevals (wie die seelische Katastrophe Parzivals) im Verlust des Zeitbewußtseins. J) a. a. O., S. 446 f. Auf Ehrismann ist zum vorangehenden zu verweisen. Die neueste Darstellung der religiösen Probleme bei Wolfram gibt die Schrift G. Webers, Der Gottesbegriff des Parzival (Frankfurt a. M., 1935). Sie ist zum folgenden heranzuziehen. 2) Ehrismann, a. a. O., S. 447. 3) Ehrismann, Lit.-Gesch., S. 258.

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Auch da drängt sich die Erinnerung an ein profanes Motiv auf, an die rauschartige Betäubung, in der Lancelot an der Furt und Perceval im Schnee ihre Gegner erledigen. Wie dort die Versenkung in die Erinnerung an die ferne Geliebte dem sehnsüchtigen Ritter die Besinnung raubt, so fehlt dem gottlosen Perceval jegliche Orientierung in der Zeit. Darin zeigt sich aber gerade auch seine religiöse Entfremdung. Denn die zeitliche Orientierung bedeutet im christlichen Mittelalter nichts anderes als das Mitleben der Feste und des Kirchenjahres. Wenn also Perceval nicht mehr in der Heilsgeschichte lebt, wenn er ziel- und gedankenlos seine Tage verbringt, so deutet das nichts anderes an, als daß mit der Störung seiner Vernunft und Erinnerung eine Störung seines religiösen Bewußtseins gegeben ist. Dies handlungsmäßig zu veranschaulichen, ist der Sinn der Pilgerbegegnung. Mit ihr beginnt die poetische Auswertung des Karfreitagmotivs, das j a in der weiteren Geschichte Parzivals und des Gral dichterisch noch mehr vertieft werden sollte. Dieses Motiv gab Chr. eine Reihe erzählerischer Wirkungen von größter Kraft, in erster Linie eine Verdichtung der religiösen Stimmung, sodann eine Reihe epischer Kontrastmöglichkeiten, die seinem Erzählstil besonders entgegenkamen. Wie keine andere Zeit mußte gerade der Karfreitag einen mit Gott Zerfallenen an die innere Umkehr gemahnen. Dies aber mußte um so stärker der Fall sein, je unvorbereiteter und jäher Perceval die Einsicht in seinen Seelenzustand traf. Und sie trifft ihn nicht wie in der Legende durch ein plötzliches Wunder, sondern durch einen s e e l i s c h e n Anstoß. Auch hier nicht verläßt Chr. die Linie der kausalen Motivierung, die seine ganze Darstellung der Schuldprobleme auszeichnet. Jener Anstoß geht von einer Pilgerschar aus, die barfüßig und in Bußkleider gehüllt dem vollbewaffnet daherreitenden Ritter begegnet. Die Eindrucksfülle dieses Gegensatzes wird für Perceval zum bewegenden Moment der inneren Umkehr. Sie reißt ihn in die Wirklichkeit und gibt ihm g l e i c h z e i t i g Zeit- und Schuldbewußtsein zurück. Dieser endgültige Umschlag der Erkenntnis und des Willens muß während der Homilie des Ritters vor sich gehen (V 6265—6300), die, ganz der Situation gemäß, auf e i n e n Grundton gestimmt ist: die Güte des Erlösergottes, die gerade am Karfreitag die Gläubigen zur Buße verpflichte. Und Perceval widersetzt sich diesen Ermahnungen nicht. E r ist bis ins Innerste getroffen und verlangt zur Kapelle des Einsiedlers (V 6315ff.). Wir haben oben schon darauf hingewiesen, daß das Gefüge der Einsiedlerszene den Schlüssel für die Schuldmotivierungen Wolframs und Chr.s liefert. Wolfram erhebt sich durch seine religiöse Problematik über seine Zeit. G. Weber stellt fest, Wolframs „Weltanschauungsgebäude" sei „der erste geschlossene Durchbruch des Jahrhundertwillens, eben der weltanschaulichen

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Grundhaltung, die . . . durch Albertus Magnus ihre Durchsetzung und durch Thomas von Aquin ihre umfassende Darstellung erf u h r " 1 ) , lehnt es aber scharf ab, bei Wolfram Renaissance-Züge zu finden 2 ). E s steht in der Tat einwandfrei fest, daß im Parzival — über das 12. Jahrhundert hinaus — „die relative Verselbständigung und gleichzeitig die Grenzklärung der nur menschlichen Natur . . . vollzogen ist" 3 ). Das gerade aber fehlt bei Chr. noch vollständig. Bei Wolfram liegt ein geistiges Ringen des Helden mit der Gottheit vor (die deswegen freilich nicht weniger bedingungslos in ihrer Existenz anerkannt wird 4 )), bei Chr. verfällt der Held in zeitweilige Indifferenz und Gottentfremdung, fügt sich aber nach seiner inneren Wandlung widerspruchslos in die volle Realität der ihm dargebotenen Lehre. Ein Konflikt des Denkens, ein Zweifel irgendwelcher Art, erscheint bei ihm gar nicht möglich. Denn das ist das Entscheidende für die Beurteilung der theologischen Position Chr.s, daß Perceval nicht auf Grund von dialektischen Überlegungen zur Gottentfremdung kommt, sondern durch die Strafe für seine frühere Sünde. So hat der epische Kausalzusammenhang eine theologische Begründung. Dieser enge Nexus von Sünde und Strafe ist aber kein anderer als der, den die frühscholastische Ethik von Augustinus übernommen hatte. Noch bei Augustinus zeigt „die sittliche Ordnung ihre Macht durch das Unheil, das der Sünder s i c h s e l b s t zuzieht" 4 ). Eine zweite Tatsache zeigt Chr. nicht nur mit der Ethik der Frühscholastik im allgemeinen, sondern mit der des 12. Jahrhunderts im besonderen verbunden: die Rolle der Reue im seelischen Bild Percevais. Wolfram läßt die innere Umkehr Parzivals aus einer erkenntnismäßig gelenkten Biegung des Willens vor allem hervorgehen (selbstverständlich fehlt auch die Reue nicht), Chr. aber läßt die contritio animae die allein ausschlaggebende Rolle spielen. Das entspricht genau der Bußpraxis des 12. Jahrhunderts, wo nach der Darstellung A. Teetaerts, des besten Kenners dieser Fragen ,,l'attention des théologiens se concentre sur l'efficacité de la contrition, qui est regardée, à cette époque, comme la partie principale et l'élément le plus important de la discipline pénitentielle. Sous l'influence des Gottesbegriff, S. 33. ) Ebd., S. sr. Durch Webers Darstellung wird insbesondere die Ansicht Georg Mischs, Wolframs Parzival, Eine Studie zur Geschichte der Autobiographie, D V . 5 (1927), S. 277ff. widerlegt, der den Unterschied zwischen Chr. und Wolfram in einer (antithetisch gesehenen) Gegenüberstellung von Kirchlichkeit und einer Art idealistischen Humanismus sieht. Vgl. demgegenüber außer Weber G. Müller, a. a. O., S. 691 f., der ebenso Wolfram von mittelalterlicher Sicht aus beurteilt. ») Weber, a. a. O., S. 39. *) Vgl. Günther Müller, a. a. O., S. 692. *) Joseph Mausbach, Die Ethik des heiligen Augustinus (2. Aufl., Freiburg i. Br. 1929), I, S. 1 1 9 . 2

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mitigations des peines introduites successivement par l'Eglise, les satisfactions et les œuvres de pénitence avaient perdu le prestige dont elles avaient joui aux siècles antérieurs" 1 ). Die Ausbildung dieser neuen Bußtheorie im 12. Jahrhundert geschah unter der Führung des größten philosophischen Ethikers der Frühscholastik, Abälards 8 ). ,,Le protagoniste principal, le défenseur acharné de la contrition, est Abélard" 3 ). Von solcher Perspektive aus also gilt es, den Fortgang der Percevalszene bei Chr. zu verstehen. Der Dichter wird nicht müde, durch Gefühls- und Gestenschilderung Percevais Seelenvorgänge anzudeuten : E t Percevaus el santier antre, Qui sospire del euer del vantre Por ce que mesfez se santoit Vers Deu, don mout se repantoit. Plorant s'an vet vers le boschage (V 6333 ff.). In der Reue entscheidet sich schon die innere Wendung Percevais. E r überläßt sich nicht wie Parzival der lenkenden Hand Gottes, sondern er reitet auf einem von den Pilgern genau bezeichneten Weg zum Einsiedler. In der Kapelle findet die Feier der Karfreitagsliturgie statt (6342—6347)*). Und dann beginnt, ganz im 1 ) L a confession aux laïques dans l'église latine depuis le VIII« jusqu'au XIV« siècle (Wetteren-Bruges-Paris 1926), S. 85. *) Ebd., S. 87. Zum Wechsel der Begriffe von Genugtuung und Buße im BuObegriff vgl. auch Ottmar Dittrich, Geschichte der Ethik (Leipzig 1926), I I I , S. 34 f. ') Teetaert, a. a. O., S. 1 1 6 . 4 ) Chr. erwähnt dazu ausdrücklich die Anwesenheit eines Priesters und eines Ministranten. Damit ist nicht gesagt, daß der „buens hon" (V 6350), dem Perceval seine Schuld gesteht, ein Laie sein müßte. Ermite und provoire (V 6343) schließen sich keineswegs aus. Der provoire ist der mit der Abhaltung des Gottesdienstes Beschäftigte, der ermite der Pönitentiar, der seinen Wohnsitz im Walde aufgeschlagen hat. Die Gestalt ist bei Chr. nicht neu. Im Y v a i n wird der wahnsinnig gewordene Held von einem Einsiedler genährt. Die Stelle hat einige Übereinstimmungen mit der des Percevalromans, von denen nur die Bezeichnung des Einsiedels als „buens hon" (V 2873, 2882) hervorgehoben werden soll. Auch im gleichzeitigen didaktischen Schrifttum begegnet die Benennung, z. B. im Poème moral (vgl. in der Ausgabe Wilhelm Cloëttas, Erlangen 1886, S. 153, die Überschrift des 9. Kap. s des 1. Teiles). Der Ausdruck,,buens hon" des Percevalromans steht als formelhafte altfr. Bezeichnung eines fromm und heilig lebenden Mannes, ist demnach durchaus im Sinne einer altfr. Tradition gesagt und hat infolgedessen nicht jene katharische Färbung, die Franz Rolf Schröder, Die Parzivalfrage (München 1928), S. 67, für möglich hält. — Bei Wolfram wird nicht von Karfreitagszeremonien berichtet, wenn auch Weber zu Wolframs Einsiedlerszene bemerkt: „im Vordergrund des kultischen Empfindens stehen die Karfreitagszeremonien . . ., nicht die der normalen Messe" (S. 44). Die von Weber ebd. angeführten Stellen weisen aber auf ganz allgemeine Bußbräuche des Mittelalters, nicht auf Liturgisches hin. Die Tatsache, daß die seelische

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Gegensatz zu Wolfram, Percevals Schuldanklage. Dieser hat j a keine inneren Widerstände mehr zu überwinden, während Parzival zwar „die dumpfe Ahnung der Sündhaftigkeit [verspürt, vom] klaren Bewußtsein eigener Schuld [aber] noch weit entfernt" ist 1 ). Percevals Sündenbewußtsein wird zweimal berichtet (V 6 3 3 5 f . , 6354f.). Jedesmal wird es durch eine Gestenschilderung konkretisiert. Diese knappen, den Gefühlsgrund des Geschehens nach außen hin andeutenden körperlichen Bewegungen sind ein wesentliches Wirkungsmittel der Szene. Sie unterstreichen im Zusammenklang von „seelischer und körperlicher B e w e g u n g " 2 ) den Wahrheitsgehalt der Handlung: Par le pié a l'ermite pris, Si Ii ancline et ses mains joint E t Ii prie que il li doint Consoil, que grant mestier an a (V 6 3 5 6 f f . ) . Der Einsiedler fordert den Reumütigen zur Beichte auf, denn nur so könne er Vergebung erlangen (V 6360 ff.). Und so folgt denn Percevals Bekenntnis (V 6364 ff.). Seine Schuld besteht im gottlosen Leben (V 63Ó4ff., 6381 ff.), das seinerseits, wie er dem E i n siedler erklärt, in dem Unterlassen der Fragen auf der Gralburg begründet ist (V 6372ff.). Das letzte wiederum ist durch die Schuld Percevals am Tod der Mutter verursacht (V 6392ff., 6399ff., 6409ff.). Daß der Einsiedler diese Urschuld Percevals in dreimaliger Unterstreichung hervorhebt, überrascht nicht. Ist sie doch vom B e ginn des Romans an der wichtigste P u n k t der ganzen Schuldmotivierung. Perceval kennt seit seiner Unterhaltung mit der B a s e den wahren Grund jenes Schweigens (V 3593ff.). Warum gesteht er aber dann nicht s p o n t a n sein größtes Vergehen dem Einsiedler, statt diesen selbst die endgültigen Zusammenhänge herstellen zu lassen ? Mit anderen Worten, warum wird Perceval zweimal über die Begründung seines Schweigens vor Lanze und Gral aufgeklärt ? Die Schwierigkeiten lösen sich, wenn man zwei Grundtendenzen des Chr.sehen Aufbaustiles in Betracht zieht. Daß Läuterung Percevals und die innere Wandlung Parzivals gerade auf den Karfreitag fallen, hat, wie gesagt, ihren Hauptgrund wohl in der Erlösungslehre, deren Erinnerung dieser Tag weckte. Andere Fest-,,Hintergründe" wie Ostern und Pfingsten lösten dagegen Jubel- und Freudenstimmung aus, d. h. hervorragend höfische Hochstimmungen. — Paetzel, a. a. O., S. 40, hat nicht verstanden, um welche Art der liturgischen Feier es sich bei Chr. handelt. Vgl. zur ganzen Frage auch Hilka, Anm. zu V 6345/46. ') Paetzel, a. a. O., S. 39, der zur Interlinearvergleichung der beiden Einsiedlerszenen einzusehen ist. 2 ) Der Ausdruck ist übernommen nach Arthur Franz, Seelische und körperliche Bewegung in Dantes Divina Commedia, Homenaje a Bonilla y San Martin, Publicado por la Facultad de Filosoffa y Letras de la Universidad Central (Madrid 1927), Bd. I, S. 4 i 5 f f .

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Perceval schon von der Base den Tod der Mutter erfährt, braucht Chr. zur kausalen Motivierung des S c h u l d g e f ü h l s des Helden. Die Unvollständigkeit des Sündenbekenntnisses aber erklärt sich aus der Vorliebe des Dichters für die Spannungswirkung der verspäteten Namensnennung. Chr. hätte sie längst nicht so wirkungsvoll einführen können (V 6387ff.), wenn sich Perceval sofort der Schuld am Tode der Mutter angeklagt hätte. Es wird demnach als neu eingeführt, was schon einmal gesagt worden war und was Perceval doch eigentlich wissen mußte. So ist nunmehr d i e K e t t e d e r M o t i v i e r u n g e n klar zu überschauen. Ein Glied schließt sich in engster Kausalität an das andere. Sowohl die Base wie der Einsiedler betonen, daß Percevals Sünde in der Schuld am Tode der Mutter besteht. Deswegen habe er auf der Gralburg geschwiegen. Das Schweigen ist demnach nicht selber Sünde, sondern Sündenstrafe 1 ). Es hat Perceval nicht sündig, sondern unglücklich gemacht 2 ). Percevals Wille war auf der Gralburg unfrei, und zwar als notwendige Konsequenz seiner p r i m ä r e n Schuld. Zwischen Percevals freiwilliger Hartherzigkeit gegen die Mutter und der unfreiwilligen auf der Gralburg besteht ganz im Sinn der augustinischen Sündenstrafe eine unmittelbare Beziehung"). Die Schuldmotivierung bei Chr. kann demnach nur ver1 ) A n allen in Frage kommenden Stellen ist nur d a v o n die Rede, d a ß die Unterlassung der Frage durch die Schuld a m Tod der Mutter verursacht worden ist. V g l . : I. P o r le pechi^, ce saches tu, D e t a mere t'est avenu (V 3593f.); 2 Frere, mout t ' a neü Uns pechiez don t u ne sez mot (V 6392f.); 3. Por le pechiö que t u an as T ' a v i n t que t u ne demandas (V 6399f.); 4. Pechiez la langue te trancha (V 6409); 5 fol san eiis (V 6414).

Alle diese Stellen lassen keine andere D e u t u n g zu als die im L a u f e der ganzen Untersuchung vertretene. Die 4. Stelle ließe sich zur N o t in einem anderen Sinn deuten. A b e r aus den vorangehenden Parallelstellen und dem genauen Wortsinn: „ d i e Zunge binden, l ä h m e n " (Übersetzung Försters, Wörterbuch, S. 268; besser als Hermann Breuer, 2. A u f l . des Wörterbuches, Romanische Bibliothek, B d . 21, H a i l e a . d. S . , 1933, S. 148 „ j e m a n d das W o r t abschneiden") ergibt sich zwingend die obige A u f fassung. 2) V g l . noch einmal die W o r t e der B a s e : „ C o n fus or mesavantureus" (V 3584) oder die der B o t i n : „ C e es tu, Ii maleüreus" (V 4665). Unglücklicher, nicht Schuldhafter wird Perceval also hinsichtlich seines Schweigens genannt. Das gleiche besagt die oben in A n m . 1 angeführte 5. Belegstelle: „ f o l san eüs". ' ) V g l . dazu bei Mausbach, a. a. O . : „ D i e Strafe als Folge und Ausw i r k u n g der S ü n d e " , S. 1 1 9 f f . und im besonderen die ebd. S. 120 zitierten Stellen: „ q u i d enim tarn iniquum, quam ut bene sit desertori b o n i " (De Genesi ad litteram, libri duodecim, 8, 31) und „malitiae individua comes miseria" (Enarrationes in Psalmos, 32, 15).

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standen werden, wenn man sich diese Gedankengänge der augustinisch gerichteten frühscholastischen Ethik vor Augen hält. Um in unmittelbarer zeitlicher Nähe Chr.s zu bleiben, so kann auf Bernhard von Clairvaux verwiesen werden, der sich in seiner Willenslehre an die Ethik Augustins anschließt. Auch er betont infolgedessen die Freiheitsbeschränkung des Willens durch die Sünde 1 ). Natürlich soll mit diesen Feststellungen keineswegs der Schwerpunkt der Betrachtung vom Epischen wegverlegt werden. Aber es war nötig, diesen umfassenderen Problemkreis wenigstens anzudeuten. Jede ästhetische Beurteilung eines mittelalterlichen Kunstwerkes muß j a durch die Einbeziehung des sozialen und philosophischen Hintergrundes ergänzt werden. E s kommt also im obigen gar nicht darauf an, zu beweisen, daß Chr. die oder jene Abhandlung gelesen oder gekannt hat, sondern einzig und allein darauf, daß Chr.s Weltbild, wie es sich nun einmal in seinen Romanen darstellt, das des 12. Jahrhunderts ist, und zwar nicht nur in den allgemeinsten gesellschaftlichen Umrissen. Das läßt freilich kein Roman Chr.s so genau erkennen wie der Percevalroman. Chr. ist kein Vorläufer wie Wolfram. Sein Weltbild ist wie das des ganzen Jahrhunderts traditionalistisch. Sein Dichten und Denken liegt in jeder Beziehung v o r der um 1200 beginnenden neuen Kulturwende des Abendlandes 2 ). Anders ist es mit Wolfram. Ehrismann und Weber 3 ) haben gezeigt, wie er in genialer Weise Kommendes vorwegnimmt. Will man zum Zweck der Verdeutlichung ganz allgemein die Positionen Chr.s und Wolframs bezeichnen, so kann man sagen, Chr.s Schuldmotivierung müsse durch Augustinus, die Wolframs durch Thomas erklärt werden 4 ). Denn folgende grundlegende Punkte unterscheiden Wolframs Darstellung von der Chr.s: sein Ringen nach verstandlicher Durchdringung der theologischen Fragen in dem Roman statt einfacher traditionalistischer Hinnahme; die Hervorhebung des voluntaristischen Elementes statt strenger, fast juristisch zu nennender Schuld-SühneKausalität (zwar kann der Gral nicht erkämpft werden, Parzival gewinnt ihn in letzter Linie aber doch durch Beharrlichkeit und unverzagten Mannesmut); damit zusammenhängend die Weiterl ) Vgl. O. Dittrich, a. a. O., S. 75—77. Zum Verhältnis Bernhards zu Augustin vgl. noch Joseph Bernhart, Die philosophische Mystik des Mittelalters (Geschichte der Philosophie in Einzeldarstellungen, Abt. III, Bd. 14, München 1922), S. 100—106. s ) Zum Sinn dieser Wende vgl. Schiirr, a. a. O., Kap. 22, „Der geistesgeschichtliche Charakter desl3. Jahrhunderts", S.442ff., und Alois Dempf, Die Hauptform mittelalterlicher Weltanschauung (München-Berlin 1925), „Neue Rezeptionsmassen und Konkordanzaufgaben" (S. ii4ff.). •) Ehrismann, Ethik; Weber, Gottesbegriff. *) Natürlich kommt es Weber bei seiner Wolfram-Thomas-Parallele nicht auf eine unmittelbare Inbeziehungsetzung beider Geister, sondern auf ihre geistesgeschichtliche Gleichrichtung an.

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führung der Entwicklungshandlung auch in den religiösen Partien des Romans, wo es für Chr. nur die Statik des sündhaften bzw. des geläuterten Zustandes gab (die Reue Parzivals ist der Endpunkt einer allmählichen Wandlung der Einsicht und des Wollens, während bei Chr. ein religiöses Erlebnis, die Pilgerbegegnung, im Helden das plötzliche Erkennen des sündhaften Zustandes, eine starke seelische Erschütterung, heftige Reue und tiefe Bußgesinnung hervorrufen). Rein handlungsmäßig zeigen sich diese Verschiedenheiten der beiden Romane in der Betonung des Mitleidsmomentes bei Wolfram (über die Eindrucksfrage hinaus) und in der dadurch bedingten Abschwächung der primären Schuld des Helden am Tode der Mutter. Für die spezielle Beurteilung Chr.s ergeben sich aus der weiteren theologischen und ethischen Sicht der Schuldfragen folgende Feststellungen: Chr.s Motivierung ist lückenlos, da die Einführung der beiden zu trennenden Begriffe von Sünde und Sündenstrafe die scheinbare Unlogik im Geständnis Percevals beseitigt 1 ). Wenn auch die Percevalszene im Roman vielleicht nicht an ihrem endgültigen Platze steht, so ist sie doch die unmittelbare Fortsetzung des Percevalgeschehens. Die Lösungen, die sie auf die Fragen der früheren Handlung gibt, sind so sehr deren natürliche Folgerungen, daß sie — diesmal vom Standpunkt der Motivierung aus — die Einheit der Gesamtkonzeption und damit des Romans überhaupt beweisen2). Und schließlich ist es damit nicht getan, wenn man, wie G. Misch, in bezug auf die Schuld- und Läuterungsfragen des Percevalromans von einer „frommen Einfalt und Verständigkeit" 3 ) spricht. Chr. ist kein Legendenverfasser. Er hatte nicht die Absicht, psychologische und religiöse Probleme durch Wunderbeschreibungen und Lehrhaftigkeit zu vereinfachen, sondern er gab die typisch gesehene Entwicklungsgeschichte eines Menschen— die erste der französischen Literatur — und baute in diese Geschichte 1 ) Dieses Geständnis geht demnach in folgender Ordnung vor sich: Selbstanklage wegen gottlosen Lebens (V 6364—6367). Auf die Frage des Einsiedlers nach der U r s a c h e dieser Sünde gibt Perceval seinen Fehlschlag auf der Gralburg an und den Schmerz über sein verlorenes Glück (V 6372—6382). Es kann also nach dem T e x t noch keine Rede davon sein, daß, wie Hilka zu V 6366ff. anmerkt, Perceval die Unterlassung der Frage als schwere Sünde angibt oder daß der Einsiedler „diese Unterlassung als schwere Sünde" ansieht. Ebenso fasse ich die V 6383—6386 nicht als eigenen Teil des Sündenbekenntnisses (Hilka, ebd., interpretiert diese Verse als Anklage der „Verzweiflung an Gottes Gnade"), sondern als ein Zurückkommen auf den Anfang des Bekenntnisses und als eine Erklärung des V 6383: „ E t Damedeu an obliai." Daß übrigens Perceval dem Einsiedler seine Gottentfremdung als erste Schuld gesteht, ist insofern leicht erklärlich, als von ihrer Erkenntnis die Läuterung Percevals in der Einsiedlerszene ihren Anfang nimmt. 2) Über Gral und Lanze als Faktoren der erzählerischen Einheit vgl. das Kapitel über den Gral. s)

G. Misch, a. a. O . , S. 278.

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das ebenso typisch menschliche Problem von Schuld und Erlösung ein. Sünde, Strafe, Erlösung und Läuterung aber sind für ihn objektive Gegebenheiten. Sie sind die eigentlichen epischen-geistigen Konstanten seines Romans. An diesen festen Stützpunkten orientiert sich die Handlung. Von ihnen empfängt die Entwicklungsgeschichte Percevals ihren letzten Sinn. Wolfram dagegen hat in genialer Leistung die religiösen Probleme mit in die Seelengeschichte Parzivals hineingezogen. Damit das möglich war, durfte sein Held bis zur tiefgründigen Auseinandersetzung mit dem Einsiedler von keinem Schuldgefühl belastet sein. Parzival mußte glauben, im Recht zu sein, um in langsamem Reifen zur geordneten Erkenntnis und zum rechten Wollen zu kommen. So erlebt und erstreitet sich Parzival seinen Gott. Perceval dagegen erliegt schließlich der übermächtigen Größe Gottes. E r kann sie wohl vergessen, ihr aber nicht entrinnen. Wolfram hat, um zusammenzufassen, die Form des Entwicklungsromans auch in den religiösen Teilen der Handlung durchgeführt (ohne dadurch die religiösen Begriffe zu relativieren). Das zeigen auch kleinste Einzelzüge, von denen einer aufgeführt sei. Das Erbe seiner Mutter, Treue und Güte, retten Parzival vor dem Untergang (451, 6f.) 1 ). Im Percevalroman dagegen verdankt der Held seine Rettung dem wirkungskräftigen Fürbittegebet seiner Mutter (V 6403 ff.). Zwei Schichten der Motivierung haben wir bisher im Percevalroman festgestellt: 1. den Zufall, der scheinbar ohne innere Begründung die einzelnen Episoden aneinanderfügt, vom Gesamtzusammenhang der Handlung aus jedoch sich als zweckberechnet und sinnvoll herausstellt; 2. die theologisch-ethische Verknüpfung der Schuld- und Läuterungshandlung, von der die einzelnen Verfehlungen Percevals zu einem kausalen Ordnungssystem verbunden werden. Die ausführliche Behandlung dieser beiden Motivierungsarten soll aber nicht zu der Ansicht verleiten, als sei der Percevalroman bar aller P s y c h o l o g i e . Chr. ist nicht umsonst ihr großer Meister. E r ist ja, wie Voretzsch sagt, vor allem bestrebt, „die inneren seelischen Vorgänge zu zergliedern und uns wahrscheinlich zu machen. In dieser psychologischen Vertiefung der Handlung erscheint er namentlich gegenüber der Technik der Chansons de geste als vollendeter Meister, wenngleich auch nicht ebenso als kühner Erfinder, da der Eneasroman ihm in dieser Hinsicht vorausgegangen w a r " ' ) . Voretzschs Anspielung auf den Eneasroman weist auf die wichtigen Zusammenhänge zwischen Liebesschilderung und psychologischer Beschreibung hin. In der T a t kann man sich das 1 ) Eine zusammenhängende Deutung des Parzival von diesen Tatsachen der Geraeinschaft, des Erbes und der Familie aus gibt J . Schwietering in: Die Deutsche Dichtung des Mittelalters (Handbuch der Literaturwissenschaft, Potsdam i932ff,), S. 160—172. 2 ) Voretzsch, a. a. O., S. 292.

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gewaltige Interesse des höfischen Romans für die psychologische Analyse nicht ohne das gleichzeitige Vordrängen der L i e b e s t h e m e n erklären. Das stimmt auch für den Inhalt der Chr.schen Romane — bis zum Perceval. Denn hier erscheint zum erstenmal das neue psychologische Thema des Entwicklungsromans, das die Liebe naturnotwendig auf die Relativität einer Reifestufe eingrenzen mußte. Das Absolutum der Handlung hat gewechselt 1 ). Jedoch ist damit keineswegs eine Entwicklung des altfranzösischen Romans überhaupt, sondern nur eine Folge innerhalb des Chr.schen Gesamtwerkes bezeichnet. Die volle Bedeutung dieser Folge wird freilich erst bei der zusammenfassenden Betrachtung des den Roman tragenden Weltbildes offenbar werden. Immerhin zeigen auch andere Epiker des 12. Jahrhunderts die Wichtigkeit des religiösen Gedankengebietes für den höfischen Roman. Einer der wichtigsten ist in diesem Betracht Gautier d'Arras, dessen Romane Ille et Galeron und Eracle in Stoff und Motivierung über den rein höfischen Liebesroman hinaus in die Bezirke der Legende, Askese und des Schicksals hinübergreifen. Ph. A. Becker hat in seiner Aufsatzreihe über die Erzählkunst „neben und nach Chrestien" die dichterische Bedeutung dieses Epikers gewürdigt. E r schreibt: „Suchen wir zum Schluß die literarische Bedeutung von Gautiers schriftstellerischer Leistung, soweit sie uns vorliegt, zu erfassen, so werden wir sein Verdienst vor allem darin sehen, daß er als einer der ersten die Wendung vom höfischen Abenteuer- und Liebesroman im Rahmen der Artuswelt, wie Chrestien ihn zu Ansehen gebracht, zum Schicksalsroman allgemeiner Prägung vollzog. Ob es mit bewußter Absicht geschah oder aus Verlegenheit, ist nebensächlich. Die Hauptsache ist, daß der Roman sich wieder mehr der gegebenen Wirklichkeit zukehrt, sowohl in der Umwelt der Begebenheiten als im Erleben der Helden" 2 ). Wirklichkeitsnähe bedeutet hier aber nicht zuletzt die Zuwendung zu der den altfranzösischen Menschen am nächsten angehenden Wirklichkeit: dem Verhältnis von Gott und Mensch, Kirche und Einzelnem. Von dieser Seite aus betrachtet, ist die Einsiedlerszene des Percevalromans „realistischer" als beispielsweise die Liebesszenen des Cliges s ). Freilich mußte, sobald die neuen (für das Epos und die Legende natürlich herkömmlichen) Themen in den altfranzösischen Roman des 12. Jahrhunderts eindrangen, die psychologische Motivierung vor anderen „objektiveren" *) Zu der „Verquickung von Religiös-Kirchlichem mit den Dingen weltlicher Liebe" in dem kaum noch gradualistisch zu erklärenden provenzalischen Süden vgl. K . Lewent, a. a. O., S. 9 — 1 1 (das Zitat, S. 10). 2 ) „Von den Erzählern neben und nach Chrestien de Troyes", ZrP. 55 (1935), S. 291 f. s ) Dieser Gesichtspunkt ist auch für die Rededarstellung Chr.s zu beachten. Man darf sich nicht verleiten lassen, dessen geschliffene und zugespitzte Rhetorik mit Natürlichkeit und Lebenswahrheit zu verwechseln.

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Handlungsbegründungen zurücktreten. Das ist nicht als ein künstlerischer Abstieg zu werten, sondern gilt nur als ein Hinweis darauf, daß dem Mittelalter die Bedeutung des Individualmenschlichen wohl bewußt war, aber nur innerhalb des objektiven Seinszusammenhangs. Und das leitet uns wieder zurück zur eigentlichen Interpretation des Romans. Die Behandlung der Blancheflorszene ist für die Sonderstellung des Percevalromans bei Chr. sehr aufschlußreich. Gewiß, auch Laudine liebt aus Interesse wie Blancheflor (Perceval V 2038ff.), aber Y v a i n wirbt um sie, während Perceval von Blancheflors Kühnheit völlig überrascht ist. Y v a i n s „Ziel der inneren Entwicklung" ist, „zum wahrhaft Liebenden" zu werden 1 ). Perceval ist schicksalsmäßig für ganz anderes bestimmt. So fehlen denn in der nächtlichen Szene alle üblichen Darstellungen des höfischen Liebesgefühls. Wohl bricht der höfische Stil verschiedentlich durch. Erinnert sei nur von neuem an die meisterhafte Verstellung Blancheflors, mit der sie Perceval scheinbar vom Kampf gegen Anguingueron abhalten will (V 2038ff., 2o83ff.). Aber ihre Liebe selbst ist dann nicht in der höfisch-ovidischen Manier des Cliges, des Lancelot oder des Y v a i n beschrieben, sondern kommt am stärksten lediglich in der Umkehrung des obigen Abschreckungsmotivs zum Ausdruck, als nämlich Blancheflor und ihre Leute Perceval ganz ernsthaft bestürmen, nicht mit Clamadeu zu kämpfen (V 2600 ff.). Rein höfisch ist dann das später verwendete Motiv des Wachtraumes in der Blutstropfenszene. Aber mit dem Zergehen der symbolträchtigen Blutspuren im Schnee verschwindet auch das Bild der Geliebten aus der Erinnerung des Helden und die Handlung führt wieder in andere epische Bezirke. Der buntfarbige Teppich der Gauvainabenteuer enthält wohl drei Liebesaffären (mit der „Pucele as Manches Petites", der Schwester des Königs von Escavalon, der Orguelleuse de Logres), aber sie sind nur Begleitung, nicht Melodie der Handlung. So werden die Gauvainepisoden nicht von einer einzigen Minnehandlung zusammengehalten, sondern von dem Motiv des „ c o v a n t " (Mordbeschuldigung, Lanzensuche, Kampfverpflichtung gegen den Guiromelant). Trotz der aus der Natur des Stoffes abzuleitenden Einschränkung der psychologischen Analyse im letzten Roman Chr.s dürfen wir doch auch für ihn in Anspruch nehmen, daß der Dichter „nicht völlig darauf verzichtet, Handlung als Ergebnis seelischer Bewegung zu geben"»). Brinkmann glaubt, seelische Motivierung im Mittelalter nur als Ausnahme feststellen zu können und gibt als allgemeine Regel, „daß psychologische Begründung nirgends vom Dichter als solche beabsichtigt und vom Hörertume verlangt J

Witte, a. a. O., S. 124. ) Brinkmann, Wesen und Form, S. 85.

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i s t " 1 ) . Soweit damit die Geltung eines „mythischen Analogon" 2 ), die Motivierung durch den „gelenkten" Zufall oder das Einsetzen von Bekehrung, Gnade und Wunder als letztem Handlungsantrieb gemeint sind, ist die Äußerung Brinkmanns anzunehmen. Im besonderen trifft sie dann auf Legende und Theater des Mittelalters als auf die äußersten Grenzfälle transzendenter Wirklichkeitsbegründung zu. Wenn sie aber den Reichtum des Mittelalters an geschichtlichen und dichterischen Spielarten des Reinmenschlichen in die Enge einer generalisierenden Formel pressen will, ist sie abzulehnen. Das Problem ist im Grunde kein anderes, als das von Brinkmann in seinem Aufsatz „Diesseitsstimmung im Mittelalter" 3 ) behandelte. Hier wird gegenüber dem transzendenten Typus der „Diesseitstypus" in Ursprung- und Erscheinungsformen untersucht. Aber die polare und dualistische Bewertungsweise genügt nicht für die Beurteilung des hochmittelalterlichen Weltbildes. G. Müller hat sie deshalb durch den Begriff des „gradualistischen Realismus" 4 ) ersetzt. Dieser Begriff erlaubt auch eine richtige Lösung des Motivierungsproblems. Das Individual-Seelische ist weder alleiniger Wert, noch Gegenwert (des Transzendenten), sondern Stufenwert, dessen Begrenzung durch die Seins- und Gemeinschaftswerte deutlich bewußt ist. E s genügt nicht, wie Brinkmann das Reale einfach als „die in Gott gegründete Wirklichkeit"®) zu bezeichnen, sondern man muß wie G. Müller fortfahren: „Der Begriff des R e a l e befaßt gerade die gegenseitige Zuordnung des Innerlichen und Äußerlichen, des Sinnlichen und Geistigen unter sich; wohlverstanden: die Zuordnung, in der die Hinordnung auf und die Unterordnung unter Gott sich vollzieht"'). Die Seele wird somit nicht nur von der höheren Realität bewegt, sondern sie wirkt auch auf ihresgleichen und auf die niedere, dingliche Seinsschicht. Was sich so theoretisch aus der hochmittelalterlichen Weltbewertung ergibt, bestätigen die Texte. Auch Chr.s Percevalroman weist eine Fülle von psychologischen Motivierungen auf, die man zutreffender als M o t i v i e r u n g e n v o m M e n s c h e n a u s bezeichnet. Sie zu untersuchen bedeutet demnach nichts anderes, als den Einfluß der epischen Figuren auf den Verlauf der Geschehnisse festzustellen, fällt also weitgehend mit der Darstellung der Gestalten der Handlung zusammen. Aus diesem Grunde braucht hier nur auf weniges zur Illustration der allgemeinen Sätze verwiesen zu werden. Über die Kunst Chr.s, die einzelnen Reifestufen Percevals in epischen Bildern zu veranschaulichen, ist bereits zu Beginn, bei der Be') 2 ) s ) 4 )

Ebd. Zu diesem Fragenbereich vgl. das oben Gesagte. DV. 2 (1924), S. 721 ff. DV. 2 (1924), S. 718. Brinkmann, Wesen und Form, S. 85. •) a. a. O., S. 689.

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prechung des Romanaufbaues ausführlich gehandelt worden. Einige Bemerkungen verlangt d i e R o l l e d e s A f f e k t e s . Gern läßt Chr. die Handlung aus einem Affekt hervorgehen. Aus seinem objektiven Aufbaustil heraus begreift es sich, daß der Dichter auf die affektische Rede seiner Personen auch gleich die affektgeladene Handlungsweise folgen läßt. In diesem wichtigen Punkt stimmt die Chr.sche Darstellungsweise nicht wie so oft mit Virgils, sondern mit Homers Erzählungsart überein 1 ). Einige Beispiele mögen das veranschaulichen. So verlangt Clamadeu in einem Wutgefühl den Zweikampf mit Perceval (V 2593ff.). Besonders reich an Motivierungen solcher Art ist der Streit der beiden Schwestern in der Szene des Turniers vor Tintaguel. Der bestrafte Hochmut der älteren Schwester, das Schutzflehen der „Pucele as Manches Petites", die noch halb Kind ist, sind psychologisch in vollkommener Weise gemalt. Wie sich aus diesem Streite die Teilnahme Gauvains am Turnier entwickelt, braucht nicht noch einmal gesagt zu werden. Wolfram stellt, seiner konsequenten höfischen und ethischen Tendenz entsprechend, die „Pucele" nicht als Kind, sondern als minnende Jungfrau dar (369, 1 1 ff.). Die Verschiedenheit erweist sich als eine Parallele zur Charakteristik der Percevalgestalt. Der Streit selber geht bei Wolfram in weniger heftigen Formen vor sich. Chr. hat auch hier schärfere Gefühlsentladungen und grellere Kontraste 2 ). Die Belagerung in Escavalon kommt zustande durch die Wut der unvernünftigen Bürger (V 5875ff., 5905ff.). Weiter wäre auf die Roheit Keus in der ersten Artusszene hinzuweisen (V 1032ff.). Hier greifen psychologische und schicksalsmäßige Motivierung bezeichnenderweise ineinander, denn Keus Jähzorn hat nichts weniger zur Folge als den ersten d e u t l i c h e n Hinweis auf Percevals schicksalhafte Erwähltheit. Auch die einer Handlung vorausgehenden reflektierenden Monologe (vgl. die Selbstermutigung Gauvains vor seiner Überquerung der gefährlichen Furt, V 8503ff.) sind mitunter in den gleichen Zusammenhang zu stellen. So leitet Chr. die Wunderszene auf der Gralburg mit einer recht menschlichen Unwillensäußerung des ungeduldigen Perceval ein (V 3040ff.). Oder er läßt Gauvain in der entzauberten Roche de Chanpguin in ganz folgerichtiger Überlegung die Person der greisen Schloßherrin erraten (V 8io3ff.). Solche Fälle beweisen, wie sich der Dichter auch in ausgesprochenen Märchenszenen von einem Bedürfnis nach menschlicher Motivierung leiten läßt. Das gehört in den gleichen *) Vgl. R. Heinze, a. a. O.: „Die virgilischen Personen äußern ihre Affekte überwiegend nicht in Handlungen, sondern in Reden . . . Das war bei Homer anders; dort ist mit verschwindenden Ausnahmen der Affekt nur dazu da, um eine Handlung zu motivieren, also ein integrierender Bestandteil der Erzählung" (S. 288). 2 ) Zu den Vergleichspunkten im einzelnen vgl. Paetzel, a. a. O., S. 12 und 17.

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Zusammenbang wie etwa die Vermischung von Phantastischem und Anschaulichem in der Wunderburgbeschreibung. Am weitesten geht Chr.s Streben nach psychologischer und verstandesmäßiger Aufhellung der Handlung in der von A. Franz so bezeichneten „rationalisierenden epischen Motivierung" 1 ). „ S i e ziehen das Geschehen aus der Sphäre der künstlerischen Notwendigkeit in die der alltäglichen Wahrscheinlichkeit herab" 2 ). Ihr poetischer Wert ist unterschiedlich. Beispiele für Motivierungen dieser Art sehe ich an folgenden Stellen: Perceval wird von den Tränen Blancheflors aufgeweckt (V i g 7 i f f . ) ; sein wohlgenährtes Pferd verrät der Base seinen Besuch auf der Gralburg (V 3466ff.); das Schmelzen der Blutstropfen im Schnee beendet Percevals Sinnen über Blancheflor (V 4426Ü.). Die letzte Stelle ist von eindringlicher poetischer Wirkung') und hat zugleich Symbolcharakter. Nicht überall jedoch, wo wir sie zu erwarten berechtigt sind, finden wir im Percevalroman eine entsprechende seelische Austiefung der Ereignisse. Die meisten Schwierigkeiten in der Herausarbeitung der psychologischen Motivierung macht ohne Zweifel die Orguelleuse-Handlung. Wenn auch das Verhalten der Orguelleuse am Ende der Episode erklärt wird: sie will jeden Ritter, der ihr folgt, solange quälen', bis sie einer aus Zorn umbringt (V 8947 ff.), so ist Gauvains blinde Ergebenheit nicht sehr klar begründet. Die Orguelleuse will Gauvain vernichten (V 8446f., 8600ff.), ihn in unritterliche Situationen bringen; nur das kann der Sinn ihrer beständigen Hohnreden und Abenteueranstiftungen sein. Gauvains Werben scheint also wenig Aussicht auf Erfolg zu haben. Chr. will Gauvain offenbar im Banne eines heftigen sinnlichen Liebesverlangens schildern. Nur so kann der Bericht vom ersten Zusammentreffen Gauvains mit der Orguelleuse gemeint (V 6677 ff.) sein. In dieser Weise gesehen ist dieses eigentümliche Liebesverhältnis eine Parallele zur rasch entflammten Liebesbegeisterung Gauvains in der Escavalonszene (V 5817ff.). Beiden Fällen sind vorhöfische Züge gemein, die dann noch an Bedeutung gewinnen, wenn man bedenkt, daß zwei andere Liebesepisoden des Romans (Blancheflor- und Tintaguelszenen) die interessebedingte Liebe der schutzsuchenden Frau statt der Liebeswerbung 1) ZrP., 47 (1924), S. 77) Ebd., S. 78. ) Wolfram motiviert anders, indem er Gauvain ein seidenes Tuch über die drei Blutstropfen breiten läßt. Hilkas Unterbewertung der WolframSzene kann ich in keiner Weise zustimmen (Anm. zu V 4426—4431). Es kommt hier wie überall beim Chrestien-Wolfram-Vergleich darauf an, die Verschiedenheiten der beiden Darstellungsweisen aus der Verschiedenheit des beiderseitigen Kunstwollens heraus zu verstehen. Hier liegt eine in diesem Betracht typische Stelle vor. Julius Lichtenstein, Zur Parzivalfrage, PBB. 22 (1897), S. 49, hat sie treffend so gedeutet: Wolfram „verschmäht dieses einfache und natürliche Motiv und wählt . . . ein stärkeres Mittel, um Perceval seinen Träumen zu entreißen". 2

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des minnenden Ritters vorführen. Mit diesem Fehlen der eigentlich höfischen Liebe hängt, wie oben bereits gezeigt worden ist, die Einschränkung der psychologischen Motivierung im Percevalroman eng zusammen. Gerade die Orguelleuseepisode zeigt das wieder sehr deutlich, denn der Dichter hat das Entstehen der Liebe Gauvains zur Orguelleuse mit keinem Wort geschildert. Früher war das sogar eines seiner Lieblingsthemen gewesen. E r hatte es dem Eneasroman entnommen und im Cliges und Y v a i n glücklich variiert und vertieft. Zum mindesten aber hätte Chr. die Liebe Gauvains irgendwie in Reflexionen oder Aussprüchen des Helden andeuten müssen. Wolfram hat hier, wie so häufig, unmißverständliche handlungsmäßige und psychologische Klarheit. Bei ihm ist auch diese Episode konsequent ritterlich. Hier ist die Orgelüse nicht wie bei Chr. eine elementar hassende Märchenfee, sondern eine vornehme höfische Dame. Der Held selber leidet bei Chr. mehr sinnliche Liebesqualen, bei Wolfram dagegen eher den Schmerz vergeblicher Minnewerbung (V 66g8ff., 688off., Wolfram 5 1 5 , 1 1 bis 516, 1). Dementsprechend hat Wolfram auch eine von Grund aus andere Versöhnungsszene als Chr. Die Orguelleuse will von Gauvain wegen ihrer absichtlich verübten Bosheiten getötet werden (V 896off.). Ihr Fall soll abschreckend und verallgemeinernd wirken. Sie legt ihren Haß gegen die Ritter ab. Darin liegt der Sinn ihrer Reue. Die Bedeutung des von ihr ersehnten Todes hat sich einfach gewandelt. Bei Wolfram findet sich nichts von alledem. Wenn die Orgelüse Gáwán gekränkt hat, dann hat sie nur wissen wollen, ob er ihrer Liebe wert sei oder nicht (614, 1 — 1 7 ) 1 ) . Schließlich erhebt sich die Frage, wie es kommt, daß Chr. in einem so wichtigen Stück der Handlung der psychologischen Klarheit ermangelt. Hat er, was für zahlreiche stilistische Erscheinungen seines letzten Romans anzunehmen ist, ganz im Märchenstil bleiben wollen ? Das ist nicht wahrscheinlich, denn die Orguelleusehandlung enthält j a immerhin zahlreiche ritterliche und höfische Züge. So bleibt nur ein Schluß, daß nämlich in dieser Episode der von Chr. verarbeitete Märchenstoff noch zu stark unter dem Romangeschehen sichtbar ist. Diese Annahme, die natürlich auch für die stoffgeschichtliche und stilistische Untersuchung sehr bedeutungsvoll ist, erlaubt für fast alle wichtigen psychologischen und epischen Unklarheiten und Unebenheiten im Percevalroman 8 ) eine Erklärung. Diese brauchen also nicht einmal so sehr mit der Unfertigkeit des Werkes zusammenzuhängen, als vielmehr mit der verschiedenen Herkunft der Stoffe und mit der episodenweisen Abfassung des Ganzen. Denn wenn schließlich so große epische Kunstwerke wie die Äneis, das Nibelungenlied und Wolframs Parzival solche Sprünge in der Motivierung aufweisen, so ist es in allererster Linie ') Vgl. die Szenengegenüberstellung bei Paetzel, a. a. O., S. ioof. 2 ) Vgl. die Zusammenstellung Hilkas, a. a. O., S. X X X V I I . B. z. Z.R.Ph. Heft 88. Kellermann 9

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aus d i e s e n Gründen 1 ). Und auch im Percevalroman braucht man sich die Freude am Ganzen und die Bewunderung des Gelungenen deshalb nicht beeinträchtigen zu lassen. Abschließend ist noch d i e R o l l e v o n H u m o r , K o m i k u n d I r o n i e im Roman zu würdigen. Sie hängt eng mit der seelischen Verdeutlichung und Verlebendigung der Handlung und dadurch auch mit der Motivierung zusammen. Die Komik ist im Perceval fast durchweg Begleiterscheinung der Dinge und Ereignisse. Nie ist sie verselbständigt; wenn sie sich trotzdem ergibt, dann wächst sie organisch aus der Handlung heraus. Der Dichter macht nicht eigens darauf aufmerksam, er schaut höchstens einmal ironisch hinter der Bühne der Ereignisse hervor, aber er stellt sich nicht unmittelbar vor den Leser. Gerade das aber macht eine unzweideutige Feststellung des Humors bei Chr., wir dürfen sagen des romanischen Humors schlechthin, so schwierig. Man denke an die Diskussion um den Sinn des Misanthrope, aber auch an die Beurteilung des Chr.schen Yvain, in dem M. Borodine den vergeblichen Kampf des Mannes gegen die Liebe, Küchler aber eine „Komödie, eine Intrigenkomödie" 2 ) gestaltet sieht. Natürlich ist M. Borodines Yvainbild romantisch verzeichnet. Mit Recht spricht Küchler seinerseits von den „humoristischen Lichtern, die an allen Ecken und Enden aus den Versen des Romans hervorleuchten" 8 ). Das wird, wenn auch mit der durch den Stoff gebotenen Einschränkung, von der Lektüre des Percevalromans bestätigt. Auf der anderen Seite aber hat Küchler übersehen, daß dem Yvain zum Lustspielcharakter eines fehlt, nämlich die Lustspielfigur. Von den nicht hierher gehörenden Häßlichkeitsbeschreibungen abgesehen, hat Chr. in keinem seiner Werke rein komisch aufzufassende Figuren geschaffen. Er ist auch kein Freund derber, possenhafter Situationskomik, sondern er liebt es, die Komik in direkter Rede zu geben und sie seelisch zu begründen. Die Gewichtsverlegung auf diese zweite Art der Komik unterscheidet ihn von der Kunst der Ch. d. g. Denn bei ihnen haben wir es „fast durchweg mit derber, drastischer Komik zu J) Für Virgil vgl. die eindeutigen Feststellungen Heinzes, a. a. O., 2. Teil, i . Kap. I V . „ D i e Arbeitsweise" (S. 260—264) und das von Carl Hosius meisterhaft gezeichnete Virgilbild „ Z u Virgils zweitausendstem Geburtstag" (Würzburger Rektoratsrede, 1930), S. 4off.; für das Nibelungenlied Josef Körner, D a s Nibelungenlied (Aus Natur und Geisteswelt, Bd. 591, Leipzig-Berlin 1921), S. 1 1 0 — 1 1 3 ; für Wolfram Albert Schreiber, Neue Bausteine zu einer Lebensgeschichte Wolframs von Eschenbach (Deutsche Forschungen, H. 7, Frankfurt a. M., 1922), S. 196. 2) Walther Küchler, Über den sentimentalen Gehalt der Haupthandlung in Chrestiens „ E r e c " und „ I v a i n " ZrP. 40 (1920), S. 98. Zu der auch von Küchler (S. 91) zitierten Auffassung Lot-Borodines vgl. a. a. O., S..237. ») E b d . , S. 99.

