Erzählte mediale Prozesse: Medientheoretische Perspektiven auf den "Reinfried von Braunschweig" und den "Apollonius von Tyrland" 9783110628913, 9783110628227

This study examines the intense preoccupation with presenting medial processes evidenced in the love-and-adventure roman

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German Pages 720 [722] Year 2020

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Table of contents :
Vorwort
Inhalt
1 Einleitung
2 Getrennte Traditionen und geteilte Pfade: Vorbemerkungen zur Textwahl
3 Theoretische und begriffliche Grundlagen
4 Worte in Bewegung, Handlungen im Spiegel – Raum
5 Wissenswert und erinnerungswürdig – Zeit
6 Der Austausch mit höheren Wesen und die Ränder des Erfahrbaren – Sphäre
7 Kaleidoskope des Medialen: Ergebnisse der Auseinandersetzung mit erzählten medialen Prozessen im Reinfried von Braunschweig und im Apollonius von Tyrland
Anhang
Literaturverzeichnis
Index
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Erzählte mediale Prozesse: Medientheoretische Perspektiven auf den "Reinfried von Braunschweig" und den "Apollonius von Tyrland"
 9783110628913, 9783110628227

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Britta Maria Wittchow Erzählte mediale Prozesse

Trends in Medieval Philology

Edited by Ingrid Kasten, Niklaus Largier and Mireille Schnyder Editorial Board Ingrid Bennewitz, John Greenfield, Christian Kiening, Theo Kobusch, Peter von Moos, Uta Störmer-Caysa

Volume 37

Britta Maria Wittchow

Erzählte mediale Prozesse Medientheoretische Perspektiven auf den Reinfried von Braunschweig und den Apollonius von Tyrland

ISBN 978-3-11-062822-7 e-ISBN (PDF) 978-3-11-062891-3 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-062841-8 ISSN 1612-443X Library of Congress Control Number: 2019951823 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Vorwort Diese Arbeit ist eine für die Drucklegung überarbeitete Fassung meiner Dissertationsschrift, welche im September 2017 vom Fachbereich Sprache, Literatur, Medien der Universität Hamburg angenommenen wurde. Dementsprechend gilt mein Dank allen, die zur Entstehung der Arbeit und zur Überführung in das vorliegende Druckerzeugnis beigetragen haben. Einige davon möchte ich an dieser Stelle hervorheben. Zunächst möchte ich Ingrid Kasten, Mireille Schnyder und Klaus Largier für die Aufnahme in die Reihe, Elisabeth Kempf, Laura Burlon und Simone Hausmann für die unkomplizierte Betreuung von Verlagsseite danken. Die Drucklegung finanziell möglich gemacht hat das großzügige Preisgeld der Karl H. Ditze Stiftung, der ich für die Auszeichnung meiner Arbeit sowie auch allgemein für das Engagement in der Nachwuchsförderung in geisteswissenschaftlichen Disziplinen danke. Tiefgehender ist meine Dankbarkeit gegenüber allen, die mich während meines akademischen Werdegangs begleitet haben. Dazu zählen die DozentInnen der Freien Universität Berlin, die mich für ihre Themen, für den akademischen Austausch und das wissenschaftliche Arbeiten begeistert haben, sowie die vielen KommilitonInnen, die durch ihr Mitwirken in Seminaren, Vorlesungen und Pausen meine Motivation und mein Engagement befeuert haben und mir über die Studienzeit hinaus fachlich wie freundschaftlich zur Seite gestanden haben. Besonderer Dank gebührt Prof. Dr. Martin Baisch und Prof. Dr. Jutta Eming, die mich zuerst für die germanistische Mediävistik begeistert, in meiner Ausbildung gefördert und schließlich zur Promotion motiviert haben. Beide haben mich stets gewissenhaft beraten, konstruktiv kritisiert und einfühlsam betreut. Eine besonders wichtige Rolle gespielt haben meine KollegInnen an der Universität Hamburg, die maßgeblich zur inhaltlichen Weiterentwicklung meiner Arbeit beigetragen haben und die darüber hinaus als Freunde eine unverzichtbare Stütze waren. Für die nötige Zerstreuung und Perspektivierung gesorgt haben immer wieder die wundervollen Menschen in meinem privaten, nicht-mediävistischen

https://doi.org/10.1515/9783110628913-202

VI 

 Vorwort

Umfeld  – insbesondere vom Uni Wanderclub Berlin und dem Carl-Maria von Weber Gitarrenorchester. In jeder Lebenslage begleitet und damit wie selbstverständlich auch durch die Promotionsphase hindurch unterstützt und aufgebaut haben mich dankenswerterweise meine wichtigsten und langjährigsten Wegbegleiter – meine Eltern und mein Partner Simon. Für eure großen und kleinen Beiträge kann ich euch nicht genug danken. Euch allen sei diese Arbeit von ganzem Herzen gewidmet. Stuttgart, März 2020

Britta Maria Wittchow

Inhalt Vorwort  V 1 Einleitung  1 2 2.1 2.2

3 3.1 3.1.1 3.1.2 3.1.3 3.2 3.2.1 3.2.2

4 4.1 4.1.1 4.1.2 4.2 4.2.1

Getrennte Traditionen und geteilte Pfade: Vorbemerkungen zur Textwahl  12 Steckbriefe: Der Reinfried von Braunschweig und der Apollonius von Tyrland Heinrichs von Neustadt  12 Schnittmengen: Der Reinfried und der Apollonius als Epigonenwerke und als Vertreter des ,Liebesund Abenteuerromans‘  26 Theoretische und begriffliche Grundlagen  54 Kommunikation – Transmission – Transsphärische Interaktion  54 Die Textphänomene und das Theorieangebot zu ihrer Erschließung  54 Kommunikation als Leitbegriff und seine Differenzierung  65 Einflussreiche Dritte: Vorbemerkungen zu ,medialen Formen‘  79 Theoretische Zugänge zur medialen Situierung ,des Mittelalters‘  97 Schnittstellen mittelalterlicher und moderner Theoretisierungen  99 Mediales Spektrum und kommunikative Konventionen ‚im Mittelalter‘  105 Worte in Bewegung, Handlungen im Spiegel – Raum  115 Wider Stillstand und Zerfaserung: Boten und Briefe als lebensweltliche und literarische Phänomene  116 Fernkommunikative Instanzen als Erzählraumverknüpfer und Handlungsmot(ivat)oren  116 Ergänzung und Konkurrenz: Boten und Briefe als eigenständige Instanzen mittelalterlicher Fernkommunikation  129 Boten in hoher Mission: Mobilisierung von Informationen  156 Von der Nebensächlichkeit bis hin zum Abenteuer: Botenfiguren als Raumdurchquerer  156

VIII 

 Inhalt

4.2.2

Botenwort und Botenkörper: Die Multimedialität des Boten zwischen Repräsentation und Eigenständigkeit  169 4.3 Materialisierung und Konkretisierung durch Schrift  194 4.3.1 Inszenierungen physischer Kopräsenz: Briefe als Redebeiträge eines zerdehnten Gesprächs  196 4.3.2 Näher als nah: Strategien schriftlicher Emotionsvermittlung und der Blick in den Figureninnenraum  217 4.3.3 Überzeugende Kompositionen: Brieftexte als Beispiele rhetorischpersuasiver Textgestaltung  245 4.4 Fernkommunikative Experimente im Apollonius von Tyrland  265 4.4.1 Distanzschaffung und Ritualisierung: Die Werbungsbriefe für Lucina  266 4.4.2 Die Spiegelsäule als (Alb-)Traum einer direkten LiveÜbertragung  273 4.5 Zwischenfazit  286 5 5.1 5.1.1

Wissenswert und erinnerungswürdig – Zeit  292 Gegen den Ereignisstrom: Aspekte des Rückgriffs  292 Natürliches Erinnern, direkte Wissensweitergabe und die Grundmetaphorik des Speicherns  293 5.1.2 ,Wissen‘ und ,Erinnerung‘ als Kategorisierungsoptionen und die Aussagekraft dargestellter Transmission  310 5.2 Tragen – Singen – Sagen: Körpergebundene Bewahrungstechniken  325 5.2.1 Der Körper als Zugang zur eigenen Vergangenheit: Der Bart des Apollonius  325 5.2.2 Narratives Gedächtnis und klingendes Gedenken  344 5.3 Schreiben – Bauen – Bilden: Körperentbundene Strategien des Bewahrens  367 5.3.1 Am Rande der Banalität? Informationsstabilisierung durch Ein- und Aufschreiben  367 5.3.2 Grabmale als Zeugen von Tod und Identität  393 5.3.3 Säulen der Erinnerung: Ehrenmale als multimediale Träger im Apollonius von Tyrland  426 5.4 Zwischenfazit  444

Inhalt 

 IX

Der Austausch mit höheren Wesen und die Ränder des Erfahrbaren – Sphäre  449 Die Transgression der ultimativen Grenze in Theorie und 6.1 literarischer Praxis  449 6.1.1 Eine unerreichbare Insel und eine allzu gesprächsbereite Göttin: Illustrationen eines Verständnisses von transsphärischer Kommunikation im Apollonius von Tyrland  450 Theoretische Grundlagen mittelalterlicher Konzeptionen des 6.1.2 transsphärischen Kontakts  465 Sprechen zu Gott und mit seinen Stellvertretern  471 6.2 Lautstarke Bitten und stille Antworten: Gebete als immanentes 6.2.1 Mitteilungsmittel   472 6.2.2 In Gottes Namen oder im eigenen Interesse? Intersphärische Botenfiguren  516 6.3 Herausfordernde Blicke und aufdringliche Enthüllungen  564 6.3.1 Evidenz im binären Code: Der sigestain und die Prüfinstrumente im Apollonius von Tyrland  565 Träume als quasi-visuelle Offenbarungen mit besonderer 6.3.2 poetologischer Aussagekraft  584 Look, don’t touch: Die Versuchung transzendenter Offenbarung und 6.3.3 die Grenzen immanenter Reichweite  624 6.4 Zwischenfazit  654 6

7

Kaleidoskope des Medialen: Ergebnisse der Auseinandersetzung mit erzählten medialen Prozessen im Reinfried von Braunschweig und im Apollonius von Tyrland  658

Anhang  669 Literaturverzeichnis  671 Primärliteratur  671 Sekundärliteratur  672 Index  703 Sachregister  703 Personen- und Werkregister  705 Biblische und literarische Figuren  708

1 Einleitung Die Mitteilung gegenüber Anderen ist ebenso wie das Verständnis anderer Individuen und Kulturen eine zentrale Bedingung menschlichen Lebens; gleichzeitig ist sie dessen größte Herausforderung. Problemlose Verständigung lässt sich – wenn überhaupt – nur unter ganz bestimmten Bedingungen denken. Zwei Passagen aus dem Reinfried von Braunschweig und dem Apollonius von Tyrland veranschaulichen das besonders eindrücklich. Die Darstellungen eines mediations­losen kommunikativen Austauschs sprechen den Kern der Thematik an, die die beiden spätmittelalterlichen Texte vielfach, variantenreich und mit unterschiedlichen Schwerpunkten in den Blick nehmen und die im Zentrum dieser Arbeit steht: das Bemühen um möglichst authentische und irritationsfreie Ver- und Übermittlung von Informationen über physische Distanzen, Zeiträume und Sphärengrenzen durch einen notwendigerweise übertragenden, selektierenden, reduzierenden und transformierenden Prozess. In einer spannungsgeladenen und für mehrere Figuren schicksalshaften Situation kommt es im Apollonius von Tyrland des Heinrich von Neustadt1 zu einem folgenschweren Blickwechsel. Milgot, ein wundersames Wesen, dem der Protagonist Apollonius auf einer einsamen Insel begegnet, wird vom Schwarzmagier Albedacus gefangen und überwältigt. Jener möchte sich gewaltsam des Herzens des Tieres bemächtigen, da diesem eine besondere Kraft innewohnt (vgl. AvT, V. 6939–6998).2 Milgot, hilflos und mit dem Tode bedroht, ist auf Apollonius’ Hilfe angewiesen, eine sprachliche Bitte ist ihm jedoch ebenso wie die Mitteilung über Gesten verwehrt.3 Doch sein Blick vermag dem Helden seine Not sowie die Bitte um Hilfe mitzuteilen. Als Apollonius vor dem bewegungsunfähigen Tier steht, scheint dem Protagonisten, dieses spreche mit seinen Blicken zu ihm:

1 Verwendet wird die folgende Edition: Heinrich von Neustadt: Apollonius von Tyrland. Nach der Gothaer Handschrift, Gottes Zukunft und Visio Philiberti nach der Heidelberger Handschrift. 2., unveränd. Aufl. Hrsg. von Samuel Singer, Dublin/Zürich 1967 (Deutsche Texte des Mittelalters 7). Ein elektronischer Textabdruck ist über die URL http://www.mhdwbonline.de/Etexte/PDF/HVNST.pdf (21. Februar 2019) frei zugänglich. Für den Verweis auf diese Textausgabe, nach der sich alle Versangaben richten, dient das Kürzel AvT; im Fließtext wird der Kurztitel Apollonius verwendet. 2 Die hier angesprochenen Ereignisse werden nochmals in Kap. 6.3.1 und 6.3.3. thematisiert. 3 Es kann sich akustisch ausschließlich mit tierischem Gebrüll anderen Tieren verständlich machen (vgl. AvT, V.  6679–6683), Apollonius gegenüber begegnet es sonst mit Gesten (vgl. AvT, V. 6653–6657, 6701–6705). Nun ist es durch ein magisches Schriftstück zur Unbeweglichkeit gezwungen (vgl. AvT, V. 6970–6979, s. auch Kap. 6.3.3). https://doi.org/10.1515/9783110628913-001

2 

 Einleitung Das tier sach den kunig an, Sam es spräch ,werder man, Löse mir des todes pandt’ (AvT, V. 7041–7043)

Ist Apollonius’ Reflexion über seine Loyalität gegenüber Milgot auch bereits zuvor angestoßen (vgl. AvT, V.  7035–7040), so legt doch der direkte Anschluss seiner Befreiungs­tat an die dem Blick unterstellte Bitte – Apollonius zehant/Nam im den brieff ab (AvT, V. 7044f.) – eine direkte, unvermittelte Verständigung von Milgot und Apollonius über den Blick nahe.4 Der in dieser Szene kurz angedeutete unvermittelte Austausch zwischen zwei Figuren, welcher ein besonderes Verhältnis der Kommunikationspartner zum Ausdruck bringt, wird im Reinfried von Braunschweig5 in derselben Funktion umfang- und nuancenreicher geschildert. Der Sächsische Fürst Reinfried hat sich bei einem Turnier als bester Ritter erwiesen (vgl. RvB, V. 2050–2053) und von der Dänischen Prinzessin Yrkâne einen Kuss als Preis erhalten (vgl. RvB, V. 2349–2353). Im Rahmen der daraufhin befeuerten Minne stellt der Text einen ähnlich direkten Austausch zwischen den Verliebten dar; ihnen ist es nämlich möglich, einander in die Herzen zu schauen: ir ougen zemen swungen, daz sich die blicke drungen dur in ir herze arke. diu junge ûz Tenemarke lie hin ir ougen flücken, und kund daz blicken lücken im ûz dem herzen sinne. (RvB, V. 2881–2887)

Was sie dort sehen, lässt der Text offen. Darstellenswert ist nicht, was durch diese Kommunikation der Herzen geteilt wird, sondern dass durch gegenseitige Zuneigung eine unmittelbare Kommunikation möglich ist6 – und das nicht nur einma-

4 Den Eindruck einer kommunikativen Intensität der Blicke erweckt zudem der Kontrast zwischen der Kürze der befolgten ,Blick-Bitte‘ und den sprachlichen Anstrengungen der zurückgewiesenen Albedacus’schen Rede (vgl. AvT, V. 7010–7018, 730–7034). 5 Verwendet wird die folgende Edition: Reinfrid von Braunschweig. Hrsg. von Karl Bartsch, Tübingen 1871 (Bibliothek des literarischen Vereins in Stuttgart 109). Für den Verweis auf diese Textausgabe, nach der sich alle Versangaben richten, dient das Kürzel RvB; im Fließtext wird der Kurztitel Reinfried verwendet. 6 Als Verabredung über Blicke interpretiert die Textpassage ebenso Baisch, Martin: „durchgründen“. Subjektivierung und Objektivierung von Wissen im ,Reinfried von Braunschweig‘. In: Inszenierungen von Subjektivität in der Literatur des Mittelalters. Hrsg. von dems., Königstein 2005, S. 186–199, hier S. 192. Zum Blickwechsel zwischen verliebten Figuren vgl. Wandhoff, Haiko: Gefährliche Blicke und

Einleitung 

 3

lig: Auf dem Fest am Folgetag des Turniers sehnen Yrkâne und Reinfried sich nach dem jeweils anderen, können jedoch in dem gegebenen Kontext dem Bedürfnis nach physischer Nähe nicht nachkommen (vgl. RvB, V. 2896–2898, 2931–2935). Es gelingt allerdings, ein privates Treffen in einer Hütte zu organisieren (vgl. RvB, V.  3000f.),7 bei dem sie ungestört eine sprachbasierte Kommunikation führen könnten. Doch dazu kommt es zunächst nicht. Beide sind – wie die Erzählinstanz erläutert – gar nicht fähig, sich sprachlich auszudrücken (vgl. RvB, V. 3002– 3007). So bleibt der Austausch zunächst unvermittelt wie zuvor. Sie schauen sich minneclîchen an (RvB, V. 3009) und versinken in Gedanken, die darauf hinweisen, dass die Kommunikation der bereits in Liebe verbundenen Herzen sich nicht ohne Weiteres in sprachlichen Ausdruck umwandeln lässt.8 Beide sind so überwältigt, dass eine Überführung der Empfindungen in konventionelle Zeichen nicht gelingen kann. Erst die Worte der anwesenden Gehilfin Yrkânes bewegen Reinfried zu einer sprachlichen Äußerung (vgl. RvB, V. 3114–3123), welche allerdings mit der Behauptung einsetzt, nicht sprechen zu können (‚Waz sol ich sprechen? ich enkan./mîn zunge ist mir worden lan, RvB, V.  3131f.). Auch wenn sich anschließend die Kommunikation in konventionelle Bahnen begibt, betont der Text doch vor Auflösung der Zusammenkunft die Überlegenheit der direkten Verbindung, die zwischen den Herzen der Verliebten besteht. Die Gedanken fließen über den Blick in das Herz des jeweils anderen; Gefühle des Gegenübers sind dabei unmittelbar mitfühlbar:

rettende Stimmen. Audiovisuelle Choreographie von Minne und Ehe in Hartmanns ,Erec‘. In: ,Aufführung‘ und ,Schrift‘ in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hrsg. von Jan-Dirk Müller, Stuttgart 1996 (Germanistische Symposien-Berichte 17), S.  170–189, hier S.  171–173 mit Verweis auf Forschungsliteratur zu dem Motiv der durch den Blick entflammten Liebe auf S. 173, Anm. 8; zur Darstellung von Kultiviertheit zwischenmenschlicher Beziehungen durch Interaktionen, die von Visualität bestimmt sind, vgl. Müller, Jan-Dirk: Der Blick in den anderen. In: Sehen und Sichtbarkeit in der Literatur des deutschen Mittelalters. XI. Anglo-German Colloquium London 2009. Hrsg. von Ricarda Bauschke/Sebastian Coxon/Martin H. Jones, Berlin 2011, S. 11–34. 7 Yrkâne wendet sich an Reinfried, indem sie ihn anblickt; Reinfried, dessen Wahrnehmung die Erzählung hier einnimmt, versteht diesen Blick als Zuwinken – nu dûhte in, diu reine/im winhte mit den ougen (RvB, V.  2936f.). Allein auf Grundlage dieses Blicks folgt er ihr heimlich in die Hütte. 8 Vgl. RvB, V. 3004–3035, eine ausführliche Erklärung für dieses Phänomen liefert die Erzähl­ instanz in den Versen 3036–3111.

4 

 Einleitung sî hâte sîne sinne in ir herz beslozzen. von ir ist geflozzen ir sin zuo sînem herzen. sî leit sînen smerzen und truog er iren kummer. (RvB, V. 3774–3779)9

Eine sprachliche Vermittlung scheint vollkommen überflüssig und angesichts der vorherigen Schwierigkeiten auch defizitär. So verabschieden sich Reinfried und Yrkâne dann auch nicht mit Liebesschwüren, sondern mit Blicken.10 Für intensiv miteinander verbundene Figuren, die sich gegenüberstehen, erwägen beide Texte die Möglichkeit einer direkten Mitteilung über den Blick. Die zuletzt beschriebenen Szenen heben mit der Darstellung verlustfreier und unvermittelter Kommunikation zwischen Reinfried und Yrkâne aber nicht nur besonders deutlich die exzeptionelle Qualität der emotionalen Verbindung der Protagonisten hervor. Sie exponieren auch zwei essenzielle Aspekte, die der Apollonius in seiner Präsentation des Blickgesprächs – ebenso Darstellungsform einer besonderen Beziehung – stillschweigend voraussetzt. Dass eine gegen­ seitige Versicherung der Zuneigung über sprachliche Ausdrucksformen zumindest von der dritten anwesenden Figur als notwendig empfunden wird, zeigt, dass rein innerliche Verständigung ohne Überführung in ein konventionelles Format nicht ausreicht, um Gewissheit herzustellen.11 Jene Überführung erweist sich jedoch als äußerst schwierig. Die geforderte lautliche Konkretisierung von Gedanken und Empfindungen ist eine unbewältigbare Aufgabe – sogar im direkten Angesicht des Gegenübers. Selbst in diesen dezidierten Ausnahmeerscheinungen zeigt sich, was andere Kontexte von Verständigung umso mehr betrifft. Jegliche Mitteilung, die außerhalb eines Verhältnisses exzeptioneller Verbundenheit getätigt werden soll, benötigt eine sinnlich fassbare Formgebung, eine vollkommene Abbildung des originären Ausdruckswunsches ist in dieser jedoch nicht möglich. Die Szenen veranschaulichen sowohl die Notwendigkeit der Überführung als auch die Schwierigkeit einer adäquaten Umsetzung. Indem

9 Mit ähnlichen Formulierungen wird die Einheit betont, als die physische Trennung der Liebenden bevorsteht (vgl. RvB, V. 4226–4238 sowie V. 4318–4325). 10 Der Austausch von Zärtlichkeiten findet mit senelîchez blicken (RvB, V. 3811) und einer Verflechtung ihrer Blicke (vgl. RvB, V. 3820–3823) statt, die schließlich zu einem – selbstverständlich keuschen – Verschlingen der Körper führt (vgl. RvB, V. 3828–3897). 11 Auch im Apollonius wird das zumindest insofern sichtbar, als die Erzählinstanz die Aussage­ kraft in eine hypothetische Aussage (Sam es spräch …, AvT, V. 7042) überführt, um von ihr zu berichten.

Einleitung 

 5

die jeweiligen Erzähl­instanzen die TextrezipientInnen sprachlich an den (für die Figuren nicht zu versprachlichenden) Empfindungen und Wahrnehmungen teilhaben lassen, bringen die Passagen darüber hinaus zum Ausdruck, dass auch der Vorgang des literarischen Erzählens ein Mediationsvorgang ist, der sich angesichts der Unmöglichkeit unmittelbarer Erfahrung im Medium der Sprache einer Unmittelbarkeit erzeugenden Darstellung stets nur annähern kann. Menschen besitzen das Bedürfnis, Informationen12 zu erlangen, zu teilen, zu fixieren, verfügbar und erfahrbar zu machen. Wie anschaulich geworden ist, ist dazu Äußerung nötig, welche an eine bestimmte Aufbereitung gebunden ist. Nur in der kommunikativen, äußerlich wahrnehmbaren und bedeutungsgeladenen Formatierung kann ein semantischer Gehalt als Informationseinheit generiert und wahrgenommen werden und nicht nur über die Grenze des menschlichen Körpers hinaus fassbar werden, sondern auch größere Kommunikationshindernisse überwinden, „über institutionelle, soziale, politische oder auch geographische Grenzen hinweg[…]gleiten“.13 Nur durch die Überwindung räumlicher Distanzen können wichtige Beziehungen gepflegt werden und Kulturtransfers, die neue Impulse hervorbringen, zwischen entlegenen Gebieten stattfinden. Nur das, was jedeR Einzelne fähig ist, präsent zu halten, prägt die Identität und nur diejenigen Einfälle und Ereignisse, die über längere Zeiträume hinweg fixiert werden, können als Wissensbestände und Erinnerungen Teil ,kollektiver Identität‘ werden. Daher werden stets neue Techniken und Strategien der Mitteilung entwickelt,14 mithilfe derer die Grenzen, die die Kommunikation behindern, überwunden werden. Produkte dieser Strategien bezeichnet man alltagssprachlich als ,Medien‘. Als Mittel der eigenen Äußerung und Zugang zu externalisierten Informationen spielen sie eine elementare Rolle für die Übermittlung wichtiger

12 ,Information‘ wird hier heuristisch als eine Einheit semantischen Gehalts verstanden. Der Begriff dient hauptsächlich der Vermeidung anderer Begriffe wie ,Wissen‘ und ,Daten‘, welche Forschungsbegriffe mit spezifischerer Bedeutung darstellen und/oder unpassende Konnotationen tragen, vgl. dazu Kap. 3.1.2 und 5.1.2. 13 Sarasin, Philipp: Was ist Wissensgeschichte? In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 36 (2011), S. 159–172, hier S. 164. 14 Zur anthropologischen Universalität der Arbeit an immer effektiveren Methoden des Umgangs mit Informationen vgl. Wandhoff, Haiko: Der epische Blick. Eine mediengeschichtliche Studie zur höfischen Literatur, Berlin 1996 (Philologische Studien und Quellen 141), S. 15, Debray, Régis: Einführung in die Mediologie. Facetten der Medienkultur, Bern, Stuttgart, Wien 2003, S. 57.

6 

 Einleitung

Informationen und die Ausbildung kultureller Güter und kulturtheoretischer Diskurse einer Gesellschaft. Bemühungen um Ver- und Übermittlung sind in unterschiedlicher Hinsicht aussagekräftig. Zum einen weisen mediale Vorgänge ihre Inhalte aus: Alles, was kommuniziert und übermittelt wird, besitzt qua Vermittlung Relevanz, ist mitteilungswürdig. Die Techniken der Mitteilung zwingen dabei zu einer Schwerpunktsetzung, die von Relevanzhierarchien innerhalb der jeweils verhandelten Themenbereiche zeugt. Es zeigt sich, welche Diskurse im Rahmen menschlicher Bemühungen um Vermittlung eine Rolle spielen und welchen Beitrag wiederum die Produkte dieser Bemühungen zu den jeweiligen Diskursen leisten bzw. welche Standpunkte sie vertreten. Indem die Grenzen des menschlichen Interaktionsrahmens mittels technologischer Innovationen hinterfragt und verschoben werden, regelmäßig aufs Neue getestet wird, was jeweils vermittelbar und erfahrbar ist und was verborgen bleibt, sich endgültig entzieht und welcher Grad an Unmittelbarkeit erreicht werden kann,15 weisen die Herausforderungen medialer Vorgänge immer auch auf elementare epistemologische Fragen hin. Diese Aussage­kraft wird eher bei äußerlich wahrnehmbaren kommunikativen Herausforderungen, also bei räumlich oder zeitlich zerdehnten Prozessen, sichtbar. Ist realen medialen Vorgängen ein solches diskursives Potenzial auch stets inhärent, so bleiben ihre gemeinschaftsstiftenden und kulturbildenden Funktionen sowie die Aussagekraft ihrer Produkte im Alltag meist unreflektiert.16 Künstlerische Darstellung und Ästhetisierung können diese Aspekte ins Bewusstsein rufen und somit zum Medium kommunikativer Bemühungen und medialer Strategien werden. Über die Darstellung kommunikativer Prozesse ist etwas über die Vorstellungen dieser Prozesse selbst, über die suggerierten Ableitungskompetenzen, die vorausgesetzten Wissensbestände und medialen Konventionen, zu erfahren. Darüber hinaus sind sie selbst mit den Möglichkeiten und Grenzen des Vermittelns konfrontiert und besitzen daher eine gewisse Prädestination, zugleich

15 „Man kann sagen, dass der Wunsch nach ,Unmittelbarkeit‘, nach unverstellter, ,direkter‘, umfassender Kommunikation, dem intuitiven Teilen von Gedanken und Gefühlen, die Mediengeschichte von Beginn an begleitet. Der Wunsch nach Unmittelbarkeit negiert den Vermittler. Medien sind ebenso undurchsichtig/opak wie transparent.“ (Winkler, Hartmut: Basiswissen Medien, Frankfurt a. M. 2008, S. 301). 16 Die Leistung, über unterschiedliche Grenzen hinweg kommunikativ und informativ zu agieren, der Funktionsweise medialer Formen und den für ihren Gebrauch vorausgesetzten Anforderungen zu entsprechen wird angesichts des täglichen Umgangs mit einer Vielzahl von medialen Formen ebensowenig wie ihre Relevanz für die Kommunikationsformen und die Kultur einer Gesellschaft wahrgenommen. All diese Aspekte bleiben dementsprechend unreflektiert: „Medien­ nutzung ist weitgehend unbewusst“ (hier S. 11).

Einleitung 

 7

über das eigene Funktionieren / Wirken und mediale Techniken zu reflektieren. So ist den in Literatur dargestellten Prozessen, welche Repräsentationen realweltlicher Möglichkeiten darstellen, diese aber zusätzlich kommentieren und im Raum des Imaginären17 expandieren, ein umso höheres diskursives Potenzial zuzuschreiben und so verspricht eine Beschäftigung mit literarischer Darstellung von Medieneinsatz  – insbesondere von exzeptionellen, wirklichkeitsfremden Phänomenen18 – umso aufschlussreicher zu sein. Daher widmet sich diese Arbeit genau solchen, im Bereich der literarischen Darstellung angesiedelten Prozessen. Sie konzentriert sich auf Schilderungen, die die Hindernisse, die Kommunikation innewohnen, auf Handlungsebene ausdehnen, auf Konstellationen, in denen Kommunikationspartner im physischen Sinne voneinander getrennt sind. Dabei  – so die grundlegende Annahme – finden vermittelnde Instanzen und Vermittlungsprozesse augenfällige Entfaltung und rücken deren Funktions­ mechanismen in den Blick. An ihnen sollen die Funktionsweisen, Potenziale und He­raus­forderungen erzählter medialer Transgression inklusive der darüber sichtbar werdenden Diskurse,19 der durch sie eröffneten Darstellungsräume und poetologischen Reflexionen betrachtet werden.

17 Wolfgang Iser (vgl. Iser, Wolfgang: Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie, Frankfurt a. M. 1991 [Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 1101]) und in seiner Nachfolge Rainer Warning (Warning, Rainer: Fiktion und Transgression. In: Fiktion und Fiktionalität in den Literaturen des Mittelalters. Jan-Dirk Müller zum 65. Geburtstag. Hrsg. von dems., München 2009, S. 31–55) versuchen mit dem Begriff des Imaginären theoretisch die pro­ blematische Dichotomie von Fiktivem und Realem zu erweitern. Das Fiktive steht dabei mittig von Realem (institutionalisiertes Wissen einer bestimmten, je historischen sozio-kulturellen Form) und Imaginärem (dynamisches, nur in Phantasie Präsentes) und wird durch so genannte Akte des Fingierens hervorgerufen. Diese sind als Grenzüberschreitungen zwischen dem Realen und Imaginären zu verstehen, wodurch Ersteres irrealisiert, Letzteres realisiert wird (vgl. Warning, Fiktion, S. 40–47). 18 Die besondere diskursive Aussagekraft von Kunst (Literatur) liegt – so Carey – in der Fähigkeit, Zusammenhänge so zu exponieren und zu verfremden, dass ihnen besondere Aufmerksamkeit zuteil wird: „A wise man once defined the purpose of art as ,making the phenomenon strange‘. Things can become so familiar that we no longer perceive them at all“ (Carey, James W.: Communication as Culture. Essays on Media and Society. Revised Edition, New York 2009 [1989], S. 19). 19 Zu den Grundlagen und Grundbegriffen diskursanalytischen Vorgehens vgl. Foucault, Michel: Archäologie des Wissens, übers. von Ulrich Köppen. 7. Aufl., Frankfurt a. M. 1995 (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 356), insbes. S. 156; Fohrmann, Jürgen: Diskurs. In: Real­lexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literatur­ geschichte Bd. 1 A–G, 3., neubearb. Aufl., Berlin, New York 1997, S. 370–372. Für diskursanalytische Perspektiven auf Medien und Medialität spricht sich in der Filmwissenschaft Tröhler, Margrit: Medialität und Materialität. Beiträge der Filmwissenschaft zu einem interdisziplinären

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 Einleitung

Im Fokus der Arbeit sollen die bereits eingangs zitierten Texte, der auf das späte dreizehnte oder frühe vierzehnte Jahrhundert datierte Apollonius von Tyrland des Heinrich von Neustadt und der anonym überlieferte, vermutlich etwas ältere Reinfried von Braunschweig,20 stehen. Sie gleichen sich nicht nur in inhaltlich-thematischer Vielfalt und Ausrichtung, in Umfang, editorischer Aufarbeitung und im Ausmaß ihrer mediävistischen Erforschung. Die Vielzahl an Passagen in beiden Texten, die Bemühungen um grenzüberschreitende Kommunikation darstellen, bezeugt das für die gemeinsame Betrachtung in dieser Arbeit ausschlaggebende, jeweils auffällig stark ausgeprägte Interesse an Möglichkeiten, kommunikative Hindernisse zu überwinden. Es werden Briefe geschrieben, Boten gesandt, Informationen schriftlich fixiert, Erinnerungszeichen gesetzt, Lieder erdichtet, Grabmale entworfen und Ehrenmale errichtet; durch den Austausch mit Mittlern und Propheten, den Umgang mit wunderbaren Objekten, durch Träume und den Blick in die Sterne und in Zauberspiegel kommt es zu Grenzüberschreitungen ungewöhnlicher Qualität, bei denen die medialen Möglichkeiten ausgereizt und die Grenzen des Vermittelbaren sichtbar werden. Dieses Darstellungsinteresse verweist nicht nur auf eine Beschäftigung der Texte mit medialen und – ob der literarischer Darstellung inhärenten Vermittlungsherausforderungen – auch poetologischen Fragen, sondern legt – besonders vor dem Hintergrund der betrachteten Textbeispiele – auch eine hohe narrative Attraktivität medialer Textelemente nahe. Die medientheoretisch geleitete Analyse des Reinfried von Braunschweig und des Apollonius von Tyrland verfolgt mehrere Ziele. Generell treibt sie die Erschließung der die Forschung nachhaltig irritierenden Texte voran, deren Mediations­vorgänge bislang nur vereinzelt am Rande, noch nie im Zusammenhang betrachtet wurden. In erster Linie soll aber durch die Auseinandersetzung mit den unterschiedlichsten medialen Phänomenen der Medien- und Medialitäts-Diskurs, der implizit und explizit in den Texten entwickelt wird, offengelegt und das narrative wie poetologische Potenzial, das mit dem Auserzählen medialer Vorgänge verbunden ist, beschrieben werden. Darüber hinaus hat die Untersuchung in zweifacher Hinsicht exemplarischen Charakter. Bei den thematisier-

Diskurs. In: NCCR Mediality Newsletter 12 (2014), S.  16–20 aus: Es sei vielversprechend, „[…] mediale Phänomene in einem kontingent kulturellen Feld als hypothetische Rekonstruktion beobachtbar zu machen und danach zu fragen, was zu einer bestimmten Zeit wahrnehm- und darstellbar war, welche Ausdrucks- und Vermittlungsformen dafür vorgeschlagen wurden, welche Rezeptionsmodi und Reaktionen darauf antworten“ (hier S. 19). 20 Die genaue Datierung ist jeweils umstritten. Für eine Darstellung der Datierungshypothesen s. Anm. 2/9; 2/13. Die Verweise auf Anmerkungen an anderer Stelle dieser Arbeit verfahren nach dem Muster Kapitelnummer/Anmerkungsziffer.

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ten Texten handelt es sich um Vertreter der sogenannten spätmittelalterlichen ,Liebes- und Abenteuerromane‘.21 In vielen dieser Bezeichnung zugeordneten Texte – so bspw. im Mai und Beaflor, Flore und Blanscheflur, Wilhelm von Österreich, Partonopier und Meliur – nehmen mediale Phänomene und deren grenzüberwindendes Potenzial eine entscheidende Rolle ein, sodass sich der Umgang mit und das Interesse für Medialität als Charakteristikum zur Geltung bringen ließe, das die Gruppierung unter eine ,Textgattung‘ stützt. Die Produktivität einer solchen Perspektivierung kann in einer ersten Fallstudie geprüft werden. Wichtiger ist allerdings der ebenso exemplarisch zu verstehende Blick auf erzählte mediale Prozesse als Schlüssel zu anderen kulturtheoretischen Diskursen. Die unterschiedlichen Hindernisse, die die medialen Instanzen überwinden, exponieren Stärken konkreter medialer Techniken, aber auch die Möglichkeiten und Grenzen von Vermittlung im Allgemeinen. Durch das breite phänomenologische Spektrum der Texte rücken vielfältige Bereiche von Informationsmanagement in den Blick und es entfaltet sich ein Diskurs über Medien und Medialität. Das Erzählen von spezifischen Maßnahmen der Vermittlung legt darüber hinaus Frage­stellungen frei, die durch Kommunikationsherausforderungen aufgeworfen werden. So bahnt die Analyse auch den Blick zu benachbarten Themenbereichen und zeigt, welche Betrachtungsmöglichkeiten der medial geleitete Blick eröffnet. Gemeinsamer Nenner ist bei der Auseinandersetzung mit den Phänomenen die Frage, wie das Abwesende und unmittelbar nicht Wahrnehmbare durch die Überwindung jeweiliger Grenzen durch das vermittelnde Dritte wahrnehmbar, verfügbar werden kann. Die vergleichende Betrachtung zweier ähnlicher Texte dient dabei vor allem der gegenseitigen Beleuchtung, der besonderen Hervorhebung unterschiedlicher Schwerpunktsetzungen wie auch schlagender Gemeinsamkeiten. Nicht zuletzt verspricht die genaue vergleichende Auseinandersetzung mit den Texten auch, ihre jeweiligen Interessensgebiete und erzählerischen Charakteristika genauer zu erschließen. Im Sinne dieses Vorhabens folgt nach der Vorstellung der behandelten Texte und der Begründung ihrer Zusammenstellung (Kap. 2) eine theoretische Einführung in die verwendeten Begrifflichkeiten. Die im Zentrum der Analyse stehenden Begriffe ,Kommunikation‘ und ,Medien‘/,mediale Formen‘ bedürfen – vor allem angesichts ihrer semantischen Breite, ihrer alltagssprachlichen (und auch wissenschaftlichen) Verwendung sowie der Diversität der darunter gefassten Textphänomene – einer ausführlicheren Erläuterung. Obwohl sich gerade in

21 Dieser momentan gebräuchliche Begriff wird in seiner Genese, seinen Charakteristika, seinem Umfang sowie seiner Forschungsgeschichte im Zusammenhang mit den Erläuterungen zur Textauswahl (Kap. 2.2) betrachtet.

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den letzten fünfzehn Jahren viele Disziplinen, darunter auch die germanistische Mediävistik, mit unterschiedlichen Ausprägungen von Kommunikationsformen und -techniken beschäftigt haben, ist der Auseinandersetzung mit literarischen Phänomenen in konkreter Textarbeit noch wenig Aufmerksamkeit zugekommen.22 Daher ist die Schärfung und Diskussion eines für die Analyse praktikablen und dennoch theoretisch scharfen Medienbegriffs unter Rückgriff auf die aktuellen Kommunikations- und Medientheorien eine wichtige Vorarbeit (Kap.  3). Sowohl die nachrichtentechnischen als auch die konstruktivistisch gefärbten Modelle, die diese Begriffe ins Zentrum ihrer Forschung gestellt haben, werden in diesem Arbeitsschritt dargestellt, reflektiert und auf ihre Verwendbarkeit im weiteren Vorgehen geprüft. Aus der neueren Theorie verspricht vor allem die sich von der klassischen Kommunikations- und Medienwissenschaft abgrenzende Mediologie, die ihren Schwerpunkt weniger auf bestimmte Materialitäten als auf die Funktionsweise setzt und die Bedingungen der Möglichkeit von Kommunikation in ihre Überlegungen einbezieht,23 für die begriffliche Zuschneidung nutzbar zu sein. Alle Überlegungen werden in Anlehnung an die bisherigen Historisierungsversuche durch die germanistische Mediävistik24 auf den mittelalterlichen Forschungsgegenstand hin perspektiviert. Die Thematisierung der Anschluss­ fähigkeit der angestellten Überlegungen an zeitgenössische Vorstellungen medialer Prozesse und die Verwendbarkeit der ,modernen‘ Begriffe angesichts der alteritären medialen Lebenswelt im Kontext der Textproduktion und -rezeption schließt daher den theoretisch-methodischen Teil ab. Im anschließenden Analyseteil werden die dargestellten Mediationsvorgänge grundsätzlich nach der Art ihres Transgressionspotenzials kategorisiert. Sie werden unter den Schlagworten ,Raum‘, ,Zeit‘ und Sphäre‘, welche auf die Dimension der jeweils medial überbrückten Distanz verweisen, besprochen. Jede dieser Dimensionen birgt andere Herausforderungen, zeigt andere Möglichkeiten, markiert andere Grenzen und dementsprechend drängen sich jeweils andere medientheoretische Fragestellungen und Diskurse bei ihrer Untersuchung auf. Begonnen wird mit den Mediationsprozessen, die in ihrem transgressiven Wirken auch aus moderner Perspektive eher unauffällig sind, um sich dann zu den

22 S. für die Auseinandersetzung mit den Begrifflichkeiten Kap. 3.1, für die Auseinandersetzung mit der mediävistischen Perspektive Kap. 3.2. 23 S. dazu Kap. 3.1. 24 Vgl. Lauer, Claudia: Der arthurische Mythos in medialer Perspektive. Boten-Figuren im Iwein, im Parzival und im Lanzelet. In: Artusroman und Mythos. Hrsg. von Friedrich Wolfzettel/ Cora Dietl/Matthias Däumer, Berlin, Boston 2011 (Schriften der Internationalen Artusgesellschaft. Sektion Deutschland, Österreich 8), S. 41–68, hier S. 44. Sie nennt die Beiträge Christian Kienings, mit denen auch in dieser Arbeit gearbeitet wird (s. Kap. 3.2.1 und 3.2.2).

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exzeptionellen, den Mediationsbegriff stärker strapazierenden Grenzüberschreitungen vorzuarbeiten. So bietet es sich an, zunächst die Textsituationen in den Blick zu nehmen, in denen durch Fernkommunikation räumliche Grenzen überwunden werden (Kap. 4), sich anschließend den Prozessen zu widmen, in denen über Zeiträume hinweg individuelle oder kollektive Erinnerungs- und Wissensbestände fixiert und rezipiert werden (Kap. 5), und am Ende Fälle am Rande des modernen Mediendiskurses zu beobachten: sphärische Grenzüberschreitungen, in denen die Figuren sich dem Kontakt mit und der Erfahrung von Transzendenz annähern (Kap. 6). Fokussiert auch jedes Kapitel eine andere Qualität der Grenzüberschreitung, die die medialen Formen meistern, so geht es in jedem Falle darum, über die Offenlegung der Transformations- und Selektionsvorgänge in der medialen Umsetzung semantischen Gehalts und über die Zugänglichkeit, Verständlichkeit und Wirkung der medialen Formatierung die in den Texten entwickelten Mediendiskurse nachzuzeichnen und die weiterführenden Themenkomplexe, die über die von medialen Phänomenen erzählenden Passagen angesprochen werden, herauszuarbeiten. Es soll zum einen geklärt werden, wie mithilfe der jeweiligen medialen Instanzen Inhalte aufbereitet und transformiert werden, wie sie in der Kommunikation mit ihren Rezipienten funktionieren und welche Anforderungen sie an diese stellen. Zum anderen soll die soziale Indikatorfunktion der dargestellten Transgressionsprozesse genutzt werden, um zu untersuchen, welche Aspekte in diesem Vorgang als relevant, wissenswert und erinnerungswürdig markiert werden, was als vermittel- und darstellbar empfunden wird und wo mediale Strategien mit ihrem transgressiven Potenzial (bzw. Figuren in ihrem Umgang mit den Mittlerinstanzen) an ihre Grenzen stoßen. Daran anschließend soll herausgearbeitet werden, welche Diskurse über die Darstellung des Mediengebrauchs aufgerufen und verhandelt werden, welche Positionen sie vorstellen bzw. wie sie sich positionieren. Einführungen zu den jeweiligen Diskursthemen werden in die Analysekapitel integriert, damit ein direkter Bezug zwischen bisherigen wissenschaftlichen – insbesondere mediävistischen – Ansätzen und Textbeobachtungen entsteht, die Theorie nicht isoliert bleibt, sondern in Interaktion mit der Textanalyse tritt. Gleichzeitig sollen die narrative Funktion und die poetologische Aussagekraft, die die jeweiligen Erzählelemente besitzen, berücksichtigt werden. So wird über das Bindeglied des Medialen ein Spektrum der Bestrebung, zu vermitteln, entfaltet, das das menschliche Interesse an medialen Prozessen, den literarischen Reiz und das poetologische Potenzial ihrer Darstellung sowie auch die literaturwissenschaftliche Fruchtbarkeit einer medial fokussierten Lektüre spätmittelalterlicher Texte gleichermaßen zur Darstellung zu bringen versucht.

2 Getrennte Traditionen und geteilte Pfade: Vorbemerkungen zur Textwahl Den Reinfried von Braunschweig und den Apollonius von Tyrland im Zusammenhang zu betrachten ist keine ganz neue Idee. Wolfgang Achnitz behandelt diese beiden Texte vergleichend in seiner Habilitationsschrift; bereits zuvor nutzt Peter Dreher sie in seiner Dissertation über mittelalterliche Brieftraditionen für seine literaturorientierten Beobachtung.1 Dennoch bedarf die neu perspektivierte Zusammenführung dieser literarischen Erzeugnisse, die zwar Ähnlichkeiten aufweisen, jedoch weder stofflich noch produktions- oder rezeptionstechnisch direkt miteinander verbunden sind, einer eigenen Begründung. Auf eine detaillierte Einführung der behandelten Texte wird verzichtet. Im Folgenden werden sie jedoch mit Fokus auf ihre Zusammenstellung kurz vorgestellt, hinsichtlich ihrer mediävistischen Erforschung skizziert und innerhalb der Literatur des Mittelalters, insbesondere der Textsorte des ,Liebes- und Abenteuerromans‘, positioniert.

2.1 Steckbriefe: Der Reinfried von Braunschweig und der Apollonius von Tyrland Heinrichs von Neustadt Beim Reinfried von Braunschweig handelt es sich um einen spätmittelalterlichen Versroman ungewöhnlichen Ausmaßes. Auf einer Länge von 27627 Versen entfaltet er eine Erzählung von einzigartiger und schwer überschaubarer Themenvielfalt. Er erzählt zunächst von dem konfliktbehafteten, aber schließlich erfolgreichen Bemühen des Braunschweiger Fürsten Reinfried um die Dänische Königstochter Yrkâne (vgl. RvB, V. 147–12658), dann von dessen Kreuzzug im Dienste erhoffter Nachkommenschaft (vgl. RvB, V.  12919–18181). Im Zuge dieser Unternehmung

1 Achnitz, Wolfgang: Babylon und Jerusalem. Sinnkonstituierung im ,Reinfried von Braunschweig‘ und im ,Apollonius von Tyrland‘ Heinrichs von Neustadt, Tübingen 2002 (Hermaea. Germanistische Forschungen 98). Auf Grundlage der Textauswahl ließe sich diese Arbeit als Anschluss an Achnitz’ Ausführungen verstehen, durch die verschiedenen Fragerichtungen (s. Kap. 2.2 insbes. Anm. 2/104) sind jedoch außer in Einzelbeobachtungen kaum argumentative Überschneidungen zu erwarten. Die Ausführungen bei Dreher widmen sich Passagen und Aspekten, die auch für diese Arbeit relevant sind; die Beobachtungen gehen jedoch nicht in die Tiefe, da die Arbeit vorwiegend mit der breiteren Erschließung der mittelalterlichen Brieftradition und nur am Rande mit der literarischen Analyse beschäftigt ist (vgl. Dreher, Peter: Enclosed Letters in Middle High German Narratives, Riverside 1979; den Reinfried und den Apollonius bespricht er auf den S. 164–198). https://doi.org/10.1515/9783110628913-002

Steckbriefe: Reinfried von Braunschweig – Apollonius von Tyrland 

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schließt der Protagonist Freundschaft mit dem Persischen Prinzen und durchlebt gemeinsam mit diesem eine Reihe von Abenteuern im Orient, bevor er die Rückreise antritt (vgl. RvB, V. 18182–27206). Damit ist die Geschichte noch nicht abgeschlossen, der unikal überlieferte Text2 bricht jedoch während der Schilderung der Heimreise (vgl. RvB, V. 27207–27627)3 mitten in einer Szene, ja mitten in einem Satz, ab und lässt sowohl Fortgang und Ende der Geschichte als auch den geplanten Textumfang im Dunkeln.4 Auch der zweite Versroman im Fokus dieser Arbeit erreicht mit seinen insgesamt 20644 Reimpaarversen einen beeindruckenden Umfang. Hier steht im

2 Die schon dem Beginn der Reinfried-Forschung entstammenden Informationen zur Überlieferungslage, Zustand und Charakteristika der Handschrift von Karl Bartsch (s. Bartsch, Karl: Schluszwort des Herausgebers. In: Reinfrid von Braunschweig, hrsg. von dems., Tübingen 1871 [Bibliothek des literarischen Vereins in Stuttgart 109], S.  804–812, hier S.  804–806), besitzen noch heute ihre Gültigkeit. Die Beschäftigung mit der Überlieferungs- und Editionslage in Achnitz’ Habilitationsschrift sowie in dessen Faksimileausgabe der Handschrift fügt dem dortigen Wissensstand Details hinzu, bestätigt diesen aber durchgehend (für eine ausführliche Beschreibung der Handschrift vgl. Achnitz, Babylon und Jerusalem, S.  23–26; Achnitz, Einleitung, S. XXVII–XXIX sowie Eisermann, Falk: Memb. II 42 ,Reinfried von Braunschweig‘ http://www. manuscripta-mediaevalia.de/hs/projekt-Gotha-pdfs/Memb_II_42.pdf, [21. Februar 2019]). Zur Provenienz, zu Entstehung und zum Weg der Handschrift vgl. Schröder, Edward: Die Gothaer Pergamenths. des Reinfrid von Braunschweig. In: Zeitschrift für deutsches Altertum 64 (1927), S.  316; Eisermann, Cod. Memb. II 42; Neudeck, Otto Johann: Continuum historiale. Zur Synthese von tradierter Geschichtsauffassung und Gegenwartserfahrung im ,Reinfried von Braunschweig‘, Frankfurt a. M. 1989 (Mikrokosmos 26), S. 16–22; Bartsch, Schluszwort, S. 805; zum Status dieser Vermutungen Achnitz, Babylon und Jerusalem, S. 24f. 3 Eine Auflistung der Episodenabfolge gibt Achnitz, Babylon und Jerusalem, S. 55; eine detaillierte, aber komprimierter Zusammenfassung findet sich im Vorspann der aktuellen Textausgabe (Martschini, Elisabeth: Inhaltsübersicht. In: Reinfried von Braunschweig. Mittelhochdeutscher Text nach Karl Bartsch. Übersetzt und mit einem Stellenkommentar versehen von Elisabeth Martschini. Bd. 1 [Verse 1–6.834], Kiel 2017, S. 19–29). 4 Dass es sich dabei nicht um einen Kunstgriff, sondern tatsächlich um einen Abbruch der geplanten oder einstmals vorhandenen Erzählung handelt, scheint deutlich (vgl. mit einer inhaltlichen Begründung Ohlenroth, Derk: ,Reinfried von Braunschweig‘. Vorüberlegungen zu einer Interpretation. In: Positionen des Romans im späten Mittelalter. Hrsg. von Walter Haug/Burghart Wachinger, Tübingen 1991 [Fortuna vitrea. Arbeiten zur literarischen Tradition zwischen dem 13. und 16. Jahrhundert 1], S. 67–96, hier S. 71; vgl. mit Verweis auf den sprachlichen und handschriftenkritischen Befund Achnitz, Babylon und Jerusalem, S. 26). Die Schätzungen für den Umfang des fehlenden Teils fallen unterschiedlich aus: Schneider nimmt an, dass circa 10000 Verse fehlen (vgl. Schneider, Hermann: Reinfried von Braunschweig. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon Bd. 3 Laber-Rynstetten, Berlin 1943, Sp. 1046–1051, hier Sp. 1049; Bezug nehmend Ohlenroth, Reinfried von Braunschweig, S. 69), Achnitz hingegen glaubt, der Text breche erst kurz vor seinem Ende ab (vgl. Achnitz, Babylon und Jerusalem, S. 217f.). Was den Inhalt der möglichen weiteren Erzählung betrifft, hält man sich an die noch

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 Getrennte Traditionen und geteilte Pfade: Vorbemerkungen zur Textwahl

Zentrum der junge König Apollonius,5 der in Konflikt mit König Antiochius gerät, als er dessen inzestuöses Verhältnis mit der eigenen Tochter aufdeckt (vgl. AvT, V.  1–558). Auf der Flucht vor diesem lernt er die Königstochter Lucina kennen, welche er schließlich zur Frau gewinnen kann (vgl. AvT, V. 559–2256). Auf einer Seereise stirbt sie scheinbar im Kindbett, woraufhin Apollonius seine Tochter Tarsia Pflegeeltern überantwortet und sich selbst auf eine lange Bußfahrt begibt. Erst nach vierzehn Jahren in diesem selbstgewählten Exil (vgl. AvT, V. 2257–14929) trifft er schließlich durch glückliche Fügung sowohl seine Tochter als auch seine Frau wieder (vgl. AvT, V. 14930–17372) und führt daraufhin ein Leben als vorbildlicher Herrscher (vgl. AvT, V. 17373–20556).6 Auftraggeber und intendiertes Publikum sind für den Apollonius ebenso unbekannt wie für den Reinfried-Roman.7 Anders als bei dem vage ins späte

folgenden Textelemente im typischen Handlungsverlauf der Löwensage, an deren literarischer Tradition der Text teilhaben soll (s. u. sowie Anm. 2/35–38). 5 Im Text häufig als Appolonius, hier aber in Übereinstimmung mit dem geläufig verwendeten Titel als ,Apollonius‘ bezeichnet. 6 Eine Auflistung der Episodenabfolge gibt Achnitz, Babylon und Jerusalem, S. 252, 260f., 274f.; umfangreiche Paraphrasierungen der einzelnen Binnenepisoden finden sich bei Achnitz, Wolfgang: Einführung in das Werk und Beschreibung der Hs. In: Heinrich von Neustadt: Apollonius von Tyrland. Farbmikrofiche-Ed. der Hs. Chart-A 689 der Forschungs- und Landesbibliothek Gotha, München 1998, S. 7–40, hier S. 9–14; eine recht ausführliche Inhaltsangabe liefert auch Krenn, Margit: Minne, Aventiure und Heldenmut. Das spätmittelalterliche Bildprogramm zu Heinrichs von Neustadt Apollonius von Tyrland, Marburg 2013, S. 23–26. 7 Die literaturhistorische Verordnung ist für den Apollonius nicht eindeutig, weil Heinrich selbst keine expliziten Angaben über Auftraggeber und Publikum macht. Vermutet werden Auftraggeber und Rezipienten im Umfeld des Habsburger Hofs und des städtischen Raums um Wien (vgl. Achnitz, Wolfgang: Heinrich von Neustadt. In: Kindlers neues Literatur-Lexikon. 3.  überarb. Aufl. Bd. 7 Hai-Hyr, München 2007, S. 303–304, hier S. 304). Auch im Reinfried fehlt es an expliziten Aussagen über einen Auftraggeber (vgl. Martschini, Elisabeth: Schrift und Schriftlichkeit in höfischen Erzähltexten des 13. Jahrhunderts, Kiel 2014, S. 262). Da hier auch keine textexternen Quellen Aufschluss darüber geben, wer in wessen Auftrag den Text verfasst hat, lassen sich nur Hinweise aus dem Text – meist sind das die zeitkritischen Exkurse der Erzählinstanz – heranziehen. Demnach könnte der Roman „für eines der alteingesessenen, hochfreien und Ende des 13. Jahrhunderts antihabsburgisch eingestellten Geschlechter der Ost schweiz, etwa im Auftrag der Herren von Regensburg, von Klingen oder von Tengen, die allesamt dem von Schiendorfer beschriebenen, sogenannten ,Manesse‘-Kreis angehörten, entstanden sein“ (Achnitz, Babylon und Jerusalem, S. 138f.; zur Beweisführung vgl. S. 132–140).

Steckbriefe: Reinfried von Braunschweig – Apollonius von Tyrland 

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dreizehnte Jahrhundert datierten Reinfried, bei dem – auch aufgrund des vorzeitigen Abbruchs – über den Verfasser8 und den Entstehungskontext9 nur

8 Name und Lebensumstände sind bis zu den jüngsten Beiträgen der Reinfried-Forschung ungeklärt (vgl. hierzu die Angaben in der jüngeren Forschung: Herweg, Glücksspiel, S. 60; Baisch, Martin: Brief und Briefwechsel im Minne- und Aventiureroman. Phänomenologie – Funktionalität – Perspektiven. In: Hybridität und Spiel. Der europäische Liebes- und Abenteuerroman von der Antike zur Frühen Neuzeit. Hrsg. von dems./Jutta Eming, Berlin 2013, S.  193–206, S.  193; Martschini, Schriftlichkeit, S. 262; Martschini, Elisabeth: Einleitung. In: Reinfried von Braunschweig. Mittelhochdeutscher Text nach Karl Bartsch. Übersetzt und mit einem Stellenkommentar versehen von Elisabeth Martschini. Bd. 1 [Verse 1–6.834], Kiel 2017, S. 7–18, hier S. 9). Das Fragment enthalte, so Achnitz, „keine Hinweise auf den Namen des Verfassers“ (Achnitz, Einleitung, S. IX). Der Mangel an handfesten Informationen reizte die Forschung dazu, anhand der selbstreferentiellen Aussagen der Erzählinstanz in Verbindung mit sprachlichen und stilistischen Analysen Vermutungen über Herkunft, Bildung, Standeszugehörigkeit und Verbindungen zu bekannten Adelshäusern anzustellen. Die Ergebnisse solcher Bemühungen fallen sehr unterschiedlich aus (vgl. Achnitz, Babylon und Jerusalem, S. 36 sowie ausführlicher mit Verweisen auf einzelne Vertreter der Positionen Achnitz, Einleitung, S. IX). Dabei missachten die Beiträge zuweilen die Möglichkeit des Verfassers, eine Differenzierung zwischen Erzählerfigur und eigener Person vorzunehmen (so bei Gereke, Paul: Studien zum Reinfried von Braunschweig. In: PBB 23 [1898], S. 358–483, hier S. 358–360, 369). Aus der dialektalen Einordnung und durch den Abgleich des Bildungsstandes des Verfassers und der Bildungsmöglichkeiten des späten dreizehnten Jahrhunderts lässt sich recht zuverlässig auf einige Aspekte der Dichterpersönlichkeit schließen. Es hat sich offenbar um eine gebildete Person – höchstwahrscheinlich um einen Absolventen einer Lateinschule – und damit möglicherweise auch um einen Adeligen – gehandelt, wobei das gesamte Ausmaß der Gelehrtenlaufbahn ebenso wie die Standeszugehörigkeit nicht eindeutig nachweisbar ist (vgl. Achnitz, Babylon und Jerusalem, S. 37–40). Ebenso nicht belegbar ist die in früher Forschung proklamierte Zugehörigkeit zum Fahrenden Volk (vgl. Gereke, Reinfried, S. 360, 363; dazu Achnitz, Babylon und Jerusalem, S. 41 sowie Achnitz, Einleitung, S. X). 9 Stärkster textinterner Hinweis auf den möglichen Entstehungszeitraum ist der Bezug auf die Eroberung der Kreuzfahrerfeste Akkon durch die Mamelucken im Mai des Jahres 1291 (vgl. RvB, V. 17980; vgl. zu den historischen Ereignissen Riley-Smith, Jonathan: Die Kreuzzüge. Aus dem englischen von Tobias Gabel und Hannes Möhring, Darmstadt 2015, S. 341–345, insbes. S. 345). Bereits Bartsch nutzt diesen Zeitbezug im Schlusswort seiner Textausgabe als wichtigsten Anhaltspunkt der Datierung und nimmt – auch unter Berücksichtigung der Darstellungsweise – den „ausgang des 13. oder den anfang des 14. jahrhunderts [sic]“ als Entstehungszeitraum an (Bartsch, Schluszwort, S.  810). Neue Erkenntnisse hat es seit dieser Einschätzung kaum gegeben und so schließen sich mit Ausnahme Dittrich-Orlovius’, die die Entstehung des Texts deutlich später vermutet (vgl. Dittrich-Orlovius, Gunda: Zum Verhältnis von Erzählung und Reflexion im ,Reinfried von Braunschweig‘, Göppingen 1971 [Göppinger Arbeiten zur Germanistik 34], S. 27, bes. Anm. 26), die meisten Beiträge dieser vagen Datierung an (vgl. bspw. Haug, Walter: Von aventiure und minne zu Intrige und Treue: Die Subjektivierung des hoch­ höfischen Aventüre­romans im ,Reinfried von Braunschweig‘. In: Liebe und Aventiure im Artusroman des Mittelalters. Hrsg. von Paola Schulze-Belli/Michael Dallapiazza, Göppingen 1990

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 Getrennte Traditionen und geteilte Pfade: Vorbemerkungen zur Textwahl

Vermutungen angestellt werden können, ist der Dichter des Apollonius durch eine Selbstnennung im Epilog bekannt, sodass die Produktionsumstände gut zu rekonstruieren sind. Am Ende des Texts nennt sich ein Maister Hainrich von der Neun stat/Ain artzt von den püchen (AvT, V.  20603f.) als Urheber der

[Göppinger Arbeiten zur Germanistik 532], S. 7–22, hier S. 13; Ohlenroth, Reinfried von Braunschweig, S. 70; Röcke, Werner: Kulturelles Gedächtnis und Erfahrung der Fremde. Der Herzog von Braunschweig in der Literatur des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit. In: Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein-Gesellschaft 10 [1998], S.  281–297, hier S.  185; Huber, Christoph: Liebestod. Varianten im höfischen Roman und antike Prätexte. In: PBB 135 [2013], S. 378–398, hier S. 379). Das beiläufig erwähnte historische Ereignis ist selbst in der bislang gründlichsten Auseinandersetzung mit den Umständen des Reinfried der zentrale Anhaltspunkt in der Datierungsfrage. 1291 sei, so Achnitz, als Entstehungsdatum terminus post quem, die erste Hälfte des vierzehnten Jahrhunderts aufgrund der Datierung der überlieferten Handschrift als terminus ante quem anzusetzen, wobei für eine frühere Datierung spreche, dass das Ereignis die größte Wirkung unmittelbar in den darauffolgenden Jahren entfaltet haben müsse (vgl. Achnitz, Babylon und Jerusalem, S. 41). Demnach sei der Text „wohl noch im letzten Jahrzehnt des 13. Jahrhunderts“ (hier S. 41 sowie Achnitz, Einleitung, S. IX) entstanden. Diesem Urteil schließen sich alle nachfolgenden Forschungstexte an (vgl. die jüngeren Beiträge von Martschini, Schriftlichkeit, S. 262; Baisch, Briefwechsel, S. 193; Meyer, Matthias: Briefe – Grabinschriften – Zauberbücher. Beispiel intradiegetischer Schreibkonstellationen mittelalterlicher Literatur. In: Konstellationen – Versuchsanordnungen des Schreibens. Hrsg. von Helmut Lethen/Annegret Pelz/ Michael Rohrwasser, Göttingen 2013 [Schriften der Wiener Germanistik 1], S. 13–32, hier S. 27; Herweg, Mathias: Wege zur Verbindlichkeit. Studien zum deutschen Roman um 1300, Wiesbaden 2010 [Interdisziplinäre Beiträge zur Mittelalterforschung 25], S. 36; ein früheres Plädoyer für eine frühe Datierung gibt bereits De Boor, Helmut: Die deutsche Literatur im späten Mittelalter 1250–1350. Epik, Lyrik, Didaktik, geistliche und historische Dichtung, 4. Aufl., neubearbeitet von Johannes Janota, München 1997 [Geschichte der deutschen Literatur. Von den Anfängen bis zur Gegenwart III/1] [1962], S.  83). Dialektal verortet Bartsch den Dichter in einer Schweizer Gegend (vgl. Bartsch, Schluszwort, S. 810; vgl. auch Gereke, Reinfried, S. 358, 481), Achnitz und Ridder nehmen nach der dialektalen Färbung des Textes den Ursprung in einem „westliche[] [n] Teil einer mittleren Zone der Schweiz“ (nach Skrabal, Elsa Mathilde: Reimwörterbuch zum ,Reinfried von Braunschweig‘ mit ausgewählten Studien zur Reimtechnik. Diss. (masch.), München 1937, S. 49 [zit. n. Achnitz, Einleitung, S. IX sowie Ridder, Klaus: Mittelhochdeutsche Minne- und Aventiureromane. Fiktion, Geschichte und literarische Tradition im späthöfischen Roman: Reinfried von Braunschweig – Wilhelm von Österreich – Friedrich von Schwaben, Berlin, New York 1998, S. 373]) an, Herweg verortet ihn ohne umfassende Begründung noch konkreter in der Gegend von Zürich (vgl. Herweg, Mathias: Christi Geburt als Glücksspiel? Mittelalterliche Reisen zum Magnetberg und ihre Heilsgeschichtliche Brisanz. In: Glück – Zufall – Vorsehung. Vortragsreihe der Abteilung Mediävistik des Instituts für Literaturwissenschaft im Sommer­ semester 2008. Hrsg. von Simone Finkele/Burkhardt Krause, Karlsruhe 2010, S. 49–75, hier S. 60).

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vorangegangenen Erzählung.10 Die Forschung hat mit dieser Bezeichnung recht eindeutig einen niederösterreichischen, wahrscheinlich in der Wiener Neustadt angesiedelten Schulmediziner identifiziert.11 Über dessen Person, Ausbildungsgrad, Familienstand sowie Wohn- und Lebensverhältnisse sind einige Informationen vorhanden.12 Die Einschätzungen zum genauen Entstehungszeitraum sind jedoch recht unterschiedlich – angenommen wird entweder das späte dreizehnte oder frühe vierzehnte Jahrhundert.13 Auf den ersten Blick enden mit Länge und ungefährer Datierung die Gemeinsamkeiten der Texte. Wie bereits bei einem Blick auf ihren Inhalt deutlich wird,

10 Mit fast derselben Formulierung gibt sich auch im Epilog des Texts Gottes Zukunft ein Verfasser zu erkennen (vgl. Gottes Zukunft, V. 8093–8096, zu finden in Heinrich ‹Von Neustadt›: Apollonius von Tyrland. Nach der Gothaer Handschrift, Gottes Zukunft und Visio Philiberti nach der Heidelberger Handschrift. 2., unveränd. Aufl. Hrsg. von Samuel Singer, Dublin/Zürich 1967 [Deutsche Texte des Mittelalters 7]). So ist anzunehmen, dass der Verfasser des Apollonius von Tyrland noch mindestens einen anderen Text fertiggestellt hat. 11 Vgl. Achnitz, Babylon und Jerusalem, S. 4, 229, sowie auch Achnitz, Einführung, S. 7. Die Selbstbezeichnung und -benennung weist Heinrich nach der im dreizehnten Jahrhundert üblichen Einteilung des Arztberufs in die drei Bereiche apothecarius (apotheker) chirur[ic]us (wuntarzet) und physicus (lip- oder buocharzet) als Schulmediziner aus (vgl. Achnitz, Babylon und Jerusalem, S. 229). Die Selbstbezeichnung als meister weise darauf hin, dass er einen Magistertitel durch das Studium an einer medizinischen Fakultät in Italien oder Frankreich erlangt hat. 12 Für nähere Informationen s Ebenbauer, Alfred: Der „Apollonius von Tyrland“ des Heinrich von Neustadt und die bürgerliche Literatur im Spätmittelalter. In: Die österreichische Literatur. Eine Dokumentation ihrer literarhistorischen Entwicklung. Teil I: Ihr Profil von den Anfängen im Mittelalter bis ins 18. Jahrhundert (1050–1750). Hrsg. von Herbert Zeman unter Mitwirkung von Fritz Peter Knapp, Graz 1986, S. 311–346, hier S. 337–343; Birkhan, Helmut: Nachwort. In: Heinrich von Neustadt: Leben und Abenteuer des großen Königs Apollonius von Tyrus zu Land und zur See. Ein Abenteuerroman von Heinrich von Neustadt verfaßt zu Wien um 1300 nach Gottes Geburt. Übertragen mit allen Miniaturen der Wiener Handschrift C, mit Anmerkungen und einem Nachwort von Helmut Birkhan. Hrsg. von dems., Bern u. a. 2001, S. 393–439, hier S. 393–400 und Achnitz, Babylon und Jerusalem, S. 229–239. 13 Die Datierungen umfassen „nach 1253“ und „vor 1291“ (vgl. Schürenberg, Walter: Apollonius von Tyrland. Fabulistik und Stilwille bei Heinrich von Neustadt, Göttingen 1934, S. 11), „1288– 1291“ (vgl. Bockhoff, Albrecht/Singer, Simon: Heinrichs von Neustadt Apollonius von Tyrland und seine Quellen. Ein Beitrag zur mittelhochdeutschen und byzantinischen Literaturgeschichte, Tübingen 1911 [Sprache und Dichtung 6], S. 37, 79), „[u]m das Jahr 1290“ (Lecouteux, Claude: Der Menschmagnet. Eine Orientalische Sage in Heinrichs von Neustadt Apollonius von Tyrland. In: Fabula. Zeitschrift für Erzählforschung 24/3–4 [1983], S. 195–214, hier S. 195), „vermutlich vor 1298“ (Achnitz, Babylon und Jerusalem, S. 243), „1298“ (vgl. Haug, Walter: Apollonius von Tyrland. Deutsche Literatur. In: Lexikon des Mittelalters Bd. 1 Aachen bis Bettelordenskirchen, München u. a. 1980, Sp. 773–775, hier Sp. 773), „um 1300“ (Eckart, Rolf: Heinrich von Neustadt. In: Kindlers neues Literatur-Lexikon Bd. 7 Gs–Ho, München 1990, Sp. 604–605, hier S. 604), „Be-

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 Getrennte Traditionen und geteilte Pfade: Vorbemerkungen zur Textwahl

sind sie makrostrukturell grundsätzlich unterschiedlich aufgebaut. Während im Reinfried von Braunschweig Minne- und Abenteuerhandlung in einer deutlichen Zweiteilung aufeinander folgen,14 wird im Apollonius von Tyrland die zentrale

ginn des 14. Jahrhunderts“ und „um 1300“ (Blaschitz, Gertrud: Das Freudenhaus im Mittelalter: In der stat was gesessen / ain unrainer pulian … In: Sexualitiy in the Middle Ages and Early Modern Times. New Approaches to a Fundamental Cultural-Historical and Literary-Anthropological Theme. Hrsg. von Albrecht Classen, Berlin 2008 [Fundamentals of Medieval and Early Modern Culture 3], S. 715–750, hier S. 718; vgl. Denecke, Ludwig: Apollonius von Tyrland. In: Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung Bd. 1 A–Ba, Berlin u. a., 1977, Sp. 667–674, hier Sp. 668; Krenn, Bildprogramm, S. 23), „vor 1307“ (Birkhan, Nachwort, S. 397f.), „um 1310“ (Tomasek, Tomas: Das deutsche Rätsel im Mittelalter, Tübingen 1994 [Hermaea. Germanistische Forschungen 69], S. 184; Cieslik, Karin: Wertnormen und Ideologie im ,Apollonius von Tyrland‘ des Heinrich von Neustadt. In: Le roman antique au moyen âge. Actes du Colloque du Centre d’Etudes Médiévales de l’Université de Picardie, Amiens 14–15 janvier 1989. Hrsg. von Danielle Buschinger, Göppingen 1992 [Göppinger Arbeiten zur Germanistik 549], S. 43–52, hier S. 43; Schneider, Almut: Chiffren des Selbst. Narrative Spiegelungen der Identitätsproblematik in Johanns von Würzburg‚ ,Wilhelm von Österreich‘ und in Heinrichs von Neustadt ,Apollonius von Tyrland‘, Göttingen 2004 [Palaestra 321], S. 26); „um 1306/10“ (vgl. Herweg, Verbindlichkeit, S. 36.) „1312“ (vgl. Schoenebeck, Walter: Der höfische Roman des Spätmittelalters in der Hand bürgerlicher Dichter [Studien zur ,Crône‘, zum ,Apollonius von Tyrland‘, zum ,Reinfried von Braunschweig‘ und ,Wilhelm von Österreich‘, Berlin 1956, S. 2) „1306–1307 oder […] nach 1312“ (Kaspar, Christine: Von miesen Rittern und sündhaften Frauen und solchen, die besser waren. Tugend- und Keuschheitsproben in der mittelalterlichen Literatur vornehmlich des deutschen Sprachraums, Göppingen 1995 [Göppinger Arbeiten zur Germanistik 547], S. 403). Zur Zeit seiner literarischen Tätigkeit hat Heinrich offenbar in Wien gelebt. 1312 ist der Dichter mit seiner havsfrowen Alheit in einem Dokument bezeugt, durch das ihnen der Bischof von Freising ein Haus ,am Graben‘ überlässt, welches er im Apollonius als seinen derzeitigen Wohnsitz angibt (vgl. AvT, V. 20605f.; Achnitz, Babylon und Jerusalem, S. 230). Die Ortsangabe verweist auf den damals als ,Domprobsthof‘, heute als ,Trattner Hof‘ bekannten Platz im Zentrum Wiens in der Nähe des Stephansdoms (vgl. hier S. 230). Ein erster terminus ante quem sei durch den urkundlich belegten Umzug Heinrichs in die Färberstraße im Jahre 1314 zu bestimmen (vgl. hier S. 230). ,Am Graben‘ gewohnt hat das Ehepaar allerdings wohl schon vor der Urkunde von 1312 (vgl. hier S. 230), sodass sich aus der Angabe kein eindeutiger Entstehungszeitpunkt ableiten lässt. Außer- und innertextuelle Indizien führen Achnitz in seiner umfangreichen Auseinandersetzung zu einer frühen Datierung innerhalb des durch die Datenlage abgesteckten Zeitrahmens. Der Text sei „nicht erst im zweiten oder dritten Jahrzehnt des 14. Jahrhunderts, sondern schon in den Jahren um 1300 verfaßt worden“ (hier S. 238; zur Begründung s. S. 229–239 sowie Achnitz, Einführung, S. 7, Anm. 3). In dieser Einschätzung rücken die Entstehungszeiten des Reinfried und des Apollonius also besonders eng zusammen. 14 Die in der Forschung unumstrittene inhaltliche und strukturelle Zweiteilung des Texts (vgl. Achnitz, Babylon und Jerusalem, S. 53) kehrt die Erzählinstanz mit einer ausführlichen Zwischenrede nach Abschluss der Handlung um Reinfried und Yrkâne und vor Aufbruch des Pro­ tagonisten zum Kreuzzug – dem sogenannten ,Binnenprolog‘ (vgl. RvB, V. 12658–12918) – selbst deutlich hervor. Weitere makrostrukturelle Aussagen lassen sich aufgrund des fragmentarische

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Minnebeziehung zur Rahmenhandlung eines interpolierenden Abenteuerteils. Diese strukturelle Differenz ist Spiegel der unterschiedlichen Traditionslinien, der die Texte entstammen. Die Handlungsstruktur des Apollonius beruht auf der äußerst umfangreichen Ausgestaltung einer lateinischen Erzählung aus dem fünften/sechsten Jahrhundert. Der Stoff um König Apollonius, dessen Ursprünge man im Griechenland des ersten nachchristlichen Jahrhunderts vermutet,15 war seit dem Frühmittelalter weithin bekannt16 und erfreute sich offenbar im ausgehenden Mittelalter und in der Frühen Neuzeit so großer Beliebtheit,17 dass er

Status des Texts kaum treffen: „Die Suche nach einem kongruenten schematischen Gerüst ist hier aussichtslos“, so diesbezüglich Dittrich-Orlovius, Erzählung und Reflexion, S. 20. Eine detaillierte Gliederung und einen Versuch, die beiden häufig nur disparat voneinander betrachteten Textteile sinnstiftend zusammenzubringen, unternimmt Achnitz (vgl. Achnitz, Babylon und Jerusalem, S. 55). 15 Die griechische Quelle wird nur angenommen und ist nicht überliefert (vgl. Blaschintz 2008, S. 717), inzwischen gilt es jedoch als „ziemlich sicher, daß der erhaltenen lateinischen eine griechische Fassung vorausging“ (Birkhan, Nachwort, S. 402; s. auch JUNK, Ulrike: Transformationen der Textstruktur. ,Historia Apollonii‘ und ,Apollonius von Tyrland‘, Trier 2003 [Literatur, Imagination, Realität 31], S.14). Sie wurde wahrscheinlich im dritten Jahrhundert n. Chr. ins Lateinische übersetzt und ist zuerst als Historia Apolloni Regis Tyri (der Einfachheit halber im Folgenden Historia genannt) mit zwei Textzeugen in einer in Latein verfassten, spätantik-christlichen Überarbeitung des fünften (oder sechsten) Jahrhunderts n. Chr. überliefert (vgl. Achnitz, Babylon und Jerusalem, S. 259 mit Bezug auf KUSSL, Rolf: Papyrusfragmente griechischer Romane. Ausgewählte Untersuchungen, Tübingen 1991 [Classica Monacensia. Münchner Studien zur Klassischen Philologie 2], S. 143–159, der den Forschungsdiskurs auf den S. 150–152 kurz zusammenfasst und auf den S. 143f. die Transkriptionen der zwei Papyrusfragmente abdruckt, die entscheidend für die Annahme einer griechischen Vorlage für die lateinische Historia sind, und Kortekaas, Gregorius A. A.: Historia Apollonii Regis Tyri. Prolegomena, text edition of the two principal latin recensions, bibliography, indices and appendices, Groningen 1984 [Mediaevalia Groningana 3], S. 97–131, Stemma S. 134, der den Text der Überlieferung auch umfassend kommentiert hat: Kortekaas, Gregorius A. A.: Commentary on the Historia Apollonii Regis Tyri. Boston 2007 [Mnemosyne Bibliotheca Classica Batava]); vgl. auch Lienert, Elisabeth: Deutsche Antikenromane des Mittelalters, Berlin 2001 [Grundlagen der Germanistik 39], S. 163). Die Frage des Ursprungs der lateinischen Historia wird seit dem ersten Forschungsbeitrag (Klebs, Elimar: Die Erzählung von Apollonius aus Tyrus. Eine geschichtliche Untersuchung über ihre lateinische Urform und ihre späteren Bearbeitungen, Berlin 1899) in jeder Veröffentlichung zur Historia und zum Apollonius aufgegriffen, kommentiert oder zumindest erwähnt. Eine zweisprachige Ausgabe bietet Waiblinger: Historia Apollonii regis Tyri. Die Geschichte vom König Apollonius, übersetzt und eingeleitet von Franz Peter Waiblinger, München 1994. Nach dieser richten sich die Textnachweise in dieser Arbeit. 16 Vgl. Achnitz, Einführung, S. 7. 17 Als Begründung führt Herweg seine doppelt biblisch zurückgebundene Historizität an. Der Seleukide Antiochius IV (Herrschaft 175–164 v. Chr.) ist bekannt wegen seiner gewaltsamen Hellenisierungsmaßnahmen und ist damit als ein Exempel irdischer Herrschaft im Alten Tes-

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der Vielzahl lateinischer und volkssprachlicher Bearbeitungen nach zu urteilen18 zu den „populärsten weltlichen Stoffen der europäischen Literatur […] vom Frühmittelalter bis zur Renaissance“19 gezählt werden muss.20 In Heinrichs, der

tament zu finden (1 Makkabäer 1,11); der ebenfalls durch die Makkabäerbücher biblisch angeschlossene Alexanderroman enthält einen Anknüpfungspunkt, wenn in diesem anlässlich der Zerstörung Tyrus’ des späteren Königs Apollonius, den Antiochius verjagt habe, gedacht wird (V. 997–1001 in der Vorauer, V. 951 in der Straßburger Version; vgl. Herweg, Verbindlichkeit, S. 160). 18 Allein aus dem neunten und zehnten Jahrhundert sind 67, aus dem zehnten bis siebzehnten. Jahrhundert 70 Handschriften der Historia überliefert (vgl. Bockhoff/Singer, Quellen, S. 5f.; Denecke, Apollonius, hier Sp. 668; Briesenmeister, Dietrich: Apollonius von Tyrland. In: Lexikon des Mittelalters Bd. 1 Aachen bis Bettelordenskirchen, München u. a. 1980, Sp. 771–772, hier Sp. 772). JUNK, Transformationen, S. 1 spricht von insgesamt 159, Krenn, Bildprogramm, S.  21 von 115 lateinischen Handschriften; nach Achnitz gibt es 100 lateinische und etwa 40 volkssprachige Übertragungen der Historia (vgl. Achnitz, Babylon und Jerusalem, S. 259). Karin Cieslik führt als Beleg für die Popularität des Stoffs die erfolgreiche, 1986 neuhochdeutsch übersetzte Prosafassung des fünfzehnten Jahrhunderts an (vgl. Cieslik, Wertnormen, S. 43–52, S. 43). Haug verweist in seinem Lexikonartikel einerseits auf die bis ins siebzehnte Jahrhundert nachgedruckte Version von Heinrich Steinhöwel (1471) und andererseits auf die Stoffverarbeitung in Werken von Hans Sachs und Michel Vogel im sechzehnten Jahrhundert (vgl. Haug, Apollonius, hier Sp. 773; grundlegende Informationen zu Steinhöwels Werk im Lexikonartikel von Dicke, Gerd: Heinrich Steinhöwel. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon Bd. 9, Berlin u. a. 1994, Sp. 258–278 und in der Dissertation von Terrahe, Tina: Steinhöwel, Heinrich: Apollonius. Edition und Studien, Berlin 2013 [Studien und Dokumente zur deutschen Literatur und Kultur im europäischen Kontext 179]). Bezeichnend für die Stoffpopularität ist laut Lienert außerdem, dass die erste volkssprachige Version eines antiken epischen Stoffes das altenglische Apollonius-Bruchstück aus dem zehnten/elften Jahrhundert ist (vgl. Lienert, Antikenromane, S. 165). Auch der Eingang in die Gesta Romanorum und in die Weltchronistik im vierzehnten Jahrhundert (vgl. Blaschitz, Freudenhaus, S. 718), zeugt von Beliebtheit. Einen Überblick über die Stoffgeschichte und dessen Aufnahme in die volkssprachigen Literaturen gibt Tomasek, Tomas: Über den Einfluss des Apolloniusromans auf die volkssprachliche Erzählliteratur des 12. und 13. Jahrhunderts. In: Mediävistische Komparatistik. Festschrift für F.L. Wortsbrock. Hrsg. von Wolfgang Harms/Jan-Dirk Müller, Stuttgart 1997, S. 221–240; s. für weitere Literaturhinweise Herweg, Verbindlichkeit, S. 36; s. Terrahe, Steinhöwel, S. 63–96 zur Apollonius-Tradition im fünfzehnten Jahrhundert. 19 Tomasek, Rätsel, S. 175; vgl. auch Dreher, Enclosed Letters, S. 183. 20 Von Lecouteux wird er als „bekannteste[][r] alexandrinische[][r] Familienroman“ aufgeführt (Lecouteux, Menschmagnet, S. 195), bei Kiening stellt der Stoff ein zentrales mittelalterliches Erzählparadigma genealogischer Ordnung – Verschränkung des hellenistischen Familienromans mit Heilsgeschichte – dar (vgl. Kiening, Christian: Unheilige Familien. Sinnmuster mittelalterlichen Erzählens, Würzburg 2009 [Philologie der Kultur 1], S. 37–41). Allein aus dem deutschen Sprachraum sind drei unterschiedliche Adaptionen überliefert. Neben der Bearbeitung des Stoffes durch Heinrich von Neustadt der mitteldeutsche, anonym überlieferte Leipziger Apollonius (1419), eine Übersetzung des lateinischen Apolloniusromans (vgl. Blaschitz, Freudenhaus, S. 718), sowie der extrem erfolgreiche Apollonius von Tyrus des Ulmer Arztes Heinrich

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Überlieferungslage zufolge wahrscheinlich weniger populären Bearbeitung des Stoffs21 stellt der sinngemäß aus dem Lateinischen ins Mittelhochdeutsche überführte22 Bericht von Apollonius, der ein Inzestverhältnis auflöst, eine Frau findet, sie samt Tochter verliert und beide nach mehreren Jahren durch wundersame Fügung wiedergewinnt,23 lediglich die rahmende Handlung und nur einen Bruchteil des Gesamtumfangs dar. 12012 Verse und damit 60 Prozent des Textumfangs24 erzählen episodenartig aneinandergereiht die in der Vorlage lediglich erwähnte vierzehnjährige Exilzeit, die der Protagonist nach Verlust von Frau und Tochter antritt und während der er nicht nur unzählige Abenteuer besteht, sondern auch

Steinhöwel (1461) (vgl. hier S. 718). Steinhöwels, an die Gesta Romanorum und Gottfried von Viterbos Pantheon angelehnte und somit den Text in einen eindeutig christlichen Zusammenhang stellende Version (vgl. Blaschitz, Freudenhaus, S. 718; Achnitz, Einführung, S. 7) erfährt durch die Aufnahme in verschiedene Offizien schnell weite Verbreitung (vgl. Achnitz, Babylon und Jerusalem, S. 262; Achnitz, Einführung, hier 8). 21 Ein der Steinhöwelschen Version vergleichbarer Erfolg war Heinrichs von Neustadt Text  – erste deutsche (vgl. AvT, V. 20599, kritisch dazu Kaspar, Tugend- und Keuschheitsproben, S.  403) und eine der frühesten volkssprachigen Bearbeitungen (vgl. Junk, Transformationen, S. 1; Herweg, Verbindlichkeit, S. 36) – nicht beschieden, so meint man aus der Überlieferungslage schließen zu können (vgl. Birkhan, Nachwort, S. 438). Signalcharakter für dieses „Schattendasein“ hat eventuell auch die Tatsache, dass keine der anderen deutschsprachigen Adaptionen auf Heinrichs Bearbeitung Bezug nimmt oder sie als Vorlage nutzt (vgl. hier S. 403). 22 Vgl. Achnitz, Wolfgang: Textproduktion und Sinnkonstituierung. Zur Affinität von Textlinguistik und Rhetorik am Beispiel des ,Apollonius‘-Romans. In: Texttyp und Textproduktion in der deutschen Literatur des Mittelalters. Hrsg. von Elisabeth Andersen/Manfred Elkelmann und Anne Simon, Berlin 2005 (Trends in Medieval Philology 7), S. 121–141, hier S. 133f. Heinrichs Apollonius beruht auf einer Mischredaktion der beiden Redaktionen RA und RB des lateinischen Prosatexts (vgl. Achnitz, Babylon und Jerusalem, S. 260). „In der älteren Forschung wird die (weitgehend) exakte Wiedergabe der lateinischen Fassung der ,Historia Apollonii‘ besonders hervorgehoben; kleine Ungenauigkeiten gelten dabei als ,lässliche Sünden‘“ (Schultz-Balluff, Simone: Dispositio picta – Dispositio imaginum. Zum Zusammenhang von Bild, Text, Struktur und ,Sinn‘ in den Überlieferungsträgern von Heinrichs von Neustadt ,Apollonius von Tyrland‘, Bern u. a. 2006 [Deutsche Literatur von den Anfängen bis 1700 45], S. 23). 23 Detailliertere Beschreibungen des Inhalts der Historia finden sich bei Wachinger, Burghart: Heinrich von Neustadt, ,Apollonius von Tyrland‘. In: Positionen des Romans im späten Mittel­ alter. Hrsg. von Walter Haug, Tübingen 1991 (Fortuna vitrea. Arbeiten zur literarischen Tradition zwischen dem 13. und 16. Jahrhundert 1), S. 97–115, hier S. 97f.; Achnitz, Babylon und Jerusalem, S. 260; Kiening, Christian: Apollonius unter den Tieren. In: Literarische Leben. Rollenentwürfe in der Literatur des Hoch- und Spätmittelalters. Hrsg. von Matthias Meyer/Hans-Joachim Schiewer, Tübingen 2002, S. 415–431, hier S. 415f.; Schultz-Balluff, Dispositio picta, S. 22 oder Achnitz, Einführung, S. 8. 24 S. Birkhan, Helmut: „Diz sind abenteure“. In: “Swer sînen vriunt behaltet, daz ist lobelîch“. Festschrift für András Vizkelety zum 70. Geburtstag. Hrsg. von Márta Nagy und Lásló Jónácslik, Budapest 2001 (Budapester Beiträge zur Germanistik 37/Abrogans 1), S. 117–131, hier S. 117f.

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drei weitere Frauen ehelicht und wieder verlässt (AvT, V.  2257–14929), detailliert aus; der Wiedervereinigung von Apollonius, Lucina und Tarsia (dem Ende der lateinischen Historia) fügt Heinrich noch einmal 3000 Verse25 an.26 Für die in diesen Textabschnitten präsentierten Ereignisse wurden Einflüsse aus unterschiedlichsten christlichen, antiken und orientalischen Texten und Stofftraditionen geltend gemacht;27 eine einheitliche Vorlage hat die Forschung bei der Suche nach Quellentexten28 nicht herausarbeiten können.29 In einer anderen Traditionslinie steht der Reinfried von Braunschweig, für bzw. gegen dessen zeitgenössische Prominenz es über die einmalige Überliefe-

25 In der Forschungsliteratur meist als „Verlängerung“ bezeichnet (vgl. bspw. Achnitz, Babylon und Jerusalem, S. 274f.). 26 Insgesamt wird der Textumfang der Vorlage vervierfacht (vgl. bereits Achnitz, Textproduktion und Sinnkonstituierung, S. 125). 27 Ochsenbein, Peter: Heinrich von Neustadt. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon Bd. 3 Ger–Hil, Berlin u. a. 1981, Sp. 838–845, hier Sp. 840 versucht, in dem angenommenen Quellengemisch für den Binnenteil die einzelnen Anregungen durch Hartmanns Iwein, Wolframs Parzival, den Wolfdietrich und Ulrichs von Etzenbachs Alexander aufzuführen. Eine Auflistung der intertextuellen Referenztexte führt Achnitz, Babylon und Jerusalem, S. 240 an; auf S. 359f. listet er die biblischen und literarischen Referenzfiguren. 28 Vor allem durch Bockhoff/Singer, Quellen; s. auch die Angaben bei Ochsenbein, Heinrich von Neustadt, hier Sp. 840; s. auch die folgende Anm. 2/29. 29 Vgl. in Bezug auf das Exotische und Fremde Classen, Albrecht: Die Freude am Exotischen als literarisches Phänomen des Spätmittelalters. Heinrichs von Neustadt Apollonius von Tyrland. In: Wirkendes Wort 54/1 (2004), S. 23–46, hier S. 26. Lecouteux nimmt seiner Suche nach dem Ursprung des Motivs der ,Stadt des Lachens‘ (s. Kap. 6.1.1) vorweg, dass bezüglich der Vorlagen trotz der intensiven Arbeit Bockhoffs und Singers „noch vieles im Dunkeln“ geblieben sei (vgl. Lecouteux, Menschmagnet, S. 195). Diese arbeiten einen verlorenen byzantinischen Roman als Vorlage der Heinrich’schen Zusätze heraus, was allerdings in der nachfolgenden Forschung mit Skepsis aufgenommen wurde (vgl. Schürenberg, Apollonius von Tyrland, S. 20; Birkhan, Nachwort, S. 407f.; Lecouteux, Menschmagnet). Konkrete Gegendarstellungen gab es mit Ausnahme einer auf einen Ausschnitt fokussierenden motivgeschichtlichen Untersuchung von Lecouteux (vgl. Lecouteux, Menschmagnet; weitere Ausführungen s. Kap. 6.1.1) nicht. So vermutet man , „daß der Teil wesentlich auf Heinrich selbst – in Kenntnis der Literatur seiner Zeit und im Rückgriff auf Motive griechisch-byzantinischer Herkunft“ (Schneider, Chiffren, S. 26f.), auf „eigene[] Erfindung […], Phantasien, genährt von mittelalterlicher Romanliteratur und enzyklopädischem Wissen“ (Wachinger, Heinrich von Neustadt, S. 98) zurückgeht. Dabei rechnet man „nicht mehr mit einer mehr oder minder einheitlichen Quelle“ (Birkhan, „Diz sind abenteure“, S. 126), sondern nimmt eine „Vielzahl an Quellen“ und intertextuellen Bezügen (vgl. Achnitz, Babylon und Jerusalem, S. 240; Lecouteux, Menschmagnet, S. 197) und ein erhebliches Maß an originärer Eigenproduktion und produktiver Verknüpfungen Heinrichs an (vgl. bspw. Birkhan, Nachwort, S. 408; Schultz-Balluff, Dispositio picta, S. 17). Vgl. auch die Aufzählung der zahlreichen Quellen, Vorlagen, Einflüsse bei Achnitz, Babylon und Jerusalem, S. 240.

Steckbriefe: Reinfried von Braunschweig – Apollonius von Tyrland 

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rung hinaus30 keine Anhaltspunkte gibt. Über dessen Quellen, Vorbilder und Inspirationen konnte die Grundlagenforschung Ende des neunzehnten Jahrhunderts einiges herausfinden,31 ohne jedoch auch hier eine einheitliche Vorlage auszumachen.32 Vielmehr ist deutlich geworden, dass es sich wie bei der Binnenhandlung des Apollonius um eine „Selektions- und Kombinationsleistung aus einem Quellenspektrum“33 handelt, dessen unterschiedliche literarischen und historischen Einzelteile kaum vollständig zu benennen sind.34 Inhaltlich eine wichtige Rolle spielt die sogenannte ,Löwensage‘. Die Erzähltradition um die Figur Heinrich den Löwen entwickelt sich verstärkt erst ab dem fünfzehnten Jahrhundert, ihre konstituierenden Elemente enthält aber auch der Reinfried von Braunschweig.35 So suggeriert dieser immer wieder die Identifikation des Prota-

30 Bartsch liest die unikale und anonyme Überlieferung als Hinweis darauf, dass dem Text wenig Erfolg beschieden war (vgl. Bartsch, Schluszwort, S. 812). Ebenso schließt Wiesinger, Michaela: Mischungsverhältnisse. Naturwissenschaftliche Konzepte in der Literatur des 13. Jahrhunderts, Wien 2013 aus der Überlieferungslage, dass der Reinfried „sehr wahrscheinlich kein Text [war], der zu seiner Zeit weit verbreitet und viel gelesen wurde“ (hier S. 216). 31 S. Dittrich-Orlovius, Erzählung und Reflexion, S. 17–36. Frühere Arbeiten, die sich den Quellen und Vorlagen widmen, sind Bartsch, Schluszwort; Zimmermann, Paul: Die geschichtlichen Bestandteile im Reinfried von Braunschweig, Wien 1886, und Gereke, Reinfried. 32 Vgl. Martschini, Schriftlichkeit, S. 262. Dittrich-Orlovius spricht von einer unbekannten Quelle und vermutet sie im Stoffkreis der Spielmannsepik bzw. der Heimkehrerlieder (vgl. Dittrich-Orlovius, Erzählung und Reflexion, S. 17, 20). 33 Ridder, Minne- und Aventiureromane, S. 257. Auch Dittrich-Orlovius nimmt bereits mehrere Haupt- und Nebenquellen an (vgl. Dittrich-Orlovius, Erzählung und Reflexion, S. 19–30). 34 „Das Spektrum der rezipierten und inkorporierten Themen und ihrer Provenienzen ist beachtlich“ (Herweg, Verbindlichkeit, S. 279, der dort auch die Hauptquellen und Bezugstexte auflistet). Für mehr und systematisch aufbereitete Informationen zu einzelnen Einflüssen sei auf Gereke verwiesen, der sich ausführlich mit einzelnen Vorlagen und explizit genannten wie implizit aufscheinenden Quellen, literarischen Zitaten und Anspielungen (auch innerhalb der Exkurse) beschäftig und die Vielzahl der Einflüsse vor Augen führt (vgl. Gereke, Reinfried, S. 377– 449). Zu den naturkundlichen und naturphilosophischen Quellen und Einflüssen s. Vögel, Herfried: Naturkundliches im ,Reinfried von Braunschweig‘. Zur Funktion naturkundlicher Kenntnisse in deutscher Erzähldichtung des Mittelalters, Frankfurt a. M. 1990, S. 65; Wiesinger, Mischungsverhältnisse, S. 187–218). 35 Die Sage über Heinrich den Löwen ist im späten Mittelalter und in der Frühen Neuzeit literarisch in unterschiedlichen Volkssprachen etabliert (vgl. Ohlenroth, Reinfried von Braunschweig, S. 70; Bartsch, Schluszwort, S. 812). Ihre Ausprägungen greifen die historische, bereits heroisch erhöhte Person Heinrichs des Löwen auf und versetzen sie in literarische Wunderwelten, um sie in modifizierter und stilisierter Form ins kulturelle Gedächtnis einzugraben (vgl. Röcke, Kulturelles Gedächtnis, S. 282). Im deutschsprachigen Raum ist auf Michel Wyssenheres Gedicht Von dem edelen hern von Bruneczwigk als er über mer fuore (überliefert in einer illustrierten Handschrift von 1471/1474), drei Dichtungen von Hans Sachs und auch die bis ins neunzehnte

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 Getrennte Traditionen und geteilte Pfade: Vorbemerkungen zur Textwahl

gonisten mit der historischen Figur. Daher stellen andere Ausprägungen solcher heroisierender Erzählungen trotz der teilweise auch vom Sagentyp abweichenden erzählten Geschehnisse im Reinfried36 von Beginn der Forschung an eine

Jahrhundert als Volksbuch fortbestehenden Schöne alte Histori von einem Fürsten und Herrn/ Hertzogen zu Braunschweig und Lüneburg des Dresdener Malers Heinrich Göding (jeweils fünfzehntes Jahrhundert) zu verweisen (vgl. hier S. 284f., der ausführlich die typische Struktur der Sage nachzeichnet). Neben den genannten Texten existieren zwei alttschechische Prosaromane (Stilfrid) und (Bruncvik) aus dem fünfzehnten/sechzehnten Jahrhundert, die wahrscheinlich auf Vorlagen aus der zweiten Hälfte des vierzehnten Jahrhunderts zurückgehen und ihrerseits ins Russische und Ungarische übertragen wurden (vgl. Achnitz, Babylon und Jerusalem, S. 216f.). Die konkrete Anlehnung der Erzählung an die historische Person Heinrichs, die die frühe Forschung propagiert (vgl. Zimmermann, Bestandteile, S. 151–160; Wackernagel, Willhelm: Geschichte der deutschen Literatur, Basel 1848, S. 187, Anm. 51, zit. n. Neudeck, Continuum historale, S. 23, Anm. 21 sowie n. Zimmermann, Bestandteile, S. 151, Anm. 4; zu möglichen zeitgeschichtlichen Bezügen s. Ohlenroth, Reinfried von Braunschweig, S. 67) wird in der jüngeren Forschung zurückgewiesen (vgl. Achnitz, Babylon und Jerusalem, S. 52; Herweg, Glücksspiel, S. 60f.; zur Inszenierung einer solchen Identifizierung des Helden mit der historischen Person vgl. Kiening, Christian: Wer aigen mein die welt… Weltentwürfe und Sinnprobleme deutscher Minne- und Aventiureromane des 14. Jahrhunderts. In: Literarische Interessenbildung im Mittelalter. DFG-Symposion 1991. Hrsg. von Joachim Heinzle, Stuttgart, Weimar 1993, S. 474–494, hier S. 481). Strukturelle Ähnlichkeit mit anderen literaris‌‌chen Erzeugnissen über Heinrich den Löwen ist nicht von der Hand zu weisen, sodass die Einordnung in die Traditionslinie Berechtigung hat. Entsprechend eindeutig sind die Forschungsurteile diesbezüglich. Gereke meint, die Löwensage habe „natürlich die grundlage [sic] für den R. [ge]bildet“ (Gereke, Reinfried, S. 368), Achnitz schreibt: „Unabhängig von der Heinrich-Sage ist die Entstehung des ,Reinfried‘ nicht zu denken, da vieles dafür spricht, daß die Erlebnisse des Helden am Ende des Romans aufs engste mit der Stofftradition der Sage verknüpft sind“ (Achnitz, Babylon und Jerusalem, S. 216). Als erste schriftliche Ausführung der Sage (vgl. Bartsch, Schluszwort, S. 811) kann der Reinfried nach neueren Erkenntnissen nicht gelten (vgl. Achnitz, Babylon und Jerusalem, S. 26). 36 Vor allem mit den einzelnen Orientabenteuern entfernt sich der Reinfried von Braunschweig von der Löwensage. So beschreibt Zimmermann diese Textelemente als allein auf die Interessen des damaligen Publikums zugeschnittene Ergänzungen (vgl. Zimmermann, Bestandteile, S. 163). Ebenso bleiben diese Passagen für Dittrich-Orlovius hinsichtlich ihrer Vorlagen rätselhaft und mit der Hauptgeschichte der Heimkehrergeschichte unverbunden (vgl. Dittrich-Orlovius, Erzählung und Reflexion, S. 20). Röcke interpretiert diese als nicht unübliche literarische Modifizierung des kulturellen Gedächtnisses zur Person Herinrichs des Löwen. Der Verfasser integriere einzelne Strukturelemente der Braunschweig-Sage in ein buntes Panorama der Erfahrung und Erfindung wunderbarer Welten im Osten (vgl. Röcke, Kulturelles Gedächtnis, S. 285). So sind die jeweils sehr unterschiedlich beeinflussten Orientabenteuer (vgl. Gereke, Reinfried, S. 377–449; s. zum Hinweis auf Herzog Ernst De Boor, Literatur, S. 84) nicht als Bruch mit der Hauptvorlage der Löwensage zu verstehen, sondern als deren modifizierende Ausarbeitung und Ergänzung.

Steckbriefe: Reinfried von Braunschweig – Apollonius von Tyrland 

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Interpretationsfolie für den Text dar.37 Vor allem für die Spekulationen über den möglichen Fortgang des Reinfried-Fragments sind sie von großer Bedeutung.38 Die hier steckbriefartig vorgestellten Texte teilen neben ähnlicher Entstehungszeiträume die Verwendung einer Vielzahl an unbestimmbaren Quellen und Einflüssen in der ausdehnenden Fortführung ihrer jeweiligen Stofftraditionen. Für den Fokus dieser Arbeit besitzt die Entfaltung der Handlung auf breitem Erzählraum durchaus Relevanz – stehen doch die Texte in ihrem Umfangreichtum erzählerisch vor demselben Problem wie die Figuren: Sie müssen Formen finden, durch die die über den Textraum verteilten Informationen verknüpft und über lange Erzählzeiten hinweg präsent gehalten werden, und arbeiten an den

37 Vgl. die Anm. 2/35. Nicht erst seit Wackernagels erstem Hinweis (vgl. Wackernagel, Willhelm: Geschichte der deutschen Literatur, Basel 1848, S. 187, Anm. 51, zit. n. Neudeck, Continuum historale, S. 23, Anm. 21) wird der Text als Ausformung der Sage zu Heinrich dem Löwen gesehen (vgl. Neudeck, Continuum historale, S. 23). Es gibt bereits früher einen anonymen, bzw. nur mit C. unterzeichneten Aufsatz von 1750 in den Braunschweigischen Anzeigen vom 29.08. (Nr. 69 Sp. 1385f.), der diesen Bezug herstellt (vgl. Zimmermann, Bestandteile, S. 151). Vgl. für die Persistenz diese Forschungsmeinung Martschini, Schriftlichkeit, S. 262; vgl. kritisch zu dieser Deutungstradition Neudeck, Continuum historale, S. 23–28. 38 „Die im Text verstreut mitgeteilten Vorausdeutungen auf den weiteren Handlungsverlauf (die scheinbar unmotivierte Entführung Irkanes in Dänemark, die Vorkehrungen Reinfrieds für den Fall seines Todes, die Teilung des Ringes, die Aushändigung des Zauberringes, die Ankündigung, daß Braunschweig später zwei Löwen im Wappen führen werde) lassen sich mit zentralen Episoden der Sage von Heinrich dem Löwen verbinden, die in mehreren spätmittelalterlichen Bearbeitungen überliefert ist“ (Achnitz, Babylon und Jerusalem, S. 215). Auf Grundlage der nach jener Erzähltradition noch ausstehenden Ereignisse sind in dem verlorenen oder nicht fertiggestellten Teil der geplanten Erzählung zusätzlich ein Drachenkampf, die anschließende Freundschaft mit einem Löwen, ein Greifenabenteuer, eine Kranichschnäblerepisode, die Rückkehr ins Heimatland und zur Geliebten zu vermuten (vgl. Dittrich-Orlovius, Erzählung und Reflexion, S. 20– 30, für die diese Ereignisse Bestandteile des von Heinrich dem Löwen getrennten Erzähltyps der Heimkehrgeschichte darstellen [vgl. hier S. 18] sowie Ohlenroth, Reinfried von Braunschweig, S. 70). Auch Achnitz nimmt den weiteren Verlauf der Löwensage für den Fortgang des abgebrochenen Textes in Anspruch und geht davon aus, dass Reinfried nur knapp eine Wiederverheiratung Yrkânes aufgrund des Gerüchts des Todes des Helden verhindern kann, indem er in letzter Minute – mithilfe des Teufels, der dann allerdings überlistet wird – zurückkehrt und sich dabei mittels des halbierten Rings ausweisen kann (vgl. Achnitz, Babylon und Jerusalem, S. 92, 217). Für die drohende Wiederverheiratung böten sich drei Optionen an: „Erstens könnte ein bis zum Abbruch nicht eingeführter Ritter um Irkane werben, zweitens Graf Arnold und drittens der verleumderische Ritter aus Dänemark, der ins Exil verbannt worden war“ (hier S. 160). Spekulationen zum Ausgang ließen sich eventuell auch mithilfe der in Yrkânes Minnebrief (s. Kap. 4.3.2) aufgerufenen Paare anstellen (vgl. Jürgens, Albrecht: ,Wilhelm von Österreich‘. Johanns von Würzburg ,Historia Poetica‘ von 1314 und Aufgabenstellungen einer narrativen Fürstenlehre, Frankfurt a. M. u. a. 1990 [Mikrokosmos 21], S. 379f.).

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 Getrennte Traditionen und geteilte Pfade: Vorbemerkungen zur Textwahl

Grenzen der Vermittlungsmöglichkeiten literarischen Erzählens.39 Um eine vergleichende Analyse zu begründen, bedarf es jedoch mehr. Dabei spielt die Forschungsgeschichte der Texte eine wichtige Rolle.

2.2 Schnittmengen: Der Reinfried und der Apollonius als Epigonenwerke und als Vertreter des ,Liebesund Abenteuerromans‘ Wolfgang Achnitz begründet seine Textauswahl damit, dass es sich beim Reinfried und beim Apollonius um „zwei zeitlich und inhaltlich eng zusammengehörige Texte aus derjenigen Gruppe der ,Minne- und Aventiureromane‘ […], die in der Endphase der Entwicklung des späthöfischen Versromans entstanden ist“ handle.40 Diese Begründung macht darauf aufmerksam, dass diese Texte neben der zeitlichen Nähe ihrer Entstehung auch die stofflichen und strukturellen Unterschieden trotzende Einordnung in eine Textgruppe verbindet. Diese Zuordnung jedoch ist nur Zielpunkt einer bereits früher anzusetzenden geteilten Forschungskarriere. Der Werdegang der Texte in der Forschung verläuft in vielerlei Hinsicht parallel. Er soll hier kurz nachgezeichnet werden,41 da er auf Ähnlichkeiten verweist, die die vergleichende Betrachtung des Apollonius und des Reinfried in dieser Arbeit motivieren. Aufgrund der Fokussierung der frühen germanistischen Forschung auf Texte eines ,klassischen‘ Erzählformats und mit eindeutiger Anbindung an prominente Namen und klar umrissene Stofftraditionen beginnt die Aufarbeitung beider

39 Es ließe sich in beide Richtungen argumentieren: Die innertextlichen Probleme der Raumund Zeitüberwindung durch mediale Formen würden durch den überdurchschnittlichen Umfang der Texte auch auf Erzählebene evident oder aber die sich mit den Textausmaßen stellenden narrativen Herausforderungen seien Ausgangspunkt eines Interesses für innertextuelle mediale Prozesse und Techniken. 40 Vgl. Achnitz, Babylon und Jerusalem, S. 3. Er sieht Reinfried als ältesten, Apollonius als jüngeren Vertreter der späten ,Liebes- und Abenteuerromane‘. Zu diesen gehörten außerdem Wilhelm von Österreich (1324), Friedrich von Schwaben (1314) und Wilhelm von Wenden (1289/1297) (vgl. hier S. 4). Peter Dreher zählt als die für die gemeinsame Begutachtung ausschlaggebenden Gemeinsamkeiten auf die thematische Dualität von Liebe und Reise, die Struktur von Werbung, Heirat, Trennung, Reise und Wiedervereinigung sowie die offensichtliche Vertrautheit der Verfasser mit einer Vielzahl antiker und mittelalterlicher Literatur an (vgl. Dreher, Enclosed Letters, S. 183). 41 Forschungsüberblicke zum Reinfried finden sich bei Dittrich-Orlovius, Erzählung und Reflexion, S. 3–12 (bis 1971) und Achnitz, Babylon und Jerusalem, S. 26–36 (bis 2002) sowie zum Apollonius bei Achnitz, Babylon und Jerusalem, S. 239–243 (ebenfalls bis ins Jahr 2002).

