Babylon und Jerusalem: Sinnkonstituierung im »Reinfried von Braunschweig« und im »Apollonius von Tyrland« Heinrichs von Neustadt [Reprint 2011 ed.] 348415098X, 9783484150980

Die Studie analysiert Verfahren der Sinnkonstituierung im »Reinfried« sowie im »Apollonius« und nimmt eine Neubestimmung

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German Pages 490 [492] Year 2002

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Table of contents :
I. Einleitung
II. ›Reinfried von Braunschweig‹
1. Grundlagen
2. Stabilisierung von Herrschaft durch Brauterwerb
3. Die rezeptionslenkende Funktion der Erzählinstanz
4. Die Funktion der Erzählerexkurse
5. Legitimation von Herrschaft durch Gottesdienst
6. Ergebnisse
III. Heinrichs von Neustadt ›Apollonius von Tyrland‹
1. Grundlagen
2. Die spätantike ›Historia Apollonii‹ als Rahmenhandlung
3. Die westliche Gegenwelt der tievel
4. Die östliche Wunschwelt im ander hymelreich
5. Der Schluß des Romans
6. Ergebnisse und Ausblick: Die Ankunft des Antichrist
IV. Sinnkonstituierung im ›Reinfried‹ und im ›Apollonius‹: Ein Vergleich
V. Literatur
VI. Register
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Babylon und Jerusalem: Sinnkonstituierung im »Reinfried von Braunschweig« und im »Apollonius von Tyrland« Heinrichs von Neustadt [Reprint 2011 ed.]
 348415098X, 9783484150980

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HERMAEA GERMANISTISCHE FORSCHUNGEN NEUE FOLGE HERAUSGEGEBEN VON JOACHIM HEINZLE UND KLAUS-DETLEF MÜLLER

BAND 98

WOLFGANG ACHNITZ

Babylon und Jerusalem Sinnkonstituierung im »Reinfried von Braunschweig« und im »Apollonius von Tyrland« Heinrichs von Neustadt

MAX N I E M E Y E R VERLAG TÜBINGEN 2002

Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG Wort

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 3-484-15098-X

ISSN 0440-7164

© Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2002 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz und Druck: Guide Druck GmbH, Tübingen Buchbinder: Geiger, Ammcrbuch

Vorwort

Die vorliegende Arbeit wurde 1999 vom Fachbereich Philologie der Philosophischen Fakultät an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster als Habilitationsschrift angenommen und für den Druck überarbeitet; nach 1999 erschienene Forschungsliteratur konnte dabei nur in Ausnahmefällen berücksichtigt werden. Danken möchte ich allen, die zum Abschluß der Arbeit sowie des Verfahrens beigetragen haben, insbesondere Tomas Tomasek, der die Untersuchung angeregt und gefördert hat, des weiteren Wolfgang Bender, Amand Berteloot, Wolfgang Harms und Volker Honemann für Hinweise und Kritik, Manuela Schotte, Nicola Frowein und Hanno Rüther für vielfältige Hilfe, der VG WORT für den Druckkostenzuschuß und schließlich den Herausgebern für die Aufnahme der Arbeit in die Reihe >HermaeaDe Consolatione PhilosophiaeReinfried von Braunschweig< und >Apollonius von Tyrland< im Kontext der sogenannten Minne- und Abenteuerromane .

i

2. Methodische Voraussetzungen und Vorgehensweise

12

II. >Reinfried von Braunschweig
Apollonius von Tyrland< i. Grundlagen

229 229

VII

1.1. 1.2. 1.3. 1.4.

Autor und Datierung Forschungsstand Überlieferung und Editionslage Zur Strukturierung des Romans

229 239 243 250

2. Die spätantike >Historia Apollonii< als Rahmenhandlung . . . 2.1. Sinnkonstituierung im Prolog 2.2. Die Bearbeitung der >Historia Apollonii< 2.3. Rezeptionslenkung durch dilatatio materiae 2.4. Raum- und Zeitstrukturen

252 252 259 262 272

3. Die westliche Gegenwelt der tievel 3.1. Kampf gegen das Böse 3.1.1. Gog und Magog 3.1.2. Kentauren und Sirenen 3.1.3. Der König der Tiere 3.2. Die >babylonische< Gefangenschaft

277 277 277 282 285 300

4. Die östliche Wunschwelt im ander hymelreicb 4. i. Das goldene Tal Crisa 4.2. Das irdische Paradies

307 307 327

5. Der 5.1. 5.2. 5.3.

Schluß des Romans Das Wiederfinden der Familie als Akt göttlicher Gnade Das Tafelrundenturnier Rexiustusetpacificus

337 337 343 351

6. Ergebnisse und Ausblick: Die Ankunft des Antichrist

363

IV. Sinnkonstituierung im >Reinfried< und im >ApolloniusReinfried von Braunschweig< und >Apollonius von Tyrland< im Kontext der sogenannten Minne- und Abenteuerromane

Mit dem >Reinfried von Braunschweig< und dem >Apollonius von Tyrland< wendet sich diese Arbeit zwei gegen Ende des 13. Jahrhunderts entstandenen Texten zu, die in der Forschung als >Minne- und Aventiure-Minneund Abenteuer-< oder auch >Liebes- und Abenteuerromane< klassifiziert werden. Diese Begriffe dienen als Sammelbezeichnung für eine heterogene Gruppe von Werken, die innerhalb der rund hundertfünfzigjährigen Geschichte des mittelalterlichen Versromans keinem der in der Volkssprache etablierten Erzählsujets zugeordnet werden können, da es sich bei ihnen weder um Antiken-, Artus-, Tristan- noch Gralromane handelt und sie auch nicht in den Traditionen von Heldenepik, Legende oder Bibeldichtung stehen. Zu ihnen zählen neben dem >Reinfried< und dem >Apollonius< Heinrichs von Neustadt Konrad Flecks >Flore und Blanscheflur Wilhelm von OrlensWilhelm von WendenWilhelm von Osterreich< sowie der >Friedrich von Schwabens Je nach Forschungsinteresse werden auch andere, zum Teil schon im 12. Jahrhundert entstandene Werke subsumiert, etwa die früher als >Spielmannsepen< bezeichneten Texte >König Rother< und >Herzog Ernst< oder >Die gute FrauDemantin< und >CraneMai und Beaflor< sowie Konrads von Würzburg >Engelhard< und >PartonopierReinfried< und der >Apollonius< partizipieren, reichen jedoch nicht aus, die oben angeführten Versromane, in denen eine je indivi-

duelle Kombination der genannten Merkmale festzustellen ist, als >Gattung< zusammenzufassen. Daher wird diese Kategorie für die sogenannten >Minne- und Abenteuerromane< für gewöhnlich vermieden und statt dessen von einem Erzähl-, Roman- oder Texttyp, einer Werkgruppe oder einem Textensemble gesprochen.1 Ziel dieser Untersuchung ist eine Neubestimmung dessen, was die sogenannten >Minne- und Abenteuerromane< signifikant von anderen Versromanen des 13. und des beginnenden 14. Jahrhunderts unterscheidet. Abgesehen davon, daß sich bisher nicht, wie etwa für den Artusroman, ein normgebender Ausgangspunkt festmachen läßt, ist es auch nicht gelungen, ein Bündel inhaltlicher und formaler Merkmale zu beschreiben, das die als >Minne- und Abenteuerromane< bezeichneten Werke von anderen Gattungen abgrenzt.2 So entfaltet sich beispielsweise auch in den Artusromanen die Handlung zwischen den beiden Polen minne und äventiure^ das Erzählschema von Trennung und Wiedervereinigung liegt bereits zahlreichen antiken Epen zugrunde und findet sich im Mittelalter auch andernorts vielfältig variiert, des Stoff- und Motivvorrats schließlich bedienen sich ebenfalls nicht exklusiv die genannten Versromane, sondern nahezu alle erzählenden mittelhochdeutschen Werke. Es stellt sich somit die Frage, was die sogenannten >Minne- und Abenteuerromane< derart von anderen Versromanen des 12. und ^.Jahrhunderts abhebt, daß sie seit der Prägung dieses Begriffs in der zuerst 1962 erschienenen Literaturgeschichte von Helmut de Boor als zusammengehörige Gruppe betrachtet werden.4 Der Gefahr, sich den Blick auf möglicherweise vorhandene Typkonstanten von vornherein durch unspezifische, zu stark abstrahierende Kriterien zu verstellen, die einen Typus >Minne- und Abenteuerroman< von Heliodors >Aithiopika< bis zu Veit Warbecks >Magelone< aufscheinen lassen,5 soll dadurch begegnet werden, daß mit dem >Reinfried von Braun1

Vgl. zuerst Röcke (1984), S. 395f., mit dem Versuch einer Binnendifferenzierung, des weiteren Ridder (i998b), S. i-i 5, der den Begriff >Minne- und Aventiureroman< bevorzugt, um die »vielfältigen Bezüge der Texte zu den beiden zentralen thematischen Polen des höfischen Romans, Minne und Aventiure«, zu unterstreichen (S. i, Anm. i), und zuletzt die Abgrenzungsversuche bei Schulz (2000), S. 15-26. 2 Zur Problematik von Gattungszuweisungen im Mittelalter grundsätzlich Jauß (1972) und zuletzt Grubmüller (1999^. 3 Vgl. Cormeau (1977), S. i2f. 4 De Boor ('1997), 8.82: »abenteuerliche Minneromane«, 8.91: »erbauliche Abenteuerromane«; vgl. Ruh (1978), S. 140: »Minne- und Aventiureroman«; Röcke (1984), 8.395: »Höfische und unhöfische Minne- und Abenteuerromane« (mit der Unterteilung in heroisch-politische Romane, Legendenromane, abenteuerliche und empfindsame Minneromane). 5 So bei Bachorski (1993).

schweig< (nach 1291) und dem >Apollonius von Tyrland< (vor 1298) zwei zeitlich und inhaltlich eng zusammengehörige Texte aus derjenigen Gruppe der >Minne- und Abenteuerromane< zum Gegenstand der Untersuchung gemacht wurden, die in der Endphase der Entwicklung des späthöfischen Versromans entstanden ist. Es geht also weder (wie bei Schöning, Juergens, Dietl) um die Gattungszugehörigkeit eines einzelnen Textes noch (wie bei Röcke, Bachorski, Kiening, Ridder) um einen synchronen oder (wie bei Schulz) um einen diachronen Längsschnitt durch den heterogenen Komplex dieser Romane, sondern um den punktuellen Vergleich zweier nachweislich aufeinander Bezug nehmender Werke, die als Segmente einer literarischen Reihe aufgefaßt werden können. Die detaillierte Analyse derjenigen Textelemente, in denen sie sich aufeinander beziehen, erbringt neuartige Einsichten in die Spezifika der letzten mittelhochdeutschen Versromane. Während der >Reinfried von Braunschweigs der >Wilhelm von Österreichs (1314) und der >Friedrich von Schwaben< (nach 1314) zuletzt mehrfach ausführlich behandelt worden sind6 und auch zum >Wilhelm von Wenden< (um 1289/1297) eine neuere Studie vorliegt,7 wurde für den >Apollonius von Tyrland< bisher weder der Versuch einer Gesamtinterpretation unternommen noch die Frage nach seiner Zugehörigkeit zu dieser Werkgruppe aufgeworfen.8 Dies überrascht schon deshalb, weil ihm mit der spätantiken >Historia Apollonii< ein Text zugrundeliegt, der wesentlichen Anteil daran hat, daß dem Mittelalter Handlungsschema und Motivvorrat der antiken Liebes- und Reiseromane überhaupt bekannt gewesen sind.9 Deren Kombination mit dem Brautwerbungsschema der sogenannten >Spielmannsepen< hält Werner Röcke daher sogar für eine gattungshafte Dominante der >Minne- und Abenteuerromane·«: Im spätantiken oder hellenistischen Roman liegt ein festes Motivensemble vor, dessen Einfluß bei der Umformung der alten Brautwerbungsformen in Rechnung zu stellen und das dem Mittelalter insbesondere über den außerordentlich verbreiteten >Apollonius von Tyrus< [...] bekannt geworden ist.10

Insofern steht der >Apollonius< mit seiner Motivreihe von Trennung und Reise, Suchen und Finden, dem antiken Liebesroman vor allen anderen

6

Neudeck (1989^; Vögel (1990); Juergens (1990); Kiening (1993); Ridder (1998)3); Dietl (1999); Schulz (2000). 7 Behr (1989), S. 143-206. 8 Zum Forschungsstand vgl. kurz Ochsenbein (1981); Huber (1990); Eckart (1990). 9 Vgl. dazu Ebenbauer (19843), 8.281-284; Tomasek (1997); Lienert (2001). IO Röcke (1984), 8.398.

>Minne- und Abenteuerromanen am nächsten" und drängt sich schon deshalb als Gegenstand einer Untersuchung der Konstituenten dieser Textgruppe auf. Doch nicht nur wegen der Stoffgrundlage, sondern auch wegen seiner Entstehungsumstände verdient der >Apollonius von Tyrland< besondere Aufmerksamkeit. Der Autor Heinrich von Neustadt ist als niedergelassener Arzt in Wien nachzuweisen, wo vermutlich auch sein Versroman entstand. Der >Apollonius< ist demnach der einzige der fünf späten >Minne- und Abenteuerromane^ als dessen Entstehungs- und Gebrauchsraum die spätmittelalterliche Stadt auszumachen ist. An ihm müßte sich daher die These verifizieren lassen, daß es Entwicklungslinien gebe, die die letzten Vertreter des höfischen Versromans mit dem frühneuhochdeutschen Prosaroman verbinden, denn Christian Kiening zufolge bilden die Ende des 13. und Anfang des 14. Jahrhunderts entstandenen >Minneund Abenteuerromane< mit ihrer je »heterogenen Fülle« und mit ihrer Tendenz »zur autonomen Verweisfunktion neuzeitlicher Fiktion« ein wichtiges Bindeglied zwischen den höfischen Versromanen des späten 12. bis frühen 14. Jahrhunderts und den späteren Prosaromanen.12 Als Konstruktionen symbolischer Sinnwelten< sieht er sie an einer Grenze angesiedelt, die »Möglichkeiten und Probleme eines im Umbruch begriffenen Erzählens repräsentiert.«'3 In Kontrast zum >Apollonius< prädestiniert den >Reinfried< seine Position als ältester derjenigen Romane,14 die mit einigem zeitlichen Abstand zu Konrad Fleck und Rudolf von Ems um 1300 die Reihe der >Minne- und Abenteuerromane< beschließen. An ihm läßt sich die These überprüfen, daß in diesen Werken ein auch ästhetischer Umbruch gegenüber den hochhöfischen Versromanen festzustellen sei. Schließlich bieten >Reinfried< und >Apollonius< auch deshalb eine ideale Ausgangsposition für die Suche nach potentiellen Gattungskonstituenten, weil sie innerhalb der als >Minne- und Abenteuerromane< bezeichneten Textgruppe so eng zusammengehören wie kein zweites Romanpaar. Obwohl in der Forschung mehrfach am Rande auf Berührungen und Überschneidungen sowie auf Parallelen in Motivik und Aufbau zwischen dem >Reinfried< und dem >Apollonius< hingewiesen worden ist,'5 sind deren auffällige Gemeinsamkeiten bisher weder untersucht noch in ihrem Po1

Röcke (1984), 8.399. Kiening (1993), 5.494Kiening (1993), 8.476. 4 Zum Forschungsstand vgl. kurz Ebenbauer (1989); Syndikus (1991). 5 So kür?, bei Schoenebcck (1956), 8.98-103 u. 190-192·, Ebenbauer (1984^; Ohlenroth (1991), S.o/; Kiening (1993), 5.476, Anm.9; Ridder (1998^, $.347, Anm. i. 2 3

tential zur Konstituierung einer literarischen Reihe erkannt worden. Dabei liegen signifikante Übereinstimmungen (und Unterschiede) auf der Hand: Die Protagonisten beider Texte, Herzog Reinfried von Braunschweig und der Königssohn Apollonius von Tyrland verlassen ihren angestammten Herrschaftsbereich, um durch die Werbung um eine Frau bzw. durch die daraus resultierende Eheschließung ihre Macht zu stabilisieren. Nachdem dies durch göttliches Eingreifen jeweils mißlingt, kommt es zu einem erneuten Auszug, der beide Helden auf verschiedene Weise mit denselben Handlungsschauplätzen (z.B. den Städten Babylon und Jerusalem), historischen Ereignissen (z.B. den Kreuzzügen) und heilsgeschichtlichen Stationen (z.B. Christi Geburt) konfrontiert. In der heidnischen Welt des Orients entfalten sich ihnen die Daseinsbedingungen der menschlichen Existenz vor dem Hintergrund einer christlichen Heilsordnung; beide Werke reagieren konkret auf die Zerstörung der letzten Kreuzfahrerfestung Akkon im Jahr 1291, wenn sowohl Reinfried als auch Apollonius das Heilige Grab in Jerusalem dem Christentum zurückerobern. Beide Protagonisten erhalten auf ihren Wegen Einsicht in die Allmacht und das Wirken Gottes, was sich nach dem ideologischen Geschichtsdenken des Mittelalters als Abwendung vom Irdischen und Hinwendung zum Ewigen begreifen und damit auch metaphorisch als Weg von Babylon, der Hauptstadt der civitas terrena, nach Jerusalem, der Hauptstadt des kommenden Gottesreiches, beschreiben läßt. Die Gemeinsamkeiten zwischen dem >Reinfried< und dem >Apollonius< reichen von derart zentralen Konzeptionen mit universalem Geltungsanspruch bis zur Verwendung derselben Erzählschemata und -motive, wenn beispielsweise Reinfried und Apollonius einen bis in Details (wie ein mitgeführtes fmrgeziuc] vergleichbaren Inselaufenthalt (>RobinsonadeWigalois< und die nachfolgenden Artusromane, den Jüngeren TiturelReinfried< und im >ApolloniusMinne- und

AbenteuerromanenMinne- und Abenteuerromans< alternative Erzählmöglichkeiten zur »strukturell-symbolischen Konzeption des Artusromans« und zur »elitär-existentialen Konzeption des Tristanromans« angelegt.16 Zwei zentrale Prämissen des höfischen Romans seien in ihm jedoch nicht übernommen, erstens die Erzeugung und Vermittlung von Sinn »im komplexen Akt des Erzählens und dessen prozessual erfahrenen dialektischen Mitvollzuges auf Seiten des Publikums« und zweitens »das ungebrochene Vertrauen auf eine innerliterarische Utopie«; damit seien »die narrativen Wertsetzungen und Weltentwürfe [...] auf die konfliktreiche Relation zwischen außerliterarischen Normhorizonten [...] und eigendynamischen narrativen Prozessen verwiesen« und es komme zu Spannungen verschiedener Erzähl- und Sinnwelten, ohne daß durch diese »ein neues Erzählparadigma inauguriert« werde.' 7 Im Anschluß daran reklamiert auch Ridder andersartige Verfahren der Sinnkonstituierung für die >Minne- und Abenteuerromane< und ein gegenüber dem hochhöfischen Roman weitgehend verändertes Verhältnis zwischen erzählinterner und -externer Welt, wenn er den Stand der Forschung unter anderem mit der Beobachtung resümiert, daß die Sinnstiftung innerhalb dieser Werke nicht mehr durch das Strukturmuster gesichert sei, sondern daß in ihnen der Weg des Helden als Versuch erscheine, »in Auseinandersetzung mit der Welt und dem eigenen Ich Sinn zu konstituieren.«18 Er stellt fest, daß sich die seit der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts entstandenen Romane mit älteren literarischen Sinnbildungsmustern auseinandersetzen und sich vor allem durch »die Tendenz zu intertextuellem, zu historisierendem, zu fiktions- und zu sprachreflexivem Erzählen« von ihren Vorgängern abheben.' 9 Diese Tendenzen lassen sich jedoch keineswegs als signifikante oder gar innovative Momente der >Minne- und Abenteuerromane< beschreiben, auch wenn sie in diesen, zumindest partiell, verstärkt auftreten. Intertextuelles, historisierendes, fiktions-und sprachreflexives Erzählen er1(5

Kiening (1993), 8.474. Kiening (1993), 8.475. 18 Ridder (i 9 98b), S. nf. 19 Ridder (i9 9 8b), S. 8. 17

reicht in der mittelhochdeutschen Literatur spätestens mit Gottfrieds >Tristan< sowie Wolframs >Parzival< und >Willehalm< einen ersten Höhepunkt, und in deren Nachfolge lassen sich weitere Werke anführen, in denen einzelne dieser Aspekte besonders in den Vordergrund treten, etwa Rudolfs von Ems >Wilhelm von OrlensCröne< Heinrichs von dem Türlin, Ulrichs von Liechtenstein >Frauendienst< oder zahlreiche kleinepische Texte des Strickers. Vergleichbares gilt für die von Ridder als für die Minne- und Abenteuerromane< konstitutiv herausgestellte Gestaltung der Raum- und Zeiterfahrung, die Identitätskonzeption der Protagonisten, die Technik der Quellenkombination und -verschränkung oder die der Anspielung auf Handlungsschemata und Strukturmuster, 20 über die bereits die Artusromane, angefangen vom >Wigalois< über die >Crone< bis zu Strickers >Daniel von dem blühenden TalMinneund Abenteuerromane< vor allem in deren Umgang mit literarischen Traditionen begründet. Dietl spricht dem >Wilhelm von Osterreich« eine ganz neuartige Form der Gattungsmischung zwischen höfischem Roman und Minnerede zu, die der Leser oder Hörer habe erkennen sollen,22 und Schulz adaptiert Bachtins Begriff der >hybriden Konstruktion, um die »Amalgamierung der unterschiedlichsten literarischen Traditionen« in den >Minne- und Abenteuerromanen >Wilhelm von OrlensPartonopier und Meliur< und >Wilhelm von Österreich« zu bezeichnen. 23 Zweifellos arbeiten die Autoren der spätmittelhochdeutschen Versromane vor dem Hintergrund und auf der Grundlage ihrer literarischen Vorgänger - dies ist ein Ergebnis auch der vorliegenden Studie. Wenn aber die vermeintliche Heterogenität bzw. der >hybride< Charakter der Werke durch deren besondere Form der Gattungsmischung erklärt werden soll, muß zunächst erörtert werden, welcher Gattung sie überhaupt angehören bzw. welche Gattungen sich sinnkonstituierend in ihnen mischen. Dazu reicht es nicht, sie den Strukturmustern und Erzählverfahren der hochhöfischen Romane zu vergleichen. 20

Vgl. Ridder (i 99 8b), S.4-8. Vgl. Grubmüller (1986); Müller (1994); Bein (1996); Strohschneider (1996); Müller (1998). 22 Dietl (1999), 5.241 u.ö. 23 Schulz (2000), S. 9 u. 19; ähnlich schon Scheremeta (1982) u. (1986). Die Arbeiten von Schulz und Dietl konnten (während der Drucklegung) nur noch punktuell herangezogen werden; vgl. ausführlicher Achnitz (2ooob) u. (2003). 21

Der >Wilhelm von Österreich beschließt gemeinsam mit dem ihm noch nachfolgenden >Friedrich von Schwaben< eine literarische Reihe, deren Konturen trotz der jüngsten Bemühungen um den sogenannten >Minneund Abenteuerroman noch immer nicht recht deutlich geworden sind. Sie beginnt - wie die Geschichte des deutschsprachigen weltlichen Versromans insgesamt - mit dem >König Rother< und umfaßt neben den verschiedenen >Herzog ErnstDie gute FrauFlore und BlanscheflurMai und BeaflorWilhelm von OrlensEngelhardPartonopier Wilhelm von WendenWilhelm von Österreichs und >Friedrich von Schwabens den >Reinfried< und vor allem den >ApolloniusMinne- und Abenteuerromane< exponierten Werke >Reinfried< und >Apollonius< läßt eine pragmatische Ausrichtung der literarischen Reihe erkennbar werden, die bisher kaum wahrgenommen worden ist. Sie rückt den gesamten Romantyp in ein anderes Licht und stellt zugleich seine übliche Bezeichnung als >Minne- und Abenteuerroman infrage. Als ein Ergebnis der vorliegenden Untersuchung wird für diese Werke daher, in Anlehnung an den von Marianne Ott-Meimberg für die »Strukturen adeliger Heilsversicherung« im >Rolandslied< geprägten Begriff des >StaatsromansHerrschafts- und Staatsroman< vorgeschlagen.24 Zur Beschreibung des postulierten ästhetischen Umbruchs hält Kiening die »differenzierte Erfassung literarischer Sinnkonstitutionen, des Verhältnisses der Erzählwelten zu narrativ und reflexiv entfalteten Normhorizonten, generell der >Akte des FingierensReinfried< und des >Apollonius< in der Analyse der sinnkonstituierenden Elemente liegt. Ziel ist es, die zentralen Verfahren zu bestimmen, derer sich die Texte bedienen, um >Sinn< zu konstituieren. Die Interpretation der beiden umfangreichen Versromane konzentriert sich auf die Ermittlung und Beschreibung derjenigen Textelemente, die im Zusammenspiel dazu beitragen, daß ihnen im

24 25

Vgl. Ott-Meimbcrg (1980), $.41-83, im Anschluß an Kühn (1980), S.3of. Kiening (1993), S8

Rezeptionsprozeß Sinn zugewiesen wird.26 Es wird, mit anderen Worten, nach Appellstrukturen 27 gefragt, welche die Aufnahme und Verarbeitung der literarischen Werke beim Rezipienten lenken, um auf diese Weise einen intersubjektiven Sinn der Texte in ihrem literarhistorischen Kontext zu rekonstruieren.28 Dabei sind die Spezifika des mittelalterlichen Literaturbetriebs zu berücksichtigen, der nur im eingeschränkten Sinn als >schriftgebunden< bezeichnet werden kann. Trotz großer stofflicher und motivlicher Gemeinsamkeiten lassen sich mittels Darstellung der unterschiedlich angewendeten Verfahren zur Sinnkonstituierung die differierenden Wirkabsichten beider Romane präzise erfassen. Mit der Untersuchung von Bedingungen, Möglichkeiten und Zielsetzungen des Erzählens am Ende des 13.Jahrhunderts soll die Forschungsmeinung, daß den im Übergang vom Hoch- zum Spätmittelalter angesiedelten Verstexten eine eigenständige, vom hochhöfischen Roman abgrenzbare und auf den frühneuhochdeutschen Prosaroman hinführende Erzählweise zugrundeliege, an einer für die Entwicklung der sogenannten >Minne- und Abenteuerromane< zentralen Gelenkstelle konkretisiert werden. Diese Vorgehensweise bedeutet für den >ReinfriedApolloniusReinfried von Braunschweig< tatsächlich auf eine Konfrontation vergangener Welten »mit der erzählinternen und -externen Gegenwart« zielt;29 zwar stellt Kiening fest, daß sich die >Minne- und Abenteuerromane< »Eigenräume« neben dem Artus- und Gralbereich, dem Antikenroman und der Nationalgeschichte schaffen, 16

Vgl. dazu Ingarden ( 4 i972); Cervenka (1978); Titzmann (1997). »In diesen Begriff fassen wir alle für den je aktuellen Lesevorgang relevanten Wirkungsfaktoren des Textes zusammen, die sich auch als ein Komplex von Textfunktionen oder Funktionen einzelner Textelcmente beschreiben lassen. Der Begriff bildet das rezeptionsästhetische Äquivalent zur Kategorie der Wirkungsintention bzw. der Textstrategie. Man könnte ihn metaphorisch formulieren als eine Art >AttraktionskraftnimmtReinfried< (neben dem >Apollonius< mit 20644 Vv.) um den umfangreichsten der späten Minne- und Abenteuerromane*; vgl. den >Wilhelm von Wenden< mit 8358, den >Wilhelm von Österreich« mit 19585 u. den >Friedrich von Schwaben« mit 8068 Vv. 33 Vgl. Schmidt (1970), 8.53: »Das leitende Interesse einer allgemeinen Literaturwissenschaft richtet sich auf die Totalität der semantischen Dimensionen eines Textes. Alle Fragen der formalen Organisation der Textbasis müssen gesehen werden im Hinblick auf die Bedeutungswirkung des Textes; alle Faktoren der Textbasis und der Textproduktion müssen gesehen werden als Konstituenten eines Wirkungsganzen, als Faktoren eines Kommunikationsprozesses«; vgl. auch Schutte ( 4 i997), S. 62. 3

10

Fremdtextverweisen auf verschiedenen Ebenen. Es kann daher, auch im Sinne der prinzipiellen Unabgeschlossenheit des literarischen Kunstwerks, hier nicht darum gehen, einen endgültigen Sinn der behandelten Werke zu erarbeiten; vielmehr sollen Analysen entlang der textinhärenten Verfahren, die die Sinnkonstituierung lenken, Grundlinien einer Gesamtinterpretation aufzeigen. Zuletzt sind in zahlreichen Forschungsbeiträgen Einzelaspekte und -szenen aus verschiedenen >Minne- und Abenteuerromanen zueinander in Beziehung gesetzt und in größere Zusammenhänge gestellt worden, ohne daß deren Funktion innerhalb der jeweiligen Einzelwerke angemessen berücksichtigt worden wäre.34 Der Gefahr, beim Reden über die Texte diese selbst aus dem Blick zu verlieren, ist nur durch das raumgreifende Verfahren einer textgebundenen Interpretation im sukzessiven Nachvollzug der Handlung zu begegnen. Beide Versromane werden daher getrennt voneinander behandelt und anschließend vor dem Hintergrund der in ihnen festgestellten Verfahren der Sinnkonstituierung miteinander verglichen. Den Lektüredurchgängen vorangestellt sind, im Anschluß an die methodischen Überlegungen der Einleitung, die textexternen Grundlagen der Interpretationen: Fakten zu Überlieferungs- und Editionslage, Datierung und Autor sowie Forschungsberichte zu beiden Romanen, die deshalb getrennt voneinander erscheinen können, weil sie bezeichnenderweise keine Berührungspunkte aufweisen: Der >Apollonius< fristet in der aktuellen Diskussion um die >Minne- und Abenteuerromane< ein Schattendasein. Im Anschluß an die beiden Hauptteile der Arbeit, deren Ergebnisse im jeweils 6. Kapitel zusammengefaßt sind (S. 217-227 u. 363-373), erfolgt ein Vergleich der sinnkonstituierenden Verfahren im >Reinfried< und im >ApolloniusMinneAbenteuer< und >Heilsgeschichte< auf den Inhalt, die Erzählinstanz und die Darstellung der Protagonisten konzentriert; anschließend werden das differierende Zielpublikum, die unterschiedlichen Gebrauchssituationen sowie pragmatischen Kontexte beider Werke gegenübergestellt. Zum Schluß sind die Konsequenzen aufzuzeigen, die sich aus den Ergebnissen des Vergleichs für die Frage nach den Konstanten einer literarischen Reihe ergeben, die von den Anfängen des höfischen Versromans bis zu dessen Ende reicht.