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t u n " 1 ) , wenn auch vereinzelte, sogar sehr frühe Ansätze zur Psychologisierung der Komik festzustellen sind 2). Willkommene Vergleichspunkte bietet die dichterische Behandlung der Eingangsszene, deren verschiedene Nachahmungen H. Theodor zusammengestellt hat. B e i Chr. ergibt sich durch die Verschiebung des Gesprächs in den Interessenkreis Percevals eine humorvolle Wirkung. Aber der Grundton der ganzen Szene ist schicksalhaft ernst. Ganz anders verfährt der Dichter des Chevalier au cygne, denn da wird das alles „ziemlich unbeholfen nachgeahmt, offenbar mehr in der Absicht, Lachen zu erregen, als zu charakterisieren. Die Unwissenheit Percevals, die sich doch nur auf ritterliche Dinge erstreckt . . . wird im Chevalier au cygne auf alle Dinge ausgedehnt" 8 ). So ergibt schon ein erster prüfender Blick auf Chr.s Komik den bestimmenden Eindruck, daß der Dichter ihre Verselbständigung vermieden hat. Daß seiner Komik auch die tragische Note fehlt, erscheint bei seiner optimistischen Weltanschauung selbstverständlich. Denn er baut jeden seiner Romane auf das gute Ende hin auf und löst Fehler und Schuld durch Verzeihung und Läuterung. Dieses Weltbild ist unbeweglich und erkennt Tragik als Schicksalsmacht gar nicht einmal an. Das ist im germanischen Humor anders. Dieser „entspringt aus dem Überlegenheitsgefühl, das sich der Mensch der tragischen Grundstimmung zum Trotz erringt: dem Unentrinnbaren begegnet er mit (relativ) kathartischem, wenngleich nicht unbedingt versöhnendem Humor. Humor ist also hier Brechung des Tragischen" 4 ). Die Abwesenheit solchen Lebensgefühls bei Chr. macht auch das Vorhandensein der „ L a u n e " als der hart erkämpften heiteren Überwindung „aller (zuvor gelösten) Konfliktstimmung, aller (überwundenen) Not des Erdendaseins"') unmöglich. Diese für Wolfram so charakteristische Humorform muß bei Chr. naturnotwendig auch deshalb fehlen, weil seinem Werk schon die Grundbedingung dazu, die Ablösung des Erzähler-Ichs von der Handlung mangelt. So ist Chr.s Werk nicht von einer im eigentlichen Sinn humorerfüllten Weltanschauung getragen, da für diese ja die Vereinigung der Gegensätze wesentlich ist. Chr.s Humor entlädt sich in zwei anderen Hauptformen: d e m k o m i s c h e n K o n t r a s t und der Ironie. Die erste dieser beiden Formen gehört der Art der objektiven Komik zu, d. h. sie entspringt den realen Verhältnissen der gegen') Hugo Theodor, Die komischen Elemente der altfranzösischen Chansons de geste (Beihefte zur ZrP., H. 48, Halle a. d. S. 1913), S. 139. 2 ) Vgl. die Charakteristik Guiots aus der Chanson de Willelme bei Hedwig Dauer, Der Kunstcharakter der Chanson de Willelme (Diss. München, 1932), S. 37ff. ») a. a. O., S. 51 f. 4 ) Weber, a. a. O., S. 173. ») Ebd., S. 294. 9*

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übergestellten Handlungen selber 1 ). Sie tritt, wie schon angedeutet wurde, nicht grell-possenhaft auf, sondern ist durch seelische Begründung gemildert. Sie ist eines der wichtigsten Verdeutlichungsmittel der Handlung, indem sie Spieler und Gegenspieler, Welt- und Gegenwelt aneinander mißt. Solche Kontraste zählen zu den einprägsamsten Stellen des Romans. Man denke etwa an folgende Beispiele: an den vor Belrepeire geprellten Clamadeu (V 2566ff.), an den Streit der beiden Schwestern (im einzelnen besonders V 5401 ff., 543Öff.), an das lustige Bild, als der berühmte Ritter Gauvain auf dem sich nicht v o n der Stelle rührenden Klepper den K a m p f gegen den Neffen des Greoreas bestehen muß (V 7331 ff.). Die letzte Situation erinnert an Lancelots Schmach auf der Karre. G a u v a i n benützt den Klepper als Prellbock und gewinnt den ungleichen K a m p f 2 ) . Das in mehreren Artusromanen vorkommende Motiv des Gegensatzes zwischen dem überheblichen Spott Keus und seiner B e siegung (V 4276ff.) wurde schon in anderem Zusammenhang angeführt. Die Verdoppelung eines komischen Zuges wirkt natürlich verstärkend, so wenn in der gleichen Szene zweimal hintereinander ein R o ß ohne seinen (inzwischen von Perceval besiegten) Reiter zum Lager zurücksprengt (V 4269ff., 43i8ff.). In zahlreichen Fällen, wo es auf ethische Charakterisierung ankommt, erscheinen die Kontrastpartien bei Wolfram nicht in so ausgesprochenem Gegensatz wie bei Chr., sondern sind auf einer verbindenden Ebene zusammengerückt. D a m i t aber wird K o m i k zum Humor. W o l f r a m liebt es infolgedessen nicht, die Kontraste dadurch zuzuspitzen, daß er eine komisch wirkende Person lächerlich macht. Chr. jedoch verschmäht solche Wirkungen durchaus nicht. W o aber zwei Gegensätze in so überscharfer Antithetik auseinandergerissen werden, entfällt die seelische Vorbedingung des eigentlichen Humors. A m deutlichsten erweist diese Unterschiede die Auffassung der Keugestalt bei beiden Dichtern (vgl. etwa Gauvains und Keus Gespräch nach dessen Niederlage V 4370ff.: 298, 6ff.). Chr. ist es demnach nicht um Glättung, sondern in erster Linie um Pointierung zu tun. Sein Humor ist nicht wie bei Wolfram seelischer Ausdruck eines k r a f t vollen Überlegenheitsgefühls, einer A r t coincidentia oppositorum, sondern er bedeutet das Herausschälen der in den Menschen, Dingen und Situationen selbst liegenden Möglichkeiten®). In Chr.s Weltbild !) Vgl. Theodor Lipps, Grundlegung der Ästhetik, S. 581; H. Theodor, a. a. O., S. 106. Die im Percevalroman und bei Chr. überhaupt nicht häufige subjektive Komik des Witzes betrifft nicht den Aufbau-, sondern den Sprachstil. 2) Die Handschrift P hat in der Lesart: Pour 50U n'a le ceval guerpi (V 7339), ebenso wie die Prosa 1530 in: Ainsy ne avoit plus sur quoy se soubstenir que sur le dextre (Hilka, S. 594, Z. 2/3) einen klareren Text als die Hs. A : E t il a le destre guerpi. 3) K. Lewent zeigt in seiner ausführlichen, ausgezeichneten Darstellung der komischen Elemente in der „Flamenca" bei dem proven-

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hat alles von vorneherein seinen unverrückbaren Platz. Seine Wirklichkeit ist nicht gebändigt, sondern geordnet. Und darin liegen die Voraussetzungen für seine objektive Komik. Sicherheit und Festigkeit dieses Weltgefüges zeigen sich aber nicht nur in der Objektivität kontrastreicher Komik, sondern sie kommen auch in seiner scheinbaren Durchbrechung, d. h. in der der I r o n i e zum Ausdruck. Die Ironie bestätigt den Ernst, indem sie ihn scheinbar zerstört. Deshalb ist sie auch eine im besonderen Maße objektive Form des Humors 1 ). Weil sie so tief in die Handlung eingesenkt ist, ist es nicht immer leicht, festzustellen, ob einfacher Bericht oder Ironie vorliegt. Die Ironie ist im epischen Stil Chr.s durchaus kein fremdes Element. Denn wenn der Dichter in der Spannung des Gegensinnes Aussagen und Wirklichkeiten verdreht, um den Leser in ein um so stärkeres Miterleben der w a h r e n Handlungsbedeutung zu führen, so ist das nichts anderes als der Tatbestand der Ironie. Je stärker in solchen Fällen das Mitspiel des Lesers ist, desto humorgeladener ist die Szene. Die ironische Wirkung ist dann besonders stark, wenn der vom richtigen Sinn einer Szene unterrichtete Leser die Personen der Handlung ahnungslos der Täuschung überantwortet sieht. Das ist dann die höchste der im Roman überhaupt erreichbaren Formen der g e s t a l t e t e n Komik. Wir sind da wieder in Bezirken der „dramatischen" Epik und können E. Winklers Charakterisierung entsprechender Lustspielkomik unmittelbar auf Chr. anwenden: „Die Abreaktion des Lachens wird unter Umständen aber auch dadurch herbeigeführt bzw. erleichtert, daß wir als Genießende tieferen Einblick in die Fäden der Handlung haben als der Spieler selbst" 8 ). So hängt demnach die Spannung des Gegensinns eng mit der Rolle der Ironie bei Chr. zusammen. Beiden sind eine Reihe von Beispielen gemeinsam, auf die hier noch einmal zu verweisen ist (vgl. Kap. IV). Einen Fehler gilt es bei der Interpretation ironischen Humors zu vermeiden: die Verwechslung von Ironie und Spott. Vom zweiten ist Chr. weit entfernt. Er ist kein Satiriker; das würde eine kritische Distanzierung vom Sinn der Personen und Geschichten bedeuten, zalischen Epiker die gleiche Grundauffassung einer objektiven Handlungskomik auf. Vgl. insbesondere die Beziehungen von Wirklichkeit und Humor (S. 84). Wenn sich allerdings beim Flamencadichter Züge von pessimistisch gefärbter Ironie und von Schicksalsironie (S. 67—73) zeigen, so weist das auf eine Lockerung und mangelnde Dichte des Weltgefüges hin, die sich aus der k o n s e q u e n t e n Durchsetzung des Romans mit den Gedanken der Troubadourminne ergeben. Zu dieser Gleichsetzung vgl. Lewent, S. 11 ff. Das kann nur so gedeutet werden, daß im provenzalischen Minnesang eben Auffassungen zur Geltung kommen, die man nicht mehr als „höfisch" bezeichnen kann. Zu den Minnesangtheorien vgl. F . R. Schröder G R M . 21 (1933). *) Vgl. Jean Paul, Vorschule der Ästhetik, a . a . O . , 1. Abteilung, S . 2 3 i f . s ) E . Winkler, Das dichterische Kunstwerk, S. 79.

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die bei Chr. ausgeschlossen ist. Die Satire und die Ironie (als reine Abart des Komischen) haben j a verschiedene seelische Grundlagen und verschiedene dichterische Auswirkungen. Jean Paul hat dafür eine an treffender Kürze nicht überbietbare Formel geschaffen: „ D o r t findet man sich sittlich angefesselt, hier poetisch freigelassen" 1 ). Nur wenn man das im Auge behält, deutet man jene Romanstellen richtig, wo die Ironie auch vor den Hauptpersonen der Handlung nicht haltmacht. Die Gestalt Percevals, bei deren Darstellung es dem Dichter um u n g e b r o c h e n e n Ernst zu tun ist, wird zwar nicht ironisierend umspielt, wohl aber Artus und Gauvain. Gewiß fordert die Objektivität des Chr.schen Berichtstiles große Vorsicht bei der Interpretation ironisch deutbarer Stellen. Aber Artus Schwäche vor dem Roten Ritter und Perceval ist wahrscheinlich doch ironisch zu verstehen (V 889ff., 931 ff.). Vollends aber läßt die Bemerkung des Guiromelant, daß Artus „höchstens" hundert Jahre alt sei (V 8170), den Schluß auf eine Ironie des Dichters zu. Hilka fragt denn auch mit Recht: „Will Christian absichtlich in den Märchenton verfallen, oder ist eine ironische Tendenz bei ihm herauszulesen?" 2 ) Am besten nimmt man beides an, da es sich sehr gut miteinander verträgt. Auch auf Gauvain fällt manches ironische Licht, allerdings fast ausschließlich im Sinn der nur dem Leser voll verständlichen Spannung des Gegensinnes. Dahin ist auch die unfreiwillige Ironie der über Gauvain spottenden Turnierdamen in der Tintaguelszene zu rechnen, oder das alliterierende Wortspiel, das die Orguelleuse zu Unrecht auf Gauvain anwendet: Plus fussiez muz que maz an angle (V 8428)*). Ironie läge vor, wenn Chr. in der Escavalonszene Gauvain nur deshalb der Schwester des Königs ewige Treue schwören ließe (V 5827ff.), um ihn als unbeständigen, nur der Neigung des Augenblicks folgenden Liebhaber zu kennzeichnen. Eines ist sicher: es wäre falsch, in diesem Gebrauch der Ironie eine verstandesmäßige Zersetzung der höfischen Sinnbilder bei Chr. sehen zu wollen. Ebenso unrichtig wäre es auch, aus der im Cliges begegnenden Säkularisierung religiöser Formen gleich auf einen Riß im Weltbild d°s Dichters zu schließen. Zwar betrifft das zuletzt Gesagte nicht mehr den Aufbau, aber es war doch hier nötig, die Frage anzudeuten; denn wenn es einmal auffällig ist, daß Chr. in seinem zweiten Roman Religiöses, in seinem letzten Höfisches und Ritterliches ironisch behandelt, so ist das, wenn man sich des Sinnes der Chr.schen Ironie bewußt ist, keineswegs ein Beweis gegen die Gültigkeit beider Normen in b e i d e n Romanen, sondern nur ein x

) a. a. O., S. 165. ) a. a. O., Anm. zu V 8170. 3 ) vgl. auch die beiden vorangehenden Verse.

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Zeichen dafür, daß in Chr.s Gesamtwerk eine Verlagerung der geistigen Schwerpunkte vor sich gegangen ist. So hat die Untersuchung der Komik die Einheitlichkeit des Chr.schen Weltbildes von neuem erwiesen. Freilich enthält dieses Weltbild Schichten, aber es ist andererseits von solch klarer Umgrenzung und undiskutierter Sicherheit, daß es keine im wahren Sinn tragischen Konflikte zuläßt. Gewiß, auch Wolfram stellt nicht zwei grundsätzlich verschiedene Prinzipien der Welterkenntnis oder der Lebensauffassung einander gegenüber. Aber in das subjektive Erleben seines Helden bricht doch die Tragik des verzehrenden Zweifels herein, ob denn Gott wirklich Gerechtigkeit und Billigkeit in allem gewährleiste. So sind auch unter der ausgeglichenen Heiterkeit seines Humors die Ströme germanischer Schicksalstragik zu vernehmen. Und während bei Chr. die Ironie und der Gegensinn die Sinnbilder und die Realitäten des Lebens und Denkens nur scheinbar von ihren Plätzen rücken, so ist die Wolframsche „Laune" aus dem, wohl auf das Erleben des Dichters selbst zurückweisenden Gefühl e r r u n g e n e r Sicherheit geboren. Chr.s Weltanschauung entbehrt dieses Zuges, in erster Linie, weil sie eine frühere Stufe der mittelalterlichen Geisteskultur als Wolfram darstellt, dann wegen der völkischen und persönlichen Unterschiede, die sie von Wolframs Kunst trennen 1 ). Chr.s Weltbild zeigt, wenn man es auf seine letzte Wurzel zurückführt, die Herrschaft eines befreienden Optimismus. Seine Dichtung vereinigt wirklich, wie Karl Voßler schreibt, ,,zu einem wunderbaren Einklang das Vergnügen der Sinne mit der Tüchtigkeit des Charakters, die Schönheit des Körpers mit der Kraft der Seele**2).

VI. Die epischen Figuren Die Sonderart der „epischen Figuren" 8 ) im Percevalroman hängt eng zusammen mit der Motivierung des Geschehens. Aus dem im vorigen Kapitel darüber Gesagten ergibt sich, daß es bei der Beurteilung eines mittelalterlichen Erzählwerkes ebenso falsch ist, die Handlung vollständig von ihren Trägern zu trennen, wie den Inhalt des Romans einzig und allein aus dem Wesen der Gestalten herzuleiten. Zu solcher Auffassung berechtigt uns die für Chr. in Vgl. zu dieser Unterscheidung auch Jean Paul, a. a. O., S. 232: „ A u c h neigen eben darum Männer von Verstand sich mehr zur Ironie, die von Phantasie mehr zur Laune." 2) Karl Voßler, Frankreichs Kultur und Sprache (2. A u f l . , Heidelberg 1929), S. 48. s ) Dieser von Petsch, Erzählkunst, S. I i 7 f f . , gebrauchte Begriff entspricht in jedem Betracht den Verhältnissen der älteren Erzählkunst besser als der sonst gebrauchte Begriff des „Charakters". Wir haben ihn deshalb auch für unsere Darstellung übernommen.

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Zeichen dafür, daß in Chr.s Gesamtwerk eine Verlagerung der geistigen Schwerpunkte vor sich gegangen ist. So hat die Untersuchung der Komik die Einheitlichkeit des Chr.schen Weltbildes von neuem erwiesen. Freilich enthält dieses Weltbild Schichten, aber es ist andererseits von solch klarer Umgrenzung und undiskutierter Sicherheit, daß es keine im wahren Sinn tragischen Konflikte zuläßt. Gewiß, auch Wolfram stellt nicht zwei grundsätzlich verschiedene Prinzipien der Welterkenntnis oder der Lebensauffassung einander gegenüber. Aber in das subjektive Erleben seines Helden bricht doch die Tragik des verzehrenden Zweifels herein, ob denn Gott wirklich Gerechtigkeit und Billigkeit in allem gewährleiste. So sind auch unter der ausgeglichenen Heiterkeit seines Humors die Ströme germanischer Schicksalstragik zu vernehmen. Und während bei Chr. die Ironie und der Gegensinn die Sinnbilder und die Realitäten des Lebens und Denkens nur scheinbar von ihren Plätzen rücken, so ist die Wolframsche „Laune" aus dem, wohl auf das Erleben des Dichters selbst zurückweisenden Gefühl e r r u n g e n e r Sicherheit geboren. Chr.s Weltanschauung entbehrt dieses Zuges, in erster Linie, weil sie eine frühere Stufe der mittelalterlichen Geisteskultur als Wolfram darstellt, dann wegen der völkischen und persönlichen Unterschiede, die sie von Wolframs Kunst trennen 1 ). Chr.s Weltbild zeigt, wenn man es auf seine letzte Wurzel zurückführt, die Herrschaft eines befreienden Optimismus. Seine Dichtung vereinigt wirklich, wie Karl Voßler schreibt, ,,zu einem wunderbaren Einklang das Vergnügen der Sinne mit der Tüchtigkeit des Charakters, die Schönheit des Körpers mit der Kraft der Seele**2).

VI. Die epischen Figuren Die Sonderart der „epischen Figuren" 8 ) im Percevalroman hängt eng zusammen mit der Motivierung des Geschehens. Aus dem im vorigen Kapitel darüber Gesagten ergibt sich, daß es bei der Beurteilung eines mittelalterlichen Erzählwerkes ebenso falsch ist, die Handlung vollständig von ihren Trägern zu trennen, wie den Inhalt des Romans einzig und allein aus dem Wesen der Gestalten herzuleiten. Zu solcher Auffassung berechtigt uns die für Chr. in Vgl. zu dieser Unterscheidung auch Jean Paul, a. a. O., S. 232: „ A u c h neigen eben darum Männer von Verstand sich mehr zur Ironie, die von Phantasie mehr zur Laune." 2) Karl Voßler, Frankreichs Kultur und Sprache (2. A u f l . , Heidelberg 1929), S. 48. s ) Dieser von Petsch, Erzählkunst, S. I i 7 f f . , gebrauchte Begriff entspricht in jedem Betracht den Verhältnissen der älteren Erzählkunst besser als der sonst gebrauchte Begriff des „Charakters". Wir haben ihn deshalb auch für unsere Darstellung übernommen.

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vollem Maße geltende Weltanschauung des Gradualismus, wonach das gesamte Universum sich in Seinsstufen aufbaut. „ U n d diese Schichtigkeit ist wieder theozentrisch bestimmt" 1 ). Die einzelnen Gradus der mittelalterlichen Weltordnung haben, wie G. Müller weiterhin ausführt, „eine in sich abgerundete, wenn auch nicht abgeschlossene Eigengesetzlichkeit" 2 ). Daraus ergeben sich für die Interpretation eines diesem Weltbild unterworfenen mittelalterlichen Erzählwerkes die Möglichkeiten, aber auch die Grenzen einer Motivierung v o m Menschen aus. Die Grenzen bestehen darin, daß die Dinge nicht erst vom Menschen her ihren Wirklichkeitswert bekommen, daß demnach eine subjektivistische, empiristische oder kritizistische Geisteshaltung ausgeschlossen ist. Die Lebensanschauung des hochmittelalterlichen Dichters ist vielmehr auf feste Normen hin ausgerichtet. Zu dem allen kommt noch die gesellschaftliche und die stoffliche Gebundenheit. Auch dann, wenn der höfische Epiker seinen Stoff nicht auf ausdrücklichen A u f trag eines Gönners übernahm und ihn nach dessen Richtlinien und Geschmack ausführte, dichtete er innerhalb gesellschaftlicher Grenzen. Die Wichtigkeit des Publikums für den höfischen Roman ist nicht genug zu betonen. In diesen Zusammenhang gehört die kompositionelle Auswertung der Artusatmosphäre, über die oben schon gehandelt worden ist, und die Bedeutung der reflektierten Handlung. Auf Chr. angewendet bedeutet das alles: der Dichter konzipierte keine Weltsicht von dem Blickwinkel einer von ihm geschaffenen Person aus, es kam ihm auch nicht darauf an, einen vom persönlichen Erleben gefärbten Roman zu schreiben. Zwar mögen allerlei Beschreibungszüge auf eigene Erfahrungen des Dichters zurückweisen; aber es wäre dennoch falsch, seine Romane biographisch-bekenntnismäßig auszuwerten. Solche Einzelheiten sind für einen Epiker der höfischen Literatur so sehr am Rande der künstlerischen Absicht, daß ihre biographische Auswertung überhaupt keinen Erfolg verspricht 3 ). Somit läßt sich für die in Frage >) G . Müller, a. a. O . , S. 694. *) E b d . , S. 694. a ) B r i n k m a n n h a t n a c h d r ü c k l i c h s t auf den n o r m a t i v e n C h a r a k t e r der mittelalterlichen K u n s t hingewiesen. E r f ü h r t aus, „ d a ß d e m Mittelalter u n m i t t e l b a r persönliche A u s s p r a c h e n i c h t letzter W e r t w a r " (a. a. O . , S. 10). Zur „ g e s e l l s c h a f t l i c h e n B e d i n g t h e i t " der K u n s t v g l . e b d . , S. 90 b i s 92. D a g e g e n m u ß t e n B r i n k m a n n s A u f s t e l l u n g e n über den M a n g e l a n p s y c h o l o g i s c h e r M o t i v i e r u n g im m i t t e l a l t e r l i c h e n K u n s t w e r k oben bereits s t a r k e i n g e s c h r ä n k t werden. — D i e b i o g r a p h i s c h e A u s w e r t u n g h a t G u s t a v e C o h e n s t a r k g e ü b t . T y p i s c h d a f ü r ist die D e u t u n g der P e s m e a v a n t u r e (S. 368f.) und der B e s c h r e i b u n g Y g u e r n e s (s. S. 472). E s ist keineswegs ein F o r t s c h r i t t der I n t e r p r e t a t i o n , wenn m a n h e r a u s b e k o m m e n z u h a b e n g l a u b t , dieses oder jenes i m R o m a n sei v o m D i c h t e r selber b e o b a c h t e t . C o h e n l e g t ausserdem a n Chr. den S t a n d p u n k t eines durchaus u n m i t t e l a l t e r l i c h e n stilistischen R e a l i s m u s an. D i e m i t t e l a l t e r l i c h e B e schreibung s t a m m t aber a u c h da, w o sie der N a t u r a n g e n ä h e r t zu sein scheint, in der H a u p t s a c h e aus der literarischen T r a d i t i o n u n d n i c h t

VI. Die epischen Figuren

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stehende Epoche das Verhältnis von Handlung und Handlungsträger folgendermaßen formulieren: die Handlung ist v o r dem Handlungsträger da 1 ), nicht erst d u r c h ihn. Die Grundrichtung der Handlung, die Besonderheit der Konflikte, die das Erzählwerk bestimmende Auswahl der Geschehnisse fließen deshalb nicht aus dem „Charakter" eines Helden, sondern bestehen in sich. Wenn nach J e a n Paul die „technische Darstellung eines Charakters . . . auf zwei Punkten [beruht], auf seiner Zusammensetzung und auf der Geschichts-Fabel, welche entweder sich an ihm, oder an welcher er sich entwickelt" 2 ), so gilt für die epische Kunst Chr.s, und des Mittelalters überhaupt, durchaus das zweite Verhältnis. Damit stimmen auch die Ausführungen des vorigen Kapitels über die „zufallsmäßige" Motivierung überein, denn der Zufall bedeutet Eigengesetzlichkeit der Dinge und der Ereignisse. Aus all diesen Tatsachen ergibt sich jedoch keineswegs, daß die ganze mittelalterliche Erzählkunst nur der Veranschaulichung von thesenhaften Exempla dient. Gewiß gibt es mittelalterliche Erzähler genug, in deren Absicht nichts anderes liegt. Aber für Chr. trifft das nicht zu. Einmal hat, wie wir oben bei den Beispielen für die psychologische Motivierung gesehen haben, jede Gestalt innerhalb des einmal gesetzten festen Handlungsrahmens ihre eigene Atmosphäre, aus der heraus ihr Reden und ihr Tun verständlich werden, und dann sind Geschehen und Figuren beständig aufeinander bezogen. Chr. besaß im Gegensatz zu vielen, nur Episode auf Episode häufenden Epikern in seinem Gefolge einen starken Willen zur poetischen Vereinheitlichung. Und dieser schon früher festgestellte Wille äußert sich nicht zuletzt in dem die Gestaltung des Romans so entscheidenden Verhältnis von Handlung und epischer Figur. Beide Sphären fallen nämlich nicht auseinander, sondern die Gestaltenbehandlung und das vom scheinbaren Zufall bewegte Geschehen werden so parallel geführt, daß beide, wenn es nötig ist, zur gegenseitigen Ergänzung bereit stehen. Der Dichter macht gleichsam alles zurecht, aus persönlicher Beobachtung. Vgl. zur Naturbeschreibung die knappe, aber treffsichere Darstellung von Eduard von Jan, Die Landschaft des französischen Menschen, dargestellt am französischen Schrifttum vom Mittelalter bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts (Literatur und Leben, Bd. 6, Weimar 1935), vor allem S. 4—13. Die Frage, die ins Gebiet des Sprachstils gehört, kann hier nur angedeutet werden. l ) „Vor" ist hier seins- und wertmäßig gemeint. Der seinsmäßige Charakter mittelalterlicher Weltbetrachtung wird immer mehr zur Deutung mittelalterlicher Kunst herangezogen. Vgl. neuerdings den Aufsatz Hugo Kuhns, Mittelalterliche Kunst und ihre Gegebenheit, DV. 14 (1936), S. 223ff. und Richard Glasser, Studien zur Geschichte des französischen Zeitbegriffs (Münchner Romanistische Arbeiten, H. 5, München, 1936). Kuhn kommt S. 233 zu der Auffassung, von der die Anlage vorliegender Untersuchungen ausgeht: „Das Ganze (des mittelalterlichen Kunstwerks) läßt sich also auch aus Resten vollständig . . . b e g r e i f e n , denn es stellt auch als 'Ganzes' nur seine Vervollständigung . . . dar." s ) a. a. O., 2. Abteilung, S. 381.

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was er im gegebenen Augenblick als Handlungsrequisiten braucht. Diese Parallelität, die sich am deutlichsten in der bewußten Anordnung der Percevalhandlung bis zur Gralszene, oder, um andere Romane Chr.s zu nennen, in der Steigerungslinie der Erec und Y v a i n „begegnenden" Abenteuer zeigt, erlaubt es, trotz aller obigen grundsätzlichen Einschränkungen, von Zusammenhang zwischen Handlung und Handlungsfiguren und von deren innerer Entwicklung zu sprechen. Dies gilt es jetzt für die wichtigsten Figuren des Percevalromans darzustellen. Ebensowenig wie für W i t t e kann es hier darum gehen, vollständige „Lebensbilder" der vorkommenden dichterischen Gestalten zu entwerfen 1 ). A u c h uns ist es nur um die Rolle der einzelnen Figuren für den A u f b a u des Romans zu tun. Die größte Aufmerksamkeit verdient d i e G e s t a l t P e r c e v a l s , des für die Erlösung der Gralburg Ausersehenen. Seine Entwicklung vom Dümmling zum minnenden und streitenden Helden, zum humanen Ritter, zum ehreüberhäuften Mitglied des Artushofes wird im ersten Romanteil geschildert. Trotz seiner schweren Schuld ist sein Aufstieg zu solchen Höhen des h ö f i s c h e n Menschentums nicht gehindert. Anders ist es mit der Erfüllung seiner Erlöserrolle. Sie ist nicht möglich ohne eine vorhergehende innere Läuterung. Der junge Perceval trägt bei Chr. noch viele Züge des Märchens. Höfisches Gebaren ist ihm im Anfang vollkommen fremd. Seine Anonymität fällt auf. Er kommt zur Bewußtheit seines Namens erst im Gespräch mit seiner Base, zur Reue über seine Schuld erst beim Einsiedler. E s liegt eine konsequente Entwicklung vor, die sich in genauer Parallelität mit einer Reihe von Handlungs- und Redeszenen vollzieht. Gleich hier ist zu sagen, daß Chr. im Perceval die unmittelbare Veranschaulichung der Personen bevorzugt. E r charakterisiert lieber eine Gestalt durch ihre Reden und ihre Handlungen, als daß er eigens betont, diese Gestalt sei von solcher äußeren und inneren Besonderheit. Diese Charakterisierungsart paßt zum objektiven Aufbaustil, zum unmittelbaren Eingang der Szenen, zum Streben nach objektiver Spannung. Auch Percevals Wesen wird so dargestellt. Seine Naivität zeigt sich deutlich in seinem unbefangenen *) R . P u t z , a. a. O . , S. 3. P u t z h a t den G e d a n k e n g e h a l t des Y v a i n m i t bemerkenswerter G r ü n d l i c h k e i t d a r g e l e g t . Z u seiner M e t h o d e vgl. W i t t e , a. a. O . , S. 69f. D i e A b s c h n i t t e W i t t e s über die G e s t a l t e n in den beiden Y v a i n r o m a n e n (S. 1 0 0 — 1 8 9 ) sind v o r b i l d h a f t . W a s W i t t e , S. 130 i m A n s c h l u ß a n O t t o L u d w i g (a. a. O . , S. 122) über den Z u s a m m e n h a n g v o n F a b e l und F i g u r e n s a g t , s t e h t zu d e m eben E n t w i c k e l t e n n i c h t in W i d e r s p r u c h . Zur E r f a s s u n g der G e s t a l t e n im P e r c e v a l r o m a n ist auch Cohen, a. a. O . , S. 456—-473, heranzuziehen, allerdings u n t e r Bericht i g u n g mancherlei Ü b e r t r e i b u n g e n und E n t s t e l l u n g e n , v o n denen einige a u s d r ü c k l i c h z u r ü c k z u w e i s e n sein werden. — D e r B l i c k w i n k e l der folg e n d e n D a r l e g u n g v e r l a n g t eine teilweise W i e d e r h o l u n g v o n T a t s a c h e n , die schon früher einmal a u s g e f ü h r t w u r d e n .

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Staunen, seinen lebhaften Sinneseindrücken, seinen Fragen an den Ritter, der ihn seinerseits nicht für geistig gesund hält, da er von ihm sagt: „Ne set mie totes les lois" (V 236). Man tut gut, um der künstlerischen Leistung Chr.s gerecht zu werden, ein Beispiel aus der Heldenepik daneben zu stellen. Es bietet sich Guiot aus der C h a n e n de Willelme. Guiot ist eine Mischung von Kind und Held, seine Funktion ist die eines Ch. d. g.Helden, nur ins Physisch-Kleine projiziert. Perceval dagegen w ä c h s t aus der Naivität des Dümmlings in seine Mannes- und Heldenrolle hinein. Häufig begegnen Kindergestalten in den Heldenepen. „ E s ist selbstverständlich, daß das alte Epos für das Kind als K i n d keine Verwendung hat. Darum werden alle diese jungen. Helden eben schon als vollwertige H e l d e n dargestellt" 1 ). Chr. jedoch weiß den K n a b e n Perceval glaubhaft darzustellen. Er leiht ihm vor allem den Zug kindlicher, egoistischer Rücksichtslosigkeit. Das herrische ,,mon vuel" (V 847), ähnlich dem zu Gojrnemant gesprochenen „ J e vuel le vostre non savoir" (V 1546), ist für ihn bezeichnend, ebenso wie seine befehlende Härte gegen die Mutter: „ A mangier" fet il, ,,me donez! . . ." (V 491). Auch die Gleichgültigkeit Percevals gegenüber den Worten anderer (V 734ff., 859: ne prise un denier, 898f., 968: ne prise une cive, 971: ne Ii chaut) zeigt den gleichen Charakterzug. Am schärfsten kommt er in den Worten zum Ausdruck, mit denen Perc. den Roten Ritter anherrscht: „Comant, deable, est ce or gas, Danz Chevaliers, que vos me feites Qu'ancor n'avez mes armes treites ?" (V iogoff.). Er ist unfähig, den erschlagenen Ritter seiner Rüstung zu entledigen, aber er verlangt es gebieterisch von Yonet: „Feites donc tost", fet Ii vaslez, „Ses me donez sanz nul arest" (V ii46f.). So besteht denn der Eindruck, den Perceval auf die Ritter im Urwald macht, zu Recht; er ist wahrhaft eine „beste" (V 245). Auch Artus erscheint er als nices et bestiaus (V 1299). Diese ungebärdige Wildheit verleitet ihn auch beim Abschied von der Mutter zu grausamer Härte und wirft ihn in schwere, verhängnisvolle Schuld. Denn wenn ihn auch die Kunde von Artus und Rittertum mit unwiderstehlicher Macht in die Welt hinauslockt, so hätte er doch ») H. Dauer, a. a. O., S. 47.

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seine Kindespflicht nie in so schroffer Weise verletzen dürfen. E r ist sich auch, wie wir bereits festgestellt haben, über diese Schuld vollkommen klar. In seinem Verhältnis zur Mutter kreuzen sich egoistischer Ungehorsam und anhängliche, aber meistens ungeschickte und falsch verstandene Ausführung ihrer Lebensregeln. E r kann den wahren Sinn nicht fassen, handelt deshalb in leichtgläubiger Torheit und bringt Leid über alle, mit denen er zusammenkommt. Solange er sich nur bei Gruß und Namensfrage naiv auf die Mutter beruft (vgl. V 682ff., 1363, I 5 4 i f f . ) , oder ihrem Rat zufolge lernwillig sich Rittern zugesellt (V 1402ff.), handelt er im Sinne der Mutter. Aber schon im Zelt der schönen Dame richtet sein Ungestüm größtes Unheil an. Gegen den Sinn der mütterlichen Rede handelt er auch in der ersten Artusszene. Denn mit den Worten: Vos iroiz a la cort le roi, Si Ii diroiz qu'armes vos doint. De contredit n'i avra point (V 5 1 2 f f . ) hatte die Mutter auf friedliche Bitte, nicht auf so bösen Raub angespielt. Der leichtgläubige Perceval aber traut den spöttischen Worten Keus (V 1003ff.), der ihn die Waffen des Roten Ritters holen heißt. Dieses kindliche Mißverstehen von Ratschlägen und Ermahnungen ist keineswegs auf die vorritterliche Entwicklungsphase Percevals beschränkt. Auch von Gornements Lehren macht Perceval nicht immer rechten Gebrauch. Wohl fällt ihm dessen Mildegebot nach der Besiegung Anguinguerons noch rechtzeitig ein (V 2236 ff.), aber die Warnung vor überflüssigem Reden befolgt er schon zu Beginn der Blancheflorepisode zur Unzeit (V i855ff.). Perceval ist eben auch nach seinem Aufenthalt bei Gornemant noch kein endgültig Gereifter. Das alles beweist die folgerichtige Kontinuität, mit der Chr. die Entwicklung Percevals sich vollziehen läßt. Die höfische Unterweisung schafft dessen Wesen keineswegs vollkommen um, sondern unter dem jungen Ritter schaut noch die alte Unerfahrenheit des Witwensohnes hervor. E s kann also keine Rede davon sein, daß Perceval bei Gornemant sein na:ves Menschentum vollständig ablegt, um fürderhin nur höfisch-ritterlichen Impulsen zu folgen und daß eben diese Unterdrückung des natürlichen Temperaments in ihm die Katastrophe vor dem Gral bedingt. Derlei darzustellen, liegt Chr. ferne 1 ). Was Perceval vor und nach seiner Ritterwerdung nottut, ist die Unterscheidung dessen, was getan und was unterlassen, was gesprochen und was verschwiegen werden soll. Vor Blancheflor entsteht ihm aus seiner Stummheit kein Unglück, weil ihn die Schloßherrin selber zu seiner *) Das dürfte auch für Wolfram gelten, vgl. M. Gerhard, a. a. O., S. 19. Ehrismann scheint anderer Ansicht, vgl. Lit. Gesch., a. a. O., S. 2 5 7 f .

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Ritterpflicht bindrängt. Aber vor dem Gral ist er ohne fremden R a t , ganz auf sich angewiesen. Und da versagt er, weil ihm — psychologisch gesehen — wieder die rechte Einsicht fehlt. Das ist aber, wie schon oben gesagt wurde, nur Behelfsmotivierung. In Wahrheit gleicht dieser Fall keiner der vorangehenden unfreiwilligen Verfehlungen Percevals. Selbst die Tötung des Roten Ritters wird Perceval nicht zum Vorwurf gemacht, weil der unwissende Junker hier als Rächer Artus handelt, von seinem Gegner angegriffen wird und die „ritterlichen" Kampfregeln noch nicht wissen kann. Auf der Gralburg aber kann Perceval nicht fragen, weil ihn sein Schuldzustand daran hindert. Hier liegt mehr als ein bloßes Mißverstehen ritterlicher Unterweisung vor, nämlich eine sittliche Verschuldung: die psychologische Motivierung überdeckt nur die ethisch-religiöse. Das ist ein besonders deutliches Beispiel dafür, wie Ereignishandlung und seelische Handlung vom Dichter parallel geführt werden. Und damit sind wir wieder beim Hauptgesichtspunkt angekommen, der die Darstellung der epischen Figuren im Percevalroman zu leiten hat. Die Spannung in der Gralszene beruht ganz auf dem Gegensatz zwischen der Eindrucksgewalt der Geschehnisse und dem Schweigen Percevals. Wäre dieser frei von Schuld gewesen, dann hätte er fragen m ü s s e n . Das hätte seiner Erlebnisfähigkeit und seiner Wißbegierde entsprochen, so wie sie Chr. in den ersten Romanszenen, vielleicht in der Absicht, die Wirkung der Gralszene zu erhöhen, mit allen Mitteln unmittelbarer Veranschaulichung geschildert hatte. Auf diese entscheidenden Züge im Wesen Percevals ist jetzt näher einzugehen. Chr.s künstlerisches Bestreben ist es, Perceval als den w e r d e n d e n Helden vorzuführen. E r zeigt ihn, wie er der Wirklichkeit der höfischen und ritterlichen Welt mit dem Staunen des Erlebenden begegnet. Von dem Prachtzelt auf der Wiese ist er so überwältigt, daß er es für eine Kirche hält (V 653 ff.). Wie in der Urwaldszene wendet er seinen einzigen geistigen Besitz, die einfachen religiösen Lehren der Mutter auf, um des ungewohnten Eindrucks Herr zu werden. Am besten ist Chr. die Zeichnung des naiven Weltunkundigen zu Beginn der Gornemantszene gelungen: die an einer Wegbiegung auftauchenden Türme des chastel scheinen Perceval buchstäblich aus dem Boden zu wachsen (V i324ff.), so sehr ist er von deren plötzlichem Anblick überrascht und unfähig. Fremdes zu verstehen. E r bezieht eben alles auf seine eigene dürftige Erfahrung. Aber nicht lange mehr ist er auf sie beschränkt. Denn gerade in der mit so großem Erstaunen betrachteten Burg wird er von Gornemant, seinem Lehrer, in ritterliche Waffenübung und höfische Art eingeführt werden. Hier liegt wieder ein typisches Beispiel jenes Zurechtrückens der Handlungsteile für die Erlebnisfolge Percevals vor. Das Bild der Gornemantschen Burg bleibt dem Helden als ein ganz starker Erinnerungseindruck. Aber dieses Bild

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selbst hat nach seiner Ritterwerdung nicht mehr naive, sondern sachliche Züge. Der Entwicklungsfortschritt wird vom Dichter wieder nicht einfach berichtet, sondern unmittelbar durch die Genauigkeit, mit der Perceval dem besiegten Anguingueron das chastel beschreibt, vorgeführt : N'an tot le monde n'a maçon Qui miauz devisast la façon Del chastel qu'il li devisa (V 2295 ff.) l ). Denn Perceval wundert sich nicht nur über das Neue, das ihm in den Weg tritt, sondern er ist auch von einer ungeheueren Lernbegierde erfüllt. Auch sie gehört zur Charakteristik des „nice". VorGornemant erklärt und beweist Perceval, daß er nicht nachgeben will, bis er nicht möglichst rasch und vollkommen das ritterliche Kampfspiel beherrscht (V i45gff., I495ff.). Die Kämpfe, die er nachher zu bestehen hat, beweisen denn auch den Erfolg seines Strebens. In diesem ungestümen Drängen zum Rittertum zeigt sich d e r s c h i c k s a l h a f t e Z w a n g , der Percevais Entwicklung vorantreibt. Chr. hält hier wie immer mit eigener Ausdeutung des Geschehens zurück und schildert durch Handlung. Schon der Eindruck, den der Dümmling auf den fragenden Ritter zu Beginn des Romans macht (V 249ff.), deutet jene schicksalhafte Bestimmung an. Ebenso ist die immer wieder verhinderte Rückkehr Percevais zur Mutter zu werten. Sie ist keine kompositioneile Nachlässigkeit, sondern eine epische Veranschaulichung der Konsequenz, mit der Percevais Erleben von Stufe zu Stufe nach oben geleitet wird. Eine , , P r ä d e s t i n a t i o n " P e r c e v a i s soll nicht geleugnet werden, aber es ist ein unpassender Vergleich, wenn Cohen als Parallele zur Rücksichtslosigkeit Percevais die Härte Christi gegen seine Mutter heranzieht'). Das erscheint mir ebenso ein Überschreiten des Textes, wie die mystische Deutung der Ritterrüstung „de couleur rouge, qui est celle du sang, de la santé, du sacrifice et de la vie" 4 ). Die Präde1 ) Demgegenüber sagt (nach dem Text Hilkas) Perceval zu Blancheflor: Ne sai tote l'uevre asomer (V 1889). Das ist ein Widerspruch. Die Hs. P hat wohl das richtige: Toute l'oevre sai asoumer. Mais (V. L.). Nur das den V 1891 einleitende zweite mais klingt dann stilistisch und gedanklich gezwungen. Da aber auch die Prosa 1530 (a. a. O., S. 526, Z. 21—24) mit P übereinstimmt, wird man wohl diese bessere Lesart anzunehmen haben. Alfred Schulze bringt in seiner Besprechung der Hilka-Ausgabe „Textkritisches zum Percevalroman", Z f S L . 59 (1935), S. 75ff., nichts über die Stelle. Hilkas kleine (Auswahl)-Ausgabe (Sammlung romanischer Übungstexte, Bd. 26/27, Halle a. d. S., 1935), S. 54, beläßt den Text der Großen Ausgabe. 2 ) Cohen, a. a. O., S. 459f., „Perceval le Prédestiné." a ) Ebd., S. 460. 4 ) Ebd., S. 455. Für die Interpretation des Romans kommt es nicht auf die mögliche Geschichte solcher Beschreibungszüge an, sondern darauf, wie sie vom Dichter gemeint sind. Historische Ableitung und Deutung der dichterischen Tatbestände sind zweierlei.

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stination Percevais ist zur Genüge ausgedrückt in den Verheißungen der Jungfrau (V io39ff.) und der Überreichung des Schwertes auf der Gralburg (V 3167 ff.). Cohen hat überhaupt die Tendenz, in Chr.s Darstellung allegorische Züge hineinzuinterpretieren. Chr. ist viel zu sehr der Epiker lebendiger Handlungsbeschreibung, als daß er zur künstlerischen Blutleere der Allegorie hätte Zuflucht nehmen müssen. E r bleibt auch in seinem letzten Roman durchaus Erzähler. Nichts berechtigt uns, die spätere mystische Gralauffassung schon in den Roman Chr.s vorzuverlegen. Die rote Rüstung ist erst vom Verfasser der Queste del Saint Graal symbolisch gedeutet worden. Dieser Roman ist j a auch in anderer Absicht geschrieben als der Chr.s. Der erzählerische Zweck tritt (trotz großer unbezweifelter poetischer Schönheiten) in den Hintergrund. Wichtig ist dem Queste-Verfasser in erster Linie die abstrakte Systematik des Gnadenproblems, die, wie Etienne Gilson nachgewiesen hat, von bernhardinischer Mystik beeinflußt ist 1 ). Bei Chr. jedoch kommt man mit solchen Gesichtspunkten nicht weit. Denn Perceval ist nicht Sinnträger einer theologischen Idee, sondern epische Figur, nicht allegorische Abstraktion, sondern sich entwickelnder (allerdings im Sinn der ritterlichen Ethik typisch gezeichneter), zu hohem Schicksal berufener Held. Seine Sonderart tritt besonders klar in der Blancheflorepisode zutage. Diese zeigt in erster Linie d i e W a n d l u n g d e s H e l d e n vom wilden einfältigen Naturmenschen zum höfischen Ritter. Das Verhalten Percevais im Zelt und beim nächtlichen Besuch Blancheflors, seine Erlegung des Roten Ritters und seine Zweikämpfe mit Anguingueron und Clamadeu wirken als Kontrastszenen von höchster K r a f t der Verdeutlichung. Die Liebe ist im letzten Roman Chr.s nur Etappe einer Entwicklung, nicht Nerv der Handlung. Deshalb verzichtet der Dichter auf die Schilderung ihrer Entstehung. Natürlichkeit und Zartheit der nächtlichen Szene (V 1947ff.) haben im ganzen Werk Chr.s nicht ihresgleichen 2 ). Die Handlung bildet wiederum eine genaue Resonanz zum Charakterzustand des Helden. Hier liegt etwas anderes vor als die höfische Minne: der junge, schüchterne, eben erst den Werten einer geistigen Kultur erschlossene Held wird, ohne daß er sie sucht, von der Liebe überrascht. Daß Chr. die Szene so aufgefaßt wissen will, besagt ihre Einleitung. Von puceles und dames heißt es da, . . . il n'an savoit nule rien, N'il n'i pansoit ne po ne bien (V 1 9 4 1 ! ) . Dazu paßt auch, daß Blancheflor nicht als Liebende, sondern als Schutzsuchende zu ihm kommt. Nicht weniger bezeichnend ist, daß 51

') „ L a mystique de la grâce dans la Queste del saint Graal", Romania (1925)- Vg1- insbesondere S. 331, 343—347. *) Cohen, a. a. O., S. 404, findet völlig willkürlich die Stelle „ambigu".