Schnittmengen: Epigonenwerke – Vertreter des ,Liebes- und Abenteuerromans‘ 

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Texte spät – zunächst unter ähnlichen Vorbehalten, dann mit vergleichbaren Rehabilitierungsstrategien. Da beide Texte in einem großen und damit unübersichtlichen Erzählraum eine Vielzahl an Stoffen, Motiven und Referenzen verarbeiten (s. Kap. 2.1), versperren sie sich einem intuitiven Verständnis. Es entsteht der Eindruck einer endlosen, willkürlichen Reihung und nicht einer ,sinnstiftenden Struktur‘. Daher stößt man in der Forschungsliteratur zu beiden Texten42 – auf Klagen über schlechten und uneinheitlichen Stil,43 epigonales Auf- und Überschwellen44 unter Anhäufung einer unüberschaubaren intra- und intertextuellen Verweisfülle,45 Struktur- und Kohärenzlosigkeit.46 Vor der Folie des arturischen

42 Für den Reinfried setzt ein mit der Veröffentlichung einer kommentierten Nacherzählung durch Karl Goedeke (1851) und der Textedition durch Karl Bartsch (1871) (vgl. Achnitz, Babylon und Jerusalem, S. 26f.). Heinrichs Text wird zunächst der Vollständigkeit halber als Randphänomen der Stofftradition genannt. Dabei wird er als Text der Übergangszone von spätmittelhochdeutscher Versepik und frühneuhochdeutscher Adaptation des spätantiken Stoffes ohne Nachwirkungen dargestellt (vgl. hier S. 240, Achnitz, Textproduktion und Sinnkonstituierung, S. 133). Den ersten Forschungsbeitrag dieser Art verfasst Elimar Klebs (vgl. Klebs, Apollonius, S. 485f.). Samuel Singer leistet die erste intensive Auseinandersetzung mit dem Text (vgl. Junk, Transformationen, S. 3). 43 Vgl. für den Apollonius De Boor, Literatur, S. 63f.; Ochsenbein, Heinrich von Neustadt, hier Sp. 842, für den Reinfried Dittrich-Orlovius, Erzählung und Reflexion, S. 109; Ohlenroth, Reinfried von Braunschweig, S. 83, S. 96; Gereke, Reinfried, S. 450; Bartsch, Schluszwort, S. 812. 44 In Bezug auf den Apollonius s. Kiening, Apollonius, S. 416, S. 418; Egidi, Margreth: Inzest und Aufschub. Zur Erzähllogik im Apollonius von Tyrland. In: Liebesgaben. Kommunikative, performative und poetologische Dimensionen in der Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Hrsg. von ders., Berlin 2012 (Philologische Studien und Quellen 240), S. 281–290, hier S. 288; für den Reinfried s. Neudeck, Continuum historale, S. 30; rückblickend Harms, Wolfgang: „Epigonisches“ im ,Reinfried von Braunschweig‘. In: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 94/3 [1965], S. 307–316, hier S. 307; Haug, Subjektivierung, S. 12). Harms verweist auf Bartsch, Schluszwort; Gereke, Reinfried; Schneider, Reinfried von Braunschweig. 45 Vgl. die Hinweise auf die Quellenvielfalt in Kap. 2.1. Apollonius sei – so Herweg – für viele wohl der irritierendste Vertreter der ,Liebes- und Abenteuerromane‘, da sich in der Verbindung unterschiedlicher Stoffe der Sinn nicht erschließe (vgl. Herweg, Verbindlichkeit, S.  18). Dass Wachinger noch zu Beginn der 1990er Jahre von der „Ungeschicklichkeit“, mit der hier „Stoffklitterung“ (Wachinger, Heinrich von Neustadt, S. 100) vollzogen werde, spricht, veranschaulicht das ästhetische Problem mit dem hybriden Stoffkomplex. Für den Reinfried hält Haug fest, die Verweisfülle führe zu einer „Komplexität, die alles andere als mühelos zu durchschauen ist“ (Haug, Subjektivierung, S. 12). 46 Vgl. zum Apollonius Wachinger, Heinrich von Neustadt, S. 115, s. a. S. 102. Als besonders irritierend wird in diesem Zusammenhang der von Heinrich erweiterte Teil der Exilreise wahrgenommen, deren Abenteuerreihe keiner strukturellen Logik zu unterliegen scheint. Es reihe sich „Abenteuer […] an Abenteuer, ohne daß irgendein kompositorischer Wille erkennbar wird“ (Lecouteux, Menschmagnet, S. 195; s. auch Lienert, Antikenromane, S. 169; vgl. zum Missver-

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 Getrennte Traditionen und geteilte Pfade: Vorbemerkungen zur Textwahl

Doppelwegschemas wird ein Missfallen an den krisenlos erscheinenden Helden47 und der vermeintlichen inhaltlichen Ziellosigkeit und Trivialität artikuliert.48

gnügen der Forschung an den Ergänzungen Achnitz, Textproduktion und Sinnkonstituierung, S. 133; Achnitz, Einführung, S. 9). 47 Vgl. in Bezug auf den Apollonius bspw. Ebenbauer, Apollonius von Tyrland, S. 319; in Bezug auf den Reinfried Koelliker, Beate: Reinfried von Braunschweig, Bern 1975, S.77f.; Ohlenroth, Reinfried von Braunschweig, S. 83. 48 „Ob und inwiefern sich hieraus [aus der Kombination des hellenistischen Stoffes mit den eingeschobenen Abenteuerepisoden im Apollonius] ein neues Sinngefüge ergibt, ist in der Forschung bis heute umstritten. Alfred Ebenbauer sieht in der Binnengeschichte Elemente des arturischen Doppelweges aufschimmern, die sich jedoch zu keinem Sinnganzen zusammenfügen, Burghart Wachinger negiert ein erkennbares, alle Einzelglieder verbindendes Konzept. Tomas Tomasek und Helmut Walther erkennen den ‚roten Faden‘ in einer heilsgeschichtlichen Konzeption des Gesamtgeschehens, ein Ansatz, den auch Wolfgang Achnitz verfolgt, wenn er dafür plädiert, die Binnenhandlung als Doppelweg zu verstehen, der – heilsgeschichtlich ausgedeutet – mit der Rahmenhandlung verbunden werden könne“ (Hagemann, Nora: Vorgeschichten – Inzestthematik im Liebes- und Abenteuerroman. In: Hybridität und Spiel. Der europäische Liebes- und Abenteuerroman von der Antike zur Frühen Neuzeit. Hrsg. von Martin Baisch/Jutta Eming, Berlin 2013, S. 135–161, hier S. 142). S. auch Spiewok, Geschichte, S. 164, Ochsenbein, Heinrich von Neustadt, hier Sp. 841f.; Wachinger, Heinrich von Neustadt, S. 103. Einen Katalog von auf hochhöfische Vorbilder ausgelegten negativen Werturteilen für den Reinfried führt Ohlenroth mit Verweis auf Schoenebecks Merkmalliste für bürgerliche Romane an (Ohlenroth, Reinfried von Braunschweig, S. 67). Der an großen Namen und Texten mit ,klassischer‘ Struktur und ,hochhöfischem Stil‘ orientierten Germanistik, die die Texte als der literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzung unwürdig empfindet, entsprechend gleichen sich die Forschungsresümees am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts. Was Ott für die Apollonius-Forschung festhält, ließe sich ebenso für den Reinfried behaupten: „Die Literaturwissenschaftler haben ihn eigentlich nie gemocht, oder besser: nichts rechtes damit anzufangen gewußt. […] der Apollonius von Tyrland [ist] ein ungebärdiger Brocken Literatur, bei dem Fabulierwut und unverhohlene Lust an Faktischem jegliche kompositorische, formale oder strukturelle Ordnung überwuchern“ (Ott, Norbert H.: Heinrich ‹von Neustadt›: Leben und Abenteuer des großen Königs Apollonius von Tyrus zu Land und zur See. Ein Abenteuerroman von Heinrich von Neustadt verfaßt zu Wien um 1300 nach Gottes Geburt. Übertragen mit allen Miniaturen der Wiener Handschrift C, mit Anmerkungen und einem Nachwort von Helmut Birkhan [Rezension]. In: Fabula. Zeitschrift für Erzählforschung 45/1–2 [2004], S. 118–121, hier S. 118).

Schnittmengen: Epigonenwerke – Vertreter des ,Liebes- und Abenteuerromans‘ 

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Den negativen Werturteilen49 der zunächst vornehmlich als Epigonenwerke gehandelten Texte50 entsprechend fällt die editorische Aufarbeitung aus. Der germanistischen Forschung wird der Reinfried Mitte des neunzehnten Jahrhunderts bruchstückhaft über Abschriften von Karl Gödeke zugänglich;51 die 1871 von Karl Bartsch erarbeitete Textausgabe52 erfährt deutliche

49 Diese häufen sich vor allem zu Beginn der Forschung (vgl. Klebs, Apollonius, S. 486; De Boor, Literatur, S. 63f.; Ochsenbein, Heinrich von Neustadt, hier Sp. 841f.; Dittrich-Orlovius, Erzählung und Reflexion, S. 36; Koelliker, Reinfried, S. 69), sind jedoch auch in jüngerer Zeit noch zu finden. Noch Neudeck hält es 1990 in seiner Dissertation zum Reinfried für nötig, sein „Interesse an einem historischen Epigonenwerk“ (Neudeck, Continuum historale, S.  16) zu verteidigen. Auch für den Apollonius lassen sich noch in den 1990er Jahren und nach der Jahrtausendwende Ausdrücke der Befremdung beobachten (vgl. die Aussagen bei Wachinger, Heinrich von Neustadt, S.102f.; Kiening, Apollonius, S. 416–419; Classen, Freude am Exotischen, S. 24, 26; Egidi, Inzest, S. 288). Achnitz fasst – ohne sich diesen Wertungen anzuschließen – zusammen: „Bislang wird Heinrichs von Neustadt ›Apollonius‹ von der Forschung entweder als mißlungene Bearbeitung der antiken ›Historia Apollonii‹ aufgefaßt und dann wegen seiner individuellen, scheinbar zusammenhangslosen Erweiterungen nur als am Rande des Stoffkreises stehend betrachtet, oder man vergleicht ihn mit den höfischen Romanen des 13. Jahrhunderts vom ›Parzival‹ bis zum ›Reinfried‹ und beschreibt ihn als einen typischen, weil ›fabulierenden‹ und unterhaltenden Roman des frühen 14. Jahrhunderts“ (Achnitz, Babylon und Jerusalem, S. 364f.). 50 Neudeck, Continuum historale, S. 30, betrachtet diese Wertung des Reinfried als Grund für das schwache Forschungsinteresse im zwanzigsten Jahrhundert. Haug erklärt, die ältere Forschung habe den Roman „in der Perspektive epigonaler Klitterung literarischer Versatzstücke“ interpretiert (Haug, Subjektivierung, hier S. 12). Auch laut Harms seien bestimmte Charakteristika des Texts „im Sinne eines unschöpferischen Epigonentums angesehen worden“ (Harms, Epigonisches, hier S. 307). Gemessen an den klassischen Versepen sei Heinrich von Neustadts Apollonius – so Eckart mit Bezug auf Schürenberg – als „das kunstlose Werk eines Epigonen“ verstanden worden (Eckart, Heinrich von Neustadt, hier S. 605). Auch Birkhan hält rückblickend fest: „Freilich blieb er auch dann [im neunzehnten Jahrhundert] noch als ,epigonales‘ (Mach-)Werk eines ,literarischen Außenseiters‘ im Hintergrund, denn das Um und Auf der mittelhochdeutschen Literaturgeschichte war die Blütezeit um 1200“ (Birkhan, Nachwort, hier S. 438). 51 Bartsch, Schluszwort, S. 804. Die bibliographische Angabe nach Zimmermann, Bestandteile, S. 151: Reinfrit von Braunschweig von Karl Gödeke. Hannover 1851. S.A. aus dem Archiv des historischen Vereins f. Niedersachsen. Jahrg. 1849 (Hannover 1851), S. 179–285. Bereits im achtzehnten Jahrhundert wurden offenbar zwei Abschriften von der Handschrift vorgenommen. Sie sind unter den Siglen Wolfenbüttel, HAB, Cod. Guelf. 62.1. ExtraV. und Hannover, LB, Ms. XXIII 224 zu finden (vgl. Ridder, Minne- und Aventiureromane, S. 374). 52 S. Anm. 1/5.

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 Getrennte Traditionen und geteilte Pfade: Vorbemerkungen zur Textwahl

Kritik53, provoziert aber keine Neuedition und wird so 1997 als „zwar keine absolut verläßliche, aber hinreichend brauchbare Textgrundlage für eine Interpretation“54 unverändert nachgedruckt und liegt notgedrungen auch noch dieser Arbeit

53 Auch wenn die Edition den Grundstein des anlaufenden Forschungsgesprächs legt, so ist ihre Qualität schon früh und bis heute immer wieder bemängelt worden. Vgl. dazu Achnitz, Babylon und Jerusalem, S. 26f., für die früh einsetzende Kritik vgl. Jänicke, Oskar: Zur Kritik des Reinfrid von Braunschweig. In: ZfdA 17 (1874), S. 505–518 [Aufarbeitung von Orthographie und Grammatik auf den S. 506–508, von Metrik auf den S. 508–512, von einzelnen Textstellen S. 512– 518] und Leitzmann, Albert: Zum Reinfried von Braunschweig. In: PBB 47 (1923), S.  142–152 [chronologisch sortierten Bemerkungen zu einzelnen Versen S. 143–152]. Die Kritik bezieht sich hauptsächlich auf die (nicht konsequent durchgeführte) Normalisierung und einige sinnentstellende Veränderungen (vgl. Achnitz, Babylon und Jerusalem, S. 27). 54 Achnitz, Babylon und Jerusalem, S. 27. Der im Olms-Verlag erschienene Nachdruck: Reinfried von Braunschweig. Hrsg. von Karl Bartsch. Nachdruck der Ausgabe Tübingen 1871 (Bibliothek des Literarischen Vereins in Stuttgart 109), Hildesheim 1997; Rezensionen dazu von Rohr, W. Günther: Rezension zum Nachdruck der Textausgabe Bartsch (1871). In: Germanistik 40 (1999), S. 452f. und Classen, Albrecht: Reinfried von Braunschweig. Hg. von Karl Bartsch (Bibliothek des Literarischen Vereins in Stuttgart, 109), Tübingen 1871. ND Georg Olms Verlag, HildesheimZürich-New York 1997 [Rezension] In: Mediävistik 13 (2000), S. 501f. Durch die frühe Editionskritik sind elementare Fehler aus dem Weg geräumt, andere Eingriffe sind anhand des Apparats nachzuvollziehen. Ein Faksimile der Handschrift im Schwarz-Weiß-Druck (Reinfried von Braunschweig. Faksimileausgabe der Handschrift Memb. II 42 der Forschungsbibliothek Gotha. Mit einer Einleitung hrsg. von Wolfgang Achnitz, Göppingen 2002 [Litterae 120]) steht seit 2002 zur Verfügung und erleichtert den Abgleich mit dem handschriftlich überlieferten Text (Rezension von Harms, Wolfgang: „Reinfried von Braunschweig“. Faksimileausgabe der Handschrift Memb. II 42 der Forschungsbibliothek Gotha. Mit einer Einleitung hrsg. von Wolfgang Achnitz, Göppingen 2002 (Litterae 120) [Rezension] In: Arbitrium 25 (1/2007), S. 34-36. Als Digitalisat ist die Handschrift leider noch nicht zugänglich. Wie Cornelia Hopf, Leiterin der Sammlungen und stellvertretende Direktorin der Forschungsbibliothek Gotha, Ende November 2018 mitteilte, ist die Digitalisierung des Codex im Rahmen eines beantragten DFG Projekts zur Digitalisierung mittelalterlicher Handschriften geplant. Mit der Bereitstellung ist frühestens 2020 zu rechnen.

Schnittmengen: Epigonenwerke – Vertreter des ,Liebes- und Abenteuerromans‘ 

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zugrunde.55 Die erste und auch in diesem Falle einzige56 Edition des „relativ breit, aber spät  […] überliefert[en]“57 Texts Heinrichs legt 1906 Samuel Singer

55 Während der Veröffentlichung dieser Arbeit ist eine dreibändige Ausgabe des Reinfried von Braunschweig im Solivagus Verlag erschienen, die dem Text mittels einer neuhochdeutschen Übersetzung von Elisabeth Martschini zu mehr Popularität zu verhelfen hofft (Reinfried von Braunschweig. Mittelhochdeutscher Text nach Karl Bartsch. Übersetzt und mit einem Stellenkommentar versehen von Elisabeth Martschini. Bd. 1 [Verse 1–6.834], Kiel 2017 sowie Reinfried von Braunschweig. Mittelhochdeutscher Text nach Karl Bartsch. Übersetzt und mit einem Stellenkommentar versehen von Elisabeth Martschini. Bd. 2 [Verse 6.835–17.980], Kiel 2018) Von einer Neuedition, die die Probleme des Editionstextes aus dem neunzehnten Jahrhundert beseitigt, ist nicht zu sprechen, da der mittelhochdeutsche Editionstext samt Apparat ohne Änderungen oder Abgleich mit der Handschrift von Karl Bartsch übernommen wird. Rezension: Wittchow, Britta: Reinfried von Braunschweig. Mittelhochdeutscher Text nach Karl Bartsch. Übersetzt und mit einem Stellenkommentar versehen von Elisabeth Martschini. Bd. 1 [Verse 1–6.834], Kiel 2017 [Rezension] In: Jahrbuch für internationale Germanistik 51/1 (2019), S. 277– 282. 56 Seit 2001 liegt eine neuhochdeutsche Fassung von Helmut Birkhan vor (Heinrich ‹von Neustadt›: Leben und Abenteuer des großen Königs Apollonius von Tyrus zu Land und zur See. Ein Abenteuerroman von Heinrich von Neustadt verfaßt zu Wien um 1300 nach Gottes Geburt. Übertragen mit allen Miniaturen der Wiener Handschrift C, mit Anmerkungen und einem Nachwort von Helmut Birkhan, Bern u. a. 2001); bei dieser handelt es sich um eine recht freie Prosaübersetzung des dort als „sehr schlecht[]“ (Birkhan, Nachwort, S. 434) bezeichneten, aber dennoch der Übersetzung zugrunde gelegten Texts Singers, die dem mittelhochdeutschen Text nicht gegenüber gestellt ist (vgl. Birkhan, Nachwort, S. 434). Birkhan selbst verleiht der Dringlichkeit einer kritischen Neuedition des mittelhochdeutschen Texts Ausdruck (vgl. Birkhan, Nachwort, S. 434). Achnitz macht in seiner Beschreibung der einzelnen Handschriften einen Vorschlag zu einer möglichen Neuedition (vgl. Achnitz, Einführung, S. 17); für diese Untersuchung musste auf Singers Ausgabe zurückgegriffen werden. Wünschenswert wäre für eine neue Bereitstellung des Texts neben der Berücksichtigung aller Textzeugen (s. Anm. 2/57 sowie die Tabelle 1) auch die Integration der Bildprogramme der Handschriften b und c (s. Anm. 2/57), die, wie SchultzBalluff, Achnitz und Krenn zeigen, wichtige Strukturierungsmittel und eigenständige Erzählelemente sind und weiterführend auf (Inter-)Medialität gerichtete Fragen eröffnen können (vgl. Schultz-Balluff, Dispositio picta; Achnitz, Textproduktion und Sinnkonstituierung, S. 128f.; Krenn, Bildprogramm). 75 der größtenteils in beiden Handschriften vorhandenen 128 Abbildungen druckt Krenn im Anhang ihrer Dissertation ab (vgl. Krenn, Bildprogramm, S.  254–403), Birkhans Prosaübertragung (s. o.) druckt alle Miniaturen von c ab. 57 Achnitz, Babylon und Jerusalem, S. 243. Eine knappe, aber inhaltlich reichhaltige Aufarbeitung der kodikologische Beschreibung der Textzeugen sowie Informationen zu Umfang, Inhalt und Qualität von Illustrationen der Handschriften finden sich bei Schultz-Balluff, Dispositio picta, S.  39–49; kurz dazu auch Ott, Rezension, S.  120. Krenn widmet den zwei illustrierten Handschriften eine genauere kodikologische Beschreibung (vgl. Krenn, Bildprogramm, S. 27–29, 187–190) und ikonografische Einordnung (vgl. hier S. 33–80). Achnitz, Wolfgang: Ein neuer Textzeuge zu Heinrichs von Neustadt ,Apollonius von Tyrland‘. In: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 132/4 (2003), S. 453–459 stellt auf S. 453–459 erstmals das Fragmente vor

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 Getrennte Traditionen und geteilte Pfade: Vorbemerkungen zur Textwahl

vor58 (s. zur Überlieferung Anhang).59 Ist Singers Leistung angesichts der damaligen Vorbehalte gegenüber ‚nachklassischen‘ Werken auch hoch zu schätzen,60 so ist doch noch mehr als im Falle der Bartschen Reinfried-Edition sein editorisches Vorgehen nach heutigen Standards fragwürdig und das Resultat seiner Arbeit kritisch zu betrachten.61 Der Eindruck des Desinteresses, das die Editionslage erweckt, bestätigt sich beim Blick auf das sich jeweils nur langsam entwickelnde Forschungsgespräch

(vgl. dazu auch Achnitz, Babylon und Jerusalem, S. 248; für den Abdruck Achnitz, Textzeuge, S. 457–459). Achnitz, Babylon und Jerusalem und Schultz-Balluff, Dispositio picta, verzeichnen jeweils die zugehörige Forschungsliteratur. Eine sehr ausführliche Beschreibung aller Handschriften und ein detaillierter Blick insbesondere auf die Handschrift b befindet sich im Vorwort zu der Farbmikroficheversion dieser (Achnitz, Einführung), eine umfassende Beschreibung der Gothaer Handschrift b leistet außerdem Eisermann, Falk: Chart A 689 Heinrich von Neustadt: ,Apollonius von Tyrland‘, einsehbar unter http://www.manuscripta-mediaevalia.de/hs/projektGotha-pdfs/Chart_A_689.pdf, (21. Februar 2019). Die Beziehungen zwischen den Handschriften sind nicht geklärt (vgl. Achnitz, Babylon und Jerusalem, S. 248; für die bisherigen Argumentationen vgl. Singer, Samuel: Vorwort. In: Heinrich ‹von Neustadt›: Apollonius von Tyrland. Nach der Gothaer Handschrift, Gottes Zukunft und Visio Philiberti nach der Heidelberger Handschrift. Hrsg. von dems. 2., unveränd. Aufl., Dublin, Zürich 1967 [Deutsche Texte des Mittelalters 7], S. V– XIII, hier S. VII; Achnitz, Einführung, S. 16; Achnitz, Textproduktion und Sinnkonstituierung, S. 130; Achnitz, Textzeuge, S. 456), für die illustrierten Handschriften b und c liegt eine gemeinsame Vorlage nahe (vgl. Krenn, Bildprogramm, S. 9, 80–82). Einen Überblick gibt der Anhang. 58 Als Leithandschrift wählt er Handschrift b (vgl. Achnitz, Textzeuge, S.  453, s.  auch Anm. 2/61). Auszüge wurden bereits 1875 von Strobl herausgegeben, der aufgearbeitete Umfang lässt sich aber nicht als Edition beschreiben (vgl. Achnitz, Babylon und Jerusalem, S. 239). 59 Erstellt aus den Informationen aus: Ochsenbein, Heinrich von Neustadt, hier Sp. 842; Ott, Rezension, S. 120; Achnitz, Babylon und Jerusalem, S. 243–249; Schultz-Balluff, Dispositio picta, S. 39–48.; Achnitz, Einführung; Eisermann, Chart A 689. Der angegebenen Literatur bietet ausführliche kodikologische Beschreibungen der einzelnen Überlieferungsträger. 60 „[D]ie in philologisch-restaurativer Perspektive operierende Apollonius-Forschung des 19. und 20. Jhs. [hatte] über den ,Apollonius von Tyrland‘ ihr Verdikt ausgesprochen […] einzig Samuel Singer wies dieses Verdikt polemisch zurück und widmete dem ,Apollonius von Tyrland‘ einen großen Teil seines Forscherinteresses, welches sich nicht nur in der (bis heute einzigen) vollständigen Edition des Werkes niederschlug“ (Junk, Transformationen, S. 3). 61 Obwohl ihm alle Handschriften zur Verfügung standen, druckt er nur die „oft fehlerhafte und textkritisch unzuverlässige Gothaer Handschrift (b)“ (Achnitz, Babylon und Jerusalem, S. 249; vgl. auch Achnitz, Einführung, S. 17) und sieht sich angesichts deren Unvollständigkeiten dazu veranlasst, selbständig Verszeilen zu ergänzen und das nicht akribisch zu verzeichnen (vgl. Junk, Transformationen, S. 63, derzufolge solche Ergänzungen immerhin den seltenen Ausnahmefall darstellen). Zur Auswahl der Handschrift für die Edition vgl. Achnitz, Babylon und Jerusalem, S. 249; Ochsenbein, Heinrich von Neustadt, hier Sp. 840; Singer, Vorwort, S. VII. Der zuverlässigste Textzeuge ist für Achnitz HS a, welche jedoch eine Vielzahl mechanischer Lücken aufweist (vgl. Achnitz, Einführung, S. 16). Achnitz zeigt in seiner Habilitationsschrift Unver-

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über beide Texte. In der frühen Forschung finden sich nur vereinzelt Beiträge, die sich auf Grundlagenforschung bezüglich Dichterperson, Stofftradition, Quellen und Vorlagen konzentrieren,62 und die negative Wertungen vor der Folie der jeweiligen Stoff-, Struktur- und Motivgeber sowie ,Stilvorbilder‘63 geradezu herausfordern. Im Aufflammen und Erlöschen eines milden Interesses lösen sich die Texte zeitlich quasi ab. Während in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts die Reinfried-Forschung schweigt, gerät der Apollonius in seiner sprachlich-stilistischen Konzeption64 und seiner vermeintlichen Exemplarität als ,bürgerlicher Roman‘ in den Fokus;65 als die Forschung um jenen Mitte des Jahrhunderts für dreißig Jahre verstummt,66 entstehen erste längere Arbeiten über den Reinfried. Die für die Reinfried-Forschung mit Harms Mitte der 1960er,67 für

ständnis für Singers Vorgehen, bezeichnet seine Editionsprinzipien als „untauglich“ (Achnitz, Babylon und Jerusalem, S. 249; vgl. auch Achnitz, Einführung, S. 17) und macht die Edition für die Abwertung, die der Text in der Forschung erfahren hat, verantwortlich (vgl. Achnitz, Einführung, S. 17). Auch Singer ist sich der Problematik seiner Ausgabe bewusst und weist in seinem Vorwort darauf hin, dass es sich eher um einen Abdruck als eine Edition im engeren Sinne handle (vgl. Singer, Vorwort, S. V). 62 So für den Reinfried Bartsch, Schluszwort; Zimmermann, Bestandteile, und Gereke, Reinfried; für den Apollonius – im Abgleich mit der Historia sowie auf der Suche nach Quellen der Binnenepisoden – Klebs, Apollonius, S. 485f.; Bockhoff/Singer, Quellen. 63 Vgl. zur Orientierung des Reinfried-Dichters an Konrad von Würzburg Bartsch, Schluszwort, S.  812; De Boor, Literatur, S.  84; zu Rudolf von Ems und Gottfried von Straßburg ergänzend Gereke, Reinfried, S. 449f. 64 Vgl. Schürenberg, Apollonius von Tyrland, in einer recht wertfreien Studie. Schürenberg bemüht sich für die literarische Vorgehensweise, die er herausarbeitet – der auf Unterhaltung abzielende Stoff regiere Struktur und Stil – im Gegensatz zu nachfolgender Forschung (z. B bei Wachinger, Heinrich von Neustadt, vgl. S. 103) um Anerkennung (vgl. Schürenberg, Apollonius von Tyrland, S. 88, S. 107). 65 Vgl. Schoenebeck, Roman, der versucht, Tendenzen einer ,Verbürgerlichung‘ des Romans vor dem Fixpunkt des höfischen Romans unter damit einhergehender Behauptung von Problemlosigkeit, Mangel an objektiver Gestaltung, Bildungsstolz und Sprichwortweisheit als typische Charakteristika des defizitären ,bürgerlichen Romans‘ nachzuweisen (vgl. hier S. 2). Ihm folgen in der Einschätzung Eckart, Heinrich von Neustadt, S. 604; Cieslik, Wertnormen, S. 45; Ochsenbein, Heinrich von Neustadt, hier Sp.  841; in jüngeren Forschungsbeiträgen wurde dieser Lesart (wie auch einer solchen Bürgerkonzeption) ausdrücklich widersprochen (vgl. Ebenbauer, Apollonius von Tyrland, S. 343 sowie Achnitz, Heinrich von Neustadt, S. 304). 66 Zwischen 1956 und 1986 ließen sich nur Lexikoneinträge zum Apollonius – Denecke, Apollonius; Briesenmeister, Apollonius; Ochsenbein, Heinrich von Neustadt – finden. 67 Vgl. Harms, Epigonisches. Er betrachtet die Vorlagen und Motivzitate sowie die literarischen Anspielungen auf ihre Funktion hin wertneutral und arbeitet den schöpferischen Aspekt der Anleihen, die Leistung der Akzentuierung und Färbung des Materials heraus (vgl. hier S. 307f., S. 312f.). Nach Harms’ Beitrag ist in nachfolgenden Arbeiten eine veränderte Haltung dem Text

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die Apollonius-Forschung mit Ebenbauer gute zwanzig Jahre später neu ansetzende Forschung68 ist vor allem darum bemüht, die Texte aufzuwerten.69 Dabei werden die zuvor abwertend vorgebrachten Befunde nun entweder zu aussagekräftigen Symptomen einer Epoche oder zu charakteristischen und sogar sinngebenden Prinzipien erhoben.70 Besonderen Auftrieb erfährt die Forschung an

gegenüber zu spüren (vgl. die positiven Äußerungen bei De Boor, Literatur, S.  87; Neudeck, Continuum historale, S. 205–237; Ebenbauer, Alfred: Spekulieren über Geschichte im höfischen Roman um 1300. In: Philologische Untersuchungen. Gewidmet Elfriede Stutz zum 65. Geburtstag. Hrsg. von dems. [Philologica Germanica 7], Wien 1984, S. 151–166, hier S. 151; Vögel, Naturkundliches, S. 70; Haug, Subjektivierung, S. 12, Anm. 6; Achnitz, Babylon und Jerusalem, S. 28). 68 Vgl. Ebenbauer, Spekulieren; Ebenbauer, Apollonius von Tyrland; Ebenbauer, Alfred: Apollonius und die Sirene. Zum Sirenenmotiv im ,Apollonius von Tyrland‘ des Heinrich von Neustadt  – und anderswo. In: Classica et mediaevalia. Studies in honor of Joseph Szövérffy. Hrsg. von Irene Vasleff, Washington, DC u. a. 1986 (Medieval classics 20), S. 31–56. Seine Beiträge werden bei Schultz-Balluff und Achnitz als positive Wende der Apollonius-Forschung betrachtet (vgl. Schultz-Balluff, Dispositio picta, S.  23f.; Achnitz, Babylon und Jerusalem, S. 241). In den nachfolgenden Beiträgen fällt das Urteil über den Roman deutlich positiver aus (vgl. die Aussagen bei Tomasek, Einfluss, S. 236; Tomasek, Rätsel. S. 196f.; Röcke, Werner: Die Wahrheit der Wunder. Abenteuer der Erfahrung und des Erzählens im mittelhochdeutschen ‚St. Brandan‘ und in Heinrichs von Neustadt ‚Apollonius von Tyrlant‘. In: Wege in die Neuzeit. Hrsg. von Thomas Cramer, München 1988 [Forschungen zur Geschichte der Älteren Deutschen Literatur 8], S. 252–269, hier S. 260; Birkhan, Nachwort, S. 418). Die Kritik bleibt punktuell und in ihrer Schärfe hinter den Urteilen der frühen Forschung zurück (vgl. bspw. Birkhan, Nachwort, S. 425, 429, 438). 69 Es ginge bspw. Harms darum, so Neudeck, „[e]ine Dichtung, die aufgrund des verfehlten Postulats von literarischer Originalität und anderen unangemessenen Wertungen lange Zeit von vornherein abgeurteilt war, […] als Zeugnis einer Epoche sowie ihres Bewußtseinsstandes [zu] rehabilitier[][en]“ (Neudeck, Continuum historale, S. 31f.). 70 Was die Stilfrage betrifft, so wird ab Ebenbauers Beiträgen nur noch vom Hang Heinrichs zu realistischer, geographischer, naturkundlicher, enzyklopädischer Darstellung gesprochen, ohne damit explizit Werturteile zu verknüpfen (vgl. Ebenbauer, Apollonius von Tyrland, S. 321; Eckart, Heinrich von Neustadt, hier Sp.  604). Eine Erklärung für die stilistischen Brüche im Reinfried findet Ridder in der Verweigerung, das Erzählen unter ein Sprachideal zu subordinieren, was kohärenzlos wirken könne (vgl. Ridder, Minne- und Aventiureromane, 335), aber – so Herweg – an der Verlagerung der Hybridität auf die discours-Ebene liege, die im Dienste der bereits bei Ridder proklamierten Sinnpluralisierung stehe (vgl. Herweg, Verbindlichkeit, S. 159). Die Montagetechnik beruhe auf der „exzeptionellen Belesenheit“ des Verfassers (Jürgens, Fürstenlehre, S. 369). Für Röcke sind die Brüche im Apollonius Indiz dafür, dass die dargestellte Welt nicht mehr von Sinn, sondern von Zufall geprägt ist (vgl. Röcke, Wahrheit, S. 262; s. außerdem S. 264). Die „ungebrochene Positivität“ (vgl. Kiening, Weltentwürfe, S. 475) der Figuren von Liebes- und Abenteuerromanen, insbesondere des Reinfried von Braunschweig, simplifiziere – so heißt es nun – den Helden nicht. Mehr und mehr zeige sich in der Eigendynamik raum-zeitlicher Dimensionen in den Szenen der Orientfahrt das Problem, ein individuelles Wertesystem, wie

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beiden Texten jedoch mit dem wachsenden Interesse an der Textsorte ,Liebesund Abenteuerroman‘ und der aufgeladenen Diskussion um diese immer wieder proklamierte und immer wieder umstrittene Gattung, der beide Texte – so zeigt die eingangs zitierte Aussage Achnitz’ – zugeschrieben werden. Diese Zuschreibung erwächst zunächst aus Verlegenheit. Das kann kaum überraschen, ist doch die De Boors und Newalds Literaturgeschichte entspringende Gattung selbst zunächst ein Sammelbecken für spätmittelalterliche Texte, die sich in das bestehende Gattungssystem der germanistischen Mediävistik nicht einordnen ließen.71 Beim Reinfried war offenbar auf Grundlage der Quellenforschung keine andere Zuordnung vertretbar,72 beim Apollonius verhinderten die vielfältigen Additionen und Veränderungen73 eine klare stoffgeschicht-

der Protagonist es ausbilde, mit den textuellen Werten der Gesellschaft (Minne und Herrschaft) in Einklang zu bringen (vgl. hier S.  485f.). Das vielfache Hervortreten der Erzählerstimme in Exkursen und Kommentaren des Reinfried wird als Positionierung zum Verhältnis zwischen inner- und außerliterarischer Realität (vgl. Dittrich-Orlovius, Erzählung und Reflexion; Koelliker, Reinfried; Ohlenroth, Reinfried von Braunschweig; Kiening, Weltentwürfe; vgl. auch De Boor, Literatur, S. 86) oder im Hinblick auf die Synthese tradierter Geschichtsauffassung und Gegenwartserfahrung (vgl. Neudeck, Continuum historale, mit deutlicher Distanzierung von Dittrich-Orlovius und Koelliker [vgl. Neudeck, Continuum historale, S.  12, 33f.]) gelesen (später unter einem anderen Blickwinkel nochmals mit den Erzählerkommentaren beschäftigt ist Achnitz, Babylon und Jerusalem, S. 94–101). In der Apollonius-Forschung wird die ausschweifende Präsentation von Phänomenen des Wunderbaren in diesem Sinne als charakteristisch geltend gemacht (s. Anm. 2/107). 71 Zur Genese der Gattung s. Anm. 2/79. Christine Putzo leitet ihren ausführlichen Überblick zu diesem Thema mit der Feststellung ein: „Als ,Verlegenheitslösung‘ dient er als Sammelbecken für eine heterogene und uneinheitlich begrenzte Gruppe von Romanen des 12. bis 16. Jahrhunderts, über deren historische Zusammengehörigkeit keine Illusionen bestehen dürften.“ (Putzo, Christine: Eine Verlegenheitslösung. Der ,Minne- und Aventiureroman‘ in der germanistischen Mediävistik. In: Hybridität und Spiel. Der europäische Liebes- und Abenteuerroman von der Antike zur Frühen Neuzeit. Hrsg. von Martin Baisch/Jutta Eming, Berlin 2013, S. 41–70, hier S. 42). 72 Die Vielzahl an Themen und Motiven bereitete der germanistischen Forschung von Beginn an Probleme bei der Einordnung dieses „Gebilde[s] ausschweifender Phantasie“ (Gödecke, Karl: Reinfrit von Braunschweig, Hannover 1851, S. 22). Bereits Ettmüller vermag den Reinfried keinem seiner Sagenkreise zuordnen und verzeichnet ihn daher nur unter „vereinzelte Epen“ (Ettmüller, Ludwig: Handbuch der deutschen Literaturgeschichte von den ältesten bis auf die neuesten Zeiten. Mit Einschluß der angelsächsischen ,altscandinavischen und mittelniederländischen Schriftwerke, Leipzig 1847, S. 230). 73 „Der Text ist im besten Sinne hybrid: Der hellenistische Liebes- und Reiseroman wird mit Heilsgeschichte, Artus- und Alexandertradition verknüpft, das Brautwerbungsschema in verschiedensten Ausformungen durchgespielt“ (Hagemann, Vorgeschichten, S. 142).

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lich motivierte Einordnung als Antikenroman74 und führten auch hier zu einer gewissen Ratlosigkeit die Gattungszuordnung betreffend.75 Doch zeigt die initiale Zuordnung deutliche Spuren der ,Verlegenheitslösung‘, so erweist sich die Verortung selbst als erstaunlich konstant. Nach Einführung und Etablierung des Labels ,Liebes-und Abenteuerroman‘ ordnen die Forschungsbeiträge beide Texte über die letzten Jahrzehnte hinweg in den sonst sehr unsteten Textkorpus76 der Textsorte ein.77 Der Reinfried und der Apollonius zählen somit zu den wenigen ,stabilen‘ Vertretern jener Textsorte, mit der sich in erster Linie der Eindruck von Unfestigkeit und Dissens verbindet. Bereits ihre Nomination ist alles andere als

74 Im engeren Sinne zählen zu der im zwölften Jahrhundert in Frankreich aufkommenden und auch im deutschen Sprachraum breite Rezeption erfahrende Textsorte Texte, die antike Stoffe um Theben, Troja und Aeneas, sowie Alexander den Großen aufnehmen (vgl. Kottmann, Carsten: Gott und die Götter. Antike Tradition und mittelalterliche Gegenwart im ,Eneasroman‘ Heinrichs von Veldeke. In: Studia Neophilologica 73 [2001], S. 71–85, hier S. 71). Im weiteren Sinne zählt zu diesen Stoffen auch die Geschichte des Apollonius von Tyrland (vgl. Lienert, Antikenromane, S. 163), sodass der Apollonius grundsätzlich als Abkömmling jener Gattung verstanden werden kann (Schultz-Balluff, Dispositio picta, S. 25, Anm. 35 mit Verweis auf Lienert, An­ tikenromane, S. 163). 75 Vgl. zu anhaltenden und kontroversen Diskussion um die Gattungszugehörigkeit zuletzt Krenn, Bildprogramm, S. 13. Im strukturellen Aufbau vermischten sich hellenistischer Roman, Antikenepik, Reichsgeschichte, Apokalyptik und Katechetik, eine Vielzahl einzelner Stoffe und Motive mit verschiedensten Quellen (vgl. Herweg, Verbindlichkeit, S. 61; vgl. dazu auch Classen, Freude am Exotischen, S. 24f.). 76 Immer wieder finden sich andere Texte in den unterschiedlich binnendifferenzierenden Aufzählungen, sodass sich aus mehrheitlichen Nennungen bestenfalls ein unscharf definiertes Korpus ergibt (vgl. Putzo, Verlegenheitslösung, S. 42). Putzo liefert in ihrem Forschungsüberblick von 2013 eine tabellarische Übersicht aller seit 1962 bei De Boor, Literatur, S. 82–91; Ruh, Kurt: Epische Literatur des deutschen Spätmittelalters. In: Neues Handbuch der Literaturwissenschaft. Band 8 Europäisches Spätmittelalter, Wiesbaden 1978, S. 117–188, hier S. 140–147; Röcke, Werner: Höfische und unhöfische Minne- und Abenteuerromane. In: Epische Stoffe des Mittelalters. Hrsg. von Volker Mertens/Ulrich Müller, Stuttgart 1984, S. 395–423 der Gattung zugewiesenen Romane in chronologischer Sortierung der Texte inklusive der vor der bestehenden Gattungszuschreibungen und der unterschiedlichen Klassifizierungen innerhalb dieser Gruppe. Sie kommt auf zweiundvierzig Texte aus dem Zeitraum von 1160 bis zum Ende des vierzehnten Jahrhunderts, von denen dem gegenwärtig regelmäßig (aber nicht ausschließlich) verzeichneten Korpus zwölf angehören. Das sind: Flore und Blanscheflur, Der gute Gerhard, Die Gute Frau, Wilhelm von Orlens, Engelhard, Demantin, Crane, Partonopier und Meliur, Wilhelm von Wenden, Reinfried von Braunschweig, Apollonius von Tyrland und Friedrich von Schwaben (vgl. Putzo, Verlegenheitslösung, S. 44–47; leicht abweichend fällt die Liste bei Achnitz, Babylon und Jerusalem, S. 1 aus). 77 Zum Beispiel beginnt Achnitz seine Auseinandersetzung mit den Texten mit der Feststellung, dass die Forschung sie dieser Textgruppe zuordne (vgl. Achnitz, Babylon und Jerusalem, S. 1), um dessen Neubestimmung des ihm in seiner Arbeit unter anderem geht (vgl. hier S. 2).

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konsensfähig und veranschaulicht die unterschiedlichen Verständnisse und Akzentsetzungen.78 Ähnlich umstritten ist der literaturgeschichtliche Status, der dieser Textsorte eingeräumt werden soll, was sowohl mit den programmatischen Implikationen, die mit der Textgruppengenese verbunden sind,79 als

78 Laut Herweg gehört die Frage nach der angemessenen Bezeichnung neben der nach Umfang des Textkorpus’ und der nach den archi- und intertextuellen Bezügen zu den den Diskurs um die Gattung bestimmenden Fragen (vgl. Herweg, Verbindlichkeit, S. 29). Die Rede ist vom ,Minne- und Aventiure‘-/,Minne- und Abenteuer‘-/,Liebes- und Abenteuerroman‘ (so die am häufigsten auftauchenden Namen, die auch Achnitz, Babylon und Jerusalem, S.  1 ausmacht), oder seltener vom ,Historischen Roman‘, ,Realistischen Roman‘ (zusätzlich zu den vorher genannten Bezeichnungen erwähnt bei Putzo, Verlegenheitslösung, S. 70) und ,Herrschafts- und Staats-‘ (vgl. Achnitz, Babylon und Jerusalem, S. 8.) bzw. ,Fürsten- und Herrschaftsroman‘ (so Herweg, Verbindlichkeit, S. 38–42). Zu den variierenden Gattungsbezeichnungen und den jeweiligen Begründungen vgl. Eming, Jutta: Emotion und Expression. Untersuchungen zu deutschen und französischen Liebes- und Abenteuerromanen des 12.–16. Jahrhunderts, Berlin 2006, S.  11–13; Putzo, Verlegenheitslösung, S.  41; Achnitz, Babylon und Jerusalem, S. 218, Herweg, Verbindlichkeit, S. 25–41; Baisch, Martin/Eming, Jutta: Einleitung. In: Hybridität und Spiel. Der europäische Liebes- und Abenteuerroman von der Antike zur Frühen Neuzeit. Hrsg. von dens., Berlin 2013, S. 9–26, hier S. 11 mit Verweis auf Bachorski, Hans-Jürgen: grosse vngelücke und vnsälige widerwertigkeit und doch ein guotes seliges ende. Narrative Strukturen und ideologische Probleme des Liebes- und Abenteuerromans in Spätmittelalter und früher Neuzeit. In: Fremderfahrung in Texten des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit. Hrsg. von Günther Berger/ Stephan Kohl, Trier 1993 (Literatur, Imagination, Realität 7), S.  59–86 und Eming, Jutta: Geschlechterkonstruktion im Liebes- und Abenteuerroman. In: Manlîchiu wîp, wîplîch man. Zur Konstruktion der Kategorien ,Körper‘ und ,Geschlecht‘ in der deutschen Literatur des Mittelalters. Internationales Kolloquium der Oswald von Wolkenstein-Gesellschaft und der GerhardMercator-Universität Duisburg, Xanten 1997. Hrsg. von Ingrid Bennewitz/Helmut Tervooren, Berlin 1999 (Beihefte der ZfdPh 9), S.  159–181, S.  161–163. Durchgesetzt haben sich diese Vorschläge gegen die älteren Bezeichnungen nicht. Hier findet der gängige Terminus ‚Liebes- und Abenteuerroman‘ Verwendung. 79 Die Bildung des Gattungsbegriffs entspringt dem germanistischen Paradigmenwechsel vom Blüte-Verfall-Schema (zur Dominanz dieses Denkmusters vgl. Ruh, Epische Literatur, S.  117) zu einem Bemühen um Wertschätzung unterschiedlicher literarischer Erzeugnisse, von der die Spätmittelalter-Forschung profitierte, und ist damit idealistisch aufgeladen (vgl. Putzo, Verlegenheitslösung, S. 53). Im Zuge seiner der Aufwertung spätmittelalterlicher Literatur verschriebenen Systematisierung der Romanliteratur nach 1250 – führt De Boor neben der Artus­ epik, der Tristandichtung, dem Gralroman und antiken Stoffen die zwei neuen Gruppen des abenteuerlichen Minneromans (De Boor, Literatur, S.  82) und des erbaulichen Minneromans (hier S. 91–94) auf. Damit schafft er die begriffliche Grundlage für weitere Systematisierungen bei Kurt Ruh (Ruh, Epische Literatur), welcher sich um eine neutralere Darstellung bemüht und als erster den Terminus der ,Minne- und Aventiureromane‘ verwendet (vgl. Putzo, Verlegenheitslösung, S.  51). Beeinflusst von dieser Begriffsprägung fixiert, differenziert und spezialisiert Werner Röcke durch seinen Handbuchbeitrag (Röcke, Minne- und Aventiure­romane) den Begriff, den er im selben Atemzug auch kritisch hinterfragt. Gleichzeitig setzt das Anführen

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auch mit der grundsätzlicheren Diskussion um die methodische Nützlich- und Notwendigkeit systematischer Literaturgeschichtsschreibung zusammenhängt. Was dieses angeblich „erfolgreichste Romangenre der Weltliteratur überhaupt“80 konstituiert, auf welcher Ebene ein Definitionsversuch stattfinden kann und soll81 und ob die jeweils angeführten Merkmale „gattungskonstituierende[] Dominanten“82 zu bilden vermögen, auf deren Grundlage von einer Gattung zu sprechen ist, bleibt umstritten.83 Prominent finden sich in der Forschungslite-

alternativer Begrifflichkeiten ein; zu einer ausgiebigen Auseinandersetzung mit dieser Pluralität kommt es jedoch in dieser frühen Phase der Gattungsdiskussion nicht. Dennoch setzt bereits bald nach Etablierung des Labels Kritik an den geprägten Begriffen und dem suggerierten Gattungsstatus ein. S.  die ausführliche Darstellung bei Putzo, Verlegenheitslösung. 80 So im Vorwort zum Sammelband zum ,Liebes- und Abenteuerroman‘ emphatisch Baisch/ Eming, Einleitung, S. 9. Gemessen wird dies an Dauer und Verbreitung des Erzähltyps. Es handle sich beim ,Liebes- und Abenteuerroman‘ „um eine von der hellenistischen Antike über Mittelalter und Frühe Neuzeit bis in das Barock beliebte und bis ins 19. Jahrhundert hinein noch immer bekannte, reflektierte und teils parodierte Gattung“ (Baisch/Eming, Einleitung, S. 9; vgl. auch Kasten, Ingrid: Bachtin und der höfische Roman, In: bickelwort und wildiu maere. Festschrift für Eberhard Nellmann zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Dorothee Lindemann/Berndt Volkmann/ Klaus-Peter Wegera, Göppingen 1995 [Göppinger Arbeiten zur Germanistik 618], S. 51–70, hier S. 56), wobei der Sammelband sich gerade auch der Frage nach der Möglichkeit und Unmöglichkeit der Gattungsbehauptung widmet. 81 Während bei vielen Definitionsversuchen nicht deutlich ist, ob zunächst Kriterien aufgestellt werden und dann ein Textkorpus bestimmt wird oder andersherum (oder in einem kontinuierlichen Prozess abwechselnder Richtung), versucht Bachorski mit einem Blick auf einen diese Texte parodierenden Text, mehr über deren Charakteristika herauszufinden (vgl. Bachorski, Narrative Strukturen, hier insbes. S. 59–64). Der Beitrag Putzos versucht, sich über eine abwägende Aufstellung aller bisheriger Definitionsversuche (vgl. Putzo, Verlegenheitslösung) einer Bestimmung zu nähern. 82 Zunächst ins Gespräch gebracht durch Röcke, Minne- und Aventiureromane, S. 396f. Für ihn sind dies die thematische Ausrichtung auf eine Liebesbeziehung, die Zentrierung der Handlung um die Pole minne und aventiure, die Verbindung von Trennung und Wiedervereinigung mit Ferne und Heimat, eine Differenzierung der Personendarstellung (vgl. hier S. 397–401). In seiner Nachfolge verwenden diese Bezeichnung für systematische Teilkontinuitäten, die im Idealfall eine die Texte untereinander verbindende Merkmalsammlung ergeben, bspw. Bachorski, Narrative Strukturen, S. 64; Baisch/Eming, Einleitung, S. 11, um damit auf die Problematik einer unabschließbaren Gattungsdiskussion hinzuweisen. 83 Vgl. Baisch/Eming, Einleitung, S. 11; vgl. den Beitrag von Putzo, Verlegenheitslösung, bes. S. 42 sowie die bei ihr referierte Literatur (vgl. hier S. 42, Anm. 6). Weder über ein historisches Zusammengehörigkeitsbewusstsein (vgl. Putzo, Verlegenheitslösung, S.  64), noch über einen bestimmten Zeitrahmen (vgl. den Verweis auf die Breite des Entstehungszeitraums [zwölftessechzehntes Jahrhundert] bei Herweg, Verbindlichkeit, S. 23), ein Erzählmuster oder intertextuelle Bezüge (vgl. Putzo, Verlegenheitslösung, S.  64) lässt sich eine Zusammengehörigkeit der als ,Liebes- und Abenteuerromane‘ ins Gespräch gebrachten Texte (s. dazu die Anm. 2/76)

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ratur das durch die Bachtin-Rezeption84 popularisierte Kriterium ,inhaltlichstrukturelle Ähnlichkeit mit dem hellenistischen Liebes- und Reiseroman‘,85 in

unter einem Gattungsbegriff begründen. Die Suche nach systematischen Teilkontinuitäten hat bislang viele verschiedene Ergebnisse hervorgebracht. Ein Merkmalskatalog, der allgemeine Zustimmung erfahren hätte, ist dabei nicht entstanden. Auch Röcke, der den Begriff durch seinen Beitrag fest in der mediävistischen Forschung etabliert, weist ausdrücklich darauf hin, dass die „Zusammenfassung“ des Corpus „zu einer Erzählgattung problematisch“ sei (Röcke, Minneund Aventiureromane, S. 396, s. auch bereits S. 395). Mittlerweile ist bereits der Verweis auf die terminologische und systematische Uneinigkeit und Unsicherheit so etabliert, dass die ständige Kritik an der Gattung selbst in die Kritik geraten ist (vgl. Putzo, Verlegenheitslösung, S. 43). 84 Die Aufarbeitung der Thesen und Begrifflichkeiten Bachtins im Rahmen der Gattungsdiskussion ist ein entscheidender Schritt bei der seit den 1980er Jahren beobachtbaren (vgl. Baisch/ Eming, Einleitung, S. 9) veränderten Haltung gegenüber Vertretern der Gattung. Die im Rahmen der Gattungsdiskussion gemachten Beobachtungen und Beschreibungen unter den Stichworten Hybridität und Chronotopos haben wesentlich dazu beigetragen, die über die Texte gesprochenen Verdikte aufzuheben und ihnen mehr Bedeutung in der Forschungsdiskussion zu schenken, „[d]as Ausmaß, in dem Bachtin damit neue Forschungen zu Roman und Gattungstheorie inspiriert hat, ist kaum zu überschätzen“ (hier, S. 11). 85 Die schon bei Ruh als stärkstes gemeinsames Element der Textgruppe identifizierte Handlungsstruktur von Trennung, Suche und Wiederfinden (vgl. Röcke, Minne- und Aventiure­ romane, S. 395 sowie S. 397; Achnitz, Babylon und Jerusalem, S. 1; Putzo, Verlegenheitslösung, S. 52), wird spätestens mit der Rezeption von Bachtins Arbeiten zum Parallelität und Kohärenz stiftenden, traditionsbildenden Bindeglied zwischen dem antiken Roman und den mittelalterlichen Texten erhoben. Bachtin stellt in seiner Untersuchung fest, dass der ,abenteuerliche Prüfungsroman‘ der griechischen Antike, der sich im zweiten und vierten Jahrhundert herausbildet (vgl. Bachtin, Michail M.: Chronotopos. Aus dem Russ. von Michael Dewey, mit einem Nachwort von Michael C. Frank und Kirsten Mahlke, Frankfurt a. M. 2008 [Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 1879], S.  10f.), eine bis ins achtzehnte Jahrhundert reichende literarische Tradition begründet (vgl. hier S. 9f.; grundlegend zur antiken Romantradition Dubielzig, Uwe: Roman, Novelle und verwandte Gattungen. In: Lexikon des Hellenismus. Hrsg. von Hatto H. Schmitt/ Ernst Vogt, Wiesbaden 2005, Sp. 934–946). In dieser Argumentation wird die Gattung über Inhalt und Makrostruktur als mittelalterlicher Sprössling einer kohärenten literarischen Tradition von Antike bis Neuzeit konzipiert (vgl. Baisch, Briefwechsel, S. 197 mit Verweis auf Bachorski, Narrative Strukturen; zur Rückführung dieser Struktur auf den hellenistischen Roman s. auch Lienert, Antikenromane, S. 165; Kiening, Weltentwürfe, S. 474 mit Bezug auf Holzberg, Niklas: Der antike Roman. Eine Einführung, 3. überarb. Aufl., Darmstadt 2006 [zuerst 1986]). Kritik an dieser Gattungsbegründung entzündet sich an Zweifeln an der direkten Verbindung zum griechischen Liebes- und Abenteuerroman (vgl. Putzo, Verlegenheitslösung, S. 61f.) sowie an der Betonung einer groben makrostrukturellen und inhaltlichen Gemeinsamkeit, die nicht einmal in dieser Vagheit in jedem der Romane ausgeprägt sei (vgl. hier S. 41) und als alleiniges Merkmal nicht hinreichend gattungskonstituierende Aussagekraft besitze (vgl. hier S. 61f., Achnitz, Babylon und Jerusalem, S. 1f. mit Verweis auf Röcke, Minne- und Aventiureromane, S. 395f., Ridder, Minne- und Aventiureromane, S. 1–15 und Schulz, Armin: Poetik des Hybriden. Schema, Variation und intertextuelle Kombinatorik in der Minne- und Aventiureepik: Willehalm von Orlens –

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 Getrennte Traditionen und geteilte Pfade: Vorbemerkungen zur Textwahl

diesem Zusammenhang auch Chronotopos von Abenteuerzeit und biographischer Zeit‘,86 ,Hybridität‘ und ,Intertextualität‘,87 eine hervortretende

Partonopier und Meliur – Wilhelm von Österreich – Die schöne Magelone, Berlin 2000 [Philologische Studien und Quellen 161], S. 15–26). 86 Eine große Popularität ist der Beschreibung der Textgattung über die Bindung von Zusammensein und Trennung der Partner an Raum- und Zeitkonzepte beschieden (vgl. Röcke, Minne- und Aventiureromane, S. 399f.). Für die bei Röcke auftauchende Beobachtung, dass die Wahl eines Handlungsortes gleichzeitig ein spezifisches Raum-Zeit-Verhältnis impliziert, liefert Bachtin mit dem Terminus Chronotopos eine wissenschaftlich vermarktbare Begrifflichkeit wie auch eine weitere Anbindung an den antiken Roman. Den von Aleksej A. Uchtomskji übernommenen Begriff entwickelt Bachtin zu einem erzähltheoretischen Fachterminus (vgl. Frank, Michael C.: Die Literaturwissenschaften und der spatial turn: Ansätze bei Jurij Lotman und Michail Bachtin. In: Raum und Bewegung in der Literatur. Die Literaturwissenschaften und der Spatial Turn. Hrsg. von Wolfgang Hallet, Bielefeld 2009 [Lettre], S. 53–80, hier S. 73 sowie Bachtin, 2008, S. 8) für die genrespezifische Verknüpfung eines bestimmten Handlungsraums mit einem bestimmten Tempo des Zeitvergehens (vgl. Sasse, Sylvia: Poetischer Raum: Chronotopos und Geopoetik. In: Raum. Ein interdisziplinäres Handbuch. Hrsg. von Stephan Günzel, unter Mitarb. von Franziska Kümmerling, Stuttgart u. a. 2010, S. 294–308, hier S. 300). Für den griechischen Roman hält er fest, dass biographische Zeit nur bei räumlicher Nähe des Liebespaares vergeht, und während der Trennung – ein anderes „weder in historische noch in alltagsbezogene, noch in biographische oder elementare biologisch-altersmäßige Zeitreihen eingehen[des]“ (Bachtin, Chronotopos, S. 15) Zeitverhältnis herrscht. Die Helden müssten Abenteuer bestehen, deren Zeitlichkeit ihre Persönlichkeit, Alter und Beziehung zum entfernten Partner nicht tangiere (vgl. hier S. 13–15, 19, 33f., 38). 87 Dem griechischen Roman attestiert Bachtin eine besondere ,Hybridität‘, verstanden als das bewusste und innovative Nutzen verschiedener vorgängiger Traditionen (vgl. Bachtin, Chronotopos, S. 12). Eine besondere Qualität von Intertextualität entdeckt Schulz in seiner Untersuchung des Willehalm von Orlens, Partonopier und Meliur, Wilhelm von Österreich und Die schöne Magelone und erhebt das produktive und kreative Aufnehmen unterschiedlicher Erzählmuster, das jene Texte meisterten, zum besonderen Merkmal dieser in sich heterogenen Texte (vgl. Schulz, Poetik, S. 233). Jeder dieser Texte sei eine höchst hybride Konstruktion an intertextuellen Bezügen; dieses Zusammenlaufen disparater Muster, Motive und Schemata mache die einzelnen integrierten Bestandteile und Bezüge hauptsächlich in Relation beschreibbar; sie verlören ihre ursprüngliche Bedeutung und Wirkung und erhielten erst in Kombination mit anderen eine neue (vgl. hier S. 16; vgl. auch Kiening, Weltentwürfe, S. 475). Im Verständnis der Disparitäten als Technik, eine Vielzahl von Erzählmustern und literarischen Bezügen zu nutzen, und unter Betonung der daraus erwachsenden neuen Sinnsetzungsverfahren bzw. Sinnpluralisierung vor allem durch Ridder (über Ridder vgl. Achnitz, Babylon und Jerusalem, S. 5; vgl. auch Baisch, Briefwechsel, S. 197) und Kiening (vgl. Kiening, Weltentwürfe, S. 475, 493; vgl. ähnlich Herweg, Verbindlichkeit, S. 55–57, S. 432f.), hat sich der Begriff ,Hybridität‘ als charakteristisch für ,Liebes- und Abenteuerromane‘ durchgesetzt und fungiert sowohl für die Textsorte als auch für die Einzeltexte als Aufwertungsstrategie (vgl. Neudeck, Otto Johann: Wolfgang Achnitz, Babylon und Jerusalem [Rezension]. In: Arbitrium 21/3 (2003), S. 289–293, hier S. 289). S. auch Jürgens, der bereits 1990 über die spätmittelalterlichen Romane formuliert, es „wäre auch zu erwägen,

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Erzählinstanz,88 verschiedene motivische Schwerpunkte89 sowie bezeichnenderweise auch ,Rest der woanders nicht zuzuordnenden Texte‘.90 Kaum ein Merkmal wurde jedoch nicht wieder als nicht hinreichend gattungskonstituierend relativiert.91 Zu einem befriedigenden Abschluss ist die Diskussion bislang nicht

ob das Phänomen der Gattungsmischung in später Epik, vor allem im ,Wilhelm von Orlens‘, im ,Reinfried von Braunschweig‘ und im ,Wilhelm von Österreich‘ nicht zu bedenken wäre im Sinne einer Programmatik, die im Vorführen eines breitgefächerten Repertoires literarischer Gattungen den Anspruch auf gattungsbezogene Summenbildung geltend machte“ (Jürgens, Fürstenlehre, S. 371). Vgl. ausführlich zu ,Hybridität‘ als wertneutral zu verstehendem Merkmal der Romane um 1300 Herweg, Verbindlichkeit, S. 54–66. 88 Mit Bezug auf die Erzählweise wird – zuerst von Ridder – geltend gemacht, dass viele Texte des vierzehnten Jahrhunderts einen starken Ausbau der Erzählebene aufweisen, die nicht nur (wie auch im griechischen Roman) unterschiedliche Diskurse einbringt (vgl. Ridder, Minne- und Aventiureromane, S. 257; Bachtin, Chronotopos, S. 12), sondern die aufgrund der Amalgamierungsfunktion der Erzählebene auch über ein hohes Maß an Sprach- und Fiktionalitätsbewusstsein verfügt (vgl. Ridder, Minne- und Aventiureromane, S. 257; vgl. Schulz, Poetik, S. 19; Bachorski, Narrative Strukturen, S. 74f.; Baisch, Briefwechsel, S. 197; vgl. ohne uneingeschränkte Zustimmung Meincke, Anne Sophie: Narrative Selbstreflexion als poetologischer Diskurs. Fiktionalitätsbewußtsein im ,Reinfried von Braunschweig‘? In: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 136/3 (2007), S. 312–351, hier S. 312). 89 Auf motivischer Ebene werden als gattungskonstituierend veranschlagt: die mit dem Abenteuerteil einsetzende Fülle an Elementen des Wunderbaren bei einer dennoch lebensweltlichen und historisch erzählten Welt (vgl. Putzo, Verlegenheitslösung, S. 59, S. 65; Lienert, Antikenromane, S. 166), die Positionierung der Romane zum Thema Neugier und curiositas (vgl. Herweg, Verbindlichkeit, S.  274; vgl. auch Herweg, Glücksspiel, S.  65), die Fragilität sozialer Identität (vgl. Bachorski, Narrative Strukturen, S. 66–71), die differenzierende Ausgestaltung der Heldenfiguren (vgl. Röcke, Minne- und Aventiureromane, S. 400), bzw. damit verbunden das Maß an Auserzählung von Emotionen und die Zuweisung handlungswichtiger Funktionen an diese (vgl. Putzo, Verlegenheitslösung, S. 60 mit Verweis auf Eming, Emotion; vgl. außerdem Hagemann, Vorgeschichten, S. 136f.; Bachorski, Narrative Strukturen, S. 71–73) oder aber die in ihnen entfaltete Problematik von Genealogie und Inzest, das Funktionieren nach Tausch- und Gabenlogiken, spezifische Raumsemiotiken (vgl. die bei Baisch/Eming, Einleitung, S.  13f. genannten Arbeiten). 90 Putzo formuliert im Sinne einer systematischen Gattungsbestimmung die Annahme, es handle sich bei den dem Label zugeschriebenen Texten um Großerzählungen, „die keiner der anderen, üblicherweise stofflich-thematisch definierten Romangattungen des Mittelalters zugeordnet werden können: nicht den Artusromanen, nicht den Artus-Gralromanen, nicht den Tristan­romanen und nicht den Antikenromanen in ihren verschiedenen Gruppierungen“ (Putzo, Verlegenheitslösung, S. 58, vgl. auch S. 65, 69; ähnlich Achnitz, Babylon und Jerusalem, S. 1; Herweg, Verbindlichkeit, S. 30). 91 Vgl. Achnitz, Babylon und Jerusalem, S.  2, Putzo, Verlegenheitslösung. In Anbetracht der Bedenken der jüngeren Forschung und des durchgängig zu beobachtenden Ringens um Definitionen scheinen die in ihrer Gesamtgültigkeit meist selbst umstrittenen Merkmale für eine scharfe Abgrenzung gegenüber anderen Gattungen nicht ausreichend. Putzo ist am Ende ihrer verglei-

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gekommen, worin – so ließe sich positiv formulieren – auch das wissenschaftliche Potenzial des Labels steckt. Es ist sein Verdienst, dass das Forschungsgespräch nicht in Stillstand gerät, sondern über die gegeneinander aufgewogenen Gattungsbezeichnungen und Merkmalskataloge im Sinne eines symbolisch generalisierten Kommunikationsmediums die jeweils aktuellen Forschungsfragen verhandelt92 und mit seiner Hilfe bislang vernachlässigte Texte in den Fokus rückt.93 Das gilt auch für den Apollonius und den Reinfried. Nicht nur sorgt ihre Zuordnung dafür, dass ihnen wiederholt eine gewisse Zusammengehörigkeit attestiert wird.94 Mit wachsendem Interesse für die bis ins letzte Viertel des zwanzigsten Jahrhunderts chronisch vernachlässigten ,Liebes- und Abenteuerromane‘ ist ab Ende der 1980er Jahre sowohl für den Reinfried als auch für den Apollonius ein Zuwachs an Publikationen und ein verbreitertes Themenspektrum zu verzeichnen. In dieser Phase entstehen Strukturanalysen mit oder ohne Bezug auf den Artusroman95 sowie kulturwissenschaftliche und kulturgeschichtliche Einzel-

chenden Darstellung der Begründungsversuche skeptisch, was das Festhalten an dieser Gattung betrifft (vgl. Putzo, Verlegenheitslösung, S. 69f.). 92 So beantwortet Putzo ihre eigene Frage nach der Sinnhaftigkeit einer Gattung ,Liebes- und Abenteuerroman‘ damit, dass die Relevanz der Gattung und der Gattungsfrage im Fragevorgang, die Stärke des Begriffs in der Unabgeschlossenheit besteht (vgl. Putzo, Verlegenheitslösung, S. 70). Der ständige, kritische kommentierte Gebrauch verweise auf den pragmatischen Nutzen und den funktionalen Wert des Begriffs bzw. der Begriffe (vgl. hier S. 43). 93 Noch weit ins zwanzigste Jahrhundert hinein scheiden viele der heute unter die ,Liebesund Abenteuerromane‘ gezählten Texte aus dem Untersuchungskorpus der germanistischen Mediävistik aus, da ihnen als Gruppe Serialität, textinterne Heterogenität und stilistische wie sprachliche Mangelhaftigkeit sowie inhaltliche Trivialität und epigonenhafte Unoriginalität (diese Vorwürfe benennen Baisch/Eming, Einleitung, S. 9f.) vorgeworfen werden. Diese mehr oder weniger explizit aus dem Ideal des hochmittelalterlichen Artusromans abgeleiteten Urteile (vgl. Putzo, Verlegenheitslösung, S. 52 unter anderem über Ruh, Epische Literatur) manifestieren die Einstufung als Trivialliteratur, welche bis zum Ende des zwanzigsten Jahrhunderts einer literaturwissenschaftlichen Begutachtung nicht wert schien (vgl. Neudeck, Rezension, S. 289). 94 Achnitz schreibt, sie gehörten so eng „wie kein zweites Romanpaar“ in dieser Textgruppe zusammen (vgl. Achnitz, Babylon und Jerusalem, S. 4). Auf ihren Zusammenhang ist ihm zufolge bereits bei Schoenebeck, Roman, S. 98–103, 190–192; Ebenbauer, Spekulieren; Ohlenroth, Reinfried von Braunschweig, S. 67; Kiening, Weltentwürfe, S. 476, Anm. 9 und Ridder, Minneund Aventiureromane, S. 347, Anm. 1 hingewiesen worden. Das Verhältnis, in dem die Texte zu einander stehen, ist nicht geklärt (vgl. Ohlenroth, Reinfried von Braunschweig, S. 67). 95 Haug liest den Reinfried als nachklassischen Roman vor dem Hintergrund der arturischen Doppelwegstruktur und dem tristanschen Minneprinzip und stellt fest, dass die Krise aus der Aventiurewelt langsam ins Innere der Figur verlagert wird (vgl. Haug, Subjektivierung). Dabei sucht er vor der Folie der Vorgänger nach einer ein Gesamtkonzept tragenden Struktur (vgl. hier S. 12). Auch Ohlenroths Beitrag zeugt von der solchen Strukturanalysen vorgängigen Verbindung von Sinn, Struktur und Qualität (vgl. Ohlenroth, Reinfried von Braunschweig, ins-

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beobachtungen.96 Richtungsweisend sind schließlich die Arbeiten von Ridder,97 Schulz98 und Kiening99 sowie die beide Texte behandelnde und sowohl für die Reinfried- als auch die Apollonius-Forschung Impulse setzende Habilitationsschrift Achnitz’.100 Dabei handelt es sich um den letzten Forschungsbeitrag, der sich der Suche nach einem kohärenten Sinn in einer detaillierten Gesamtschau der Texte verschreibt, ohne dabei in die alten Verdikte zurückzufallen. Er widmet sich einer gattungstheoretischen Neuverortung der beiden Texte und versucht, die einzelnen Textelemente zu einer Gesamtinterpretation zusammenzuführen.101 Seine vergleichende Betrachtung der Erzählstrukturen auf der Suche nach Sinnkonstitution durch Aufnahme und Weiterentwicklung hochhöfischer sinnsetzen-

besondere S. 68–77). Für die Versuche, im Apollonius eine sinntragende Struktur aufzudecken vgl. Wachinger, Heinrich von Neustadt; Tomasek, Tomas/Walther, Helmut G.: Gens consilio et sciencia caret ita, ut non eos racionabiles extimenm: Überlegenheitsgefühl als Grundlage politischer Konzepte und literarischer Strategien der Abendländler bei der Auseinandersetzung mit der Welt des Orients. In: Die Begegnung des Westens mit dem Osten. Kongreßakten des 4. Symposions des Mediävistenverbandes in Köln 1991 aus Anlaß des 1000. Todesjahres der Kaiserin Theophanu. Hrsg. von Odilo Engels/Peter Schreiner, Sigmaringen 1993 (Veröffentlichungen des Mediävistenverbandes), S. 243–373. Für beide Romane s. Achnitz, Babylon und Jerusalem. 96 Zurückzuführen ist das sowohl auf den cultural turn in den Literaturwissenschaften als auch auf die Schwierigkeit, ein geschlossenes Konzept in den Texten zu erkennen. Eine überblickshafte Betrachtung unterschiedlicher Aspekte des Apollonius findet sich in Birkhans Nachwort seiner neuhochdeutschen Prosaausgabe (vgl. Birkhan, Nachwort). Die sonstigen Einzelanalysen widmen sich dem Wunderbaren (vgl. Röcke, Wahrheit, S. 252–269), den Wertnormen (vgl. Cieslik, Wertnormen) und den Rätseln (vgl. Tomasek, Rätsel, Kapitel zu den Rätseln in der Stofftradition S. 175–206, davon S. 184–199 zum Apollonius). 97 Ridder versucht den Text vor dem Hintergrund der Umbruchszeit im dreizehnten und vierzehnten Jahrhundert zu betrachten, zielt dabei allerdings auf die innerliterarische Entwicklung eines zur Schau gestellten, enthüllten Fiktionalitätsbewusstsein des Texts ab (vgl. Ridder, Minne- und Aventiureromane, S. 373, s. insbesondere auch S. 251–276). Dass mit der Vielfalt an Erzählerrollen eine Selbstreflexivität und ein Fiktionalitätsbewusstsein einhergeht (vgl. hier S. 266, 270) und sich die vorher verzweifelt gesuchte Krise von der Erzählebene auf die Ebene zwischen Erzähler und Publikum verlagere (vgl. hier S. 262f. sowie 275), bestreitet Meincke (vgl. Meincke, Selbstreflexion). 98 Schulz, Poetik; s. auch Anm. 2/87. 99 Vgl. Kiening, Weltentwürfe, S. 493: Der Text fordere neue Sinnbildungsprozesse, die sich von rein identifikatorischer oder kritisch-wachsamer Lektüre trennen und stattdessen auf „multiple Verfügbarkeit des Imaginären“ (im Sinne Isers, s. Anm. 1/17) setzten. 100 Achnitz, Babylon und Jerusalem. 101 Achnitz verfolgt das Ziel, „die zentralen Verfahren zu bestimmen, derer sich die Texte bedienen, um ,Sinn‘ zu konstituieren“ (hier S. 8). Damit setzt sein Anliegen einen Gesamtsinn voraus und widerspricht den Ansätzen zur Sinnpluralisierung und Reflexivität der Erzählebene bei Kiening, Schulz und Ridder (vgl. hier S. 7).

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der Strukturen, die „in der Konsequenz ihrer Anwendung zum Teil als innovativ zu bewerten sind“,102 kann im Zusammenspiel mit den genannten, kurz vor der Jahrtausendwende erschienenen Arbeiten die literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit beiden Texten neu befeuern.103 Achnitz’ heilsgeschichtlich ausgerichtete Interpretation der Texte als Pamphlete ordo-konformen Verhaltens104 wirkt jedoch für die durch ihre Polyvalenzen bestechenden Texte verkür-

102 Achnitz, Babylon und Jerusalem, S. 221. 103 Sie animierte das Forschungsgespräch, das – so Achnitz in Bezug auf den Apollonius – bis zu diesem Zeitpunkt trotz einzelner um Neutralität bemühter Ansätze „nicht recht in Gang [ge] kommen [ist]“ (hier S. 239, vgl. auch S. 3). Der Arbeit wurde Anerkennung und größtenteils Zustimmung entgegengebracht (vgl. Schneider, Chiffren, S. 28; Herweg, Verbindlichkeit, S. 162). 104 Beide Texte verträten eine eindeutige christlich-moralische Lehre, die anhand der fehlgehenden Helden und der im Lesen zunächst mitvollzogenen, aber schließlich im Reflektieren als Verfehlungen entlarvten Handlungen realisiert werde. Die Texte propagierten, dass für das Funktionieren der höfischen Gesellschaft die vorbildliche Umsetzung höfischer Normen und Werte sowie die Anerkennung der Abhängigkeit des Menschen von göttlicher Gnade elementar seien. Diese Gesellschaftsordnung sei durch ordo-widriges Verhalten gefährdet, da jeder einen Beitrag zum Fortbestehen der ordo leisten müsse. Dabei liest Achnitz die Widersprüche zwischen Handlung und Erzählerkommentaren im Reinfried von Braunschweig als wohlüberlegt eingesetzte und jeweils auf dem zeitgenössischen literarischen und wissenschaftlichen Standards der Zeit beruhende sinnkonstituierende Textelemente mit Signalcharakter zum Anstoß der Reflexion des Verhaltens des makellos scheinenden Helden (vgl. Achnitz, Babylon und Jerusalem, S. 150–156 sowie S. 190–210). In seiner Analyse stellt er für den Reinfried fest, der Autor wende sich an ein literarisch und heilsgeschichtlich gebildetes Publikum und lasse es mit auf den Irrweg des Helden gehen, um ihn mithilfe der Exkurse und literarischen Anspielungen (vgl. hier S. 141) das Fehlgehen selbst feststellen und reflektieren zu lassen (vgl. hier S. 195f., 219–226). Für den Apollonius übernehme die Binnengeschichte und die Art und Weise der Verknüpfung der hybriden Stoffe jene Leistung (vgl. Achnitz, Textproduktion und Sinnkonstituierung, S. 133). Die diesem Sinn zugrundeliegende Struktur ist für ihn auch im Apollonius eine Art Doppelwegstruktur (vgl. Achnitz, Babylon und Jerusalem, S.  275), die den Protagonisten als metahistorischen Helden (vgl. hier S.  312, S.  317) „durch Gefährdungen und Versuchungen […] zu christlich tugendhaftem Verhalten“ führe (hier S. 273). Im Verschmelzen mehrerer Deutungshorizonte erreiche der Dichter die Vertiefung der christlichen Grundtendenzen der lateinischen Bearbeitung, die Aktualisierung und Höfisierung der Geschichte (vgl. hier S. 271). Heinrich nutze „die schöpferischen Möglichkeiten der Dilatatio materiae, um aus dem frühchristlichen Stoff einen (spät-)höfischen Versroman zu machen“ (Achnitz, Textproduktion und Sinnkonstituierung, S. 135) und verfolge in den Markierungen des falschen Heldenweges sein Ziel, die RezipientInnen zur Bewahrung des Seelenheils zu bewegen (vgl. Achnitz, Babylon und Jerusalem, S. 279–323, vgl. zustimmend Herweg, Verbindlichkeit, S. 16). Die RezipientInnen vollzögen im Sinne dieses Anliegens den jeweils sowohl wörtlich als auch metaphorisch gemeinten Weg des Protagonisten von Babylon nach Jerusalem – die titelgebende Gemeinsamkeit der Texte, die Achnitz herausarbeitet (vgl. Achnitz, Babylon und Jerusalem, S. 5, S. 221) – aktiv und reflektierend mit.

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zend und scheint hinter die Positionen zur Vervielfältigung der Verständnismöglichkeiten zurückzufallen.105 In den letzten fünfzehn Jahren wurden schlaglichtartig zahlreiche Aspekte der Texte näher beleuchtet. Die hervortretenden Schwerpunkte weisen nicht allein auf allgemeine Forschungsparadigmen hin, sondern auch auf Interessenschwerpunkte der Texte.106 Dabei treten auch inhaltliche Ähnlichkeiten hervor, die im Rahmen der Gattungsdiskussion teilweise bereits aufgeworfen wurden

105 Die Interpretationsfolie, die einzelne Phänomene und Handlungen in einen heilsgeschichtlichen Kontext einordnet, erweist sich als sehr dominant. Dass bspw. der Seesturm, der bereits in der lateinischen Historia wichtiges Textelement ist und nicht nur, aber besonders für den ,Liebes- und Abenteuerroman‘ vor allem eine narratologische Gelenkstelle darstellt (vgl. im Hinblick auf den Herzog Ernst B Kühnel, Jürgen: Zur Struktur des Herzog Ernst B. In: Euph 73 [1979], S. 248–271, hier S. 256, sowie für den ,Liebes- und Abenteuerroman‘ in hellenistischer Tradition Herweg, Glücksspiel, S. 50; Schumacher, Meinolff: Toleranz, Kaufmannsgeist und Heiligkeit. Zum Kulturkontakt mit den ,Heiden‘. Die mittelhochdeutsche Erzählung Der guote Gêrhart von Rudolf von Ems. In: ZiG 1 [2010], S. 49–58, hier S. 51), als Walten Gottes zu lesen ist, (vgl. Achnitz, Babylon und Jerusalem, S. 288), scheint ausschließlich eine religiös-christliche Lesart der Textereignisse in Betracht zu ziehen. Auch, dass eine bestimmte Äußerung der Erzählinstanz „nur als Ironie aufgefasst werden kann“ (Achnitz, Babylon und Jerusalem, S. 195 über das Lob der Reinfried-Erzählinstanz angesichts der Sirenenepisode), ist auf Textgrundlage nicht so zwingend, wie postuliert wird. So stellt auch Schultz-Balluff fest, dass Achnitz zwar für die bei ihm besprochenen Szenen eindrücklich Parallelen zur Heilsgeschichte aufzeigen könne, er aber auch „nur jene Textelemente berücksichtigt, die der heilsgeschichtlichen Analyse dienlich scheinen“ (Schultz-Balluff, Dispositio picta, S. 30). 106 ,Babylon und Jerusalem‘ bleibt eine der wenigen ausführlichen Beschäftigung mit den Texten und der letzte Versuch einer Gesamtinterpretation (vgl. zur Schwierigkeit einer solchen zum Apollonius Kiening, Apollonius, S. 420; Schneider, Chiffren, S. 29; für weitere Erprobung von Gesamtinterpretationen Tomasek, Rätsel, S. 184f.). Die erwähnten Einzeluntersuchungen beziehen sich beim Apollonius auf die Inzestthematik (vgl. Eming, Jutta: Inzestneigung und Inzestvollzug im mittelalterlichen Liebes- und Abenteuerroman [Mai und Beaflor und Apollonius von Tyrus]. In: Historische Inzestdiskurse. Hrsg. von ders./Claudia Jarzebowski/Claudia Ulbrich, Königsstein [Taunus] 2003, S. 21–45; Egidi, Inzest; Hagemann, Vorgeschichten) und den Frauenhandel (vgl. Blaschitz, Freudenhaus, S. 720, 722), das Prinzip von Erinnern und Vergessen als Textstrategie (vgl. Schneider, Chiffren) beim Reinfried auf die Beziehung zwischen Yrkâne und Reinfried (vgl. Baisch, Briefwechsel; Huber, Liebestod, S. 379–384) und der Umgang mit zeitgenössischem naturkundlichen Wissen (Vögel, Naturkundliches, Wiesinger, Mischungsverhältnisse). In umfangreicheren Auseinandersetzungen wurden außerdem die Struktur des Heinrichschen Texts im Vergleich mit der der Historia unter psychoanalytischer Perspektive neu gedeutet (vgl. Junk, Transformationen), sowie die Text-Bild-Relationen der Apollonius-Handschriften im Hinblick auf die Gliederungsprinzipien, die Rezeptionslenkung und Akzentsetzung analysiert (vgl. Schultz-Balluff, Dispositio picta; Krenn, Bildprogramm). Für beide Texte ist auf ein besonderes Interesse an Darstellungen des Orients, des Fremden und Exotischen zu verweisen (s. u.).

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und eine gemeinsame Betrachtung der Texte weiter begründen können. Eine gegenüber anderen ,Liebes- und Abenteuerromanen‘ auffällige Gemeinsamkeit dieser Texte, die ein jeweiliges Forschungsinteresse generiert hat, ist die starke erzählerische Fokussierung auf den wunderbaren, faszinierenden Orient, mit dem der Protagonist sich auseinanderzusetzen hat,107 in Verbindung mit der enormen räumlichen Entfaltung der erzählten Welt. Dabei sind unterschiedliche Schwerpunkte auszumachen: So interessieren die Orientwunder im Reinfried besonders hinsichtlich der rationalisierenden naturkundlichen aber dennoch subjektiv als faszinierend gekennzeichneten Darstellungsweise108 sowie im Hinblick auf die Auseinandersetzung zwischen christlicher und ,heidnischer‘ Welt‘109 –

107 „Es gibt“, so Röcke, „nur wenige Reiseromane des Mittelalters, in denen die Faszination der Fremde, die Lust an der Erfindung immer neuer Wunder und Wunderwelten und die Neugier auf bislang noch nicht Gesehenes und Gekanntes so sehr im Mittelpunkt steht wie im Reinfried von Braunschweig“ (Röcke, Kulturelles Gedächtnis, S. 186). Egidi wiederum stellt für den Apollonius fest, dass der Text Heinrichs „[a]m Erzählen von der Gegenwelt als einer Welt des Monströsen, Normüberschreitenden […] ein auffälliges Interesse“ zeigt (Egidi, Margreth: Gegenweltliche Ding­objekte im Apollonius von Tyrland – Das Schachspiel. In: Hybridität und Spiel. Der europäische Liebes- und Abenteuerroman von der Antike zur Frühen Neuzeit. Hrsg. von Martin Baisch/ Jutta Eming, Berlin 2013, S. 177–192, hier S. 177). 108 Vor allem Vögel, Naturkundliches, und Wiesinger, Mischverhältnisses. Zu dem Themenkomplex gehört auch die Auseinandersetzung mit dem zwischen Objektivierung und Subjektivierung changierenden Kommentarsystem, wobei die Tendenz der Rationalisierung nicht gegen das diskursive Potenzial von emotionalen Strukturen ausgespielt werden solle, da gerade in Texten des Mittelalters das Verhältnis von Kognition und Emotion nicht dichotom ausgespielt werde (vgl. Baisch, „durchgründen“, bes. S. 189). 109 Dieser Fokus unter dem Begriffspaar ,toleration‘ und ,tolerance‘ und mit Seitenblick auf zeitgeschichtliche Verhältnisse bei Classen, Albrecht: Toleration and tolerance in the middle ages? The good heathens as fellow beings in the world of ,Reinfried von Braunschweig‘, Konrad von Würzburg’s ,Partonopier und Meliur‘, and ,Die Heideninne‘. In: ABäG 61 (2006), S. 183–233. Diese Thematik greift er in einem späteren Beitrag, in dem er auf Reinfried als touristischen Kreuzritter zentriert, erneut auf (vgl. Classen, Albrecht: The crusader as lover and tourist. Utopian elements in late medieval German literature. From ,Herzog Ernst‘ to ,Reinfried von Braunschweig‘ and ,Fortunatus‘. In: Current Topics in Medieval German Literature. Texts and Analyses. Hrsg. von Sibylle Jefferis, Göppingen 2008 [Göppinger Arbeiten zur Germanistik 748], S.  83–102, hier S.  92–95). Reinfrieds touristisches Auftreten bemerkt bereits De Boor (vgl. De De Boor, Literatur, S. 84). Herweg bezeichnet seine Art, die Wunder des Orients zu betrachten als einem modernen Museumsbesucher gleich (vgl. Herweg, Verbindlichkeit, S.  313f.). Gegen eine Bezeichnung als ,tolerant‘ widmet sich Herweg, Mathias: Zwischen Handlungspragmatik, Gegenwartserfahrung und literarischer Tradition. Bilder der ,nahen Heidenwelt‘ im späten deutschen Versroman. In: kunst und saelde. Festschrift für Trude Ehlert. Hrsg. von Katharina Boll/Katharina Wenig, Würzburg 2001, S. 87–113, hier S. 89, 93, der sich mit den fünf „stoff- und gattungssignifikante[n] Sichtweisen der epischen Heidenschaft“ im Reinfried beschäftigt (hier S. 90, s. ausführlich S. 92–95).

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vor allem in der Magnetbergepisode110 –, während in der Diskussion um den Apollonius exotische Fremderfahrung und Utopieentwürfe im Fokus stehen.111 Für beide Texte ist diesbezüglich die auch in den Gesamtdeutungen auftauchende Frage nach dem Umgang der Texte mit der Faszinationskraft des Wunderbaren unter dem Stichwort curiositas112 festzustellen  –  mit jeweils unterschiedlichen

110 Eine detaillierte Einführung zu dem literarischen Motiv des Magnetberges folgt an geeigneter Stelle (s. Anm. 4/131), es sei aber schon an dieser Stelle auf die Darstellungen bei Lecouteux, Claude: Die Sage vom Magnetberg. In: Fabula. Zeitschrift für Erzählforschung 25 (1984), S. 35–65 und Herweg, Glücksspiel, S. 52–58 verwiesen. Die Passage gehört zu den „narrativ aufwendigsten und narratologisch reizvollsten Partien des RvB-Torsos“ (Herweg, Verbindlichkeit, S. 303) und spielt daher in fast allen genannten Aufsätzen und Monographien eine wichtige Rolle (vgl. Ebenbauer, Spekulieren, S.  151, 155; Herweg, Verbindlichkeit, hier v.a. S.  70f.; Vögel, Naturkundliches, S. 91–114; Neudeck, Continuum historale, S. 168–178.; Meyer, Briefe, S. 27, Anm. 54; Martschini, Schriftlichkeit, S. 364–370; Achnitz, Babylon und Jerusalem, S. 184–210, zur besonderen Bedeutung S. 218). 111 Vgl. bereits Röcke, Wahrheit, zur Erfahrung der Wunder; Kiening, Apollonius, mit Fokus auf Monster und Wesen, bei denen die „Grenze zwischen Normalität und Abweichung verschwimmt“ (hier S. 419); Classen, Freude am Exotischen, im Hinblick auf die diskutierte und problematisierte Faszination am Fremden; Egidi mit Blick auf den Zusammenhang von Raub, Begehren und Gegenweltlichkeit (vgl. Egidi, Dingobjekte, S.  177–192); Schausten erkennt in den Frauenepisoden den „Rekurs auf rassistische Stereotypen“ (Schausten, Monika: Suche nach Identität. Das ,Eigene‘ und das ,Andere‘ in Romanen des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit, Köln u.  a. 2006 [Kölner germanistische Studien 7], S.  101). Bald erscheinen wird der Beitrag von Tilo Renz zu Geschlechterinteraktionen in utopischen Räumen: Renz, Tilo: Begegnungen am anderen Ort. Interaktionen der Geschlechter in mittelalterlichen Utopien (Straßburger Alexander, Heinrichs von Neustadt Apollonius von Tyrland). In: Gender Studies – Queer Studies  – Intersektionalität. Eine Zwischenbilanz aus mediävistischer Perspektive. Hrsg. von Ingrid Bennewitz/Jutta Eming/Johannes Traulsen, Göttingen 2019 (Berliner Mittelalter- und Frühneuzeitforschung 25), S. 91–109. 112 Die Forschung schreibt Augustinus’ Äußerungen zur curiositas als ,Augenlust‘ im zehnten Buch der Confessiones (s.  Aurelius Augustinus: Confessiones. Bekenntnisse. Latein/Deutsch. Übersetzt und kommentiert von Kurt Flasch und Burkhart Mojsisch. Mit einer Einleitung von Kurt Flasch. Hrsg. von Kurt Flasch/Burkhart Mojsisch, Stuttgart 2009 [Reclams UniversalBibliothek 18676], Buch X XXXIV 51, S. 314–317; im Weiteren abgekürzt als Confessiones) einen starken Einfluss über den gesamten Zeitraum des Mittelalters zu. Den Begriff selbst hat Cicero (als Neologismus) mit einer durchaus positiven Bewertung geprägt. Dieser wurde daraufhin unterschiedlich aufgegriffen und reflektiert, wobei sich die augustinische Perspektive offensichtlich lange besonderer Popularität erfreuen konnte. So ist der Begriff spätestens seit Augustinus als „Augenlust“ (s. Baisch/Koch 2010, S. 8) ein eindeutig negativ belegter Begriff für weltlichen und auf Sinneswahrnehmung reduzierten Wissensdrang, der die neugierige Ausrichtung auf alles Weltliche, den Genuss sowie die fehlenden Rückbindung an die Schöpfung Gottes kritisiert (vgl. die ausführliche Darstellung bei Müller, Jan-Dirk: Curiositas und Erfahrung der Welt im frühen deutschen Prosaroman. In: Literatur und Laienbildung im Spätmittelalter und in der Re-

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Argumentationslinien und Ergebnissen.113 Die hier entscheidendere inhaltliche Verbindung ist die Vielzahl an Textpassagen, die von textinternen Bemühungen um grenzüberschreitende Kommunikation, von Fernkommunikation, Bewahrungstechniken und transsphärischen Interaktionen erzählen. Davon zeugt auch das Forschungsgespräch der letzten Jahre. Ohne eine systematische Auseinandersetzung mit der Vielfalt an Vermittlungsmedien oder einen vergleichenden Blick auf beide Texte wurden immer wieder einzelne mediale Phänomene und

formationszeit. Symposium Wolfenbüttel 1981. Hrsg. von Ludger Grenzmann/Karl Stackmann, Stuttgart 1984 [Germanistische Symposien-Berichtbände 5], S.  252–271; zur Begriffsgeschichte der curiositas und der Neugier vgl. Schlesier, Renate: Die Schmerzenslust des Zuschauers. Dramatisierungen der Neugier bei Euripides und Augustinus. In: Neugier und Tabu. Regeln und Mythen des Wissens. Hrsg. von Martin Baisch, Berlin, Wien 2010 [Scenea 12], S.  27–44, hier S. 29–35; Münkler, Marina: curiositas als Problem der Grenzziehung zwischen Immanenz und Transzendenz in der Historia von D. Johann Fausten. In: Neugier und Tabu. Regeln und Mythen des Wissens. Hrsg. von Martin Baisch, Berlin, Wien 2010 [Scenea 12], S. 45–73, hier S. 45–54; Vinken, Barbara: Curiositas/Neugierde. In: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden Bd. 1, Stuttgart 2000, S. 794–813). 113 Erwähnt seien hier für den Reinfried Achnitz, Babylon und Jerusalem; Classen, Toleration; Classen, Utopian elements; Ebenbauer, Spekulieren; Herweg, Glücksspiel; Herweg, Verbindlichkeit, S.  289–327; Vögel, Naturkundliches, S.  105–113; Ohlenroth, Reinfried von Braunschweig, S.  80–82; Neudeck, Continuum historale; S.  201–204; Kiening, Weltentwürfe, S. 483–486; Meyer, Briefe, S. 27–32; Röcke, Werner: Lektüren des Wunderbaren. Die Verschriftlichung fremder Welten und abenthewer im ‚Reinfried von Braunschweig‘. In: Erzählungen in Erzählungen. Phänomene der Narration in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hrsg. von Harald Haferland/Michael Mecklenburg, München 1996 (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 19), S. 285–301, hier S. 288. Röcke ist von den genannten der Einzige, der keine klar verurteilende Position des Textes wahrnimmt, stattdessen zu zeigen versucht, dass die Lust Reinfrieds „nicht verurteilt, ja sogar, wenn ich richtig sehe, noch nicht einmal getadelt wird, sondern in eingeschobenen Erzählungen und Erzählungen in den Erzählungen, Referaten enzyklopädischen Wissens und überlieferter Forschungsmeinungen befriedigt, gerade damit aber auch neu geweckt wird“ (Röcke, Lektüren, S. 288; vgl. auch Röcke, Kulturelles Gedächtnis, S. 286; von einem unaufgelösten Bruch spricht hingegen Neudeck, Continuum historale, S. 203). Auch Apollonius unterstellt Achnitz curiositas, erntet mit dieser Einschätzung aber weniger Zustimmung als beim Reinfried. So meint Herweg, gerade im Vergleich mit dem Reinfried von Braunschweig und dem „ziellose[][n] Orientparcours“ (Herweg, Verbindlichkeit, S. 274) des Helden sei Apollonius’ Irrfahrt nicht von Neugier geleitet; sie sei vielmehr legitime und alternativlose Flucht vor Nachstellungen, werde durch das Exil und Seestürme begründet und stehe unter dem Gebot irdischer Ordnungsstiftung (vgl. hier S. 273). Während der Protagonist sich nach Achnitz, Tomasek, Birkhan und Röcke (vgl. Röcke, Wahrheit, S. 266; Tomasek, Einfluss, S. 125; Birkhan, Nachwort, S. 401; Achnitz, Babylon und Jerusalem, z. B. S. 317) der curiositas schuldig macht, hält Classen gerade Anklänge einer positiven Umbewertung der curiositas in Apollonius’ Staunen fest (vgl. Classen, Freude am Exotischen, S. 32), und spricht Kiening dem Protagonisten die Neugierde und das Staunen ganz ab (vgl. Kiening, Apollonius, S. 418).

Schnittmengen: Epigonenwerke – Vertreter des ,Liebes- und Abenteuerromans‘ 

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mit medialen Prozessen verknüpfte Themen in den Fokus gerückt. So widmet sich Röcke den unterschiedlichen Formen der Verschriftlichung im Reinfried als Darstellung der sich differenzierenden Kommunikationsmöglichkeiten,114 betrachtet Meyer die Verwendung von Schrift in der Magnetbergepisode als Ausdruck der sich gegenüber mündlichen Vermittlungsformen durchsetzenden Schrift als Kontaktmedium und Wissensspeicherinstrument,115 arbeitet Strohschneiders Untersuchung – ebenfalls anhand der Magnetbergepisode – Beispiele für übersprungene Textualität und Transgressionsversuche via Medieneinsatz heraus116 und setzt sich Martin Baisch medientheoretisch mit dem Brief Yrkânes auseinander.117 Elisabeth Martschini beschäftigt sich in ihrer Dissertation zu Schrift und Schriftlichkeit in Texten des dreizehnten Jahrhunderts unter verschiedenen Schwerpunkten mit den Phänomenen von Schriftlichkeit im Reinfried.118 Für den

114 Zum ab Mitte des zwölften Jahrhunderts einsetzenden Wandel einer rein monastischen Lesekultur zum scholastischen, reflektierenden Lesen und der damit einhergehenden Dialogisierung des Wissens in der ervarung, s. Röcke, Lektüren, S. 285–287. Er sieht die Thematisierung der Rolle der Schrift als wichtigen und besonders deutlich im Reinfried von Braunschweig hervortretenden Zug des sich zu dieser Zeit entwickelnden Romantypus (vgl. hier S. 287) und beschäftigt sich mit drei differenzierbaren Formen des Erzählens vom Wunderbaren, die mit unterschiedlichen Einsatzformen von Schrift arbeiten (vgl. hier S. 289–301). 115 Vgl. Meyer, Briefe. Die nur kurz auf den Reinfried von Braunschweig eingehende Untersuchung (vgl. hier S. 27–31) profiliert Schrift in der Magnetbergepisode als ein menschlich eingesetztes Kontaktmedium zwischen unterschiedlichen herausragenden Persönlichkeiten verschiedener Zeitalter (vgl. insbesondere hier S. 30f.). 116 Vgl. Strohschneider, Peter: Sternenschrift. Textkonzepte höfischen Erzählens. In: Text und Text in lateinischer und volkssprachiger Überlieferung des Mittelalters. Hrsg. von Eckart Conrad Lutz, Berlin 2006 (Wolfram-Studien 19), S. 33–58, hier S. 34f., 44. 117 Er betrachtet die Briefeinlage als reflektierenden, distanzschaffenden Metadiskurs einerseits und als Distanz aufhebendes Fetischobjekt andererseits (vgl. Baisch, Briefwechsel, insbes. S. 196). Auch Jürgens widmet sich im Rahmen seiner Auseinandersetzung mit dem Wilhelm von Österreich diesem exzeptionellen Brief (vgl. Jürgens, Fürstenlehre, S. 365f., 373–382). 118 Martschini, Schriftlichkeit. Weite Teile der Arbeit bestehen aus zitatgestützter Nacherzählung der behandelten Texte (sie behandelt neben dem Reinfried von Braunschweig Wolframs Parzival und Titurel, Konrad Flecks Flore und Blanscheflur, Rudolfs von Ems Willehalm von Orlens, Ulrichs von Liechtenstein Frauendienst, den Prosalancelot, Konrads von Würzburg Schwanenritter, Albrechts Jüngerer Titurel sowie Mai und Beaflor). Die Inhaltszusammenfassung des Reinfried (vgl. hier S. 262–290) macht bereits erste Schwerpunktsetzungen sichtbar und stellt den vielfältigen Gebrauch von Schriftlichkeit im Rahmen der erzählten Geschichte dar. Der Analyseteil entwickelt Thesen, die Denkanstöße zum Verhältnis des Texts zu den von ihm propagierten oder in ihn eingeschriebenen Haltungen zum Thema Schriftlichkeit und die daraus eventuell ableitbaren Schlüsse auf die außerliterarische Perzeption von Schrift, Schriftlichkeit und schriftlichen Medien geben. In der Breite der angelegten Studie sind – so heißt es Ende der Arbeit – „nur einzelne Blitzlichter der Interpretation, die – aufeinander bezogen – einen vagen Eindruck von

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 Getrennte Traditionen und geteilte Pfade: Vorbemerkungen zur Textwahl

Apollonius wurden unter der Feststellung, der Text enthalte ein Konglomerat aus verschiedenen Wissensformen und Wissensdiskursen, mediale Formen beiläufig von Ott und Schürenberg tangiert,119 zentral werden sie im Beitrag Egidis, die den Zusammenhang von Kunst und Wissen als Ausweis verwandtschaftlicher Verhältnisse untersucht.120 Egidi widmet sich in Bezug auf den Apollonius außerdem in einem anderen Beitrag medialer Vermittlung über Schrift und den darüber dargestellten Konzepten von Kommunikation.121 Almut Schneiders Arbeit hingegen hebt die Bedeutung von Wissen und Nicht-Wissen, Erinnern und Vergessen auf

der mehr oder weniger harmonischen Vielfalt, vom facettenreichen Ganzen zu geben versuchen“ möglich (hier S. 554). „Erfolglosigkeit“ konstatiert sie bei „der Suche nach linear verlaufenden Entwicklungen oder wenigstens Tendenzen“ (hier S. 555). 119 Im Hinblick auf das eingearbeitete Wissen im Prozess des Verfassens Ott, Rezension (dazu zum Reinfried Vögel, Naturkundliches), bezüglich der Rolle und Wissensdiskrepanzen im Dienste des Spannungseffekts einer finalen Motivierung Schürenberg, Apollonius von Tyrland. Zur Bezeichnung ,finale Motivation‘ für die Feststellung Lugowskis, in älterer Literatur gestalte sich die Erzählstruktur analog zu mythischen Mustern, indem die Ereignisse der Handlung vom vorbestimmten Ende her motiviert würden s. Lugowski, Clemens: Die Form der Individualität im Roman. Mit einer Einleitung von Heinz Schlaffer, Frankfurt a. M. 1976 (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 151). [Dissertation 1932], bes. S. 21–51; zur Rezeption und Nutzbarkeit in den Literaturwissenschaften der Sammelband von Martínez, Matías (Hg.): Formaler Mythos: Beiträge zu einer Theorie ästhetischer Formen, Paderborn u. a. 1996 (Explicatio) . 120 Vgl. Egidi, Margreth: Die höfischen Künste in Flore und Blanscheflur und Apollonius von Tyrland. In: Interartifizialität. Die Diskussion der Künste in der mittelalterlichen Literatur. Hrsg. von Susanne Bürkle/Ursula Peters, Berlin 2009 (Sonderheft der ZfdPh 128), S. 37–48. Sie arbeitet heraus, wie Weisheit und Kunst als mit anderen höfischen Qualitäten enggeführte Begriffe in der Beziehung zwischen Apollonius und seiner Tochter Tarsia eine vermittelnde „identitätskonstituierende Dimension“ erhalten (hier S. 42). Es vollzieht sich die „Zusammenfassung künstlerischer Kompetenzen zusammen mit anderen höfischen Qualitäten (wie Schönheit und tugent) unter der Wertkategorie des Kostbar-Exklusiven und Erlesenen, deren verschiedene Konkretisationen miteinander wertäquivalent und ineinander übersetzbar sind“ (hier S. 46). 121 Vgl. Egidi, Margreth: Schrift und ,ökonomische Logik‘ im höfischen Liebesdiskurs: ,Flore und Blanscheflur‘ und ,Apollonius von Tyrland‘. In: Schrift und Liebe in der Kultur des Mittelalters. Hrsg. von Mireille Schnyder, Berlin, New York 2008 (Trends in Medieval Philology 13), S.  147–163. Sie interessiert, welche spezifischen Ausprägungen der ökonomischen Logik der Liebe in der Beziehung von Apollonius und Lucina zu beobachten sind und wie diese mit Modellen der Schrift und schriftlicher Kommunikation in Verbindung stehen. Damit spricht sie eine Szene an, die auch in dieser Arbeit eine Rolle spielen wird (s. Kap. 4.4.1).

Schnittmengen: Epigonenwerke – Vertreter des ,Liebes- und Abenteuerromans‘ 

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Handlungs- und Erzählebene des Apollonius hervor und thematisiert die medialen Strategien der Zeitüberbrückung sowie der Evidenzerzeugung.122 Das Desiderat verweist auf die Präsenz medialer Phänomene in beiden Texten und auf die Aussagekraft der Textpassagen im Einzelnen. Das ausgeprägte Interesse an den Möglichkeiten kommunikativer Transgression, von der die Vielzahl der Prozesse wie auch ihre wiederholte Thematisierung in der Forschung zeugen, ist mit der anderen aus dem Forschungsinteresse herausgearbeiteten Gemeinsamkeit, dem Orient-Schwerpunkt, und mit der jeweiligen Länge und Hybridität (s. Kap. 2.1) verbunden. Denn erzählter Raum, Erzählraum und Länge, über die sich Referenzen, aber auch die innertextuellen Bezüge verteilen,123 und das narrative Interesse, von medialen Prozessen zu erzählen, sind miteinander verknüpft (s.  Kap.  1). Die Texte müssen wie ihre Figuren Mittel finden, durch die die über den Textraum verteilten Informationen verwebt und über lange Erzählzeiten hinweg präsent gehalten werden. Sie arbeiten an den Grenzen literarischen Vermittelns und spiegeln dies – so die These – im Erzählen von distanzüberwindender Kommunikation, im Nachdenken und Austesten der Möglichkeiten und Grenzen des Medialen sowohl auf inhaltlicher als auch auf erzählerischer Ebene wider (s. Anm. 2/39). Den Reinfried von Braunschweig und den Apollonius von Tyrland verbinden sowohl äußere Parameter wie Entstehungszeitraum und Länge als auch ihre Forschungsgeschichte und ihr exemplarischer Charakter für eine bestimmte Text­ sorte, der sie trotz deren zweifelhaften Status’ ihre Erforschung verdanken. Die anfängliche Skepsis gegenüber beiden Texten, die Lektüre als typische Epigonenwerke und schließlich die Beständigkeit der Zuordnung zum ,Liebes- und Abenteuerroman‘ verweisen auf geteilte inhaltliche wie erzählerische Merkmale, die sich nicht nur bereits in einer vergleichenden Studie niedergeschlagen haben.

122 Vgl. Schneider, Chiffren. Schneiders Frage nach der in der Erzählung verhandelten Suche nach dem Selbst führt sie zu Überlegungen zum Themenkomplex des Vergessens und Erinnerns in ihrer Bedeutung für die Identität des Protagonisten. Der Apollonius lasse sich als eine narrative Auseinandersetzung mit dem Selbst lesen, die sich auf dem Fundament der Erinnerung vollziehe (vgl. hier insbes. S. 204). Sowohl innertextuell als auch auf erzählerischer Ebene spiele die Fähigkeit, Querverbindungen einzelner Ereignisse auszubilden eine zentrale Rolle. Das gelte vor allem für die Konstitution der Figurenidentität (vgl. Schneider, Chiffren, S. 204). 123 Andere ,Liebes- und Abenteuerromane‘ fallen deutlich kürzer aus (z. B. Mai und Beaflor – 9678 Verse, Flore und Blanscheflur – 8006 Verse, Wilhelm von Wenden – 8358 Verse, Friedrich von Schwaben – 8078 Verse, Willehalm von Orlens – 15689 Verse) Ähnlich lang hingegen sind Partonopier und Meliur – 21784 Verse, und Willhelm von Österreich – 19585 Verse. Dass nicht ein anderer ,langer‘ ,Liebes- und Abenteuerroman‘ hinzugezogen wird, erklärt sich vor allem aus inhaltlichen Gemeinsamkeiten und der ähnlichen Datierung.