34

Vgl. Cieslik (1997); Egyptien (1987); Kasper (1995); Mielke (1992); Röcke (1988); Röcke (1996). II

2.

Methodische Voraussetzungen und Vorgehensweise

Vor der eingehenden Interpretation der beiden Texte sollen einleitend die methodischen Prämissen dargelegt werden, unter denen diese erfolgt. Ausgangspunkt der Untersuchung ist der Fiktionalitätscharakter der zu behandelnden Werke. Mit Wolfgang Iser wird als das Fiktive fiktionaler Texte die Wiederholung von Wirklichkeit zur Konstituierung eines Imaginären angesehen. Diese zwischen dem Realen und dem Imaginären vermittelnde Wiederholung von Wirklichkeit durch Prozesse der Selektion, der Kombination und durch die Selbstanzeige der Fiktionalität nennt Iser grenzüberschreitende >Akte des FingierensO5 Die Selbstanzeige der Fiktionalität verweist dabei nicht auf das Imaginäre selbst, sondern bildet eine pragmatische Präsupposition, indem sie einen Kontrakt zwischen Autor und Rezipient bezüglich der Fiktionalität begründet,36 »dessen Regelungen den Text nicht als Diskurs, sondern als inszenierten Diskurs< ausweisen.«37 Sie zeigt an, »daß der Text als ein Fingiertes nicht mit dem identisch ist, was durch ihn vorgestellt wird. [...] Darin bringt sich eine wichtige Konsequenz der entblößten Fiktion zur Geltung. Im Kenntlichmachen des Fingierens wird alle Welt, die im literarischen Text organisiert ist, zu einem Ais-Ob.«38 Isers abstrakte, nicht auf eine konkrete historische Situation39 applizierte Definition von Fiktionalität bietet für die hier aufgeworfene Fragestel35

Iser (1983), S. 123; aus mediävistischer Perspektive dazu Haug (1989), S. i6f.; Simon (1990), S. 198-204; Grünkorn (1994); Green (1998); Ridder (199813), S. 243-250 u.ö. 36 Vgl. Warning (1983), S. 194. 37 Iser (1983), S. 135. 38 Iser (1983), S. I38f. Zur Kritik an Isers Ansatz, die im wesentlichen seine bewußt unbestimmt gelassene Kategorie des Imaginären (vgl. Iser 1991, S. 292-411) und den Begriff der >Leerstelle< betrifft, vgl. Stierle (197$); Ströker (1983); Simon (1990), S. 198-204. 39 Jauß macht auf die Neuentstehung des Bewußtseins von literarischer Fiktion vor dem christlichen Hintergrund des 12. Jahrhunderts aufmerksam. Das sich einstellende »ästhetische Vergnügen an der gewußten Fiktion« bot die Möglichkeit, dem Alltag und »der geschichtlichen Realität überhaupt den Rücken zu kehren, um in eine andere Welt der naiven Gerechtigkeit und des Glücks einzutreten. [...] Die Intention und Rezeption der Mauere de Bretagne, die sich von der Ritterepik der Chanson de geste auch in der Gestalt der ersten Liebesromane dieser Zeit abhebt, bestätigt für das Mittelalter die Vermutung, daß die Funktion der Weltentlastung durchaus mit der Funktion einer neuen Weltdeutung einhergehen kann. [...] In der Tat befriedigt der Artusroman nicht allein das Bedürfnis nach dem Imaginären, nach der >anderen Welt< der Aventüre, sondern dient er auch der gesellschaftlichen Funktion einer Initiation in höfisches Leben und höfische Liebe, die ihr eigenes Bildungsideal einbegreift« (1983,5.428f.). An den beiden hier behandelten Texten läßt sich - wie schon im >ParzivalWigalois< oder im Jüngeren Titurel< - der Versuch beobachten, fiktionales Erzählen und christliches Weltverständnis miteinander zu verbinden. Fiktionale Texte sind als Ordnungsentwürfe eindeutiger als die Wirklichkeit und eignen sich daher besonders zur Vermittlung heilsgeschichtlicher Wahrheiten (vgl. auch Haug 1989, bes. $.4; Schaefer 1996). 12

lung gegenüber jüngeren Untersuchungen zur Fiktionalität des mittelhochdeutschen Versromans den Vorteil, daß sie ein Instrumentarium zur Analyse der Texte zur Verfügung stellt. Da es für die Bestimmung der Verfahren, mit denen die Texte den Sinnkonstituierungsprozeß steuern, weder gilt, anhand der Texte historische Wirklichkeit zu rekonstruieren noch das Imaginäre zu definieren, sondern darum, textimmanente Strukturen zu beschreiben, ist Isers triadisches Denkmodell des Realen, Fiktiven und Imaginären einem Oppositionsverhältnis von Fiktion und Wirklichkeit vorzuziehen, 40 wie es etwa die Arbeiten von Meyer und Grünkorn zur mittelalterlichen Literatur voraussetzen. Meyer definiert für seine Betrachtung der Artusromane und der aventiurehaften Dietrichepik des 13. Jahrhunderts Fiktionalität über ihre »spezielle Ausprägung von Selbstbezüglichkeit«. Fiktionale Welten bestehen für ihn aus Elementen, die ihrerseits bereits fiktionalen Charakter besitzen und »nicht durch ihren Wirklichkeitsbezug bestimmt sind (die aber durchaus Wirklichkeitsbezug haben können), und die eingebunden sind in die selbstreflexive Struktur des Kunstwerks.« 4 ' Die Intertextualität literarischer Werke, die Meyer im Blick hat, kann jedoch, wie sich zeigt, nur als ein Merkmal von Fiktionalität neben anderen gelten; die in den mittelalterlichen Texten vorhandenen Elemente der Selbstanzeige von Fiktionalität können darüber hinaus kaum mit einem neuzeitlichen Konzept von der Autoreflexivität des Kunstwerks in Zusammenhang gebracht werden.42 Der Rückgriff auf einen solchen Fiktionalitätsbegriff würde gerade die Spezifika der >Minneund AbenteuerromaneBedeutung< als dem, was Worten und anderen separaten Zeichen, und dem >Smn< als dem, was einer Rede oder Texten zukommt«, vgl. Thürnau (1997), S. 204. 48 Zum Stellenwert dieser systemtheoretischen bzw. konstruktivistischen Begrifflichkeit vgl. Luhmann (1990) sowie den von Schmidt ( 2 i988) herausgegebenen Sammelband. 4 * Vgl. Iser ('1979), S.9-11; Jauß ( 4 i98 4 ), S. 71-90. 44

Beobachtung besteht im Nachvollzug der erzählten Handlung. Unterscheidungen finden statt, indem das aktuell Erfahrene, jeder einzelne Satz, jeder neue Gedanke, in Relation gesetzt wird zu bereits Bekanntem, das sowohl innerhalb als auch außerhalb des Textes angesiedelt sein kann. 50 Dieses Verständnis der Sinnkonstituierung im Rezeptionsprozeß51 ist einem funktionsgeschichtlichen Textmodell der Literatur verpflichtet, das wie folgt skizziert werden kann: Ein fiktionaler Text repräsentiert einen illokutionären Akt, der allerdings im Unterschied zur normalen, alltagssprachlichen Rede nicht mit einem gegebenen Situationskontext rechnen kann. »Was in umgangssprachlicher Verwendung der Sprechakte vorab gegeben sein muß, gilt es im Blick auf fiktionale Rede erst aufzubauen. Folglich müssen fiktionale Texte alle jene Elemente mit sich führen, die das Konstituieren einer Situation« zwischen Text und Rezipient erlauben.52 Der Roman gibt Aufschluß darüber, in welcher Form Vorstellungs- und Wahrnehmungsdispositionen seiner potentiellen Empfänger beansprucht werden,53 deren Aufgabe es ist, den imaginären Gegenstand des fiktionalen Textes und dessen Sinn im Rezeptionsakt zu rekonstruieren. Damit ist zugleich gesagt, daß für den fiktionalen Text das Subjekt eine unumstößliche Notwendigkeit bildet. Denn der Text ist in seiner materiellen Gegebenheit bloße Virtualität, die nur im Subjekt ihre Aktualität finden kann. Daraus ergibt sich für den fiktionalen Text, daß dieser vorrangig als Kommunikation, und für das Lesen, daß dieses primär als ein dialogisches Verhältnis zu sehen ist. 54

Dieser Definition entsprechend werden die beiden Versromane als sinnhafte Äußerungen im Rahmen historisch situierter, literarischer Kommunikationsprozesse verstanden. Die Verfahrensweisen, mit denen in den Texten Sinn konstituiert wird, sollen vor dem historischen Hintergrund ihrer Entstehungsbedingungen modellhaft rekonstruiert werden. Es gilt jedoch weder den vom Verfasser im Produktionsprozeß intendierten noch den vom Leser oder Hörer in einem konkreten Rezeptionsakt konstituierten Sinn, sondern solche textinhärenten Elemente zu ermitteln, die einen Sinnkonstituierungsprozeß auf Seiten des Rezipienten zu steuern in der Lage sind. Die vorliegende Arbeit setzt sich daher nicht das Ziel, den Sinn50

Zu Ergebnissen linguistischer, psychologischer und literaturwissenschaftlicher Erforschung von Verstehensprozessen vgl. Viehoff (1988); Beckmann (1991); Aschenberg (i999)· 51 Grundsätzlich dazu Jauß (1975). 51 Iser ( 4 i994), S. 114; vgl. Cervenka (1978), 8.31. 53 Iser ( 4 i994), S. io6f.; vgl. auch Gabriel (1983), 8.9-12. 54 Iser ( 4 i994), S. 108.

konstituierungsprozeß insgesamt zu erfassen; vielmehr werden produktions- und rezeptions- oder wirkungsästhetische Perspektiven gerade dadurch miteinander verbunden, daß die Texte selbst, als Zeugnisse vergangener kommunikativer Handlungen, ins Zentrum der Untersuchung gerückt werden. Indem als der Sinn des fiktionalen Textes sein pragmatischer Bezug zur Lebenswirklichkeit des Rezipienten bestimmt wird, geraten schließlich die historischen Gebrauchsfunktionen" der >Minne- und Abenteuerromane< in den Blick. Konkret wird hinterfragt, ob die Autoren der spätmittelhochdeutschen Versromane »ihr souveränes Verfügen über ein Spektrum unterschiedlicher Quellen, das den Verlust der Wahrheit der einen Quelle impliziert,« durch einen didaktischen Anspruch rechtfertigen, der zugleich ihre Kunst legitimiert.56 Es ist zu prüfen, inwiefern die beiden hier behandelten Werke tatsächlich einen didaktischen Anspruch erheben. Um einem Mißlingen der Kommunikation zwischen dem fiktionalen Text und dem Rezipienten vorzubeugen, enthalten die Texte neben dem >TextrepertoireTextstrategien 6 So Ridder (1998b), S. 8; vgl. ähnlich Ohlenroth (1991), S. 96. 57 Vgl. Stierle (1975), 8.379. ' 8 Iser (11994), S. i4if. !9 Iser ( 4 i994), S. 142.

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sind daher weder mit der Darstellung noch mit der Wirkung des Textes ausschließlich zu verrechnen; vielmehr liegen sie dieser begriffsrealistischen Trennung der Ästhetik immer schon voraus. Denn in ihnen fällt die textimmanente Organisation des Repertoires mit der Initiierung der Erfassungsakte des Lesers

zusammen.60

Als Verfahren der Sinnkonstituierung in fiktionalen Texten sind - neben der Selektion von Elementen aus den die Texte umgebenden Wert-, Denk-, Wissens- und Literatursystemen - anzuführen die spezifische sprachliche (rhetorische), metrische oder strukturelle Gestaltung durch die Herstellung von Äquivalenzen, Isotopien, Oppositionen, Präsuppositionen usw. als Kennzeichen poetischer Rede,6' Relationen der Intertextualität, die eine Generalisierungsleistung erbringen, 62 die Etablierung von Sprech- bzw. Erzählsituationen sowie der Aufbau narrativer Strukturen,^ der nach Iser immer dann verstärkt zu beobachten ist, wenn die Wirkung fiktionaler Texte auf den Adressaten nicht hinreichend kontrollierbar ist.64 Für die hier verfolgte Fragestellung ist insbesondere die im Text inszenierte Kommunikationssituation zwischen Autor und Rezipient von Relevanz. Wenn vom Autor gesprochen wird, ist damit, sofern nicht anders markiert, die dem Text inhärente Fiktion einer Autorpersönlichkeit gemeint, die sich im Rezeptionsakt konstituiert; sie entspricht weitgehend dem Konzept des implied author^ ist aber mit diesem nicht kongruent. Die im Rezeptionsakt entstehende Vorstellung von einer Autorpersönlichkeit - Warning spricht für den höfischen Roman von der »Handlungsrolle >schreibender Autorimplied< vs. >unmediated author< und >narratorSchriftstcller< (=empirischer Autor), >Autor< (= Autorpersönlichkeit als Konstrukt des Rezipientcn) und >Erzähler< (= »textuelle Instanz, die das Orchester der divergierenden Einzelstimmen und Diskurse dirigiert« [ebd., 5.205]) spricht, und Schaefer (1996), S.60-66. 61

stellt, aus Erkenntnissen über solche >Autorpersönlichkeiten< die Lebensläufe historisch sonst nicht nachweisbarer empirischer Personen zu rekonstruieren.68 Um die von ihm aufgezeigten theoretischen Paradoxien des Konzepts vorn >impliziten Autor< zu überwinden, schlägt Ansgar Nünning vor, auf den Begriff zu verzichten und statt dessen die Gesamtstruktur des Werkganzen zum Ausgangspunkt »einer über dem Kommunikationsniveau der erzählerischen Vermittlung liegenden textuellen Ebene« zu machen.69 Diesem abstrakten Strukturniveau seien neben den Äußerungen des Erzählers und der Figuren alle Aspekte zuzuordnen, die auf den »realen Literaturproduzenten zurückzuführen sind«:70 Buch- und Kapiteleinteilung; Reihenfolge der narrativen Aussagen; Zeitbehandlung; Erzeugung von Spannung durch die Anordnung des Erzählten, die Unterbrechung eines Handlungsstrangs oder die Einfügung retadierender Elemente; Perspektivenstruktur; Figurenkonstellation und die Kontrast- und Korrespondenzrelationen zwischen den Figuren; Werte- und Normsystem.71 Sein Vorschlag läßt jedoch außer acht, daß auch das Bild des Autors, das sich durch Wahrnehmung dieser Aspekte ergibt, nicht auf den empirischen Verfasser und damit auf die textexterne Kommunikationsebene verweist, sondern selbst Bestandteil der Gesamtstruktur des Werkes ist und lediglich die innertextuelle Fiktion einer Autorpersönlichkeit konturiert.72 An der Notwendigkeit einer Differenzierung zwischen den verschiedenen Ebenen des empirischen Verfassers, der aus dem Text rekonstruierbaren Autorpersönlichkeit, des Erzählers, der Figuren sowie des vortragenden Sprechers eines höfischen Versromans ist daher unbedingt festzuhalten. Die Differenzierung ist besonders dann angezeigt, wenn tatsächlich in den >Minne- und Abenteuerromanen ein »sehr bewußt inszenierte[s] Changieren« zwischen diesen einzelnen Instanzen festzustellen sein sollte,73 und darf daher nicht, wie Ridder vorschlägt, durch die Bezeichnung 68

Als weitere Instanz ist - analog zur Lyrik - auch für die epische Literatur des Mittelalters der einen Text in der Performanzsituation vortragende Sprecher anzusetzen, selbst wenn die behandelten Versromane vielleicht auch bereits zur Lektüre vorgesehen waren, vgl. dazu Cormeau (1988/1989); Green (1990). Grundlage dieser Untersuchung ist für beide Versromane jedenfalls der schriftlich überlieferte Text. 69 Nünning (1993), S. 18. 70 Nünning (1993), S. 21. 71 Vgl. Nünning (1993), 8.20-23. 71 Vgl. Genette 01998), S. 283-295. 73 So Ridder (19983), 8.248, Anm.33; Ridder (19980), S. 261, Anm. 55. Im Anschluß an Haugs ('1992) Überlegungen zur >Literaturtheorie< im Mittelalter ist dabei vor allem der besondere Status der Prologe zu berücksichtigen; im >Reinfried< zählen, als dessen Besonderheit, auch ein Binnenepilog bzw. -prolog im Werkinneren dazu (vgl. Kap. II. 3 u. II. 4).

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der Erzählinstanz als >Autor/Erzähler< verundeutlicht werden (vgl. dazu Kap. II.3).74 Wenn sich »das Ich der Erzählung selbst [sie!] als eine exemplarische Figur« stilisiert, so ist dabei nicht, wie Ridder es für möglich hält, an »den biographischen Hintergrund des realen Autors« 75 zu denken, sondern an den Entwurf einer textinternen Instanz. Ridder benennt keine Kriterien dafür, welche Äußerungen des Erzählers einen Rückbezug auf die Person des Autors erlauben und welche nicht. Ohne solche Kriterien eröffnet das Postulat eines >Changierens< zwischen textinterner und textexterner Kommunikationsebene dem Interpreten jedoch an beliebiger Stelle die Möglichkeit, Aussagen des Erzählers auf eine textexterne Instanz zu beziehen, und es ist daher bedenklich, »potentiell mit einem biographischen Bezug der Erzähleraussagen zu rechnen«.76 Hypothetische Erkenntnisse über außerliterarische Realitäten, Rezeptionssituationen und konkret über die empirischen Autoren lassen sich vor allem aus bestimmten Gestaltungsmerkmalen der Texte ableiten; so ermöglicht etwa das in den Versromanen implizit ausgebreitete Wissen Rückschlüsse auf ein Mindestmaß an Bildung der empirischen Verfasser. Während man für die anonym gebliebenen Autoren des >Reinfried< und des >Friedrich von Schwaben< ohnehin ausschließlich auf solche, aus den Werken gewonnene Informationen angewiesen ist, sind auch Johann von Würzburg und Ulrich von Etzenbach nicht in außerliterarischen Zeugnissen greifbar; lediglich der Wiener Stadtbewohner Heinrich von Neustadt wird urkundlich erwähnt, ohne daß sich jedoch zwischen den Dokumenten und seinen Werken ein konkreter Bezug herstellen ließe.77 Vergleichbare Unterscheidungen sind auf der Rezipientenseite vorzunehmen. Hier ist zunächst an das empirische Publikum zu denken, das auf der textexternen Kommunikationsebene der empirischen Person des Romanverfassers gegenübersteht, im Unterschied dazu ist hier aber theoretisch weiter zu differenzieren m das zeitgenössische Publikum >der ersten 74

Am Beispiel der behandelten Versromane wird deutlich, wo die Trennlinien zwischen den einzelnen Instanzen zu ziehen sind, insbesondere an den Stellen, in denen »die Erzählinstanz sich selbst thematisiert« (Ridder 19983, S. 241). Die bei der Differenzierung auftretenden Probleme rechtfertigen nicht, diese von vornherein zu unterlassen (vgl. zuletzt Reuvekamp-Felber 2001). 75 Ridder (19983), 8.243. 76 Ridder (19983), 8.240; vgl. Ridder (i998b), 8.251-276. Ridder selbst kritisiert gerade dieses Vorgehen der älteren Forschung (19983, S. 244; 1998b, S. 256). 77 Vgl. zum >Reinfried< Ebenbauer (1989); Ridder (i998b), S. 155-159 u. 373-376; zu Johann von Würzburg Gher (1993); Ridder (i998b), S. 159-167 u. 376-391; Dietl (1999), S. 1-56; zu Heinrich von Neustadt Ochsenbein (1981); Ebenbauer (19863); zu Ulrich von Etzenbach Behr (1989), S. 143-206; Behr (i995d); zum >Fricdrich von Schwsben< Wclz (1980); Schöning (1991), S. 134-164; Ridder (i998b), S. 167-172 u. 391-395; Graf (2000).

Stunde< (Primärrezeption) und in jegliches spätere Publikum, das den Text losgelöst von seinem historischen Entstehungskontext rezipiert. Diese Differenzierung wirft die Frage nach mündlicher oder schriftlicher Rezeption der Texte auf und markiert zugleich den Unterschied zwischen dem zeitgenössischen Publikum und dem Literaturwissenschaftler der Gegenwart, der darum bemüht sein muß, die historische Rezeptionssituation modellhaft zu rekonstruieren.78 Auf textinterner Ebene sind davon zu unterscheiden das im Text konstituierte, fiktive Publikum und das Idealpublikum, für das der Autor seinen Text produziert. Das fiktive Publikum ist textintern als Gesprächspartner der Erzählerfigur konzipiert, während sich das Idealpublikum aus den in den Text eingegangenen Vorstellungen des Autors über potentielle Rezipienten rekonstruieren läßt. Wie der Rezipient im Rezeptionsakt eine Vorstellung von der Persönlichkeit des Autors gewinnt, so ist der Produktionsprozeß auf Seiten des Autors von dessen Erwartungen an ein >virtuelles< Publikum begleitet.79 Da es sich bei der epischen Literatur des Mittelalters im wesentlichen um Auftragsdichtung handelt, wird der vom Verfasser intendierte Rezipientenkreis, das virtuelle Publikum, zumindest partiell identisch gewesen sein mit dem zeitgenössischen Publikum >der ersten StundeMinne- und Abenteuerromane< unterrichten in Ausnahmefällen textinterne Gönnererwähnungen81 oder textextern die handschriftliche Überlieferung der Werke. So wird der >Reinfried< als ältester Vertreter der späten >Minne- und Abenteuerromane< zumeist in der Schweiz und neuerdings im Umkreis der Weifen angesiedelt, während der >Wilhelm von Wenden< für den Hof König 7li

Vgl. Stierle (1975), 8.379^; grundsätzlich dazu Jauß (1977). Vgl. Genctte (^1998), S. 291: »Im Gegensatz zum implizierten Autor, der, im Kopf des Lesers, die Vorstellung von einem wirklichen Autor ist, ist der implizierte Leser, im Kopf des realen Autors, die Vorstellung von einem möglichen Leser«; den implizierten Leser bezeichnet Genctte daher als »virtuellen Leser« (ebd., S. 292). Weder das fiktive noch das virtuelle Publikum entsprechen dem, was Iser als den >imphziten Lesen bezeichnet (z.B. 2 1979, S. 8f.). Wie der >implizite Autor< ist das Konzept des impliziten Lesers< ausschließlich entpersonalisiert zu denken; es bezeichnet die »Wirkungsstruktur der Texte« bzw. die Gesamtheit aller in dieser Struktur beschlossenen gedanklichen Operationen (Iser 4 i994, 8.67). Da es sich als entsprechend unhandlich erweist (vgl. auch Nünnmg 1993), werden hier das fiktive Publikum, das virtuelle Idealpublikum und, in einem zweiten Schritt, das empirische Publikum unterschieden. 80 Vgl. Booth (1961), S. 157 (>postulated readerApollonius von Tyrland< entstand in Wien, der >Wilhelm von Österreich< wird in je einer Bearbeitung sowohl mit den Grafen von Hohenberg und Haigerloch als auch mit den Herzögen Leopold und Friedrich von Österreich in Verbindung gebracht und der anonyme >Friedrich von Schwaben< ist im (späten?) 14. Jahrhundert, aufgrund der Erwähnung des >Wilhelm von Österreich in V. 4827 in jedem Fall nach 1314, im Umfeld der Habsburger, der Württemberger und/oder der Herzöge von Teck verfaßt worden.82 Diese zumeist unsicheren Zuschreibungen lassen sich aus den Texten heraus vor allem durch Vermutungen bezüglich des jeweils verlangten Bildungsstands bzw. der Literaturkenntnis des intendierten Publikums ergänzen.

l

Vgl. Scholz (1987), 8.44-81; Ridder (i^Sb), 8.154-191; Dietl (1999), 8.33-56; Graf (2000), S. 104-108. 21

II. >Reinfried von Braunschweig
Reinfried von Braunschweig< ist bisher nur eine einzige, am Ende fragmentarische Handschrift bekannt geworden: Gotha, Forschungsbibliothek, Memb. II 42 i. Hälfte 14. Jh.

Perg.

1+163+! Bll.

2 2 5 x 1 6 1 mm

Hochalem.