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die sonst üblichen Liebessymptone bei der Beschreibung der kühnen Blancheflor in viel elementarerer Weise als Angstsymptome gegeben sind (V 1962ff.). Elementar ist auch die Art, wie Perceval Blancheflors Liebe gewinnt: kein langes Ausweichen und Verstecken, Zweifeln und Schwanken, sondern eine feste Abmachung, wonach dem siegreichen Kämpfer die „druerie" (V 2104) Blancheflors als Belohnung zufallen soll. Wieviel epischen Takt hat Chr. bewiesen, in diesen Entwicklungsroman nicht die sinnliche Glut Erecs, die Preziosität Alixandres, die schwache Unterwürfigkeit Lancelots, oder das Sehnen des sich nach Laudine verzehrenden Y v a i n einzuführen, sondern die Primitivität und Naivität eines ersten E r lebnisses. Aber Perceval verharrt nicht neben Blancheflor. Eine einzige Zeile nur verwendet Chr. zur Schilderung ihres Liebesergötzens (V 2913). Und dann zieht es Perceval schon wieder von Belrepeire fort. Aber die Erzählung verläuft auch hier anders als im Erec oder Yvain, wo ein Konflikt von Frauen- und Rittertum die Axe des Romans bildet. Derlei wird im Percevalroman nicht einmal erwähnt. Hier käme höchstens ein Widerstreit von Liebe und Sendung, Pflichten der Minne und Auserwählung zum Gral in Frage. Aber die Schärfe einer solchen Antithese lag gar nicht im Sinn des gradualistisch verfahrenden Chr. Da außerdem Perceval ohne sein Wissen auf die Gralburg kommen muß, gebraucht Chr. jene Scheinmotivierung, die wie eine Klammer die ersten Szenen der Percevalhandlung zusammenhält: die Sehnsucht nach der Mutter (V 2 g i 7 f f ) . Auch sie ist kein höfischer Zug, ebensowenig wie die Liebe Percevals höfische Liebe ist und ebensowenig wie zahlreiche noch zu besprechende ethische und religiöse Züge des Romans sich in das höfische Sittenbild einfügen lassen. Perceval ist wirklich in vielem Märchenheld und das nicht nur, weil er auf märchenhafte Ursprünge zurückweist, sondern weil ihn sein Dichter so g e w o l l t hat. Wenn wir von hier aus zurückblicken auf den Verlauf der Handlung, so kann kein Zweifel mehr über die Größe und Bedeutsamkeit der dichterischen Leistung Chr.s im Percevalroman herrschen. Sie besteht darin, daß die Szenenreihe den Entwicklungsstufen des Helden konform ist, daß sich Ereignishandlung und Entwicklungshandlung tatsächlich entsprechen. Zwar liegt kein äußeres Porträt des Helden vor (höchstens die Verse 974 f. Cler et riant furent Ii oel An la teste au vaslet sauvage wären anzuführen). Dafür aber ist das vereinfachte seelische Porträt um so einprägsamer. E s wächst aus den paar Zügen der kindlichen Rücksichtslosigkeit, des natürlichen Kraftbewußtseins, der Naivität und der schicksalhaften Erwähltheit zur Einheit zusammen. Die ersten Szenen des Romans verdanken ihren poetischen Reiz gerade diesem Ineinander von Kindlich-Primitivem, Schicksalhaftem und

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Zeitlich-Höfischem. Nach all dem Ausgeführten versteht es sich von selbst, daß die Percevalgestalt nur deshalb so viele epische Werte vermitteln kann, weil dem Dichter ihre E i n h e i t in hervorragendem Maße geglückt ist. Auf die Blancheflorepisode folgt die Gralszene, deren inhaltliche Probleme nicht in das Gebiet der Komposition fallen. Perceval ist der Auserlesene, dem die Gnade zuteil wird, den Gral und die blutende Lanze zu sehen. E r könnte dem verwundeten Fischerkönig zur Gesundheit und damit zu neuer Herrscherkraft verhelfen (V 3586ff.) und großes Unheil abwenden (V 359if., 4675ff.). Aber er unterläßt die Frage, wen man mit dem Gral bedient und warum die Lanze immerfort blutet. Warum Perceval der ihm zugemessenen Erlöserrolle nicht gerecht wird, ist bereits in eingehender Vergleichung mit Wolframs Schuldmotivierung auseinandergelegt worden. Die Begegnung mit der Base" bringt Perceval die erste Aufklärung über den Gralkönig (V 3507ff.) und eine erste Einsicht in die Ursache seines Fehlschlages (V 3581 ff.). In diesem Gespräch errät der Held seinen Namen (V 3572ff.). So unbefriedigend und unverständlich auch das Kompositionsmittel der späten Namensnennung hier verwendet worden ist (es könnte ein nicht weiter verarbeiteter Märchenrest vorliegen), so bedeutsam ist die Tatsache, daß Perceval gleichzeitig zum Bewußtsein seines Namens (damit seiner „Individualität") und seiner Schuld kommt. Das Ende des wichtigen Gesprächs zwischen Perceval und der Base scheint eine Lockerung des Aufbaugefüges zu bedeuten. Die früher an den Gelenken der Handlung verwendete Motivierung der Sehnsucht nach der Mutter ist hinfällig geworden. Perceval kehrt auch nicht, wie er es versprochen hatte (V 296off.), zu Blancheflor zurück. E r scheint ein Abenteuersucher wie die anderen Artusritter zu werden: Que querre et ancontrer voloit A v a n t u r e et chevalerie (V 4 i 6 6 f . ) . Aber schon die folgende Szene, in der er die Geliebte des Orguelleus wieder in ihr Recht einsetzt, führt seine Entwicklung weiter, denn sie zeigt ihn als Ritter auf der Stufe des Yvain. Hatte er in den Belrepeireszenen um die „druerie" Blancheflors gekämpft, so bewährt jetzt sein Rittertum den ihm innewohnenden rein ethischen Sinn, indem es für die Wiederherstellung fremder Ehre eingesetzt wird. Diese Szene hat außerdem (wie schon früher zu zeigen war) die Aufgabe, das Geschehen wieder mit der Artushandlung in Verbindung zu bringen. Diese selbst schließt dann damit, daß die Prophezeiung des Narren in Erfüllung geht und Keu bestraft wird (V I256ff., 4469ff.). Damit endet gleichzeitig der erste Romanteil. Mit der Verfluchungsszene beginnt eine neue Phase im Leben Percevals. Sein Ritterstreben ist in Erfüllung gegangen: er ist nicht B. z. Z.R.Ph. Heft 88. Kellermann

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nur Ritter geworden, sondern auch gefeiertes Mitglied des Artushofes und Freund Gauvains. Aber den höchsten Sinn seines Lebens hat er verfehlt. Sein höfischer Glanz leuchtet nur kurze Zeit auf und dann bricht die Erkenntnis seiner Schuld von neuem, diesmal mit der Verwünschung durch die häßliche Botin über ihn herein (V 4646 ff.). Früher war sein Leben schicksalhaft auf das Ereignis der Gralszene zugetrieben. Jetzt wird Perceval zum bewußten Gralsucher (V 4727 ff.). Kein gewöhnlicher Ritter will er sein, der das Abenteuer um der Ehre und der Kampfeslust willen sucht, sondern er sieht sich eine andere Aufgabe gesetzt. Verschieden ist sein Ziel von dem Gauvains, Girflets, Kahedins, die die von der Botin verkündeten Abenteuer bestehen wollen. E r strebt nach ganz anderem: E t Percevaus redit tot el (V 4727). Zu beachten ist auch, in welch verschiedener Weise Perceval und Gauvain mit dem Gralgeschehen verknüpft sind. Die Wahrheit über Gral und Lanze zu erfahren, ist für Perceval nach seiner Verfluchung alleiniger Sinn des Streitens (V 4728ff.). Das Mißlingen zerstört seinen Seelenfrieden und wirft ihn in noch tieferes seelisches Leid. Gauvain dagegen wird die Lanzensuche als ritterliche Leistung befohlen (V 6 n o f f . , besonders V 6122—6128). Aber weitere Verpflichtungen und Abenteuer schieben die Durchführung dieser Aufgabe immer wieder in den Hintergrund (über die Gauvain weiterhin zugedachte Handlungsrolle hat der Dichter keine Voraussagen gegeben) 1 ). Damit aber sind wir bereits bei der Analyse der Gauvaingestalt angekommen, denn was die Interpretation der letzten Percevalszene beim Einsiedler betrifft, so ist sie bereits im Kapitel über die Motivierung zu geben gewesen. Ihre übrigen inhaltlichen Probleme zu besprechen, wird im Abschnitt über das Weltbild des Romans Gelegenheit sein. Neben Perceval ist G a u v a i n Held des Romans. Die Verschiedenheit der beiden Gestalten zeigt sich schon in der Art, wie sie eingeführt werden. Perceval wächst von der Anonymität zur Bewußtheit, Gauvain wird sofort genannt (V 4086). Sein Name ließ sich für das Publikum ohne weiteres mit einer Menge fester Charakterzüge und bestimmter Geschehnisse in Verbindung bringen. Was ihn zur Frage nach Perceval veranlaßt (V 4o86ff.), ist die Kunde von dessen Ritterschaft (V 4046 ff.). Artus erzählt ihm anschließend die Besiegung des Roten Ritters durch den Dümmling. Für Rittertaten und Kraftleistungen ist Gauvain eben immer interessiert. In keinem der vier Artusromane Chr.s wird er so spät eingeführt. Es entspricht der Tatsache, daß im letzten Roman des Dichters der Artushof nicht mehr seine frühere Bedeutung besitzt. Während die Handlungen des Erec, Lancelot und Y v a i n am Artushof beginnen, nimmt der*) Über die Probleme des Romanschlusses vgl. oben, Kapitel II.

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Percevalroman seinen Anlauf in der Märcheneinsamkeit des Waldes. Die Verbindung mit der Artushandlung muß erst kunstvoll hergestellt werden. Sie ist Parallelschicht des Geschehens, nicht tragender Untergrund. Die Gauvainhandlung dagegen beginnt wie ein richtiger Artusroman. Sie ist in der übrigen Technik Chr.s angelegt. Der Dichter hat es vermieden, Gauvain schon beim ersten Besuch Percevals am Artushof auftreten zu lassen. E r stellte nicht den unfertigen Dümmling gegen die Sonne der Ritterschaft Gauvain (Yvain, V 2400ff.). Perceval muß als Ritter gleichberechtigt sein, wenn er Gauvain kennenlernt. Ein Ritterpaar Gauvain-Perceval wollte Chr. schaffen, genau so wie er im vorhergehenden Roman die Waffenbrüderschaft der beiden Freunde Y v a i n und Gauvain vorgeführt hatte. Kein Zweifel, daß bei Anwesenheit Gauvains in der ersten Artusszene die Handlung eine andere Richtung genommen hätte. Keus Ironie und Verstellung hätten auf den leichtgläubigen Dümmling, dem es an der Einsicht in den wahren Sinn von Lehren und Worten gebrach, anders gewirkt, wenn Gauvain der Spötterei des Seneschalls tatkräftig entgegengetreten wäre. Denn ebenso wie im Y v a i n ist im Perceval Gauvain der einzige, vor dem Keus Hohnreden verstummen (V 4404ff.). Überhaupt wäre der Becherraub des Roten Ritters nicht ungerächt geblieben, wenn nicht die tapferen Ritter der Tafelrunde beim Mahle gefehlt hätten. Die späte Nennung Gauvains ist also vom Dichter wohl begründet, und es ergibt sich als Tatsache, daß Gauvain schon durch seine Abwesenheit die Richtung der Handlung beeinflußt 1 ). Schon in der Szene, in der Gauvain als Bote zu Perceval geht, entsteht ein lebendiges Bild von seiner geistigen Überlegenheit, seinem höfischen Anstand und seinem ruhigen ritterlichen K r a f t bewußtsein. Von dem Draufgängertum Sagremors und der Selbstüberschätzung Keus hebt sich seine feine Zurückhaltung scharf ab (V 4432ff.). Den Inhalt des Gauvaingeschehens gibt Chr. von vorneherein an: Des avantures qu'il trova M'orroiz conter mout longuemant (V 4814f.). Eine schicksalsmäßige Führung, eine innere Entwicklungslinie liegen folglich nicht in der Absicht des Dichters. E r baut die Gauvainabenteuer so auf, daß er den Helden mit Verpflichtungen und Schuld belastet, die teilweise außerhalb des Romans liegen. Über die Berechtigung dieser Vorwürfe wird nichts Klares gesagt. Aber von dem Einhalten seiner Vereinbarungen wird Gauvain immer wieder abgedrängt, weil andere Abenteuer neue Schwierigkeiten auf die alten häufen. So sei wiederholt: ist das Kompositionsprinzip der Percevalhandlung die stufenmäßig, der inneren und l ) Ähnlich verwertet Chrestien Guenievres Abwesenheit im Yvain, vgl. Witte, a. a. O., S. 105. 10*

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äußeren Entwicklung des Helden parallel angelegte, in einer deutlichen Steigerung geordnete Szenenreihe, so bestimmt den Aufbau der Gauvainhandlung die Verschlungenheit der Abenteuer, in denen sich beständig neue Spannungen und Lösungen verflechten. In Perceval entfaltet sich eine Entwicklung, Gauvain dagegen wird als ein in seiner Prägung konventioneller Charakter des Artuskreises einer Welt des Abenteuers und des Märchenwunders gegenübergestellt. So war es schon früher möglich, für die geistige Verschiedenheit der beiden Romanteile auch einen Unterschied im Kompositionsprinzip festzustellen. Bezeichnend für jene geistige Verschiedenheit ist die Charakteristik Gauvains als Minneritter. Drei Frauen kreuzen seinen Weg. E r läßt sich von den ersten Minnegefühlen der Pucele as Manches Petites zum Eingreifen in das Turnier veranlassen; er ist von rasch entflammtem sinnlichem Begehren zur Schwester des Königs von Escavalon ergriffen, er verfällt dem Bann der Orguelleuse de Logres. Vielleicht hatte auch Chr. wie Wolfram die dauernde Verbindung der Orguelleuse mit Gauvain und damit eine Steigerung der drei Liebesverhältnisse im Auge 1 ). Der ritterliche Schutz, den Gauvain der Pucele as Manches Petites gewährt, stellt eine enge Handlungsbeziehung zwischen Gauvaingeschehen und Tintaguelepisode her. Freilich hat Gauvain seine kindliche Freundin wieder vergessen, als er der Schwester seines Feindes (eine Konzentration der Spannung, parallel der Liebe seines Todfeindes Guiromelant zu seiner eigenen Schwester Clarissant) ewige Treue verspricht (V 5649ff. ; aber V 5828f.). Die beiden werden überrascht und von der aufgehetzten Bürgerschaft belagert. Der Konflikt zwischen Rache und Gastfreundschaft wird dann in der Weise gelöst, daß die Verpflichtung Gauvains, mit Guiganbresil zu kämpfen, um ein Jahr verschoben wird. Man sieht, daß auch in den Gauvainepisoden eine Parallelführung von Charakter und Handlung besteht. Gauvains Abenteuerlust tritt als weiterer beherrschender Zug in seiner Zeichnung hervor. E r schreckt vor keiner Gefahr zurück: „Cist retorners seroit vilains. J e ne ving pas por retorner. L ' a n le me devroit atorner A trop leide recreantise Quant . . . (V 6 6 i 6 f f . ) ^ . Sein Mut zeigt sich auch in der Unerschrockenheit, mit der er selbst dem Guiromelant seinen Namen nennt (V 883off.). Nur vor l ) Vgl. Ehrismann, Lit. Gesch., a. a. O., S. 231. *) Getreu der unwissenschaftlichen Grundabsicht seines Buches „Réparons cette grande et cruelle injustice, reprenons à l'étranger notre bien, ne lui laissons pas le soin d'être seul à révérer et à conserver les merveilles de notre art médiéval" (S. 513) hat Cohen Stellen wie die oben zitierte chauvinistisch mißdeutet (S. 465, 475).

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und während seiner schwierigsten Leistung, dem Wunderbettabenteuer, scheint er ein wenig zu schwanken (V 7752, 7840^). Am sinnfälligsten aber ist G a u v a i n s h ö f i s c h e L e b e n s a r t . E r beweist sie schon in seiner Rede. E r besitzt die hautesce in höchstem Grade. Seine Worte sind in vollendet höfisch-rhetorischem Stile gehalten (z. B . V 7971 ff.). E r spricht eben Come Ii plus cortois del mont (V 7970). Seine Höflichkeitsformeln weiß er zur rechten Zeit anzubringen und sie mit den entsprechenden Gesten zu begleiten (V 792of.) ; seinen Gruß drückt er mit einer religiösen Formel aus (V 6690, 8544ff.), und in dem Gespräch zwischen ihm und Yguerne im Wunderschloß (V 8114—8229) beginnt Gauvain von seinen 1 2 Redeeinsätzen 1 1 mit der Anrede „ D a m e " . Am meisten offenbart er seine vornehme Zucht in seinem Umgang mit der Orguelleuse. Auf ihre Schmähungen antwortet er mit einem Hinweis auf die höfischen Anstandsregeln (V 7200ff.). In seinem Mund wirken die pleonastischlitotischen Ausdrücke der Rede echt und aufrichtig (V 7289 : Or ne vos griet; V 7506: s'il ne vos poise). Überhaupt sind sämtliche Gespräche auf der Wunderburg Musterbilder des höfischen Dialogs. Gauvain ist die epische Figur, die die gewundene, gezierte Rededialektik, die Chr. am bewußtesten im Cliges und im Y v a i n gepflegt hatte, auch im Percevalroman weiterführt. Gauvains Handeln ist nicht weniger mustergültig im Sinn höfischer Menschlichkeit. Die Kranken und Armen sprechen von ihm als von dem, . . . don toz Ii biens nos venoit Par aumosne et par charité (V 92iof.). In diesem Betracht also ist Gauvain kaum anders gezeichnet als Y v a i n im vorangehenden Roman. Es kommt sogar vor, daß er durch seine Hilfsbereitschaft in große Schmach gerät. Als Beschützer der puceles und als Vollstrecker der Satzungen des Artushofes hat er sich den Haß des Greoreas zugezogen (V 7 i 2 i f f . ) , der ihm seine ärztliche Hilfeleistung durch den R a u b seines Pferdes entgilt (V 7 i 3 7 f f . ) . Gauvain ist so sehr auf Wahrung der corteisie aus, daß sein Benehmen öfter an Schwäche grenzt. Wie keine andere Romanfigur Chr.s zeigt dieser Gauvain des Percevalromans die Grundbedingung höfischen Handelns: das Herabstimmen der elementaren Affekte auf die mittlere höfische Gefühlsebene. Gauvain ist nicht fähig, für Beleidigungen Rache zu nehmen. Dem Guiromelant vergibt er sein Mißtrauen sofort (V 8718f.). E r zeigt ferner keine Lust, an der Orguelleuse die Strafe zu vollziehen: J a le Fil Damcdeu ne place Que vos por moi enui aiiez ! (V 8966f.)

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Wenn er wirklich einmal im Zorn reagiert, dann entschuldigt er sich, selbst vor einem Knappen, der ein Ausbund aller Häßlichkeit ist (V 7031 ff.). Gauvain verkörpert in der Tat die hötischen Werte, die Chr. im Prolog nennt: die justise, die leautö, die largesce und den Haß der vilenie 1 ). Aber trotz aller Kunst der Personenbeschreibung und aller noch so gut gelungenen Verdeutlichung durch Reden, Affekte, Gesten und Handlungen ist die Kunst des Individualisierens gering. Zu sehr sind die Gestalten von typischen Gefühlen, von typischen Ideen beherrscht. So gleichen sie den Figuren auf mittelalterlichen Tafelbildern, die keine Beziehung zum Raum gewinnen können, genau so wie die Landschaftsbeschreibungen des Romans jenen Hintergründen gleichen, denen trotz der feinen Pinselführung des Malers das Wichtigste, die Atmosphäre, fehlt. Die übrigen Gestalten des Romans wollen wir kurz nach dem Anteil, den sie an der Handlung haben, skizzieren. Da sind vor allem die Personen des Artuskreises zu nennen. A r t u s selbst wird oft in starken Affekten gezeigt: wie er über die Abwesenheit Percevals betrübt ist (V i282ff., 2878ff., 4078ff.), so auch über die Gauvains (V 9220ff.). Die besiegten Ritter, die von Perceval zu ihm geschickt werden, nimmt er gastlich und gleichberechtigt bei sich auf (V 2go8f., 4o82ff.). Von einem dieser Unterlegenen, Clamadeu, wird er begrüßt als Le meillor roi qui soit an vie, Le plus franc et le plus jantil . . . (V 2832!.). E r ist der Mittelpunkt der höfischen Welt und wacht über die Innehaltung ihrer ethischen Grundgesetze. E r erscheint greisenhafter als im Y v a i n (von seiner aktiven Rolle im Cliges ganz abgesehen). Nichtsdestoweniger hat er auch im Percevalroman eine wichtige Rolle in der Entwicklung des Geschehens. Dieser Anteil an der Handlung ist zweifach. Seine „Schlaffheit vor dem frechen Auftreten des Roten Ritters, der Wein auf Guenievre verschüttet und mit dem Goldpokal vom Tische des Königs unverfolgt verschwinden darf" 2 ), ist indirekt die Ursache für Percevals Kampf und die Gewinnung der Rüstung; der Aufbruch des Königs Perceval entgegen (V 4i33ff.), die Aufforderung, die er Sagremor 8 ), J ) Genaueres über das höfische Ethos s. im nächsten Kapitel. Chr. liebt es, Gauvain mit komischen Situationen in Verbindung zu bringen. Vgl. seinen mißglückten Übergang über die Schwertbrücke im Lancelot (V 5i25ff.) oder seine Rolle als Turnierzuschauer in der Tintaguelepisode. Aber auch diese Komik bleibt innerhalb des geistigen Rahmens des Romans, belebt den Bericht und rüttelt in keiner Weise an den höfischen Grundlagen des Geschehens. 2 ) Hilka, S. X X X V I I . s ) Humoristisch wirkt es, wenn Sagremor ins Zelt des Königs stürmt, ihn aufweckt und von ihm den Auftrag bekommt, den fremden Ritter an den Hof zu holen (V 423off.).

VI. Die epischen Figuren K e u und schließlich Gauvain erteilt, Perceval zu holen, bringen diesen wieder an den Hof zurück, wo ihn dann die Verfluchung der Botin trifft. A m Schluß des Romanfragmentes soll Artus mit seinem Hof das Publikum zum Kampf zwischen Gauvain und dem Guiromelant bilden. Diese zweite Artusszene hätte sicher eine kompositioneile Bedeutung erster Ordnung gehabt. Gewiß kann man die Rolle Artus in den höfischen Epen mit der Karls des Großen im Rolandslied vergleichen. Die epische Funktion der beiden weist zahlreiche Berührungspunkte auf. Auch Artus ist die „Personifikation eines Prinzips" 1 ). Aber das Prinzip des Rolandsliedes, imperialistischer Kampf gegen dasHeidentum, macht den fränkischen Kaiser ganz anders zum Beweger der Handlung als Artus, der, wie F . Schürr treffend sagt, „sozusagen nur seinen Hof herleiht als Sammelplatz der tüchtigsten R i t t e r " 2 ) . Die T y p i k der Artusgestalt mag auch noch daraus ersehen werden, daß sie auffallende Ähnlichkeit mit der eines Königs besitzt, dessen Züge auf völlig anderem Boden zustande gekommen sind, dem König Gunther im Nibelungenlied. Dieser ist im ersten Teil des Epos in der Charakteristik Körners „ganz der typische König der Spielmannsepen, in seiner Unselbständigkeit und Schwäche fast schon ins Humoristische hinüberspielend: seine Tätigkeit beschränkt sich auf die Repräsentation . . . Seine königliche Würde jedoch versteht er gut zur Wirkung zu bringen, sei's durch Freigebigkeit, sei's durch Großmut" 3 ). Freilich ist Artus noch mehr Schemen, noch weniger Persönlichkeit. Der germanische Wirklichkeitssinn hat eben doch dem burgundischen König plastischere Deutlichkeit verliehen. G u e n i e v r e spielt nur einmal eine Rolle in der Handlung, als sie aus Zorn über das Benehmen des Roten Ritters sich in ihr Gemach eingeschlossen hat. Sie ist so selten erwähnt, daß der Dichter im ganzen Roman nicht einmal Gelegenheit nimmt, ihren Namen zu nennen. A m Schluß des Romanfragmentes allerdings führt Chr. den Blick wieder zu ihr hin. Nur einer Stelle von hohem poetischen Reiz muß gedacht werden. Der Dichter läßt Artus Mutter, Tochter und Enkelin auf dem Wunderschloß auftreten. Und wie nun Yguerne bei ihren Fragen nach dem Wohlergehen der verschiedenen Angehörigen des Hofes auch zur Königin kommt, da stimmt Gauvain einen Lobeshymnus (von 23 Zeilen) auf Guenievre an (V 8176—98). Sie ist die berühmteste Frau nach R a u m und Zeit, die die ganze Welt im Edlen unterweist, die Quelle alles Guten, die Hilfe aller Bedrängten, die Trösterin aller Traurigen. E s sei nur darauf hingewiesen, wie weit dieses Idealbild höfischer Sitte absteht v o m Charakter der sinnlichen Ehebrecherin im Lancelot. Emil Winkler, Das Rolandslied (Repetitorien zum Studium altfranzösischer Literaturdenkmäler, Bd. 2, Heidelberg 1919), S. 7. 2 ) Schürr, a. a. O., S. 422. 3 ) J . Körner, a. a. O., S. 66.

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K e u greift schon mehr in den Gang der Handlung ein. Sein Spott bringt Perceval dazu, den Roten Ritter zu töten und dessen Rüstung zu rauben. In seinem Zorn hat er die Jungfrau und den Narren am Hof gezüchtigt. Die Prophezeiung, daß er dafür gestraft werde, bewahrheitet Perceval. Sein Verhalten hat also Anlaß zur Verbindung der Perceval- und Gauvainhandlungen gegeben. Seine Darstellung ist durchaus formelhaft; sein Hohn, seine bestrafte Eitelkeit sind Leitmotive der gesamten Artusepik. Es genügt auf das bei Schürr, Putz, Witte und Cohen 1 ) Gesagte zu verweisen. Wie im Erec und Y v a i n , so wird Keu auch im Percevalroman vom Titelhelden besiegt und gedemütigt. In jedem der drei Romane erfährt er erst nachher, wer sein Besieger war. Was die übrigen Personen des Romans betrifft, so ist wiederum ihre Typik hervorzuheben *). Wichtig für die Beurteilung der Nebenpersonen ist ihr ,,Funktions"-Charakter, über den schon anläßlich der Romanmotivierung zu sprechen war. Da die meisten dieser Gestalten nach ihrem Auftreten in einer Episode wieder verschwinden, so kommt es dem Dichter meist gar nicht darauf an, sie in ihrer Ganzheit zu zeigen. Ihre epische Zeichnung beschränkt sich demnach auf ihre Handlungsrolle, ihre Affekte sind der jeweiligen Situation angemessen. Die Beispiele dafür sind sehr zahlreich. So hat Chr. den R o t e n R i t t e r als den schlimmsten Feind Artus bezeichnet (V 945 ff.) und ihn durch den Becherraub genügend charakterisiert. Seine äußere Erscheinung wird in zwei Zeilen gegeben : E t ses armes bien Ii seoient, Qui totes vermoilles estoient (V 871 f.). D e r O r g u e l l e u s de l a L a n d e ist der unbarmherzige Rächer (vermeintlicher) Untreue. Rührend ist der Gefühlskontrast, als ihn Perceval von der Unschuld seiner Geliebten überzeugt hat. Da weicht die grausame Härte tiefem Bedauern über seine Verfehlung. Im Grunde war alles nur Ausfluß einer tiefen Liebe, denn der Dichter nennt ihn: Cil qui plus l'amoit que son oel (V 3943). E r tritt an zwei wichtigen Punkten der Handlung auf, beide Male vor der Ankunft Percevals am Artushof. Auch der Sinn der G o r n e m a n t f i g u r beschränkt sich auf e i n e Handlungsrolle. Bei ihm wird Perceval zum Ritter. Gornemant ist ganz höfische Idealfigur und makelloser Edelmann. E r wirkt ehrwürdig, als er die religiöse Zerel

) Schürr, a. a. O., S. 422; Putz, a. a. O., S. iof.; Witte, a. a. O., S. 102f.; Cohen, a. a. O., S. 468f. Das Mißverhältnis zwischen Keus Anmaßung und seiner Erfolglosigkeit hat Chr. komisch ausgewertet. *) Zur philosophischen und geistesgeschichtlichen Begründung der „typischen" Darstellungsform vgl. Brinkmann, a. a. O., S. 82—85.

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monie des Ritterschlags vollzieht (V 1624ff.). Seine Lehren ersetzen im Helden naive Kindlichkeit durch höfischen Anstand. Von der Bedeutung seines Schweigegebotes für die Schuldmotivierung ist schon die Rede gewesen. C l a m a d e u u n d A n g u i n g u e r o n haben verschiedene „Funktionen". Das Motiv, eine Dame (Blancheflor) durch Kampf erringen zu wollen, ist altes Gemeingut des vorhöfischen Ritterromans. Die Befreiung Blancheflors durch die Besiegung der beiden hochberühmten Ritter ist Percevals erste heldische Leistung. Clamadeu und Anguingueron sind aber weiterhin auch die ersten Ruhmesboten des jungen Ritters und halten so die Handlung (ebenso wie später der Orguelleus) in Verbindung mit dem Artushof. Von den drei Rittern, die noch zu erwähnen sind, ist jeder seiner Handlungsrolle gemäß vom Dichter verschieden schattiert. M e l i a n t de L i z ist der undankbare Pflegesohn, der auf die Einflüsterung von Tiebauts Tochter hin gegen seinen Nährvater ein Turnier beginnt, aber in Gauvain seinen Meister findet. G r e o r e a s ist der typische Schurke voller Tücke (V 7 i i 8 f f . ) , ein Flecken der Gemeinheit im Gesamtbild des Romans, in dem die hellen und harmonischen Farben weitaus überwiegen. D e r G u i r o m e l a n t schließlich ist als unüberwindlicher Ritter von wilder Heftigkeit und höchster Schönheit dargestellt, der von seinem Wert und seiner K r a f t überzeugt ist (V 854off., 8623ff., 87goff.). Seine Feindschaft mit Gauvain ist ein wichtiges Moment der Handlung. Da im Gauvainteil die Episoden viel selbständiger sind als im Percevalteil, so sind dort die Nebenfiguren noch mehr Träger eines einzigen Affektes 1 ). Über die Gestalt des Fischerkönigs ist an anderer Stelle zu handeln. Die F r a u e n g e s t a l t e n des Romans sind etwas differenzierter als die Ritter. Freilich fehlt dem Roman eine weibliche Mittelpunktsfigur wie Enide, Fenice, Guenievre oder Laudine. Das hängt mit der Rolle der Liebe im Aufbau der Handlung zusammen. Die Liebe zu B l a n c h e f l o r ist j a nur eine Episode in der Entwicklung Percevals. Der Weg des Helden führt auch von der Herrin von Belrepeire fort. Ob der Sehnsucht des Minners in der zarten und symbolischen Blutstropfenszene die Verwirklichung am Schluß des Romans gefolgt wäre, können wir vermuten, wissen es aber nicht. Blancheflors Auftreten hat Chr. zum Anlaß einer ausführlichen Schönheitsbeschreibung (V 1795 ff.) genommen. 1 ) Mit dem Charakter unseres Romans als Artusroman hängt es zusammen, daß manche Ritter feste Typen sind, die den Spielern der Handlung von vornherein bekannt sind. So ist der Ruhm des Guiromelant schon bis zu Gauvain gedrungen (V 8628 ff.). Solche für den modern denkenden Leser befremdliche Erzähltatsachen gehören zum Erscheinungsbereich des „mythischen Analogon". Wenn man über die Stoffund Formeinheit der Artusromane einen Begriff bekommen will, so muß man die äußerst reichhaltige Zusammenstellung typischer Züge lesen, die M. Klose, a. a. O., S. 79—103, gibt.

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D i e T y p i k d e r m i t t e l a l t e r l i c h e n B e s c h r e i b u n g wird durch nichts klarer erwiesen als durch die Tatsache, daß sie mit besonderer Genauigkeit auf die Extreme der Personenschilderung eingeht, auf die Beschreibung des unübertrefflich schönen oder des unüberbietbar häßlichen Wesens. Für die erste liegt im Percevalroman in der Beschreibung Blancheflors ein Beispiel vor, das der Dichter als eine besondere Leistung auf diesem Gebiet betrachtet wissen will; für die zweite in der Beschreibung der häßlichen Botin (V 4614 ff.) oder des häßlichen Knappen (V 6987 ff.). Indessen verdanken solche Beschreibungen nicht kompositionellem, sondern stilistischem Wollen ihr Dasein 1 ). Die hyperbolischen Wendungen an solchen Stellen stammen aus der poetischen Tradition. So heißt es an der betreffenden Stelle von Blancheflor, sie sei so schön, daß sich Gott durch ihre Schöpfung selbst übertroffen habe: Por anbler san et euer de jant Fist Deus de Ii passemervoille, N'onques puis ne fist sa paroille, Ne devant feite ne l'avoit (V i826ff.) a ). Blancheflor hat einige Züge Laudinens. Liebe und Interesse, Verstellung und Gefühl verbinden sich in ihr. In ganz ähnlicher Weise gleicht die ältere Schwester in der Tintaguelszene der Guenievre des Lancelotromans. Das Opfer ihrer Streitsucht, die Pucele as Manches Petites, die gleich zum Liebesabenteuer bereite Schwester des Königs von Escavalon, Clarissant, die der Bruderliebe den Vorrang vor der Minne des Guiromelant gibt (V 9032ff.), haben keinerlei Bedeutung außerhalb der Szenen, für die sie der Dichter benötigt. Die letztgenannte Frau gehört zu den Figuren, die, wie die schon früher charakterisierte Orguelleuse de Logres und die trotz aller Unwahrscheinlichkeit der Gesamtsituation mit einigen anschaulichen Beschreibungszügen gezeichnete Mutter Artus, Yguerne, eng mit der Sage verwandt scheinen. Zu dieser Gruppe von Gestalten ist auch d i e M u t t e r P e r c e v a i s zu rechnen, die, wie bereits dargelegt worden ist, eine größere Bedeutung für den Aufbau der Percevalhandlung besitzt als Blancheflor. Die Sehnsucht Percevais nach ihr treibt j a die vor der Gralszene liegende Handlung immer wieder nach vorwärts. Zwar wird es beim Zusammensehen von Handlung und Handlungsfiguren, wie es im Vorausgehenden durchgeführt worden ist, niemals gelingen, diese beiden Elemente des Romanaufbaues zur !) Vgl. Brinkmann, a. a. O., S. n 6 f f . ) Zur Interpretation ähnlicher Stellen vgl. Heinrich Gelzer, Nature, Zum Einfluß der Scholastik auf den altfranzösischen Roman (Stilistische Forschungen, H. 1, Halle a. d. S., 1917), Kap. I, „Natura Dei vicaria". Zur Frage mittelalterlicher Personenbeschreibung vgl. Faral, Arts poétiques, S. 75—82. a

VI. Die epischen Figuren

155

Deckung zu bringen, aber eine solche Betrachtungsweise erlaubt doch eine poetische Beurteilung der Gestalten. Diese sind keine allegorischen Sinnbilder. Denn sie haben auch im Percevalroman eine gewisse anschauliche Lebendigkeit. Sie verkörpern zwar bestimmte geistige und sittliche Werte, drücken diese aber nicht als symbolische Abstraktionen aus, sondern eben als Träger einer wirklichen epischen Handlung. Das läßt sich vor allem daraus ersehen, daß Chr. auch aus den von uns bereits als formelhaft empfundenen Gestalten des Artuskreises von Roman zu Roman neue Verwendungsmöglichkeiten herausholt. Eine Allegorie geht ganz in ihrer begrifflichen Bedeutung auf, eine epische Figur dagegen hat die Fähigkeit der Verwandlung und der Entwicklung 1 ). Die epischen Figuren des Romans sind aber deshalb noch lange keine Individualitäten; ihre Handlungen sind höfisch-ritterlich, demnach von typischer Art, oder märchenhaft allgemein, und dann überhaupt von keinen scharfen Konturen umrissen. Vollends natürlich erschließt sich die Schuldverkettung Percevals keinem rein psychologischen Zugriff. Und so ist, trotz aller seelischen Abschattung der Gestalten durch Handlung und Rede der Roman als Ganzes nicht vereinzelt, sondern Glied einer stofflichen und geistigen Kontinuität. E r enthält j a schon im einzelnen Geschehnisse, die über die Handlung hinaus in einer nicht erzählten Vergangenheit verankert sind oder in eine dem Leser nicht eröffnete Zukunft weisen. Im Hochmittelalter beherrscht keineswegs die Verabsolutierung der menschlichen Werte, sondern eine auf das Transzendente hin aufgebaute Ordnung der Werte Leben und Kultur. Erst von solchen Gesichtspunkten aus wird sich das letzte Wort über die Beurteilung der Romangestalten sprechen lassen. Die Handlungsrolle der epischen Figuren führt infolgedessen zwangsläufig zu den geistigen Grundlagen des Romans und damit vom Aufbau zum Weltbild. *) Damit ist gesagt, daß es nicht nötig ist, für jede neue Nuance im Bild einer Gestalt des Artuskreises gleich eine neue Quelle anzunehmen. Die poetische Forderung der „variatio" wirkte sich nicht nur stilistisch, sondern in gewissen Grenzen auch stofflich aus.

2. T e i l

D a s Weltbild I. Das System der höfischen Werte Die Blickwendung vom A u f b a u des Percevalromans zu dem ihm zugrunde liegenden Weltbild soll kein Auseinanderreißen des Werkes in Form und Inhalt bedeuten, sondern nur die Fortführung, die Ergänzung und die Zusammenfassung der Fragen, die bereits im Verlauf der Aufbauuntersuchung zu stellen waren. Diese ging von der Voraussetzung aus, daß es auch für die Interpretation des mittelalterlichen Erzählwerkes nicht angängig sein könne, Gestaltung und Sinn, Aufbau und Stoff voneinander zu sondern. In der T a t wäre die Deutung der Romankomposition unmöglich gewesen, wenn nicht auf Tatsachen wie die Motivierung des Schuldproblems, die Rolle der höfischen Liebe, die Wertgradus in dem Ablauf der Entwicklungshandlung, die Sonderart der Figuren, eingegangen worden wäre. Auch die Besprechung des ,,Thesen"-Charakters der Chr.sehen Romane war schon vom Gesichtswinkel des Aufbaues aus geboten. Auf all diesen Ansätzen gilt es jetzt weiterzubauen, um d a s W e l t b i l d d e s R o m a n s in seiner runden Geschlossenheit zu zeichnen. W i r betrachten es nicht so sehr als Spiegelung eines bestimmten kulturhistorischen Zustandes, sondern vor allem als die letzte geistige Sanktionierung der im Roman erzählten Handlungen. W i r nehmen es somit nicht so sehr als tatsächliche, sondern vielmehr als poetische Wirklichkeit. Die beiden Grundpfeiler, die dieses Weltbild tragen, sind höfischer Geist und religiöse Gesinnung. Sie sind die ethischen Maßstäbe, an denen die Vorgänge gemessen werden müssen. A u s der besonderen Verbindung dieser beiden Elemente und der zwar nicht ethisch, aber stofflich und stilistisch stark ausgeprägten Märchenfärbung mehrerer Hauptpartien der Handlung entsteht ein in der altfranzösischen Literatur bis dahin unbekannter Romantypus. E s hat sich im vorausgehenden Aufbauteil als notwendig erwiesen, die einzelnen kompositionellen Faktoren nicht einfach beschreibend darzustellen, sondern sie in ihre verschiedenen S c h i c h t e n aufzulösen. Es war nicht von Spannung schlechthin zu sprechen, sondern von Spannungsarten, nicht von Motivierung an sich, sondern

I . D a s S y s t e m der höfischen W e r t e von

„zufallsmäßiger",

theologischer

und

157

psychologischer

Moti-

v i e r u n g . S o w a r es a u c h m ö g l i c h , d i e rein e p i s c h e B e t r a c h t u n g s w e i s e durch

die

historische

Durchleuchtung

des

zu

vervollständigen.

Weltbildes.

Zu

Ähnliches

unterst

liegt

ergibt

eine

Schicht, deren U r s p r u n g in einer älteren, v o r h ö f i s c h e n a u f f a s s u n g liegt.

die

ethische Kultur-

W i e i m Stofflichen, so h a b e n sich d e m n a c h auch

i m Ethischen ältere Z ü g e erhalten. U n t e r den Beweisbeispielen sind die folgenden zu den aufschlußreichsten

zu rechnen.

Die

niedere

A u f f a s s u n g der Frau, die der Orguelleus v o r t r ä g t (V 385gff.), p a ß t schlecht

zu

der Idealisierung

L i t e r a t u r typisch ist. Lehre,

der

Frau,

wie

sie f ü r die

höfische

Weiterhin entspricht es keineswegs höfischer

den wehrlosen Feind zu quälen.

Vasall des Königs v o n

D a m i t aber b e g r ü n d e t ein

E s c a v a l o n seinen R a t ,

Gauvain

vor

dem

Z w e i k a m p f m i t Guiganbresil die L a n z e suchen zu lassen. D i e Stelle lautet : D e t o t q u a n q u e l'an p u e t et set Doit an grever ce que l'an h e t : D e vostre anemi traveillier N e v o s sai je miauz conseillier (V 6i25ff.). E b e n s o u n h ö f i s c h ist es, B e l e i d i g u n g e n n i c h t zu v e r z e i h e n , so w i e es m i t B e z u g auf die v o n

K e u geschlagene

Jungfrau

heißt:

Q u e m o u t est m a u v é s qui oblie, S ' a n Ii f e t h o n t e n e l e i d u r e ; Dolors trespasse, et honte dure A n h o m e viguereus et roide, M e s el m a u v é s m u e r t e t r e f r o i d e ( V 2 9 0 2 f f . ) . . Der nicht

Guiromelant von

Gauvain geltend

seiner dagegen

(V

läßt

sich

durch

persönlichen macht

8772ff.).

Die

die

ritterlich-höfische

Rachsucht höfischen

erste

abbringen

Minnegebote (V

Syôgii.).

Sittlichkeitsanschauungen

der vier

angeführten

Stellen

unter die K a t e g o r i e der direkt oder indirekt auf O v i d u n d lateinische

Dichter

(namentlich

frauenfeindlichen Äußerungen nächsten entsprechen beinahe

auf

Virgil)

mittelalterlicher

zurückzuführenden D i c h t e r 1 ) ; die

deutlich einer Stufe roherer E t h i k .

ausnahmslosen Konsequenz

fehlen

fällt

andere

bei W o l f r a m

drei

M i t einer die

Ent-

') V g l . H i l k a , A n m . z u V 3860 f f . u n d d e s g l e i c h e n V e r f s . a u s f ü h r liche B e s p r e c h u n g v o n A u g u s t W u l f f , D i e f r a u e n f e i n d l i c h e n D i c h t u n g e n in d e n r o m a n i s c h e n L i t e r a t u r e n d e s M i t t e l a l t e r s b i s z u m E n d e d e s X I I I . J a h r h u n d e r t s ( R o m a n i s t i s c h e A r b e i t e n , H . 4, H a l l e a. d. S., 1914) in L g r P . 37 ( 1 9 1 6 ) , S p . 2 4 6 f f . Z u m E i n f l u ß d e r A n t i k e v g l . W u l f f , S. 1 5 . — A n P a r a l l e l b e i s p i e l e n a u s d e m Y v a i n v g l . V I 4 3 6 f f . u n d i 6 4 o f f . , die a b e r k e i n e s w e g s b e r e c h t i g e n , w i e G . C o h e n , a. a . O . , S. 356, v o n „ a n t i f é m i n i s m e " z u s p r e c h e n . D e r E i n f l u ß k i r c h l i c h e r A s k e s e d a r f hier n i c h t überschätzt werden. E s handelt sich mehr u m literarisches Nachschreiben als u m B e o b a c h t u n g der T a g e s w i r k l i c h k e i t . — Z u r z e i t g e s c h i c h t l i c h e n B e d e u t u n g d e r P h ä n o m e n e v g l . S c h ü r r , a . a . O . , S . 326 f f .

158

I. Das System der höfischen Werte

sprechungen f ü r solche Stellen (vgl. 264, 1 — 1 9 ; 425, 1 7 bis 426, 1 0 : 1 5 1 , 7 bis 1 5 3 , 20; 608, 1 8 — 3 0 : wesentliche Milderung der Ausdrucksweise). Chr. bedeutet in der T a t die ethische Ausdeutung der Geschichte weniger als Wolfram oder gar Hartmann 1 ). Sein „dramatischer", spannungsreicher Stil liebt hyperbolische Übersteigerungen und kraftgeladene Übertreibungen. Dieser Unterschied des künstlerischen Temperamentes macht das Fehlen ausgesprochen vorhöfischer Moralzüge bei Wolfram verständlich 2 ). Wenn man noch tiefer nach den Wurzeln der einzelnen im Roman gestalteten Stoffe gräbt, so stößt man indessen noch auf weitere Reste primitiver E t h i k , v o r allem in dem Bereich, der das Gesicht der höfischen K u l t u r wesentlich mitbestimmt: der Wertschätzung der Frau®). Gegenüber dieser K u l t u r erweisen sich die Entführung Guenievres durch Meleagant im Karrenritterroman, die Zwangseheschließung des Grafen Oringle mit Enide im Erec, die Belagerung Belrepeires durch Clamadeu im Percevalroman offensichtlich als Überbleibsel einer rohen Moral des Stärkeren. Sie sind genau so „Spuren des B r a u t r a u b e s " , wie das Sperbermotiv im Erec, das Noroison- und Harpinsabenteuer im Y v a i n und die Erringung Blancheflors durch Perceval Spuren des „ B r a u t d i e n s t e s " darstellen. Solchen Stoffen gegenüber hatte Chr. eine doppelte Reaktionsmöglichkeit: entweder bog er ihren Sinn nachträglich in das Ritterliche und Höfische ab, wie in den Fällen des Sperbermotives und der Blancheflorszene, wo Enide und Blancheflor nicht einfach Kampfpreis sind, sondern um ihrer Minne willen erkämpft werden oder er ließ der Szene durchaus ihren unhöfischen Gehalt. Dieses zweite ist weitaus häufiger und erklärt sich aus der Eigenart der Chr.sehen Erzählkunst. Ihr ist es j a vor allem um die Schaffung von bewegter Handlung und konfliktreicher Spannung zu tun. Um dieses Widerspiel von entgegengerichteten K r ä f t e n zu erreichen, braucht Chr. im Bezirk des Ethischen jene Vertreter unhöfischen Verhaltens. Wenn er sie nicht in seinen Quellen vorfand, dann mußte er sie schaffen. Über ihre Bewertung läßt er keinen Zweifel. Sie widerstehen nicht lange den Trägern echter höfischer Gesinnung: wie Y d e r und der Graf von Limors dem streitbaren Erec, so unterliegt Meleagant Lancelot und Clamadeu dem eben erst zum Ritter geschlagenen Drube, a. a. O., S. i o i f . ) Natürlich wird damit auch an die Quellenfrage gerührt. Chr. steht eben — schon rein zeitlich — den Märchenquellen näher. 3 ) Vgl. zum Folgenden die beachtliche juristische Diss. von Emil Schulenburg, Die Spuren des Brautraubes, Brautkaufes und ähnlicher Verhältnisse in den französischen Epen des Mittelalters (Rostock 1894), wo auch über Chr. das wichtigste gesagt ist. — Zu der älteren Auffassung der Frau vgl. Theodor Krabbes, Die Frau im altfranzösischen KarlsEpos (AA., Bd. 18, Marburg 1884) und Vald. Vedel, Heldenleben, Mittelalterliche Kulturideale I (Aus Natur und Geisteswelt, Bd. 292, Leipzig 1910), S. 80ff. 2

I. Das System der höfischen Werte

159

Perceval. Derartige Kämpfe werden von Chr. meist nicht geradlinig berichtet, sondern der Dichter staut und spannt die Handlung und erreicht dadurch eine Hervorhebung ihres ethischen Sinnes. D a s E t h o s seiner R o m a n e ist episch, nicht didaktisch unterstrichen. Diese Tatsache darf jedoch nicht zu der oft vorgebrachten Behauptung verleiten, Chr.s Romane entbehrten der tieferen, im weitesten Sinne symbolischen Bedeutung 1 ). Den letzten Zweifel in dieser Richtung beseitigt die Handlungsführung im Percevalroman, wo sich in der Stufung von Entwicklungsabschnitten höfische Unwerte in Werte wandeln. Damit aber schließt die Betrachtung des Weltbildes wieder an die des Aufbaues an und es kann auf früher Gesagtes verwiesen werden 2 ). In dieser eindeutigen Wertakzentuierung liegt es begründet, daß die mannigfachen Zeugnisse einer älteren Ethik die höfische Färbung des Romans nicht abschwächen, sondern eher verstärken. Denn sie sondern sich von dieser nicht dualistisch ab, sondern ordnen sich ihr unter. Es gibt bei Chr. keine aufwühlende Tragik, sondern nur ein zeitweiliges Als-Ob und dann eine tiefe, endgültige Sicherheit. Der Percevalroman ist, das kann hier schon gesagt werden, auch vom Weltbild her gesehen weder rissig, noch uneinheitlich, sondern ein vollgültiges Denkmal hochmittelalterlicher Weltschau. Wenn wir aus ihm Schichten der Ethik herauslösen, so sind wir uns bewußt, daß damit im Grunde nur die Geschlossenheit seines geistigen Baues erwiesen wird, nicht aber das Zusammenstoßen innerlich unvereinbarer Lebensanschauungen. Für das letzte kennt die mhd. Literatur ein großartiges Beispiel: das Nibelungenlied, wo, von der Gestalt des „hochmittelalterlichen" Rüdiger abgesehen, die „Tragödie der übrigen Helden . . . nicht bis in ihre tiefsten Abgründe durchleuchtet [ist], da sie aus Antrieben folgt, die der Ritterseele, so wie sie sich ihrer in der reinen Ritterdichtung bewußt geworden ist, nicht gemäß sind" 8 ). Hier hat es infolgedessen einen anderen Sinn, von „Schichten der E t h i k " zu sprechen, als in einem für die ritterlichhöfische Welt so repräsentativen Werk wie dem Percevalroman. Gewiß zeigt sich die Fundierung der epischen Geschehnisse auf der „höfischen Ebene" am deutlichsten darin, wie Gesinnungen und Taten der führenden Gestalten sich in letzter Linie nach den Wertmaßstäben des höfischen E t h o s richten. E s ist aber auch darauf hinzuweisen, daß der Roman schon in seiner S p i e g e l u n g ä u ß e r e n Die neue germanistische Forschung, insbesondere Golther, Ehrismann, Schwietering, Witte, Drube, hat, von der Vergleichung der mittelhochdeutschen und altfranzösischen Literatur ausgehend, diese Verzeichnung des Chr.-Bildes korrigiert. 2 ) Vgl. das Kapitel über die epischen Figuren. 8 ) Friedrich Neumann, Schichten der Ethik im Nibelungenlied, Festschrift, Eugen Mogk zum 70. Geburtstag 19. Juli 1924 (Halle a. d. S., 1924), S. 140.

l6o

I . Das System der höfischen Werte

L e b e n s ein Ausdruck höfischer Kultur ist. Die Notwendigkeit, das Weltbild des Dichters in all seinen Ausstrahlungen zu erfassen, verlangt, den Blick auch in diese, an sich unliterarische Richtung zu lenken. Zahlreich sind die rein höfischen Beschreibungen. Der Rahmen des Hoffestes bei Artus (V 2785ff.) wird gezeichnet und Chr. setzt ähnlich wie im Erec, Y v a i n und Lancelot direkt mit einer solchen Milieuschilderung ein (vgl. auch V 4 i 4 i f f . , Aufbruch von Carlion). Die Ritter bewegen sich mit dem vorgeschriebenen höfischen Zeremoniell (Clamadeu: V 2 8 3 i f f . , 2890). Auch die Gralszene ist voll von solchen höfischen Worten und Gesten. Nie wird vergessen, dem ankommenden Gast einen Mantel entgegenzubringen (V i 5 5 i f f . , i 7 7 7 f f . , 3073f., 795iff.). Wie von selbst gebraucht der Dichter für solche gleiche Handlungen auch gleiche Worte. Der Gralkönig begrüßt Perceval mit aller Feinheit höfischen Benehmens (V 3 i o 5 f f . ; 3 5 3 7 f f . in der Erzählung Percevals wiederberichtet). Es zeugt für die Stärke des Kulturbewußtseins des Dichters, daß er sich die Gralszene in keinem anderen als in einem höfischem Rahmen vorstellen konnte. Zeitgebundenes gesellschaftliches Geschehen und staunenerregendes Wunder werden in direktem Übergang miteinander verbunden (z. B . V 3189/90, 3289/90, beide Male durch Reimbrechung). Motive wie Entwaffnen, Bekleiden und Begrüßen gehören zu den immer wieder berichteten höfischen Gesten, die schon fast formelhaft wirken (z. B . V 4501 ff., 4534ff.). Percevals Reden kennzeichnen ihn ebenso wie Gauvain als vollendeten höfischen Ritter (V 4579ff.). Bezeichnend ist das Einsetzen der Gauvainabenteuer mit der höfischen Turnierszene, die ein genaues Bild höfischen Lebens bietet (vgl. bes. V 5248ff., 5276ff., 5296ff., 5 3 i 8 f f . , 54i6ff., 5521 ff., 56o2ff.). Auch die Escavalonszene ist auf den höfischen Grundton abgestimmt (z. B . V 5 7 i g f f . , 5y86ü., 6iooff.). Die Verächtlichmachung der ,,borjois" drückt diesen höfischen Ton auch negativ aus (V 59iof., 5936, 5955ff., 6152^). Höfische Züge mengen sich in die Orguelleuse-, Wunderburg- und Guiromelantszenen ( z . B . V 748off., 7971Ü., 8o93ff., 8 i 2 7 f f „ 8 i 7 6 f f „ 823off., 8 4 1 1 ! , 8984ff., 9057ff.). Es ist zweifellos richtig, daß, vom Lancelot abgesehen, in keinem Werk Chr.s die märchenhaften Züge eine solche Bedeutung erlangt haben wie imPercevalroman. E s läßt sich nachweisen, wie der Dichter es sich öfter geradezu als Aufgabe gesetzt hat, die „Nirgendwofarbe" und die Blässe märchenhafter Wunderereignisse sprachlich zu treffen 1 ). Aber, das ist das Entscheidende, Chr. hat das Märchen nicht einfach episiert, sondern er hat es mit höfischen Zügen vermengt. Die der Wunderburgszene entnommenen Beispiele haben das eindeutig bewiesen. Die wundererfüllten Abenteuer, die la Roche de Chanpguin l ) Darüber wird die Fortsetzung der vorliegenden Arbeit zu handeln haben.