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 Getrennte Traditionen und geteilte Pfade: Vorbemerkungen zur Textwahl

Beide Texte teilen auch die auffällige Präsenz medialer Vorgänge, die Vielfältigkeit ihrer Darstellung und die inhaltliche Aussagekraft der Prozesse. Angesichts der bereits angestellten Einzelbeobachtungen erscheint die systematische, vergleichende Auseinandersetzung mit beiden Texten lohnend, um nicht allein Zugang zu verschiedenen Diskursen zu erlangen, die an mediale Themen anknüpfen und über sie erzählt werden, sondern auch, um den spezifischen Umgang jedes Einzeltexts vor dem jeweils anderen zu profilieren. An die Gattungsdiskussion, aus der das Interesse an den Texten maßgeblich hervorgeht, schließt diese Arbeit ebenso an. Die vorliegende Untersuchung ist auch davon inspiriert, den besonderen Umgang der Texte mit Medialität – ein für die Textgruppe bereits ins Gespräch gebrachtes, aber noch nicht intensiv bearbeitetes Thema124 – exemplarisch zu beschreiben125 und damit einen Beitrag zur weiteren Aufarbeitung und Diskussion des Themenkomplexes ,Liebes- und Abenteuerroman‘126 zu leisten. Da der Apollonius und der Reinfried mit ihrer recht festen Zuordnung zu dem insgesamt instabilen Textkorpus Repräsentationsfunktion besitzen, lässt sich die Untersuchung auch als Versuch verstehen, das Interesse für mediale Prozesse, welches auch anderen Texten dieses Labels eigen ist, als ,gattungshafte Dominante‘ für die genauere Konturierung und Beschreibung der spätmittelalterlichen ,Liebes- und Abenteuerroman‘ zur Diskussion zu stellen. Aus dem lange recht plätschernd verlaufenden, erst in den letzten Jahren anschwellenden Forschungsgespräch stehen einige wertvolle Beiträge zur Verfügung, auf die bei der weiteren Arbeit zurückgegriffen werden kann. Relevant sind vor allem jene Beiträge, die sich mit den unterschiedlichen Formen und Konzepten von Schriftlichkeit in den Texten auseinandersetzen (Röcke, Meyer, Strohschneider, Baisch, Martschini, Egidi, s.  o.). Auch die sich dem Bereich des Wissens und der Überlieferung widmenden Beiträge (Schneider, Egidi, s.  o.)

124 Nach dem Themenkomplex um Briefe und Boten wurde in Bezug auf gattungsgeschichtliche und gattungssystematische Zusammenhänge bereits gefragt, da das Briefkorpus dieser Texte über ein hohes Maß an Reflexivität verfügt und gerade unter Zuhilfenahme der Kategorien ,Medialität‘, ,Emotionalität‘ und ,Textualität‘ aufschlussreich zu sein verspricht (vgl. Baisch, Briefwechsel, S. 205). Dabei stand im Zentrum der Analyse die Frage, auf welche rhetorischen Traditionen solche in die Erzählung eingeschobenen Briefe zurückgreifen und welche eigenen Formen sie daraus entwickeln (vgl. hier S. 198). 125 Angeregt durch Röckes Beobachtung, die Differenzierung der Kommunikationsmöglichkeiten in und durch Geschriebenes sei ein wichtiger Baustein eines Romans wie Reinfried von Braunschweig (vgl. Röcke, Lektüren, S. 287). 126 Seit Beginn intensiverer Forschung an Texten dieser Textgruppe fokussiert sich die Forschung hauptsächlich auf Einzeltexte, meist ohne Ambition, einen gattungstheoretischen Beitrag zur weiteren Erschließung der Textgruppe zu leisten (beklagt bei Schulz, Poetik, S. 18; erneut bei Baisch/Eming, Einleitung, S. 12–14).

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können wichtige Impulse geben. Da den genannten Untersuchungen entweder andere Erkenntnisziele gesetzt sind, in Arbeiten mit medientheoretischem Fokus einzelne Szenen meist ohne explizite Auseinandersetzung und Differenzierung mit den medientheoretischen Begrifflichkeiten isoliert voneinander und ohne Berücksichtigung der Erzählweise betrachtet werden, versteht sich die Arbeit trotz dieser wertvollen Anknüpfungspunkte als grundlegend in der Erforschung des Reinfried und des Apollonius auf dem Gebiet der Medien- und Medialitätsforschung. Eine nähere Betrachtung der kommunikativen Strategien für den Transfer von Informationen hat – generell und erst recht mit Blick auf das Unverfügbare – bislang weder für den Reinfried von für den Apollonius stattgefunden. Durch die hier eingenommene Perspektive ergeben sich neue Bezüge zwischen bislang separat voneinander thematisierten Szenen; viele der hier in den Mittelpunkt gestellten Textpassagen finden erstmals überhaupt Betrachtung.

3 Theoretische und begriffliche Grundlagen Bevor konkrete Textbeobachtungen angestellt werden können, gilt es, die Gegenstände, ihre Bezeichnung, Untersuchbarkeit und bisherige Erforschung zu beleuchten. Es folgen daher Darstellungen zur theoretischen Einordnung der Phänomene im Fokus der Untersuchung. Dazu wird zunächst ein Überblick über das verfügbare Theorieangebot gegeben und anschließend mithilfe der vorwiegend den modernen Kommunikations- und Medienwissenschaften entstammenden Überlegungen ein theoretisches Verständnis der dargestellten Prozesse und ihrer Bestandteile und ein operatives Begriffsinventar für deren Beschreibung und Analyse entwickelt. Die mittlerweile verbreitete Annahme der generellen Vereinbarkeit von moderner Theorie und mittelalterlichem Untersuchungsobjekt entbindet nicht von einer Befragung der Ansätze auf ihre Anschlussfähigkeit gegenüber einem noch herauszuarbeitenden historischen Verständnis medialer Vorgänge im ausgehenden dreizehnten/beginnenden vierzehnten Jahrhundert. Ergänzt werden die Überlegungen daher durch einen Blick auf mittelalterliche Konzepte von Kommunikation und Vermittlung und Fragen zur Vereinbarkeit der spezifischen modernen und mittelalterlichen Blickwinkel.

3.1 Kommunikation – Transmission – Transsphärische Interaktion Der erste Schritt einer Untersuchung muss sein, sich über ihren Gegenstand klar zu werden. In diesem Fall bedeutet das zu klären, was unter ,medialen Prozessen‘ und ,Medien‘ bzw. ,medialen Formen‘ zu verstehen ist und wie diese im Allgemeinen und Speziellen zu bezeichnen, zu beschreiben und als literarische Phänomene zu untersuchen sind.

3.1.1 Die Textphänomene und das Theorieangebot zu ihrer Erschließung Ausgangspunkt des skizzierten Vorhabens ist die Feststellung, dass der Reinfried von Braunschweig und der Apollonius von Tyrland in einer auffälligen Vielfalt Prozesse darstellen, in denen sich Figuren gezielt um die Bewältigung kommunikativer Hindernisse unterschiedlicher Qualität bemühen. Beide Texte erzählen sowohl vom Transport von Informationen über räumliche Distanzen als auch von deren Bewahrung über große Zeitspannen oder aber von der Verständigung zwischen immanenter und transzendenter Sphäre. Die zu beobachtenden Figurenhandlungen umfassen die Dichtung wiederholbarer mündlicher Einheiten, das https://doi.org/10.1515/9783110628913-003

Kommunikation – Transmission – Transsphärische Interaktion 

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Verfassen von Briefen, Büchern, Auf- und Inschriften, das Aussenden von Boten, Bauen von Denkmalen, Inszenieren des Körpers, Sprechen zu und mit Instanzen in besonderer Beziehung zur Transzendenz und den Umgang mit Träumen, Wunderobjekten und Naturerscheinungen. Gemeinsam ist ihnen der auf Transgression der Hindernisse zielende Umgang mit Informationen. In allen Szenarien handelt es sich nicht um direkten Informationsaustausch bei gleichzeitiger Präsenz ihres Ausgangs- und Endpunktes. Für die Überwindung der dazwischen liegenden Hindernisse und Grenzen sind Techniken des räumlich, zeitlich oder sphärisch gedehnten Informationsmanagements nötig, die sich im Dienste dieser Transgression zwischengeschalteter Instanzen bedienen. Die Bezeichnung dieser erzählten Vorgänge mit dem dem alltäglichen Sprachgebrauch entlehnten Begriff der mediengestützten Kommunikation drängt sich auf – durch die jeweilige (Un-)Konventionalität der Vorgänge und deren Komponenten jedoch in unterschiedlichem Maße. Briefe bspw. lassen sich intuitiv zweifelsfrei als ,Medien‘ von Fernkommunikation bezeichnen, während ein Bart als ,Erinnerungsmedium‘ oder eine Sternformation als ,transsphärischer Mittler‘ Erläuterung bedarf. Für die umschriebenen Prozesse muss also ein Kommunikationsbegriff erarbeitet werden, der die diversen Textphänomene zu umschließen und dennoch sicher abzugrenzen vermag, und ein Medienbegriff geprägt werden, der offen für unterschiedliche Materialitäten und Funktionsweisen der dabei involvierten Mittler ist. An diese Definitionen geknüpft muss ein Instrumentarium entwickelt werden, mit dem die fraglichen Vorgänge sich beschreiben und sinnvoll miteinander in Bezug setzen lassen. Auf Grundlage beschriebener Gemeinsamkeit bietet sich für ein besseres Verständnis der Vorgänge und für ihre terminologisch adäquate Beschreibung ein Blick in das Forschungsfeld um Kommunikation und Mediation an. Dieses noch recht junge Forschungsgebiet1 widmet sich klassischerweise dem Ablauf, den Bestandteilen und Kerncharakteristika realweltlicher Vorgänge, die den fokussierten Textphänomenen ähneln. Ihre Vertreter versuchen die im alltäg-

1 Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit medialen Phänomenen und die Überführung der Beobachtungen in elaborierte Kommunikations- und Medientheorien erwächst aus der Entwicklung ,neuer (Massen-)Medien‘ und den damit einhergehenden Veränderungen kommunikativen Verhaltens im Laufe des zwanzigsten Jahrhunderts (vgl. Depkat, Volker: Kommunikationsgeschichte zwischen Mediengeschichte und der Geschichte sozialer Kommunikation Versuch einer konzeptionellen Klärung. In: Medien der Kommunikation im Mittelalter. Hrsg. von Karl-Heinz Spiess, Stuttgart 2003 [Beiträge zur Kommunikationsgeschichte 15], S.  9–48, hier S. 41; Hartmann, Frank: Mediologie. Ansätze einer Medientheorie der Kulturwissenschaften, Wien 2003, S.  15, 90; Gansel, Christina: Macht und Ohnmacht der Medien. Zur Entwicklung der Medien und ihrer Leistung in kommunikationstheoretischer Sicht. In: Medien der

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 Theoretische und begriffliche Grundlagen

lichen Leben so allgegenwärtigen, häufig unproblematisch verlaufenden und daher leicht unsichtbar werdenden, mindestens aber unreflektiert bleibenden Prozesse mit einem wissenschaftlich distanzierten Blick in den Fokus zu rücken, sie zu beschreiben und zu verstehen.2 Ihre Ausführungen können daher für ihre Bezeichnung, Erklärung, Beschreibung und Untersuchung hilfreich sein. Ein Rückgriff auf mittelalterliche Kommunikationstheorien ist nur bedingt möglich, da es im Zeitrahmen der Produktion und Rezeption der behandelten Primärtexte kaum theoretische Abhandlungen über Kommunikations- und Medienbegriffe, geschweige denn die Funktionsweise der beteiligten Instanzen, gab3 (s. für eine Diskussion der historischen Anschlussfähigkeit der modernen Begriffe Kap. 3.2). Im Rahmen des Interesses für Medien und Kommunikation im zwanzigsten und einundzwanzigsten Jahrhundert haben sich die Begriffsdefinitionen und Blickwinkel schnell vervielfältigt. Den Beginn der Forschung markiert eine kul-

Kommunikation im Mittelalter. Hrsg. von Karl-Heinz Spiess, Stuttgart 2003 [Beiträge zur Kommunikationsgeschichte 15], S. 49–62, S. 50; Mersch, Dieter: Medientheorien zur Einführung [Zur Einführung 318], Hamburg 2006, S. 12). 2 Das gilt für Kommunikation zum einen, für Mediengebrauch zum anderen: „Kommunikation ist so alltäglich, dass wir meist nicht länger darüber nachdenken, zumindest solange nicht, wie sie im Alltag problemlos funktioniert.“ (Beck, Klaus: Kommunikationswissenschaft. 4., überarbeit. Aufl., Konstanz, München 2015 [utb 2964], S. 14). „Mediengebrauch ist weitgehend unbewusst. […] Es bedarf einer fast künstlichen Abstandnahme, um die Medien selbst in den Blick zu nehmen.“ (Winkler, Basiswissen, S. 299). 3 Vgl. Röcke, Lektüren, S.  292 oder Linden, Sandra: Kommunikationswissenschaftliche Perspektiven der Mediävistik. In: Jahrbuch der Oswald-von-Wolkenstein-Gesellschaft 15 (2005), S.  63–75, hier S.  67f., für die „eine zeitgenössische Theorie nicht zum Wesen des literarischen Problems vordringt“ (hier S. 68), da die Aussagen bei Augustinus (Zeichenlehre in De doctrina christina), Alkuin (Disputatio de rhetorica et de virtutibus), Hugo von St. Viktor (Überlegungen zu Gestik in De institutione novitiorum) (vgl. Linden, Sandra: Kundschafter der Kommunikation. Modelle höfischer Kommunikation im ,Frauendienst‘ Ulrichs von Lichtenstein, Tübingen 2004, S. 24f.) oder Thomas von Aquin (jener offenbare ein Verständnis von und ein Interesse an kom munikationstheoretischen Fragen, arbeite jedoch nicht systematisch an ihnen, sondern komme im Laufe seines Werkes immer wieder am Rande auf sie zurück [vgl. McLuhan, Eric/McLuhan, Marshall: Theories of Communication, New York 2011, S. 53, S. 64]) – rein theoretisch bleiben und keinen Bezug zu realen Sprechsituationen herstellen (vgl. Linden, Kommunikationswissenschaftliche Perspektive, S. 67). Selbst die VertreterInnen eines historisch sensiblen Medienbegriffs finden „keine eigentlichen Theorien des Medialen“ im Mittelalter, auf die ein historischer Begriff sich stützen könnte (vgl. Kiening, Christian/Stercken, Martina: Einleitung. In: Modelle des Medialen im Mittelalter. Hrsg. von dens., Berlin 2010 [Das Mittelalter Bd. 15, Heft 1], S. 3–15, hier S. 3f.). Die dezidierte Verwendung des Medienbegriffs im Sinne von Kommunikationsmitteln setzt sich erst über die amerikanischen Soziologen und Kommunikationstheoretiker durch (vgl. Kiening, Christian: Medialität in mediävistischer Perspektive. In: Poetica 39 [2007], S. 285–352, hier S. 292, mehr zur Begriffsgeschichte und den Bedeutungsverschiebungen S. 287–292).

Kommunikation – Transmission – Transsphärische Interaktion 

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turpessimistischen Perspektive,4 die in verstärkter Form auch die kommunikationstheoretischen Überlegungen der Kritischen Schule repräsentieren;5 daneben entwickelt sich eine mathematisch-technische Sichtweise der Vorgänge, die die Abläufe und die daran beteiligten Objekte und Subjekte danach beurteilt, wie erfolgreich sie im Sinne der Ausgangsintention eines kommunikativen Vorganges sind (s. u.). In systemtheoretischer Tradition werden hingegen Kommunikationsmittel nicht als materielle Informationsträger, sondern als abstrakte Werte definiert, die Kommunikation wahrscheinlicher machen.6 In Nachfolge McLuhans bildet sich mit der Kanadischen Schule7 eine Betrachtungsweise heraus, die wertfrei(er) auf den Zusammenhang von medialem und kulturellem Wandel blickt8 und wiederum zur Grundlage für vielfältige konstruktivistische Überle-

4 Die einflussreichste Nebenwissenschaft ist zu Beginn der modernen Kommunikations- und Medientheorien die stark an marxistischen Ideen interessierte und von deren Skepsis gegenüber den zu beobachtenden Entwicklungen geprägte Sozialwissenschaft (vgl. Mersch, Medientheorien, S. 90, der daher die frühen Ansätze als ,marxistische Medientheorie‘ verzeichnet; vgl. auch Hartmann, Mediologie, S. 90). Die neuen elektronischen Möglichkeiten werden kritisch in ihrem Effekt auf das soziale Verhalten in der Gesellschaft gesehen. Weber konstatiert auch bei postmodernen Vertretern eine in der Mehrzahl pessimistische Sicht auf die stetige Zunahme an Medialisierung, Virtualisierung, Schein, Geschwindigkeit, Simulation, Immaterialisierung sowie die zunehmende Durchdringung der Welt mit Medien(-Effekten) (vgl. Weber, Stefan: Einführung: [Basis-]Theorien für die Medienwissenschaft. In: Theorien der Medien. Von der Kulturkritik bis zum Konstruktivismus. 2., überarb. Aufl. Hrsg. von dems., Konstanz 2010 [utb 2424], S.  15–48, hier S.  31–33). Mit dieser kulturapokalyptischen Tonart bricht McLuhan, der selbst später Kritik für seine angeblich kulturpessimistische Sichtweise erfahren hat (vgl. Hartmann, Mediologie, S. 19; Ludes, Peter: Einführung in die Medienwissenschaft. Entwicklungen und Theorien, 2. überarb. Aufl., Berlin 2003, S. 78). 5 Vgl. Weber, Einführung, S. 36–38; Schicha, Christian: Kritische Medientheorien. In: Theorien der Medien. Von der Kulturkritik bis zum Konstruktivismus, 2. überarb. Aufl. Hrsg. von Stefan Weber, Konstanz 2010 (utb 2424), S. 104–123, hier S. 104f. 6 Vgl. Mein, Georg: Medien des Wissens – Anstelle einer Einführung. In: Medien des Wissens. Interdisziplinäre Aspekte von Medialität. Hrsg. von dems., Bielefeld 2011 (Literalität und Liminalität 4), S. 6–21, hier S. 16. 7 Diese Bezeichnung wird für Gruppe von Kultur- und SozialanthropologInnen, EthnologInnen, LiteraturwissenschaftlerInnen, PhilologInnen und HistorikerInnen verwendet, die mit dem Ziel, die Einflüsse der Schrift und anderer Kommunikationsmedien auf die Kulturentwicklung zu beobachten, auf Kommunikation und Medien schauen. Neben McLuhan, der als die Zentralfigur der Schule gelten kann, sind das Eric A. Havelock, Jack Goody, Ian Watt, John Culkin, Edmund Carpenter, Walter J. Ong (vgl. Mersch, Medientheorien, S. 91). 8 McLuhan untersucht die mit den medialen und kommunikativen Möglichkeiten einhergehenden kulturellen Veränderungen über längere Zeiträume und die abstrahierbaren generellen Wechselwirkungen, die zwischen beiden Faktoren bestehen. Dabei konzentriert er sich auf die

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gungen und Auseinandersetzungen9 – bspw. den kommunikativen Konstruktivismus10 oder die Medienphilosophie der 1970er und 1980er Jahre11 – wird.12 Auch die Mediologie, die ihren Fokus von bestimmten (Massen-)Medien und kurzfristigen Kommunikationsprozessen auf die Bedingungen längerfristiger Prozesse kultureller Übertragung richtet,13 schließt noch an diese konstruktivistische Grund-

kulturelle Entwicklung von der Erfindung des Buchdrucks bis zu den elektronischen Medien (vgl. Ludes, Einführung, S. 72). 9 McLuhans eher uneinheitliche, zum Teil auch widersprüchlichen Thesen sind vielfach kritisiert worden (vgl. Debray, Régis: Einführung in die Mediologie. Aus dem Franz. Von Susanne Lötscher, Bern, Stuttgart, Wien 2003 [Facetten der Medienkultur 3], S.  45). Mersch weist in Verteidigung McLuhans darauf hin, dass eine einheitliche Medien- und Kommunikationstheorie nicht der Anspruch der Untersuchungen gewesen sei (vgl. Mersch, Medientheorien, S. 106). 10 Es handelt sich dabei um eine Blickwinkelverschiebung des 1916 von John Dewey proklamierten, dann von Burke und Cassierer aufgenommen und weiterentwickelten Sozialkonstruktivismus, die in Phänomenologie, Pragmatismus und Diskurstheorie ihre Quellen hat (vgl. Keller, Reiner/Knoblauch, Hubert/Reichertz, Jo: Der Kommunikative Konstruktivismus als Weiterführung des Sozialkonstruktivismus – eine Einführung in den Band. In: Kommunikativer Konstruktivismus. Theoretische und empirische Arbeiten zu einem neuen wissenssoziologischen Ansatz. Hrsg. von dens., Wiesbaden 2013 [Wissen, Kommunikation und Gesellschaft], S. 9–21, hier S. 14) und auf die Rekonstruktion der Prozesse, in denen Menschen mittels Kommunikation sich selbst, andere und die Welt schaffen, zielt (vgl. Reichertz, Jo: Grundzüge des Kommunikativen Konstruktivismus. In: Kommunikativer Konstruktivismus. Theoretische und empirische Arbeiten zu einem neuen wissenssoziologischen Ansatz. Hrsg. von Reiner Keller/ Jo Reichertz/Hubert Knoblauch, Wiesbaden 2013 (Wissen, Kommunikation und Gesellschaft), S. 49–68, hier S. 51). 11 Diese Sichtweise setzt den Einfluss des Medialen radikal. Ihre Vertreter – Flusser, Baudrillard, Virilo, Kittler, Luhmann – (vgl. Mersch, Medientheorien, S.  135) „diagnostizieren ein künftiges digitales Zeitalter, das Kunst und Wissenschaft auf neue Weise zusammenführt und eine Epoche der ,Virtualität‘ einleitet“ (hier S. 133) und propagieren Mediengenerativismus (s. Kap. 3.1.3), indem sie davon ausgehen, dass es kein Medienäußeres gibt (vgl. hier S. 131). 12 Schriften wie McLuhans Gutenberg-Galaxy und Understanding Media sind als eigentliche Initialzündung der modernen Medientheorie zu verstehen und dienen aufgrund ihrer vielfältigen Einfälle als Steinbrüche für spätere Theoretiker (vgl. ebd. S 105f.). 13 Die kulturwissenschaftlich orientierte, interdisziplinären Anspruch erhebende (vgl. Hartmann, Mediologie, S.  95; Debray, Mediologie, S.  204) Mediologie, die Ende des zwanzigsten Jahrhunderts mit McLuhans Medienphilosophie entsteht, hebt auf Umstände kultureller Übermittlung und nicht auf die Medienlandschaft einer Kultur oder einzelne Kommunikationsprozesse ab (vgl. Hartmann, Mediologie, S. 17, 92, 95, 99). In phänomenologisch-rekonstruktiver He­rangehensweise (vgl. hier S. 95) werden die sozialen, ideologischen und materiellen Bedingungen der menschlichen Artikulation (vgl. hier S. 22, ebenso Debray, Mediologie, S. 30, 151, 105) und die relevanten Einflüsse auf die Durchsetzung religiöser, politischer oder moralischer Lehren fokussiert (vgl. Debray, Mediologie, S. 209). In der Mediologie liegt der Hauptakzent auf der Vermittlung, auf der Mediation (vgl. ebd. S.  18). Sie beschäftigt sich weniger mit ,Medien‘

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tendenz an. Spätestens die dort geleistete Verschiebung der Aufmerksamkeit von einzelnen (massen-)medialen Apparaten auf mediale Technologien des Präsentierens, Übertragens, Verarbeitens und Speicherns von Informationen unabhängig von konkreten medialen Gestalten und die damit einhergehende Einführung eines abstrakten Medienbegriffs (s.  Kap.  3.1.3), stellt einen Perspektivwechsel14 dar, der auch Definitionen anbietet, die applikabel für die Beschreibung und Untersuchung medialer Prozesse anderer – auch älterer – Kulturen sind. Bei der Verwendung des theoretischen und begrifflichen Grundgerüsts moderner Theorie für die Analyse mittelalterlicher Texte ist von großer Bedeutung, dass sich in jüngerer Medien- und Kommunikationsforschung die Ansicht durchgesetzt hat, dass mediale Prozesse als anthropologische Kulturtechnik zu jeder Zeit innerhalb von Gesellschaften eine wichtige und untersuchenswerte Rolle spielen.15 Auf Grundlage der Interpretation jeglichen Medieneinsatzes als Ausprägung eines ursprünglichen Bedürfnisses nach Grenzüberwindung16 beschränkt sich die medientheoretische Forschung in den letzten Jahren nicht mehr auf die Untersuchung ,neuer‘ (Massen-)Medien,17 sondern widmet sich

als mit einem bestimmten Beziehungsbereich, der Verknüpfung von Geistigem und Materiellem (vgl. hier S. 87) und der Untersuchung der Relationen zwischen den sozialen Funktionen und den Verfahren der Memorisierung, Repräsentation und des Ortswechsels (vgl. hier S.  89, s.  Kap.  3.1.3). Wichtiger Begründer des gegenwärtigen Diskurses neben Debray ist der Wirtschaftshistoriker Harold A. Inni (vgl. Hartmann, Mediologie, S. 90). Dieser konzentrierte sich in seiner Untersuchung auf die Effekte von Medien und ihre Funktion innerhalb eines kulturellen Gefüges (vgl. hier S. 98). 14 Der bereits Mitte des letzten Jahrhunderts durch die VertreterInnen der Medienphilosophie proklamierte turn (vgl. Mersch, Medientheorien, S. 132; zuerst verwendet von Joseph Tabbi als Titel einer Sammelbesprechung, im deutschen Wissenschaftsraum von Reinhard Margreiter [vgl. Hartmann, Mediologie, S. 89]) wird damit spätestens in dieser Verbreiterung der Untersuchungsgegenstände und der Perspektiven auf sie eingelöst (vgl. hier S. 89). 15 Vgl. Vosskamp, Wilhelm: Einleitung. Kommunikation – Medien – Repräsentation – Archive. In: Schnittstelle. Medien und Kulturwissenschaften. Hrsg. von Gerog Stanitzek/dems., Köln 2001, S. 9–16, hier S. 11. 16 Vgl. Kap. 1. 17 Auch wenn sich die Medienwissenschaft (in Deutschland) vor allem aus den Philologien entwickelt und entsprechend in Methoden und Untersuchungsschwerpunkten in geisteswissenschaftlicher Tradition steht (vgl. Dittmar, Jakob F.: Grundlagen der Medienwissenschaft, 2. erweiterte und korrigierte Aufl., Berlin 2011 [Berliner Schriften zur Medienwissenschaft 8], S. 47; Withalm, Gloria: Zeichentheorien der Medien. In: Theorien der Medien. Von der Kulturkritik bis zum Konstruktivismus, 2. überarb. Aufl. Hrsg. von Stefan Weber, Konstanz 2010 (utb 2424), S. 124–144, hier S. 124), konzentrieren sich die frühen Arbeiten gemäß des Entstehungskontexts des Forschungsfelds auf Phänomene, die weniger anschlussfähig für mediävistische Arbeiten sind. Der Schwerpunkt der von soziologischen, psychologischen und semiotischen Erkenntnis-

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umfassender und mit unterschiedlichen Wertungen Vermittlungsprozessen sowie der Beschreibung des medialen Potenzials von Objekten. Davon abgesehen scheint für diese Untersuchung der Rückgriff auf (post-)moderne Theorien trotz durchaus verständlicher Skepsis an der Verwendbarkeit eines genuin modernen Inventars18 auch deswegen adäquat, weil die Arbeit nicht auf eine Untersuchung medialer Realität im Mittelalter zielt, sondern auf die Lektüre der imaginierten medialen Prozesse als Schlüssel zu Aussagen über kommunikatives und soziales Verhalten, über mediale Herausforderungen, Möglichkeiten und Grenzen. Diese Verknüpfung medialen Verhaltens und darüber verhandelter gesellschaftlicher Diskurse wird vor allem in jüngeren Konzeptionen berücksichtigt. Durch die besonders starke Präsenz medientheoretischer Arbeiten in den letzten zwanzig Jahren steht zum Themenkomplex um Medien, Medialität und Kommunikation eine Menge an Literatur aus unterschiedlichen Disziplinen und beeinflusst von diversen Denkrichtungen zur Verfügung19 Unter abwägender Begutachtung der Theorien und der jenen zugrunde liegen Annahmen soll geklärt werden,20 wie sich die Textprozesse treffend und differenziert bezeichnen

sen beeinflussten (vgl. Dittmar, Medienwissenschaft, S. 11) und sowohl in der Wahrnehmungstheorie der Antike als auch in der Sprachtheorie des achtzehnten Jahrhunderts ihre Vorläufer findenden (vgl. Mersch, Medientheorien, S. 12f.) Forschungsrichtung sind zunächst die ,modernen Massenkommunikationsmedien‘ (vgl. Depkat, Kommunikationsgeschichte, S. 41). Erst auf Grundlage des durch Gerhard Maletzke geprägten Begriffs Massenmedien (1963) beginnt sich die Kommunikations- und Medientheorie als Disziplin herauszubilden und auszudifferenzieren (vgl. Dittmar, Medienwissenschaft, S. 49). Dabei orientieren sich die frühen Forschungsarbeiten, deren Modelle noch immer „den Mainstream der Lehre“ beherrschten (Hartmann, Mediologie, S.  20), allein auf massenmediale, elektrotechnische Phänomene (Film, Rundfunk und Fernsehen) (vgl. Mersch, Medientheorien, S. 90). Mehr dazu in dem Aufsatz von Gansel, Macht. 18 Aufgrund der anfänglichen Ausrichtung auf ,Massenkommunikation‘ und/oder ,neue Medien‘ rufen die von dieser Forschungsrichtung vorgebrachten Ansätze und Begrifflichkeiten in der germanistischen Mediävistik zum Teil Skepsis hervor (vgl. zu den Gründen dafür Kiening, Medialität, S. 285f.). 19 Eine Übersicht, welchen Ansätzen sich die bekanntesten Namen zuordnen lassen, bietet Weber, Einführung, S. 31–48. 20 Einige Medientheorien werden hier überblickshaft hinsichtlich ihrer methodischen Herangehensweise verglichen, bezüglich ihrer jeweiligen Vor- und Nachteile evaluiert und auf ihre Praktikabilität in der Anwendung bei der Bezeichnung der Textphänomene geprüft. Auf eine ausführliche Auseinandersetzung mit allen (Basis-)Theorien der Medienwissenschaft, ihren Verknüpfungen und Entwicklungsgeschichten wird hier mit exemplarischem Verweis auf die vielzählige Literatur, die einen solchen Überblick leistet, verzichtet. Vgl. Dittmar, Medienwissenschaft; Mersch, Medientheorie; Ludes, Einführung; Hartmann, Medien; Faulstich, Werner: Medientheorien. Einführung und Überblick, Göttingen 1991 (Kleine Vandenhoeck-Reihe 1558). Weber verzeichnet in seiner Einführung kompakt die wichtigsten Theoriestränge und ihre Ver-

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und beschreiben lassen und Prämissen zur generellen Funktionsweise medialer Vorgänge und zu den Herausforderungen innerhalb dieser gebildet werden. Die sich daraus ergebenden Annahmen über ihr Funktionieren und über die Rolle des jeweils vermittelnden Phänomens sind notwendige Grundlage der Einzeluntersuchungen an den Texten. Von der Vielfalt der Ansätze sind für die Weiterarbeit nur jene hilfreich, deren Kommunikations- und Medienverständnis heterogene und weniger typische Prozesse einschließt, deren theoretische Apriori mit denen der germanistischen Mediävistik übereinstimmen und deren Instrumentarium sich problemlos historisieren lässt. Technische und zeichentheoretische Zugänge vermögen ein Grundverständnis der Bestandteile und Funktionsweisen kommunikativer Prozesse zur Verfügung zu stellen. Es bieten sich darunter allerdings weniger die an konkreter Materialität interessierten oder systemtheoretischen Zugänge an. Denn während erstere das unter ,Kommunikation‘ und ,Medien‘ Verstandene stark eingrenzen, sind letztere mit ihren abstrakten Begriffen und in ihrem Desinteresse für Objekte und Techniken für eine Analyse literarischer Darstellungen konkreter Phänomene ungeeignet.21 Hilfreicher für eine Auseinandersetzung sind aufgrund des ähnlichen Untersuchungsinteresses und des Verzichts auf eine massenmedial ausgerichtete, ,technikzentrierte‘ und auf bestimmte Materialitäten festgelegte Sichtweise in erster Linie jüngere, konstruktivistisch ausgerichtete Ansätze. Sie fokussieren das beobachtbare Verhalten von Menschen in lebensweltlichen Interaktionsweisen als Grundlage sozialer Gemeinschaften.22 Ihr Blick ähnelt also der literaturwissenschaftlichen Perspektive auf dargestellte Kommunikationspro-

treterInnen (Weber, Einführung, S. 15–48), in den sich anschließenden Einzelbeiträgen werden einzelne Theorien näher vorgestellt. Hier werden nur diejenigen Ansätze angesprochen, die für die weitere Arbeit verwendbar sind, oder zur dezidierten Abgrenzung dienen. 21 Die Vorannahmen bezüglich Kommunikation stimmen nur hinsichtlich der Vorstellung einer sukzessiven Funktionsweise von Kommunikation und der Abhängigkeit (unwahrscheinlicher) Kommunikation von ,Medien‘ (vgl. Mein, Medien, S. 16) überein. 22 Für dem kommunikativen Konstruktivismus ist Kommunikation die Basis der gesellschaftlichen Wirklichkeit (vgl. Keller/Knoblauch/Reichertz, Kommunikativer Konstruktivismus, S.  13), „die empirisch beobachtbare Seite des Sozialen“ (hier S.  11) und gleichzeitig Indikator für die Relevanz sozialer Vorgänge, da „alles, was am sozialen Handeln relevant ist, notwendig auch kommuniziert werden muss (ohne dass alles, was kommuniziert wird, sozial relevant sein muss)“ (Knoblauch, Hubert: Grundbegriffe und Aufgaben des kommunikativen Konstruktivismus. In: Kommunikativer Konstruktivismus. Theoretische und empirische Arbeiten zu einem neuen wissenssoziologischen Ansatz. Hrsg. von Reiner Keller/Jo Reichertz/Hubert Knoblauch, Wiesbaden 2013 [Wissen, Kommunikation und Gesellschaft], S.  25–47, hier S.  26, vgl. auch Reichertz, Grundzüge, S. 49).

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zesse.23 Auch die sich von der klassischen Kommunikations- und Medienwissenschaft abgrenzende Mediologie, die den Prozess der Vermittlung in den Mittelpunkt stellt und somit ihren Schwerpunkt erstens weniger auf die Materialität als auf die Funktionsweise setzt,24 zweitens Bedingungen der Möglichkeit von Kommunikation einbezieht und sich damit nicht auf kommunikative Akte beschränkt, sondern auch Prozesse der Wahrnehmung und Imagination behandelt,25 ist für die begriffliche Vorarbeit im Dienste einer Betrachtung unterschiedlicher Phänomene gewinnbringend. Wichtig ist dieses Denkmodell besonders insofern, als mit ihm nicht zum ,klassischen‘ Bereich kommunikations- und medientheoretischer Betrachtungen gehörende und weder vom ,technischen‘ Medienbegriff noch von zeitgenössischen Zeichentheorien vollständig erfasste Phänomene der Vermittlung als besondere Ausprägungen von Kommunikations- bzw. Mediationsprozessen gefasst werden können. So werden für die Begriffsschärfung aus dem ,modernen Theoriepool‘ die sozialkonstruktivistisch beeinflussten, eine starke Wechselwirkung der Phänomene mit sozio-kulturellen Prozessen annehmenden Theorien sowie auch die auf den Ablauf und das Funktionieren der Prozesse ausgerichteten Ansätze zurate gezogen – ohne dass damit eine vollständige Übernahme aller ihrer theoretischen Grundsätze verbunden wäre. Literaturwissenschaftliche und dezidiert mediävistische Forschung rückt spätestens seit der Proklamation des technological turn in den Geistes- und Sozialwissenschaften Kommunikationsprozesse und die Rolle der vermittelnden Instanzen für sozialhistorische Prozesse in den Fokus.26 Das Forschungsfeld entspringt hier den 1990er Jahren, spätestens seit der Jahrtausendwende zeichnet sich ein deutlich gesteigertes Interesse an medien- und kommunikationswissenschaftlichen Fragestellungen ab.27 Die Zugänge und möglichen Schwerpunktsetzungen

23 Linden, Kundschafter, S. 26 erläutert die Verwendung dieser Denkschule in ihrer Arbeit mit dieser Parallele. 24 In der Mediologie liegt der Hauptakzent auf der Vermittlung, auf der Mediation (vgl. Debray, Mediologie, S. 18; s auch Anm. 3/13). Sie beschäftigt sich mit der Verknüpfung von Geistigem und Materiellem (vgl. hier S. 87). Aufgabe sei es, Relationen zwischen den sozialen Funktionen und den Verfahren der Medialisierung herzustellen (vgl. hier S. 89). 25 Kiening, Medialität, S. 326f. sieht in dem aus dieser Forschungsrichtung hervorgegangenen Fokus auf Medialität die Möglichkeit, die Fixierung auf die epochalen Umbrüche zu vermeiden und stattdessen ein allgemeineres Verständnis der ablaufenden Prozesse zu gewinnen (vgl. hier S. 327). 26 Vgl. Mein, Medien, S. 19. 27 In den Literaturwissenschaften wird ein kommunikationszentrierter Blickwinkel seit gut zwei Jahrzehnten als schärfende Perspektive auf Texte genutzt. Literatur eigne sich zur kommunikationswissenschaftlichen Untersuchung, da sie „immer wieder ein reiches Panorama unterschiedlicher Kommunikationssituationen [liefert], wobei häufig ideale Formen der Kommu-

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diesbezüglich sind vielfältig.28 In den Bereichen ,Mündlichkeit – Schriftlichkeit‘,29 ,Textualität‘, ,(Audio)-Visualität‘, ,Kommunikation und Wahrnehmung‘,30 ,Mate-

nikation, manchmal aber auch – man denke an Parzivals Stummheit – mißlingende aufgezeigt werden“ (Linden, Kommunikationswissenschaftliche Perspektive, S. 63). Für Linden avanciert die poetische Kommunikationsanalyse aufgrund der großen Bedeutung, die einzelnen Gesten und festgelegten Kommunikationsspielregeln in der hochmittelalterlichen Gesellschaft beigemessen wird (vgl. hier S. 64), zu einem „zentralen Verfahren mediävistischer Literaturinterpretation“ (hier S. 73). Das Feld hatte vor zehn Jahren einen ersten Höhepunkt (vgl. hier S. 63; Linden, Kundschafter, S. 22; Kiening/Stercken, Einleitung, S. 3; Röckelein, Hedwig: Kommunikation – Chancen und Grenzen eines mediävistischen Forschungszweiges. In: Kommunikation. Hrsg. von ders., Berlin 2001 [Das Mittelalter 6, Heft 1], S.  5–13, hier S.  5f.; Röcke, Werner: Schriftliches ,gedencken‘ und paradoxe Verneinung. Aspekte von Verschriftlichung und Affektkultur in der Novellistik des Spätmittelalters. In: Gespräche – Boten – Briefe. Körpergedächtnis und Schriftgedächtnis im Mittelalter. Hrsg. von Horst Wenzel, Berlin 1997 [Philologische Studien und Quellen 143], S. 226–243, hier S. 228). Seit der Jahrtausendwende – eventuell angestoßen durch die Ablösung der Printmedien durch elektronische Medien und die damit einsetzenden Reflexionen von Mediengebrauch und Medienwandel, auch im Hinblick auf Mentalitätswandel – ist in diesem Feld ein gesteigertes Interesse an medien- und kommunikationswissenschaftlichen Fragestellungen zu erkennen (vgl. mit dieser Hypothese Kellermann, Karina: Medialität im Mittelalter. Zur Einführung. In: Medialität im Mittelalter. Hrsg. von ders., Berlin 2004 [Das Mittelalter 9, Heft 1], S. 4–7, hier S. 4; vgl. auch Linden, Kommunikationswissenschaftliche Perspektive, S. 63; s. mit ähnlicher Begründung Wandhoff, Haiko: Der epische Blick. Eine mediengeschichtliche Studie zur höfischen Literatur, Berlin 1996 [Philologische Studien und Quellen 141], S.  14–17; bereits Mitte der 90er Jahre setzt Schnyder ein besonderes Interesse für Medialität in der Mediävistik an, vgl. Schnyder, André: Sehen und Hören, Rede und Schrift beim Stiften von Erinnerung im Melusineroman Thürings von Ringoltingen, In: Daphnis 35/3 [2006], S. 377–400, hier S. 377). Vornehmlich ging es dabei um den Kommunikationsbegriff und die ausführlichere Auseinandersetzung mit politisch-symbolischem und rituell-zeremoniellem Handeln, mit Boten-, Austausch- und Aushandlungsvorgängen, dem Einsatz von Körperlichkeit sowie Mündlichkeit und Schriftlichkeit. An der Entwicklung eines historisch orientierten Verständnisses von Medien, Medialität, medialer Kommunikation und Mediation zeigen sich vor allem jüngere Beiträge interessiert. So bezeichnet Lauer Medialität als eines der sowohl traditionell, aber auch aktuell belebtesten Forschungsfelder der germanistischen Mediävistik (vgl. Lauer, Boten-Figuren, S. 41, 43). 28 Vgl. Meyer, Briefe, S. 13, der seinem Beitrag zu den Zugängen zum Thema ,Schreiben in der deutschsprachigen mittelalterlichen Literatur des 13. Jahrhunderts‘ eine kurze Aufzählung der möglichen Ebenen der Bemühungen um Rekonstruktion der medialen Kultur vorausschickt. 29 Vgl. Ernst, Ulrich: Formen der Schriftlichkeit im höfischen Roman des hohen und späten Mittelalters. In: Frühmittelalterliche Studien 31 (1997), S. 252–369 sowie auch die Literatur, auf die er zu Beginn seiner Darstellungen verweist (vgl. hier S. 252f.). 30 Mündlichkeit–Schriftlichkeit, Textualität, (Audio-)Visualität, Kommunikations und Wahrnehmung werden als etablierte mediävistische Forschungsschwerpunkte genannt bei Kiening/ Stercken, Einleitung, S. 3.

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rialität‘, ,brain-memory‘, ,Körper‘, ,Imagination‘ und ,Text-Bild-Relationen‘31 kann die germanistische Forschung eine größere Zahl an Beiträgen und Ergebnisse aufweisen, die für die theoretische Arbeit herangezogen werden können. Viele Arbeiten im Bereich der mediävistischen Germanistik zielen mit einem vorwiegend heuristisch begründeten modernen Begriffsinventar32 auf die Erforschung der realhistorischen medialen Kultur des Mittelalters und zeitgenössischer Vorstellungen33 oder beschäftigen sich mit der Medialität der überlieferten Texterzeugnisse.34 Durch die meist stärker kommunikationstheoretische als vermittlungsorientierte Schwerpunktsetzung bei der Analyse textinterner Phänomene und das vorrangig medienhistorische Interesse kann keine Arbeit aus diesem Bereich als direktes methodisches Vorbild dienen.35 Dennoch werden die Beiträge, die den Komplex aus mediävistischem Blickwinkel durchdacht haben, auch bei grundsätzlich anderem Textmaterial und abweichendem Forschungsinteresse in den Prozess der Begriffsschärfung einbezogen,36 da hier theoretische

31 Materialität, brain-memory, Körper, Imagination und Text-Bild-Relationen als etablierte mediävistische Forschungsschwerpunkte genannt bei Röcke, ,gedencken‘, S. 227. 32 Vgl. Kiening, Medialität, S. 309. Eine große Auswahl an theoretisierender oder begrifflicher Arbeit aus dem Bereich der Mediävistik, an der sich die hier verfolgte Untersuchung in theoretischer Hinsicht orientieren könnte, besteht daher nicht. 33 Vgl. Schnyder, Mireille: Schrift und Liebe in der Kultur des Mittelalters. Einführung. In: Schrift und Liebe in der Kultur des Mittelalters. Hrsg. von ders., Berlin, New York 2008 (Trends in Medieval Philology 13), S.  1–22, hier S.  5f. Im besonderen Fokus steht die Bedeutung von politisch-symbolischem und rituell-zeremoniellem Handeln, dem Ablauf von Boten-, Austausch- und Aushandlungsvorgängen, der Relevanz von Körperlichkeit und Performativität (vgl. Martschini, Schriftlichkeit, S.  16), Mündlichkeit und Schriftlichkeit (zur Prominenz wissenschaftlicher Auseinandersetzung mit dem Bereich Mündlichkeit und Schriftlichkeit vgl. Ernst, Schriftlichkeit, S.  252). Einen recht aktuellen Forschungsüberblick zu diesem Thema und den einzelnen Forschungsschwerpunkten gibt Martschini, Schriftlichkeit, S. 12–23. In dieser Arbeit folgt die Auseinandersetzung mit der Forschungsgeschichte um diese Thematik in Kap. 3.2.1. 34 Martschini sieht den Beginn der Auseinandersetzung mit Schrift als mediale Form bei Aleida Assmann in den Medienwissenschaften sowie bei Horst Wenzel in der germanistischen Mediävistik (vgl. Martschini, Schriftlichkeit, S. 15, weiter zu diesem Schwerpunkt auf den Seiten 15–23). Näheres zur Forschung an der Medialität von Schriftlichkeit in Kap. 4.1.2 und 4.3. 35 Literarischen Phänomenen in konkreter Textarbeit ist noch wenig Aufmerksamkeit zugekommen. Für die einschlägigen Untersuchungen in den Bereichen Minnesang, Artus- und Heldenepik und Mystik vgl. die Literaturangaben bei Schnyder, Sehen und Hören, S. 377, Anm. 1. Meist wurde laut Kiening bislang unreflektiert auf moderne Ansätze und Begriffe zurückgegriffen (vgl. Kiening, Medialität, S. 305–312, s. Kap. 3.2.2). 36 Auch bedeutet die hiesige Betrachtung zweier Texte und ihres medialen Spektrums nicht, dass bereits zentral gewordene Aspekte der mediävistischen Beschäftigung mit medialen Phänomenen ausgeklammert werden. Auf das Thema ,Materialität medialer Erzeugnisse‘ wird im Rahmen dieser Arbeit immer wieder eingegangen, der Körper als mediale Form selbst spielt in

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Ein- und Abgrenzungen bereits geleistet und die historische ,Medienlandschaft‘, welche für die Frage nach der Historisierbarkeit der Theorien unabdingbarer Hintergrund ist, aufgearbeitet wurde. Zunächst jedoch soll mithilfe der herausgearbeiteten theoretischen Ansätze ein grundlegendes Verständnis von Kommunikation wie den ihr zur Seite gestellten Begriffen ,Mediation‘ und ,Transmission‘ gewonnen und eine Zuordnung der zu betrachtenden Textphänomene vorgenommen werden. Ziel ist es, die Potenziale und Herausforderungen der Vorgänge aus Sicht der sich ihnen widmenden Fachgebiete kennenzulernen und einer genauen Beschreibung der Textphänomene näher zu kommen.

3.1.2 Kommunikation als Leitbegriff und seine Differenzierung ,Kommunikation‘ bezeichnet grundsätzlich eine große Menge bewusster und unbewusster menschlicher Handlungen, Phänomene, Kompetenzen und Funktionen,37 die schwer in einer Definition zu bündeln sind. Eine genauere Begriffsbestimmung und angemessene Beschreibung muss die unterschiedlichen Ebenen, die für das Phänomen eine Rolle spielen, wahrnehmen. Annahmen über die Ausgangssituation und über die (ideale und reale) Funktionsweise inklusive der zugehörigen Teilprozesse müssen bei der Frage, was Kommunikation ist und ausmacht, ebenso berücksichtigt werden wie die diese ermöglichenden Komponenten und die ihnen zugeschriebene Stellung in sozialen Gefügen. Die allen der intuitiv als Kommunikationsprozesse beschriebenen Textphänomenen (s.  Kap.  3.1.1) zugrunde liegende Aufgabe ist – so wurde bereits dargestellt  – die durch Hindernisse unterschiedlicher Art erschwerte Weitergabe von Informationen. Sie kann ebenso auf einen Transport wie auch auf eine Speicherung oder Fixierung abzielen, kann eine, meist aber mehrere oder sehr viele Beteiligte haben und unterschiedliche Formen annehmen. Auf Grundlage dieser Beobachtung wird unter ,Kommunikation‘ zuerst eine – über die Vorstellungen der Funktionsweise weiter erläuter- und spezifizierbare – „gesellschaftliche Praxis im Sinne einer Sammlung von Praktiken mit Symbolen umzugehen, Hand-

der Auseinandersetzung mit Botenfiguren (s. Kap. 4.2.2), sowie in der Untersuchung des Körperzeichens als Gedächtnisstütze (s. Kap. 5.2.1) eine Rolle, Mündlichkeit und Schriftlichkeit stellen in mehreren Kapiteln eine entscheidende Thematik dar (vgl. Kap. 4.1.2, 4.2–4.3, 5.2.2, 5.3.1). 37 Vgl. Vosskamp, Einleitung, S. 9. Angesichts des inflationären Gebrauchs sei ,Kommunikation‘ außerdem auf dem besten Wege, zu einem ,Plastikwort‘ zu werden (vgl. Depkat, Kommunikationsgeschichte, S. 9).

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lungen mit Folgen zu produzieren“38 verstanden. Sie ist essenzielle Grundlage und Notwendigkeit für jegliche Form von Zwischenmenschlichkeit und Gemeinschaftsbildung.39 Da in dieser Allgemeinheit fast jede menschliche Tätigkeit als Kommunikation zu fassen ist,40 sind im Sinne des Untersuchungsvorhabens Einschränkungen der Extension vorzunehmen. Nicht alle Aspekte von Kommunikation im obigen Sinne werden hier Berücksichtigung finden können; vielmehr wird ein spezieller Ausschnitt fokussiert und im Folgenden mit ,Kommunikation‘ bezeichnet. Sinnvoll erscheint eine Verengung des Blicks auf bewusste Handlungen mit häufig expliziter, zum Teil aber auch implizit bleibender Intention, die Informationen vermitteln, die als faktual wahrgenommen und ausgestellt werden.41 Ausgeklammert werden im Hinblick auf die skizzierten Textphänomene Prozesse, die zwar Informationen mitteilen, deren primäre Funktion und Intention – sofern erkennbar – jedoch nicht auf die Informationsweitergabe gerichtet ist oder deren primäre Funktion/Intention als etwas anderes wahrgenommen wird. Kommunikation wird also als bewusstes Handeln gefasst, das auf Informationsmanagement ausgelegt ist. Der Begriff bezieht sich hier daher auf intentional ausgerich-

38 Reichertz, Grundzüge, S. 54. Damit wird eine Definition, die denen des konstruktivistischen Forschungszweigs nahesteht, heuristisch zum Ausgangspunkt gewählt. Den Handlungsaspekt sowie die symbolhafte Prägung betonend bezeichnet Reichertz Kommunikation als „bewusstes und geplantes, ebenso wie nicht bewusstes, habitualisiertes und nicht geplantes zeichenvermitteltes Handeln“ (ebd.). 39 Wenn Informationen „essentiell soziale Artefakte sind“ (Dittmar, Medienwissenschaft, S. 25), ist es sowohl für die eigene Erinnerungs- und Identitätsbildung als auch für die Ausbildung sozialer Bindungen in unterschiedlichen Größenordnungen wichtig, diese zu verwalten, zu speichern, zu vermitteln. 40 Der Mensch kann in diesem Kommunikationsverständnis nicht nicht kommunizieren (vgl. Dittmar, Medienwissenschaft, S. 33). Dieses ist zwar generell auf Face-to-face-Kommunikation zwischen menschlichen Systemen hin konzipiert, die Axiome sind aber laut Dittmar auch auf medial gestützte Kommunikation übertragbar. 41 Plumpe verweist auf Situationen, in denen (fälschlicherweise) angenommen wird, jemand wolle in einem fiktionalen Text über ein Beziehungsgefüge faktuale Informationen über eine realweltliche Beziehung kommunizieren (vgl. Plumpe, Gerhard: Literatur als Kommunikation. In: Theorien der Literatur. Grundlagen und Perspektiven. Band V.  Hrsg. von Günter Butzer/ Hubert Zapf, Tübingen 2011, S. 159–171, hier S. 167). Hier geht es nur um Informationen, die auf Ebene der Handlung als faktual anzusehen sind.

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tete Formatierungs-, Vermittlungs- und Übertragungsprozesse expliziter und deklarativer Gehalte.42 Eine weitere Schärfung der Definition kann bei der Funktionsweise im technischen Sinne ansetzen; als Grundlage kann das nachrichtentechnische Kanalmodell von Shannon und Weaver dienen. Dieser Ausgangspunkt mag wegen seiner theoretisch auf moderne, elektrotechnische Vorgänge konzentrierten Grundlage zunächst erstaunen. Das zugrunde liegende Verständnis von Kommunikation, das zwar nachrichtentechnische Prozesse in den Vordergrund stellt, doch grundsätzlich für verschiedene Vorgänge Gültigkeit beansprucht,43 ist jedoch nicht nur Ausgangspunkt der meisten theoretischen Auseinandersetzungen,44 sondern passt auch insofern zum Fokus dieser Untersuchung, als sich das Modell ob der Beobachtbarkeit für die Vorgänge bei intentionaler Weitergabe expliziter Informationen interessiert und unbewusste Vorgänge vernachlässigt. Die in diesem Modell versuchte mathematische Erfassung des Funktionierens von Kommunikation über mehrere sukzessive Schritte45 generiert Annahmen über kommunikative Prozesse, die sich in ihrer Abstraktheit leicht auf andere Kommunikationsformen und -mittel übertragen lassen. Daher ist das Modell für eine Annäherung an kom-

42 „The anchor points are at least two communicators intentionally orienting towards each other, as both subject and object, whose actions embody each other’s perspectives both toward self and toward other“ (Bochner Arthur P.: Interpersonal Communication. In: International Encyclopedia of Communications Bd. 2 ,Demo‘–,Mead‘. Hrsg. von Erik Barnow u. a., New York, Oxford 1989, S. 336–340, hier S. 336; verwendet im mediävistischen Kontext bei Linden, Kommunikationswissenschaftliche Perspektive, S. 68; Linden, Kundschafter, S. 23). Linden, die seinen Begriff zur Grundlage nimmt, nennt in ihrer Darstellung ebenso „Intentionalität“ als Charakteristikum (Linden, Kommunikationswissenschaftliche Perspektive, S. 68). 43 Sie versuchen, unterschiedliche Formen menschlichen Verhaltens einzuschließen, um die Abläufe in einer möglichst weitreichenden Weise verstehen zu können und eine allgemeingültige Beschreibung hervorzubringen. Sie fassen ihren Begriff weit, „to include all of the procedures by which one mind may affect another“ (Shannon, Claude E./Weaver, Warren: The Mathematical Theory of Communication, Urbana 1964, S. 3). 44 Es gilt als „basis of all contemporary Western theories of media and communication“ (McLuhan/McLuhan, Thoeries, S. 166), Müller bezeichnet es als klassisch (vgl. Müller, Ulrich: Medien der Kommunikation – Materielle Kultur zwischen Sender und Empfänger. In: Medien der Kommunikation im Mittelalter. Hrsg. von Karl-Heinz Spiess, Stuttgart 2003 [Beiträge zur Kommunikationsgeschichte 15], S. 105–138, hier S. 115), Withalm verweist auf die Wirkmächtigkeit trotz vielfacher Kritik (vgl. Withalm, Zeichentheorien, S. 124). Auch Linden oder Depkat beziehen sich in ihren Arbeiten explizit – wenn auch ebenso nicht ohne Kritik – auf dieses Modell (vgl. Linden, Kundschafter, S. 27f.; Depkat, Kommunikationsgeschichte, S. 26). 45 Die Konzeption eines prototypischen Kommunikationsablaufs ist für sie nur der erste Schritt der Forschung, zielt diese doch vor allem auf die Möglichkeiten der Optimierung und Effizienzsteigerung (vgl. Shannon/Weaver, Mathematical Theory, S. 8).

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munikative (Teil-)Prozesse und für das Verständnis der Rolle der ,Medien‘ darin wichtiger Referenzpunkt. Kommunikation wird in dem Modell als eine aus fünf Komponenten bestehende, einseitig ablaufende Vermittlung unter Einsatz metakommunikativer und indexikalischer Zeichen von einer Sender- zu einer Empfängerinstanz konzipiert.46 Ein Kommunikationssystem besteht bei Shannon/Weaver aus einer Informationsquelle, die eine Nachricht oder Folge von Nachrichten für einen Rezipienten produziert, einem Transmitter, der die Nachricht in eine für den Kanal verwendbare Form umwandelt, einem Kanal, der zum Übertragen des Signals zum Empfänger dient, einem Empfänger, der die umgekehrte Leistung wie der Transmitter vollführt, das Signal also wieder in die Nachricht umwandelt, sie – idealerweise ohne Veränderung der Ausgangsnachricht47 – für den Rezipienten rekonstruiert: The information source selects a desired message out of a set of possible messages […]. The selected message may consist of written or spoken words, or of pictures, music, etc. The transmitter changes this message into the signal which is actually sent over the communication channel from the transmitter to the receiver. […] The receiver is a sort of inverse transmitter, changing the transmitted signal back into a message, and handing this message on to the destination. […] In the process of being transmitted, it is unfortunately characteristic that certain things are added to the signal which were not intended by the information source.48

Kommunikation gestaltet sich in der nachrichtentechnischen Konzeption als intendierter, mehrschrittiger Prozess des grenzüberwindenden Informationstransports zwischen mindestens zwei durch eine nicht weiter bestimmte Distanz getrennte Instanzen mithilfe einer kanaltauglichen Formatierung der Inhalte.49 Dieses simple, mittlerweile schon betagte Modell hat viel nachvollziehbare

46 Vgl. Shannon/Weaver, Mathematical Theory. Verkürzt handelt es sich um gezieltes Informationsmanagement mithilfe materieller Zeichen (vgl. Wandhoff, Der epische Blick, S. 22). 47 Die Indikatoren für die ,Güte‘ der Kommunikation sind in diesem Modell technische und semantische Akkuranz sowie Effektivität. In den Überlegungen von Shannon/Weaver hat Kommunikation drei Probleme zu meistern. Das technische Problem sei die Schwierigkeit , die verwendeten Kommunikationssymbole akkurat zu übermitteln, das semantische Problem, sei die Präzision und Angemessenheit der zur Übermittlung genutzten Symbole und das Effektivitätsproblem die Divergenzen von gewünschter und eintretender Auswirkung infolge der erhaltenen Bedeutung der Kommunikation (vgl. Shannon/Weaver, Mathematical Theory, S. 4). 48 Hier S. 7. 49 Dabei ist das Bild vom Kanal auch verbunden mit der Vorstellung der Breite, die für die Einzelmedien variieren kann (vgl. Winkler, Basiswissen, S. 125f.). Zur Aufgabe des Formgebens mit Hinblick auf den Kanal s. hier S. 135.

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Kritik erfahren,50 dient aber dennoch häufig – wie auch hier – als Grundlage zur Weiterentwicklung und Umakzentuierung der Begriffsdefinition und der ihr zugrunde liegenden Annahmen.51 Es kann mit der differenzierenden Benennung

50 Es würde mittlerweile als geradezu verharmlosend und idiotisierend empfunden (vgl. Hartmann, Mediologie, S. 95; vgl. auch Hartmann, Grundlagen, S. 21). Der Hauptgrund dafür ist, dass die diesem Modell zugrunde liegenden Auffassungen insgesamt „nicht mehr aufrecht zu erhalten“ und „überholt“ sind (Dittmar, Medienwissenschaft, S.  19). Das betrifft insbesondere die Gleichsetzung von Kommunikationsprozessen mit einem reinen Informationstransport ohne Einwirkung auf den Inhalt bzw. seine Bedeutung (vgl. Müller, Medien, S. 118.), die Vernachlässigung der Produktivität des Kommunikationsprozesses und des Rezipienten als zumindest potenziellen Koproduzenten (vgl. Kamphusmann, Thomas: Ästhetische Kommunikation. Statt einer Einleitung. In: Anderes als Kunst. Ästhetik und Techniken der Kommunikation. Peter Gendolla zum 60. Geburtstag. Hrsg. von Thomas Kamphusmann/Jörgen Schäfer, München 2010, S. 11–40, hier S. 15–18; s. auch Dittmar, Medienwissenschaft, S. 19), das unidirektionale Verständnis von Kommunikation (vgl. Dittmar, Medienwissenschaft, S.  19). Das Modell kreiere einen „left-brain lineal bias“, da es eine einseitige Richtung und die Idee einer strikten Dichotomie von Innen- und Außenseite der Kommunikation etabliere (vgl. McLuhan/ McLuhan, Thoeries, S. 166). Zudem werde der transformative Einfluss des Kommunikationsmediums vernachlässigt, bzw. die auftretenden Veränderungen im Kommunikationsprozess sowie das Sichtbarwerden des Mediums innerhalb dieses als möglichst zu reduzierende fehlerhafte Begleiterscheinung konzipiert (vgl. McLuhan/McLuhan, Thoeries, S. 176; vgl. ebenso Dittmar, Medienwissenschaft, S.  20). Die Kritiker betonen, „dass der Akt der Rezeption nicht, wie es nachrichtentechnische Modelle, zuvörderst solche der störungs- und verlustfreien KodierungDekodierung, nahelegen, die zur Produktion reziproke Operation, also eine rein technische Umkehrung des kreativen Aktes“ ist oder idealerweise sein sollte (Kamphusmann, Ästhetische Kommunikation, S.  20, der sich gleichzeitig gegen eine radikale Absage gegenüber dem technischen Modell ausspricht, da nur eine Kopplung der produktions- und rezeptionsbetonenden Ansätze mit den technischen Modellen zu einer gleichzeitigen Berücksichtigung von produktivkreativer Arbeit und technisch-effizienter Distribution ermögliche [vgl. hier S. 26]). Eine ganze Reihe von Kritikpunkten führt Kiening, Medialität, S. 326 auf. Auch wenn Müller das Modell ebenso bemängelt, übt er doch auch an vielen der beinahe schon konventionalisierten Beanstandungen Kritik, da sie vernachlässigten, dass das Modell dezidiert für nachrichtentechnische Kommunikation entwickelt wurde und damit nicht den Anspruch erhebt, jegliche Spielart von Kommunikation und Mediation zu erklären (vgl. Müller, Medien, S.  115, vgl. auch Dittmar, Medienwissenschaft, S. 20). 51 Anschaulich wird das z. B. anhand einer Beschreibung von ,Kommunikation‘ in einem recht aktuellen Studienbuch, das die Formulierung mit zahlreichen Literaturangaben jüngeren Datums untermauert: „Zwischenmenschliche, interaktive Kommunikation besteht (in einer vereinfachten Darstellung) aus mindestens vier Elementen, nämlich: einem Sender (Kommunikator), einem Kommunikationsinhalt (Aussage, Botschaft, Bedeutung) einem Kanal, über den der Inhalt vermittelt wird (Medium; in der zwischenmenschlichen Kommunikation v.  a. Sprache) sowie einem Empfänger (Rezipient). Der Kommunikationsvorgang läuft so ab, dass der Sender (Kommunikator) eine Botschaft verschlüsselt (encodiert), sprachlich an den Kommunikationspartner übermittelt und der Empfänger (Rezipient) die übermittelte Botschaft erfasst und ent-

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der unterschiedlichen Faktoren im Kommunikationsprozess und der Annahme einer Aufbereitung (und damit notwendiger Transformation) von Informationen als Ausgangspunkt eines Verständnisses vom Ablauf eines solchen Prozesses fungieren,52 muss allerdings vom (elektronisch-)technischen Verständnis gelöst, terminologisch verschoben und um jüngere medientheoretische Überlegungen ergänzt werden. Für die begriffliche Umschließung der phänomenologischen Vielzahl, die die Texte entwickeln, ist die konzeptionelle Lösung des Kommunikationsprozesses von elektronisch-technisierten Vorgängen und Materialitäten nötig; für die Wahrnehmung der Prozesse als Diskursbeiträge ist die Stellung von Kommunikation innerhalb des sozialen Lebens und nicht isoliert zu betrachten. Die terminologischen Modifikationen betreffen zunächst das Verständnis der ,Nachricht‘ in der Eingabe. Im obigen Zitat wird deutlich, dass Shannon/Weaver von einer bereits fertigen Nachrichten-Einheit ausgehen, die es nun nur in einer anderen Form so zu übertragen gilt, dass die Ausgangsform identisch rezipierbar ist, bspw. eine Sprachnachricht oder ein Text, die/der elektronisch verschickt wird und dabei in ein gewisses Datenformat und anschließend zurück in akustische Signale übertragen wird. Im hiesigen Verständnis ist diese Nachricht bereits Bestandteil des medial transformativen Vorgangs, wird doch die Nachricht selbst erst durch die Auswahl an Informationen, die es in eine vermittelbare Form zu bringen gilt, und die Möglichkeiten der vermittelnden Form gebildet. Im Beispiel wäre also nicht der gesprochene oder geschriebene Text die Nachricht und das elektronische Gerät die Umwandlungsinstanz für den Datenkanal, sondern das Aufbereiten der intendierten Botschaft in einem sprachlichen Text durch Auswahl von Informationen bereits erster Schritt der Transformation und des kommunikativen Vorgehens. So muss die Umwandlung auch gerade nicht eine Umsetzung in elektronische Signale sein, sondern kann genauso die Umsetzung eines semantischen Gehalts in den sprachlichen Code bedeuten wie im Eingangsbeispiel aus dem Reinfried (s. Kap. 1). Die Ersetzung des ,Rezipienten‘ des

schlüsselt (decodiert)“ (Pürer, Heinz/Springer, Nina/Eichhorn, Wolfgang: Grundbegriffe der Kommunikationswissenschaft, Konstanz, München 2015 [utb 4298], S. 15). 52 Dittmar verweist auf die Praktikabilität des Modells als Ausgangspunkt (vgl. Dittmar, Medienwissenschaft, S. 19). Besonders die Begriffe ,Sender‘ und ,Empfänger‘ hätten sich mittlerweile so sehr etabliert, dass die trotz eines allgemeinen Einverständnisses über den veralteten Status’ des sie vorbringenden Modells weiterhin Verwendung fänden (hier S. 21).

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Modells mit ,Empfänger‘ ist weniger theoretisch fundiert als der Besetzung des ,Rezipienten‘-Begriffs in literaturwissenschaftlicher Perspektive geschuldet. Auf weitere theoretisch notwendige Modifikationen weisen die Ansätze der ästhetischen Kommunikationstheorie und des kommunikativen Konstruktivismus hin. Die Konzeptionen von Kommunikation dieser Denkschulen heben besonders das kommunikative Potenzial von Kunstwerken und die konstruktivistischen Wechselwirkungen zwischen Kommunikationspraxis und Gesellschaft hervor. Sie verabschieden das im nachrichtentechnischen Modell postulierte Ideal veränderungsfreier Übertragung der Ausgangsnachricht und plädieren für ein Verständnis von Kommunikation als notwendigerweise offenen und kreativen Vorgang. Anders als im Kanal-Modell wird Rezeption nicht als technisches Entschlüsseln codierter Informationen, sondern als vielfältig beeinflusste Sinnkonstitution des Adressaten verstanden;53 Kommunikation erscheint nicht als einseitige Übertragungsleistung, sondern als „wechselweise Gestaltung und Formung einer gemeinsamen Welt durch gemeinsames Handeln“54 von Sender und Empfänger gleichermaßen. So versteht Ulrich Müller Kommunikation als … … die Teilnahme mindestens zweier Individuen bzw. Subjekte oder personaler Systeme […], die sich bei ihren Mitteilungsaktivitäten gegenseitig steuern und beeinflußen. Dies kann durch den Einsatz verschiedener Medien und Kommunikationskanäle erfolgen. Der Kommunikationsprozeß ist dabei in kulturelle, gesellschaftliche und historische Rahmenbedingungen eingebunden.55

Diese Definition nimmt die Prägung des Kommunikationsprozesses, der TeilnehmerInnen und der jeweiligen Informationen durch sowohl Sender, Empfänger als

53 Vgl. Biere, Bernd Ulrich: Linguistische Hermeneutik. Versuch eines Anfangs. In: Linguistische Hermeneutik. Theorie und Praxis des Verstehens und Interpretierens. Hrsg. von Fritz Her mann/Werner Holly, Tübingen 2007 (Reihe Germanistische Linguistik 272), S. 7–24, hier S. 13. Sprachlich-kommunikative Prozesse seien als „Prozesse der (permanenten) Sinnkonstitution, […] als Prozesse der Bedeutungs- bzw. Sinnkonstruktion“ zu behandeln (vgl. ebd.). Die Vorstellung, es gebe ein unproblematisches Verstehen, das keiner Interpretation bedürfe, sei, so Fix, zu schlicht. In jeder Kommunikationssituation seien hermeneutische Prozesse notwendig (vgl. Fix, Ulla: Zugänge zu Textwelten. Linguistisch-literaturwissenschaftliche Möglichkeiten, in die Geschlossenheit Erzähltextes einzudringen. In: Linguistische Hermeneutik. Theorie und Praxis des Verstehens und Interpretierens. Hrsg. von Fritz Hermann/Werner Holly, Tübingen 2007 [Reihe Germanistische Linguistik 272], S. 323–356, hier S. 327). 54 Varela, Francisco J.: Kognitionswissenschaft – Kognitionstechnik. Eine Skizze aktueller Perspektiven. Übersetzt von Wolfram Karl Köck. Mit einem Vorwort von Siegfried J. Schmidt Frankfurt a. M. 1990 (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 882), S. 113.Weiter heißt es: „Wir bringen unsere Welt in gemeinsamen Akten des Redens hervor.“ 55 Müller, Medien, S. 105.

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auch die umgebende (Kommunikations-)Kultur auf,56 wobei selbstverständlich auch der rückwirkende Einfluss jedes kommunikativen Prozesses auf die umgebende Kultur57 inklusive der Kommunikationskonventionen nicht zu vernachlässigen ist.58 Diese in viele Disziplinen aufgenommene Perspektive59 ergänzt das Verständnis von Kommunikation um das komplexe Einflussgeflecht,60 in das die einzelnen kommunikativen Akte eingebunden sind und hebt das produktive und kreative Verhältnis zwischen Kultur und Kommunikation hervor. Durch die Verknüpfung von Kultur und Kommunikation wird der transformative Einfluss des Empfängers und des ihn umgebenden kulturellen sozialen Rahmens auf die jeweiligen Kommunikationsinhalte, aber auch die gleichzeitige Prägung dieser Kultur durch die Kommunikationspraxis in den Blick gerückt. Wenn auch hauptsächlich die Einwirkungen der Empfängerseite und weniger – wie beim nachrichtentechnischen Modell – die Veränderungen im Akte der Umwandlung zur Vermittlung gemeint sind, so revidieren diese Ansätze doch das Ideal von Kommunikation als verlustfreier Übertragung zugunsten der Annahme, dass immer mit Verän-

56 „Das kollektiv erzeugte Diskursuniversum bildet die Grundlage und Voraussetzung des Funktionierens von Apperzeptions- und Appräsentationsprozessen“ (Keller, Reiner: Kommunikative Konstruktion und diskursive Konstruktion. In: Kommunikativer Konstruktivismus. Theoretische und empirische Arbeiten zu einem neuen wissenssoziologischen Ansatz. Hrsg. von dems./Jo Reichertz/Hubert Knoblauch, Wiesbaden 2013 [Wissen, Kommunikation und Gesellschaft], S. 69–94, hier S. 88). 57 Verwendet wird hier ein heuristischer Kulturbegriff, der dem Alltagsverständnis entsprechend verschiedene Aspekte des gemeinschaftlichen Zusammenlebens, Werte, Normen und Praktiken umfasst. Auf eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der hochkomplexen interdisziplinären Forschungsdebatte um den Begriff und seine Genese wird an dieser Stelle verzichtet. 58 Auf letztgenannten Punkt macht vor allem der sozialkonstruktivistische Zweig aufmerksam. Kommunikation konstituiere die jeweilige Wahrnehmung und Konzeptualisierung der Realität (vgl. Carey, James W.: Communication as Culture. Essays on Media and Society. Revised Edition, New York 2009 [1989], S. 23), schaffe, stabilisiere, reproduziere soziale Identität, Beziehung, gesellschaftliche Ordnung und Wirklichkeit (vgl. Keller/Knoblauch/Reichertz, Kommunikativer Konstruktivismus, S. 13, Depkat, Kommunikationsgeschichte, S. 10; Gansel, Macht, S. 54). Diese Überlegungen betonen den gemeinschaftsstiftenden Aspekt von Kommunikation gegenüber dem in der nachrichtentechnische Konzeption prominenten Vermittlungsgedanken. 59 Vgl. Biere, Linguistische Hermeneutik, S.  13; Depkat, Kommunikationsgeschichte, S.  10; Gansel, Macht, S. 54. 60 Die Benennung aller beteiligten sozio-kulturellen und individuellen Faktoren sowie ihr spezifischer Einfluss ist allgemein und auch im Einzelfall kaum zu leisten. Da nicht jeder Teil von Kommunikation direkt steuerbar und nicht jede kommunikative Handlung per se autark verläuft, aber auch nicht alles fremdbestimmt ist, bergen allgemeine Aussagen, die über die Konstatierung einer vielfältigen Beeinflussung der einzelnen beteiligten Parameter hinausgehen, die Gefahr, unterkomplexe Sichtweisen zu repräsentieren (vgl. Reichertz, Grundzüge, S. 53).

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derungen der Informationen, sowie der Kommunikationspartner, den Kommunikationskonventionen etc. zu rechnen ist61 und dass diese Veränderungen nicht notwendigerweise als mediales Scheitern zu beurteilen sind. Der aus Sendersicht nachvollziehbare Versuch, jene Transformationen gering zu halten, um ein möglichst sinngemäßes, intentionsgetreues Auffassen der versendeten Informationen zu garantieren,62 muss unter Berücksichtigung dieser Einflussnetze nicht nur bei technischer Innovation ansetzen, sondern auch bei der Wahrnehmung möglicher Irritationen (z. B. abweichende kognitive Schemata und Kontexteffekte)63 im Sendevorgang, bei Auswahl der Informationen und ihrer Formgebung. Diese Sichtweise soll auch hier maßgeblich für die Interpretation der Textpassagen dargestellter Kommunikation sein. Dass Kommunikation hier auf intendierte Prozesse des Informationsmanagements eingeschränkt wird, bedeutet nicht, dass bei diesen Vorgängen die nicht-explizit verfolgten Beeinflussungsund Konstitutionsverhältnisse ausgeblendet werden können. Kommunikation ist als sozialer und sozial generierter Prozess immer in einen kulturellen Kontext eingebettet, ist einerseits Produkt einer eine Kommunikationskultur mit den jeweils notwendigen Medienkompetenzen und -konzepten ausbildenden Gesellschaft,64 arbeitet andererseits selbst an dem Fortbestehen und der Modifikation dieses kulturellen Kontextes.65 Darstellungen kommunikativen Verhaltens werden so zum Ausdruck vielfältiger gesellschaftlicher und individueller Aspekte und

61 Vgl. Debray, Mediologie, S. 146. Die im nachrichtentechnologischen Modell als ideal vorausgesetzte transformationslose Kommunikation sei real nicht denkbar. Für McLuhan ist die gegenseitige Beeinflussung, „change“, Kern von Kommunikation (vgl. McLuhan/McLuhan, Theories, S. 175). Das bedeutet für ihn: „if there is no effect, if there is no change in the audience, there is no communication“ (hier S. 189). 62 S. Anm. 1/15. 63 Diese Gefährdungen der Senderintention benennt Beckers. Unter abweichenden kognitiven Schemata sind Wissensstrukturen, die qua Abstraktion aus den bisherigen Erfahrungen erworben und ausdifferenziert wurden und für die Sinnkonstitution neuer Situationen aktiviert werden, unter Kontexteffekten das Konfligieren der Erwartungshaltung mit einer erlebten Situation zu verstehen (vgl. Beckers, Katrin: Kommunikation und Kommunizierbarkeit von Wissen. Prinzipien und Strategien kooperativer Wissenskonstruktion, Berlin 2012 [Philologische Studien und Quellen 237], S.  146, 148; Strategien der Vereindeutigung vgl. hier S. 226–228). 64 Vgl. die Aussagen Parrs zur Ausbildung von Kommunikationskulturen (Parr, Rolf: Medialität und Interdiskursivität. In: Medien des Wissens. Interdisziplinäre Aspekte von Medialität. Hrsg. von Georg Mein, Bielefeld 2011 [Literalität und Liminalität 4], S. 23–41, hier S. 27 sowie Carey, Communication, S. 24, der darauf verweist, dass auch die Definitionen und theoretischen Zugänge zum Phänomen die kommunikativen/medialen Möglichkeiten beeinflussen). 65 Damit ist sie sowohl Basis und Voraussetzung als auch Praxis und Produkt gesellschaftlicher Organisation (vgl. Dittmar, Medienwissenschaft, S. 11, 25; Carey, Communication, S. 19, 26).

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ihrer – jeweils im gleichen Akt vollzogenen – Bestätigung, Herausforderung und/ oder Transformation, vermögen vom diskursiven Einfluss wie der diskursiven Aussagekraft kommunikativer Prozesse zu erzählen. Gerade aufgrund dieses engen Zusammenhangs von informationsverarbeitenden Praktiken und Formen der Vergesellschaftung und Kulturbildung lässt sich Kommunikation im Verständnis eines sozialen, Kultur sowohl schaffenden als auch darstellenden Akts als Indikator dafür lesen, was innerhalb einer Kultur als relevant und mitteilungs-, als speicher- und sicherungswürdig, was als erleb-, erfahr- und darstellbar gilt. Die Erweiterung des zunächst grob anhand der Textphänomene umrissenen, dann technisch im Hinblick auf die generelle Funktionsweise präzisierten Kommunikationsbegriffs um ein soziologischkonstruktivistisches Grundverständnis stellt also nicht nur eine Anpassung der Grundannahmen dar, sondern weist auch auf die gleichzeitige gesellschaftliche Geprägtheit und Prägkraft der Prozesse hin und öffnet damit den Blick für die vielschichtige Aussagekraft kommunikativer (und damit medialer, s.  u.) Vorgänge, welche eine Motivation ihrer Untersuchung ist. Auf Grundlage all dieser Überlegungen wären unter Kommunikation intentionale, kurz- wie auch längerfristige und durch soziokulturelle Normen wie durch individuelle Erfahrung beeinflusste intra-/interpersonale66 oder kollektive Formatierungsprozesse expliziter und deklarativer Informationen von Sender zu Empfänger mithilfe einer zwischengeschalteten Instanz – häufig ,Medium‘67, hier ,mediale Form‘ (s. Kap. 3.1.3) – zu verstehen.68 In der vielfältigen Vernetzung der

66 Die Möglichkeiten der inter- und intrapersonalen Kommunikation werden bei Beckers, Kommunikation, S. 96, ähnlich S. 93, für den Spezialfall der Wissenskommunikation erläutert. Symbolische Repräsentationen kollektiver Wissensbestände, die auf Grundlage mündlicher, schriftlicher und bildlicher Medien ausgebildet werden, können als interpersonale Wissenskommunikation betrachtet werden (vgl. hier S. 30); intrapersonale Wissenskommunikation ist hingegen aktives, sinnkonstruierendes Lesen und Hören, planendes Schreiben und Nachdenken. Ähnliche Formulierungen finden sich bei Arbeiten zum kommunikativen Konstruktivismus (vgl. Keller, Kommunikative Konstruktion, S. 819). 67 Vgl. Röckelein, Kommunikation, S.  7. Ihr Medienverständnis umfasst dabei Handlungen, Gesten, Worte, Texte, Bilder und Zeichen. Ähnliche Formulierungen schlägt auch Dittmar vor, der Kommunikation als Vorgang bezeichnet, der der „Vermittlung von Informationen, die individuelle und kollektive Zustände und Prozesse betrifft“ dient (vgl. Dittmar, Medienwissenschaft, S. 25). 68 Diese Definition ähnelt dem Kommunikationsverständnis bei Bochner (vgl. Bochner, Interpersonal Communication, S. 336 [s. Anm. 3/42]; s. auch Linden, Kundschafter, S. 23, und die angeführte Definition von Müller, Medien, S. 105).

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Prozesse mit der sie umgebenden Kultur können sie als Indikatoren und Schlüssel für außerhalb des Informationsgehalts liegende Diskurse gelesen werden. Der in dieser Weise angesetzte Begriff von ,Kommunikation‘ umfasst trotz der Eingrenzung über Intentionalität, Beobachtbarkeit und Eigenschaften der Inhalte Prozesse unterschiedlicher Dauer und sozialer Funktion. Um ein präziseres Analyseinstrumentarium für die in sich unterschiedlichen Vorgänge in den Texten zu entwickeln, sollen für die weitere Arbeit Begriffe für spezielle Formen und Prozessbestandteile eingeführt werden. Bei diesem Vorhaben kann vor allem die Unterscheidung von Kommunikation und Transmission (sowie Mediation) der Mediologie69 hilfreich sein. Im Rahmen dieser Disziplin spielt das physische Setting des Informationsmanagements und die damit verbundene soziale Funktion eine entscheidende Rolle für die Differenzierung ,kommunikativer‘ Vorgänge. Das Verständnis von ,Kommunikation‘ wird auf das Zirkulieren von Botschaften zu einem gegebenen Zeitpunkt, den Transport einer Information im Raum innerhalb einer räumlich-zeitlichen Sphäre eingeschränkt. Für die dadurch aus dem Begriffsumfang ausgeschlossenen Maßnahmen des individuellen oder kollektiven ,Erinnerns‘ hingegen, für Prozesse eines Informationstransports in der Zeit zwischen unterschiedlichen räumlich-zeitlichen Sphären, wird in Abgrenzung zum Kommunikationsbegriff der Terminus ,Übermittlung‘70 bzw. ,Transmission‘71 eingeführt.72 Während es bei Kommunikation um einen bestimmten Sachverhalt, der innerhalb eines Kulturraums bewegt wird, geht, verweist Transmission auf Transport und Transformation einer kulturellen Form, der Übertragung eines Kulturguts von einer Generation zur nächsten.73 Transmission wird als eine auf längerfristigen Informationstransport ausgerichtete, bewusst unternommene Handlung verstanden,74 mit der eine Gesellschaft versucht, kulturelle Werte fest- und

69 Das Interesse dieser Disziplin an Bedingungen und Funktionsweisen von medialen Prozessen der Grenzüberwindung (vgl. Debray, Mediologie, S. 30) entspricht in gewisser Weise dem hiesigen Vorhaben. Die Parallele ergibt sich weniger im Umfang und Ausmaß des im Zentrum der Mediologie stehenden Begriffes ,Übermittlung‘ (s. u.). 70 Vgl. Debray, Mediologie, S. 39. 71 Vgl. Hartmann, Mediologie, S. 104. Der Begriff geht zurück auf die Originalsprache des Begründers (frz.: transmettre – übertragen). Im Folgenden wird der Begriff ,Transmission‘ verwendet. 72 Zur Unterscheidung der Termini s. Debray, Mediologie, S. 11–14. 73 Vgl. Hartmann, Mediologie, S. 98. 74 Transmission zeichnet sich infolge der kulturstiftenden Funktion im mediologischen Verständnis, das die hiesige Beschneidung des Kommunikationsbegriffs auf bewusste Vorgänge nicht vollzieht, durch eine stärker bewusste und explizite Anlage aus, welche auf ein höheres

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präsent zu halten, indem sie Techniken der Memorisierung, der physischen Verstetigung und Repräsentation entwickelt. Wenn auch die grundsätzliche Funktionsweise der Transmission ähnlich wie für Kommunikation als vielseitig beeinflusster Prozess einer formatierenden Entäußerung einer Information für eine – in diesem Falle später stattfindende – Rezeption konzipiert wird, so wird eine deutliche terminologische Abgrenzung voneinander in der Mediologie dennoch angestrebt. Kommunikation und Transmission werden geradezu als Gegenbegriffe verwendet, die zwei unterschiedliche, sich gegenseitig ergänzende kulturell mediatisierende Grenzfunktionen – die synchrone Präsentation (Kommunikation) und die Diachronpräsentation (Transmission) – mit je eigenen Herausforderungen beschreiben,75 wobei Transmission momenthaft Kommunikationsprozesse enthalten kann.76 Die in den Texten zu beobachtenden Vorgänge lassen sich mithilfe dieses theoretischen Hintergrunds demnach jeweils unterschiedlich im Begriffsfeld Kommunikation und Transmission einordnen. Die Textphänomene können nominell danach differenziert werden, ob sie erstens in einer einheitlichen Raum-ZeitEbene angesiedelt sind (Kommunikation) oder auf zwei unterschiedlichen Zeit­ ebenen zu operieren versuchen (Transmission), und ob sie zweitens dem Austausch einzelner Subjekte (individuell) oder aber einer größeren Sender- und Adressatengruppe (kollektiv) dienen. So gibt es einerseits Szenen, in denen über Briefe und/oder Boten individuell oder kollektiv relevante Informationen in einer, wenn auch zerdehnten, Raum-Zeit-Sphäre bewegt werden,77 andererseits Darstellungen der Bemühung um längerfristige Bewahrung kollektiver Informationsbestände, bspw. durch Lieddichtungen auf den Helden, schriftliche Aufzeichnung relevanter Wissensbestände, den Bau von Grab- oder Ehrenmalen,78 sowie auch eine Textsequenz, die von dem medial gestützten Versuch individueller Erinnerungsbildung erzählt.79 So deutlich zuordnen, wie es die terminologische Unter-

Maß an Intention bzw. Gerichtetheit hinzuweisen scheint (vgl. Debray, Mediologie, S. 21; dazu auch Dittmar, Medienwissenschaft, S. 33). 75 Vgl. Hartmann, Mediologie, S. 104. 76 Vgl. Debray, Mediologie, S. 11. Kommunizieren ist dann ein „Moment eines längeren Prozesses und das Fragment eines umfangreichen Ganzen, das wir konventionsgemäß Übermittlung nennen“ (ebd.). Diese Unterscheidung weiter ausformulierend heißt es weiter, Kommunikation zu untersuchen, hieße zu fragen, wer was zu wem und mit welchen Ausdrucksmitteln sagt, während die Beobachtung von Übermittlung sich damit beschäftige, was mit dem in Umlauf Gebrachten auf welchen Wegen und mit welchen Veränderungen geschieht (vgl. hier S. 43). 77 S. Kap. 4. 78 S. Kap. 5. 79 S. Kap. 6.

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scheidung und die angeführten Beispiele implizieren, lassen sich jedoch nicht alle Textphänomene; es gibt auch Misch- und Sonderformen, die über die Zuordnung ihrer Bestandteile anders beschrieben werden müssen.80 Aus dem Rahmen und aus dem Definitionsumfang moderner Kommunikations- und Medientheorien fallen Kommunikationsprozesse über Sphärengrenzen hinweg. Bei dem nicht nur vereinzelt in beiden Texten zustande kommenden Kontakt immanenter Figuren mit transzendenten Informationen handelt es sich funktional um das partielle, zeitlich teilweise recht unmittelbare Verfügbarmachen transzendenter Information über die Gegenwart oder die Zukunft.81 Diese Begegnungen lassen sich so ihrem Ablauf nach eher als Kommunikationsprozesse beschreiben, wenngleich die Suspendierung sphärischer, Grenzen mehr dem Kern von Transmissionsprozessen entspricht (und zugleich teilweise mit der Überwindung räumlicher oder zeitlicher Distanzen einhergeht). Von einer gemeinsamen räumlich-zeitlichen Sphäre der Interaktionspartner lässt sich jedenfalls nicht sprechen. Die gerade säuberlich getrennten Formen des Informationsmanagements beginnen sich in diesen Textphänomenen wieder zu mischen, die Teilaspekte lassen sich mithilfe der eingeführten terminologischen Unterscheidung jedoch benennen und

80 Transmission umfasst im mediologischen Sinne keine individuellen Prozesse des Memorierens, sondern richtet sich auf größere Zeiträume und kulturelle Objekte. Hier wird jedoch der Transmissionsbegriff aufgrund der Ansiedelung solcher Vorgänge auf der Zeitebene übernommen. Bei diesen Phänomenen ist von der Funktionsweise von Transmissionsprozessen auszugehen, es handelt sich um individuelle Erinnerungswahrung anstatt um kollektive Kulturbildung, sodass nicht die Grenze zwischen zwei Kulturen, sondern zwischen einem lediglich als kohärent konstruierten älteren und neueren Ich überwunden werden muss (s. Kap. 5.3.1). 81 Dass auch die Zukunft betreffende Inhalte Bestandteil von Übermittlungsprozessen sein können, zeigt Kiening in seiner Auseinandersetzung mit Melusine: „Der Ort der Repräsentation ist zugleich ein Ort der Präsenz und der Latenz. Die Schrift wird ergänzt durch die Figuren und dient selbst nicht nur zum Erzählen von Vergangenem, sondern auch dem Festhalten eines noch zu Erwartenden“ (Kiening, Christian: Zeitenraum und mise en abyme. Zum „Kern“ der Melusinengeschichte. In: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 79 [2005], S. 3–28, hier S. 24). An dieser Stelle soll kurz angemerkt werden, dass ,Zukunft‘ hier als Begriff für noch unverfügbare, mögliche Einzelereignisse verwendet wird. Mittelalterliche Denktraditionen entsprechen nicht unbedingt den modernen Sichtweisen eines innerweltlichen Zukunftsbegriffs.  Laut Hölscher beginnt sich erst im Hochmittelalter ein innerweltliches Zukunftsverständnis herauszubilden. Stattdessen sei der Zukunftsbegriff von eschatologischem Denken bestimmt und dementsprechend auf jenseitige Ereignisse, wie das Fegefeuer und das jüngste Gericht ausgerichtet, andererseits im Bezug aufs Diesseits auch von zyklischer Wiederkehr von Ereignissen im Jahresrhythmus geprägt. Wenn davon abgesehen in mittelalterlichen Texten von der Zukunft geredet wird, sind damit jeweils bereits im Vorhinein angelegte Einzelereignisse, nicht also ein Zeitraum ,Zukunft‘ gemeint (vgl. Hölscher, Lucian: Die Entdeckung der Zukunft, Frankfurt a. M. 1999 [Fischer anfangs 60137], S. 17–33).

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ermöglichen eine genauere Beschreibung. Die Bereitstellung transzendenter oder abstrakter Inhalte in konkret sinnlich wahrnehmbaren Signalen kann als eine an kommunikationsartigen Techniken orientierte Interaktion mit zum Teil transmissionshaften Inhalten beschrieben werden und wird im Folgenden kurz als ,transsphärische Interaktion‘ bezeichnet. Alle Vorgänge vereint, dass die Figuren und Instanzen versuchen, die „Kommunikationsmöglichkeiten über das ,Hier‘ und ,Jetzt‘ hinaus zu erweitern“,82 Grenzüberschreitungen zu vollziehen. Das nachrichtentechnische Modell beschreibt diesen Vorgang als zweifachen Umwandlungsprozess; die Mediologie, die auf das alle Formen intendierten Informationsmanagements kennzeichnende Überwinden einer die Produktion und Rezeption trennenden Grenze fokussiert, benennt den relevanten Teilschritt der jeweiligen Prozesse in ihrer Konzeption von Transmissionsprozessen mit ,Mediation‘. Diesen für Transmissionsvorgänge verwendeten Begriff ausweitend wird das allen gemeinsame, relevante Moment, in dem eine Information zu ihrer Weitergabe, Speicherung und/oder Sicherung eine bestimmte Grenze – sei sie räumlicher, zeitlicher oder sphärischer Art – überschreitet, im Folgenden als Mediationsmoment bezeichnet. Er bietet sich an, da seine Etymologie die Notwendigkeit einer vermittelnden Instanz bei diesem Vorgang hervorhebt bzw. gegenüber dem nachrichtentechnischen Modell die Instanzhaftigkeit des ,Dazwischen‘ betont. Mediation leitet sich von mediare (lat. ,in der Mitte sein‘, ,sich dazwischen stellen‘) bzw. medius (lat. ,in der Mitte befindlich sein‘) ab;83 konstitutiver Bestandteil dieser Transgression ist also eine sich zwischen Sender und Empfänger befindende Instanz. Diese Subjekte und Objekte, die das Mediationsmoment ermöglichen und weder in der Kanalvorstellung des nachrichtentechnischen Modells noch in dem Alltagsver-

82 Hepp, Andreas: Die kommunikativen Figurationen mediatisierter Welten: Zur Mediatisierung der kommunikativen Konstruktion von Wirklichkeit. In: Kommunikativer Konstruktivismus. Theoretische und empirische Arbeiten zu einem neuen wissenssoziologischen Ansatz. Hrsg. von Reiner Keller/Jo Reichertz/Hubert Knoblauch, Wiesbaden 2013 (Wissen, Kommunikation und Gesellschaft), S. 97–120, S. 98. 83 Vgl. Debray, Mediologie, S. 141. Im Lateinischen bezeichnet medium die Mitte, mediare dementsprechend ,in der Mitte sein‘, ,sich dazwischen stellen‘ und medius ,in der Mitte befindlich sein‘ (vgl. Mersch, Medientheorien, S. 18). In diese Sinne gelangt der Begriff ab dem siebzehnten Jahrhundert allmählich in den deutschsprachigen Gebrauch (vgl. Kluge, Friedrich [Hg.]: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache [25. Aufl.], bearbeitet von Elmar Seebald, Berlin, Boston 2011, S. 611). Das Suffix -,ion‘ bezeichnet Prozessualität.

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ständnis von ,Medien‘ vollständig aufgehen, werden hier als ,mediale Formen‘ bezeichnet. Ihrer Beschreibung widmet sich der nächste Arbeitsschritt.

3.1.3 Einflussreiche Dritte: Vorbemerkungen zu ,medialen Formen‘ Im Folgenden sollen die Instanzen, die das Moment der Grenzüberschreitung in den Kommunikations- und Transmissionsprozessen sowie in der transsphärischen Interaktion jeweils ermöglichen und im besonderen Fokus der Analyse stehen, begriffliche Erläuterung erfahren. Dabei wird auf eine ausführliche Mediengeschichte und Medienwissenschaftsgeschichte84 verzichtet. Vielmehr soll es um die Funktion medialer Formen in den Prozessen und die ihnen zugeschriebene Prägkraft in jenen Vorgängen gehen. Zurückgegriffen werden kann bei der Auseinandersetzung weniger auf kommunikationswissenschaftliche Ansätze85 als auf Beiträge der bereits zur Sprache gekommenen Medienwissenschaften/Mediologie, die ihr primäres Interesse auf die übertragende Instanz richten. Alltagssprachlich wird jene Instanz zwischen Sender und Empfänger als ,Medium‘ bezeichnet. Es handelt sich dabei um einen meist selbstverständlich benutzten, wortgeschichtlich schon alten,86 forschungsgeschichtlich noch jungen Begriff, der Gansel zufolge wissenschaftlich „erst zu einem Zeitpunkt definiert wird, da die Moderne sich selbst als späte Moderne reflektiert – etwa seit den sechziger Jahren“.87 Im Zuge der sich in diesem Zeitrahmen entwickeln-

84 Für eine ausführliche Geschichte der Medientheorie unter Berücksichtigung der Anfänge in Platons Schriftkritik über Metaphorisierungen des Medialen im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert bei Lessing, Herder und Hegel bis hin zu Nietzsche s.  Mersch, Medientheorien, S. 28–56. 85 Diese sind vorrangig mit der Definition des Kommunikationsbegriffes beschäftigt, diskutieren und definieren den Medienbegriff kaum explizit (vgl. Dittmar, Medienwissenschaft, S. 12). 86 S. Anm. 3/83. 87 Gansel, Macht, S.  50, vgl. zur spät einsetzenden wissenschaftlichen Auseinandersetzung auch Mersch, Medientheorien, S. 12; Hartmann, Frank: Die Grundlagen der wissenschaftlichen Erforschung der Medien. In: Medienwissenschaft. Ein Handbuch zur Entwicklung der Medien und Kommunikationsformen. Teilband 1. Hrsg. von Joachim-Felix Leonhard u. a., Berlin, New York 1999 (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft), S. 15–27, hier S. 19. Bis ins zwanzigste Jahrhundert herrschte, wenn überhaupt in expliziter Form, ein wahrnehmungsoder sprachtheoretisches Verständnis von ,Medien‘ vor. Bis ins achtzehnte Jahrhundert dominierte Mersch zufolge ein aisthetischer Medienbegriff, der unter ,Medium‘ einen Stoff verstand, in dem Anschauung geschieht (vgl. Mersch, Medientheorien, S. 13). Dieser speist sich aus der antiken Aisthesislehre De Anima von Aristoteles. Ihm zufolge bedarf es hinsichtlich des Sehens

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den Medientheorien und der durch diese besonders in den Vordergrund gerückten sozialen Funktion dieses Kommunikations- und Transmissionsbestandteils konnte der zunächst in philosophischer und ästhetischer Tradition betrachtete88 Medienbegriff eine beispiellose Karriere in unterschiedlichen Disziplinen89 und im alltäglichen Wortschatz90 machen. Wie in vielen Forschungsgebieten hat sich dadurch mittlerweile ein „undurchschaubares Dickicht an Theoriebildungen“91 und eine Dichte an mehr oder weniger hinterfragten Verwendungen entfaltet, sodass sich die Beteiligten der Medien- und Medialitätsforschung nur darin einig zu sein scheinen, dass kein einheitliches Verständnis des zentralen Begriffs – hier also von ,Medium‘/,Medien‘92/,Mittler‘ – vorherrscht, ja nicht einmal Einigkeit darüber besteht, ob vornehmlich auf materialistischer, physikalischer, tech-

eines ,Dritten‘, das sich zwischen Auge und Gegenstand schiebt und dem Auge erlaubt, ,etwas‘ zu sehen, wofür Aristoteles behelfsweise den schwer zu übersetzenden Ausdruck ,metaxu‘ einsetzte, welcher die Vorlage für die lateinische Übersetzung als ,medium‘ war (vgl. hier S.  19). Mit der Medienzensur um 1800 und der Bewusstwerdung um Sprache als Medium des Denkens gerate die Sprache in ihrer Funktion als ,Darstellungsmedium‘ mit allen Konnotationen der Repräsentation und des Gedächtnisses selbst zum Paradigma und werde in dieser Hinsicht spätestens ab Mitte des neunzehnten Jahrhunderts in einer zunehmend technischen Ausrichtung modellhaft für den Medienbegriff (vgl. hier S. 13f.). Bis in die 1950er wird der Begriff außerdem in Rekurrenz auf die Theosophie des achtzehnten Jahrhunderts in Verbindung mit Geistern oder Geistheilern gebracht oder im naturwissenschaftlichen Diskurs verwendet (vgl. hier S. 18). Für eine ausführlichere Darstellung der Bedeutungsverschiebungen im Deutschen s. hier S. 18–27. 88 Vgl. hier S. 12, der Walter Benjamin, Béla Balsàz, Max Horkheimer und Theodor Adorno als die ersten sich dem Medienbegriff zuwendenden modernen Theoretiker nennt. 89 „Medien spielen eine zentrale Rolle im Verständnis von Erkenntnis, Wahrnehmung, Kommunikation, Gedächtnis, und der Herstellung sozialer Ordnungen, so dass ihr Begriff binnen weniger Jahrzehnte zu einer epistemologischen Schlüsselkategorie avancieren konnte, die begonnen hat, in sämtliche Disziplinen einzudringen“ (hier S. 11). 90 Als Beleg reicht ein Blick auf die Begriffsentwicklung der Begriffe ,Medium‘ und ,Medien‘ im Korpus der Deutschen Sprache, der in allen einbezogenen Textsorten einen deutlichen Anstieg seit den 1940er Jahren verzeichnet. Besonders stark allerdings fällt dieser Anstieg – was nicht verwundern dürfte – im Bereich der wissenschaftlichen Publikationen aus, wobei die Häufigkeit der Verwendung im Plural in der ,Gebrauchsliteratur‘ die in der Forschungsliteratur noch übersteigt (vgl. https://www.dwds.de/r/plot?q=Medium sowie https://www.dwds.de/r/ plot?q=Medien [21. Februar 2019]). Dazu merkt Hartmann nicht ohne Kritik an: „Der Medienbegriff ziert nahezu jeden kulturkritischen Text, jedoch ohne Garantie auf das ohne ihn bereits in den vierziger Jahren erreichte Reflexionsniveau“ (Hartmann, Mediologie, S. 90). 91 Mersch, Medientheorien, S. 14. 92 Sprachgeschichtlich existiert zunächst die Singularform, die Pluralform ,Medien‘ wird schließlich auf die Mehrzahl solcher als ,Medium‘ gefassten Entitäten oder aber auf die Gesamtheit an Informationseinrichtungen bezogen (vgl. Kluge, Etymologisches Wörterbuch, S. 611).

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nologischer oder sozialer Ebene eine Definition zu erreichen ist93 oder was sie meinen, beschreiben oder bezeichnen soll. Es ist von Beitrag zu Beitrag unterschiedlich, ob mit dem Begriff Kommunikationsinstrumente (materielle Zeichen, die zur Kommunikation benutzt werden), eine Sammlung von Techniken, die Kommunikationsinstrumente herzustellen, verbreiten oder zu nutzen vermögen, institutionelle Einrichtungen, die der Verwaltung, Finanzierung und Vertretung jener Techniken dienen, oder das sich aus dem Zusammenwirken aller genannten Faktoren Ergebende beschrieben wird.94 Dementsprechend konstatiert Mersch: „Eine zureichende Bestimmung dessen, was die Extension und Intension des Medienbegriffs umfassen könnte, steht weiter aus.“95 Wie beim Kommunikationsbegriff lässt sich forschungsgeschichtlich bedingt auch für den Medienbegriff zunächst eine starke Zuschneidung der Definitionen auf Massenphänomene feststellen,96 welche für die hiesigen Untersuchungsge-

93 Vgl. Mersch, Medientheorien, S. 11; Parr, Medialität, S. 23. 94 Vgl. Dittmar, Medienwissenschaft, S.  39, sowie die Aufzählung unterschiedlichster Bedeutungen (allgemeiner Symbolisierungsprozess, soziale Kommunikationscodes, physische Schrift- und Aufbewahrungsträger, Verbreitungsdispositive mit entsprechenden Zirkulationsmodi) bei Debray, Mediologie, S.  47. Bentele und Beck glauben, eine Differenzierung dieses missverständlichen Gebrauchs in der Kommunikations- und Medienwissenschaft herbeiführen zu können, indem sie materielle Medien (Luft, Licht, Wasser, Ton, Stein, Papier, Zelluloid), kommunikative Medien und Zeichensysteme (Sprache, Bilder, Töne), technische Medien (Mikrophone, Kameras, Sende- und Empfangseinrichtungen) und Medien im Sinne von Institutionen (das Fernsehen, das Radio etc.) unterscheiden (vgl. Dittmar, Medienwissenschaft, S. 38), wobei die Zusätze sich aufgrund deutlicher funktionaler Überschneidungen nicht unbedingt als hilfreich entpuppen. 95 Mersch, Medientheorien, S. 76; vgl. außerdem Parr, Medialität, S. 23; Dittmar, Medienwissenschaft, S. 11; Kellermann, Medialität, S. 5; Kiening, Medialität, S. 314; Schnell, Rüdiger: Literaturwissenschaft und Mediengeschichte. Kritische Überlegungen eines Mediävisten. In: IASL 34/1 (2010), S. 1–48, hier S. 1f. Sowohl die Konzentration auf massenmediale Vorgänge als auch die Ausdehnung in Konzeptionen wie McLuhans (s. Kap. 3.1.2) oder die Umakzentuierung des Begriffs auf symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien wie bei Luhmann (Geld, Liebe, Macht, Wahrheit, Kunst, Normen, vgl. Mein, Medien, S. 16) wird kritisiert; zu verbindlichen und von einer Mehrheit akzeptierten Gegenvorschlägen sei es bislang nicht gekommen (vgl. auch Haferland, Harald: Mündlichkeit, Gedächtnis und Medialität. Heldendichtung im deutschen Mittelalter, Göttingen 2004, S. 383). 96 Wie bereits dargestellt, sind die Medienwissenschaften, die sich dem Begriff explizit widmen, ursprünglich vornehmlich an Massenphänomenen interessiert (s. Kap. 3.1.2; vgl. Mersch, Medientheorien, S. 16f.). In den 1960er Jahren wandelt sich so auch die alltägliche Begriffsauffassung von ,Medien‘ entscheidend, sodass vor allem Massenkommunikationsmittel wie Fernsehen, Radio etc. darunterfallen (vgl. hier S. 18). Der Begriff ,Massenmedien‘ selbst lässt sich schon ab Mitte des neunzehnten Jahrhunderts belegen. Zu dieser Zeit wird er für Drucke, Flugblätter und Zeitschriften minderer Qualität verwendet (vgl. hier S. 58).

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genstände nur begrenzt anwendbar sind. In mediologischer Perspektive hat sich im Anschluss an diese Besetzung die Differenzierung von ,Medien‘ als Begriff in einem massenkommunikativen Kontext gegenüber dem des ,Mediums‘ im Sinne einer in Kommunikations- und Transmissionsprozessen wirksamen Instanz durchgesetzt.97 In dieser Arbeit wird bei den konkreten Mittlerinstanzen in den dargestellten Prozessen in Abgrenzung vom alltagssprachlichen und dadurch massenkommunikativ und elektronisch-technisch vorgeprägten Begriff von ,medialen Formen‘ gesprochen.98 Sie entsprechen den ,Einzelmedien‘ in der terminologischen Unterscheidung von ,Basismedien‘ und ,Einzelmedien‘, die unter anderem Haferland und Erll verwenden.99 Neben dieser Abgrenzung betont der Ausdruck auch die Fokussierung auf die Funktionsweise, den transformatorischen Charakter im Sinne des Formgebens (s. u.). Der bereits erwähnte etymologische Hintergrund des Begriffs ,Medium‘ (s.  Kap.  3.1.2) verweist auf die grundlegende Stellung und Funktion medialer Formen in kommunikationstheoretischer Perspektive. Eine mediale Form ist demnach als Mittlerinstanz unverzichtbarer Teil einer als ,Kommunikation‘ oder ,Transmission‘ zu bezeichnenden informationsverarbeitenden sozialen Handlung. Ihre unterschiedlichen Ausprägungen sind zwischen Sender und Empfänger stehende Bindeglieder, die für das Funktionieren der Vermittlungs- und Übermittlungsprozesse insofern elementar sind, als sie die jeweilige Mediationsleistung und die darin enthaltene Grenzüberschreitung vollziehen.100 Das tun

97 Vgl. Debray, Mediologie, S. 43. Dennoch bleibt ,Medium‘ in dieser Forschungsrichtung durch die schillernde Bedeutungsvielfalt ein „tückisches Wort“ (vgl. hier S. 47). 98 In der Auseinandersetzung mit Sekundärliteratur kann es selbstverständlich zu einer Überschneidung der Begriffe kommen, grundsätzlich ist immer ,mediale Form‘ gemeint, ohne dass diese jeweils ergänzt wird. 99 Während mit ,Basismedien‘ Zeichensysteme (Sprache, Schrift) gemeint sind, die sich überlagern können und keine konkrete Form fordern, beschreiben ,Einzelmedien‘ konkrete Phänomene, in denen – auf Grundlage von Basismedien – Inhalte in einer jeweils konventionalisierten Form vermittelt werden (Briefe, Denkmale) (vgl. Haferland, Mündlichkeit, S. 385f.; Erll, Astrid: Medien und Gedächtnis. Aspekte interdisziplinärer Forschung. In: Arbeit am Gedächtnis. Für Aleida Assmann. Hrsg. von Michael C. Frank/Gabriele Rippl, München 2007, S.  87–100, hier S. 90). Der Inhalt einer medialen Form ist immer eine andere medial fungierende Formatierung (vgl. Hartmann, Mediologie, S. 16). Gemeint ist damit, dass jedes Medium sich aus einem anderen Medium konstituiert und so kaum zu bestimmen ist, welcher mediale Schritt nun als ursprünglich anzusehen ist. So verwendet ein Bote, der als Medium eingesetzt wird, Sprache, Sprache Zeichen, Zeichen wiederum symbolische Codierungssysteme usw. Hingewiesen wird durch diese Unterscheidung auch auf die historische Dynamik des Mediensystems (vgl. Winkler, Basiswissen, S. 19). 100 Vgl. knapp gebündelt zu diesem zentralen Aspekt Winkler, Basiswissen, S. 39.