Je ein Papierdoppelblatt als Vor- bzw. Nachsatz, deren äußere Hälften in die Buchdeckel geklebt wurden. Eine Lagenzählung (Kustoden jeweils oben auf dem ersten Bl.) zählt bis fol. 8f II-IX und von fol. 8 5 r , das mit XIII bezeichnet ist, XIII-XIX; erst anschließend, ab föl. 13 8r, werden die Lagen X-XII gezählt.' Am Ende der IX. Lage statt eines Reklamanten die Aufforderung such dis zeichen :;~ von zeitgenössischer Hand, das sich zu Beginn der mit X bezeichneten Lage (fol. 138) findet; dieser Fehler war also schon bei der Herstellung aufgefallen. Oben rechts auf jeder Rectoseite mehrfach fehlerhafte Blcistift-Foliierung. Schriftspiegel im vorderen Teil ca. 18 120 mm, im hinteren 200 130 mm; zweispaltig mit durchschnittlich 42,5 Zeilen pro Spalte, im letzten Teil zunehmend. Späte Textura (vor allem Hand i) im Übergang zur Kursivschrift aus der ersten Hälfte des 14. Jh.s von verschiedenen (etwa 7) Händen in schwarzer bzw. schwarzbrauner Tinte. Auf der ersten Seite sind die Anfangsbuchstaben der Verse rot durchstrichelt, diejenigen der linken Spalte zusätzlich vor den Schriftspiegel ausgerückt. Für die zweizeiligen roten Initialen sind die entsprechenden Buchstaben zumeist vor dem linken Spaltenrand als Minuskel vorgegeben; selten wurden die Initialen nicht ausgeführt (so V. 5157 wegen des Spaltenendes oder V. 20133). Später treten vereinzelt Kapitelzeichen hinzu. Nach Maßgabe der Zirkellöcher an den Außenrändern sind die Pergamentblätter mit brauner Tinte liniiert; größere Löcher im Pergament waren zum Teil vernäht (so fol. i) und sind umschrieben worden (z.B. fol. 2). Gelegentlich fehlen größere Stücke ohne Textverlust (fol. 12, 16, 50 oder 71). Überschrift von späterer Hand: historjvon bertzog Reynfridvon Braunschweyg (fol. i r )· Wohl von derselben Hand (des 15.Jh.s?) finden sich verschiedentlich Be1

Reste einer älteren Kustodenzählung, die sonst stets mit dem oberen Blattrand abgeschnitten wurde, sind fol. 37" zu erkennen; dort steht quartus zu Beginn der 5. Lage.

nutzerspuren, beispielsweise zu den Vv. 15472-15518 (Kritik an Pilgerreisenden) die Randbemerkung ... von den Rittern des heyligen grabs (fol. 97r)· Stark beschädigter, marmorierter Halbpergamenteinband vom Ende des 18. Jh.s (Gotha) mit der Rückenaufschrift Herzog Reinfrit von Braunschweig (oben) und Signaturzettel 42 (unten) derselben Zeit. Der Buchblock wurde gleichförmig beschnitten, der Buchschnitt gerötelt. Im vorderen Deckel bibliographische Notizen der Bibliothek (u.a. von August Beck, nach 1845), nach dem Vorsatzblatt ein eingeklebter Brief von Jacobus Burckhard an Ernst Salomon Cyprian über die Rücksendung der Hs. von Wolfenbüttel nach Hannover am 26.4. 1734. Provenienz: Der am Ende fragmentarische Codex wurde in einer größeren, bisher nicht identifizierten Schreibwerkstatt angefertigt; Schröder vermutet Herkunft aus der Kanzlei Ludwigs IV. des Bayern, was nach den bei Bansa (1968) publizierten Schriftproben aus der Kanzlei durchaus möglich erscheint, anhand von paläographischen Untersuchungen aber zu überprüfen wäre. 1582 ist der Codex im Katalog der herzoglichen Hofbibliothek in München verzeichnet, von wo aus er 1632 durch Herzog Wilhelm IV. von Weimar als Kriegsbeute nach Sachsen verbracht worden ist (vgl. Neudeck 19890, S. i6-22).2

Inhalt: fol. i r -i63 v >Reinfried von Braunschweig< (Vv. 1-27627) Literatur: Cyprian (1714), S. 105, Nr.XLII; Baring (1754), Tab. 15 (Reproduktion der Überschrift und der ersten sechs Zeilen der Handschrift); Jacobs/Ukert (1836X5.300-305; Goedeke (1851), S. 179-182; Bartsch (1871), 8.804-807; Hartig (1917), S. 123^, 132 u. 365, Nr. 18; Schröder (1927); Ebenbauer (1989), Sp. 1171; Neudeck (1989^, S. 16-21; Behr (19953), $.115 (Abb. fol. ir); Hopf (1997), S. 38f.; Ridder (i998b), S. 373f.; Faksimile der Handschrift, hrsg. v. Achnitz (2002).

An der Abfassung der Handschrift waren nach Bartsch insgesamt sieben Schreiber beteiligt.3 Die einzelnen Hände lassen sich allerdings nicht so eindeutig bestimmen, wie Bartschs Angaben es suggerieren (so stammen wohl die ersten 39 Blätter nicht nur von einer Hand); möglicherweise versuchte ein neu einsetzender Schreiber zu Beginn seiner Arbeit, sich zunächst der Handschrift seines Vorgängers anzupassen. Methodisch sind darüber hinaus nicht Schreiber, sondern Schriften zu unterscheiden: Es wäre durchaus denkbar, daß die Schrift einzelner Schreiber aufgrund der je verwendeten Feder leicht abweichend erscheint. Dennoch setzt der häufige Wechsel mehrerer Schreiber eine professionell arbeitende Schreibstube voraus. Dieser Eindruck wird dadurch verstärkt, daß offenbar ständig mehrere Schreiber verfügbar gewesen sind, da die häufigen Schreiberwechsel zumeist innerhalb einer Lage stattfinden 2

Abschriften des >Reinfried< befinden sich in der Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel, Cod. Guelf. 62,1 Extrav. (vor 1734 vom Bibliotheksangestellten Reinerding angefertigt), und in der Niedersächsischen LB Hannover, MS XXIII 224 (von D.E. Baring, um 1/34/1753)· 3 Bartsch (1871), S. 806.

und nur ausnahmsweise mit einem Lagenwechsel zusammenfallen. Dies bestätigt auch ein gravierender Fehler in der Arbeitsaufteilung: Am Ende der neunten Lage »springt der text dem sinne nach« 4 von fol. 8i va , Zeile 22 (V. 13284), auf fol. 85", Zeile i (V. 13285), mit dem die zehnte Lage einsetzt. Das dazwischen liegende Textstück (fol. 8i vb , Zeile 23, bis fol. 84vb unten, Vv. 22469-2305 8) gehört hinter das ohne Textverlust längs halbierte, nachträglich eingefügte fol. 137, woran sich die siebzehnte Lage mit fol. 138" anschließt. Einer der Schreiber hat demnach am Ende der ersten von ihm verfaßten Passage eingefügt, was an den Beginn des dritten von ihm zu schreibenden Abschnitts gehört hätte. Dies mag, wie Bartsch gegen Goedeke vermutet,' dadurch bedingt sein, daß in der Vorlage einige Blätter in falscher Reihenfolge eingebunden waren, ohne daß der Schreiber dies bemerkte. »Dieser fehler läßt die äußere beschaffenheit der vorläge [...] erkennen: die versetzten blatter umfaßen 590 verse d.h. es waren vier blatter der vorläge, spaltenweis geschrieben, die spalte zu 38 zeilen.«6 Denkbar ist aber auch, daß sich die Vorlage gar nicht in gebundenem Zustand befand, sondern lagenweise abgeschrieben wurde, denn das Auftreten dieses Fehlers ist ein Hinweis darauf, daß die Schreiber nicht sukzessive, sondern zumindest teilweise synchron gearbeitet haben. Einen zusätzlichen Beleg dafür bieten die 16. und 17. Lage, die - ohne Textverlust - aus einem Binio und einem Einzelblatt bestehen (vier vollständige und ein zusätzliches, der Länge nach halbiertes Blatt). Vermutlich hatte die fehlerhafte Arbeit an der siebzehnten Lage ab fol. 138" schon begonnen, bevor ein anderer Schreiber die sechzehnte Lage abschließen konnte, so daß der ursprünglich hochgerechnete Seitenumbruch obsolet geworden war.7 Der Text wurde vor der Herausgabe durch Karl Bartsch von jüngerer Hand 8 korrigiert, was der Apparat der Textausgabe nicht immer erkennen läßt. Beispielsweise steht V. 625 in der Handschrift dur ere wü w' d' wibe segen; vor ere sind zwei Korrekturstriche, rechts neben der Spalte steht /. vnd. Ebenso steht zu sunde (17675) leg. funde am Rand, zu bindent (17677) leg. vindent. Zu cristane (17884) ist über der Zeile erläutert: cristan e, Lex Christiana (fol. 111"). Zu V. 992 wird schilt neben dem rechten Spaltenrand ergänzt (s. Apparat), V. 1940 grofftü neben der Spalte zu grosstu korrigiert usw. Zu dieser Stelle vermerkt der Herausgeber Bartsch im Ap-

4

Bartsch (i 871), S. 805; am linken Rand von fol. 8 i v finden sich der zeitgenössische Hinweis [k]er vmb drin bletter und verschiedene Zeichen. 5 Bartsch (1871), 8.805; vgl. Goedeke (1851), S. 182. 6 Bartsch (1871), 8.805. 7 Der schlechte Zustand der Außenblätter der einzelnen Lagen läßt darauf schließen, daß sich auch der erhaltene Codex längere Zeit in ungebundenem Zustand befand. 8 Vielleicht von Gottfried Christian Freieslebcn, der ab 1740 als Mitarbeiter der Öffentlichen Bibliothek in Gotha tätig war.

parat nur die fehlerhafte Schreibung der Handschrift, nicht aber die dort auch vorhandene Korrektur. An einigen Stellen hat er darüber hinaus die vorhandenen Korrekturen nicht übernommen (so ist 12743 beispielsweise das Wort werden mit Korrekturstrichen versehen, die Korrektur aber mit dem linken Blattrand fast vollständig abgeschnitten worden: [..o]ms).9 Andere Streichungen und Verbesserungen nahmen hingegen schon die Schreiber vor (so V. 85, wo sur über der Zeile nachgetragen wurde, V. 1671, wo an neben der Spalte ergänzt wurde, oder V. 2039, wo der Schreiber prise unterstrich und durch das richtige küsse unter der Zeile ersetzte). Für den fehlenden V. 17224 sowie für einzelne Wörter scheinen die Schreiber Raum gelassen zu haben. Möglicherweise war ihre Vorlage nicht nur verbunden oder sogar ungebunden (s.o.), sondern auch fehler- oder lückenhaft. Ein Beispiel dafür liefern die Vv. i i6i2f., wo »für herze und bot [...] im manuscripte leerer räum gelaßen« wurde (so Bartsch im Apparat): Hier hat der bereits erwähnte Korrektor die Freiräume mit den Worten Sin und kert gefüllt, diese dann unterpungiert und an den Rand geschrieben: Forte leg. (fol. 72r).

Am Ende bricht die Handschrift mit dem bis zum Spaltenende beschriebenen, letzten Pergamentblatt (fol. 163vb) mitten im Satz (V. 27627) ab; es folgt die Bemerkung: Multa defunt. 1.2. Forschungsstand Bereits seit über 300 Jahren ist der >Reinfried von Braunschweig< Gegenstand wissenschaftlicher Erforschung.10 Nach >Wiederentdeckung< der einzig erhaltenen Handschrift schon zu Ende des 17. Jahrhunderts wird der Text zunächst als Dokument der braunschweigisch-lüneburgischen Geschichtsschreibung und später als das früheste schriftlich fixierte Zeugnis der Sage um Herzog Heinrich den Löwen aufgefaßt.11 Beide Forschungsansätze können inzwischen als überholt gelten. Zwar sind die Analogien zwischen der >ReinfriedWeltlauf< hatte der >klassische< Artusroman (weitgehend) vergessen. Das wird nun korrigiert. Nicht um Verabsolutierung der Didaxe geht es, auch nicht um vorgetäuschte Tatsächlichkeit, sondern um Verortung in einem christlichen Geschichtskonzept. 101

Ebenbauer spricht daher von einer »Rückkehr des Erzählens in den Rahmen der christlichen Heilsgeschichte«.I02 Den vom Artusroman ausgeblendeten Weltlauf thematisieren explizit die Vv. 3 7-39: ir haerent wunderlichiu dinc. / der weit ende und ir ursprinc/ ist liep und leit, naht unde tac.I03 In diesem Sinne sind auch die weiteren >IweinGregoriusParzivalReinfried< ist die politische Konstellation jedoch eine andere. Der Prolog appelliert an die Tatkraft des einzelnen: Jeder erhält das, was er (sich) verdient. In den Vv. 52-55 des >Reinfried< wird positiv gewendet, was Hartmann in den Vv. 70-75 des >Gregorius< negativ formuliert: >Wer frei von jeglicher desperatio um Gottes Hilfe und Gnade ersucht, dem wird dessen Trost und Hilfe zuteil·.104 Durch den Hinweis auf das Gralrittertum in den Vv. 140-146 und die Formulierung äne zwivels flecken (52), 100

SoKoelliker(i975),S.78. Ebcnbauer (1985), 8.69. 102 Ebenbauer (1985), 8.69; vgl. auch Neudeck (1989^, S.66f. IOJ Zu viel Gewicht mißt Ridder dieser Formel bei, wenn er sie auch auf die Freude des Erzählers »(am Erzählen)« und auf das »Leiden (am Publikum)« bezieht und daraus »zwei Ebenen der Sinncrfahrung« ableitet: »zum einen Sinnerfahrung als Resultat menschlichen Bemühens und göttlicher Gnade, zum anderen die Darstellung von Sinnerfahrung über die Welt, die nur durch das Erzählen leistbar ist« (i998b, 5.253-254). 104 Die Begriffe helfe - gnade - tröst - helfs'md in den Vv. 53-5 5 chiastisch miteinander verschränkt. 10I

die mit Koelliker als Anspielung auf das Elstern-Gleichnis im >ParzivalReinfriedGregoriusParzivalReinfried< - im Unterschied zu Johanns von Würzburg >Wilhelm von Osterreich« - auch keine Reflexionen über die Verwendung des geblümten Stils (vgl. auch Ridder 1998^5.334-349).

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wählt eine seinem Erzählgegenstand angemessene, mittlere Stilart (genus mixturri).10* Wenn sich der Ich-Erzähler im zweiten Teil desprologuspraeter rem mit dem klassischen Bescheidenheitstopos seiner Erzählung zuwendet, daß sich sein tumbez herze ...an ein mBinnenprolog< an (s. Kap. 3.2.); auch dort entwickelt der Erzähler »eine selbstbewußte Position, weitgehend losgelöst von den traditionellen literarischen Vor- und Leitbildern und im Vertrauen auf eigenes literarisches Reflexions- und Gestaltungsvermögen«.110 Der folgendeprologus ante rem (65-146) leitet in zwei ebenfalls parallel strukturierten Abschnitten, die den Protagonisten einführen, und einem Schlußteil zur narratio über. Jeweils am Ende beider Abschnitte scheint in den Hinweisen auf die der Idealität des Erzählten nicht entsprechende >Wirklichkeit< erstmals ein Spezifikum des >Reinfried< auf. In den Vv.98100 wird Reinfrieds Ablehnung schlechter Ratgeber dem Verhalten einiger herren in der Gegenwart des Erzählers (nu) entgegengehalten; die Vv. 133-136 beklagen, daß sich die Schar der Witwen und Waisen iez durch ritterschefte Sachen ständig vergrößere, während diese zu Reinfrieds Lebzeiten beschützt worden seien. Solche Erzählerkommentare durchziehen den gesamten Roman. Von der Forschung werden sie als >Zeitklagen< bezeichnet und mit einer pessimistischen Grundhaltung des Autors am Ende des 13. Jahrhunderts erklärt. 111 Diese Kommentare, die sich weniger klagend als kritisierend geben und daher im folgenden als >zeitkritische Exkurse< aufgefaßt werden, sind jedoch nicht ohne weiteres als Verweis auf die »zeitgenössische Realität« 112 des Autors zu verstehen. Zwar kann der Erzähler, wie schon Lämmert betont, »durch abwägende Vergleiche zwischen >Damals< und >Heute< ausdrücklich die Zeitschichtung als erzähleri108

Vgl. Gräff (1946), 8.78-104; Suchomski (1975), 8.229-248; Ueding/Steinbrink (3i994), 8.228. 10!) Ridder (i9 9 8b), 5.253. "°Ridder(i998b), 5.328. "'Vgl. Bartsch (1871), 5.807-809; Dittrich-Orlovius (1971), 5.99-121; Neudeck (19890), 5.72-82; Ohlenroth (1991), 5.93!:.; Ridder (i998b), 5.255, spricht sogar von »erduldeter zeitgenössischer Gegenwart« und »Dekadenz der gegenwärtigen Gesellschaft«. ll2 So Ridder (1998^, 5.255; vg'· aucn Neudeck (19890), 5.36-50.

sches Element bewußt machen, das >Heute< bezeichnet dann aber nur die fiktive Gegenwart des Erzählers innerhalb der im ganzen präteritalen Konstitution des Werkes.« So wie man nur in der Relation zur Vorzeithandlung von einer Gegenwartshandlung sprechen kann, »so hat auch die Erzählergegenwart keinen festen Zeitbezug außerhalb der literarischen Fiktion.«"3 Statt nach sozialen oder politischen Mißständen zu suchen, die möglicherweise in der Zeitkritik aufscheinen, ist daher zunächst nach ihrer Wirkungsweise im Roman zu fragen. Im Prolog wird durch sie ein zeitlicher Abstand zwischen der abgeschlossenen Reinfried-Handlung und der Rezeptionssituation aufgebaut. Wie der Gebrauch des epischen Präteritums ab V. 40 und die Verwendung von Zeitadverbien wie hie vor (65) etablieren sie eine zeitliche Schichtung, die zunächst nur die idealisierte Vergangenheit, aber keine konkrete »Historisierung« des Erzählten »in Raum und Zeit« bewußt macht, wie Ridder meint."4 Ob damit auch »schon vor dem Einsetzen der erzählten Handlung ein Idealstatus« des Protagonisten festgeschrieben wird, »der durch keinerlei persönliches Fehlverhalten in Frage gestellt« wird und ob »das Moment der Krise, die für die Struktur des >klassischen< Artusromans konstitutiven Charakter besitzt«, somit ausgeschlossen ist," 5 wird zu prüfen sein. Der im Prolog konstatierte Exempelcharakter des Helden muß nicht zwangsläufig dessen Unfehlbarkeit bedeuten. Möglicherweise hat Reinfried sein Ansehen, das in der Erzählgegenwart nachwirkt (68-74), gerade dadurch erworben, daß er eine existenzbedrohende Krise überwunden hat. Darauf deutet beispielsweise auch die Metaphorik des Kampfes zwischen Tugenden und Lastern, die im Prolog in den Begriffen gesigen (3) und vehten (9) aufscheint, denn gates Ion, der weite heil, so heißt es in den Vv. 6f., muoz man vil nur erringen. Wenn aufgrund der Häufung von Sentenzen, deren Ziel »eine das Handeln im ethisch-sozialen Bereich beeinflussen wollende Belehrung« sein kann,"6 der unterweisende Gestus des Prologs (und des gesamten Textes) in der Forschung stark betont wurde,"7 so ist damit nur die eine Seite seiner kommunikativen Funktion angesprochen. Die Belehrung im Prolog II}

Lämmert( 7 ic)8o), S.68. So Ridder (ijpSb), S. 173; vgl. dagegen /..B. Stierle (1973), S. 355^ 1 5 ' So Neudeck (19890), S. 71; ebenso Ridder, der von uneingeschränkter »Idealität des Protagonisten« und von einem »entwicklungslosen« Heldcntyp spricht, der »in besonderer Weise zur Vermittlung abstrakter Lehrinhalte geeignet« sei (1998^ 8.49). Hier bezieht Ridder zu sehr die gängige Forschungmcinung zum Artusroman des 13. Jahrhunderts auf den >ReinfriedReinfriedIweinTristanReinfried< mit der sich seit spätestens 1260 etablierenden Gattung der Minnereden vgl. Ohlenroth (1990), S. 8/f., Dietl (1999), 5.272-278, Glier (1971), S. 91, sowie den Forschungsbericht von Achnitz (2oo2b). In der alem. Minnerede >Der törichte Liebhaber und der Sinn< (Brandis 1968, Nr. 417) wird beispielsweise die Frage aufgeworfen, warum sich die Liebe eines Mannes nicht immer der schönsten und würdigsten Frau zuwendet. Die um Hilfe gcbetene Frau Witze erläutert, »daß es ir bcyder conplexione ist, die Mann und Frau zusammenbringt: Wa der werlde kint Gleich genaturent sint Dye mynnent sich vnder in« (Ncugart 1995, Sp-979). Es folgen antike Exempla als Warnungen vorder Minne, darunter eine umfangreiche Nacherzählung des >Pyramus und ThisbeReinfried< referiert wird (Vv. 15266-15275). 156 Anders Schnell (1985), 5.306: »Ein Verehrer muß sich nicht mehr, aber kann auch nicht mehr, die Liebe der Dame in zahlreichen aventiuren erkämpfen, sondern deren Liebe fällt ihm von selbst zu, falls beide die gleiche psychisch-physiologische Konstitution besitzen. Ein Dienst um die Liebe einer Dame ist damit hinfällig, ja sinnlos geworden. >Natur< hat Tugend und Schönheit als causa amoris abgelöst.« 157 Dazu Helm (1941), 8.236-241; Schnell (1975), S. 143^; Schnell (1985), 8.26-28. Parallelen zur Riwalin-Vorgeschichte im >Tristan< und zum >Engelhard< Konrads von Würzburg zeigt Gräff auf (1946, S. 59-61). 158 In der Minnerede >Sehnsuchtsklage einer Frau< (Brandis 1968, Nr.45) beklagt eine Frau ihre Sehnsucht nach dem Geliebten, derber Mer( V. 123) gefahren ist. Dazu wendet sie eine geläufige Überbietungstopik an: »Nie seit Adams Zeiten gab es solche Sehnsucht, der Magnet zieht Stahl nicht so stark an wie der Geliebte das Herz der Frau« (Wolf 1992, Sp. 1048, vgl. das Liederbuch der Clara Hätzlerin, S. 21 5-217, Nr. 11,49). I m >Apollonius< ist 60

der Vergleich Irkanes mit der Sirene her,' 59 auf die Reinfried am Magnetberg trifft: na ir des tödes snide win gegen mir gewetzet, wan daz küssen hetzet mich in den tot mit senfter gift, sam diu Syrene, so man schift bi ir, tuot mit der stimme. SHS in des tödes grimme leitet mich ir schcene. (Reinfried 1610-1617) Wie im Fall des wunder schouwens ist die Vorwegnahme dieser Motive als Hinweis auf ihre besondere Funktion innerhalb der zweiten Romanhälfte zu werten.100 Der für den Sieg in Aussicht gestellte Kuß verwirrt Reinfried (wie später der Anblick der Sirene) die Sinne: diu wort dur sines ören duz / reht als ein messer hiuwen. / si störten senden riuwen / und hrahten lustic girde (i}i6-i}i9). Das Verlieben Irkanes wird demgegenüber in einem >inneren Monolog< nachgezeichnet (1354-1386); der Erzähler beschreibt ihre Verwirrung: wie der zarten waere, / des wist si niht... (i40of.). Ausgangspunkt für ihr Empfinden ist Reinfrieds gesellschaftliches Ansehen, das der Erzähler mit dem Hinweis bestätigt, daß er bi dem künc Artuse / mit höben eren under / den von der tavelrunder / het genomen werden siz (1408-1411). Ein nächtlicher Traum Irkanes (1638-1648) inszeniert den am anderen Tag folgenden Kuß bereits im Vorhinein. 101 Indem sie ihn dabei umarmt, fällt er mit der ersten Berührung zusammen: Sus daz küssen do ergienc/ daz sigap und er

das Motiv vom Magnctberg ersetzt durch das des Menschenmagncten (Lecouteux 1983, S.2i 3 ). '"Auch Isolde und Engeltrud werden in Gottfrieds >Tristan< und Konrads >Engelhard< mit Sirenen verglichen: Wem mag ich si geliehen / die schaenen, steldenrichen, / wan den Syrenen eine, / die mit dem agesteine / die kiele ziehent ze sich? (>TristanEngelhardBasilisksin miindel sol sieb an daz din l triuten minnediche< (2320^), lehnt Reinfried eine solche Belohnung ab: >Neinich enwil. der eren wuere gar ze ml, die ich unv erdienet hart. kusses wil ich st erlän: mich wil sus wol henüegen.< (Reinfried 2323-2327)

Irkane verunsichert diese Haltung: sidäht >im ist unmaere / liht mines mundes riieren. / er wil sin küssen fHeren / dar da, er bolder herze treit< (23302333). Erst der Appell des dänischen Königs an Reinfrieds ere kann diesen bewegen, den Kuß anzunehmen. Die Berührung mit den Lippen beseitigt schließlich jeden Zweifel; ohne Worte sind sich die Liebenden plötzlich einig: da wirt der sin durgründet /'an sprächen mit gedenken (2372f.).102 Ihre Sprachlosigkeit, die an dieser Stelle nicht nur als »Ausdruck der Minneergriffenheit« gewertet werden kann, l6 3 sondern auch dadurch bedingt ist, daß sich das Geschehen unter den Augen der Turnierteilnehmer abspielt (und dadurch, daß sie sich küssen), nutzt der Erzähler, um seine Minneauffassung darzulegen (2349-2489).l6·* 162

In der Textausgabe Bartschs steht in V. 2372 sin statt sin. So Ridder (19988), S. 337; vgl. dazu Wallmann (1985), S. 3-28. 164 Ebenso verfährt er beim Stummbleiben Reinfrieds in der Laubhütte (Vv. 2956-2994 u. 163

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In einem Exkurs definiert er das Wesen der Minne über das Paradoxon des dulce malum: ez fröuwet in dem leide / und smirzet in der liebe (23901.)· Da Minne innerhalb des Herzens im Zusammenwirken mit dem Verstand (sinne] bzw. dem Denken (gedenken] entsteht, kann sie sich sowohl positiv, als rehtiu minne, als auch negativ, als unminne, manifestieren. Der im >Reinfried< propagierte Begriff der rehten minne, der im Minnesang terminologisch zuerst in einem Dietmar von Aist zugeschriebenen Lied als rehtiu liebe (MF 34,23) erscheint, hat programmatische Bedeutung. »Die Liebe ist nur dann legitimiert, wenn die Vernunft sie in geordnete Bahnen lenkt.« 105 Ein vergleichbares Konzept einer durch ratio geprägten rehten minne bildet den Kerngedanken in Lyrik und Epik Heinrichs von Veldeke, der »eine vornehmlich ethische Fixierung« 166 des Begriffs anstrebt; rehtiu minne beruht wesentlich auf Verstand, Beständigkeit und maßvoller Beherrschung und führt im Unterschied zu unrehter minne zu Ansehen und Freude: dö man der rehten minne pflac, / do pflac man ouch der eren (MF 61,19). Solsi es unrehtiu minne, die Dido im Eneasroman in den Selbstmord treibt (78,4).l67 Während in Wolframs >Parzival< ein Zusammenhang zur triuwe (reht minne ist wäriu triuwe, 532,10) und bei Freidank zur Freude hergestellt wird (Rehtiu minne fröude hat, / so valschiu minne trüricstät, 98,13^), bezeichnet rehtiu minne bei Walther eine religiös gebundene Liebe (caritas]. »Das Adjektiv rehte hat somit allgemeinste Abgrenzungsfunktion von falschen Formen der minne, die oft ausdrücklich als valsche minne oder unminne entgegengesetzt werden.«' 68 Der Begriff der unminne bedeutet dagegen inordinatio auf allen gesellschaftlichen Ebenen.109 Reinfrieds minne ist im Gegensatz zur unminne eine rehtiu minne ohne truren und leit. Diese lernt nur derjenige kennen, der sein Herz in huote hat und sich niht vergäbet / mit sinnen (2404-2406). Wenn das mißlingt, ist 3010-3107) sowie bei der Schilderung der Hochzeitsnacht (Vv. 10788-10821, 1084010900, 10916-10979, 10992-11025, 11060-11133 u. 11144-11165). l6 'Kasten (1986), S. 2511. 166 Huber (1977), S. 88; vgl. auch Kistler (1993), 8.212-218. 167 Vgl. Dittrich-Orlovius (1971), S. 169: »Der >ReinfriedDie UnminneDer welsche GastJüngeren Titurel·, Strr. 21412150).