I. Das System der höfischen Werte

l6l

bringt, werden von Gauvain bestanden. Die K r a f t des Zaubers ist gebrochen und es weht höfische Luft. Eine Parallelerscheinung im dichterischen Bild des Romans läßt sich im Gebiet der Beschreibung aufzeigen. Sie ergänzt die auf das Ethische gerichtete Betrachtungsweise nach der stilistischen Seite. Chr. hat gerade in die märchenhaftesten Situationen eine Fülle konkret geschilderter Details eingestreut, als o b er dadurch den Ereignissen größeren Wahrscheinlichkeitsgehalt geben wollte. Das kann nur in dem Sinn verstanden werden, daß er sich der Unglaubhaftigkeit dieser Geschehnisse wohl bewußt war, sie aber durch eine rationale Verkleidung in eine Scheinsphäre natürlicher Motivierung heben wollte. Täuschung und Doppelspiel erstrebt Chr. auch hier. Im Raum zwischen Realität und Schein kann er seine spannendsten Wirkungen schaffen. Die Kausalität der Wirklichkeit ist zum Teil ungültig. Das Märchen hat nicht vollständig von der Welt Besitz ergriffen. E s ist verstandesmäßig durchleuchtet und kann in seinen Teilvorgängen vom Leser oder Hörer kritisch beurteilt werden. Die Spannung, die sich uns oben als das erzählerische Grundprinzip des Romanaufbaues ergeben hat, erweitert sich vom Standpunkt der Beschreibung aus zu einer Spannung zwischen Märchen und Wirklichkeit. Wieder ist es die Wunderburgszene, an der sich diese Erscheinungen am besten veranschaulichen lassen. Der Saal ist genau geschildert. Die Türen haben goldene Angeln und Riegelringe und sind aus geschnitztem Elfenbein bzw. Ebenholz, mit Gold und wunderkräftigen Edelsteinen geschmückt (V 7678ff.). Der Fußboden ist buntfarbig und wohlgeglättet (V 7688ff.). Das Wunderbett wird besonders eingehend behandelt. Es ist vollkommen aus Gold (V 7692 ff.). Jeder Bettpfosten trägt einen hellstrahlenden Karfunkelstein (V 7702 ff.). Die Füße sind als fratzenschneidende Zwerge gearbeitet und ruhen auf vier Rädern, die durch den kleinsten Anstoß ins Rollen gebracht werden können (V 7706ff.). Der Dichter berichtet weiter von brokatenen Wandverkleidungen und Marmorwänden (V 77i6ff.), durchsichtigen, farbigen Glasfenstern (V 7720 ff.) und ungefähr 400 geschlossenen und 100 offenen Fenstern in den Saalwänden (V 7730f.). Die ganze Beschreibung ist in Beziehung zur Hauptperson der Handlung, Gauvain, gesetzt (V •¡•¡•¡zii.). Auch dadurch wird sie auf eine natürliche Ebene herabgedrückt, die freilich nur so lange Geltung besitzt, bis Gauvain den Zauber des Schlosses erlebt. Dann treten die vom Fährmann beschriebenen automatischen Armbrüste und Bögen (V752off.) in Tätigkeit (V 7828ff.), die Fenster öffnen und schließen sich von selber (V 7824, 7842f.). Gauvain hat nunmehr gegen den wilden Löwen zu kämpfen (V 7853 ff.). Die Vermischung wirklichen und märchenhaften Geschehens ist in dieser Szene klar erkennbar. Schließlich siegt weder die Realität noch die Phantastik, sondern die Typik, denn Chr. läßt die Szene in breite höfische Handlung ausmünden. B. z. Z.R.Ph. Heft 88. Kellermann 11

IÓ2

I. Das System der höfischen Werte

Genau so wie hier in der Beschreibung ist es im Gebiet des Handlungsethos. Auch da siegt der höfische Geist. Denn die ganze Wunderburgszene endet mit dem Ausblick auf eine neue Artusszene. Die Überleitung dazu bildet der Ritterschlag der 500 Schloßknappen, der mit einer wirklich dokumentarischen Genauigkeit beschrieben wird (V 9171—9188) M. Viel entscheidender aber als die höfische Lebensweise ist die h ö f i s c h e K u l t u r g e s i n n u n g . Sie ist eine ausgesprochene Standesethik und entwickelt sich in Einklang mit den politischen und wirtschaftlichen Wandlungen des Ritterstandes. Ihr Inhalt selber baut sich auf der Grundlage des christlich verstandenen und christlich fortgebildeten Moralsystems des Aristoteles und der Stoa auf 1 ). Die Übernahme dieser Ideen vollzog sich in einem historischen Werdeprozeß, den wir für die deutsche Epik der Zeit besser überblicken können als für die französische*). Wenn sich schließlich für die Ethik des Weltlebens (die moralis philosophia) die Kontinuität von der Spätantike bis zur höfischen Zeit als ungebrochen erweist, so ist doch der Richtungssinn des antiken Systems dadurch geändert, daß die Krönung des Ganzen, die Realität des „summum bonum", eine andere geworden ist. Von hier aus schießen denn auch der höfischen Ethik ständig neue Ideen zu. Auch rein kulturell war j a der Kirche ein großer Anteil an der Umwandlung des ritterlichen Lebens zugekommen 4 ). Wie weit es natürlich der Kirche gelungen war, den w i r k l i c h e n Menschen neu zu formen, ist aus der Dichtung nicht zu ersehen, denn in ihr besitzen wir weniger die Abbildung der tatsächlichen Verhältnisse als den Niederschlag der Strebungen, die Zeichnung von Idealen und die Darstellung von Sonderfällen. J e nach dem Temperament des Epikers wiegt dabei die Freude am Gestalten einer poetischen Wirklichkeit oder der Wille zur ethischen Verdeutlichung vor (der Gegensatz der französischen und der deutschen höfischen Epik der Epoche geht auf die Verschiedenheit dieser erzählerischen Triebe zurück). *) Vgl. dazu Alwin Schultz, Das höfische Leben zur Zeit der Minnesinger (2. Aufl., Leipzig 1889), I, S. i83ff. Die Szene hat bei Chr. nicht ihresgleichen. Die einzelnen symbolischen Zeremonien des Ritterschlags werden berichtet: Bad, neues Kleid, stehend zu verbringende Nachtwache in der Kirche (Li vaslet an estant veillierent, Q'onques ne s'i agenoillierent, V 9 1 8 1 f.). Umschnallen des rechten Spornes, Umgürtung des Schwertes, Erteilung des symbolischen Schlages (colee). 2 ) Über die Filiation der antiken Ideen vgl. die grundlegenden Forschungen von G. Ehrismann, Die Grundlagen des ritterlichen Tugendsystems, ZdA. 56 (1919), S. 1 3 7 f f . und Hans Naumanns „Ritterliche Standeskultur um 1200" in: H. Naumann und G. Müller, Höfische Kultur (Halle a. d. S., 1929), I. „Das Tugendsystem". Beide Arbeiten sind zu den Kategorien der folgenden Darstellung zu vergleichen. a ) Vgl. Julius Schwietering, Der Wandel des Heldenideals in der epischen Dichtung des 12. Jahrhunderts, ZdA. 64 (1924), S. i 3 5 f f . 4 ) Vgl. den gedrängten Überblick bei Vald. Vedel, Kitterromantik, Mittelalterliche Kulturideale II (1911), S. 2 — 1 3 .

I. Das System der höfischen Werte

163

Die christliche Fundierung der höfischen Ethik darf nicht zu der Ansicht verleiten, als sei diese nichts anderes als praktizierte Kirchenlehre. In Wirklichkeit kommt es dabei nicht so sehr auf die Sicherung der Heilsgewinnung an als auf die rechte Erfüllung der Weltpflichten. Das Christentum stand dieser Zeit nicht als abstrakte Forderung gegenüber, sondern ging in sie ein und verband sich mit ihren sozialen und geistigen Zielen zu einer durchaus eigenen Verschmelzung. Die höfische Kulturgesinnung mußte Menschen prägen, die ihre Augen fest auf die Erde gerichtet hielten. Denn sie war keine Moral des asketischen Rigorismus, sondern eine Ethik des Maßes und der Mitte. Der ritterliche Humanitätsgedanke ist ihr Kernstück. Aus alledem ergibt sich aber mehr als e i n e Verwandtschaft mit der Ethik der Stoa. Ist aber nun die Tugendlehre des Rittertums in Wahrheit eine Lebenslehre der maßhaltenden Mitte, so ist damit ohne weiteres der Schwingungsraum ihrer Extreme gegeben. Er ist bezeichnet durch das mehr oder minder starke Bewußtsein der religiösen Bindung. Sehr oft kommt höfische Dichtung, gerade unter dem Einfluß der Antike, dem Pol der Autonomie der Welt sehr nahe. Seltener dringt sie in die rein kirchliche Sphäre vor. Der Grund für diese Verschiedenheit ist klar. Der höfische Roman blieb, auch wenn er religiös getönt war, eine weltliche Gattung. Das von ihm gezeichnete ethische Ideal war selbst in diesem Fall auf vorbildliches Menschentum ausgerichtet. Klerikalem Bedürfnis entsprachen viel besser die reinen didaktischen Gattungen der Predigt und des Moraltraktates und allenfalls noch die zur Nacheiferung anspornende Legende. Eine Grenze hatte der höfische Roman auch dort, wo die Romanform nur mehr ein Behältnis theologischer und mystischer Spekulation war, in der Queste del Saint Graal z. B. Und nun läßt sich auch die geistesgeschichtliche Lage des Percevalromans bestimmen. E r b e z e i c h n e t d e n r e l i g i ö s e n P o l d e s h ö f i s c h e n R o m a n s . Die h ö f i s c h e Ethik hätte eine noch weitergehende Verlagerung der Schuldmotivierung ins Religiöse und Kirchliche nicht zugelassen, ohne Handlung in Symbol, Wirklichkeit in senefiance, Helden in Büßer oder Aszeten, ohne mit einem Wort den höfischen Roman in den allegorischen und theologischen zu verwandeln. Auch Wolfram bleibt dem Parzivalstoff gegenüber durchaus Erzähler. Wohl ist es auch ihm um die religiöse Austiefung der höfischen Ethik zu tun, aber sein dichterisches Bemühen bleibt dabei auf die ritterlich-menschliche Mitte der höfischen Lebenslehre konzentriert, während Chr. nach ihrer kirchlichen Überhöhung strebt. Der Percevalroman verkörpert aber nicht einseitig die religiöse Endstellung des höfischen Romans, sondern er umschließt auch die beiden anderen Typen höfischen Weltverhaltens (allerdings unter deutlicher Kennzeichnung der Wertstufung): den T y p des welt11*

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I. Das System der höfischen Werte

läufigen und den T y p des sozialen Ritters. Dem ersten entspricht eine Ethik des Scheins, dem zweiten ein Menschenbild, in dem Persönlichkeits- und Gemeinschaftspflichten ohne jeden Konflikt zusammengeordnet sind. D i e d r e i • S c h i c h t e n d e r h ö f i s c h e n E t h i k im Percevalroman: Schein, ritterliche Menschlichkeit, kirchliche Moral bezeichnen aber gleichzeitig den Weg der Chr.schen Ethik vom Cliges zum Y v a i n und zum Percevalroman 1 ). Wenn also im folgenden ihr Sinn und ihre erzählerische Ausgestaltung dargelegt werden, so wird sich diese Aufgabe teilweise damit decken, zu zeigen, welche Elemente des Cliges und des Y v a i n im letzten Roman des Dichters von Wichtigkeit sind. Für den Cliges ist bezeichnend die auffallende Rolle der reflektierten Handlung. „Reflektiert sind solche Ereignisse, die ihren Akzent dadurch erhalten, daß sie sich vor dem Hintergrund von interessierten Beobachtern abspielen, oder dem Urteil eines gesellschaftlichen Übereinkommens unterliegen; sie werden von diesem Hintergrund zurückgespiegelt und wirken deshalb weniger als Handlung, als vielmehr als Pose, als Haltung, als Effekt. Solche akzentuierte Handlungen also stehen in den Abschnitten häufig vor, die anderen, die einfach der Fortsetzung der Fabel dienen, nach"®). So gliedern oft nicht „Handlungstäler", sondern „Wirkungshöhen" 8 ) die Romangeschehnisse. Demnach ist dieses Teilungsprinzip der kompositioneile Ausdruck der reflektierten Handlung und diese selbst ist die epische Gestaltung einer Ethik, die die Werte weniger um ihrer selbst als um ihrer Sichtbarmachung willen interessieren, die den Ruhm höher als die Tat und den Schein mehr als die Gesinnung schätzt und, wenn es not tut, den Kompromiß der Eindeutigkeit vorzieht. Mit Recht sagt A. Franz: „ N i e ist im Cliges von Moral, nur von Korrektheit die Rede" 4 ). Dem „Kulturbild, das wir aus dem Cliges gewinnen können, [haftet] ein eigentümlich formaler Charakter a n " s ) . „ S o steht die Konvention deutlich sichtbar hinter dem Benehmen der Handelnden" 4 ). Damit ist allerdings das höfische Ethos nicht vollständig und nicht endgültig umkreist und die Lektüre des Chr.schen Gesamtwerkes lehrt, daß der Satz: „ I n der Kultur, deren Ausdruck die höfischen Epen sind, ist eine weltliche Bindung an Stelle der religiösen Bindung getreten; das weltliche Ritual ersetzt zum Teil die kirchlichen Vor*) Über die „Entwicklung" des Chr.schen Gesamtwerkes vgl. Kap. I des i. Teiles. ') Franz, a. a. O., S. 65. Die reflektierte Handlung ist natürlich nicht nur als Spiegelung einer bestimmten ethischen Auffassung zu verstehen, sondern ist wie in allen späteren Romanen Chr.s auch im Percevalroman als wirkungsvolles Gliederungsmittel verwendet. Doch betrifft das nicht mehr das Weltbild der Handlung, sondern die Mittel der formalen Gliederung. 4 «) Ebd., S. 63f. ) Ebd., S. 66. *) Ebd., S. 72. •) Ebd., S. 86.

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Schriften" ), was Chr. betrifft, auf den Cliges und den Lancelot eingeschränkt werden muß. Ist in der Tat die höfische Ethik im Cliges formalistisch-konventionell, so ist sie im Y v a i n human und ruht im Perceval auf ausdrücklich hervorgehobener religiöser Grundlage. Dem widerspricht jedoch nicht, daß die ethische Stufe des Cliges auch im Perceval sichtbar ist. Denn es handelt sich hier keineswegs um sich ausschließende Gegensätze. E s tritt mehrmals auffällig hervor, daß der Schein, nicht die eigentliche Leistung über den Wert einer Handlung entscheide. Mit dieser Überlegung sucht der besiegte Anguingueron Perceval zur Milde zu bewegen: Mes se je le tesmoing t'an port Que tu m'aies d'armes outré Veant mes jant, devant mon tré, Ma parole an sera creüe. E t t'enors an sera seüe (V 2254ff.). So ist der Ruhm die eigentliche Sanktionierung der Tapferkeit. E r s t die Resonanz in einem großen Kampfpublikum gibt der Rittertat Ruhm, Ehre und Bedeutung. Deshalb auch soll der Kampf zwischen dem Guiromelant und Gauvain verschoben und der ganze Artushof als Zuschauer geladen werden (V 8851 ff.). Mit außergewöhnlicher Deutlichkeit wird hier vom Dichter die der reflektierten Handlung entsprechende ethische Auffassung vertreten: E t quant li uns sera lassez Que toz li mondes le savra. Mil tanz plus d'enor i avra L i vainquerre que il n'avroit Quant nus fors lui ne le savroit (V 8866 ff.). Die Gefangenen, die Percevais Botschaft zu Artus und zur geschlagenen Jungfrau tragen, sind natürlich nicht nur Vermittler der Handlung, sondern auch Träger des Ruhms. Der Verlockung des Ruhms als Anreiz für Ritterleistungen entspricht negativ die Furcht vor dem Bekanntwerden der Feigheit. Gauvain spricht es aus: J e seroie honiz an terre Come recreanz et failliz (V 6800 f.), (vgl. auch recreantise V 6619). Die Tatsache, daß die epische Gliederungsform der reflektierten Handlung auch im Percevalroman eindeutig festzustellen ist, beweist, daß sie kein Ausdruck aufklärerischer Weitläufigkeit ist, sondern nur erzählerische Verarbeitung der sehr stark auf eine gesellschaftliche und lebensbejahende Wirklichkeit ausgerichteten höfischen Weltanschauung. Gewiß streift Chr. im Cliges die Verl

) Ebd., S. 84.

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selbständigung des Weltlichen. Aber es kommt nie so weit wie im Lancelot, der, wie schon sein Prolog herausstellt, Gedanken enthält, deren Verantwortung nicht seinem Dichter zufällt. E r kann infolgedessen beim Zusammenbau des Chr.schen Weltbildes füglich übergangen werden. In ihm ist tatsächlich die Minne in einem sonst Chr. nicht geläufigen Maß als autonomer ethischer Bezirk erklärt. Das ist etwas anderes als die ethische Praxis des Cliges, wo der Dichter alle Mittel aufgeboten hat, um ein Zerreißen der höfischen Gesinnungseinheit zu verhindern. Auch aus der Lektüre des Cliges gewinnen wir den Eindruck, daß Chr. kein Mann des ethischen oder metaphysischen Dualismus ist, sondern durchaus den Gedanken des h ö f i s c h e n O r d o vertritt. Dieser Ordo ließ genügend Spielraum, um eine Blickverlegung von dem (im Cliges sogar ungewöhnlich hochgetriebenen) weltlichen Wertbereich auf den religiösen (im Percevalroman), oder, um die moralische Terminologie der mittelalterlichen Ethik zu verwenden, von der S p h ä r e d e s „ u t i l e " auf die des „summum bonum" zu gestatten 1 ). Von diesem Standpunkt aus stellt sich die auf zwei Helden verlagerte Handlung des Percevalromans dar als eine gleichzeitige Darstellung des „ m i t t l e r e n " Tugendbereiches des „honestum", und des „ s u m m u m b o n u m " , wobei ganz im Sinn dieser ethischen Systematik, Perceval als der zum Gral Erkorene über Gauvain, den „weltlichen" Helden gestellt wird. Der ethische Sinn des Y v a i n andererseits und — wenn man hier die noch zahlreichen Äußerungen vorhöfischer, individualistischer Moral abrechnet — auch des Erec, liegt dagegen ganz in der Episierung des „honestum" beschlossen. Der Percevalroman gibt demnach von allen Romanen Chr.s die abgeschlossendste und vollständigste Auswertung der höfischen Ethik, nicht trotz, sondern gerade w e g e n seiner Einbeziehung des religiösen Bezirkes'). Das Vorhandensein und die Akzentuierung der einzelnen Wertgüter im Percevalroman aufzuzeigen, wird uns nunmehr obliegen. E s wird auch hier wieder ebensosehr auf die epische, wie auf die sachliche Ausdeutung ankommen. Die Erörterung des Begriffes der „reflektierten Handlung" hat uns bereits in diesen Teil der Interpretation der Romanhandlung hineingeführt. Dort war schon auf die höfische Wertung des Ruhmes hinzuweisen. Ohne ihn ist echte „chevalerie" nicht denkbar. Ist *) Zur Systematik der einzelnen Wertgebiete vgl. den von Ehrismann, Tugendsystem, S. 142 f. wiedergegebenen Grundriß der jetzt demWilhelm von Conches zugeschriebenen „Moralis philosophia de honesto et utili", (Migne lat., 171, 1007—1056). 2) Der Roman als G a n z e s ist demnach die Krönung des Chr.schen Gesamtwerkes. Nochmals sei betont, daß wir unter dieser „Entwicklung" Chr.s nur die Entfaltung seiner in den Werken gestalteten Gedanken verstehen, nicht aber irgendeine biographische Genesis der Dichterperson. Selbstverständlich ist auch die Eigenart des für den mittelalterlichen Erzähler weithin o b j e k t i v e n Stoffes zu berücksichtigen.

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er gewissermaßen die Außenseite der proesce (V 2800) ) und des bardemant (V 8589), so weist biauti (V 1806) schon deutlicher ins Innere des höfischen Moralkosmos; denn hier- bedeutet Schönheit nicht nur einen ästhetischen, sondern auch einen e t h i s c h e n Wert. Körperliche Mißbildung und Häßlichkeit verbinden sich meistens mit vulgärer, gemeiner Gesinnung oder einer unhöfischen Rolle (der häßliche Knappe V 6g86ff., die Zwerge des Erec und Y v a i n ; auch die Perceval verfluchende Botin ist extrem häßlich V 4611 ff.), ebenso wie sich K r a f t oder Adel der Seele mit glänzender Schönheit vereinen (Blancheflor V 1805ff., der Fischerkönig V 3086, der Guiromelant V 8544, Gauvain V 8548 usw.). Eine Ausnahme macht auch hier die Orguelleuse, deren Züge jedenfalls in großem Umfang von der märchenhaften Sphäre bestimmt werden. E s ist auffällig, wie die Schönheitsattribute in gleicher Weise auf Frauen und Ritter verteilt werden. Das zeigt, welch unentbehrliches Element der Charakterisierung sie bedeuten für „jene merkwürdige Welt, in der Form und Inhalt aufs engste zusammengehören, sich erfüllen und einander bedingen" 2 ). Nur wenn man das im Auge behält, darf man von einer Ästhetisierung des Lebens in der höfischen Epoche sprechen, denn hier gilt nicht die bloß schöne Form, sondern die Schönheit als Abglanz inneren Wertes. Die Antithese Form oder Geist trifft also am Wesen dieser Dichtung vorbei, vielmehr möchte man von einem Streben nach Prägung eines klassischen Menschentypus sprechen. Zu den „bona fortunae", deren Besitz zum höfischen Menschentum gehört, sind auch richesce (vgl. Gornemant de Goort in der Schilderung Blancheflors V 1908 f.) und vollkommene Loslösung vom Erwerbsmäßigen zu rechnen. Denn Verhaftetsein im BeruflichMateriellen und wahre „hautesce" schließen sich aus. D e s h a l b auch bedeutet es für Gauvain eine schwere Kränkung seines ritterlichen Selbstbewußtseins, für einen Kaufmann und Geldwechsler gehalten zu werden. Wie Chr. diese Verwechslung spannungsmäßig nutzt, haben wir früher gesehen. Höfische Dichtung ist aristokratisch und volksfremd. Das letztere beweist auch die zweite höfische Epoche Frankreichs im 17. Jahrhundert. Um Chr.s Meinung über die „vilains" zu erfahren, genügt es, die Escavalonepisode zu lesen. Dort läßt der Dichter den wütenden Bürgerhaufen vergebens gegen Gauvain anrennen. Dem echten Ritter aber eignet Kraft, Stärke, Gewandtheit, Mut. Ist er in einem Maße beau, fort, sain, preu, hardi, vaillant, viguereus wie Gauvain, Y v a i n und die übrigen großen Verkörperungen des höfischen Mannesideals, so ist es für ihn nicht unmöglich, los und enor und „le pris avoir De tot le 1 ) Da alle Stellenangaben im folgenden typische Geltung haben, werden wenige Belege zur Verdeutlichung des Gesagten genügen. 2 ) H. Naumann, a. a. O., S. 37.

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m o n t " (V 4701/02). Und schließlich erwirbt man solche Auszeichnungen nur dann, wenn die ritterliche Tatgesinnung vom ritterlichen Blut her gefordert und genährt wird (vgl. Puissant de terre et de lignage V 4924). Solch hohem Geschlecht entstammt auch Perceval und die Mutter kann bei aller kummervollen Angst um den Sohn den Stolz über dessen hohe Abstammung nicht verleugnen: De ce v o s poez bien vanter Que vos ne decheez de rien De son lignage ne del mien; Que je sui de Chevaliers nee. Des meillors de ceste contree: E s Isles de mer n'ot lignage Meillor del mien an mon aage (V 42off.). Schränkten sich die maßgebenden höfischen Züge auf diese „bona corporis et fortunae" ein, dann wäre nicht einzusehen, wodurch sie sich von den früheren Ritterkulturen unterschieden. Die Abgrenzung ist jedoch dadurch deutlich gegeben, daß sie im Ganzen des ethischen Systems nicht als absolute, sondern als dienende Werte gesetzt sind. Über den rechten Gebrauch der körperlichen K r a f t , des Reichtums und der sonstigen natürlichen Güter aber unterrichten die Gebote des „ h o n e s t u m " , der eigentlich ritterlich-höfischen Pflichtenlehre. Sie zerfällt in vier Tugendgebiete: die prudentia, die justitia, die fortitudo und die temperantia 1 ). Auf t e m p e r a n t i a , die als F o r d e r u n g d e r „ m e s u r e " dem gesamten höfischen Menschentum den Stempel aufdrückt, kommt es dabei am meisten an. Damit müssen gewisse Übersteigerungen der Kraftentladung in den Ch. d. g. von vorneherein als unhöfisch gelten. Die erste dichterische Mannesschöpfung Chr.s: Erec, kann demnach nicht als vollhöfisch gelten. Damit ist freilich nicht gesagt, daß sich alle Helden der im letzten Sinne höfischen Romane durch Zucht der Rede, Zähmung des Trieblebens, gemessene Haltung und Selbstbeherrschung auszeichnen. D e m widerspricht der zügellose Zorn Keus, oder das Ungestüm Sagremors, dem seine Maßlosigkeit sogar den Beinamen Desre6 eingebracht hat (V 422of.). Aber aufschlußreich ist allein die Beleuchtung, in die Chr. solche Gestalten gerückt hat. Sie bilden die Gegenseite der eigentlich normativen Haltung. Der Dichter steht nicht zu ihnen. Das beweisen die Folgen, die er aus ihrem, der verbindlichen Norm widersprechenden Handeln entwickelt. Je heller die epische K u n s t Chr.s solch unhöfisches Handeln bestrahlt, um so lebendiger, anschaulicher, spannungsreicher und dramatischer wird die Erzählung. Allenthalben gibt es im Roman Gestalten, die von starken A f f e k t e n geschüttelt werden, wie Clamadeu ,,qui vis anrage" (V 2593), oder der Orguelleus, den blinde Eifersucht zu schändlicher ') Dies ist die Reihenfolge in der genannten „Moralis philosophia",

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Vernachlässigung seiner Dame treibt. Nichts war ja im Bereich der Liebe den höfischen Maßstäben so zuwider wie die jalosie (V 815). Sie macht blind, ungerecht und unbeherrscht. Ähnliches ist vom Stolz zu sagen. Es steigert nur die Spannung der Retardatio, wenn beispielsweise Anguingueron in seiner Überheblichkeit schon vor Kampfesbeginn den Sieg zu halten glaubt (V 2i65ff.) und hinterher Perceval um Gnade anflehen muß. So ist es fast stets bei Chr.: der ethische Sinn der Handlung bietet sich nicht in theoretischer Reflexion dar, sondern entlädt sich in epischer Anschauung. Das kann nicht geschehen ohne gelegentliche Übersteigerungen des ethischen Gegenteils. Die Entwicklung Percevals von einem sauvage und einer wallisischen „beste** zu einem Ritter der corteisie und franchise ist dafür typisch. Wie läßt er sich gegenüber der Mutter gehen, wie dreist benimmt er sich gegenüber der Dame im Zelt, wie ungeschickt ist er angesichts Artus (V 931 ff.), wie vornehm handhabt er jedoch die höfische Form bei der zweiten Rückkunft an den Hof. Das ist unverkennbare Kunst Chr.s: große seelische Abstände zu schaffen, sei es in der gleichen Gestalt oder zwischen den einzelnen Gegenspielern. Die mittelhochdeutschen Dichter zeigen da einen anderen Brauch, wobei man natürlich auch nicht die spätere Abfassungszeit der Hartmannschen Romane und des Parzival übersehen darf. Bei Hartmann geht die Veredelung und Verfeinerung der Charaktere allerdings auf Kosten der Konzentration und Wahrscheinlichkeit der Handlung 1 ). Ihm gegenüber ist Wolfram reich an kompositioneller Geschlossenheit und an saftiger Lebensfülle, die durch einen gewaltigen Reichtum an seelischen Varianten erzielt wird. Was den Vergleich zwischen Chr. und Wolfram betrifft, so sei nur darauf aufmerksam gemacht, daß dem Chr.sehen Roten Ritter noch die ganze Bosheit einer Märchenfigur anhängt, während Ither bei Wolfram ein Verwandter Artus ist, um dessen Tod sich ein gewaltiges Wehklagen erhebt (159, 22 bis 160, 30) *). Selbst wenn man aber die erzählerische Notwendigkeit jener antihöfischen Handlungszüge bedenkt, so kann doch nicht geleugnet werden, daß es bei Chr. mitunter auch den repräsentativen Figuren der höfischen Welt an dem nötigen Maßhalten gebricht8). Der ') Vgl. Witte, a. a. O., S. i 6 3 f f . und Drube, a. a. O., S. 7 9 f f . 2

) Der genaue Nachweis dieser Unterschiede muß der dieser Untersuchungen vorbehalten bleiben.

Fortsetzung

8 ) Ph. A. Becker, Achtsilber, S. i n und Z r P . 5 5 (1935), S. 406 sieht darin, daß Guenievre vor den Orguelleus gerufen wird, eine höfische Unmöglichkeit. Gewiß ist das ungewöhnlich. E s erklärt sich aber daraus, daß die Botschaft v o r dem ganzen Hofe (tuit et totes V 3968) ausgerichtet werden muß. Die Szene ist kein Hoffest, sondern eine Gerichtsszene und kann, wenn man will, als die Säkularisierung einer altkirchlichen Bußszene bezeichnet werden, bei der A r t u s die Rolle des Los-

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Gestalt Keus wurde schon gedacht. Auch Gauvain, der höfische Vollmensch, wird, wenn es sich um Liebe handelt, leicht eines Überschreitens der temperantia schuldig. Seine schnell entfachte Leidenschaft zur Schwester des Königs von Escavalon führt zur Gefährdung seines Lebens und seiner Ehre, und es paßt ausgezeichnet für ihn, wenn die verlockende Orguelleuse seinem Ungestüm ein „Mesure, Mesure, sire, or belemant (V6684f.) entgegenruft. Gerade die Analyse der Gauvaingestalt ergibt das für die ethische Beurteilung Chr.s ausschlaggebende und auch aus den übrigen Romanen belegbare Resultat, daß nicht die temperantia die Grundtugend seiner Gestalten ist, sondern die f o r t i t u d o , die sich vor allem in seelischer Hochgesinnung und optimistischem Lebensschwung äußert 1 ). Der Mensch, der sie besitzt, hat die joie, d. h.er ist von einer vitalistischen Glücksstimmung durchströmt, in der er den Wert der eigenen Person, die Schönheit des Daseins, die Harmonie der Welt oder den Antrieb zu sittlichem Handeln innerlich erfährt. J o i e (mit leesce verbunden, V 6543 und 8208f.) bedeutet auch das äußere Frohlocken und all seine mannigfachen Gesten und Erscheinungsformen. Eine systematische Durchmusterung des höfischen Vokabulars bei Chr. ergibt, daß kein Wort dieser Sphäre auch nur von ferne an die Häufigkeit von joie heranreicht. E s ist einerseits durch seine Gefühlsdichte rationalem Zugriff entzogen und auf der anderen Seite zu so handfester Bedeutung wie joie feire „freudig begrüßen" verblaßt'). Die ersten Ausbrüche festlicher Freude schildert Chr. in der Belrepeire-Episode (V 236off., 2 5 6 i f f . , 2738ff.). In der mittleren Artusszene wird dem Jubel über Percevals Rückkehr an den Hof durch die freudestörende Botin ein jähes Ende bereitet (V 4603 ff.). Weniger nachhaltig, aber gleich spannungweckend ist die Stimmungsperipetie in Gauvains Triumphszene im befreiten Wunderschloß, die sprachlich in zwei parallel gebauten Versen zusammengedrängt ist, wenn Gauvain sagt: Tant estoie maz et dolanz. Or sui si liez et si joianz (V 8203^). Die joie hat aber noch ganz andere Tiefen: sie wird zur verzückten Liebesekstase im Wachtraum Percevals (Blutstropfenszene). Sagremor und Keu, die ihn seiner „ F r e u d e " entreißen wollten (tolir la sprechenden und der Orguelleus die des Pönitenten spielt. Außerdem aber vgl. die Stelle bei Wolfram, wo es von Artus ebenfalls heißt: der künec Artus gebot in mer daz man werde ritr und werde frouwen an dem ringe müese schouwen (309, 2öff. und 310, iff.). J ) Vgl. die Zerlegung des Begriffes fortitudo bei H. Naumann, a. a. O., S. 5 und G. Ehrismann, Tugendsystem, S. 163 f. a ) Vgl. den Artikel Joie in Föster-Breuer, Wörterbuch (2. Aufl.), S. 145.

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joie, V 4443f.) hat er spielend besiegt, ohne aus seinem Sinnen zu erwachen. Nicht weniger eindringlich aber weiß Chr. die entgegengesetzte Gemütsverfassung: die schrille Disharmonie, den Verlust des Gleichgewichtes, die bis zum Wahnsinn führende Verzweiflung darzustellen. Yvain erlebt diesen Sturz aus freudvoller Heiterkeit durch die Verfehlung gegen Laudine, Perceval durch die ergebnislose Gralsuche. Die Wiedergewinnung der Freude, die Befriedigung des Herzens mußte im weiteren Verlauf der Geschichte das Anliegen des Helden sein. So zeigt sich auch im Sittlichen wieder jene Dialektik, die in gleichem Maße das Bild der Komposition, des Stiles und des Ethos beherrscht. Das Studium des Wortschatzes ergibt das gleiche. Die Norm und die Gegennorm sind in gleicher Weise vertreten. Den Wörtern joïr, conjoïr (V 5844), joie, joiant, leesce, lié (V 7486), douçor (V 2633), douz (V 4459), solaz (V 5972), deduire (V 910), déduit (V 9169), deliter (V 2160), eise (V 2159), délit (V 5004), delitable (V 3314), se deporter (V 2416), pleisant (V 3314), heitiez (V 5143), baut (V 8211) stehen in konträrer Bedeutung gegenüber: dolant (V iggif.), dolereus (V 3433), pesance (V 2698), grief (V 2878), destresce (V 9223), meseise (V 1746), enui (V 2279), acoré (V 8461), angoissier (V 815), angoisse (V 6777), angoisseus (V 3514), desheitié (V 6648), se desconforter (V 2012), desabelir (V 7368), maudahet (V 4648), vergoingne (V 3042), honte (V 5347), honteus (V 6904), desconvenue (V 6864), male avanture (V 6865), let und vilain (V 962), esperdu (V 9232). Unter die fortitudo fällt aber nicht bloß die festliche Lebensfreude, sondern auch die unerschrockene Tatgesinnung des Ritters. Für sie ist Gauvain nicht minder das beispielhafte Leitbild. Er schreckt vor keiner Aufgabe zurück, und sei er mit noch so vielen hyperbolischen Abschreckungen zurückgehalten. Verstärkt wird diese Gesinnung durch eine religiöse Formel in dem Ausspruch Gauvains: Donc dirai je que Deus me het Et que je sui honiz ansanble (V 7766f.). Hier wird die Tatenlosigkeit als Strafe Gottes angesehen. Wir haben früher am Beispiel der Wunderburgszene gesehen, wie Chr. zum Erweis solcher Furchtlosigkeit gerne die spannungschaffende Abenteuervorbereitung zum Nachteil des eigentlich epischen Berichtes längt. Es kann weiterhin nicht wundernehmen, daß der unerschrockene Gauvain, der ja sein Licht durchaus nicht unter den Scheffel stellt, auch ein Muster zuversichtlicher Geduld ist und selbst dann nicht verzweifelt, wenn er unter den beschämendsten Bedingungen gegen Ritterkraft und Frauentücke anzukämpfen hat (Kampf auf dem Klepper V 7326ff., Geduld gegenüber dem Hohn der Orguelleuse V 72ooff.). Er ist, ebenso wie der in diesem Betracht kaum anders gezeichnete Perceval, fern aller coardie und recreantise.

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Ist nun (von dem besonderen höfischen Element der magnanimitas abgesehen) die fortitudo Grundbedingung jeglicher Ritterkultur, so stoßen wir mit der Einbeziehung der j u s t i t i a , des dritten Tugendbereiches des honestum, unmittelbar in die geistige Mitte des höfischen Ritterideals vor. Die Neuorientierung des Heldenbegriffes wird am besten durch eine Gegenüberstellung mit dem ursprünglichen (noch nicht höfisch erweichten) Geist der Ch. d. g. verständlich. Mit dem Wechsel des Kampfgegners (früher: Feinde der Christenheit und der nationalen oder feudalistischen Ordnung) hat sich auch die Kampfmethode gewandelt. In der höfischen Zeit bewährt sich der Ritter nicht mehr in rücksichtsloser Härte oder gar grausamer W u t gegen einen mehr oder minder unmoralisch ge- oder verzeichneten Gegner, sondern er streitet, verpflichtet auf bindende Kampfregeln, gegen einen heldisch gleichgewerteten Gegner. Sieht er in diesem einen sittlich Schuldhaften, so strebt er nicht danach, ihn zu vertilgen, sondern ihm eine Lektion zu erteilen. Der höfische Ritterkampf hat demnach eher pädagogischen als metaphysischen Sinn. A u s solcher Anschauung ist uns der Ausdruck „ritterlich k ä m p f e n " überkommen. Ehemals hatte das Heldentum im Dienst einer religiösen und nationalen Gemeinschaft gestanden. Aber diese hohe Idealität hatte sich mehr auf das Ganze, als auf die Person bezogen. Eine solche Beschränkung barg die Keime des Verfalls in sich. Je mehr die alte Kampflosung ihren Sinn und ihre Schwungk r a f t verlor, um so deutlicher mußte offenbar werden, wie wenig jene Parole den einzelnen ethisch hatte formen können. Denn das „persönliche Leben, das Leben des Alltags war oft nicht übermäßig von E t h i k durchzogen und erst am Lebensende finden Moral und Religion ihre volle A n n ä h e r u n g " 1 ) . Die Veredelung des Lebens, die notwendig war, um das Rittertum vor Entartung zu bewahren, ist die große Leistung der höfischen Kultur. Neben dem erneuten, starken Zuströmen antiker Ideen ist die sittigende Wirkung der Frau und der Minne zu betonen. A m nachhaltigsten jedoch w a r wieder der Einfluß der christlichen Ideen. Durch sie vor allem wurde eine Neubindung der individuellen K r ä f t e erreicht. Der Prozeß geht langsam vor sich. Seine Entwicklung kennzeichnet das Werden der Chr.schen Kunst. Der Erec ist erst ein Ansatz, dem Cliges gelingt die Synthese zur N o t und im Lancelot sprengen die Ideen des Südens die eben erst vollzogene Einheit. Der Y v a i n aber bedeutet für die Geschichte des höfischen Geistes eine epochale Schöpfung und zwar aus dem Grund, weil hier das Zentralproblem jeglicher Gesellschaftsbildung, das Verhältnis von einzelnem und ganzem zum ersten Male in endgültige Form gebracht ist. Jetzt ist es unzweifelhaft, auf welch neuen ethischen Gehalt die fortitudo 1 ) C. Josef Merk, Anschauungen über die Lehre und das Leben der Kirche im altfranzösischen Heldenepos (Beihefte zur ZrP., H. 41, Halle

a. d.

S . , 1914). S.

313.

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des Ritters ausgerichtet ist. Die heldische Tat ist nicht mehr eigener Wert, sondern wird aus Barmherzigkeit, Wohltätigkeit, Menschlichkeit und, das ist für Chr. das Entscheidende, aus R e c h t s g e f ü h l geübt. In moralphilosophischer Terminologie heißt das: d i e j u s t i t i a b e h e r r s c h t d a s R i t t e r i d e a l . Sie ist aber auch gleichzeitig derjenige innerweltliche Bereich, der am meisten christlicher Inspiration verdankte. Durch sie hängt das honestum unmittelbar mit dem summum bonum zusammen, in ihr greifen die „moralis philosophia" und die „moralis theologia" am unmittelbarsten ineinander. Von da aus ist wieder zu ermessen, mit wieviel innerer Konsequenz das Ethos des Y v a i n und das des Percevalromans aufeinanderfolgen 1 ). Die Herausarbeitung der hierher gehörenden Begriffe stellt der Interpretation keine schwierigen Aufgaben, weil der Text alle nur wünschenswerte Klarheit besitzt, abgesehen davon, daß Chr., ganz gegen seine Gewohnheit, in der dreifachen Belehrung Percevais, durch die Mutter, Gornemant und den Einsiedler, dem Roman rein didaktische Partien einverleibt hat. Auf sie ist, ebenso wie auf den Prolog, in der Folge zurückzukommen. Die Erreichung der „droite justise" (V 25) ist auch der Höhepunkt in der ritterlichen Entwicklung Percevais. Mit welcher Meisterschaft Chr. alle epischen und kompositioneilen Möglichkeiten dieser ethischen Entfaltung gesehen und verwirklicht hat, ist bereits früher eingehend behandelt worden. Auch das Bild Gauvains, der die Bestrafung des schurkischen Greoreas (auch einer Kontrastfigur) mit den Worten: Que jel fis por leal justise, Qui est establie et assise Par tote la terre le roi (V 7129 ff.) rechtfertigt, ist schon hinreichend gezeichnet. Daß Gauvain der fortitudo und der justitia voll ist, beweist sein Erfolg auf der Roche de Chanpguin, denn er ist ja von den Fehlern, die der wunderbare Saal bestraft: der coveitise, den Lastern der losange und avarice nicht belastet; er ist kein coarz, traître, foimantie oder parjure (V 7553ff.). Auch hier verdeutlicht Chr. wieder mit negativen Bestimmungen. Bei den letzten ist kurz zu verweilen. Wahrhaftigkeit wird zwar von Artus aus praktischen Gründen verlangt, um nicht 1 ) Zur Auffassung des Rittertums im Perceval vgl. G. Cohen, a. a. O., S. 473 ff. Cohen bringt bei dieser Gelegenheit wieder eine chauvinistische Phrase an (S. 475). Auch er betont das neue moralische Element des Rittertums (S. 477), ohne indessen die Vorbereitung des Percevalromans durch den vorangehenden Yvain genügend herauszuheben. Mit Recht weist er auf die drei didaktischen Partien des Percevalromans hin (S. 478), biegt aber ins Mystische ab, indem er versucht, in diesen Stellen „une triple initiation" (S. 479{•) zu sehen. Diese Auffassung hat im Gedankengebäude Chr.s keinen Platz. Chr. ist weder Mystiker noch religiöser Formelkrämer.

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die Gunst des Betrogenen zu verlieren (V 1008 ff.), andererseits aber von Gauvain ausdrücklich als Selbstwert verkündet. Lieber will er sterben, als etwas Unmögliches versprechen: N'ai pas de ma mort tel peor Que je miauz ne vuelle a enor L a mort sofrir et andurer Que vivre a honte et parjurer (V 6i79ff.). Ebenso schändlich wäre es, gegen den besiegten Gegner keine Milde zu üben, den Bedrängten keine Hilfe zu gewähren, die Waffenbrüderschaft zu verletzen, für erstattete Dienste den Dank zu verweigern oder der Pflicht der Wohltätigkeit zu vergessen. Die liberalitas gehört zu jenen Unterbegriffen der justitia, die im höfischen Tugendsystem besonders stark unterstrichen werden. Denn sie wird einerseits als Forderung der Billigkeit betont, dann aber auch als religiöses Gebot auferlegt. So erscheint sie als largesce wie auch als charité. Die Ausübung dieser Tugenden eignet mehr oder weniger allen großen Vertretern der ritterlichen Ethik im höfischen Roman. Aber die Tugendtafel dieser Ethik ist so umfassend, die Variations- und Verbindungsmöglichkeiten sind so groß, daß die Gefahr der Schematik viel geringer ist als in den vorhergehenden oder in den gleichzeitigen Ch. d. g. Außerdem aber ist ja das Ganze nicht nur als Tatsächlichkeit abgeschildert, sondern auch als Verpflichtung aufgegeben. Nationale und persönliche Stile haben demnach innerhalb des Systems genügend Spielraum. Die Epik Chr.s schafft sich ihn dadurch, daß sie die einzelnen ethischen Forderungen in anscheinend unvereinbaren Konflikten aufeinanderprallen läßt und die Auflösung dieser Konflikte in berechnend gebauter und spannend geführter Handlung darstellt. Die Betrachtung des Chr.schen Gesamtwerkes hat uns darin das Kompositionsmuster des Dichters gezeigt. Wie im Roman, so ist es auch in der Einzelepisode. Ein Musterbeispiel dafür sind die in Tintaguel spielenden Szenen der Gauvainhandlung, die eine so reiche Bewegung und soviel inneren Zusammenhalt besitzen (nicht einmal die Vorgeschichte fehlt), daß sie leicht zu einem selbständigen Roman hätten ausgesponnen werden können. Wieviel Konflikte hat nicht Chr. in diese Geschichte verwoben 1 Nicht nur stellt sich Gauvain die Frage, ob er als feiernder Ritter ehrlos erscheinen oder durch die Gefährdung seiner Gesundheit seinen Kampftermin in Escavalon versäumen soll (V 5091 ff.), nicht nur kommt Tiebaut durch den Unverstand seiner älteren Tochter in die Zwangslage, gegen den Sohn seines Lehensherrn kämpfen zu müssen (V 4833), sondern auch Garin wird durch die Intrige der „ainznee filie" Tiebauts beinahe dazu geführt, zugunsten der Gastfreundschaft die Lehenstreue aufsagen zu müssen (V 5274ÍÍ.). Die folgende Gauvainepisode weist ähnliche Konflikte in Guiganbresil,

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Gauvain und der Schwester des Königs von Escavalon auf. In all diesen Fällen ist jedesmal die leautö mit im Spiele, d. h. der Begriff, der neben der joie im ethischen Bild des Chr.schen Ritters am augenfälligsten hervortritt. E r umschließt nicht nur die privaten Beziehungen von Mensch zu Mensch, sondern beherrscht als zentraler Rechtsbegriff die gesamte politische und ritterliche Ordnung. Poetische und historische Tatsachen nähern sich auf diesem Gebiete weitgehend. Heinrich Euler 1 ), der diesen rechtsgeschichtlichen Nachweis überzeugend geführt hat (nur der Percevalroman ist ungenügend berücksichtigt), hat es verstanden, die Wichtigkeit dieser Rechtsfaktoren für den Aufbau der einzelnen Romane zu zeigen. So bildet also germanisches Recht ein ethisches Fundament höfischer Epik, denn „Grundlage dieser Anschauungen und Verhältnisse war das altfranzösische, d. h. weitergebildete salfränkische Recht; vielleicht nur in wenigen Fällen dürften sich überarbeitete Reste eines nichtfränkischen Rechtes finden"'). Dieser Begriff der „leautö" ist einer der bedeutungsvollen Kreuzungspunkte, an denen antike, christliche und germanische Tugendbegriffe sich treffen. Wenn wir in Würdigung dieser zeitgeschichtlichen Elemente an die im Verlaufe der Untersuchung immer wieder festgestellte dialektische Prägung der Chr.schen Kunst zurückdenken, angefangen vom Stil des Satzes bis zum Ethos der Gestalten, wenn wir uns daran erinnern, welch gewundene Kasuistik den Cliges kennzeichnet, wie stark der Konflikt zwischen Y v a i n und Laudine juristisch bedingt ist (nach echt mittelalterlicher Bußauffassung sühnt Y v a i n sein Vergehen durch die Befolgung des Gegenteils, denn er weiß im Beispiel des Lunetenabenteuers sehr wohl das gegebene Wort zu halten), so erscheint es geraten, den Einfluß der ovidischen Gefühlsdialektik oder auch des scholastischen Denkens in der Dichtung Chr.s nur gering zu veranschlagen und statt ihrer die juristischen Züge im Werk (vielleicht auch im Menschen Chrestien) hervorzuheben. Der Platz der leaut6 im Gedankenbild des Percevalromans und im weiteren Sinne Chr.s überhaupt, ergibt sich wieder aus dem Umfang des betreffenden Wortschatzes. Ihm gehören u. a. an: leaut6 (schon im Prolog V 26), leal (V 3 6 1 1 , als Adverb V 7422), afi'er (Yvain V 4458), se fler (V 7419), covant und loi (V 2 1 1 5 ) , fiancier (Erec V 1028), seiremant und fiance (V 6172), eschevir *) Recht und Staat in den Romanen des Chrestien von Troyes (Diss. Marburg, 1906). Diese Arbeit ist eine der aufschlußreichsten Untersuchungen über Chr. Ihr Wert beruht darauf, auf einem kleinen aber zentralen Gebiet gezeigt zu haben, wie nah man an das Verständnis für Chr.s Künstlertum herankommt, wenn man den Blick auf die persönliche und zeitgeschichtliche Umgestaltung der dem Dichter vorliegenden Rohstoffe heftet. Unnötige historische Deutungen epischer Tatsachen durch Euler (z. B. „Politische Zerrüttung und Schwäche des Königstums", S. 15ff.) können an diesem Urteil nichts ändern. «) Ebd., S. 125.