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sie, indem sie den jeweiligen Informationen eine äußere Form – eine Materialität oder auch eine „Formatierung“101 – verleihen, die deren Transportabilität, Verstetigung oder Wahrnehmbarkeit ermöglicht. Ohne dieses Bindeglied bleiben semantische Gehalte abstrakt – unsicht-, unhör-, unwahrnehmbar – und können nicht geteilt bzw. weitergegeben werden. Die mediale Form erlaubt daher nicht nur „die Übermittlung kommunikativer Äußerungen über räumliche/raumzeitliche Grenzen hinaus“,102 sondern – literarische Sonderfälle wie die eingangs der Arbeit geschilderten ausgenommen (s.  Kap.  1) – überhaupt ein Teilen von Informationen.103 Sie ist das materielle, damit sowohl statisch-stabile als auch potenziell mobile, universell notwendige und unabhängig vom Ausmaß der elektronischen Technisierung beobachtbare104 Element in jeglichen Entäußerungsprozessen – Prozessen, die Voraussetzung für die Transgression der Orts- und Zeitgebundenheit der undynamischen und flüchtigen Informationen sind.105 In dieser Fähigkeit übernehmen mediale Instanzen unterschiedliche, den verschiedenen Formen des Informationsmanagements und den ihnen zugeordne-

101 Diesen Begriff verwenden Grandt, Andreas/Schnyder, Mireille/Wolf, Jürgen: Vorwort. In: Buchkultur und Wissensvermittlung in Mittelalter und Früher Neuzeit. Claudia Brinker von der Heide zu ihrem 60. Geburtstag. Hrsg. von dens., Berlin 2011, S. IX–XIII, hier S. IX. 102 Dittmar, Medienwissenschaft, S. 14. 103 Hartmann bspw. bezeichnet das Wirken von Medien als Lesbarmachung von Welt (vgl. Hartmann, Mediologie, S. 107; s. auch Sarasin, Wissensgeschichte, S. 164; Winkler, Basiswissen, S. 75, 84. 104 Der Umgang mit Ausprägungen medialer Formen und des über diese vermittelten Zugangs zur Welt und den Mitmenschen stellt eine häufig verschleierte anthropologische Universalität dar (vgl. bspw. Mein, Medien, S.  10; Sarasin, Wissensgeschichte, S.  168; Röcke, Wahrheit, S. 287; Linden, Kundschafter, S. 23f.; Plumpe, Literatur, S. 162; Hartmann, Mediologie, S. 93). Der Umgang mit ,medialen Formen‘ bildet entgegen dem sich aus dem ursprünglichen Interesse der Medienwissenschaft ableitbaren Fokus an ,neuen‘, elektronischen Medien und Massenkommunikation für Untersuchungen aller – auch sogenannter hypoliteraler – Kulturen einen ertragreichen Untersuchungsaspekt. Der Apollonius und der Reinfried lassen sich als Produkte einer hypoliteralen Kultur (zum Begriff s. Wenzel, Horst: Boten und Briefe. Zum Verhältnis körperlicher und nichtkörperlicher Nachrichtenträger. In: Gespräche – Boten – Briefe. Körpergedächtnis und Schriftgedächtnis im Mittelalter. Hrsg. von dems., Berlin 1997 [Philologische Studien und Quellen 143], S. 86–105, S. 86) bezeichnen, jedoch ist auch solchen Kulturen das Bewusstsein über die Abhängigkeit der Kommunikation von den vielfältigen Möglichkeiten ihrer Externalisierung nicht abzusprechen (s. auch Kap. 3.2.2). 105 Vgl. die Darstellung von Kommunikation und Medien bei Dittmar, Medienwissenschaft, S. 11.

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ten Intentionen entsprechende Funktionen, bspw. als Speicher, Vermittler oder Verstärker,106 um nur einige zu nennen. Der semantische Gehalt, der übermittelt wird, spielt – so sind sich unterschiedliche Medientheorien einig – für die Schärfung des Medienbegriffs selbst keine Rolle. Daher versuchen die modernen Medientheorien, ihr Objekt unabhängig von ihren konkreten Instrumenten/Inhalten und dem Charakter des von ihm verfügbar gemachten semantischen Gehalts zu definieren. Die Diversität der betrachteten Vorgänge lässt es ebenso problematisch erscheinen, die Extension des Medienbegriffs über eine bestimmte Materialität abzustecken.107 Im Sinne des Untersuchungsfokus – intendierte transgressive Informationsmanagementprozesse und die dabei zentralen vermittelnden Elemente – müssen sich sowohl Menschen und andere lebendige Wesen als auch unterschiedlichste Objekte und Vorkommnisse von intrikater Materialität als mediale Form fassen lassen. Zur näheren Bestimmung ohne Rückgriff auf bestimmten Materialitäten ermuntern mediologische Ansätze, die ebenso auf materialistische Aussagen bei ihrer Definition verzichten und Mediation und Medialität, den Prozess der Wandlung immaterieller Inhalte in beweglichere, übertragbare, beständige und wahrnehmbare Formen,108 ins Zentrum des Medienbegriffs stellen.109 Kern eines funktional ausgerichteten Medienbegriffes ist im Verständnis von Mediation als Prozess eines Bezugsaufbaus zwischen zwei Dingen durch ein drittes allein sein vermittelndes und dabei transgressives Vermögen: Das Medium ist weder eine Sache noch eine zählbare Kategorie von Objekten, die von weitem und mit bloßem Auge mit einer Etikette versehen werden könnten. Es ist ein Platz

106 Hartmann, Mediologie, S. 17. 107 Vertreter eines engen Medienbegriffs (bspw. Baudrillard, Kittler, Winkler) beschränken den Begriff dadurch auf typische Massenmedien, Vertreter eines weiten Medienbegriffs (bspw. McLuhan, Flusser) fassen alle Strukturen, die in Codes funktionieren oder alle Artefakte, die als Infrastrukturen menschlicher Kommunikation und Interaktion dienen, als Medien auf (vgl. Dittmar, Medienwissenschaft, S. 37f.). 108 Vgl. Debray, Mediologie, S. 48. 109 Nicht nur aufgrund der unterschiedlichen Materialität der später in den Fokus genommenen Prozesse, sondern auch auf Grundlage der sich zunehmend diesem Verständnis zuwendenden Forschungsbeiträge scheint eine funktionale statt einer materialistischen Definition nach dem in der Mediologie entwickelten Grundverständnis geeignet. Die bei Kiening beschriebene Auffassung vom Medialen als dynamisches ,Dazwischen‘, welches zwischen Bezugspunkten und Bezugsachsen situiert ist, entsprechen dem hier propagierten Verständnis (vgl. Kiening, Medialität, S. 332). Ein Gewicht kommt seinem Plädoyer für einen solchen Medienbegriff deshalb zu, weil er ebenso wie diese Arbeit dezidiert medientheoretisch an mediävistischem Material arbeitet.

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und eine Funktion in einem Beförderungsdispositiv. Noch einmal: Es ist nie gegeben, man muss sein Konzept von Fall zu Fall, je nach Situation, erarbeiten.110

Eine mediale Form zeichnet sich demnach nicht durch eine bestimmte Beschaffenheit, sondern durch die Funktion der grenzüberwindenden Formatierung und die Fähigkeit der Beziehungsbildung aus. Für die Fähigkeit, die hier für die Bezeichnung eines Ob- oder Subjektes als mediale Form konstitutiv angenommen wird, prägt Knut Hickethier den Begriff ,Medialität‘.111 Er bezeichnet das Potenzial ganz unterschiedlicher Phänomene, vermittelnd und dadurch transgressiv zu fungieren.112 Eine Definition der medialen Form auf Grundlage dieses Potenzials macht die Beschreibung unabhängig von bestimmten Materialitäten. Grundlage sind eine – aber nicht eine bestimmte  – Materialität sowie Zeichensysteme, die diese Materialität mit Bedeutung ausstatten.113 Das macht die Definition anschlussfähig für historische Konzepte und praktikabel für historisch ausgerichtete Disziplinen. Denn dieses Potenzial wohnt allem inne, das den menschlichen Sinnen zugänglich ist. Ob das mediale Potenzial genutzt wird bzw. genutzt werden kann, hängt von der jeweiligen Vertrautheit mit einer Materialität und mit dem genutzten Zeichensystem ab. Durch wiederholenden, aber variierenden Rückgriff auf dieselben

110 Debray, Mediologie, S. 149. ,Medien‘ sind so „nur ein imaginärer Gegenstand der Mediologie, ebenso wenig greifbar wie die Gesellschaft als imaginärer Gegenstand der Soziologie“, so Hartmann, Mediologie, S. 107. Die angesprochene Funktion im Beförderungsdispositiv ist die Generierung von Außenwirkung und Folgen (vgl. Debray, Mediologie, S. 149). Ähnliche Medienbegriffe entwickeln Krämer, Sybille: Was haben ,Performativität‘ und ,Medialität‘ miteinander zu tun? In: Performativität und Medialität, Hrsg. von ders., München 2004, S. 13–32, hier S. 25 und Dittmar, Medienwissenschaft, S. 35 mit Verweis auf Mock, Thomas: Was ist ein Medium? Eine Unterscheidung kommunikations- und medienwissenschaftlicher Grundverständnisse eines zentralen Begriffs. In: Publizistik. Vierteljahreshefte für Kommunikationsforschung 51/2 (2006), S. 183–200, hier S. 194f. 111 Offenbar handelt es sich dabei um eine Parallelbildung zu ,Literarizität‘, die die „Menge der genuin medialen Eigenschaften und Verfahren“ umfasst (Parr, Medialität, S. 25). 112 Angelehnt ist dieses Verständnis an die Definition der Kategorie bei Kiening: „Medialität – das könnte als jene Größe begriffen werden, die sich materiell in den performativen Vollzügen semiotischer Gefüge zeigt und zwar sich dergestalt zeigt, daß ein Mittleres zugleich als Vermittelndes erscheint. Mit ihm wäre die Möglichkeit des Bedeutens gesetzt, die weder einfach im Materiellen fundiert und im Zeichenhaften codiert wären, sondern jeweils aus einer Bewegung zwischen beiden hervorgehen und in Wiederholung und Abweichung sich realisieren“ (Kiening, Medialität, S. 351). 113 Auf die Wirkweise mittels Zeichen macht besonders Winkler aufmerksam. Für ihn ist der der Zeicheneinsatz „einzige[s] zuverlässige[s] Kriterium, das die Medien gegen andere gesellschaftliche Netze und Infrastrukturen abgrenzen“ kann (Winkler, Basiswissen, S. 61).

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Materialitäten und semiotischen Strukturen entwickeln sich konventionalisierte Formen – alltagssprachlich als ,Medien‘, hier als ,mediale Formen‘ bezeichnet. Mit der Nutzung des medialen Potenzials wird eine kommunikative oder transmittive Intention im Umgang mit den konkreten Realisationen unterstellt. Konzentriert man den Medienbegriff also auf die Funktion des Phänomenalisierens, des Wahrnehmbarmachens,114 können unterschiedlichste Dinge als mediale Form gefasst werden und kann – abhängig von der Breite des jeweils angelegten Kommunikations- und Transmissionsverständnisses – „[a]lles […] zum Medium werden – sofern es als Medium gebraucht wird“.115 Ein funktional ausgerichteter Blick auf den physischen Träger verschiedener informationsverarbeitender Prozesse macht in Übereinstimmung mit dem

114 Das ist nicht ausschließlich in mediologischer Ausrichtung zu beobachten. Anschlussfähig für eine funktionalistisch ausgerichtete Beschreibung sind auch aus anderen Strömungen stammende Definitionsversuche. Winkler bspw. arbeitet Charakteristika medialer Formen heraus, die zwar technisch-materiell fundiert und auf langfristigere Transmissionsprozesse im mediologischen Sinne ausgerichtet sind, sich aber vor allem auf die gesellschaftliche Funktion beziehen (so Mein, Medien, S. 17f., s. auch Winkler, Basiswissen). Ähnliche Schwerpunkte finden sich auch bei Plumpe, Literatur, S. 162 und bei der Basisdefinition des unter anderem von Kellermann herangezogenen Posner, demzufolge ein Medium „ein System von Mitteln für die Produktion, Distribution und Rezeption von Zeichen, das den in ihm erzeugten Zeichenprozessen bestimmte gleichbleibende Beschränkungen auferlegt“ ist (Posner, Ronald: Zur Systematik der Beschreibung verbaler und nonverbaler Kommunikation. Semiotik als Propädeutik der Medienanalyse. In: Perspektiven auf Sprache. Interdisziplinäre Beiträge zum Gedenken an Hans Hörmann. Hrsg. von Hans-Georg Bosshardt, New York 1986 [Grundlagen der Kommunikation], S. 267–313, hier S. 293f., referenziert bei Kellermann, Medialität, S. 5f.). Die bei Winkler medialen Formen zugeschriebene Haupteigenschaft des zielgerichteten Verwendens von Zeichensystemen zum Produzieren, Distribuieren und Rezipieren ist auch auf nicht-technische Kommunikationsformen (im elektronischen Technik-Verständnis, welches Winkler selbst nicht ansetzt, vgl. Winkler, Basiswissen, S. 91) und die dabei verwendeten medialen Formen übertragbar und weist auf die Legitimität einer funktionalen Annäherung hin. 115 Krämer, Sybille aus der Arbeitsgruppe „Medien“, „Über das Zusammenspiel von ,Medialität‘ und ,Performativität‘. In: Paragrana. Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie 13/1 (2004) (Praktiken des Performativen), S. 129–185, hier S. 130; zitiert auch bei Kiening, Medialität, S.  292. Für Krämer können körperliche Ausdrucksmittel und die Stimme, Darstellungsmodalitäten von Sprache, Schrift, Bild, aber auch technische Experimentalanordnungen der Naturwissenschaft und künstlerischen Gattungen und Genres, Computer und das Internet als Medium auftreten (vgl. Krämer, Performativität, S. 24f.). Vgl. für die Transmissionsfunktion von Artefakten Danneberg, Lutz/Spoerhase, Carlos: Wissen in Literatur als Herausforderung einer Pragmatik und Wissenszuschreibungen: sechs Problemfelder, sechs Fragen, zwölf Thesen. In: Literatur und Wissen. Theoretisch-methodische Zugänge. Hrsg. von Tilmann Köppe, Berlin u.  a. 2011 (Linguae & Litterae 4), S.  29–76, hier S.  53 und – am konkreten Beispiel – Müller, Medien, S. 125.

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Verständnis der Funktionsweise von Mediationsmomenten auf die jeweils notwendige Transformation, die die mediale Form in seiner Funktion zu leisten hat, aufmerksam. Das Mediationsmoment geht notwendigerweise mit Transformation einher, ja Transformation ist Grundlage der Funktion medialer Formen. Sie macht das zeitlich oder räumlich Abwesende und daher (momentan) nicht Wahrnehmbare, sinnlich erfahrbar116 und abrufbar,117 überbrückt Ungleichzeitigkeit, Abwesenheit und Unzugänglichkeit und verheißt somit im übertragenen sowie auch im wörtlichen Sinne, Unverfügbares verfügbar zu machen.118 Solche transformatorischen Vorgänge stellt man sich angelehnt an das (erweiterte) nachrichtentechnische Kommunikationsmodell wie folgt in Kommunikations- und Transmissionsprozesse integriert vor: Die mentalen Repräsentationen der Informationen, über die ein Sender verfügt, werden in einer medialen Form „entäußert“119, erhalten eine der Rezeption zugängliche Form. Diese kann das Kommunikationshindernis überwinden und der Empfänger vermag sie auf Grundlage von Erfahrungen (mit dieser medialen Form) wahrnehmen und die – notwendigerweise im Prozess der Formgebung transformierten – Informationen aufnehmen.120 Grundlage dieser Transformation ist  – wie bereits angemerkt – eine durch einzelne oder kombi-

116 Vgl. Kiening, Zeitenraum, S. 6 mit Bezug auf Wandhoff, Haiko: Ekphrasis. Kunstbeschreibungen und virtuelle Räume in der Literatur des Mittelalters, Berlin, New York 2003 (Trends in Medieval Philology 3), ab S. 330. Die Funktion als Wandler der Botschaft durch Transformation des Hörbar-Zeitlichen in Sichtbar-Räumliches (vgl. Debray, Mediologie, S. 37) ist für einige der hier besprochenen Gegenstände um die Möglichkeit der Wandlung des Unverfügbaren in Sinnlich-Wahrnehmbares zu ergänzen. 117 Es macht den Zugriff auf Informationen möglich, die dem direkten Zugang entzogen sind (vgl. Mersch, Medientheorien, S. 9). 118 Diese Verheißung durch mediale Prozesse sieht Kiening in der Melusine Thürings von Ringolthingen im innerhalb von Büchern artikulierten Versprechen, über genealogische Vorgeschichten Aufschluss zu geben (vgl. Kiening, Zeitenraum, S.  19). Mediale Formen stellten, so Wenzel/Wenzel in ihrer Analyse der memoria im Gregorius, die Möglichkeit des GegenwärtigWerden-Lassens, In-die-Gegenwart-Rufens von etwas, das abwesend oder vergangen ist, dar (vgl. Wenzel, Edith/Wenzel, Horst: Die Tafel des Gregorius. Memoria im Spannungsfeld von Mündlichkeit und Schriftlichkeit. In: Erzählungen in Erzählungen. Phänomene der Narration in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hrsg. von Harald Haferland/Michael Mecklenburg, München 1996 [Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 19], S. 99–114, hier S. 103). 119 Debray nennt so den Prozess der Übertragung eines den Menschen Innerlichen auf einen äußerlich sichtbaren Träger in einer bestimmten Formung, von der der Sender glaubt, dass sie Information und Intention transportieren (vgl. Debray, Mediologie, S. 37). 120 Vgl. Beckers, Kommunikation, S. 225 zum textuellen Wissenstransfer; vgl. allg. auch Winkler, Basiswissen, S. 291.

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nierte indexikalische oder symbolische Zeichen mit Bedeutung versehene Materialität.121 Wenn auch nicht eine bestimmte Materialität im Hinblick auf die ontologische Definition des Gegenstandes relevant ist, so spielt Materialität – nicht im Sinne einer bestimmten Stofflichkeit, sondern einer sinnlichen Interaktionspotenz – selbst als Ermöglichungsbedingung von Wahrnehmung122 und somit für das Funktionieren der Mediation, eine essenzielle Rolle.123 Mediale Formen haben im Dienste der sinnlichen Verfügbarmachung notwendigerweise eine ihre Funktionalität zugleich begründende und begrenzende124 materielle, menschlichen Sinnesorganen zugängliche Form. Eine über diese grundsätzliche Funktion hinausgehende wichtige Qualität der jeweiligen Materialität besteht darin, die Interaktion mit einem Rezipienten zu aktivieren, eine Auseinandersetzung also nicht nur zu ermöglichen, sondern auch herauszufordern.125 Die mediale Form muss daher auf die menschlichen Körpersinne abgestimmt sein, um von diesen „erste[n] und letzte[n] Sinnvermittler[n]“126 aufgenommen zu werden, bindet darüber hinaus aber im besten Falle auch – bspw. durch Unwahrscheinlichkeit

121 Vgl. für den Hinweis auf Zeichensysteme Mock, Medium, S. 191f. Er nennt „mündliche und schriftliche Sprache, Mimik, Gestik, Bilder, Töne und Klänge“ (vgl. hier S. 191). Die Verbindung aus Materialität und bedeutungsgenerierendem Zeichensystem spricht auch Debray an, wenn er den für die Mediation genutzten Übertragungsvehikeln einen Doppelcharakter aus organisierter Materie und materialisierter Organisation zuschreibt (vgl. Debray, Mediologie, S.  52). Detaillierter kann die Funktionsweise im Allgemeinen kaum beschrieben werden, da mediale Formen unterschiedlicher Art, Form und Materialität sein können und dementsprechend auf unterschiedlichen Techniken basieren und nach diversen Strukturen funktionieren (vgl. Mersch, Medientheorien, S. 10). Die Vielzahl an Möglichkeiten und Funktionsweisen erklärt die großen Unterschiede in dem materialistisch fundierten Verständnis dessen, was eine mediale Form ist (vgl. Mersch, Medientheorien, S.  10, der eine Auflistung verschiedener Begriffsintensionen gibt). 122 Materialität in diesem Sinne bezeichnet Hartmann als Ausgangspunkt mediologischer Analysen (vgl. Hartmann, Mediologie, S. 108). 123 Materialität sei – so bspw. Haferland – grundlegende Eigenschaft einer jeden medialen Form (vgl. Haferland, Mündlichkeit, S. 384). So stellt auch Tröhler fest: „Ein semiotisch-diskursives, ausschließlich konstruktivistisches Verständnis des Medialen kann nicht allein erklären, was diese Objekte transportieren, was sie bewegen und bewirken“ (Tröhler, Medialität, S. 18). 124 Mediale Formen sind demnach „Vorrichtungen oder Funktionen, die allererst etwas bedingen (dispositio); gleichzeitig unterliegen sie mit ihrer Materialität einer Endlichkeit, die ihrer Funktionalität Schranken auferlegt“ (Mersch, Medientheorien, S. 82; vgl. auch Dittmar, Medienwissenschaft, S. 14; Winkler, Basiswissen, S. 86). 125 Vgl. Schnell, Mediengeschichte, S. 2; s. auch Debray, Mediologie, S. 99. 126 Debray, Mediologie, S. 146.

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und Exzeptionalität127 – deren Aufmerksamkeit, um so zu einer intensiven Auseinandersetzung zu animieren.128 Zu sehr in den Vordergrund rücken sollte die eigene Materialität und Medialität jedoch nicht,129 denn … … Medien – wie ebenfalls Zeichen – funktionieren desto effektiver, je unauffälliger sie als Medien sind. An der Übertragung ist das Übertragene relevant, nicht das Rauschen des Kanals […] Medien verweigern ihre Sicht, ihre Kenntlichkeit, sie halten sich buchstäblich in der Mitte; sie bilden den Platzhalter einer Übertragung, eines Transfers, der freilich als Platzhalter, sofern er Übergänge stiftet oder Vermittlungen zulässt, zurücktritt. Medien kommt damit die Eigenart zu, im Erscheinen zu verschwinden: Was sich in der Mitte hält, ist nicht selber von Belang, sondern einzig das, was es jeweils bewirkt oder verkörpert.130

Jedoch produziert eine mediale Form durch die Transformation des Abstrakten ins Konkrete immer auch Überschuss, mit dem es „sich stets als mitläufige

127 Ein probates Mittel ist Exzeptionalität. Mit den Aufmerksamkeitsgeneratoren der Unwahrscheinlichkeit arbeitet vor allem die Kunst (vgl. Hahn, Alois: Körper und Gedächtnis, Wiesbaden 2010 [Wissen, Kommunikation und Gesellschaft. Schriften zur Wissenssoziologie], S. 73, s. auch S. 76). Hahn warnt diesbezüglich aber auch vor einer Gleichsetzung mit tierischen Reiz-Reaktionen (vgl. hier S. 71f.). In jedem Fall muss klar sein, dass das, was Aufmerksamkeit erweckt, kulturell variabel und wandelbar ist, da die Wahrnehmung von natürlich/normal kulturell bestimmt ist (vgl. hier S. 83). 128 „Aufmerksamkeit ist knapp. Das gilt schon für unseren Körper. Er kann sich nicht an alles erinnern, und er kann sich nicht für alles interessieren“ (hier S.  9; vgl. aus der neuropsychologischen Forschung Bellebaum, Christian/Thoma, Patrizia/Daum, Irene: Neuropsychologie, Wiesbaden 2012 [Basiswissen Psychologie], S.  47f.). „[D]ie Normallage unseres Wahrnehmens ist Gleichgültigkeit gegenüber den allermeisten Gegebenheiten“ (hier S. 65f.). Aufmerksamkeit bedeutet daher immer auch Selektion zugunsten eines Objekts. Bei Baisch/Degen/Lüdtke heißt es daher: „Nur das, was Aufmerksamkeit zu binden vermag, hat Chancen im individuellen oder kollektiven Bewusstsein Spuren zu hinterlassen. Da Aufmerksamkeit begrenzt ist, ist sie stets konkurrierenden Strebungen und Reizen ausgesetzt“ (Baisch, Martin/Degen, Andreas/Lüdtke, Jana: Vorbemerkungen. In: Wie gebannt. Ästhetische Verfahren der affektiven Bindung von Aufmerksamkeit. Hrsg. von dens., Freiburg i.  Br., Berlin, Wien 2013 [Litterae. Göppinger Beiträge zur Textgeschichte 191], S. 7–20, hier S. 7). Den Zustand ungeteilter Zuwendung auf etwas oder jemanden zu stabilisieren und zu dehnen sei daher Ziel vieler ästhetischer, sozialer, aber eben auch medialer Arrangements (vgl. ebd.). Eine Einführung zu Begriffs- und Theoriegeschichte liefern Baisch/Degen/Lüdtke, Vorbemerkungen; eine Auflistung der wichtigsten psychologischen, neurowissenschaftlichen, philosophischen ästhetischen, medientheoretischen und kulturwissenschaftlichen Aufmerksamkeitstheorien findet sich dort auf S. 7, Anm. 1. 129 Vgl. Mersch, Medientheorien, S. 79. 130 Hier S. 80. Die verfolgte Unsichtbarkeit und Unwahrnehmbarkeit der Vorgänge (vgl. Wenzel/Wenzel, Tafel des Gregorius, S. 101f.) zugunsten des vermittelten semantischen Gehalts ist der Grund für die Schwierigkeiten einer abstrakten Beschreibung des Phänomens (vgl. Hartmann, Mediologie, S. 16).

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,Spur‘ unfüglich ins Mediatisierte ein[schreibt]“.131 In der nachrichtentechnisch ausgerichteten Medienwissenschaft gilt – so zeigt auch das obige Zitat – jedes Auftauchen der medialen Form im Vermittlungsprozess als Störung oder Fehlfunktion (,Rauschen‘). Das technologische Ziel besteht dann darin, den Anteil der medialen Form gering zu halten, sie zum Verschwinden zu bringen und so einen möglichst unmittelbar erscheinenden Kontakt zwischen Sender und Empfänger herzustellen. Demgegenüber gibt es Formen menschlichen Schaffens, insbesondere Kunst, die im Interesse an der Funktionsweise und der diskursiven Macht medialer Formen diesen Effekt nicht zu reduzieren, sondern sichtbar zu machen versuchen, ja ihn geradezu exponieren.132 Kunstwerke, die Medialität ausstellen, indem sie selbstreflexiv die eigenen Verfahren enthüllen oder aber mediale Vorgänge darstellen, sind mediale Formen medialen Handelns, indem sie diese Vorgänge und deren Einfluss sichtbar, benennbar und damit auch diskutabel machen. Der hier bewusst breit gesteckte Begriff von medialen Formen vermag Phänomene unterschiedlichster Materialität zu umspannen, gleichzeitig gewinnt er dadurch nicht eben an Schärfe. Die Fokussierung auf die literarische Darstellung von zerdehnten Kommunikationsvorgängen, von Transmissions- und transsphärischen Interaktionsprozessen (s. Kap. 3.1.2) macht hier zumindest eine Eingrenzung auf externe Zwischenspeicher, die der Überwindung von Distanzen jeglicher Art und der Loslösung eines Gehalts von der Situation unmittelbarer Weitergabe, späterer oder räumlich entfernter Rezeption, dienen,133 möglich. Zugleich werden mediale Formen, die bei gleichzeitiger Präsenz der Sender- und Empfängerinstanz (Face-to-face-Situationen)134 Verwendung finden, von der Untersuchung aus-

131 Mersch, Medientheorien, S. 90. An anderer Stelle heißt es dazu: „Ihnen [medialen Formen] eignet eine spezifische Materialität. Diese determiniert die Strukturen und mischt sich in das derart Mediatisierte, in die Prozeduren, Vorrichtungen und Operationen zuweilen recht unfüglich ein. Kein Medium geht daher allein in der Immaterialität seiner Funktionen auf, insofern die spezifische Materialität, die diese allererst austrägt, nicht selbst wieder Element dieser Funktionen sein kann, sondern ihnen vorausliegt“ (hier S. 78). 132 Mersch jedenfalls sieht Kunst als „Arbeit an der Spur“, die die Medialität im Prozess der Übermittlung hinterlässt (vgl. hier S. 92). 133 Vgl. Wenzel, Franziska: Schwierige Performanz. Ein Versuch über die pragmatischen Bedingungen literarischer Kommunikation im ,Wilehalm von Orlens‘ des Rudolf von Ems. In: Situationen des Erzählens. Aspekte narrativer Praxis im Mittelalter. Hrsg. von Ludger Lieb/ Stephan Müller, Berlin, New York 2002 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 254), S. 219–243, hier S. 219f. 134 Vgl. Weinrich, Harald: Über Sprache, Leib und Gedächtnis. In: Materialität der Kommunikation. Hrsg. von Hans Ulrich Gumbrecht/K. Ludwig Pfeiffer, Frankfurt a. M. 1988 (SuhrkampTaschenbuch Wissenschaft 750), S. 80–93, S. 81.

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genommen. Für die nähere Beschreibung der Textphänomene bietet sich weniger die prominente, teleologisch gefärbte Unterscheidung in Primär-, Sekundär- und Tertiärmedien von Harry Pross an,135 als die Differenzierung auf Ebene der Wahrnehmung wie sie bspw. Mock oder auch Mersch vornehmen. Mock unterscheidet optisch/visuell, akustisch/auditiv, chemisch/olfaktorisch, chemisch/gustatorisch oder mechanisch/taktil vermittelnde Medien;136 Mersch differenziert diskursive – „im Modus des Sagens“ vermittelnde – und aisthetische – „im Modus des Zeigens“ vermittelnde – ,Medien‘.137 In letztgenanntem Modell werden zwar einige Sinneswahrnehmungen nicht dezidiert berücksichtigt (zuzuordnen wären sie aber wohl dem aisthetischen Pol), dadurch, dass ,Sagen‘ und ,Zeigen‘ aber als zwei Pole auf einer Achse des Vermittelns aufgefasst werden, wird deutlich, wie sich in den unterschiedlichen Formen der Mediation Vorgänge des Sprechens und Zeigens überschneiden, bzw. jeweils das eine Mittel des anderen sein kann.138 Das macht auf die bereits erwähnte Unterscheidung von ,Basismedien‘ im Sinne von Zeichensystemen (Sprache, Schrift) und ,Einzelmedien‘ im Sinne des konkreten Phänomens, in dem – auf Grundlage von Basismedien – Inhalte in einer jeweils konventionalisierten Form vermittelt werden (Briefe, Denkmale),139 aufmerksam. Die ,Basismedien‘ bedienen jeweils einen der beschriebenen Kanäle; ,Einzelmedien‘, welche im Zentrum der Analyse stehen, können mehrere Kanäle ansprechen, indem sie ,Basismedien‘ unterschiedlich einsetzen und kombinieren. Eine grundlegende Einteilung der Textphänomene nach angesprochenem Wahrnehmungskanal scheint daher nicht sinnvoll, als Unterscheidungs- und Beschreibungsinventar bieten sich die erläuterten Begriffe jedoch an. Angesichts der unterschiedlichen Materialität der Textphänomene ist die Liste der differenzierende Kategorisierungsbegriffe bei Mock um die Begriffspaare belebt/unbelebt

135 Die von der genutzten ,Technik‘ im Mediationsprozess abhängige Bezeichnung unterteilt Einzelmedien in solche, die ohne Einsatz von ,Technik‘ möglich sind (Stimme, Körper, Kleidung), die ,Technikeinsatz‘ auf der Produktionsseite erfordern (Druck) oder nur mit beidseitigem ,Technikeinsatz‘ für die digitale Distribution funktionieren (vgl. Gansel, Macht, S.  51; s.  auch Dittmar, Medienwissenschaft, S. 41; Winkler, Basiswissen, S. 107). Auf die für mediävistische Betrachtungen schwierigen teleologischen Implikationen dieses stark an das nachrichtentechnische Konzept angelehnten Modells weist Kiening hin (Kiening, Medialität, S. 297). 136 Vgl. Mock, Medium, S. 189f.; zum Verständnis der Wahrnehmungsoptionen als Sinneskanäle, die aus dem Kanalmodell abgeleitet sind, vgl. Winkler, Basiswissen, S. 125–128. 137 Mersch, Medientheorien, S. 85. 138 Mediationsprozesse verbinden also Techniken, die auf unterschiedlichen Wahrnehmungskanälen basieren. 139 Vgl. Haferland, Mündlichkeit, S. 385f. Den Begriff der Basismedien verwendet auch Erll, Gedächtnis, S. 90, wenn sie über Schriftlichkeit und Mündlichkeit spricht.

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sowie stofflich/unstofflich140 und um die auf Produktions- und Rezeptionsebene angelegte Unterscheidung von ,Push-Medien‘, die unidirektional verlaufen und bei denen die Mitteilungen von den Sendern ausgehen und gesteuert werden, und ,Pull-Medien‘, bei denen Mitteilungen vom Rezipienten gezielt ausgewählt und abgerufen werden können,141 sinnvoll zu ergänzen. Schließlich müssen vor der Analyse weitere außerhalb einer ontologischen Beschreibung liegende Aspekte, die im Zusammenhang mit medialen Phänomenen stehen, betrachtet werden, um das Verständnis um eine Vorstellung der Position im Beziehungsgefüge zu anderen am Kommunikations- oder Transmissionsprozess teilhabenden Instanzen zu ergänzen. Die Aufbereitung einer Information in einer medialen Form ist im hiesigen Verständnis Wunsch und Ziel jener Instanz, die die Weitergabe oder Fixierung dieser Informationen anstößt.142 Eine mediale Form vermag aus Senderperspektive eine handlungsgenerierende Erweiterung des eigenen Körpers zu sein143 und kann als anteilhaftiges Kontaktobjekt nicht einfach in Vermittlung aufgehen, sondern auch eine Repräsentations- oder gar Stellvertreterfunktion übernehmen: Charakteristisch ist […] einerseits ein Partizipationsverhältnis zwischen dem Medium und demjenigen, das oder zwischen dem es vermittelt, und andererseits eine Ursprungsbeziehung. Das Medium kann, so andersartig es erscheinen mag, als Spur seines eigenen Ursprungs, als Teilhabe an seiner eigenen Möglichkeitsbedingung gedacht werden. Es kann nicht nur als Träger von Signifikanten gelten, sondern in die Position des Signifikats treten.144

140 Gemeint ist die Festigkeit der Materialität. Lichtimpulse sind bspw. ein Format, dem eine Materialität nicht abzusprechen ist, das aber nicht stofflich im Sinne taktiler Wahrnehmbarkeit ist. 141 Vgl. Dittmar, Medienwissenschaft, S. 42. 142 Bei Einschränkung auf intendiertes Informationsmanagement ist zu unterstellen, dass sie bei der Aufbereitung der Informationen stets bestimmte Zwecke verfolgt (vgl. Beckers, Kommunikation, S. 100f.). 143 McLuhan erklärt die modernen Technologien als „extentions of our own physiology“ (McLuhan/McLuhan, Thoeries, S. 174; vgl. auch Wandhoff, Der epische Blick., S. 24; Dittmar, Medienwissenschaft, S. 15). 144 Kiening, Medialität, S. 332f. Die im Text betrachteten medialen Formen können somit nicht nur als Mittel eines gerichteten Informationsmanagements, sondern auch als Repräsentation des abwesenden Senders, eines bereits stattgefundenen Ereignisses bzw. der sich darüber definierenden Kultur oder aber einer transzendenten Macht verstanden werden. Sie eröffnen als Darstellungsmittel neue Perspektiven auf jene Instanzentwürfe.

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Die Sendeinstanz kann mit der Wahl der medialen Form145 und der Selektion der darin zu vermittelnden Informationen146 den Verlauf und ,Erfolg‘ der Kommunikation oder Transmission beeinflussen. Die Referenz auf ein gemeinsames Bezugsystem und die Eingabe sprachlich wie semantisch nachvollziehbarer Information in den jeweiligen Prozess stützen das irritationsfreie Verständnis; ganz bestimmbar ist das Ergebnis durch die Sendeinstanz jedoch nicht,147 da die andere Seite der Interaktion mit der medialen Form außerhalb ihrer Macht liegt. Wirkung erfahren die mediatisierten Informationen erst in der Rezeption (vgl. auch Kap. 3.1.2),148 einem Prozess der Interpretation und Bedeutungsfestschreibung.149 Der Empfänger muss zum ,Gelingen‘ einer der Vermittlungsintention entsprechenden Aufnahme über bestimmte Kompetenzen verfügen. Eine zentrale Herausforderung von Kommunikations-/Transmissionsprozessen liegt darin, die Rezeptionssituation bereits im Sendevorgang zu antizipieren und zu berücksichtigen.

145 Haferland macht darauf aufmerksam, dass je nach Korrelation von Vermittlungsinteresse und materiellen Möglichkeiten eine mediale Form gewählt wird (vgl. Haferland, Mündlichkeit, S. 384). 146 So kann der Entschluss, eine Information medial aufzubereiten, bereits als eine Auszeichnung und Anerkennung der Relevanz betrachtet werden. Hahn bspw. betont, dass Erinnern auch immer das Vergessen des alternativ Erinnerbaren bedeutet (vgl. Hahn, Körper, S. 29). StörmerCaysa stellt in ihrer Auseinandersetzung mit Fernkommunikation in der Virginal fest: „Schrei­ ben verleiht Bedeutung. Wenn darüber kein Brief geschrieben, kein Bote geschickt und nicht einmal erzählt wird, ist Getanes nicht geschehen“ (Störmer-Caysa, Uta: Die Architektur eines Vorlesebuches. Über Boten, Briefe und Zusammenfassungen in der Heidelberger ,Virginal‘. In: Zeitschrift für Germanistik 12 [2002], S. 7–24, hier S. 15). Wenn also – und das ließe sich sowohl für literarische als auch realweltliche mediale Aufbereitung feststellen – eine Information nicht so formatiert wird, dass sie räumliche und zeitliche Distanzen, Personen- und Sphärengrenzen überwinden kann, besteht kein Interesse daran, sie zu bewahren oder anderen mitzuteilen. 147 Vgl. Beckers, Kommunikation, S. 226. 148 Vgl. Fluck, Winfried: Lesen als Transfer. Funktionsgeschichte und ästhetische Erfahrung. In: Theorien der Literatur. Grundlagen und Perspektiven. Bd. 5. Hrsg. von Günter Butzer/Hubert Zapf, Tübingen 2011, S. 7–32, hier S. 15. 149 Denn: „signs are ambiguous, they can be misunderstood, or the observer can understand something as a sign that was not intended as such“ (Müller, Jan-Dirk: Writing – Speech – Image. The Competition of Signs. In: Visual Culture and the German Middle Ages. Hrsg. von Kathryn Starkey/Horst Wenzel, New York u. a. 2005 [The new Middle Ages], S. 35–52, hier S. 40). Zeichen sind kulturell besetzt und daher nur in einem bestimmten Kontext verstehbar (vgl. hier S. 45; vgl. auch Winkler, Basiswissen, S. 260). So macht Müller am Beispiel konfligierender Zeichen im Nibelungenlied deutlich, dass Zeichencodes nur in einem bestimmten Rahmen – hier nur am Wormser Hof – verständlich sind (vgl. hier S. 45–50).

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Nicht zu vernachlässigen ist – je nach konkreter Form – der Einfluss des verbindenden Dritten. Parallel zu den Feststellungen über die gesellschaftliche Einbettung kommunikativer Handlungen (s.  Kap.  3.1.2) lässt sich auch für die mediale Form ein intensives wechselseitiges Einflussverhältnis mit dem umgebenden sozialen Gefüge annehmen. Das unvermeidliche Einschreiben der medialen Form ins Mediatisierte ist bereits erwähnt worden (s. o.). Es bleibt allerdings darüber hinaus zu reflektieren, wie stark der auch in der mediologischen Herangehensweise thematisierte Einfluss der medialen Form auf die Wahrnehmung des Mediatisierten und der dieses umgebenden Welt ist.150 Folgt man wie der Großteil der kommunikations- und medientheoretischen Ansätze dem Axiom der Unmöglichkeit unvermittelter Kommunikation/Transmission, so sieht man die mediale Form als Zugang zur Welt151 und kommt fast automatisch zu einem sogenannten starken Medienbegriff. Dieses Verständnis152 zeichnet sich gegenüber dem lange populären schwachen – ,medienmarginalistischen‘  – Medienbegriff dadurch aus, dass es die mediale Form nicht nur als ein lediglich sekundäres Instantiierungsphänomen, das die außerhalb der medialen Form existierende Wirklichkeit repräsentiert,153 sieht.154 Der mittlerweile etabliertere155 starke Medienbegriff räumt der medialen Form die Möglichkeit ein, in der Mediation durch ihre Materialität, ihre Funktionsweise und die daran gebundenen Alternativen bei Selektions- und

150 Vgl. Hartmann, Mediologie, S. 104. 151 „Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien“, so Niklas Luhmann zu Beginn seiner Abhandlung über Massenmedien (Luhmann, Niklas: Die Realität der Massenmedien, Opladen 1996 [Vorträge/Nordrhein-Westfälische Akademie der Wissenschaften: Geisteswissenschaften G 333], S. 7). Mit Bezug auf diese Vorstellung werden Medien als „die Wirklichkeit mitkonstruierende Kulturen der Kommunikation“ (Vosskamp, 2001, S. 9) betrachtet. 152 Propagiert wird dieses von VertreterInnen des kommunikativen Konstruktivismus (vgl. Reichertz, Grundzüge, S. 52) oder der Mediologie. 153 In diesem Verständnis ist eine mediale Form ein Informations- und Kommunikationsträger, der idealerweise möglichst wenig auf das von ihm Transportierte einwirkt. In medienmarginalistischer Sichtweise wird also eine instrumentale Funktion angenommen (vgl. Parr, Medialität, S. 24). 154 „Die Überzeugung von der Sekundarität und damit auch Neutralität des Medialen gegenüber der Essenz von Geist, Sprache, Interpretation und Kultur wurde – jedenfalls vor dem ,medial turn‘ – von nahezu allen Geisteswissenschaftlern und Philosophen geteilt“ (vgl. Krämer, Performativität, S. 22). 155 Laut Haferland hat sich spätestens mit McLuhans Buch über die ,Gutenberg-Galaxis‘ die Rolle der medialen Instanzen für die Formung von Bewusstsein, Wissen und Kultur im intellektuellen Diskurs fest verankert (vgl. Haferland, Mündlichkeit, S. 381).

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Reduktionsverfahren156 nicht nur auf das Vermittelte einzuwirken, sondern auch die Wahrnehmung der außerhalb des Mediatisierten liegenden ,Realität‘ sowie die Vorstellung von Kommunikations- wie Transmissionsprozessen, -verfahren und -möglichkeiten zu prägen.157 Die mediale Form spielt in den Mediationsmo-

156 Diese Feststellung findet sich mit speziellem Fokus auf die für ihn ausschlaggebende Materialität des Mediums Buch bei Grandt/Schnyder/Wolf, Vorwort, S. IX gleich zu Beginn der Einleitung. Für Erzählungen mit Fokus auf Erinnerung und Gedächtnis stellt Hahn fest: „Die narrative Form zwingt dem Dargestellten seine Gesetze auf“ (Hahn, Körper, S. 20). Carey erklärt, dass nur durch reduzierte Informationen überhaupt ein Umgang mit der komplexen Wirklichkeit möglich ist und dass diese Leistung im Rahmen der Mediation vollbracht wird (vgl. Carey, Communication, S. 22). 157 Vgl. Schulte-Sasse, Jochen: Art. Medien/medial. In: Ästhetische Grundbegriffe Bd. 4 ,Medien‘ – ,Populär‘. Hrsg. von Karlheinz Barck u. a., Stuttgart, Weimar 2002, S. 1–38, hier S. 1. Die Wechselwirkung fasst Winkler wie folgt zusammen: „Was in einem Kopf ist, kann nur mit Hilfe von Medien überhaupt kommuniziert werden. Und was in einem Kopf ist, ist in den meisten Fällen über Medien hineingekommen“ (Winkler, Basiswissen, 37). Hepp bezeichnet die verschiedenen medialen Ausformungen daher als kulturelle „Prägkräfte“ (Hepp, Die kommunikativen Figurationen, S. 97, vgl. auch hier S. 105). Die medialen Funktionsweisen, die immer Selektion und Reduktion der Information erfordern, haben also einen nicht zu unterschätzenden Anteil an der Feststellung, dass „Mediation […] mehr als das [ist], was in der Mitte ist‘, sie erarbeitet das, was sie vermittelt. […] Sie modelliert.“ (Debray, Mediologie, S. 145; vgl. zur vielfältigen Prägkraft auch Hartmann, Mediologie, S. 17, 24, 91, 104; Beckers, Kommunikation, S.93, 97; Neumann, Birgit/ Nünning, Ansgar: Kulturelles Wissen und Intertextualität. Grundbegriffe und Forschungsansätze zur Kontextualisierung von Literatur. In: Kulturelles Wissen und Intertextualität. Theoriekonzeptionen und Fallstudien zur Kontextualisierung von Literatur. Hrsg. von Marion Gymnich, unter Mitarbeit von Martin Butler, Trier 2006 [Studies in English Literary and Cultural History 22], S. 3–28, hier S. 14; Carey, Communication, S. 17; Köller, Wilhelm: Das Buch als Zeichen. In: Buchkultur und Wissensvermittlung in Mittelalter und Früher Neuzeit. Claudia Brinker-von der Heide zu ihrem 60. Geburtstag. Hrsg. von Andreas Grandt/Mireille Schnyder/Jürgen Wolf, Berlin 2011, S. 69–86, hier S. 70; Krämer, Sybille: Medien, Computer, Realität. Wirklichkeitsvorstellungen und Neue Medien, Frankfurt a. M. 42009 [1998], S. 14; Haferland, Mündlichkeit, S. 383; Mein, Medien, S. 11; Grandt/Schnyder/Wolf, Vorwort, S. IX). Sie verändern mit ihrem Einfluss auf die Inhalte auch die Konstruktion der Wirklichkeit, die Kultur und menschliche Handlungen sowie in rückwirkender Weise auch, so Plumpe, die Vorstellungen der Möglichkeiten von Kommunikation und Transmission innerhalb einer Gesellschaft: „Die Medien (vom Gedächtnis bis zu den digitalen Datenspeichern) konditionieren den Spielraum dessen, was in ihnen an Kommunikation möglich ist, in ganz elementarer Weise“ (Plumpe, Literatur, S. 163). SchulteSasse äußert sich im Hinblick auf die medialen Veränderungen Ende der 1980er Jahre ähnlich, wenn auch in kulturpessimistischer Weise (vgl. Schulte-Sasse, Jochen: Von der schriftlichen zur elektronischen Kultur: Über neuere Wechselbeziehungen zwischen Mediengeschichte und Kulturgeschichte. In: Materialität der Kommunikation. Hrsg. von Hans Ulrich Gumbrecht/K. Ludwig Pfeiffer, Frankfurt a. M. 1988 [Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 750], S. 429–453, hier S. 433). Schnell verweist darauf, dass mediale Formen selbst von kulturellen Voraussetzungen und Veränderungen determiniert werden, das Einflussverhältnis zwischen medialen

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menten ebenso wie die Sende- und die Empfängerinstanz einen einflussreichen Part sowohl in den konkreten Kommunikations- und Transmissionsprozessen als auch für die Art und Weise der Kommunikations- und Transmissionskultur im Allgemeinen. Die erläuterte technische Vorstellung der Funktionsweise muss demnach in konstruktivistischer Perspektive um die in jenen Prozessen ablaufende Beeinflussung, sogar Konstitution von Inhalten, Kommunikations- und Transmissionsmöglichkeiten sowie Realitätswahrnehmungen ergänzt werden, ohne dabei den medialen Einfluss absolut zu setzen und ,Mediengenerativismus‘158 zu propagieren.159 Alle beteiligten Instanzen sind als Produkte einer Gesellschaft wiederum vielfältig beeinflusst von deren kulturell geprägten Konventionen, Normen und technischen Möglichkeiten.160 Bestimmte Formen der Materialisierung von Informationen werden deshalb genutzt, weil es in der betreffenden Kultur ein System gibt, dass diese Form technisch möglich macht, stützt und begünstigt.161 Gleichzeitig wirken diese Formen selbst auf gesellschaftliche Erzeugnisse und Konventionen zurück.162 Es handelt sich somit bei Mediationsphänomenen um komplexe Bezugs- und Beeinflussungssysteme, vielfach beeinflusste Selektionsketten163

Formen und der sie verwendenden Gesellschaft also ein wechselseitiges ist (vgl. Schnell, Mediengeschichte, S. 2; s. auch Debray, Mediologie, S. 99). 158 Sybille Krämer führt diesen Begriff für die theoretische Annahme eines starken medialen Einflusses auf den Inhalt ein und stellt diese Extremposition dem lange einflussreichen Medienmarginalisierung gegenüber. Der Mediengenerativismus stellt demgegenüber eine ins andere Extrem ausschlagende Neuperspektivierung dar, nach der „es kein Außerhalb von Medien [gibt]. Wenn nun alles Gegebene in Medien gegeben ist, dann kommt Medien für das, was sie mediatisieren, eine konstituierende Funktion zu. Medien sind also primär, sie haben als ein Apriori unserer Erfahrung und unseres Tuns zu gelten“ (Krämer, Performativität, S. 23). 159 Denn „[e]s ist eine […] Sache, daran zu erinnern, dass es ohne Medium keine Botschaft gibt […] eine andere Sache – ein Sophismus – daraus zu schließen, beides sei ein und dasselbe“ (Debray, Mediologie, S. 46). Er bezieht sich dabei auf die Formel the medium is the message, die McLuhan prägte (vgl. so ähnlich Mersch, Medientheorien, S. 77f.). 160 So kann „[w]eder der Mensch noch eine bestimmte Technologie […] als das definitive Medium gelten. Medien sind schlicht Koppelungen, deren Funktionieren nicht vom individuellen Willen, sondern von bestimmten Konventionen und vorhandenen Kanälen abhängt“ (Hartmann, Mediologie, S. 95). 161 So ist es „die Dialektik von Technologie und Kultur,“ die das Wirkungsprinzip einzelner medialer Formen bestimmt (Hartmann, Mediologie, S. 101, vgl. auch Dittmar, Medienwissenschaft, S. 14). 162 So werden „Sender und Empfänger […] in diesem Prozess ebenso verändert wie die Botschaft selbst durch die Tatsache ihrer Übermittlung“ (Hartmann, Mediologie, S. 101). 163 Dieser Begriff entstammt systemtheoretischem Vokabular. Nach Luhmann ist Kommunikation ein dreifacher Selektionsprozess von Mitteilung (Auswahl des Mediums), Information (Aus-

Theoretische Zugänge zur medialen Situierung ,des Mittelalters‘ 

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mit einer nicht generalisierbaren Funktionsweise. Zwischen den Extremen des Medienmarginalismus und des Mediengeneralismus liegt die hier übernommene „Auffassung, dass Medien das, was sie übertragen, zugleich auch – irgendwie – hervorbringen“,164 indem sie visualisieren, hörbar oder fühlbar machen, sammeln, ordnen, selektieren und dabei Sinn umsetzen, übertragen, transformieren, ihn aber nicht schaffen. Die eingenommene Perspektive auf Kommunikation, Transmission, transsphärische Interaktion und mediale Formen schreibt den Untersuchungsobjekten eine Indikatorfunktion bezüglich relevanter Diskurse im Textumfeld und vor allem des Mediendiskurses der Texte zu; die Betrachtung verschiedenster medialer Ausformungen mit einer breiten Vielfalt möglicher Materialitäten und jeweils unterschiedlicher Funktion und Funktionsweise sowie damit verbundener Rezeptionsvoraussetzungen, Problematiken und Einwirkungsmöglichkeiten auf die Inhalte erscheint als diskursiver Türöffner. Was vermittelbar wird, welche Räume und Zeiträume für überwindbar gehalten werden, was für darstellbar und für mitteilungswürdig befunden wird, ist in hohem Maße davon abhängig, welche Herausforderungen die jeweils eingesetzten medialen Vertreter zu meistern beweisen und wo sich ihre Grenzen aufzeigen. Auch die Diskurse, die in den Prozessen selbst implizit verhandelt werden, können in der intensiven Auseinandersetzung mit den Phänomenen hervorgekehrt werden; über die Analyse der Darstellungsweise lassen sich Aussagen über die Möglichkeiten des Erzählens von medialen Vorgängen generieren.

3.2 Theoretische Zugänge zur medialen Situierung ,des Mittelalters‘ Es wurde bereits mehrfach betont, dass es sich bei dem Einsatz medialer Formen um eine Universalität menschlichen Zusammenlebens und damit um eine zeitliche und kulturelle Distanzen überbrückende Konstante handelt. Die Untersuchung der dargestellten Phänomene zielt auch nicht primär auf Abgrenzung, sondern vielmehr auf eine Wahrnehmung der Varianzen ähnlicher Struktu-

wahl dessen, was informativ sein könnte) und Verstehen (Auswahl aus möglichen Sinnofferten) (vgl. Plumpe, Literatur, S. 161 und S. 171; Dittmar, Medienwissenschaft, S. 29, der abweichend von Selektion der Information, der Mitteilung und der Erfolgserwartung spricht). Eine große Rolle spielt Selektion auch für Winkler, demzufolge Medien „nach dem Prinzip der Selektion und der Kombination“ funktionieren (Winkler, Basiswissen, S. 284). 164  Krämer, Performativität, S. 23; s. auch Mersch, Medientheorien, S. 78.

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ren.165 Dabei greift sie auf Begriffe aus der ,modernen‘ Theoriebildung zurück, welche in ihrer Funktionsbasiertheit so offen angelegt sind, dass sie auch auf Phänomene in älteren Texten anwendbar erscheinen. Dennoch ist eine Auseinandersetzung mit historischen Bedingungen und zeitgenössischen Vorstellungen für eine kritische Reflexion dieser Begriffe und die Einschätzung der Textbeobachtungen notwendig. Eine Analyse mittelalterlicher literarischer Erzeugnisse, die mit ,modernen‘ Begriffen operiert, muss die theoretischen Vorannahmen unter dem Bewusstsein möglicher Alteritäten ihrer Kontexte gegenüber der Produktions- und Rezeptionszeit der Texte auf ihre Applizierbarkeit prüfen.166 So ist einerseits auf mittelalterliche Theoriebildungen einzugehen, die möglicherweise andere Vorstellungen des Untersuchungsobjekts nahelegen. Denn das ,Fehlen‘ einer dezidierten Kommunikations- und Medientheorie im Mittelalter167 bedeutet nicht, dass nicht theoretische Überlegungen aus anderen Bereichen die Konzeptionen solcher Vorgänge prägen. Andererseits sind die medialen und kommunikativen Bedingungen im Entstehungskontext der Texte zu berücksichtigen. Zeitspezifische Konventionen und Kompetenzen, die vom ,modernen‘ Mediengebrauch abweichen, müssen bei der Einschätzung der

165 Das gilt vor allem unter Berücksichtigung der Kritik an einer Überbeanspruchung des Alteritätsbegriffes in der Mediävistik sowie am Urheber des Konzepts (vgl. Braun, Manuel: Alterität als germanistisch-mediävistische Kategorie: Kritik und Korrektiv.  In: Wie anders war das Mittelalter. Fragen an das Konzept der Alterität. Hrsg. von dems., Göttingen 2013 [Aventiuren 9], S. 7–38, s. auch Baisch, Martin: Alterität und Selbstfremdheit. Zur Kritik eines zentralen Interpretationsparadigmas in der germanistischen Mediävistik. In: Die Aktualität der Vormoderne. Epochenentwürfe zwischen Alterität und Kontinuität. Hrsg. von Klaus Ridder/Steffen Patzold, Berlin 2013 [Europa im Mittelalter 23], S. 185–206; vgl. Anm. 3/191). 166 Depkat, der sich auf habermassche und luhmannsche Überlegungen zur Kommunikation bezieht, weist explizit auf das jeweils zu berücksichtigende Problem hin, dass die Ansätze „in ihrer Eigenschaft als Theorie moderner Gesellschaften ihrerseits auch wieder soziale Selbstbeschreibungen sind“, sie einer Zeit entstammen, die sich dem Mittelalter und der Frühen Neuzeit gegenüber als modern empfindet und gerade das Mittelalter als Kontrast zur eigenen Zeit nutzt (vgl. Depkat, Kommunikationsgeschichte, S.  31). In der offensichtlichen Notwendigkeit einer Überprüfung der Stimmigkeit moderner Theorie und theoretischem wie kulturellem Setting der untersuchten Objekte könne, so Linden, der Vorteil des Gebrauchs moderner Theorieansätze liegen. So bleibe stets präsent und reflektierbar, dass zwischen der im Text präsentierten Kultur und dem Analysierenden eine Kluft bestehe, die nicht ohne weiteres überwunden werden kann (vgl. Linden, Kundschafter, S.  34f.). Durch die Frage der Übertragbarkeit wird  – so die Hoffnung – eine genaue Auseinandersetzung mit den Arbeitsbegriffen und ihren Vorannahmen gefördert. 167 S. Anm. 3/3.

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dargestellten literarischen Phänomene präsent sein. Beide Aspekte werden daher im Folgenden kurz thematisiert.

3.2.1 Schnittstellen mittelalterlicher und moderner Theoretisierungen Viele mediävistische Untersuchungen verzichten – so bemängelt Kiening – auf eine Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Medientheorien. Sie bezögen sich in heuristischer, meist eher unreflektierter Weise auf die alltäglichen oder von (post-)moderner Theorie hervorgebrachten Begriffe, was Kiening als problematisch empfindet.168 Dass auch hier ein modernen Disziplinen entspringendes und von dementsprechenden Vorannahmen geprägtes Begriffsinventar als Grundlage genutzt wird, liegt zum einen an der in der Forschung nicht umsonst häufig vorgebrachten Feststellung, dass es schwierig ist, mittelalterliche Theorien und Begriffe in diesem Themenfeld überhaupt dingfest zu machen (vgl. Anm.  3/3). Zum anderen beschäftigen die systematischen Kommunikations- und Medientheorien sich in ihrer Geschlossenheit mit den allgemeinen Funktionen, Funktionsweisen und gesellschaftlichen Einbindungen medialer Formen und bilden so ein praktikables Grundgerüst für die Auseinandersetzung mit den Einzelphänomenen. Während in den Analysekapiteln auf einzelne historische Überlegungen zur

168 Vgl. Kiening, Medialität, S. 294 sowie S. 306f. „Noch in den repräsentativen literaturwissenschaftlichen Sammelbänden der neunziger Jahre, die an einer Neubestimmung mittelalterlicher Textualität arbeiten, begegnet er [ein historisch sensibler Medienbegriff] deshalb nur am Rande“ (Kiening, Medialität, S.  309, s.  auch S.  316 sowie Kiening, Christian: Mediologie – Christologie. Konturen einer Grundfigur mittelalterlicher Medialität. In: Modelle des Medialen im Mittelalter. Hrsg. von dems./Martina Stercken, Berlin 2010 [Das Mittelalter 15, Heft 1], S.  16–32). Nur in wenigen Beiträgen sei die Analyse in einem Maße historisch sensibilisiert, daß sich neue Dimensionen von Texten und Bildern eröffneten (vgl. Kiening, Medialität, S.  314). Kienings hier nicht ausführlich darstell- und diskutierbare Kritik an der bisherigen mediävistischen Medien- und Kommunikationsforschung ist nachzulesen bei hier S. 306–316, 339 sowie Kiening/ Stercken, Einleitung, S. 3–5. Sie bezieht sich hauptsächlich auf eine teleologische Einteilung von Medien in Primär-, Sekundär- und Tertiärmedien im Rahmen des Kanalmodells (vgl. Kiening, Medialität, S. 297). Der Rückgriff auf diesen Medienbegriff erscheine problematisch, denn wenn „die gegenwärtigen Technologien den Maßstab für die Beschreibungen in der Geschichte bilden, kann diese kaum anders denn teleologisch konzipiert werden und kann das Mittelalter kaum anders denn als Vorgeschichte erscheinen“ (hier S.  318). Doch auch wenn Kiening den Rückgriff auf moderne Begrifflichkeiten kritisch in den Blick nimmt, negiert er die gewinnbringende Anwendbarkeit dieser nicht grundsätzlich. Vielmehr fordert er zur Reflexion des angesetzten Begriffsinventars und den mit ihnen verbundenen Vorannahmen auf. So halte er die Verwendung des Medienbegriffs, seine Übertragung auf Verhältnisse vor dem ,Medienzeitalter‘, nicht schon per se für erkenntnisfördernd (vgl. hier S. 326).

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medialen Überwindbarkeit von Raum, Zeit und Sphärengrenze Bezug genommen wird, soll hier die grundsätzliche Vereinbarkeit moderner Begriffe und mittelalterlicher medialer Bedingungen, Konventionen und Konzeptionen, wie sie sich in historischen kommunikativen Verfahren, literarischen Erzeugnissen oder theoretischen Aussagen im Rahmen verwandter Diskurse darstellen, geprüft werden. Wichtige Vorarbeit leisten jüngere mediävistische Arbeiten, die versuchen, ein historisch sensibles Verständnis von medialem Handeln und Mediation zu gewinnen. Sie nehmen einzelne theoretische Annahmen in verwandten Themenbereichen sowie Annahmen, die den historischen praktischen Konventionen  – sofern rekonstruierbar – zugrunde liegen, als Anhaltspunkte der abstrakten Vorstellungen über Kommunikation und Transmission und gleichen diese mit heutigen Begriffen und den in ihnen verborgenen Implikationen ab. Theoretische Auseinandersetzungen betreffend sind vor allem Kienings Arbeiten zur Medialität und Christologie zu berücksichtigen, die sich zwar größtenteils auf religiöse und theologische Literatur beziehen, damit aber anhand einer zeitgenössisch bekannten und einflussreichen Theoretisierung arbeiten. Dem Argument des Fehlens einer expliziten Medien- und Kommunikationstheorie im Mittelalter setzt er die zeitgenössische Theoretisierung medialer Verfahrensweisen in der Christologie und die Reflexion der „historischen wie systemischen Bedingungen der Möglichkeit des Medialen“169 entgegen. Eine Beschäftigung mit der Christologie, dem im Juden- und Christentum entwickelten Verständnis von Vermittlung und Medialität, verspricht vor allem für die Reflexion des zeitgenössischen Verständnisses und insbesondere im Hinblick auf die Arbeit an transsphärischen Prozessen weiterführend zu sein. Begrifflich bringt der etymologische Vergleich des hiesigen Kommunikationsbegriffs mit seinen Wurzeln eine semantische Bedeutungsverschiebung von ,Mittelalter‘ zu ,Moderne‘ hervor. Der Kern des vom lateinischen communicare abgeleiteten Begriffs zeugt von einem auf den gemeinschaftlichen Aspekt des Vorgangs ausgerichtete Verständnis von Kommunikation, der in der mittelalterlichen Kultur offenbar stärker im Vordergrund des Begriffes liegt und in der ,modernen‘ mitteilungszentrierten Definition abgeschwächt wirkt. Im Lateinischen bezeichnet das Wort sowohl das Teilen von Informationen (,mitteilen‘) als auch eine soziale, gemeinschaftliche Interaktion (,etwas gemeinsam machen‘).170 Das in mittelalterlicher Theorie auftauchende sprachliche Pendant communicatio weist

169 Kiening, Medialität, S.  294 sowie S.  342. In der Erforschung der historischen Bedingungen des Medialen lasse sich ein Medienverständnis herauslesen und entwickeln (vgl. Kiening/ Stercken, Einleitung, S. 3f.). 170 Vgl. Plumpe, Literatur, S. 160; Kluge, Etymologisches Wörterbuch, S. 517.

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semantische Überschneidungen mit participatio auf, was für gesellschaftliche, politische, soziale wie wirtschaftliche Teilnahme und religiöse Teilhabe verwendet wird.171 Wenn der Kommunikationsbegriff also verwendet wird, bezeichnet er einen größeren Umfang an Vorgängen als nur den des Informationsmanagements. Unter der Annahme, dass eine begriffliche Bedeutungsengführung auch einer Wahrnehmung der Lebenswirklichkeit entspricht, ist für die unter ,Kommunikation‘ gefassten Vorgänge im mittelalterlichen Kontext eine stärker integrie­ rende Bedeutung anzunehmen. Dann aber legt die Etymologie nahe, dass das entwickelte, sozialwissenschaftlich inspirierte Verständnis von ,Kommunikation‘ gerade adäquat für die bezeichneten Textvorgänge ist. Diese sind als soziale Phänomene zu betrachten, über die nicht nur Zugang zu, sondern direkte Teilhabe an dem Vergangenen, Abwesenden, Abstrakten oder eigentlich Unverfügbaren, ja sogar am Transzendenten selbst gewonnen wird. Diesem Verständnis von Kommunikation als Möglichkeit der Teilhabe entspricht das Modell der medialen Instanz, das der mittelalterlichen Christologie172 entspringt und nicht nur unter Gelehrten als abstraktes Modell bekannt war, sondern auch breiten Niederschlag im alltäglichen Verständnis medialer Vorgänge fand. Kiening verweist insbesondere auf dieses Modell, welches sich mit christlichen Mittlerfiguren beschäftigt173 und das sein Verständnis des vermittelnden Bestandteils in den Austausch- und Übermittlungsvorgängen hauptsächlich über die Funktionalität der zwischengeschalteten Instanz bildet. Grundlage ist das jüdisch-christliche Gottesbild, das direkten Kontakt des Menschen zu Gott von Angesicht zu Angesicht prinzipiell ausschließt174 und für den intersphärischen Austausch von Informationen einen Mittler fordert: „Die Mittler übertragen das Unverfügbare in Verfügbares, das Unendliche in Endliches, das Überweltliche in Innerweltliches.“175 Sie sind im wörtlichen Sinne das vermittelnde, vor allem aber auch verbindende Mittlere zwischen Schöpfer und Geschöpf176 und

171 Vgl. Röckelein, Kommunikation, S.  7. In den volkssprachigen Gebrauch entlehnt wird der Begriff erst im sechzehnten Jahrhundert, weswegen im Rahmen der behandelten Texte von ,Kommunikation‘ nirgends die Rede ist, wenn auch nach heutigem Verständnis und Sprachgebrauch kommunikative Vorgänge geschildert werden. 172 Vgl. Kiening, Mediologie, S. 17. 173 Im Alten Testament sind das Propheten und Priester, im Neuen Testament kommt Jesus eine prominente Rolle zu (vgl. hier S. 18). 174 Der jüdisch-christliche Gott steht per se außerhalb der sinnlich fassbaren Welt (vgl. Debray, Mediologie, S. 93). 175 Kiening, Mediologie, S. 31. 176 Vgl. Kiening/Stercken, Einleitung, S. 4. Die Verbindung mit der lateinischen Bedeutung von medium, ,Mitte‘, ,Mittelpunkt‘, ,Mittleres‘, ,Vermittelndes‘ (vgl. Kiening, Medialität, S. 287f.)

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ermöglichen somit die angesprochene Teilhabe – in diesem Fall an transzendenten Prozessen. Prototyp und emblematische Gestalt dieses Mittlerverständnisses der christlichen Kultur schlechthin ist Jesus, welcher einen von oben geregelten Kontakt ermöglicht und auf der Schwelle zwischen Mensch und Gott steht.177 Dieses „,Leitmedium‘ par excellence“178 veranschaulicht im christlich geprägten Kulturkreis die Einsicht, dass stets ein Mittler notwendig ist, und etabliert so eine sich auch anderen Besetzungen öffnende Schnittstellenposition für die mediale Form im Vermittlungsprozess.179 Gleichzeitig begründet die auf Jesus zurückgehende Konzeption auch die Annahme, dass dieser Mittler Repräsentationsfunktion für den Sender einnimmt. Auf Grundlage der ursprünglichen, Teilhabe generierenden Mittlerfiguren der christlichen Kultur ist anzunehmen, dass mediale Formen und Mittler im Mittelalter entgegengesetzt zum nachrichtentechnischen Modell durchaus in einer inneren Beziehung zu dem Mediatisierten und dessen Ursprung gesehen werden konnten180 und Momente der aktualisierenden Präsenzmachung der Senderinstanz Bestandteil von Mediationskonventionen waren: Die mediävistischen Arbeiten der letzten Jahre haben uns gelehrt: Gesten, Rituale und Ostentationen, Schriftstücke, Siegel und Objekte, Bilder, Skulpturen und Bauten dienten nicht allein oder nicht so sehr der Übermittlung von Information, der Herstellung von Kommunikation oder der Speicherung von Wissen. Sie dienten auch oder mehr noch der Vergegenwärtigung von Abwesenden/Abwesendem, der Herstellung von Aura, der Übertragung von Heil181

zeigt sich in Thomas’ von Aquin Verständnis von ,medium‘ im Sinne von ,Mittel‘, ,Werkzeug‘ oder ,Beweis‘ (vgl. hier S. 288). 177 Er ist Gelenk, Brücke, Gott-Mensch, einzigartiger und universeller Mediator der Sünder (vgl. Debray, Mediologie, S. 142). 178 Kiening, Mediologie, S. 24. 179 „Die Medialität Christi wird seit dem hohen Mittelalter genutzt, metonymische wie metaphorische, substantielle wie strukturelle Übertragungen vorzunehmen, also die Schnittstelle durch andere ,Figuren‘ zu besetzen, die nach Thomas von Aquin explizit als mediatores bezeichnet werden: Priester oder Propheten, Engel, der Heilige Geist“ (hier S.  24; vgl. Kiening/ Stercken, Einleitung, S. 6). Im literarischen Bereich schreibt Lauer der Gralserlöserfigur Parzival eine ähnliche Zwischenstellung zu (vgl. Lauer, Boten-Figuren, S. 57f.). 180 Vgl. Kiening, Christian: Mediale Gegenwärtigkeit. Paradigmen – Semantiken – Effekte. In: Mediale Gegenwärtigkeit. Hrsg. von dems., Zürich 2007 (Medienwandel – Medienwechsel – Medienwissen 1), S. 9–70, hier S. 11. 181 Hier S. 19f. Weiter heißt es unter Bezug auf Horst Wenzel: „Wort und Bild sind Medien der Repräsentation, des Gegenwärtig-Werden-Lassens, In-die-Gegenwart-Rufens von etwas, das abwesend ist (lokaler Aspekt) oder vergangen (temporaler Aspekt)“ (hier S. 20; vgl. ähnlich Kiening, Medialität, S. 344f.). „Das, was […] [in einem Medium] gegenwärtig wird, lässt sich nicht einfach in Bezug auf ein Objekt, einen Sachverhalt oder eine Stimmung fixieren. Vielmehr kann

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Anstatt das Mediationsmoment als eine technische Umwandlung bestimmter Codes zu verstehen wie bei der technischen Medienkonzeption, ist dieses eher als die Ermöglichung einer Interaktion mit einem verkörpernden und physisch verfügbar machenden Stellvertreter des Senders zu beschreiben. So ist die Möglichkeit des gleichzeitigen Vermittelns und Vertretens im Umgang der jeweiligen Empfänger mit den objekt- oder personenhaften medialen Formen zu berücksichtigen. In dieser Doppelposition und in Bezug auf die emblematische Mittlerinkarnation Jesus vermag eine mediale Form selbstverständlich einen relevanten (und legitimen) Einfluss auf das Vermittelte auszuüben, es zumindest umakzentuieren.182 Auch sozialen, semiotischen oder materiellen Mustern wird – so könnte man schließen – in der Ableitung des Medienverständnisses von der Jesusfigur eine modifizierende und aktualisierende Funktion zugeschrieben.183 Die christologische Konzeption etabliert ähnlich wie das hier zugrunde gelegte Medienkonzept ein Verständnis von einem Mittler, der das neutrale Einnehmen einer Mittelstellung übersteigt und auf das Vermittelte einwirkt.184 Vor allem aber erscheinen die Textphänomene, die einen Zugang zu Unverfügbarem, transzendenten Botschaften und Zukunftsplänen über einen Mittler imaginieren, unter Einbeziehung der christologischen Perspektive für das Mittelalter nicht so erstaunlich – oder gar abwegig –, wie sie möglicherweise in heutiger Perspektive zunächst wirken. Transzendenz und transzendente Informationen können über mediale Formen kurzzeitig immanent präsent, wahrnehmbar und verfügbar werden; mittelalterliche Vorstellungen medialer Prozesse basieren sogar auf dieser Form der Transgression.185 Daher sind die Darstellungen solcher zunächst schwer kommunikativen Prozessen zuzuordnenden Vorgänge der trans-

in all diesen eine nicht selbst in Erscheinung tretende, aber wirkende Präsenz liegen, die sich jeweils performativ einstellt. Sie wäre als Prinzip des Medialen greifbar, insofern dieses seinerseits nicht im Materiellen aufgeht, sondern sich als besondere Form von Dynamik manifestiert“ (Kiening, Mediale Gegenwärtigkeit, S. 55). 182 Vgl. Debray, Mediologie, S. 144f. 183 Kiening setzt die Personenbasiertheit des Christologie-Modells nicht absolut für das Mittelalter; schließlich könne im funktionalistischen Verständnis letztlich „[a]lles […] zum Medium werden – sofern es als Medium gebraucht wird‘“ (so zitiert Kiening, Medialität, S. 292; Krämer, Zusammenspiel, S. 130). 184 Vgl. Debray, Mediologie, S. 144. 185 Etymologisch ist bspw. der Begriff ,Bote‘ mit einer transsphärisch wirkenden Instanz, dem Engel, verbunden (von gr. angelos – ,Bote‘, vgl. Knoch, Wendelin: Engel und Boten. Zur Einführung. In: Engel und Boten. Hrsg. von dems., Berlin 2006 [Das Mittelalter 11, Heft 1], S. 3–6, hier S. 5).

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sphärischen Interaktion mit einem historisierten Verständnis des Medialen recht problemlos neben Kommunikation und Transmission zu stellen. Nach Betrachtung möglicher mittelalterlicher ,Medientheorien‘, die die mediävistische Forschung ausfindig gemacht hat, erscheint es plausibel, von der Kompatibilität des hier auf Grundlage des modernen kommunikations- und medientheoretischen Vokabulars entwickelten Verständnisses von Kommunikation, Transmission und transsphärischer Interaktion mit mittelalterlichen Konzeptionen medialer Vorgänge auszugehen. Als Ergebnis der kurzen Auseinandersetzung lässt sich festhalten, dass die mittelalterlichen Konzepte von Vermittlung den ,modernen‘ Vorstellungen von Mediation nicht so fremd sind. Es gibt zwar keine dezidierten mittelalterlichen Medien- und Kommunikationstheorien mit einem Begriffsinventar, auf das in der Arbeit zurückgegriffen werden könnte, aber es lassen sich Konzepte ausfindig machen, die dem erarbeiteten funktionalen Verständnis von medialen Formen und Mediation (s. Kap. 3.1) ähneln. Mit der Mittlerfigur der Christologie ist eine mittelalterliche Konzeption der medialen Form als mittig stehende, verbindende, dabei involvierte Instanz zu finden, die für den ,modernen‘ Medienbegriff anschlussfähig ist. Die Bezeichnung der Textphänomene als Mediationsmomente inkorporierende Kommunikation/ Transmission/transsphärische Interaktion steht daher durchaus im Einklang mit dem Verständnis von Vermittlung, das dem mittelalterlichen Textproduzenten und -rezipienten auf Grundlage der historischen theoretischen Überlegungen zu unterstellen ist. Die kurze Auseinandersetzung veranschaulicht jedoch auch die Bedeutsamkeit der Verbindung des Teilhabe- mit dem Mitteilungsgedanken und des stärker personal statt objekthaft gefüllten Medienverständnisses, was jeweils für den Umgang mit medialen Formen Konsequenzen hat. Die Möglichkeit, Unverfügbares, der transzendenten Sphäre Entstammendes zu vermitteln, welche für die (post-)modernen Medienbegriffe fremd oder irrelevant ist, scheint im Hinblick auf die in der Christologie entwickelte emblematische Mittlerfunktion Jesus’ hingegen eine etablierte Vorstellung und gerade weniger auffällig oder ungewöhnlich als für heutige Ansätze zu sein. Dieses Konzept weist damit einerseits eine Nähe zum Gegenstand der Analyse, andererseits auch zur funktional ausgerichteten Begriffsdefinition mediologischer Ansätze auf und schlägt so eine Brücke zwischen zeitgenössischen Vorstellungen und modernem Begriffsinventar. Die Prozesse der Kommunikation und Mediation scheinen ähnlich gedacht zu werden, wobei die Bausteine einer mittelalterlichen Theoretisierung eine stärkere Betonung des gemeinschaftlichen Aspekts von Kommunikation und die Vor-

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stellung einer tatsächlichen Kontaktaufnahme durch eine verkörpernde mediale Form sowie einer durch diese initiierten Teilhabe implizieren.

3.2.2 Mediales Spektrum und kommunikative Konventionen ‚im Mittelalter‘ Ein kurzer Blick auf die praktischen Möglichkeiten medialen Handelns im Kontext der mittelalterlichen Texte und die daraus ableitbaren Vorstellungen über mediale Formen und Medialität soll die Historisierung der Arbeitsbegriffe ergänzen und abschließen. Bei der theoretischen Vorarbeit wurde stets betont, dass aufgrund der von ‚modernen‘ elektrotechnischen Möglichkeiten abweichenden Rahmenbedingungen auf materialbasierte Definitionen und Kategorisierungen verzichtet wird. Daher soll im Vorfeld der Analyse kurz thematisiert werden, in welcher Hinsicht die Medienlandschaft ‚des Mittelalters‘186 sich von der Kultur unterscheidet, der die führenden Medientheorien entstammen, und welche Konsequenzen diese Andersartigkeit für die Textarbeit hat. Die Beobachtungen sind knapp gehalten, da die Arbeit keine medienhistorische Beschreibung hervorbringen, sondern zwei spezifische literarische Entwürfe analysieren möchte. Doch auch wenn die präsentierten medialen Phänomene jeweils textimmanent auf die handlungslogische und narratologische Funktion sowie diskursive Aussagekraft hin betrachtet werden, so entstehen sie doch vor einer historischen Medienlandschaft, die die Darstellung maßgeblich prägt. Diese soll hier zur Einordnung der Beobachtungen bzw. zur Entwicklung angemessener Erwartungen kurz skizziert werden. Über die Differenzen zum modernen Mediengebrauch und -verständnis geben sowohl historische Beiträge der Kommunikationsgeschichts-Forschung,187 als auch mit Einschränkung Untersuchungen literarischer Erzeugnisse Auf-

186 Dass eine eindeutige Situierung und Beschreibung wie sie Begriffe wie ,das Mittelalter‘ oder ,die Vormoderne‘ implizieren, nicht möglich ist, und hier lediglich recht pauschale Tendenzen aus der Lektüre genauer arbeitender Analysen aufgeführt werden können, versteht sich von selbst, wird aber durch die Setzung in einfache Anführungszeichen jeweils wieder ins Bewusstsein zu rufen versucht. 187 Dieser Forschungszweig versteht sich als trans- und interdisziplinärer Ansatz, der politik-, mentalitäts- und ideengeschichtliche, literaturwissenschaftliche und kultursoziologische Fragestellungen miteinander verbindet und die kommunikativen Praktiken von Gesellschaften unter sozialkonstruktivistischen Vorzeichen untersucht (vgl. Depkat, Kommunikationsgeschichte, S. 11). In seinem Interesse für historischen Bedingungen, Praktiken und Möglichkeiten von Kommunikation kann er zur Historisierung des Medienverständnisses zurate gezogen werden, auch wenn er keine einheitlichen Begriffsvorschläge hervorgebracht hat (vgl. hier S. 9).

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schluss, die unterschiedliche Bereiche lebensweltlicher mittelalterlicher Mediationsprozesse in den Blick nehmen und Rückschlüsse auf die für den Text und das zeitgenössische Publikum relevanten Annahmen zulassen.188 Auf eine umfassende und differenzierte mediengeschichtliche Situierung ,des Mittelalters‘ kann nicht zurückgegriffen werden.189 Die Medientheorien interessieren sich klassischerweise frühestens für die Zeit nach der Erfindung des Buchdrucks und entwerfen dementsprechend implizit das Mittelalter als vormediale Phase der Menschheitsgeschichte.190 Einige mediävistische Auseinandersetzungen stützen diesen Entwurf durchaus. Die in der germanistischen Mediävistik lange stark gemachte(n) Alterität(en) ,des Mittelalters‘191 haben auch im Hinblick auf die mediale Kultur zu einer starken Abgrenzung von ,Moderne‘ und ,Vormoderne‘ geführt. ,Das Mittelalter‘ wurde als

188 Für den Bereich Mündlichkeit und Schriftlichkeit, Textualität, (Audio-) Visualität, Kommunikation und Wahrnehmung stehen historische wie auch auf literarische Erzeugnisse ausgerichtete Einzeluntersuchungen zur Verfügung, da sich die mediävistischen Disziplinen bereits „[ü]ber Jahrzehnte hinweg“ mit jenen Bereichen beschäftigt haben, so ohne Verweise auf konkrete Beispiele Kiening/Stercken, Einleitung, S. 3. 189 Eine solche stünde – so Schnell – noch aus (vgl. Schnell, Mediengeschichte, S. 9). Eine pauschale Einordnung ,des Mittelalters‘ ist ohnehin nicht leistbar. Vielmehr muss für jeden Fall (im historisch-regionalen wie literarischen Sinne) eine differenzierte Beschreibung angestrebt werden. S. auch Anm. 3/186. 190 „Viele global angelegte Mediengeschichten setzen erst mit der frühen Neuzeit ein. Andere gehen zwar auf die Zeit vor dem Buchdruck ein, lassen aber das Mittelalter als entweder überwundene oder leere Vorgeschichte erscheinen, abgelöst durch die technischen Entwicklungen der Neuzeit“ (Kiening, Fülle, S. 11). Das sei ein Effekt des mit McLuhans Medienverständnis auf Innovationen und Revolutionen fokussierten Forschungsblicks und des sich angesichts der beschleunigten Erneuerung der aktuellen Medien verengenden Zeithorizonts, der für die mediale Gegenwart in diesem Sinne relevant ist. 191 Der zunächst von Hans-Robert Jauss in den historischen Philologien zur Geltung gebrachte Begriff der ,Alterität‘ (vgl. Jauss, Hans-Robert: Alterität und Modernität der mittelalterlichen Literatur. Gesammelte Aufsätze 1956–1976, München 1977) ist seit seinem Aufkommen und seiner Popularisierung in der germanistischen Mediävistik ausführlich kritisiert und hinterfragt, das Konzept zur Bezeichnung und Beschreibung der Andersartigkeit von Kontexten, Konventionen und Konzepten weiterentwickelt worden. Einen Überblick über den Verlauf der Debatte und auch die Kritik geben Anja Becker und Jan Mohr (Becker, Anja/Mohr, Jan: Alterität. Geschichte und Perspektiven eines Konzepts. Eine Einleitung. In: Alterität als Leitkonzept für historisches Interpretieren. Hrsg. von dens., Berlin 2012 [Deutsche Literatur. Studien und Quellen 8], S. 1–58). Dabei verweisen sie auch darauf, dass in der derzeitigen Forschung kaum mehr von ,Alterität‘ als Eigenschaft des begutachteten Forschungsobjekt ausgegangen wird, sondern von Alteritätserfahrungen als zu reflektierendem Wahrnehmungsbestandteil bei der Auseinandersetzung mit Forschungsobjekten. Eine Kritik an der Überbetonung der Alteritäten findet sich bei Braun, Alterität; Baisch, Alterität).

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wenig differenzierte Kultur beschrieben, die zunächst vollständig auf oralen Mitteilungswegen und Körperkommunikation basierte; aus diesem Entwurf resultiert eine – ebenso vereinfachende – Vorstellung einer geradlinigen Entwicklung von Mündlichkeit zu Schriftlichkeit, zu der auch die Annahme gehört, mit der ab dem zwölften Jahrhundert beobachtbaren Zunahme pragmatischer Schriftlichkeit gehe die Verminderung der auratischen Dimension von Schrift einher.192 Diese Sichtweise betont die Unterschiede zur Gegenwart und entwirft klare Dichotomien von ,der Vormoderne‘ als medialem Zeitalter der Oralität, Formarmut und Unterkomplexität gegenüber ,der Moderne‘ als Zeitalter der Skriptualität, Formvielfalt und Komplexität. Den rekonstruierbaren medialen Verhältnissen werden diese Zuschreibungen nach jüngeren Erkenntnissen kaum gerecht. Vielmehr spiegeln sie eine bestimmte, im neunzehnten Jahrhundert begründete Sicht auf ,das Mittelalter‘ wider, die den Blick für die Vielfalt an funktionierenden Formen der Präsentation und Vermittlung, die im Mittelalter nebeneinander existierten und auf vielfältige Weise miteinander verschränkt waren,193 verstellt.194 Eine eindeutige, kontrast-

192 Vgl. Kiening, Medialität, S. 298, der diese These anführt, ihr jedoch keinesfalls zustimmt und auf den Folgeseiten (vgl. hier S. 298–303) die jeweiligen mittelalterlichen medialen Verhältnisse in ihrer Pluralität und Komplexität grob nachzuzeichnen versucht. S.  in gleicher Weise nicht zustimmend Reuvekamp-Felber, Timo: Briefe als Kommunikations- und Strukturelemente in der ,Virginal‘. Reflexionen mittelalterlicher Schriftkultur in der Dietrichepik. In: PBB 125/1 (2003), S. 57–81, hier S. 57–60 und, auf die Urheber dieser These im Bereich der Produktion (Franz H. Bäuml und Edward Randolph Haymes) und Rezeption (Günther Scholz und Dennis Howard Green) verweisend, Martschini, Schriftlichkeit, S. 13f. Zur Dominanz des Themenkomplexes Mündlichkeit – Schriftlichkeit vgl. Ross, Lia: Communication in the Middle Ages. In: Handbook of Medieval Culture. Fundamental Aspects and Conditions of the European Middle Ages Vol. 1: Hrsg. von Albrecht Classen, Berlin 2015, S. 203–231, hier S. 203. 193 Eine breite Palette von Gegenständen kann für das Mittelalter nach angesetzter funktionaler Definition medial fungieren (vgl. die Aufzählung bei Depkat, Kommunikationsgeschichte, S. 32; vgl. zur Selbstbeschreibung einer Kultur in Aussagen über andere Kulturen hier S. 31 und das bereits in Anm. 3/166 entnommene Zitat). Das Hoch- und Spätmittelalter lässt sich daher als geprägt von einem Neben- und Miteinander unterschiedlichster medialer Formen bezeichnen. Wie eng die Formen zusammenhängen und sich gegenseitig beeinflussen, betonen unter anderem Eming, Jutta/Lehmann, Annette Jael/Maussen, Irmgard: Vorwort. In: Mediale Performanzen. Historische Konzepte und Perspektiven. Hrsg. von dens., Freiburg 2002 (Litterae. Göppinger Beiträge zur Textgeschichte 97), S. 9–20. 194 Vgl. Kiening, Medialität, S.  298–303. Die um und nach 1800 entstehenden mediengeschichtlichen Vorstellungen spielen, so Kiening, nicht nur eine konstitutive Rolle für die Moderne, sondern auch für die Art und Weise, in der diese die Medialität des Mittelalters oder der Vormoderne konzipiert (vgl. hier S. 305). So auch Schnell: „Die Bewertungen, die Neugermanisten und Frühneuzeithistoriker der Neuzeit zuteil werden lassen, hängen unterschwellig und

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hafte Abgrenzung zur medialen Kultur der (Post-)Moderne im Sinne einer Monomedialität lässt sich nicht weiterhin vertreten, ebenso wenig lässt sich die mediale Kultur ,des Mittelalters‘ eindeutig zu Oralität oder Skriptualität zuordnen195 bzw. medienhistorisch pauschal beschreiben.196 Vielmehr gilt es, das Ineinandergrei-

oft unbewusst mit ihrem oft verzerrten Mittelalterbild zusammenhängen [sic]: Je oraler das Mittelalter konstruiert wird, desto literaler die Neuzeit. Doch die Geschichte der abendländischen Gesellschaft vom Mittelalter zur Moderne ist nicht als bloße Abfolge von Oralität und Literalität zu deuten, sondern als ein ständig neues Austarieren von mündlichen und schriftlichen Kommunikationsformen“ (Schnell, Mediengeschichte, S. 46). Er richtet sich damit ohne expliziten Bezug auf Aufstellungen wie bei Debray, Mediologie, S. 58f., die die Menschheitsgeschichte in Logossphäre, Graphosphäre, und Videosphäre je nach Leitmuster der Übermittlung (Zeit nach Erfindung der Schrift, des Drucks und der audiovisuellen Medien) einteilen (s. dazu auch die Erläuterungen bei Hartmann, Mediologie, S. 100f.) oder die bereits angesprochene Charakterisierung von Kulturen nach Verfügung über sogenannte Primär-, Sekundär- oder Teritiärmedien (s. Anm. 3/135). 195 Orale wie skriptuale Techniken stehen einerseits nebeneinander, interagieren andererseits auch miteinander (vgl. z. B. Starkey, Kathryn: Visual Culture and the German Middle Ages. In: Visual Culture and the German Middle Ages. Hrsg. von ders./Horst Wenzel, New York u. a. 2005 [The new Middle Ages], S. 1–12, hier S. 7; Wenzel, Schwierige Performanz, S. 237). Zu einer Ablösung kommt es – so Honemann – nur in sehr wenigen Bereichen (vgl. Honemann, Volker: Funktionen des Buches in Mittelalter und Früher Neuzeit. In: Medienwissenschaft. Ein Handbuch zur Entwicklung der Medien und Kommunikationsformen. Teilband 1. Hrsg. von JoachimFelix Leonhard u. a., Berlin, New York 1999 [Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft], S. 539–560, hier S. 545). Die Verhältnisse sind nur im Einzelfall für enge Zeitrahmen und bestimmte regionale und soziale Einheiten zu beschreiben und kaum adäquat pauschal zu formulieren (vgl. dazu auch Wandhoff, Der epische Blick, S.  383; Haferland, Mündlichkeit, S. 381). Es hat sich außerdem gezeigt, dass ,der Wechsel‘ zu schriftgestützten Techniken nicht unbedingt Tendenzen der Disziplinierung, Vereinheitlichung und Verstetigung nach sich zieht, sondern auch Möglichkeiten für die Inszenierung von Mündlichkeit oder das Ineinandergreifen des Auratischen und Semiotischen oder des Präsentischen und Reflexiven eröffnet (vgl. Kiening, Medialität, S. 298–303). Schnell spricht sich gegen das Verständnis von Geschichte als Abfolge von Epochen mit Ablöse- und Verdrängungsverhältnissen aus und richtet sich mit seiner Fragestellung gegen die Annahme, mit dem Buchdruck habe eine Kultur eingesetzt, die durch Schrift, stille Lektüre, Visualität, Literalität und dem Verschwinden das Körpers bestimmt ist (vgl. Schnell, Mediengeschichte, S.  11). Ross macht darauf aufmerksam, dass die pauschale Frage nach Oralität und Skriptualität außerdem Differenzierungen wie zwischen volkssprachigen und lateinischen Kompetenzen, formeller und informeller Kommunikation vernachlässigten (vgl. Ross, Communication, S. 203f.). 196 Reuvekamp-Felber macht in seinem Beitrag darauf aufmerksam, dass die Behauptung des einsetzenden Medienwandels im Hochmittelalter mit einer voreingenommenen Auswertung literarischer Erzeugnisse verknüpft ist, die vernachlässigt, dass die höfische Literatur „nicht im Sinne der mediengeschichtlichen Arbeiten als Schauraum einer sich medial im Wandel befindlichen laikalen Aristokratie [zu] verstehen [ist], sondern als Schauraum des Erbes traditioneller,

Theoretische Zugänge zur medialen Situierung ,des Mittelalters‘ 

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fen der Formen zu betonen. Laut Wandhoff ist für die mittelalterliche Kultur eine „historische Medienpraxis, in der Wort und Schrift, Text und Bild, Körpertechniken und materielle Speicher […] unmittelbar miteinander agieren“,197 anzunehmen. Daher hat sich mittlerweile in der Forschung die Bezeichnung der mittelalterlichen Kultur als bi- bzw. multimedial durchgesetzt.198 Im Hinblick auf die Vielfältigkeit der Möglichkeiten und der dabei auf unterschiedlichen Kanälen ausgebildeten Medienkompetenzen lässt sich keine absolute Alterität ,des Mittelalters‘ propagieren. Doch bezüglich der Relevanz der einzelnen medialen Formen im Gesamtsystem sind Verschiebungen festzustellen, die Annahmen zu alteritären Rezeptionskonventionen und -kompetenzen plausibilisieren.199 Wenn auch mündlich basierte Formen des Informationsmanagements nicht die einzigen verfügbaren Instrumente der Mediation waren, so ist ihnen innerhalb einer grundsätzlich als hypoliteral zu bezeichnenden Kultur200 und einer größtenteils illiteraten Bevölkerung201 dennoch ein weitaus größeres

lateinisch geprägter Körper- und Schriftkonzepte, die nun der ,heldenepischen‘ und ,höfischen‘ Welt anverwandelt werden“ (Reuvekamp-Felber, Briefe, S. 81). 197 Wandhoff, Der epische Blick, S. 23; vgl. auch Eming/Lehmann/Maussen, Mediale Performanzen, S. 104. 198 Es zeichne sich eine Forschungstendenz ab, „für das Mittelalter vom Denken in den Polaritäten ,orality‘ und ,literacy‘ wegzukommen und stattdessen deren mannigfache Verschlingungen (etwa in der Auralität, aurality) wahrzunehmen“ (Schnell, Mediengeschichte, S. 26). Auch Martschini konstatiert spätestens mit den Arbeiten Greens eine Zurückweisung der zuvor stark gemachten Opposition von Mündlichkeit und Schriftlichkeit (vgl. Martschini, Schriftlichkeit, S. 14f., s. auch bereits Haug 1996, S. 190–204; Starkey, Visual Culture, S. 7; Kellermann, Karina/Young, Christopher: You’ve got mail! Briefe, Büchlein, Boten im „Frauendienst“ Ulrichs von Liechtenstein. In: Epoche im Umbruch. Volkssprachige Literalität 1200–1300. Hrsg. von Christa Bertelsmeier-Kierst, Tübingen 2003, S. 317–344, hier S. 325). Vgl. z. B die Verwendung der sich bereits seit den 1940er Jahren durchsetzenden Einordnung als „bimedial“ bei Wandhoff, Der epische Blick, S.  384 oder die Bezeichnung des Mittelalters als semi-orale Kultur bei Kellermann, Karina: Der Körper. Realpräsenz und symbolische Ordnung. Eine Einleitung. In: Der Körper. Realpräsenz und symbolische Ordnung. Hrsg. von ders., Berlin 2003 (Das Mittelalter 8, Heft 1), S. 3–8, hier S. 4 und Meyer, Briefe, S. 13. 199 Gansel vertritt die Ansicht, dass sich die Zahl der medialen Formen im Laufe der Zeit nicht verändert habe und dieser Eindruck nur durch die sich stets verschiebende Wichtigkeit einzelner medialer Techniken und damit einhergehender kommunikativer Gewohnheiten ergebe (vgl. Gansel, Macht, S. 49). So heißt es in ihrem Fazit, dass „Medien einander nicht ablösen, sondern sich jeweils neu mit neuen Formen und Funktionen im System der Medien etablieren“ (hier S. 61). 200 Zum Begriff s. Wenzel, Boten und Briefe, S. 86. 201 Auch wenn die Forschung einhellig davon ausgeht, dass sich ab dem achten Jahrhundert die Zahl der des Lesens und Schreibens Mächtigen stark vermehrte (vgl. Honemann, Funktionen, S. 540f.), blieben selbst Adelige mit einem Zugang zu Bildung in Deutschland bis weit in das

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Gewicht zuzusprechen als in mehrheitlich alphabetisierten Kulturen.202 Mit dem Primat oraler Mediation einher geht die höhere Relevanz körperlich-visueller medialer Formen und damit auf Rezeptionsseite eine möglicherweise erhöhte Sensibilität für die Symbolhaftigkeit des äußerlich Sichtbaren gegenüber der Bedeutung abstrakter Buchstabenkombinationen203  – selbstverständlich ohne ein problemloses intuitives Verständnis solcher Zeichen vorauszusetzen.204 Bei aller Vorsicht vor pauschalen Zuordnungen lässt sich wohl behaupten, dass

dreizehnte Jahrhundert zu großen Teilen illiterat, so Wandhoff, Der epische Blick, S. 311. Allerdings ist auch zu berücksichtigen, dass gerade für den Adel die Möglichkeit bestand, sich über den Kontakt zu Geistlichen und über die auditive Rezeption mithilfe von Vorlesern dennoch den Sinn des Geschriebenen nachvollziehbar zu machen (vgl. Müller, Writing, S. 36; Wandhoff, Der epische Blick, S. 385). In der Literatur hingegen ist Schrift- und Lesekompetenz verbreiteter. Nach Auswertung der Hinweise auf etablierte Schriftlichkeit in hochhöfischen Texten stellt Ernst fest: „Durchforstet man die höfische Epik des hohen und späten Mittelalters auf Motive des Schreibens und Lesens hin, so konstatiert man überrascht, wie groß die Zahl der Figuren beiderlei Geschlechts ist, die diese Fähigkeiten beherrschen“ und weiter: „Der homo litteratus als Standardfigur des Romans ist, was angesichts bestehender Forschungsmeinungen geradezu konsterniert, bereits mit Beginn der hochhöfischen Epik in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts präsent“ (Ernst, Schriftlichkeit, S. 268). Beispiele lesender und schreibender Figuren der mittelalterlichen Literatur folgen auf den Seiten 269–277, Rückschlüsse auf die realhistorische Verbreitung der Kompetenzen auf den Seiten S. 274, s. auch seine abschließenden Bemerkungen auf den Seiten 363–369. 202 Die Forschung habe, so Honemann, erwiesen, dass die Leistungsfähigkeit oraler Kommunikation im Mittelalter erheblich größer gewesen sei als heute (vgl. Honemann, Funktionen, S. 545; er verweist auf die Arbeiten Wolfgang Raibles und Konrad Ehlichs). Ähnlich heißt es bei Röckelein: „Die intensive Beschäftigung mit nonverbaler Kommunikation hat gezeigt, daß im Mittelalter in der Öffentlichkeit symbolische Formen und Medien der Kommunikation gegenüber den verschrifteten und schriftlichen dominierten“ (Röckelein, Kommunikation, S. 12). Als erstes Ergebnis ihres Sammelbandes formuliert Kellermann in der Einleitung, dass der realpräsentische Körper in der mittelalterlichen Kultur und dementsprechend auch in der Literatur der Zeit gezielt zur medialen Form der körperlichen Inszenierung gemacht wird (vgl. Kellermann, Körper, S. 4). Kiening bezeichnet das Mittelalter in diesem Zusammenhang als Präsenzkultur (vgl. Kiening, Mediale Gegenwärtigkeit, S. 20). 203 Die Kompetenzen zur Rezeption körperlich-visueller und zur Kombination schriftlicher Zeichen unterscheiden sich hauptsächlich im Hinblick auf den Abstraktions- und Komplexitätsgrad bzw. Variationsreichtum. In beiden Fällen gilt es, durch Interpretation die Verbindung zwischen einer äußerlich sichtbaren Form und einem semantischen Gehalt herzustellen. 204 Aus der Feststellung, körperliche Inszenierungen bedürften stets der Stützung durch Sprache (vgl. Müller, Writing, S. 50), folgt auch, dass die offenbar in früherer Forschung verbreitete Annahme, symbolische Kommunikation sei im Mittelalter anthropologisch universal und intuitiv verstehbar gewesen und deshalb elaborierteren Kommunikationsformen vorgezogen worden, so nicht weiter Gültigkeit beanspruchen kann. Mit Bezug auf Studien von Honemann und Althoff macht Röckelein deutlich, dass symbolische Kommunikation im Mittelalter in hohem

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Repräsentation, Körperlichkeit und Performanz im Mediensystem und der Kultur ,des Mittelalters‘ eine wichtigere Rolle gegenüber schriftbasierten medialen Formen einnahmen.205 Eine dementsprechende Präsenz im Medienspektrum der untersuchten Texte ist zumindest erwartbar. Diese angenommene anders gelagerte Relevanz der Formen schlägt sich – so propagiert die Forschungsliteratur – insofern in dem Umgang mit schriftlichen Erzeugnissen nieder, als dort Charakteristika mündlicher wie körpergestützter Kommunikation und Transmission wie Vollzugshaftigkeit, Gemeinschaftlichkeit, Situationalität, Einbettung in audio-visuelle, körperbezogene Kommunikationspraktiken, Inszenierungen und Ritualisierungen stärker zum Vorschein kommen.206 Kiening verwendet daher zur Beschreibung ,des Mittelalters‘ in medialer Perspektive anstelle der zurückgewiesenen Dichotomie von Mündlichkeit und Schriftlichkeit die Begriffe ,Körper‘ und ,Schrift‘, deren Prinzipien einander innerhalb der mittelalterlichen Kommunikationskultur ergänzten.207 Die Prominenz körpergestützter Techniken untermauert die Annahme, alle medi-

Maße reflexiv und rational angelegt, kulturell geprägt, historisch gewachsen und damit wandelbar war (vgl. Röckelein, Kommunikation, S. 12). 205 Dieses Verhältnis führt Kellermann zur Beschreibung der Medienkultur des Mittelalters als „Jahrhunderte[] dominanter Mündlichkeit neben rudimentärer Schriftlichkeit, […] Zeiten der Herrschaft der dinghaften Zeichen sowie der bedeutungsgeladenen Körperpräsenz“ (Kellermann, Medialität, hier S. 4), Starkey charakterisiert die mittelalterliche Kommunikationskultur als „highly visual one in which images, objects, and performances play a dominant communicative, and representative role in both secular and religious areas of society“ (Starkey, Visual Culture, S. 1). Depkat spricht von der „herausgehobene[n] Bedeutung nonverbaler Kommunikationsmedien“ (Depkat, Kommunikationsgeschichte, S. 42). 206 „Vormoderne literarische Texte sind hinsichtlich der kulturellen und sozialen Bedingungen ihrer Produktion und Rezeption durch eine Reihe von Besonderheiten charakterisiert. Stichworte wären: Vollzugshaftigkeit, Gemeinschaftlichkeit, Situationalität, Einbettung in audiovisuelle, körperbezogene Kommunikationspraktiken, Inszenierungen, Ritualisierungen etc.“ (Herberichs, Cornelia/Kiening, Christian: Einleitung. In: Literarische Performativität. Lektüren vormoderner Texte. Hrsg. von dens., Zürich 2008 [Medienwandel – Medienwechsel – Medienwissen 3], S. 9–21, hier S. 16). „Der Text fingiert derart den Körper, dessen Abwesenheit die besonderen Möglichkeiten der Schrift erst eigentlich konstituiert“ (Wenzel 1988, S. 185). Auch der Band von Eming, Lehman und Maussen beschäftigt sich zu einem Großteil mit der Frage, wie sich eine auf Visualität, Mündlichkeit und Performanz ausgerichtete Kultur mit textuellen Medien vermitteln lässt, wie sich also diese kulturellen Charakteristika in Texten und deren narrativen Strukturen widerspiegeln (vgl. Eming/Lehmann/Maussen, Mediale Performanzen, S. 10). Vgl. für die allgemeine Aussage zum Einfluss der mündlichen Kommunikationsformen in den schriftlichen Ross, Communication, S. 230. 207 S. ausführlich dazu Kiening, Christian: Zwischen Körper und Schrift. Texte vor dem Zeitalter der Literatur, Frankfurt a. M. 2003 (Fischer anfangs 15951). Körper und Schrift kennzeichneten, so ist einem Zitat bei Martschini, Schriftlichkeit, S. 296 zu entnehmen, als Begriffe für die

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alen Formen riefen im mittelalterlichen Medienverständnis in stärkerem Maße als heute Effekte der Vergegenwärtigung von Abwesenden/Abwesendem, der Herstellung von Aura, der Übertragung von Heil und der aktualisierenden Präsenzmachung in Mediationsmomenten hervor. Der geschilderte Umstand kompetenzbedingter Primärstellung des akustischen und optisch-körperlichen Kanals bedeutet allerdings auch, dass auf Dauerhaftigkeit der medialen Formgebung angelegte Prozesse schwieriger anschlussfähig zu gestalten sind. Es ist der Hypothese der Relevanzverschiebung weiter folgend also anzunehmen, dass die hier thematisierten Prozesse zerdehnter Kommunikation und Transmission als besondere Herausforderungen empfunden werden. Da im Angesicht der Relevanz von Kommunikationstechniken, die die physische Kopräsenz der Beteiligten fordern, die Gewährleistung von Festigkeit und breiter Rezipierbarkeit über zeitliche oder räumliche (und damit auch immer zeitliche) Grenzen trotz multimedialer Möglichkeiten keineswegs eine Selbstverständlichkeit, sondern ein hindernisreiches Unterfangen darstellt, müssen nicht nur die aus ,moderner‘ Perspektive sonderbarsten Prozesse transsphärischer Mediation, sondern auch die Versuche zerdehnter Kommunikation und dauerhafter Transmission inklusive ihrer Rezeption als herausfordernde Vorgänge angesehen werden. Der kurze Versuch einer medienhistorischen Einordnung ,des Mittelalters‘ zeigt, dass die mediale Situation ,im Mittelalter‘ nicht unbedingt in Hinblick auf die Vielfalt medialer Möglichkeiten von ,der heutigen Situation‘ abweicht, sondern vielmehr hinsichtlich der Akzentuierung einzelner Mediationswege innerhalb des Mediensystems. Die herausgearbeiteten Unterschiede – die auf alle Formen der Interaktion mit medialen Formen abstrahlende Primärstellung mündlicher sowie körper- und personengebundener Kommunikation und Übermittlung und das Starkmachen des in engem Kontakt zum Inhalt und Sender stehenden personalen Mittlers gegenüber kanalartig gedachten technischen Modellen – ist in der Auseinandersetzung mit den Textphänomenen zu berücksichtigen, aber auch anhand dieser zu hinterfragen. In der Analyse wird sich zeigen, ob sich die so häufig aufgeführten, aber auch immer wieder problematisierten und relativierten Verschiebungen auch für die medialen Prozesse des Reinfried und des Apollonius behaupten lassen. Der mithilfe moderner Theorien erarbeitete Medienbegriff muss in historischer Perspektive hauptsächlich hinsichtlich der von ihm umfassten Phänomene gegenüber modernen Vorstellungen umakzentuiert werden. Die als Definitionsgrundlage des Begriffs ausgewiesene Funktionsweise, die vor allem in der (nicht unbedingt nur räumlich-zeitlich)

zwei prägenden Aspekte semi-oraler Kulturen das Ineinandergreifen der dominanten Prinzipien von Repräsentation und Präsenz.

Theoretische Zugänge zur medialen Situierung ,des Mittelalters‘ 

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grenzüberschreitenden Vermittlung, dem Verfügbar- oder sogar Präsentmachen von Kommunikationsinhalten oder -partnern besteht, stimmt hingegen mit mittelalterlichen Vorstellungen überein. Für die Arbeit beweist die Auseinandersetzung daher die Legitimität, die Prozesse unter Berücksichtigung spezifischer Verschiebungen im Mediensystem und Umakzentuierungen im Medienverständnis mit den entwickelten Begrifflichkeiten als – im Hinblick auf die überwundene Grenze oder aber die von direkter Kommunikation abweichende Praxis – Formen von Kommunikation bzw. Transmission mit durch mediale Formen ermöglichten Mediationsmomenten zu beschreiben. Die möglicherweise unterschiedliche Wahrnehmung konkreter medialer Formen ist jeweils im Rahmen des diese thematisierenden Kapitels zu reflektieren. Für die Analyse der Kommunikations-, Transmissions- sowie transsphärische Interaktionsprozesse sichtbar machenden Szenen wird nach Abgleich mit den historischen Bedingungen und theoretischen Konzeptionen ein funktional orientierter, weit gefasster Medienbegriff, der dem Begriff der Ansätze des kommunikativen Konstruktivismus und der Mediologie entspricht, zugrunde gelegt, da er aufgrund seiner Funktionsbasiertheit unabhängig von bestimmten Materialitäten und daher anwendbar auf eine Vielzahl von Phänomenen ist und er grundsätzlich als stark gegenüber der Umwelt verstanden wird. Kern dieser Funktionalität ist das Verfügbarmachen von Inhalten durch Materialisierung im Verständnis einer den menschlichen Sinnen zugänglichen und Aufmerksamkeit generierenden Formatierung unter Verwendung eines bedeutungszuweisenden Zeichensystems ohne Voraussetzung bestimmter stofflicher Beschaffenheit. Die komplexe Einbindung der Formgebungsverfahren ins soziokulturelle System und der damit verbundene Einfluss medialer Formen auf die Inhalte und die Kommunikations- wie Transmissionsmöglichkeiten rückt ebenso ins Blickfeld wie die Möglichkeiten der Prägung des Vermittelten durch die vielfach kulturell und individuell beeinflusste Interpretation durch Sender- und Empfängerinstanzen. Diese Definition lenkt den Blick auf die Momente des Verfügbarmachens in Form einer Grenzüberschreitung und kehrt das in diesen Momenten verborgene Schlüsselpotenzial zu Diskursen, die auf unterschiedliche Weise mit medialen Prozessen verknüpft sind, hervor. Relevante Beobachtungsaspekte sind die Initiation und somit der Ausgangspunkt der komplexen Prozesse, die Zugänglichkeit der medialen Form und die Zugangsvoraussetzungen, die die Funktionsweise vorgibt, sowie die Ergebnisse der Prozesse, die Informationen, die übermittelt und verfügbar werden oder aber verborgen bleiben. Die im Text betrachteten medialen Formen können aufgrund der Repräsentations- und Stellvertreterfunktion nicht nur als Mittel eines gerichteten Informationsmanagements, sondern auch als Repräsentation des abwesenden Senders, eines bereits vergangenen Ereignis-

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ses bzw. der sich darüber definierenden Kultur oder aber einer transzendenten Macht verstanden werden. Sie eröffnen als Darstellungsmittel Perspektiven auf jene Instanzentwürfe.208 So strebt die Untersuchung an, in einer vergleichenden Betrachtung sich ähnelnder Textphänomene herauszuarbeiten, wie unterschiedlich zugänglich mediale Formen selbst, wie zugänglich die jeweilige Information in ihrer materiellen Formatierung sind, wie genau die unabdingbare Grenzüberschreitung realisiert wird und unter welchen äußeren und sich aus der Funktionsweise ergebenden Voraussetzungen im Endeffekt welche Informationen verfügbar werden und was sich einer zerdehnten Kommunikation, Transmission oder transsphärischen Interaktion entzieht. Im entwickelten Verständnis von medialen Prozessen und im besonderen Interesse für die vermittelnde Instanz scheint eine Textanalyse zielführend, die sich an den Herausforderungen medialen Handelns orientiert, da diese nach unterschiedlichen Leistungen verlangen und unterschiedliche Grenzen aufzeigen. Daher widmen sich die drei folgenden Analysekapitel der Arbeit je einer der von medialen Formen überbrückten Herausforderungen ,Raum‘, ,Zeit‘ und ,Sphäre‘. Es bietet sich an, die Untersuchung und Erschließung des Medialitäts-Diskurses der Texte mit einem Blick auf Prozesse zu beginnen, deren medialer Status einem herkömmlichen Verständnis am nächsten liegt und die damit die Basis eines Medialitäts-Diskurses sind (,Raum‘). Erst dann scheint es sinnvoll, in Bereiche vorzudringen, die weniger eindeutig als medial zu beschreiben (,Zeit‘) sind und jenen Diskurs im Bereich des – aus heutiger Sicht – Literarisch-Imaginären ergänzen und erweitern (,Sphäre‘).