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dies allein Schuld des Verstandes, denn Minne paßt sich stets dem an, was sie beim einzelnen vorfindet: des ist unscbuldic minne, wan din wil niht wan guotes. minne fbiiget des muotes dem sin und herz ist undertän. (Reinfried 2418-2421)

Minne wird demnach als eine Art Naturgesetzlichkeit verstanden, deren Auswirkungen von der Tugendhaftigkeit des Menschen abhängen.' 7° Voraussetzung für das Entstehen rehter minne ist also die schon im Prolog geforderte Anstrengung des Menschen, ein tugendhaftes Leben zu führen: Jeder erhält das, was er (sich) verdient (vgl. 1-23). Zu Beginn des Treffens zwischen Reinfried und Irkane in der Laubhütte wird dieser Grundgedanke des Prologs in zwei weiteren Exkursen des Erzählers auf die Minnethematik bezogen (2956-2994, 3010-3107). Die Ausführungen über den Zusammenhang zwischen minne und ere, dem Leitbegriff des Prologs, kulminieren in der Sentenz: gotes gunst, der weite heil / erwirket man mit minne (29861.). Ansehen in der Gesellschaft (ere) und Minne können und müssen sich gegenseitig stützen und erhöhen, um die durch unsinne (2967, 2973, 2978, 2988) entstehende unminne abzuwehren. Treffen zwei von Natur aus füreinander bestimmte Menschen zusammen, deren Herzen von rehter minne (2401, 2414) erfüllt sind, erleben sie das höchste Glück: da ist niht wan ein einlich ein, ein liep, ein leit, ein ja, ein nein, so gar in ein betwungen daz irre münde Zungen die einhelligen sinne noch die Inter minne niht mügent gar durgründen. (Reinfried 2443-2449)

Letztlich ist Minne für die Betroffenen damit sprachlich nicht faßbar (vgl. auch 30061., 3oiof., 3040-3047, 3080-3083). Die visuelle Wahrnehmung, das Sehen mit den Augen, ist funktionslos für dieses Erleben (da hl ist der ougen blic/ niht..., 3058^), und auch der sin versagt, wie der Erzähler mit einem bispel (3067) verdeutlicht: Der Verstand sei in diesem Augenblick wie ein mit Menschen gefülltes Haus, gegen dessen Tür von außen so viele weitere Menschen drängen, daß weder jemand hinaus noch hinein gelangen könne. »Die Vorstellungskraft ist durch die Wahrnehmung der geliebten Person so in Anspruch genommen«, daß sie sowohl das Sprechen als 170

Auch bei Gottfried von Straßburg und Rcinmar von Zweier ist die Minne unschuldig »an ihrer Perverticrung durch menschliches Handeln« (Huber 1977, 8.97). 64

auch die Wahrnehmung behindert: Auge und Verstand verwirren sich somit gegenseitig (3084-3101); »erst wenn der Sinneseindruck wegfällt, ist wieder Platz für Gedanken vorhanden.« 17 ' Die Liebenden kompensieren ihre Sprachlosigkeit durch den Kuß, »der Herz und Sinn zusammenführt«, 172 denn die minne des anderen ist weder mit dem Auge noch mit dem Verstand, sondern nur durch die Berührung der Münder erfahrbar: alsus mit küsse lücket man minneclicher minne, nibt da man die sinne nu wendet hin und denne her. (Reinfried 2460-2463) küssen ist ein solich hört da mit man leit vernihtet und vientschaft verslihtet und friundet friunt in friundes trift. (Reinfricd 2468-2471)

Auch im Minnesang wird früh zum Problem, »wie die sinnverwirrende Erfahrung überhaupt begrifflich eingefangen, >begriffen< werden soll. Das m/nne-gefangene Ich bezweifelt, daß dies jemandem gelingen könnte. Ein Gegensatz zwischen erlebter Realität und Begriffsabstraktion deutet sich hier an. Objektiviert heißt dies: der Abstraktbegriff minne entzieht sich dem menschlichen Erkennen, repräsentiert eine unfaßbare Macht.« 173 Das Sprachversagen der Liebenden ergreift aber, trotz gegenteiliger, topischer Behauptungen, nicht den >ReinfriedTiturel< heißt es beispielsweise: minne, du hist alze manger slahte:/gar alle schnb&r künden nimer volschriben dm art noch din ahte (Str. 49,3^). 175 Ridder (i998b), S. 338; zu Reflexionen über den W!««e-Begriff im Minnesang vgl. Huber (1977), 5.80-105.

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überhaupt, erschöpft sich jedoch nicht darin, Abbild der Realität oder Ersatz für diese zu sein; >Welt< wird im literarischen Text nicht nur abgebildet, sondern zugleich strukturiert, kommentiert und damit dem Rezipienten in Form von Orientierungsangeboten erfahrbar gemacht.176 Reinfried nimmt unter den zumeist höhergestellten Teilnehmern am dreitägigen Turnier am Hof des Königs Fontanagris von Dänemark von vornherein eine Ausnahmestellung ein. Da er am Vorabend des Turniers so spät eintrifft, daß alle Unterbringungsmöglichkeiten in der Stadt belegt sind, bezieht er in einem Zeltlager Quartier und nutzt diese Gelegenheit zur Repräsentation, indem er seine uniform gekleideten Ritter wie bei einem Triumphmarsch177 durch die Stadt hindurch auf die dahinterliegende Ebene ziehen läßt, um dort die Zelte aufzuschlagen. Sein Auftreten wird von Schaulustigen als keiserlich (618), er selbst vom Erzähler als keiserlicher helt bezeichnet (665). Reinfried demonstriert Macht und Reichtum, um sein Ansehen zu steigern und um Irkane zu beeindrucken. Seine maßvolle Selbsteinschätzung (1302-1307) fängt der Erzähler auf, indem er unmittelbar anschließend das Ansehen des Protagonisten noch höher bewertet als das des römischen Kaisers (ich wSchwanritter< und dem >Turnier von Nantes< Konrads von Würzburg übernommen, sondern weitere Vorlagen - vermutlich aus dem Umkreis der >Wappenrolle von Zürich< und der Manessischen Handschrift - hinzugezogen. « I7 ? Dennoch sind die Figuren nicht historisch identifizierbar:180 Auch dies ist als Element pseudo-historischen Erzäh176

Ähnliche, nach Haug »literaturtheoretische« Positionen lassen sich in den Prologen zu Chretiens >Erec et Enide< und Hartmanns >Iwein< entdecken; vgl. Haug ^1992), S. 100105 u. 119-129; vgl. dazu Iser (1976), S. 120; Iser (1983), S. 139. ' 77 Vgl. dazu Eitschberger (1999), S.3i2f. 178 Zu den Wappen im >Reinfried< vgl. Ziegeler (1993) u. Ziegeler (2000), S./of. Allerdings führten die Herzöge von Sachsen dieses Wappen noch nicht zur Zeit der Kreuzzüge im 12. Jh., in der sich die >ReinfriedKonkretisierung< vgl. Glier (1984). 69

halb auch verabreden beide zunächst kein weiteres Treffen nach Reinfrieds Abreise:'90 Der Herzog von Braunschweig zieht als Minneritter seiner Dame durch das Land. Das gegenseitige trmwe-Versprechen wird >besiegelt< durch einen Kuß191 und einen metaphorischen Herzenstausch (in ir lip si dannen truoc / sin herze und bat im da vertan / ir herze sunder valschen wan / in triuwen vestecltche, 3904-3907), an dessen Gültigkeit der Erzähler beim Abschied erinnert: ir herze jagt im balde na, / wan diu minne ez von ir treip. / sin herze hie bi ir beleip / und fuor er sunder herzen (4320-4323). Die Etablierung des Minnedienstverhältnisses hat »unverkennbar exemplarischen Charakter«; die Szene zeigt, »wie sich eine höfische Dame und ein höfischer Ritter in so einer Situation zu verhalten haben. « I y 2 Der Erzähler nutzt das >minnebedingte< Schweigen der Figuren abermals zu einem Exkurs, in dem er die ihm fehlende Erfahrung mit der liebe von der Kompetenz, das Phänomen Minne mit Hilfe der sinne beschreiben zu können, strikt unterscheidet. An diese Haltung des Erzählers zum erzählten Geschehen knüpfen später seine Aussagen im Binnenprolog zur zweiten Romanhälfte an, in denen er seinen eigenen Mißerfolg konkret der Gunstverweigerung einer bestimmten Frau zuschreibt, die in einem Anagramm als ELSE bezeichnet wird (12803). »Das durch diese Motivik entstehende Bild des [...] Erzählers legt den Vergleich mit dem Autortypus Minnesänger nahe. Gleichzeitig eröffnet es dem Rezipienten eine Perspektive auf die literarische Tradition, für die dieses Autorbild charakteristisch ist. Die angeblich autobiographische Darstellung entpuppt sich als Reflexion des Erzählens und seiner Bedingungen.«193 Das Reflektieren über Minne, so führt der Erzähler aus, habe ihn überhaupt erst zum Erzählen der Liebesgeschichte veranlaßt:

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Dagegen verspricht Engeltrud im >EngelhardTristan< gilt der Kuß zwischen Tristan und Isolde ebenso als insigel (V. 18359) gegenseitiger triuwe (vgl. die Vv. 18359-18362) wie der zwischen Engelhard und Engeltrud im >Engelhard< (Vv.2388-2401), vgl. Speckenbach (1965), 8.48; Wessel (1984), S. 504^ Wer mit einem unehrlichen Kuß betrügt, der tuot offenliche mort (>ReinfriedKuß«Ridder(i998b), S.27o. Ridder spricht von Elementen eines >pseudo-autobiographischen Ichsnarrativen Ich< unterscheidet (1998!}, S. 25 if. u. 266-274); vgl· dazu unten, Kap. II. 3.

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der Hohen Minne wird somit zum Movens für eine höfische und christliche Lebensführung erhoben. Die handlungsbegleitenden Erzählerexkurse explizieren diese Funktion der rehten minne. Vor dem >Reinfried< lassen schon die Werke Rudolfs von Ems, Ulrichs von Liechtenstein und Konrads von Würzburg sowie die seit spätestens 1260 entstehende Gattung der Minnereden erkennen, daß sich in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts die Diskussion über das Thema Minne aus dem zunehmend nicht mehr produktiven Minnesang, der bis dahin als Medium einer feudalen Oberschicht Träger eines sozial exklusiven, elitären Liebesbegriffs und damit Ausdruck adligen Selbstverständnisses und Elitebewußtseins gewesen ist, in andere, vor allem erzählende und erörternde Gattungen verlagert. »Das Interesse an einer inhaltlichen Auseinandersetzung mit dem Konzept des Frauendienstes erscheint im deutschen Minnesang mit dem Wirken Walthers von der Vogelweide erschöpft.«190 Durch die allgemeine politische und gesellschaftliche Entwicklung seit Mitte des 13. Jahrhunderts seien, so Kasten, der »Glaube an die historische Aufgabe des >RittertumsritterlichenReinfried< ein bewußter Rückgriff auf ein solches gesellschaftsstabilisierendes Konzept des Frauendienstes vor. Wie bei der Nennung der Natur als causa amoris hält der >Reinfried< dabei, im Unterschied zu einigen Hauptvertretern des Minnesangs im 13. Jahrhundert, bei denen die Perspektive des Mannes dominiert und die formale Variation der Lieder im Vordergrund steht, im Rahmen des Konzepts der Hohen Minne am Prinzip der Gegenseitigkeit der Liebe fest. Er tritt damit einer »zunehmenden Spiritualisierung des Frauendienst-Gedankens«, 198 wie sie beispielsweise bei Heinrich von Morungen festzustellen ist,'99 entgegen. Das gesellschaftliche Ansehen Reinfrieds, seine ere, bildet den Schnittpunkt der Themenkomplexe Herrschaft und Minne. Sie ist Voraussetzung für die Minnebeziehung zwischen dem Herzog und der Prinzessin, für die spätere Heirat und für die Sicherung der Herrschaft durch Zeugung eines Erben. 196

Kasten (1986), 8.360; zu Entwicklungstendenzen des Minnesangs im 13. Jahrhundert vgl. auch Liebertz-Grün (1977); Glier (1984); Wachingcr (1989). 197 Kasten (1986), S. 360. 198 Kasten (1986), 8.255. 199 Auch Heinrichs von Morungen >Poetik des schouwL'ns< (dazu Kasten 1986, 8.319-329) erfährt in den Passagen des Romans, die sich gegen eine Überbewertung der visuellen Wahrnehmung wenden, Widerspruch.

2.3. Gefährdung der Gesellschaftsordnung durch unminne Das Minnedienstverhältnis zwischen Reinfried und Irkane ist vor dem Hintergrund des Konzepts der >Hohen MinneVorläufern< der Minnereden 200 präsent ist, zu betrachten. 201 Die klassische Figurenkonstellation des Minnesangs ist im Versroman in epische Handlung umgesetzt, wobei dem Protagonisten die Stelle des lyrischen Ichs zufällt. Zusätzlich ist das Figureniventar um den Rivalen aus dem Brautwerbungsschema erweitert. Den zweiten, ebenfalls dreigeteilten Handlungsabschnitt, 202 in dem es in Kontrast zum ersten darum geht, das Entstehen und Wirken von unminne (4191) vorzuführen, eröffnet der Auftritt eines namenlos bleibenden Ritters, der die Liebenden beim Verlassen der Laubhütte beobachtet (3928-4147). Die Anonymität dieser Figur ist Signal dafür, daß sie primär über ihre Funktion innerhalb der Erzählung zu begreifen ist, denn in ihr fallen zwei Rollen zusammen: Zum einen ist der Ritter Reinfrieds Rivale um Irkanes Gunst. Diese Rolle füllt in den Brautwerbungserzählungen, deren Schemata die erste Romanhälfte verpflichtet ist, zumeist der entsandte Brautwerber aus;203 im >EngelhardReinfriedKlagc< (>Das [erste] BüchlcinDas (x.weite) Büchleins Strickers >FraucnehreDiu Mazc< und Ulrichs von Liechtenstein >FrauenbuchEngelhardReinfried< tritt im >EngelhardReinfried< folgt zwar dem Vorbild Konrads, doch sind die Voraussetzungen dadurch, daß Reinfried selbst ere und reht wiederherstellt, andere. Ihm wird mit dem verleumderischen Ritter eine Figur entgegengestellt, von der er sich positiv abhebt; dem Minneversprechen Reinfrieds steht der Meineid des Verleumders gegenüber. In Kontrast zu Ritschier von England, der im >Engelhard< die Rolle des merktere wahrnimmt, tritt im >Reinfried< das persönliche Interesse des Verleumders stark in den Vordergrund. Sein primäres »Ziel ist nicht eine öffentliche Entlarvung des Paares, sondern die Absicht, stillschweigend an Reinfrieds Stelle als Liebender zu treten.« 2 ' 6 Diese Vernachlässigung gesellschaftlicher Verpflichtungen zugunsten eigennütziger Interessen ist als Analogie zum pflichtvergessenen Verhalten Reinfrieds während seiner späteren Orientreise aufzufassen. Einen zusätzlichen Hinweis auf ein solches Abbildverhältnis zwischen Reinfried und dem anonymen Ritter liefert der Vergleich ihres Kampfes mit den Leistungen bekannter Artusritter, der darüber hinaus als weiteres Fiktionalitätssignal zu verstehen ist: In den Vv. 8921-8933 heißt es, daß weder Wigalois noch Iwein, Gawein oder Lanzelet jemals einen so harten Kampf ausgetragen hätten; vergleichbar sei höchstens der Zweikampf zwischen Parzival und Feirefiz ze Schabtet marveile (8923). 2 5? Dieser Kampf zeichnet sich in Wolframs Werk jedoch nicht durch besondere Härte, sondern durch die Tatsache aus, daß sich dort zwei Brüder unerkannt gegenüberstehen, die beide - Feirefiz auch äußerlich - das schon in den Prologen zum >Parzival< und zum >Reinfried< angesprochene Prinzip des zwivels verkörpern. Wolframs Prolog führt aus, daß zwivel der sele schadet (1,1 f.) und daß es neben unsteten (schwarzen) und steten (weißen) auch elsternfarbene (gescheckte) Menschen gibt, deren Weg nicht zwangsläufig in den Himmel oder in die Hölle führt (1,3-14). Diesem dritten Typ, der den >richtigen< Weg erst finden muß, entsprechen Parzival und Feire-

2SParzivalIwemLanzcletWigalois< und Heinrichs von dem Türlin >Diu CröneParzivalsinnlosealte QuelleGelöbnis< betrifft nicht mehr die >Innenbeziehung< der Liebenden, sondern die >Außenbeziehung< des Paares zur höfischen Gesellschaft und markiert so den entscheidenden Wendepunkt innnerhalb der Entwicklung von der geheimgehaltenen Minne zur endgültigen, öffentlichrechtlich sanktionierten Ehegemeinschaft. 267 Die anschließenden Beratungsszenen unterstreichen, daß alle an der Aussöhnung Beteiligten, die Verbündeten Reinfrieds ebenso wie die Untertanen des dänischen Königs, mit der gefundenen Lösung einverstanden sind und sie mittragen. Zugleich wird deutlich, daß die Verbindung zwischen Reinfried und Irkane für die Außenstehenden nicht durch deren Minne, sondern dadurch legitimiert ist, daß es sich um einen politischen Akt handelt: Der König von Dänemark gibt dem Herzog von Braunschweig und Sachsen seine Tochter zur Frau. In den Diskussionen beider Parteien spielt die Liebesbindung zwischen Reinfried und Irkane keine Rolle, ausschlaggebend sind vielmehr die von Reinfried vorgebrachten Argumente: seine Macht, sein Reichtum, sein Ansehen, seine höhgeburt (10108), der gewonnene Gerichtskampf und die Demonstration seiner Tapferkeit und Stärke während der Entführung der Prinzessin (1009010157). Fontanagris glaubt darüber hinaus, Gottes Willen an den Ereignissen ablesen zu können (101641.). Der zweite Einzug Reinfrieds in die Stadt Linion, nach der Eheschließung durch einen Bischof, bildet eine Steigerung gegenüber seinem ersten Auftritt in Dänemark. Das Geschehen vollzieht sich in kleineren Zeitein266

Vgl. dazu die Erleichterung des Königs, als die Entscheidung zugunsten Reinfrieds und Irkanes gefallen ist; er sagt: gesach mich got, daz ich die stunt / gelept hän an iuch beiden

267

Vgl. auch Dittrich-Orlovius (1971), 8.49.

(VV.

I02 4 6f.).

heilen: »der Zweikampf bis zum hohen Mittag als endgültige Entscheidung, dann Entführung, Verlobung und Hochzeit noch am Abend des selben Tages.«268 Als dominierend erkennt Dittrich-Orlovius ein Erzählprinzip der inneren Motivation: »Das ist umso bemerkenswerter, als gerade in diesem Handlungskomplex eine Häufung eben jener Elemente auftritt, die das echte Brautwerbungsschema konstituieren. Die Motive vom verborgenen Heer, das auf den Hornstoß hin zu Hilfe herbeieilen kann, werden nicht etwa verwischt, sondern vielmehr in eigenständiger Weise dem Erzählschema [...] einverleibt.«209 Durch die Einbeziehung von Elementen der Brautwerbungsepen gerät zum Ende der ersten Romanhälfte verstärkt »das Fürstendasein des Titelhelden in den Blick, das für die Motivation der zweiten Ausfahrt Reinfrieds [zu Beginn der zweiten Romanhälfte] eine maßgebliche Rolle spielt.«270 Auch im folgenden bleibt eine Parallelführung der Handlung erkennbar. Die ebenso deutlich sichtbaren Unterschiede zwischen dem ersten und dem zweiten Aufenthalt Reinfrieds in Dänemark bezeichnen die veränderte Qualität der Beziehung zwischen ihm und Irkane. In seiner Ansprache an die Festversammlung ordnet der König von Dänemark die Verbindung seiner Tochter mit Reinfried sogar in den Kontext der göttlichen Weltordnung ein, wenn er nach einem Lob der Schöpfung auch den Ausgang des Gerichtskampfs als wunderlicbez Werk Gottes deklariert (105 8910646).^ Die Bemerkungen des Erzählers zu dem Umstand, daß nicht alle anwesenden Ritter mit der Fortsetzung des in Braunschweig abgebrochenen Turniers einverstanden sind, rufen zum wiederholten Mal ein Thema auf, das im Kontext der ersten Romanhälfte unmotiviert scheint. In der zweiten Romanhälfte trägt es dagegen entscheidend zur Sinnkonstituierung bei, wenn die hinausgezögerte Rückkehr von der Orientreise zum Problem für den Protagonisten wird und es ihm - zumindest nach der Sage von Heinrich dem Löwen, die hierfür in Anspruch genommen werden muß - erst im letzten Moment gelingt, die Wiederverheiratung Irkanes zu verhindern. Als Vorausdeutung darauf ist schon die Tatsache zu verstehen, daß Reinfried als letzter Teilnehmer zum ersten Turnier in Linion eintrifft (vgl. 581: Sus was er gar versümet). Sorgfältiges Abwägen zweier Pflichten wird 268

Dittrich-Orlovius (1971), 8.491. Dittrich-Orlovius (1971), 8.49^; ähnlich Ridder (i998b), S.6tf. 270 Ncudcck (1989(3), S. loo. 271 Zu Anklängen an den Schöpfungspreis im Prolog zu Wolframs >Willchalm< (Vv. 1,1-2,14) vgl. Schröder (1989), S. 135. 269

92

erneut thematisiert, als sich der Markgraf von Brandenburg dazu entschließt, Reinfried nicht auf seiner >Brautfahrt< nach Dänemark zu begleiten, weil ihn anderpßibt irret (7951), und einstweilen nur seine Ritter zur Verfügung stellt.272 Wenn nicht alle Teilnehmer begeistert sind von der Idee, das Turnier fortzusetzen (ein teil was der maere frö, / ein teil betten ez also / vil liht läzen wol gesin, 10681-10683), begründet dies der Erzähler einerseits mit deren Furcht vor den Zweikämpfen, erkennt aber andererseits die Dringlichkeit landesherrlicher Verpflichtungen an: gnuoge sache baten fürganc manger dinge noch, wan daz misselinge da bi vil liht belibet und si niemen tribet mit endelicher Hebe. (Reinfried 10698-10703) Daß sich schließlich alle Anwesenden aufgrund des >Gruppenzwangs< mit ihrer Teilnahme einverstanden erklären, wertet er als einen Erfolg Reinfrieds, der als Vorbild Einstellungs- und Verhaltensänderungen bewirkt: sus hän ich dik genomen war daz man biswachen kranket und hi unsteten wanket und bi den argen arget und bi den kargen karget und bi den zagen fliubet, von rehter ixte erziuhet, bi lügenaeren [man] liuget, bi triigenWilhelm von Orlens< den für seine Freundin Amelie von Turnier zu Turnier reisenden Protagonisten zwischenzeitlich verläßt, um den Hof des englischen Königs Reinher aufzusuchen. Ohne Wilhelms Wissen verspricht dieser Avenis die Hand seiner Tochter Amelie, um einen politischen Ausgleich mit Spanien zu besiegeln (vgl. die Vv.7990-8014 u. 8115-8153).

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Inhaltlich und stilistisch knüpft dieser Exkurs an die anaphorische Sentenzenreihe im Prolog an (6-16), die dort belegt, daß jedem zufällt, was er verdient. Die im Prolog dem Bildbereich der Natur entnommene Vorstellung wird an dieser Stelle zu einem Organisationsprinzip von (höfischer) geselleschaft aufgewertet. Der Protagonist exemplifiziert, daß positives Verhalten nicht nur persönliches Liebesglück und gesellschaftliche Anerkennung einbringt, sondern daß es auch andere zu vorbildlichem Verhalten motivieren kann (vgl. etwa 10692^: keinre wolle besser sin / einre als der ander). Denselben Gedanken greift der Erzähler noch mehrfach innerhalb der ersten Romanhälfte auf: Während der Schilderung der Hochzeitsnacht (10992-10999), bei der Ankunft des Paares in Braunschweig (1225612263) unTristanRemfried< integriert.

94

10916-10979 10980-10991 10992-11025 11026-11059

11060-11133

11134-11143 11144-11165

dritter Exkurs zum Lob der (Ehe-)Frau; Fortsetzung der Beschreibung des Liebesspiels (durchwünschte minne,v^.. 10981; mit girdeclichem sinne, 10989); vierter Exkurs bezieht Aussagen des Prologs und der anderen fünf Exkurse auf briutegoum und brüt (i 1000); Fortsetzung der Beschreibung des Liebesspiels (Unsagbarkeitstopos 11026-11028;... er der kiiniginne entslöz / der höhgelopten minne schrin / und nam der kiuschen schappellin / schon frisch unverworden. / nach minneclichem orden / vant erz lüterlichen ganz, / mit bluomen frisch, an allen schräm, / na des Wunsches girde, 1103 8-1104 5;... da derfing[er] und der pars / trift mit gelicher schanze. / da hat der minne lanze / so minneclich geheftet, 11052-11055); 276 fünfter und längster Exkurs über die Macht und die Herrlichkeit der Minne (so was diu minne frühtic heiz, mio; triuwe maze mute zuht, l schäm kiusche bescheidenheit, / demuot gedult stHohe MinneDer Minne Freigedank< (alem., um 1300): triwe (V. 88), zuht (V. 119), stätichait (V. 155), gedulde (V. 191), hübeschaii (V. 235), rehte milt (V. 27$), verswigenhait (V. 309), halthait (V. 351), mass und heschaidenhait (V. 405). 278 Der Aspekt der Fruchtbarkeit wird durch Begriffe wie stam, frühtic oder, ähnlich wie in den Vv.4912-4914, durch den Vergleich der minne mit dem ei aufgerufen (Vv. io8iof.). 279 Leitzmann (1923), S. 147.