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(Yvain V 6638), jurer (V 4141), reison (V 5203), droit (V 25), droiture (Yvain V 5106), sëurté (Yvain V 770), assëuré (V 7123), foi (V 6178), prometre und creanter (V 3635), acreanter (V 2700), creante (Yvain V 5757), otroiier (V 2246), otroi (Cliges V 175), plevir (V 8662), triue (V 7124 = Sicherheit, Schutz, vgl. auch Lancelot V 3271), essoine (V 6652), plet (Cliges V 2550 = Vertrag), homage (V 5277 = Lehen), seignorie (V 8 1 1 6 = Lehensherrschaft), ploige (Yvain V 5757). Wie bei der joie hat auch bei der leauté die epische Anschauung die Gedanken und die Gestalten der ethischen „Gegenseite" gefordert. Das Vokabular der desleauté (V 3048) bezeugt es. Da sind zu finden: desleal (V 7397), tort (V 4357), félon (V 7270), felenie (V 4386), fauseté (V 819), faus (Erec V 6 1 1 3 ) , traïson (V 4763), traître (V 7559), tricherie (Cliges V 4447), tricheor (V 3062), parjurer (V 6182), mantir (V 8690), mançonge (V 8677), mescroire (V 4927), mesprandre (V 6355 in religiösem, V 7424 in weltlichem Sinne gebraucht), anrievre (V 6007), renoiié (V 8597), guile (V 30, 5222). Die leauté kam auch Chr.s Kompositionsstil sehr gelegen, denn ein wirksameres Mittel, die Spannung der Retardatio zu erregen, als eine Zusicherung, die ohne Wissen des Inhalts gemacht werden mußte, läßt sich kaum denken. Euler hat in einem eigenen Abschnitt seiner Arbeit über „Die Rechtskraft des Versprechens" 1 ) viele hierher gehörige Beispiele gesammelt. Wie der Dichter solche „blinde" Abmachungen dann episch auswertet und weiterbildet, wurde schon bei der Besprechung der Spannung gezeigt. Wir bedürfen noch eines letzten Abschnittes, um den Beweis, daß das honestum in a l l e n seinen Schattierungen und Wertgraden die Romanhandlung durchzieht, zu Ende zu führen. Wir stehen mit der p r u d e n t i a am untersten Pol der „bona animi" 2 ). Das erklärt sich auch so, daß von hier aus geringere Anschlußmöglichkeiten an die oberste Wertschicht des summum bonum gegeben sind als von der temperantia oder der justitia aus. Ihre Beherrschung strahlt wieder in gleicher Weise auf die chevalerie des einzelnen wie auf die Ordnung der Rittergemeinschaft zurück, wie es j a bei allen höfischen Tugenden der Fall ist; sie begreift einerseits die Fähigkeit, klug und überlegt zu sprechen. Wichtiges und Unwichtiges, Gutes und Schlechtes zu trennen, die Folgen einer Tat weise vor-, aus zu berechnen, Reden und Schweigen maßvoll zu handhaben, andererseits die pädagogische Gabe der sittlichen und ritterlichen Unterweisung. Der prudentia wohnt viel weniger epische Energie inne als der fides. Sie bricht hauptsächlich im Stil der Rede durch (vgl. als höfisches Mustergespräch die Unterhaltung zwischen Gauvain und Yguerne, V 8 i i 4 f f . ) . Nachdrücklichst wird sie von Gue1

) Ebd., S. 105ff. ) Vgl. Ehrismann, Tugendsystem, S. 142, Anm. 2. Die Tugenden „werden auch bona animi genannt, geistige Güter, nach Aristoteles Ethik I 8; Cicero De off. I 23". 2

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nievre ausgesagt (V 8 i 7 6 f f . ) . Eine Mehrung solcher Partien hätte zu einer Chr.s Dichtertalent durchaus fernliegenden Anschwellung des lehrhaften Tones der Handlung führen müssen. Da aber, wo die prudentia negativ, als privatio, zu fassen war, im naiven und ungeschickten Dümmling nämlich, sind dem Dichter eindrucksvolle epische Bilder gelungen. Percevals Dreistigkeit im Zelt, sein erstes Auftreten am Artushof, seine ständigen Hinweise auf die Lehren der Mutter, stempeln ihn zum Gegenteil eines „ s a g e " . Der weise Gornemant, . . . qui nice et sot Au parier le conut et sot (V 1 3 6 5 f . ) , hat ihn sofort durchschaut. E r ist denn auch der ritterliche Pädagoge, der das wilde Naturkind über die Gebote der höfischen E t h i k aufklärt, ihm den rechten Gebrauch der körperlichen K r a f t lehrt und ihn schließlich in den erhabenen Orden der Ritterschaft aufnimmt. Die folgenden Abenteuer zeigen das Gelingen dieser E r ziehung nicht minder deutlich als die vorher berichteten Szenen die folie des Witwensohnes. Denn wenn, wie Gornemant seinem Schüler darlegt, zu jedem Fortschritt im Wissen und Können „painne et euer et u s " (V 1467) notwendig sind 1 ), so läßt sich der neue Ritter die Anwendung dieser Bildungsgrundsätze sehr angelegen sein. Nur in einer Situation, die ihn weit über das gewöhnliche Rittertum hinausheben könnte, ist Perceval hilflos: vor dem Gral. Hier ist ihm die „circumspectio", die „Vorsicht, von einem L a s t e r in das entgegengesetzte zu verfallen"*), d. h. die Zeiten f ü r unstatthaftes Schweigen nicht mit denen f ü r unstatthaftes Reden zu verwechseln, versagt. Wenn Perceval in diesen gewaltigen Augenblicken seiner Erprobung allem höfischen „ s a n " zuwiderhandelt, so trägt daran sein schwerer Verstoß gegen die der Mutter gebührende pietas (die als moralisches Gut zur justitia zu rechnen ist) die Schuld. Damit aber greifen wir wieder an die f ü r das Weltbild des Percevalromans letztlich ausschlaggebende religiöse Überhöhung des höfischen Ethos. Diese gedankliche Zusammenordnung von Ethischem und Religiösem erscheint am reinsten in den d r e i U n t e r w e i s u n g e n P e r c e v a l s . Hier wird der Dichter einmal ganz gegen seine sonstigen Gepflogenheiten ausdrücklich didaktisch und pädagogisch. E r spricht aber bezeichnenderweise nicht selber, sondern durch den Mund dreier Figuren der Handlung. Die drei Unterweisungen sind dichterisch geformt und innerlich gegliedert. Die Steigerung in den R a t schlägen der Mutter (V 527—594) ist deutlich. Zuerst wird der Nutzen der Lehre (un san V 527) betont. Dann folgen die R a t 1

) Vgl. die Angabe von didaktischen und epischen Parallelstellen bei Hilka, Anm. zu V 1467. *) Ehrismann, a. a. O., S. 142. B. z. Z.R.PI1. Heft 88. Kellermann 12

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Schläge über das Verhalten gegen die Frauen (Hilfeleistung für Bedrängte, Vornehmheit in der Liebe, V 533—556), über das Verhalten gegen die Ritter (Frage nach dem Namen, Umgang mit „prodomes", V 563, V 557—566), über das religiöse Leben (Besuch der Kirchen und Verrichtung von Gebeten, kurze Zusammenfassung der Heilsgeschichte, V 567—594). Die drei Teile sind durch Übergangsformeln voneinander abgehoben: das Mittelstück, die Aufforderung zu einer primitiven prudentia ist durch den Vers: Biaus filz, ancor vos vuel dire el (V 557) von dem vorangehenden R a t zur severitas, misericordia und einer einfältigen moderatio getrennt, und der letzte Teil mit seiner Einschärfung der religio leitet mit der Zeile ein: Sor tote rien vos vuel proiier . . . (V 567). Die Ermahnungen sind von einer ritterblütigen Mutter zu einem unwissenden, unerfahrenen, in die höfische Welt ziehenden Sohn gesprochen. Das erklärt ihre Einfachheit, erlaubt aber auch andererseits, sie mit den Fachausdrücken des ritterlichen Tugendsystems zu bezeichnen. Außerdem sind sie in der Reihenfolge der Perceval begegnenden Abenteuer angeordnet. Schon auf dieser ersten Stufe der Unterweisung fällt die konsequente dichterische Meisterung des didaktischen Stoffes a u f 1 ) . Die Verbindung von Ritterlichem mit Religiösem ist noch enger in der Gornemantszene, bei deren Beurteilung man auch die Berechnung auf ihre Publikumswirkung nicht vergessen darf. Das Rittertum ist eine religiöse Institution: E t dit que donee Ii a L a plus haute ordre avuec l'espee Que Deus et feite et comandee (V iö34ff.). Solche Zeremonien bilden, wie schon gezeigt wurde, auch einen Teil des von Gauvain auf der Wunderburg vorgenommenen Ritterschlages der 500 Knappen. Der Gedanke des religiösen Rittertums ist demnach nicht ausschließlich auf die Percevalhandlung beschränkt. Die Ratschläge Gornemants (V 1639—1688) betreffen folgende Lehren: Gnade gegen besiegte Ritter (magnanimitas, V 1639—47), Warnung vor zu großer Gesprächigkeit (prudentia,, V 1648—56), Hilfeleistung für bedrängte Frauen (misericordia,. severitas, V 1656—62), Besuch der Kirchen, Gebet zu Gott um Seelenheil und Schutz im irdischen Leben ( religio, V 1663—70) v Die Erweiterung gegenüber den Ermahnungen der Mutter betrifft l ) Sehr hübsch wird die seelische Unreife des in die Welt ziehenden Dümmlings und die Folgen, die ihm aus dem falschen Anwenden fremden Rates erwachsen, dargestellt von J . H. Schölte, Der rote Ritter, Neophilo-. logus 5 (1920), S. 1 1 5 f .

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einmal die durch die Handlung bedingte Schweigeregel und das durch die Ritterwerdung Percevais notwendig gewordene Mildegebot. Fast alle bei Gornemant empfangenen Unterweisungen hat der Held Gelegenheit, in der Blancheflorszene zu befolgen. So ist auch hier die Beziehung auf die konkrete epische Situation gewahrt. Der Abschluß der ersten Entwicklungsphase Percevais wird noch dadurch unterstrichen, daß der neue Ritter verspricht, sich fortan nicht mehr so törichterweise auf die Ermahnungen der Mutter, sondern auf die Erziehung bei seinem ritterlichen Lehrmeister zu berufen (V 1675—1688). Genau wie die Mutter hebt auch Gornemant den religiösen Teil seiner Ermahnungen durch eine eigene Einleitung hervor: Une autre chose vos apraing, E t nel tenez mie a desdaing; Que ne fet mie a desdeignier (V i663ff.). Die Überwölbung der ritterlichen Sittlichkeit durch die oberste Wertschicht des summum bonum wird am augenfälligsten in den Lehren des Einsiedlers (V 6439—79). Wir betrachten diesen Abschnitt des Romans hier nur insoweit, als die Verknüpfung von Weltlichem und Religiösem in Betracht kommt. Der Einsiedler begründet endgültig die Lehren der höfischen humanitas vom religiösen Standpunkt aus. Deutlich wird dies vor allem dadurch, daß die Beobachtung der ritterlichen Pflichten Perceval als Teil der Sündenbuße auferlegt wird: Ce vuel que por tes pechiez faces. Se ravoir viaus totes tes grâces Ausi con tu avoir les siaus. Or me di se feire le viaus (V 6471 ff.). In einem Satz werden religiöse und weltliche Gebote zusammengenommen : Deu croi, Deu aimme, Deu aore, Buen home et buene fame enore. Contre le provoire te lieve; C'est uns servises qui po grieve. E t Deus l'aimme por vérité Por ce qu'il vient d'umilité. Se pucele aïe te quiert. Aïe li, que miauz t'an iert, Ou veve dame ou orfeline; Icele aumosne iert anterine: Aïe lor, si feras bien (V 645gff.). Deutlicher als in diesen Versen kann das Verhältnis von WeltlichRitterlichem zu Religiösem nicht ausgedrückt werden, denn der 12*

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II. Vorhöfische und höfische Religiosität

Einsiedler verlangt, nachdem er Perceval genaue Anweisung über den Kirchenbesuch gegeben hat (V 6439—58), die reverentia gegen Kleriker und Laien aus dem Motiv christlicher Demut. Das Bild der geistigen Welt des Romans wird sich zwar erst dann vollständig abrunden, wenn die religiösen Züge in ihrer Gesamtheit herausgearbeitet sein werden. Aber schon von dem jetzt gewonnenen Blickfeld aus läßt sich der Platz begreifen, den der Percevalroman in der altfranzösischen Literatur einnimmt. In ihm hat Chr., über den „san" seiner früheren Werke hinaus die Erzählkunst mit religiöser Gesinnung verbunden und der Welt der ritterlichen Abenteuer und des spannenden Märchens einen tiefen, ethischen Sinn gegeben. Wir dürfen für Chr. zuerst das in Anspruch nehmen, was Dilthey als einen der Grundzüge der „romantischen" Epik von Chr. bis Ariost bezeichnet: „die Verschmelzung der christlichen Ideen mit den Idealen des Ritterwesens in dieser rein phantastischen Sphäre" 1 ). Genauer werden das noch die beiden letzten Kapitel zu zeigen haben.

II. Vorhöfische und höfische Religiosität Der Percevalroman ist sprachlich, kompositioneil und geistig so eng mit den früheren Werken Chr.s verklammert, daß es wunder nehmen müßte, wenn er mit ihnen nicht auch im Verhältnis jener drei epischen Grundfaktoren übereinstimmte. Dieses Verhältnis ist sehr straff und kann nur theoretisch vollständig auseinandergelöst werden. Selbst wenn wie hier, zum Zwecke der Einzeldeutung, der Blick bald in die eine, bald in die andere Richtung gelenkt wird, so erweist sich doch eine ausschließliche Blickbegrenzung als unmöglich. Die Romane Chr.s lassen sich nicht in „Abenteuer" und „These" zerteilen. Denn die „Thesen" sind so eng mit der Handlang verwachsen, daß sie nur in der konkreten Form der berichteten Vorgänge erscheinen, keinesfalls aber diesen als didaktische Leitsätze vorangestellt sind. Es ist deshalb besser, nicht von den „Thesen", sondern von der die Romane tragenden geistigen Problematik zu sprechen. Die Tatsache, daß dem Percevalroman eine solche geistige Problematik zugrunde liegt, schließt demnach nicht aus, daß dieser Roman abwechslungsreich und spannend erzählt ist; Chr. tritt ja dem Perceval- und Gralstoff in erster Linie als Erzähler gegenüber, nicht als Ethiker. Seine Kunst ist, so ließe sich sagen, nicht programmatisch, sondern exemplarisch gerichtet. Die Handlungen der dem Perceval vorangehenden Werke „spielen" in dem mittleren Bezirk des höfischen Tugendsystems. Mit dieser scheinbaren Autonomie des Weltlich-Gesellschaftlichen hat Chr. in l

) W. Dilthey, a. a. O., S. i n .

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Einsiedler verlangt, nachdem er Perceval genaue Anweisung über den Kirchenbesuch gegeben hat (V 6439—58), die reverentia gegen Kleriker und Laien aus dem Motiv christlicher Demut. Das Bild der geistigen Welt des Romans wird sich zwar erst dann vollständig abrunden, wenn die religiösen Züge in ihrer Gesamtheit herausgearbeitet sein werden. Aber schon von dem jetzt gewonnenen Blickfeld aus läßt sich der Platz begreifen, den der Percevalroman in der altfranzösischen Literatur einnimmt. In ihm hat Chr., über den „san" seiner früheren Werke hinaus die Erzählkunst mit religiöser Gesinnung verbunden und der Welt der ritterlichen Abenteuer und des spannenden Märchens einen tiefen, ethischen Sinn gegeben. Wir dürfen für Chr. zuerst das in Anspruch nehmen, was Dilthey als einen der Grundzüge der „romantischen" Epik von Chr. bis Ariost bezeichnet: „die Verschmelzung der christlichen Ideen mit den Idealen des Ritterwesens in dieser rein phantastischen Sphäre" 1 ). Genauer werden das noch die beiden letzten Kapitel zu zeigen haben.

II. Vorhöfische und höfische Religiosität Der Percevalroman ist sprachlich, kompositioneil und geistig so eng mit den früheren Werken Chr.s verklammert, daß es wunder nehmen müßte, wenn er mit ihnen nicht auch im Verhältnis jener drei epischen Grundfaktoren übereinstimmte. Dieses Verhältnis ist sehr straff und kann nur theoretisch vollständig auseinandergelöst werden. Selbst wenn wie hier, zum Zwecke der Einzeldeutung, der Blick bald in die eine, bald in die andere Richtung gelenkt wird, so erweist sich doch eine ausschließliche Blickbegrenzung als unmöglich. Die Romane Chr.s lassen sich nicht in „Abenteuer" und „These" zerteilen. Denn die „Thesen" sind so eng mit der Handlang verwachsen, daß sie nur in der konkreten Form der berichteten Vorgänge erscheinen, keinesfalls aber diesen als didaktische Leitsätze vorangestellt sind. Es ist deshalb besser, nicht von den „Thesen", sondern von der die Romane tragenden geistigen Problematik zu sprechen. Die Tatsache, daß dem Percevalroman eine solche geistige Problematik zugrunde liegt, schließt demnach nicht aus, daß dieser Roman abwechslungsreich und spannend erzählt ist; Chr. tritt ja dem Perceval- und Gralstoff in erster Linie als Erzähler gegenüber, nicht als Ethiker. Seine Kunst ist, so ließe sich sagen, nicht programmatisch, sondern exemplarisch gerichtet. Die Handlungen der dem Perceval vorangehenden Werke „spielen" in dem mittleren Bezirk des höfischen Tugendsystems. Mit dieser scheinbaren Autonomie des Weltlich-Gesellschaftlichen hat Chr. in l

) W. Dilthey, a. a. O., S. i n .

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seiner letzten epischen Schöpfung gebrochen. Er verknüpft hier die ethische Ebene des honestum mit der in christlichem Sinne verstandenen obersten W e r t s c h i c h t d e s s u m m u m b o n u m . Diese Verbindung läßt sich nur in gradualistischem Sinne deuten, denn sie bedingt — was die Ausstrahlung des Ritterwesens auf das tätige Leben betrifft — in keiner Weise eine Änderung gegenüber den beispielsweise im Y v a i n gestalteten höfischen Handlungen. Wäre das der Fall, dann hätte der Dichter ein völlig anderes Percevalbild entwerfen müssen, in dessen Mitte nicht hochgemute joie, sondern asketische Strenge gestanden wäre. Eine solche Weltauffassung aber hat Chr. in seinem letzten Roman in keiner Weise darstellen wollen. Die Hauptgestalt des Werkes, Perceval, ist ein Vollblutritter im h ö f i s c h e n Sinne. Ihre religiöse Problematik läßt sich nicht von der Ebene gleichnishafter Mystik aus erfassen, sondern nur von dem Standpunkt mittelalterlich-praktischer Religiosität aus, der es in erster Linie darum ging, das Handeln in der Welt und das Wissen von Gott übereinzubringen. Das Verhältnis dieser beiden Sphären begegnet uns bei den repräsentativen Vertretern mittelalterlicher Geistigkeit in tausend verschiedenen Spiegelungen. Scholastiker und Dichter, Prediger und Satiriker, Mystiker und Ethiker haben sich um die Bewältigung dieser Frage gemüht. Es gibt dabei aufklärerische Ungebundenheit und weltverneinende Asketik. Aber diese beiden Lebensanschaungen konnten unmöglich allgemein-verpflichtend werden. Eine harmonische Lösung, die wir (ohne im geringsten die Spannungsweite der mittelalterlichen Welt zu verkennen) als spezifisch „mittelalterlich" empfinden, geben nur die Wirklichkeitsbewertung des Gradualismus und die eng damit verknüpfte Ethik der höfischen Epoche. In ihnen überschneiden sich der transzendentale und der irdische Bereich und es entsteht eine Weltbetrachtung, die — theoretisch wenigstens — der Eigengesetzlichkeit beider Denk- und Seinsgebiete freies Spiel läßt. Es erhellt daraus, welch große Bedeutung der Begriff der ethischen Mitte, der ,,mesure", für die ganze Epoche haben mußte. Selbst wenn man aber die historischen Abstände zwischen den entsprechenden literarischen Zeugnissen in Rechnung setzt, ist die Andersartigkeit, mit der diese höfische Kultur in Deutschland und Frankreich aufgenommen und verarbeitet wurde, unverkennbar. Auch die Tatsache, daß ein Wolfram von Eschenbach oder ein Walther von der Vogelweide in ungleich tieferer theologischer und politischer Sicht die Probleme der Zeit durchdacht haben, kann über die vorliegenden volkstypologischen Unterschiede nicht hinwegtäuschen 1 ). Für die mhd. Seite kann Wolfram von Eschenbach als repräsen*) Zu der ethischen Problematik bei Walther von der Vogelweide vgl. den grundlegenden Aufsatz Friedrich Neumanns, Scholastik und mittelhochdeutsche Literatur, Neue Jahrbücher für das klassische Altertum, Geschichte und deutsche Literatur 25 (1922), S. 398 und Anm. 1.

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tatives Beispiel gelten. Seine Art, den ganzen Bau der höfischen Weltanschauung erst in Frage zu stellen, um ihn dann auf verstärktem Fundament in umso erhabenere Höhen hinaufzutreiben, wäre in der höfischen Epoche der Altfranzosen undenkbar. Hier ist, wie uns außer Chr. etwa auch Gautier d'Arras beweist, die höfische Ethik mit einer wie selbstverständlichen Sicherheit aufgenommen worden. Sie hat, und das zeigt nun Chr. deutlicher als alle höfischen Dichter seiner und der folgenden Generation, eine ihr aus dem Leben in der antiken und der christlichen Tradition zukommende runde Geschlossenheit. Das hat demnach weite kulturgeschichtliche Hintergründe 1 ). Von solchen tiefgehenden Gegensätzen her mag es auch kommen, daß sich die höfische Literatur des deutschen Mittelalters mehr durch ethische Besinnung als, wie es in Frankreich der Fall ist, durch epische Erfindung auszeichnet. Ähnliche Unterschiede bietet auch das Ende der höfischen Literatur in beiden Ländern. Hier läuft sie mehr in wirres Abenteuerspiel, dort in trockene Lehrhaftigkeit aus*). Kaum 150 Jahre dauert die höfische Literaturepoche in Frankreich. In Deutschland, wo sie später einsetzt, ist ihr zeitlicher Umfang noch geringer. Aber auch während dieser kaum anderthalb Jahrhunderte ist sie nur die beherrschende, nicht die ausschließliche Dichtungsart. D i e s e W e l t b e t r a c h t u n g , die so sehr auf Harmonie, Maß und Gleichgewicht gründete, mußte stets von den beiden Extremen her bedroht werden. Freilich wohnte auch den einzelnen Stoffen eine besondere Ausweitungsmöglichkeit inne. Das gilt in besonderem Maße von der Entwicklung des Gralstoffes in Frankreich, am deutlichsten von der Queste del Saint Graal, die wir als das theologisch am folgerichtigsten durchdachte und episch am einheitlichsten aufgebaute Werk der beiden großen Prosagralzyklen zum Vergleich heranziehen müssen. Aufschlußreich ist da vor allem die neue Sinnerfüllung der Lancelotfigur. Bei Chr. erscheint Lancelot als der nach provenzalischer Liebesauffassung tadellose Minner, beim Verfasser der Queste als Beispiel für verfehltes Leben und bittere Reue. In diesen theologischen Strudel wird dann die ganze Artuswelt hineingezogen. K r a f t , Freude und Klugheit werden nicht mehr eigens betont. Dafür aber werden virginité, humilité, soffrance ( = Geduld) und charité als Erfordernis gerade des vollkommenen Ritters hervorgehoben 3 ). Die Tüchtigkeit 1 ) Vgl. dazu Adalbert Hämel, Grundlagen und Bedeutung der romanischen Kulturen, Neue Jahrbücher für Wissenschaft und Jugendbildung 3 (1927). S. 568. 2 ) Zu Deutschland vgl. jetzt G. Ehrismann, Geschichte der deutschen Literatur bis zum Ausgang des Mittelalters, 2. Teil, Schlußband (München 1935)a ) S. die an Lancelot gerichtete Predigt des Einsiedlers in der Queste del saint Graal (hrsg. von Albert Pauphilet, Class. fr. du moyen âge. Bd. 33, Paris 1923), S. 123ff.

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und den Lebensschwung des höfischen Ritters in ihrer E i g e n s p h ä r e darzustellen oder auch nur zu sehen, liegt gar nicht in der Absicht des Questeverfassers. Das aber gerade will Chr. Er erreicht es nicht nur, wie wir gesehen haben, durch die Anlage der Percevalgestalt, sondern auch durch die Einführung Gauvains als zweiten Handlungsmittelpunkt. Gauvain ist Kontrastfigur nicht im Sinn eines ethischen Gegenteils, sondern eines auf der Weltstufe der höfischen Ethik v e r h a r r e n d e n Ritters 1 ). Chr. also, das ergibt sich aus dieser Vergleichung der Queste und des Percevalromans von neuem, ist weit entfernt von einer dualistischen Weltbetrachtung, die sich ja auch auf keinen Fall mit der höfischen Kultur hätte übereinbringen lassen. Er vertritt jenes als „typisch" hochmittelalterlich zu bezeichnende Gott-Welt-Verhältnis, von dem F. Neumann, historisch zurückblickend, schreibt: ,,. . . diesem Ideal, .Sinnenglück' und religiös gefärbten .Seelenfrieden' in rechter Weise gegeneinander abzuwägen, [war] längst dadurch vorgearbeitet, daß auch die maßgebende theologische und das heißt zugleich philosophische Lehre nie den Wert des .Irdischen' gleich Null setzte. Und wenn wir uns vom Mittelalter aui die Antike hin durchtasteten, um die historische Urzelle dieses Ideals aufzusuchen, so würden wir mindestens bis zu der für unsere Kultur folgenschweren Stelle zurückgetrieben, an der nicht bloß der Dualismus der Manichäer, sondern auch neuplatonische Durchstreichung des Irdischen abgelehnt, an der bei aller Drückung des Natürlichen doch das Natürliche, soweit es Natur ist, als gottgeschaffen, d. h. als gut erklärt wird, kurz, wir würden mindestens bis zu Augustin zurückgetrieben" 2 ). Der Percevalroman ist, das sollten diese Erörterungen noch einmal erhärten, in vollem Umfang ein Werk der höfischen, und nicht der geistlichen Literatur. Der ,,san" s e i n e r H a n d l u n g ist nicht als theologische Lehre zu rechnen, sondern rührt, ebenso wie der des Erec und des Yvain, an allgemein menschliche Weisheit. Daß Chr.s Helden weniger als Einzelschicksale erscheinen denn als Repräsentationen des Menschen, liegt einmal in dem idealisierenden Zug aller mittelalterlichen Kunst begründet, sodann in dem starren, auch ästhetisch wirkenden Wertsystem der höfischen Kultur und *) Viel deutlicher noch als Chr. zeigt Wolfram diese Schichtenordnung der Handlung. V o n den Liebesabenteuern, die zur unmittelbaren Charakteristik Gauvains gehören, abgesehen, könnten auch bei Chr. alle Gauvaintaten genau so gut von Perceval vollbracht werden. Wolfram arbeitet nun aber diese den beiden Helden gemeinsame ritterliche Handlungsebene dadurch viel deutlicher heraus, daß er Perceval auch in die K ä m p f e Gauvains kurz eingreifen läßt. — Bei beiden Dichtern kann keine Rede davon sein, daß die Handlung in den Gauvainabenteuern versandet. Die Doppelheit der Helden, genauer, die dieser Doppelheit zugrundeliegende geistige Gesamtkonzeption unterscheidet die beiden Parzivalromane grundlegend von dem Mabinogi. 2) F. Neumann, a. a. O., S. 399.

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nicht zuletzt in der öfter festzustellenden Nirgendwofarbe des Märchens, die Chr. aus dem Stoff entweder übernommen oder die er selber nachgeahmt hat. Wie im Erec und Yvain erwächst der ,,san" des Percevalromans dem Schuld-Sühne-Motiv. Er bezieht sich hier aber nicht auf eine ritterliche, sondern auf eine sittliche Schuld. Und diese kann, das ist eben der „san" des letzten Chr.schen Werkes, nur religiös gesühnt werden. Das allgemeine Thema ist insofern modifiziert, als es Perceval nur auf Grund einer solchen Läuterung möglich ist, seiner Aufgabe, die mehr als höchste Rittergröße verlangt, gerecht zu werden. Natürlich erschöpft sich die epische Wirklichkeit des Romans keineswegs vollständig in diesem Grundthema. Dazu hängen den Materialien, die um den Zentralgedanken herumgebaut sind, zu viel o b j e k t i v e Gewichte an. Der mittelalterliche Dichter bleibt ja bei der Verarbeitung oder bei der Erfindung jener Materialien, mit denen er seine Welt baut, innerhalb einer festen Begrenzung, handle es sich z. B. im Falle Chr.s um das ritterliche Standesethos, die Stoffwelt des Artuskreises, die Atmosphäre des Abenteuers oder um die noch „mythoiden" Bestandteile des Märchens. Wenn es also angesichts dieser objektiven Grundrichtung der mittelalterlichen Kunst als unmöglich erscheint, daß jede kleinste Einzelheit des Romans mikrokosmisch die große Leitidee des Ganzen widerspiegelt, so ist doch die Tatsache der einheitlichen und übersichtlichen Gesamtplanung des Romans unzweifelhaft sicher. Ganz ähnlich wie diese dem modernen künstlerischen Bewußtsein fernliegenden kompositioneilen und geistigen Grundrichtungen der altfranzösischen Epik ist auch das Problem der altfranzösischen epischen Sprache gelagert, wo die Typik und Formelhaftigkeit des durch die poetische Lehre beeinflußten Sprachstiles es verbieten, diesen ausschließlich als persönlichen Ausdruck einer dichterischen Anschauung zu verstehen. Wie an so vielen Punkten der Romaninterpretation ist auch hier wieder die Blickwendung auf die Gesamtheit des erhaltenen Romankörpers notwendig geworden, um die Einzelerklärungen vor Verzeichnungen zu bewahren. Es ist von solcher Betrachtungsweise aus unmöglich, den letzten Roman Chr.s in die Nähe der Mystik zu rücken, wie es G. Cohen 1 ) unternimmt, oder in ihm, wie der nach der anderen Seite hin übertreibende belgische Gelehrte Maurice Wilmotte l ), ein ironisch-skeptisches Unterhaltungsbuch zu sehen. Cohen löst den Percevalroman zu sehr von Chr.s früheren Werken, während ihn Wilmotte einseitig aus der Atmosphäre des Cliges und l ) a. a. O., S. 451 f. u. ö. *) L e poème du Gral, Le Parzival de Wolfram d'Eschenbach et ses sources françaises (Paris 1933), S. 14 u. ö. Ganz unnötig polemisiert Wilmotte (S. 47) gegen Hilkas Titel „Percevalroman", den Hilka, S. I mit einer langen Reihe von Belegen stützt. Der Gral bildet ja bei Chr. in def T a t nicht Thema, sondern Episode der Erzählung.

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des Lancelot heraus beurteilt. In Wirklichkeit führt Chr. seinen Haupthelden in einer konsequent angelegten Steigerung und Entwicklung vom Stadium des (gegen die Mutter schuldig gewordenen) Dümmlings zur Ritterschaft und zum Fehlschlag auf der Gralburg, vom höfischen Triumph in einer jähen Wendung zum seelischen Sturz und zur religiösen Läuterung, und stellt neben diese religiös überwölbte Handlung als epische „Kontrast"-Sphäre die Abenteuerfahrt des weltlichen Musterritters Gauvain. Im Rahmen dieser Gesamtdeutung der Handlung werden nunmehr die religiösen Züge des Romans zu betrachten sein. Zuerst ist der P r o l o g des Werkes ins Auge zu fassen, der, wie wir bereits bei einer früheren Überschau über die sämtlichen Prologe Chr.s ausgeführt haben, zwar keine unmittelbare aufbaumäßige Beziehung zum Roman hat, der aber, was in dem jetzt behandelten Zusammenhang von großer Bedeutung ist, gedanklich und ethisch eng mit ihm verklammert ist. Sein Thema bildet das Lob der „largesce". Nun ist das weder in der altfranzösischen Literatur 1 ) noch speziell bei Chr. etwas Neues. Schon im Cliges wird die „largesce" in einem Vergleich als die schönste aller Tugenden bezeichnet: Mes tot aussi come la rose Est plus que nule autre flors bele, Quant ele nest fresche et novele: Einsi la ou largesce vient, Dessor totes vertuz se tient (V 208 ff.) Der Prolog des Percevalromans geht über diese Auffassung der Freigebigkeit als der Krone des ritterlichen Tugendsystems hinaus und bringt eine gradualistische Verknüpfung von Freigebigkeit und Gottesliebe. Der religiöse Charakter dieses Prologs ist auffallend. Mehrere Bibelstellen begegnen. V 1—6 enthält vielleicht eine Reminiszenz an Matthäus 13, 4—9. V 31 ff. ist eine Übersetzung und Verwertung von Matthäus 6, 3—4'). Die Stelle wird dann erklärt (V 37 ff.) und mit einer Berufung auf Paulus (in Wirklichkeit 1. Joh. 4, 16)4V weitergeführt (V 47ff.). Bedeutsam ist, daß (außer larges in V 28) nicht von largesce, sondern von charité gesprochen 1 ) Die Belege für die (sehr oft recht eigennützige) Lobpreisung der largesce sind in der didaktischen und in der epischen Dichtung des altfr. Zeitraumes ungemein häutig. Ein sehr aufschlußreiches Beispiel befindet sich in dem Prosatraktat „Les quatre âges de l'homme" des Philippe de Novare (nach 1265), wo der largesce die Stellung einer Art Zentraltugend eingeräumt wird (vgl. Ch.-V. Langlois, L a vie en France au moyen âge de la fin du X I I e au milieu du X I V e siècle d'après les moralistes du temps, Nouv. Ed., Paris 1926, S. 212, 228). In diesem Traktat wird der bemerkenswerte Versuch unternommen, die höfische Ethik auf eine breitere soziale Ebene zu übertragen. ») Vgl. Hilka Anm. zu V 28. 8 ) Vgl. ebd., Anm. zu V 3 1 . *) Vgl. ebd., Anm. zu V 49.

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wird (thematisch gebraucht V 43, 46, 47, 48, 52, 59). Die A u f zählung ritterlicher Tugenden im Prolog beim Preis des Grafen Philipp von Flandern gewinnt in diesem religiösen Zusammenhang eine Note, die dem Tugendkatalog der Cligesstelle V 202 ff. völlig fremd ist: L i cuens aimme droite justise E t leauté et sainte iglise E t tote vilenie het, S'est plus larges que l'an ne set, Qu'il done selonc l'evangile, Sanz ypocrisie et sanz guile (V 25ff.). Während über den ritterlichen Tugendbegriff der largesce schon bei der Herausarbeitung des höfischen Gehaltes der Handlung zu sprechen war, ist charité (die Übertragung der griechischen dyanij) ein W o r t religiösen Sinnes. Als solches begegnet es bei Chr. im Y v a i n (V 2 8 3 9 ) u n d im Guillaume d'Angleterre (V 27, 43). In diesem ist es v o n dem gottesfürchtigen Herrscherpaar, in jenem von dem Y v a i n während seines Wahnsinns pflegenden Einsiedler gesagt. Neu ist demnach im Percevalroman seine Verwendung in r i t t e r l i c h e m Sinn. Die Prologstelle gewinnt dadurch noch an Gewicht, daß das W o r t charité, mit aumosne gekoppelt, auch einmal im Gauvainteil verwendet wird, wo Gauvain von denen, die ihm Wohltaten verdanken, gepriesen wird: . . . nos avons celui perdu Qui por Deu toz nos revestoit E t don toz li biens nos venoit P a r aumosne et par charité (V 92o8ff.) a ). Diese v o m Dichter als reflektierte Handlung gemeinte Bemerkung ist deshalb hervorzuheben, weil sie wiederum beweist, daß die Einmischung religiösen Geistes in die ritterliche Sphäre sich spurenweise auch im Gauvainteil aufzeigen läßt. Solche Stellen sind als ethische Überleitungen zwischen den beiden Romanhandlungen zu werten. Selbstverständlich ändern sie nichts an der Richtung der Gauvainhandlung, aber sie weisen darauf hin, wie offen die Ebene der ritterlichen Standestugenden der der christlichen Grundtugenden steht. Zusammenfassend ist der im Prolog so scharf ausgeprägten Zusammenordnung von honestum und summum bonum für die Sinndeutung des Romans entscheidende Bedeutung beizumessen. 1 ) Die Stelle ist auch bei Tobler-Lommatzsch, a. a. O., angegeben, unter der Bedeutung „christliche Nächstenliebe" (Sp. 266). Die mittellateinischen Entsprechungen s. bei Du Cange, Glossarium mediae et infimae latinitatis (Niort 1883), II, S. 171 f. 2) Aumosne (ritterlich verstanden) allein gebraucht Chr. im Y v a i n (V 5987) mit Bezug auf den Titelhelden.

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Von der Spiritualität dieser Prologgedanken hebt sich einerseits der in den Ch. d. g. vorwiegende platte Verdienststandpunkt 1 ) ab, andererseits das ironische Lächeln des Dichters über den Heiligenund Reliquienkult im Cliges (V 6o94ff.) und Lancelot (V i484ff., 4670f.). Alle drei Haltungen haben innerhalb der unbefangenen Geschlossenheit der mittelalterlichen Religiosität Platz, auch die zuletzt genannte. Die ihr zuzurechnenden Äußerungen des Dichters beruhen darauf, daß sie religiöse Formen ihres Gehaltes berauben und mit weltlichem Sinn füllen. Sie wirken demnach nicht als gegenchristliche Erörterungen, sondern als Liebesmetaphern. Sie übersteigern die Eigengesetzlichkeit des weltlichen, sagen aber nichts aus über die Geltung des religiösen Bereiches. Es versteht sich indessen, daß sich das Thema des ethisch viel ernsteren Percevalromans nicht mehr mit solchen Übersteigerungen vertrug. Noch bevor über die Einsiedlerszene als den ausschlaggebenden Beleg für den letzten Romansinn zu sprechen ist, muß auch auf d i e r e l i g i ö s e n A u s d r ü c k e d e r ü b r i g e n H a n d l u n g eingegangen werden. Vieles ist da natürlich durch den formelhaften Charakter des altfranzösischen Stiles bedingt, wie die Formeln der religiösen Beteuerung (si m'ait Deus V 3124, se Deus me voie V 7034, par m'ame V 7794), des Wunsches (. . . icele voire croiz Ou Deus sofri pener son fil, Vos gart hui de mortel peril V 2154 ff., se Deus l'enor vos anvoie V 6630, Deus Ii doint V 9061), des Grußes ([Deus] vos doint hui bone avanture V 8546), des Dankes (la Deu merci V 8710), der Verwünschung (cui Deus grant honte doint V 8763, don Deus soit aorez V 7884), der Anrufung (Deus! biaus sire V 4971), der Ergebung in Gottes Willen (se Deus le pooir l'an consant V 2863) usw. ScJlche Stellen sind literarisches Gemeingut im mittelalterlichen Frankreich. Sie begegnen unterschiedslos in profanem wie in geistlichem Schrifttum. Chr., dessen religiöse Auffassungen j a keineswegs (wie die Wolframs) zukunftsweisend, sondern statisch begrenzt sind, war an diese Tradition gebunden. E r hat diese Formeln aber trotzdem nicht mit der gleichen Unbefangenheit, der lehrhaften Besserungssucht und der stilistischen Dürre so vieler predigthaft gemeinter Reimereien des 12. und 13. Jahrhunderts hingeschrieben 2 ). Wenn auch vieles erstarrte Redensart bleibt und wenn es dem Dichter auch nur selten gelingt, diesen Begriffsschatz geistig neu zu beleben, so hat er ihn doch in zahlreichen Fällen episch neu gewertet. Wo ihm das gelingt, sind die religiösen Stellen an ihrem Eigenton und an ihrer Stellung im Text als lebendig und beseelt, Vgl. Merk, a. a. O., S. 174t. ) Vgl. Helmut Hatzfeld, Einige Stilwesenszüge der altfranzösischen religiösen Reimdichtung, ZrP. 52 (1932), passim. 2

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nicht als abgegriffen und leer zu erkennen. Mit diesem Begriffspaar der Formelhaftigkeit und der Sinnfülle wird in der folgenden Überschau zu arbeiten sein 1 ). Die Beispiele für die erste Behandlungsart stehen dabei voran. Zu den f o r m e l h a f t e n W e n d u n g e n sind vor allem zu rechnen die Heiligenanrufungen: par Saint Pere (V 2195 von Anguingueron, 4249 von Sagremor ausgesprochen), par saint Richier (V 1899), par saint Martin (V 7294, formelhaft im Munde der Orguelleuse, Hs. M hat Maci, S Quentin), . . . par mon seignor saint Davi, Que l'an aore et prie an Gales (V 4134 f., P Geri, S U Remi). Andere Stellen dieser Art enthält der Roman nicht. Die übrigen Romane Chr.s stimmen, was die Zahl und den Sinn dieser Formeln betrifft, damit genau überein. Diese spärliche Verwendung, deren äußerlicher Charakter noch durch die fast ausschließliche Stellung im Reim verstärkt wird, fällt gegenüber der Zahl und dem Platz der Heiligennamen in den Ch. d. g. auf. Ein diesen Epen fremder Name ist lediglich saint Davi, der Patron von Wales. Seine Erwähnung ist rein stofflich begründet 1 ). Einer der wichtigsten Ausdrucksformen der Ch. d. g.-Religiosität steht Chr. demnach fremd gegenüber. Diese hatte in der Hauptsache mit einem wundergläubigen Epenpublikum gerechnet, dem die Heiligengestalten viel konkreter und menschennäher waren als die Gottes'vorstellung. Der höfische Dichter unterdrückt nicht mehr in der gleichen Weise Geistiges auf Kosten von Sinnlichem. Das soll aber nicht heißen, daß jene p r i m i t i v e n , m a g i s c h g e f ä r b t e n R e l i g i o n s a n s c h a u u n g e n nicht auch in den Roman Eingang gefunden hätten. In einem Punkt zeigt sich das sogar recht deutlich, bei der Vorstellung vom Teufel. Von ihm machte sich volkstümlicher primitiver Christenglaube des Mittelalters eine möglichst anschauliche Vorstellung. Er erfaßt so die Religion gleichsam von der negativen, von der Rückseite, über der die positive geistige Gottesvorstellung zu kurz kommt. „Satan ist der antinuminose religiöse Komplex"*), der dieses primitive religiöse Denken beherrscht. Auch im Percevalroman spielt er eine Rolle, und zwar, auffällig betont, in Verbindung mit der Orguelleuse. Von ihr sagt der Dichter, Que pucele n'est ele pas, Einz est pire que Sathenas (V 7455f.). 1) Vgl. Hatzfelds ähnliches Kategorienpaar „der Affektnähe und Affektferne zum religiösen Bezirk" (ebd. S. 696) und des gleichen Verf.s Aufsatz über „Das Heilige im dichterischen Sprachausdruck des Paradiso", Deutsches Dante-Jahrbuch, Bd. 12 (Neue Folge, Bd. 3), Weimar 1930, S. 41, wo Hatzfeld mit den „von Rudolf Otto geschaffenen, sehr glücklichen kategorialen Begriffefn] . . . der tremenden und der faszinanten Religiosität" an die Betrachtung des Heiligen bei Dante herangeht. «) Vgl. Hilka, Anm. zu V 4134/35. ») Hatzfeld, ZrP. 52, S. 694.

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Verwünscht wird sie in einem ähnlichen Bild: . . . £ant deable t'ardent (V 6752). Ein drittes Mal heißt es von ihr: Ce est cele cui maus feus arde (V 8312), ein viertes Mal: Que mout est plainne de deable (V 8599) und ein fünftes Mal: L i deables, cui Deus confonde (V 8604). E s ist, wie schon früher hervorgehoben wurde, kein Zweifel, daß die Figur der Orguelleuse der märchenhaften Stoffschicht der Handlung angehört. Aber im Gegensatz zu den Wunderburgszenen, die weitgehend verhöfischt sind, fehlt dieser Figur bei Chr. der höfische Grundton. Sie ist auch nicht mit der Technik der höfischen Häßlichkeitsbeschreibung gemalt, wie die Perceval verfluchende Botin, von der es V 4 6 1 8 I heißt: Onques riens si leide a devise Ne fu nels dedanz anfer. Der darin beschlossene Gedanke, daß die Häßlichkeit zur Hölle gehört (wie die Schönheit zu Gott), verrät schon eine höfische Beeinflussung der volkstümlichen Anschauung. Wenn Chr. diese Umwertung in den Orguelleuseszenen nicht vorgenommen hat, so handelt er damit, vom Standpunkt der Sprecher, denen die oben zitierten Aussprüche in den Mund gelegt werden (Fährmann, warnende Menge, Yguerne, Guiromelant) durchaus folgerichtig. Gauvain ist bezeichnenderweise nicht darunter. Dieses Ü b e r e i n b r i n g e n v o n E t h o s , G e s t a l t u n d R e d e , das von Witte schon für den Y v a i n nachgewiesen worden ist 1 ), gilt auch für die niedere religiöse Gesinnung des Greoreas. Angesichts des nahenden Todes faßt er die Religion nur als eine Art Sicherung für das Jenseits auf (V697off., 705Öff.). Zu ihm paßt die derbsinnliche Vorstellung, in die sich sein schlechtes Gewissen verdichtet: L i diable a procession M'ame estoient j a venu querre (V 6968f.). Durch Gauvains Heilkunst (V 6926ff.) zu Kräften gekommen, nimmt er mit List dessen Pferd und macht sich aus dem Staub (V 7141 ff.). Die ganze Szene ist ein kleines Sittenbild, ein Kontrast zum edlen, tapferen und ehrlichen Rittertum Percevals und Gauvains. Ihr Sinn liegt nicht zuletzt in der Verspottung einer vom *) a. a. O., S. 175—178 „Unmittelbare Darstellung der Gestalten durch Rede."

II. Vorhöfische und höfische Religiosität h ö f i s c h e n Chr. abgelehnten grobreligiösen Verdienstgläubigkeit, für die er manche Zeugnisse in der Epik der Ch. d. g. finden konnte. Freilich war von der dort vorgeführten Religionsübung vieles auch in den höfischen Roman übergegangen und findet sich auch bei Chr. So wird Religion als Zeremonie verstanden an den Stellen, wo von Gottesdiensten als Teil der Turniervorbereitung (V 5481 ff.) gesprochen wird, oder wo wir hören, daß zur Bekräftigung eines Eides ein kostbarer Reliquienschrein hervorgeholt wird (V 6i94ff.). Solche Fälle äußeren Zeremonienglaubens sind Reste der ritterlichen Religiosität der Ch. d. g. Im Sprachlich-Stilistischen zeigt sich eine ähnliche Entwicklungserscheinung. Denn, ohne daß er es wollte, war Chr. für manche seiner epischen Formeln und Wiederholungserscheinungen der von ihm literarisch bekämpften Ch. d. g.Kunst verpflichtet. In seinem als Gesamtwürdigung dieser Kunst hochbedeutenden Aufsatz: „Über das volkstümliche Epos der Franzosen" 1 ) hat Adolf Tobler auch die religiösen Züge der Ch. d. g. zusammenfassend gewertet. Aus einem Vergleich seiner Sätze mit den betreffenden Beispielen des Percevalromans ergibt sich die zwingende Schlußfolgerung, daß diese als Einflüsse der Heldenepik betrachtet werden müssen, daß aber andererseits ihr Vorhandensein im Percevalroman in keiner Weise etwas mit dem Grundthema der Handlung zu tun hat. Tobler sagt: „ B e i der Betrachtung der Stellung, welche die Religion im Leben des einzelnen einnimmt, beginnen wir mit den Äußerlichkeiten, deren sorgsame Beobachtung von den Angehörigen der Kirche erwartet wird und wenigstens immer ein Beweis des Strebens bleibt, sich als Glied der religiösen Gemeinschaft auch tätlich darzustellen. Der Ritter . . . geht fleißig zur Messe, er unterzieht sich willig den beim Empfang der Ritterwürde auferlegten religiösen Verpflichtungen, er betet im Tempel zu Gott um den Sieg im gerichtlichen Zweikampf; er beschwört vor dem Beginne desselben die Wahrheit dessen, was er verficht, bei den Heiligen, auf deren Reliquien er dabei die Hand legt und den Mund drückt...; er läßt der Kirche reichliche Gaben zufließen . . .; er macht seine Rechnung mit dem Himmel, bevor er sich in das Getümmel der Schlacht stürzt, beichtet seine Sünden, läßt sich Absolution erteilen und empfängt die Kommunion . . .; auch beim Sterben ist er der frommen Bräuche eingedenk, unter denen der Christ aus dem Leben scheidet" 8 ). Wenn, wie aus dieser Charakterisierung der Ch. d. g.Religiosität hervorgeht, die Schilderung gar mancher Rittersitte aus dem Heldenepos in den höfischen Roman eingedrungen ist, so darf aus dieser Übernahme keineswegs jedesmal auf eine rein formelhafte Wiederverwendung geschlossen werden. Wir beobachten vielmehr, daß Chr. in zahlreichen Fällen das inhaltlich Alte dichterisch l

) Vermischte Beiträge, V, S. 159—229. ) Ebd., S. 211.