208 Wie sehr die unterschiedlichen Einflussfaktoren in den jeweils erzählten Vorgängen zum Tragen kommen, ist unterschiedlich gut zu beobachten. In den Texten werden Intentionen vor dem Beginn eines Kommunikations- oder Transmissionsprozesses zum Teil explizit deutlich benannt, in anderen Fällen hingegen sind sie nur implizit oder ihrem Ergebnis nach zu erkennen oder zu vermuten. Aufgrund der speziellen Disposition der Sendeinstanz in den meisten Fällen transsphärischer Interaktion, die samt ihrer Intentionen und den von ihr ursprünglich generierten Inhalten auch den TextrezipientInnen verborgen bleibt, sind nicht alle Transformationsprozesse, nicht alle Einwirkungen der medialen Form oder des interpretierenden Rezeptionsvorganges zu beobachten. Die Interpretation ist in einigen Fällen gar nicht, in anderen wiederum nur aus dem reagierenden Verhalten einer Figur zu schließen und nur selten explizit benannt. Es ist demnach in den Szenen unterschiedlich schwierig, die kommunikativen und transmittiven Funktionsweisen und die damit notwendig einhergehenden Transformationsmechanismen herauszuarbeiten und Motive, mediale Eingriffe und Ergebnisse abzugleichen, um die Wege, Möglichkeiten und Grenzen des Verfügbarmachens zu verstehen.

4 Worte in Bewegung, Handlungen im Spiegel – Raum Räumliche Distanz stellt die aus Alltagserfahrungen wohl vertrauteste der drei in dieser Arbeit thematisierten Herausforderungen gezielten Informationsaustauschs dar, derer sich mediale Formen (auch) im Apollonius von Tyrland und im Reinfried von Braunschweig annehmen. Die dargestellten Prozesse, die unter der Bedingung räumlicher Trennung von Figuren stattfinden, lassen sich daher ohne großen Aufwand als mediale beschreiben. Die Notwendigkeit einer vermittelnden Instanz zwischen zwei oder mehr Kommunikationspartnern, die sich an unterschiedlichen Orten befinden und in Kontakt treten oder bleiben wollen, erschließt sich intuitiv; die Bezeichnung des vermittelnden Dritten als Medium bzw. mediale Form findet problemlos Anbindung an die heutige Lebensrealität und den aktuellen Sprachgebrauch. Jenen Textstellen, in denen die Überwindung räumlicher Distanz durch den Einsatz medialer Formen im Zen­trum steht,1 widmen sich die folgenden Kapitel. Zuerst werden die zwei in raumüberbrückender Funktion gezeigten medialen Formen – Boten und Briefe – in ihren grundsätzlichen narrativen Funktionen einander gegenüber gestellt, dann werden die spezifischen Aspekte der einzelnen medialen Formen, für die die Texte ein Gespür und ein Interesse zeigen, anhand detaillierter Textlektüre näher beleuchtet. Den Abschluss bildet ein Blick auf Textpassagen des Apollonius, die den krea-

1 Geht mit der Überwindung von Raum auch immer das Vergehen von Zeit einher (vgl. die Vertreter des spatial turn, die die untrennbaren Zusammenhänge der Kategorien in Wahrnehmung und [literarischer] Darstellung betonen [vgl. Hallet, Wolfgang/Neumann, Birgit: Raum und Bewegung in der Literatur: Zur Einführung. In: Raum und Bewegung in der Literatur. Die Literaturwissenschaften und der Spatial Turn. Hrsg. von Wolfgang Hallet, Bielefeld 2009 [Lettre], S. 11–32, hier S. 15, 21; Böhme, Hartmut: Kulturwissenschaft. In: Raumwissenschaften. Hrsg. von Stephan Günzel, Frankfurt a. M. 2009 [Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 1891], S. 191–207, S. 197), so liegt der Fokus in den hiesigen Beispielen jedoch im Unterschied zu Transmissionsvorgängen (s. Kap. 5) auf dem Versuch, mit einer zeitgleich lebenden Figur in einer Art und Weise, die an Face-to-face-Kommunikation orientiert ist, Kontakt aufzunehmen und kommunikativ zu interagieren. https://doi.org/10.1515/9783110628913-004

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 Worte in Bewegung, Handlungen im Spiegel – Raum

tiven Umgang mit konventionalisierten Fernkommunikationsmitteln zeigen und den Traum größtmöglicher Raumnivellierung weiter verfolgen.

4.1 Wider Stillstand und Zerfaserung: Boten und Briefe als lebensweltliche und literarische Phänomene Bevor spezifische Aspekte dargestellter Botenberichte und Brieftexte im Reinfried und im Apollonius untersucht werden können, ist allgemeiner nach den Funktionen der medialen Formen im lebensweltlichen und narrativen Kontext sowie nach dem Verhältnis der Formen zueinander zu fragen. Denn erst vor diesem Hintergrund ergeben sich Schwerpunkte, nach denen die Textanalyse verfahren kann.

4.1.1 Fernkommunikative Instanzen als Erzählraumverknüpfer und Handlungsmot(ivat)oren Fernkommunikation kann mit einfachsten Mitteln funktionieren. Als der Protagonist des Reinfried auf einen Zwerg trifft, der in dem Begleiter des Titelhelden seinen totgeglaubten Landesherrn erkennt (vgl. RvB, V.  18372–18491), nimmt der Zwerg ein Horn zur Hand und beginnt, kräftig hinein zu blasen (vgl. RvB, V. 18500f.): berg und tal gelîche dem horne gâben widerdôz. er blies aber mit kreften grôz und aber, daz wart drî stunt. dâ nâ schiere sô wart kunt den herren wunderlîcher schal. über berg und über tal durch allen walt ûf alliu ort, dort und hie und hie und dort, gar an allen sîten loufen und rîten sâhen sî als mange diet daz sî des bedûhte niet, sô vil volkes als dâ was, daz stoup grien loup unde gras niht möht erfüllen dise zal. von in berg und dâ zuo tal wart mit liuten überstraht. (RvB, V. 18502–18519)

Wider Stillstand und Zerfaserung: Boten und Briefe 

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Der außergewöhnlich laute Schall des Horns überwindet weite Landstriche; der Ton trägt dem vielzähligen Auftauchen der Zwerge nach zu urteilen für diese eine konventionalisierte Bedeutung, ist eine eindeutige Aufforderung, sich am Ursprung des Schalls zusammenzufinden. Für nicht allzu große Distanzen und für simple Nachrichten erweist sich das Horn, von dem der Reinfried von Braunschweig erzählt, als probates (massenkommunikatives) Mittel von Fernkommunikation. Nicht alle Botschaften sind so simpel und nicht alle Entfernungen ohne weiteres von verstärktem Schall zu überbrücken wie im geschilderten Fall. Daher greifen die Figuren in den vielfach von räumlich zerdehnter Kommunikation berichtenden Texten Apollonius von Tyrland und Reinfried von Braunschweig auf mediale Formen zurück, die die präzise Vermittlung komplexer Botschaften über weite Distanzen ermöglichen. Briefe,2 die von Boten von Sender zu Empfän-

2 Im Interesse für fernkommunikative mediale Formen sind hier nur solche Schriftstücke relevant, die in kommunikativer Funktion stehen, d. h. grundsätzlich anstelle einer direkten Auseinandersetzung von Angesicht zu Angesicht stehen. Vgl. für entsprechende Briefdefinitionen Wand-Wittkowski, Christine: Briefe im Mittelalter. Der deutschsprachige Brief als weltliche und religiöse Literatur, Herne 2000, S. 38; Herold, Jürgen: Empfangsorientierung als Strukturierungsprinzip. Zum Verhältnis von Zweck, Form und Funktion mittelalterlicher Briefe. In: Medien der Kommunikation im Mittelalter. Hrsg. von Karl-Heinz Spiess, Stuttgart 2003, S. 265–288, hier S. 265; Huber, Christoph: Minne als Brief. Zum Ausdruck von Intimität im nachklassischen höfischen Roman (Rudolf von Ems: Willehalm von Orlens; Johann von Würzburg: Wilhelm von Österreich). In: Schrift und Liebe in der Kultur des Mittelalters. Hrsg. von Mireille Schnyder, Berlin, New York 2008 (Trends in Medieval Philology 13), S. 125–145, hier S. 134 mit Verweis auf das Verständnis des Briefes in der klassischen Rhetorik und auf die auf Konrad Ehlich zurückgeführte Wendung „zerdehnte Sprechsituation“. Nach Honnefelder besteht eine Briefkommunikation grundsätzlich aus mindestens zwei handelnden Personen, zwei oder mehr räumlichen Schauplätzen, einem Schreibvorgang, einem Raum und Zeit hinter sich lassenden Übermittlungsvorgang, einem Empfangs- und Lesevorgang und einem Schriftstück (vgl. Honnefelder, Gottfried: Der Brief im Roman. Untersuchungen zur erzähltechnischen Verwendung des Briefes im deutschen Roman, Bonn 1975 [Bonner Arbeiten zur deutschen Literatur 28], S. 4f.). Das ist zu betonen, da der bereits im Althochdeutschen existierende Begriff brief innerhalb der Sprach­ stufe des Alt- und Mittelhochdeutschen nicht eindeutig und ausschließlich auf diese spezifische Form des Schriftgebrauchs verweist, sondern auch andere kleinere Schriftstücke (z. B. Zeugnisse, Urkunden und Aufschriften) bezeichnet (vgl. Holtorf, A.: ,Brief, Briefliteratur, Briefsammlungen, 1. Deutsche Sprache und Literatur‘. In: Lexikon des Mittelalters Bd. 2 Bettlerwesen– Codex von Valencia, München 1983, Sp.  663–666, hier Sp.  663; vgl. auch Wand-Wittkowski, Briefe, S. 34, 36f.). Der althochdeutsche Begriff wiederum leitet sich von dem lateinischen brevis (libellus) – ,kurzes Schreiben‘, ,Urkunde‘ ab (vgl. Golz, Jochen: Brief. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte Bd. I A-G, 3., neubearb. Aufl., Berlin, New York 1997, S. 251–255, hier S. 251). Für einen kurzen Überblick über den lateinischen und volkssprachigen Brief als historische mediale Form

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 Worte in Bewegung, Handlungen im Spiegel – Raum

ger getragen werden, oder aber Botenberichte ohne die Ergänzung durch einen Schriftträger erweisen sich in ihrer Dominanz in den erzählten fernkommunikativen Prozessen – sie sind mit Ausnahme der Spiegelsäule (s. Kap. 4.4.2) die einzigen fernkommunikativen Formen in den Texten – als konventionalisierte Mittel für die Mobilisierung von Nachrichten. In der Konventionalität steht das mediale Potenzial dieser Instanzen seltener im Zentrum als es für die Lösung narrativer Probleme handlungslogisch funktionalisiert wird. Beide Texte nutzen die erzählerischen Valenzen der Instanzen, separate Räume zu verknüpfen und Kommunikationspartner zu verbinden, ohne diese dabei zugleich notwendigerweise im Besonderen zu thematisieren. Das illustriert ein Blick auf die handlungslogischen Kontexte, in denen im Reinfried und im Apollonius fernkommunikative mediale Formen erwähnt werden. Dieser Blick konzentriert sich auf Botenfiguren, da die Texte offenbar in erster Linie mit diesen auf Fernkommunikation hinweisen. Denn die historische Notwendigkeit von Boten für jede Mobilisierung von Informationen3 ist in den Texten jeweils insofern repräsentiert, als jede Erzählung von Briefen einen – mehr oder

s. Holtorf, Brief, Sp. 663–666; Schmale, F.J.: Brief, Briefliteratur, Briefsammlungen, Allgemein. In: Lexikon des Mittelalters Bd. 2 Bettlerwesen–Codex von Valencia, München 1983, Sp.  648; Schmale, F.J.: Brief, Briefliteratur, Briefsammlungen, Lateinisches Mittelalter. In: Lexikon des Mittelalters Bd. 2 Bettlerwesen–Codex von Valencia, München 1983, Sp. 652–659. Die Texte verwenden den Begriff fast ausschließlich für kommunikative, personenbezogene Schriftstücke, das Kriterium der kommunikativen Zielgerichtetheit leistet jedoch eine Abgrenzung gegenüber in den Texten ebenso als brief bezeichneten Schriftstücken mit magischer Funktion, bei denen keine personenbezogene Botschaft im Zentrum seht und die daher nicht in die Auseinandersetzung einbezogen werden. Sie finden Erwähnung in Kap. 6.3.3. 3 Zur physischen Überwindung räumlicher Distanzen ist die Boteninstanz jeweils notwendig; Briefe, welche ohne elektrotechnische Möglichkeiten die alleinige verfügbare Form für die raumüberwindende Schriftkommunikation darstellen, können dem gewünschten semantischen Gehalt eine materiell fixierte und wiederholt rezipierbare Form geben, aus sich selbst heraus ist es ihnen aber nicht möglich, Raum zu überwinden. So halten auch Lieb und Ott zu Beginn ihrer Auseinandersetzung mit erzählten Schrift-Trägern fest: „Sieht man einmal von dem besonderen Fall ab, dass das schrifttragende Artefakt selbst die Fähigkeit zur Fortbewegung hat, also ein Tier, ein Mensch oder eine Maschine ist, gibt es hier also immer zwei Träger: 1. Das Artefakt, das die Schrift trägt (im Sinne von ,halten‘) und 2. Der Träger, der das mobile Artefakt trägt (im Sinne von ,fortbewegen‘)“ (Lieb, Ludger/Ott, Michael R.: Schrift-Träger. Mobile Inschriften in der deutschsprachigen Literatur des Mittelalters. In: Schriftträger – Textträger. Zur materialen Präsenz des Geschriebenen in frühen Gesellschaften. Hrsg. von Annette Kehnel/Diamantis Pangiotopus, Berlin u. a. 2015, (Materiale Textkulturen 6), S. 15–36, hier S. 17). Diese Aufgabe übernehmen Boten. Vgl. für Literatur dazu Anm. 4/73 sowie zur Thematisierung beider Bestandteile nebeneinander Kap. 4.1.2.

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weniger deutlichen – Verweis auf seinen Träger beinhaltet.4 Häufiger noch finden Boten ohne Verweis auf eine mitgeführte schriftliche Botschaft Erwähnung.5 So offenbaren vor allem die Kontexte, in denen Botenfiguren auftauchen, die Effekte, für die sich die Texte fernkommunikativer medialer Formen bedienen.6 Die Verteilung fernkommunikativer Elemente in den behandelten Texten fällt recht unterschiedlich aus. Während im Apollonius von Tyrland erst nach knapp tausendfünfhundert Versen die erste zerdehnte Kommunikationssituation auftaucht und danach in jeweils größeren Abständen Fernkommunikation erwähnt wird, sind im Reinfried der erste Handlungsteil sowie das Ende des Textfragments von Brief- und Botenkommunikation geprägt, während Fernkommunikation im ,Abenteuerteil‘ in den Hintergrund rückt. Der erste Bote, der im Reinfried – nach rund hundertfünfzig Versen (vgl. RvB, V.  152f.) – auftritt, bringt den Dänischen Hof neben dem Braunschweiger Hof, auf den der Erzählfokus gerichtet ist, in den Aktionshorizont der Figuren und gleichzeitig auf die Landkarte der Textwelt: Erst durch ihn fällt zum ersten Mal

4 Auch wenn es also um Briefkommunikation geht, vergessen die Texte nicht, die notwendigen Boten zu erwähnen (einzige Ausnahmen, in denen Briefe, aber nicht Boten genannte werden: RvB, V. 16527; AvT, V. 20315). Meist werden sie explizit benannt als bote (bspw. RvB, V. 5454, 5779, 14691, 24399, 26236) oder knapp/knappe (bspw. RvB, V. 153, 163, 273, 282, 315, 324, 372, 438, 5457, 5469, 5472, 7050, 24731), potten/poten (AvT, V. 1560, 2054, 2077, 2922, 3085, 13587); im Apollonius wird der Bezug auf den Boten jedoch auch häufig nur angedeutet. Ohne die Erwähnung des Boten, aber mit Hinweis auf die Kombination mündlicher und schriftlicher Formate fällt der Bericht von der Aufforderung des Nemrott an seine Verbündeten, sich zu einem Kampf zu rüsten, aus. Dort heißt es: Deß andren morgens so tzehant/Wurden prieffe gesant:/Das sy lenger nicht enpitten,/Gar schier hin ze hofe ritten/Oder das sy waren perait/Ze kompfe. Das ward in gesaitt./ Di rede was in gar unvert:/‘Wir wellen tuen was er gert./Reyt wider haim und sage/Wir komen uber zehen tage/An dem treytage frü:/Das er perayt sey dar zu!‘ (AvT, V. 9255–9266). Briefe werden erwähnt, dennoch wird den Empfängern gesagt, was zu tun ist. Ihre Erwiderung, welche wörtlich wiedergegeben wird, enthält einen Vermittlungsauftrag an eine mündlich agierende Instanz. In der gemeinsamen bzw. austauschbaren Nennung zeigt sich an, dass Briefe grundsätzlich dieselbe raumverknüpfende Funktion wie Boten besitzen und die Erwähnung des Briefversands in derselben narrativen Funktionalität wie die Erwähnung einer Botensendung steht. 5 Vgl. RvB, V.  152–76, 5430–5525, 6972–7082, 10320–10337, 18752–18757, 19933–19935, 22842– 22995, 23206–23211, 25404–25418, 25908–25962, 26170–265–26659; AvT, V. 1560, 3085, 3607, 3693, 4012,4757, 4889, 5605, 5851, 7171, 7187, 7368, 9716, 10366, 10371, 10413, 13587, 13738, 13745, 13780, 15123, 16390, 16859, 16909, 17031,17474, 18109, 19239, 19245, 19323, 20048, 20413, 6071, 18117, AvT, V.  1560, 4012, 3607, 2182, 3993, 4757, 4889, 5605, 5851,6071, 7171, 7189–7282, 7368, 7847, 9716, 10366, 10371, 13738–13780, 15123, 16390, 16859, 17031, 17474, 18109, 18117, 19329–19397, 20048. 6 Welche Erzählfunktionen mit den einzelnen repräsentierten Brieftexten verknüpft sind, wird in den Kapiteln . 4.3.1–4.3.3 deutlich.

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der Begriff Tenemarke (RvB, V. 192).7 Zugleich wird eine räumliche Trennung der Lebensräume des mit diesem Boten initial verknüpften Paares eingeführt, welche im Dienste der gemäß Erzählschema problematischen Beziehung (s.  Kap.  2.2) steht. Im Zuge der Integration dieses Erzählraums fungiert der Bote auch als Handlungsinitiator. Mit seinem Auftritt hebt nach Prolog (vgl. RvB, V. 1–64) und Exposition des Protagonisten (vgl. RvB, V.  65–151) die Erzählung neu an. Sein Erscheinen ist ein Event, das eins tages (RvB, V. 152) stattfindet, die vorherigen allgemeinen Bemerkungen zu Reinfrieds Vorzüglichkeit ablöst und zu seiner konkreten Geschichte überleitet bzw. den Anfang des Erzählenswerten über Reinfried markiert. Die Botenfigur ist in dieser Überlagerung und Überschneidung von Erzählraumverknüpfung und Handlungsmotivator handlungslogisch verantwortlich für die initiale Bekanntschaft zwischen Reinfried und Yrkâne. Sie stößt mit ihrem Auftritt die gesamte folgende Handlung an. Diese erste Botenfigur etabliert fernkommunikative Formen als erzählraumverknüpfende, ja sogar raumerschaffende und handlungsauslösende Elemente. Auch viele andere Handlungselemente des Reinfried hängen von der Verknüpfung jener durch den ersten Botendienst miteinander verbundenen Höfe, aber auch von der Vernetzung weiterer Räume über Botenfiguren ab. Dabei geht es meist nicht wie im ersten Falle um das Einsetzen eines neuen Handlungsstranges, sondern um die Fortführung dieses ersten von räumlichen Distanzen motivierten Handlungsverlaufs. Weitere Boten sorgen dafür, dass Reinfried mit ritterlicher Begleitung an den Dänischen Hof fährt,8 dass sein namenloser Nebenbuhler9 trotz seines Exils in Kontakt mit dem Dänischen Königshaus bleibt und schließlich Yrkânes Ehre öffentlichkeitswirksam infrage stellt,10 dass Reinfried zu einem Fest laden

7 Genauso treten die Handlungsräume Warcilone, Assirien und Armenien in die Wahrnehmung im Apollonius (vgl. AvT, V. 2932, 6082, 7217). Der Bote aus Indien im Reinfried hingegen bringt diesen zwar nicht als Handlungsraum in den Text, aber markiert einen fernen Punkt der erzählten Welt (vgl. RvB, V. 26172f.). 8 Es heißt: er hiez besenden alle die/an dem im triuwe was bekant […] daz sî füeren mit im dar (RvB, V. 404–409). 9 Dieser ist die tragende Figur des als psychologisch anspruchsvoll verstandenen ersten Romanteils (vgl. Ohlenroth, Reinfried von Braunschweig, S.  89; zu dieser Einschätzung jenes Erzählstranges vgl. auch Kiening, Weltentwürfe, S. 482). Ausführlich zu dieser Figur und den durch sie ausgelösten narrativen Experimenten Wittchow, Britta: Der (Stimmen-)Spalter. Der neidische Nebenbuhler im Reinfried von Braunschweig. In: Figuren des Dritten. Hrsg. Von Albrecht Hausmann/Margreth Egidi, Oldenbug (Beiträge zur mediävistischen Erzählforschung) [in Vorbereitung]. 10 Der namenlos bleibende Ritter hat mehrmals erfolglos versucht, sich Yrkâne zu nähern (vgl. RvB, V. 4672–4750, 4981–4984, 5021–5041). Auch die Drohung, das beobachtete geheime Zwiegespräch zwischen ihr und Reinfried (s. Kap. 1) öffentlich zu machen, kann sie in ihrer ableh-

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und dabei von Yrkânes Notlage (s.  Kap.  4.3.3) erfahren kann.11 Ebenso hängt die Unterrichtung des Dänischen Königs Fontânâgrîs von der Ankunft eines Fürstreiters,12 die deeskalierende Verkündung einer friedlichen Einigung zwischen Reinfried und Fontânâgrîs13 und der resonanzreiche Aufruf Reinfrieds zum

nenden Haltung ihm gegenüber nicht umstimmen, sondern entfacht im Gegenteil ihren Hass, sodass sie ihm verbietet, ihr noch einmal unter die Augen zu treten (vgl. RvB, V. 5157–5279). Der Ritter verlässt daraufhin das Land (vgl. RvB, V.  5350f.). Seine Präsenz am Hof wird bald vermisst (vgl. RvB, V. 5410) und ein Bote ausgesandt, um Erkundigungen darüber einzuholen, was ihn vom Hof fernhält (vgl. RvB, V. 5416f.). Es ist nur dem Einsatz eines besonders aufgeweckten Boten zu verdanken, dass der Kontakt wiederhergestellt werden kann. Als er von einem fremden Ritter hört, sucht er diesen – in der begründeten Hoffnung, den Gesuchten zu finden – auf (vgl. RvB, V. 5430–5445) und drängt nachdrücklich, wenn auch erfolglos, darauf, zu erfahren, warum er im Zwist mit der Königstochter liegt (vgl. RvB, V. 5465–5477, s. Kap. 4.2.2). Wiederholt wird dieser Prozess, als Yrkâne nach eindringlicher Aufforderung ihren Hass und ihre Ächtung widerruft (vgl. RvB, V. 5702–5704) und der König sich in der Position sieht, einen aussichtsreicheren Rückholprozess zu starten, in welchem Boten Briefe hin- und hertransportieren (vgl. RvB, V. 5741–5749, 6228f., 6281; s. Kap. 4.3.1). 11 Der Ritter hat seine Drohung (s. Anm. 4/10) wahr gemacht und behauptet, Yrkâne habe bei einem geheimen Treffen mit Reinfried ihre Jungfräulichkeit verloren. Die Angelegenheit wird öffentlich und Yrkâne muss sich den Vorwürfen stellen. Der Ritter verbürgt sein Wort mit einem Kampf, den er bereit ist, für seine Behauptung auszufechten (vgl. RvB, V. 6404–6753). Aufgrund seiner Stärke und seines Ruhms ist schnell klar, dass niemand der Anwesenden sein Leben wagen würde (vgl. RvB, V.  6754–6775). Es wird eine Frist bis zur Entscheidung gesetzt, wobei niemand glaubt, dass sich bis dahin ein Ritter finden wird, der der Aufgabe gewachsen ist (vgl. RvB, V. 6805f.). Währenddessen plant Reinfried, zu einem Turnier zu laden und versucht mittels Boten diesen Plan publik zu machen (vgl. RvB, V. 6944–6971). Als der Bote den Dänischen Hof erreicht, erfährt er von dem am Braunschweiger Hof noch vollkommen unbekannten problematischen Verhältnis zu seinem Heimathof (vgl. RvB, V. 6971–7033) und kann von Yrkâne heimlich beauftragt werden, Reinfried um Hilfe zu ersuchen (vgl. RvB, V. 7120–7284; s. auch Kap. 4.1.2, 4.3.3). 12 Reinfried hat vor seinem Aufbruch zum Gerichtskampf einen Brief, der seinen Antritt für Yrkâne ankündigt, an Fontânâgrîs verfasst und übergibt diesen selbst getarnt als Bote (vgl. RvB, V. 8594–8605; s. Kap. 4.3.1). 13 Nach seinem erfolgreichen Kampf gegen den liebeskranken Ritter (vgl. RvB, V.  9129–9141) entführt Reinfried unerkannterweise Yrkâne und wird von Fontânâgrîs und seinen Männern verfolgt (vgl. RvB, V. 9270–9353). Als er zu seinen Unterstützern kommt und sich daher in Sicherheit weiß, gibt er sich zu erkennen und fordert Yrkâne zur Frau (vgl. RvB, V. 9929–10066). Der König lenkt schließlich ein (vgl. RvB, V. 10174–10204). Derweil besteht bei der zurückgebliebenen Gesellschaft Ungewissheit, was geschehen ist – man munkelt, der König sei entführt oder gar tot (vgl. RvB, V. 10271–10319) – die Stimmung ist daher feindlich, als die Braunschweigischen Wagen aus dem Wald auftauchen. Daher schickt der König Boten, um den Verlauf bekannt zu machen und einen Kampf abzuwenden (vgl. RvB, V. 10320–10323).

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Kreuzzug14 von der Weiterleitung einer Nachricht mithilfe von Boten ab. Schließlich ist ohne diese Figuren auch die Wiederaufnahme des Kontakts zwischen dem umherreisenden Reinfried und seinem Heimathof – und so eine (denkbare, s. Kap. 2.1) Wiedervereinigung des zentralen Paares – nicht möglich. Gerade im ersten Handlungsteil macht der Reinfried von Braunschweig also in hohem Maße vom medialen Potenzial des konventionellen fernkommunikativen Mittels ,Bote‘ Gebrauch, um zunächst den elementaren Handlungsstrang zu initiieren und diesen dann über einen Erzählraum zu entfalten, aus dessen Weitläufigkeit sich die maßgeblichen Spannungsmomente des Erzählteils entwickeln. Im ,Abenteuerteil‘, in dem der Protagonist selbst erzählte Räume durchquert, sich die Erzählung an seinen staunenden Blick heftet und jeglicher Fernkontakt zwischen Heimathof und Reinfried abbricht, tritt die handlungslogische Relevanz der Botendienste15 zurück. Die Rückkehr des Protagonisten in die bekannte Welt wird dann ebenso durch das Aufeinandertreffen mit einem Boten markiert16 wie die Refokussierung des Protagonisten auf seine – bereits vom Botendienst initiierte und von einem weiteren ermöglichte – Minnebeziehung durch einen Boten ausgelöst wird.17 Das lässt Botenfiguren als Sinnbild nicht nur für Einbindung des Helden in die kommunikativen Strukturen der höfisch organisierten Heimatwelt im Allgemeinen, sondern auch für die Verbindung zwischen Yrkâne und Rein-

14 Reinfrieds Erscheinung befiehlt diesem, einen Kreuzzug zu unternehmen (s.  Kap.  6.2.2). Bei der Zusammenstellung eines Kreuzfahrerheers greift er auf Botendienste zurück (vgl. RvB, V. 13939–13945). 15 Solche sind dennoch weiterhin in der Erzählung präsent. Zahlreiche erwähnte Boten­dienste, die allerdings meist nicht mit der Figur Reinfrieds verknüpft und für den Haupterzählstrang handlungslogisch weniger relevant sind, zeugen von der kommunikativen Vernetzung auch des orientalischen Raums. 16 Während das Verschwinden der beiden Reisenden mit der Bemerkung einer Figur, weder Briefe noch Boten unterrichteten von ihrem Verbleib (vgl. RvB, V. 23682f.), markiert wird, finden jene nach ihren Erlebnissen auf dem Magnetberg wieder Anschluss an die Gesellschaft, als sie einen Boten des Königs von Aschalon (vgl. RvB, V. 22842–22853) treffen. Derselbe Bote macht sich gleich, als er erfährt, dass es sich bei seinen Gesprächspartnern um die totgeglaubten Helden handelt, auf, dem König diese unerwartet freudige Nachricht zu unterbreiten (vgl. RvB, V.  22992–22997) und macht so in der Öffentlichkeit die Rückkehr Reinfrieds zu den Lebenden bekannt. 17 Gemeint ist die ausführlich dargestellte und in Kap.  4.2.1 genauer behandelte Reise eines Boten auf den Spuren Reinfrieds zu dessen Benachrichtigung über seinen Nachwuchs sowie die Bitte um und Mahnung an Rückkehr (vgl. RvB, V. 23437–24399).

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fried erscheinen und arbeitet der Wahrnehmung der Textstruktur von Verbindung, Trennung, Wiederfinden (s. Kap. 2.2) zu. Auch der Apollonius von Tyrland bedient sich in dieser Weise des erzählraumverknüpfenden, handlungsinitiierenden Potenzials medialer fernkom­ munikativer Akteure. Stellt zunächst die Übernahme des Botendienstes in einer artifiziellen Fernkommunikation durch den Protagonisten selbst (vgl. Kap. 4.4.1) die Weichen für die schicksalshafte, der Erzählung Antrieb verschaffenden Verbindung mit Lucina,18 so setzen die darauffolgenden Botenszenen stets als Impulse aus fernem Raum die Handlung in Gang. Statt der Fortführung einer Kommunikation wie im Reinfried steht hier die Figurenaktivierung als Handlungsmotor im Vordergrund. Denn dort, wo die lateinische Historia raffend vom vierzehnjährigen Exil des Protagonisten berichtet, schafft Heinrich von Neustadt durch eine Botenfigur einen Einstieg in die selbstkompilierte Abenteuerreihe, die von den einzelnen Abenteuern des Apollonius berichtet (s. Kap. 2.1). Direkt nach dem Trauer-Gelübde des Apollonius (s. Kap. 5.2.1) hebt der Text mit der Bemerkung Bey den selben zeytten Sach man zu reitten Reiche potten uber veld. […] Sy prachten fremde märe (AvT, V. 2920–2925)

neu an. Jene Boten bringen wie der Bote zu Beginn des Reinfried einen fernen Raum (Warcilone, AvT, V. 2932) in die Wahrnehmung der Figuren und der TextrezipientInnen, konfrontieren den Helden mit einem konkreten Auftrag (vgl. AvT, V. 2920–2955, s. Kap. 4.2.2), der diesen in selbigen Raum zu neuen Abenteuern zieht.19 Die beiläufig erwähnten Botenfiguren sind handlungslogisch verantwort-

18 Apollonius wird von Altistrates als Bote in einer artifiziellen Fernkommunikation eingesetzt, die der Bestimmung des Ehemannes für Lucina dient. Dabei spielt die ihm zukommende Botenrolle eine nicht unerhebliche Rolle in der Entscheidung Lucinas, keinen der Bewerber auszuwählen, sondern Apollonius selbst zu nominieren (vgl. AvT, V. 1958–2179; s. Kap. 4.1.2, 4.4.1). 19 Streng genommen ist es das mitgeführte Hilfsgesuch, also ein Brieftext, der diese Funktion übernimmt. Die Ausgangslage selbst wird außer durch diesen Brief nicht im Text beschrieben, sodass nicht nachzuvollziehen ist, welche Aspekte des Geschehens wie in die Verschriftlichung übertragen werden. Der Brief unterrichtet hier Protagonisten und RezipientInnen gleichermaßen und eröffnet durch die Einführung dieser problematischen Situation einen neuen Handlungsstrang. Eingeleitet wird die Passage aber mit dem Hinweis auf Boten. Dass narrativ der Brief diese Signalfunktion übernehmen kann, wird deutlich bei den beiden Beispielen, die Briefversand ohne expliziten Verweis auf Botendienste darstellen. In beiden Fällen wird nicht direkt der

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lich dafür, dass Apollonius, dessen weiterer Lebensweg zu diesem Zeitpunkt ziellos ist – sich auf eine erneute Mission begibt, die ihn nicht nur zu weiteren Abenteuern und Heldentaten, sondern schließlich auch zu seiner zweiten Ehefrau Cirilla führt. In derselben Weise werden Botenfiguren für den Aufbruch des Protagonisten nach Jechonia,20 Armenien21 und nach Tarsis (s. u.) eingesetzt. Beobachten lässt sich die Wiederholung (und im letztgenannten Fall Variation) eines Schemas, das Botenfiguren als Handlungsgeneratoren und Protagonistenaktivatoren funktionalisiert. Apollonius droht jeweils sein Ritterleben und mit seiner Passivität auch die Erzählung zum Erliegen zu bringen, Boten erreichen ihn mit Gesuchen um Hilfe oder Einladungen aus der Ferne, woraufhin der Held dorthin zu neuen Abenteuern aufbricht. Die Erzählung kann weitergehen.22 Die durch die Boten gelieferte Anschubenergie, die Apollonius wie die Erzählung benötigt,23 wird

Brieftext wiedergegeben, sondern die Botschaft, die schriftlich fixiert auf Reisen geht, lediglich paraphrasiert (vgl. AvT, V. 20315–20317; RvB, V. 16522–16581). 20 Nach der Heirat mir Cirilla ist erneut ein Punkt des Stillstandes in der Erzählung erreicht. Nach ausgiebigen Feierlichkeiten sind die Gäste wieder abgereist (vgl. AvT, V.  6003–6034), Apollonius bleibt mit seiner Frau, deren Mutter und Schwester zurück in Galacides und ist nur damit beschäftigt, die Überreste seiner bezwungenen monströsen Antagonisten zu einer prächtigen Rüstung verarbeiten zu lassen (vgl. AvT, V. 6034–6068). Es bietet sich keine neue He‑ rausforderung oder Aufgabe. An diesem Punkt kommen Boten, kündigen eine potschafft (AvT, V. 6077) an und berichten dann von einem Turnier am Hofe des Jechonia, auf dem selbiger alle Fürsten der umliegenden Länder herausfordert, gegen ihn zu bestehen (vgl. AvT, V. 6080–6110). Der Protagonist ist hocherfreut und entschließt sich , der Einladung zu folgen (vgl. AvT, V. 6115– 6117); auf dem Rückweg von dieser Turnierfahrt erlebt Apollonius nicht nur seine ,Robinsonade‘ (vgl. AvT, V. 6449–7086), während seiner Abwesenheit ,kann‘ auch Cirilla versterben (vgl. AvT, V. 7092–7094) und damit die Ablösung Apollonius’ vom Stillstand-Raum Galacides vorbereiten, dessen Realisation dann wieder durch einen Botenauftritt (s. u.) induziert wird. 21 Auch nach dem Tod der zweiten Ehefrau Cirilla und dem Verstreichen eines recht ereig‑ nislosen Jahres in Passivität (vgl. AvT, V. 7091–7184) setzt die Erzählung neu an (vgl. (AvT, V. 7187– 7189). Boten erreichen den Hof und bitten um Hilfestellung – hier nun für Armenia (AvT, V. 7217), woraufhin Apollonius dorthin aufbricht, um das Land zu befreien und selbst die ihm dort angetragene Herrschaft zu übernehmen (vgl. AvT, V. 7271–7273). 22 Hier zeigt sich ebenso wie im Beispiel des ersten Dänischen Boten im Reinfried, wie Botenfiguren verwendet werden, um Texträume und Handlungsorte zu erschaffen (s. o.). 23 Selbst der Protagonist räumt in einer Situation ein, dass die Ankunft der Boten ein aktivierendes Moment darstellt: Er sprach ‘vil lieben heren mein,/Nu dütt mir ewr hilffe schein./Das ich nu stille lage,/So wurden wir alle trage./Wir sullen raisen umb das landt (AvT, V. 7267–7271), äußert er sich gegenüber seinen Landesherren.

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jeweils unter Verwendung eines ähnlichen Wortlauts wie in der beschriebenen Passage in den Text geleitet: In den selben zeytten Sach man ein reytten Reiche potten uber velt. (AvT, V. 6069–6071)

und In den selben zeytten Sach man zu reytten Poten herleich perait. (AvT, V. 7187–7189)

beginnt der Text jeweils seinen neuen Handlungsstrang. Es handelt sich dreimal fast um dieselbe Formulierung; in der Parallelität wird die narrative Nutzung der Botenfigur in diesem Schema der Handlungsgeneration besonders deutlich. Dabei wird anschaulich, dass die Erwähnung von Briefen dieselbe Funktion wie die von Boten besetzt. Wird der Hilferuf Paldeins schriftlich formuliert (vgl. Kap. 4.3.3), so fällt der des Königs Balthasar als zitierte Botenrede aus (vgl. Kap. 4.2.2); die Szene um die Freundschaftsaufkündigung Diomenas nutzt Boten und Briefe als sich ergänzende mediale Formen (vgl. Kap. 4.2.2, 4.3.2). Wiederum durch erfolgreiche Botendienste, jedoch ohne jene Formulierung und entgegen der Intention der Fernkommunikation, auf den Weg gebracht wird Apollonius am Ende seiner Exilabenteuer. Cleopacras sorgt nach dem Fehlverhalten Apollonius’ gegenüber seiner dritten Ehefrau ähnlich wie die Boten im ersten Handlungsteil des Reinfried für die Kommunikation zwischen zwei zuvor direkt verbundenen, nun räumlich getrennten Figuren. Hier nun wird Apollonius gerade nicht in den Raum der Senderin gelockt, sondern der Botendienst, der zunächst Crisa und Montiplein als Kommunikationsräume verbindet,24 erwirkt

24 Apollonius hatte seine dritte Ehefrau Diomena um Erlaubnis gebeten, eine Reise aus dem Goldenen Tal in seine Heimat unternehmen zu dürfen und diese Ausfahrt nach dem Versprechen, spätestens in einem halben Jahr zurückzukehren, zugebilligt bekommen (vgl. AvT, V. 13520–13675). Er kommt mit seinem Gefolge zur Burg Montiplain, wo die Königin Palmina vom Herrscher Prothasius bedroht wird. Apollonius setzt sich für Palmina ein – die Kontaktaufnahme dirigiert nebenbei bemerkt ein Bote (s. Kap. 4.2.2) –, bezwingt den Aggressor und wird daraufhin dazu gedrängt, Palmina zur Frau zu nehmen (AvT, V. 14028–14266). Diomena beobachtet in der Spiegelsäule (s. Kap. 4.4.2) den Betrug an ihr (AvT, V. 14298–14305) und versucht mittels des Boten Cleopacras, die Verbindung zu lösen (s. Kap. 4.1.2), bzw., als ihr die Umstände der Verbindung bekannt werden, sie wiederherzustellen.

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schließlich die endgültige Trennung Apollonius’ von Crisa. Diese geht mit einer Rückbesinnung auf das Ziel seines Aufbruchs – die Rückkehr in die ihm vertraute Welt und das Wiedersehen mit seiner Tochter, damit auch mit der Rückführung der Hauptfigur in die Haupthandlung der lateinischen Historia – einher. Erst in der Diskussion mit dem Boten besinnt sich Apollonius plötzlich des Vorhabens, mit dem er seinen Aufbruch aus Crisa begründet hatte: seine Herrschaftspflichten sowie seine mittlerweile erwachsene Tochter (vgl. AvT, V.  13526–13530 und nun 14432–14443). Kurz darauf beantwortet Apollonius das Angebot, nach Crisa zurückzukehren, mit dem Hinweis auf sein nun offenbar wieder sehr präsentes Ziel: Di raise muß ee sein Zu dem lieben kinde mein Gegen Galacia und gen Tarsis (AvT, V. 14582–14584).25

Die Botenfigur sorgt auch hier  – wenngleich entgegen ihrer Intention  – (s.  Kap.  4.1.2, 4.2.2 und Kap.  4.4.2) für die Aktivierung des Protagonisten, der sich erneut (verheiratet) in seinem Abenteuerexil niederzulassen droht und eine Lenkung der Geschichte in die vorgegebenen Bahnen der Historia ,gefährdet‘. Botenfiguren setzt der Apollonius dann ein, wenn erzählerischer Stillstand droht, wenn ein neues Abenteuer initiiert werden oder ein begonnenes, durch ein anderes Ereignis interpoliertes Vorhaben weitergeführt werden soll.26 Ähnlich

25 Die Rolle, die eine weitere mediale Form für diesen Aufbruch, vor allem aber für den Bruch mit Diomena und Crisa, spielt, wird in Kap. 4.4.2 thematisiert. 26 Bereits „Schürenberg has shown that Apollonius’ adventures consist of independent episodes which are initiated by a message that comes from outside the immediate action“, so Dreher, Enclosed Letters, S. 196. Am Ende des Textes tauchen nochmals zwei Boten auf, die eine neue Herausforderung an Apollonius herantragen. Ein Mahl während des fröhlichen, wenn auch nicht konfliktfreien Tafelrundenturniers, das gut den Abschluss der Erzählung markieren könnte, wird unterbrochen – erst durch das Auftauchen eines mor (AvT, V. 19098; dieser rennt in die Stadt [i]n deß sy sassen/Truncken wol und assen; AvT, V. 19095f.), kurze Zeit später durch den Aufsehen erregenden Auftritt des Boten Lielfant (s.  Kap.  4.2.2; vgl. AvT, V.  19260–19262), welche ein Event ankündigen, das Apollonius erneut zum Handeln und so die Erzählung zu einer weiteren, letzten Abenteuerschleife animiert (vgl. AvT, V. 19117–19397). Vgl. zu diesen beiden Boten Kap.  4.2.2. Sofort nach Ende der zweiten Botenrede  – [d]o dise rede hett vernomen (AvT, V.  19398)  – fällt der Beschluss, einzugreifen (vgl. AvT, V.  19398–19406). Die zahlreichen weiteren kurzen Erwähnungen von Botendiensten stehen im Dienste der Mitteilung von Erfolgen oder Entscheidungen oder der Rekrutierung von Kämpfern (vgl. AvT, V. 2182–1287, 4889–4893, 5851–5854, 7171–7179, 7368–7375, 9715–977, 13587–13605, 10366–10397, 17474–17480, 17031–17055, 18117–18125, 20048–20051, 20413–20416).

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wie im Reinfried sind die genannten fernkommunikativen Figuren daher auch im Apollonius Textelemente mit klarer handlungsmotivierender, hier vor allem figurenaktivierender Funktion. Makrostrukturell kennzeichnen sie gerade im Gegensatz zum Reinfried nicht die kommunikative Einbindung in die bekannte Welt, sondern die Abenteuerzeit des Helden. Sie liefern die nötige Anschubenergie, die stets von außen zuzuführen ist, um den häuslichen – häufig auch trauernden – Apollonius voran und schließlich zurück zu seiner ersten Frau zu treiben.27 Fernkommunikative mediale Instanzen vermögen Lebensräume zu verbinden; ihre literarischen Repräsentationen tun – so zeigt dieser erste Blick – dasselbe für Handlungsräume literarischer Texte. Erzählte Fernkommunikation ist somit Voraussetzung für Handlungsstränge, in denen zwischen unterschied­lichen erzählten Räumen kommuniziert wird. Sie entfaltet einen erzählten Raum, lässt ihn aber im Erzählraum zurücktreten.28 Angesichts der Disparatheit der Handlungsorte im Reinfried und im Apollonius kann die Präsenz dieser Formen kaum erstaunen. In zahlreichen Erzählmomenten setzen die Texte Boten und Briefe als Elemente ein, die für den handlungslogischen Fortlauf der Geschichte und die Binnenstrukturierung der Erzählung Sorge tragen.29 Das Bemühen der Figuren, Raum zu überbrücken, geht mit der Verbindung getrennter erzählter Räume und der Verknüpfung ihrer Handlungen zu einem Handlungsstrang einher;30 die text-

27 Sie entsprechen der Helferfigurfunktion des Ablaufschemas des hellenistischen ,Liebes- und Abenteuerromans‘. Helferfiguren tauchen an Wendepunkten auf, um den Protagonisten auf den richtigen Weg zu leiten (vgl. Schulz, Armin: Erzählungen in der Erzählung. Zur Poetologie im ,Guoten Gêrhart‘ Rudolfs von Ems. In: helle döne schöne. Versammelte Arbeiten zur älteren und neueren deutschen Literatur. Festschrift für Wolfgang Walliczek. Hrsg. von Horst Brunner u. a., Göppingen 1999 [Göppinger Arbeiten zur Germanistik 668], S. 29–59, hier S. 44). Repräsentiert ist diese Funktion auch in der Bebilderung der Handschriften des Apollonius von Tyrland. Unter den hundertachtundzwanzig Abbildungen finden sich fünf, die einen oder mehrere Boten zeigen, die einen neuen Handlungsstrang einleiten und z. T. auch motivieren (vgl. die tabellarische Übersicht bei Schultz-Balluff, Dispositio picta, S.  334–344 und die Konkordanz der in den Handschriften enthaltenen Bildfolgen bei Krenn, Bildprogramm, S. 190–219). 28 Vgl. dazu auch Anm. 4/30; 4/121. 29 Darin sind der Apollonius und der Reinfried sicherlich besonders auffällige, jedoch gerade im Rahmen der Textsorte ,Liebes- und Abenteuerroman‘ keine singulären Beispiele. Fernkommunikation ist für das Funktionieren und die Produktivität der Textsorte des ,Liebes- und Abenteuerromans‘ von immenser Relevanz, als sie die räumliche Ausdehnung des erzählten Raums, die die handlungsschematisch notwendige Trennung des Liebespaares garantiert, konstruiert, und gleichzeitig eine Möglichkeit schafft, Verbindungen über diese Trennungsräume herzustellen (s. zum Schema aus Trennung und Wiedervereinigung Anm. 2/85; 2/86). 30 Fernkommunikative Instanzen sind daher wichtiges Mittel des raffenden, spannungserhaltenden Erzählens, das größere und komplexere Handlungsbögen zu bewältigen vermag. Mit dem Verweis auf Fernkommunikation können sich die Erzählungen erlauben, räumlich und damit

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interne Möglichkeit, mit entfernten Figuren zu korrespondieren, bedeutet auch die erzählerische Möglichkeit, disparate Welten zu gestalten und deren jeweilige Faszinationsräume zu nutzen.31 Fernkommunikative mediale Formen ermöglichen als Textelemente den Entwurf einer facettenreichen Textwelt mit zahlreichen komplexen Beziehungsgefügen der in ihr agierenden Figuren32 und stützen die jeweilige Erzählstruktur. Die Erwähnung einer medialen fernkommunikativen Form und das erzählerische Nutzen des fernkommunikativen Potenzials geht nicht notwendigerweise mit der besonderen Thematisierung ihrer Instanzen einher. In einem Anteil der erwähnten Szenen wird der Vermittlungsprozess nicht offengelegt oder die Interaktion zwischen Bote/Brief und Empfänger bzw. Botenwort oder Brieftext näher ausgestaltet. In diesen Fällen nutzen die Texte das mediale Potenzial für die Bewegung der Narration, die Motivation von Handlungen und die Verknüpfung der erzählten Räume und repräsentieren die universelle Notwendigkeit ihres Wirkens. Sie gestalten die spezifische Medialität jedoch nicht aus. Doch es gibt im Apollonius und vor allem im Reinfried auch eine Vielzahl an Textpassagen, die den Texten ein besonders ausgeprägtes Interesse für zerdehnte Kommunikation und die

auch zeitlich auseinander liegende Ereignisse zusammenzurücken und – den funktionierenden Botendienst voraussetzend – die zwischen Aussendung und Empfang liegende, für die Handlung weniger wichtige Zeitspanne auszuklammern. Der Apollonius bspw. erwähnt meist nur eine Seite dieses Prozesses und setzt die andere voraus. Anschauliche Beispiele sind die Kommunikation zwischen Balthasar und Apollonius (vgl. AvT, V. 7188–7294), zwischen Jerobam und Apollonius (vgl. AvT, V. 18117–18115) sowie zwischen dem Ehemann Flordeleyses und Apollonius (vgl. AvT, V. 20315–20326; s. Anm.  4/30; 4/121). 31 „Die Übersendung einer Botschaft verknüpft […] verschiedene Schauplätze und Handlungsstränge. Die Erzählwelt wird komplex, Aktionsradius und Erlebenshorizont der Figuren vergrößern sich“ (Wand-Wittkowski, Briefe, S. 42). Dabei nennt sie auch das Beispiel Reinfried von Braunschweig, in dem durch den Minnebrief Yrkânes Ehe- und Reisegeschichte zusammengeführt würden. Zum Befund, dass Botenfiguren eingesetzt werden, um Erzählräume zu verknüpfen und mehrsträngiges Erzählen zu ermöglichen, gelangt auch Störmer-Caysa in ihrer Auseinandersetzung mit der auffallenden Präsenz von Boten und Briefen in der Heidelberger Virginal (vgl. Störmer-Caysa, Vorlesebuch, S. 11–14). 32 S. dazu auch die Legitimation des Forschungsinteresses an literarischen Minnebriefeinlagen bei Muschick mit dem intradiegetischen und narrativen Potenzial literarisierter Fernkommunikation: „Weil sich im brieflichen Austausch das Verhältnis zweier Figuren bestätigen und entwickeln sowie die Wirkungen äußerer Ereignisse reflektieren lassen, weil Räume miteinander verknüpft und körperliche Distanzen imaginativ überwunden werden können, ist nach den Strategien und Formen dieser Literarisierungen von Briefen zu fragen“ (Muschick, Martin: Minne in Briefen. Studien zur Poetik des Briefwechsels in der Erzählliteratur des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit, Heidelberg 2013 [Beiträge zur älteren Literaturgeschichte], S. 13).

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darin stattfindenden Mediationsvorgänge bescheinigen.33 Dabei werden sowohl auf Handlungs- als auch auf Darstellungsebene unterschiedliche Interessen, die mit der distanznivellierenden Funktion solcher Mittlerinstanzen verbunden sein können, sichtbar. Um diese offenzulegen, sind zunächst die beteiligten Instanzen, ihr Beitrag in literarischen Fernkommunikationen und die an sie gestellten Ansprüche herauszuarbeiten, um anschließend einzelne Aspekte genauer in den Fokus nehmen zu können.

4.1.2 Ergänzung und Konkurrenz: Boten und Briefe als eigenständige Instanzen mittelalterlicher Fernkommunikation Briefe besitzen grundsätzlich dieselbe raumverknüpfende Funktion wie Boten34 und tragen daher ebenso wie jene dazu bei, den Kommunikations- und Interaktionsraum von Menschen zu vergrößern.35 So steht die Erwähnung des Briefversands oder eines Botenberichts in literarischen Texten, wie die Beispiele aus dem Reinfried und dem Apollonius gezeigt haben, in derselben nar­rati­‑ ven  – Funk­tio­nalität  –  der Erzählraumverknüpfung und Handlungsmotivation (s. Kap. 4.1.1). Als auserzählte Textelemente haben sie jedoch verschiedene Funktionen, die sich aus den jeweils unterschiedlichen medialen Potenzialen ergeben. Da nur der Brief – selten in physischer, meist in elektronischer Form – noch als Teil des heutigen medialen Spektrums wahrgenommen wird, während Trägerpersonal in der alltäglichen Wahrnehmung keinen medialen Status innehat – man

33 Wie Schubert betont, ist in der Vielzahl mittelalterlicher Texte selten eine besondere Ausgestaltung oder umfangreiche Beschreibung fernkommunikativer Prozesse zu beobachten, da es sich um alltägliche und nicht-erklärungsbedürftige Vorgänge handelt. Allein Liebesbriefe und die für Liebesbotschaften vereinnahmten Boten stellten eine Ausnahme dar (vgl. Schubert, Martin J.: Ich bin ein brief unde ein bode. The Relation of Written and Oral Love-Messages in Medieval German Literature. In: Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein Gesellschaft 11 [1999], S. 35–47, hier S. 37). Das gesteigerte Interesse für Fernkommunikation im Kontext von Minnebeziehungen dient dann sowohl der Darstellung der Gefühle selbst als auch der Art der Übermittlung und den dabei involvierten medialen Formen (Schubert, Love-Messages, S. 37). 34 Das grundsätzliche Ziel ist es, ein bestimmtes kommunikatives Handeln über räumliche Distanzen hinweg möglichst verlustfrei zu realisieren. Muschick meint daran orientiert briefschreibende Figuren versuchten „unter Abwesenheit des Anderen die Beschränkungen ihrer Leiblichkeit [zu] überwinden“ (Muschick, Minne, S. 25). 35 „Die Nutzung von Schrift ermöglicht, mehr zu sehen, als das Auge es erlaubt, und weiter zu hören, als die eigenen Ohren es leisten können, teilzuhaben an Situationen und Gegebenheiten, die die körperlichen Möglichkeiten übersteigen“ (Wenzel/Wenzel, Tafel des Gregorius, S. 103 mit Bezug auf Kartschoke).

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bedenke die Assoziation des Boten-Begriffs mit einem Austräger (von Post oder Pizza) – oder gar vollständig obsolet geworden ist,36 ließe sich aus der Perspektive des einundzwanzigsten Jahrhunderts die Bedeutung des Boten unter Hinweis auf die von ihnen getragene mediale Form des Briefes leicht aus dem Blick verlieren.37 Doch sowohl die historische Forschung als auch die Textbeispiele legen nahe, Boten und Briefe als zwei eigenständige mediale Formen mit eigenen Darstellungsmöglichkeiten zu betrachten. Die Etablierung von Schrift und die damit einhergehende Möglichkeit, eine Information unabhängig von ihrer mündlichen Reproduktion zu machen, hat den Boten nämlich weder als physischen Bestandteil von Briefkommunikation38 noch als mediale Form mit spezifischen Potenzialen überflüssig gemacht. Lange Zeit ist ein vielfältiges Neben- und Miteinander von Brief- und Botenkommunikation zu beobachten.39 Wie das historische

36 Ein Symptom dieses Bedeutungsverlusts ist die Rückläufigkeit der Worthäufigkeit, die der DWDS für das Lemma ,Bote‘ verzeichnet. In allen zugrunde liegenden Textkorpora – ausgenommen bezeichnenderweise die wissenschaftliche Literatur – ist der Begriff gerade in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts seltener geworden (vgl. https://www.dwds.de/ r/plot?q=Bote, [21. Februar 2019]). 37 „We would expect to be the participation of the messenger reduced to the role of a postman where letters are used. This is not so“ (Schubert, Love-Messages, S. 39). Eben deswegen wird die Bezeichnung ,Datenträger‘ oder ,Speichermedium‘, die Müller vorschlägt (vgl. Müller, Stephan: Datenträger. Zur Morphologie und Funktion der Botenrede in der deutschen Literatur des Mittelalters am Beispiel von ,Nibelungenlied‘ und ,Klage‘. In: Situationen des Erzählens. Aspekte narrativer Praxis im Mittelalter. Hrsg. von Ludger Lieb/dems., Berlin, New York 2002 [Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 254], S. 89–120, hier S. 89), als kritisch empfunden. 38 Schriftliche mediale Formen der Fernkommunikation können zwar dessen Vortrag, jedoch nicht dessen physische Funktion ersetzen. Die vor den Möglichkeiten schriftlicher Fixierung zur rein mündlichen Überbringung wichtiger Nachrichten eingesetzten Boten behalten als relevanter mobiler Teil in der Fernkommunikation ihre Bedeutung; Briefverkehr bleibt noch lange abhängig von ihnen (vgl. Müller, Datenträger, S. 90). 39 Vgl. Wenzel, Horst: Hören und Sehen, Schrift und Bild. Kultur und Gedächtnis im Mittelalter, München 1995, S. 256; Wenzel, Boten und Briefe, S. 86; Müller, Datenträger, S. 90f.; Herold, Empfangsorientierung, S.  267; Huber, Minne, S.  129, letzterer verweist auf Köhn, Rolf: Latein und Volkssprache, Schriftlichkeit und Mündlichkeit in der Korrespondenz des lateinischen Mittelalters. In: Zusammenhänge, Einflüsse, Wirkungen. Kongreßakten zum ersten Symposium des Mediävistenverbandes in Tübingen. Hrsg. von Jörg O. Fichte/Karl Heinz Göller/Bernhard Schimmelpfennig, Berlin, New York 1986, S. 340–356., der v. a. auf den Seiten 347–349 über das Verhältnis schreibt. Wie Schubert mit Blick auf Hoffmann darstellt, wird der Brief erst nach und nach auch zur allein, ohne besondere Interaktion mit einem Boten funktionierende Form der Fernkommunikation, während Briefe zunächst eher einen Ausweis der Legitimität eines Boten darstellten. Lange Zeit scheine auch bei einem Nebeneinander von oralem und visuellem Kanal der orale noch der dominante zu sein, da in der Literatur häufig die relevanten Informati-

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Zusammenspiel sich literarisch im Reinfried von Braunschweig und im Apollonius von Tyrland niederschlägt, soll im Folgenden in den Blick genommen werden. Der konventionalisierte Gebrauch von Briefen degradiert, so betont die mediengeschichtliche Forschung, Boten nicht automatisch zu Briefträgern. Einige Botenfiguren im Textrahmen werden jedoch wie Briefträger erzählt. Die Ankündigung Reinfrieds, den Gerichtskampf am Dänischen Hof für Yrkâne auszufechten, überreicht der Bote (in diesem Falle Reinfried selbst, s. Kap. 4.3.1) in folgender Manier: nâch dem künic rîche stuont sîn sin dâ er in vant. für in balde wart gerant und bôt im an der stunde mit swîgendem munde den brief […] (RvB, V. 8600–8605)

Der Bote tritt hier nur als Träger, zu Mobilmachung der eigentlich vermittelnden Instanz des Briefes auf und nimmt sich selbst vollständig aus dem Prozess zurück.40 Auch im Kontakt zwischen Fontânâgrîs und dem Nebenbuhler weist sich der Bote selbst in seiner einleitenden Bemerkung als Träger der zentralen Vermittlungsinstanz des Briefes aus (vgl. RvB, V.  5794–5797).41 Im Apollonius

on von den Botenfiguren mündlich vorgetragen würden, während Briefe sie nur ergänzten (vgl. Schubert, Love-Messages, S. 39f.; vgl. für die Bedeutung, die der Bote auch dann noch hatte, wenn er einen Brief überbrachte Krautter, Konrad: Acsi ore ad os …. Eine mittelalterliche Theorie des Briefes und ihr antiker Hintergrund. In: Antike und Abendland 28 [1982], S. 155–168, hier S. 158; Constable, Giles: Letters and Letter-Collections, Turnhout 1976 [Typologie des sources du moyen âge occidental 17], S.  53–55). In der literarischen Repräsentation der an Fernkommunikation beteiligten medialen Formen finden sich laut Muschick drei mögliche Relationen: „(I) Der Bote trägt die Nachricht mündlich vor. Der Brief dient dem Adressaten lediglich als zusätzliche Beglaubigung des Boten. (2) Der Bote tritt als Stellvertreter des Absenders auf und liest den Brief dem Adressaten vor. (3) Der Bote ist lediglich damit beauftragt, den Brief zu überbringen. Die schriftliche Nachricht bleibt allein dem Adressaten vorbehalten, der sie zumeist unter Ausschluss der Öffentlichkeit an einem Rückzugsort liest“ (Muschick, Minne, S. 44, wobei er sich auf von Moos, Peter: Briefkonventionen als verhaltensgeschichtliche Quelle. In: Rhetorik, Kommunikation und Medialität. Gesammelte Studien zum Mittelalter Bd. 2. Hrsg. von Gert Melville, Berlin 2006 [Geschichte – Forschung und Wissenschaft 15], S. 173–203, insbes. S. 174– 182, bezieht). 40 Der Brieftext involviert den Boten dann insofern, als er suggeriert, dieser sei das stumme Sprecher-Ich des Texts (vgl. Kap. 4.3.1). 41 Martschini hat bereits darauf hingewiesen, dass dieser Bote in seiner kurzen Vorrede dem Brief die Hauptkommunikationsfunktion zuschreibt (vgl. Martschini, Schriftlichkeit, S. 264).

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spielen die Boten des Königs Paldein keinerlei Rolle im Vermittlungsprozess, auch wenn sie in Verbindung mit dem Brief, den sie überbringen, erwähnt werden (vgl. AvT, V. 2921–2930).42 Diese Szenen stellen allerdings Ausnahmefälle dar. Im erstgenannten Falle ist das auffällige Schweigen des hier gleichermaßen den Sender darstellenden Boten dem Zweck, inkognito zu bleiben (s. Kap. 4.3.1), geschuldet. Andere Textpassagen, die Boten als Überbringer von Briefen zeigen, betonen hingegen, wie sich Botenfiguren entweder in intendierter Weise oder aber auch aus eigenem Antrieb in die briefliche Fernkommunikation einbringen (können) bzw. welche Effekte das mündliche Übertragen sowie die körperliche Präsenz innerhalb von Fernkommunikation haben.43 Besonders deutlich von der ergänzenden Involvierung des Boten in einer Briefkommunikation spricht die längere Erzählpassage im Reinfried von Braunschweig, in der Yrkâne heimlich die Dienste eines Boten in Anspruch nimmt. Als der Nebenbuhler Reinfrieds ihre Ehre infrage gestellt und einen für sie aussichtslos scheinenden Gerichtskampf angezettelt hat,44 hängt es in vielerlei Hinsicht sowohl vom Brieftext als auch vom Agieren dieses Boten ab, dass es zur Rettung Yrkânes kommen kann. Möglich wird die Fernkommunikation überhaupt nur durch die Kooperation des Boten. Dieser kommt an den Hof, um eine Einladung zum Turnier in Braunschweig kundzutun, und will gerade aufbrechen, als Yrkâne ihn zu einer heimlichen Unterredung rufen lässt (vgl. RvB, V. 7112–7131). Sie nutzt ihn zunächst als Informationsquelle, indem sie ihn um eine persönliche Einschätzung Reinfrieds bittet. Dabei lässt sich erkennen, dass ihre Notlage mit diesem zusammenhängt. Als der Bote nichts Schlechtes über Reinfried zu berichten vermag, eröffnet sie ihm, dass alles mînes herzen pîn (RvB, V. 7166) auf ihn zurückzuführen sei und sie […] von sîner schulde/genon an hôher wirde abe (RvB, V. 7168f.). Was sie ihm über die Details der verfahrenen Situation mitteilt, wird nur paraphrasiert (vgl. RvB, V. 7178–7192). Sie fordert daraufhin nicht, eine bestimmte Botschaft zu überbringen, sondern verlangt von ihm, Reinfried ihr unverschuldetes Leid, das sie Reinfrieds wegen – aber nicht durch eine Schuld seinerseits – trage, sowie alle wichtigen Details der Angelegenheit mitzuteilen (vgl. RvB, V. 7211–7215, 7249–7252). Da sie nicht daran zweifelt, dass Reinfried im Falle der rechtzeitigen Unterrichtung zu ihrer Hilfe eilen wird (vgl. RvB, V. 7220–

42 Zumindest in solch einer Funktion eingesetzt wird auch Apollonius, der als Bote im Werbungsverfahren um Lucina agiert (s. u.). 43 Störmer-Caysa deutet die literarischen Figurationen von Boten als Repräsentanten der Relevanz mündlicher Kommunikation (vgl. Störmer-Caysa, Vorlesebuch, S. 14). 44 Der Kontext dieser Botensituation wird ausführlich in Anm.  4/10; 4/11 geschildert. Bereits kurz auf das in dieser Brief-Boten-Kommunikation beobachtbare Zusammenwirken der mündlichen und schriftlichen Mittler hingewiesen hat Wenzel, Hören und Sehen, S. 256.

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7223), macht sie dem Boten deutlich, dass ihr Schicksal in diesem Moment primär von seinem schnellen Handeln abhängt. Zu ihm sagt sie daz grôze jâmer wende/ mir (RvB, V. 7210f.) und impliziert damit, dass er in der Verantwortung steht, ihr Hilfe zu verschaffen. Explizit auf seine wichtige Rolle weist sie den Boten hin, indem sie ihn ermahnt: […] würde ich iemer von der helfe sîn erlœset, dâ zuo müese dîn helfe ez vaste bringen (RvB, V. 7224–7227)

Sein Überbringen ihrer verzweifelten Botschaft ist notwendige Bedingung der erhofften kämpferischen Unterstützung durch Reinfried. Nur er kann in der Übernahme dieses geheimen Auftrags ihre Rettung initiieren. Der angetragenen Bedeutung entspricht der Bote, indem er sich erstens dazu entscheidet, Yrkânes Bote zu werden,45 er sich zweitens um eine möglichst schnelle Vermittlung bemüht.46 Der konkrete Informationstransport weist eine in medialer Hinsicht aussagekräftige Verflechtung mündlicher, körpergebundener und schriftlicher Fernkommunikation auf, in der der Bote weiterhin eine wichtige Rolle spielt.47 Yrkâne verfasst auch einen Brief an Reinfried, dessen als Briefeinlage auserzählter Text rhetorisch geschickt über den Gefühlszustand der Senderin Auskunft zu geben und zur Hilfe zu verpflichten weiß (vgl. Kap. 4.3.3). Damit wird jener Bote jedoch nicht einfach zum Briefträger. In der Auseinandersetzung mit Reinfried garan-

45 Er räumt damit ähnlich wie ein babylonischer Bote im fortgeschrittenen Erzählverlauf (vgl. Kap. 4.2.2; RvB, V. 22912–22996) dieser neu an ihn herangetragenen Botschaft eine höhere Relevanz ein als der Fortführung des ursprünglichen Auftrags. 46 Er verspricht, die Kommunikation mit Reinfried erfolgreich zu Ende zu führen (vgl. RvB, V. 7274f.) und bricht zügig auf (vgl. RvB, V. 7280–7283). 47 Schubert, der in seinem Beitrag nachdrücklich die Bedeutung des Boten in der mittelalterlichen Fernkommunikation betont, führt diese Szene daher auch exemplarisch für den für ihn aus drei Teilprozessen bestehenden und den Boten als substantiellen Bestandteil beinhaltenden Ablauf von (Liebes-)Fernkommunikation an. Er kommentiert die Szene: „In the epics, the usual description of how a love-letter is received consists therefore of three parts: a greeting spoken by the messenger, the letter read by the addressee, and the complimentary oral information, as is shown in the epic Reinfried von Braunschweig:“ (Schubert, Love-Messages, S. 40f.).

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tiert sein inszenierter Auftritt sowie seine Ergänzung des Brieftextes die schnellstmögliche und effektive Unterrichtung. Als besagter Bote am Braunschweiger Hof eintrifft, signalisiert sein Auftritt sofort, dass er eine wichtige Nachricht mit sich führt. Er spornt das Pferd ohne Unterlass an, sodass Ross und Reiter in einem Zustand ankommen, der den Anschein erweckt, sie seien gejagt worden (vgl. RvB, V.  7452–7456), und jederman sach und hôrte von im daz/er grôze sache fuorte (RvB, V.  7448f.). Mit einem griuwelîchen schrei (RvB, V.  7458), in dem er fordert, alles stehen und liegen zu lassen, da er seinem Herren große Mitteilung zu machen habe (vgl. RvB, V. 7459–7465),48 unterbricht er die festliche Turnierstimmung und richtet alle Aufmerksamkeit auf sich. Er winkt und fuchtelt unaufhörlich mit den Armen (vgl. RvB, V. 7469) und markiert so die Unbedingtheit einer Unterredung mit Reinfried. Die vermittelnde Instanz selbst trägt in Anbetracht der kommunikativen Rahmenbedingungen, die hier andere als im Regelfall sind für ihre eigene Rezeption Sorge und vermittelt dadurch bereits Informationen über die zu vermittelnde Nachricht. Durch das hier gegenüber dem prototypischen Auftreten des ersten Boten in der Eingangsszene (vgl. RvB, V. 163–169; s. Kap. 4.2.2)49 drastisch zur Eile mahnende Vorgehen zeigt sich unmissverständlich die Dringlichkeit der Nachricht.50 Durch sein Betragen schafft der Bote es auch tatsächlich, schnell zu Reinfried vorzudringen, der ihm dann ebenfalls wegen der gehetzten Erscheinung und des ungewöhnlichen Vorgehens sofort seine Aufmerksamkeit zuwendet. [W]az wirret dir (RvB, V. 7480), fragt Reinfried angesichts des sich für ihn geradezu ,verrückt‘ Gebärdenden (vgl. RvB, V. 7482f.).51 Die Entscheidungen des Boten bezüglich der

48 Das kann allerdings angesichts der Lautstärke kaum jemand deutlich vernehmen (vgl. RvB, V. 7466–7468). 49 Den Regelfall eines Empfangs eines Boten am Hof schildert der Reinfried zu Beginn des Textes bei der Ankunft eines Dänischen Boten am Braunschweiger Hof. Verlief dieser Prozess in jener ersten Szene konventionalisiert und mit Raum für Rituale wie die Begrüßung, Pflege und Verköstigung des Boten (s. Kap. 4.2.2), so signalisiert die Dringlichkeit, mit der der Bote hier auf sich aufmerksam macht, die Brisanz der Botschaft. 50 Davon zeugt auch der spätere Bericht der Szene durch einen Augenzeugen: Dort heißt es: nu kam an der selben zît,/dô wir solten hân gerant/zesamen, als iuch ist bekant,/ein knapp mit snelleclîcher îl,/von des mære wir ein wîl/den turnei ûf enthielten./sîn hende bede vielten/sich vil klegelîch in ein./sîn sit und sîn gebærde schein/daz in sorge ruorte/und grôze sache fuorte,/die er tougenlîch erkant/tet dem vogt ûz Sahsen lant (RvB, V. 10480–10492). Ähnlich aussagekräftig ist der Auftritt des Boten Lielfant aus dem Apollonius (vgl. AvT, V. 19253–19258; s. Kap. 4.2.2). 51 Diese Aussage markiert den Verstoß gegen die Verhaltensregeln am Hof, der auf eine besondere Situation hinweist. Unterstützt wird die Interpretation des Auftretens als höchst auffällig durch den intertextuellen Bezug auf die entscheidende Erlösungsfrage oeheim, waz wirret dier? im Parzival (vgl. Wolfram von Eschenbach: Parzival. Text und Übersetzung, mit dem mittelhoch-

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Durchquerung des Raumes und seines Auftretens am Braunschweiger Hof veranschaulichen den immensen Anteil des Boten auf die zerdehnte Kommunikation. Auf Grundlage seiner Einschätzung der Situation wählt er die ihm angemessen erscheinenden Mittel – in diesem Falle ein besonders zügiges Durchqueren des Raums und bewusste Missachtung der Regeln des höfischen Umgangs bei seinem Auftritt –, um dem Gebot der Dringlichkeit nicht nur zu entsprechen, sondern der folgenden Briefnachricht auch einen entsprechenden Rahmen zu geben.52 Bei der Vermittlung der Neuigkeiten ergänzen sich im Sinne der Auftraggeberin Botenbericht und Brieftext.53 Bevor der Bote Reinfried auffordert, den Brief zu lesen, bereitet er den Fürsten auf die Lektüre des Briefes und die problematische Situation, der dieser entstammt, vor, indem er die Problemlage anreißt: Die Königin aus Dänemark sei Reinfrieds wegen in sorgen tief (RvB, V. 7489) und habe ihn (den Boten) in grôzen nœten har gesant (RvB, V. 7487). Er enthüllt die Person, um die es geht, und verleiht der Botschaft einen alarmierenden Charakter. Das steuert die Rezeption der folgenden Botschaft; Botenwort und Brieftext sind aber darüber hinaus verbunden. Der Bote hatte Yrkâne gegenüber versprochen, zu enden/frowe, swaz ir hânt geseit (RvB, V. 7274f.). Als dieser Reinfried von Yrkânes Leid und seinem Auftrag, die verhängnisvollen Geschehnisse zu jenem zu tragen, berichtet hat, kommentiert er die Briefübergabe nicht nur mit der Aufforderung, diesen zu lesen (vgl. RvB, V. 7505, zuvor bereits V. 7490), sondern auch mit dem Versprechen, dâ nâch – nach der Lektüre – des mæres trift/gên ein wârez ende (RvB, V. 7506f.) zu führen. Die Andeutungen sollen nach der Lektüre durch seine

deutschen Text nach der sechsten Ausgabe von Karl Lachmann, einer Übersetzung von Peter Knecht und einer Einführung zum Text der Lachmannschen Ausgabe und in die Probleme der ,Parzival‘-Interpretation von Bernd Schirok. Hrsg. von Bernd Schirok, [2. Auflage] Berlin, New York 2003 [De-Gruyter-Texte], 795,29; alle folgenden Textzitate beziehen sich auf diese Ausgabe, im Folgenden wird mit ,Parz‘ auf den Text referiert). Zudem verleiht dieser Bezug der Befragung des Boten eine erlösende Relevanz. Die Last der Verantwortung wird dem Boten an dieser Stelle von den Schultern gehoben, da er sich nun mit seinem dringlichen Auftrag erklären und sein Versprechen der Senderin gegenüber einlösen kann (vgl. RvB, V. 7484–7489). 52 Es ließe sich behaupten, der Aspekt der Dringlichkeit werde in dem Boten verkörperlicht, sein Gebaren sei Ausdruck der dem Boten inhärenten Repräsentationsfunktion für die Nachricht an sich (vgl. dazu Kiening/Stercken, Einleitung, S. 6). 53 Diese hatte ihn nicht nur um die Übergabe des Briefes gegeben, sondern ihn auch aufgefordert, mündlich von ihrem Leid zu berichten (vgl. RvB, V. 7249–7252), ihm ihre Treue zu versichern (vgl. RvB, V. 7258–7261), ihm mitzuteilen, sich zu beeilen (vgl. RvB, V. 7262) und ihn zu bitten, ihr Unglück zu wenden (vgl. RvB, V. 7273).

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Worte sinnhaft abgeschlossen werden. Ebenso stellt die Sprecherstimme am Ende des Briefes eine Verbindung zum Botenbericht her: Der Angesprochene solle das, swaz dir mit munde wirt verseit von dem knappen, der von mir disen brief antwürtet dir (RvB, V. 7590–7592)

als wahr ansehen. Mit dieser Erwähnung des Knappen und seiner mündlichen vorgetragenen Botschaft werden visuell rezipierter Text und auditiv aufgenommene Information sowie wiederum visuell wahrgenommener Botenkörper zu einer einem Urheber entstammenden kommunikativen Einheit, deren Bestandteile sich füreinander verbürgen.54 Brieftext und Botenrede sind darauf angelegt, einander zu ergänzen. Tatsächlich entpuppen sich die unterschiedlich vermittelten Inhalte nicht als redundant. Während der Bote zunächst allgemein von Leid, Sehnsucht und Hilfsbedürftigkeit der Königstochter spricht (vgl. RvB, V. 7485–7488, 7495–7503), befinden sich die Details der emotionalen Notlage und Erlösungshoffnung im Brief Yrkânes in behutsam gewählten, wohlkomponierten und überzeugenden Worten (s. Kap. 4.3.3). [D]es knappen munt (RvB, V. 7606) teilt im Anschluss wiederum die wichtigen konkreten Informationen – den kampf, den tac und ouch die stunt (RvB, V. 7610) – mit.55 Die Verhandlung von Gefühlen – so deutet diese Passage

54 Die Sprecherstimme des Briefes (s. zu der Bezeichnung Anm. 4/227), die sich im ersten Teil des Briefes eindeutig als Yrkâne identifiziert (ich sorgen rîch Yrkâne, RvB, V. 7556), steht im obigen Zitat dafür ein, dass der Knappe in ihrem Auftrage spricht, während der Bote betont, dass der Brief direkt Yrkânes Wünsche zu ihm trägt (disen brief/dâ vindet ir irn willen an, RvB, V. 7491). Wenzel stellt bereits in Bezug auf diese Textpassage, fest, dass beide medialen Formen sich gegenseitig zu stützen und die Informationen der jeweils anderen Form zu verändern vermögen (vgl. Wenzel, Boten und Briefe, S. 94). Der Vorteil einer von zwei medialen Trägern ausgeführten Fernkommunikation ist die Möglichkeit, die Nachricht doppelt zu authentifizieren und damit die Raumüberwindung der richtigen Informationen sicherzustellen. Selbiges Zusammenwirken von Brief und Bote beobachtet Kiening für Gawans Brief an Artus/Ginover in Wolframs Parzival. Der Brief übermittle die Informationen, der Bote sorge für die intendierte Aufnahme, sichere also die sich aus der Schrift ergebende Problematik der statischen, aber interpretationsanfälligen Form ab (vgl. Kiening, Körper und Schrift, S.  21; das Beispiel verwendet – ebenfalls mit Bezug auf Kiening, Körper und Schrift – auch Martschini, Schriftlichkeit, S. 298). 55 Schubert führt genau diese Textstelle aus dem Reinfried von Braunschweig als Beleg dafür an, dass die mündliche Vermittlung hier Vorrang gegenüber der schriftlichen Form der Fernkommunikation hat, da hier die relevanten Informationen vermittelt würden (vgl. Schubert, Love-Messages, S. 40f.). Ohne eine solche Hierarchisierung vornehmen zu wollen, lässt sich zumindest festhalten, dass die einzelnen Informationsarten auf die unterschiedlichen medialen Formen aufgeteilt werden.

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an – bedarf genauer Formulierung, betrifft einen intimen, privaten Bereich und eignet sich daher weniger für die mündliche Vermittlung über eine Botenfigur; die Daten und Fakten allerdings scheinen zumindest in dem hiesigen Beispiel des im Sinne der Überzeugung durch emotionale Involvierung den Gefühlen zugewandten Briefes fehl am Platz. Da bei ihnen die Korrektheit der Angaben, nicht aber die genaue Formulierung relevant ist, bietet sich die Auslagerung dieser Informationen auf den Boten an. Es bedarf sowohl der Rezeption des subjektiv und emotional gefärbten Brieftexts Yrkânes als auch der ergänzenden Worte des Boten, um die gesamte Botschaft zu erhalten. Nach Ablauf dieses multimedialen Prozesses meldet sich der Bote erneut zu Wort und überschreitet nochmals sichtlich die Funktion eines Briefträgers: [M]it völleclîche herzen gir (RvB, V.  7617) berichtet er Reinfried von seinem Eindruck der leidenden Yrkâne. Er präsentiert sich selbst als emotional in die Angelegenheit involviert und kann aus diesem Zustand heraus im Sinne Yrkânes progressiv auf Handlung drängen.56 Dementsprechend positioniert er sich und gibt – ungefragt – Rat, was zu tun ist. Er fordert Reinfried auf: den rât müezt ir kürzen und ûf die vart iuch schürzen ob ir went ir ze helfe komen. tuont ir des niht, sô hât genomen ein ende iuwer werdekeit (RvB, V. 7619–7623)

Die Ausführungen gehen in dieser Weise weiter. Der Bote betont, dass Reinfried einen Hilferuf von einer so vornehmen und schönen Dame ohne Ehrverlust gar nicht ablehnen könne, er als Verantwortlicher an der Situation in jedem Fall zu Hilfe gegenüber der Schuldlosen verpflichtet sei und seine Auftraggeberin weiter leiden müsse, wenn er nicht eingreife (vgl. RvB, V. 7624–7643). Schließlich kommt er erneut darauf zu sprechen, dass die Ignoranz dieses ihn verpflichtenden Kampfes ihn Ruhm und Ehre kosten könnte (vgl. RvB, V. 7644–7650). Am Schluss seiner Rede verweist er auf die Situation, in der er von Yrkâne über alle Umstände der Angelegenheit unterrichtet wurde, um auch auf persönlich emotionaler Ebene Überzeugungsarbeit zu leisten. Der Eindruck ihres bitterlichen Weinens habe ihn selbst ergriffen und ihm jâmers vil (RvB, V. 7657) beschieden. Er erklärt

56 Vgl. auf die Ausführungen zur Affizierung des Publikums durch Affizierung des Redners in bekannten Rhetoriklehren bei Lechtermann, Christina: Von wem, ze wem, waz, wie und wenne: Redeordnungen. In: Ordnung und Unordnung in der Literatur des Mittelalters. Hrsg. von Wolfgang Harms/C. Stephen Jaeger/Horst Wenzel, Stuttgart 2003, S. 81–95, hier S. 89–91; s. aus‑ führlicher Anm. 4/155.

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sein Engagement, macht aber ebenso durch die Erwähnung seiner Erfahrung nachvollziehbar, wie eindrücklich die Begegnung mit Yrkâne gewesen sein und welches Ausmaß ihr Leid demnach angenommen haben muss. Der Eindruck der Erschütterung veranschaulicht dem Empfänger die Sendesituation, reichert die überlieferte Botschaft und den Brief weiter mit augenzeugenschaftlich authentifiziertem Kontext57 an, drängt so auch unabhängig von der konkreten Aufforderung auf eine schnelle Entscheidungsfindung zugunsten der Unterstützung Yrkânes.58 In dieser Szene entwickelt sich der Bote wegen seiner Empathie zu einem Kontext- und Ratgeber, der die Situation bewertet, Schlussfolgerungen zieht und seiner Meinung darüber, was angemessen und notwendig ist, Ausdruck verleiht. Mit seinen scharfen Worten unterstützt und verschärft er in nicht unerheblichem Maße die zuvor multimedial vermittelte Botschaft und macht ein Versagen der Hilfe geradezu undenkbar. Ob diese Überzeugungsarbeit nötig gewesen wäre, ist dem Text nicht genau zu entnehmen, da auch der Brief bereits große Wirkung auf Reinfried zeigt (s. Kap. 4.3.3). Das Engagement des Boten forciert aber Schnelligkeit und Festigkeit der Entscheidung, die Reinfried auf seine Worte hin verkündet, vermag jenen aus der Schockstarre emotionaler Ergriffenheit, die die Brieflektüre bei ihm auslöst, zu wecken.59 Er gibt bekannt, Yrkânes Bitte um jeden Preis nachzukommen,60 und dankt dem Boten ausdrücklich für seine Unterstützung bei dieser Entscheidungsfindung: der triuwen rîche guote sprach ,du hâst gerâten wol. rîchen ich dich iemer sol (RvB, V. 7718–7720)

Noch deutlicher von der medialen Eigenwertigkeit von Bote und Brief in ihrer Kombination spricht die zerdehnte Kommunikation im Apollonius, die Diomena,

57 Die Aussagen in Brieftext, Botenwort und Botenkörper stimmen miteinander überein, verbürgen so füreinander, wie die jeweilige mediale Form es für die andere tut. Ein Auseinandertreten einer Botschaft und der Augenzeugenschaft der TextrezipientInnen hingegen schildert der Apollonius anhand des Königs Glorant und seines Boten (vgl. Kap. 4.2.2). 58 Auch der Ausdruck der eigenen Ergriffenheit durch das Erlebte ist also Teil seines Vermittelns und eine vom Text akzentuierte Chance personaler und mündlicher Fernkommunikation. 59 Martschini bezieht sich vor allem auf die Schilderung der Reinfriedschen Reaktion in den Versen RvB, V. 7599–6613 (vgl. Martschini, Schriftlichkeit, S. 267). Überzeugend ist die in dieser Stelle auffallende Verknüpfung des ,Zu-Sich-Selbst-Kommens‘ mit den Worten des Boten: […] dô er in vernam/und wieder zuo in selben kam (RvB, V. 7597f.). 60 Er sagt: swaz mir dâ von beschicht,/sô wil ich belîben niht,/solt ich iemer sterben (RvB, V. 7661– 7663).

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Apollonius’ dritte Ehefrau, infolge seines Ehebruchs initiiert.61 Was diese Szene, in der Diomena zunächst die Verbindung zu lösen, später den Bruch wieder zu kitten versucht, der besprochenen Textpassage aus dem Reinfried ähnlich macht, ist die Tatsache, dass sowohl Aussende- und Empfangsprozess – und das in diesem Falle sogar zweimal – auserzählt werden und somit die Rolle der Mittlerinstanzen gut sichtbar wird. Um ihren Beschluss der Trennung mitzuteilen und gleichzeitig auch auszuführen, schickt Diomena ihren Ritter Cleopacras zu Apollonius (vgl. AvT, V.  14321–14338). Die Ausstattung mit einem Namen62 lässt erahnen, dass der Bote mehr als nur ein Überbringer einer Briefbotschaft ist. Seine Aufgaben sind den Anweisungen, die Diomena ihm gegenüber äußert, zufolge recht vielfältig: Reyt hin zu Montaplin! Se, hin nym das vingerlein Dort an di hant dein: So mag dich niemand gesehen, Du solt dann fleissiclichen spehen Wa er den sigestain habe: Den nym im und trage in her abe. So gib im dan das vingerlein Und sprich ‹mein fraw di kunigein, Di schone Diamena Von Lisemunt und von Crisa Hatt dir das vingerlein gesant.› Stosset er es dan an di hant … Un pirg dich dan mit dem staine Und ge drat von Montiplaine.’ (AvT, V. 14324–14338)

Da hier in einem rituell anmutenden Zusammenhang Ringübergabe und Sprechakt vollzogen werden sollen und der sigestain (s.  Kap.  6.3.1) von Apollonius zurückzuholen ist, ist es plausibel, dass Diomena diesen Dienst einer vertrauten Figur überantwortet. Zugleich wird deutlich, dass die besonders wichtigen Teile dieses Fernkontakts gar nicht ohne einen Boten zu vollziehen wären. Denn das heimliche Ausspähen und Inbesitznehmen des Steins und die Handlungen zur rituellen Beendigung der Beziehung – zwei Drittel des Auftrags – können nicht

61 Vgl. für den Kontext Anm. 4/24. 62 Sie sendet nicht einen beliebigen Botschafter, sondern einen ihr nahestehenden ritter (AvT, V. 14321), um sich vor Apollonius vertreten zu lassen. Es handelt sich neben Lielfant um die einzige namentlich benannte Botenfigur im Textkorpus; in ihrer Interaktion mit ihm bezeichnet Diomena ihn als frewnt mein (AvT, V. 14323).

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ohne den Einsatz einer direkt mit Apollonius interagierenden Person realisiert werden. Der Brief, den Dimonea ihm auch mitgibt und den Cleopacras Apollonius überreicht, als dieser sich nicht allzu betrübt über das Ende der Beziehung und die damit genossenen Vorzüge gibt (vgl. AvT, V. 14354–14395; s. Kap. 5.2.1), findet zuvor in ihrem Auftrag keine Erwähnung. Jener dient der Erklärung und emotionalen Begründung der durch den Boten stellvertretend für die Auftraggeberin vollzogenen Handlungen des Beziehungsabbruchs (s. Kap. 4.2.2). Hier greifen in noch stärkerem Ausmaße als in dem geschilderten Fall im Reinfried die medialen Potenziale der einzelnen Formen für die erfolgreiche und vollständige Fernkommunikation ineinander. Ähnlich wie dort werden die Inhalte, die sich auf die Beziehung zum Empfänger beziehen und die Gefühle der Senderin darstellen, in Schriftform vermittelt (s. Kap. 4.3.2), während der Bote für den Kontext und den offiziellen Akt – in diesem Fall der Freundschaftsaufkündigung – zuständig ist. An Cleopacras’ Einsatz ist aber auch erneut zu beobachten, in welcher Weise die lebende und mitdenkende mediale Form sich auch über den Auftrag hinaus und doch im Sinne des Auftrags in die Nachricht einbringen kann, da hier im Gegensatz zu vielen anderen Szenen Aussendung wie auch Ausführung mehrmals dezidiert geschildert werden. Diomenas Vorgabe, was Cleopacras zu Apollonius zu sagen hat, ist kurz und daher problemlos memorierbar. Dennoch wird gerade in der zeitnahen Darstellung von Auftrag und Ausführung deutlich, dass der Ritter zwar alle Verhaltensvorgaben genau einhält,63 jedoch den Wortlaut ändert und ergänzt. Die Auskunft, wer Apollonius den Ring sendet, paraphrasiert er, indem er den aufgetragenen Satz ein wenig, aber bedeutungsergänzend umstellt: Aus […] ‹mein fraw di kunigein, Di schone Diamena Von Lisemunt und von Crisa Hatt dir das vingerlein gesant.‘‹ (AvT, V. 14332–14335)

wird […] ’ditz vingerlein hat dir gesant Diamena di kunigein Und mant dich an die treuwe dein.’ (AvT, V. 14350–14352)

63 Vor seinem Aufbruch versichert Cleopacras bestätigend: ‘frawe, das sey geschehen: (AvT, V. 14339) und auch die Erzählinstanz bestätigt, dass Cleopacras genau das tut, was von ihm verlangt wird (Er det das in sein frauwe hieß, AvT, V. 14343).

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Der Fokus verschiebt sich auf das in der Situation zentrale Objekt des Ringes. Außerdem fügt Cleopacras hinzu, dass Diomena Apollonius an sein Treueversprechen erinnern wolle, versprachlicht also die dem sogleich danach ausgeführten Vorgang des Ringansteckens beizumessende Funktion, stellt eine Verbindung her zwischen der gebrochenen und nun zu erinnernden Treue und dem Ringgeschenk. Damit macht er für den zuvor nichtsahnenden Apollonius bereits deutlich, dass sein Treuebruch bemerkt worden ist und dass das, was nun durch die Kraft des Ringes geschieht, als Konsequenz dieses Vergehens zu betrachten ist. Cleopacras’ kleiner Eingriff in die ursprüngliche Botschaft passt diese dem Wissensstand seines Empfängers an und macht deutlicher, was die Ereignisse bedeuten. Erneut schaltet der Ritter sich ein, als Apollonius’ Reaktion auf die Rückverwandlung seiner Gestalt vom Jüngling zum gealterten und bärtigen Mann durch den angesteckten Ring (vgl. AvT, V. 14359–14366; s. dazu Kap. 5.2.1) anders als erwartet ausfällt. Auf die Aussage hin, seine wahre Erscheinung sei ihm lieber als das geschönte Abbild (vgl. AvT, V.  14384–14388), melte (AvT, V.  14389) sich Cleopacras und berichtigt den in dieser Aussage offenbar werdenden Eindruck der Befreiung. Diomena halte seine vorherige äußerliche Verkehrung angesichts seiner unstete (AvT, V. 14393) für unverdient (vgl. AvT, V. 14390–14393). Die soeben von Apollonius als lange überfällig gedeutete Verwandlung beschreibt er als eine Veränderung, die auf das Vergehen der Untreue, auf einen Makel Apollonius’, verweist. So wie Yrkânes Bote der bereits richtig aufgenommenen Botschaft angesichts der gelähmten Reaktion Reinfrieds Nachdruck verleiht, interpretiert hier Cleopacras aus Apollonius’ Verhalten, dass die Botschaft noch nicht angekommen ist, und nutzt die Möglichkeit, nachzusetzen und im Sinne seiner Auftraggeberin zu korrigieren.64 Durch diese Korrektur der Lesart der Zeichen stellt er eine Kohärenz zu den Offenbarungen Diomenas im anschließend überreichten Brief her (vgl. AvT, V. 14394f.; s. ausführlich dazu Kap. 4.3.2). Cleopacras bleibt noch für eine weitere Szene die zwischen Apollonius und Diomena vermittelnde Figur. Apollonius lässt eine selbst- und gar nicht schuldbewusste Antwort ausrichten.65 Diomena richtet einen weiteren Auftrag an Cleopacras (vgl. AvT, V. 14521–14527) – dieses Mal allein auf die Worte und Handlungen

64 Das ähnelt der in anderen Szenen sichtbar werdenden Fähigkeit der Botenrede, zu aktualisieren (s. Kap. 4.2.2). 65 Cleopacras nimmt keine gesonderte Stellung ein. Apollonius weist eine Gruppe mit Cleopacras reisender Crisianer an: Nu saget der kunigynne/Das sy mercke in irem synne:/Ich hab ir liebes mer getan/Danne laydes ane wan (AvT, V. 14446–14449). Später im Bericht heißt es sagten sy (AvT, V. 14501) und Si sprachen (AvT, V. 14503).

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ihres Boten vertrauend.66 In gesteigertem Maße agiert Cleopacras dabei als Diomenas körperliches Substitut. Während er in ihrem Namen um Vergebung bittet, fällt er Apollonius wie befohlen vor die Füße67 und macht damit die Unterwerfung Diomenas performativ im Raum des Apollonius präsent, vollzieht stellvertretend für sie die Erniedrigung der reuenden Büßerin68 und unterstützt wie zuvor durch eigene Worte die Bedeutung seines Handelns.69 Apollonius vollzieht schließlich am Körper des Boten die Vergebung gegenüber Diomena, indem er sich auf die stellvertretend ausgeführte Unterwerfungs- und Entschuldigungsgeste einlässt, und ihn auffordert, sich zu erheben (vgl. AvT, V. 14572). Nur in dieser Textpassage zeigt sich so deutlich die Repräsentationsfunktion, die Boten in der von metonymischen Denken geprägten mittelalterlichen Kultur übernehmen konnten. Boten sind in diesem Repräsentation und Verkörperung zusammendenkenden Sinne „immer auch ,Teil‘ des Absenders“70 bzw. dessen stellvertretende Präsenz.71 Im wiedergegebenen Teil der Botenrede nimmt Cleopacras wieder eine die Sender-

66 Sie fordert ihn erneut auf, nach Montiplain zu reiten (vgl. AvT, V. 14521) und gibt ihm detaillierte, wenn dieses Mal auch nicht aufs Wort genaue Anweisungen (den Inhalt der gewünschten Rede erfahren die RezipientInnen lediglich summarisch in indirekter Rede). 67 Diomena weist ihn an: Valle im nider auff den fuß (AvT, V. 14522), Cleopacras viel im zu den fussen (AvT, V. 14567). 68 Ebenso ist Cleopacras es, der ihm an Diomenas statt die Zeichen ihrer Verbindung, den Ring sowie den sigestain, als Geschenk darbietet. Diomena beauftragt ihn: Pringe im den sigestain/ Wider hin zu Montiplain/Und dar zu sein vingerlein (AvT, V. 14532–14534), Cleopacras gab im den stain rot/Und dar zu das vingerlein (AvT, V. 14575f.). 69 Er richtet die in Auftrag gegebenen Grüße und das Bewusstsein Diomenas um die Wahrheit aus (vgl. AvT, V. 14523–14530, 14565–14571) und fügt hinzu, er werde ewig auf der Erde liegen, wenn Apollonius Diomena nicht verzeihen könne (vgl. AvT, V. 14568f.). 70 Müller, Datenträger, S. 92. 71 „Boten und ihre Begleitmedien beziehen sich als ,verschobene‘ Entitäten in Stellvertretung immer zurück auf eine ursprüngliche Entität, also auf den Sender und seine Nachricht, seinen Raum, seine Zeit“ (Chabr, Sabine: Komplexe Boten: Metonymisches Erzählen in Wolframs ,Parzival‘. In: Modelle des Medialen im Mittelalter. Hrsg. von Christian Kiening/Martina Stercken, Berlin 2010 [Das Mittelalter 15/2], S. 162–174, hier S. 166 sowie auch S. 163). Und darüber hinaus: „In Studien über mittelalterliche Kommunikation ist hervorgehoben worden, dass Boten im Akt der Übertragung ihrer Botschaft vor dem Empfänger mit der Stimme ihres Senders sprechen. Sie verkörpern – im buchstäblichen Sinn – in einer Zeit, in der Kommunikation überwiegend körpergebunden ist, als Übermittler von Nachrichten die Stimme ihres realitär physisch abwesenden Herrn. Zudem sind sie, als Empfänger von Antworten, auch dessen Ohren und, so darf man wohl ergänzen, können sie als Sammler von Informationen seine Augen sein. Körperlich also repräsentieren sie den abwesenden Auftraggeber, nicht nur indem sie ihn vertreten, sondern indem sie ihn anwesend sein lassen. Sie verlängern gewissermaßen die Sinnesorgane des Senders im Raum und nehmen an des Auftraggebers Statt wahr“ (Schor, Volker: Veritas und certitudo oder: Warten auf Wissen. Boten in frühmittelalterlichen Informationsprozessen. In: Engel und Boten.

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intention verstärkende Änderung vor. Ihren Nachsatz, Apollonius wisse, dass ihr Reich ganz in der Nähe sei, deutet Cleopacras aus, konkretisiert ihn zu einer expliziten Einladung und erweitert diese Aussage um die eigene Einschätzung: Wann du wilt, so soltu kommen/Das muß dir und ïr frumen (AvT, V. 14578f.). Auf Grundlage der verwendeten Pronomina vertritt Cleopacras hier seine eigene Position. Der Bote nimmt eine Doppelposition als Stellvertreter der Abwesenden, aber auch als eigenständig agierende Person ein, die von dem Empfänger Apollonius in dieser Konfiguration sowohl problemlos verstanden als auch akzeptiert wird.72 In den Szenen um Cleopacras zeigt sich, dass auch im Apollonius in der Kombination aus Bote und Brief eine multimediale Botschaft entsteht, die mit den unterschiedlichen medialen Potenzialen der Formen arbeitet. Stärker als in den Szenen um Yrkânes Unterstützer führen die Passagen vor Augen, dass einige Aufgaben der Fernkommunikation nicht allein durch einen Brief zu leisten sind, der Bote in seiner Doppelnatur als stellvertretende und performativ agierende Repräsentation des Senders und als eigenständig eingreifende, situationsabhängig ergänzende und erklärende Person einen elementaren Bestandteil der schriftgestützten zerdehnten Kommunikation ausmacht, die die Funktion des Trägers schriftlicher Fixierungen (und auch deren mündliche Ergänzung) übersteigt. Alle Textpassagen, die Boten in Verknüpfung mit Briefen ins Zentrum stellen, machen deutlich, welche Aufgaben über die Brief- oder Nachrichtenträgerschaft mit dem Botendienst verbunden sind bzw. welche besonderen Chancen die Beteiligung einer belebten medialen Form birgt. Sie bestätigen in ihren literarischen Entwürfen die Annahme, dass das Überbringen schriftlich oder mündlich verfasster Nachrichten über eine Distanz, die zwischen kommunikationswilligen Menschen besteht, in ,vorelektronischer‘ Zeit nicht einfach nur verbunden mit dem Einsatz menschlicher Träger ist.73 Boten gehen in historischer Perspektive

Hrsg. von Wendelin Knoch, Berlin 2006 [Das Mittelalter 11/1], S. 110–131, hier S. 128; vgl. auch Martschini, Schriftlichkeit, S. 305). S. dazu auch die Ausführungen in Kap. 4.2.2. 72 Apollonius trägt Cleopacras auf, Diomena etwas Versöhnliches auszurichten (vgl. AvT, V. 14581–14587), was daraus wird und wie wortgetreu der Bote diese Nachricht überträgt, bleibt allerdings verborgen, da Apollonius, an den sich das Erzählinteresse heftet, sich gleich darauf auf den Weg Richtung Tarsia macht und wie auch die Erzählung Crisia für immer hinter sich lässt. 73 Die historische Relevanz von Boten als mediale Formen ist bereits in der Forschung aufgearbeitet worden: Boten seien lange Zeit „notwendiges Instrument der Fernkommunikation“, und das „einzige Medium […], um über weite Distanzen hinweg und in Abwesenheit des eigentlichen Senders zu kommunizieren“ (Chabr, Boten, S.  163). Sie „erlauben die extreme Zwischenspeicherung von Sprache mit der Konsequenz, daß diese über Raum und Zeit hinweg transportiert werden kann. Boten ermöglichen eine Form der Kommunikation, die nicht an die Anwesenheit aller Kommunikationspartner gebunden ist, sie ermöglichen die Absenz des Absenders“

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gerade nicht in der reduzierten Funktion des Briefträgers auf. Sie sind aktiver Bestandteil aller mittelalterlicher Briefkommunikation und fungieren darüber hinaus auch als von Schrift unabhängig eingesetzte mediale Instanzen.74 Dass diese Präsenz des Boten nicht zu unterschätzten ist, jedoch auch Figuren einer Fehleinschätzung diesbezüglich unterliegen können, zeigt eine Passage im Apollonius, in der der Titelheld selbst als Bote auftritt. Er wird auf Grundlage der distanzüberwindenden Funktionalität der konventionalen medialen Form als Bote in einer artifiziell hergestellten fernkommunikativen Situation eingesetzt (s. auch Kap. 4.4.1). Die körperliche Präsenz des Boten, der als neu­traler und fast unsichtbar bleibender Briefträger eingesetzt werden soll, wird dabei in folgenschwerer Weise unterschätzt. Im Rahmen des zeremoniell geordneten Auswahlverfahrens eines Ehemannes für Lucina, die Tochter des Altistrates, bei dem Apollonius nach seiner Flucht vor der Verfolgung des Antiochius als Schiffbrüchiger Unterschlupf gefunden hat (vgl. AvT, V. 1487–1598), verfassen drei Grafen Werbungsbriefe (s. Kap. 4.4.1), welche gemeinsam durch eine an diesem Prozess unbeteiligte, aber vertrauenswürdige Person zur Adressatin, der Braut in spe, gebracht werden. Die Botenfunktion – die Bezeichnung als Bote fällt sowohl seitens der Erzählinstanz75 als auch seitens Lucinas76 – soll der inzwischen vertraute Apollonius übernehmen

(Müller, Datenträger, S.  89). Als Grundlage von Fernkommunikation gewinnen sie vor allem im Hoch- und Spätmittelalter eine entscheidende Funktion für Informationsprozesse, Sicherung und Weitergabe konkreter Inhalte (vgl. Schor, Veritas, S. 111). „Historisch gesehen war das 13. Jahrhundert das Jahrhundert des Boten“ so Kellermann/Young, You’ve got mail, S.  328 mit Verweis auf den Lexikonartikel von Thomas Szabó (Szabó, Thomas: Botenwesen, 1. Allgemein. Westliches Europa. In: Lexikon des Mittelalters Bd. 2 Bettlerwesen–Codex von Valencia, München 1983, Sp. 484–487). Erklärt wird der Zeitrahmen des postulierten Aufstiegs des Boten mit der Zunahme amtlicher Schreiben, die mithilfe dieser transportiert worden sein dürften (vgl. erneut Kellermann/Young, You’ve got mail, S. 328). 74 Mehr über die einzelnen Funktionen, die Boten über die des Trägers hinaus in historischen und den hier behandelten literarischen fernkommunikativen Prozessen übernehmen, in Kap. 4.2.2. Zur realweltlichen Kommunikationspraxis über Boten im Frühmittelalter vgl. Schor, Veritas, zur Botenkommunikation der Universitäten im Spätmittelalter s.  Hacke, Martina: Aspekte des mittelalterlichen Botenwesen. Botenorganisation der Universität von Paris und anderer Institutionen im Spätmittelalter. In: Engel und Boten. Hrsg. von Wendelin Knoch, Berlin 2006 (Das Mittelalter 11, Heft 1), S. 132–149, hier insbesondere S. 133. 75 Vor dem Auftrag Altistrates’ fragt sie bereits suggestiv: Wer soll nu der potte sein? (AvT, V. 2054). 76 Sie schickt Apollonius mit den Worten: Nu hin, ir sult mein pote sein (AvT, V. 2077) mit ihrer Entscheidung zum Vater.