95

Der Erzähler beginnt die Darstellung des Liebesspiels mit einem klassischen Unsagbarkeitstopos und dem Verweis auf Ovid, der dies nicht besser hätte beschreiben können (10767-10775; vgl. 11026-1 loiS).280 Dies ist der Ausgangspunkt für ein Lobpreis des Heiligen Sakraments der Ehe, das, beginnend bei Adam und Eva im Paradies und endend mit der ersten Wundertat Christi auf der Hochzeit von Kanaan (nach Joh 2,1-12), in den heilsgeschichtlichen Kontext eingebettet wird. Durch diese Zuordnung wird der paradigmatische Charakter (auch) dieser speziellen Verbindung zwischen Reinfried und Irkane betont. Jetzt, da ihre Liebesbeziehung in eine theologisch und juristisch sanktionierte Ehe überführt worden ist, verhalten sich die Protagonisten vorbildlich gegenüber Gott und der Gesellschaft (gen gote dort, der weite hie, 10903; gen gote aid gen der weite, 11119). Dies ist zugleich die Essenz des dritten Exkurses zum Lob der Ehefrau (wip), dessen Inhalt im anschließenden vierten, im geblümten Stil verfaßten Exkurs (10992-11025) konkret auf Reinfried und Irkane >übertragen< wird. Die gesamte Darstellung der Hochzeitsnacht dient somit, ausgehend vom Liebesspiel des Brautpaares, der Herstellung größerer, vor allem heilsgeschichtlicher Zusammenhänge.28' Reinfried wird zum Sieger des fortgesetzten Turniers erklärt und erhält, obwohl er der Gastgeber ist, gemeinsam mit dem Herzog von Brabant der äventiure kröne (11442, ii454). 282 Seine »königsgleiche Stellung scheint damit allgemein akzeptiert« zu sein,283 Fontanagris ist sogar bereit, ihm die Herrschaftsnachfolge im dänischen Königreich zu überlassen (1182411831). Dies jedoch lehnt Reinfried mit dem Verweis auf siner lande überkraft (11829) ab; er will nach Braunschweig zurückkehren. Bevor der Handlungsbogen zu Ende geführt wird, erteilt Fontanagris Irkane eine Ehelehre (11555-11831) zur Vorbereitung auf ihren neuen Lebensab280

Sodann hält er - als übergeordnete Erzählinstanz - noch einmal fest, was beide Protagonisten sich gegenseitig und anderen bereits mehrfach versichert haben: sie liczcn sich zersniden, / zerhouwen und zerrizcn / e si sich walten slizen / ihtan des ändern sinne (Vv. 10800— 10803; vgl· dazu auch die Vv.6562-6571, 7666-7671, 8358-8361, 9734-9737); vgl. auch V.6058 in Konrads >EngelhardReinf ried< erhobenen Forderungen an ein gottgefälliges und gesellschaftsdienliches Leben zu erfüllen, 2 ** 5 und sie verspricht ihrem Vater, seinen Rat zu befolgen, wenn ihr Gott nicht das Leben nimmt oder sie ihres Verstandes (sinne, 11791) beraubt. Bevor er seine Tochter in Reinfrieds Obhut übergibt, appelliert Fontanagris auch noch einmal an das frw^e-Versprechen (11998) seines Schwiegersohns: mm sun, gedenke daz ir sint ein sin zwo sele und ein lip, du ir man und si din wip

sunder zwivels wenken. du soll dar an gedenken, min kint, min sun, des bit ich dich, wie si dur dich ellendet sich so verre in frömden riehen. lä dir die minneclichen üf dine triwe bevolhen sin. (Reinfried 12008-12017) Reinfried erneuert daraufhin sein Gelöbnis offiziell und öffentlich: st^te triwe gescheiden mac niemer an uns beiden und an iuch, herre, werden, die wil uns üf der erden hie got gan ze lebende. (Reinfried 12027-12031) Die Handlung wird auf diese Weise einem Schluß zugeführt, wie er aus vielen Versromanen des Mittelalters bekannt ist. Zugleich werden auffallend viele sinnkonstituierende Elemente des bisher Erzählten, zumeist in 284

Aus diesem Grund wird auch die reichliche Aussteuer Irkanes genauestens beschrieben (Vv. 11870-11929). i8 ' Wie stets, wenn der Text an die Aussagen des Prologs anknüpft, wird auch hier intensiv von Sentenzen Gebrauch gemacht (vgl. 7..B. die Vv. 11732-11753 u.ö.).

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immer zahlreicher eingeschobenen Erzählerexkursen, noch einmal aufgegriffen und zusammengefaßt. So betont der Erzähler beispielsweise, daß es den in Braunschweig Zurückgebliebenen nicht möglich sei, die wärheit über die Ereignisse in Dänemark zu durgründen (i2io8f.), und unterstreicht damit wie schon im Prolog seine Autorität als Erzähler der Geschichte. Er setzt sich in dieser Eigenschaft - dies ist als Fiktionalitätssignal aufzufassen - von den Figuren ab. Auch die Minne-Thematik wird noch einmal in den Vordergrund gerückt, jedoch nicht mehr am Beispiel von Reinfried und Irkane, sondern mit Blick auf die Braunschweiger Hofdamen, welche die Rückkehr ihrer Minneritter erwarten und sich zu diesem Zweck - im Gegensatz, so der Erzähler, zu manchen Frauen seiner >Gegenwart< - sunder kunters (>ohne FalschMedicamina faciei feminae«; das Schminken (der Frauen) ist darüber hinaus ein in der moraldidaktischen Literatur des 13. Jahrhunderts weit verbreitetes Exempel für Falschheit und Unbeständigkeit, vgl. etwa Freidank, Vv. 125,15^: Swaz (Swa wip) mit varwe ist überzogen, / da wirt ein kint (man) lihte an betrogen; Boners >EdelsteinErec< erscheint an strukturell vergleichbarer Stelle wie die verligen-Szene dort (nach der Hochzeit, am Ende eines ersten Höhepunkts) und signalisiert, daß Reinfried den Fehler Erecs zu vermeiden weiß: Der >Reinfried< ist kein Artusroman. 289 Jedoch steht die Be288

1

Die Vv. 125 i8f. (ouch -wart der herre tugenthaft / mit lastermäsen nie bezigen) beziehen sich auf die Zeitspanne, die vergeht, bis Reinfried in den Orient aufbricht (vgl. V. 12969: lange liht ufzehen jar), und sind, ähnlich wie die rückblickendc Pancgyrik des Prologs, nicht so xu verstehen, daß Reinfried sich zeitlebens makellos verhalten hätte. 9 Als Vorankündigung der •per/jgen-Themauk ist auch der Hinweis zu verstehen, daß Reinfried und Irkane nach der Hochzeitsnacht gern (wie Erec und Enite) im Bett geblieben wären (Vv. 11180-11187).

99

merkung des Erzählers keineswegs isoliert, wie Koelliker meint,290 und sie weist auch nicht auf einen Gegensatz von idealisierter Wertewelt (Artusroman) und Wirklichkeit (>Reinfrieder/zgew-Problematik zu Beginn der zweiten Romanhälfte. Als Reinfried zum Kreuzzug aufbricht, begründet er dies gegenüber Verbündeten und Untergebenen mit dem Hinweis: Min sin ist frech, min lip verlit / und ist verlegen lange zit (i4O/3f.). Dies ist keine »Scheinbegründung« 292 und steht auch nicht im Widerspruch zu anderen Aussagen des Erzählers;293 im Unterschied zur ersten Anspielung auf Erecs verligen handelt es sich um Figurenrede, d.h. um eine Selbsteinschätzung des Protagonisten, und darüber hinaus ist inzwischen deutlich geworden, daß Reinfried keinen Nachfolger haben wird, ohne zuvor das Heilige Grab befreit zu haben. Reinfried verligt sich nicht wie Erec, sondern auf seine Weise: Er hat einen göttlichen Auftrag zu erfüllen, um die Herrschaftsnachfolge, die im >Erec< keine Rolle spielt, zu sichern. Darin, dies deutlich zu machen, liegt die Funktion der beiden um die Werkmitte zentrierten Anspielungen auf den ersten deutschsprachigen Artusroman. Die Handlung der ersten Romanhälfte ist damit abgeschlossen; der Teil endet mit einem für mittelalterliche Versromane typischen Ausblick auf das weitere Leben der Protagonisten und deren ewiges Seelenheil: da von wart in ze lone hie der weite pris gegeben, und dort vor got daz ewic leben daz frö frisch iemer me gestat, so erde und himelrtch zergät. (Reinfried 12654-12658)

An dieser Stelle der Lektüre sind keine Fragen, keine Handlungsstränge offengeblieben. Die erste Romanhälfte bildet somit eine abgeschlossene Sinneinheit und könnte als selbständiger Minne- und Herrschaftsroman 290

Vgl. Koelliker (1975), S. 8 3 f. Ebd., S. 88; ähnlich zuvor Dittrich-Orlovius (1971), S. i8 9 f. 2;)2 So Neudeck (1989!}), S. 102. Die verligen -Thematik im >Reinfried< ist nicht mit dem >Iwem< in Verbindung zu bringen, wie Neudeck annimmt (1989^ S. lozf.): Iwein entgeht zwar auch der Problematik des verligens (>Iwein1

100

aufgefaßt werden. Das vormalige Liebespaar hat das im Prolog in Aussicht gestellte summum bonum offensichtlich bereits erreicht und ist auf vorbildliche Weise in die Gesellschaft integriert, die »ihre Bedeutung als polare Gegenmacht eingebüßt« hat; »aber auch die Minne ist aller außergewöhnlichen Leidenschaftlichkeit entkleidet, und beides geht nunmehr konform.« 294 Zentrales Thema der Erzählung ist bis zu dieser Stelle die Vereinigung von Liebestheorie (>Hohe MinneHohen Minne< wird in epische Handlung umgesetzt; das in der Lyrik enthaltene, gesellschaftliche Konfliktpotential dieses Konzepts löst sich dadurch auf, daß aus der heimlichen Minnebeziehung eine öffentlich sanktionierte Feudalehe wird. 295 >Hohe Minne< erweist sich auf diese Weise als ordostabilisierender, machterhaltender Faktor innerhalb der höfischen Romanwelt. Das Prinzip des Frauendienstes nach den Regeln der >Hohen Minne< und sein episch realisiertes Endprodukt, die gesellschaftliche Integration durch die Eheschließung, garantieren und reglementieren das Fortbestehen der von Gott gewollten Ordnung. Ansehen in der Gesellschaft ist Gradmesser für den einzelnen und Voraussetzung für Gottes Gnade. Andere Versromane des Mittelalters, in denen es um die Stabilisierung von landesfürstlicher Gewalt durch die Gewinnung einer Frau geht, enden an diesem Punkt. Im >Reinfried< hingegen zeichnen sich am Ende der Handlung der ersten Hälfte Hinweise auf eine »Krise der Herrschaft« ab.296 Sie manifestiert sich zu Beginn der zweiten Romanhälfte im Ausbleiben eines männlichen Nachkommen, der die erworbene Herrschaft auch in der nächsten Generation sicherstellt, und initiiert damit den Neubeginn der Handlung (Reinfried selbst stellt das Ausbleiben von Nachwuchs als [sjeine Form des verligens dar). Schon an dieser Stelle der Textanalyse läßt sich darüber hinaus als eine der zentralen Textstrategien, die maßgeblich zur Sinnkonstituierung im >Reinfried< beitragen, die Herstellung von Oppositionen und Homologien auf mikrostruktureller Ebene sowie innerhalb der Aktantenstruktur benennen. Entscheidendes Element der Rezeptionslenkung ist jedoch von Beginn an die Erzählerfigur, deren Funktionen im nächsten Kapitel differenzierter beschrieben werden.

294

Dittrich-Orlovius (1971), 8.47. Ähnliches läßt sich für den >Wilhclm von Orlcns< formulieren; Wenzel spricht in bezug auf Rudolfs Text von einem »Interaktionsmodell der in den gesellschaftlichen Normenhorizont zurückübersetzten Minnebeziehung« (2000, S. 184). 196 Neudeck (i98 9 b), S. 104; Ridder (19980), S.63f. 295

3-

Die rezeptionslenkende Funktion der Erzählinstanz

3.1. Der Epilog zur ersten Romanhälfte Spätantiken Poetiken gemäß sind der Beginn des Erzählschlusses und der Beginn des Epilogs der ersten Romanhälfte kaum verbindlich festzulegen: Oieperoratio macht den Schlußteil der Rede oder eines Redeteils aus und hat einen doppelten Zweck: sie soll zum einen die Tatsachen und Gesichtspunkte der Rede zusammenfassen, um sie dem Gedächtnis des Hörers einzuprägen, und sie soll zum anderen den Gedankengang der Rede in Greifenden Sentenzen zuspitzenErec< zu verligen, zunächst mit einem Exkurs über gesellschaftliche Mißstände, der sich in aller Schärfe gegen soziales Aufsteigertum wendet. Dieser Aussage an exponierter Stelle des Epilogs zur ersten Romanhälfte, der entweder mit V. 12500, mit V. 12520, dem Beginn eines längeren Exkurses, oder mit V. 12587, nach Ende dieses Exkurses, einsetzt, kommt besondere Bedeutung für den Sinn des Textes zu. Die Erzählung vom vorbildlich ritterlichen Landesherrn, dessen Minnebeziehung nach Überwindung verschiedener Widerstände in eine gesellschaftlich sanktionierte Ehe mündet, stilisiert ein literarisches Idealbild adliger Lebensführung. Reinfried und Irkane erscheinen am Ende der ersten Romanhälfte als perfekte Landesherrscher, die - wiederum im Unterschied zu den zum Teil rechtlosen Zuständen der Erzählergegenwart - die Sicherung von Frieden und Recht garantieren (vgl. 12 5 87-12641). In Kontrast dazu expliziert der Erzähler in kürzeren Bemerkungen und längeren Exkursen immer häufiger die in Auflösung begriffenen ethisch-moralischen und ritterlichen Grundsätze seiner Gegenwart (aufgerufen jeweils durch Formulierungen wie als man nu siht bzw. diz tet er/sin niht) und etabliert auf diese Weise einen zeitlichen Abstand zwischen der idealisier297

Ueding/Steinbrink ('1994), 8.274; vgl. Lausberg ( 2 i973), §431IO2

ten Reinfried-Handlung und der Rezeptionssituation. So werden im Binnenepilog dem sich nicht verligenden Reinfried in einem Exkurs ruowe suchende Ritter gegenübergestellt, die man nu ... siht (12520-12537). Als Ursache für die gesellschaftlichen Mißstände, für das Fehlverhalten einiger ritter und herren der >GegenwartTristan< definiert wird (Vv.45-242; vgl. die Dichotomic übel und guot in V.30 des >Tristan< u.ö.); grundlegend dazu Speckenbach (1965); zur >TristanWilhelm von Österreich vgl. Ridder (i998b), S. 88-94. 312 So Koelliker (1975), $.72; Neudcck (1989^, 8.67-72; Ridder (19980), S. 1731. u. 253-255. 313 Man kann daher auch nicht davon sprechen, daß »der Autor eine ablehnende Publikumsreaktion« fingiere (so Ridder i998b, S. 310 u.ö.). 314 Das Substantiv -werden ist in der Hs. mit Korrekturstrichen versehen (fol. 78"); am linken

108

Das angesprochene fiktive Publikum besteht demgegenüber aus frumen Menschen (12707,12709, i274ou.ö.), 3 ' 5 von denen sich der Erzähler Dank für seine Mühe verspricht und denen er, nach einem topischen Rekurs auf seine mangelhaften Fähigkeiten und bescheidenen Besitztümer (1274412760), seine Dienste anbietet: ich dien min selbes muot hie an, / sit ich des guotes lützel hän (12761^). Er will denjenigen diz mWilhelm von OrlensWilhelm von Orlens< (Vv. 5595-5658). 317 Vor allem die von Ridder konstatierte Suspendicrung »von der hemmenden Orientierung auf die klassischen Vorbilder« und die »bedingungslose Verpflichtung auf die Didaxe« (i998b, 5.328) vermag ich dem Wortlaut des Binnenprologs nicht zu entnehmen. 318 Ridder (i 99 8b), S.202. 109

nössischen Publikum«: Die fehlende Krise des Helden werde somit »transformiert zur Fiktion einer Krise des Erzählens.«3'9 Zu dieser Einschätzung gelangt Ridder durch die Annahme, daß in der Figur des Erzählers die Rolle des Autors abgebildet sei und beide Rollen daher partiell als >Autor/Erzähler< zusammenfallen können. Für mittelalterliche Literatur sei, so Ridder, zwischen Autor und Erzähler nicht zu differenzieren, da »einerseits ein modernes Konzept von Autorschaft noch nicht zur Verfügung« stehe und andererseits die realen Autoren in Pro- und Epilogen in vielfältiger Weise versuchten, »die >Individualität< der das Werk verantwortenden Person in Szene zu setzen.«320 Wenn Ridder im Anschluß an Warning und Draesner die in den höfischen Versromanen konstituierten Erzählerfiguren als »poetische Inszenierungen von Autor-Subjekten« und als »Selbstbilder« historischer Personen begreift, 321 setzt er dafür implizit sowohl eine moderne Auffassung dessen, was ein >Erzähler< ist, als auch ein modernes Konzept von Autorschaft voraus, wie es erst in der Neuzeit und auf der Basis ausschließlich schriftliterarischer Texte entwickelt worden ist.322 Demgegenüber soll hier gezeigt werden, daß sich der Beitrag der Erzählerfigur zur Sinnkonstituierung des Textes vor allem (und vielleicht sogar ausschließlich) dann erfassen läßt, wenn man die Aussagen des Erzählers nicht der textexternen Instanz des Autors oder der sich im Rezeptionsprozeß herausbildenden Vorstellung von einer Autorpersönlichkeit zuschreibt, sondern dann, wenn man sie als Aussagen einer textinternen Instanz begreift, die zwischen der Handlungsebene und dem Rezipienten 319

Ridder (1998!)), 8.263, Anm. 57, u. S. 264; vgl. auch Ridder (19983), 8.246. Ridder (i^Sb), S. 261, Anm. 55; Ridder (19983), 8.248, Anm. 33. 311 Ridder (19980), S. 192; vgl. Warning (19793), S. $73-578; Warning (1983), S. 1941.; Draesner (1993), 8.458: »Der Autor projiziert sich selbst in eine Erzählerrolle« (vgl. auch ebd., 8.456-462). Auch Ohlenroth verzichtet auf eine »strikte terminologische Abgrenzung« zwischen Erzählerrolle und Autor und schließt - zum Nachteil seiner Studie - »von textimmanenten Merkmalen direkt auf Darbietungsbedingungen und soziale Situation des Erzählens« (1991, 8.93, Anm. 23; ebenso Radojewski 1998, 8.74-79). Zuletzt spricht auch Ziegeler davon, daß es hier um eine »Reflexion des Autors über das Erzählen« eines krisenlosen Romans gehe (2000, 8.74). 312 Auch die Überhefcrungsgegebenheiten der höfischen Literatur stellen das Konzept einer Verantwortung des Autors für sein Werk, dessen Autorität sowie die Übertragbarkeit eines damit verbundenen, neuzeitlichen Autor- und Werkbegriffs grundlegend in Frage; Worstbrock beschreibt statt dessen zuletzt eine >Poetik des Wiedererzählens< (19990), vgl. auch Reuvekamp-Felber (2001); Coxon (2001); Müller (1999); Bein (1999); Schnell (1998); Bumke (19973), S. 106: »Die >impliziten< Autoren der Prologe und Epiloge geben sich nicht als Verfasser der von ihnen erzählten Geschichten aus und nehmen keine Autorität für ihre Werke in Anspruch. Die Wshrheit des Erzählten wurde vielmehr sus den Vorlagen begründet.« Bumke führt als Beispiel dafür u.a. die Vv. 561. des >Reinfried< an: ich sag iuch als mir wart geseit / sunder laugen äne trüge. 320

HO

vermittelt.323 Voraussetzung für eine strikte Trennung zwischen Autor und Erzähler ist die Annahme eines beim Rezipienten etablierten Bewußtseins von der Fiktionalität des Vorgetragenen. Während in den Anfängen der höfischen Literatur, wie Müller für die Lyrik zeigt, der Geltungsanspruch referentialisierend-pragmatischer Rede der Lebenspraxis und fiktionaler Rede als literarischer Kunstübung vielleicht »noch nicht in der Weise, wie wir es kennen, gegeneinander ausdifferenziert« gewesen sein mag und »das Umspielen der Grenze zwischen >Realität< und >FiktionReinfried< nutzbar zu machen, ist zunächst grundsätzlich auf die Pragmatik literarischer Kommunikation im Mittelalter einzugehen. Eines der Spezifika mittelalterlicher Literatur besteht in ihrer Genese aus und ihrer Nähe zu der Oralität des Erzählens früherer Jahrhunderte. Diesem Ursprung ist ihre doppelte Existenzform als Vortragskunst und Leseliteratur verpflichtet. 326 Ausgehend von der Möglichkeit, daß höfische Literatur jederzeit Gegenstand mündlichen Vertrags werden konnte und bis in den Anfang des 14. Jahrhunderts überwiegend wohl auch war, gerät mit dem Vortragenden eine am mittelalterlichen Literaturbetrieb beteiligte Instanz in den Blick, die in zum Lesen bestimmten Texten, die modernen Vorstellungen von >Autor< und >Werk< zugrundeliegen, nicht mehr von Bedeutung ist. Seit Hugo Kuhns Untersuchung über die Aufführungssituation des Minnesangs und seit den vielen Arbeiten, die sich ihr anschlössen, hat sich als Konsens herausgebildet, daß die überlieferten Texte die Praxis höfischen Minnesangs nicht nur, was die musikalische Seite betrifft, allenfalls bruchstückhaft repräsentieren, sondern daß auch die >Situation< ihres Vortrags in höfischer Geselligkeit rckonstruktionsbedürftig ist.327 323

Vgl. dazu auch Simon (1990), S. 205-217, sowie die Artikel >Erzähler< und >Erzählerkommentar< von Zeller (19973/13). 324 Müller (1994), S. 3 u. Anm. 6. 325 Müller (1994), S. 14; vgl. auch Green (1998). 326 Vgl. 7..B. Scholz (1980); Curschmann (1984); Zumthor (1994); Bumke (1996), $.631.; Schaefer (1996). Aus dieser Genese heraus erklärt sich der intensive Rückgriff mittelalterlicher Poetiken und Romanautoren auf die spätantike Rhetorik der Gerichtsrede, wie er auch für den >Reinfned< zu konstatieren ist. 327 Müller (1996), 8.43: vgl. Kühn (1969).

III

Während sich um die Aufführungssituation im Minnesang eine breite Forschungsdiskussion entwickelt hat,328 findet die Konzeption auch der Versromane für den mündlichen Vortrag bei der Interpretation der Texte bisher kaum Beachtung, obwohl sich viele der kommunikations- und literaturtheoretischen Erkenntnisse zur Aufführung lyrischer Werke gewinnbringend auf die höfische Epik übertragen lassen. Kommunikationstheoretisch wären der Sänger (für den Bereich der Lyrik) und der Sprecher (für den Bereich der Epik - sofern nicht auch sie singend und mit musikalischer Begleitung vorgetragen wurde) als den Text übermittelnde Medien einzuordnen. In der historisch-konkreten Aufführungssituation mittelalterlicher Literatur ist der Vortragende jedoch mehr als nur Medium.329 Er gibt den Schriftzeichen seiner Rezitationsvorlage eine Lautgestalt, artikuliert Wörter und Sätze, realisiert den Rhythmus der Verse, den Gleichklang der Reime, interpretiert und kommentiert das Vorgetragene durch Körperhaltung, Gestik, Mimik und Stimmlage. Das Hervortreten des Sprechers aus der Menge durch Aufstehen, das Ergreifen eines Instruments, den Einsatz von Musik, durch Bitte um Ruhe und andere Gebärden und Formeln, mit denen er sich Aufmerksamkeit verschafft, 330 sichern dem Vorgetragenen in Kombination mit der nicht alltagssprachlichen Verwendung poetischer Rede (Metrik, Reime) den Status der Fiktionalität.33' Der vortragende Sprecher fungiert in der Perf ormanzsituation als entscheidende Vermittlungsinstanz zwischen dem Text und dem Rezipienten.332 Seine Rolle liegt somit quer zu den Komponenten Sender, Nachricht und Empfänger eines einfach strukturierten Kommunikationsmodells. 333 Im Bereich des höfischen Romans, der »als erste rein schriftliche Gattung der volkssprachlichen Literatur des deutschen Mittelalters« gelten 328

Vgl. die Beiträge von Warning (19790); Grubmüllcr (1986); Händl (1987); Strohschneider (1993 u. 1996); Müller (1994, 1996 u. 1999); Bein (19963); Tervooren (1996). 329 Schubert be/.eichnet die Sprecher als »Publix.isten des Mittelalters« (1995, 8.203). 330 Daxu die Übersicht bei Scholx. (1980), S. 84-98. 331 Warning spricht in vergleichbarem Zusammenhang von »theatralische[r] Kommunikation als Paradigma für die Situationskonstitution fikionaler Rede« (i979C, S. 122); vgl. auch Strohschneider (1996). 332 Zum Berufsstand der mittelalterlichen Sprecher/Sänger liegen nur wenige Untersuchungen vor (x.B. Mundschau 1972; Fischer ^983, S. 205-274; Heinzlc 1978, 5.67-96); einen Überblick über die Gruppe der Fahrenden, xu der die meisten der Vortragenden wohl 7,u rechnen sind, gibt Schubert (1995), S. 145-275 (dort auch die ältere Literatur). 333 Vgl. das »Modell der Kommunikationssituation im klassischen deutschen Minnesang« bei Händl (1987), S. 19, in dem xwar die Instanx. des textextcrnen Sprechers (realen Sängers), nicht aber die des Autors untergebracht ist, wie Müller (1994, S. 5) xurecht kritisiert. Zur »unbemerkten Selbstentleerung oder eher noch Selbstxerstörung« komplexerer Modelle literarischer Kommunikation, in denen sich die Komponente >Nachncht< ins Unendliche verliert, vgl. Weimar (1994), $.496-499.