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gehoben hat. Freilich drängt sich damit das Erzählerische vor das Sachliche. Aber das kann bei einem Epiker wie Chr., der alles bewußt Didaktische ausscheidet, nicht überraschen. Typisch sind vor allem einige Stellen der Belrepeireepisode, wie die Danksagung nach dem Sieg Percevals über Clamadeu (V 2738 ff.). Es ist offenbar, daß der Dichter hier in erster Linie die lebhafte Freude, die sich wie ein Echo vom Rittersaal zu Kirche und Kloster fortpflanzt, hat darstellen wollen. Diese Absicht ist ihm im Rhythmus und in der Lautform des Verses: Sonent de joie tuit Ii sain (V 2741) auch sprachlich gut gelungen. Ebenso kommt es dem Dichter da, wo er den Abschied Percevals von Belrepeire schildert, mehr auf die poetische Stimmungswirkung des Bildes als auf religiöse Gesichtspunkte an: I ot autel procession Con s'il fust jorz d'ascension Ou autel come au diemoinne (V 2939ff.). Auch die folgende, nicht weniger stark auf das Zeremoniell-Kultische abgestimmte Stelle (die Abschiedsrede Percevals V 2962) ist episch genau begründet. Mit der Verheißung von Benefizien nämlich sucht der Held seiner Umgebung den unwiderruflichen Aufbruch aus Belrepeire erträglich zu machen. Das gleiche wie von der Übung religiöser Zeremonien gilt auch vom Gebrauch einzelner Formeln und Redensarten. Auch hier hat der Dichter gelegentlich scheinbar längst Erstarrtes zu lebendigem epischem Sinn erweckt. Wieder können die Beispiele der Belrepeireepisode entlehnt werden. Als Blancheflor es unternimmt, zu nächtlicher Stunde Perceval ihr Anliegen vorzutragen, da verteidigt sie ihren kühnen Schritt am Beginn ihrer langen Rede mit einer feierlichen Beteuerung: Por Deu vos pri et por son fil Que vos ne m'an aiiez plus vil De ce que je sui ci venue (V i983ff.). Als sie am nächsten Morgen Perceval wieder begrüßt, da schwingt unter der Grußformel ernste Bedeutung, die Hoffnung auf einen Sieg Percevals, mit: Sire, Deus vos doint hui bon jor (V 2083). Das gleiche ist von der Antithese zu sagen, mit der die Bewohner von Belrepeire Perceval in seinen ersten Ritterkampf geleiten: Sire, Deus vos soit an aie Hui an cest jor et doint grant mal Anguingueron le seneschal (V 2i46ff.). Auch sonst sind solche Ausdrücke voll innerer Beschwerung zu beobachten (z. B. V 5490!, 5841, 9i52ff.).

IX. Vorhöfische und höfische Religiosität Im Sondergebiet der G o t t e s b e z e i c h n u n g e n erweist sich aber eine noch viel weitergreifende dichterische Hebung der religiösen Begriffswelt: ihre Anpassung an das Ethos des höfisch-weltlichen Rittertums. Zwar herrscht in der Hauptsache die traditionelle Vorstellung vom Schöpfer- und Herrschergott. Stellen wie: Celui qui ciel et terre fist E t homes et bestes i mist (V 575f.), le Criator (V 663), par Deu qui me fist nestre (V 8206), nostre Seignor (V 569), Deus Ii rois (V 1896), roi des rois (V 2647), Damedeu le soverain pere (V 2981, 6804), sire Deus puissanz (V 2990), Ii sire des rois (V 9152) sind Formeln, die in der gleichen Weise auch die Ch. d. g. füllen. Genau so ist es mit folgenden typischen Ausdrücken: Por Deu vos pri et por son fil (V 1983), par le Sauveor (V 3496), Foi que je doi saint Esperite (V 5076), J a le F i l Damedeu ne place (V 8966), die überhaupt keine bestimmte Zeitbeziehung verraten. Manche scheinbar farblose Bezeichnungen werden aber in besonderer Umgebung höfisch getönt, so wenn Gauvain den Preis der corteisie in Yguerne mit dem Segenswunsch einleitet: Ma dame la reine saut Cil sire an cui nus biens ne faut (V 7971 f.). Anderen Gottesattributen wieder geben feste Zusätze ein so unerkennbar höfisches Gepräge, daß sie bereits als höfische Gemeinplätze wirken. Dazu rechnet in erster Linie die Bezeichung Gottes als des Schöpfers höchster Schönheit (z. B . V i8o6f., i826ff., 6645ff., 8544f.). Neben Gott wird auch Nature als Urheberin der Schönheit genannt (vgl. V 385ff., V 7905). Für beides finden sich auch in den früheren Romanen Chr.s schon Belege. So wird die Schönheit Enidens, Soredamors und Fenicens auf die Schöpferkraft Gottes u n d der Natur zurückgeführt 1 ). Diesen Stellen liegt die Vorstellung zugrunde, daß Gott der Natur für die Schaffung körperlicher Schönheit Schöpferrechte abgetreten habe. Das führt zwar zu keiner aufklärerischen Naturgläubigkeit, aber doch zu einer Art seltsamen Wettstreites, wenn es von Laudine heißt, daß „ G o t t Nature in seinem Werke übertreffen will" 2 ) und daß ihm selbst eine zweite derartige Leistung nicht mehr gelingen werde. Trotzdem heißt es bei der Beschreibung Blancheflors: l ) Vgl. die Stellen und andere Belege bei Hilka, Anm. zu V 1827 und 7905. Eine Reihe von Belegen für Chr.s Gottesvorstellung aus Cliges, Erec und Yvain bringt die Straßburger Diss. (1892) von Heinrich Emecke, Chrestien von Troyes als Persönlichkeit und als Dichter, S. 35 f. Nur verraten diese Stellen nicht die „alttestamentlich naive", sondern die mittelalterlich-höfische Gottesvorstellung. ») H. Geizer, a. a. O., S. 23.

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Por anbler san et euer de j a n t Fist Deus de Ii passemervoille, N'onques puis ne fist sa paroille, Ne devant feite ne l'avoit (V i826ff.). E s mag Zufall sein, daß hier weder Nature allein, noch auch,, G o t t und Nature konkurrierend" 1 ) erwähnt werden. Aber wenn die anderen Zeugnisse des Romans daneben gehalten werden, aus denen sich die Einmischung des Religiösen in das Höfische ohne weiteres ergibt, dann erlangt auch diese Schönheitsbeschreibung den Charakter eines Beweises für das Wirken des „höfischen G o t t e s " 1 ) im Percevalroman. Nirgendwo ist dieses E i n s t r ö m e n h ö f i s c h e r W e r t u n g e n i n d i e G o t t e s v o r s t e l l u n g so augenfällig wie in der Wunderburgszene. E s handelt sich dabei nicht um die oben zusammengestellten Arten von Formeln, die nur lose in den T e x t eingefügt sind, sondern um Ausdrucksweisen, die wichtige Bewegungen der Handlung religiös einkleiden. Bezeichnend ist dabei besonders die Darstellung Gottes als Spenders (höfischer) joie und enor: Joie a, qu'onques mes n'ot greignor. De l'enor que Deus Ii a feite (V 7948f.) Die Befreiung des Wunderschlosses ist ein Zeichen von Gottes Huld (V 8015ff.) und als Träger dieser Gnade hat G o t t Gauvain geschickt (V 8067f.). Noch einmal wird, diesmal in einer Chorrede der Schloßdamen, ausgesprochen, daß der höfisch vollkommene Gauvain von Gott zur Schloßbefreiung gesandt worden sei (V 84Ö3ff.)«). Auf die Stelle 8298ff. sei nur verwiesen. Auch der Preis Guenievres gewinnt in diesem Zusammenhang neue Bedeutung. E s wurde j a schon auf die Entwicklung dieser Figur innerhalb des Gesamtwerkes Chr.s hingewiesen. I m Perceval ist sie ganz edle, humane Königin. Seit der Erschaffung der E v a hat es keine so berühmte Frau gegeben wie sie (V 8i8off.). Sie ist in so superlativischem Stile beschrieben (V 8i84ff.), daß es scheint, als habe ihr der Dichter Züge des Marienbildes geliehen. Es ist selbstver!) Ebd. •) H. Naumann, a. a. O., Kap. IV, „Der höfische Gott". s ) Eine ähnliche Gottesbezeichnung einer Ch. d. g.: qui est donneres de joie souveraine wird von Merk, a. a. O., S. 40 angeführt. Sie steht in Berte as grans pi6s und ist natürlich aus der höfischen Erzählkunst übernommen. Merks Arbeit würde wesentlich gewonnen haben, wenn sein riesiges Material irgendwie historisch gesichtet worden wäre. ') In diesem Falle liegt eine religiöse Umgestaltung des märchenhaften Befreiungsmotives vor. Zu einer ritterlich-weltlichen Zwischenstufe ist es hier gar nicht gekommen. B. z. Z.R.Ph. Heft 8a Kellermann

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ständlich, daß bei dieser Beschreibung geistiger und seelischer Schönheit Gott und nicht die Natur als Schöpfer genannt wird (V 8179 ff.). Auch im Gebiet der Gottesvorstellung, so ergibt sich aus dieser Übersicht über die einschlägigen Stellen, verklammert der Percevalroman zwei historische Schichten, die sich durch den Grad ihrer epischen Sinnfülle voneinander abheben: die ältere, formelhaft gewordene, noch aus der karolingischen Epoche herüberwirkende Vorstellung von dem autoritativen Herrschergott und die nur aus einer Zerstörung der strengen dualistischen Jenseits-Diesseits-Anschauung zu erklärende höfische Beeinflussung der Gottesidee. Dieser Wandel ist auch aus der Entwicklung der gesamten ethischen Anschauungen zu verstehen, da j a mit dem Wechsel des obersten Wertbegriffes auch Gott als der Inbegriff aller Wertgüter in neuem Lichte erscheinen mußte. Bedeutsam ist nun, wie sich diese Verschiedenheiten der Gottesanschauungen in der E n t w i c k l u n g P e r c e v a l s erzählerisch spiegeln. Diese Entwicklung offenbart sich nämlich nicht nur darin, daß Perceval in die ihm neue Welt der höfischen Sitte und des ritterlichen Kämpfens hineinwächst, sondern sie betrifft auch die Veränderung seines religiösen Verhaltens. Bis zur Verfluchungsszene wird beides in gleicher Weise nach vorwärts geführt. Dann aber drängt, nach dem Abschluß der rein höfisch-ritterlichen Entfaltung Percevals, die religiöse Entwicklungshandlung in den Vordergrund. Diese zeigt in der Einsiedlerszene eine ganz andere Frömmigkeitsart als am Romanbeginn. Dieser Unterschied ist von Chr. mit dichterischer Bewußtheit gewollt und herausgearbeitet. Ihm gegenüber sind die seelischen Zwischenstufen viel weniger konkret und ausführlich dargestellt. Dazu reichen einmal die erzählerischen Mittel der altfranzösischen Zeit noch nicht hin und andererseits muß hier die Vorliebe Chr.s für a n s c h e i n e n d zweipolige, in der Gesamtschichtung jedoch eindeutig wertbestimmte Gedankenmassen in Rechnung gezogen werden. Naiv und ungeistig sind Percevals Anschauungen über religiöse Dinge bis zur Lehre Gornemants. Erinnert sei dabei an seine bildhaften Vorstellungen vom Teufel, von den Engeln und von Gott. E r nimmt, ganz seiner geistigen Entwicklungsstufe gemäß und den Lehren seiner Mutter folgend, diese Vorstellungen konkret und hält Waffenlärm für Teufelszauber. Man erwehrt sich dessen, wenn man sich bekreuzigt, indem man sich, also eines wirksamen Gegenmittels bedient: Voir me dist ma mere, ma darne, Qui me dist que deable sont Plus esfreö que riens del mont. E t si dist por moi anseignier Que por aus se doit an seignier (V 1 1 4 ff

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Der Anblick der Ritter belehrt Perceval eines anderen. Jetzt hält er sie für Engel. Sie sind im Gegenteil: Les plus beles choses qui soient, Fors Deu qui est plus biaus que tuit (V 144f.). Vor dem mestre des Chevaliers (V 159) fällt der Dümmling nieder, um Gott, den er vor sich glaubt, anzubeten. E r sagt das Credo und alle Gebete her, die er von seiner Mutter weiß (V i55ff.). Denn auch das entstammt einer mütterlichen Unterweisung, daß man Gott anbeten muß (V 150ff.). Das naive religiöse Betragen Percevals ist ein Beweis der psychologischen Folgerichtigkeit, mit der das Bild des Helden gemalt ist. Aber auch die Form der Lehren, die er von der Mutter empfangen hat, paßt in diesen Zusammenhang. Chr. gibt in dieser Szene primitive Religionsäußerungen und primitive Religionsgespräche wieder, denn es wäre unglaubhaft, wenn die Mutter ihrem Sohn dogmatische Distinktionen klarmachen wollte. Sie rät ihm vielmehr, in die Kirche zu gehen und zu beten, also die notwendigen äußeren Akte der Frömmigkeit zu verrichten (V 567ff.). Hier paßt alles mit letzter Konsequenz aufeinander. Wenn ein Ausdruck wie der Segenswunsch Percevals für Gornemant: De toz les apostres de Rome Soiiez vos beneoiz, biaus sire (V 1672 f.) im Munde Percevals unwahrscheinlich klingt, so beeilt sich der Dichter, Perceval hinzusetzen zu lassen: Qu'autel 01 ma mere dire (V 1674). Der Übergang von der Stufe des Nachsagens zu der des Begreifens vollzieht sich für Perceval in der Gornemantszene. Der von Gornemant in feierlicher Zeremonie vorgenommene Ritterschlag ist ein Symbol für die gradualistische Zusammenordnung von religiösen und ritterlichen Pflichten, über die bereits oben gehandelt worden ist. Auch von Gornemant wird Chr. zur Erfüllung der Werkfrömmigkeit aufgefordert (V 1666ff.). Das bedeutet für den Sinn des Romans natürlich sehr wenig. Über ihn gibt erst d i e E i n s i e d l e r s z e n e letzten Bescheid. Hier ist die Percevalhandlung ganz ins Seelische gewendet und von keinerlei äußeren Geschehnissen verdunkelt. Verdoppelt wird das epische Gewicht der Szene dadurch, daß hier auch die Gralhandlung teilweise geklärt wird. Der religiöse Grundcharakter verleiht der Szene auch poetische Einheit. Das Wunderbare, sei es legendenhaften oder märchenhaften Ursprungs, hat in dieser Szene keine tätige K r a f t . Gerade auf dieses, für Chr.s Szenenanlage so wesentliche Zusammenstimmen von Gedankenthema und Stimmungsdichte ist im folgenden zu verweisen. Ausgenommen von der Betrachtung wird natürlich die schon früher behandelte Frage der Schuldmotivierung zu bleiben haben. 13*

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Als Einführung in die Szene dient der Sammelbericht über Percevals fünf gottlose J a h r e (V 6 2 1 7 f f . ) . Die Gründe f ü r den Umschwung in der Seele des Helden sind aufschlußreich. Sie liegen wohl ursprünglich nicht im Innern Percevals, hängen aber trotzdem nicht vom reinen Zufall ab. Chr. hat hier wieder einen o b j e k t i v e n Grund, die Pilgerbegegnung, als Handlungsanstoß gesetzt (Ii a v i n t . . . S ' a trois Chevaliers ancontrez . . . V 6238, 6242). E r s t dann aber kann das psychologische Geschehen zu „spielen" beginnen, als Perceval durch den einen Ritter über Sinn und Bedeutung des Karfreitags belehrt ist. Diese Erklärung geht in einer längeren homilieartigen Rede (V 6265ff.), einer jener „heilsgeschichtlichen Digressionen" vor sich, die in der altfranzösischen religiösen Reimdichtung zu nicht gerade seltenen, o f t formelhaften Einlagen geworden sind. Chr. wendet sie zweimal an, nicht als bloßes spielerisches Füllungsmaterial, sondern an bedeutsamen Plätzen im Handlungsganzen: in der Eingangs- und in der Einsiedlerszene, immer also in einem an sich schon religiös getönten Stück des Romans. Die erste „heilsgeschichtliche Digression" bildet einen Teil der mütterlichen Unterweisung und wird wie von selbst von Percevals einfältigen Fragen nach dem Wesen von „iglise" und „ m o s t i e r " (V 573, 577) gefordert. Die doppelte F r a g e des Naiven nimmt der ganzen Stelle den Charakter eines unnötigen Einschubs und gibt ihr Gesprächscharakter. Zuerst wird in einer formelhaften Umschreibung Gott als Schöpfer des Himmels und der Erde, der Menschen und der Tiere bezeichnet ( V 5 7 5 f . ) , dann folgt nach der Erklärung von „ m o s t i e r " eine Homilie über die Leidensgeschichte (V 582ff.). Ähnlich wie am Beginn des Romans, hat auch die zweite „heilsgeschichtliche Digression" eine deutliche epische Begründung. Die predigtähnliche Ermahnung des Ritters soll Perceval zur Läuterung bereit machen. Wenn dabei eingangs die Pflicht zur Verehrung des Kreuzes betont wird (V 6266ff., anklingend an V 6223, wo die Verfehlung dieser Pflicht von Perceval ausgesagt wird), so weist das auf die wachsende Bedeutung dieses Motivs f ü r Theorie und Praxis der Religion im 12. und 13. Jahrhundert hin. Sehr stark wird es vor allem von Bernhard von Clairvaux verwendet, der es in seiner Predigt e r l e b n i s m ä ß i g auswertet 1 ). Wie bei dem Fragenkreis der ') Hatzfeld, ZrP. 52, S. 703 ff. Die Beziehung der Heilsgeschichte auf das Erleben des Romanhelden unterscheidet die „heilsgeschichtlichen Digressionen" Chr.s von den im Thema ähnlichen, nur ungleich breiter angelegten Partien Borons. Dieser will nach Ph. A. Becker im 1. Teil seines Gralromans „die theologische Seite der Welterlösung" darlegen (ZrP. 5 j , S. 264). An dergleichen denkt Chr. nicht. Borons Romanthema ist der Gral, das Chr.s Perceval. Chr. legt Konflikte in epische Figuren. Boron zeichnet heilsgeschichtliches Geschehen als Erzählung und Lehre nach. E r ist eben vor allem auf die Didaxis gerichtet. *) Vgl. Sancti Bernardi primi abbatis claravallensis Sermones (Xenia Bernardina, Pars prima, Wien 1891), Fase. I, „Feria IV Hebdomadae Sanctae sermo. De passione Domini", S. 315—325. — Zum Christentum

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Schuld und Bekehrung werden wir auch bei einer historischen Sicht d i e s e r Probleme letztlich auf augustinischeIdeen zurückgetrieben 1 ). Die Aufzählung der Heilstatsachen in der Ermahnung des Einsiedlers ist in manchem anders geordnet als die der Mutter. Ein wesentlicher Unterschied beruht in der Erweiterung der mitgeteilten Lehren durch das Einbeziehen mariologischer Gedanken 2 ). Die hierhergehörigen Verse (V 6 2 7 9 ! , 6283ff.) scheinen kein Ausdruck naiver Volksfrömmigkeit, sondern theologische Formulierungen. Dieser von der Eingangsszene des Romans abweichende Ton ist durch die tiefere religiöse Bildung von Lehrendem und Belehrtem bedingt. Zu der inhaltlichen Vertiefung der Lehrdistinktionen gesellt sich der in der Einsiedlerszene spärliche 8 ), aber wirkungsvolle Gebrauch der rhetorischen Mittel und der Wiederholungsformen, so die spitzfindige Verwendung des homonymen Reimes, der Wiederholung und der Umstellung: Cil qui de toz pechiez fu mondes V i t les pechiez don toz Ii mondes Ert anliiez et antechiez (V 6 2 7 1 ff.). Während der Unterweisung des Ritters vollzieht sich Percevals innere Wandlung. Wir erfahren vom Dichter nicht die innere Entwicklung selber, sondern nur das Resultat und vor allem dessen gefühlsmäßig-mimische Ausdrucksbewegungen 4 ). So ist denn an Bernhards, besonders zu seinen Erfahrungs- und Erlebniszügen vgl. Heinhold Seeberg, L e h r b u c h der Dogmengeschichte, Bd. 3, Die Dogmengeschichte des Mittelalters (4. A u f l . , Leipzig 1910), S. i 2 3 f f . und H . Schwarz, Der Gottesgedanke in der Geschichte der Philosophie (Synthesis, B d . 4, Heidelberg 1913), I, S. 29off. Im augustinischen Sinn wertet schon das Frühmittelalter „ d a s W o r t . . . als Gnadenmittel . . ., so d a ß e t w a die E r w ä h n u n g der Passionsgeschichte die Bekehrung w i r k t " Seeberg, S. 54). x ) Natürlich ist mit solchen Annäherungen nichts beabsichtigt, als Chr.s W e r k geistesgeschichtlich zu situieren. — Zur Neuerweckung augustinischer Gedanken im 12. Jahrhundert vgl. Seeberg, a. a. O., S. 125 und 325 f. ,,Im Karolingerzeitalter h a t t e man sich die Formeln Augustins angeeignet, im n . und 12. Jahrhundert erschließt sich dem geistigen Bedarf einer neuen W e l t der Geist Augustins. Die großen religiösen Ideen des Afrikaners wurden mit Begierde erfaßt, aber mit ihnen zugleich empfing man eine Weltanschauung und eine Fülle philosophischer I m p u l s e " (S. 325). — Vgl. auch oben S. 120—123. *) Auf diesem Gebiet w a r die theologische Spekulation des 12. Jahrhunderts besonders produktiv, v g l . Seeberg, a. a. O., S. 266. W e n n man bedenkt, d a ß hier die Theologie h a t „ d e r P r a x i s folgen müssen" (S. 266), so versteht man die Ä h n l i c h k e i t der Chr.schen Formulierungen mit den v o n Merk (a. a. O., S. 71 ff.) aus den Ch. d. g. belegten Wendungen. 8) V g l . e t w a außer dem im T e x t Angeführten den nachdrücklich unterstreichenden Charakter der S y n o n y m a in V 6261 f., die zuspitzende Antithese in V 6294 u. a. 4 ) A u c h sonst in der Einsiedlerszene h a t Chr. nicht auf die seinen Stil im allgemeinen auszeichnende Genauigkeit der Handlungsbeschreibung verzichtet (vgl. V 6321 ff., 6338ff., 6501 ff.).

II. Vorhöfische und höfische Religiosität

dieser Gelenkstelle der Einsiedlerszene die Zerknirschung des reuigen Ritters durch die Schilderung seines Weinens und Seufzens veranschaulicht (V 6 3 1 5 ^ , 6333ff., 6 3 5 i f f . ) r ) . Damit ist dann die eigentliche gedankliche Mitte der Szene, das Beichtgespräch zwischen Perceval und dem Einsiedler (V 636off.) erreicht. Da dieses bereits früher eingehend gewürdigt worden ist, ist hier nur noch einmal auf seinen Abschluß, die Angabe und Wirkung der „penitance" (V 6433) hinzuweisen. Sie wird in Inhalt und Umfang bestimmt durch den „Grundsatz, ut et contrariis contraria curet et emendet" *). Diese satisfactio bringt den BuOakt zum Abschluß, ist demnach seine Vollendung, aber nicht sein wesentlichstes Stück 8 ). Zur besonderen Buße kommt noch als allgemeine hinzu, daß Perceval zwei Tage beim Einsiedler verbleiben und seine Nahrung teilen soll (V Ö476ff.) 4 ). Contritio und poenitentia haben schließlich nicht nur die Wirkung, daß Perceval von schwerer Schuld gereinigt, sondern daß auch sein durch die vergebliche Gralsuche so gestörtes inneres Gleichgewicht wiederhergestellt ist. Und so schließt sich, da Perceval von neuem F r e u d e empfindet (V 6494) und ganz ruhig wird (V 6498), auch die Linie seiner seelischen Entwicklung wieder zur Rundung zusammen. Wenn nach all dem Gesagten die Einsiedlerszene (abgesehen natürlich von den Gralproblemen) der dogmengeschichtlichen Situation der Zeit entspricht, so enthält sie doch einen diese Einheit störenden Zug: d a s G e b e t m i t d e n g e h e i m n i s v o l l e n G o t t e s b e z e i c h n u n g e n (V 6481—92). E s steht zwischen dem Bußver1 ) Bernhard von Clairvaux spricht vom herzstärkenden Brot der Tränen: „ H a b e m u s etiam panem lacrimarum, qui licet minus suavis optime tarnen confirmât cor hominis" (a. a. O.), fasc. II, S . 7 0 1 . Zu den Gebetsgesten vgl. auch Louis Gougaud, Dévotions et pratiques ascétiques du moyen âge (Paris 1925), „ L e s gestes de la prière", S. 1 — 4 2 . 2

) Seeberg, a. a. O., S. 104. ) Hilkas A n m . zu V 6 4 3 3 ff. nimmt keinen Bezug auf die dogmengeschichtliche Situation der Zeit. Die Rechtfertigung erfolgt j a nach der Lehre dieser Epoche hauptsächlich durch die contritio und die subjektiven Akte des Büßenden, weniger durch die Verrichtung der Bußwerke. Zum Verhältnis der einzelnen Teile der Buße vgl. Teetaert, Confession aux laïques, S. 2 5 3 f . Alle Teile „concourent à la rémission totale du p é c h é " (S. 253). Wichtigstes Element aber ist die contritio. Auf ihr beruht in erster Linie die Rechtfertigung. Die (übrigens auch in den Ch. d. g., vgl. Merk, a. a. O., S. 1 1 8 ) unterbliebene Angabe der Lossprechungsformel spricht nicht dagegen, daß es sich bei Chr. nicht um eine Laienbeichte handelt. — Chr.s T e x t gibt diesen zeitgeschichtlichen Sachverhalt genau wieder (V 6 3 6 2 f . ) und ist vollständig klar. Die Variante der Hs. A zu V 6 4 7 2 : Se tu viaus avoir de Deu grâces entspricht besser der Situation als die von Hilka angenommene Lesung: Se ravoir viaus totes tes grâces. — Zur ganzen Frage vgl. auch Seeberg, a. a. O., S. 2 7 9 f f . 3

4 ) V o m Frühmittelalter Seeberg, a. a. O., S. 104.

her gilt

Fasten

als Hauptbußwerk,

vgl.

II. Vorhöfische und höfische Religiosität

199

sprechen und der Bußverrichtung Percevais ziemlich isoliert im Text und ließe sich ohne jede inhaltliche oder metrische Änderung des Umtextes aus dem Roman herauslösen (V 6493 leitet mit der typischen einsi-Zusammenfassung ein). Einen solchen Versuch verbietet aber die Tatsache, daß die 1 2 Verse (in C sogar um 2 vermehrt) in jeder der 15 Percevalhandschriften stehen (der Percevalprosadruck 1530 allerdings enthält sie nicht). Die Erwähnung des Gebetes bildet den Schluß des Beichtgespräches. Der Einsiedler flüstert Perceval die Worte eindringlich und nachhaltig zu und zwar so lange, bis er sie kann (V 6481—83). In diesem Gebet waren: Assez des nons nostre Seignor, Car il i furent Ii greignor Que nomer ne doit boche d'ome, Se por peor de mort nés nome (V 6485 ff.). Das Gebet darf nur in großer Gefahr verrichtet werden. Perceval verspricht auch das (V 6490—92). Religionspsychologisch gesehen, ist die hier angedeutete Gebetsart mit primitivem Beten in Zusammenhang zu bringen. Die Namen Gottes, die nur in schwerer Gefahr ausgesprochen werden dürfen, bilden eine Art Zauber- oder besser Beschwörungsgebet, das es Gott nicht anheimgestellt sein läßt, die Bitte zu erhören oder nicht, sondern das ihn bestimmen soll, dem Bedrängten zu helfen. Der Name Gottes ist in diesem Fall nicht nur Bezeichnung oder Anredeform, sondern enthält selber wirkende Kraft. E r weist nicht nur hin auf Gottes Allmacht und Größe, sondern enthält selber einen Teil der Seinsfülle, die sonst in den Namen Gottes nur angedeutet wird. Das aber gehört zum Wesen des Zaubers. Wir sind damit wieder bei jener magischen Färbung der Religion angekommen, der auch die oben besprochene Teufelsauffassung zuzurechnen ist und die außerhalb der den Percevalroman entscheidend bestimmenden rationalen religiösen Atmosphäre liegt. E s genügt z. B., das von Perceval nach der Entfernung von Belrepeire gesprochene Gebet um ein Wiedersehen mit der Mutter, in dem er Gott unaufhörlich anfleht: Que il Ii doint trover sa mere Plainne de vie et de santé. Se il Ii vient a volanté (V 2982ff.), mit dem eben skizzierten Gebetscharakter zu vergleichen, wo sich die „Vorstellung einer realen Einwirkung des menschlichen Gebets auf den Willen der Gottheit" 1 ) vordrängt, um den Unterschied !) Friedrich Heiler, Das Gebet. Eine religionsgeschichtliche und religionspsychologische Untersuchung (2. Aufl., München 1920), S. 140.

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I I . Vorhöfische und höfische Religiosität

zwischen dem magisch-naiven und dem kultivierten tischen" 1 ) Beten zu verstehen.

„prophe-

Die Frage, von welchen bestimmten historischen Quellen Chr. bei der Erwähnung dieses Gebetstypus abhängig gewesen ist, übersteigt jenes religionspsychologische Problem weitaus an Schwierigkeit und ist wohl kaum zu lösen. Es lassen sich nur nähere und fernere Parallelen anführen. A. Hilka weist auf „hebr.-samaritan.mystische" Gottesnamen als Quelle für hymnische und volkstümliche Segensformeln hin und zitiert auch als in die gleiche Linie gehörend einige der Percevalstelle auffallend ähnliche Verse des Flamencaromans a ). Schon Tobler hatte sich um die Aufhellung dieser Verse bemüht. Er ist geneigt, die dort als Gebetsinhalt angegebene Aufzählung von 72 Gottesnamen eher so aufzufassen, als sei es bei ihrem Hersagen „nur darum zu tun . . . . das Verdienst einer ausgedehnten Kenntnis der von der heiligen Geschichte und Sage überlieferten Vorgänge und des Glaubens daran geltend zu machen"*). Diese Erklärung des Gottesnamengebetes als Pochen auf die eigene religiöse Tüchtigkeit entspricht jedoch der Situation nicht so sehr wie die Tobler weniger wahrscheinlich dünkende „magische" Deutung. Sie trägt ja viel weniger der seelischen Lage Rechnung, in der dieses Gebet gesprochen wird. Denn der Bedrängnis der Seele und der Gefährdung des Lebens entspricht viel eher ein restloser menschlicher Glaube an die Erhörung des Gebetes als ein stolzes Hervorheben des persönlichen Wertes 4 ). Wie dem auch sei, die beiden Einsiedlergebete im Perceval- und Flamencaroman sind Notgebete und haben beschwörenden Charakter. Dadurch aber lassen sie sich einer Art des altfranzösischen und altspanischen epischen Gebetes annähern, in dem der eigentlichen Bitte eine oft lange Aufzählung göttlicher Wundertaten und Allmachtsbeweise vorangeht®). Der Typus liegt sehr deutlich vor im Gebet Guillelmes vor dem Kampf gegen den sarazenischen Riesen x) Ebd., S. 409: „Hierin liegt der gewaltige Unterschied des prophetischen Gebets vom primitiven, daß es genau wie das mystische nicht auf vergängliche Augenblickswerte, sondern auf einen letzten und höchsten.Wert gerichtet ist." s)

a. a. O., Anm. zu V 6484/85.

Ebd.

s. reichliche Literatur.

3)

Tobler, a. a. O., S. 212. E s ist natürlich leicht möglich, daß der Flamencadichter die Chr.-Stelle gekannt hat, wenn sie auch nicht die ausschließliche Quelle sein wird. Die provenzalische Stelle ist ja weit genauer als die Chr.s. 4) Damit sei nicht bestritten, daß beide „Mittel der Überredung" sowohl im primitiven wie im prophetischen Gebet vorkommen. Vgl. Heiler, a. a. O., S. 80—89 und 372—378. s ) Die Bezeichnung „biblisches" Gebet bei Johannes Altona, Gebete und Anrufungen in den altfranzösischen Chansons de geste (Diss. Marburg, 1883), S. 12, t r i f f t den Umfang der angeführten Allmachtsbeweise nicht.

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1

Corsolt im Couronnement de Louis (V 695—789) ) und im Gebet der Ximena für den Cid im Cantar de Mio Cid (V 356—391)*). Bei der historischen Herleitung dieser Gebetsform kommt es nicht nur darauf an, Parallelen mit gleichem Gebetsinhalt, sondern auch mit gleichem Gebetszweck zu finden. Das altchristliche Gemeindelobpreisungsgebet 3 ) entspricht diesen Bestimmungen nicht. Die in diese Richtung gehende Behauptung Leo Spitzers ist deshalb von D. Scheludko mit Recht abgelehnt worden 4 ). Viel deutlicher entsprechen dem altepischen Gebet die „Paradigmengebete ostsyrischer Kirchendichtung" 4 ). „Das Wesen der — am besten etwa als Paradigmengebet zu bezeichnenden — Gebetsweise liegt darin, daß — mindestens von Hause aus — im Rahmen inhaltlichen Bittgebetes und mit starker Neigung zu formal litaneimäßigem Aufbau mehr oder weniger umfangreiche Reihen von Beispielen göttlicher Gebetserhörung und Wunderhilfe aus der Vorzeit angeführt werden" 6 ). Kullmann setzt, sehr gut verdeutlichend, hinzu : „Psychologisch ist diese Gebetsweise letzten Endes als Bindung der Gottheit zu erklären: in die Kette der Rettungstaten soll der Bittende eingegliedert werden"'). Zwar ist die „Paradigmenreihe" solcher Gebete in der pseudoapostolischen Schrift der apostolischen Konstitutionen (um 400) „zur Grundlage des Dankes gemacht worden" 8 ), aber das Paradigmengebet zeigt anderswo, nämlich bei seinem Gebrauch als Sterbegebet, einen alten Sinn als „ein zu nachdrücklichster Inbrunst gesteigertes Bittgebet um Erbarmen und Errettung"»). Diesen Charakter als Notgebet weist im altfranzösischen Literaturbezirk das Gebet Rolands vor dem Tode auf 1 0 ). Gerade wenn man die letzte Verwendung dieses Gebetstypus in Betracht zieht, so erscheinen Beziehungen zwischen dem altfranzösischen Aufzählungsund Gottesnamengebet und dem von Osten stammenden Paradigmengebet sehr leicht möglich. Diese Wahrscheinlichkeit verstärkt sich noch, wenn man mit Baumstark bedenkt, daß im „Bereiche 1 ) Ausg. von Ernest Langlois (Class. fr. du moyen âge. Bd. 22, 2. Aufl., Paris 1922), S. 22—25. 2 ) Ausg. von Max Leopold Wagner (Romanische Texte, Bd. 4, Berlin 1920), S. i s f . s ) Vgl. Heiler, a. a. O., S. 444—451. 4 ) Über das altfranzösische epische Gebet, ZfSL. 58 (1934), S. 67ff. Vgl. auch ebd., S. 171 ff. — Zu Spitzers Auffassung vgl. Zu den Gebeten im „Couronnement Louis" und im „Cantar de Mio Cid", ZfSL. 56 (1932), S. 196 ff. *) Anton Baumstark, Paradigmengebete ostsyrischer Kirchendichdichtung, Oriens christianus 10, 1 1 (1923), S. i f f . Ich verdanke den Hinweis der Untersuchung Ewald Kulimanns, Die dichterische und sprachliche Gestalt des Cantar de mio Cid, RF. 45 (1931), S. i7f., der das Paradigmengebet zur Erklärung des Gebetes der doña Ximena heranzieht. •) Baumstark, a. a. O., S. 2. ') Kullmann, a. a. O., S. 17. 8 ) Baumstark, S. 4. ») Ebd. 10 ) V 2384—2388 (Ausg. von Léon Clédat, 10. Aufl., Paris o. J.), S. 88f.

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außerliturgischer Volksfrömmigkeit . . . die Form des Paradigmengebetes [leicht] in den Bereich des Zaubergebetes" hinübergleiten konnte 1 ). So erscheint denn auch das Gebet, das der Einsiedler Perceval einschärft, als eine dem Paradigmengebet nahe verwandte Gebetsform. Von diesem Zusammenhang aus gesehen, verliert es auch seine auf den ersten Blick so verwunderliche Beziehungslosigkeit innerhalb der Bußszene des Romans. Denn hier muß es notwendigerweise die Gewißheit der Läuterung von Sünde und Schuld steigern. E s erscheint wichtig, daß die heutige Beichtordnung der griechischen Kirche eine auch „in den altslawischen Texten" 2 ) stehende Ermahnung des Priesters nach erfolgter confessio enthält, in der paradigmenartig leibliche Fälle von Heilung angeführt werden. E s wird j a auch „gewiß nicht entfremden, wenn die Art alten Fastenund Notgebetes mehrfach in Bußgebeten anklingt" 3 ). „ F a s t ausnahmslos ist . . . das formale Schema mit einem speziellen, dem jeweiligen Gebetsgegenstand angepaßten Inhalte erfüllt" 1 ). Eine historische Sonderfrage betrifft den Weg, auf dem diese unverkennbar östliche Gebetsart nach Westeuropa gelangt ist. Die Vermittlung konnte leicht durch den gallisch-mozarabischen Ritus, dem die Form des Paradigmengebetes nicht fremd ist, vielmehr seine volkstümliche Erhaltung und Weiterbildung geschehen 6 ). Dabei ist besonders an Gebets- und Segensformel, Erzählung und Legende zu denken. Was das Gottesnamengebet Chr.s betrifft, so wird wohl vor allem an die erste Quelle gedacht werden müssen 4 ). Damit aber ergibt sich, daß dieses so fremdartige Gebet der gleichen schon früher besprochenen Schicht älterer religiöser Vorstellungen angehört, die, ehemals liturgisch eingekleidet, entweder schon zur Formel geworden waren oder sich auf dem Weg dahin befanden. Der Unterschied besteht nur darin, daß es sich hier um eine vom Osten herkommende Praxis handelt. Genau wie oben zeigt es sich aber auch hier, daß die religiöse Grundebene des Romans ihr Aussehen und ihre Besonderheit der Tatsache verdankt, daß sie unmittelbar auf die Zeit des Dichters bezogen ist. Das Gottesnamengebet spielt keinerlei Rolle bei der Lösung des Perceval'schen Seelenkonfliktes. Die Läuterung des Helden erfolgt ja nicht im Bereich magischen Zaubers, sondern in dem rational-mittelalterlicher ') Baumstark, a. a. O., S. 5. 2 ) Alexios v. Maltzew, Die Sacramente der Orthodox-Katholischen Kirche des Morgenlandes, Deutsch und slawisch unter Berücksichtigung des griechischen Urtextes (Berlin 1898), S. 2 1 1 , Anm. Die „Ermahnung" selbst s. ebd. S. 211—217. 8 ) Baumstark, a. a. O., S. 5. *) Ebd., S. 6. s ) Für die Zeit Chrestiens entfällt natürlich die Annahme einer unmittelbaren liturgischen Einwirkung, denn die einheimische Liturgie Frankreichs verschwindet seit karolingischer Zeit, die Spaniens seit dem Ende des xi. Jahrhunderts. •) Vgl. die volkskundlichen Hinweise bei Hilka, Anm. zu V 6484/85.

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Religiosität. Durch nichts wird das klarer als durch die Häufung kirchlich-kultischer Züge in der Einsiedlerszene. Bereits oben wurde darauf hingewiesen, daß Chr. die von ihm geschaffenen Seelenkonflikte ohne Zurücklassung hintergründiger, tragischschicksalsmäßiger Reste auflöst. Erfolgte im Y v a i n die Harmonisierung in der höfischen Lebensanschauung, so mußte sie im Percevalroman im Sakramental-Kirchlichen erfolgen. Für Chr. war es unmöglich, Perceval über den festen Umkreis der religiösen Heilsmöglichkeiten hinaustreten zu lassen. Diese für den mittelalterlichen Menschen objektiv gegebenen Möglichkeiten gestatten die Lösung schwerster seelischer und moralischer Konflikte auf rein sakramentalem Wege. E s muß hier nochmal darauf hingewiesen werden, daß auch die höfischen Romane Chr.s eine Autonomie der seelischen Verwicklung nicht kennen. Daher kommt es auch, daß ihre Themen im Grunde keine psychologische, sondern ethische Konflikte sind. Werte werden gegeneinandergestellt, nicht als aussichtslose Antinomien, sondern als gleichgeordnete, in letzter Linie wohl zu vereinbarende Teile einer g e s c h l o s s e n e n G e s a m t e t h i k . Der Weg zur Schlichtung des Widerstreites verlangt Kampf, aber die Lösung heißt geordnete Harmonie und nicht unüberwindliche Tragik. Und damit sind wir von neuem bei jenem Zentralpunkt der hochmittelalterlichen Weltsicht angekommen, von dem aus auch die Einsiedlerszene des Percevalromans letztlich beurteilt werden muß. Der Begriff des tragisch Schicksalsmäßigen existiert nämlich für die hochmittelalterliche Christenheit nur im Rahmen der theologischen Erlösungslehre. Darauf haben neuerdings E . Winkler und Ph. A . Becker nachdrücklichst hingewiesen. Der erste führt in seinen „Gedanken zum Wiener Girard de Roussillon" aus: „Und hier tritt am deutlichsten zutage, woran der Eindruck des Fehlens der tragischen Note in der altfranzösischen Literatur in Wahrheit liegt. Die tragischen Wirkungen sind der französischen Literatur des Mittelalters nicht fremd, aber kirchlich-dogmatischer Sinn hat sie besondere Bindungen mit christlicher Glaubens- und Sittenlehre eingehen lassen, hat sie von allgemein-menschlicher Weite weg wesentlich eingeengt und eingeschmolzen in religiöse Erbauung und frommes Hoffen auf das himmlische Jerusalem nach dem Leid des sündigen Diesseits. So ist das Adamsspiel erlebt, der Theophilus und manches andere Stück der frühesten französischen Dramatik: das Leid des Erblasters oder der persönlichen Sünde gebrochen und überwunden durch Erlösungsglauben und christliche Buße. Christlicher Glaube und christliches Ethos absorbieren — nicht b l o ß in der Dramatik — den Sinn fürs Tragische. E r ist eingeengt in den Bezirk des Religiösen" 1 ). „ D i e mittelalterliche Weltanschauung hatte, gebunden wie sie war, geringes Vertrauen in die seelische l ) Festschrift der 57. Versammlung deutscher Philologen und Schulmänner in Salzburg (Baden bei Wien 1929), S. 85.

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II. Vorhöfische und höfische Religiosität

K r a f t des Individuums. Sie konnte und wollte dem Menschen nicht überlassen, selbst, ohne fremde Hilfe, durch e i g e n e religiöse B e trachtung und Reflexion sich emporzuarbeiten aus dem Leid zu dessen Überwindung. E r s t d a durch hätte das Erlebnis Wucht empfangen. Der mittelalterliche Dichter . . . aber ließ seinem Publikum das Erlebnis der geistigen Überkompensation des Leides von dem Helden der Dichtung selbst vorleben, indem er ihn nicht zum Untergange, sondern breit und augenfällig zur Reue und zum A u f stieg aus der sittlichen Tiefe emporführte. E r ebnete seinem Publikum allzu willfährig den Weg der Überkompensation, erleichterte ihm das Erlebnis—und nahm dem Erlebnis den Reiz der L e i s t u n g " 1 ) . Und Ph. A. Becker sagt von der gereimten Gregoriuslegende: „ I n haltlich ist sie eine eindringliche Veranschaulichung der Lehre, daß es keine Sünde gibt, wie ungeheuerlich sie auch sei, die nicht durch Reue und Buße getilgt werden kann" 8 ). I m Geiste dieser Anschauungen hat Chr. den K o n f l i k t in Percevals Innerem getilgt. Aber man darf nicht an jedes religiöse Besinnen im Hochmittelalter den Maßstab solcher beruhigter Statik anlegen. E s gilt, die zeitlichen, die nationalen und die persönlichen Unterschiede zu beachten. Gewiß sind sowohl im 1 2 . Jahrhundert, der Vorreife mittelalterlichen Denkens, wie in dessen Hochreife im 1 3 . Jahrhundert, die grundlegenden Ideen des Weltbildes von uneingeschränkter Gültigkeit, aber das 1 3 . Jahrhundert erlebt sie bewußter und kämpferischer, weil es ihre Bedrohung klarer ahnt als die vorausgehende Epoche. In diesen Unterschied der Zeiten ist nun auch jener der Völker verschlungen. Denn jene statische Sicherheit eignet dem Westen in viel höherem Maße als Deutschland. Und es zeigt sich, daß überall da, wo sich im Hochmittelalter germanische Art durchsetzt, die Befriedung des Lebens und der Menschen, das Zusammenzwingen der Gegensätze in Seele und Welt erst nach viel härterem Ringen gelingt, als im romanischen Bezirk. E s ist da gerade an Wolfram zu denken und an den Kampf Parzivals gegen das Schicksal, das ihm von Gott zu Unrecht auferlegt scheint. Parzival taucht in der Trevrizentszene nicht einfach in der verzeihenden Güte Gottes unter, sondern er e r k e n n t Gottes Barmherzigkeit, Allmacht und Treue (Perceval dagegen e r l e b t nur seinen Zusammenbruch und seine Läuterung). Wolframs Art, den Konflikt im Helden zu lösen, läßt auch dem Willen des Kämpfenden, sich im Recht Glaubenden und dann langsam sehend Werdenden seine Bedeutung. Freilich bleibt dabei ein Gegensatz zwischen schicksalhafter Gnade der Gralauffindung und erstrebter Gralsuche bestehen. Aber dieses Willenselement darf auf keinen F a l l renaissancehaft-modern verstanden werden. Die Parallelen sind aus dem Denken gleichgearteter m i t t e l a l t e r l i c h e r Gestalten zu erbringen, eines Bernhard von Clairvaux vor allem, !) Ebd., S. 86f. >) ZrP. 55, S. 259.

III. Der Gral, sein Sinn, seine Umgebung und seine Geschichte „dessen ganzes Leben in Menschenwirkung aufging, der aus edelstem B l u t in ritterlichen Kreisen aufwuchs, der in Kampfsinn und Eigen-sinn wie im rötlichen Blondhaar und in der leuchtenden Parzivalhaut das Erbe seiner germanischen Ahnen bewahrte" 1 ), und der von der „magnitudo animi" folgendes Bild zeichnete: „ I a m vero magni patrisfamilias seu regiae maiestatis schema apparere existimo his, qui accedentes ad cor altum, de maiori spiritus libertate et puritate conscientiae magnanimiores facti, consueverunt audere maiora, inquieti prorsus et curiosi secretiora penetrare et apprehendere sublimiora et tentare perfectiora, non modo sensuum sed et virtutum. Hi enim pro fidei magnitudine digni inveniuntur qui inducantur in omnem plenitudinem : nec est omnino in omnibus apothecis sapientiae a quo deus scientiarum dominus arcendos censeat cupidos veritatis, vanitatis non conscios" '). Der Vergleich von Bernhard und Wolfram, den Wolfram von den Steinen») andeutet, könnte für das Verständnis des Zentralproblems im Parzival, und, durch eine Gegenüberstellung mit Chr., auch für dessen Interpretation von aufschlußreicher Bedeutung sein.

III. Der Gral, sein Sinn, seine Umgebung und seine Geschichte Zur Darstellung und Deutung der den Percevalroman tragenden geistigen Grundlagen gehört schließlich auch eine zusammenfassende Erörterung der Gralstellen. In erster Linie handelt es sich dabei darum, die Auffassung des Dichters vom Gral und den damit verknüpften Personen und Gegenständen klarzustellen und damit den epischen Platz des Gral in der Erzählung festzulegen. Das wird aber nicht geschehen können, ohne daß auch auf die Probleme der Gralherkunft und der gesamten Stoffgeschichte des Romans eingegangen wird. Chr. hat, ganz seiner Kompositionsweise gemäß, die epische Vorführung des Gralwunders von der Aufklärung über das Geheimnis getrennt. Zwar ist diese Aufhellung nicht bis zur letzten Klarheit gediehen, aber das in der Einsiedlerszene Gesagte ist so deutlich, daß sich zwingende Einsichten ergeben. Auf jeden Fall sind Gralszene und Einsiedlerszene im vorhandenen Romanbruchstück die Eckpfeiler der Chr.schen Gralgeschichte. Dazwischen liegen einige Angaben (Gespräch Percevals mit der Base, Verfluchungsrede x) Wolfram von den Steinen, Vom heiligen Geist des Mittelalters, Anselm von Canterbury, Bernhard von Clairvaux (Breslau 1926), S. 158. ») Ebd., S. 223. 3) Ebd., S. 230. Vgl. auch G. Ehrismann, Dantes Göttliche Komödie und Wolframs von Eschenbach Parzival, Idealistische Neuphilologie, Festschrift für Karl Voßler zum 6. September 1922 (Heidelberg 1922), S. 174«.