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(vgl. AvT, V. 2054f.),77 obwohl Altistrates im Besitz der Briefe ist (vgl. AvT, V. 2061). Seine Funktion und die Auswahl genau seiner Person scheint zeremoniell-praktischer Natur zu sein. Das Überbringen der Werbungsbriefe durch einen Mittler ist in räumlicher Hinsicht nicht unbedingt nötig, verleiht dem Prozess aber eine der Bedeutung angemessene Feierlichkeit und gewährt die Anonymität der Briefschreiber, verhindert jegliches Einwirken des Vaters und garantiert damit die Fairness und Unabhängigkeit des Auswahlverfahrens. Hier kommt dem Boten tatsächlich nur eine Transportfunktion zu, bei der es nicht zu einer Ergänzung der Briefe durch Aussagen oder Berichte des Boten kommen soll. Apollonius scheint sich seiner Aufgabe gemäß zunächst nicht in den übermittelten Inhalt einzuschalten. Dennoch spielt er als der neutrale und uninvolvierte Überbringer, der hier gerade nicht als Repräsentation der drei Sender eingesetzt wird, eine entscheidende Rolle in dem Prozess. Ironischerweise ist nämlich dieser Bote sehr wohl involviert in die Situation. Denn Yrkâne entscheidet sich letztlich für keinen der brieflich werbenden Kandidaten, sondern richtet ihre Aufmerksamkeit und Zuneigung auf den physisch präsenten Boten (vgl. AvT, V. 2083). Es ist dezidiert die Präsenz des eigentlich wegen seiner Unbeteiligtheit auserwählten Boten im Werbungsverfahren, also in einer wenn nicht auf Minne, dann doch zumindest auf Ehe gemünzten Situation, die die bereits Gefühle für Apollonius hegende Lucina zu der Option, Apollonius als Ehepartner zu fordern, führt. Diese Idee entzündet sich nämlich in erster Linie an dem kurzen Beratungsgespräch, das sie mit dem Boten führt (vgl. AvT, V. 2066–2076). Nachdem sie festgestellt hat, dass sie in den Briefen keinen geliebten Menschen erkennt (vgl. AvT, V.  2063), fragt sie Apollonius nach seiner Meinung,78 woraufhin dieser nur antwortet, sie solle denjenigen wählen, der ihr am besten gefalle, da sie diese Freiheit besitze (vgl. AvT, V. 2069–2071). Erst diese Aufforderung scheint den Reflexionsprozess anzuregen, in dem ihr klar wird, wer ihr nicht unter den Bewerbern, sondern unter allen Männern der liebste ist. Denn darauf antwortet sie – um die Unangemessenheit ihrer Zuneigung zu dem vermeintlich nicht ebenbürtigen Apollonius wissend79 –, sie wünschte, er habe ihr diesen Rat

77 Altistrates wendet sich ihm gezielt zu und weist ihn an ,Pringet sy meiner dochter hin (AvT, V. 2056). 78 Egidi interpretiert das als Versuch Lucinas, die Face-to-face-Botensituation umzumünzen – jedoch erfolglos, da Apollonius in seiner stellvertretenden Königsposition Bote bleibe (vgl. Egidi, Schrift, S. 160). Im Ratgeben repräsentiert Apollonius den Vater, der möchte, dass sie ihre Wahl trifft (sie solle auf Grundlage entscheiden [w]elchen sy geren welle han, AvT, V. 2059). 79 Die Zuneigung der Königstochter zu dem zu diesem Zeitpunkt noch nicht als respektabler König Apollonius, sondern vielmehr als schiffbrüchiger Geflüchteter und Lehrmeister bekannten Apollonius scheint auch ihr unangemessen. Das zeigt sich nicht nur in der Bestürzung

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nicht gegeben und bereitet die Bitte um den scheff pruchen (AvT, V. 2083) – also Apollonius – vor (s. auch dazu Kap. 4.4.1). Der Verlauf des Gesprächs impliziert, dass sie vor diesem Rat noch nicht vorhatte, Apollonius zu nominieren, sich jedoch angesichts seiner Präsenz in diesem Verfahren und des Rats, nach eigener Präferenz zu wählen, ihres Wunsches und der Möglichkeit, diesen umzusetzen, gewahr wird. So hat Apollonius trotz der ursprünglichen Funktionalisierung der Botenrolle als Briefträger im Rollenwechsel zum Ratgeber einen erheblichen Einfluss auf die Aufnahme der Nachricht und fungiert geradezu gegenteilig zu der Intention Altistrates’. Statt als Unbeteiligter die Entscheidung Lucinas für einen der werbenden Grafen nicht zu beeinflussen, wirkt gerade er durch seinen Botengang und die Herstellung einer Verbindung zwischen seiner Person und der bevorstehenden Vermählung auf Lucinas Entscheidungsfindung ein. Lucinas Entscheidung könnte auch als Hinweis darauf gelesen werden, dass hier die Limitierung der Präsenzmachung durch Text gegenüber dem physisch Präsenten dargestellt wird. Die Grafen haben – so ließe sich argumentieren – auch deswegen keine Chance, da ihre schriftlich evozierten Bilder ihrer Persönlichkeit trotz aller inbrünstigen und in ihrer Stereotypik der Bilder angemessenen Zuneigungsbekundungen (s. Kap. 4.4.1) blass gegenüber der körperlichen Anwesenheit des Apollonius wirken. In jedem Falle veranschaulicht die zuletzt in den Blick genommene Passage, inwiefern ein Bote durch die ihm eigene Doppelnatur von Stellvertreter bzw. Botschaft und eigenständig wahrgenommener Person die reduzierte Funktion der Trägerschaft unterlaufen kann. Boten sind – so zeigen alle angesprochenen Passagen – nicht als zweitrangiger, vernachlässigbarer Bestandteil brieflicher Kommunikation zu verstehen. Sie besitzen eigene über die physische Distanzüberwindung hinausgehende mediale Potenziale. Denn auch in Anbetracht schriftlich fixierter Botschaften ist ihre Interaktionsmöglichkeit im Rahmen des Rezeptionsprozesses schriftlicher Nachrichten wichtig, Botenkörper und Botenrede werden mit dem Einsatz von Schriftträgern nicht obsolet. Während Schrift bestimmte Formulierungen fixieren und damit die originalgetreue Überlieferung einer konkreten Wortfolge sicherstellen kann, vermögen Botenworte und -körper die Texte mit der Interpretation, der diese bedürfen, und dem Kontext der Texterstellung anzureichern80 und so

über diesen verhängnisvollen Rat (s.  o.), sondern auch später in ihrer Botschaft an den Vater (s. Kap. 4.4.1) sowie an ihren Tränen, als ihr Vater sie persönlich nach ihrer Wahl fragt (vgl. AvT, V. 2145f.). Laut Erzählinstanz fürchtet sie, dass ihr nach dem Geständnis ihres Wunsches we geschach (AvT, V. 2144). 80 Vgl. Wenzel, Hören und Sehen, S. 254. S. auch Schubert, der darauf hinweist, dass durch den Boten die Einseitigkeit der Fernkommunikation im Rahmen der medialen Form des Briefes stückweise aufgehoben wird: „The letter without the diplomatic mediator would be a strict one-

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eine situationsadäquate Vermittlung oder ein Verständnis im Sinne des Senders wahrscheinlicher zu machen. Auch wenn über einen Großteil des hier verhandelten Textmaterials Boten wie meist in mittelalterlicher Literatur eine allgegenwärtige Randerscheinung darstellen,81 die kaum selbst in den Vordergrund rückt, so werden Botenfiguren doch in beiden Texten stets als bedeutsam in jeglichen fernkommunikativen Prozessen markiert und mit unterschiedlichen Funktionen ausgestattet. Es lassen sich außerdem markante Ausnahmen beobachten. So tauchen ausführliche Darstellungen des medialen Wirkens von Boten auf, die sich auch für die spezifischen Herausforderungen des Botendienstes, die unterschiedlichen Nuancen ihres medialen Potenzials interessieren und ihr Vorgehen dementsprechend ausgestalten. Die Passagen ergeben in der Vielgestaltigkeit der Kontexte und Konstellationen ein Panoptikum möglicher Botenkommunikationen und verlangen daher eine gesonderte Beobachtung (s. Kap. 4.2). Die Beispielpassagen haben bereits gezeigt, dass sich für die literarische Auserzählung eines Brieftextes nicht behaupten lässt, sie erfülle dieselbe Funktion wie eine ausgestaltete Botenrede. Das liegt an den unterschiedlichen medialen Potenzialen der beiden unzertrennlichen und doch distinktiven fernkommunikativen Formen. Briefe werden aus unterschiedlichsten Gründen ein­gesetzt und erfüllen in ihrem expliziten Auftrag, aber auch in ihrer impliziten Rollenvielfalt unterschiedliche, meist nur für den Einzelfall

way communication, which is impossible to modify during delivery“ (Schubert, Love-Messages, S. 40). 81 Schubert stellt in seiner Auseinandersetzung mit mündlich und schriftlich vermittelten Liebesbotschaften in der mittelalterlichen Literatur fest, dass die Person des Boten selbst so gut wie gar nicht in den meisten Texten auftaucht. Boten blieben ein anonymes Instrument, das stets nur kurz in seiner Funktion aufscheine, ohne eine eigene Kontur zu erhalten (vgl. hier S. 36). Dieses Ergebnis stimmt mit der Beobachtung Muschicks überein, die Botenfigur nehme in vielen epischen Briefwechseln eine briefträgerähnliche, nebensächliche Position ein (vgl. Muschick, Minne, S. 44). Besonders auffallend werde, so wieder Schubert, die literarische Zweitrangigkeit der Form bei den Textstellen, in denen Gruppen von Boten als eine unbestimmte und homogene, ja teilweise synchron agierende Masse auftreten (vgl. Schubert, Love-Messages, S. 36). So etwas ist auch im Rahmen des Textkorpus zu beobachten. Den Sprechakt eines per Boten vermittelten Hilfsgesuchs führt der Apollonius auf alle vier Boten zurück, indem es heißt [a]ntwurten sy (AvT, V. 7207). Die wiedergegebene Rede spricht von sich selbst im Singular ([m]ein her, AvT, V. 7216; ich sag, AvT, V. 7229; [i]ch rede, AvT, V. 7235; jedoch: [w]ir sind, AvT, V. 7218). Eine Masse an Boten lässt sich für eine Partie in der Botenpassage um Cleopacras feststellen. Apollonius schickt nicht nur diesen, sondern auch eine Menge Crisianer Ritter zurück zu Diomena, die im Plural angewiesen werden, etwas zu überbringen (vgl. AvT, V. 14446–14449) und auch als Masse sprechen (vgl. AvT, V. 14501, 14503).

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beschreibbare82 Funktionen für die mit ihnen interagierenden Personen. Aufgrund dieser Funktionsvielfalt83 ergeben sich aus der Integration des Phänomens als Textelement vielzählige narrative Möglichkeiten, welche die mittelhochdeutsche Literatur ausgiebig nutzt. Wand-Wittkowski zählt in ihrer umfassenden Aufarbeitung der weltlichen und religiösen Briefe der deutschsprachigen Literatur über fünfhundert Briefeinlagen in über vierzig Romanen.84 Die Ansprüche und Erwartungen, die mit der schriftgestützten Form der Fernkommunikation verknüpft sind, heben Briefeinlagen und Botenberichte – so deutet sich bereits in den Beispielen an – voneinander ab. Während die Botenrede spontan reagieren kann, sich aber nicht unbedingt an einen konkreten Wortlaut hält, sondern – durchaus im Sinne des Senders – ergänzt, aktualisiert, verstärkt oder korrigiert, garantiert die festgefügte Abfolge von Schriftzeichen auf einem beständigen Trägermaterial die Stabilität einer genauen Formulierung. Sie authentisiert einen

82 Hier sei auf Ulrich Ernst verwiesen, der die Schwierigkeit einer differenzierten Brieftypologie anspricht (vgl. Ernst, Schriftlichkeit, S. 309). Bei ihm werden hauptsächlich öffentliche und private Briefe unterschieden. 83 Briefe sind „das wichtigste Vehikel der rechtlichen und administrativen, aber auch der geistlichen und einer im weiteren Sinn kulturellen Verständigung zwischen diesen Institutionen und zwischen deren Angehörigen“ (Krautter, Asci ore ad os, S. 155). Die Beschäftigung mit literarischen Briefen gewährt daher Einblicke in unterschiedliche Bereiche. Briefe verbinden, so heißt es bei Kellermann/Young „Schriftlichkeit und Körperlichkeit, Artifizialität und Materialität, Fiktion und Didaxe; sie thematisieren Gefühle und transportieren rhetorische Tradition“ (Kellermann/Young, You’ve got mail, S.  319). Die Beschäftigung mit den Briefpassagen der höfischen Epen erlaube folglich eine Diskussion nahezu aller ästhetischer, struktureller und kommunikationstheoretischer sowie vieler inhaltlicher Fragen (vgl. ebd.). Auch Wand-Wittkowski macht deutlich: „Besonders der Brief im Roman bietet von der Liebeserklärung bis zum Reisebericht und zur philosophischen Betrachtung ein breites Spektrum an Inhalten, das Mitteilungen aller Art umfaßt“ (Wand-Wittkowski, Briefe, S. 9). 84 Vgl. hier S. 9. Die früheren zugänglichen Briefe privaten Inhalts entstammen allesamt literarischen Texten (Briefeinlagen), welche es bereits in antiken Texten gibt (vgl. Ernst, Schriftlichkeit, S. 308). Private Alltagsbriefe sind hingegen erst ab 1305 überliefert (vgl. Wand-Wittkowski, Briefe, S. 28; Golz, Brief, S. 252; mehr zum lateinischen und volkssprachlichen Brief in privater Korrespondenz bei Holtorf, Brief, hier Sp.  663–665). Ab Ende des fünfzehnten Jahrhunderts nimmt die Anzahl der deutschsprachigen überlieferten Briefe deutlich zu (vgl. Golz, Brief, hier S 252), die Dokumentation der Briefüberlieferung bleibe im Hinblick auf die Zeit vor 1700 allerdings weiter sehr lückenhaft (vgl. hier S. 253f.). Das liegt zum Teil daran, dass es in der mittelalterlichen Gesellschaft erst ab Mitte des vierzehnten Jahrhunderts zu einer raschen und kontinuierlichen Verbreitung der Schreib- und Lesekompetenz kommt (vgl. Wand-Wittkowski, Briefe, S. 32). Ein ausführlicher und kategorisierender Katalog der literarischen Briefeinlagen befindet sich bei Wand-Wittkowski auf den Seiten 336–353. Die hiesige Untersuchung kann und muss sich daher nicht als Aufarbeitung der Textsorte ,Briefeinlage‘ im Allgemeinen verstehen, sondern widmet sich ihr in einem spezifischen Rahmen.

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genauen Wortlaut als den, der vermittelt werden soll,85 kann damit auch über räumliche oder zeitliche Grenzen hinweg die originäre, unverfälschte86 Aussage in theoretisch unendlicher Wiederholung verfügbar machen.87 Die in Worte ge­fassten Gedanken können durch den Auftrag auf oder die Gravur in eine transportable Materialität88 vom Körper der veräußernden Person und dessen Aufenthaltsort abgelöst werden und doch stabil bleiben.89 Doch bietet die Fixierung in

85 „Die sachliche Leistung der Schrift – neben der raum-zeitlichen und sozialen – besteht darin, Authentizität von Aussagen zu garantieren“, so Gansel, Macht, S. 56. Schmale hält fest, dass ein Brief „die Kommunikation mit dem Abwesenden [ermöglicht], als ob man mit ihm selbst spräche (quasi viva voce), und gewährleistet, daß der Empfänger (Adressat) die Mitteilungen des Absenders unverfälscht erhält“ (Schmale, Brief allgemein). Zum Schutz vor Veränderung der Nachricht durch die Fixierung s. die Literatur in Anm. 4/89. 86 Gemeint ist die Verfremdung der Botschaft durch die Stimme und den Körper eines Boten (s. auch Anm. 4/208). 87 Das betrifft nicht allein den Wortlaut, sondern auch die darin erfahrbare Senderperson. Wie sehr man im Mittelalter davon ausging, dass die Eigenheit einer Person bzw. seines Sprechens und Formulierens in die Schrift übergehen konnte, zeigt sich bspw. in der Äußerung Bernhards von Clairvaux, der, so berichtet Peter von Moos, „einen Brief unversiegelt mit der Bemerkung abschickte, die Empfänger würden ihn schon an seinem Briefstil erkennen. Ähnlich bemerkte Petraca, er habe seinem Brief kein besonderes Beglaubigungszeichen beigefügt, da der angesprochene Freund ,die Stimme des Sprechenden‘ ohnehin kenne“ (von Moos, Peter: Einleitung. Persönliche Identität und Identifikation vor der Moderne. Zum Wechselspiel von sozialer Zuschreibung und Selbstzuschreibung. In: Unverwechselbarkeit. Persönliche Identität und Identifikation in der vormodernen Gesellschaft. Hrsg. von dems., Köln, Weimar, Wien 2004 [Norm und Struktur 23], S. 1–23, hier S. 13). Er bezieht sich dabei auf die Textstellen Bernhard von Clairvaux Ep. 304 (Bernardi opera VIII, S.  221) und Petraca, Liber sine nomine, EP. 11, ed. P. Piur, 1925, S. 204) zit. n. von Moos. 88 Schrift ist an Sichtbarkeit gebunden und damit an Materialität unterschiedlichster Form (vgl. Ehlich, Konrad: Schrift, Schriftträger, Schriftform. Materialität und semiotische Struktur. In: Materialität und Schrift. Hrsg. von dems./Erika Greber/Jan-Dirk Müller, Bielefeld 2001 [Schrift und Bild in Bewegung 1], S. 91–112, hier S. 92). Auf ihr ist es – unter der Voraussetzung eines funktionierenden Botendiensts – möglich, den physischen Raum zu durchqueren. Die Trägermaterialität kann unterschiedlicher Qualität sein (vgl. Mazal, Otto: Geschichte der Printmedien und ihrer Erforschung I: Buch und Broschüre I: Technik. In: Medienwissenschaft. Ein Handbuch zur Entwicklung der Medien und Kommunikationsformen. Teilband 1. Hrsg. von Joachim-Felix Leonhard u. a., Berlin, New York 1999 [Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft], S. 439–443, hier S. 439). So sind Tontafeln Beschreibstoff für altorientalische Briefe, während in der römischen und griechischen Kultur Wachstafeln, Papyrus und Pergament verwendet wurden. Im Frühmittelalter setzt sich Pergament, im Spätmittelalter Papier durch (vgl. Schmale, Brief allgemein). 89 Vgl. Schnyder, Schrift und Liebe, S. 9. Schrift „löst Sprache aus der Bindung an die Flüchtigkeit des Lautlichen“, so Ehlich, Konrad/Greber, Erika/Müller, Jan-Dirk: Einleitung zum Themenband. In: Materialität und Schrift. Hrsg. von dens., Bielefeld 2001 (Schrift und Bild in

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Schriftzeichen die Möglichkeit, überlegt, präzise und pointiert90 zu formulieren, geschickt am Entwurf des eigenen Selbst und des Angesprochenen zu arbeiten,91

Bewegung 1), S. 9–16, hier S. 9; s. auch Wenzel, Horst: Imaginatio und Memoria. Medien der Erinnerung im höfischen Mittelalter. In: Mnemosyne Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung. Hrsg. von Aleida Assmann/Dietrich Harth, Frankfurt a. M. 1991 (Fischer anfangs 10724), S. 57–82, hier S. 63; Schnyder, Mireille: Imagination und Emotion. Emotionalisierung des sexuellen Begehrens über die Schrift. In: Codierungen von Emotionen im Mittelalter. Hrsg. von Stephen Charles Jaeger/Ingrid Kasten, Berlin 2003 (Trends in Medieval Philology 1), S. 237– 250, hier S.  249; Ernst, Schriftlichkeit, S.  255; Debray, Mediologie, S.  53. Zur Errungenschaft schriftlicher Kommunikation, Nachrichten bei der Überwindung von Raum- und Zeitgrenzen zu stabilisieren, Informationen von Sänger oder Sprecher zu lösen vgl. Sieger, Bernhard: Vögel, Engel und Gesandte. Alteuropas Übertragungsmedien. In: Gespräche – Boten – Briefe. Körpergedächtnis und Schriftgedächtnis im Mittelalter. Hrsg. von Horst Wenzel, Berlin 1997 (Philologische Studien und Quellen 143), S. 45–62, hier S. 56; Wenzel, Boten und Briefe, S. 86. Bereits 1975 betont Honnefelder die Irreversibilität der Äußerung durch schriftliche Ablösung vom Urheber gegenüber mündlicher Weitergabe: „Einmal schriftlich fixiert, löst sich das Geschriebene vom Schreiber ab, die Mitteilung wird in ihrer Gestalt endgültig und in dieser Form von Seiten des Schreibers irreversibel“ (Honnefelder, Brief, S. 9). Die Teilvorgänge dieser Ablösung, Fixierung und Raumüberbrückung lassen sich wie folgt beschreiben: „Ein Zeichensystem der gesprochenen Sprache wird in einen adäquaten, linear angeordneten Code alphabetischer Zeichen umgewandelt, die optisch, d.  h. über den Gesichtssinn wahrgenommen werden. Ergebnis dieses Transformationsvorganges ist ein (eindimensionaler, linearer, diskursiver) schriftlicher Text auf der (zweidimensionalen, graphischen) Oberfläche eines (dreidimensionalen, materiellen) Textträgers, dem Brief im gegenständlichen Sinne. Seine Funktion besteht nun vor allem darin, künstliches Gedächtnis zu sein, das in unterschiedlichem Maße der Unterstützung oder Ergänzung des Botengedächtnisses dienen oder ganz an dessen Stelle treten kann. Dieser Zweck ist (erstmalig) erfüllt, wenn der Inhalt dem Empfänger zur Kenntnis gelangt. Voraussetzung für die Funktionsweise dieses komplexen Vorganges sind der begriffliche Charakter der Sprache sowie die Linearität des mündlichen wie auch des schriftlichen Codes, die ein hohes Maß an Übereinstimmung zwischen beiden erzeugt […]“ (Herold, Empfangsorientierung, S. 266). 90 Damit ist auch gemeint, dass der Kommunikationsbeitrag, der schriftlich in einem Brief übermittelt wird, als eine Einheit, ein zu Ende gedachtes, ununterbrochen und von spontanen Reaktionen eines Gegenübers unbeeinflusstes Ganzes, konzipiert und wahrgenommen wird (bzw. werden kann). Darauf, dass in dieser Form der Mitteilung ein zu Ende geführter Gedankengang repräsentiert ist, macht Muschick, Minne, S. 24, aufmerksam. 91 Claudia Ortner-Buchberger bemerkt zu Briefkommunikation, es handle sich beim Briefmedium um „einen Ort der Selbsterfahrung und -darstellung, der durch die Schriftlichkeit des Mediums andere Möglichkeiten eröffnet, als dies in einer face-to-face-Kommunikation der Fall ist“ (Ortner-Buchberger, Claudia: Briefe schreiben im 16. Jahrhundert. Formen und Funktionen des epistolaren Diskurses in den italienischen libri di lettere, München 2003, S.  117). Vgl. auch Schnyder, Imagination, S. 245 und Muschick, der es sich in seiner Untersuchung unter anderem zur Aufgabe macht, die Begünstigung prägnanter Figurenentwürfe durch die Integration von Minnebriefwechseln exemplarisch zu untersuchen (vgl. Muschick, Minne, S. 15, 29, wo es heißt: „Die Art und Weise, wie sich ein Mensch durch einen Brief einem Adressaten in einer

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so generiert sie zugleich die Herausforderung, Verständigungsprobleme zu antizipieren und auszuschließen. Angesichts der Empfangssituation, die es in der lesenden Aufnahme der Informationen erlaubt, jedem einzelnen Wort, jeder Formulierung in der (wiederholbaren) Lektüre ein immenses Gewicht beizumessen,92 und der gegenüber direkter oder botengestützter Kommunikation wegfallenden Möglichkeit der Korrektur93 ist es umso wichtiger, Missverständnissen (abweichenden kognitiven Schemata oder Kontexteffekten94) vorzubeugen. Angesichts der begrenzten Ressourcen für den Ausdruck des Anliegens ist es sowohl möglich als auch nötig, spezifische und konkrete Informationen auszuwählen, die auf limitiertem Platz darstellbar sind und einen so repräsentativen Ausschnitt aus der Menge an Informationen ausmachen, dass der dem Empfänger nicht direkt zugängliche Kontext95 jeweils durch die Lektüre deutlich wird.96 Angesichts der Potenziale, aber auch der Herausforderungen bei der Gestaltung eines Brieftextes vermag es nicht zu überraschen, dass Briefschreiben im Mittelalter sowohl im theoretisch-rhetorischen als auch im literarischen Bereich eine große Produktionskraft entfaltet. Mit der ars dictandi/ars dictaminis, einer

vertrauten Situation mitteilt, legt auch immer offen, welchen Blick er auf sich selbst richtet und welches Bild er von sich in der Welt wahrgenommen wissen möchte“). 92 Was Ernst über die Lektüre literarischer Werke festhält – „der Rezipient ist nicht mehr in der passiven Rolle des Hörers, dessen Rezeptionszeit mit der Erzählzeit des Vortragenden koinzidiert, sondern verfügt als Leser eines schriftlichen Werks über die Möglichkeit des Zurückblätterns, wiederholten und selektiven Lesens“ (Ernst, Schriftlichkeit, S. 253f.) – gilt auch für die Rezeption anderer Formen des schriftlichen Austauschs. 93 „Anders als bei direkter, interaktiver Kommunikation von Angesicht zu Angesicht verliert der Absender mit der Expedition des Briefes die Möglichkeit der Kontrolle über den Diskurs“ (vgl. Herold, Empfangsorientierung, S. 270). Für die Korrektur als Reaktion auf das Gegenüber durch eine Botenfigur s. o. 94 Vgl. Anm. 3/63. 95 Laut Debray ist Schrift zunächst Dekontextualisierung einer Botschaft (vgl. Debray, Mediologie, S. 53). 96 Nimmt man das Platzproblem und die Entbindung von Aussagen aus dem ursprünglichen Aussagekontext ernst, muss einzelnen Formulierungen in schriftlicher Fernkommunikation ein hoher Wert zugemessen werden, da diese sorgfältig ausgesucht werden, um den semantischen Gehalt subjektiver Erfahrung, der in direkter/mündlicher Kommunikation über mehrere Kanäle verteilt vermittelt werden kann, adäquat in die Kultursprache zu übertragen. Winkler spricht in diesem Zusammenhang von „Verdichtung“ (Winkler, Basiswissen, S. 206). Den damit verbundenen Übersetzungs-Effekt der Verschriftlichung betont Schnyder in ihrer Auseinandersetzung mit Lavinias Minnebrief (vgl. Schnyder, Imagination, S. 248). Über Schrift werde ein Gefühl zu einem symbolisch generalisierten Kommunikationsmedium, über das sich das Erlebte mitteilen und diskutieren lasse. Besonders der Vermittlung und Darstellung emotionaler Dispositionen in literarischen Brieftexten widmet sich das Kapitel 4.3.2.

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auf den Regeln der lateinischen Briefrhetorik basierenden Schreiblehre, die bestimmte Konventionen für Brieftexte vorgibt,97 erhält das Komponieren eines

97 Es handelt sich dabei um ein antikes Kulturgut, das auf die mittelalterliche (Schrift-)Kultur extrem einflussreich war: „Alles Schreiben ist im Mittelalter rhetorischen Einflüssen ausgesetzt, ist eingebunden in jene umfassende rhetorische Kultur“ (Lutz, Eckart Conrad: Rhetorica divina. Mittelhochdeutsche Prologgebete und die rhetorische Kultur des Mittelalters, Berlin, New York 1984 [Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker 82], S. 161, zum Einfluss der lateinischen Rhetorik S. 15–27). Vgl. Krautter, Asci ore ad os, der sich ausführlich mit der im frühen Mittelalter aufstrebenden Fachrichtung der ars dictaminis als Lehre vom Abfassen (lateinischer) Texte auf einem gewissen stilistischen Niveau, beschäftigt (dazu auch Wand-Wittkowski, Briefe, S.  31; Herold, Empfangsorientierung, S.  267, 269; Schmale, Brief lat. Mittelalter, Sp. 652–656), sowie Golz, der feststellt, dass die antike Brieftheorie, wie sie Artemon und Cicero entwickeln, bis ins achtzehnte Jahrhundert immer wieder aufgenommen wird (vgl. Golz, Brief, S. 251). Das Fach gehörte im Mittelalter zum Rhetorikunterricht und damit zum klassischen Trivium (vgl. Krautter, Asci ore ad os, S. 156). Wand-Wittkowski betont den lateinischen Brief als konkretes Vorbild des deutschsprachigen Briefes, auch wenn sich Aussagen über die Form des Briefes in der antiken Rhetorik nur am Rande finden (vgl. Wand-Wittkowski, Briefe, S. 31). Lutz hebt die Eigenständigkeit mittelalterlicher Regelwerke hervor. Es sei zwar davon auszugehen, dass schon antike Rhetorikschulen das Verfassen von Briefen unterrichteten (Lutz, Rhetorica divina, S. 29), die Überlieferungslage legt jedoch nahe, dass das Mittelalter „bei der Entwicklung seiner Brieflehre auf die Tradition der Briefpraxis auf eigene Überlegungen angewiesen [war]. Daß man dabei die Verwandtschaft mit der wohlbekannten antiken Rhetorik erkannte und sie in der ars dictandi deutlich zum Ausdruck brachte, versteht sich von selbst“ (hier S. 30). Lutz benennt die Aufzeichnungen Alberichs von Montecassino (Breviarium de dictamine), Adalbertus’ (Præcepta dictaminium) sowie die 1138/43 anonym überlieferten Rationes dictandi als Grundlage aller weiteren im Rahmen der Lehre erscheinenden Erörterungen (vgl. hier S. 33). Diese seien allerdings in zeitlicher Verzögerung zu der Praxis ihrer Anwendung niedergeschriebene Regelwerke (vgl. hier S. 31f.). Mit einem Verweis auf die ausführliche Darstellung der Gattungsentwicklung in Italien und Frankreich bei Hartmann, Florian: Ars dictaminis. Briefsteller und verbale Kommunika­tion in den italienischen Stadtkommunen des 11.–13. Jahrhunderts (Mittelalter-Forschungen 44), Ostfildern 2013, S. 49–153, stellen Ratzke/Schmidt die Entwicklung der Disziplin folgendermaßen dar: „Nachdem mit Alberich von Montecassino um 1075–80 die ersten Traktate im Umfeld der päpstlichen Kurie entstehen, entwickeln sich im 12./13. Jahrhundert die Städte Oberitaliens, besonders Bologna, zu Zentren der Briefrhetorik (Adalbert von Samaria, Hugo von Bologna, Bernhard von Bologna, später Boncompagno, Bene von Florenz, Guido Faba). Seit der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts wird die ars dictaminis intensiv in Frankreich rezipiert (Flores rhetorici, Bernhard von Meung, Geoffroy de Vinsauf). Von dort aus kommt es im 13. Jahrhundert zur Verbreitung im übrigen Europa. Nach einer langen Phase intensiver, aber passiver Rezeption der lateinischen artes dictandi sind im 14.  Jh. erste Formelsammlungen in deutscher Sprache beobachtbar, bis ab den 1420er Jahren die ersten deutschsprachigen Briefrhetoriken entstehen“ (Ratzke, Malena/Schmidt, Christian: Politische Rhetorik im Mittelalter und Frührenaissance. In: Handbuch politische Rhetorik. Hrsg. von Armin Burkhardt, Berlin 2019 [Handbücher zur Rhetorik 10], S.  97–116, hier S.  107; vgl. auch Wand-Wittkowski, Briefe, S. 31).

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Brieftextes den Status einer gelehrten Kunst, die Anforderungen und Probleme reflektiert und in einem Regelwerk zu bearbeiten versucht.98 Die Ausarbeitungen in den literarischen Texten sind wie erwähnt vielzählig, die mediävistische Auseinandersetzung mit diesem Phänomen fällt gemessen an seinem Auftreten zwar in den Einzelfällen aussagekräftig, insgesamt jedoch relativ dünn aus.99 Detail-

98 Mittelalterliche Briefe stützen sich häufig auf die Vorgaben solcher Lehrtexte. Auf deren Grundlage seien bestimmte Merkmale typisch für den mittelalterlichen lateinischen wie auch den sich daran anlehnenden volkssprachigen Brief. Dazu gehört vor allem ein vorgegebener Aufbau nach einem fünfteiligen, aber recht offen gehaltenen Dispositionsschema (vgl. Wand-Wittkowski, Briefe, S. 31 sowie S. 52–62; Golz, Brief, S. 252; Ratzke/Schmidt, Politische Rhetorik, S. 108, mit entsprechenden Literaturverweisen) mit ausladender Adresse inklusive Bezeichnung von Absender und Empfänger, schmückenden, stereotypen Beiworten (salutatio) im Präskript, einstimmender Eingangsformel in Form von Grüßen, Treue- und Dienstversicherungen (vgl. Wand-Wittkowski, Briefe, S. 25) (captatio benevolentiae, s. zu dieser Form und ihren Bestandteilen Wand-Wittkowski, Briefe, S. 270; Lutz, Rhetorica divina, S. 34; Krautter, Asci ore ad os, S. 163, 166) und einer Schlussformel (vgl. Schmale, Lateinisches Mittelalter, Sp. 653). Darüber hinaus beobachtet Wand-Wittkowski die Ambition, innerhalb des Brieftextes durch Formulierungsvariationen die soziale Beziehung zwischen Absender und Adressat so genau wie möglich zum Ausdruck zu bringen (vgl. Wand-Wittkowski, Briefe, S. 26; Muschick, Minne, S. 52f.). Eine Entrhetorisierung der Brieftexte beginne mit dem Humanismus, setze aber in Deutschland später als in den Nachbarländern England und Frankreich ein (vgl. Golz, Brief, S. 251) . Der Hinweis auf diese Regelwerke soll nicht dazu verführen, sie als strikte Vorgaben und Ausgangspunkt jeglicher mittelalterlicher literarischer und nicht-literarischer Brieftexte zu verstehen. „Es ist jedoch der Ansicht vorzubeugen, ein Brief leite sich grundsätzlich aus den reglementierenden Vorgaben einer Briefrhetorik ab. Die Brieflehren […] stellen nur einen Teil der epistolaren Kultur des Mittelalters dar und durchdringen nicht alle Bereiche der Korrespondenz. So weist Peter von Moos darauf hin: ,Bereits vor ihrem Entstehen im 11. Jahrhundert und gleichzeitig zu ihrer Entfaltung […] gab es ein davon mehr oder weniger unberührtes Briefwesen sowohl in der Alltagskorrespondenz (z. B. spätmittelalterlicher Kaufleute) als auch in der epistolographischen ,Hochliteratur‘. Da sich mittelalterliche Briefautoren auch häufig auf autoritative Vorbilder beziehen, deren Imitation einen wichtigeren Stellenwert einnimmt, ist die Orientierung an einer ars dictaminis keine notwendige Voraussetzung, einen Brief zu verfassen“ (Muschick, Minne, S 47, Zitat von von Moos, Briefkonventionen, S. 190f.). Ziel einer Analyse der Texte soll nicht die Feststellung des Vorhandensein oder Fehlens jener charakteristischen Bestandteile bzw. das Einhalten einer bestimmten Abfolge sein. Die Thematisierung soll vielmehr darauf aufmerksam machen, dass eine bestimmte Schematik von Brieftexten nicht unbedingt Unoriginalität, sondern einem Interesse an einem rhetorisch geschulten Aufbau geschuldet ist (vgl. auch Krautter, Asci ore ad os, S. 155f). 99 So konstatieren in ihrem Forschungsüberblick auch Kellermann/Young, You’ve got mail, S.  318f. S.  dort auch Literaturangaben zu den wegweisenden Arbeiten. Einige lieferten breite Überblicke über Briefe im höfischen Roman, andere widmeten sich sogenannten ,Liebes­briefen‘, wieder andere versuchten eine Materialsammlung literarischer Briefe mit realhistorischen Briefkonventionen in Verbindung zu setzen. Im Gegensatz zu dem bereits lange thematisierten Be-

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studien einzelner Brieftexte wie bspw. bei Kellermann/Young,100 Bussmann101 oder Baisch102 sind – wohl auch aufgrund des häufig schematischen Aufbaus literarischer Brieftexte103 – selten.104 Dabei lassen sich auch vor dem Hintergrund

reich der historischen Schriftlichkeit sowie der literarischen Repräsentation und Imagination schriftlichen Agierens (vgl. den Forschungsüberblick bei Martschini, Schriftlichkeit, S. 12–23) kann literarische Brieftextgestaltung erst „in Zeiten des Mailverkehrs, der keines Boten, ja oft nicht einmal einer elektronischen Leitung bedarf, besonderes Interesse auf sich zu ziehen“ (hier S.  16). Von den bereits länger zurückliegenden Überblicksarbeiten von Ernst Meyer (Meyer, Ernst: Die gereimten Liebesbriefe des deutschen Mittelalters, Marburg 1898), Eugen Mayser (Mayser, Eugen: Studien zur Dichtung Johanns von Würzburg, Marburg 1930; Mayser, Eugen: Briefe im mittelhochdeutschen Epos. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 59 [1935], S.  136– 147), und Helmut Brackert (Brackert, Helmut: Da stuont das minne wol gezam. Minnebriefe im späthöfischen Roman. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 93 [1974], S.  1–19) erklärt erst letztgenannter den Brief im Roman zu einem eigenständigen Werk im Werk (vgl. Kellermann/ Young, You’ve got mail, S. 318). Einen Überblick mit einem Fokus auf Brackerts Thesen und seinen Verdienst bietet Muschick, Minne, auf den Seiten 36–39. Martin Schubert untersucht das Zusammenspiel von Oralität und Schriftlichkeit im Briefeinlagenkorpus (vgl. Schubert, Love-Messages); Christiane Wand-Wittkowski erarbeitet eine Sammlung und Kategorisierung deutschsprachiger Briefe (Wand-Wittkowski, Briefe). Martschini verweist auf die Präsenz des Briefes als Anschauungsobjekt im Sammelband von Claudia Benthien und Hans Rudolf Velten (Benthien, Claudia/Velten, Hans Rudolf: Germanistik als Kulturwissenschaft. Eine Einführung in neuere Theoriekonzepte, Reinbek b.  Hamburg 2002 [rowohlts enzy­klopädie]) sowie auf die auch hier zurate gezogenen Arbeiten Hans-Jürgen Bachorskis (Bachorski, Hans-Jürgen: Briefe, Träume, Zeichen. Erzählerperspektivierung in Johann Hartliebs ,Alexander‘. In: Erzählungen in Erzählungen. Phänomene der Narration in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hrsg. von Harald Haferland/Michael Mecklenburg, München 1999 [Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 19], S. 371–391) und Horst Wenzels (Wenzel, Hören und Sehen; Wenzel, Boten und Briefe). 100 Kellermann/Young, You’ve got mail. 101 Bussmann, Astrid: her sal mir dester holder sîn,/swenner weiz den willen mîn. Variationen des Liebesgeständnisses in Heinrichs von Veldeke Eneasroman. In: Schrift und Liebe in der Kultur des Mittelalters. Hrsg. von Mireille Schnyder, Berlin, New York 2008 (Trends in Medieval Philology 13), S. 82–124. 102 Baisch, Briefwechsel. 103 Lässt dieser sich auch mit dem Bewusstsein für rhetorische Regelwerke des Briefverfassens erklären, so lässt er doch an dem Zweck und der Aussagekraft einzelner Analysen zweifeln. 104 Gerade die in Texten der Sorte ,Liebes- und Abenteuerroman‘ eingelegten Briefe stellen eine Ausnahme dar, wurden doch bereits häufiger mit unterschiedlichen Fragestellungen Einzeluntersuchungen an ihnen bemüht. Gefragt wurde nach Formen, Funktion und Autonomie der Briefe, nach gattungsgeschichtlichen und gattungssystematischen Zusammenhängen, nach ihrer Medialität und Textualität sowie nach der in den Briefen dargestellten Emotionalität (vgl. Baisch, Briefwechsel, S. 198f.). Dass Briefe im Reinfried von Braunschweig eine besondere Rolle spielen, ist in der mediävistischen Forschung bereits festgehalten worden. So vermutet Jürgens, dass im Reinfried die Briefe ein Kommentarsystem darstellen, das den Text perspektiviert (vgl.

Wider Stillstand und Zerfaserung: Boten und Briefe 

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typischer und wiederholt auftretender Elemente aus der detaillierten Betrachtung einzelner Briefeinlagen in ihrer spezifischen und auf die jeweilige Romanhandlung zugeschnittenen Variation Erkenntnisse105 über kulturelle Transgressionsstrategien106 und spezifische narrative und diskursive Funktionen gewinnen.107 Im Erzählen von fernkommunikativen Prozessen zeigt sich, welche Stärken und Schwächen der medialen Instanzen ,Bote‘ und ,Brief‘ – sowohl für sich als auch in Kombination miteinander – wahrgenommen und reflektiert werden. Die weitere Analyse soll diese konventionellen medialen Formen, die im Reinfried von Braunschweig und im Apollonius von Tyrland genutzt werden, um räumliche Distanzen zu überwinden, separat thematisieren und mit Seitenblick auf die narrative Funktionalisierung die Darstellung ihres medialen Potenzials untersuchen. Wichtig sind dabei die konkreten handlungslogischen Funktionen, denen die fernkommunikativen Prozesse untergeordnet werden, da aus diesen die entsprechenden Herausforderungen, derer sich die medialen Formen in der spezifischen Situation annehmen müssen, erwachsen. Zielführend scheint für die Betrachtung der einzelnen Szenen daher die Gruppierung nach den in den einzelnen Passagen in den Vordergrund gerückten medialen Schwerpunkten zu sein, die sich an Intention und Agenda der Kommunikation orientieren. Allgemein wird danach zu fragen sein, welche Vermittlungsfähigkeiten die Texte den medialen Formen zutrauen, welches spezifische Potenzial bestimmten Formen zugeschrieben wird und welche Inhalte die Figuren und die Texte für geeignet halten für den Transport über die räumliche Trennung. Besonderes Interesse im Detail der einzelnen Passagen gilt dann dem Botenkörper sowie der Kraft gestalteter Rede, die die Zeichen einer direkten Face-to-face-Kommunikation, die bei

Jürgens, Fürstenlehre, S. 369, Anm. 69). Vgl. ausführlicher zu den Forschungsbeiträgen zu Brieftexten im Reinfried Kap. 4.3. 105 Für Kellermann/Young sind Detailstudien die einzige Möglichkeit, die eingelegten Briefe in ihrer vollen Semantik und narrativen Syntax aufzuarbeiten (vgl. Kellermann/Young, You’ve got mail, S. 19). 106 Für alle mit der Verschriftlichung von Informationen ergebenden Probleme bilden sich kultureigene Vorgehensweisen aus. Bei Muschick heißt es: „Das Schreiben von Briefen ist keine autonome Tätigkeit, sondern wird als Kulturpraxis von zahlreichen Konventionen bestimmt“ (Muschick, Minne, S. 24). Er geht davon aus, dass „jede Zeit ihre eigenen Bilder, Metaphern und sprachlichen Formen entwickelt, die letztlich dazu dienen, sich verständlich zu machen (hier S. 46). 107 Briefeinlagen höfischer Epen erlaubten aufgrund der Relevanz von Briefen im sozialen Gefüge, so Kellermann/Young, eine Diskussion nahezu aller ästhetischer, struktureller und kommunikationstheoretischer sowie vieler inhaltlicher Fragen (vgl. Kellermann/Young, You’ve got mail, S. 319).

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einer Fernkommunikation wegfallen – Gestik, Mimik und Tonlage –, zu ersetzen versucht,108 um Nähe zu evozieren, Gefühle zu vermitteln und zu überzeugen.

4.2 Boten in hoher Mission: Mobilisierung von Informationen Mittelalterliche Fernkommunikation ist ein Kulturgut, das von einem funktionierenden Botenwesen abhängt. Daher kann es kaum verwundern, dass Botenfiguren in den literarischen Produkten des Mittelalters in entsprechender Frequenz auftauchen,109 wie die kommunikationstheoretisch ausgerichtete Forschung bereits zur Kenntnis genommen und aufgearbeitet hat.110 Das gilt  – so wurde bereits angemerkt – auch für den Apollonius und den Reinfried, die die zentrale Funktion raumüberwindender personaler Instanzen immer wieder erwähnen.111

4.2.1 Von der Nebensächlichkeit bis hin zum Abenteuer: Botenfiguren als Raumdurchquerer Zentrum jeder Botenhandlung ist die Überbrückung räumlicher Distanz zwischen zwei voneinander getrennten Kommunikationspartnern. Diesen Aspekt

108 Wenzel verweist in seinem Beitrag zur Lesbarkeit des Körpers auf die kommunikative Relevanz deiktischer Signale der nonverbalen Kommunikation (Kleidung, Bewegung, Gang, Haltung, Gestik, Mimik, Blicke, Stimmlage) (vgl. Wenzel 1988, S. 179). 109 So stellt Martschini fest: „Boten gibt es viele in der mittelhochdeutschen Erzählliteratur. Es wimmelt geradezu von ihnen“ (Martschini, Schriftlichkeit, S. 292). 110 Vgl. Martschini, Schriftlichkeit, S. 292. Vor allem für Wolframs Parzival ist bereits die hohe Dichte, Vielfalt und Komplexität von Botenszenen festgestellt worden (vgl. Stengl, Chabr, Boten). Ebenfalls mit Blick auf diesen Text, aber auch in Bezug auf Hartmanns Iwein und Ulrichs Lanzelet beschäftigt sich Lauer, Boten-Figuren, mit dem medialen Potenzial literarischer Boten. 111 Wie elementar der Bote für das Kulturgut ,Fernkommunikation‘ ist, zeigen beide Texte, indem sie ihn als Konstante in unterschiedlichen Kulturkreisen präsentieren. Selbstverständlich war historisch gesehen der Botendienst keine exklusiv europäische Form der Fernkommunikation (vgl. zum mittelalterlichen arabischen Postwesen Labib, Subhi Y.: Botenwesen 1. Arabisches Reich und seine Nachfolgestaaten, Mongolen. In: Lexikon des Mittelalters Bd. 2 Bettlerwesen– Codex von Valencia, München 1983, Sp. 487–489). Auch in den Textwelten ist das Fernkommunikation auch in ,fremden‘ Räumen etabliert. Als Reinfrieds Kreuzzug erfolgreich verläuft (vgl. RvB, V.  16253–16271, 16351–16361), ruft der ,heidnische‘ Sultan in Babylon alle befreundeten Mächte an, um im Kampf gegen die Kreuzfahrer helfend einzugreifen, wobei er sich der Kombination aus brieve und botten (RvB, V. 16578) bedient. Reinfried und der Perser befinden sich auf dem Weg in die Heimat (vgl. RvB, V.  22833), als sie einen Jungen treffen, der als Bote des

Boten in hoher Mission: Mobilisierung von Informationen 

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des medialen Potenzials bringen fast alle Szenen im Reinfried und im Apollonius zum Ausdruck, indem sie in Verbindung mit Botenfiguren auf die Fortbewegung, den zurückgelegten Weg oder den Bewegungsmodus hinweisen. Häufig tritt dieses mediale Kernpotenzial, der überbrückte Raum und die Relevanz des Boten als Mittel der Raumüberwindung, allerdings nur nebenbei auf. Besonders der Apollonius hält seine Hinweise kurz, marginalisiert den zurückgelegten Raum und zeigt Botenfiguren damit vor allem als effektive und problemlos funktionierende Lösung für die – nicht immer exorbitant große  – räumliche Distanz, die einer direkten Kommunikation im Wege steht.112 Solche Hinweise bestehen zum Beispiel darin, bei fast jeder Erwähnung eines Boten113

orientalischen Königs von Aschalon unterwegs ist (vgl. RvB, V. 22905–22921). Als Reinfried und der Perser am Hof des Königs von Aschalon eintreffen, sendet dieser hohe boten (RvB, V. 23211) zu dem babylonischen König, um ihn über das Wohlergehen seines Sohnes zu unterrichten (vgl. RvB, V. 23205–23214); der babylonische König schickt bei dem erneut aufflammenden Konflikt zwischen Riesen und Zwergen per Bote ein Hilfsgesuch auf den Weg. Als sich ein zweiter Krieg zu entspinnen droht, verlangen die Riesen gegen das zu Geiseln genommene Zwergenkönigspaar die Herausgabe Reinfrieds, der vormals den Riesenkönig getötet hatte (vgl. RvB, V. 25241–25230). Der Perser entscheidet, Reinfried nicht herauszugeben, sondern sich gemeinsam den Riesen zu stellen (RvB, V. 25344–25464), benötigt dafür aber Unterstützung, nach der er Boten aussendet (vgl. RvB, V. 25404f.). Als die Riesen, die in der Auseinandersetzung unterlegen sind, Frieden ersuchen (vgl. RvB, V. 25868), holt Reinfried von Seiten des abwesenden Landesherrn per Botendienst eine Zustimmung ein (vgl. RvB, V. 25908–25913, 25953–25972). Auch der indische König sendet einen Boten, um Reinfried seine Geschenke der Anerkennung zukommen zu lassen (vgl. RvB, V. 26170–26370). Eine ähnliche kulturelle Universalität ist im Apollonius damit angedeutet, dass die vielen fernen Länder, die Apollonius – überdies selbst ,Heide‘ und meist unterwegs in ,heidnischen‘ Gebieten – gegen Ende des Textes zu seinem Festtag einlädt, über hohe[] poten (AvT, V. 18117) benachrichtigt werden. Die im Apollonius wohl größere kulturelle Kluft, die für den Botendienst jedoch kein Problem darstellt, ist die zwischen Mensch und Monster. Denn auch die monströse Flata bedient sich eines Boten, um Verhandlungen mit den umliegenden Ländern zu führen (vgl. AvT, V. 4757–4765). 112 Auch die Figuren, die innerhalb einer Räumlichkeit überschaubaren Ausmaßes Informationen weitertragen (bspw. die Figur, die den schiffbrüchigen Apollonius zu Altistrates an den Hof bringen soll, die Figur, von der Tarsia über den verschlechterten Gesundheitszustand ihrer Amme erfährt, die Figur, die Attonagoras schickt, um Tarsia zu ihm zu holen, die Figur, die selbiger beauftragt, die Bürger zur Beratung zusammenzuholen), werden im Apollonius als pote/ poten (AvT, V. 1560, 15123, 16390, 16859) bezeichnet. 113 Bei Apollonius’ Botendienst (s. Kap 4.1.2) spielt das transgressive Potenzial der Botenfigur eine nachrangige Rolle. Hier verweist ausschließlich der Auftrag, die Botschaft zu einer Person zu bringen (vgl. AvT, V. 2057), darauf, dass jene sich in räumlicher Distanz befindet. Ein Weg oder die Fortbewegung der Figur kommt nicht zur Sprache.

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zu berichten, sie würden – meist zehandt114 – zu115 einer bestimmten Person oder einem bestimmten Gebiet gesant.116 Zwei längere Passagen, die eine Reihe benachrichtigter Gebiete in dieser Form aufzählen, heben hervor, welche räumliche Verbreitung eine Nachricht über Boten erfahren kann, ohne jedoch ein besonderes Interesse für die konkrete raumdurchquerende Leistung der Botenfiguren zu zeigen: Es wurden poten gesant Nach den fursten inn di lant. Es slugen verren di mere Das der Tyrlander Zu Metalin nu were. Er sandte gegen Anthiochia Und zu grossen Asia, Zu Sirenen und Libia, Ze Paldach und ze Wabilon, Ze Halab und ze Valkitron, Ze Persia und ze Nigropant, Ze Achers und ze Wellimont, Ze Tripel und ze Jerusalem, Zu Nasareth oder Betlehem. Er sandte ze Gallilea, Ze Sandres in Capadocia, Ze Kostinopel in Criechen. Er sandt nicht nach den siechen, Er sandt nach den starcken degen, Di ritterschaft wol kunden pflegen. Er sandte hin gein Tyro: Di lantleutte wurden alle fro. Er sandte zu Pentapolin Nach seinem schweher Altistraten̅ . Er sandte gen Egipten lant, Da hette ellenthaffte hant Ere und preyß inne pe jaget.

114 AvT, V. 1560, ,3694, 7368, 19246; alternativ auch zuhant (AvT, V. 3608); das verweist auf die bereits konstatierte Universalität der Verbreitungspraxis, die nicht jedes Mal neu erdacht, sondern von der einfach unreflektiert Gebrauch gemacht wird. 115 zu/ze: AvT, V. 3608, 3694, 4890, 5861, 10372, 17038, 17039, 17040, 17041, 17042, 17043, 17044, 17045, 17046, 17047, 17053; daneben auch [N]ach: AvT, V. 3087, 4013, 7173, 10367, 16860, 17032, 17054, 17475, 19242, 20048; gen/gegen/gein: AvT, V. 5852, 10372, 10374, 17036, 17051, 17055, 17058, 20048; in: AvT, V. 2182, 3087, 4013, 4758, 4890, 5605, 5860, 7172, 9716, 10367, 13588. 116 In den unterschiedlichen Flexionsformen des Verbs ,senden‘ vgl. AvT, V. 18117, 2182, 19241, 18109, 17474, 17031, 16859, 13578, 10366, 10371, 9715, 7368, 7171, 5859, 5605, 4889, 4757, 4012, 3693, 3607, 3086.

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Es ward gein Morland gesaget: Do hette er vil betwungen, Im was da wol gelungen, Do er strayt mit dem parte: Das lant im gerne warte. Ain foreys ward gesprochen Geleych uber vier wochen Ze Anthiochia in der statt: (AvT, V. 17031–17065)117

In einigen Fällen wird hingegen ihre Schnelligkeit erwähnt oder mit Bewegungsverben auf die (zügige) Fortbewegungsform118 referiert. Auch die umfassenderen Darstellungen von Botenreden im Apollonius implizieren ohne ein besonders ausgeprägtes Interesse für die Darstellung des physischen Aspekts den von der Botenfigur überwundenen Raum. Bei den Boten, die König Paldein ausschickt, wie auch im Fall der namenhaften Boten Cleopacras und Lielfant, wird ihre Fortbewegung zu Pferd erwähnt.119 Dass die Boten des Königs Paldein effizient im Durchqueren des Raums sind, zeigt sich daran, dass die von ihnen gemeisterte Distanz (uber veld, AvT, V.  2921) und das Ergebnis der Verbreitung (prachten fremde märe, AvT, V. 2925) thematisiert werden. Am deutlichsten bringt im Apollonius die raumverknüpfende Grundfunktion des Boten eine Botenrede selbst zum Ausdruck. Der Bote des Königs von Glorant inszeniert sich am Ende seiner Rede als raumverbindendes Element, indem er den Aufenthaltsort seines Königs nennt (vgl. AvT, V. 19139–19141) und darauf hinweist, dass er selbst sich direkt dorthin auf den Weg mache. Der Bote verspricht in seiner abschließenden Formulierung und Aufforderung [w]em nach eren stet der syn,/Der sey auff! Ich var da hin‘ (AvT, V. 19143f.) mit seiner Kenntnis des zwischen den Kommunikationsparteien liegenden Raums – es sei ungefähr ain meyl

117 Die andere erwähnte Passage befindet sich in den Versen (AvT, V. 10366–10387). 118 Vgl. für die Erwähnung der Fortbewegung zu Pferd AvT, V. 2921, 6070, 7188, 6113, in den ersten beiden Fällen auch mit Verweis auf zurückgelegte Räume (uber veld/uber velt, AvT, V. 2922, 6071; weytten, AvT, V. 5859); als [s]chnelle charakterisiert in AvT, V. 9716. 119 Dass sie ihre Pferde bei der Ankunft am Hofe enzelt (AvT, V. 2923), also im Passgang/Trab führen (vgl. Hennig, Beate: Kleines Mittelhochdeutsches Wörterbuch [in Zusammenarbeit mit Christa Hepfer und unter redaktioneller Mitwirkung von Wolfgang Bachofer], 5., durchgesehene Aufl., Tübingen 2007, S. 75), unterstreicht hingegen eher die Feststellung, die potten seien [r]eiche (AvT, V. 2922), ihre Kleider kospere (AvT, V. 2924), also eventuell von Adel oder repräsentierten zumindest einen wohlhabenden Auftraggeber. Weitere Hinweise auf die Fortbewegung zu Pferd in AvT, V. 14324, 14341f., 19246, 19249, 19253.

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von hinnen (AvT, V. 19141) – die beiden Parteien zu verknüpfen und in Kontakt zu bringen. Darüber hinaus gehende Hinweise auf die distanzüberwindende Funktion finden sich kaum, vielmehr eliminieren die Botenfiguren auch für den Text effizient Raum (s. auch Kap. 4.1.1). Der Fokus des Interesses für Boten liegt beim Apollonius bei der Gestaltung der Redebeiträge und der Bedeutung des Botenkörpers für die Fernkommunikation (s. Kap. 4.2.2). Das unaufgeregte Erwähnen bis Vernachlässigen der räumlichen Distanz im Erzählen von Botenkommunikation kann als Spiegel der raumverknüpfenden Funktion verstanden werden – vor allem, wenn Boten und Wege sukzessive aus der Erzählung eliminiert werden. Als der König Balthasar Apollonius seine Bitte um Hilfe vermitteln lässt (s.  Kap.  4.2.2), verschwindet die Distanz zunehmend aus der Erzählung. Der Raum, den die Boten hier überwinden, ist zunächst noch implizit im Bewegungsverb ,reiten‘/,[zu einem Ort] ziehen‘120 zu erahnen, dann wechseln die Botschaften dem Anschein nach in kürzester Zeit von einem zum anderen Hof hin und her, ohne den dazwischen liegenden Raum oder die Bewegung eines Boten nochmals zu erwähnen. Die Nachrichten überwinden problemlos die Distanzen: In [den Boten] ward wider haym gedacht, Und prachten die märe Das der Tyrlandere Kurtzlich wolte komen Paide ze hilff und ze frumen̅ . Kunig Walthasar was fro Und stalte sein gemüte ho. Er sante schier ain wider pot: Deß hett der Wülger seinen spot. Weytten do geruffet ward In di landt ain herfardt. (AvT, V. 7284–7294)

120 Die Erzählinstanz erwähnt, dass die Boten reytten (AvT, V.  7188); die Boten selber geben gegenüber Apollonius an, sie seien her zu dir [Apollonius] gezogt (AvT, V. 7218).

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Der überwundene Raum verschwindet; der eingangs der Passage erwähnte Bote erweist sich als effektives, selbst diaphan werdendes Mittel, das das Kommunikationshindernis auslöscht.121 In ähnlicher Kürze stellen viele der Botenszenen im Reinfried die elementare Grundfunktion des Mobilmachers dar.122 Anders als der Apollonius zeigt der

121 Eine Ähnliches veranschaulichende Szene entstammt der sogenannten ,Erweiterung‘ des Apollonius (s. Kap. 2.1). Apollonius plant einen Festtag und lädt alle umliegenden Könige zu diesem ein. [V][]ier und twaintzig landt (AvT, V. 18107) reisen – nach Ankündigung durch Boten (vgl. AvT, V. 18108f.) – in Form ihrer Stellvertreter an, der König Jerobam von Jerusalem jedoch schickt nur potten (AvT, V. 18117) und lässt sie seine Weigerung, zum Fest zu erscheinen, mitteilen: Der hette potten dar gesandt/Und hieß kunig also sagen:/Er hette pey allen seinen tagen/Von im nie nicht genommen,/Er wolt auch nymmer zu im kommen./Er hieß dem kunige sagen me:/Es sey auff lande oder auff see,/Das wer er dotet an aller stat/Und gab umb in nicht ain wicken plat./Das was den heren allen zoren./Si sprachen alle ’er ist verloren./Und alles das er ye gewann:/Er ist ain unpeschaiden man’ (AvT, V. 18117–18129). Erzählerisch überlagern sich die Paraphrasierung des Auftrags und die Rezeption durch die Festgemeinschaft. Denn nach Abschluss der Paraphrase schließt sich direkt die Reaktion der Anwesenden an (Das was den heren allen zoren, AvT, V. 18126). Der Erzählraum zwischen Sender und Empfänger wird erzählerisch über die Botenfigur, die angewiesen wird, überbrückt. Ein weiteres Beispiel ist der Bote des Königs Glorant, der zunächst noch einen recht Aufsehen erregenden Auftritt hat, später zwar logischerweise in gleicher Weise agieren müsste, aber nicht mehr auftaucht (vgl. AvT, V. 19098–19216, 19410–19414). Auch Briefen kann in der Narration vorrangig diese Funktion zukommen. Am Ende setzt der Apollonius in einer kurzen Andeutung den Brief zur Unterrichtung eines in räumlicher Distanz liegenden Raumes über den Ausgang eines Gottesgerichts ein. Silvian von Nazareth versucht Claramie, die Frau eines Kontrahenten, dazu zu nötigen, das vermeintliche Turniervergehen ihres Mannes durch Geschlechtsverkehr zu vergelten, und ver­leumdet sie, als dieser Versuch misslingt (vgl. AvT, V. 19972–2006). Daraufhin stellt sich zur Wiederherstellung ihrer Ehre ihre Schwester Flordeleyse zum Zweikampf gegen Silvian und kann diesen für sich entscheiden (vgl. AvT, V. 20150–20295). Wie ditz ding geschehen was (AvT, V. 20317), soll der Ehemann der Beschuldigten erfahren und so wird diesem ein Brief gesandt (vgl. AvT, V. 20315–20117). Nicht das konkrete Vorgehen, sondern das Ergebnis der raumüberbrückenden Funktion steht im Mittelpunkt. So wird nur die Reaktion des Ehemannes geschildert, den eine exzeptionelle Freude überkommt und der seine Frau wieder in allen Ehren zu sich nimmt (die emotionale Regung wird direkt mit der Lektüre des Briefes verbunden und als dessen Resultat konzipiert: Do er di brieff gelaß,/Vor freuden muste er waynen [AvT, V. 20318f.]). Das wiederum stimmt die herrschafft alle fro (AvT, V. 20326). Die dabei wiederum anfallenden fernkommunikativen Prozesse bleiben ausgespart, sodass auch hier der Raum mit einer Erwähnung einer raumüberwindenden medialen Form aus der Erzählung getilgt wird (s. auch Kap. 4.1.1). 122 Vgl.  beispielhaft die zahlreichen Erwähnungen des Aussendens eines Boten (vgl. RvB, V. 376, 5416f., 5741, 5746f., 5786, 5793, 6278, 6483, 6972f., 7486f., 8133, 10320, 13939, 22912, 23211, 23424f., 23237, 25909, 26954, 26173) sowie die Indizierung von Bewegung durch Verbindung dieser mit einer Sendungsrichtung (gen: RvB, V. 5747, 6482, 6972, 13944; in: RvB, V. 5417; ze/zuo: RvB, V. 6280, 7488, 25955; durch: RvB, V. 13941, 13951; an: RvB, V. 14692) oder die explizite Benen-

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Reinfried jedoch mitunter ein gesteigertes Interesse für die physische Leistung, die Botenfiguren vollbringen, und gibt der Entfaltung der Distanzen mehrmals auch größeren narrativen Raum. So wird die raumüberwindende Leistung des Boten aus Indien, der uz verren landen (RvB, V.  26173f.) angereist kommt und seine Gaben nach eigener Aussage durch manic witez lant/her (RvB, V.  26187f.) gebracht habe, hervorgehoben, indem er bei Reinfried in Babylon mit langen Haaren und Bart, Indikatoren für die mittlerweile im Botenauftrag verstrichene Zeit, eintrifft.123 Im Falle der Boten, die die Nachricht des beschlossenen Kreuzzugs durch das gesamte Herrschaftsgebiet tragen, werden nicht nur wiederholt die räumliche Bewegung der Boten, sondern auch wie bereits im Apollonius (s. o.) die durchstreiften Gebiete und das Ergebnis – die Verbreitung der Nachricht – ausführlich präsentiert: der werde fürste guote hiez boten balde senden ûz an allen enden durch Sahsen und durch Westevâl den landes herren sunder twâl, daz sî balde kæmen gên Brûnswîc und da næmen war, waz man ir wolte. der boten keiner solte sich dô mêre sûmen. den hof sach man dâ rûmen den einen hin, den anderen har. man sach sî loufen har und dar durch Westevâl, dur Sahsen lant, als sî der fürste het gesant. Nu sach man bî den zîten loufen unde rîten die boten umb und umbe mange wilde krumbe zu den landes herren. den nâhen und den verren maht man disiu maere kunt.

nung von Bewegung in Bewegungsverben (Verweise aufs Reiten: RvB, V. 152, 7446–7456, 13954, 14692, 23242; Verweise aufs Rennen: RvB, V. 7474, 7481, 8595, 8602, 10482, 13954, 22842, 22992, 26172; Verweise aufs Ankommen oder Aufbrechen: RvB, V. 5478, 5779, 6281, 7290, 8137, 10325, 23765, 24212, 26170) oder Erwähnung der vart/verte: RvB, V. 5478, 70597, 280, 22845, 22900). Auf die zahlreichen Belegstellen aus der umfassendsten Botenszene des Reinfried (s. u.) wurde bei dieser Auflistung verzichtet. 123 Sîn bart sn hâr daz sluog im gar/für diu knie hin wol ze tal (RvB, V. 26174f.).

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dâ von sô wart in kurzer stunt frîgen ritters knehten gâch gên Bruneswîc, wan sî dâ nâch ân aller slahte beiten sich ûf die vart bereiten balde hin gên Brûneswîc. (RvB, V. 13938–13965)

Die Gegenseite verfügt über ein ähnlich effektives und etabliertes System.124 Da die ,Heiden‘ unter dem Ansturm Reinfrieds einige verheerende Niederlagen erlitten haben (vgl. RvB, V. 16253–16271, 16351–16361), ruft der Bâruc alle Verbündeten auf, in den Kampf gegen die Kreuzfahrer einzugreifen. Die Nachricht des Bârucs kommt auf diesem Wege sô wît, sô breit und sô verre (RvB, V. 16547), dass selbst in wîten landen verren/wart diz mær gekündet (RvB, V.  16527f.). Ja, fast wie ein unaufhaltsames Lauffeuer wird die Überschreitung der Landesgrenzen beschrieben (daz mær ûz in dem lande brach/beidiu dâ, dort unde hier, RvB, V. 16533f.). Heere in allen landen (RvB, V. 16553), ûz wîten künicrîchen (RvB, V. 16581) und ûz verren banden (RvB, V. 16576)125 werden so dazu bewegt, sich dem Rachefeldzug anzuschließen. Schnelligkeit in Verbindung mit der Überwindung weiter Distanzen und einem ökonomischen Ausnutzen der Zeit ist darüber hinaus in einigen Textpassagen, die Botendienste ausdrücklich loben, die dominierende Charakteristik und damit zumindest eine dezidiert vom Text wahrgenommene Leistung der medialen Form. Zum ersten im Text auftauchenden Boten fügt die Erzählinstanz an, der Bote werde dem in der materiellen Belohnung ausgedrückten Lob gerecht, wenn er schnell aufbreche und die Kunde vom Turnier weit in die Lande trage (vgl. RvB, V.  358–376). Der Bote, mit dem Yrkâne sich heimlich bespricht (s. Kap. 4.1.2), tut sich besonders positiv hervor, indem er nicht länger als nötig in Dänemark verbleibt, sondern sofort und mit snelleclîcher île (RvB, V. 7291, 10484) nach Braunschweig zurückkehrt.126 Auch die Boten, die die Vorbereitungen beim

124 Hier wird allerdings der Bote als Hinweis auf fernkommunikative Vorgänge ersetzt durch Briefe, die der Bâruc schreiben lässt (vgl. RvB, V. 16522f.). 125 Das Ausmaß der Verbreitung wird betont durch den Verweis auf die Übersetzung in aller sprache (RvB, V. 16524), die angesichts der Weitläufigkeit des so adressierten Raums notwendig ist. Diese kurze Erwähnung der sonst in keiner auf räumliche Distanzüberwindung abzielenden Szene eine Rolle spielende sprachlichen Barriere unterstreicht die immense Reichweite dieser medialen Form, indem sie die Distanzen mit der Diversität der mit der Botschaft erreichten Sprachräume als besonders groß kennzeichnet. 126 Beim Aufbruch des Boten heißt es: dem knappen wart ze verte gâch/wan er sich dâ niht sûmet./Tenemar gerûmet/wart von im snelleclîche (RvB, V. 7280–7283). Als der Bote eintrifft, entfaltet die Erzählung den Eindruck der Leistung über die Geschwindigkeit bei der Durchquerung des Raums: er hât des landes verriu zil/so kurzlîch durchstrichen/daz er sicherlichen/und daz perît

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Aufbruch zum Kreuzzug koordinieren, fallen der Erzählinstanz positiv auf, da sie niender sumten sich (RvB, V. 14702).127 Trotz des in diesen Erwähnungen erkennbaren größeren Interesses für die räumliche Dimension von Botendiensten lässt sich auch für den Reinfried behaupten, dieser Aspekt bleibe in der Regel im Hintergrund, die Ausstellung und Problematisierung stelle keinen besonderen Textschwerpunkt dar. Doch es gibt eine markante Ausnahme. Die Szenenfolge, in der ein Bote nach dem vermissten Reinfried und seinem persischen Freund sucht, breitet die sonst Nebensächlichkeit bleibende Reise zu einer wahrhaften ,Odyssee‘ aus, die die räumlichen Dimensionen, derer sich ein Botendienst annehmen kann, sowie die Strapazen, die Boten im Interesse funktionierender Botenkommunikation zu leisten bereit sind, eindrücklich, umfassend und exponiert darstellt. Während der Protagonist mit seinem Begleiter Abenteuer im Orient durchlebt, bringt Yrkâne einen gesunden Jungen zur Welt (vgl. RvB, V.  23309f.). Von diesem Ereignis  –  immerhin war der Kinderwunsch Beweggrund seiner Abreise (s. Kap. 6.2.1) – soll der Vater in Kenntnis gesetzt werden und es wird beschlossen: [M]an solt dem fürsten reine/brieve und boten senden (RvB, V.  23424f.). Es werden mehrere Briefe verfasst (s. Kap. 4.3.2 und 4.3.3), die ein Bote zu Reinfried bringen soll. Daraus entspinnt sich ein langwieriger und nervenaufreibender Prozess des Durchstreifens der erzählten Welt, an dessen Ende doch schließlich das Zusammentreffen von Bote und Empfänger beim babylonischen König (vgl. RvB, V. 24222–24399), der Bericht über die wichtigsten Ereignisse und die erfolgreiche Übergabe der Schriftstücke steht. Hier entfaltet sich die sonst so beiläufig erwähnte Reise der Botenfigur zum erzählenswerten Abenteuer. Als der Bote mit seinem Auftrag in Richtung des Heiligen Landes ausreitet, ist Reinfried bereits seit einem Jahr unterwegs (vgl. RvB, V. 23440–23442). Trotz der Eile des Boten dauert dessen Reise aufgrund der räumlichen Begebenheiten recht lang. Allein bis er auf Leute trifft, die zumindest von Reinfrieds Heldentaten gehört haben und ihn in Jerusalem vermuten (vgl. RvB, V. 23482–23563), und bis er außerdem Kaufleute kennenlernt, die ihn in Richtung des Heiligen Landes über das Mittelmeer mitnehmen können (vgl. RvB, V.  23566–23569, 23582),

wân verzagt./si wanden aller, er wær gejagt (RvB, V. 7452–7456). Mehr zu diesem Botendienst in Kap. 4.2.2. 127 In anderen Textstellen erwähnt sie ebenso, wie snelleclîch (RvB, V. 7475, 23213, 26191) oder snelle (RvB, V. 26183) ein Bote seinen Dienst ausführt. Einer von ihnen läuft sogar noch vor den Pferden her, um eine frohe Botschaft zu verkünden (vgl. RvB, V. 22992). Ergänzend wird erwähnt, der Bote verweile nicht lange an einem Ort oder am Hof seines Auftraggebers, sondern breche sofort auf (vgl. RvB, V. 26550f.). S. auch die im Folgenden ausführlich besprochene Textpassage.

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vergeht einige Zeit.128 Dort bemüht der Bote sich weiter, den Aufenthaltsort Reinfrieds in Erfahrung zu bringen. Schließlich wird ihm suggeriert, Reinfried sei – da mit dem persischen Prinzen losgezogen – in Persien zu finden;129 seitdem habe man weder über Boten noch Briefe (!) von ihm gehört (vgl. RvB, V. 23682f.). Der Bote macht sich auf den langen und wiederum beschwerlichen Weg (vgl. RvB, V. 23718–23731), um – mittlerweile ein ganzes Jahr nach seiner Abreise (vgl. RvB, V.  23790f.) – von dem Heer Reinfrieds, welches er in Persien antrifft (vgl. RvB, V. 23732–23735), zu erfahren, dass niemand weiß, wo Reinfried sich befindet (vgl. RvB, V. 23798–23801). Ihm wird geraten, er solt gên Babylône […] zuo dem werden rîchen soldân sunder underbint (RvB, V. 23874–23877)

ziehen,130 doch als er dort nach erneut strapazenreicher Reise eintrifft, findet er den Sultan in tiefer Trauer aufgrund des vermeintlichen Todes des Persers und seines Begleiters. Sie seien – sagt man dem Boten hier – Richtung Kaukasus aufgebrochen, von ihren Abenteuern dort sei berichtet worden, aber seit ihrem Aufbruch zum Magnetberg seien sie verschollen. Ihr Tod erscheine daher nur plausibel (vgl. RvB, V.  23974–24039).131 Als nun die Aussicht auf eine Erfüllung des

128 Die Erzählinstanz macht deutlich, dass dem Boten kein Müßiggang vorzuwerfen ist. Er säume sich nicht, reise Tag und Nacht, raste nicht eine Stunde (vgl. RvB, V. 23454–23459). Vielmehr sind die äußeren Bedingungen der Reise prekär: [o]b er joch dâ [am Meer] gesûmet wart/ daz was sînes willen niht./jedoch ez sicher wol beschiht/daz ein man muoz ofenbâr/belîben lîht ein halbez jâr/ê daz er vinde rehte var./dirre bote was ouch dar/ze unrehter zîte komen/und muose, als ich hân vernomen,/lange ligen stille:/daz was niht sîn wille (RvB, V. 23462–23472). 129 [M]an sach den zarten jungen,‘/sprâchen sî, ,hinnen kêren/mit dem stolzen hêren/jungen künc von Persŷa (RvB, V. 23675–23677). 130 Von ihnen erhält er auch den Auftrag, sie gleich zu informieren, sollte er Reinfried antreffen (vgl. RvB, V.  23883–23885). Sein Botendienst wird also erweitert. Nicht nur muss er Reinfried ausfindig machen und ihm die Briefe übergeben, auch muss er daraufhin sofort die Benachrichtigung des Heeres initiieren, also fortan auch an eine andere Adresse zurück kom­munizieren. 131 Dass der genannte Ort mit Gefahr bzw. sicherem Tod in Verbindung gebracht wird, ergibt sich aus den in Antike, Mittelalter und Neuzeit bekannten Magnetbergsagen, die hier kurz in ihrer Motivtradition Erläuterung erfahren sollen. Die Tradition des Magnetbergs in literarischen Texten und historischen Wissensdiskursen, die sich aus der spätgriechischen Kosmographie (bekanntester Vertreter ist der Geograph Ptolemäus (90–175 n. Chr.); zur Ptolemäischen Tradition s. Lecouteux. 1984, S. 37f.), der pseudo-aristotelischen Gesteinskunde (zur pseudo-aristotelischen Tradition s. hier S. 39f.) und orientalischem Sagengut (die Bedeutung orientalischer Erzähltraditionen hebt Lecouteux besonders hervor, vgl. hier S. 63) speist (vgl. Herweg, Glücks-

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Auftrags geradezu hoffnungslos erscheint, trifft ein Bote ein, den Reinfried und der Perser von König Aschalon aus geschickt hatten (vgl. RvB, V.  23205–23214, 24086–24089), um die Fehlinformation von ihrem Tod zu korrigieren. Als der Bote schließlich seine Briefe übergibt, sind in der erzählten Geschichte mindestens anderthalb Jahre (was die Dauer der Abwesenheit Reinfrieds bei Aussendung des Boten übersteigt), in der Erzählung tausend Verse (RvB, V. 23442– 24441) vergangen und hat der Bote wohl um die fünftausend Kilometer im Nachvollzug des Heldenwegs132 zurückgelegt.133 Die detaillierte Darstellung versucht trotz ausgesparter Erzählung der einzelnen Wegstrecken die Langwierigkeit und Umständlichkeit des exorbitant strapazenreichen Auftrags abzubilden. Dazu

spiel, S. 56), ist bereits gut aufgearbeitet worden (vgl. hier S. 54), sodass hier die wichtigsten der umfangreichen Ergebnisse von Lecouteux, Magnetberg, und Herweg, Glücksspiel, mit einem Verweis auf ihre detaillierten Ausführungen nur kurz paraphrasiert werden. Der Magnetberg sei ein Topos mittelalterlichen Geographiewissens, dessen Faktizität bis ins siebzehnte Jahrhundert strahle (vgl. hier S.  52, 54). Verortet werde der magnetische Berg in der Gegend des heutigen Ceylon (vgl. ebd.). Zuerst von magnetischen Bergen schreibt Plinius der Ältere (vor 79 n. Chr.) (vgl., hier S. 54, ausführlicher zur pliniadischen Tradition s. Lecouteux, Magnetberg, S. 35f.), zur Insel würden diese aber erst später (jedoch bereits vor Claudius Ptolemäus) (vgl. Herweg, Glücksspiel, S. 55). Zu den Anfängen der deutschsprachigen Magnetbergtradition gehören die Legende von St. Brandan und der Herzog Ernst (vgl. Herweg, Glücksspiel, S.  57; Lecouteux, Magnetberg, S. 35). In der Unterhaltungsliteratur macht Lecouteux fünf Sagenkreise aus, die in die Magnetbergerzählungen einfließen: morgenländische Sagen, die auf den orientalischen Bericht Die Wunder Indiens von Buzurg ibn Schahrijar zurückgehen (ca. 950), abendländische Sagen des Mittelalters, die wiederum auf Erzählmotive verschiedener Herkunft zurückgreifende Erzählung von Virgilius dem Zauberer (s. auch Anm. 5/239; 6/488; 6/549), die Sage des Herzog von Braunschweig, und die Verwendung in anderen mittelalterlichen Werken mit neuen Motiven (Kudrun, Jüngerer Titurel Albrechts von Scharfenberg) (vgl. hier S. 45–58). Ein eigenes Unterkapitel zur altfranzösischen Aufnahme des Motivs gibt es dort auf den S. 59–62. 132 Damit dient der dargestellte Botenweg auch der Wiederholung und Präsenzmachung des Heldenweges und der Präsentation seiner jeweiligen Erfolge aus der Perspektive von Augenzeugen, somit der Objektivierung der Heldenleistung. Ähnliches konstatiert Lauer für die Botin, die in Hartmanns Iwein dem namensgebenden Protagonisten auf der Suche nach einem Fürstreiter für ihre Dame hinterherreist (vgl. Lauer, Boten-Figuren, S. 50f.). Die Ausmaße des Reisewegs sowie auch die des für diesen Weg einer Nebenfigur aufgebrachten Erzählraums sind im Reinfried von Braunschweig jedoch in ihrer Exorbitanz einmalig. 133 Laut Thomas Szabó betrug die durchschnittliche Reisegeschwindigkeit eines Boten, der zu Fuß unterwegs war, knapp dreißig Kilometer am Tag (vgl. Szabó, Botenwesen, hier Sp. 487; vgl. auch Ross, Communication, S. 207). Allein zum Zurücklegen der Strecke muss also mit hundertsiebenundzechzig Tagen gerechnet werden, sodass unter Berücksichtigung der erwähnten Warte- und Recherchezeiten eineinhalb Jahre plausibel erscheinen. Eine ähnliche Leistung und eine räumliche Distanz in ebensolcher Dimension wird im späteren Verlauf des Texts bei dem bereits erwähnen Boten des Königs aus Indien angedeutet (s. o.).

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gehören kurze, aber dennoch auf Ausdehnung und Unwegsamkeit hinweisenden Berichte der Reisen. Sein Weg führt den Boten bspw. dur manic strâze wilde,/ berge tal gevilde (RvB, V. 23723f.). Daneben trägt auch die Ausgestaltung des zwar namenlos bleibenden, jedoch recht persönlich präsentierten Boten zu dieser Darstellung bei. Je aussichtsloser es für diesen erscheint, seinen Auftrag erfolgreich beenden zu können, desto verzweifelter ist er. Er ist in jâmer tief versunken (RvB, V. 23633), sein Herz wird mit bitterlîcher swære (RvB, V. 237669) befangen, er wird trûric und unfruo (RvB, V. 23713) bzw. trûreclîche (RvB, V. 23920), erlebt unbeschreibliches ungehabe (RvB, V.  23704), steht händeringend da (vgl. RvB, V. 23802f.), versprachlicht zuweilen seine Trauer um die aussichtslosen Anstrengungen (vgl. RvB, V.  23770–23773, 23795–23797) und richtet sich – sein Leid klagend und um Beistand bittend – an Gott (vgl. RvB, V. 23636–23643). Als ihm der Sultan schließlich nahebringt, dass Reinfried tot sein könnte, beginnt er zu weinen, verfällt in Agonie und verliert das Bewusstsein, scheint also geradezu von seinen Empfindungen überwältigt (vgl. RvB, V. 24074–24082). Die Erzählinstanz selbst wirbt um Empathie für ihn und bestätigt die Angemessenheit seiner verzweifelten Reaktionen, indem sie erklärt, seine zeitweise Mutlosigkeit sei kein charakterlicher Mangel oder gar mimosenhaftes Gehabe, sondern angesichts seiner Situation – dabei ein expliziter Verweis auf die Exorbitanz seiner Leistung als Raumdurchquerer – nur allzu gut nachvollziehbar: ein ieglich mensche, merket wol, hette ez sunder schande erstrichen sô vil lande und funde ez denn sîn suochen niht, im wühse trûreclîchiu phliht und möhte kûme wesen frô (RvB, V. 23706–23711)134

Seine Aufgabe ist – so stellt der Text über die Auserzählung der Botenfigur und ihre Kommentierung dar – in ihrem ungewissen Ausgang zermürbend, seine Reise ausufernd und extrem anstrengend. Durch diesen exponierten, ein Höchstmaß an räumlicher Distanz überwindenden und handlungslogisch extrem relevanten Prozess (vgl. Kap. 4.1.1), wird deutlich, welche Anforderungen räumliche Distanzen an Boten stellen. Sie müssen immense Distanzen überwinden, müssen gegebenenfalls für die erfolgreiche Vermittlung selbst kommunikativ initiativ sein und dabei mit zahlreichen Rückschlägen, Unsicherheiten und Enttäuschun-

134 Auch zeugt die den Beschreibungen vorangehende Interjektion ei (RvB, V. 23802) ein gewisses Einfühlen der Erzählinstanz in die aussichtslos scheinende Situation des Boten.

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gen umgehen, dürfen sich nicht entmutigen lassen, sondern beharrlich weiterziehen. Die in diesem Szenenkomplex aufscheinenden Qualitäten eines guten Boten macht der Reinfried dabei in den lobenden Worten der Erzählinstanz sowie durch Einblicke in die Moral des Boten explizit. Dabei spielt – wie eingangs für andere Botenpassagen des Reinfried konstatiert  – die Schnelligkeit und die damit verbundene raumüberwindende Funktion die dominante Rolle. Mehrmals erwähnt die Erzählinstanz, wie sehr der Bote um Schnelligkeit bemüht ist.135 Er läuft seinem Auftrag hinterher und fühlt sich verpflichtet, weiter so fortzufahren, bis er seine Aufgabe erfüllt hat.136 Er ist bereit, unwegiges Gelände zu durchstreifen, auf Essenspausen zu verzichten und zur Not auch sein ganzes Leben für diesen einen Auftrag aufzuwenden.137 Die umfangreiche Ausgestaltung dieses Boten macht diesen zu einer vollwertigen Figur, die bestimmte Charaktereigenschaften besitzt und über Gefühle und Gedanken verfügt. Der hindernis- und rückschlagsreiche Weg ist interessant und spannend und wird dementsprechend zum eigenen kleinen Abenteuer mit erzählerischem Eigenwert. Diese Textpassage des Reinfried von Braunschweig stellt so ausführlich dar, was in vielen anderen Erwähnungen eines Botendienstes untergeht: die für jede gelingende Fernkommunikation elementare Verknüp-

135 Die Erzählinstanz berichtet er sei untræge (RvB, V. 23612) und an anderer Stelle niht langer er sich sûmde (RvB, V. 23454) – er bricht also sogleich auf. Der Bote reise außerdem snelle (RvB, V. 23460, 23622), genauer bewegt er sich mit sneller île fort, sodass manic hundert mîle/möht er eins mânôts strichen (RvB, V. 23597–23599), und er fuor lange stunde/snelleclich untræge (RvB, V. 23729f.). 136 Von dieser Überzeugung sprechen die folgenden Selbstaussagen: ich ende mîne botschaft,/ ald mich muoz des tôdes kraft/mit tôde wenden under wegen (RvB, V. 23641–23643); ,ich wil in dem ellende,‘/sprach er ,iemer strîchen,/biz ich den zühte rîchen/helt ie von Sahsen vinde./niemer ich erwinde,/ich kome zuo im sunder wân (RvB, V. 23804–23809); wan ich wil iemer mêre/durhvaren aller lande kreiz/die wîl ich küntlîchen weiz/niht umb sîn lieb noch umb sin nôt/ob er sîe lebent oder tôt,/daz wil benamen ich ervarn./ich wil niemer tac gesparn/mîner verte reise./ich wil der fröuden weise/iemer ûf mîn ende sîn,/mir wert denn offenlichen schîn/wie ez im ergangen sî‘ (RvB, V. 23811–23823). 137 Die Aufopferungsbereitschaft wird in den folgenden Aussagen deutlich: er fuor und fuor mit balder maht/beide tag und dâ zuo naht,/so er drâtest kunde (RvB, V. 23455–23457); er tet niht als manc bote tuot/der durh wache trâgheit/sich dicke an die ruowe leit/die wîle er hât zerunge (RvB, V. 23616–23618); er huop sich aber ûf die vart/dur manic strâze wilde,/berge tal gevilde,/der er sicherlîhen/ga vil muos erstrîchen/vor er den herren funde (RvB, V. 23722–23727). Der Verzicht auf Pausen wird hauptsächlich dadurch deutlich, dass der Vorgang des Durchquerens repetiert wird und sowohl Tag als auch Nacht ausgenutzt werden: ern stünde eine stunde/sich an dirre verte nie (RvB, V. 23458f.). Ruhe gestattet er sich erst, wenn das Ziel erreicht ist: Er fuor und fuor ie über maht/beide tac und dâ zuo naht,/daz er ruowe nie genam,/biz er für den bâruc kam (RvB, V. 23909–23912).

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fung zweier Räume durch den Körper des Boten. Die Schilderung gestaltet das Abschreiten und den Nachvollzug des Heldenwegs durch die Botenfigur als ereignisreichen Weg, der Mühe, Verzweiflung, Hoffnung und aktives Nachforschen fordert, und hebt somit nicht nur die mediale Leistung in Fernkommunikation hervor, sondern ließe sich als Offenbarung der Verfahren und Effekte einer einem Helden folgenden Erzählung und ihrer Lektüre hin lesen. Die Herausforderung von Fernkommunikation, die den Boten als medialen Bestandteil dieser voraussetzt, bleibt in den meisten Textpassagen des Reinfried von Braunschweig und – vor allem – des Apollonius von Tyrland eine kaum erwähnenswerte, nur angedeutete Nebensächlichkeit. Der Interessenschwerpunkt liegt darin, Boten als funktionierendes Mittel der Fernkommunikation, als plausible Erklärung für die Verbreitung einer Nachricht, eines neuen oder bewahrten Kontakts zwischen Figuren darzustellen. Die Thematisierung des Botenkörpers nimmt stärker als dessen Bewegung die repräsentative und performative Funktion in den Blick (s. Kap. 4.2.2). Abgesehen von dem eindrucksvollen Gegenbeispiel der zuletzt besprochenen Passage, die den Weg des Boten zu einem eigenen Abenteuer in der Erzählung macht und die raumüberwindende Funktion sowie die überragende Leistung des Boten in den Vordergrund rückt, muss man nach Hinweisen auf die physische Verbindungsfunktion des Botenkörpers suchen, da sie in ihrer Beiläufigkeit und Kürze kaum besondere Aufmerksamkeit generieren. Die Unterschlagung steht im Dienste der zügig fortlaufenden Geschichte und bestätigt somit die in Kap.  4.1.1 eingebrachte These, Botenfiguren leisteten auf narrativer Ebene das, was Boten als mediale Formen vollbringen, nämlich die Distanz verschwinden zu lassen. Dennoch werden Botendienste und Boten als mediale Formen ausgestaltet. Der Fokus liegt dabei jedoch auf den Aspekten, die bereits in der Auseinandersetzung mit Darstellungen von Fernkommunikation, in der Boten und Briefe gemeinsam vermittelnd agieren (s. Kap. 4.1.2), hervorgetreten sind: Botenwort und Botenkörper.

4.2.2 Botenwort und Botenkörper: Die Multimedialität des Boten zwischen Repräsentation und Eigenständigkeit Der Reinfried und der Apollonius nehmen den zentralen medialen Aspekt des Boten – die Raumüberbrückung durch seine physische Mobilität – wahr, gestalten ihn aber im Regelfall nicht besonders aus (s. Kap. 4.2.1). Von größerem narrativen Interesse sind hingegen andere Funktionen im Rahmen fernkommunikativer Prozesse, welche bereits in den Textpassagen, die Boten und Briefe in Kombination nutzen, augenscheinlich geworden sind (s.  Kap.  4.1.2), jedoch besonders deutlich in den ausgestalteten ,Alleingängen‘ von Botenfiguren werden. Diese zeigen

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Boten als multimediale und wirkmächtige Mittlerinstanzen. Zum Überbringen der Botschaft nutzen sie den auditiven Kanal, indem sie eine bestimmte, ihnen aufgetragene Wortfolge wiedergeben, ergänzen können sie die transportieren Worte oder Gegenstände138 durch ihre körperliche Anwesenheit und die darauf beruhenden Funktionen der Repräsentation und Stellvertretung einerseits, der Interpretation und eigenständigen Ergänzung andererseits. Dass diese Ergänzungen nicht als störendes ,Rauschen‘139, sondern als intendierte mediale Aufgabe des Botendienstes gelten können, zeigt sich selbst in einer Szene des Reinfried, die die Trägerschaft in den Vordergrund stellt. Der Bote des indischen Königs, der dessen außergewöhnlichen Geschenke überbringt, (vgl. RvB, V.  26170) übernimmt nicht nur die Funktion eines Trägers,140 sondern sichert durch seine Erläuterungen zu den Mitbringseln das Verständnis der damit verbundenen Anerkennungsgeste. Ausführlich erklärt er Wissenswertes über die mitgeführten Elefanten und ihre Zähmung (vgl. RvB, V. 26236–26295, mind. bis 26245) und die Gewinnung des seltenen Feuersalamander-Stoffes.141 Seine mediale Funktion erfüllt er nicht nur darin, die Gegenstände zu übergeben, sondern auch durch die Anreicherung mit Bedeutung in der Rezeption.142

138 Beide Texte zeigen Boten nicht nur als Überbringer mündlicher und/oder schriftlicher Nachrichten, sondern auch als Träger von Geschenken. Der indische König sendet einen wilde[][n] und kostbar ausgestatteten heiden (RvB, V. 26170; zur Ausstattung s. V. 26178–26181), um den Helden seltene und wertvolle Güter – zwanzig Elefanten und ein Kleid aus dem Gewebe des Feuersalamanders – zukommen zu lassen (vgl. RvB, V. 26170–26370). Ebenso fungieren im Apollonius auch die Boten des Königs Paldein, der kunigleichen sold,/Paide silber und gold (AvT, V. 3090f.) mitschickt. Erwähnt wird ausdrücklich, dass die Boten die mit jenen Gaben angefüllten [s]awmer (AvT, V. 3088) [h]etten […] mit in pracht dar (AvT, V. 3094). Der Bote übernimmt die Funktion des ,Trägers‘ und Garants der Ankunft einer kostbaren Ware. Auch Diomena lässt Boten Geschenke überbringen (vgl. AvT, V. 11472–11509). 139 Schor bezeichnet Boten als besonders ,rausch- und störanfällig‘ (vgl. Schor, Veritas, S. 131; vgl. aber auch Müller, Datenträger, S. 92, der beschreibt, wie die Unsicherheiten dieser medialen Form im Mittelalter diskutiert wurden). 140 Vgl. Anm. 4/138. 141 Die Einführung in die Kunst der Gewinnung der Feuersalamandergewebe ist ihm direkt zuzuschreiben, da den Prozess zwar die Erzählinstanz vorträgt (vgl. RvB, V. 26384–26527), sie ihr Wissen aber auf die Rede des Boten zurückführt (vgl. RvB, V. 26528–26537). Die Erzählung vom Stoff des Feuersalamanders könnte der Verfasser des Reinfried aus dem Jüngeren Titurel kennen, wo diese ebenfalls auftaucht (vgl. Ohlenroth, Reinfried von Braunschweig, S. 80). 142 Die getreue Wiedergabe eines Wortlauts ist unter Umständen nicht Ziel eines Boteneinsatzes. Interpretierend, kommentierend und korrigierend eingreifen kann und soll diese Instanz, die sowohl Sendesituation und -intention als auch Empfangssituation miterlebt und einschätzen kann, mitunter durchaus. Schubert macht darauf aufmerksam, dass das eigenmächtige Eingreifen eines Boten mit der Repräsentationsfunktion im Einklang steht, statt dieser, wie

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Ausführlich und in unterschiedlicher Ausgestaltung erzählen der Apollonius und der Reinfried von den unterschiedlichen Aspekten dieses Überbietens des reinen Trägerdienstes. Sie profilieren das Einwirken der Boten als elementaren Bestandteil ihres medialen Potenzials. Im Folgenden sollen zunächst – festgelegte oder improvisierte (s.  u.) – Botenreden und deren rhetorisches Vorgehen sowie deren Aktualisierungs- und Ergänzungsmöglichkeit im Kontakt mit dem Empfänger in den Fokus rücken, um anschließend auf die Instrumentalisierung des Botenkörpers für die Mediation in den entsprechenden Textpassagen näher einzugehen. Da kaum eine Szene sowohl den Auftrag als auch dessen Ausführung darstellt,143 ist kaum auszumachen, ob es sich bei den Botenreden um reine Wiederholungen aufgetragener Worte oder eigens durch die mediale Form erdachte Formationen handelt. Dass die Konstruktion der Botenrede Aufgabe des Boten sein kann, wird für einen Boten im Apollonius eigens herausgestellt. Explizit erwähnt der Text, dass jener sich überlegt, wie er nun sprechen möchte: Er nam gar in seinen syn Was er werben wolte, Und wie er rede sollte. (AvT, V. 19250–19252)144

Wie wichtig die Gestaltung der Rede für die Wahrnehmung einer Information beim Empfänger ist, wird in derselben Passage des Apollonius deutlich, die eindrucksvoll die unterschiedliche Perspektivierung eines Ereignisses in zwei gegensätzlichen Botenreden in Szene setzt. Als die Festgemeinschaft um Apol-

man meinen könnte, zuwider zu laufen: „The messenger must represent the sender, therefore he argues for his case. A slight alteration of the message for the sake of guiding fate is part of his competence“ (Schubert, Love-Messages, S. 38). Als eindrückliches Beispiel in der mittelalterlichen Literatur führt er den Wilhelm von Österreich des Johann von Würzburg an, in dem ein Bote die ursprüngliche Nachricht situationsadäquat ändert: „the messenger has, in his report (ll. 7185–7213), transformed what was a very tame instruction from the lady (ll. 7113–36) into a feverent declaration of love. The continuation of the story shows that it was not only opportune but also correct of him to do so“ (vgl. hier Anm. 17; vgl. auch Müller, Datenträger, S. 25). 143 Eine Ausnahme wäre die Formulierung, die Diomena Cleopacras vorgibt und die jener marginal verändert (s. Kap. 4.1.2). 144 Die Texte machen sonst in keiner Szene genaue Angaben darüber, ob eine Botenrede selbständig entworfen ist oder einem vorgegebenen Wortlaut folgt, ob überhaupt von einem festgefügten Wortlaut oder einer spontanen Sprechhandlung auszugehen ist. Eine völlige Abstraktion der Botenrede von der des Absenders, wie hier suggeriert wird, scheint Müller zufolge im Mittelalter jedoch die Ausnahme zu sein (vgl. Müller, Datenträger, S. 92).

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lonius gerade speist, kommt [a]in mor (AvT, V.  19098)145‘ in die Stadt (vgl. AvT, V. 19095–19097) und unterrichtet die Stadtöffentlichkeit146 von einer ritterlichen Herausforderung. Später tritt ein zweiter – auch als solcher bezeichneter  – Bote (vgl. AvT, V. 19239, 19245) auf den Plan, der ein anderes Bild der Angelegenheit an den Hof trägt. Der Text gibt den Wortlaut beider Botenreden (vgl. AvT, V. 19114–19144, 19263–19397) wieder. Obwohl beide von demselben Ereignis – einem anstehenden Kampf – berichten und beide im Grunde dieselbe Intention – die Aktivierung der Festgesellschaft zur Teilnahme an dem Streit  – verfolgen, entwerfen sie unterschiedliche Perspektiven und verfahren dementsprechend nach anderen Überzeugungsstrategien. Daher lässt sich die überzeugende Wortgewalt und das wahrnehmungslenkende Potenzial dieser medialen Instanzen hier besonders gut beobachten. Die Rede des ,Mohren‘ verfolgt die Animierung der Zuhörer zu einem Kampf mit dessen Auftraggeber,147 was bereits die ersten Worte unverblümt enthüllen. Er beginnt mit Nennung des Senders – [a]in hoher furste Glorant,/Ein reicher kunig von Morlant (AvT, V. 19114f.) –, der der Rede zugrunde liegenden grundsätzlichen Intention – selbiger habe ihn zur Verkündung eines abentewr (AvT, V.  19116) geschickt – und fordert die Aufmerksamkeit seiner Zuhörer: Nu mercket rechte was ich sage (AvT, V. 19126). Der Rest der Rede dient der motivierenden Ausgestaltung des anfangs erwähnten Abenteuers. Der Bote lockt zunächst in fast gewöhnlicher Weise mit Frauenpreis. König Glorant führe mit sich ain kayserliche mayt/Mit vil grosser reychait (AvT, V.  19117f.), die zudem eine Königin sei (vgl. AvT, V. 19118). Mag diese Aussage bereits ein Interesse an jenem Event entfachen, so befeuert die Botenrede es daraufhin, indem sie die Situation jener Königin nun zuspitzt und um einen konkreten Preis ergänzt. Der Bote gibt erst zu verstehen, die Dame sei Gefangene, bis ain ritter hant (AvT, V. 19121) sie vom König [e]r

145 Es handelt sich hier um eine der wenigen Szenen, in der trotz ihres Agierens als raumüberwindende mediale Form nicht von ,Bote‘ gesprochen wird. Durch die Bezeichnung als ,Mohr‘ ist die Szene nicht einfach nachzuvollziehen, da auch später von einem ,Mohren‘ die Rede ist, womit allerdings der König Glorant – Auftraggeber jenes als Boten auftretenden ,Mohren‘ –, und nicht der Bote selbst gemeint ist (vgl. AvT, V. 19179–19186, 19190–19197, 19225–19227, 19414f., 19470f., 19498, 19505). 146 Die Äußerung des Boten wird nicht direkt gegenüber dem Protagonisten und seiner Festgemeinschaft getroffen. Der Bote verlässt sich vielmehr darauf, dass die Stadtbevölkerung seine Ankündigung zuverlässig an diejenigen weiterträgt, die von ihr tangiert werden, nämlich an alle, [d]em zu ritterschafft ist so gern (AvT, V. 19138). 147 Den prototypischen Fall einer solchen Kommunikationssituation schildert ausgiebig die Eingangsszene des Reinfried, die aus diesem Grund im Verlauf dieses Kapitels näher beleuchtet wird (s. u.).

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streyttet (AvT, V. 19122), dann verschärft er nochmals: Selbiger König gewähre ihr noch zweiundreißig Tage, bevor er ihr Gewalt antue (vgl. AvT, V. 19124–19127). Das Eingreifen wird moralisch forciert, darüber hinaus noch um in Aussicht gestellte Anerkennung – man müsse schon unverzaget (AvT, V. 19128) sein, um den König zu besiegen – und um einen attraktiven Preis – ein Pferd, Anrecht auf selbige Dame und tausend Mark (in dieser Reihenfolge!, vgl. AvT, V.  119130–19232) – ergänzt. Am Ende seiner Rede räumt der Bote durch den Verweis auf die räumliche Nähe praktische Vorbehalte aus dem Weg. Er selbst mache sich nun direkt auf den Weg zum Ort des Geschehens. Die abschließende Formulierung: Wem nach eren stet der syn,/Der sey auff! Ich var da hin‘ (AvT, V. 19143f.) fordert dazu auf, ihm bei Interesse zum Ort der verkündeten Aventiure nachzureiten; dieser sei nur ain meyl von hinnen (AvT, V. 19141). Die trotz der keineswegs ausgesparten möglichen negativen Konsequenzen148 überwiegende Attraktivität dieses Abenteuers wird durch die Reaktion der Festgesellschaft bestätigt. Sofort rüsten sich mehrere Ritter zur Fahrt, Ercules von Epheso beeilt sich, um als erster die Herausforderung annehmen zu können (vgl. AvT, V. 19147–19158). Dass die Anpreisung des Abenteuers den Blick Glorants repräsentiert und sich die Angelegenheit auch anders werten, die Teilnahme am Kampf anders motivieren lässt, wird deutlich im Vergleich mit der Rede eines zweiten Boten (vgl. AvT, V. 19239, 19245), der nach dem Kampf gegen Ercules von Epheso (s. u.) auf den Plan tritt. Die erwähnte Jungfrau – Pallaß – versucht nämlich, selbst um einen starken Fürstreiter zu werben. Sie schickt haymeleiche (AvT, V. 19241) einen getreuwe[][n] man (AvT, V.  19240) namens Lielfant149 zu Apollonius mit dem Auftrag, im ihren jamer [zu] clagen/Und iren kummer gar [zu] sagen (AvT, V. 19243f.).150 Die Botenrede des Lielfant ist die umfangreichste im Apollonius und es bietet sich an, sie hinsichtlich Perspektivierung des Geschehens und daraus

148 Die Konsequenzen lassen das Kalkül, das hinter diesem Abenteuer steckt, erahnen. Unterliegt ein Ritter, so muss er tausend Mark abgeben und Gefangener des Königs Glorant sein oder den Tod fürchten (vgl. AvT, V. 19133–19136). Auf seine Stärke vertrauend scheint das Kampfgeschäft eine sichere Einnahmequelle. Der Aufgabe, eine bedrohte Jungfrau freizukämpfen, mag sich kaum ein Ritter erwehren, sodass dem König, vermag er geschickt zu kämpfen, schnell mehrere tausend Mark in Aussicht stehen. 149 Vgl. AvT, V. 19245. Neben Cleopacras – ebenfalls im Apollonius – ist das im untersuchten Textumfang die einzige Botenfigur, die mit einem Namen versehen wird. 150 Der Bote bestätigt ihr, diesen Auftrag verstanden zu haben und ausführen zu wollen (vgl. AvT, V. 19246f.). Dass er dabei die Freiheit und auch die Aufgabe hat, auf Grundlage dieses recht vagen Auftrags eine Rede und eine entsprechende Selbstinszenierung zu entwerfen, wurde bereits erläutert (s. o.).

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resultierender Wahrnehmungslenkung im Kontrast zur Botenrede des ,Mohren‘ zu lesen.151 Im Vordergrund steht angesichts des Auftrags, die Verzweiflung der Dame zu Apollonius zu tragen und diesen zum Einschreiten zu motivieren. Ir jamer (AvT, V.  19268) taucht bereits in der Redeeinleitung auf. Nachdem er den Lärm und Tumult, der am Tor der Stadt herrscht, mit einem den gesamten Palast durchschallenden lauten Geschrei übertönt hat (vgl. AvT, V. 19259–19262), eröffnet er seine Rede mit der Adresse des Angesprochenen (vgl. AvT, V.  19263) in Verbindung mit einer auffordernden Bitte um Aufmerksamkeit (vgl. AvT, V. 19264). Es folgt die namentliche Nennung (AvT, V. 19266) und die genealogische Anbindung der Auftraggeberin an das apollonius’sche Geschlecht (deiner mümen kint und kunigyn von Assyria, AvT, V. 19669). Diese endet mit der Feststellung, das Leid der Pallaß solle dem Empfänger der Rede bekannt werden (vgl. AvT, V. 19628). Über die Anbindung der Senderin an die Sippe des Empfängers schafft er eine Aufnahmebereitschaft. So verwundert es auch nicht, dass sich die Rede zunächst mit der Ausführung zu der verwandtschaftlichen Bindung fortsetzt und diese mit der Darstellung des Problems verknüpft.152 Die Problemlage – eine enge Verwandte von Apollonius ist in Gefangenschaft des König Glorant – ist in wenigen Versen geschildert und über die Erwähnung des Jammers (s. o.) als Notlage markiert, die Abhilfe verlangt. Der Auftrag ist damit strenggenommen ausgeführt. Die Botenrede erstreckt sich jedoch noch über hundertneunzehn weitere Verse (vgl. AvT, V.  19278–19397). Angeschlossen mit dem Verweis [n]u höre, herre, dise missetat (AvT, V. 19278) entfaltet Lielfant ausgiebig die Hintergründe der akuten Notlage, beginnend mit Erläuterungen zum Machtaufstieg Glorants und der Wehrhaftigkeit Pallaß’ (vgl. AvT, V. 19271–19311), weiterführend mit der Praxis des Jungfrauenraubs, der Misshandlung und Versklavung der Damen sowie ihere Verwendung

151 Gleichzeitig ergeben sich zahlreiche Parallelen dieses Botendienstes – sowohl die Redegestaltung als auch die Rahmung durch Körperinszenierung betreffend – zum bereits thematisierten Boten im Dienste der um Reinfried als Fürstreiter werbenden Yrkâne (s. Kap. 4.1.2). 152 Lielfant verrät, dass die Dame, die Glorant gefangen hat, Pallaß, die Tochter seiner Tante ist. Alle involvierten Familienmitglieder werden namentlich genannt und werden so als Personen, die mit Apollonius verknüpft sind, stilisiert, anstatt gesichtslose Opfer Glorants zu bleiben (vgl. AvT, V. 19270–19277). Auch im weiteren Redeverlauf spielt die genealogische Verbindung als Argument zum Einschreiten eine Rolle. Als es um die Gefangennahme Pallaß’ geht, ergänzt Lielfant die Aussage [u]nd vieng di edlen frauwen mein mit [u]nd, hoher kunig, di nifftel dein (AvT, V. 19372f.). So spricht er, als es um das konkrete Schicksal seiner Herrin geht, von Pallaß, ewr mümen kint (AvT, V. 19357) bzw. Pallas, ewr müm vil raine (AvT, V. 19358). Die weitere Instrumentalisierung am Ende der Rede wird im Haupttext besprochen.