112

darf, 334 wird der vom Autor selbst oder mit Hilfe von Schreibern schriftlich niedergelegte Text vom Sprecher im Vortrag re-produziert. Dies bedingt und erklärt zugleich die eigentümliche Mischung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit, die das Erscheinungsbild der höfischen Literatur entscheidend prägt. 335 Das Werk existiert nicht nur in der Schriftlichkeit des Buches, sondern auch - zunächst sogar überwiegend - im mündlichen Vortrag, wo es den Rezipienten akustisch und optisch durch die Aufführung des Vortragenden erreicht. 336 Für ihn ist der Text als Gedächtnisstütze keineswegs verbindlich fixiert (man denke nur an die notwendige Auflösung von Abkürzungszeichen im handschriftlichen Text), er kann, darf (und muß?) ihn durch individuelles Hinzufügen oder Weglassen an die jeweilige Vortragssituation und sein spezifisches Publikum anpassen. Angesichts der Entstehungsbedingungen und der Verbreitungsformen der höfischen Epen kann es kaum verwundern, daß es in vielen Fällen frühe Mehrfachfassungen gibt. Auf Grund der vorwaltenden Mündlichkeit des höfischen Literaturbetriebs ist für die Frühphase der Überlieferung mit Teilveröffentlichungen, Mehrfachredaktioncn und wechselnden Vertrags- und Aufzeichnungssituationen zu rechnen. Daraus wird erklärlich, daß die Übcrlieferungslage für die meisten Epen keine sicheren Rückschlüsse auf die ursprüngliche Tcxtgestalt gestattet. 337

Da Formen und Umstände der mittelalterlichen Aufführungspraxis unbekannt bleiben, »verlagert sich das philologische Interesse« zwangsläufig »auf die handschriftlichen Texte«, bei deren Interpretation dann neben Autor und Sprecher noch »ein dritter Faktor für die Werkbestimmung« wichtig wird: »die redaktionelle Tätigkeit der Schreiber und Redaktoren, durch die der Text erst die Gestalt gewann, in der er überliefert ist.« 338 Der vom Autor und/oder von Schreibern schriftlich fixierte und überlieferte Text ist jedoch nicht kongruent mit dem, was im Mittelalter als >Werk< gilt. Der mittelalterliche Werkbegriff umfaßt neben dem vom Autor angefertigten Text auch die verschiedenen Aggregatzustände 339 eines Werkes sowohl in der schriftlichen Überlieferung als auch in der Aufführung. 340 Ein 334

Butzer (1995), S. 159. Vgl. dazu den Überblick von Grccn (1994); Schaefer (1996), S. 66f. 336 »Sicherlich wurde beim Vortrag die Sinnvermittlung durch Stimmführung und Gestik unterstützt; leider gibt es darüber jedoch keine direkten Zeugnisse, so daß man ganz auf Vermutungen angewiesen bleibt« (Bumke 1996, 8.64); vgl. auch Wenzel (1995); Strohschneider (1996); Tervooren (1996); Achnitz (20003). 337 Bumke (1996), S. 67. 33)1 Bumke (199/a), S. 112. 33;) Zu diesem Begriff Henkel (1992), S. i. 340 Zumthor unterscheidet terminologisch zwischen dem ceuvre, der Gesamtheit aller zur performance gehörenden I-'aktorcn (Worte und Sätze, Klänge, Rhythmen, visuelle Ele335

historisierender Werkbegriff hat daher die charakteristische Existenzweise mittelalterlicher Literatur im Spannungsfeld von Schriftlichkeit und sekundärer Mündlichkeit zu erfassen. Mit Blick auf die vorherrschende Rezeption höfischer Romane im Vortrag sind die Handschriften nur Speichermedien für einen Text, der erst durch Sprechen zum Werk wird: Es gilt das gesprochene Wort. Den handschriftlich überlieferten Text, der natürlich zunehmend auch still gelesen wird,341 konstituieren wiederum Merkmale, die im Vortrag nicht aufscheinen (Akrosticha, Anagramme, Illustrationen) und zum Teil sogar insofern über die Entstehungssituation des Werkes hinausreichen, als sie nicht mehr dem Autor zuzuschreiben sind (Layout, Schrift, Illustrationen, Gebrauchsspuren, Mitüberlieferung u.a.). Ein historisierender Werkbegriff, der dem mittelalterlichen Literaturtrieb gerecht wird, hat daher diese drei Faktoren zu berücksichtigen: die Instanz des Autors, die mit der Aufführungssituation verbundene mündliche Existenzform sowie die variierende schriftliche Überlieferung des Werkes. Insbesondere die Rolle des Sprechers muß, getrennt von der des Autors, angemessen in ein (naturgemäß stark vereinfachendes) Modell literarischer Kommunikationsprozesse im 13. Jahrhundert integriert sein: Sprecher

^ Leser

Autor

(Schreiber)

(Schreiber)

Hörer mente) und dem Text, der sprachlichen Sequenz, also Worten und Sätzen; erst die Stimme in der performance macht den Text zum Oeuvre (1994, 8.36-38). 34 ' »Up to 1300 reading as an independent mode of reception was extremely slow to establish itself« (Green 1994, 8.232); vgl. auch Scholz (1980), 8.23 if.; Curschmann (1984). 114

Wichtiger als die kulturhistorischen, textexternen Dimensionen eines solchen Modells sind im Rahmen dieser Arbeit dessen Implikationen für die Sinnkonstituierung innerhalb der Romane. Das Erzählen einer Geschichte verlangt nach einem Erzähler,342 der für beide Rezeptionsformen, für das Hören wie für das Lesen, von zentraler Bedeutung ist. Diese Rolle des textinternen Erzählers können in neuzeitlicher Literatur auch ein Tier oder ein Gegenstand ausfüllen. 343 Speziell in den höfischen und späthöfischen Versromanen erscheint, und dies ist ein weiteres ihrer Spezifika, eine fiktive menschliche Figur, die vor Zuhörern eine Geschichte zum besten gibt. Das aber heißt nichts anderes, als daß die Ausgestaltung der Rolle sich orientiert an der Situation des öffentlichen Vertrags, wie sie einem höfischen Publikum geläufig ist.344 Dies kann so weit gehen, daß der romaneske Erzähler explizit Merkmale des epischen Jongleurs annimmt. [...] Über die Rolle des Erzählers nimmt der höfische Roman Mündlichkeit als eine fingierte in seine eigene Schriftlichkeit hinein, 34 ' und er setzt damit den Auftakt einer gattungsgeschichtlichen Entwicklung, die bis in unser Jahrhundert hineinreicht. Den >ErzählerWillehalm< (vgl. Kiening 1991, S. 156, Anm. 11) oder zu Boners >Edclstein< (vgl. die Faksimile-Ausgabe von Fouquet 1972), in denen der Erzähler (nicht etwa der Autor) in bzw. neben jedem Bild erscheint. 343 Der Erzähler in mittelalterlichen Texten kann »als Frau, als Forstmeister, als Ritter sprechen, ohne daß er deshalb eine Frau, ein Forstmeister oder ein Ritter hätte sein müssen«; er kann aber nicht »auch als Fisch oder Kellerassel sprechen«, weil die historische Situation den Autoren diese Vorstcllungsmöglichkeiten nicht erlaubt; als Käfer zu sprechen, »ist erst modern (Kafka) möglich« (Bertau 1983, 8.44). Interessant ist in dieser Hinsicht der Vergleich von Wolframs Erzähler mit den drei Eiern, die Adolf Muschgs Parzival-Roman >Der Rote Ritten erzählen, bei Obermaicr (1997), $.480-488. 344 »Die bewußte und in manchen Fällen überaus souveräne Inszenierung einer (mündlichen) Sprecherinstanz im schriftlichen Erzähltext sollte« daher »den Blick schärfen für die prinzipielle Differenz zwischen Autor und Erzähler, die für die neuere Erzählliteratur als selbstverständlich angenommen wird« (Butzer 1995, S. i6^f.). 345 »Der so erzeugte mündliche Charakter des höfischen Romans darf aber nicht mit der Formelhaftigkeit oralen Erzählens verwechselt werden. Die Merkmale der Mündlichkeit bilden hier einen sekundären Effekt eines schriftlich verfaßten Textes«, der dem Autor die Möglichkeit bietet, »ein selbständiges Sprechsubjekt in den Text zu integrieren und dadurch die Ebene des >discours< von derjenigen der >histoire< zu trennen. Der Sprecher wird dann zu einem fiktiven Erzähler, dem ein eigenständiger Textbereich zugeordnet wird« (Butzer 1995, S. 159 u. 162; vgl. Scholz 1980, S. 89-98; Warning 1983, S. 194; Curschmann 1984; Schaefer 1996). 341 Warning (19793), S. 577. Weimars Überlegungen zu Funktion und Ort des Erzählers gehen noch einen Schrittweiter: »der Erzähler ist das Lesen» (1994,8.504). Sein rczipientenorientierter Ansatz läßt sich aber nur bedingt auf die vor allem mündliche Rezeption mittelalterlicher Literatur übertragen, in der der Hörer den Erzähler eines Textes eben nicht

Während den am höfischen Literaturbetrieb Beteiligten moderne Vorstellungen vom Genius des >Autors< weitgehend fremd waren, sind ihnen die Eigenschaften und Funktionen der Sprecher als Verfasser von Texten (sämtlicher Gattungen), als Rezitatoren, Sänger und Musikanten (Spielleute), Schreiber, Schausteller, Turnierausrufer, Herolde, Boten, Übermittler von Nachrichten und Neuigkeiten usw. bestens vertraut gewesen.347 Der Erzähler im höfischen Versroman tritt, wie sein reales Vorbild in der konkreten Vortragssituation, in der Rolle eines solchen Sprechers sowohl zwischen den realen Autor und das reale Publikum einerseits als auch zwischen den realen Sprecher und das reale (hörende) Publikum andererseits. Er kann dabei mehr oder weniger konturlos in seiner Tätigkeit als allwissendes episches Ich aufgehen, das »in Vor- und Rückblick die Fäden der Handlung verknüpft, im direkten Kommentar Beziehungen verdeutlicht, im gelegentlichen Einwurf zwischen Materie und Publikum vermittelt.« 348 Diese Vermittlungsinstanz kann vom Autor aber auch, etwa durch die Ausstattung mit biographischen Elementen, 349 als literarische Figur konzipiert sein, die in der textintern entfalteten, fiktiven Vortragssituation die Kompetenz erhält, »sich an einen fiktiven Leser/Hörer zu wenden und damit ein Rollenspiel in Gang zu setzen, das den >discours< als eine eigenständige Kommunikationssituation etabliert, die sich der realen Kommunikationssituation des Textes weitgehend annähert, sich jedoch auch völlig von ihr unterscheiden kann.« 350 Schon die Aufführungssituation als solche ist, gestützt durch poetische Sprachverwendung, als Fiktionalitätssignal zu bewerten, welches die Idendurch seine eigene (innere) Stimme wahrnimmt, sondern tatsächlich durch einen Sprecher, der dem, was die Narratologie Erzähler nennt, seine Stimme verleiht. Der Erzähler, den Weimar in schriftorientierter moderner Literatur nicht mehr zu finden vermag (ebd., S. 502), ist ein Relikt dieses mündlichen Erzählens (vgl. auch Warning 1983, S. i94f.). 347 Ausgehend von der Märendichtung stellen Mundschau (1972) und Fischer (- 983), 8.25 5274, die Vielfalt ihrer Aufgaben und Funktionen dar; vgl. für die Dietrichepik auch Heinzle (1978), S. 82-96. Die Sprecher gehörten zur gerndcn diet, die der Erzähler im >Reinfried< häufig erwähnt. 348 Curschmann (1971), 8.629 ( a l' c Zitate ohne die Sperrungen des Originals). 1 34 ; YgJ Curschmann (1971), 8.629-648 (zum >ParzivalWalther< verbindet und die Worte des Autors Walther nachspricht. Damit verwirrt Walther die naive, sich vom Liedanfang her aufbauende Annahme, daß der klagende Sänger den Namen des Verfassers tragen könnte, und er stört die Identifikation von biographischem Autor-Ich, anwesendem Sänger-Ich und vcrtextcter Ich-Rolle. Ratgeber (die Rolle des Spruchdichters!) und Werbender sind nicht eins« (ebd., S. 17). 350 Butzer (1995), S. 162. Butzer geht jedoch wie Riddcr und Draesner vom partiellen Zusammenfall von Autor- und Erzählerrolle aus und spricht wie diese vom >Autor/Erzählerschützt< der Fiktionalitätskontrakt vor unzulässiger Identifizierung mit dem Ich der Erzählung. Dies gilt insbesondere, wenn die Figur des Erzählers mit Attributen ausgestattet wird, die weder dem Autor noch dem textexterncn Sprecher zukommen (neben dem Namen ist etwa an Alter, Geschlecht oder soziale Stellung zu denken). 351 Auch solche Charakterisierungen der vom Autor konstituierten, personalisierten Erzählinstanz sind entsprechend als Selbstanzeigen von Fiktionalität zu deuten. 352 Setzt man ein solchermaßen etabliertes Bewußtsein von der Fiktionalität des Gehörten auf Seiten der Rezipienten voraus, trägt gerade die Personalisierung der Erzählinstanz dazu bei, daß mit dem Erzähler weder der Autor des Textes353 noch der vortragende Sprecher in Verbindung gebracht werden können. 354 Aussagen des Erzählers aus dem Munde des Sprechers sind daher ebenso wie Aussagen der literarischen Figuren weder praktisch noch theoretisch dem Vortragenden oder dem Autor konkret zuzuschreiben. 355 Für die Rezipienten treten Autor, Sprecher und Erzählerfigur spätestens dann unübersehbar auseinander, wenn das mittelalterliche Werk durch eine andere Person als den Autor vorgetragen wird, was - bei dessen Abwesenheit oder nach dessen Tod - die Regel gewesen ist. Doch sind auch in dem Moment, in dem der Autor ausnahmsweise selbst die Rolle des Vortragenden übernimmt, textinterne und textexterne Instanzen voneinander zu trennen, da sich nur dann ein so wirkungsvolles Rollenspiel entfalten kann, 356 wie es Curschmann bereits 1971 für Wolframs >Parzival< beschrieben hat, dessen Erzählerfigur dem >ReinfriedParzival< als einen am Hungertuch nagenden, weder Schreiben noch Lesen beherrschenden Familienvater, der sich als törichter Beier ausgibt (121 ,/).357 Dies sind Signale, die »den Auftritt eines Außenseiters am Hof« ankündigen, »eines >jungen Mannes aus der 351

Vgl. Strohschneider (1996), S. . Vgl. Schaefer(i996), S. 60-66. 35) Vgl. auch Strohschneider (1996), S. 8f. 3S4 Zur Möglichkeit einer >naiven< Rezeption fiktionaler Texte, die nicht grundsätzlich auszuschließen ist, vgl. Müller (1996), 8.52, Anm.32. Der >naive< Rezipicnt gehört jedoch nicht zum elitären Zielpublikum des >ReinfricdReinfried< vgl. Ridder (1998!)), 8.334-341. 393 Dittrich-Orlovius (1971), S. 8 jf.; vgl. Peiffer (1971), S. :of. (zum >TristanÜber den Geiz< statt >Maßlose Freigebigkeit führt zu Armut< für die Vv. 423-430).394 Unterschieden wird zwischen psychologischen,395 moralisch-weltanschaulichen, zeitkritischen, wissenschaftlichen, literarischen und persönlichen Exkursen, wobei eine Differenzierung nach Sprechern unterbleibt (so werden wissenschaftliche Erklärungen auch von Romanfiguren in den Text eingebracht, während Dittrich-Orlovius den Binnenepilog als persönlichen Exkurs< dem empirischen Autor zuschreibt).396 Inhaltlich behandeln die Einschübe folgende Themenkreise: Minne bzw. itnminne, Ehe, Frauen, Hof, Gesellschaft, Moral, Heilsgeschichte, Naturkunde und Dichtung. Zumeist geht es um richtiges und falsches Verhalten auf diesen Gebieten. Die folgende Aufstellung zeigt, daß innerhalb der Erzählerexkurse vier Themenbereiche dominieren und daß deren Verteilung im Roman den Text strukturiert, denn die zeitkritischen Exkurse des Erzählers verteilen sich zwar vergleichsweise regelmäßig über den gesamten Text, doch sind auffallende Lücken innerhalb der jeweils etwa 9000 Verse zu verzeichnen, in denen sich die Mehrzahl der Minneexkurse in der ersten Romanhälfte (etwa 431-9797) bzw. der sachkundlichen Exkurse in der zweiten Romanhälfte (etwa 17804-26297) finden. Daneben läßt sich in unregelmäßiger Verteilung eine zahlenmäßig geringere Gruppe von zumeist kürzeren Exkursen ausmachen, die sich - häufig an eine Sentenz anknüpfend - allgemein weltanschaulich-moralischen Themen zuwenden.397 Nicht berücksichtigt sind m der Aufstellung kürzere Einschübe von ein bis zwei Versen,398 die ebenfalls oft sentenzhaft formuliert und von Exkursen nur auf394

Dittrich-Orlovius (1971), 8.81-158; vgl. auch Gräff (1946), 5.70-72. Gemeint sind damit überwiegend die minnetheoretischen Exkurse, in denen, wie bereits dargelegt, der Erzähler seine Vorstellungen von Minne expliziert, ohne daß deshalb von einer Psychologisierung gesprochen werden kann. 396 Vgl. Dittrich-Orlovius (1971), S. 122 u. 148. 397 So m den Vv. 5900-5911 (über das Glücksrad), 16276-16297 (Gegensätze), 16772-16809 (milte), 20058—20071 (Gleichheit), 22204-22227 (memento mori); 24106-24129 (vröude und trüren), 26594-26651 (angemessenes Geben und Nehmen). 398 Vgl. etwa: als under unlent noch geschiht / ze hoven (Vv. 2924$.); niht als man iez ze rate stat / mit schinpfelichem schalle (Vv. i4O}4f.); Des taten doch die fronten niht. / die argen man verzagen siht / noch, also heschach ouch da (Vv. 25465-25467) u.ö. 395

127

grund ihrer Kürze zu unterscheiden sind,3" Exkurse, die Figurenrede zuzuordnen sind,400 sowie die von Dittrich-Orlovius als literarische Exkurse< bezeichneten Fremdtextverweise, zu denen neben kurzen Erwähnungen und Vergleichen auch die Nacherzählungen umfangreicherer Stoffe gehören.401 Die knappen Inhaltsparaphrasen lassen erkennen, daß sich die zeitkritischen Exkurse des Erzählers trotz ihrer scheinbaren Disparatheit den zentralen Anliegen des Textes widmen: 98-1 oo 133-136 332-371

423-430

Adlige (kerreri) lassen sich von schlechten Ratgebern am Hof beraten. Rittertum hinterläßt Witwen und Waisen. Spruchdichter (gernde) loben jeden, der sie dafür bezahlt; die mit Schande Beladenen glauben, dadurch ihr Ansehen vergrößern zu können (des muoz ich schrigen wafen / über mangen äffen, / der dur eins giegen klaffen / wxnt sin laster siverdruht / und er doch hat ze schänden fluht, 352ff.); Ansehen läßt sich nicht auf diese Weise erkaufen (... swä man den der lobes fri/ ist, mit lobe bekleidet hat, / reht als der siuwe ein satel stat, / so gät er under lobes soun. / sin lop zergat alsam der troun / der blinden träumet umb ir sehen, 364ff.). Maßlose Freigebigkeit führt zu Armut.

Minneexkurse: 492-553, 1104-1134, 1964-1979, 2366-2474, 2956-2994, 30103107, 3862-3879, 4031-4084, 4826-4930 (Gespräch mit Frau Minne), 5536-5545, 5562-5571, 6310-6367 (Gespräch mit Frau Minne), 8687-8718 (Gespräch mit Frau Minne), 8752-8860 (Gespräch mit Frau Minne), 10788-10821, 10840-10900, 10916-10979, 10992-11025, 11060-11133, 11144-11165. 9798-9814 10402-10411 12212-12290

35)9

Adlige (herren) lassen schlechte Ratgeber (die tumben) an ihren Hof. Adlige (herren) verringern ihr Ansehen (ere) durch geizige Bewirtung. Nicht auf äußere Merkmale, sondern auf die innere Einstellung des einzelnen kommt es an (anläßlich des Schminkens): man sol vor allen dingen / got und die weite eren / und von den dingen keren / da mit man verlmret got / und vindet hie der weite spot (i2286ff.).

Vgl. auch: swen sin miltc machet am / und nebet da bifrömde diet, / daz mag ich milte heizen niet, /wan der miltc ist ze vil(Vv. 12596-12599). 400 So schildert etwa der Er/ählcr in indirekter Rede die Erlebnisse des Herrn aus Ejulat während dessen Weltreise (Vv. 21828-21965). 401 Vgl. die Auflistung bei Dittrich-Orlovius (1971), S. 139, Anm. 57. Neben biblischen Erzählungen betrifft dies vor allem Wolframs Werke, aber auch den >Rennewart< Ulrichs von Türhcim (Vv. 23362-23419) oder die >Achilleis< des Statius (Vv. 22561-22599). 128

12520-12586

12620-12625

Adlige (ritter hcrreri) verligen sich unehrenhaft nach ihrer Hochzeit und verlieren ihren hohen muot (12 5 3 3) - dies wird mit dem sozialen Aufsteigcrtum begründet, das zu unsin und unmaze führt (i2564ff.). Adlige (herren) verteidigen nicht Frieden und Recht, sondern führen unberechtigte Fehden.

Binnenepilog Binnenprolog 13828-13851

14470-14537

15190-15229

15472-15518

402 403

Adlige (herren) schädigen durch falsche Versprechen und Wortbruch bzw. Lügen ihr Ansehen; wer lügt, darf nicht einmal bestraft werden. Für die schlechten Ratgeber, die man iez an den Höfen findet, sind weniger die Ratgeber (ze dirre sache sprich ich nein, 14494), als die herren selbst verantwortlich; hie vor akzeptierte man nur hochangesehenc Adlige als Ratgeber (graven frigen ... und höhgeburte ritterschaft, 14502^), die ihr ritterlichez amt (14505) ernst nahmen, um nicht ihr eigenes Ansehen zu gefährden; nu fehlt dieser Kontrollmechanismus (huote, 14518), weil die herren, insbesondere die herren junge, den Rat dcrfromen herren (14525) ablehnen undan irrxte ziehent / den ere ist wilt und schände zam. l der sich seihe in houbetscham / verworren und versenket hat,401 / wie sol der geben eren rat? (1452611.) Diese Form sozialen Aufsteigertums verstößt gegen gottgewollte Prinzipien der Natur, die in Form einer Sentenz eingebracht werden: ez mac mht von nature sin. l in bcesen vazzen guoten win / hat man befunden selten (1453iff.); vgl. dazu S. 52, Anm. 128. Adlige Frauen (wip) gefährden ihr Ansehen durch erelosez minnen (15194) und versündigen sich gegen Gott durch schändliches und unzüchtiges Benehmen. Adlige (ritter herren) in tiuschen riehen empfinden es als nicht notwendig [nach dem Fall von Akkon, vgl. 17980], mit ritters kraft gegen die heidenschaft im Heiligen Land vorzugehen (i5486ff.), weshalb ihr Ansehen zunehmend zerfällt; statt sich in der Heimat nützlich zu machen, sieht man sie aus Feigheit in bilgennespfliht und in wallers wise zum Heiligen Grab wallfahrten: 403 eins edeln mannes mervart / in bilgennes wise / ich lasterliche prise / mit hinderredelicher pfliht (i55i4if.). Diese Invektive wagt der Erzähler nicht in Gegenwart der hier Angesprochenen vorzutragen (!): ich tar es vor in sprechen niht (15518).

In der Textausgabe von Bartsch steht hat statt hat (V. 14529). Zu den Vv. 15472-15483 findet sich in der Hs. die heute beschnittene Randbemerkung: ... von den Rittern des heyligen grabs (fol-97 r ). 129

16852-16923

17648-17715

17720-17759

17767-17803

19188-19216

19804-19819

22140-22151

Das Prinzip der Hohen Minne hat seine ordnungsstiftende Funktion eingebüßt: daz ist des schult, hi dirre zit / frowen fiirsten ritter kneht / [daz] pf äffen leigen tuont unreht / gen der zarten minne (i68/off.). Dem Kaiser und dem Papst sowie Kardinalen, Patriarchen, Bischöfen, Pfaffen und Laien sind Reichtum und Macht wichtiger als Ansehen und Wohlergehen der Christenheit; darum verkehren sie Recht in Unrecht: weltlich unde geistlich / fürhtent got noch sünde. / si vindent niuwe fünde / mit glösen unde vindent l den text, wan si bindent / daz reht hin ze unrehte. / daz krump machent sislehte, / daz sieht st künnent krumben. / got solt in verstumben / die Zungen in dem munde (i7674ff.). Weltlicher Besitz, der Bauern adelt und Unbegabte weise werden läßt, wird höher geachtet als witze, stueteclich vernunst, ere, triuive, bescheiden zuht und alliu kunst (i769off.). Mit -valschem muote verwalteter Reichtum führt zu Habgier, da nicht guot zu einem riehen namen führt, sondern richtiger muot (i7756ff.): schätz ist in im selben niht / wan ein dinc da mit ein man / melden unde prüeven kan / ob er si übel oder Niemand erfüllt (Iceset, i778o)4°4 eidliche Versprechen; das Christentum fördert Boshaftigkeit: die an den der glaube stat, / die sint bceser ml denn die / schrift noch buoch gehorten nie (i7796ff.). Jedermann wünscht sich Recht, Ansehen und ewiges Leben, doch niemand unternimmt etwas dafür; alle streben nur nach Reichtum. Erfahrungswissen wird aufgrund fehlender triuwe nicht mehr von Generation zu Generation weitergegeben (Binnenexkurs). Manche Adlige (herren) sind wortbrüchig und leisten Meineide.

Naturkundliche und heilsgeschichtliche Exkurse: 18236-18314 (über Greifen und Goldgewinnung im Kaukasus); 19429-19654 (über Amazonen); 19648-19932 (über die Existenz seltsamer Wesen und die Bewahrung menschlichen Wissens); 20850-20973 (über den Tempelbau durch Salomon und die Herkunft des Zauberkrautes); 21314-21722 (über Virgilius auf dem Magnetberg); 26236-26347 (über das Jagen und Zähmen von Elefanten); 263 84-265 27 (über die Elementenlehre und die Jagd auf Salamander).405

404

Zu dieser Bedeutung von loesen vgl. Lexer 1,19593. ° Zu den naturkundlichen Exkursen und deren Quellen vgl. Bartschs Vorwort zur Ausgabe des >Herzog Ernst< (1869); Gereke (1898); Dittrich-Orlovius (1971), 8.121-132; Vögel (1990), 8.64-132 (mit weiterführender Literatur).