III. Der Gral, sein Sinn, seine Umgebung und seine Geschichte „dessen ganzes Leben in Menschenwirkung aufging, der aus edelstem B l u t in ritterlichen Kreisen aufwuchs, der in Kampfsinn und Eigen-sinn wie im rötlichen Blondhaar und in der leuchtenden Parzivalhaut das Erbe seiner germanischen Ahnen bewahrte" 1 ), und der von der „magnitudo animi" folgendes Bild zeichnete: „ I a m vero magni patrisfamilias seu regiae maiestatis schema apparere existimo his, qui accedentes ad cor altum, de maiori spiritus libertate et puritate conscientiae magnanimiores facti, consueverunt audere maiora, inquieti prorsus et curiosi secretiora penetrare et apprehendere sublimiora et tentare perfectiora, non modo sensuum sed et virtutum. Hi enim pro fidei magnitudine digni inveniuntur qui inducantur in omnem plenitudinem : nec est omnino in omnibus apothecis sapientiae a quo deus scientiarum dominus arcendos censeat cupidos veritatis, vanitatis non conscios" '). Der Vergleich von Bernhard und Wolfram, den Wolfram von den Steinen») andeutet, könnte für das Verständnis des Zentralproblems im Parzival, und, durch eine Gegenüberstellung mit Chr., auch für dessen Interpretation von aufschlußreicher Bedeutung sein.

III. Der Gral, sein Sinn, seine Umgebung und seine Geschichte Zur Darstellung und Deutung der den Percevalroman tragenden geistigen Grundlagen gehört schließlich auch eine zusammenfassende Erörterung der Gralstellen. In erster Linie handelt es sich dabei darum, die Auffassung des Dichters vom Gral und den damit verknüpften Personen und Gegenständen klarzustellen und damit den epischen Platz des Gral in der Erzählung festzulegen. Das wird aber nicht geschehen können, ohne daß auch auf die Probleme der Gralherkunft und der gesamten Stoffgeschichte des Romans eingegangen wird. Chr. hat, ganz seiner Kompositionsweise gemäß, die epische Vorführung des Gralwunders von der Aufklärung über das Geheimnis getrennt. Zwar ist diese Aufhellung nicht bis zur letzten Klarheit gediehen, aber das in der Einsiedlerszene Gesagte ist so deutlich, daß sich zwingende Einsichten ergeben. Auf jeden Fall sind Gralszene und Einsiedlerszene im vorhandenen Romanbruchstück die Eckpfeiler der Chr.schen Gralgeschichte. Dazwischen liegen einige Angaben (Gespräch Percevals mit der Base, Verfluchungsrede x) Wolfram von den Steinen, Vom heiligen Geist des Mittelalters, Anselm von Canterbury, Bernhard von Clairvaux (Breslau 1926), S. 158. ») Ebd., S. 223. 3) Ebd., S. 230. Vgl. auch G. Ehrismann, Dantes Göttliche Komödie und Wolframs von Eschenbach Parzival, Idealistische Neuphilologie, Festschrift für Karl Voßler zum 6. September 1922 (Heidelberg 1922), S. 174«.

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der häßlichen Botin), die die Spannung weitertreiben und die Lösung des Rätsels gerade so weit fördern, daß das Interesse des Lesers am Fortgang der Erzählung nicht in Frage gestellt ist. Da auch die Einsiedlerszene nach einer solchen letzten entscheidenden K l ä rung verlangt, ergibt sich, daß der Gral vom Dichter als ein Kompositionsmittel höchster Spannungsträchtigkeit verwendet worden ist 1 ). Schon von diesem epischen Standpunkt aus läßt sich auf die Absicht Chr.s schließen, den Roman mit einer letzten Gralszene zu bekrönen. Diese konnte, wenn die Anlage des Werkes, vor allem die Läuterung Percevals, überhaupt sinnvoll sein sollte, nur ein erfolgreicher zweiter Besuch des Helden auf der Gralburg sein. Schon die Handlungsführung des zweiten Yvainteiles zeigt j a in den Begegnungen des noch schuldigen, bzw. des geläuterten Helden mit Laudine eine Komposition, die, wie in so vielem, den Aufbau des Percevalromans im Keime enthält. Fällt so die kompositionelle Verarbeitung des Gralstoffes keineswegs aus dem Rahmen der sonstigen Erzählungsweise Chr.s heraus, so weist auch d i e E i n f ü h r u n g d e r G r a l s z e n e u n d i h r e B e s c h r e i b u n g s t e c h n i k die typischen Merkmale seines epischen Stiles auf. Über diese Punkte ist zuerst zu handeln. Die Motivierung der Szene innerhalb des Romanplanes liegt fest, wenn auch der Dichter, seiner Arbeitsweise getreu, eine Scheinmotivierung (Percevals Sehnsucht nach der Mutter) angibt. Die Geschehnisse auf der Gralburg selbst zeigen dann die für Chr. nicht minder bezeichnende Verquickung von höfischer und märchenhafter Atmosphäre, von konkreter Anschauung und Wunderstimmung, nur daß es sich auf der Gralburg teilweise um das christliche Wunder handelt. Die Gleichzeitigkeit dieser beiden Welten ist eines der wichtigsten stilistischen Merkmale des ganzen Abschnittes. Übergänge von der einen zur anderen Ebene wie V 3 1 3 0 : Que que il parloient einsi, V 3190: Que qu'il parloient d'un et d'el, stehen in Reimbrechung und bewirken so eine verstärkte Verklammerung. Die Szene hat ihren Spannungsgipfel im Erscheinen der Lanze und des Gral. Aber nichts läßt an ihrem Beginn solche Ereignisse erwarten. Im Gegenteil, ein neues ritterliches Abenteuer Percevals scheint sich anzukündigen. Eine Zeitlang sogar fühlt sich der Leser an früher Berichtetes erinnert. Denn die Schloßbeschreibung (V 3050 ff.) gleicht der in der Gornemantszene (V I323ff.). Auch die vorangehende Wegschilderung enthält vergleichbare Stellen (V 1 3 1 7 f f . , 2994 ff.). Der Dichter malt dann eingehend ein Interieur (V 3093 ff.). Solche Szenen erweckten durch ihren höfischen Charakter beim Publikum erhöhte Resonanz. Darum beschreibt der Dichter so eingehend (z B . V 3099 erzene Säulen, 3 2 1 5 Metall, 3219 Zahl, 326off. Tischplatte aus Elfenbein, 3266ff. Ebenholzschragen, 3276ff. Tisch1 ) Auch W. Golther betont, in anderem Zusammenhang, daß „der Gral nicht Ziel, sondern nur Mittel der Handlung" (a. a. O., S. 17) ist.

III. Der Gral, sein Sinn, seine Umgebung und seine Geschichte tuch). Deswegen schildert er so genau das höfische Zeremoniell (V 3254ff.) und besonders das Mahl (V 328off., 3 3 i 5 f f . ) , vor allem in V 3325 ff., wo mit einer wahren Gelehrsamkeit Nachspeisen und Magenmittel benannt werden. Das Staunen Percevals (V 3334 f.) ist das des Lesers oder Hörers. Trotz der inhaltlichen Verschiedenheit zwischen höfischer und märchenhafter Stoffwelt hat die Szene einen einheitlichen Ton, denn das unerhörte Wunder der Gralerscheinung erfaßt auch die höfische Umwelt und läßt nur Außergewöhnliches, Hyperbolisches neben sich bestehen (z B . V 3278^, 3 3 i 6 f . ) 1 ) . Die Aufhebung des Abstandes zwischen beiden Sphären schlägt aber noch lieber den umgekehrten Weg ein. In diesem Fall ist die Beschreibung des Wundererfüllten mit der konkreten Angabe unwichtiger Einzelheiten durchsetzt (das Angeln des Fischerkönigs V 3000ff., insbesondere: un poissonet Petit greignor d'un veironet V 3009f., Weg des Lanzenträgers im Saal V 3194^). Die Vollständigkeit der Handlungsbeschreibung ist oft mitten im Märchengeschehen durch das Ausschwingen einer noch so unbedeutenden Geste gekennzeichnet (V 3184, Übergabe des Gralschwertes an einen Knappen). Wenn man an den Gral und seine Umgebung von dieser epischen und stilistischen Betrachtungsweise aus herangeht, so ergeben sich wichtige Tatsachen für d i e D e u t u n g d e r e i n z e l n e n P h ä n o m e n e bei Chr. D a s G r a l s c h w e r t z. B . steht bei ihm nur in loser Verbindung mit dem Gral. E s scheint viel enger mit der Percevalgestalt verbunden. Wie das Lachen der Jungfrau am Artushof und das Ahnen des Ritters im Wald ist es für den Helden ein Zeichen seiner Auserwählung : . . . ceste espee Vos fu jugiee et destinee (V 3167f.). Ähnliche Züge finden sich im Lancelot, der ja wie der Percevalroman das märchenhafte Erlösungsmotiv gestaltet. Es liegt hier ein Sagenmotiv vor, das sehr leicht ins Ritterliche gewendet werden konnte 2 ). Das Schwert kennzeichnet Perceval schon zu Beginn der Gralszene als den Erwählten. Ob es im Verlauf der Handlung noch eine Rolle spielen sollte, ist eine strittige, kaum zu entscheidende Frage. Das Gespräch, das Perceval mit der Base darüber führt, ist *) Damit wird nur auf eine stilistische Assimilation hingewiesen. Über die Frage, ob die so hyperbolisch beschriebenen Speisen vom Gral gespendet sind oder nicht, ist später zu handeln. 2 ) Vgl. Sparnaay, Verschmelzung, S. 91, wo Parallelen angegeben werden. Mit dem Motiv der Schwertprobe in den Gralfortsetzungen hat das Schwert im Percevalroman natürlich nichts zu tun. Andererseits ist es verständlich, wenn der Unbenannte Fortsetzer in einer Erweiterung der Frageproben Gauvain auch nach dem Schwert auf der Gralburg fragen läßt. Ein anderes Wunderschwert begegnet am Beginn der Queste. Nur Galaad ist imstande, es aus dem roten Marmorblock zu ziehen.

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III- Der Gral, sein Sinn, seine Umgebung und seine Geschichte

eine Parallele zur vorhergehenden teilweisen Aufklärung über die Gestalt des Fischerkönigs. Der Leser erfährt jedoch über das Schicksal des Schwertes nur dunkle Andeutungen, keine Gewißheiten (V 3673 ff.). Eindeutig ist nur der vom Gralmotiv unabhängige S i n n des Schwertes. E s „ist ein Reststück eines größeren Sagenblocks und nur ein literarisches Ausstattungsmittel" x). „Unsre Neugier soll durch die feierliche Überreichung und die Weissagung geweckt werden"*). Viel mehr als ein solches Spannungsmittel ist d i e G r a l b u r g . Sie allein genügt schon, um die märchenhafte Einklammerung des Gralstoffes bei Chr. zu erweisen. Der Dichter hat hier gar nicht die Absicht, den zugrunde liegenden Märchenstoff vollständig zu verdecken. E r schafft wieder jenes Zwischenreich zwischen Wirklichem und Unmöglichem, in dem sich eine weitgehende Rationalisierung des Wunders mit dem Anreiz zum Staunen und der Beschreibung des Zauberhaften zur Einheit bindet. Das plötzliche Auftauchen der Gralburg ist von Chr. nicht im Sinne einer Vision hervorgehoben, sondern durch die heftige Reaktion des suchenden Perceval auf den angeblich falschen R a t des Fischers (V 3040 ff.). Plötzlich taucht dann in einem Tal eine verheißende Turmspitze auf (V 3050 ff.). Die einsame Lage der Gralburg kann schon in der die Szene einleitenden Wegschilderung angedeutet sein (V 2976ff.). Ganz unmißverständlich aber ist das Gespräch Percevals mit seiner Base. E s bringt Perceval zur Gewißheit, daß nur ihm die sonst unsichtbare und unerreichbare Burg sich erschlossen hat. Auch hier bleibt das Geheimnis innerhalb einer rationalen Sphäre. Seine Erklärung geht vom Konkreten zum Fernerliegenden, vom Sichtbaren zum Unbekannten. Chr. läßt den Leser an der Enträtselung mitwirken. Der Gegensatz zwischen dem verlassenen Land und dem gepflegten Aussehen des Pferdes veranlaßt die Base Percevals zum logischen Schließen (V 3474 ff.). Perceval nimmt dieses Schließen auf (V 3485 s'il i pert) und berichtet seinen Besuch beim Fischerkönig. „Die schwere Auffindbarkeit der Gralburg", die G. Weber zu den „Spuren der arabischen Gralsage"') rechnet, ist demnach nichts anderes als der Märchenstoff von der verwunschenen Burg 4 ). Wauchier, Perlesvaus und *) Ehrismann, Lit.-Gesch., 2 Teil, II, 1, S. 253. 2 ) Golther, a. a. O., S. 13. Damit gehört dieser Szenenteil in jenen Spannungsbereich, der oben als Spannung der Vorstellungen behandelt wurde. — Auf dem Schwert steht seine Herkunft. Man kann sich denken, daß auch die damit verknüpfte Weissagung in einer Inschrift darauf angegeben war: E t avuec ce ancore i vit (V 3138). Dieser Vers schließt in der Form unmittelbar an V 3136^: Si vit bien ou eie fu feite Car an l'espee estoit escrit, an. Damit schwände wohl Hilkas Bedenken in Anm. zu V 3136. *) Wolfram von Eschenbach, S. 126. 4 ) Vgl. Golther, a. a. O., S. i6f.

I I I . Der Gral, sein Sinn, seine Umgebung und seine Geschichte Queste haben ihn (bsi ihrer nachzuweisenden Abhängigkeit von Chr.) einfach aus dem Percevalroman bezogen 1 ). Die Gralburg ist der Aufenthaltsort des alten mit dem Gral bedienten Königs (V 641 jff.) und dessen Sohnes, des roi Pescheor. Aber nur der erste gehört, wie Sparnaay 2 ) mit Recht nachdrücklichst hervorhebt, zur ursprünglichen Gralgeschichte. Er tritt in der Romanhandlung stark zurück (bei Wolfram noch mehr als bei Chr.). Er spielt weniger eine epische als eine geistig-inhaltliche Rolle, d e n n a n i h n k n ü p f t s i c h C h r . s c h r i s t l i c h e G r a l a u f f a s s u n g . Aus diesem Grunde wird anläßlich der Graldeutung noch einmal von ihm gesprochen werden müssen. Weitaus größere erzählerische Bedeutung hat d e r F i s c h e r k ö n i g , dessen Schilderung in der gleichen, halb wunderbaren, halb höfischen Atmosphäre bleibt wie die der Gralburg: hier sind die geographischen Gegebenheiten der Wunderszene so klar, daß sie sich zeichnerisch veranschaulichen ließen, dort legt der rätselhaft Verwundete und Sieche eine musterhafte, unüberbietbare ritterliche Höflichkeit (tant come il puet se sozlieve V 3114) an den Tag. Mit dem rätselhaften Glanz und der geheimnisvollen Funktion des Gral hat der roi Pescheor 3 ) bei Chr. unmittelbar nichts zu tun. Die Gralfrage bezieht sich denn auch bei Chr. ausschließlich auf den Empfänger des Gral (Quel l ) Dasselbe gilt auch v o n anderen P u n k t e n dieser arabischen Überlieferung, die sich nach Weber, ebd., in den franz. Gralromanen nach Chr. finden. Vgl. dazu auch Paetzel, a. a. O., S. 1 2 7 — 1 3 1 . V o r allem sind Webers P u n k t e 2, 3, 11, 12 („Vorherbestimmung der G r a l h ü t e r " , Reinheitsforderung für die Gralhüter, „ d a s Leuchtende des G r a l s " , seine Verborgenheit für den Sünder) unmittelbar schon in Chr. enthalten. Die gleichen 4 P u n k t e sind auch bei Boron mit dem Gral verk n ü p f t . Bei ihm k o m m t dann noch eine schärfere Betonung des geheimnisvollen Charakters des Gral dazu (Weber, ebd., P u n k t 10). A b e r bei Boron lassen sich alle diese Einzelheiten noch leichter aus christlicher T r a d i t i o n erklären (vgl. das später dazu Ausgeführte). Natürlich kann Chr. solche P u n k t e aus einer christlich beeinflußten arabischen Gralquelle haben, aber sie hängen teilweise, wie Weber selbst zugibt (S. 105 f., i 2 g f . ) so eng mit den von Chr. verarbeiteten Märchenstoffen zusammen {Gespenstermärchen, L a n z e ; ich führe die T a t s a c h e nur als solche an, o h n e mich mit den v o n Weber im einzelnen vorgenommenen I d e n t i fikationen zu beschäftigen), oder weisen so deutlich auf die v o n C h r . vorgenommene Verchristlichung des Gralstoffes hin, daß sie von hier aus e r k l ä r t werden können. Gerade die Läuterungsidee und die Schuldmotivierung sind Chr.s dichterisches Eigentum. D a m i t aber sind W e b e r s P u n k t e 3 und 12 engst verknüpft. Zu den übrigen in Frage kommenden P u n k t e n vgl. das Folgende. — Der Grund, weshalb Weber das Gespenstermärchen, das doch nun einmal mit Chr. in die Perceval-Graltradition hineingekommen war, nicht mit jenem in den späteren Gralbearbeitungen wiederkehrenden Z u g der schweren A u f f i n d b a r k e i t der Gralburg in V e r bindung gebracht hat, kann nur der sein, d a ß er diesen über K y o t und nicht über Chr. z u W o l f r a m gelangt haben wissen will. ') a. a. O . , S. 102 ff. a ) Über diesen N a m e n vgl. das unten im Zusammenhang mit der Erörterung des Gralsinnes Gesagte. S . z. Z.R.Ph. Heft 88. Kellermann 14.

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III. Der Gral, sein Sinn, seine Umgebung und seine Geschichte

riche home l'an an servoit V 4661), d. h. auf den Vater des Fischerkönigs. Die Erklärung dieses christlichen Sachverhalts erfolgt in der Einsiedlerszene. Mit der Frage nach der Lanze aber ist es anders. Sie kann sich nur auf den Fischerkönig beziehen, denn von Percevais Base wird als eine Wirkung der gestellten Fragen die Heilung des verwundeten roi Pescheor ( = riche roi V 3533) bezeichnet. Da es aber vollkommen sinnlos wäre, wenn durch die Frage nach dem Empfänger des Gral dessen Sohn geheilt würde und weil außerdem in diesem Falle die Frage nach der Lanze ganz und gar unnötig wäre, ergibt sich die zwingende Schlußfolgerung, daß Lanze und Fischerkönig episch genau so zusammengehören wie Gral und Gralkönig. Dieser zweite Fragenkomplex ist vollkommen der Einsiedlerszene vorbehalten. Die Erläuterungen der Base betreffen nur Namen, Krankheit (V 3509 ff.) und Heilung (V 3586ff.) des Fischerkönigs. Freilich spricht auch die Base in reichlich allgemeinen Wendungen. Chr. übt auch hier sein gleichzeitig verdeutlichendes und verhüllendes Spiel. Lanze und Fischerkönig werden teilweise erklärt, der Gral aber bleibt völlig im dunkeln. Was über ihn in dieser Szene gesprochen wird, ist nichts als ein in rascher höfischer Wechselrede aufgelockerter Bericht von Percevais Gralerlebnis, das freilich Perceval nicht so tief getroffen hat, wie es seiner ihm schicksalhaft zukommenden Rolle als Gralfinder entsprochen hätte. Dieser rasche Dialog ist typisch für die Selbständigkeit Chr.s in der Erzählung vergangener Tatsachen. Die nächste, wieder nur stückhafte Aufhellung der Gralburggeheimnisse erfolgt erst am Schluß des ersten Percevalteiles. Aber die Schmährede der häßlichen Botin geht wieder nicht auf das Wesen des Gral ein, sondern nur auf das durch die Unterlassung der Fragen entstehende Unheil (V 4669ff.), wiederholt also im Grunde die Angaben der Base, nur mit dem Unterschied, daß Perceval jetzt von den gegen ihn gerichteten Vorwürfen ganz anders erschüttert wird als zuvor. Die Erniedrigung erreicht ihn j a auf der Höhe seines ritterlichen Ruhmes. Hier ist der Gralempfänger als riche home (V 4661), der Fischerkönig übereinstimmend mit V 3533 als riche roi (V 4671) bezeichnet. Auch hier können sich die Wirkungen des unterlassenen Fragens (se tu demandé l'eüsses V 4670) text- und sinngemäß nur auf die Lanze beziehen. Die Rätsel des „riche home" und des Gral werden auch hier noch nicht gelichtet 1 ). *) Natürlich richten sich die Vorwürfe der Base und der Botin implicite auch auf die Unterlassung der eigentlichen Gralfrage durch Perceval. Aber über ihre Wirkung wird weder von diesen beiden Nebenpersonen noch auch vom Einsiedler etwas ausgesagt. Das wäre wahrscheinlich erst am Schlüsse des Romans geschehen. An den beiden besprochenen Stellen kommt es letztlich nicht so sehr auf die Trennung der beiden Fragen an, wie auf die Wirkung ihrer Unterlassung. Diese konnte offenbar am Beispiel der Lanzenfrage episch besser veranschaulicht werden.

III. Der Gral, sein Sinn, seine Umgebung und seine Geschichte

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In dieser großen Artusszene teilt sich der Roman in die Percevalund in die Gauvainhandlung. Vom Gral ist bis zur Einsiedlerszene keine Rede mehr. Das bedeutet aber, daß Perceval und Gral fortan eine enge epische und kompositionelle Einheit bilden. Parallel dazu wird d a s L a n z e n t h e m a in das Gauvaingeschehen eingegliedert. Anlaß dazu ist das Ende der Escavalonszene. Chr. unterbricht hier, seiner epischen Stauungstechnik entsprechend, die Fortführung der Guiganbresilhandlung. Unter der Bedingung nämlich, daß Gauvain binnen Jahresfrist die stets blutende Lanze nach Escavalon bringt, soll er in Freiheit gesetzt werden (V 6 1 1 2 f f . , 6i64ff.). Gral- und Lanzensuche werden demnach auf die beiden Romanhelden verteilt. Die Lanze, die Gauvain finden soll, ist mit Unheil verknüpft, denn es steht geschrieben: . . . qu'il iert une ore Que toz Ii reaumes de Logres, Qui j a dis fu la terre as ogres, Sera destruiz par cele lance (V 6i68ff.). Der Wortlaut dieser Prophezeiung läßt sich nun aber widerspruchslos mit den geheimnisvollen Andeutungen der Base und der häßlichen Botin über die Folgen der Frage in Übereinstimmung bringen. Dort heißt es, daß dem verletzten guten König geholfen worden wäre, daß er die Herrschaft über seine Glieder zurückgewonnen und über sein Land zu großem Nutzen regiert hätte (V 3586 ff.); hier, daß der geheilte Fischerkönig sein Land wieder in Frieden verwaltet hätte, daß aber jetzt statt dessen über Land und Bewohner großes Unheil kommen werde (V 4671 ff.). Das letzte wird an der ersten Stelle mit: . . . grant enui An avandront toi et autrui (V 3591 f.) kurz abgemacht. Zusammenfassend läßt sich sagen, daß das von der Lanze verursachte Elend von dem durch die Frage geheilten Fischerkönig abgewendet worden wäre. Die Auffassung der Lanze bei Chr. ist demnach völlig einheitlich. Zwischen der Lanze der Percevalhandlung und der der Gauvainhandlung besteht kein Unterschied des Sinnes und, so dürfen wir hier vorausblickend anfügen, auch nicht des historischen Ursprunges. Sie ist märchenhaft und hat keine Berührungspunkte mit der Longinuslanze. E s ist also unnötig, wie G. Weber der Auffassung G. Ehrismanns zu folgen, nach der in der Gauvainhandlung Chr.s ,,ein keltischer Sagenzug von der Lanze, mit der einst das Königreich Logres (England) . . . zerstört werden wird (oder worden ist) mit der Lanze vom Gral vermengt" 1 ) sei. Vielmehr ist, wie W. Golther ausführt, die Lanze bei Chr. rein märchenhaft. Wenn trotzdem die Lanze Chr.s von l

) Weber, a. a. O., S. 130. Ehrismann, Lit. Gesch., S. 253. Vgl. auch Birch-Hirschfeld, a. a. O., S. 122, der die Existenz einer keltischen Lanze und deren evtl. Verschmelzung mit der Longinuslanze im Bereich der Möglichkeit hält. 14*

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III- Der Gral, sein Sinn, seine Umgebung und seine Geschichte

einer Reihe von Forschern wie Förster, Bruce und Sparnaay als die christliche Longinuslanze bezeichnet wird, so liegt das daran, daß hier Züge der späteren Stoffentwicklung in Chr. vorverlegt worden sind 1 ). Richtig ist ohne Zweifel, wie Sparnaay feststellt, daß die christliche Lanze „kein ursprüngliches Element der Graldichtungen" ist 2 ). Dafür kann ihr Fehlen bei Robert von Boron als sicherer Beweis angesehen werden. Denn es ist nicht einzusehen, warum dieser so vom Geist der Legende, der Apokryphen und der christlichen Symbolik erfüllte Dichter die so vollständig in der Linie seiner Gralauffassung (Blutschüssel) liegende Longinuslanze nicht erwähnt hätte. Gelegenheiten dazu hatte er in seinem Werk mehrfach, vor allem im ersten Teil 3 ). Viel wahrscheinlicher aber, als daß Boron ein seinem Gral so verwandtes Heiltum nicht in die Erzählung aufgenommen hat, ist die Annahme, daß von einer blutenden Longinuslanze damals noch nichts bekannt war. Wenn aber Boron Chr.s Percevalroman kannte, dann besteht die Vermutung Webers zurecht, daß er „empfinden mußte, wie wenig er Kristians Ausdeutungen brauchen konnte" 4 ). Das kann aber nur heißen, daß Boron in diesem Fall die Lanze Chr.s als das verstand, was sie wirklich ist, nämlich als märchenhaftes Wunder. Diesen Charakter verliert sie dann beim Unbenannten Fortsetzer 6 ). Daß hier auf ein ursprünglich märchenhaftes Motiv ein christliches Reis aufgepfropft wurde, ist die im Altertum und Mittelalter ständig geübte Methode, altes Sagen- und Märchengut zu erhalten, zu ändern oder neu zu beleben. Dieser Weg ist jedenfalls viel gewöhnlicher, als der, immerhin auch nicht seltene, christliche Legendenstoffe ganz oder teil*) Golther, a. a. O., S. i 8 f . , 49f. Die Feststellung Webers, a. a. O., S. 130: „ D i e christliche Heilslanze paßt zu Kr.s Gawan wie die Faust aufs Auge", verliert somit ihre Gültigkeit, denn Chr.s Lanze ist kein christliches Heiltum. Einen christlichen Charakter der Lanze nehmen ohne weiteres an Förster, Wörterbuch, S. 1 7 9 * ; James Douglas Bruce, The Evolution of Arthurian Romance from the Beginnings down to the Year 1300 (Hesperia, Ergänzungsreihe, H. 8, 9, Göttingen 1928), I, S. 257 und Sparnaay, a. a. O., S. 89f. R. J. Peebles, The Legend of Longinus (Bryn Mawr College Monographs, Monograph Series, I X , 1911) glaubt den christlichen Charakter der Logres-Lanze dadurch zu retten, daß sie beweisen will, daß die Longinuslanze gleichzeitig schrecklich und rettend sei. (Vgl. Bruce, a. a. O., S. 382, Anm. 17.) Aber ihre Beweisstelle ist ein T e x t des 15. Jahrhunderts. Die Doppelwirkung des Achillesspeers (Heinzel, bei Bruce, a. a. O., S. 382, Anm. 18) andererseits gehört einer ganz verschiedenen Sagen- und Gedankenwelt an und ist wohl nichts als eine äußerliche Parallele. s) Sparnaay, a. a. O., S. 89. *) E r erwähnt ja sogar die Handlung, des Longinus: [la pierre] Qui fendi quant Ii sans raia De sen costé, ou fu feruz (V 560f.), ohne ihn jedoch zu benennen. 4) Weber, a. a. O., S. 130, Anm. 317. •) Golther, a. a. O., S. 49f.

I I I . Der Gral, sein Sinn, seine Umgebung und seine Geschichte

weise rückzupaganisieren 1 ). Für die erste Art der Verschmelzung bot allerdings gerade die keltische Lanze Chr.s großen Anreiz, besonders wenn man bedenkt, daß der Unbenannte Fortsetzer nicht wie Chr. Rohmaterialien zu einem epischen Bau verarbeitete, sondern an der Vollendung eines im Kompositionellen und Geistigen scharf charakterisierten Torso mithelfen wollte. Sobald die Lanze einmal als christlich erklärt war, blieb ihr dieser Charakter in sämtlichen französischen Gralromanen der Folgezeit, auch ein Beweis für die ständig verchristlichende Tendenz der ganzen Gralentwicklung. Auf jeden Fall ist die Verschmelzung der beiden Lanzentypen durch die ändernde Hand eines einzelnen Erzählers genügend erklärt. Aber auch die Möglichkeit, daß der Anonyme Fortsetzer seinerseits aus einer besonderen Legendenquelle geschöpft hätte, entfällt, denn es gibt ja keine Longinuslegende von der blutenden Lanze 2 ). Eine andere Möglichkeit schließlich, Gral und Lanze in e i n e n Stoffkomplex zusammenzubringen, ist die von Konrad Burdach geschaffene Theorie vom Ursprung der Grallegende aus „der orientalischen L i t u r g i e und M y s t a g o g i e " 8 ) . Burdach ist der Meinung, „daß Gral und Longinus-Lanze z u s a m m e n von Anfang an untrennbar den u r s p r ü n g l i c h e n Kern der Gralsage bildeten'' 4 ). Diese Auffassung gründet sich in der Hauptsache auf die Ähnlichkeit des Zurüstungsteiles und des sog. Großen Einzuges in der byzantinischen Chrysostomusliturgie mit der Gralprozession. Aber der Unterschied zwischen der Chr.sehen und Wolframschen Prozession, die wirkliche Wunderfakten schildern, und der symbolischmystischen Ausdeutung des liturgischen Brauches in der byzantinischen Messe ist so gewaltig, daß es unmöglich erscheint, die beiden Erscheinungen in eine historische Abfolge zu bringen. Selbst wenn das heilige Messer der byzantinischen Messe ursprünglich den *) Das nimmt Sparnaay, a. a. O., S. 87, für den Gral, Wechssler, a. a. O., S. 117, für Lanze und Fischerkönig an. 2) Darauf legt schon Ernst Martin, Parzival und Titurel, II, S. L X , Nachdruck: „ D i e Grallegende sieht in der Lanze die des Longinus, welche Christi Brust am Kreuze durchbohrte. Aber daß diese Lanze seitdem beständig blutete, wird in den Quellen der wirklich kirchlichen Sage nirgend angenommen: als man 1098 auf dem 1. Kreuzzug in Antiochia die heilige Lanze auffand, ist diese Eigenschaft nicht vorausgesetzt worden." Freilich ist die darauffolgende Kombination Martins, der Name Logres sei christlich zu Longinus umgedeutet worden, abzulehnen. BirchHirschfeld, a. a. O., S. 122, und Golther, a. a. O., S. 50, betonen wie Martin das Fehlen der blutenden Lanze in der Longinus-Legende. Diese enthält im wesentlichen die Bekehrung des Longinus und die Heilung seiner Blindheit durch die Blutsalbung. Vgl. den A u f s a t z von Franz Joseph Dölger, Die Blutsalbung des Soldaten mit der Lanze im Passionsspiel Christus patiens. Zugleich ein Beitrag zur Longinus-Legende (Antike und Christentum, I V , Münster i. W . , 1934), S. 81 ff. s ) Der Ursprung der Grallegende (Vorspiel, Bd. 1, Teil 1 : Mittelalter. Halle a. d. S. 1925), S. 167. 4) Longinus und der Gral (ebd.), S. 161.

III. Der Gral, sein Sinn, seine Umgebung und seine Geschichte Longinusspeer symbolisiert, so ist damit noch nicht erwiesen, daß der Kelch der Ostliturgie auch zu gleicher Zeit der Gral ist 1 ). Wenn es sich demnach als unmöglich erweist, eine, sei es epische, sei es historische Einheit von Gral und Lanze zu erschließen, so erscheint es auf Grund der obigen Ausführungen erlaubt, eine solche E i n h e i t v o n L a n z e u n d F i s c h e r k ö n i g herzustellen. Der gleiche Zusammenhang ergibt sich nun für Gral und Gralkönig. Über beide geben die Aufklärungen des Einsiedlers wichtigen Bescheid. Von der Lanze ist darin nicht mehr die Rede. Das hat die schon angegebene kompositioneile Ursache. Diese beruht aber ihrerseits wieder auf der bestimmten geistigen Ausrichtung, die Chr. der Läuterung Percevals gegeben hat. Die Einsiedlerszene läßt das in Gesamtstimmung und Einzelangaben deutlich erkennen. Sie unterscheidet sich von der Gralszene nicht nur durch den Wegfall des rein märchenhaften Lanzenwunders, sondern auch durch ihre stilistische Tönung. Jenes Ineinander von konkretisierender Veranschaulichung und wunderträchtigem Zauber, oder, wie es Franz Kampers treffend ausdrückt, Chr.s „phantastisches Zwischenreich zwischen Himmel und E r d e " 2 ) wirkt in die Einsiedlerszene nicht herein. Ebensowenig enthält sie Beschreibungen, deren höfischer Glanz die Anteilnahme eines kulturgesättigten Publikums hätte erwecken sollen. Wie schon eingehend dargelegt worden ist, ist hier die ritterliche Sphäre religiös überwölbt. Wie steht nun innerhalb dieser geistigen Umgebung d i e G r a l a u f f a s s u n g ? Der sich auf den G r a l beziehende T e x t der E i n s i e d l e r s z e n e ist nicht sehr umfangreich. E r umfaßt gerade 17 Zeilen (V 6415—6431). Chr. erzählt gern wichtige Tatsachen des Handlungsfortschrittes in solcher Knappheit. Hier tut er es aber nicht, um ein reflektiertes Geschehen auf Kosten des epischen herauszuheben, sondern um sich irgendeinen geheimnisvoll spannenden Rest der Gralerklärung für den Schluß des Romans aufzusparen. Daß es sich dabei um keine ausführliche Vorgeschichte nach der Art Borons gehandelt haben kann, ist zum mindesten sehr wahrscheinlich. Trotz ihrer Kürze ist die Gralstelle der Einsiedlerszene vollkommen klar. Wir erfahren endlich, nach wem Perceval auf der Gralburg hätte fragen sollen. Derjenige nämlich, der mit dem Gral bedient wird, ist der Vater des Fischerkönigs (zu gleicher Bei Weber sind Gral und Lanze in doppelter Weise miteinander verbunden: im zugrunde liegenden Märchen (Gral als Wundergefäß) und in der Tradition der byzantinischen Liturgie. Die erste Annahme gründet sich vor allem auf den Inhalt des Peronnik-Märchens (vgl. Weber, S. 1 0 5 ! ) . Aber nach Golther ist dieses „sog. Märchen . . . an und für sich verdächtig und berührt sich in seinem Inhalt so gut wie gar nicht mit Perceval oder Peredur" (S. V). Über die Frage der Speisespendung durch den Gral wird S. 2i6f. gehandelt. *) Das Lichtland der Seelen und der heilige Gral (Köln 1916), S. 1 1 .

III. Der Gral, sein Sinn, seine Umgebung und seine Geschichte Zeit Percevals Onkel, V 6415ff.). In der Erhaltung und Verlängerung seines Lebens durch ,,une sole oiste" (V 6422) besteht das Gralwunder. Wenn der Dichter in den vorausgehenden Versen: Mes ne cuidiez pas que il et Luz ne lamproies ne saumon (V 6420f.) Fischspeise und „oiste" einander gegenüberstellt, so ist darin in keiner Weise eine Anspielung auf das Ichthys-Symbol zu sehen, sondern lediglich eine metonymische Verstärkung des Gedankens, daß der alte König sein Leben nicht mit natürlicher Speise erhält. Einen anderen Sinn gibt der Text nicht her. E r enthält nichts weiter als eine der bei Chr. so zahlreichen pleonastischen Verdeutlichungen eines Gedankens durch eine negative Bestimmung. Wäre die symbolhafte Auffassung von Chr. beabsichtigt gewesen, so hätte Chr. „oiste" mit der Fischbezeichnung gleichsetzen müssen. Aber nirgendwo zeigt Chr. Spuren einer ähnlichen Symbolik 1 ). Sein Reich ist die Wirklichkeit oder das Wunder, aber nicht die „senefiance". Höchstens kann in Vers 6420 f. ein Hinweis auf die Tätigkeit des Fischerkönigs vorliegen. Wenn der Sohn des Gralempfängers mit diesem Namen belegt wird, so braucht das in keiner Weise symbolisch verstanden zu werden. Die ritterliche Erklärung in V 3 5 i 6 f f . genügt vollständig zur Text- und Sinnausdeutung, besonders wenn man bedenkt, daß der roi Pescheor und die zu ihm gehörige Lanze bei Chr. vollständig in der märchenhaften Atmosphäre verhaftet sind. Anders steht es wieder mit der entsprechenden Bezeichnung bei Boron. Hier hat die auf Bron angewandte Benennung „Riehe Pescheeur" (V 3345) offenkundig religiöse B e züge®). Gegenüber dem Fischerkönig ist der Gralempfänger als „sainz hon" (V 6422) und als „esperitaus" (V 6426) bezeichnet. Diese Angaben bilden den Rahmen zur Charakterisierung des Gral: Tant sainte chose est le graaus (V 6425) und haben unmittelbaren Zusammenhang mit ihr. Dieser T e x t ist entscheidend. Würde der Gral nur „jenes Nachtischgebäck, das man in Deutschland und Frankreich auch Oblate nennt"®) enthalten, so brauchte von einem heiligen Gegenstand überhaupt nicht gesprochen zu werden, höchstens von einem wunderbaren Märchen1 ) Die Prologstelle V 39 ff. kommt hier nicht in Betracht, denn sie steht nicht in der eigentlichen Erzählung. a ) Auch Weber, a. a. O., S. 114. betont, daß Borons und Chr.s Fischerkönig „etwas Grundverschiedenes . . . bedeuten und . . . kaum mehr als eine Wortgleichheit" seien. Vgl. auch ebd. S. 130, Punkt 6. 8 ) Gottfried Baist, Parzival und der Gral (Prorektoratsrede, Freiburg i. Br. 1909), S. 41.

2l6

H I - Der Gral, sein Sinn, seine Umgebung und seine Geschichte 1

ding ). Vielmehr muß „oiste" ebenso wie E . Martin für Wolframs „obläte" (470, 5) anmerkt, als „panis eucharisticus" 2 ) verstanden werden. Natürlich ist der Charakter des Gral durch die Feststellung seines Inhalts noch lange nicht völlig erklärt. Wenn so auch sehr vieles noch dunkel bleiben muß, so läßt sich aber doch e i n e Frage entscheidend aus dem Text heraus erklären, ob nämlich dem Gral des Percevalromans die zauberische K r a f t der Speisenerzeugung zukommt. Anlaß zu solcher Meinung könnten zwei Stellen der Gralburgszene geben. Dort unterbricht der Dichter die Beschreibung des Mahles mit den Worten: E t Ii graaus andemantiers Par devant aus retrespassa (V 3290 f.) und Qu'a chascun mds don l'an servoit Par devant lui trespasser voit L e graal trestot descovert (V 32991^). Diese Verse werden von G. Weber folgendermaßen gedeutet: „ B e i den Mahlzeiten der übrigen Gralburgbewohner wird das Heiligtum bei jedem Gang vorübergetragen; daß es auch hier die Speisen spendet, ist nicht unmittelbar gesagt; der Gedanke schwebt aber im Hintergrunde 8 ). Unter den „übrigen Gralbewohnern" scheint Weber eine der Wolframschen Rittergesellschaft ähnliche Gralgemeinde zu verstehen. Nirgends aber werden bei Chr. Mittafelnde erwähnt. Auch aus der Tatsache, daß der Fischerkönig und Perceval allein die höfische Zeremonie desHandwaschens vollziehen (V3254ff., vgl. Wolfram 236, 2 3 f f . : swaz ritter dö gesezzen was . . .) geht unzweifelhaft hervo/, daß nur sie speisen (vgl. auch V 33i6ff.). Mit Recht betont W. Hertz: „von der B e w i r t u n g durch den Gral, welche unsern Dichter [Wolfram] so sehr beschäftigt, sagt Chr. nichts" 4 ). Hilkas Feststellung: „Bei Christian sind jedenfalls Gralprozession und Tafeln (des Fischerkönigs und Percevals *) Zur Widerlegung der Baistschen Erklärung vgl. die bedeutsame A n m . Hilkas zu V 6422. Baists Auslegung macht das „esperitaus" (V 6426) ziemlich überflüssig. 2 ) Martin, a. a. O., II, S. 3 6 1 , Anm. zu 470.5. Wenn man diese A u f fassung des Verses 6425 leugnet, dann bleibt nur übrig, den Gral als christliche Reliquie zu betrachten und das „sainte chose" darauf zu beziehen. Bruce, a. a. O., S. 2 5 5 f f . , der „ o i s t e " wie Martin in eucharistischem Sinn faßt, nimmt außerdem noch diesen Reliquiencharakter des Gralgefäßes an. Daß das aber Chr.s Gralbeschreibung in der Gralburgszene widerspricht, wird noch zu zeigen sein. Scheint auch die Prosa 1 5 3 0 die Stelle V 6 4 2 2 f f . nicht verstanden zu haben (vgl. die Anm. Hilkas), so ist andererseits die Variante der der Hs. A sehr nahe verwandten Hs. R D'une sainte oiste Ii prodom von Wichtigkeit, nicht als ob sie die richtige Lesart des Verses sein müßte, sondern als die bezeichnende kommentierende Änderung eines Schreibers. s ) Weber, a. a. O., S. 1 1 2 . 4 ) Parzival von Wolfram von Eschenbach (7. Aufl., mit einem Nachtrag von Gustav Rosenhagen, Stuttgart 1927), S. 505, A n m . 102.

I I I . D e r Gral, sein Sinn, seine U m g e b u n g u n d seine G e s c h i c h t e ausschließlich) streng voneinander g e t r e n n t " 1 ) , ist die einzige,

die

sich

ist

aus

dem

Text

herauslesen

läßt.

Chr.s

Mahlschilderung

weder märchenhaft-magisch, noch mystisch-legendenhaft, ritterlich-höfisch.

sondern

Sie u m g i b t gewaltige W u n d e r m i t auserlesenster

h ö f i s c h e r Sitte, sie u n t e r s t r e i c h t sie h y p e r b o l i s c h , sie

verschmilzt

aber nicht m i t ihnen. A u f die stilistische A u s n u t z u n g dieses S p a n nungsverhältnisses

zwischen

Märchen

schon mehrfach hingewiesen worden. ist die Wunderburgszene,

und

Wirklichkeit

ist

E i n e s ihrer besten

oben

Beispiele

die j a so viele Parallelen zu

Percevals

Gralbesuch aufweist. T r o t z der Zauberluft, die diese E p i s o d e auch nach der sühnenden T a t G a u v a i n s noch umspült, ist das F e s t m a h l a u c h hier als rein höfische Zeremonie v e r s t a n d e n (V 8230ff.). Grunde

zeigen

diese

hyperbolischen

Beschreibungen

Im

ritterlicher

Sitte die starke W i r k u n g s a b s i c h t der Chr.schen K u n s t . Sie k e t t e t e n das höfische P u b l i k u m fester an die E r z ä h l u n g a l s reine W u n d e r berichte.

Sie

erhöhten

die

Glaubhaftigkeit

des

Unglaublichen,

i n d e m sie d e s s e n F e r n e z u r z e i t g e m ä ß e n W i r k l i c h k e i t

milderten.

S p ä t e r e n E r z ä h l e r n b e d e u t e t e die ritterliche U m w e l t des G r a l viel w e n i g e r als die A t m o s p h ä r e des W u n d e r s . E s ist d e s h a l b leicht zu verstehen, konnte, Dazu

daß

Chr.s

die

Gralszene

den

Fortsetzern

Gral die speisenspendende

w a r in k e i n e r W e i s e e i n e e i g e n e

den

Anlaß

Eigenschaft

Quelle nötig.

geben

beizulegen. Denn

diese

Verbindung verlangte j a b l o ß die kausale V e r k n ü p f u n g zweier bei Chr.

getrennter

Erscheinungen.

Sie

wurde

vom

gleichen

Unbe-

nannten Fortsetzer vorgenommen, der auch die blutende L a n z e zur Longinuslanze

fortbildete2)

und

dem

demnach

ein

bedeutender

P l a t z in d e r E n t w i c k l u n g d e s S t o f f e s e i n z u r ä u m e n i s t . Schon die textliche und die stilistische F a s s u n g der

Gralszene

m a c h t es also unmöglich, d e m C h r . s c h e n G r a l die z a u b e r i s c h e K r a f t der Speisenerzeugung dem

verlängerung Sinn

die Hostie

magisches sondern der

er

diesem

Gefäß, bezieht

„oiste" das

sich

vielmehr

Ansicht

Und wird

W i e steht es nun aber

Chr.schen Gral:

den Weg.

s o n d e r n e n t h ä l t sie.

einen sein wie

der

mit

Lebens-

A u c h hier weist der eindeutige

der E r k l ä r u n g

nicht hervor,

Inhalt®).

geläufigen

des

des G r a l h ü t e r s ?

der Chr.schen

bringt

von

zuzuschreiben.

unzweifelhaften Wunder

wunderbaren Ansehen

wirkt

dem

alten

nun

und

Der

Gral

E r ist

kein

Inhalt

schafft,

seine K r a f t

diese

Gralkönig

erst

Kraft?

Nach

die

Gral

im

liegende Hostie als einzige N a h r u n g gebracht. D e r T e x t legt diese A u f f a s s u n g nahe, erlaubt a b e r a u c h die Stellen: D ' u n e sole oiste A n m . z u V 3220 ff. N a t ü r l i c h w i r d d a m i t die F r a g e des speisespendenden G r a l s t e i n e s bei W o l f r a m n i c h t berührt. E r gehört einer anderen T r a d i t i o n a n . s) W e b e r s F e s t s t e l l u n g : „ D e r Gral spendet d e m V a t e r des F i s c h e r königs . . . v o n Z e i t zu Z e i t eine O b l a t e (Hostie) . . . D e r Gral w i r k t f ü r ihn also mittels der H o s t i e speisespendend und l e b e n s e r h a l t e n d " (S. 112) ist nicht klar u n d l ä ß t beiden A u f f a s s u n g e n R a u m . 2)

2x8

III- Der Gral, sein Sinn, seine Umgebung und seine Geschichte

Ii sainz hon, Que l'an an cest graal Ii porte, Sa vie sostient et conforte (V 6422ff.) und: a sa vie plus ne covient Que l'oiste qui el graal vient (V 6427f.) im Sinne der bloßen wunderwirkenden G e g e n w a r t oder des lebenerhaltenden Anblicks zu deuten. Gerade durch die auf den Gral bezügliche Frage ,,cui l'an an sert" (V 6414) x ) wird diese Auffassung ebensogut wie die andere zugelassen. Gestützt aber wird sie durch eine Stelle der Gralszene. Denn die so schwer zu erklärende Stelle: „trespasser voit L e graal trestot descovert" (V 3300f.) ist nur dann ganz klar, wenn man annimmt, daß der Gral einen Inhalt hat, der dem von ihm Bedienten gezeigt wird. Auch die Golthersche Behauptung, wonach der Gral „die weltlichen Speisen weihen" soll'), gewinnt in diesem Falle an Berechtigung. Wenn man sie ablehnt, dann bleibt, um das rätselhafte Vorbeiziehen des Gral zu erklären, nur übrig anzunehmen, daß Perceval durch dieses Mittel zur Frage veranlaßt werden sollte. Das läge durchaus in der Richtung der Chr.schen Spannungsverdichtung. Zur Gralprozession (V 3i9off.) selbst mag Chr. von kirchlichen Bräuchen angeregt worden sein. Aber auch der feierliche Prunk höfischer Gastmähler, der vielleicht unter der Einwirkung byzantinischer Etikette stand, läßt sich zum Vergleich heranziehen. Dagegen entfällt, wenn der christliche Charakter der Chr.schen Lanze abgelehnt wird, jede Möglichkeit, die byzantinische Liturgie als Quelle des Gralaufzugs anzusetzen. Auch die neuesten in dieser Richtung unternommenen Arbeiten bringen dafür keine bündigen Beweise 8 ). D i e W e s e n s b e s t i m m u n g v o n g r a a l ist bei Chr. dadurch erschwert, daß der Dichter nirgends, wie Boron (veissel) oder Wolfram (lapsit exillis), den Gral mit einer anderen Bezeichnung belegt. Mehr als alle anderen Gründe läßt diese Tatsache darauf schließen, daß der Name Gral für Chr. noch ein Gattungsname ist. Dazu kommt noch, daß Chr. das Wort Gral in der Gralszene sowohl (,,un graal" bei der ersten Erwähnung V 3220) wie in der Einsiedlerszene (an cest graal V 6423) appellativ verwendet. Chr. glaubte also genügend verstanden zu werden, wenn er das zwar seltene, aber noch gebräuchliche Wort in seinem Roman verwendete. Daß er graal als Gattungsname verstanden haben kann, beweist W. Förster mit seinem volkssprachlichen Gebrauch in heutigen französischen l ) „servir" muß nicht unbedingt „bewirten" bedeuten. Es kann hier ebensogut den Sinn „einen (bestimmten) Dienst verrichten" haben. — Soweit ich aus der eingesehenen Gralliteratur nachträglich ersehe, hat nur Sparnaay Chr.s Gralwunder in der obigen Weise erklärt. Er schreibt, a. a. O., S. 89: „Das Ursprüngliche, wonach der Gral durch seine bloße Gegenwart seinen Hüter am Leben erhält, hier durch die auf demselben liegende Hostie, haben auch Chrestien und Wolfram in ihrer Beschreibung, wie der alte König Titurel durch den Gral noch immer am Leben bleibt, erhalten." — Ich glaube auch nicht, daß Chr. die virtuelle Andeutung eines Speisenwunders durch diese Stelle geben wollte. s ) Golther, a. a. O., S. 8. s ) Vgl. die Literaturangaben in GRM. 23 (1935), S. 214, Anm. 40.