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als Lockvogel (vgl. AvT, V. 19312–19355). Es folgt die verschärfte und konkretisierte Schilderung der Bredouille Pallaß’ (vgl. AvT, V. 19356–19384). Diese ausgedehnte Präsentation lässt den Kampf, zu dem der König durch seinen Boten auffordern lässt, in einem anderen Licht erscheinen. War der Kampf in den Worten des Boten Königs Glorant als abentewr (AvT, V.  19116), als Möglichkeit, ere und ritterschafft zu erstreiten (AvT, V.  19138, 19143), und sich als unverzagt zu erweisen (AvT, V. 19128), bezeichnet worden, ist das Ereignis in der Rede des Boten der bedrängten Pallaß, die hier – ebenfalls im Gegensatz zur vorherigen Rede – namentlich genannt, umfangreich dargestellt und damit als Person entworfen wird, schmachait (AvT, V. 19317), schande (AvT, V. 19385) und laster (AvT, V. 19389), die es zu verhindern gilt. Der reiche kunig von Morlant (AvT, V. 19115), der in der ersten Botenrede zum Kampfe lädt, wird durch Lielfant als ungetreuwe (AvT, V. 19316) und ungefuger man (AvT, V. 19388), als Opressor, Vergewaltiger und Sklaventreiber (vgl. AvT, V. 19295–19297, 19319–19330f., 19391–19396, 19332–19341) vorgestellt. Diese beiden Botenberichte zeigen, wie sehr die Wahrnehmung eines Ereignisses ohne die Möglichkeit einer eigenen Begutachtung von den konkreten Worten der Vermittlung abhängt und rücken die Relevanz der Gestaltung der Botenrede in den Vordergrund. Sie vermitteln nicht einfach Informationen, sondern repräsentieren – wie in der Gegenüberstellung deutlich wird – den Blick ihres Auftraggebers auf bestimmte Ereignisse. Die Erzählung schlägt sich dabei – wie kaum überraschen dürfte – auf die Seite Pallaß’, indem sie König Glorant in einer dem Botenbericht Lielfants bereits vorgeschalteten Passage der propagandistischen Präsentation seiner Taten überführt. In der vermittelten Rede des Königs Glorant nach dem Sieg gegen Ercules von Epheso (s.  o.) wird deutlich, wie räumliche Trennung und Botenworte propagandistisch genutzt werden. Da die kommunizierenden Parteien räumlich getrennt sind, ist der Ausgang des Kampfes gegen Ercules von Epheso für die Festgemeinschaft um Apollonius ein vermittelter. Als König Glorant seinen Gegner getötet hat, folgen Hinweise auf einen weiteren Botendienst (vgl. AvT, V.  19207) sowie eine wörtliche Rede, die einen Vermittlungsauftrag enthält, und daher eine Instanz suggeriert, die an den bisherigen Vermittler in der Angelegenheit denken lässt. Dabei inszeniert König Glorant sich als deutlich überlegen und fordert weitere Kämpfe heraus. Er lässt nicht einfach mitteilen, dass Ercules tot ist; dieser sei […] gelegen dot ’Vor vorchte, do er mich sach an. Er was ain kint und nicht ain man, Das er so greulichen erschrack Und von dem tische tod lag.’ Er pot in pesunder

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In nem michel wunder Ob sy mit solchen kinden Wolten recken uberwinden. Er auch es wär im laid Das er auff das kint rayt ’Sag in, ob sy wellen frumen̅ Pejagen, das di alten komen̅ , Di da sind gestanden Und rechen irn anden.’ (AvT, V. 19202–19216)153

Das entspricht, wie die RezipientInnen, die zuvor einen Erzählerbericht des Kampfes erhalten (vgl. AvT, V.  19170–19197), wissen, nicht den Tatsachen. Es handelt sich zwar bei Ercules um einen jungen (AvT, V.  19193), dennoch liefert sich dieser einen erbitterten Kampf mit König Glorant, bevor jener ihn ersticht (vgl. AvT, V. 19170–19175, 19188–19196). Die am Hof des Apollonius zurückgebliebenen Ritter jedoch entbehren dieses direkten Blicks auf das Kampfgeschehen und können den Wahrheitsgehalt bzw. das Maß an Übertreibung und Selbsterhöhung in den Aussagen nicht mit Sicherheit beurteilen. Auch wenn sich Lielfants Beitrag nicht als besonders durchgeformte Rede erweist und vor allem als ein Gegenbild zu den Inszenierungen des Königs Glorant wirkt, lassen sich dennoch rhetorische Strategien beobachten, die bei der Vermittlung im Dienste der Aktivierung zur Hilfe relevant sind. Die Aufmerksamkeit vermag er mittels zweier Strategien über die lange Rede zu halten. Zunächst fällt auf, dass der Bote seine Redestruktur durch Zwischenfazits und -einleitungen sichtbar macht und so sicherstellt, dass seinen Worten problemlos zu folgen ist. Er streut Aufforderungen um Aufmerksamkeit inklusive Adressatenansprache und -preis ein, die gleichzeitig eine Art Hörerführung darstellen, indem sie jeweils den vorherigen Redepart beschließen und kurz darauf hinweisen, welche Details im nächsten Redeabschnitt folgen.154 Die zweite Auffällig-

153 Ob die Gesellschaft auf diese zweite Botschaft Glorants reagiert, ja ob sie sie überhaupt empfängt, lässt der Text offen. Später heißt es, die Bereitschaft Apollonius’ werde dem mor kunt gethan (AvT, V. 19414). In beiden Fällen taucht die Instanz, die dafür zuständig ist, die Botschaften in die eine oder andere Richtung zu vermitteln, wie auch der Vermittlungsprozess an sich nicht mehr auf. Hier verschwinden wie in Kap. 4.1.1 ausführlicher für die Kommunikation zwischen König Balthasar und Apollonius ausgeführt, Raum wie raumüberwindende me­diale Form in der erzählten Fernkommunikation. 154 Er fordert den jeweils direkt lobend angesprochenen Apollonius auf, zuzuhören bzw. eine Information aufzunehmen und kündigt damit meist auch an, was folgt. So heißt es: nu höre, herre, dise missetat (AvT, V. 19278), bevor es um die machtpolitischen Hintergründe der Schreckenstaten Glorants geht, und so leitet er mit Ich hab dir nu wol genant/Wie es ist gestalt umb das

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keit der Rede betrifft die Vermittlung des Leids der Königin. Lielfant integriert zu diesem Zweck seine eigene Affizierung von der unglücklichen und aussichtslosen Situation in seine Botschaft und wendet damit eine populäre rhetorische Technik zur Überzeugung an.155 Er repräsentiert einen klaren Standpunkt, wenn er die Verwaisung seiner Herrin mit layder (AvT, V.  19291) und [d]as musse Got geklaget sein! (AvT, V. 19293) kommentiert, der Einleitung des Berichts über Glorants Schandtaten die Bemerkung (eß ist doch schande) (AvT, V.  19318) beifügt bzw. die Versklavung junger Damen als Arbeiterinnen und Ausstatterinnen seiner Ritter als groß […] ungefüg (AvT, V.  19337) einordnet.156 Er schließt sich in die Gruppe der Betroffenen ein, wenn er vorbringt, dass uns der ungetreuwe man/Grosser schmachait hat getan (AvT, V. 19316f.) und das wir den gnaden dein (AvT, V. 19321) ausgeliefert seien.157 Dieses Bewerten und Offenbaren persönlicher Involvierung der Botenperson färbt vor allem den Abschluss der Rede. Am Ende verleiht Lielfant der Notwendigkeit, sich in die Angelegenheit einzuschalten, aus seiner Perspektive Nachdruck.158 Er spricht eine eindeutige Bewertung aus: Sollte Glorant Pallaß missbrauchen,159 so sei das ain grosse schande (AvT, V. 19385). Zur

lant:/Nu will ich, werder kunig, sagen,/Paide kunden unde klagen/Was uns der ungetreuw man/ Grosser schmachait hat getan: (AvT, V.  19312–19317) von jenen Ausführungen über zu den Berichten der allgemeinen Untaten des Königs. Ebenso gestaltet sich der Übergang von den allgemeinen Gräueltaten Glorants zu den Ausführungen zu Pallaß’ Bedrängnis: Herre, ich hab ew gar gesayt/Kunig Glorandes gewonhait:Nu horet wie di märe sint/Umb Pallaß, ewr mümen kint (AvT, V. 19354–19357). Auch innerhalb der einzelnen Passagen finden sich kurze Aufmerksamkeitsgeneratoren (Nu mercke, werder kunig palt:, AvT, V. 19307; (Nu mercke recht was ich dir sage), AvT, V. 19331; Und sich:, AvT, V. 19340). 155 Lechtermann verweist in ihrer Auseinandersetzung mit den Reden in Rudolfs Der Guote Gêrhart auf die Relevanz, die mittelalterliche Autoritäten auf dem Gebiet der Rhetorik wie Thomasin von Zerklaere, Hugos von St. Viktor und Augustinus emotionaler Affiziertheit des überzeugenden Redners zuschreiben. Die emotionale Affizierung der Zuhörer sei durch eigene Affizierung des Redners zu erreichen (vgl. Lechtermann, Redeordnungen, S. 89f.): „Der Körper des Redners muß in einen Erregungszustand versetzt werden, nur so ist er in der Lage, den gewünschten Affekt, sei es Reue, Trauer, Zorn, Mitleid etc. zu bewirken. Der Rednerkörper wirkt so als ein Vorbild, dem sich der Zuhörer beziehungsweise Zuschauer angleicht“ (hier S. 91). 156 In stärkerem Ausmaß noch nutzt die Botenrede des Braunschweiger Boten, der im Reinfried dem Protagonisten von Yrkânes Notlage berichtet, Ausdrücke, die auf eigene emotionale Involvierung schließen lassen, für die Wirkung seiner Worte (s. Kap. 4.1.2). 157 S. ebenso die Boten des Königs Balthasar (s. u.). 158 Auch hier enthält die Botenkommunikation des für Yrkâne Dienst leistenden Boten im Reinfried eine Vergleichsstelle (s. Kap. 4.1.2). 159 Das scheint nicht sehr unwahrscheinlich zu sein, haben das angedrohte Schicksal doch bereits 400 Damen erlitten (vgl. AvT, V. 19390–19392) und droht das durch den ,Mohren‘ verkündete (vgl. AvT, V. 19124–19127) Vorhaben doch bereits in ni lenger dann zehn tage (AvT, V. 19395).

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Intensivierung der Wirkung dieses Arguments fordert er alle Anwesenden auf, sich zu überlegen, was es für sie bedeute [o]b ain so ungefuger man/Euch legte solch laster an (AvT, V.  19388f.). Die unterstellte Wahrnehmung der verhinderbaren Verletzung eines/-r Verwandten als persönlichen Ehrverlust spitzt Lielfant dann auf den primären Adressaten zu und stellt damit eine Verbindung zu seinen genealogischen Äußerungen zu Beginn der Rede her.160 Die bei Lielfant zu beobachtende und erfolgreiche161 Technik, die eigene Betroffenheit in die Rede einfließen zu lassen, damit diese Gewähr für den behaupteten Inhalt leistet, ist auch in den anderen Passagen, die im Apollonius und im Reinfried längere Botenreden wiedergeben, zu beobachten. Auch sie dienen der Überzeugung des Empfängers, in einem Falle zur Hilfe, im anderem zur Teilnahme an einem Turnier. Dabei werden aber auch andere Stärken der Beteiligung eines menschlichen Mittlers deutlich. Das konventionalisierte Auftreten eines Boten mit einer Agenda, die der des ,Mohren‘ gleichkommt, schildert die erste Textpassage, die im Reinfried von Braunschweig Fernkommunikation zeigt. Am Hofe Reinfrieds erscheint ein Bote, der – nach einem angemessenen Empfang (RvB, V.  152–165) – die Kunde, dass am Dänischen Hof ein Turnier stattfinden werde, verbreitet.162 Sie stellt in diesem

160 Vgl. Anm. 4/152. Er schiebt der Aufforderung, sich in die Beratung zur richtigen Handlungsweise zu begeben (vgl. AvT, V. 19393f.), den Hinweis auf den Ehrverlust, den es für Apollonius persönlich bedeutet, diese Schmach zuzulassen, hinterher: sleft er dan pey ir:/Herre, das war dann ain schande dir (AvT, V. 19396f.). Auch das erinnert an das Verhalten von Yrkânes Boten (vgl. Kap. 4.1.2). 161 Apollonius tritt in die Auseinandersetzung mit dem König (vgl. AvT, V. 19398–19412). In der Präsentation zweier unterschiedlich motivierender Einladungen zum Kampf verbirgt sich auch eine Charakterisierung des Helden bzw. eine Hierarchisierung von Werten. Ist Apollonius nicht der Erste, der sich nach der Einladung durch den ersten Boten, der mit Ruhm, materiellem Lohn und Frauenpreis wirbt, der Herausforderung stellt, so reagiert er sofort, als Lielfant vom Leid Pallaß’ berichtet und deutlich macht, dass auch seine Ehre auf dem Spiel steht. 162 Motiviert wird sein Erscheinen im Text nur andeutungsweise. Direkt vor dem Eintreffen des Boten gibt die Erzählinstanz zu verstehen, dass Reinfrieds Ansehen sich dur alliu lant (RvB, V. 147) verbreitet habe. Der Reichweite seines Rufs entsprechend dürfte es keine Überraschung darstellen, dass man sich Reinfried zu nähern und ihn zu einem Turnier einzuladen versucht. Auch der Bote selbst legt später nahe, dass Reinfrieds guter Ruf ihn zu einem (s. u.) Empfänger dieser Nachricht macht, indem er seine Lobrede durch die Konjunktion dâ von (RvB, V. 186) mit seinem Auftauchen verbindet und dieses so auf die konstatierte Vorzüglichkeit zurückführt. In diesem Falle ist der genaue Auftrag nicht bekannt, jedoch impliziert die Rede des Boten sowohl für seine innertextuellen Rezipienten als auch für die TextrezipientInnen, die im Text nicht präsentierte und dem Braunschweiger Hof noch unbekannte Entscheidung, am Dänischen Hof ein Turnier zu veranstalten und Boten zum Zweck der Einladung auszusenden. Auch wenn hier nicht deutlich wird, ob der Bote selbst die Auswahl der Gäste auf Grundlage seiner Unterrichtung

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Text am ausführlichsten die Interaktion des Empfängers mit einem Boten dar und lässt sich aufgrund der Platzierung vor dem von Botenkommunikation geprägten Handlungsteil (s. Kap. 4.1.1) als Schilderung des prototypischen Ablaufs eines bestimmten Botenkommunikationstyps lesen. Der prototypische Charakter bezieht sich auch auf die Beschreibung der Ereignisse vom Eintreffen des Boten bis zum Beginn der tatsächlichen Übermittlung. Der Bote wird sofort als solcher erkannt, aufgenommen und dem üblichen Protokoll gemäß behandelt.163 Nach dem gemeinsamen Mahl steht dieser auf und fordert mit diesem körpersprachlichen Zeichen die Aufmerksamkeit der Anwesenden. Bevor er zur Rede anhebt, stellt er sicher, dass er die volle Aufmerksamkeit besitzt, macht sich zum Mittelpunkt der Hofgesellschaft (vgl. RvB, V. 169).164 Auf die Aufmerksamkeitsgeneration folgend spricht der Bote Reinfried direkt an (vgl. RvB, V.  170). In einer eher unpersönlichen und unspezifischen Art lobt er zunächst seinen nicht namentlich adressierten Ansprechpartner ausgiebig (vgl.

über den jeweiligen Ruf der Fürsten in den Landen trifft, so wird hier zumindest eindeutig das Empfangen der Botschaft zu einem Prozess der Anerkennung stilisiert. 163 Die Erzählinstanz erwähnt, dass zur Zeit der Geschichte solche Besuche durch fremde Boten keine Seltenheit gewesen seien: wan des ze zîten vil geschach (RvB, V. 156). 164 Müller führt dieses Vorgehen unter den vier Regeln der mittelalterlichen Botenkommunikation auf: Boten erheben sich, um ihre Nachricht zu überbringen, sie bringen ihre Rede erst nach expliziter Aufforderung oder Erlaubniserteilung vor, sie haben ein Sprechmonopol und sprechen meist vor festgelegtem Publikum und in festgelegten Räumen (vgl. Müller, Datenträger, S. 96f.). Wie prototypisch dieses Vorgehen für den Reinfried ist, zeigt sich daran, dass der Bote, der später mit demselben Auftrag von Braunschweig an den Dänischen Hof reist, ebenso vorgeht (vgl. RvB, V. 6986–7030). Eine ähnliche Strategie, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, zeigt im Apollonius der Bote des Königs Glorant. Als die Festgemeinschaft gerade gemeinsam speist (vgl. AvT, V. 19095f.), kommt der ,Mohr‘ in deren Wahrnehmungsbereich gerant (AvT, V. 19097) und wird daraufhin umfangreich beschrieben: […][Er] was schwartz als ain prant./Er trug ain haidenisches gewant:/Ain samit grun als ain gras./Sein roß unmassen groß was/Er was von hoher art geporen./ Er furt ain ungefuges horen,/Zwayr dawm elen langk/(Der mor was dick und nit kranck),/Er was ain helfandes zant (AvT, V. 19098–19106). Er betritt die Stadt, macht neben seiner imposanten Erscheinung auch akustisch – mit einem Elfenbeinhorn – auf sich aufmerksam, wartet, bis ihm [d]as stat volk alles zu lieff (AvT, V. 19112), er also ein Publikum, eine Empfängerschaft um sich versammelt hat und beginnt mit lautter stymme (AvT, V. 19113) eine Turniereinladung zu verkünden. Verstärkt wird dieser Verweis auf die Lautstärke und damit die öffentliche Reichweite der Rede durch die Verwendung des Verbs ,rufen‘, statt ,sprechen‘ oder ,sagen‘ (vgl. AvT, V. 19113). Dieser Bote schafft sich in der Stadtbevölkerung ein großes Publikum, das seine Ankündigung zuverlässig weiterträgt. Bei weniger konventionellen Botschaften bzw. Botschaften von besonderer Dringlichkeit ist in beiden Texten ein anderes, gesteigertes Bemühen um Aufmerksamkeit zu beobachten, welches stets bereits Teil der Botschaft ist. So verrät das Betragen der Boten, die im Auftrag von Frauenfiguren um Hilfe ersuchen – Yrkânes Bote im Reinfried (s. Kap. 4.1.2), Pallaß’ Bote Lielfant im Apollonius (s. o.) – die Dringlichkeit ihres Anliegens bereits deutlich.

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RvB, V.  170–185), um ihn dann über das baldige Stattfinden eines Turniers am Dänischen Hof zu unterrichten. Er verschafft sich Gehör und Wohlwollen des Fürsten, bevor er zu der Gelegenheit seiner Nachricht kommt, welche er in der performativen Wendung165 unter Ausstellung der medialen Funktion klar vom Lob absetzt. Die Einladung realisiert der Bote in Form einer Aufforderung mit reaktionslenkender Rhetorik. Sie besteht hauptsächlich aus der Beschreibung und Anpreisung Yrkânes, deren Zuneigung durch die Turnierteilnahme zu gewinnen sei (vgl. RvB, V. 192–233, 256–269), gerahmt von Auslassungen über das bereits reichlich akkumulierte – durch die beworbene Fahrt aber sicherlich noch zu vermehrende166 – Ansehen des Empfängers.167 Auch wenn der genaue Auftrag nicht bekannt ist, wird impliziert, dass der Bote mit derselben Nachricht unterschiedliche potenzielle Empfänger abläuft, um – ähnlich wie im beginnenden einundzwanzigsten Jahrhundert über Rundmails und Gruppennachrichten – einem größeren Empfängerkreis identische Informationen zukommen zu lassen.168 So ist das Lob des Fürsten bis auf die personalisierte Aufforderung an Reinfried, dem Aufruf Folge zu leisten (er schließt: sô frâget man, ,von Brûneswîc/der werde fürste kunt der dar? RvB, V. 240f.), eher unspezifisch und als schmeichelnder Anreiz für viele unterschiedliche Fürsten zu verwenden. Über Reinfried sagt der Bote nichts, als dass er lop (RvB, V. 174, 179, 183, 235) und wirde (RvB, V.  176, 178, 236) besitze. Die Ausgestaltung der ihm selbst bekannten Yrkâne hingegen fällt zwar ebenso den gendertypischen Idealen gemäß aus,169 umfasst aber dennoch detailliertere Angaben, die ein kon-

165 [ich] künt dir sicherlichen/sunder rede zâfel/ein ritterlîch runttafel (RvB, V. 188–190). 166 Der Bote verspricht: des wirt dîn lop geblüemet (RvB, V. 235). 167 Zu den darin sichtbar werdenden Genderimplikationen s. Anm. 4/169. 168 Dabei handelt es sich Ernst zufolge um eine verbreitete Form offizieller Schreiben (im hiesigen Beispiel ist diese Form der Benachrichtigung mündlich realisiert). Er führt Beispiele aus Hartmanns Erec, Seifrits Alexander, Strickers Daniel von dem Blühenden Tal, Ottes Eraclius, Ulrichs von Türheim Rennewart, Ulrichs von Etzenbach Alexander, Rudolfs von Ems Barlaam und Josaphat an (vgl. Ernst, Schriftlichkeit, S. 313–316). Auch Beispiele aus Heinrichs Apollonius von Tyrland werden erwähnt (vgl. hier S. 316f.). Bei der Turniereinladung des Königs Jechonias handelt sich um so eine Botschaft an ein größeres Publikum (vgl. AvT, V. 6080–6110). Auch wenn die Boten davon sprechen, explizit Apollonius aufgesucht zu haben (Werder kunig tugenthafft/Von Galacide genannt:/Uns hat her zu dir gesant/Der edel Jechonia, AvT, V. 6078–6081), so erwähnen sie doch auch auch furpaß gesant/Zu anderen fursten in das lant,/Die alle dar sind geladen (AvT, V. 6107–6109) zu sein. 169 Betont werden Schön- und Keuschheit. Sie wird mit den Attributen schœn bzw. schœne (RvB, V. 194, 206, 218), minneclîche/minneclîchen/minneclîchiu (RvB, V. 204, 228, 260), süeziu/ süeze (RvB, V. 205, 214) und kiusche (RvB, V. 215) bzw. mit kiuschekeit (RvB, V. 211) ausgestattet und als turteltûben (RvB, V. 209) beschrieben. Die funktionierende Überzeugungsstrategie ist in

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kretes Bild evozieren (vgl. RvB, V. 193–233). Auch dass keine Aussagen über die Beziehung des Senders zum Empfänger getroffen werden und allein über das generelle Ansehen des Angesprochenen argumentiert wird,170 spricht für eine allgemein gehaltene Nachricht für eine Vielzahl ehrenhafter Fürsten. Des Weiteren schließt der Bote seinen Monolog mit der Bitte, schnell weiterziehen zu dürfen, um auch an anderen Höfen die Einladung zur aventiure kund zu tun (vgl. RvB, V. 270–272).171 Anders als bei elektronischen Gruppennachrichten läuft diese Art der Verbreitung sukzessive ab, kann aber dafür jeweils aktualisierte und auf den jeweiligen Empfänger zugeschnittene Informationen bereitstellen. Dieser Vorteil der Ausführung durch einen Boten zeigt sich nach Ende der Botenrede, wenn der Bote für weitere Auskunft und Rückfragen bereitsteht und auf Nachfrage Reinfrieds angeben kann, welche Fürsten sich bereits angekündigt haben (vgl. RvB, V. 284–306). Die Präsenz des Boten wirkt in derselben Weise auf Reinfried zurück. Denn der Bote ist von nun an auch Zeuge und Mittler seiner Reaktion und sorgt damit für Verbindlichkeit der Zusage.172 Obwohl der Bote stellvertretend für den König die Einladung ausspricht und performativ vollzieht, nimmt er die Stimme des Königs und damit eine direkte Repräsentation dieses nicht an. Immer spricht er als eigenständige Person und referiert in seinem Vortrag mit ,ich‘ auf sich selbst. Das ist insbesondere daran

ihrem Rundmailcharakter und durch ihre Zweipoligkeit – die Beschreibung des Empfängers als perfekten Ritter und die Anpreisung Yrkânes als beste aller feinen Damen – also auch unter gendertheoretischem Blickwinkel nicht uninteressant. Hier wird kurz deutlich, inwiefern me­diale Formen zu Normalisierung und Naturalisierung neigen, wie Winkler formuliert. Er erläutert: „Einmal kodifiziert erscheinen Dinge, als müssten sie so sein, wie sie sind. Ihre Stabilität – und die Stabilität des Codes – erscheint das ,natürlich‘“ (Winkler, Basiswissen, S. 279). 170 Ein persönliches Interesse des Senders an der Teilnahme Reinfrieds kommt nicht zum Ausdruck, Worte der Einladung fallen nur indirekt, indem der Bote Reinfried von der Veranstaltung in Kenntnis setzt und ihm rät, dort im Sinne seines Ansehens und angesichts des Preises teilzunehmen (bspw. die vart solt du dar leisten, RvB, V. 234; swem daz ze sehende leidet,/der ist niht werdes grozes wert, RvB, V. 252f.). 171 Das entspricht laut Erzählinstanz dem Auftrag (vgl. RvB, V. 375f.). 172 Reinfrieds Zusage wird sich nun in ähnlicher Weise wie die der zuvor benachrichtigten Ritter verbreiten; einer Teilnahme könnte er sich nun nicht mehr ohne Ehrverlust entziehen. Der Bote wird zum Zeugen nicht nur des Empfangs der Nachricht, sondern auch der unmittelbaren Reaktion. Chatprogramme versuchen diese Funktion zu konstruieren, indem Lesebestätigungen beim Verschicken eingefordert oder automatisch erstellt werden oder aber sichtbar wird, dass jemand im Begriff ist, zu antworten. Die Rückmeldung funktioniert schneller und – im Vertrauen auf die Technik – direkter. Die Verbindlichkeit einer von Person zu Person in einer Face-to-faceSituation erteilten Zustimmung können sie allerdings schon durch ihre De­aktivierbarkeit nicht herstellen.

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zu erkennen, dass er dabei auch seine Stellung in der Fernkommunikation hervorkehrt. So spricht er davon, dass er verre her/ze dînem hove gestrichen (RvB, V. 186f.) sei; auch bittet er am Ende seiner Ausführungen um die Erlaubnis, weiterreisen zu dürfen (s. o). Im Hinblick auf das Lob Yrkânes hat die Übermittlung durch eine sich selbst thematisierende Person auch hier den Effekt, der bereits mit anderer Ausrichtung für Lielfants Rede (s.  o.) und die des Braunschweiger Boten im Auftrag Yrkânes (s.  Kap.  4.1.2) festgehalten wurde. Während seiner Schilderung der überaus schönen Königstochter baut der Bote eine eigene Beobachtung, einen Ausdruck eigener Affizierung durch ihre Erscheinung ein, die dem gesamten Bericht Authentizität verleiht. Als es um die lieblichen Augen der jungen Dame geht, kündet die Interjektion ei got waz strenger blicke/sî gideclîche schiuzet! (RvB, V. 222f.) von dem Erlebnis einer Person, die sich für das topologische Lob verbürgt und den Empfänger der Nachricht mit der hier kurz aufscheinenden Verzückung auf authentisch wirkende Weise anstecken kann. Neben Formulierungen, die auf Ansporn und Wohlstimmung zielen, nutzt die Botenrede also Affizierung durch affiziertes Sprechen als überzeugenden Effekt. Reinfried reagiert noch im Beisein des Boten positiv auf die Nachricht. In der öffentlichen Situation mit dem Boten gibt seine Antwort ich wil ie niht erwinden,/ ich schouwe dâ der fürsten schar (RvB, V. 313f.) in erster Linie zu verstehen, dass die auf seine Frage gegebene Auskunft über das Personal der Veranstaltung ihn in seiner Haltung überzeugt. Dass auch die ausführliche, ja schwärmerische Auskunft über die Vorzüge Yrkânes zu seiner Zusage beigetragen hat, erfährt man erst, als der Bote bereits weitergezogen ist. Da ruft sich Reinfried dessen Worte ins Gedächtnis und entwickelt eine rein auf der Botenbeschreibung basierende Zuneigung zu jener (vgl. RvB, V. 382–397): under sîner bruste lag ie verborgenlîch diu magt, von der der knappe hât gesagt, diu süeziu wol getâne, diu minneclîch Yrkâne (RvB, V. 436–440)

Die Liebe entsteht hier, wie bereits Baisch bemerkt, nicht über den Blick, sondern in der mündlichen Vermittlung.173 Nicht immer erschöpft sich die Forderung einer Botschaft darin, zu einem Turnier anzureisen oder einer Verwandten beizustehen. Geht es darum, Hilfestellung für einen Fremden zu generieren, ist eine besonders überzeugende Rede-

173 Vgl. Baisch, „durchgründen“, S. 191.

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gestaltung nötig. Ein eindrucksvolles Beispiel dafür ist eine der längeren Botenpassagen aus dem Apollonius, in der König Balthasar Apollonius um Beistand gegen einen Aggressor ersucht (vgl. AvT, V. 7187–7264). Diese Szene präsentiert ein exzellentes Beispiel persuasiver Botenrede,174 die sich an den Regularien der ars dictandi175 orientiert, indem sie ihr Überzeugungspotenzial vor allem aus Redeaufbau176 schöpft. Die Boten beginnen ihre Rede mit einer Verbindung aus salutatio und captatiao benevolentiae, in der sie dem hier und in Folge stets direkt angesprochenen177 Adressaten versprechen, sein Ruhm werde/solle/könne sich – wie in dieser Redeeröffnung mitschwingt – durch die folgende Botschaft vermehren (vgl. AvT, V. 7206). Ein Anreiz, weiter zuzuhören, ist somit bereits in der Anrede geschaffen. Diese Einstimmung des Empfängers wird fortgeführt: Die Botenrede erweist ihre(n)178 Urheber als informiert über Namen und Titel sowie die zahlreichen Errungenschaften und Tugenden Apollonius’ aus (vgl. AvT, V. 7208–7214), welcher – so legen die spezifischen Ausführungen nahe – anders als im obigen Falle nicht ein beliebiger Adressat einer Sammelnachricht ist (s. o.), sondern wie durch Pallaß’ Boten (s. o.) gezielt aufgesucht wird. Dieser Eindruck bestätigt sich im Inhalt der Botschaft, welche Apollonius die Herrschaft über das Land des Senders im Gegenzug für die Hilfe bei der Verteidigung dieses gegen Abacuk von Romaney anträgt (vgl. AvT, V. 7224–7264). Bevor jedoch diese Bitte vorgetragen wird, nennt der Bote seinen Auftraggeber König Balthasar und vollzieht performativ dessen Gruß an Apollonius (vgl. AvT, V. 7215–7217). Es schließt sich erneut eine kurze Lobesrede an (vgl. AvT, V. 7220f.) und leitet über zur petitio, welche mit der narratio verbunden wird. Der Bote bereitet seinen Empfänger mit der per-

174 Boten sind hier zwar auch Träger der schriftlich verfassten Nachricht (eine solche wird kurz angedeutet), vor allem sind sie aber körperlich und mündlich vermittelnde Instanz. Den Sprechakt führt der Text dabei auf alle vier Boten zurück, indem es jeweils heißt [a]ntwurten sy (AvT, V. 7207), in der Rede selbst heißt es ich sag (AvT, V. 7229), [i]ch rede (AvT, V. 7235). In seiner Reaktion auf die Botenrede heißt es von Apollonius auf einmal: Wir sullen raisen umb das landt./Seit uns mit priefen ist gesant/Armenia das reiche (AvT, V. 7271–7273). 175 S. Anm. 4/97; 4/98. 176 Nach dieser Disziplin ist der ideale fünfteilige Aufbau in der Abfolge salutatio (Gruß), captatio benevolentiae (Einstimmung auf den Gegenstand, Bemühen um die Adressatengunst), narratio (Mitteilung), petitio (Bitte) und conclusio (Schluss) besonders geeignet (vgl. Lutz, Rhetorica divina, S. 252; Wand-Wittkowski, Briefe, S. 31 sowie S. 52–62). 177 Auffällig häufig verwendet die Botenrede die Pronomen in der zweiten Person Singular: ,du‘ (vgl. AvT, V. 7210, 7221, 7259), ,dich‘ (vgl. AvT, V. 7215, 7222, 7223, 7262) ,dir‘ (AvT, V. 7214, 7218, 7220, 7224, 7251, 7253) oder ,dein‘ (vgl. AvT, V. 7206, 7212, 7219, 7226, 7227, 7252, 7254, 7256, 7258, 7260, 7261). 178 Vgl. Anm. 4/174.

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formativen Aussage, der König pitt (AvT, V. 7222) ihn um etwas, auf das folgende Anliegen vor. Der Inhalt der Bitte wird dann allerdings noch zurückgehalten und die in Aussicht gestellte Gegenleistung vorgezogen. König Balthasar bietet für sein Entgegenkommen an, sein Land Apollonius zu übergeben und sich seiner Herrschaft zu unterwerfen. Bevor deutlich wird, was der König sich eigentlich von ihm erhofft, versucht diese Rede Apollonius durch Aufführung der sich aus der Kooperation ergebenden Vorteile zu einer der Bitte entsprechenden Haltung zu bewegen. Dabei nimmt die Formulierung das Gewähren der Bitte und die Umsetzung der versprochenen Gegenleistung bereits vorweg. In der gewählten Formulierung in Präsensform findet diese Landesübergabe bereits im Sprechakt statt und ist Balthasar Apollonius bereits unterworfen: Armenia das gute lant Gibt er, herre, in dein hant. Er ist dein dienäre, Piß sein gepietere. (AvT, V. 7225–7228)

In der Rede wird die Umsetzung der eigentlich noch von der Gewährung der Bitte abhängenden Leistungen vorweggenommen und in die Realität der Gegenwart versetzt. Auch die Erläuterung der mitgeführten Goldgeschenke schafft solche Tatsachen und animiert Apollonius zum Einverständnis. Der Bote erklärt: Di klainat hat er dir gesant, Da mit neiget er deiner hant. Zwelff sawme mit golde, Da mit wirt er dein holde. (AvT, V. 7253–7256)

Die Botenrede stilisiert bereits das Aussenden des Goldes als Akt der Unterwerfung. Wiederholt wählt der Bote Formulierungen, die zur Kooperation anregen, indem sie sie voraussetzen. Im typisch rhetorischen Aufbau und in der Vorwegnahme des Ergebnisses einer Zustimmung erschöpft sich das persuasive Potenzial der Botenrede noch nicht. Die eigentliche Bitte um Unterstützung gegen Abacuk von Romaney wird in die Erzählung von Armenien eingebunden. Dieses als florierend und paradiesisch beschriebene Gebiet dient nicht nur der Aufwertung der angebotenen Herrschaft, sondern bildet auch den Kontrast zu den negativen Attributen, mit denen der Abacuk, welcher die Herrschaft über dieses Gebiet beansprucht, beschrieben wird. Während das Land, der man da [hat] was er will (AvT, V. 7240), durchweg positiv erscheint und einem tugendreichen Herrscher – wie Apollonius es laut

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Aussage des Boten ist179 – angemessen wirkt, ist derjenige, der nach der Herrschaft trachtet, hoch vermessen (AvT, V. 7242), richtet grosse storey (AvT, V. 7246) an und ist selbst regiert von hochvart (AvT, V.  7248). Da bereits die Beschreibung der beiden Personen und des strittigen Landes deutlich macht, dass nicht Abacuk, sondern Apollonius der passende Herrscher ist, verwundert es kaum, dass – wie der Bote schließlich enthüllt – König Balthasar sich nicht dem Abacuk unterwerfen möchte, sondern Apollonius’ Herrschaft anstrebt (vgl. AvT, V. 7249– 7251). Die die Botenrede beschließende Bitte, das Land vor dem Herausforderer zu schützen (vgl. AvT, V. 7252, 7263f.) und unter die eigene Regentschaft zu stellen,180 ergibt sich bereits als logischer Schluss aus dem Verlauf der Botenrede und dürfte dem Empfänger bereits selbst als Notwendigkeit erschienen sein. Entsprechend erfolgreich ist auch diese Botenrede (vgl. AvT, V. 7265–7273). So ausführlich wie in den beispielhaft analysierten Szenen wird im Textkorpus kaum noch einmal sichtbar, wie die Rhetorik eines mündlichen Vortrags Wirkung entfaltet.181 Daher soll es nun um das mediale Potenzial der Botenfiguren abseits des auditiven Kanals gehen. Botenfiguren können – so zeigen sowohl die bereits angesprochenen als auch die bislang nicht thematisierten kürzeren Szenen – durch ihre Körperlichkeit die mündlichen Kommunikations­beiträge ergänzen und die vermittelten Informationen anreichern. Das betrifft einerseits die Inszenierung des eigenen Körpers im Dienste der Botschaft. Ein eindrückliches Beispiel ist erneut Lielfant. Dieser inszeniert seine Erscheinung den Überlegungen zur Redegestaltung, welche dieser Botenfigur obliegt (s.  o.), entsprechend. Lielfant reitet ein weißes Pferd, kleidet sich im Kontrast dazu vollständig in Schwarz (vgl. AvT, V. 19253f.), seine blonden Haare trägt er [z]eflochten und zerstreuwet gar (AvT, V. 19255), sodass er wie ain klager (AvT, V.  19258) auftritt. Die Klage seiner Auftraggeberin repräsentiert er also in

179 Apollonius sei nicht nur als rechtmäßiger Herrscher über mehrere Königreiche und Eroberer von Syrien bekannt (vgl. AvT, V. 7209–7212), er verfüge außerdem über [w]irdikait (AvT, V. 7214) und sei allgemein der teuwrist der nu lebe (AvT, V. 7222; vgl. auch V. 7213). 180 Für diese Bitte stehen die Boten mit ihren persönlichen Empfindungen ein. In zwei Versen gewinnen die Boten auch hier ein personenhaftes Profil, indem ihnen emotionale Haltungen zugeschrieben werden. Im Rahmen der Botschaft schließt sich der sprechende Bote in die Ge­ meinschaft der Bedrohten ein (So grosse storey/Tuet er uns mit gewalt, AvT, V. 7247). Ließe sich diese Formulierung noch dem Auftraggeber zuschreiben, so zeugt eine Erzähleraussage später eindeutig von der Konzeption als in ihren Auftrag involvierte Personen. Nach Apollonius’ Entschluss zur Hilfe heißt es: Es daucht di poten auch vil güt (AvT, V. 7282). 181 Bereits zur Sprache gekommen ist die mit ähnlichen Mitteln wie Lielfant vorgehende Rede des Braunschweiger Boten, den Yrkâne mit ihrem Brief zu Reinfried schickt (s. Kap. 4.1.2).

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seiner Körperinszenierung.182 Auch bei den Boten Balthasars ist es nicht zuerst das Botenwort, sondern das inszenierte Auftreten, welches vermittelt und auf die Nutzbarkeit der physischen Präsenz des Boten im Vermittlungsprozess hinweist. Hier ist es nicht die Notlage, die die Boten anschaulich machen, sondern Einfluss und Reichtum des Senders. So zeichnen sich die Boten durch äußerst kostbare und wunderbare Ausstattung aus, die ohne Worte auf den Sender und seine monetären Kapazitäten zurückstrahlt. Ihre Kleidung ist kosper (AvT, V. 7190), ihre Ausrüstung [r]eich (AvT, V. 7191),183 mit sich führen sie vierundzwanzig reichlich bepackte Lasttiere, auf denen jeweils ein ebenso edel gekleideter Zwerg sitzt (vgl. AvT, V. 7196–7202). Die Boten und ihre große, kostbar geschmückte Gefolgschaft vermögen in ihrem exzeptionellen Auftreten Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen,184 und vermitteln, dass sie aus einem wohlhabenden Raum kommen.185 Sie stimmen damit den potenziellen Empfänger gewillt, sie aufzunehmen und ihre Botschaft zu empfangen. Dieser Wirkung lässt sich jedenfalls bei Apollonius beobachten, der den Boten eigens entgegengeht (vgl. AvT, V. 7203). Die Relevanz des Botenkörpers betrifft aber auch diesen als aufnehmendes Organ. So können Boten – es wurde bereits anhand einiger Redeinhalte deutlich  – die Funktion des verlässlichen (Augen-) Zeugen einnehmen und so mehr zurück zu ihrem Auftraggeber kommunizieren, als ihnen aufgetragen ist, oder aber sogar nach eigener Einschätzung handeln. Ihr besonderes Potenzial besteht somit in der Deutung der von ihren Auftraggebern entfernten Ereignisse und des Transfers ihres Erkenntniszuwachses. Sie „vermitteln zwischen einem andernorts stattfindenden, ,objektiven Geschehen‘ einerseits und seiner Wahrnehmung durch den Herrn oder der Präsentation vor ihm andererseits“186 und

182 Die körpersprachliche Inszenierung passt er dem Inhalt seiner Rede an und verfährt damit anders als der Bote Königs Glorant oder der Dänische Bote, der zu Beginn des Reinfried von Braunschweig ein Turnier ankündigt (s. o.). Ähnlicher ist dieses Gebärden dem Aufruhr, den der Bote, der Reinfried Yrkânes Hilfsgesuch überbringt, verursacht (s. Kap. 4.1.2). 183 Die Erzählinstanz führt das weiter aus, indem sie den Wert auf tausend march (AvT, V. 7192– 7194) schätzt. 184 Auf erzählerische Ebene ist das unterstrichen durch den Erzählereinwurf, der sich gegen den Vorwurf der Lüge oder Übertreibung wehrt (Das ich niht leuge, AvT, V. 7192). 185 Hier sei auch auf die kurze, aber in ähnlicher Weise sprechende Ausstattung der Boten des König Paldein im Apollonius verwiesen. Die Boten werden als [r]eiche (AvT, V. 2922), ihre Kleider als kospere (AvT, V. 2924) eingestuft. 186 Schor, Veritas, S. 113. Idealtypisch kommen ihnen – so heißt es weiter – die Aufgaben der Deutung von weit von ihrem Auftraggeber entfernten Ereignissen, des Transfers ihrer erworbenen Kenntnisse sowie Verkündung der Botschaft vor Ort bzw. Überreichung der schriftlich fixierten Information zu.

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stehen persönlich für die jeweilige Nachricht ein.187 Der Bote, der im Reinfried von Braunschweig den babylonischen Sultan davon unterrichtet, dass Reinfried und der Perser wohlauf sind (s. Anm. 4/111), wird daher dazu herangezogen, den für den Sultan unwahrscheinlichen Inhalt des von ihm überbrachten Briefes zu bestätigen. Der Sultan fragt ihn: knappe, ist diz mære wâr? (RvB, V. 24159). Der Bote, der zudem seinen eigentlichen Auftrag suspendiert hatte, um von seiner spektakulären Entdeckung zu berichten,188 kann daraufhin als Augenzeuge die Gesundheit der beiden vermissten Personen bestätigen (ich sach beide, ich was bî,‘, RvB, V. 24162). Den drohenden Kontexteffekt, dem Brief keine Bedeutung beizumessen, da das Überleben der Helden für unwahrscheinlich, ihr Tod jedoch für gesichert gehalten wird, kann er mit seiner Aussage abwenden. Die Person, die hier das Geschriebene mit einer eigenen Erfahrung mündlich bewahrheiten kann, scheint ein stärkeres Gewicht zu erhalten als das leblose Schriftstück. Mit der Rekurrenz auf den Ort, an dem er sich mit beiden gemeinsam befunden hat, wird besonders deutlich, wie sehr diese Zeugenfunktion damit zusammenhängt, dass in der Person des Boten, durch seine – zeitlich verschobene – Präsenz am zwei Orten, entfernte Räume der erzählten Welt ver­bunden werden. Auch der Bote im Reinfried, den Fontânâgrîs einem aus Liebeskummer vom Dänischen Hof geflüchteten Ritter hinterherschickt,189 bringt seine Augenzeu-

187 Boten stehen wie heute Zeugen für die Verlässlichkeit einer Botschaft ein, so Schor (vgl. hier S. 114). 188 Er ist eigentlich ausgesandt, Friedensverhandlungen anzustoßen (vgl. RvB, V. 22912–22917), entschließt sich aber beim Aufeinandertreffen mit den zwei verschollen geglaubten ,Helden‘, zunächst mit der Nachricht ihres Wohlaufseins zu seinem König zurückzukehren. Direkt, nachdem er um die Identität der vermeintlichen Fremden erfährt (vgl. RvB, V. 22990), läuft er ohne Auftrag der Fürsten los und seit dem rîchen künge daz/die herren beide wæren komen (RvB, V. 22995f.). Der Bote ist nicht unbeteiligter Träger, sondern denkt mit, evaluiert und richtet sich dementsprechend auf die Überbringung derjenigen Botschaft, die er für brisanter bzw. relevanter hält. 189 Eine umfangreichere Kontextuierung inklusive längeren Textzitaten bietet Martschini, Schriftlichkeit, auf den Seiten 203f.; s. außerdem Anm. 4/11. Ein direkter Auftrag wird im Text nicht sichtbar. Er erwähnt lediglich, dass man versucht, in den Landen nach dem Verbleib des Ritters Erkundigungen einzuholen (vgl. RvB, V.  5424f.). Der Knappe, der ihn dann findet, behauptet, der König habe den Ritter mit seinen Boten überall suchen lassen (vgl. RvB, V. 5454f.), ist also nicht direkt und auch nicht als einziger damit beauftragt, den Ritter zu finden, gibt daher wahrscheinlich auch eher frei das Interesse des Königshofes wieder. Davon erfahren die TextrezipientInnen nur einen Bruchteil in direkter Rede. Was genau er ihm allez kunt (RvB, V. 5457) macht und mit welchen Worten er ihn bittet, wiederzukehren (vgl. RvB, V. 5458), stellt der Text nicht dar. Dabei kommt es offensichtlich nicht auf den genauen Wortlaut, sondern nur auf den ungefähren Inhalt als neue Kontaktinitiation an. Da es hier um das Einbringen des Boten in den medialen Prozess geht, muss darauf hingewiesen werden, dass überhaupt erst das eigene Nach-

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genschaft sowie darüber hinaus eine eigene Einschätzungen in seinen Bericht mit ein. Da man hier sowohl erfährt, was der Ritter dem Boten mitteilt (vgl. RvB, V. 5460–5477), als auch, was der Bote dem König gegenüber erwähnt (vgl. RvB, V.  5482–5494), wird deutlich, dass es sich nicht um eine wortgetreu wiederholende, sondern lediglich inhaltlich genau wiedergebende Darstellung gegenüber dem König handelt. Er führt das Gespräch quasi für Fontânâgrîs und versucht, in dessen Sinne nachzufragen, um ein vollständiges Bild zu gewinnen und umfassend Bericht erstatten zu können.190 Die drei Kernaussagen  – der Ritter wolle nicht wiederkommen, die Königstochter trage ihm gegenüber einen ausgeprägten Hass, er wolle aber nicht offenbaren, worauf dieser Konflikt beruhe – bleiben im späteren Bericht des Boten in ihrer ursprünglichen Reihenfolge erhalten. Auch die vom Ritter zum Ausdruck gebrachte Entschlossenheit, fernzubleiben, da er es nicht wage, zurückzukommen (vgl. RvB, V. 5462), reißt seine Aussage an (vgl. RvB, V. 5482–5493). Was in der Darstellung des Boten hinzutritt, ist eine Schilderung der Gesprächssituation und das Bemühen des Boten um die Rückkehr: er sprach ,ich enkunde in mit dekeinen dingen nie her wider bringen mit bete noch mit flêhe. (RvB, V. 5482–5485)

Noch auffälliger aber ist, dass der Bote bei der Vermittlung das Bild selbständig aus- und mitgestaltet, indem er den überbrachten Informationen eine Einschätzung über den Zustand des Wahl-Exilanten anfügt und damit die Behauptung jenes Ritters, sein Fernbleiben beruhe auf einer ungelösten Entzweiung mit der Königstochter, unterstreicht. Er berichtet nämlich: […] ich gehôrte noch gesach sô klegelîchez ungemach nie von mannes munde. ûz sendes herzen grunde

forschen des Boten es möglich macht, dass überhaupt irgendwas vermittelt werden kann. Als er von einem fremden Ritter hört, sucht der diesen – in der begründeten Hoffnung, den Gesuchten zu finden – auf (vgl. RvB, V. 5430–5445). 190 Auf die unbegründete Ablehnung der Bitte, wieder zurück an den Dänischen Hof zu kommen, fragt der Bote nach, wie das gemeint sei (vgl. RvB, V. 5465). Da die Antwort vage ausfällt, versucht er nochmals – allerdings vergeblich – nachzuhaken, was zunächst in Form der direkten Aufforderung, mehr zu erzählen, dann aber in der zusammenfassenden Feststellung, der Knappe habe sich darum bemüht, mehr zu erfahren, sei jedoch erfolglos geblieben, dargestellt wird (vgl. RvB, V. 5468f., 5471–5477).

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hôrt man in siufzen dicke. an sînem aneblicke sô moht man ûzen schouwen, daz sîn herz verhouwen was inwendic libes. (RvB, V. 5495–5503)

Der Bote versucht, dem König ein Bild von dem Zustand des vorgefundenen Ritters zu machen, und interpretiert für ihn das Gesehene als Ausdruck tiefer Verzweiflung und Trauer. Den rein sprachlich von jenem Ritter erhaltenen Informationen fügt er seinen persönlichen Eindruck von dessen Physis und die konventionelle Interpretation dieser bei, welche hier die zu übermittelnde Botschaft unterstützt. In dieser ersten Szene der im weiteren Verlauf hauptsächlich von Briefbotschaften geprägten Fernkommunikation (s. Kap. 4.3.1)191 fungiert der Bote nicht nur als ein mobiles Ohr und Sprachorgan des Königs, sondern in besonderem Maße auch als dessen Auge und Interpretator.192 Gerade die Interpretationsfunktion deutet an, was andere Szenen sich noch stärker zunutze machen; nämlich, dass diese Verknüpfung des fernen Raums mit dem Sender über den aufnahmefähigen Körper des Boten nicht das Verschwinden der Botenfiguren als Personen in der Stellvertreterfunktion bedeutet. Das

191 Die Rolle des Boten in der hier geschilderten wechselseitigen Fernkommunikation wird im Verlauf der Textpassage immer weiter zurückgedrängt. In der Kontaktaufnahme führt noch der Bote das Gespräch mit dem Ritter, in der darauffolgenden Unterredung führt er bereits den Brief mit Bitte um Rückkehr mit sich, den jener ebenso schriftlich beantwortet (s.  Kap.  4.3.1), und begleitet und bestätigt mit seinen Worten lediglich den Briefinhalt (vgl. RvB, V. 5779–5849). Der Brief, der die Bekanntschaft von Seiten des Dänischen Hofs aufkündigt (s. Kap. 4.3.1), wird schließlich ohne Botenrede übergeben (vgl. RvB, V. 5238–5283). Der Übergang von mündlicher zu schriftlicher Fernkommunikation lässt sich auch als Ausdruck der wachsenden Distanzierung der Gesprächspartner lesen. 192 Auf die Augenzeugenfunktion der Botenfigur in den bereits besprochenen Szenen wurde an den gegebenen Stellen hingewiesen. Eine besonders eindrückliche Instrumentalisierung des Botenkörpers als Stellvertreter der Senderin beschreibt die Szene um den Boten Diomenas (s. Kap. 4.1.2). Sogar als Hand des Auftraggebers fungiert der Bote, dessen König Glorant sich bedient. Wie Apollonius erfährt, schickt jener seinen poten (AvT, V. 19323) aus, um die Jungfrauen des Landes mit Gewalt an sich zu nehmen: Zu hant er seinen poten hat/Und nympt sy mit gewalt (AvT, V. 19323f.). Der Bote sammle die Jungfrauen des Landes und führt sie seinem Herrn zu, der sie dann missbrauche und anschließend versklave (vgl. AvT, V. 19325–19337). Der Bote berichtet im Falle Pallaß’: Do rant der mor in den tantz/Und vieng di edlen frauwen mein (AvT, V. 19371f.). Ob mit diesem ,Mohr‘ König Glorant selbst oder sein Bote gemeint ist (s. Anm. 4/145), ist nicht eindeutig. Von einer ähnlichen Funktion eines Boten berichten im Reinfried die Zwerge, welche von einem Riesenherrscher zu Zinsabgaben genötigt werden. Dort heißt es: nu ist der bote komen nâ/dem zinse sô wir müezen geben/ljærgelîch für unser leben (RvB, V. 18752–18754).

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zeigt die bereits für mehrere Botenreden konstatierte Darstellung des Boten als eigenständig fühlende Instanz (s. o.), die dort jeweils zu beobachtende Referenz auf SenderInnen in der dritten Person193 und das Ausstellen des eigenen medialen Handelns.194 Im Hinblick auf die Möglichkeit gleichzeitiger Repräsentation des Senderkörpers und der Eigenständigkeit der Botenperson ist hier noch einmal in besonderem Maße an Cleopacras’ Einsatz für Diomena zu erinnern, der bereits in seinem Zusammenspiel mit dem mitgeschickten Brieftext besprochen wurde (s. Kap. 4.1.2). Die Eigenständigkeit, die auf der Fähigkeit des Boten, wahrzunehmen, zu interpretieren und demnach sein Verhalten anzupassen, beruht, erweist sich im Apollonius als besonders relevant in Prozessen der Kontaktaufnahme. Das illustrieren der Bote Palminas, der selbige in friedlicher Weise mit Apollonius in Kontakt bringt, und der Bote, der Apollonius und Altistrates schrittweise einander annähert, bis eine direkte Kommunikation möglich ist. Hier beeindruckt nicht eine rhetorisch gestaltete Rede, sondern das diplomatische Verhalten in der Interaktion mit Apollonius. Vermittelt wird hier im mehrfachen Sinne. Als sich der Burg Palminas Fremde nähern, werden ihnen Boten entgegengesandt (vgl. AvT, V. 13736f.), um die notwendigen Erkundigungen für die Entscheidungen über das weitere kommunikative Vorgehen einzuholen. Zunächst zeigt dieser Einsatz, was in beiden Texten am Rande zur Sprache kommt: nämlich, dass die Eigenständigkeit und Unabhängigkeit der Boten sie vor einer Involvierung in Konflikte der Kommunikationspartner schützt und sie in Streitfragen als neutrale Vermittler gelten.195 Die Eigenständigkeit betrifft aber in diesem Falle

193 Der Bote des König Balthasar im Apollonius bspw. bleibt stets in der Stimme des übermittelnden Dritten. Vom König spricht er als mein her (AvT, V. 7216), in der weiteren Rede verweist er ausschließlich in der dritten Person auf diesen (vgl. AvT, V. 7219, 7220, 7222, 7223, 7224, 7226, 77227, 7228,7230, 7251, 7253, 7253, 7254, 7256, 7257, 7263). Dasselbe lässt sich für alle anderen besprochenen Szenen festhalten. 194 Die Botenfiguren verweisen zum einen darauf, dass sie von jemandem gesandt sind, zum anderen, dass sie gerade etwas verkünden oder vermitteln. Einige Beispiele aus beiden Texten seien hier illustrativ angeführt: Mercke recht was ich sag (AvT, V. 7229); Ich rede es an alle schande (AvT, V. 7235), äußert sich der Bote des Königs Balthasar; der Bote des Königs von Glorant sagt: Ich sage ew gar di geschicht (AvT, V. 19123). Der erste Bote des Reinfried sagt: [ich] künt dir sicherlichen/sunder rede zâfel/ein ritterlîch runttafel (RvB, V. 188–190). 195 Die Leistung des Boten wird als solche unabhängig von dem Verhältnis zum Sender wertgeschätzt – angesichts der Repräsentations- und Stellvertreterposition, die die Boten für den Sender einzunehmen vermögen, keine Selbstverständlichkeit. Dem jeweiligen Verhältnis des Empfängers zum Sender entsprechende positive wie negative Behandlung können Boten(figuren) erfahren. Im Reinfried und im Apollonius werden alle Boten unabhängig von der Beziehung zu ihrem Sender gut behandelt. Das gilt sowohl in der Auseinandersetzung zwischen Riesen und

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nicht nur die schützende Unabhängigkeit, sondern auch die autarke Handlungsweise. Die Boten tragen keine Nachricht, sondern stellen eine Frage. Gekoppelt an einen Ausdruck von Anerkennung (AvT, V. 13741–13743) erkundigen sie sich, ob mit einem friedlichen oder feindlichen Verhalten zu rechnen ist: Seyt ir uns feind oder holt? (AvT, V. 13740).196 Es liegt nun an den Gästen, sich zu dieser Entscheidungsfrage zu positionieren und damit zu bestimmen, wie weiter kommuniziert werden soll. Apollonius umgeht jedoch eine klare Entscheidung, indem er sowohl seine generelle Friedfertigkeit als auch seine kriegerische Potenz signalisiert.197 Der Ball zur Ausrichtung des Verhaltens liegt somit im Feld der Senderin. Doch der von Apollonius adressierte Bote kehrt nicht zu Palmina zurück, als deren Stellvertreter entscheidet er selbst mit seiner Reaktion, wie die Beziehung weiter verlaufen soll. Dafür ist die Einschätzung seines Gegenübers relevant. Später wird deutlich, dass der Bote Apollonius bereits an dessen Schild erkannt hat (vgl. AvT, V. 13776–13778) und weiß, dass es sich dabei um de[][n] tewrist furste […]/Der lebet nu zu diser frist (AvT, V. 17374f.) handelt. Wahrscheinlich auch deswegen entscheidet er sich, in freundlich-friedlicher Weise zu kommunizieren und

Zwergen (vgl. RvB, V. 25912f.) oder dem Dänischen und Braunschweiger Hof (vgl. RvB, V. 7059– 7082, 10320–10324) im Reinfried als auch für die rein taktischen Friedensverhandlungen Paldeins mit Ejectas (vgl. AvT, V. 3607f, 3693–3696) und die diplomatischen Beziehungen zwischen Flata und dem Umland (vgl. AvT, V. 4757–4765) und die Kontaktaufnahmen durch Formosa (vgl. AvT, V. 5605–5644) und Palmina (AvT, V. 13740) im Apollonius. Dass dies keine Selbstverständlichkeit ist, zeigt der Blick in den Wilhelm von Österreich. Dort hat es sich der Herrscher Marroch zur Gewohnheit gemacht, alle Boten, die ihm eine Kriegserklärung zustellen, töten zu lassen (vgl. V. 4504–4507 nach der Textausgabe Johann von Würzburg: Wilhelm von Oesterreich. Aus der Gothaer Handschrift. Hrsg. von Ernst Regel, Berlin 1906 [Nachdruck Dublin/Zürich 1970]). Die Praxis wird allerdings als grausam gekennzeichnet (vgl. WvÖ, V. 4508–4527). Von der Bestrafung des Boten berichtet mit Blick auf das Verhalten gegenüber Botenfiguren im Mai und Beaflor und im Prosalancelot Martschini (vgl. Martschini, Schriftlichkeit, S. 301). Philipowski macht darauf aufmerksam, dass Übergriffe auf den Boten nicht eine affektive und unkontrollierte Entladung von Emotionen, sondern einen Teil der Antwort auf das Vermittelte darstellen: „[W]er dem Boten Gewalt antut, schreibt seine Antwort zwischen die Zeilen des Briefes, den der Körper des Boten darstellt“ (Philipowski, Katharina: Erinnerte Körper, Körper der Erinnerung. Sein und Nicht-Sein in der Dichtung des Mittelalters. In: Kunst und Erinnerung. Memoriale Konzepte in der Erzählliteratur des Mittelalters. Hrsg. von Ulrich Ernst/Klaus Ridder, Köln, Weimar, Wien 2003 [Ordo. Studien zur Literatur und Gesellschaft des Mittelalters und der Frühen Neuzeit 8], S. 139–158, hier S. 150). 196 Seiner späteren Aussage zufolge ist das auch der konkrete Auftrag: mein frawe hat mich her gesant/Das ich erfüre märe/Weß di Herschaft wäre (AvT, V. 13753–13755). 197 Er sagt: Will uns yemand veint wesen,/Deß mug wir gar wol genesen./Wir haben niemand nichtz getan:/Wil aber yemand uns pestan,/Er sey diser oder der,/Pegert er sein, so wol her! (AvT, V. 13746–13751).

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somit eine konstruktive und produktive Beziehung zu seiner Herrin zu initiieren. Er bittet um Gehör für sein clagen (AvT, V. 12757), berichtet dann eindrücklich von der Notlage seiner Herrin198 und beschließt die Rede mit der – auch hier mit einem Gestus persönlicher Involvierung versehenen – Bitte um Unterstützung199 und der Offenbarung, ihn erkannt zu haben (s. o.). Ohne auf eine Antwort zu warten, eilt er zurück zu Palmina und erklärt ihr, welch prominenter Ritter vor ihrer Küste liegt (vgl. AvT, V. 13785f.), woraufhin jene die erste Begegnung nicht nur sucht, sondern auch den ersten Eindruck nicht dem Zufall überlässt und sich sorgfältig inszeniert (vgl. AvT, V. 13792–13804), um sich – erfolgreich – das Wohlwollen und schließlich auch die Hilfe Apollonius’ zu sichern.200 Noch eine weitere produktive Kontaktaufnahme im Apollonius ist an das autarke Agieren einer Botenfigur geknüpft, wobei der Eindruck entsteht, die räumliche Distanzüberwindung durch den Boten sei vielmehr ein Bild für die soziale Brücke, die es dem Boten hier zu schlagen gelingt. Apollonius ist als Schiffbrüchiger zum Hof des Altistrates gekommen, hat sich dort in einem Gesellschaftsspiel positiv hervorgetan, bleibt nach dem Spiel jedoch ob seines sozialen Status beschämt zurück. Altistrates wundert sich über die Abwesenheit des besten Spielers (vgl. AvT, V. 1505–1547). Ein nicht weiter benanntes Mitglied der Gesellschaft will an seinem Verhalten ablesen, dass es sich um einen verunglückten Adligen handle (vgl. AvT, V. 1548–1556). Daraufhin beauftragt Altistrates einen Boten, ihm den Mann an den Hof zu bringen.201 Apollonius folgt diesem Wunsch gern, vor den König tritt er jedoch nicht. Dort erscheint – ob im Auftrag Apollonius’ oder nicht verschweigt der Text – selbiger Bote und bringt vor, der Gast schäme sich für seine Kleidung (vgl. AvT, V. 1569f.). Daraufhin stellt Altistrates eine Situation, in der Apollonius ihm guten Gewissens unter die Augen treten kann, her, indem er ihn mit adäquater Kleidung ausstattet (vgl. AvT, V. 1571–1573). Der Bote erwirkt hier nicht die Überwindung großer räumlicher Distanzen, sondern vielmehr die

198 Die Sympathielenkung dabei ist deutlich. Während er die genealogische Abstammung seiner Herrin betont (vgl. AvT, V.  13760f.), sei ihr Herausforderer Prothasius hochvertige (AvT, V. 13763; s. auch V. 13767) und nicht ir genoß (AvT, V. 13766). Die von ihm geforderte Verbindung (vgl. AvT, V. 13768) müsse als schand (AvT, V. 13770) gesehen werden, das Land der Herrin, das ihr Vater reiche[] (AvT, V. 13761) hinterlassen habe, werde von jenem geodet (AvT, V. 13762) und verprant (AvT, V. 13765). 199 Herre, ich will dich pitten/Nu höre meiner frauwen chlage! (AvT, V. 13771f.). 200 Apollonius beschließt angesichts ihres Aufgebots zumindest: Wir sullen zu der frauwen varen (AvT, V. 13811) und unterbricht damit die Reise zu seinem eigentlichen Ziel (Tarsis, s. Kap. 4.4.2). 201 Dabei konkretisiert die wiedergegebene Botenrede , was der in direkter Rede des Königs repräsentierte Auftrag ‘nu pringt in her‘ (AvT, V. 1558) bedeutet. Der Bote verkündet nämlich: Ir sult in die purgk gan/Und mitt den heren essen/Und ewres laides ain tail vergessen‘ (AvT, V. 1563–1565).

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Transgression einer sozialen Barriere, sozial codierter Räume. Er vermag unproblematisch zwischen diesen Sphären zu wechseln und kann so mit beiden Seiten kommunizieren, sie verbinden, bis eine äußerliche Gleichstellung initiiert wird, die eine direkte Kommunikation zwischen Altistrates und Apollonius ermöglicht. Botenfiguren nehmen in beiden Texten als konventionelle mediale Formen der Fernkommunikation wichtige handlungslogische und binnenstrukturierende Funktionen ein,202 bleiben meist jedoch im Hintergrund und entfalten ihre Aussagekraft erst durch einen gezielten Blick. Einige Botenszenen zeugen vom Gewicht der besonderen medialen Potenziale von Boten, die die Senderfiguren zu nutzen und wertzuschätzen wissen. Diese liegen gerade nicht darin, dass Boten sich als Personen vollständig zurücknehmen, diaphan werden und vollkommene Unmittelbarkeit herstellen. Die Texte profilieren geradezu das besondere Potenzial einer Fernkommunikation mit menschlicher Beteiligung. Boten mobilisieren nicht nur Objekte und Botschaften, die sie – in zum Teil aufopfernder Weise – über räumliche Distanzen tragen. Boten vertreten den Körper des Senders/der Senderin als ausführendes sowie vor allem aufnehmendes Organ, repräsentieren sie, ohne vollständig mit ihnen zu verschmelzen. Sie bringen sich auch als eigene Person ein und stellen die richtige, situationsadäquate Aufnahme und Interpretation der Nachricht sowie die angemessene Reaktion auf diese sicher. Sie vermögen zu gewichten und zu entscheiden,203 zu aktualisieren und sich selbst argumentativ einzubringen. Als eigenständig und doch im Namen der sendenden Instanz agierende Mittler kommentieren und aktualisieren sie die Rede dem Anlass und dem Gegenüber entsprechend, gestalten selbst überzeugende Reden und unterstüt-

202 Umso erstaunlicher ist die Tatsache, dass Martschini den sowohl bezüglich der einzelnen raumüberwindenden Form des Boten als auch bezüglich deren Kombination mit Briefkommunikation sehr reichhaltigen Reinfried von Braunschweig in dem dazugehörigen Analysekapitel ,Zwischen Mensch und Inhalt‘ (vgl. Martschini, Schriftlichkeit, S. 291–325) nicht thematisiert. 203 Das muss selbstverständlich nicht immer als Vorteil erscheinen – schließlich verzögert das Verhalten eines Boten in den Beispielen aus dem Reinfried die Fortführung von Friedensverhandlungen (s. Anm. 4/188).

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zende Körperinszenierungen. Das lässt zu, dass sie ein Innenleben erhalten und zu Figuren mit eigener Stimme und Zeichnung, ja eigenem Abenteuer avancieren.

4.3 Materialisierung und Konkretisierung durch Schrift Boten nehmen lange Zeit eine dominierende Rolle für Fernkommunikation ein.204 Doch ihre Stärken können sich auch in Schwächen verkehren und spezifische Probleme produzieren. Die auch von festgelegten Redekonventionen nicht überwindbare Unsicherheit der Botschaft durch die Unfixiertheit des sprachlichen Inhalts bei ihrem Einsatz205 spiegelt sich in zeitgenössischen Schriften wie dem Secretum Secretorum206 wieder und verleitet die moderne Theorie dazu, sie als besonders ,rausch- und störanfällig‘ zu bezeichnen.207 Die Grenzen der Memorisierbarkeit, die Mehrdeutigkeit der körpergebundenen Vermittlung208 und die Gefahr eigener, abweichender Interessen des Mittlers, die andere Texte auch

204 Vgl. Wenzel, Hören und Sehen, S. 260. 205 Die historische mittelalterliche Botenrede folgte bestimmten Regeln, die versuchen, den möglichst unveränderten Transport der Informationen zu garantieren. „Die prekären Modalitäten der Botenrede korrespondieren […] mit einer Morphologie der Rede, die als Teil ihrer institutionellen Absicherung zu verstehen ist und die als Beschreibungskategorie auf die Pragmatik der Rede verweist“ (Müller, Datenträger, S. 96). 206 Vgl. zu grundlegenden Informationen zum Secretum Secretorum Keil, G.: ,Secretum secretorum, A. Allgemein‘. In: Lexikon des Mittelalters Bd. 7 Bd. 7 Planudes–Stadt (Rus‘), München, Zürich 1995, Sp. 1662–1663. Die pseudo-aristotelische Schrift, die mögliche Probleme des Botendienstes reflektiert, ist auch im Mittelalter bekannt. Im dreizehnten Jahrhundert wird sie ins Lateinische übertragen, Hiltgart von Hürnheim fertigt 1282 eine mittelhochdeutsche Übersetzung an. Darin ruft sie – so Martschini – zur sorgfältigen Auswahl eines Boten aus, da diese Wahl auf die Klugheit des Senders zurückverweise (vgl. Martschini, Schriftlichkeit, S.  306; sie selbst beruft sich auf Linden, Kundschafter, S. 46f; Wenzel, Horst: Vom Körper zur Schrift. Boten, Briefe, Bücher. In: Mediengeschichte vor und nach Gutenberg. Hrsg. von dems., Darmstadt 2007, S. 53–76, hier S. 59f.; Wenzel, Boten und Briefe, S. 100f.). 207 Vgl. Schor, Veritas, S.  131. Die nie vollständig kontrollierbaren Kommunikationsabläufe mit Boten würden daher mit verschiedenen Sicherungsmechanismen ausgestattet – ohne immer wirkungsvoll zu sein (vgl. hier S. 130f.; s. ebenso Müller, Datenträger, S. 92). Dass der Ausdruck ,Rauschen‘ als Begriff, der den Implikationen des Kanalmodells entspringt und jedes Einwirken des Mittlers als problematisch bewertet, nicht der hier vertretenen Einschätzung entspricht, dürfte deutlich sein (s. Kap. 3.1.3). 208 Das betrifft nicht nur die nicht eindeutig zu überprüfende Übereinstimmung des mündlich Übermittelten mit dem originären Wortlaut des Senders, sondern auch die körpersprachlichen Signale, die eine mündliche Übermittlung notwendigerweise begleiten, in der Vermittlung über einen Boten möglicherweise fehlen, ganz sicher aber modifiziert werden (vgl. Plumpe, Literatur, S. 161).

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darstellen,209 drängen zur Nutzung eines Stabilität und Verlässlichkeit produzierenden Systems materiell dauerhafter bzw. zumindest lange haltbarer Zeichen – Schriftsprache – und eines ebenso verlässlichen Zeichenträgers210 – im zeitlichen Rahmen der untersuchten Texte: Briefe.211 Auch viele Botenfiguren im Reinfried und im Apollonius sind nicht allein unterwegs, sondern tragen ein Schriftstück mit sich, dessen Text in der geschilderten Fernkommunikation in den Vordergrund rückt. Diese mediale Form birgt nicht nur andere Potenziale und Heraus-

209 Das beste Beispiel ist wohl Mai und Beaflor. Beaflor verfasst nach der Geburt des gemeinsamen Sohnes einen Minnebrief an den im Kampf gegen einen Heidenangriff (vgl. MuB, V. 3920– 3960, nach der Textausgabe Mai und Beaflor. Minneroman des 13. Jahrhunderts. Hrsg. von Christian Kiening/Katharina Mertens Fleury, Zürich 2008) befindlichen Mai (MuB, V.  5127–5152). Obwohl sie den Boten auffordert: nu var/snelle vnd chum schire wider/vnd lege dich niht vnder wegen nider (MuB, V. 5154–5156), begibt sich der Bote nicht auf direktem Wege zu Mai, sondern wendet sich nach Claremunt zu der Beaflor feindlich gesinnten Mutter Mais (vgl. MuB, V. 5179– 5181). Er erbittet von ihr ein (zusätzliches) botenbrot (MuB, V. 5187) und teilt auch ihr die Geburt des Sohnes mit. Er weicht von der aufgetragenen Aufgabe ab, indem er eigenmächtig die Mutter unterrichtet. Seine Motivation zu dieser Handlung ist offensichtlich ein Zuerwerb, da er gezielt nach einer Belohnung fragt. Die Mutter kann diesen Boten manipulieren und die Botschaft korrumpieren (vgl. MuB, V. 5197–5233). Dieser Vorgang wiederholt sich bei der Antwort Mais (vgl. MuB, V. 5465–5715), sodass durch das Fehlverhalten des Boten, seine Habgier und seine Unachtsamkeit, nur schwer wieder auflösbare Verwirrungen und Missverständnisse entstehen. Dementsprechend tadelt auch die Erzählinstanz das Verhalten des Boten: owe, daz man in ie/ze boten gesande/wan er vil vreunden wande,/da von er wer pillich verlan./von im manich herze gewan/ trouwren vnd seuftens zuch/vnd iamers insigel durch (MuB, V. 5458–5464). Dass anders als die Erzählinstanz nahelegt, nicht allein der einfältige Bote verantwortlich ist, sondern auch das Vertrauen in die Schrift, die dem Botenwort vorgeordnet wird (Mai erhält vom Boten mündlich eine durchweg positive Botschaft aus seiner Heimat, die dem korrumpierten Briefinhalt widerspricht [vgl. MuB, V.  5327–5337], greift diese allerdings nach der Lektüre des verleumderischen Briefs nicht wieder auf), arbeiten Meyer, Briefe, S. 19f. und Martschini, Schriftlichkeit, S. 304 heraus. 210 Vgl. Ehlich, Schrift, S. 92 sowie Gansel, Macht, S. 55, die die Erfindung eines Schriftsystems um 1200 v. Chr. als Ergebnis dieses Drängens nach Auflösung der in rein mündlicher Vermittlung bestehenden Unsicherheiten versteht. Vgl. auch Epping-Jäger, Cornelia: Szenarien der Literalisierung: Formen intermedialer Kommunikation zwischen Oralität und Literalität. In: Schriftgedächtnis – Schriftkulturen. Hrsg. von Vittoria Borsò, u. a., Stuttgart, Weimar 2002, S. 175–196, hier S. 178, die hervorhebt, dass Schrift Informationen von vermittelnden Personen löst und somit ein Mittel der Entmonopolisierung von Wissen ist. 211 Briefe lassen sich als die älteste und damit auch traditionsreichste körperentbundene mediale Form der Fernkommunikation bezeichnen. Schmale zufolge ist der Brief „fast so alt, wie Schrift selbst“ und „Bestandteil jeder schriftl. Kultur“ (Schmale, Brief allgemein). S. für grundsätzliche Anmerkungen zum Brief als mediale Form Kap. 4.1.2.

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forderungen (s. Kap. 4.1.2), als Textelement vermag es ganz eigene Darstellungsmöglichkeiten zu entfalten.

4.3.1 Inszenierungen physischer Kopräsenz: Briefe als Redebeiträge eines zerdehnten Gesprächs Medientheoretische Auseinandersetzungen mit Briefen betonen, dass schriftliche Formen der Fernkommunikation212 räumliche Differenz insofern überbrücken, als sie ein zerdehntes Gespräch ermöglichen. Sie besäßen die Fähigkeit, eine Gesprächssituation mit gleichzeitiger räumlicher Anwesenheit der Gesprächspartner zu fingieren.213 Mit der Gesprächsersatzfunktion verbunden ist gegenüber dem Botenbericht ein erhöhter Anspruch auf Authentizität, Verbindlichkeit und Originalität,214 da Störfaktoren wie der Einfluss einer Mittlerperson auf den Wortlaut und die durch dessen körperliche (und stimmliche) Präsenz

212 An dieser Stelle interessiert Schriftlichkeit als textueller Informationsträger und somit als Mittel der Fernkommunikation. Die Geschichte von Schrift und Schriftlichkeit soll hier abgesehen von dem Hinweis, dass die Entstehungszeit der hier behandelten Texte mitten im Prozess der zunehmenden Verschriftlichung der Volkssprachen liegt (vgl. Schnyder, Schrift und Liebe, S. 4), nicht weiter interessieren. Für eine ausführliche Auseinandersetzung mit den geschichtlichen und kulturellen Hintergründen von Schrift und Schriftlichkeit s. Ehlich, Schrift. Ebenso bleibt ein Großteil der umfangreichen Forschung zu Schrift bzw. Schriftstücken im Hinblick auf den Schwerpunkt der nachfolgenden Textanalysen unerwähnt. Denn Schrift und Schriftlichkeit können in der (mediävistischen) Forschung in unterschiedlicher Hinsicht im Fokus stehen (vgl. dazu Martschini, Schriftlichkeit, S. 12–23). Mit den mit Schrift verbundenen Ansprüchen beschäftigt sich bereits Kap. 4.2.1. 213 „Der Brief ist eine Form schriftlicher Kommunikation zwischen räumlich getrennten Kommunikationspartnern. Er ist ein Ersatz für ein direktes Gespräch, das wegen der Trennung der Briefpartner nicht möglich ist. Der Brief simuliert ein Gespräch, indem der abwesende Adressat direkt angeredet wird. Die Anrede suggeriert die Vorstellung, die Briefpartner seien gar nicht voneinander getrennt“ (Wand-Wittkowski, Briefe, S. 22; für die Literatur, auf die sie sich mit dieser Aussage stützt, vgl. ihre Anm. 14). Damit erweise sich der Brief als grundsätzlich pragmatische Textsorte (vgl. Golz, Brief, S. 251), die aus der Problematik einer räumlichen Distanz heraus entwickelt werde. S.  auch die folgenden Anmerkungen. Zur Relevanz dieser Perskpektive auf Briefe vgl. Nickisch, Reinhard M.G.: Brief , Stuttgart 1991 (Sammlung Metzler 260), S. 5: „Bei dem Ersatzcharakter des Briefes nun setzen alle im wesentlichen kommunika­tionstheoretisch und pragmatisch orientierten Bemühungen um Grundfunktionen und Struktur der Textsorte Brief an, wie sie seit dem Ende der sechziger Jahre zu verzeichnen sind.“ 214 Diese Funktion wurde auch im Mittelalter wahrgenommen. So propagiert Ernst, Briefe seien „früh als Spiegel der Seele und halbes Gespräch bzw. Gespräch mit einem Abwesenden“ verstanden worden (Ernst, Schriftlichkeit, S. 308).

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auftretenden Interferenzen mit der Senderstimme ausgeschlossen würden.215 In der literarischen Darstellung von Brieftexten müsste sich somit die Möglichkeit bieten, zwischen Figuren liegende Distanzen auszuklammern und die wechselseitige Kommunikation über die Abfolge von Brieftexten ähnlich kompakt und spannungsgeladen darzustellen wie in einem Dialog. Der zwischen den Kommunikationspartnern liegende Raum ließe sich überspringen, die Erzählung könnte sich auf den Inhalt der jeweiligen Aussagen der Figuren und ihr Verhältnis konzentrieren. In Auseinandersetzung mit dieser These soll es zunächst um Techniken sprachlicher Distanznivellierung in den Briefeinlagen beider Texte und um die Integration von Brieftexten als Ersatz für eine unmittelbare Äußerung einer Figur in direkter Rede gehen. Sprachlich stehen die Verfasser von Brieftexten bei der Umsetzung jener Funktion vor einer dilemmatischen Herausforderung. Der Leistung eines mündlichen Gesprächsbeitrags können sich schriftliche Äußerungen nur annähern. Denn nur [a]uf den ersten Blick erscheint es so, als ob die schriftlich fixierte Sprache eigentlich nichts anderes sei als eine Transformation der akustisch wahrnehmbaren Sprache in eine optisch wahrnehmbare. Eine genauere Betrachtung zeigt dann aber, dass diese Sichtweise die tatsächliche Sachlage doch allzu sehr vereinfacht, weil dabei übersehen wird, dass die schriftlich realisierte Sprache vom Grunde als eine eigenständige Erscheinungsform von Sprache zu betrachten ist, die strukturell und funktionell erhebliche Unterschiede zur mündlich realisierten aufweist.216

Die Kommunikationsbedingungen gesprochener und geschriebener Sprache sind grundsätzlich verschieden. Insofern hat die Verschriftlichung einer mündlichen Aussage nicht denselben Effekt bei der Rezeption wie diese. Mit dem Gebrauch

215 So stellt Schmale fest, dass ein Brief „die Kommunikation mit dem Abwesenden [ermöglicht], als ob man mit ihm selbst spräche (quasi viva voce), und gewährleistet, daß der Empfänger (Adressat) die Mitteilungen des Absenders unverfälscht erhält“ (Schmale, Brief allgemein). Zum Schutz vor Veränderung der Nachricht durch die Fixierung s. die Literatur in Anm. 4/89. So hält auch Krautter die briefliche Botschaft der mündlichen insofern für überlegen, als sich der Verfasser vor seinem Empfänger nicht durch eine dritte Person vertreten lassen müsse, sondern in der brieflichen Anrede dem Empfänger wie gegenwärtig gegenüber trete (vgl. Krautter, Asci ore ad os, S. 158). Der Absender erhalte, so Wand-Wittkowski, im Brief eine Stimme, die nicht von dem auditiven und visuellen Eindruck der Botenperson überlagert sei (vgl. Wand-Wittkowski, Briefe, S. 44). 216 Köller, Zeichen, S. 83. Die Auffassung, es handle sich bei Schrift „nicht einfach […][um] ein Supplement der stimmlichen Verlautbarung und bloßes Derivat der Lautsprache“ (Ernst, Schriftlichkeit, S. 255), sondern um eine eigenständige Form mit eigenen Charakteristika, entspricht einer poststrukturalistischen Sicht auf Zeichenstrukturen (vgl. hier S. 255).

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von Schrift und der Entkleidung der Kommunikation fallen wesentliche Sinnträger der mündlichen Kommunikation – Intonation, Gestik, Mimik – sowie die Situationsverschränkung und mögliche Korrektur, Einschränkung oder Ergänzung der Äußerung in Reaktion auf das Gegenüber weg.217 Interpretation unter Rückgriff auf sprachlich konzeptuelles und schematisch organisiertes Wissen sowie Ergänzung der im Text gegebenen Informationen mit Vorwissen ist notwendig, muss aber auch textlich gestützt und animiert werden.218 Brieftexte gehen daher in der Regel nicht in der Abbildung eines potenziell mündlichen Redebeitrags auf, sondern sind geprägt von den erschwerten Kommunikationsbedingungen. Sie müssen sich darum bemühen, Ersatz für die weg­fallenden Signale direkter Kommunikation zu schaffen.219 Nur im Abweichen von gesprochener Sprache also, unter Einbau verständnisstützender Elemente, die körpersprachliche Signale ersetzen, kann die Situationsentbundenheit überbrückt, das fehlende Gegenüber imaginiert, der volle Informationsgehalt der Aussage vermittelt werden. Dennoch ist es möglich, auch schriftsprachliche Äußerung an der Konzeption gesprochener Sprache – nach Koch/Oesterreicher im Code der Sprache der Nähe220 – auszurichten. Einige nähesprachliche Kennzeichen wie Vertrautheit, Situationsverschränkung, Expressivität und Affektivität können im morphosyntaktischen, lexikalischen oder textuell pragmatischen Bereich auch schriftlich

217 Vgl. Köller, Zeichen, S.84; vgl. auch Ernst, Schriftlichkeit, S.  253; Muschick, Minne, S. 23; Wenzel, Boten und Briefe, S. 92 in Bezug auf die Fixierung von Wissen sowie Wenzel, Hören und Sehen, S.  254, der darauf hinweist, dass gerade bei kurzen Botschaften durch die situationsunabhängige Bedeutungskonstruktion der Schrift die Unterstützung des mündlichen Kommentars hilfreich ist. Vgl. ebenso die Ausführungen zu den Kommunikationsbedingungen gesprochener und geschriebener Sprache bei Koch, Peter/Oesterreicher, Wulf: Sprache der Nähe – Sprache der Distanz. Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Spannungsfeld von Sprachtheorie und Sprachgeschichte. In: Romanistisches Jahrbuch 36 (1985), S. 15–43, hier bes. S. 17–23. 218 Textverstehen erläutert Beckers als eine „Interaktion zwischen Textinformation und dem kognitiven System des Lesers“ (Beckers, Kommunikation, S. 222). Es setze sprachliches, konzeptuelles und schematisch organisiertes Wissen voraus (vgl. hier S. 223). Wichtig ist außerdem die Ergänzung der im Text explizit gegebenen Informationen durch Inferenzen, „kognitive Prozesse […] durch die ein Leser anhand der vorliegenden Textinformationen mit Rückgriff auf sein Vorwissen neue Informationen erschließt“ (vgl. hier S.  224). Ein Text initiiert somit komplexe mentale Konstruktionsprozesse, an deren Ende bestenfalls ein sinnvoller Bezug zwischen einzelnen Textbestandteilen hergestellt wird, die Inhalte sinnvoll in das individuelle Vorwissen integriert werden und eine schlüssige Interpretation hervorbringen. 219 Vgl. Herold, Empfangsorientierung, S. 269; vgl. auch Muschick, der es zum Ziel des Briefeschreibens erklärt, all jene körpergebundenen kommunikativen Aspekte einer mündlichsprachlichen Situation in der Schrift transportabel zu machen (vgl. Muschick, Minne, S. 22f., erneut S. 34f.). 220 Vgl. Koch/Oesterreicher, Sprache, S. 21, 24.

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realisiert werden.221 Besonders mittelalterlichen Brieftexten wird in mediengeschichtlicher Perspektive ein Bestreben zugeschrieben, sich – auch auf Grundlage der ars dictaminis und im Rahmen des von dieser vorgegebenen Briefaufbaus – formal und sprachlich den Konventionen und Wendungen persönlicher Begegnungen anzunähern.222 Typische Formeln schriftlicher Kommunikation würden – so Wand-Wittkowski – gerade vermieden und den Ausdrucksformen gesprochener Sprache angeglichen.223 Die Texte versuchten, den Ton einer mündlichen Kommunikationssituation zu imitieren, um auch in der über räumliche Barrieren hinweg getragenen verstetigten kommunikativen Äußerung den Ein-

221 Vgl. ebd. hier S. 23 für die nähesprachliche Kennzeichen, zu denen auch Dialoghaftigkeit, Interaktion, freie Themenentwicklung und Spontanität gehören, welche sicherlich schwieriger schriftsprachlich evoziert werden können. Vgl. hier S. 27 für die mündlichem wie schriftlichem Ausdruck verfügbaren nähesprachlichen und distanzsprachlichen Markierungen. Konjunktur im linguistischen Bereich hat aktuell die Forschung an der Verwendung von Emojis und Emoticons in den sozialen Medien und Chatsystemen (vgl. Provine, Robert R./Spencer, Robert J./ Mandell, Darcy L.: Emotional Expression Online. Emoticons Punctuate Website Text Messages, in Journal of Language and Social Psychology, 26/3 [2007], S. 299–307; Dresner, Eli/Herring, Susan C.: Functions of the non-verbal in CMC: Emoticons and illocutionary force. In: Communication Theory 20 [2010], S. 249–268; Danesi, Marcel: The Semiotics of Emoji. The Rise of Visual Language in the Age of the Internet, London, New York 2017; in ihrem Verhältnis zur gesprochenen Sprache vgl. Schneebeli, Célia: The Interplay of Emoji, Emoticons, and Verbal Modalities in CMC: A Case Study of Youtube-Comments. In: Visualizing (in) the new media, Neuchatel 2017 ). 222 Diese Behauptung stützt Herold auf drei Beobachtungen; nämlich, dass erstens „die Abfolge bestimmter, immer wiederkehrender Teile des Briefes […] einer gleichartigen Abfolge von Handlungen entspricht“, zweitens „die bei diesen Handlungen vorgebrachten Sprechformeln mit den Formulierungen der Briefe nicht nur typologisch, sondern zum großen Teil auch wörtlich übereinstimmen“ (Herold, Empfangsorientierung, S. 283) und drittens die fachliche Auseinandersetzung mit dem Briefverfassen sich auf den Prozess der Herstellung eines persönlich anmutenden Kontakts über Präsenzeffekte fokussiert (vgl. ebd.). Nach Krautter legt Adalbert Samaritius, der Begründer der Bologneser dictamen-Schule (vgl. Muschick, Minne, S. 51; Kritik an der Präsentation als ,Vater‘ der ars dictandi und Zusammenfassung der Phasen der Entwicklung dieses Phänomens bei Lutz, Rhetorica divina, S. 30–33), den Fokus auf die kommunikative Funktion von Briefen und damit auf die Herstellung eines persönlichen Fernkontakts. So gilt es festzuhalten, dass Adalbert sich damit beschäftigt, „die Fähigkeit des geschriebenen Wortes, über räumliche und zeitliche Intervalle hinweg zwischen Abwesenden eine simulierte Präsenz zu schaffen“, zu perfektionieren (vgl. Krautter, Asci ore ad os, S. 159). Für mehr zur ars dictaminis s. Kap. 4.1.2, insbes. Anm. 4/97; 4/98). 223 Wand-Wittkowski weist darauf hin, dass solche Strategien in literarischen Briefen nicht als Erzählökonomie zu werten, sondern als Gesprächsfiktion anzusehen sind, da im Sinne eines ökonomischen Erzählens auch auf die direkte Wiedergabe des Briefinhaltes verzichtet werden und der Inhalt paraphrasiert dargestellt werden könnte (vgl. Wand-Wittkowski, Briefe, S. 71).

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druck physischer Nähe zu erzeugen.224 Beispielsweise tauchten zu Beginn und am Ende von Briefen Eröffnungs- und Beendigungsgesten auf, die den Formeln eines Gesprächsbeginns bzw. -abschlusses ähneln.225 Das Ziel der Unmittelbarkeit durch Gesprächsähnlichkeit stellt den Briefverfasser vor die Pro­blematik, sich möglicherweise einem Stil der gesprochenen Sprache annähern zu wollen, gleichzeitig verständnisstützende, kontextuierende Elemente integrieren zu müssen, die die Unmittelbarkeit des gesprochenen Stils brechen. Mündlichkeit und Schriftlichkeit sind in der Form des Briefes also nicht unbedingt als Oppositionen, sondern als vermittelte (und vermittelnde) Aspekte eines Kommunikationsprozesses zu verstehen.226 Techniken einer Gesprächsfiktion wie der unkommentierte Verzicht auf Grußformeln, die Konstruktion eines mit einer textweltlichen Person identifizierbaren Sprecher-Ichs,227 das sich an ein mit dem Empfänger identifizierbaren Adressaten-Du wendet, oder die Suggestion eines gemeinsamen Kommunikationsraums lassen sich auch in vielen ausformulierten Brieftexten im Reinfried von Braunschweig und im Apollonius von Tyrland nachweisen.228 Effekte, die der

224 Vgl. Schnyder, Schrift und Liebe, S. 11. Wenzel hält fest: Schrift ist eine „Möglichkeit, um Informationen aus dem Hier und Jetzt auszulagern und für einen anderen Zeitpunkt der Verlautbarung aufzubewahren“ (Wenzel, Schwierige Performanz, S. 220). Da der Akt der unmittelbaren Weitergabe in Schriftkommunikation entfalle, sei fortan der Verlust der unmittelbaren Akzeptanz in den Texten zu spüren und als Gefahr des Missverstehens allgegenwärtig. Dieser Gefahr werde durch spezifische textinterne Strategien, die das Erzählte und seine Aufnahme in der Aktualisierungssituation sichern sollen, vorgebeugt. Zu diesen Strategien gehört unter anderem die Inszenierung einer mündlichen Kommunikationssituation (vgl. hier S. 220). 225 Vgl. Wand-Wittkowski, Briefe, S.  23 mit Verweis auf die von Nickisch, Reinhard M.G.: Brief, Stuttgart 1991 (Sammlung Metzler 260), S. 10 konstatierten ,Gesten der Eröffnng und Beendigung des kommunikativen Akts‘. 226 Vgl. Wand-Wittkowski, Briefe, S. 75. 227 Als Sprechinstanz oder Sprecher-Ich wird in den folgenden Ausführungen jeweils die im Brieftext suggerierte personenhafte Entität verstanden, die jeweils in der ersten Person Singular auf sich selbst referiert und deren schriftsprachlichen Äußerungen der Fokalisierung einer der Figuren der Erzählung entsprechen. 228 Nicht jede Textpassage und jedes nähesprachliche Mittel kann und soll hier aufgeführt werden. Bei der Analyse einzelner Brieftexte wird auf diesen Gesprächsersatzeffekt zurückverwiesen. Eine hohe Frequenz an Adressaten-Ansprachen findet sich bspw. im Braunschweiger Brief an Reinfried (s. Kap. 4.3.3). Der Sprechgestus wirkt durch die hohe Frequenz an direkten eingeschobenen Adressen unmittelbar; er simuliert eine Rede, die sich immer wieder der Aufmerksamkeit und der Wahrnehmung des Empfängerbezugs vergewissert. Erzeugt wird durch diesen starken Bezug auf den als Gegenüber imaginierten Empfänger (ir: RvB, V. 24744, 24746, 24748, 24753, 24755, 24758, 24759, 24760, 24764, 2478, 24783, 24784, 24787, 24792, 24800; iuwer: V. 24750, 24801; iuch: V. 24757, 24767, 24769, 24771, 24775, 24777, 24779, 24789, 24793, 24801, 24807; herre:

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proklamierten nähesprachlichen Gestaltung von Brieftexten entsprechen, sind in den Briefeinlagen beobachtbar und werden mitunter auf der Darstellungsebene dadurch forciert, dass die Schrift als sprechende Instanz dargestellt wird  – sô sprach des brieves schrift (RvB, V.  24745), erläutert die Erzählinstanz den Brieftext des Braunschweiger Schreibens an Reinfried. Die Strategien werden jedoch meist kombiniert mit Formulierungen, die die Gesprächsersatzwirkung brechen. Beispielsweise kommt es in Brieftexten, die ein Sprecher-Ich installieren, häufig dennoch zu einem Perspektivwechsel, sodass der Brieftext nicht einer homogenen Stimme zu entstammen scheint, sondern aus mehreren Blickwinkeln spricht.229 Das läuft der Wirkung der ersten Technik entgegen, verweist vielmehr auf die Vermitteltheit der Kommunikation. Ähnliches lässt sich behaupten für die beobachtbare Verknüpfung performativer Wendungen, die zunächst eine gemeinsame Präsenz von Sender und Empfänger evozieren, mit Verweisen auf die performativ agierende Person in der dritten Person Singular, die wiederum eine Außensicht nahelegt. Die Texte nehmen den durch die gegenläufigen Effekte erzeugten Bruch in Kauf, entwerfen kaum Brieftexte, die sich vollständig der nähesprachlichen

RvB, V. 24777) eine gewisse Nähe, die im Prozess der Rezeption die räumliche Differenz überwindet. Man scheint einer scheltenden Stimme zu lauschen, die versucht, Reinfried ins Gewissen zu reden. Dort ist auch der Verzicht auf einen ausgiebigen, auf die Distanz verweisenden Gruß am Ein- und Ausgang de Brieftextes zu beobachten. Die Wiedergabe beginnt unvermittelt mit ir tuont nâ herren sitten/niht‘ (RvB, V. 24744f.) und endet mit der Aufforderung daz [Leid] wendet schier und koment har‘ (RvB, V. 24811). Performative Wendungen, die in der Stellvertreterfunktion des Brieftexts für die Stimme des Senders eine gleichzeitige Präsenz von Empfänger und Sender nahelegen, tauchen bspw. im Brief des Königs Paldein an Apollonius (s. Kap. 4.3.3) auf. Er düt pekant (AvT, V. 2935), König Paldein gibt also in dem Augenblick der Rezeption etwas bekannt und simuliert dadurch die gleichzeitige Anwesenheit des agierenden Senders und des lesenden Empfängers. 229 Das ist bspw. im unten thematisierten Brief Fontânâgrîs’ im Reinfried ebenso zu beobachten wie im Brief Paldeins im Apollonius (s. Kap. 4.3.3). Im Falle des zweiten Briefs berichtet zunächst ein Sprecher-Wir von den performativen Handlungen, die Paldein gedenkt, über den Brieftext auszuführen, bevor sich eine sich mit ich benennende (AvT, V. 3034f., 3039) und ebenso Pronomen in der ersten Person Singular verwendende (mein, AvT, V. 3021, 3023; mir, AvT, V. 3023, 3032, 3038) Stimme präsentiert, die sich als mit dem vorher benannten König identisch herausstellt. Umgekehrt verhält es sich im Brief der Braunschweiger an Reinfried (s. ebenso Kap. 4.3.3). Die Eingangsworte werden im Brieftext dem Schriftstück zugeordnet, indem dort eine Singularform (mir, RvB, V.  24749) verwendet wird. Danach spricht ein Kollektiv im restlichen Brieftext: wir (RvB, V.  24754, 24762, 24766, 24785), unser (RvB, V.  24783), uns (RvB, V.  24788, 24803, 24804). Solche Wechsel weisen auf die Vermitteltheit hin, nehmen eventuell sogar die einleitende Botenrede auf, bevor der eigentliche Sender aus Ich-Perspektive zu Wort kommt.

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Wirkung verschreiben und nutzen sie nur im Ausnahmefall für die Gestaltung einer dialoghaften Auseinandersetzung zwischen Figuren. Eine dieser Ausnahmen stellt das Schriftstück dar, das Reinfried einsetzt, um inkognito am Dänischen Königshof sprechen zu können. Als Reinfried in letzter Minute dort auftaucht, um für Yrkâne zu kämpfen, tritt er anonym als weißer Ritter auf. Er läuft weiß als ein ziegenmilch (RvB, V. 8587) gekleidet auf den Turnierplatz und erklärt sich mittels eines Briefes zum Kampf bereit. Der anonyme Brief ist Teil seines Vorhabens, als unerkannter Ritter für Yrkâne zu kämpfen. Er will angesichts seiner Verwicklung in die Angelegenheit vermeiden, dass er identifiziert wird und nutzt Schrift dazu, die Kampferklärung von seiner Stimme zu lösen. Dennoch spricht er quasi direkt über den Brief, wie man in der direkten Wiedergabe des vom König selbst verlesenen Briefes erfährt: ,Ich bin har durch verriu lant nâch kemphen snelleclîch gerant und mohte durch niht komen ê. ich wil swie ez mir ergê die küniginne lidic lân und wil kampflîche stân in irs fuozes tritte. swaz ich joch hie mitte verlieren ald gewinnen kan, ir sont under wegen lân alle urteillîche phliht, durch daz wir uns sûmen niht an des kamphes strîte. ich bin ze kamphes zîte komen har sô kûme, daz ich ungerne sûme an des kamphes lâge, aller urteil frâge die sîgen ûz, ich bin bereit. (RvB, V. 8607–8625)

Die Sprechinstanz erklärt sich ohne Umschweife bzw. umständliche rhetorische Grußformeln in der ersten Person, in der der gesamte Brieftext gehalten ist und die auf den ihn überbringenden stummen Ritter zurückweist, bereit, den Kampf für Yrkâne anzutreten. Dabei verweist das Sprecher-Ich zweimalig mit har (RvB, V. 8607, 8621) auf den Entäußerungskontext und schließt sich in die anwesende Gesellschaft mit ein – durch das wir uns sûmen niht (RvB, V.  8618). An diese Erklärung schließt sich eine an den anderen Kämpfer gerichtete Passage an, die diesem performativ widersagt:

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her ritter, iuch sî widerseit umb den gezig und umb den haz, von niute wan umb allez daz daz ir und diu schœne Yrkân vîgentlîch ze tuonde hân.’ (vgl. RvB, V. 8626–8630)

Zwei Aussagen des auftretenden Ritters an unterschiedliche Adressaten vermittelt dieser Brief, ohne dass jener ein Wort sprechen und sich damit offenbaren muss. Der Brief – so ließe sich behaupten – ist wie ein Beitrag direkter Rede gestaltet, als welcher er in dieser Situation fungiert. Da der Brieftext auf den anwesenden Ritter verweist und sich die Kommunikationspartner somit gegenüber stehen, arbeitet das Schriftstück nicht im klassischen Sinne an der Vermittlung eines semantischen Gehalts über räumliche Differenz,230 sondern veranschaulicht, dass geschriebene Sprache gesprochener Sprache in den Briefeinlagen der Texte angenähert sein kann und eine mündliche Äußerung damit zu ersetzen vermag. Die einzige Textpassage im Textkorpus, die eine wechselseitige briefliche Kommunikation231 darstellt,232 und die daher geeignet scheint, auf die Wahrnehmung und Umsetzung der Gesprächsersatzfunktion hin betrachtet zu werden, schließt sich an die Suche nach dem verzweifelt ins Minneexil geflohenen Ritter an (s. Anm. 4/10). In der Analyse der jeweiligen Brieftexte soll sowohl eine Rolle spielen, ob besonders nähesprachliche Formulierungen gewählt werden, als auch, wie den jeweiligen Haltungen und Intentionen, die für den Fortlauf der ,Unterredung‘ relevant sind, Ausdruck verliehen wird. Bei dem ersten Brief des Dänischen Königs Fontânâgrîs an den Nebenbuhler Reinfrieds handelt es sich um den Versuch, einen abgebrochenen Kontakt neu aufzunehmen und eine Rückkehr in den gemeinsamen Kommunikationsraum

230 Zur distanzschaffenden statt distanznivellierenden Funktion dieses Briefes s. Kap 4.4.1. 231 Von Briefwechsel ist nach Muschick zu sprechen, „[w]enn zwei Menschen einander Briefe schreiben und damit ihre Beziehung in schriftlicher Form entwickeln oder fortführen“ (Muschick, Minne, S. 19). 232 Ständig zu beobachten ist ein Hin- und Herschicken von Briefen im Wilhelm von Österreich. Ob das allerdings auch bedeutet, dass hier die Briefe in stärkerem Ausmaß eine Gesprächsersatzfunktion erhalten, ist fraglich. Denn meist beziehen sich die Briefe inhaltlich kaum aufeinander, da sie darin aufgehen, sich in Liebesbekundungen und Darstellungen des Minneschmerzes zu überbieten (vgl. Mayser, Brief, S. 142–144, der die Entkleidung der Briefe von epischer Funktion negativ bewertet; vgl. dagegen Jürgens, der gerade den inhaltlichen Bezug aufeinander betont [vgl. Jürgens, Fürstenlehre, S. 351] und die Handlungsentbundenheit mit der literarischen Tradition, an die die Briefe anschließen – die ovidschen Heroides [s. Anm. 4/310] –, erläutert [vgl. hier S. 351–395]).

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zu initiieren.233 Dieser erste Brieftext entwickelt aufgrund seiner Eingangspassage234 und des Verweises auf die eigene Materialität235 trotz nähesprachlicher

233 Nachdem die Aversionen Yrkânes gegen den Ritter aufgegeben ist (vgl. RvB, V. 5702–5704), soll selbiger wissen, dass er am Dänischen Hof herzlich willkommen ist. Die Szene schließt an die Passage an, in der der Bote von dem schlechten Zustand des Ritters am Dänischen Hof berichtet (s. Kap. 4.2.2). Eine ausführlichere Zusammenfassung der Handlung inklusive längerer Zitate liefert Martschini, Schriftlichkeit, S. 263–266. 234 Zunächst evoziert dessen Text gerade nicht den Eindruck, der Sender Fontânâgrîs spreche direkt mit dem Empfänger, beginnt er doch mit der Bezeichnung und Beschreibung des Königs in der dritten Person, welcher sich dann durch die Beanspruchung des Herrenstatus’ gegenüber dem Angesprochenen (vgl. RvB, V. 5806f.) und später durch die Bezeichnung Yrkânes mit mînem lieben töhterlîn (RvB, V. 5819) als identisch mit der Sprechinstanz des Brieftextes erweist. Wie in einem Bericht beschreibt der Brieftext diesen zunächst (vgl. RvB, V. 5803, 5804f.). Auch von dem Empfänger dieser Geste – dem der mînes râtes wielt/mîn ritter (RvB, V. 5807f.) – wird zunächst in der dritten Person gesprochen, sodass der Eindruck entsteht, es werde eine Beziehung außerhalb der Kommunikation beschrieben. Am Beginn eines Briefes von beiden Briefpartnern in der dritten Person zu sprechen, ist nicht ungewöhnlich für mittelalterliche Briefe (vgl. WandWittkowski, Briefe, S. 33, 51). Im Gestus einer Außensicht wird hier eine enge Beziehung zwischen dem König und dem als kluger Ratgeber, gutherziger, treuer Freund, vorbildlicher Kämpfer konturierten Ritter (vgl. RvB, V. 5808–5812) faktisch gesetzt. Ohne jeden Zweifel steht dieses Verhältnis dem nachfolgenden Rat voran und empfiehlt sich, bei der Reaktion auf den angekündigten Ratschlag bedacht zu werden. Wenzel weist darauf hin, dass die Verwendung der dritten Person für den Absender auch auf die lange Botentradition in der Fernkommunikation bzw. auch das gleichwertige Mit- und Nebeneinander der medialen Formen verweisen kann (vgl. Wenzel, Hören und Sehen, S. 258; vgl. auch die Beobachtungen am Willhelm von Österreich von Schubert, Love-Messages, S. 43f.). Der zunächst wenig nähesprachlich gestaltete Text vermag dennoch die räumliche Distanz der Kommunikationspartner zu verbergen. Streng genommen lässt der König durch den Brief etwas anbieten oder ausrichten (das verwendete enbieten kann sowohl ,mitteilen‘/,versichern‘/,übermitteln‘ als auch ,anbieten‘ oder ,einladen‘ bedeuten; vgl. Hennig, Wörterbuch, S. 67), die direkt auf seine Person bezogene und dazu noch präsentische Formulierung Fontânâgrîs […] enbiut (RvB, V. 5803–5806) legt jedoch nahe, dass die Rezeption des Briefes mit dem Akt des Anbietens oder der Bekanntmachung zusammenfällt. Der Brief funktioniert in diesem Moment nicht allein aufmerksamkeitsgenerierend, sondern auch performativ, verkündet für Fontânâgrîs das Angebot, demjenigen, der ihm sonst stets mit Rat zur Seite gestanden hat, nun selbst einen Rat zu geben (vgl. RvB, V. 5806f.). Die zeitliche Differenz zwischen Äußerungsund Rezeptionsvorgang, die auf die räumliche Distanz verweist, wird aufgehoben. So stellt der Text Unmittelbarkeit zwischen dem Ort und Moment des Aussendens und Rezipierens her, ohne dabei bereits eine gesprächsähnliche Rhetorik zu entfalten. 235 Die Verschwiegenheit der Königstochter über den Grund des Zerwürfnisses wird mithilfe der augenscheinlichen Materialität des Briefes garantiert. So wie der Brief versigelt und verslozzen (RvB, V. 5845) von Dänemark nach Frankreich gereist sei, so bleibe auch das für den Ritter kompromittierende Detail verborgen, da Yrkâne sich weigere, darüber Auskunft zu geben (vgl. RvB, V. 5837). Der Zustand des Briefes bei der Überreichung versinnbildlicht den Umgang der Tochter mit vertraulichen Informationen, stellt einen im Raum des Ritters anwesenden, anschaulichen

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Elemente236 keinen Gesprächsersatzcharakter und wird auch narrativ nicht genutzt, um einen Dialog zwischen den Kommunikationspartnern darzustellen. Viele Aussagen werden jedoch im späteren Brief wieder aufgenommen und machen ihn so zur Grundlage und Referenz des zweiten Textes. Zu einem wahrhaft dialogischen Austausch über Briefe kommt es dann im Rahmen des sich zuspitzenden Konflikts. Nachdem der Ritter sich von den wohlwollenden Worten zur Rückkehr an den Hof hat bewegen lassen,237 er sein Verhalten gegenüber Yrkâne wiederholt und schließlich erneut den Hof verlassen hat (vgl. RvB, V. 5943–5990), erfährt Fontânâgrîs von den Nachstellungen des Ritters (vgl. RvB, V. 6045–6211). Er verfasst daraufhin entrüstet einen Brief an den Ritter – dieses Mal, um den Kontakt offiziell abzubrechen. Auf diesen antwortet jener jedoch mit einem Brief. Durch die Abfolge des Bannungsschreibens (vgl. RvB, V. 6243–6277) und des dadurch provozierten Antwortbriefs (vgl. RvB, V.  6398–6462) wird das einzige Mal im Rahmen der zwei Texte tatsächlich ein zerdehnter Dialog über Briefe hergestellt und die Gesprächsersatzfunktion von Briefen eindrücklich dar-

Beweis der Vertrauenswürdigkeit bezüglich seines Geheimnisses dar. Der Brief gewinnt so nicht nur als Schriftträger, sondern auch als materielles Objekt selbst eine Funktion innerhalb der zerdehnten Kommunikation. Während der Hinweis auf Materialität im Brieftext die zerdehnte Situation deutlich macht, kann Materialität auch Nähe evozieren (vgl. dazu Chabr, Boten, S. 173 sowie die Reaktion Reinfrieds auf den Minnebrief Yrkânes, s. Kap. 4.3.2 sowie Anm. 4/326). 236 Der Brief vermittelt nach berichtartigen Eingang (s. Anm. 4/234) in einem Gesprächs-Gestus die Intention, den Ritter an den Hof zurückzuführen. Statt von dem König und dem Ritter in der dritten Person zu sprechen, wird er nun in der zweiten Person (vgl. RvB, V.  5820, 5822, 5824, 5825, 5828, 5830, 5835, 5840, 5841, 5843) direkt als Empfänger der zerdehnten Kommunikation angesprochen (die Beschreibung des Ritters in der Einleitung [s. Anm. 4/234] lässt eine Identität mit dem wertgeschätzten Ansprechpartner annehmen), gleich darauf stellt das auftretende Sprecher-Ich (vgl. RvB, V. 5814) die Übereinstimmung mit König Fontânâgrîs aus der Einleitung her. Dieses gibt nun in Paraphrase wieder, was es im Gespräch mit Yrkâne erfahren hat (vgl. RvB, V. 5814–5827). Es folgt eine direkte Aufforderung, zurück zum Hofe zu kehren, da dieser durch seine Abwesenheit einen Mangel aufweise und – wie erneut erwähnt wird und mit dem eingangs geschilderten Blick auf den Ritter korrespondiert – keinerlei Groll gegen ihn bestehe (vgl. RvB, V. 5827–5833). Wiederholt wird diese Aufforderung im Abschluss des Briefes mit der imperativistisch direkt an den Empfänger gerichteten Bitte komt wider unverdrozzen (RvB, V. 5846), die die Botschaft beschließt. 237 Durch den Brieftext wird der zuvor einer Rückkehr gänzlich abgeneigten Ritter zum Überdenken seiner Entscheidung bewegt: Do er disen brief gelas, […] die gedenke fuorten in/sus und so, nu hin, nu wider (RvB, V. 5847–5851). Schließlich kehrt er zurück (vgl. RvB, V. 5890f.).

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gestellt und narrativ genutzt, indem nähesprachlich gestaltete Brieftexte wie Dialogbeiträge aneinandergerückt werden.238 Ironischerweise ist der erste Brief dieses Dialogs dem vorübergehenden Abbruch des Kontakts gewidmet und nicht wie typischerweise bei (literarischen) Briefwechseln dessen Aufrechterhaltung.239 Fontânâgrîs erklärt Yrkâne gegenüber, er wolle mit dem Brief – sus (RvB, V. 6238) – sicherstellen, dass der Ritter muoz […] rûmen/alliu lant (RvB, V. 6226f.; vgl. auch RvB, V. 6233). In seiner sprachlichen Ausgestaltung macht der Text deutlich, dass jenes Anliegen dem König ernst ist. Dazu nutzt dieser Briefeingang gerade nicht Formulierungen, die sich an gesprochener Sprache orientieren, sondern erwähnt explizit den schriftsprachlichen Status der Äußerung und deren Konventionen. Eine freundliche Grußformel beginnt zwar den Brief, ein entsprechender Gruß wird dann aber dem Empfänger dezidiert verweigert. Die Formulierung [f]riuntlich gunst gruozens biet/sol ich heizen schrîben niet (RvB, V. 6243f.) verweist auf die bewusst verwehrte Konvention, mit einem respektvollen und freundlichen Gruß eine schriftliche Korrespondenz zu beginnen.240 Lässt sich der Verzicht auf eine umständliche Grußformel allgemein auch im Dienste der Unmittelbarkeit deuten, so handelt es sich hier um einen Regelbruch mit Ansage, eine Grußverweigerung, die betont, dass der Empfänger eines solchen Grußes nicht würdig ist. Das installiert eine deutliche Grundhaltung des Senders gegenüber dem Empfänger, die mit einem Verweis auf

238 Die fernkommunikative Auseinandersetzung zwischen Diomena und Apollonius ist zwar auch eine wechselseitige, sie wird jedoch nicht über wechselseitige Briefe realisiert. Einen Brief Diomenas erwidert Apollonius mit einer mündlichen Nachricht, woraufhin auch Diomena nur ihrem Boten aufträgt, etwas an Apollonius auszurichten (vgl. Kap. 4.1.2, 4.3.2). Der Brieftext hingegen ist vor allem für die Vermittlung des emotionalen Zustands und die Klärung des zwischenmenschlichen Verhältnisses zwischen Diomena und Apollonius interessant und wird daher auch unter diesem Fokus näher beleuchtet (vgl. Kap. 4.3.2). 239 Meist geht es gerade um literarische Strategien, das Figurenverhältnis über Briefkontakt weiter zu entwickeln. Unter der Prämisse des sich entwickelnden Figurenverhältnisses über Briefkommunikation (vgl. Muschick, Minne, S. 13 sowie 26) untersucht Muschick die Minnebriefe in ausgesuchten literarischen Texten des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit. 240 Damit steht der grußlose Einstieg in Kontrast zu dem umständlichen Eingang des ersten Briefes, welcher das positive Verhältnis zwischen König und Ritter betonte (s. Anm. 4/234). Diese Diskrepanz bemerkt bereits Dreher, Enclosed Letters, S. 169f.