4 s

I30

26298-26326 26838-26929

27338-27364

Wenn er es wagte, könnte der Erzähler einige Feiglinge benennen. Die Menschen sind undankbar: Diz ist aber der weite louf (26305). Die Teilung eines mächtigen Reiches führt langfristig zu dessen Untergang; wenn sich diejenigen, die fortwährend Besitztümer aufhäufen, ihrer Verantwortung für das Reich nicht bewußt sind, verlieren sie ihre ere, wie sich an zahlreichen Beispielen aus dem Deutschen Reich beobachten läßt: über alle tiuschen lant / vint man lützel künicrich, / der wilent mangez sicherlich / doch in höhen eren was (26892ff.). Die Ursache liegt darin, daß zahlreiche Ländereien durch Erbschaft herrenlos geworden sind, die von Rome in siner hant / solt ein gewaltic keiser han (269O2f.).4°6 Ohne die Autorität des Kaisers oder des Königs kommt es zu sozialem Aufsteigertum (s.u.).4°7 Viele Richter sind korrupt und von Habgier besessen: manic rihter urteil geben /... / umb bcesez guot (27349ff.).4°8

Die zeitkritischen Erzählerexkurse, die hier im Vordergrund stehen sollen, sind durch ein Heraustreten der Rede aus der erzählten Zeit exponiert (damals - heute). Mit ihnen wird das Exemplarische der Handlung kontinuierlich bewußtgehalten, denn das Verhalten der Romanfiguren bildet stets einen positiven Kontrast zu den als desolat beschriebenen Zuständen der fiktiven Erzählgegenwart. Dargestellt werden ein gesamtgesellschaftlicher Verfallsprozeß und dessen verschiedenartige Ursachen und Auswirkungen. Als hauptverantwortlich für die kritisierten Zustände wird das - von hierarchisch höherstehenden Gruppen geduldete und durch deren Passivität geförderte - soziale Aufsteigertum mehrfach thematisiert (1253812586, 14495-14537, 26902-26929).4°9 Alle anderen Mißstände sind als Folgen dieser inordinatio zu begreifen, die Vernachlässigung von Herrschaftspflichten pflanzt sich von oben nach unten fort und wirkt sich bis in die untersten Gesellschaftsschichten aus. Kritisiert werden sämtliche Funktions- und Machtträger der ständisch organisierten mittelalterlichen Gesellschaft, deren Aufgabe es wäre, soziales Aufsteigertum zu verhin406

Diese Verse sind in der Hs. durch Randzeichcn eines (zeitgenössischen?) Benutzers markiert (vgl. auch Dittrich-Orlovius 1971, S. 121). 407 Die Wahl Rudolfs zum deutschen König konnte selbst als »ein spektakulärer Aufstieg« gelten (Heinzle 2 i994, 5.45). 408 Auch diese Verse sind in der Hs. markiert. 409 Zur Thematik des sozialen Aufsteigertums bei Konrad von Würzburg vgl. Ehlert (1980); der Aufstieg Engelhards wird nicht als Regel, sondern als einmaliger, von Gott sanktionierter Ausnahmefall dargestellt.

dern und die sich daraus ergebenden Folgen zu beseitigen: Papst, Kaiser, adlige Männer (als Vertreter des Rittertums) und Frauen, Richter, Kardinale, Patriarchen, Bischöfe, Pfaffen, Laien sowie sündige Menschen schlechthin. Schon der oberste weltliche Machthaber kommt seinen Pflichten nicht nach: von tcedemigem orden erbelös ist worden manic witez richez lant,*l° diu von Rome in siner hant solt ein gewaltic keiser ban. nü ist leider eren an der minste als der meiste. mit ganzer volleiste hant buoben bürgerlichen schin,^11 burger die went ritter sin, ritter die hant herren namen, ein armer herre wil sich schämen, treit er niht kiinecliche wat. alsHs ez in der weite gät dar alliu lant gar sunder frist. nieman in siner maze ist ein stunt noch wil beliben. da von gelücke schtben kan gar wandellich sin rat.*12 swer hiure herren namen hat mit wirde ane vare, der dienet hin ze järe, als ich wol vernomen habe. swie bald uf, noch balder abe gänt arme und ouch riche in al der weit geliche an eht in der heidenschaft. der soldän hat soliche kraft daz ie der man na siner mäht muoz leben als er ist geslaht. Des mag er herren herre sin. (Reinfried 26899-26929)

Diese Ausführungen des Erzählers lassen einen konkreten Bezug zur textexternen Realität aufscheinen. Zur Zeit der vermuteten Abfassung des >Reinfried< gibt es im Deutschen Reich keinen Kaiser, der ähnlich ordnungsstiftende Funktionen hätte wahrnehmen können wie der Sultan von 410

In der Ausgabe von Bartsch steht hinter V. 26901 ein Punkt. ' In der Ausgabe von Bartsch steht hinter V. 26907 kein Satzzeichen. 412 Zum Motiv des Glücksrads, das den Lauf der Welt symbolisiert, ohne zwischen Gut und Böse zu unterscheiden, vgl. auch die Vv. 5900-5911, 12736, 12758 u. 129445. 41

132

Babylon, der hier als oberster weltlicher Machthaber der heidnischen Völker des Orients der vergleichsweise schwachen Position deutscher Könige gegenübergestellt wird.4'3 Selbst Reinfrieds Ansehen bewertet der Erzähler höher als das des Kaisers.4'4 Die Handlung des Romans bezieht das Wirken einer Zentralgewalt in den Territorien des deutschen Reiches in keiner Weise mehr ein. Andererseits wird ein deutlicher Anspruch des sächsischen Landesfürsten auf die Führungsposition im Reich erhoben. Legitimationsgrundlage dieses Machtanspruchs ist seine Abstammung, der Rückhalt der Dynastie, die Verfügungsgewalt über Herrschaftsrechte sowie die damit einhergehende persönliche Tüchtigkeit und moralische Integrität. 4 ' 5

Mit Friedrich II. ist 1250 der vorerst letzte deutsche Kaiser gestorben; auf die Zeit des Interregnums folgt 1273 die Wahl Rudolfs von Habsburg zum deutschen König, für den allerdings »Romfahrt und Kaiserkrönung als Ausdruck imperialen Strebens [...] unausgeführte Pläne minderen Ranges« bleiben. »Unter Rudolfs nächsten Nachfolgern, Adolf von Nassau (1292-98) und Rudolfs Sohn Albrecht (1298-1308), ist von ihnen keine Rede« mehr.4'6 Die politische Stoßrichtung der »breit gestreuten gesellschafts- und zeitkritischen Erzählerexkurse« zu den »wesentlichen Themenbereiche[n] der zeitgenössischen Spruchdichtung, nämlich guot, mute, Schicksal der Gehrenden, ere, aktive und passive Beratungspraxis, gestörte Ständeordnung, [...] Geistlichkeit, politische Themen wie Kreuzfahrt oder Erbteilung und - ausgehend von der Minnethematik - die Frauen«, 4 ' 7 läßt die Frage nach dem empirischen Publikum sowie nach potentiellen Auftraggebern des >Reinfried< aufkommen. Für Ohlenroth »ist keine Instanz mehr auszumachen, in deren Sinne er [der Erzähler] spräche«; die Grundproblematik des Werkes bestimme »das gestörte Verhältnis einer - möglicherweise weitgehend biografisch bestimmten - Erzählerrolle zum Bereich der Fiktion ebenso wie zur zeitgenössischen Gesellschaft.« 4 ' 8 Dem ist entgegenzuhalten, daß an einigen Stellen (wie in Prolog und Binnenprolog) deutlich wird, daß die solchermaßen Kritisierten nicht identisch sind mit dem Publikum des >Reinfriedtouristischen< Pilgcrreisen vgl. auch Hipplcr (1987), 8.81-85. Ratgeber-Figuren spielen im Roman eine wesentliche Rolle; so ist beispielsweise der anonyme Verleumder, der während der Minnehandlung die Rolle des Negativcxempels übernimmt, Ratgeber am Hof des dänischen Königs; aber auch der vordergründig positiv dargestellte Pcrserkönig tritt in der zweiten Romanhälfte als Ratgeber (Reinfrieds) auf; zu den Beratungss/.enen als Gattungsspczifikum des Staatsromans vgl. Ott-Meimberg (1980), S.i38f. 421 Im >Wilhclm von Österreich^ werden die werden im Epilog (V. I9jo2ff.) ausdrücklich als Zielpublikum benannt, vgl. Dietl (2000), S. io6f. 422 Für das Folgende vgl. die grundlegende Studie zur historisch-politischen Situation in der Schweiz um 1300 von Sablonier (1979) sowie dessen neueren Aufsatz (1997), in dem auf weitere Literatur verwiesen wird. 420

'34

jedoch der zielstrebige und erfolgreiche Herrschaftsausbau der habsburgisch-österreichischen Territorialherren, die sich das Erbe der 1264 ausgestorbenen Kiburger sichern und dadurch zu einer politischen Vormachtstellung gelangen. Ihr Machtstreben führt zu einer, im Hinblick auf die Gesamtentwicklung des Adels zwar verspäteten, dafür aber um so radikaleren Strukturbereinigung. Im letzten Viertel des 13. Jahrhunderts durchlebt der Adel im Gebiet der heutigen Schweiz somit grundlegende Umwälzungen, die um 1300 noch nicht abgeschlossen sind. Gegen Ende des 13. und zu Beginn des 14. Jahrhunderts lassen sich im Gebiet zwischen Zürichsee und Bodensee rund 30 hochadlige Geschlechter (nobiles) und etwa 130 niederadlige Familien (milites) nachweisen. Beherrschende Kräfte sind der Bischof von Konstanz und der Abt von St. Gallen, während die Städte, allen voran Konstanz und Zürich, erst allmählich, nach 1280 bzw. nach dem plötzlichen Tod Rudolfs von Habsburg 1291, politisches Gewicht erlangen. Den Aufständen in Zürich und in der Ostschweiz folgt jedoch 1292 sogleich die Zerschlagung des antihabsburgischen Widerstandes in der Stadt Zürich durch Albrecht L; unmittelbar nach Rudolfs Tod kommt es am 1.8. 1291 auch zur Erneuerung eines früheren eidgenössischen Bündnisses zwischen Schwyz, Uri und Unterwaiden (Ewiger Bund). Dieses Landfriedensbündnis, Keimzelle der Schweizer Eidgenossenschaft, wird für die nichthabsburgischen Könige und Kaiser zu einem wichtigen Bündnispartner gegen die Habsburger, die im 14. Jahrhundert ihr Machtzentrum nach Österreich verlagern. Die Eidgenossen erhalten beispielsweise 1316 von Ludwig IV. dem Bayern, der 1314 in einer Doppelwahl neben dem späteren Mitregenten Friedrich (dem Schönen) von Habsburg zum deutschen König gewählt worden ist und dessen Kanzlei als Schreibort der einzig erhaltenen >ReinfriedLudwig der BayerReinfned< minnc und ere die höchsten Werte darstellen (vgl. Glier 1985; de Boor '1997, S. i^of.). 424 Vgl. auch die Bezeichnung eitgenözen für die Christen (V. 16225) sowie später für Reinfried selbst und seinen Verbündeten, den Fürsten von Ascalon (V. 20399).

135

sozialer Hinsicht mehr und mehr gemeinsame Merkmale und einen feststellbaren Gruppenzusammenhalt auf. 425

Durch die überragende Stellung dieser gesellschaftlichen Aufsteiger schwindet der soziale Abstand zwischen Hochfreien und Ministerialen, bis er um 1300 kaum noch vorhanden ist. An die Stelle der freien Geburt tritt die Nähe zum Landesherrn. Während der neue Landesadel nur eine sehr schmale Gruppe darstellt, wird der breite Rest des Adels durch dessen raschen und massiven Aufstieg »in die Mittelmäßigkeit abgedrängt oder gar sozial deklassiert.«426 Nach 1280 befinden sich daher die meisten hochfreien Geschlechter »in erheblichen Schwierigkeiten. Es gelingt nur wenigen, vorwiegend in den Randzonen habsburgischen Einflusses, selbständige Herrschaf tsrechte über die Krise hinüberzuretten. Der Eliminationscharakter der Vorgänge ist eindeutig: Abgegebene Güter und Rechte gehen selten an Standesgenossen [...]; sie gehen an die Kirche, an die Landesherrschaft, an den Ritteradel und an städtische Bürger. Die Intensität dieses Prozesses ist gerade um 1280-1320 am größten, wie sich am Niedergang der ehemals Großen nachweisen läßt. Es fehlt nicht an drastischen Beispielen einer raschen, totalen Liquidation der Herrenstellung. Aber auch bei jenen Geschlechtern, die noch über längere Zeit eine gewisse Stellung zu wahren vermochten, sind die Schwierigkeiten um 1300 nicht zu übersehen.« 427 Zu den Aufsteigern zählen in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts beispielsweise die Klingenberger, deren Rolle innerhalb des sogenannten >ManesseMarschall< des Königssohnes Albrecht in Österreich auf. In diesem Amt spielt er bis 1306 eine ganz außergewöhnliche militärische und diplomatische Rolle im Hofdienst Albrechts. Zur gleichen Zeit amtet ein Rudolf von Landenberg als erster konstanzisch-bischöflicher Vogt von Kaiserstuhl (so 1301); vielleicht derselbe bekleidet vor 1316 das Amt eines österreichischen Vogtes auf Kiburg. [...] Die Klingenberger [...] erwerben 1300 den Hohentwiel und damit ein dauerhaftes Herrschaftszentrum im Hegau. Heinrich von Klingenberg, ebenfalls in Bo425

Sablonicr (1979), 5.254. Sablonicr( 1979), S. 185. 427 Sablonier (1979), S. 103. Für die Situation in der Schweiz um 1300 symptomatisch ist »die ausgeweitete Anwendung der Integrationsbczeichnung her: Städtische Kanzleien beginnen, in Zürich schon kurz nach 1250, andernorts etwas später, die Ratsmitglieder und bald auch Angehörige der bürgerlichen Oberschicht mit dem persönlichen Herrentitel auszuzeichnen. Ganz selten, aber immerhin doch schon vor 1300 findet sich der Titel auch bei Vertretern der bäuerlichen Oberschicht [...]. Nach 1300 sind auch Kanoniker obcrbäuerlicher Herkunft zu belegen [...]. Und die Adclshierarchie erweitert sich nach unten um die breite, heterogene Kategorie der knechte, der Edelknechte und armigeri» (ebd., S. 183^); vgl. dazu die oben, S. 132, zitierten Vv. 26899-26929 des >ReinfriedPfad der Tugendguten< Seite kämpfen, ist Reinfried und dem Perserkönig unwichtig; ihre einzige Motivation ist die erfolgversprechende Aussicht auf ere (vgl. 20050-20057 u.ö.). In einem umfangreichen Exkurs erläutert der Erzähler Entstehung und Aufbau der matriarchalen Gesellschaftstruktur der Amazonen (19426I9Ö56): 449 Als einst der König von Amazonien seine ebenso schöne wie tugendhafte Frau zu sehr demütigte und unterdrückte, töteten sie und die anderen Frauen alle Männer des Landes im Schlaf; seither werden männliche Neugeborene außer Landes gebracht. Der Exkurs weist auf die potentielle Gefahr eines Machtverlusts hin, der argen Männern droht, die ihre Frauen so smxhe und so herte (19461) behandeln. Dies läßt sich als »abschreckendes Exempel einer aus allen Fugen geratenen Welt«4'0 auf Rein446

Diese Aussage bezieht sich vermutlich direkt auf die Vv. 9,4-6 des >WillchalmHistoria de preliisTrojancrkrieg< (Vv. 4223 5-42308) in Betracht (vgl. Vögel 1990, S. 77f.); zu den Amazonen Brinker-von der Hcyde (1997); Tuczay (1998). 45 °Brinker-von der Heyde (1997), 8.423^ I42

frieds Fernbleiben von seinem Herrschaftsbereich und auf die dort wartende, schwangere Irkane beziehen. Die Existenz der seltsamen Völker in beiden Heeren begründet der Erzähler in einem weiteren Exkurs (19648-19932) mit der Schöpfung der Welt durch Gott bzw. der kraft der nature (i97/2). 451 Nach dem fingierten Einwand gegen seine Darstellung (wenn ich min liegen welle län, / mac sprechen eteliches munt, 19648^; vgl. auch 19650-19682) führt er für die Entstehung mißgebildeter Kreaturen drei potentielle Ursachen an: den Genuß verbotener Krauter während der Schwangerschaft, den Einfluß der Sterne und das vergäben der sinne einer Frau. Mit der ersten Begründung beruft er sich auf den sogenannten Adamstöchtermythos, den er entscheidend abgewandelt präsentiert: Solche Merkwürdigkeiten der Natur habe zuerst Adam »erforscht und beschrieben, systematisiert und benannt. Die ihm von Gott verliehene wisliche gir (V. 19702), aber auch seine Klugheit hätten ihn dazu befähigt, die Schöpfung in all ihren unterschiedlichen Kräften und Formen zu verstehen, insbesondere aber die lebensgefährliche oder heilende Kraft der Wurzeln und Krauter«, deren Genuß bei unsachgemäßer Handhabung zur Geburt solcher Wesen führe. 452 Die Übertretung des von Adam verhängten Verbots durch die Adamstöchter gilt in der >Wiener Genesis«, wo dies typologisch als Wiederholung des Sündenfalls dargestellt ist, so daß die Nachkommen Kains zugleich Kinder des Teufels sind, als Ursache für die Existenz häßlicher Mißgeburten. 453 Dies jedoch - es dürfte den Rezipienten geläufig gewesen sein - überspringt der Erzähler und schildert statt dessen detailliert, wie das von Adam angesammelte Wissen um die Wirkung der verschiedenen Krauter überliefert werden konnte. Solange das Wissen allgemein verfügbar war, stellten die Krauter keine Gefahr dar; für den Fall, daß din weit ein ende nint / mit wazzer aid mit fiure (19778^), bei dem alles menschliche Wissen für die nachkommende alter weit (19795) verlorenzugehen drohte, ließen die Gelehrten es daher in zwei Säulen eingravieren (eine wasserbeständige aus Marmor und eine feuerbeständige aus Ton).454 Die schriftlich fixierte Tradierung erschien ihnen erforderlich, weil daz volc daz denn diu erde treit / na uns hat niht verniinste / so vil daz ez die künste l müg vinden die wir 451

Zur Bedeutung der Natur als Organisationsprinzip höfischer geselleschaft im >Rcinfried< s.o., S. 59, 64 u. 941. 452 Röcke (1996), S. 295; zur Auseinandersetzung mit den >monströscn Völkern des Erdrandes< im Mittelalter vgl. auch Röcke (1997); Münkler/Röcke (1998). 45 'Vgl. dazu Wisbey (1974); Seitz (1967), S. 64-66. 454 Zu den Quellen für diese Episode vgl. Vögel (1990), S. Sif., Anm. 194; Rettelbach (1998), Bd.2,1, 8.23.

funden loan, l ...davon son wir besorgen / die da na uns kiinftic sint (1976819777). Diesem vorausschauenden Verhalten der Alten sei es zu verdanken, daß die Menschheit auch nach der Sintflut noch über Adams Kenntnisse von der Wirkung der Krauter verfüge. Wenn der Erzähler eigens eine Begründung dafür mitteilt, auf welchem Wege dieses Wissen tradiert wurde, 455 muß dies für die Sinnkonstituierung im Roman von Bedeutung sein: Nach der Sintflut geben sich die frowen (19830) nicht mit den Angaben auf den Säulen zufrieden, sondern wollen selbst erproben, was nach dem Genuß einzelner Krauter passiert. Ihr Fehlverhalten ist als neuerliche Wiederholung des Sündenfalls zu verstehen, die weiterhin die Existenz von Mißgeburten (ohne Sinn und Verstand) ermöglicht (19838-198 53).456 Damit wird »der Adamstöchtermythos seines mythischen Charakters beraubt und zu einem jederzeit wiederholbaren Ereignis«.457 Da der Erzähler dies erläutert, während Reinfried fern von seiner schwangeren Frau aus eigennützigem Interesse den Orient bereist, obwohl die Geburt seines Sohnes unmittelbar bevorsteht, stellen sich erste Zweifel an der Richtigkeit seines Handelns ein.458 Das Fehlverhalten der Frauen nach der Sintflut versieht der Text darüber hinaus mit einem Epitheton, das die >ReinfriedReinfried< nicht die Absicht, etwas Neues kennen-

4ii

Es handelt sich um »ein Problem, daß außer im >Reinfricd< in keinem der [...] Zeugnisse beachtet worden ist« (Vögel 1990, 8.82). 456 Röcke faßt den Exkurs als misogynes Exempel für einen falschen Umgang mit tradiertem Wissen auf. Das schriftlich überlieferte Wissen sei entpcrsonalisiert und könne ohne die Autorität einer vermittelnden Person mißverstanden, mißgedeutet und sogar mißbraucht werden (1996, S. 296f.). 4 7 > Seitz (1967), S. 66; vgl. ähnlich Vögel (1990), S. 8 9 f. 458 Den Bezug zum Publikum stellt ein zeitkritischer Binncnexkurs des Erzählers her: >Heute< würden Wissen und Erfahrung nicht einmal vom Vater an den Sohn weitergegeben, da aller Welt die triuwe fehle (Vv. 19804-19819). Das Abreißen dieser Tradierungs- und Traditionsstränge geschehe zum Nachteil der höfischen Gesellschaft. 4S9 Vgl. Neudeck (1989^, 8.164-168; Vögel (1990), S. 149 u.ö.; Ohlenroth (1991), 8.80-82; Kiening (1993), 8.490; Röcke (1996), 8.287^ Anm. 13 u. 8.292^; Ridder (i998b), 8.73, 8of. u.ö. 144

zulernen,400 denn was nach dem Genuß der Krauter geschieht, kann man ja auf den Säulen nachlesen (vgl. 19826-19832), es bezeichnet vielmehr das Verlangen, das Vorgegebene selbst zu erfahren, indem man das von anderen bereits Erfahrene und schriftlich Fixierte noch einmal (>neuerlichSelbsterfahrungNibelungenliedes< (Strr. 13-19) zu nennen; strukturell und funktioneil vergleichbar ist auch Herzeloydes Drachentraum, der sowohl dem Tod Gahmurets als auch der Geburt Parzivals (sowie der sogenannten >SelbstverteidigungParzivalLangeweileReinfried< zu und versteht die Aussage des Erzählers, er habe sich dem mtere durch frigen muotgelust zugewandt (Vv. 13984-13989), als Hinweis auf die freie Verfügungsgewalt des >Autor/Erzählers« über »narrativ organisierte Elemente historisierenden Erzählens«, so daß der »Erzählakt als von seinem Willen abhängig« erscheine (Ridder i998b, S. 157 u. 274). 506 Vgl. snelle ividerkunft (V. 14170), schier (V. 14273), in kurzer lenge (V. 14275). 507 Dieser Vers bildet zugleich den Kern der Ermahnungen des sterbenden Vaters an seine Kinder zu Beginn von Hartmanns >Gregorius« (V. 257; vgl. dazu Dahlgrün 1991, 8.222). Er wird auch im deutschen >Cato< (V. 251) sowie im >Wilhelm von Orlens« (V. 3395) vom Vater an den Sohn weitergegeben (vgl. dazu im >Reinfried< auch die Vv. 12286-12290).

ein männlicher Beistand erforderlich ist, empfiehlt ihr Reinfried als persönlichen Berater den vertrauenswürdigen und zuverlässigen Grafen Arnold, den er ebenfalls sorgfältig über seine Vasallenpflichten unterrichtet. Für den Fall seines Todes werden besondere Vorkehrungen zum Machterhalt getroffen: gewinne ich ungevelle also daz ich verdirbe und under wegen stirhe, daz al in gotes willen stät, so gib ich beiden iuch den rat, ob ich wol geraten kan, daz si neme einen man ze gotelicher rehter e, durch daz daz lant in friden ste und siz behalte deste baz. tuont ir des niht, so wizzent daz ez inch kumberlichen stat. wan Hute gelt und lant zergät swä man si äne houbet siht. (Reinfried 14398-14411)

Diese Verabredung dürfte von einiger Bedeutung für den nicht erhaltenen Teil des Romans gewesen sein (s. dazu Kap. 4), denn nach der Sage von Heinrich dem Löwen und weiteren Hinweisen im >Reinfried< zufolge ist Irkane im Begriff, sich - wie von Reinfried an dieser Stelle verlangt - neu zu verheiraten, als dieser schließlich nach Braunschweig zurückkehrt. Erzähltechnisch bieten sich dafür drei Optionen: Erstens könnte ein bis zum Abbruch des Romans nicht eingeführter Ritter um Irkane werben, zweitens Graf Arnold und drittens der verleumderische Ritter aus Dänemark, der ins Exil verbannt worden war. Arnold jedenfalls leistet einen ritterlichen eit (14549) darauf, Irkane mit triuwe zu dienen (14424-1445 5),5°8 und seine Zuverlässigkeit bis zur Heimkehr Reinfrieds (nach der zit und ouch da vor, 14469) bestätigt eine Vorausdeutung des Erzählers (14456-14472), der dies in Kontrast zu schlechten Ratgebern und den schlecht beratenen herren seiner Gegenwart hervorhebt (14473-14537: s. S. 129-134). Die Nacht vor der Abreise Reinfrieds wird in ihrer Bedeutung der Liebesnacht Willehalms und Giburgs nach der ersten Schlacht auf Alischanz verglichen (14854-14884). Als Irkane in einem Gebet an Maria in lautes Wehklagen ausbricht und Reinfried aufweckt, tröstet dieser sie mit dem Vorschlag, den Ring, den er während des Turniers in Linien von ihr erhalten hatte, zu halbieren. 508

Der Beginn seiner Rede (min steter eit / sol mich da zuo binden, Vv. 144241.) ist in der Hs. mit einem Caput-Zeichen markiert (fol.9i r ).

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Zeichencharakter erhält diese Teilung des Rings dadurch, daß sie nicht sofort, sondern erst nach der körperlichen Vereinigung der Liebenden, im Morgengrauen, vorgenommen wird; daß dabei niht der reinen herze spielt, / daz was ein grözez wunder (i49i2f.). Irkanes Hälfte ist ein ingesigel / der triuwen sunder scheiden (14774^), während Reinfrieds Hälfte ihr als Wortzeichen dienen soll (i479i), 5 ° 9 das er ihr im Falle seines Todes zukommen lassen will. Sie soll etwaigen Gerüchten um seinen Tod ohne dieses Erkennungszeichen keinen Glauben schenken - auch dies ist sicher Vorausdeutung auf einen Versuch, Irkane vom Ableben ihres Ehemanns zu überzeugen und zur Wiederverheiratung zu drängen. Offen bleibt, ob der Versuch ohne Reinfrieds halbes vingerlin (14807) unternommen (und dann wohl scheitern) wird oder ob Reinfried seine Hälfte abhanden kommt und diese in Braunschweig vorgezeigt werden kann. In diesem Fall müßte sich Irkane Reinfrieds Aufforderung gemäß dazu entschließen, einen neuen Ehemann zu wählen.

Wie in der Hochzeitsnacht beschreibt der Erzähler das frcelich bettespil (14841) der beiden (in Anlehnung an Formulierungen aus Wolframs Werken),*10 da. von din höchgeborn enpbie / ein kint daz dar na herre wart (i4842f.), und betont so noch einmal den mit der Zeugung eines Sohnes verbundenen Aspekt der Herrschaftsnachfolge. Irkane ahnt, daß sie ein Kind empfangen hat (14915-14925), und teilt Reinfried dies mit, um späteren Mißverständissen über die Vaterschaft vorzubeugen (i4924f daz er iht zwivel habe / an smer frühte samen). Demselben Zweck dient die von ihr erbetene schriftliche Bestätigung ihrer Schwangerschaft (1499415015). Beides läßt die Möglichkeit aufscheinen, daß Reinfrieds Vaterschaft später in Zweifel gezogen wird. Irkane berichtet erneut von einem wilden troum (vgl. 14948) und bittet abermals um Auslegung: Anstelle eines alten Löwen, der ihr davongelaufen ist, findet sie im Traum einen jungen Löwen vor (14926-14963). Erneut ignoriert Reinfried die Befürchtungen seiner Gemahlin, indem er den Traum nur aus seiner Perspektive deutet: 50 ist es wol ergangen. din lip hat enpfangen, des triuw ich sunder klöuwen, einen jungen löuwen, ein kint von gots gewalte. ich bin der löuwe alte der dir unwizzenlich engat. din trost nu an dem jungen stät sunder meines schände, 'ci> Zum Begriff Wortzeichen bzw. warzeichen vgl. Kellner (1997), S. 161-168. ' I 0 Anklänge sind weniger an den >Willehalm< (Vv. 100,9-105,15 u. 279,6-280,20) als an Wolframs Tagelieder (MF XXIV) festzustellen (vgl. die Vv. 14832-14839 u. 14885-14905 im >ReinfriedBrief des Priesterkönig JohannesRcinfried< endet (alsus derheltvon Bräneswic/runde hie daz hciliclant), dem letzten Vers in Wolframs >Willehalm< entsprechen: s#s rumt er Provenzalen lant (V. 467,8) (1995, 8.252; zum Fragmentcharaktcr des >Willehalm< vgl. Kicning 1991, 8.235-240), doch vgl. auch schon das Ende des ebenfalls fragmentarischen >König Rothcrvor Ort< erfährt«, zunehmend in die Welt des Ostens verstrickt wird, seine Makellosigkeit und damit den Status als Positivexempel verliert. »Wenn der Protagonist dabei an die Grenzen menschlicher Erkenntnisfähigkeit und -möglichkeit stößt, ist dies in seinen Konsequenzen für den Idealstatus des Helden - wie er im Prolog festgesetzt wird - bisher nicht erkannt worden.« 556 Hinweise auf ein Fehlverhalten des Protagonisten lassen sich dem Handlungsverlauf, den Erzählerexkursen und der Struktur des Textes entnehmen. Die Orientfahrt des Helden ist, bedingt durch seine Hin- und Rückreise auf demselben Weg, symmetrisch angelegt. Er verliert dabei sukzessive sein ursprüngliches Ziel, gegen die vertane heidenschaft (13296) zu kämpfen, aus den Augen und vernachlässigt zunehmend seine Verpflichtungen als Landesherr und Ehemann. »Mit dem Fortschreiten der Reisebewegung in den Orient baut sich kontinuierlich ein Spannungspotential zu den im ersten Werkteil entworfenen Werthorizonten der rechten Minne und der legitimen Landesherrschaft auf.« 557 Die Umkehr wird ausgelöst durch die Begegnung mit einer Sirene, nach der Reinfried mit dem Perserkönig vom Magnetberg aus über Ascalon, Babylon und das Heilige Land zurück nach Persien reist. Im Anschluß an die Beobachtungen zur Struktur der Orientfahrt sollen in diesem Kapitel Neudecks Ergebnisse in einigen Punkten präzisiert und ergänzt werden, um damit die zuletzt vorgebrachten Einwände gegen eine solche Deutung der zweiten Romanhälfte zu entkräften. 558