I I I . Der Gral, sein Sinn, seine Umgebung und seine Geschichte Dialekten. Seine Argumentation hat auch heute noch unbeschränkte Gültigkeit 1 ). Ihr widerspricht keineswegs, daß bei Chr. das Wort auch als Eigenname vorkommt. Das Gefäß ist eben ein besonderer, mit Wundern in Verbindung stehender Gral. Durch diese Versonderung erklärt sich dann der Übergang zum Eigennamen. Chr.s graal kommt ohne Zweifel von gradalis = Schlüssel her. Nur so läßt sich seine Zweisilbigkeit erklären 2 ). Die Herleitung von gradatim und agreer (oder grata) sind künstliche Deutungen Helinands, bzw. Borons und tragen den Stempel späterer, v e r d e u t l i c h e n d e r E r findung. Auch die Ableitung von lateinisch garalis kommt nicht in Frage. Dieses Wort hat mit gradalis nur eine Bedeutungsähnlichkeit gemeinsam. E s ist selten und ins Altfranzösische überhaupt nicht eingedrungen. Ein Übergang von garalis zu graal ist außerdem sprachlich kaum denkbar 8 ). Das Zurückgehen auf die Etymologie des Wortes ergibt also nichts weiter, als daß sich Chr. seinen graal in der Form einer Schüssel gedacht hat. E s liegt nahe, bei der besonderen Art des Gral-,,servise" ihn mit einem Ziborium in Verbindung zu bringen. Chr.s Beschreibung: De fin or esmeré estoit; Pierres precieuses avoit El graal de maintes menieres (V 3 2 3 3 ff.) ») Vgl. Wörterbuch, S. 175* f f . ) Auf diese wichtige Tatsache macht Wechssler, Sage vom heiligen Gral, S. i n , aufmerksam. s ) Da es altfranz. garal nicht gibt, entfällt auch Webers Hypothese (a. a. O., S. 128), daß das von ihm als etymologischer Ursprung angenommene hebr. goral — Losstein mit der Bezeichnung garal verquickt worden sei. gral aus garal-goral und graal aus gradalis können sich demnach wohl kaum auf irgendeiner Station ihrer Entwicklung begegnet sein. Die Vermutung liegt nahe, daß auch keine frühere sachliche Verquickung eines Wundersteines und eines Gralgefäßes stattgefunden hat, sondern daß beide Traditionen sich erst spät (eben in Wolframs Werk) verbunden haben. Ich bin mir völlig bewußt, daß das schwierige Gralproblem auf etymologischem Wege nicht zu lösen ist, möchte aber doch darauf hinweisen, daß sich von dieser Sicht der Frage aus die Wahrscheinlichkeit einer doppelten ,,Ur-Gral"-Tradition (einer arabischen und einer christlichen), von der nur die zweite auf Chr. gewirkt hat, wesentlich verstärkt. Zum seltenen lat. garalis vgl. Wechssler, a. a. O., S. 1 1 3 , zu den mittellateinischen und altfranz. Formen von gradalis Wechssler, ebd., und Hilka, Anm. zu V 322off. Die Literatur s. bei Hilka, ebd., und bei Ehrismann, Lit.-Gesch., a. a. O., S. 251, Anm. 3. Die Etymologie von gradalis aus griechischem crater > cratalis lehnt schon Förster, Wörterbuch, S. 174*, aus sprachlichen Gründen ab. Der Ursprung von gradalis bleibt deshalb weiterhin im Dunkeln. — Zur Ableitung von gral aus goral vgl. Karl Lokotsch, Etymologisches Wörterbuch der europäischen (germanischen, romanischen und slawischen) Wörter orientalischen Ursprungs (Indogermanische Bibliothek, 1 . Abt., I I . Reihe, Bd. 3, Heidelberg 1927), S. 57 f. Hier wird auch zu mehreren anderen modernen Deutungen Lit. angegeben. s

220

HI. Der Gral, sein Sinn, seine Umgebung und seine Geschichte

vertrüge sich mit dieser Vorstellung. Aber es läßt sich in keiner Weise ermitteln, ob Chr. diese genaue liturgische Gleichsetzung beabsichtigt hat. F ü r den tailleor d'arjant (V 3 2 3 1 ) wenigstens hat sie Golther abgelehnt. E r erklärt diesen dem Gral nachgetragenen Gegenstand nicht als Patene, sondern sehr glaubhaft als Untersatz des Gralgefäßes *). E s läßt sich durch nichts sicherstellen, ob Chr. in dem nicht geschriebenen Teil seines Romans jemals ein scharfes, anschauliches B i l d seines Gral vermittelt hätte. Womöglich lag ihm an der Mehrdeutigkeit der von dem seltenen Wort ausgelösten Vorstellungen. E s läge dann eine Parallele zur absichtlichen Unbestimmtheit des Gralbildes in der Queste vor 2 ). Aber während der Verfasser dieses mystischen Romans die spiritualistische Immaterialität sucht, wäre bei Chr. das Streben, den spannungschaffenden Schwebezustand zwischen Wirklichkeit und Geheimnis herzustellen, in Rechnung zu setzen. Diesem Streben widerspricht natürlich von vornherein der Versuch, Chr.s spärliche Angaben bildnerisch wiederzugeben. Die aus dem 14. Jahrhundert stammende Gralminiatur der Hs. U, die noch dazu den T e x t falsch auffaßt (der Gral ist auf ihr „ c o v e r t " ) , darf infolgedessen nicht als Beweis der Ziborienform ins Feld geführt werden 3 ). Sie ist nichts anderes als ein bescheidener Versuch bildhafter Texterklärung und ist wahrscheinlich von den nach Chr. liegenden Gralauffassungen beeinflußt. Sie sucht zu interpretieren, zerstört aber dadurch die dem T e x t eigene poetische Fülle. Sie verzichtet sogar auf das wichtigste Attribut des Chr.sehen Gral, sein leuchtendes Strahlen (V 3225ff.). Hier hat nun die Interpretation des Textes selber Halt zu machen. Wir fassen zusammen, was sie an Resultaten für C h r . s G r a l v o r s t e l l u n g ergeben hat. Der Gral ist ein strahlendes, mit wertvollen Steinen verziertes Gefäß. Seine Heiligkeit und Kostbarkeit hat er nicht aus sich, sondern von seinem eucharistischen Inhalt. Der Gral steht in enger Beziehung zum Vater des Fischerkönigs, der *) a. a. O., S. gl. — Man darf auf jeden Fall in der Liturgisierung dieses Gegenstandes nicht so weit gehen wie Margarete Selbach, Der Gral im Lichte der Liturgie (Diss. Rostock, 1923, Auszug, S. 2), die ihn als „Aquamanile" (liturgisches Waschgefäß) erklärt. Solche detaillierte liturgische Interpretation läuft Gefahr, das Wunderelement im Gral,,Dienst", auf das es dem Romandichter Chrestien doch in erster Linie ankam, zu vernachlässigen. 2 ) Vgl. Pauphilets Ausgabe, a. a. O., S. VIIIf.: „Plusieurs passages décrivent l'apparition du Saint Graal et les effets de sa présence, sans que l'auteur ait jamais expliqué complètement l'idée qu'il se faisait du Vase mystérieux." 3 ) Hilka, Anm. zu V 3301, hat sich für die Form des Ziboriums entschieden. Die Miniatur selber s. in: Perceval oder die Geschichte vom Gral, übersetzt von Konrad Sandkühler (Stuttgart—Den Haag—London 1929), Titelbild. — Über das Verhältnis von Miniaturkunst und Dichtung im allgemeinen vgl. die aufschlußreichen Feststellungen E. Winklers in den „Gedanken zum Wiener Girard von Roussillon", a. a. O., S. 99ff.

I I I . Der Gral, sein Sinn, seine U m g e b u n g und seine Geschichte

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mit ihm „bedient" wird. E s bestehen Gründe zur Annahme, daß d a s G r a l w u n d e r : d i e L e b e n s e r h a l t u n g u n d -Verlängerung d e s , , s a i n t h o m e " durch die bloße Gegenwart des Gral, nicht durch die Speisung mit seinem Inhalt bewirkt wird. A u f jeden Fall m u ß dem Gral Chr.s jede speisespendende K r a f t abgesprochen werden. D a ß d e r G r a l i n d e r F o l g e z e i t i n dieser R i c h t u n g g e d e u t e t w i r d , i s t n i c h t auf die Verschmelzung mit einem keltischen W u n d e r g e f ä ß zurückzuführen, sondern auf die schöpferische T a t eines fortsetzenden M e h r e r s d e r S a g e . S c h l i e ß l i c h i s t n o c h h e r v o r z u h e b e n , d a ß sich d e r G r a l in m ä r c h e n h a f t e r U m g e b u n g befindet, d a ß er aber den Zielp u n k t einer h ö f i s c h - c h r i s t l i c h e n L ä u t e r u n g s g e s c h i c h t e d a r s t e l l t . D i e Gralburg ist für gewöhnliche Menschen unsichtbar und öffnet sich n u r d e m v o r h e r b e s t i m m t e n P e r c e v a l , d e r a b e r f ü r s e r s t e i n seiner Mission versagt. Mehr läßt sich aus Chr.s T e x t nicht ermitteln. Vor allem schweigt das R o m a n f r a g m e n t über das brennendste P r o b l e m der Gralerklärung, d i e V o r g e s c h i c h t e d e s G e f ä ß e s . D a m i t aber beschäftigt sich gerade der R o m a n de l'Estoire dou Graal Roberts v o n Boron. D a beide Dichter v o n der unbestrittenen christlichen A u f f a s s u n g des Gral ausgehen, d r ä n g t sich die F r a g e auf, in w e l c h e m zeitlichen u n d sachlichen Verhältnis ihre W e r k e z u e i n a n d e r s t e h e n . V e r t r e t e n sie v ö l l i g v e r s c h i e d e n e Ü b e r l i e f e r u n g e n o d e r w e i s e n sie i r g e n d w e l c h e G e m e i n s a m k e i t e n a u f , d i e a u f eine B e e i n f l u s s u n g , sei e s B o r o n s d u r c h C h r . , o d e r C h r . s d u r c h B o r o n s c h l i e ß e n lassen ? W ä h r e n d C h r . s d i n g l i c h e A u f f a s s u n g d e s G r a l - ' g e f ä ß e s (an c e s t g r a a l Ii p o r t e V 6423), i n s o n d e r h e i t d i e G r a l b e schreibung der B u r g s z e n e den R e l i q u i e n c h a r a k t e r des Gral unb e d i n g t ausschließen, ist der G r a l Borons die A b e n d m a h l s s c h ü s s e l , in d e r d a n n d a s B l u t C h r i s t i v o n Josef v o n A r i m a t h i a a u f g e f a n g e n w o r d e n w a r . D a m i t i s t a u c h bei B o r o n j e g l i c h e k e l t i s c h e G r a l s p u r ausgeschlossen1). A u c h B o r o n ist, ohne d a ß d a m i t schon irgendein S c h l u ß a u f e i n e s t o f f l i c h e G e m e i n s a m k e i t g e z o g e n w e r d e n soll, d i e g e naue äußere F o r m des Gral ziemlich gleichgültig. W i c h t i g ist f ü r ihn, wie f ü r Chr., der I n h a l t des Gefäßes. Borons Spiritualismus erhellt daraus, d a ß sein Gral, trotz des Reliquiencharakters, als S y m b o l g ö t t l i c h e r W e s e n h e i t g e f a ß t w i r d 2 ) . S o s i n d a u c h seine W u n d e r w i r k u n g e n z u e r k l ä r e n : seine G e g e n w a r t v e r l e i h t d i e „ v e r t u D i e u " ( V 732), ü b e r s c h w e n g l i c h e s E n t z ü c k e n , d a u e r n d e F r e u d e ( V gigi., 2 6 0 9 f f . ) . D a d u r c h , n i c h t d u r c h eine S p e i s e n e r z e u g u n g , e r h ä l t e r Josef a m L e b e n . M a n b r a u c h t n i c h t e i n m a l C h r . s G r a l w u n d e r s o v ö l l i g s p i r i t u a l i s t i s c h z u d e u t e n , w i e es o b e n v e r s u c h t w o r d e n i s t , ') Die v o n W . A . N i t z e , Cl. fr. du moyen âge. Bd. 57, S. X I I I f . , wieder aufgenommene V e r b i n d u n g v o n keltisch B r a n und Bron-Hebron wird von Bruce, a. a. O., I I , S. 130, A n m . 12, mit R e c h t abgelehnt. s ) Noch nirgends ist der dinglich-mystisch-symbolische Charakter des Boronschen Gral m i t solcher K l a r h e i t beschrieben worden wie in P h . A . Beckers Boron-Analyse, Z r P . 55, S. 267.

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III- Der Gral, sein Sinn, seine Umgebung und seine Geschichte

um zu sehen, daß hier eine unverkennbare Ähnlichkeit mit Chr.s Gralerzählung vorliegt. Aber Borons Vergeistigung des Gral ist deutlicher ausgesprochen als die Chr.s. Während bei diesem die Angabe des Leuchtwunders: Atot le graal . . . Une si granz clartez i vint . . . (V 3225 f.) verschieden erklärbar ist, läßt Boron keinerlei Zweifel an der Tatsache, daß der Glanz des Gral kein magischer Zauber, sondern ein Attribut der Gottheit selbst ist 1 ). Zwar zeigt die Estoire bemerkenswertes kompositionelles Geschick ihres Dichters, vor allem, wenn dieser den Bericht des Abendmahles erst dann nachholt, als er für die Belehrung des gefangenen Josef wichtig ist (V 893ff.; die Szene 3 7 5 f f . selber ist, außer der Erwähnung des. „veissel" V 395ff., ganz auf den Verrat des Judas zu komponiert), so hat doch Borons Verfassertätigkeit keine eigentlichen romanhaften Zwecke wie die Chr.s, sondern geht ganz auf in mystischer Symbolik. In diesem Betracht ist Borons Estoire die Vordeutung der Queste, wo die mystischen Züge durch Einschmelzen bernhardinischer Gedanken zum episch-mystischen System geweitet wurden. Zu solch weitgehender Auflösung des Gralstoffes in Frömmigkeit und Ekstase konnte es nur durch die folgerichtige Entwicklung der in Borons Geschichte angelegten Keime kommen. Galaad ist die asketische Blüte der Boronschen Symbolik. Chr. hingegen steht der Welt dieser Anschauungen offensichtlich fern. Der spiritualistische A u s g a n g s p u n k t Borons ist das geistige Z i e l der bei Chr. bis. zum Ende durchgedachten h ö f i s c h e n Ethik. Wichtig ist es immerhin, daß sich beide Dichter hier treffen. Die für die Gralgemeinde bzw. für den Gralhelden bindende Forderung der seelischen Reinheit bezeugt dies, während andererseits die bei Chr. ohne jeden mystischen Hintergedanken aufzufassende, nur im Sinne einer teils legenden- teils märchenhaften Erlösungsidee zu verstehende Gralgenealogie von Boron als trinitarische Symbolik gedeutet wird*). In dieselbe Richtung weist (wenn die betreffende Stelle,. Boron V 929 ff., nicht überhaupt als spätere Zutat anzusehen ist),, auch der betonte Geheimnischarakter des Gral. l ) Die Stelle V 2031 f. drückt nur aus, daß dieses überirdische Strahlen in der Folgezeit dem Gral verblieben ist. Sein Ursprung aber unterliegt, nach V 729ff. keinem Zweifel: . . . ,,Sires Diex toupuissanz, Dont vient ceste clartez si granz ? Je croi si bien vous et vo non Qu'ele ne vient se de vous non."

*) Die Prädestinationsidee bei Boron ist nichts anderes als eine Abwandlung des für ihn grundlegenden Themas der ,,grace". Die märchenhaft-ethische Erlösungsidee Chr.s findet sich besonders im Lancelot, aber auch im Erec und Yvain, die genealogische Darstellung im Cliges. Inx Percevalroman hängt die Idee der schicksalhaften Bestimmung zu innerst mit dem Dümmlingsmärchen zusammen. Zum Ethos des keltischeni Märchens vgl. Ehrismann, PBB. 30 (1905), S. 53.

III. Der Gral, sein Sinn, seine Umgebung und seine Geschichte Wenn sich auf Grund der vorangehenden Gegenüberstellung zwar spärliche, aber ausschlaggebende G e m e i n s a m k e i t e n in den W e r k e n Chr.s und B o r o n s ergeben, so ist die Art, wie Robert den Gral in seine Geschichte einführt und benennt, ein entscheidender Hinweis auf das Abhängigkeitsverhältnis der beiden Romane. Die von Boron gegebene Etymologie des Wortes Gral aus agreer (V 2653 ff.) weist unverkennbar den Charakter einer persönlichen Erfindung auf. Sie gibt mehr als einen Namen, sie ist die Begriffsbestimmung eines, an diesem späten Punkt der Dichtung in allen Wesenszügen bereits fertig beschriebenen Gegenstandes, der Abendmahls- und Blutschüssel. Dieser Reliquiengegenstand, nach Ursprung und Wirkungszeit vom Dichter genau fixiert, bildet das Thema der Robertschen Erzählung. Das Wort graal ist mit dem „veissel" dieses Legendenromans zwar geschickt verbunden, aber doch nur als künstlich aufgepfropftes Element. Sein Fehlen würde weder den Gang der Handlung noch die Eigenart des Werkes irgendwie verändern. Selbst wenn Boron der Gattungsname graal verständlich war, so hat er doch das Wort als Eigenname aufgefaßt und etymologisiert. Es mußte ihm demnach schon in einer bestimmten Funktion bekannt sein. Denn daß er es geschaffen hätte, ist wegen seiner altfranzösischen und lateinischen Verbreitung völlig ausgeschlossen. Da nun aber die Beschreibung des Chr.schen Gral die ihm von Boron gegebene Reliquienbedeutung ausschließt, da es außerdem undenkbar ist, daß Chr. aus dem so genau identifizierbaren ,,veissel"-Gral wieder ein einfaches Appellativum herausentwickelt hätte, da außerdem nicht nur das Wort selber, sondern auch die oben angeführten gemeinsamen Züge des Gral in beiden Romanen begegnen, so bleibt nur die Möglichkeit, daß Boron die Bezeichnung graal aus Chr.s Dichtung entnommen hat. Ganz parallel dazu geht auch die neue Sinnerfüllung des Ausdruckes „Fischerkönig". Boron gibt dem rätselhaften Gralgefäß Chr.s eine pseudohistorische Tradition und ergänzt so den Percevalroman nach rückwärts. Die Schaffung solcher genealogischer Vorgeschichten ist eine der geläufigsten epischen Gewohnheiten des Mittelalters. Der Anreiz, die Ahnen des bei Chr. so vom Schicksal ausgezeichneten Gralgeschlechts zu suchen, mußte für einen mittelalterlichen Erzähler in der Tat sehr groß sein, viel größer jedenfalls als der umgekehrte Prozeß 1 ). Die märchenhaften Züge des Chr.schen Gralkreises erklären sich ja viel einfacher aus einem, in Chr.s früheren Romanen ständig zu beobachtenden Zusammenbauen verschiedenster Stoffteile als aus einer teilweisen Rückbildung der christlichen Legende zum Märchen. Viel folgerichtiger erscheint auch da die Annahme, Boron habe die l

) Natürlich ist nicht festzustellen, wie viele genealogische Zwischenglieder zwischen Josef und Perceval gedacht sind. Vgl. darüber Ph. A. Becker, ZrP. 55, S. 4i4f., der jedoch an der Priorität Borons festhält (vgl. dazu ebd., S. 268t).

I I I . Der Gral, sein Sinn, seine Umgebung und seine Geschichte

nicht-christlichen Einzelheiten der Gralumgebung entweder umgedeutet (Fischerkönig), oder als nicht verwendbar einfach weggelassen (blutende Lanze). W a s sodann die Verschiedenheit der Gralvorstellung betrifft, so kann die anzunehmende Änderung einem so in allem L i t u r j ischen und Symbolischen erfahrenen Verfasser wie Robert von Bc ron ohne weiteres zugeschrieben werden 1 ). U m die Boronsche Dichtung aus dem Werke Chr.s heraus zu erklären, ist es gar nicht nötig, anzunehmen, daß ihr Verfasser den gesamten Percevalroman gekannt habe. W i e J. D. Bruce ausführt, genügt es, wenn Robert Fischerkönig und Gral(-szene) kannte 8 ). An diese hat er dann auch bei seiner Weiterbildung des Stoffes angeknüpft. Innerhalb der weiteren Entwicklung der Graltradition wirkte Borons Verbindung eines Reliquiengral mit der Josefsgeschichte als ein sehr ausbaufähiger dichterischer Kristallisationspunkt. Sie erweist ihre Selbständigkeit bis in die von Manessier ab entstehenden verschiedenen Formen der Verschmelzung mit der Perceval-Gral-Tradition hinein. Sie wird durch den Interpolator im Unbenannten Fortsetzer noch vermehrt, tritt sehr stark in der Queste hervor und wird schließlich im Grand Saint Graal zu ziemlich chaotischer Wirrnis aufgeschwellt. Da der Gral in der Folge immer mehr mystischer Deutung verfällt, läßt sich begreifen, daß der Blutgral Josefs eine größere epische Zukunft besaß, als Chr.s einfacher Hostiengral 8 ). Von dem Vorgeschichts-Typ hebt sich, auch in jenen zahlreichen Verschmelzungsformen noch deutlich erkennbar, der Queste-Typ oder d e r P a r z i v a l - T y p d e r G r a l e r z ä h l u n g ab. Ob er eine ursprüngliche Einheit bildet, oder ob der Gral erst von Chr. mit der Gestalt eines Gralsuchers verknüpft worden ist, ist einer der strittigsten Punkte der gesamten Gralkontroverse. Fest steht einmal folgendes. Das Questemotiv ist im Percevalroman nicht nur wie im Erec und Y v a i n geistig-episches Aufbauprinzip, sondern verlangt eine stoffliche Vorstufe, die schon seit langem als Dümm') Vgl. Golther, a. a. O., S. 22ff. Roberts Erwähnung des „grant livre" (V 932) erklärt sich mit Golther, S. 30, einleuchtend als Hinweis auf eine „liturgische Schrift, worin aber vom Kelch, nicht vom Gral die Rede war". Sehr vieles spricht wirklich für die Gemma animae de divinis officiis des Honorius Augustodunensis. Zu deren Inhalt vgl. jetzt M a x Manitius, Geschichte der lateinischen Literatur des Mittelalters (Handbuch der Altertumswissenschaft, 9. A b t . , 2. Teil, Bd. 3, München 1931), S. 373f. — Der Epilog Borons ist gewiß, wie Ph. A. Becker, ZrP. 55, S. 268, ausführt, „eine ausdrückliche Wahrung seiner Priorität", ist aber wohl nur auf den Estoire-Vorgeschichtscharakter seines Romans zu beziehen. s) a. a. O., I, S. 244 und Anm. 25. 3) Vgl. als Übersicht die Tafel am Ende von Wechsslers Gralbuch. Zur Trennung von Queste und Vorgeschichte des Gral vgl. ebd., S. 118f. Über das Verhältnis von Artus- und Gralstoff ist sogleich zu handeln. Die besondere Art der Vorgeschichte bei Wolfram kann hier unerörtert bleiben.

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lingsmärchen erkannt ist. Dieses seinerseits erscheint im Percevalroman nicht in einer einfachen Form, sondern mit anderen Motiven verbunden. Dazu gehören vor allem die Schilderung der geheimnisvollen Burg (im weiteren Sinne das Gespenstermärchen), der Rote Ritter, der verwundete König, die blutende Lanze und vielleicht auch die erlösende Frage. In welcher Reihenfolge diese verschiedenen Stoffe miteinander verbunden worden waren und welche Änderungen die Vereinigung ursprünglich so getrennter Motive bedingte, kann für die vorliegende Betrachtung außer acht bleiben. Auf jeden Fall zeigen diese dem primitiven Dümmlingsmärchen (zu dem das Mutter-Sohn-Verhältnis als wesentlicher Bestandteil gehört) fremden Zutaten, trotz der im allgemeinen festen inneren Verkettung, einige so auffällige erzählerische Unverträglichkeiten, daß Chr. sie unmöglich alle selbst mit dem Dümmlingsmärchen verknüpft haben kann. Gerade jene verschiedenen schon früher (im Aufbauteil) erörterten kompositioneilen Unstimmigkeiten sind zum größten Teil auf die nicht einheitliche Märchenquelle Chr.s zurückzuführen, wo, nach der Zusammenfassung Webers „typische Abenteuer aneinandergereiht [waren], in bunter Folge, ohne höhere Konzentration" 1 ). Diese Vorlage Chr.s, wie sie auch im einzelnen ausgesehen haben mag, hat jedenfalls schon einen primitiven ritterlichen Anstrich gehabt. Chr. hat sie, wie es seiner immer wieder zu beobachtenden Methode entspricht, dadurch entscheidend umgeformt, daß er sie zur höfischen K u l t u r in Beziehung gesetzt hat. Diese Umformung im Geist des ritterlichen Ethos allein aber ist für den Anteil Chr.s an der Weiterentwicklung des Stoffes entscheidend. An dieser Tatsache würde sich auch dann nichts ändern, wenn auf Grund neuer Textfunde einmal der Nachweis geliefert werden könnte, daß Chr. aus s c h r i f t l i c h e n volkssprachlichen Artusquellen geschöpft hat 2 ). a. a. O., S. 108. — Zu den einzelnen Stadien dieser von Chr. übernommenen Erzählung vgl. jetzt die ergebnisreichen Darlegungen Webers, a. a. O., S. 9 7 — r o 8 , die zu den wichtigsten des Buches gehören. O b dieser oder jener Zug, den Weber, S. 108, Chr.s Vorlage zuweist, ihr wirklich zugerechnet werden muß oder nicht, mit anderen Worten: das Verhältnis von Peredur und Sir Perceval zum Percevalroman braucht in dem hier behandelten Zusammenhang, wo es in erster Linie auf die Frage des Gralcharakters und der Verbindung von Gral- und Percevalgeschichte ankommt, nicht behandelt zu werden. a) Auch Weber legt auf die Frage kein großes Gewicht: „Wieviel davon [von Artushof und Tafelrunde] schon vor Kristian vorhanden war, ist nicht mit Sicherheit zu bestimmen" (S. 107, Anm. 268). Einstweilen liegt aber kein stichhaltiger Grund vor, die Frage gegen Förster, Wörterbuch, S. 156* und Golther, a. a. O., S. 6f. zu entscheiden. Ausführlich wird dieser P u n k t von Sparnaay, a. a. O., S. 80ff., besprochen, der der Überzeugung ist, „ d a ß die Jugendsage früher als das Gralmotiv ins Ritterliche umgedichtet wurde" (S. 81). Das ist richtig, wenn Verritterlichung nicht ohne weiteres mit Arthurisierung gleichgesetzt wird. In bezug auf die Jugendgeschichte Percevals betont Sparnaay, „ d a ß keine der überlieferten Traditionen die ursprüngliche sein kann" (S. 72f.). B. z. Z.R.Ph. Heft 88. Kellermann 15

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III- D e r Gral, sein Sinn, seine Umgebung und seine Geschichte

Chr. hat somit die wesentlichen Züge seiner Percevalerzählung aus einer primitiv verritterlichten Märchen vorläge geschöpft 1 ). Innerhalb dieser Erzählung erscheint nun der Gral. Gehört auch er zum Bestand der Dümmlingsgeschichte oder nicht? Das ist die letzte und schwierigste Frage der Quellengeschichte des Romans. Sie kann auch so gestellt werden: welches war d e r I n h a l t d e s C h r . s c h e n , , l i v r e " ? Wie oben festgestellt wurde, sondert sich der Gral durch seinen unzweifelhaft christlich-spiritualistischen Charakter von den märchenhaften Gegebenheiten der Gralszene, besonders von der Lanze so scharf ab, daß eine ursprüngliche Gemeinsamkeit beider Stoffe nur dann möglich erschiene, wenn das Gralgefäß Chr.s die christliche Umbildung eines keltischen Wundergefäßes darstellte. Da aber die Interpretation der Chr.schen Gralstellen unmißverständlich ergibt, daß dort von einer speisespendenden oder sonstwie märchenhaft wunderwirkenden K r a f t des Gral nicht gesprochen werden kann, erscheint eine quellenmäßige Einheit des (zur Vorlage Chr.s erweiterten) Perceval-Dümmling-Stoffes und des Gral ausgeschlossen. Irgendwo muß demnach beides verbunden worden sein. Sogar Golthers andersartige Ansicht, daß „die Verknüpfung Percevals mit dem Gral unlöslich, die bisherige Trennung einer besonderen Perceval- und Gralsage unhaltbar" 2) ist, läßt sich in diesem Sinne erweitern, denn auch Golther betont, daß die „zwei Stoffmassen [Artus-Gauvain und Perceval-Gral] in der Hauptsache auf ältere Überlieferung zurückgeführt werden können" 3 ). Warum sollte also diese zweite Stoffmasse nicht erst genetisch aus ihren beiden Hauptbestandteilen zusammengewachsen sein, vielmehr, warum sollte sie bei der gerade von Golther so stark unterstrichenen Vereinzelung des christlichen Gralelementes innerhalb einer stark sagen- und märchenhaften Umgebung nicht erst von einer Dichterpersönlichkeit (die niemand anders als Chr. sein kann), geschaffen worden sein ? Wenn aber diese Vermutungen richtig sind, dann drängt sich die Schlußfolgerung auf, daß Chr. zwei Hauptquellen in seinem Roman verarbeitet hat, eine Perceval- und eine Gralquelle. Dem widerspricht die Tatsache nicht, daß er am Ende des Romanprologs (V 67) nur von d e m livre spricht. Hier ist j a die Quellenangabe nicht Selbstzweck, sondern gehört mit zum Thema des Prologs, dem Preis des Grafen Philipp von Flandern. Chr. fühlte sich verpflichtet, seinem Gönner für das von ihm empfangene Quellenbuch (die Percevalquelle hatte Chr. offenbar nicht von ihm) und damit für den sicherlich reich belohnten Romanauftrag zu danken. Da Chr. entgegen seinen sonstigen Gewohnheiten sein letztes Werk nicht nach dem Titelhelden, sondern nach seinem wunderbarsten, auffallendsten Stoffteil benennt, kann das livre nur die Gralquelle enthalten haben. Der Satz Försters: „ I m livre kann also bloß das 2

Natürlich genügt die Annahme einer mündlichen Überlieferung. ) a. a. O., S. 6. ») Ebd., S. 7.

III. Der Gral, sein Sinn, seine Umgebung und seine Geschichte Gralmotiv behandelt worden sein" 1 ), und die gleichlautende Behauptung G. Webers, „daß Kristian unabhängig von der von [ihm] rekonstruierten Parzivalerzählung eine besondere Gralquelle besaß, eben das livre des Grafen Philipp, die nichts weiter enthielt als Namen und Art des Grals wie seines Umkreises"®), bestehen also zu Recht. Zur Inhaltsbestimmung dieses Gral-livre muß schließlich noch einmal auf das oben dargelegte Verhältnis von Chr. und Boron zurückgekommen werden. Von den ihren Werken in gleicher Weise eigenen Zügen verbietet besonders das gemeinsame Vorkommen von graal und roi Pescheor die völlige genetische Trennung von Percevalroman und Roberts Estoire dou Graal. Die Art, wie weiterhin Robert den Namen und die Tatsache des Gral in eine von ihm nach feststehenden apokryphen, legendarischen und didaktischen Quellen zusammengebaute Geschichte verpflanzt hat, läßt sich kaum anders deuten, als daß Boron eben Chr.s Dichtung gekannt hat. Ein anderer Weg, die verwandten Züge bei Chr. und Boron zu erklären, ist die A u f s t e l l u n g e i n e r g e m e i n s a m e n Q u e l l e . Natürlich könnte dabei, wie F . Schürr ausführt*), nur von einer „lateinischen, geistlich-legendarischen Quelle" die Rede sein. Selbst dann aber, wenn diese verlockende Hypothese zur Gewißheit erhoben werden könnte, ließe sich die Benutzung des Percevalromans durch Boron wahrscheinlich machen. In beiden Dichtungen begegnet die Gestalt eines Fischerkönigs, aber beide Male mit ganz verschiedener Handlungsrolle und Sinngebung. Bei Chr. gehört er der verritterlichten Märchensphäre an, bei Boron ist er christlichsymbolisch verstanden. Die anzusetzende gemeinsame Quelle könnte ihn bei ihrem spezifischen Inhalt nur in einer der letzten Auffassung verwandten Weise enthalten haben. Borons Fischerkönig wäre von diesem Ursprung her sehr leicht zu erklären. Für Chr. aber ergeben sich in diesem Falle Schwierigkeiten, da sein Fischerkönig in engstem ursächlichem Zusammenhang mit dem Märchenstoff der verwunschenen Burg steht. Entweder hätte er das christlichlegendarische Motiv ins Märchenhafte rückstilisiert, oder er hätte es ganz unverwertet lassen können, weil er dafür eine eigene märchenhafte Tradition benützt hätte. Die erste Möglichkeit läßt sich mit dem schon für den keltischen Charakter der Lanze geltend gemachten Beweggrund zurückweisen. Denn es ist kein Grund einzusehen, weshalb Chr. zwar das christliche Gralwunder, nicht aber einen ebenso zu verstehenden Fischerkönig verwendet haben sollte. ») a. a. O.. S. 157«. 2 ) a. a. O., S. 109. — Im Yvain gibt Chr. überhaupt keine Quellenbezeichnung, obwohl feststeht, daß eine Reihe von Romanmotiven auf bekannten Stoffen beruht. Warum also hätte Chr. dann im Percevalroman sämtliche Quellen anführen sollen ? ») a. a. O., S. 439. 15*

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HI. Der Gral, sein Sinn, seine Umgebung und seine Geschichte

A n d e r e r s e i t s a b e r i s t es n i c h t g l a u b h a f t , d a ß in so e n g e m zeitlichem R a u m f ü r die F i g u r des bei beiden D i c h t e r n m i t der G r a l a t m o s p h ä r e v e r b u n d e n e n Fischerkönigs zwei n a c h H e r k u n f t völlig get r e n n t e Fischerkönig-Überlieferungen b e s t a n d e n h ä t t e n . Viel einf a c h e r u n d klarer erscheint die ganze Sachlage, w e n n a n g e n o m m e n w i r d , d a ß Chr. als e r s t e r die Gestalt des Fischerkönigs m i t d e m U m k r e i s des Gral v e r k n ü p f t u n d d a ß Boron sie christlich-symbolisch u m g e d e u t e t h a t . D a m i t ist, o b n u n das l i v r e Boron b e k a n n t w a r o d e r nicht, d a s wichtige Ergebnis gewonnen, d a ß das M o t i v des F i s c h e r k ö n i g s kein B e s t a n d t e i l der Chr.sehen Gralquelle gewesen sein k a n n 1 ) . Von d e r L a n z e gilt Ähnliches. A u c h sie k a m , m i t j e n e m M o t i v v e r k n ü p f t , e r s t d u r c h Chr. in V e r b i n d u n g m i t d e m Gral. I m Gegensatz a b e r z u m roi Pescheor w u r d e sie noch n i c h t v o n Boron, d e r eben verm u t l i c h keine Spur einer b e s t i m m t e n Longinuslegende k a n n t e , verchristlicht. I m Falle des Fischerkönigs w a r die U m f o r m u n g leichter. H i e r g e n ü g t e R o b e r t s Sinn f ü r symbolische D e u t u n g e n . Wie v o m v e r w u n d e t e n König u n d d e m b l u t e n d e n Speer, so f ü h r t auch v o n der R e l i q u i e n a u f f a s s u n g des Gral u n d von der Josefsgeschichte keine Ursprungslinie z u m Gral-livre zurück. F ü r beide E l e m e n t e liegen die biblischen u n d pseudobiblischen Quellen 2 ) so deutlich zutage, d a ß , bei der n i c h t m i n d e r klar ersichtlichen dichterischen Arbeitsweise Borons, n u r dieser allein als ihr U r h e b e r in F r a g e k o m m t . B o r o n h a t , wie P h . A. Bscker a u s f ü h r t , „ e i n e n völlig neuen L e g e n d e n k o m p l e x g e s c h a f f e n " 3 ) . E r i s t d e m n a c h der e r s t e D i c h t e r der Gralvorgeschichte. A u s all diesen Überlegungen ergeben sich wichtige T a t s a c h e n f ü r die stoffliche A b g r e n z u n g der Chr.sehen Gralquelle. W a s a b e r läßt sich nun für d i e p o s i t i v e R e k o n s t r u k t i o n d e s l i v r e anführen? D a sind v o r a l l e m jene G e m e i n s a m k e i t e n Chr.s u n d Borons, die *) Nichts steht im Wege, die höchst plausible Förstersche Annahme (a. a. O., S. i6i*), Boron habe nachträglich sein Gedicht zu einer zweiten Fassung erweitert, mit der oben geäußerten Vermutung, Chr. und Boron hätten beide das „livre" benutzt, zu verbinden. Auch Ph. A. Becker vertritt das ZrP. 55, S. 268. In diesem Fall hätte Boron seinen Roman ebenso wie Chr., aber unabhängig von ihm, nach den Grundzügen des „livre" geschaffen. Er würde dann für seine 2. Fassung von Chr. den Gral und den Namen „Fischerkönig" übernommen und beide etymologisch und symbolisch gedeutet haben. Borons Gralstellen V 929 bis 936 (Verweisung auf das „grant livre"), V 3335f. (Secrez dou Graal), V 2653—2686 (Etymologie) können ohne inhaltliche oder metrische Hindernisse gestrichen oder verkürzt werden. Auch der Name „Riehe Pescheeur" (V 3345) wird so spät eingeführt, daß, bei dem Fehlen der Chr.schen Spannungsbräuche bei Boron, eine spätere Einfügung sehr leicht denkbar ist (weiteres Vorkommen V 3431, 3456). 2 ) Vgl. Birch-Hirschfeld, a. a. O., 6. Kap., „Die Heimat des Grales". 8 ) ZrP. 55, S. 269. Daß Becker hier eine andere Quellenhypothese vertritt, ändert nichts an der vollen Gültigkeit des oben wiedergegebenen Zitats.

III. Der Gral, sein Sinn, seine Umgebung und seine Geschichte

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weder dem einen noch dem andern notwendig allein zukommen. Für beide ist der Gral ein durch seinen Inhalt heiliges Gefäß, dessen außerordentliche K r a f t aus der mit ihm eng verbundenen Gegenwart des göttlichen Wesens zu erklären ist. Seine Bindung an das Göttliche ist entscheidend. Der Gral ist christlich und bei beiden Dichtern ohne irgendwelche zauberhafte Eigenschaft. Das Gralwunder ist vielmehr, ähnlich wie die Longinuslegende 1 ), ursprünglich kein dingliches, sondern ein spiritualistisch aufzufassendes Wunder. Nicht das Vorhandensein eines heiligen Gefäßes allein ist demnach der Kern der Gralsage, sondern seine Verknüpfung mit dem spiritualistischen Gralwunder. Auf diese Verbindung läßt sich das Wort G. Schwieterings von der „sinnvollen . G e s t a l t ' " 2 ) der Gralsage, um die sich in der Folgezeit ständig neue Erzählmotive gruppierten, anwenden. Dieser Kern der christlichen Gralgeschichte scheint mir aber nicht im Symbolischen, sondern im LegendenhaftEpischen zu liegen und zwar deswegen, weil, wie gezeigt wurde, die symbolische Figur des Fischerkönigs erst von Boron in den „ L e gendenkomplex" eingeführt worden ist. Daß dieses so gestaltete Legenden-livre lateinisch gewesen ist, scheint mir unzweifelhaft. Die Helinandstelle bezieht sich zu deutlich auf die jedenfalls imaginäre Quellenberufung des Grand St. Graal, um als entscheidender Gegenbeweis in Frage zu kommen 3 ). Die mit dem Gralwunder in urprünglicher Beziehung stehende Figur ist der Gralhüter. Damit jedoch dürfte die epische Zelle der Gralentwicklung noch nicht vollständig charakterisiert sein. Es kommt noch hinzu, daß der Gral „weitergegeben" werden kann, daß seine Besitzer in irgendeiner Weise für ihn vorbestimmt sind. Wahrscheinlich enthielt das livre sogar schon die Tatsache, daß der Gral einer besonders begnadeten oder sonstwie ausgezeichneten Familie zur Hut und Weitervererbung übergeben sei. Daß solche unmittelbare Nähe zur göttlichen Wirklichkeit, solch ungewöhnliche Hervorhebung über die übrigen Menschen seelische Reinheit verlangen, erklärt sich aus dem Wesen des Gral von selber. All diese Einzelheiten schließen sich zu einer relativ einfachen Urstufe der Gralerzählung zusammen, die sehr gut den Inhalt einer Legende gebildet haben kann. Wer die Personen dieser Legende gewesen sind, wo sie gespielt hat, welche Züge Chr. (und im angenommenen Fall auch Boron) weggelassen haben, vermag heute nicht mehr gesagt zu werden. Nicht ohne weiteres abweisen läßt sich die Vermutung, daß das livre schon einen Hinweis auf den künftigen Gralbesitzer gegeben hatte. Sie wird von dem genealogischen Gedanken, der wohl zu den UrVgl. F. J . Dölger, a. a. O., S. 94. ) Der Fischer vom See Brumbane, ZdA. 60 (1923), S. 264. ) Text und Ausdeutung der Helinandstelle s. bei Golther, a. a. O., S. 63 ff. Die lateinische Abfassung des „livre" nimmt auch Hilka (vgl. Anm. zu V 4617) als selbstverständlich an. 2

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bestandteilen der Gralerzählung gehört, sehr nahegelegt. Infolgedessen läßt sich wohl die Hypothese vertreten, daß das Prinzip der Gral-Queste im livre vorgedeutet war. Wenn dem aber wirklich so sein sollte, dann wäre eine primäre, wenn auch nur keimhafte Gemeinsamkeit von Gral- und Percevalstoff (natürlich abgesehen vom Namen des Helden) gegeben. Freilich wäre damit Chr.s Percevalquelle nicht aus der Welt geschafft, aber es ließe sich der hohe Grad des „psychologischen" Anreizes 1 ), Dümmlingsmärchen und Gralgeschichte miteinander zu verknüpfen, daraus erklären. Die Abfolge Gralhüter-Gralgewinner, die bei Chr. durch das Verhältnis riche hon (sainz hon) und Perceval bezeichnet ist (bei Wolfram: Titurel-Parzival) ist auch bei Boron in der verwandtschaftlichen Zusammengehörigkeit von Josef und dem Sohn Aleins klar erkennbar. Gewiß wäre denkbar, daß Boron auch in diesem Punkt durch die Struktur des Percevalromans angeregt worden war. Aber wie viele andere, beiden Epikern gemeinsame Züge, ließe sich auch die Beziehung Gralhüter-Gralgewinner mit viel größerer Wahrscheinlichkeit dem livre zuweisen,-wenn eben Borons Bekanntsein mit Chr.s Quelle eine feste Tatsache wäre. Umgekehrt ist gerade im angegebenen Falle die letzte Annahme einleuchtender als die Herleitung des Motivs aus Chr. Zwischen Hüter und Gewinner des Gral schiebt sich der „Fischerkönig", über dessen sekundäre Einführung durch Chr. bereits gehandelt worden ist. Durch ihn wird der genealogische Gedanke weiter unterstrichen. Die Weitergabe des Gral an den Gralerben schließlich erfolgt nicht nur auf Grund der Erbfolge. Sie wird auch nicht nur an die Bedingung der seelischen Würde geknüpft gewesen sein. Der Gral ist ein Geheimnis von unsagbar tiefer Bedeutung. In seinen Besitz zu kommen, verlangt wohl vor allem eine Art von Einweihung, das Wissen von seinem Wunder und seiner großen Erhabenheit. Auf den ersten Blick ist dieser Zug nur bei Boron zu finden (871 ff., 3 i 3 3 f f . ) . Aber auch Chr. hat etwas Ähnliches, freilich nur in einer, durch den Fragmentcharakter des Percevalromans bedingten unklaren, nur zu»erschließenden Form: dem Sinn der Gralfrage. Durch die Frage, wen man mit dem Gral bediene, soll offenbar die Mitteilung der Gralwunder veranlaßt werden; sie fordert also, wie W. Hertz feststellt, die „Einweihung in den geheimnisvollen Sinn des Graldienstes"*). Der höfische und der legendenhafte Roman treffen sich ') Zu der Erscheinung der „psychologischen Verwandtschaft" vgl. Wechssler a. a. O., S. i2of. 2 ) Hertz, a. a. O., S. 446. Die Verwendung des Wortes „servir" in Chr.s Gralfrage und die Bezeichnung des Graldienstes bei Boron als „servise" (V 2682) ist vielleicht mehr als ein bloßer Zufall. Nach Heinzel, Gralromane, S. 14, haben die Fragen ja „doppelte Bedeutung, einmal zauberische Heilung — in einigen Fassungen auch Fruchtbarmachung des wüsten Landes — und Legitimierung des Gralhelden als Nachfolger des Gralkönigs". Das letzte steht zu der Einweihung in die Gralwunder in

III. Der Gral, sein Sinn, seine Umgebung und seine Geschichte also von neuem in einer wesentlichen Einzelheit, die ihrerseits die Hypothese einer gemeinsamen Quelle zu unterstützen geeignet ist. Die Überantwortung des Gral an den dazu ausersehenen Nachfahren des Geschlechtes brauchte natürlich nicht an die Form einer Frage geknüpft zu sein. Die Frage, gerade die hier vorliegende Erlösungsfrage, ist j a ein Märchenmotiv, das sich vermutlich schon in Chr.s erweitertem Dümmlingsmärchen fand. E s gehört also mit zu dem Motivblock, dessen psychologische Übereinstimmung mit dem im livre Berichteten zu einer Verbindung geradezu einlud 1 ). Diese Verbindung läßt sich nun abschließend und zusammenfassend folgendermaßen darstellen. Chr. schuf seinen Percevalroman nach zwei Hauptquellen, einer erweiterten Fassung des Dümmlingsmärchens und der christlichen Legende vom Gral. Beide Stoffbereiche wurden von Chr. zum ersten Male zu epischer Einheit verschmolzen: „eine bedeutende Leistung, deren Kühnheit und Besonderheit sich zu vergegenwärtigen . . . von Wichtigkeit ist"*). Das Wunder des Gral ist das Wunder der göttlichen Gegenwart, legendenhaft gebunden an das einem besonders erwählten Geschlecht anvertraute Gralgefäß. Die im Gral-livre enthaltene Idee der Vorbestimmung traf sich mit dem dem Dümmlingsstoff von Natur aus eigenen, durch weiteren keltischen Stoffzuwachs verstärkten ethischen Motiv der Erlösung und wurde von Chr. im Geiste der augustinischen Sünden- und Schuldauffassung zu einem höfisch-ritterlichen Entwicklungsroman ausgeweitet. Das GralgefäQ selber verlor seine erzählerische Eigenbedeutung und wurde als romanhafte, freilich für den Helden entscheidende Episode, in den Gang der Entwicklungshandlung eingereiht. Das für den Aufbau des Romans ausschlaggebende Zusammentreffen von Märchen und Legende geschieht in der Gralburgszene. Chr. verknüpft hier ein sich auf einem verwunschenen Schloß abspielendes Märchengeschehen mit den einzelnen Zügen der christlichen Gralerzählung. E r dehnt die in der Vorlage zur Lanze gehörende Erlösungsfrage auch auf den Gral aus, stellt neben den Fischerkönig mit der Lanze keinem wesentlichen Widerspruch. Im Gegensatz zu Heinzel aber wurde oben die erste Frage auf den Fischerkönig, die zweite auf seinen Vater, den „saint home", bezogen. Heinzeis gegenteilige Meinung s. ebd. S. 13. *) Der I n h a l t der Gralfrage gehörte jedenfalls in irgendeiner Form zum Bestand des livre. Das nimmt auch Baist, Prorektoratsrede, S. 42, an. Das Fragemotiv als solches aber ist wohl erst von Chr. mit dem Stoff in Verbindung gebracht worden. H. Naumann, Höfische Kultur, S. 42, führt aus, wie „zum Anklopfen nahe" bei Chr. „noch die Dimension des Primitiven" unter der höfischen Welt liege und weist auf die „primitivmagisch erlösende Märchenfrage" bei Chr. hin. Es mag sein, daß die Gralfrage noch Spuren ihrer vorhöfischen Herkunft zeigt. Aber für die Romaninterpretation kommt es letztlich auf den großen Sinn der gänzlich unmagischen Konfliktslösung an, auf das System von Schuld und Schuldfolgen, in das die Gralfrage eingegliedert ist. a ) Weber, a. a. O., S. 129.

I I I . Der Gral, sein Sinn, seine Umgebung und seine Geschichte den Gralhüter m i t dem Gral u n d gewinnt durch diese epische T a t der Motivdoppelung die Keimzelle f ü r die Doppelkomposition des Romans. Denn der Sucher des Gral wird Perceval, der Held der christlichen Läuterungsgeschichte, während die Lanzen-Queste Gauvain, dem weltlich-höfischen R i t t e r schlechthin, übertragen wird. Die Folgerichtigkeit der geistigen Gewichtsverteilung ist a m deutlichsten in der Einsiedlerszene, wo die Aufgipfelung des ethischen Läuterungsgeschehens mit der Einsicht des Helden in den spiritualistischen Sinn des Gralwunders z u s a m m e n t r i f f t . So h ä l t die Verinnerlichung der höfischen Lebenslehre Schritt m i t der ins Transzendente weisenden E r h a b e n h e i t des Gral. D a s Ergebnis unserer stoffgeschichtlichen Überlegungen 1 ^ bestätigt d e m n a c h den durch die U n t e r s u c h u n g des H a n d l u n g s a u f b a u e s gefundenen Gesamtplan des Percevalromans. *) Eine Reihe von Problemen kann hier nicht eigens erörtert werden, so die Frage nach der Entstehung der im livre berichteten Grallegende. Die Kyotfrage konnte im Vorangehenden nur gestreift werden. Webers Stammbaum der Gralsage (am Ende seines Buches), der, was die Zentralstellung Chr.s in der Parzival-Gral-Verknüpfung betrifft, unbedingt anzunehmen ist, müßte vor allem auf das Verhältnis des arabischen und des christlichen Stoffkreises hin betrachtet werden. Aus dem, was oben dargelegt worden ist, dürfte sich ergeben, daß kein Grund besteht, Chr.s „livre" und die Gralgeschichte Borons mit arabischen Gralspuren verknüpft sein zu lassen (vgl. Weber, vor allem S. I25f.), daß mit anderen Worten die in Webers Schema zwischen dem livre und dem arabischen Strang der Überlieferung gezogene Verbindungslinie problematisch bleiben muß.