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Koellikcr(i975), S.i8. '"Röcke (1996), 8.287. S!die Begrenztheit des Menschen in zeitlicherund räumlicher Hinsicht demonstriert< werden soll (169), die Begegnung mit der Sirene Gelegenheit biete, >die Sinnenverfallenheit und Schwäche der menschlichen Natur sowie die existenzbedrohende Wirkung des ungezügelten wunder-Schauens zu thematisieren« (S. 169) oder der Magnetberg gar als >Ort der Umkehr< anzusehen sei, da der Versuch des Menschen, seinen festen Platz zu verlassen, >in Anbetracht seiner existentiellen Gegebenheiten als vermessen« erscheine (S. 181).« Gegen Neudeck, dessen Arbeit die Binnenzitate entnommen sind, hält es Röcke für bemerkenswert, »daß der Anonymus die topische Verurteilung der cunositas gerade nicht bestätigt [...], sondern die Neugier auf Fremdes durch immer neue Erzählungen in der Erzählung zu befriedigen sucht« (ebd.); vgl. auch Röcke (1998), S. 286: »Dabei ist auffällig, daß die Neugier auf Fremdes hier keiner Rechtfertigung mehr bedarf. Vielmehr ist sie als solche sinnvoll und gut«. Auch Wand-Witt-

Mit der Ankunft im persischen Reich dominieren in Kontrast zum Leid in Braunschweig und zu den Mühen des Heidenkampfes zunächst die wunder der kurzewile (iSioif., 18207, 18209, 18220 u.ö.), von denen Reinfried sich verführen läßt. Bereitwillig akzeptiert er eine weiterführende Einladung des Perserkönigs: »sicherlich, ich sol / iuch läzen wunder schouwen< (i 82o6f.). Als wunderlichez wunder (i 8229) erscheinen ihm zunächst das unermeßliche Goldvorkommen im Kaukasus-Gebirge und die dort übliche Art der Goldgewinnung. Der Erzähler schildert dieses Verfahren sehr konkret (18260-18314): Um das Gold zu gewinnen, bedienen sich die Einheimischen einer List. Sie nähen scharfkantige Steine in Ochsenhäute ein und legen diese in der Nacht als Köder aus. Am nächsten Morgen trägt der Greif die gefüllten Häute hoch in sein Nest empor. Dort bemerkt das Tier den Betrug und läßt Haut und Steine wieder fallen. Die Wucht der herabstürzenden Steine bricht die Goldlasur des Berges, so daß sich Goldbrocken lösen und zu Tal fallen, wo sie im Schutz der Nacht gesammelt werden können. 559

»Das Aufsuchen der goldenen Berge konnte als Zeichen todbringender avaritia gedeutet werden«, doch scheint der Erzähler eine solche Verständnismöglichkeit mit zahlreichen Hinweisen auf Reichtum und milte Reinfrieds und des Persers (vgl. 16766-16933) von vornherein abzuwehren.500 Mit dem schouwen wird immer wieder der Aspekt der Neugier betont.*61 Alles, was Reinfried sieht, wird als wunderliche oder als wunder bezeichnet502 - nicht zukowski sieht die Orientreise von positiven Aspekten geprägt: »der Held als glücklicher Reisender aus Neugier und Lust inmitten seiner Heidenfreunde« (20003, S. 338). 5 !9 Vögel (1990), 8.69. Zur antiken Herkunft des hier ausgebreiteten Wissens und zu seiner Erwähnung in mhd. Literatur (erstmals im >ParzivalHerzog ErnstReinfried< eine Rolle spielte, mag dahin gestellt bleiben. Für Ohlenroth ist folgender Handlungsverlauf im Anschluß an die Inselepisode am Ende des Textes vorstellbar: »Haben die Vögel Reinfried (etwa in der Decke eines erlegten Wildes) von dem einsamen Gestade auf die Höhen des Kaukasus getragen, hat ihn dort der Zauberring der Yrkane gegen die Minustemperaturen geschützt, und hat er wie der Held bei Wyssenherre den aussichtslosen Abstieg mithilfe der abgeschnittenen Klauen der jungen Greifen bewerkstelligt, die ja als Wahrzeichen noch in Braunschweig hängen sollen?« (1991, S. 71) 56 °Vögel (1990), 8.65, Anm. 135. 561 Vgl. die Vv. 18321, 18340, 18471, 18489, 19419, 19570, 19612, 21135, 2 I 2 7 2 > 21822, 22664, 22768, 22982, 23077, 23106, 23120, 23544, 23976, 24929, 25247, 26219, 26234, 26333, 26358, 26703, 27037, 27053, 27065, 27110, 27511, 27561, 27576; in der Sirenenepisode tritt später das hoeren als Ausdruck von curiositas hinzu: Vv.22033, 22O47> 22096, 22378, 22387, 22399, 22410. 22428,22434, 22439, 22459; vgl. auch die Vv. 27515, 27528, 27536, 27540, 27547, 27598 am Ende des Romans. 562 So in den Vv. 18315, 18320, 18339, 18491, 18526^, i8626f., 18690, 18705, 19233, 19283, 19309. 19322, 19220, 19330, 19337, 19369, 19395, I940I, 19631* 19634, 19652, 19655, 19677, 19687, 19689, 19704, 19874, 19897, 19901, 20227, 20434, 20603, 21015, 21069, 21157, 21178, 21213, 21251, 21256, 21266, 21272, 21309, 21343, 21355, 21362, 21372,

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letzt der überall anzutreffende unermeßliche Reichtum.' 63 So sind etwa die goldverkleideten Dächer der Burg des Zwergenvolkes zusätzlich mit Edelsteinen besetzt sam ez Sternen sollen sin (18 579): dem manen und der sannen / sach man gelicheschinen /smaragden undrubmen, /safiren undkarfunkel(18582-18585).

Dennoch liefert die den Orientteil eröffnende Besichtigung des KaukasusGebirges eindeutige Belege für ein negativ zu charakterisierendes Verhalten des Protagonisten. Zwar sind die wunder des Orients qualitativ nicht anders zu bewerten als die in der Bibel beschriebenen wunder im Heiligen Land, da sich sowohl in diesen als auch in jenen die göttliche Schöpfung offenbart,564 doch ändert sich Reinfrieds Motivation für das schouwen, das schon bei der Ankunft im persischen Reich von kurzewile geprägt ist, denn es entspringt jetzt nicht mehr einem Wissensdrang, der auf den christlichen Glauben zielt, und entspricht damit nicht mehr der perspectio oder iusta curiositas, sondern ist als circumspectio, als vana curiositas zu begreifen. Dieses im Unterschied zu heutiger Auffassung 505 in mittelalterlicher Theologie negativ beurteilte Umherblicken gefährdet nach Tertullian, Augustinus, Bernhard von Clairvaux, Thomas von Aquin u.a. das Seelenheil des Menschen.566 »Die Steigerung der hinter dieser circumspectio stehenden curiositas führt zu dem Hinaufschauen«, welches Oberman mit dem »Kunstwort« supraspectio bezeichnet: »Circumspectio ist somit die Neugier, das horizontale Sich-Verzetteln; die supraspectio wird nun die diabolische, vertikal ausgerichtete Intensivierung, die gottwidrige Neugier - und diese beiden stehen im Gegensatz zu perspectio, dem Durchblick und der Einsicht des Glaubens.«567 Die vertikal ausgerichtete supraspectio,

21411, 2148$, 21619, 21660, 21667, 21823, 21825, 21862, 21877, 21883, 21913, 21964, 21976, 22071, 22097, 22113, 22269, 22285, 225171 22 53°> 22663, 22769, 23016, 24153, 24377, 24445, 25185, 25249, 25672, 25805, 26235, 26300, 26393, 26469, 26538, 26564, 26588, 26703, 27032, 27035, 27065 (in der ersten Romanhälfte ist dagegen von -wunder fast ausschließlich im Zusammenhang mit der Minne die Rede). 56j Vgl. die Vv.i8429, 18528-18535, 18576-18595, 18608-18651, 186831., 187561., 18832, 19298-19301, I 9 3 5 6 - I 9 3 5 9 ,

2OO2I, 20659-20684, 2 I 0 9 0 - 2 I I O 5 , 2 I I 2 2 - 2 1 I 2 5 , 21246-

21249, 2275of., 22794-22803, 22820-22829, 22856^, 24931-24938, 25050-25055, 25087, 564

26373,26705,26958-26961,27134-27146,27190-27195.

Vgl. Neudeck (198913), S. 198: »Ein qualitativer Unterschied hinsichtlich der >Anziehungskraft< wird zwischen den wundern der Bibel, die als Zeichen des göttlichen Eingreifens in die Welt zu deuten sind, und denen des Magnetbergs« nicht gemacht, da beide »auf dasselbe überweltliche Wirkprinzip zurückverweisen.« 565 Vgl. Müller/Probst/Schönpflug (1984). s66 Vgl. Blumenberg (31984), S. 89-144; Newhauser betont, daß den mittelalterlichen Theologen die curiositas nicht grundsätzlich als lasterhaft gilt, sondern nur dann, wenn die zugrundeliegende Motivation nicht dem christlichen Glauben entspricht (1982, S. 567 Oberman (1974), S. 231. 175

später als furvvicz bezeichnet,'68 ist nur Heiligen gefahrlos möglich, weil diese von Gott selbst durch besonderen Gnadenschutz davor bewahrt werden, »durch Eitelkeit außer sich zu geraten und >sich zu vergessenVorwitz< in den mhd. Wörterbüchern (BMZ 1,535; Lexer 11,89). sicb bin bereit / mit willen ze derverte.< (18342^) Durch die Weiterreise entfernt sich Reinfried zunehmend von Braunschweig und Irkane, die für ihn keine Rolle mehr spielen und im Text praktisch nicht erwähnt werden. Weder die Schönheit der Zwergenkönigin, aus deren Augen Frau Minne selbst herauszuschauen scheint (18656^), noch die der Königin der Amazonen, die so hübsch ist, daz nie kein man l reiner bilde nie gesach (19446^), veranlassen Reinfried oder den Erzähler zu einem Vergleich mit Irkane.575 Zugleich verläßt Reinfried den Einflußbereich des Christentums und stößt durch unkultivierte Gegenden bis an die Ränder der Welt vor (vgl. etwa 18366-18368: einpfatsiwistesam ein snuor/ durch manic tief gevilde, / dur wait und berge wilde, oder 19270^: gen einem starken walde / dar st ein witiu sträze truoc}. Daß er dabei in den Wirkungsbereich nichtchristlicher Mächte gerät, wird zwar vom Erzähler nicht thematisiert, ist aber dem Geschehen unmittelbar zu entnehmen, zumal die auftretenden Figuren zum Teil als tiuvellich (18824) oder tiuvelmxzic (18990) beschrieben werden. Die Existenz mißgebildeter Völker üz verren landen (19308) und von des tiefen meres se (19320), die an der Schlacht zwischen dem König von Ascalon und dem König von Assyrien teilnehmen, wird auf den Sündenfall bzw. auf die Neugier der Frauen nach der Sintflut zurückgeführt (s.o.); sie sind ungehiure (19370) und ungestalt (19389) oder mohten vil wol sippe / dem tievel sin (193861.): kleine gröz junc und alt / hatten tiuveltichen schin (193901.); kurzerhand werden sie den Tieren zugerechnet: des sol man si bi niute / für menschen han,jo ez sint tier (1985 zi.)^6 Die Amazonenkönigin ist mit dem Entekrist (19560) im Bunde und hält bis zu dessen Erscheinen die apokalyptischen Völker Gog und Magog unter Verschluß (s.o.).577 Daß Reinfried ihr, von der es heißt, ez was ein tiuvel, niht ein wip (20116), nach gewonnenem Zweikampf das Leben schenkt, bringt ihm das Zauberkraut ein, welches die gefahrlose Weiterreise zum Magnetberg erst möglich werden läßt. Die Parallele zum Erlaß der Taufe nach dem Sieg über den Perserkönig liegt auf der Hand: Der Verzicht auf die Durchsetzung des christlichen Glaubens sowie die Verschonung der Heiden bzw. der teufelsähnlichen Kreaturen eröffnen die Möglichkeit des wunder schouwens im Orient. 57S

Beide werden nach V. 17523 (Schlachtruf Reinfrieds im Kampf gegen den Perserkönig) erst in den Vv. 22540 u. 22704 (Sirenenepisode) bzw. 23221 wieder erwähnt (Rückblick des Erzählers auf die Ereignisse in Braunschweig). Dort wird zugleich gesagt, daß Irkane ihrerseits den der da ir Spiegel was /... selten ie vergaz (Vv. 23219^). S7Testamentum Salomonis< (i. Jh.) und später bei Gervasius von Tilbury (1213) bezeugten Vermögen Salomons, den Teufel in ein Glas zu bannen, 585 das im >Reinfried< sowohl Salomon selbst als auch Zabulon und Virgil zugeschrieben wird (vgl. 21022-21054 u. 21700-21713).58Reinfried< wieder, in dem sich der Held - wie in einigen Fassungen der Sage von Heinrich dem Löwen - mit teuflischen Geistern eingelassen haben könnte, die ihn nach Braunschweig zurückbringen, um diese später zu überlisten.* 8 ? In jedem Fall zeigt der Exkurs, daß »Reinfrieds Expedition zum Magnetberg in einem Geflecht von heilsgeschichtlichen 582

2 Chr 1,1-5,2 u. i Sm 5,15-7,51; vgl. Vögel (1990), 8.98-101. In Anlehnung an Ex 20,25; vgl. Vögel (1990), S.98f., Anm. 235. 584 Zu den Quellen dieses Exkurses, die in der Sage vom Wurm, Stein oder Kraut (saxifraga >SpringwurzelReinfriedReinfricd< (möglicherweise vorausweisend) erwähnt wird, kann wie die Straußenküken in ein Glas eingeschlossen werden (vgl. Schleusencr-Eichholz 1985, S. 241, Anm. 19; Sammer 1998; Sammer 1999). 58(5 Zur Kontamination der Sagenkreise um Salomon, Zabulon und Virgil im Mittelalter vgl. Singer (1891). 587 Vgl. dazu Bartsch in der Einleitung zur Ausgabe des >Herzog Ernst< (1869), S. CXIVCXXIII; Hoppc (1952), 8.47-57; Behr/Blume (1995), S. 12-18; Kornrumpf (2000). 583

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Verweisen erzählt wird, während auf der Handlungsebenc das Motiv des Wunderschauens dominiert«. 588 Die Befreiung der Küken aus dem Glas wird im Speculum humanae salvationis< (1324?) als Überwindung der Hölle durch Christus verstanden.'89 Der Tempel Salomons schließlich kann typologisch auf das Schiff der ecdesia bezogen werden, auf dem »ein Entkommen vom Magnetberg der Sünde« möglich ist, auch wenn der Erzähler »keine expliziten Hinweise für eine solche Deutung« liefert und Reinfried das Kraut ausgerechnet von der Amazonenkönigin erhält, »deren eschatologische Funktion [...] gerade die Bedrohung der Gläubigen in Erinnerung ruft.« 590

Unabhängig von expliziten Erzählerkommentaren signalisieren die in den Exkursen aufgerufenen heilsgeschichtlichen Hintergründe den Kontext, in dem Reinfrieds Reise zum Magnetberg steht. Die wunder sind die Wunder der Schöpfung Gottes (vgl. 19698-19705, 22766-22771 u.ö.), wie sie in mittelalterlicher Literatur auch Alexander der Große, Herzog Ernst oder der heilige Brandan auf ihren Reisen er-fahren. Zwar sind wesentliche Handlungsschemata und Motive insbesondere dem Stoffkreis um Herzog Ernst entnommen, doch macht schon eine makrostrukturelle Änderung auf die unterschiedliche Funktion der jeweiligen Orientreisen aufmerksam. Während im >Herzog ErnstReinfriedHerzog Ernsts indem das Motiv des Seesturms durch die curiositas des Protagonisten ersetzt, die Gefährlichkeit des Magnetbergs (Schiffbruch, drohender Hungertod) durch eine List der Amazonenkönigin (schneidendes Kraut) neutralisiert und die Notwendigkeit der Rettung (Greifenrettung im >Herzog ErnstReinfricd< aus der Perspektive späterer Texte (ebd., Anm. 197, verweist Ridder auf Marco Polo, Jean de Mandeville und den >FortunatusReinfried< nur den Rezipienten, nicht aber den Protagonisten erreichen, nimmt auch Reinfried den Inhalt dieser (gleichwohl vom Erzähler wiedergegebenen) Binnenerzählung zur Kenntnis, indem er und seine Gefährten das in der Höhle aufgefundene Buch lesen. Damit wäre es den Reisenden möglich, »die Rätsel des Manung an >cvanuerunt< m Rom. 1,21), der Nichtigkeit anheimfallende Neugierde, wenn die Beobachtung der Umwelt und besonders der Über-Welt mit ihrer Himmelspracht und ihrem Umlaufrhythmus Selbstzweck und nicht nur Durchgangsstufe zur Erkenntnis der unvergänglichen Schönheit der göttlichen Transzendenz ist« (Oberman 1974, S. 20). 612 Blumenberg ('1984), S. 104; vgl. Oberman (1974), S. 12: »Eines ist Blumenbcrg von Anfang an ohne Vorbehalt zuzugestehen: gerade im Ringen um die Legitimität der Astronomie und — so würde ich hinzufügen - deren Hervorgehen aus der Astrologie spielt sich der Kampf um die curiositas ab.« 613 Vgl. Blumenberg 01984), S. 133. 614 Neudeck (1989^, S. 175; Vögel (1990), S.96. 6 " Neudeck (1989^, S. 177, Anm. 25. 188

gnetbergs in ihrer welt- und heilsgeschichtlichen Dimension, und d.h.: als Indikatoren des Kampfes zwischen jüdischer Weltherrschaft und christlichem Glauben zu entdecken.«610 Ihre Reaktion auf das Gelesene zeigt jedoch, daß sie das in einer Art Universalsprache abgefaßte Buch 6 ' 7 zwar zu lesen, dessen Sinn aber nicht zu begreifen vermögen, da sie das historischheilsgeschichtliche Exempel nicht auf sich beziehen und (vor allem) ihr Verhalten nicht ändern, das nach wie vor von Neugier und kurzewile dominiert ist: die fürsten rieh hie die geschiht hatten endelich anrissen. u nämen war des Steines wesen gar an allen enden. da von was den eilenden der tac ein kurzewile. (Reinfried 21714-21719)

Der heilsgeschichtliche Exkurs ist damit abgeschlossen; das Erfahrene tangiert die beiden Fürsten nicht. Für die Person des heidnischen Perserkönigs, der die Taufe abgelehnt und damit nach christlicher Vorstellung >blind< für die heilsgeschichtlichen Zusammenhänge ist, verwundert dies nicht weiter. Die Identifikation des Rezipienten mit dem Protagonisten wird jedoch zunehmend erschwert. Aus der Tatsache, daß der Erzähler die offensichtliche Fehlrezeption des Buches nicht negativ bewertet und nicht kommentiert, schließt Röcke, daß sich im >Reinfried< »die topische Verurteilung der curiositas gerade nicht bestätigt [...], sondern die Neugier auf Fremdes durch immer neue Erzählungen in der Erzählung« befriedigt werde.6'8 Auch Wand-Wittkowski schiebt die impliziten Hinweise auf ein Fehlverhalten des Helden mit der Begründung beiseite, daß sie nicht zu den Kommentaren des Erzählers und der Perspektive der Romanfiguren passen,6'9 und übersieht so die Funktion der Figuren und den Beitrag der Erzählerfigur zur Sinnkonstituierung. Das Ansehen, das Reinfried im Orient genießt, ist ebenso wie die Bewunderung, die Ratschläge und die Hilfeleistungen, die ihm von seinen Reisegefährten zuteil werden, stets unter der Voraussetzung zu verstehen, daß er sich in der Begleitung von Heiden befindet, die weder die Notwendigkeit sehen noch ein Interesse 616

Röcke (1996), S. 2 9 8f. Dies mag ein Hinweis auf die magischen Kräfte sein, mit denen das Buch (von Virgil) verfaßt wurde; die Aussage, daß es... also geschriben was / daz ez menneclich ivollas / von aller spräche zungen (Vv. 21303-21305), kann aber auch auf die Abfassung in lateinischer Sprache hindeuten, für die dies ebenso zuträfe. 618 Röcke (1996), S. 288, Anm. 13. 6ll > Wand-Wittkowski (20003), S. 3 29f. 617

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daran haben, ihn von seinem das Seelenheil gefährdenden Weg abzubringen.020 Von entscheidender Bedeutung ist, daß auch Reinfried diese Einsicht fehlt. Darin liegt die, vor allem von Ohlenroth ins Gespräch gebrachte,621 >Krise< des Helden begründet, die es zu überwinden gilt. Eine besondere Strategie des Textes kommt darin zum Ausdruck, daß nicht nur der Held seine schrittweise Verstrickung in die Wunder des Orients und das Sich-Verzetteln aufgrund von cunositas (zunächst) nicht wahrnimmt, sondern daß ihn der Rezipient auf diesem Irrweg begleitet. Dies bewirkt vor allem eine gegenüber der ersten Romanhälfte sich allmählich verändernde Haltung des Erzählers gegenüber den Figuren und den erzählten Ereignissen. Je weiter sich der bis zur Romanmitte uneingeschränkt positiv agierende Protagonist dem Negativen zuwendet, desto erkennbarer wird das Geschehen durch Exkurse und Binnenerzählungen in einen heilsgeschichtlichen Kontext eingebettet. Der Rezipient ist- ohne explizite Aufforderung durch den Erzähler - angehalten, das Handeln des Protagonisten vor diesem Kontrastprogramm zu bewerten. Er muß sich wie der Held - von der Darstellung und Beschreibung des wunderbaren Orients lösen und die mit der vana cunositas verbundene Gefährdung des Seelenheils erkennen, der nicht nur die Romanfigur, sondern potentiell auch er selbst ausgesetzt ist.622 Der Erzähler ruft nicht zu solcher Selbsterkenntnis auf, »er verzichtet auf eine explizite, christlich-moralisierende Ausdeutung und Kommentierung der curiositas des Protagonisten: Eine Diskussion der sündigen Sinnenhaftigkeit des Menschen unterbleibt.«623 Gefordert ist eine selbständige Bewertung der sich einstellenden Diskrepanz zwischen dem, was der Rezipient erfährt und dem, was Reinfried tut, durch die aktive Deutungsleistung des Rezipienten. Dies entspricht dem programmatisch im Prolog624 und noch mehrfach im Text verlangten Engagement des einzelnen zur Erlangung von saelde. Nur auf diese Weise er620

Wenn sich in der Tatsache, daß Reinfried im Kampf gegen den Perserkönig das Wappen der Minne zerschlägt (s.o.), symbolisch dessen (auch innere) Entfernung von Irkane ausdrückt, deutet auch die Zerstörung des braunschweigischen Löwenwappens durch den Perser (vgl. die Vv. 17424-17437) darauf hin, daß dieser Reinfried von seinen Pflichten als Ehemann und Landesherr von Braunschweig abhält. 621 Ohlenroth (1991), S. 75-77 u.ö. 622 Während der Gralprozession erfüllt der >ParzivalReinfriedWeltchronik< Rudolfs von Ems wird (als Zusatz zur >Imago mundi< des Honorius Augustodunensis) die Gegend um die Gold- und Silberinseln Agira und Argire (V. 1445) so bezeichnet: diz sint du lant in Eiulat (V. 1458, vgl. schon V. 292). 626 Röcke (1996), 8.290. 6i7 Röcke (1996), S. 290. I92

21874) ist gerade im alemannisch-schweizerischen Gebiet aus den Alexanderromanen sowie aus Ulrich Boners >Edelstein< bestens bekannt und wird für gewöhnlich - wie schon im >König Rother< (4954-4962) - als Warnung vor superbia verstanden.628 Auch die Reise des Herkules in alter zit (21894) zeigt die Grenzen menschlicher superbia auf: Bei Gibraltar, da al dm weh ein ende nint (21849), findet der Herr aus Ejulat die von Herkules errichteten Säulen, deren Inschrift er entnehmen kann, daz nie kein mensche fürbaz / mohte körnen, und dur daz / mäht er [Herkules] diz mit schrifte schin (21909-21911).62? Auch in diesem Fall dient die Rezeption schriftlich überlieferten Wissens dazu, dem Menschen die Begrenztheit seiner Existenz im göttlichen Kosmos aufzuzeigen. Reinfried jedoch zieht aus dem Gehörten andere Konsequenzen. Er will um jeden Preis selbst die todbringende Sirene sehen, die das Schiff des Herrn aus Ejulat versenkt hat, und ihren Gesang vernehmen. Curiositas läßt ihn jegliche Verantwortung vergessen: >zwär du kunst niemer hinnen e du din leben so verzerst, daz du endelich erverst umb der Sirenen stimme. si muoz mit tödes grimme daz leben mir zerstoeren. ich wil binamen beeren waz -wunderlicher sach ez si.< (Reinfried 22090-22097) Der Weltreisende warnt eindringlich vor dieser Begegnung und rekurriert damit auf die gängige Vorstellung von Sirenen im 13. Jahrhundert: 630 Wer 21

Der Stoffkrcis um Alexanders Reise zum Paradies geht zurück auf eine Erzählung aus dem Talmud und war im Mittelalter unter dem Titel >Alcxandri Magni iter ad Paradisum< bekannt. Das >Iter ad Paradisum< wiederum ist die Quelle für die Fortsetzung des unvollendeten >Alexanderlied< des Pfaffen Lamprecht im sogenannten >Straßburger Alexander« und im (nur spät überlieferten) >Basler Alexander«. Als Quelle für den >Reinfricd< kommt neben dem (vielleicht im 13. Jahrhundert im alem. Raum entstandenen) >Baslcr Alexander« und dem lat. >Iter ad paradisum« auch der >AlexanderEdelstein< enthält (ohne Nennung Alexanders) die Erzählung von einem edeln steine eins keiscrs / von angedenkunge des tödes (Nr. 87). 9 Die Inschrift bringt nicht der Herr aus Ejulat an, wie Röcke meint (1996, S. 290): Sie wird von Herkules in erlin siul, >Säulcn aus Erlenholz«, eingraviert; die Vv. 21894-21911 referieren insgesamt die Taten des Herkules (dazu Brommer '1986). 630 »Die allegorische Tradition hat sie zu Sinnbildern der Verführung und damit des ewigen Todes werden lassen« (Ebcnbauer i986b, S. 50). Hononus Augustodunensis beispielsweise erzählt von Sirenen, quce... sunt tres delectationes qua: corda hominum ad vicia molliunt et in somnium mortis ducunt (>Speculum Ecclesiae«, Sp. 855). Für ihn ist das Meer der Erd-

ihren verführerischen Gesang vernimmt,631 wird ertceret, bis er in voller lust ertrinkt (22012-22065), denn ... niemen dannen kan von ir mit lebendem libe kon. ir stimme hat an sich genon die sinne haz mit tddes mein denn isen dirre agestein, an dem man groziu wunder siht. (Reinfried 22108-22113)

Reinfried benötigt Leute, die das Schiff rudern, und riskiert so nicht nur sein eigenes Leben, sondern auch das seiner Untergebenen: st vorhten tddes arbeit / na dem er vestediche warp (222O2f .).6}2 Da ihn niemand begleiten will (vgl. 22188-22233), erpreßt er die Mitgereisten kurzerhand, so daß seine Begleiter durch Losentscheid bestimmt werden müssen: daz krüt ist min und ouch daz schif. die fiier ich hin, iuch muoz der grif des Steines eweclichen hän, ir gebent mir denn drige man die mit mir in die wage geben wellen lip und da zuo leben, des ich doch lützel angest habe. an daz krüt so mügent ir abe des Steines hoehe niemer kon. ir miiezent sterben, seht, da von sönt ir alle drate werden hie ze rate, ob ir gerne lange lebent, daz ir mir drt knehte gebent aid zem mimten zwene, die mich da dm Sirene ist snelleclichen bringen, aid mit keinen dingen mügent ir sicherlich genesen (Reinfried 22235-22253). kreis schlechthin, die Insel der Sirenen est mundi gaudium, sie selbst bezeichnet er als Sinnbilder von avaritia, iactantia und luxuria. Vgl. auch die bei Ebenbauer (i^Söb), S. 40, angeführten Belege aus dem >PhysiologusGesta RomanorumEtymachia