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die Verschriftung der Äußerung die Vermitteltheit und sogar die Distanz zunächst hervorhebt.241 Das Sprecher-Ich macht sich auch nicht die Mühe, sich bzw. den Sender zu identifizieren,242 ebenso wenig wird der Empfänger in diesem Einstieg direkt angesprochen oder eindeutig benannt. Die Grußverweigerung trifft dem der ûf mîn laster gât und sich sô verschuldet hât gên mir und mînem kinde (RvB, V. 6245–6247)243

Während der Verzicht auf eine Nennung des eigenen Namens eine nähesprachliche Ausdrucksweise sein kann, indem er die Gesprächsteilnehmer wie bei räumlicher Kopräsenz als bekannt voraussetzt, evoziert der Verzicht auf eine direkte Adresse des Gegenübers Distanz. Die den langen Eingangssatz abschließende Bemerkung, der in distanzierter Draufsicht Beschuldigte, Nicht-Gegrüßte sei jemand, dem ich getrûte wol (RvB, V. 6251), baut einen Kontrast zu der jetzt zum Ausdruck gebrachten Verärgerung auf.244 Schon in den ersten fünf Briefversen wird deutlich, wie der Sender sich zum Empfänger positioniert; unterstrichen wird dieses Urteil mit dem Hinweis

241 Der Schreibvorgang wird ausdrücklich nicht vom Sender selbst ausgeführt (RvB, V. 6244), was suggeriert, dieser sei nicht nur nicht eines freundlichen Grußes würdig, sondern ebenso wenig eines eigenhändigen Abfassens durch den König. 242 Auch darin bildet der erste Brief die Kontrastfolie. Dass hier Fontânâgrîs mit dem SprecherIch zu identifizieren ist, wird dennoch deutlich. Als es von dem Vergehen des Ritters spricht, heißt es, er habe sich mit seinem frevelhaften Handeln gegenüber mir und mînem kinde (RvB, V. 6247) verschuldet. Da im Kontext der dem Ritter bekannten Beziehungen nur Yrkâne gemeint sein kann, stellen hier Personal- und Possessivpronomen eindeutig die Identität von SprecherIch und dem Dänischen König her. Auffällig ist, dass wie im ersten Falle die Identifizierung über die Tochter läuft, die in der Beziehung zwischen Ritter und König das zentrale Problem darstellt. Fonâtnâgrîs positioniert sich an der Seite Yrkânes, mit der er in jenen Formulierungen eine Einheit bildet. 243 Auch wenn hier der Empfänger nicht direkt in der zweiten Person adressiert oder mit dem Beschuldigten identifiziert wird, wird über seinen Empfängerstatus und den diesem verweigerten Gruß bereits deutlich, dass mit dem Getadelten eben der nicht-gegrüßte Empfänger des Briefes gemeint ist. 244 Darin gleichen sich erster und zweiter Brief des Königs (vgl. Anm. 4/234). Die Außenperspektive fällt dieses Mal jedoch gerade im Kontrast sehr viel negativer aus. Der Abschluss erinnert an die im vorherigen Brief geäußerte Wertschätzung des Adressaten als vertrauter Ratgeber und trägt zur Vereindeutigung der Identität des Beschriebenen mit dem Empfänger bei.

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daz ich niemêr erwinde, ich reche die mortlîchen tât die sîn lîp begangen hât an mir […] (RvB, V. 6248–6251)245

Versteht man die später im Brief formulierte Lossagung vom Ritter (s. u.) als die hier eingangs angekündigte Rache, so nutzt Fontânâgrîs seinen Text performativ, indem jener die Rache des Königs ausführt. Nach diesen einleitenden Worten wechselt der Redegestus. Statt in der dritten Person von dem in Ungnade Gefallenen zu sprechen, wendet sich das SprecherIch nun doch dem Adressaten direkt in der zweiten Person Plural246 zu. Der weitere Brieftext erläutert genau, wie es zu der dargestellten Einschätzung des Adressaten gekommen ist und worin genau die Rache für das Unrecht besteht.247 Der Brieftext wird als Lossagung/Fehdeansage248 bezeichnet, die die Aufgabe habe, ihn abzumahnen. Die Botschaft erhält eine spezifizierende Bezeichnung, die mit dem verfolgten Effekt verknüpft ist und den darin beschriebenen Prozess in der Benennung sogleich vollzieht. Der Grund für diese Handlung wird sogleich offenbart: Das Sprecher-Ich weiß um den bisher verheimlichten Grund des angespannten Verhältnisses zwischen dem Empfänger und Yrkâne (vgl. RvB,

245 Fontânâgrîs inszeniert von Beginn an die Zusammengehörigkeit seiner Person und seiner Tochter. Interessanterweise fokussiert das Sprecher-Ich den erlittenen Schaden und die Schuld des angesprochenen Ritters auf sich selbst. Ist zu Beginn noch von einer Schuld gegenüber ihm und seiner Tochter die Rede, geht es danach um die mortlîchen tât/die sîn lîp begangen hât/an mir (RvB, V. 6249–6251) und die Verletzung mîner êr (RvB, V. 6261). Das Verhalten gegenüber der Tochter wird dabei zwar auch wieder erwähnt (vgl. RvB, V. 6264f.), es wird allerdings als Angriff auf den König dargestellt. So behauptet das Sprecher-Ich, der Ritter greife seine Ehre an (vgl. RvB, V.  6260f.), obwohl es die Tochter ist, die konkret von den Nachstellungen betroffen ist. Fontânâgrîs interpretiert den Angriff seiner Tochter als Angriff auf sich und die Gefährdung ihrer Ehre als die seiner eigenen. Das korrespondiert mit der Feststellung, Fontânâgrîs identifiziere sich in seinen Brieftexten vor allem über die Tochter, gibt er sich doch jeweils mit einem Verweis auf sie eindeutig als Sprecher-Ich zu erkennen (vgl. Anm. 4/242). 246 [I]uwer, ir, iuch, iuweren (vgl. RvB, V. 6252, 6253, 6254, 6257, 6258, 6259, 6260, 6264, 6267, 6268, 6269, 6272, 6275, 6276). Nochmals ist auf ebendiese Zweiteilung im ersten Brief aufmerksam zu machen (vgl. Anm. 4/234; 4/236). Die Ähnlichkeiten legen fast nahe, von einem Briefstil Fontânâgrîs’ zu sprechen. 247 Dementsprechend wird die ungeteilte Aufmerksamkeit des Empfängers für die folgenden Ausführungen eingefordert. [I]uwer sin daz wizzen sol (RvB, V. 6252), hebt das Sprecher-Ich nach dem Eingangsteil an. 248 [W]idersagen (RvB, V. 6254) kann eine Lossagung, eine Fehde- oder Kampfansage oder eine Kriegserklärung beschreiben (vgl. Hennig, Wörterbuch, S. 465). Der Ritter selbst empfindet diese Aussage offenbar als Verbannung (vgl. RvB, V. 6402).

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V.  6256f.). Bevor es sein Wissen expliziert, indem es die zuvor im Text geschilderte Auseinandersetzung zwischen Yrkâne und Fontânâgrîs auf das Wesentliche beschränkt paraphrasiert (vgl. RvB, V. 6262–6265), ruft es eine in der Vergangenheit liegende Unterredung zwischen den Kommunikationspartnern auf, die auch im vorherigen Textverlauf Erwähnung findet (vgl. RvB, V. 6258f. sowie die Referenzunterredung in V. 5974–5981). Die dabei getroffene Verabredung, fortan nicht mehr Yrkânes Unmut zu erregen, stellt das Sprecher-Ich seinem jetzigen Kenntnisstand über das Verhalten des Adressaten gegenüber. Dabei nutzt es gezielt den Kontrast zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Nu (RvB, V.  6260), so bricht es den Blick in die Vergangenheit, geprägt durch Präteritalformen, ab, müsse es von einem Verhalten erfahren, das der damaligen Abmachung zuwiderläuft und die Anfechtung seiner Ehre bedeute.249 Im Anschluss an die Wiedergabe der erworbenen Kenntnisse über die Entzweiung und vor Formulierung der konkreten, strafenden Konsequenz250 urteilt das Sprecher-Ich lakonisch, der Ritter habe sich mit seiner Handlungsweise selbst schlecht beraten (vgl. RvB, V. 6266f.), ein Verweis auf den im ersten um Rückkehr bittenden Brief erteilten Ratschlag zur Versöhnung.251 Der Abschluss des Brieftexts fällt überraschend aus. Obwohl im Verlauf des Texts mehrmals die Dauerhaftigkeit der Abneigung erwähnt wird (iemer bzw. iemer mê und niemêr, RvB, V. 6270, 6255, 6248), eröffnet er eine nach der Schärfe des vorangegangenen Texts kaum erwartbare Versöhnungsoption. Dort erwähnt das Sprecher-Ich die Möglichkeit, durch einen Reinigungseid (vgl. RvB, V. 6276f.) doch noch zu hulde (RvB, V. 6275) zu kommen. Mit dieser Feststellung endet der Brieftext. So wie kein freundlicher Gruß das Gespräch eröffnet hatte, beendet dieses auch keine wohlgesinnte oder zumindest höfliche Formel; die anfängliche Grußverweigerung wird wiederholt. Die erwähnte Möglichkeit, Gnade zu empfangen wird damit zur Chance, wieder grußwürdig zu werden. Gleichzeitig erzeugt der Verzicht auf eine Abschlussformel auf narrativer Ebene den Eindruck

249 Stellt dieses ,nun‘ auch eher einen Kontrast zu den in der Vergangenheit liegenden Ereignissen und Abmachungen dar, so wird damit doch auch ein Zeitpunkt adressiert, der praktisch bereits zurückliegt, in der Formulierung aber aktuelle Präsenz entfaltet und einen nähesprachlichen Effekt im Sinne einer Referenz auf raum-zeitliche Gleichsetzung des Sende- und Empfängerkontexts haben kann. 250 Dem Ritter wird versprochen, sich von nun an vor Fontânâgrîs und allen ihm Untergebenen fürchten zu müssen (vgl. RvB, V. 6268–6273). 251 Dort hatte der König geäußert, seinem sonst zuverlässigen Ratgeber nun selbst einen guten Rat geben zu wollen (vgl. RvB, V. 5806f.).

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der Unabgeschlossenheit der Gesprächssituation, die die Interpretation der nachfolgenden Reaktion als Entgegnung begünstigt. Bei der unmissverständlichen Übertragung des Intendierten spielen nicht nur nähesprachliche Formulierungen die entscheidende Rolle. Von besonderer Wichtigkeit in diesem Beispiel ist gerade die Berufung auf rhetorische Grund­ sätze des Briefschreibens, die bewusst und reflektiert unterlaufen werden, um die fehlende Wertschätzung des Gegenübers zum Ausdruck zu bringen. Die zuletzt konstatierte Verbindung von Eingang und Ausgang verweist ebenso wie der effektvolle Kontrast von ehemaliger Stellung und jetziger Beurteilung des Ritters252 eher auf die Konzipiertheit und Vermitteltheit der Äußerung. Wiederholt sprechen außerdem die Aufmerksamkeitsforderungen die Vermittlungsfunktion des Brieftexts implizit an. Formulierungen wie sî iuch kunt (RvB, V.  6269), iuwer sin daz wizzen sol (RvB, V. 6252) und mîn widersagen ouch warnen/sol (RvB, V. 6254f.) leitet mehrere Aussagen ein. Die mit der Briefkomposition angestoßene Reflexion und die daraus geborene Antwort des Ritters sticht im Hinblick auf die Gesprächsersatzfunktion, nähesprachliche Gestaltungsmöglichkeiten und dialogische Funktionalisierung literarischer Brieftexte hervor. Dass hier eine Gesprächssituation über die Briefe realisiert wird, verdeutlich die Tatsache, dass der Brieftext des Ritters als mündliche Antwort auf die ihn zu Reflexionen anregende Botschaft stilisiert wird. Dem kognitiven Prozess, den der Brief bei ihm hervorruft (vgl. RvB, V. 6286–6403) und der darin mündet, eine Antwort verfassen zu wollen (vgl. RvB, V.  6397–6403), folgt eine Passage, die zunächst wie eine mündliche Reaktion wirkt. Eingeleitet wird sie mit er sprach (RvB, V. 6404). Erst nachträglich, nach Darstellung dieser vermeintlichen Figurenrede, entpuppt sich die Aussage als Schreibvorgang: er schreip mit sîner hende/reht als ich dâ von hân geseit (RvB, V. 6478f.). In brieflicher Fixierung wird die spontane, mündliche Reaktion auf die Botschaft nach Dänemark vermittelt. Der Brieftext bildet also einen direkt auf den vorherigen Brieftext reagierenden Redebeitrag ab. Narrativ werden ab dem zweiten Brief Fontânâgrîs’ die Kommunikationsräume aneinandergerückt. Im Gegensatz zu allen anderen Briefkommunikationen werden die Brieftexte jeweils in der Produktion wiedergegeben.253 Der erste

252 Dieser repräsentiert den Zustand des Senders, macht ihn im Raum des Empfängers spürbar. Mehr zur brieftextlichen Vermittlung emotionaler Befindlichkeit in Kap. 4.3.2. 253 Die Auserzählung des Briefinhaltes erfolgt sonst meist im Rezeptionsprozess. Der Erzählfokus liegt auf Empfängerseite. Folgt man Herolds Annahme, dass mittelalterliche Briefe hinsichtlich ihrer formalen Prinzipien stärker empfangsorientiert sind als Briefe im zwanzigsten/ einundzwanzigsten Jahrhundert (vgl. Herold, Empfangsorientierung, S.  265), korrespondiert

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Text schließt direkt an die Aussage, dem Ritter werde ein Brief geschrieben, an (vgl. RvB, V. 6240–6275), während im Moment des Lesens nur auf den Inhalt verwiesen254 und sofort der in Gang gesetzte Reflexionsprozess des Empfängers dargestellt wird (vgl. RvB, V. 6286–6403). Der Brieftext des Antwortschreibens folgt direkt dem Entschluss, auf den Brief zu reagieren (vgl. RvB, V. 6398–6404).255 Die RezipientInnen erfahren die Aussage in dem Moment, in dem sie generiert und auf den Weg gebracht wird und nicht erst, wenn sie vernommen wird. Das heißt, der Äußerungsvorgang rückt wie bei der Darstellung einer Face-to-face-Unterredung in den Vordergrund. Obwohl die mediale Form in ihrer Materialität und auch der Vorgang des Schreibens und Lesens erwähnt wird256 und Erläuterungen der Erzählinstanz die Präsentation der Brieftexte voneinander trennen (vgl. RvB, V. 6310–6389, 6463–6479), wirkt der Prozess wie ein Gespräch mit direkten Reaktionen auf die jeweiligen Äußerungen des Kommunikationspartners. Die Gestaltung des Antwortschreibens verzichtet auf typische Konstituenten einer Briefkommunikation wie Grußformel, Vorstellung und Adresse, die eine erneute Gesprächseröffnung und damit eine Unterbrechung der Kommunikation über die räumliche Distanz signalisieren würde. Ähnlich wie bereits in dem grußverweigernden Brief Fontânâgrîs’, aber ohne jener Aussparung als Konventionsbruch eine Bedeutung zu verleihen, beginnt das Sprecher-Ich unvermittelt mit: […] ,ich hân die hulde mîner frowen hôhgeborn umb ander sache niht verlorn wan als ich bescheide. (RvB, V. 6404–6407)

Damit erzielt der Text nicht nur sprachlich den Eindruck eines unmittelbar und unvermittelt antwortenden Gegenübers, auch inhaltlich schließt er direkt und ohne einführende Erläuterungen an den empfangenen Brief und den dort

dieser Erzählfokus mit der Ausrichtung der historischen Form. Relevanter sind im literarischen Kontext jedoch die damit verknüpften narrativen Funktionen. 254 [A]ls ir da vor wol hânt gehôrt (RvB, V. 6283). 255 Der These der nachträglichen Erwähnung des Schreibvorgangs widerspricht – so ließe sich argumentieren – der bereits vor dem späteren Brieftext erwähnte Entschluss und rieten im die sinne,/er solt der küneginne/und Fontânâgrîse/in friuntlîcher wîse/heizen wider schrîben (RvB, V. 63997–6401). Allerdings wird der darauffolgende Monolog mit einer inquit-Formel eingeleitet (vgl. RvB, V. 6404), ohne darauf hinzuweisen, dass es sich bereits um den später verschriftlichten Text und nicht um der Textkonzeption vorangestellte Überlegungen handelt. 256 [S]chrîben (vgl. RvB, V. 6239, 6244, 6401); brief (vgl. RvB, V. 6241, 6283, 6480); geschriben (vgl. RvB, V. 6242); las (vgl. RvB, V. 6283); schreip (vgl. RvB, V. 6478).

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erwähnten Huldverlust (s. o.) an. Dieser Eingang setzt voraus, dass der Empfänger weiß, worum es geht und auf wen das Ich des Textes, das sich hier ebenfalls nicht vorstellt, referiert. Der Name des Adressaten oder der lediglich referenzierten Yrkâne kommen niemals vor, wodurch das Schreiben eine Gesprächssituation suggeriert, in der alle Beteiligten räumlich-zeitlich kopräsent, eindeutig identifiziert und über das Gesprächsthema bzw. den Diskussionsstand unterrichtet sind. Auch andere Aussagen des Brieftexts Fontânâgrîs’ werden wieder aufgegriffen. Das Sprecher-Ich beschwört, dass sein Vorgehen kein von Minne bestimmtes Interesse verfolgt habe. Damit greift es den von Fontânâgrîs zur Versöhnung geforderten Reinigungseid auf. Einen solchen zu schwören lehnt es unter Insistieren auf einer Verleumdung ab (s. u.); an dessen Stelle setzt es die Bereitschaft, seine Unschuld mit einem Eid zu besiegeln. In der Formulierung des swer ich einen eit (RvB, V. 6423) kann das Pronomen daher als nachdrückliche Betonung der Ablehnung des im vorherigen Gesprächsbeitrag geforderten Schwurs auf die Unschuld Yrkânes (vgl. RvB, V. 6275–6277) verstanden werden. Der Eindruck von Unmittelbarkeit und gesprochener Sprache resultiert über diese Bezüge auf die vorangegangene Aussage hinaus aus der Transformation des Standpunktes des Sprecher-Ichs im Laufe des Texts. Das Sprecher-Ich scheint zunehmend emotional affiziert und verfährt schließlich entgegen der zuvor präsentierten Intention, in friuntlîcher wîse (RvB, V.  6400) zu antworten. Dieser Text wirkt daher auch inhaltlich gerade nicht vorsichtig und sorgsam im Vorfeld der finalen Verschriftlichung konzipiert. Vielmehr erweckt er den Eindruck, im Moment der Entäußerung werde das jeweils Folgende erst erdacht. Dieser Eindruck entsteht auch durch die dargestellten Prozesse im Vorfeld der Äußerung. Der Brief Fontânâgrîs’ erzielt bei dem Ritter eine intensive Wirkung: Der im Schreiben angesprochene Verstand des Ritters257 realisiert, was ihm der Brief mitzuteilen versucht (sîn sin marhte wol diu wort, RvB, V. 6284), es kommt dann jedoch nicht zu Scham, Reue oder dem Versuch, die Gunst Fontânâgrîs’ wiederzuerlangen. Ob der Offenbarung seines unziemlichen Verhaltens verfällt der Ritter in tiefe Verzweiflung (vgl. RvB, V.  6288–6299), bevor ihn erneut die Aussichtslosigkeit seiner Minne plagt (vgl. RvB, V. 6300–6309). In Kombination bewirken die durch den Brief angestoßenen Empfindungen ein rastloses hin und her-Denken (RvB, V. 6385),258 das ihn schließlich zu der – angesichts des Versöh-

257 Im Brief heißt es vor der Vermittlung der relevanten Informationen: iuwer sin wizze das wol (RvB, V. 6252). 258 Bei diesem Versinken in widerstrebenden Gedanken handelt es sich um ein für die Figur geradezu pathologisches Verhalten, schwankt der Ritter doch stets darüber, was er glauben, denken und tun soll.

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nungsangebots (s. o.) recht verwunderlichen – Einsicht führt, dass die Gunst des Königs nicht wiederzuerlangen sei und es nun nur noch gelte, in einem Antwortschreiben seine Verbannung zu beklagen (vgl. RvB, V. 6390–6403).259 Der Ritter nimmt sich zwar vor, allein seine Unschuld zu beteuern, der Text des Briefes fällt dann allerdings nicht so freundlich und verteidigend aus, wie die geschilderten Überlegungen nahelegen. Zu Beginn kündigt das Sprecher-Ich an, zu erläutern, warum es – aus seiner Sicht – die Gunst Yrkânes verloren hat (vgl. RvB, V.  6404–6406). Da der Brief Fontânâgrîs’ danach gar nicht gefragt, sondern bereits selbst den Grund ausformuliert hatte (s.  o.) und somit eigentlich eine Erläuterung gar nicht nötig ist, markiert dieser Eingang den Text als Widerspruch, der auf die formulierte Anschuldigung mit einer Gegendarstellung reagiert. Daraufhin versichert Das Sprecher-Ich, sich nicht schuldig gemacht, sondern nur in guter Absicht gehandelt zu haben, da mîn sin mîn herze beide/ wâren ir [Yrkâne] ie undertân (RvB, V.  6408f.). Der Gültigkeit dieser Gesinnung versucht es auch jetzt noch Ausdruck zu verleihen. Yrkâne wird mit von Respekt und Bewunderung zeugenden Ausdrücken bedacht,260 auch der Adressat wird konventionsgemäß weiter als herre angesprochen (RvB, V. 6446). Das passt noch zu der Intention, die eigene Unschuld und gute Absicht bekräftigen zu wollen. Doch dann geht Verteidigung in Angriff über. Das Sprecher-Ich behauptet, die Huld Yrkânes, ir gunstlîchez grüezen (RvB, V.  6411), gerade mit seiner Ergebenheit ihr gegenüber (dâ mit, RvB, V.  6410) verloren zu haben. Diese scheinbare Widersprüchlichkeit von positiver Absicht und negativer Rückwirkung führt es dann näher aus, wobei die Selbstverteidigung in eine Beschuldigung kippt. Der Ritter habe Yrkâne Reinfried heimlich beiliegen sehen (vgl. RvB, V. 6410–6415) und erstere im Vertrauen dafür zurechtgewiesen (vgl. RvB, V. 6416–6419), da es ihm um des rîches schande (RvB, V. 6425) leid gewesen sei. Konkreter Auslöser ihres Hasses sei nun aber nicht seine Mitwisserschaft, sondern seine heimliche Zurechtweisung, die sie als unangemessene Minnewerbung interpretiert habe. Dieses Motiv aber schließt er explizit (s.  o.) aus.261 So habe er umb mîne triuwe

259 Hier zeigt sich, dass der Rezipient einer medialen Kommunikation während der Aufnahme der vermittelten Inhalte diese „gleichzeitig aber ergänzt […] aus dem Bestand seines Wissens und seiner Erwartungen; während er wahrnimmt, projiziert er Inhalte auf das Medienprodukt.“ (Winkler, Basiswissen, S. 265). 260 [M]îne[] frowen hôhgeborn (RvB, V. 6405); die süezen (RvB, V. 6412); diu minneclîche (RvB, V. 6420); diu minneclîchiu klâr (RvB, V. 6434); diu hôhgeborne (RvB, V. 6440); der zarten (RvB, V. 6457). 261 Nicht nur will er seine Äußerungen ihr gegenüber nicht als Werbung verstanden wissen, an eine solche Werbung habe er noch nicht einmal gedacht (vgl. RvB, V. 6420–6425). Dass jene Aussagen nicht der Wahrheit entsprechen, wissen die RezipientInnen durch die vormalige Aus-

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(RvB, V. 6426) das Land räumen müssen. Der Ritter entschuldigt sein Verhalten als missverstanden, beschuldigt mit der Erklärung seines Verhaltens vielmehr Yrkâne. Genau genommen berichtet der Ritter nichts Neues, hatte Yrkâne ihrem Vater doch bereits den Vorwurf geschildert und Fontânâgrîs jenen als Grund seiner Verärgerung angeführt (s.  o.). Doch der Brieftext ergänzt die Behauptung mit der Vermutung, Yrkâne versuche mit ihrer Anschuldigung die Glaubwürdigkeit des Ritters einzuschränken und ir laster mit mir [zu] decken (RvB, V. 6435). Seine Antwort ist keine Enthüllung, sondern die Bekräftigung seines Standpunkts und die konfrontative Zurückweisung der Versöhnungsmöglichkeit, die der Ritter offenbar bereits verworfen hat (s. o.). Innerhalb weniger Zeilen weist der Brieftext nicht nur die Anschuldigungen zurück, sondern reklamiert auch eine Opferrolle für den Ritter, für deren Rechtmäßigkeit jener bereit ist, offensiv zu kämpfen. Der Rest des Textes ist der Demonstration dieser Entschlossenheit gewidmet. Mit Nachdruck vertritt er den Wahrheitsanspruch seiner Anschuldigungen und geht so weit, einen Gerichtskampf zur Verifizierung anzusetzen (vgl. RvB, V.  6429– 6449). Dieser radikale Umschwung von der Intention, freundlich zu antworten, zu Angriff und Anklage scheint einen Prozess emotionaler Bewegung abzubilden und nicht einen sorgfältig konzipierten Antworttext darzustellen. Für diese Vorgänge findet das Sprecher-Ich selbst im Brieftext eine anschauliche Erklärung. Im Bild der schlafenden Hunde erklärt es seine aggressive Haltung; der Brieftext bildet derweil die dazu passende ablaufende emotionale Entwicklung262 während des Formulierungsprozesses ab. In Verbindung mit der Vermutung, Yrkâne nutze ihn als Bauernopfer, mit dem sie ihr Vergehen vertuschen könne (s. o.), gibt das Sprecher-Ich zu verstehen, mit diesem Verhalten könne sie an mir wecken/slâfendes hundes reizen (RvB, V.  6436f.). Er hätte sich – so legt das Bild nahe – still und friedlich verhalten,

erzählung sowohl der Unterredungen als auch der emotionalen Befindlichkeit des Ritters. Auch kommentiert die Erzählinstanz am Ende seiner zu Papier gebrachten Gedanken: sus lêrt diu minne liegen/und wandellîchen biegen/daz herze mit der zungen./in hât daz leit betwungen/daz er niht wiste waz er tet (RvB, V. 6463–6467). 262 Folgt man Wand-Wittkowskis Ausführungen, so nimmt diese Passage eine gewisse Sonderstellung in der mittelalterlichen Literatur ein. Anders als der neuzeitliche Roman bringe der mittelalterliche Roman in seinen Briefdarstellungen die Gegensätze zum mündlichen Gespräch nicht allzu sehr zur Geltung: „Das Schreiben könnte z.  B. im Gegensatz zum mündlichen Gespräch mehr Möglichkeiten geben, zu überlegen, Gedanken zu korrigieren, Haltungen zu revidieren und sich selbst im Schreibvorgang zu verändern. Diese Möglichkeiten werden im mittelalterlichen Roman nicht umgesetzt“ (vgl. Wand-Wittkowski, Briefe, S. 73).

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hätte sie nicht seine Ruhe, seinen ,Schlaf‘, mit ihrer Offensive gestört. Nun aber verhalte er sich wie ein Tier, das sich gereizt fühlt und daher zum Angriff übergeht. Dieses Bild steht zwischen zwei Formulierungen, die sehr eindeutig die im Schreibprozess noch anwachsende Entschlossenheit demonstrieren. Heißt es zunächst noch, ich wil die minneclîchen/des übersagen […] in kamphes rinc, mit strîten (RvB, V. 6428–6430), so verschärft sich die Formulierung später zu ich spriche sî des an (RvB, V. 6442), woraufhin er den König auffordert, einen Tag für eine Auseinandersetzung im Kampf festzulegen (vgl. RvB, V. 6446). Das Vorhaben der Anklage wird zur sprachlich-performativ vollzogenen Anklage selbst, die Entschlossenheit, im Kampf für die Anklage einzustehen, zur Forderung eines Kampftermins. Die Aggressivität, mit der der Ritter seine ,Wahrheit‘ vertritt, wird dominant und findet konkrete Umsetzung. Das, was in dem Bild der schlafenden Hunde erklärt wird, bildet nicht nur die generelle Reaktion auf den Brief des Königs ab, sondern ist parallel auch im Brieftext beobachtbar. Mit Konkret- und Entschlossenheit schließt der Brief, der so vorsichtig begonnen hatte. Das Sprecher-Ich setzt die Spielregeln des sprachlich implementierten Kampfes fest (vgl. RvB, V.  6450–6459) und verfestigt die Verbindung von Sieg und Recht.263 Dass es dabei als Ergebnis nur seine unschulde (RvB, V. 6458), gnâde (RvB, V. 6459) (und Yrkânes schande, RvB, V. 6450) oder aber seinen tôt (RvB, V. 6453) in Betracht zieht, untermauert die Ernsthaftigkeit seines konfrontativen Anliegens. Das Sprecher-Ich befindet sich nicht mehr in einem defensiven Ruhezustand, die erweckte Aggressivität lässt sich nicht mehr besänftigen. Schließlich bekräftigt das Sprecher-Ich zweimal direkt hintereinander seine in die Waagschale der geforderten Auseinandersetzung geworfene Unschuld (vgl. RvB, V. 6456f., 6460–6462). Angesichts des Umschwungs der Verteidigungs- zur Anklagehaltung und der sich steigernden emotionalen Erregung im Verlaufe des Texts entsteht gerade unter Berücksichtigung der ursprünglichen Absicht beim Beginn des Verfassens der Eindruck, der Ritter ändere im Schreibprozess seinen Plan. Es wirkt, als verfolge er bis zu einen gewissen Punkt noch sein ursprüngliches Vorhaben, lasse sich dann aber dazu hinreißen, im Sinne seiner im Schreibprozess entwickelten Verbitterung weiterzuschreiben. Das ist angesichts der Versöhnungsmöglichkeit, die der Brieftext des Königs am Ende eröffnet, überraschend und verweist

263 In dem in mittelalterlicher Literatur üblichen Gerichtskampf liegt das Recht auf der Seite des Stärkeren. Dem Sieger der Auseinandersetzung wird zugesprochen, sich von vornherein im Recht befunden zu haben (vgl. Friedrich, Udo: Die ,symbolische Ordnung‘ des Zweikampfes im Mittelalter. In: Gewalt im Mittelalter. Realitäten – Imaginationen. Hrsg. von Manuel Braun/ Cornelia Herberichs, München 2005, S. 123–158, hier S. 153).

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bei aller nähesprachlichen Wirkung des Antwortbriefes doch besonders auf ein grundsätzliches Problem zerdehnter Kommunikation. Abgelöste Kommunikationsbeiträge, bei denen es nicht möglich ist, die direkte Reaktion am Gegenüber abzulesen und Fehlinterpretationen gegebenenfalls zu korrigieren, drohen – so zeigt das Verhalten des Ritters – sich in der Rezeption bzw. in der Verschriftlichung der Antwort emotionale Reaktionen zu verselbständigen.264 Den Ritter befällt die Gunst des Königs betreffend eine Hoffnungslosigkeit, die ihn schließlich nicht den vorgegebenen Versöhnungsweg wählen lässt, sondern ihn zu einer konfrontativen Antwort veranlasst. Viele der auserzählten Brieftexte inkorporieren nähesprachliche Elemente und verwenden – wie für Briefeinlagen der mittelalterlichen Literatur üblich265  – Briefeinlagen als Ersatz für Passagen im dramatischen Modus, indem sie den Briefinhalt wie eine direkte Rede zur Verfügung stellen. Selten werden sie so eingesetzt, dass der Inhalt als eine kommunikative Äußerung in einer dialogischen Gesprächshandlung erscheint – und Raum und Zeit zwischen der kommunikativen Äußerung und deren Rezeption in der Darstellung verschwinden. Die dem Gesprächsersatzcharakter von Briefen entsprechenden Verfahren werden im selben Brieftext meist wieder gebrochen,266 in der Mehrzahl der Textpassagen, die diese schriftliche Form der Fernkommunikation abbilden, wird sowohl die Ausgangssituation geschildert als auch der Inhalt des Briefes wörtlich

264 Ob der scharfe Tonfall und die Dominanz drohender und verurteilender Formulierungen den versöhnlichen Sinn der Schlussformulierung unterläuft und der Text deshalb als nicht vollständig erfolgreich zu bewerten ist, oder ob die Minnebesessenheit des Ritters für dessen Reaktion verantwortlich ist, lässt sich auf Textgrundlage nur spekulativ beantworten. Der primär bedrohliche und weniger versöhnliche Ton des Briefes ist zwar kaum bestreitbar, plausibler scheint aber die Erklärung, diese Fehleinschätzung entspringe dem von fehlgeleiteter Minne beeinträchtigten Verstand des Ritters. Es wird nämlich erzählt, dass der Ritter sich in seinem Prozess des gedanklichen Umherwälzens schließlich eine Lösung ausdenkt (erdâht im einen funt, RvB, V. 6391), woraufhin die eben beschriebene Annahme, die der letzten Briefaussage geradezu entgegensteht, detailliert dargestellt wird. Der erste Brief löst zwar die Überlegungen des Ritters aus, ihre Schlussfolgerungen sind in ihrer Situationsunangemessenheit jedoch nicht direkt auf Fontânâgrîs’ Nachricht zurückzuführen. 265 Vgl. Wand-Wittkowski, Briefe, S. 68f. 266 So stellt auch Muschick fest, es lasse sich zwar kaum bestreiten, dass Briefe eine Gesprächs­ ersatzfunktion einnehmen, dennoch glichen Briefe gerade nicht dem spontanen Redeakt im Gespräch, sondern einer geplanten, rhetorisch gestalteten Rede (vgl. Muschick, Minne, S. 35). Gerade darin bestehe die Möglichkeit dieser medialen Form, Umfang und Komplexität von Nachrichten zu steigern (vgl. ebd.). Das schließt nicht aus, dass die Inszenierung als Gespräch in einem Brieftext vorherrschen kann. Vgl. dazu Koch/Oesterreicher, Sprache.

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wiedergegeben,267 sodass der mediale Prozess präsent ist. Der Eindruck, es werde ein Gespräch in den Schriftraum verlagert, entsteht annähernd nur im zuletzt thematisierten Beispiel, dem wechselseitigen Austausch zwischen Fontânâgrîs und Reinfrieds Nebenbuhler. Gerade diese Passage zeigt aber umso deutlicher, dass schriftsprachliche Fernkommunikation stark von der Dekontextualisierung und Distanz zwischen den Kommunikationspartnern geprägt ist. Eine gesprächsähnliche Situation zu erzeugen, scheint daher nur eine Möglichkeit brieflicher Textgestaltung und nur ein narratives Potenzial der medialen Form zu sein. Ausmachen lassen sich im Textkorpus auf Grundlage der Intention einerseits solche Kommunikationsprozesse, die auf die Mobilisierung eher konkret handlungsrelevanter bzw. handlungsanimierender Informationen zielen und damit gezielt überzeugend wirken sollen, andererseits solche, die primär versuchen, einer sozialen Beziehung zum Empfänger oder der eigenen Befindlichkeit Ausdruck zu verleihen. Dementsprechend dienen literarische Brieftexte im Reinfried und im Apollonius neben grundsätzlicher Verknüpfung disparater Handlungsräume vor allem der Darstellung prototypischer, persuasiver Redegestaltung sowie dem Zugang zum Inneren der verfassenden Figur.268 Beide Aspekte sollen im Folgenden gesondert Betrachtung erfahren.

4.3.2 Näher als nah: Strategien schriftlicher Emotionsvermittlung und der Blick in den Figureninnenraum Schon in den soeben betrachteten Briefeinlagen aus dem Reinfried von Braunschweig ist deutlich geworden, dass in fernkommunikativen Erzeugnissen stets auch die Beziehung zwischen Sender und Empfänger thematisiert wird. Gänz-

267 Nur in einigen Fällen sind auch die TextrezipientInnen allein auf den Inhalt des Briefes verwiesen, so beim Hilfsgesuch des Königs Paldein (vgl. AvT, V. 2935–3039). 268 Bei der Begutachtung der nach diesen Funktionen gegliedert untersuchten Textpassagen muss jedoch berücksichtigt werden, wie die Texte versuchen, den Raum, der zwischen Sender und Empfänger besteht, im Sinne ihres jeweiligen Anliegens zu nivellieren, also Unmittelbarkeit und Präsenz herzustellen, Gefühle und soziale Bindungen zum Ausdruck zu bringen und ihrem Anliegen entsprechend zu wirken (Briefe dienen häufig – und besonders im Sinne der im Mittelalter bekannten und praktizierten ars dictaminis (s. Anm. 4/97) – der Durchsetzung eines bestimmten Anliegens und liegen damit in der Nähe persuasiver Rede (vgl. Ratzke/Schmidt, Politische Rhetorik, S. 107). An der meist ebenso dargestellten Reaktion des Empfängers lässt sich auch ablesen, wie erfolgreich die Vermittlung ist. Der Eindruck ist gegebenenfalls durch vorherige Informationen zu Kontext und Intention des Senders mit denen des textinternen, über weniger Hintergrund verfügenden Empfängers abgleichbar.

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lich im Fokus steht sie in Briefen zwischen Figuren in Liebesbeziehungen.269 Die Einordnung des Gefühlten in konventionelle Begriffe scheint selbst angesichts unmittelbarer zwischenmenschlicher Kommunikation ein Bedürfnis zu sein  – dies zeigt das erläuterte Beispiel der Blickgespräche zwischen Reinfried und Yrkâne, welches dennoch einen sprachlichen Austausch über das Empfinden dem anderen gegenüber nach sich zieht (vgl. Kap.  1). Vollkommen auf den Versuch einer adäquaten Versprachlichung zurückgeworfen sind die Partner, wenn sie räumlich getrennt voneinander sind. Im Folgenden sollen Brieftexte im Zen­trum stehen, die vorrangig der Vermittlung von Emotionen dienen und die die Möglichkeiten, trotz der situationsbedingten Hindernisse einen möglichst unmittelbaren Eindruck der Gefühlslage beim Empfänger zu erzeugen,270 austarieren. Ein Blick auf die Forschung im Bereich Emotionalität und Medialität zeigt, welches narrative und diskursive Potenzial solche Briefeinlagen entfalten können und worauf in der anschließenden Auseinandersetzung mit den zwei unterschiedlich ausfallenden Beispielen solcher Brieftexte – dem Trennungsbrief Diomenas (AvT, V. 14398–14421) im Apollonius und dem Minnebrief (bzw. den Minnebriefen, s. u.) Yrkânes (RvB, V. 7511–7598, 24523–24684) im Reinfried – besonders zu achten ist. Die historische Emotionsforschung widmet sich bei der Erforschung der kulturellen Semantik und Eigenlogik von Emotionen in mittelalterlichen fiktionalen Texten271 den Äußerung einer Emotion durch eine literarische Figur, Erzählerkommentaren und ritualisierte Gesten.272 Die Auseinandersetzungen

269 „Begreiflicherweise tendiert der Liebesbrief aller Epochen der Entwicklung des deutschen Briefes am ehesten dahin, der ganz persönlichen Selbst-Äußerung den meisten Raum zu bieten, das eigene Ich dem Partner so unverhüllt wie in keiner anderen Briefart zu manifestieren (wobei ich keineswegs verkenne, daß es selbst im Liebesbrief immer auch zeitabhängige Ausdrucksklischees, Topoi u. ä. gegeben hat)“ (Nickisch, Reinhard M.G.: Präliminarien zu einer systematisch und historisch adäquaten Erschließung der deutschen Briefliteratur. In: Literatur in Wissenschaft und Unterricht 12/3 [1979], S. 206–225, hier S. 218). 270 Schriftliche Kommunikation – so Schnyder – überwindet Distanz und gewährt zumindest eine bestimmte Zeit die Liebe von Getrennten (vgl. Schnyder, Schrift und Liebe, S. 12). Auch Wand-Wittkowski formuliert den Versuch, durch die Simulation von Anwesenheit und authentisch wirkender Gefühlsdarstellung ein unmittelbares Liebeserlebnis herbeizuführen und die Anwesenheit des Absenders zu simulieren, als Ziel solcher Briefkommunikationen (vgl. WandWittkowski, Briefe, S. 46, 50). 271 Vgl. Eming, Jutta: Emotionen als Gegenstand mediävistischer Literaturwissenschaft. In: Journal of Literary Theory 1 (2007), S. 251–273, hier S. 252. Dazu gehören Kontexte dargestellter Emotionen, die Strukturierung des Innenlebens in diesen, die Ausdrucks- und Darstellungs­ muster spezifischer Emotionen sowie gattungstypische Ausdrucks- und Darstellungsmodi zu erforschen (vgl. hier S. 252f.). 272 Vgl. hier S 257.

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mit Verschriftlichungen von Emotionen in der mittelhochdeutschen Literatur als Form der Figurenäußerung konzentrieren sich bisher ob der Präsenz des Phänomens auf die Untersuchung von Minnebriefen.273 Denn dem ,Liebesbrief‘, dem bereits in Ovids Ars amatoria eine besondere Stellung unter den privaten Briefen zukommt,274 schenkt auch die höfische Erzählliteratur ein ausgeprägtes Interesse.275 Dass Minnebriefeinlagen gerade von der älteren Forschung vorgehalten wurde, nur schmückendes Beiwerk ohne Handlungsrelevanz und künstlerischen Wert zu sein,276 liegt an der variierenden, aber letztlich doch recht typisierten277

273 Vgl. Brackert, Minnebriefe; Muschick, Minne. „Der Liebesbrief als literarisches Register des höfischen Romans wurde in einer Reihe von Studien recht gut erschlossen“, so Huber im Eingang seiner Untersuchung zum Ausdruck von Intimität im nachklassischen höfischen Roman über Minnebriefe (Huber, Minne, S. 125; er nennt Mayser, Briefe, und Brackert, Minnebriefe, und verweist selbst auf die Forschungsüberblicke bei Ernst, Schriftlichkeit; Wand-Wittkowski, Briefe und Kellermann/Young, You’ve got mail). 274 Dort wird propagiert, sie in die Verführungsstrategie miteinzubeziehen (vgl. Ernst, Schriftlichkeit, S. 324). 275 Zahlreiche Beispiele nennt und beschreibt Ernst, Schriftlichkeit, S. 325–340, darunter die Lais der Marie de France, den Roman d’Eneas, die Tristan-Fortsetzungen Ulrichs von Türheim und Heinrichs von Freiberg, Gottfrieds Tristan, Wolframs Parzival, Wirnts Wigalois, Rudolfs Willehalm von Orlens, den Götterweiger Trojanerkrieg, Konrads von Stoffeln Gauriel von Muntabel, des Pleiers Meleranz, Reinfried von Braunschweig, Johanns von Würzburg Wilhelm von Österreich, Ulrichs von Liechtenstein Frauendienst und Wittenwilers Ring. 276 Brackert bemerkt, die ältere Forschung, für ihn repräsentiert durch Eugen Mayser (Mayser, Brief), habe die Minnebriefe als „leer, unsinnig, […], modisch, manieriert, spielerisch, blumig, floskelhaft, wortreich, ungegliedert, künstlich, ornamental“ (Brackert, Minnebriefe, S. 8; s. auch Anm. 4/279), vor allem aber als inhaltsleer kritisiert, ohne dabei danach zu fragen, ob Information und Handlungsantrieb überhaupt die relevanten Kategorien bei der Bewertung solcher Briefe seien (vgl. hier insbes. seine Anm. 18 [S. 8]). Tatsächlich geht Mayser von einer stringenten Negativentwicklung der Briefe im mittelalterlichen Romans aus. Quantität ersetze zunehmend Qualität und es entstünde zunehmend inhaltsleeres und von wortreichem und blumigem Stil geprägtes „Gefasel“ (Mayser, Brief, S. 142). Als Höhepunkt dieser Entwicklung vor dem Umschlagen in Parodie in Wittenwilers Ring betrachtet er den Wilhelm von Österreich des Johann von Würzburg, dessen Briefe mit ihren Bildern und kreativen Metaphern er als Symptome einer „sentimental-rückschauenden, niedergehenden Zeit“ versteht (vgl. hier S. 143f., Zitat S. 144). 277 „Der Minnebrief, wie er in der deutschen Epik vom Anfang des 13. bis weit ins 15. Jahrhundert hinein, wenig variiert, immer wieder auftritt, hat seine literarische Tradition. Es lassen sich typische Merkmale zusammenstellen, denen gegenüber die möglichen Variationen das Typische nur bekräftigen“ (Brackert, Minnebriefe, S. 3). Als wichtigste Träger dieser bei ihm mit Wolframs Parzival und Wirnts Wigalois einsetzenden Tradition benennt er Rudolf von Ems (vgl. hier S. 8–13) und Johann von Würzburg (vgl. hier S. 13–15), als Parodie dieser die Briefe im Ring Wittenwilers (vgl. hier S. 15–17). Szenen- und Briefmuster verlaufen meist wie folgt: „Ein Bote kommt, zuweilen in Begleitung, mit einem Brief. Er wird mit höfischem Anstand empfangen, in

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Einbettung in den Handlungsverlauf, der Anlehnung an das allgemeine fünfteilige Briefschema der ars dictaminis278 und ihrer Kompilation aus den immergleichen Topoi der Liebesdichtung.279 In der Übersicht ergibt sich der Eindruck von Stereotypie und nicht von einer Nutzung der Briefeinlagen zur Entfaltung von Intimität zwischen den getrennten Figuren. Gegen den Vorwurf der handlungslogischen Irrelevanz führt bereits Brackert im Vorfeld seiner Untersuchung an, dass die reduzierende Bewertung literarischer Minnebriefe als funktionsloses rhetorisches Beiwerk auf einer Erwartungshaltung beruht, die den Textelementen in ihrer textuellen Funktion nicht angemessen ist. Es gehe bei den zweifelsohne stark ornamental orientierten Textelementen nicht vorrangig darum, handlungsrelevante Informationen zu vermitteln, sondern um eine sprachliche Auseinandersetzung mit den für wichtig erachteten Werten der Gesellschaft und deren Reproduktion.280 Diese Stoßrichtung verfolgt auch Muschick in seiner

ein separates Gemach geführt und bringt einen Gruß vor oder eine Botschaft. Erst dann übergibt er den Brief, oft auch ein Geschenk; der Brief, dessen Inhalt dem Boten unbekannt ist, wird vom Empfänger in Gegenwart des Überbringers gelesen. Die Lektüre stimmt den Empfänger, je nach Inhalt, fröhlich oder traurig“ (hier S. 3). 278 Mehr zur ars dictaminis in Kap. 4.1.2, insbes. in den Anm. 4/97; 4/98. Obwohl dezidierten Liebesbriefmuster erst ab der zweiten Hälfte des zwölften Jahrhunderts im Rahmen der Briefsammlungen der ars dictaminis überliefert sind und auch die Anfang des dreizehnten Jahrhunderts entstandene Rota Veneris, die versucht, ars dictandi und ars amatoria zu verknüpfen, was die Ratschläge zum Verfassen von Minnebriefen betrifft, oberflächlich ausfällt (vgl. Lutz, Rhetorica divina, S. 42), unterliegen die Briefe der literarischen Dichtung bereits früh in inhaltlichem Aufbau und sprachlicher Gestaltung einem recht typischen Schema (vgl. hier S. 42; s. auch Ernst, Schriftlichkeit, S. 325). Brackert erklärt: „Ein Gruß eröffnet den Brief, daran schließt sich eine triuwe- oder dienest-Versicherung, dem folgt ein Lobpreis auf die tugent oder (seltener) speziell auf die Schönheit des Empfängers, dann eine meist nur kurz und ganz allgemein gehaltene Bitte und endlich als Abschluss wieder eine triuwe- oder dienest-Versicherung. Die Abfolge der Teile ist nicht streng geregelt; immer aber steht am Anfang der gruoz, die salutatio“ (Brackert, Minnebriefe, S. 3f). 279 „Da Liebesbriefe aus Romanen zum größten Teil gängige, aus der Liebesdichtung bekannte Floskeln enthalten, mag einen heutigen Leser dieser direkte Rückschluß vom Brieftext auf die tatsächliche Gefühlslage des Absenders irritieren. Die Briefe wirken stereotyp und austauschbar“ (Wand-Wittkowski, Briefe, S. 44). Brackert bemüht sich, diesen Befund als literarischen Ausdruck der höfischen Minnekonzeption zu lesen: „Beschworen werden sittliche Kräfte, die die minne entbindet und entbinden soll; bestätigt werden vorgegebene Formen höfischen Minnedienstes, in denen sich ein Minneverhältnis bewegen muß, um beispielhaft und damit überhaupt erst darstellenswert zu sein. So muß auch im Brief stehen, was für alle, nicht was für die beiden Liebenden gilt. Was aber allgemein gilt, findet seinen sprachlichen Ausdruck nicht in der individuellen Prägung, sondern in der Formel und deren Variation“ (Brackert, Minnebriefe, S. 7). 280 Vgl. Brackert, Minnebriefe, S. 8.

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exemplarischen Untersuchung spätmittelalterlicher und frühneuzeitlicher Minnebriefwechsel.281 Gegenüber Brackert betont er aber auch die inhaltliche und strukturelle Relevanz der untersuchten Briefwechsel.282 In den hier untersuchten Beispielen ließe sich behaupten, die Passagen besäßen besondere handlungslogische und damit auch makrostrukturelle Wichtigkeit, da in ihnen das Verhältnis des männlichen Empfängers zur weiblichen Senderin neu bestimmt wird. Yrkânes Hilfsgesuch sowie ihr Minnebrief versuchen Reinfried unter Betonung der Zuneigung zu einer räumlichen Annäherung und Unterstützung zu animieren, Diomenas Brief kündigt jede Beziehung zu Apollonius auf und regt jenen an, seine Reise weiterzuführen. Die Ausführungen in den Briefen motivieren jeweils den nächsten Handlungsschritt durch die textuell entfaltete emotionale Positionierung der Frauenfigur (s. Kap. 4.1.1). Die sprachliche Stereotypie muss Minnebriefeinlagen nicht – so wird bereits durch Brackerts Argumentation deutlich – zu manieristischen Schmuckelementen degradieren, die effektlos für die Vermittlung von Gefühlen und Herstellung von Intimität sind.283 Muschick hebt hervor, dass alle von ihm untersuchten Briefe daran arbeiteten, Nähe herzustellen und den Schreiber als Liebenden auszuweisen.284 Der Rückgriff auf konventionalisierte Formulierungen steht laut Schnyder im Rahmen der Textwelt einer Darstellung von als authentisch konzipierten Gefühlen nicht entgegen, da in solchen inmitten einer brieflichen Tradition stehenden Texten mit den konventionell gewordenen Mitteln eher als durch spontane, situationsgebundene Äußerungen eine theoretisch-poetische Intimität hergestellt werden kann.285 Es entwickeln sich mit dem Aufkommen des

281 Muschick, Minne. 282 In seinen Schlussbetrachtungen heißt es, die Vermutung, briefliche Kommunikation habe einen erheblichen Einfluss auf Textorganisation und Erzählinhalte, habe sich bestätigt (vgl. Muschick, Minne, S. 256). 283 Auch Schubert erwähnt die Stereotypie vieler literarischer Liebesbriefe sowie die häufig recht schwache Bezugnahme auf die aktuellen Ereignisse der Handlung und vermutet, dem Boten komme im Rahmen solcher Fernkommunikation die Aufgabe zu, Intimität herzustellen (vgl. Schubert, Love-Messages, S.  41). Zumindest im Rahmen der hier behandelten Beispiele lässt sich diese Vermutung nicht bestätigen, da die Boten eher genutzt werden, um ergänzende Fakten darzustellen. Intimität wird über die Boten nur insofern aufgebaut, als sie den unmittelbaren Eindruck vom Leid der Figuren weitervermitteln (s. Kap. 4.2.2). 284 Vgl. Muschick, Minne, S. 258f. 285 Vgl. Schnyder, Schrift und Liebe, S. 10. Solche Brief seien ein literarischen Verfahren, um Intimität in Situationen der Trennung zu erzeugen (vgl. hier S. 13) und für die literarische Öffentlichkeit Affektexemplarizität auszustellen (vgl. hier S. 14). Holtorf betont in seinem Lexikonartikel zum mittelhochdeutschen Brief die möglicherweise besonders eindeutige Gefühlsbekundung durch die Berücksichtigung aller Regeln: „Der private volkssprachl. Liebesb., der sich an

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schriftlichen Gefühlsausdrucks und mit wiederholtem Versuch der Abstraktion Konventionen der Darstellung, die genutzt werden können, um wiedererkennbare und eindeutige poetologische Signale zu senden, welche Codierungen, die sich in herkömmlichen Kommunikationssituationen über expressive Gesten und Körperreaktionen realisieren, ersetzen.286 Literarisch konventionalisierte Ausdrücke markierten ein Verhältnis eindeutig und könnten daher als authentische und unmittelbare Ausdrücke des Schreibenden verstanden werden. Zudem beobachtet Schnyder, dass viele Texte, die sich der Zuneigungsbekundung verschreiben, ein Bemühen zeigten, sich den konventionalisierten Ausdrucksweisen gerade zu widersetzen und Singularität wie Gefühlsintensität zu vermitteln: „Damit zeigt sich die authentische Liebe deutlich als Sehnsuchtsziel schriftliterarischer Diskurse sowie die Unbegreiflichkeit der Liebe als ihr imaginäres Konstituens.“287 Die Einordnung des Gefühlten in konventionelle Begriffe adäquat zu realisieren,288 ohne dabei die Authentizität des Gefühlseindrucks einzubüßen, stellt dabei also die zentrale Herausforderung jeglicher Medialisierung von Emotionen dar, die auch in den mittelhochdeutschen Briefeinlagen zu beobachten ist. Mit dieser Herausforderung sind die Figuren und die Verfasser des Reinfried und des Apollonius insofern gleichermaßen konfrontiert, als die Briefeinlagen

der Ausdrucksweise eines zum Vorbild gemachten mhd. Epos (einschließlich des Reimpaarverses) bzw. des durch die Ars dictaminis geprägten mlat. B.s anlehnt, kann immer noch eine Art von Urkunde sein, deren festes Formular die Verbindlichkeit des Inhalts gewährleisten hilft“ (Holtorf, Brief, hier Sp. 664). Dass Stereotype in Liebesbekundungen kein alleiniges Phänomen der mittelalterlichen Literatur sind, betont Martschini: „Ein Blick auf die Texte von Popsongs reicht aus, um die angebliche Individualität und Subjektivität unserer kollektiven Liebesempfindungen, zumindest aber die seiner sprachlichen Umsetzung in Frage zu stellen“ (Martschini, Schriftlichkeit, S. 400). 286 Vgl. Schnyder, Schrift und Liebe, S. 14. Von ,Codierung‘ wird hier in Bezug auf die emo‑ tionstheoretische Forschung gesprochen, die konventionalisierte Verwendung verbaler und körpersprachlicher Zeichen für Emotionen in literarischen Texten als Code begreift (vgl. Eming, Emotionen als Gegenstand, hier S. 257f.). Wirkichkeitskonstituierendes Potenzial haben sie insofern, als sie Formen des Fühlens und Modi des Gefühlsausdrucks beim Rezipienten modellieren (hier S. 263). 287 Hier S. 10. Wichtig für die Einschätzung ist die Reaktion der Empfängerfigur, die in ihrer Wertung die Botschaften als eine formale Erklärung eines Verhältnisses oder aber als authentisches Zeugnis persönlicher Gefühle markiert. Auf die wichtige Indikatorfunktion der den Brief empfangenden Figur weist Wand-Wittkowski, Briefe, S.  45 mit Bezug auf Dreher, Enclosed Letters, S. 228. 288 So heißt es bei Martschini: „Indem die Figuren ihre Liebe schriftlich festhalten, machen sie das bloße Gefühl also zu etwas Greifbarem, verleihen dem Flüchtigen Dauer und Beständigkeit, womit die Beständigkeit der höfischen Liebe mit der Beständigkeit von Schrift korrespondiert“ (Martschini, Schriftlichkeit, S. 402).

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narrativ als Innenperspektive der Figuren funktionalisiert werden. Es fällt auf, dass der Trennungsbrief Diomenas und die Briefe Yrkânes eine andere Art der Unmittelbarkeit als die Fiktion raum-zeitlicher Kopräsenz herstellen. Das Fingieren einer Face-to-face-Situation scheint nicht das ultimative Ziel zu sein, wenn es darum geht, Nähe herzustellen oder Brieftexte in eine Erzählung zu integrieren. Vielmehr orientieren sich die Texteinlagen vollständig oder passagenweise am monologischen Stil eines Gedankenberichts und dienen so auf Handlungsebene der Vermittlung, auf Erzählebene der Darstellung des Innenlebens einer Figur.289 Dem textinternen und textexternen Rezipienten wird in der Darstellung eine Nähe zu der Senderfigur suggeriert, die nicht in physischer Nähe besteht, sondern in einem Einblick in Gedanken- und Gefühlshaushalt. Die Briefeinlagen dienen einerseits den Figuren als Vermittlung authentischer Gefühle, andererseits fungieren sie im Text sowohl als Darstellung einer medialen Übersetzungshandlung als auch der Markierung einer Beziehung, die darüber hinaus von dem in sich widersprüchlichen Versuch geprägt ist, die erzählte Beziehung durch konventionelle Begriffe eindeutig zu verorten und gleichzeitig ihre Singularität und Exzeptionalität herauszustellen. Gleichzeitig sind die Produkte dieses Bemühens geprägt von spezifischen Beziehungs-, Emotions- und Genderkonzepten, die zunächst der Figur, aber in bestimmtem Maße auch der den Verfasser umgebenden Kultur zugeschrieben werden können,290 und auf welche die Dar-

289 Unter der Annahme, die genannten Briefe entstünden aus dem Bemühen der Senderfigur um eine Vermittlung der emotionalen Disposition, ergibt sich für Texte mit der Inkorporation der Brieftexte über die Handlungsmotivation hinaus die Möglichkeit, nicht nur den Versuch einer adäquaten Vermittlung von Emotionen, sondern auch das Innere der Figuren selbst präzise und scheinbar unvermittelt darzustellen. Vgl. Jürgens, der für die spätmittelalterlichen Minnebriefeinlagen proklamiert, es gehe darum, im Medium des geblümten Stils die Exklusivität der Minnebeziehung wahrnehmbar zu machen (vgl. Jürgens, Fürstenlehre, S. 365) und „Einsichtnahme in die psychische Konstitution“ zu ermöglichen (hier S. 359). 290 Schrift fordert durch die Notwendigkeit, das Erlebte, Gefühlte in das System geläufiger und decodierbarer Zeichen zu setzen, zur Abstraktion, Reflexion und Benennung subjektiver Empfindungen auf. Durch das Übertreten der Grenze von Körper und Schrift sowie durch die Systematisierung durch Sprache sei es – so Schnyder – in Schrift möglich, Regelungen, Ordnungen und Hierarchien zu schaffen, die eine weitreichende Wirkung für die realweltlichen Praktiken der Liebe haben (vgl. Schnyder, Schrift und Liebe, S. 8f.). Die Darstellungen selbst lassen sich als Zeugnisse emotionaler Konzeptionen verstehen, sodass in der schriftlich-sprachlichen Form auch das Verständnis dieser Emotionen selbst nachvollziehbar wird. Denn das Objekt der medialen Vermittlung ist nicht zwangsläufig bereits vorher dahinter präsent, sondern entsteht zum Teil erst im Prozess der Vermittlung selbst (vgl. Schnyder, Imagination, S. 237): „Das Medium, in dem die Gefühle aufgezeichnet werden, prägt diese, ja: bringt sie erst hervor“ (hier S. 250).

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stellungen wiederum zurückwirken.291 Durch diese Verflechtung von Emotionskonzepten, literarischer Darstellung und literarischer Darstellung eines Ringens um adäquate Emotionsvermittlung lassen sich in der Analyse der thematisierten Briefe sowohl Konzepte von Emotionen292 als auch Konventionen ihrer Vermittelbarkeit sowie deren Nutzung zur Darstellung der emotionalen Disposition einer Figur nachvollziehen.293 Das spezifische rhetorische Vorgehen Diomenas im Apol-

291 So hält Martschini für das Konzept der höfischen Liebe fest: „Die [Koppelung von höfischer Liebe und Schriftlichkeit in den Texten des 13. Jahrhunderts] wird dann verständlich, wenn man berücksichtigt, dass die eine quasi ein Produkt der anderen ist: Die schriftlich konzipierte, auf Schriftlichkeit bauende, in der Dimension der Schriftlichkeit beheimatete höfische Literatur schafft als eines ihrer Themen und zugleich Wesensmerkmale ein Konzept von Liebe, das es ohne sie in dieser Form nicht gäbe“ (Martschini, Schriftlichkeit, S. 408). 292 In literaturwissenschaftlichen Untersuchungen, die sich unter Einfluss der Mediengeschichte und medienhistorisch arbeitender Anthropologie mit dem Zusammenhang von Medialität und Emotionalität auseinandersetzen, geht es daher in erster Linie darum, die Optionen zur Vermittlung von Emotionalität herauszuarbeiten und Brieftexte als Zeugnisse der vorherrschenden Emotionskonzepte und als wirkmächtige Produzenten solcher Konzepte zu lesen. Das gilt vor allem für Emotionskonzepte des Mittelalters. Jede Emotion des Mittelalters ist – so erläutert Schnyder – für uns eine codierte Emotion, die nur vermittelt – in ihrer semantisierten Form – zugänglich ist; dadurch sei jede dieser codierten Emotionen ein Teil des Mediums, das sie vermittelt (vgl. Schnyder, Imagination, S. 237). Die Darstellungen von Liebe gäben Auskunft über die Konzeption und Konstruktion solcher Vorgänge, die dann als natürlich und normhaft aufgefasst werden. So „lässt sich exemplarisch fragen, wie durch die Schriftpraxis geprägt Denk- und Wahrnehmungsmuster die Deutung und darin Konstituierung ,natürlicher‘ Vorgänge leiten und es zu einer Literarisierung der ,Natur‘ kommt“ (Schnyder, Schrift und Liebe, S.  7). Ähnlich äußert sie sich in Schnyder, Imagination, S.  238: Liebe entstehe als Gefühl, als reflektiertes Gefühl, dessen Mitteilung erst da möglich ist, „wo es Teil einer medial vermittelten, dadurch reflektierten und in einen Kommunikationszusammenhang eingebundenen Affektordnung ist.“ Die Mediengeschichte und die medienhistorisch arbeitende Anthropologie beschäftigen sich seit zwei Jahrzehnten intensiver mit dem Zusammenhang von Medialität und Emotionalität, eine umfassende Mediengeschichte der Emotionen ist allerdings nicht entstanden (vgl. Schnyder, Schrift und Liebe, S. 1f.); auch eine engere Verknüpfung der historischen Emotionalitätsforschung mit medientheoretischen Fragestellungen stelle noch ein Desiderat dar (vgl. hier S. 4). 293 Die theoretisch geleiteten Arbeiten Brackert, Minnebriefe; Schubert, Love-Messages; Schnyder, Schrift und Liebe, wurden bereits erwähnt. Eine aktuelle, ausführliche Auseinandersetzung liegt mit Muschicks Studie zu Minnebriefwechseln des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit vor (Muschick, Minne). Muschick schließt dezidiert an Brackerts Überlegungen an (vgl. hier S. 39), stellt aber die Ausschließlickeit, mit der jener die Formelhaftigkeit der Briefe beschreibe, infrage und macht auf die den Blick verengende Beschränkung des Textkorpus auf Briefeinlagen im hoch- und späthöfischen Roman aufmerksam (vgl. hier S. 39). Zudem bemüht er sich um eine Lektüre im epischen Zusammenhang des geschilderten Liebesverhältnisses (vgl. hier S. 39). Ihm ist daran gelegen, die Funktion der exemplarisch untersuchten Minnebriefe – Johanns von Konstanz Minnelehre (der werden minnen lere), Hero und Leander, Johanns von

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lonius und Yrkânes im Reinfried soll daher als Auseinandersetzung mit der Problematik authentischer Darstellung von Emotionen und der Evokation von Nähe im Distanzmedium Brief analysiert werden. Diomena stellt angesichts der Beziehung, die ihr Ehemann Apollonius auf seiner Reise mit Palmina eingegangen ist (vgl. AvT, V.  13674–14219 sowie Anm.  4/24), ihr Verhältnis zu jenem in einen Brief neu auf. Eine sprachlich erzeugte Nähe bzw. Direktheit im Sinne einer Orientierung an gesprochener Sprache ist dabei gerade nicht zu beobachten. Das Sprecher-Ich beginnt ohne Adressatenbezug mit einer vorwortartigen Zusammenfassung der Situation: ,Ich hett ainen freund erkoren/Der hatt mich gerne verloren (AvT, V.  14398f.). Damit erklärt es gleich im Eingang das Ende einer vormals bestandenen Freundschaft. In der Vergangenheitsform berichtet es von der sorgfältigen, einer Ehre gleichkommenden Auswahl jenes Freundes.294 Die resultierende und nun bereits als Beziehung der Vergangenheit markierte Partnerschaft ging vom Sprecher-Ich aus; der gleich darauf erwähnte Verlust dieses Verhältnisses ist auf den genannten Freund zurückzuführen. Während das Sprecher-Ich eine Partnerschaft installierte, habe der zu dieser Auserkorene diese gern (AvT, V. 14398) – geradezu mutwillig – zerstört. Worauf sich diese Annahme stützt, wird erst im weiteren Verlauf des Brieftextes deutlich. Dass Diomena mit der Sprecherstimme, Apollonius mit besagtem Freund zu identifizieren ist, lässt sich nur aus dem Kontext erschließen. Denn Diomena nennt sich selbst im Brieftext nicht und vermeidet es auch, Apollonius namentlich oder überhaupt einen Empfänger direkt anzusprechen. Durchweg spricht die

Würzburg Wilhelm von Österreich, Enea Silvio Piccolomini De duobus amantibus, Historien vnd Geschicht Camillus vnd Emilie – für die Gestaltung der Liebeskommunikation sowie die Umstände ihres Einsatzes (vgl. hier S.  40), die Funktion für die Verknüpfung von Handlungsräumen (vgl. hier S. 40), ihre inhaltliche Gestaltung, ihre narrative, deskriptive oder argumentative Bedeutsamkeit (vgl. hier S. 41) zu beschreiben. Ebenso können aus dem Kapitel, das Martschini der ,Erfindung der höfischen Liebe‘ in der Schriftlichkeit widmet (Martschini, Schriftlichkeit, S. 370–421), zahlreiche Impulse und abgleichbare Beobachtungen gewonnen werden. Selbiges gilt für de Einzeluntersuchungen zu Yrkânes Minnebrief von Baisch, Briefwechsel. 294 In Anbetracht dessen, wie anforderungsreich es für Apollonius war, Diomenas Bekanntschaft zu machen, ist das keine Übertreibung. Um Diomenas Ehemann zu werden, musste Apollonius sich aus der Herrschaft Nemrotts befreien, einen erfolgreichen Kampf gegen zwei Monster bestehen, die das Goldene Tal, in dem Diomena lebt, bewachten. Dann ist außerdem in unterschiedlichen Prüfungen – einem Tugendrad, einem Brunnen, einer Treppe, einem Löwenkampf – die absolute Tugendhaftigkeit zu beweisen bzw. mit der Göttin Venus auszuhandeln (vgl. AvT, V. 11205–13060, s. Kap. 6.3.1). Angesichts dieser zunächst unter Beweis zu stellenden Ausdauer und Ehrenhaftigkeit ist es wohl gerechtfertigt, von einer sehr sorgfältigen ,Auswahl‘ des Helden zu sprechen.

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Stimme von etwas bzw. über jemanden, die Stimme bleibt bei einem unpersönlichen er (AvT, V.  14405, 14407, 14410, 14417).295 Sie verstärkt den distanzierten Eindruck dadurch, dass sie am Ende die Konsequenzen – die Verbannung des ehemaligen Freundes aus Crisa – nur indirekt ausspricht. Dies sey im da bekant (AvT, V. 14416), heißt es, sodass kaum der Eindruck entstehen kann, dass hier der Sender direkt mit dem Empfänger kommuniziert. Diesem wird vielmehr etwas bekannt gegeben.296 Die einzige Formulierung, die diesen Eindruck durchbricht, ist eine Frage, mit der das Sprecher-Ich sich momenthaft an einen Empfänger zu wenden scheint (vgl. AvT, V. 14413f., s. u.). Da auch hier keine Adresse auftaucht und die Frage Abschluss eines längeren argumentativen Aufbaus ist (s. u.), wirkt sie rhetorisch und verliert sogleich an adressatenorientierter Wirkung. Diese Gestaltungsmaßnahme zeugt vom Unwillen, über eine einseitige Mitteilung hinaus tatsächlich mit dem Empfänger zu kommunizieren und ihn in das Geschriebene zu involvieren. An keiner Stelle gewährt Diomenas Text dem Empfänger ein Zeichen von Zuwendung. Der Text scheint eher in der Funktion zu stehen, Apollonius an dem Gedankengang der Senderin und an deren emotionaler Disposition teilhaben zu lassen. Der Brieftext vermittelt den Empfänger einem inneren Monolog der Senderin297 und bringt ihm über diesen eine Gefühlslage nahe, ohne ihm dabei Zeichen der Zuwendung zuteil werden zu lassen. Damit stellt der Brieftext eine andere Nähe her als jene, die sich an Äußerungskonventionen gesprochener Sprache im Rahmen einer Face-to-face-Kommunikation orientieren. Der gewählte Gestus gewährt Einblick in Überlegungen und Werturteile hinsichtlich der Situation – ein Effekt, der sich gleichzeitig auf Ebene der Textlektüre einstellt und das besondere Darstellungspotenzial solcher Briefeinlagen ausmacht. Unter der Prämisse einer authentischen Gefühlsvermittlung eröffnet der Brieftext die Möglichkeit, so nah am Empfinden der Figur zu sein, wie nicht einmal eine dialogisch gestaltete Szene es ermöglicht. In dem diesem aufschlussreichen Vorwort folgenden Brieftext entfaltet sich ob dieser Technik eindrücklich das Bild des Versuchs einer Distanzierung

295 Über dieses Personalpronomen hinaus taucht der Empfänger Apollonius nur als man (AvT, V. 14402) oder der (AvT, V. 14409) auf. Die Sprecherstimme referiert in ebenso die direkte Ansprache verweigernder Art mit sein rechter veint (AvT, V. 14415) auf sich selbst. 296 Am Ende des Briefes spricht das Sprecher-Ich auch inhaltlich nicht mehr mit Apollonius, sondern befiehlt in einer performativen Wendung den eigenen Landsleuten, [d]as sy sich nicht lenger sparen/Und wider haym gen lande varn (AvT, V. 14420f.). 297 Am Ende des Brieftextes wird die mediale Form des Briefes einmal erwähnt und der Eindruck eines unvermittelten Einblicks gebrochen. Dort heißt es: meinen lantlewtten/Soll den prieff pedewtten/Das […] (AvT, V. 14418–14421). Davon abgesehen wird die beschriebene Technik durchgängig beibehalten.

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der Senderin. Die Sprecherstimme erläutert zunächst die Grundlage der von ihr installierten Freundschaft ausführlicher, sodass deutlich wird, welcher Zustand nun zerstört ist. Dabei spielen weniger Gefühle der Zuneigung eine Rolle als das ,Adäquatio-Prinzip‘ der Schönsten für den Besten. Die Sprecherstimme verkündet selbstbewusst, es lebet nicht schoner weyb/Als mein werder stoltzer leib (AvT, V.  14400f.), während ihr Partner der beste Ritter, den es jemals gegeben habe, gewesen sei (vgl. AvT, V. 14402f.). Als Paar sind sie also ein ,perfect match‘, das alle Voraussetzungen eines glücklichen Zusammenlebens erfüllt. Dass ihr Freund diese perfekte Kompatibilität ubersehen (AvT, V.  14404) hat, bedauert das Sprecher-Ich mit dem Ausdruck laider (AvT, V. 14404) – ein kurzer Hinweis auf emotionale Betroffenheit. Nachträglich besteht die Sprecherstimme nun auf Anerkennung der vom Gegenüber nicht genügend wertgeschätzten Erotik, die durch die Erwähnung des Beilagers (vgl. AvT, V. 14408) und die sprachliche Verflechtung von weyb und seinen […] leyb (AvT, V.  14406f.) ins Spiel gebracht werden298 und die nach eigenem Empfinden ausreichend überzeugende Vorzüge des Sprecher-Ichs hätten sein sollen (vgl. AvT, V. 14406–14408).299 Dennoch wird bereits deutlich, dass das Ich nicht mehr an dieser Beziehung festhält, sondern seine Einstellung bezüglich des Freundes verändert hat. Während die Sprecherstimme ihre unvergleichliche Schönheit noch für unangefochten hält, da sie im Präsens (vgl. AvT, V. 14400) davon spricht, hat sich die Einschätzung des Liebsten augenscheinlich geändert. Er was (AvT, V. 14402) lediglich der vorzüglichste Ritter. Eine neue Bewertung wird dem nicht entgegengesetzt, das Zusammenspiel der Zeitformen verdeutlicht jedoch, dass das Verhältnis zu dem ehemaligen Freund sich gewandelt hat und die Angemessenheit im Sinne adäquater Schönheit und Tugend eine vergangene ist. Nu (AvT, V. 14410) nämlich, in der Gegenwart, richte jener sein Interesse auf eine andere, mit der Bezeichnung mörynne (AvT, V. 14411) den zeitgenössischen Schönheitsidealen entgegengesetzt beschriebene, Frau.300 Die zuvor um Diomenas Körper aufgebaute, durch dessen Schönheit legitimierte

298 Ohne es direkt zu versprachlichen, wird über die Verbindung auch der Bereich aufgerufen, in welchem Apollonius fehlgegangen ist. Auf die Untreue Apollonius’ wird somit bereits angespielt. 299 Wenn auch der Satzbau eine Frage impliziert, so ist die editorische Entscheidung, den Satzabschluss mit einem Ausrufezeichen zu markieren, durchaus nachzuvollziehen. Denn der einleitende Satz erzeugt einen Gestus, der die Bestätigung, des im Folgenden Behaupteten fordert. 300 Zu schwarzer Hautfarbe von Figuren mittelhochdeutscher höfischer Literatur als Attribut, das dominant mit Hässlichkeit, Fremdheit und Fluch verknüpft ist, jedoch nicht ausschließlich zur Negativbewertung zum Einsatz kommt vgl. Oster, Carolin: Die Farben höfischer Körper. Farbattribuierung und höfische Identität in mittelhochdeutschen Artus- und Tristanromanen, Berlin 2014 (Beiträge zu einer kulturwissenschaftlichen Mediävistik 6), S. 134–138. Die hiesige

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Erotik wird nun auf eine Figur übertragen, die stereotyp nicht den ästhetischen Ansprüchen des besten Ritters genügen kann. Den in voriger Bezeichnung bereits implizierten Makel der dunklen Hautfarbe verstärkt die Sprecherinstanz daraufhin in der hyperbolischen Behauptung, sie sei schwerzer […] dan ain kol (AvT, V.  14412).301 Dem Unverständnis darüber, dass perfekte Schönheit übersehen und das Interesse auf das vermeintliche Gegenteil gerichtet wurde, verbindet das Sprecher-Ich erneut mit dem Kontrast zwischen Vergangenem und Gegenwärtigem, der die Beziehungsveränderung zu Beginn des Texts zum Ausdruck gebracht hatte. Die Sprecherstimme verbindet die auf der Ebenbürtigkeit von Schönheit und Tugend basierende Erotik der Vergangenheit kontrastiv mit der gegenwärtigen Zuneigung zu einer Person von ,minderwertigem‘ Äußeren. Abgeschlossen wird der Brief durch eine konkrete Aufforderung, das zu tun, was die bisherigen Ausführungen bereits gemäß ihres monologischen Gestus’ von selbst bewirkt haben dürften: sich angesichts der geschilderten Zusammenhänge in das Ich hineinzuversetzen. Es fragt: wie mochte mir das wol/Getuen an dem hertzen mein? (AvT, V. 14413f.). Ohne den Empfänger direkt anzusprechen, kann hier dennoch dessen Involvierung, dessen Zugriff auf das präsentierte Gedankengut und das damit korrespondierende Empfinden motiviert werden. Nach den vorherigen Darstellungen ist die gestellte Frage eine rhetorische, die keiner expliziten Beantwortung bedarf und zumindest durch die Sprecherstimme auch keine erhält. Die vom Sender als plausibel empfundene Antwort ergibt sich bereits aus dem zuvor Gesagten und dementsprechend fährt der Brief auch nicht mit einer Ausgestaltung der Antwort, sondern bereits mit deren Konsequenz für die Beziehung zum Empfänger fort. Der zu Beginn des Briefes erwähnten vergangenen Freundschaftserklärung wird die Determination, dem erwähnten Ritter in Zukunft in Feindschaft gegenüber zu treten, entgegengestellt: Ich will sein rechter veint sein (AvT, V. 14415). Der Brieftext endet abrupt, ohne Schlussformel oder eine abschließende Wendung an den Empfänger, mit der Formulierung der aus der Neuaufstellung der Beziehung einhergehenden Maßnahmen (vgl. AvT, V. 14416f., 14218–14421).

Betonung der eigenen Schönheit im Kontrast zum Äußeren der Rivalin zeugt hier zumindest von einer ästhetischen Abwertung über die Hautfarbe, die die Figur Diomena vornimmt. 301 Für eine Lektüre der Passage als proto-rassistisch vgl. Schausten, Identität, S. 101.

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Obwohl der Brief persönliche Informationen enthält und einen detaillierten Einblick in die Gedanken der Senderinstanz gewährt, ist im Sprachgestus kein Bemühen zu erkennen, ein Gefühl von Nähe zu erzeugen. Vielmehr wird die Distanz, die inhaltlich durch die als unangemessen gekennzeichnete Beziehung zu Palmina entwickelt wird, in der Sprechweise aufgenommen. Der Text vermittelt die aktualisierte Gefühlslage gegenüber Apollonius ohne die Erwähnung von Gefühlsausdrücken durch einen Stil, der gerade nicht ein Gespräch fingiert, sondern ein unmittelbares Miterleben eines Gedankengangs impliziert. Darin spielen die kontrastreiche Darstellung gegenwärtiger und vergangener Konstellationen und die daraus implizit sichtbar werdende emotionale Positionierung sowie die Transponierung emotionaler Entzweiung auf die sprachliche Gestaltung die zentrale Rolle. Explizit und umfangreich über Emotionen sprechen muss Diomenas Brieftext nicht, um die emotionale Entwicklung der Senderin nachvollziehbar zu machen. Die Ich-Bezogenheit und die Ausblendung des Adressaten als Gesprächspartner erzeugen die Fiktion einer Teilhabe an den inneren Reflexionsprozessen und der sich darin äußernden Gefühlen der Senderin. Dass die dem Empfänger hier eröffneten Gedanken geprägt sind von Gefühlskälte, ja beinahe Emotionslosigkeit gegenüber Apollonius, verdeutlicht nur, wie sehr sich das Sprecher-Ich bereits von der Verbindung distanziert hat. Die Gefühllosigkeit scheint einem erkalteten, abgestorbenen Verhältnis zu entsprechen. Dennoch wird die emotionale Affizierung durch den Betrug deutlich, denn der Verlauf der Beziehung, der Wandel von Freundschaft zu Feindschaft durch die Enttäuschung über nicht eingelöste, deutlich in die Vergangenheit gerückte Hoffnungen auf ein gemeinsames Liebesglück, wird knapp, aber eindrücklich nachgezeichnet. Die einstige Zuneigung zu Apollonius ist in der retrospektiven Betrachtung der rationalen Überlegungen zur perfekten Äquivalenz der Partner gewichen. Die Reaktion Apollonius’ zeugt davon, dass er das distanzierte Verhältnis wahrnimmt – er spiegelt es zumindest in seiner – ausschließlich mündlich vermittelten – Antwort.302 Nimmt man die Intention, die emotionale Ablösung zur Schau zu stellen, als Ziel des Brieftexts ernst, dann zeigt die Passage auch, dass Formulierungen

302 Recht kühl führt er aus, dass er sich keiner Schuld bewusst sei und Diomena ihn nicht zu beschuldigen habe – schließlich habe er ihr viel Gutes getan (vgl. AvT, V. 14446–14454). Auch er äußert sich nicht über Gefühle, sondern verteidigt auf einer rationalen Argumentationsbasis die Unhaltbarkeit ihrer Anschuldigungen (vgl. AvT, V. 14425–14465). Die Mühe, brieflich zu erwidern, macht er sich nicht. Er trägt nur dem Boten auf, seiner Königin seine Widerworte mitzuteilen (vgl. AvT, V.  14446). Zweifelsohne entwickelt sich die Beziehung hier im Sinne einer Veränderung des Verhältnisses, da Apollonius aber nicht mehr auf den Brief antwortet, wird die Weiterführung jeglicher (auch einer negativ besetzten) Beziehung hier ausgeschlagen. Somit

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über die Intention hinaus aussagekräftig sind und stets mehr vermitteln als der Sender/die Senderin plant. Denn obwohl der Brieftext nicht von Gefühlen berichtet, vermitteln die niedergeschriebenen Worte über die Formulierungen zumindest auf Ebene der Textrezeption doch auch Enttäuschung und Verletzung. Subtil und indirekt klingt im Kontrast von Hoffnung und gegenwärtiger Situation, in der Aufforderung, die naheliegende Empfindung nachzufühlen, eine emotionale Betroffenheit an. Mehr Raum jedoch nimmt die Abwertung und – zumindest für Diomena auch rational begründbare – Geringschätzung gegenüber der anderen Frau ein. Nicht in Bezug auf ihren ehemaligen Partner wird Diomena in diesem Brief emotional, sondern gegenüber der Rivalin. In der Kanalisierung der negativen Emotionen auf Palmina zeigt sich eine Spur der erahnbaren Trauer über den Verlust der einst mit Hoffnung beladenen Verbindung. Trotz des auf den ersten Blick entstehenden Eindrucks eines ,unemotionalen‘ Texts zeigt sich auch durch die Wahl der monologartigen Inszenierung, dass die Senderin emotional angegriffen ist. Die aus enttäuschter Hoffnung, verloschener Zuneigung resultierenden Gefühle werden auf eine andere Person umgeleitet, das Verhältnis zu Apollonius rationalisiert. Der Text nutzt den Überschuss, den diese Form von Brieftext produziert, für eine unmittelbare Zeichnung des Figureninnenraums, durch die die multiplen Ehen Apollonius’ problematisch erscheinen.303 Die beschriebene Technik, über einen Brieftext den Eindruck eines direkten Blicks auf Gedanken- und Gefühlswelt des Senders/der Senderin bzw. ins Innere einer Figur zu erwecken, nutzt auch der Reinfried von Braunschweig. So enthalten auch der bekannte Minnebrief Yrkânes an Reinfried, aber zum Teil auch der Text des weniger prominenten Hilfsgesuchs in der ersten Romanhälfte Passagen im monologischen Stil. In diesen wird er jedoch auch gebrochen, sodass der durch ihn gewährte Einblick in stärkerem Maße als Teil einer rhetorischen Strategie erscheint. Diese beiden Brieftexte dienen der Bekundung von Sympathie und ver-

ist auch in dem Verzicht auf die Intimität über räumliche Distanzen ermöglichende Form eine Aussage über das – in diesem Falle beendete – (Liebes-)Verhältnis zwischen Apollonius und Diomena zu verstehen. 303 Wachinger macht darauf aufmerksam, dass der Apollonius die Thematik der Mehrehen problematisiert, indem er die Eifersucht und Verletzung Diomenas ausstellt. Andere Texte (sein Beispiel ist Wolframs Parzival) umgingen diese Problematik dadurch, dass sie die alten Verbindungen durch Tod der Ehefrau vor oder bei Beginn der neuen Liebschaft auslöschten (vgl. Wachinger, Heinrich von Neustadt, S. 114f.).

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suchen ihrem Empfänger – auch im Dienste persuasiver Ambitionen – Zuneigung und Sehnsucht über die räumliche Trennung hinweg präsent zu machen. Aufgrund seines Status’ als umfangreichster schriftlicher Ausdruck von Gefühlen in der mittelhochdeutschen Epik304 und des ihm unterstellten ,selbstreflexiven‘ Charakters hat der Brief, den Yrkâne an den bereits seit dreieinhalb Jahren auf Kreuzzug verschwundenen Reinfried schickt,305 bereits die Aufmerksamkeit der mediävistischen Forschung auf sich gezogen.306 Dabei wurde jedoch weniger das emotionsvermittelnde Potenzial in den Vordergrund gestellt als vielmehr das jenem scheinbar zuwiderlaufende Maß an Reflexivität. Zugegebenermaßen steht – wie schon Mayser erkennt – am Beginn des Brieftextes die Reflexion im Vordergrund.307 Es ist auffällig, dass dort keine direkten Aussagen über die Beziehung des Sprecher-Ichs zu dem nur kurz erwähnten Adressaten – im dem ich schrîben sol (RvB, V. 24531) – gemacht werden. Stattdessen verleiht es mit Rekurs auf die schreibende Tätigkeit, der eher auf die Distanz und die Vermitteltheit verweist, seinem Gram über die literarische Unfähigkeit, von liebe und von minnen (RvB, V. 24524) in angemessener Weise, (wol, RvB, V. 24525), zu dichten, Ausdruck.308 Martin Baisch hat für Yrkânes Brief bereits herausgearbeitet, dass diese Einleitung mit einem umfangreichen Unfähigkeitstopos (vgl. RvB, V. 24523– 24533) statt mit salutatio309 einsetzt und unter Referenz auf die fiktionalen Briefschreiber aus den Epistulae heroidum310 einen ausführlichen, Literarisierung und

304 Vgl. Ernst, Schriftlichkeit, S. 335; Jürgens, Fürstenlehre, S. 373. 305 Zum Kontext s.  die Ausgangssituation der umfänglichen Botenreise, die in Kap.  4.2.1 geschildert wird. 306 Vgl. Baisch, Briefwechsel. Bereits Mayser, Brief, bespricht diese Briefeinlage, konstatiert eine ausgeprägte Typik der Form, die um ihrer selbst willen und nicht im Dienste des Gefühls­ ausdrucks verwendet werde. 307 Mayser, Brief, S. 141. 308 [D]as mine sinne sich niht wol/dar umb entstânt, daz tuot mir wê (RvB, V. 24532f.). 309 So beobachtet bereits Baisch, Briefwechsel, S. 193. Die Übertragung der Begrüßungsformel auf den Minnebrief beobachtet Lutz zuerst um 1140 im lateinischen Brief (vgl. Lutz, Rhetorica divina, S.42). 310 Die Heroides sind ein als Briefsammlung angelegtes Werk Ovids, in dessen exemplarischen Briefen Frauenfiguren der mythischen Vorzeit ihren Geliebten ihr Liebesleid in poetischer Form klagen (vgl. einführend zur Heroidendichtung Czapla, Ralf Georg: Heroide. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte Bd. II H–O, 3., neubearb. Aufl., Berlin, New York 2000, S.  39–41, Schmalzriedt, E.: Heroides. In: Kindlers Literaturlexikon Bd. 3 Werke Fl–Jh, Zürich 1965, Sp. 1638–1684). Yrkâne bezieht sich mit der Wahl der Figuren auf jene Heroides (vgl. Martschini, Schriftlichkeit, S. 287, Anm. 234 mit Verweis auf den Eintrag in Kindlers neues Literaturlexikon Bd. 12, S. 842; vgl. auch Jürgens, Fürstenlehre, S.  358–360; Ernst, Schriftlichkeit, S.  336; Dreher, Enclosed Letters, S. 178 sowie Baisch, Briefwechsel, S. 194). Dabei gehe es dezidiert nicht um eine Beschreibung

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Intertextualität ausstellenden und reflektierenden311 Diskurs über das, was ein Minnebrief sein könnte, entwickelt. Auf den ersten Blick scheint auch diese Ausdrucksweise des Brieftextes wenig an der Distanz zu arbeiten, sondern ein komplexes, aber nicht gerade unmittelbar emotional zugängliches Kunstwerk herstellen zu wollen.312 Die Reaktionen der umstehenden und mithörenden (!) Mitglieder des Hofes313 bestätigen diesen Eindruck. Ihre Kommentare zeugen weniger von emotionaler Betroffenheit als von künstlerischem Entzücken. Sie lopten […] des brieves schrift (RvB, V. 24691), behaupten, niemals süezer wort (RvB, V. 24693) vernommen zu haben, rühmen das mære (RvB, V. 24695) und die schœniu aventiure (RvB, V. 24697) und nötigen Reinfried, ihnen von der begabten Dame zu erzählen (vgl. RvB, V. 24702–24708). Ihr besonderes schriftliches Ausdrucksvermögen erweckt Aufmerksamkeit und bündelt Interesse an ihrer Person, evoziert aber keine Mitleidsbekundungen oder Aufforderungen an Reinfried, sich sofort aufzumachen – eher wird sein Entschluss dadurch verzögert, dass sie süezez mære (RvB, V. 24606) von ihr zu hören verlangen. In ihrem Interesse bezeugen die Anwesenden, dass der selbstreflexiv

des Briefkontextes, sondern um die „Einsichtnahme in die psychische Konstitution derer, die hier sprechen“ (Jürgens, Fürstenlehre, S. 359); sie sollen „das Leiden in und an der Distanz […] reflektieren“ (hier S. 360). 311 Vgl. Baisch, Briefwechsel, S. 194. Dabei verweist er auch auf Jürgens, bei dem es heißt: „Dieser Minnebrief ist hier ein Diskurs über das, was ein Minnebrief sein könnte und was er enthalten sollte, als daß er selbst ein Minnebrief im herkömmlichen Sinne ist“ (Jürgens, Fürstenlehre, S. 374). Baisch formuliert: „Die Figur selbst registriert die intertextuelle Relation, die der Text konstituiert, als solche. Sie erbringt eine Leistung, die im Normalfall – also etwa dann, wenn Yrkane nur von der schreibenden Penelope usw., nicht aber vom Autor Ovid sprechen würde – erst das Publikum des ,Reinfried‘ zu erbringen hätte. […] Der Brief Yrkanes präsentiert sich schlussendlich selbst sozusagen als 22. Brief der Ovidischen Sammlung, verfaßt von Yrkane als Pseudo-Ovid“ (Baisch, Briefwechsel, S. 195). 312 So formuliert auch Martschini in ihrer Nacherzählung zum Ende der das Schreiben über die Minne reflektierenden Passage: „Nach dieser Einleitung wird Yrkanes Brief konkreter und bringt ihre eigenen Gefühle zum Ausdruck“ (Martschini, Schriftlichkeit, S. 288). 313 Dô er den brief alsus gelas,/der palast voller herren saz,/als ir dâ vor hânt gehôrt./nu hôrten sî biz ûf ein ort/den brief lesen alle (RvB, V.  24685–24689). Es handelt sich also nach der von Ernst, Schriftlichkeit, ab S.  309 getroffenen Unterscheidung von öffentlichem und privatem Brief trotz des durchaus privaten Inhalts um einen öffentlichen Brief (das Hilfsgesuch Yrkânes [s. Kap. 4.3.3] wird ganz zurückgezogen von Reinfried allein gelesen). Für öffentliche Briefe ist es üblich, dass sie „von dem adeligen Emittenten nicht eigenhändig, sondern von einem Schreiber zu Pergament gebracht, durch einen offiziellen Boten transportiert und nach dem Institut der lectio in aula auch coram publico verlesen“ werden (hier S. 320). Dass die Hoföffentlichkeit mithört, scheint dem Versuch, die für diese Beziehung legitimen Gefühle von Zuneigung zu versprachlichen, nicht zu widersprechen.

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gestaltete Brieftext als ein kunstvoll komponiertes Werk wahrgenommen wird, das mehr der Kunstfertigkeit der Senderin Ausdruck verleiht als unmittelbar ihre Gefühle über die räumliche Grenze hinaus spürbar zu machen. Dennoch schließt diese zunächst distanziert wirkende Reflexion die intensive Vermittlung von Emotionalität nicht aus, sondern kann im Gegenteil gerade verantwortlich für ihr Gelingen verstanden werden. Die in den Eingangspassagen beobachtete Intention, von Minne zu schreiben, eröffnet nicht nur den Diskurs darüber, wie Minne zu versprachlichen ist, sondern setzt implizit auch Minne als Grundlage der Beziehung fest, da der Eingang nur dann sinnvoll ist, wenn das angeblich unerreichte Ziel die Präsenzmachung der Minne in schriftlicher Form ist. Sofort wird außerdem mit konkreten Aussagen über das Gefühlsleben der Senderin eine Störung installiert, die das Erfüllen dieser Aufgabe verhindert. Dem Sprecher-Ich sind die […] sinne tief verletzet und versunken in jâmer und ertrunken nâ im […] (RvB, V. 24528–24531)

Es beschreibt eine emotionale Beschädigung, die mit dem Empfänger in Zusammenhang steht und eine angemessene Versprachlichung der Minne unmöglich macht.314 Trauer und Sehnsucht werden als verantwortlich für die Insuffizienz gezeichnet, sind ursächlich dafür, dass hier kein Minnebrief, sondern nur die Reflexion dessen stehen kann. Daraufhin entsteht über andere, als Referenz verwendete Figuren (Penelopé [→Ulyxes]315, Dido [→Eneas], Briseida [→Achil­les], Philis [→Demophoon], Helena [→Paris], Medea [→Jason])316 ein Eindruck von der Beziehung des Ichs zum intendierten Empfänger. Die Brieftexte, auf die das Sprecher-Ich sich beruft, beruhen alle auf einer legendären Minne zu den jeweiligen Adressaten. Indem es sich in eine Reihe mit ihnen stellt und angibt, es würde, wenn es denn könnte

314 Vgl. zum Leid als Grund, die im ersten Briefteil entfaltete „Gattungsnorm“ nicht erfüllen zu können, bereits Jürgens, Fürstenlehre, S. 373f. 315 Odysseus verstirbt in der Vorstellung Yrkânes auf seiner Exilfahrt (vgl. RvB, V. 24534–24542). Zu den Gründen dafür vgl. Martschini, Schriftlichkeit, S. 287, Anm. 235. 316 Vgl. RvB, V. 24534, 24544, 24558, 24552, 24554, 24556.

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ir aller sinne […] ald von minne minnenclîch geschreip ie der werd Ovidîus (RvB, V. 24560–24563)

in einem Gedicht zusammenfassen, entsteht ohne konkrete Minnebekundungen ein recht eindrückliches Bild von der Minne, die es für den Adressaten empfindet – nämlich einer Minne, die die Summe aller legendären Zuneigungen ist. Gerade durch die Reflexivität des Geschriebenen kann sie ihre Emotionen veranschaulichen und präsent machen. Dem Sprecher-Ich gelingt es, darzustellen, warum es ihm unmöglich ist, die Leistung einer angemessenen Minnedarstellung zu vollbringen. Es vermittelt dadurch einen Eindruck von seinen Gefühlen.317 Die auch in anderen Romanen auf narrativer Ebene zum Vorschein kommende Tatsache, dass bestimmte Aspekte (gerade der Minneerfahrung) nicht medialisierbar sind,318 vermag der Briefeingang eindrücklich zu veranschaulichen. Findet die Herausforderungen des Verfassens solcher Minnebriefe sonst kaum Erwähnung und Ausgestaltung,319 so bildet dieser Text anschaulich das Problem der Unvermittelbarkeit einer immateriellen inneren Disposition  – noch dazu von überkonventioneller Qualität – ab. Die Komplexität von Minne und Minneleid, die in den Schicksalen der aufgezählten Frauenfiguren aufgerufen wird, ist kaum erzählbar, ja lässt sich eigentlich nur so, wie hier geschehen, durch die Verbindung von Unfähigkeitstopos und Verweisen versprachlichen und kratzt in dieser einzig denkbaren Form doch – so macht der Verweis auf eigenes Unvermögen deutlich  – nur an der Substanz der Zusammenhänge und Empfindungen.320 Das Dilemma, der Unfassbarkeit dieser Minne über den Brief Präsenz zu

317 Vgl. Jürgens, Fürstenlehre, S. 375, 378. 318 So zeigt Schnyder zufolge bereits die Reflexion über die Minne der Lavinia im Eneasroman, dass die Lust nicht durch die Sprache eingefangen werden kann, sondern nach Erfahrung verlangt (vgl. Schnyder, Imagination, S. 239). Im Reinfried ist diese Passage nicht die erste, die die Minne zwischen den Protagonisten als unvermittelbar darstellt. Zuvor ist es nicht eine Figur, die an dieser Aufgabe scheitert, sondern die Erzählinstanz, die vorbringt, selbst Ovid (!) könne die Liebesnacht zwischen Reinfried und Yrkâne nicht adäquat in Worte umsetzen (vgl. den Hinweis auf die Verse 10767–10775 bei Jürgens, Fürstenlehre, S. 372). 319 Vgl. Wand-Wittkowski, Briefe, S. 40. 320 Hilfreich ist für die Auffassung des hier eingesetzten Unfähigkeitstops’ als Ausdruck von Emotionalität der Hinweis Muschicks, dass die Verwendung solcher Gemeinplätze der Versuch sei, das Unfassliche fassbar zu machen: „Das Potenzial der Topoi liegt gerade darin, als sprachliche Gemeinplätze die menschliche imaginatio anzusprechen, die sich nicht einfach autoritär in den Griff bekommen und konventionalisieren lässt“ (Muschick, Minne, S. 57). Sie können damit als Indiz für besondere emotionale Affiziertheit gewertet werden.

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verschaffen, findet effektvoll Darstellung. So wird auch deutlich, was denn mit einem angemessenen Schreiben von der Liebe eigentlich gemeint ist. Angemessen wie unmöglich wäre es, all ihre Facetten sprachlich fassbar zu machen. Da das nicht umsetzbar ist, bietet die performative Darstellung der Überforderung die einzige Möglichkeit der Annäherung. Aus diesem Grund lassen sich die ovidschen Figuren vorrangig einem ästhetischen Effekt – der unmittelbaren Präsenz der Überforderung und damit also der weitestgehenden Überwindung der Sender und Empfänger trennenden räumlichen Distanz – unterstellen.321 Denn, so Baisch, indem Yrkâne die fiktionalen Grenzen verschwimmen lasse und sich selbst als Verfasserin eines in die ovidsche Sammlung passenden Briefes stilisiere, der die einzelnen Aspekte der Minne im Rekurs auf verschiedene Liebesszenarien ansprechen, niemals aber adäquat veranschaulichen kann, konstruiere Yrkâne sich als über die Minne reflektierende Briefschreiberin, die sich im Angesicht der eigenen emotionalen Affizierung bewusst ist, an der angemessenen Versprachlichung scheitern zu müssen. Die überwältigende, sprachlos machende Qualität ihres Empfindens werde so greifbar.322 Das Anzitieren vielfältiger literarischer Minneschicksale eröffnet einen Diskursraum, der nur in dieser Form auf so kleinem (Text-)Raum entfaltbar ist und andeutet, dass die Komplexität und emotionale Intensität der Beziehung nur über den Vergleich mit anderen von überwältigender Liebe ergriffenen Paaren ansatzweise sprachlich annäherungsweise einholbar ist. Die eigene Beziehung und das eigene Empfinden erhalten einen nachvollziehbaren und objektivierbaren Bezugspunkt, der einen Zugang zu dem Undarstellbaren ermöglicht.323 Das hohe Maß an Reflexivität bewirkt in diesem Falle keine Distanz, sondern vollbringt es, das erfolglose Bemühen um angemessene Versprachlichung und damit die Qualität der Emotionen deutlich zu machen. Maysers Behauptung, neben Informationsgehalt und Handlungsrelevanz fehle eingelegten Minnebriefen im Allgemeinen und dem der Yrkâne aus

321 Vgl. Baisch, Briefwechsel, S. 195. 322 Vgl. hier S. 195. 323 Diese Beobachtung ähnelt der Feststellung, dass die Liebesbrieftexte im Willehalm von Orlens „im geblümten Stil verfaßt und mit einer Fülle von rhetorischen Figuren, Anaphern, Hyperbeln, Hyperbata, Metaphern, Polyptota, Figurae etymologicae, Alliterationen, ausgestattet“ sind (Ernst, Schriftlichkeit, S. 331 mit Bezug auf Brackert, Minnebriefe), der subjektive Affekt nicht über die konkrete Beziehung zum Gegenüber entzündet wird, sondern an der tugent-Wirklichkeit des beschriebenen Gegenübers, um dessen angemessene Darstellung in der sich selbst stets zu überbieten trachtenden Wiederholung von Huldigungsformeln die Texte ringen (vgl. Brackert, Minnebriefe, S. 12). Auch hier wird die eigene Zuneigung nicht als direkt vermittelbar, sondern nur annäherungsweise über dritte Vergleichsaspekte – in diesem Falle die tugent des Partners – darstellbar konzipiert.

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dem Reinfried im Spe­ziellen auch die gefühlsausdrückende Funktion,324 scheint daher verkürzt. Woran Worte scheitern, vermögen Gesten und Berührungen ohne Probleme zu vermitteln. Und so wirkt das Sprecher-Ich der Reflexivität zu Beginn des Briefes gleichzeitig mit einer geschickten Inszenierung entgegen. Das hypothetische gedihte (RvB, V. 24565), das die Dimensionen der Minne zu erfassen und auszudrücken versucht, wird auch als ein[] kus (RvB, V. 24564) bezeichnet. Der Brief stehe für einen Kuss und wird – so erneut bereits Baisch – zu einem fetischisierten Objekt stilisiert, das die räumliche Grenze zwischen zwei Personen zu überwinden vermag.325 Die Inszenierung des Briefes als Begehren ausdrückendes und Begehren auslösendes Objekt in Verbindung mit der Reflexion der unvermittelbar starken und komplexen Minne, das in dieses Objekt fließt, machen es zu einer medialen Form, die eine Ahnung dieser Minne über räumliche und persönliche Grenzen hinweg verschiebt. Das vermag zu erklären, warum Reinfried kaum besonders auf den Inhalt des Briefes reagiert (vgl. RvB, V.  24685–24701), aber stattdessen bereits zuvor eine starke Ergriffenheit durch den Erhalt des Briefes selbst zeigt. Kaum wird der Brief überreicht, durchfährt ihn ein Hochgefühl, das die Ausdrucksfähigkeit seines Körpers fast übersteigt (vgl. RvB, V. 24452, 24463). Die auftretenden Körperreaktionen326 werden mit den in ihm aufkommenden

324 Vgl. Mayser, Brief, S. 144 zum Brief der Yrkâne. Hier überwiege die Reflexion; erzählt werde so gut wie nichts (vgl. hier S. 141). 325 „Yrkanes Briefkuss verstehe ich als Versuch, die Trennung zwischen ihr und Reinfried zu überwinden, diese zu bannen“ (Baisch, Briefwechsel, S. 196). Er verweist in dieser Feststellung insbesondere auf die ins Auge stechende Parallele: Brief und Kuss seien Kontaktmedien, die sich an der unüberwindbaren Distanz zwischen Körpern abarbeiteten (vgl. ebd.). Ähnlich beschreibt bereits Huber, auf den in ihrer Untersuchung Martschini aufmerksam macht (vgl. Martschini, Schriftlichkeit, S. 316), die Briefe zwischen Amelie und Willehalm im Willehalm von Orlens: „Der vom Boten überbrachte Brief wird deutlich als Verlängerung des Körpers der schreibenden Person vorgestellt“ (Huber, Minne, S. 129). Über die Tränen, die Amelie in dessen Materialität hineingieße, sei das Material überdies „Brücke zwischen den Körpern, es rückt zum Medium körperlicher Berührung auf und erhält fast fetischartige Qualitäten“ (vgl. Ärmel, Kamm und Ähnliches im Minnekult, so Huber, Minne, S. 130). Damit stellt sich der Brief außerdem in die Tradition des Minne-auslösenden Kusses, wie sie in der deutschen Literatur erstmals im Eneasroman auftritt (vgl. Heinrich von Veldeke: Eneasroman. Die Berliner Bilderhandschrift mit Übersetzung und Kommentar. Mit den Miniaturen der Handschrift und einem Aufsatz von Dorothea und Peter Diemer. Hrsg. von Hans Fromm, Frankfurt a. M. 1992 [Bibliothek des Mittelalters 4], V. 805–845; alle folgenden Angaben richten sich nach dieser Ausgabe; im Folgenden wird mit ,Eneasroman‘ auf diesen Text verwiesen). 326 Er wird blassgrün, dann rot (vgl. RvB, V. 24443) und blutet aus der Nase (vgl. RvB, V. 24448); schließlich verfällt er in wahnsinnige Stummheit (vgl. RvB, V.  24471–24477). Ähnlich reagiert Reinfried auf einen anderen Brief, den Yrkâne verfasst: das bereits mehrmals vergleichend ange-

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Emotionen verbunden.327 Auch wenn es nicht streng logisch erscheint, so wirkt die Materialität des Briefes doch – noch bevor er sich zu einem solchen stilisiert – wie ein Kuss als Mittler der auf den Empfänger gerichteten Gefühle. Der Brief ist Verlängerung des Körpers und Stellvertreter der Senderin in der Handlung des Küssens; er ist das kontaktschaffende Element auf physischer Ebene.328 Als Reinfried mithilfe aufmunternder Maßnahmen der Anwesenden (vgl. RvB, V.  22481–22487) der Sprache wieder Herr wird, hält er eine Rede, die auf beide Pole, die Freude und das Leid, die dieser Brief als materielles Objekt ausgelöst hat, zu sprechen kommt.329 Das alles geschieht ausdrücklich bereits, bevor er das guldin ingesigel (RvB, V. 24518), das den Brief verschließt,330 bricht und zu lesen beginnt (vgl. RvB, V.  24520–24522). Der Brief als materielles Objekt löst bereits Gefühle aus, wird zum stellvertretend wirkenden Bindeglied zu Yrkâne, auf deren Auftreten Reinfried kaum stärker hätte reagieren können. Seine Materialität stellt eine zeitlich verzögerte Verbindung zwischen den Liebenden her, macht einen durch räumliche Differenz unterbundenen und unter der sprachlichen Ebene der

sprochene und im nächsten Kapitel hinsichtlich des persuasiven Vorgehens befragte Hilfsgesuch Yrkânes. In jenem Fall reagiert er allerdings auf den Text und nicht auf den materiellen Brief (vgl. RvB, V. 7600–7606). 327 Sie geschähen von fröuden (RvB, V. 24442) bzw. ze fröuden (RvB, V. 2446). Daraufhin verfällt er – den Extreme der ambivalenten Gefühlsbildung der Minne entsprechend – in sô tiefez leit/daz sî tôdes arebeit/sich al an im versâhen (RvB, V. 24451–24452) [F]röuden (RvB, V. 24457) und jâmer/swære smerzen (RvB, V. 24460, 24480) ergreifen ihn gleichermaßen und führen in die Stummheit (vgl. RvB, V. 24471–24477). Vgl. auch Baisch, Briefwechsel, S. 193, der die körperlichen Phänomene auch als Symptome einer starken emotionalen Affiziertheit liest. 328 Das visuell Aufnehmbare, die materielle Textoberfläche kann daher auch für das Abwesende bzw. den Abwesenden einstehen. Dies gilt insbesondere für handschriftliche Erzeugnisse des Senders. Sie verweisen direkt auf Raum und Zeit der Produktion, sodass dieser wie auch dessen derzeitige Verfasstheit im metonymischen Verhältnis in der Schrift dauerhaft repräsentiert bleibt (Chabr, Boten, S. 162–174, S. 173 [am Beispiel von Gawans Brief aus Wolframs Parzival]). Abstrahierend hält Schnyder fest: „Schrift ist in einem ganz konkreten Sinn Medium des Auges, indem die Abstraktion des Körpers in der Schrift mit einer Präsentation des Absenten im Zeichen einhergeht, so dass im rezipierenden Blick die Materialität des Schriftlichen (das Pergament, die Tinte, der Codex) wieder zu einer neuen Verkörperung des im Zeichen Abstrahierten werden kann“ (Schnyder, Schrift und Liebe, S. 11). Die Schrift repräsentiere das Gegenüber, sodass man beobachten könne, dass Personen auf einen Text zuweilen wie auf die Urheberperson reagieren (vgl. hier S. 11). 329 ,[E]i got wie bist du noch sô guot,‘/er ûz hôhem muote sprach,/,wie kanst du leit und bitter ach/sô schier in fröude schîben (RvB, V. 24490–24493). 330 Auch dieser Bestandteil des Objektes besitzt mediales Potenzial. Die Materialität verleiht dem Inhalt bereits vor der Lektüre Wichtigkeit und gibt Auskunft über die vom Sender ausgehende Wertschätzung des Empfängers bzw. der Beziehung zwischen Sender und Empfänger.

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Berührung bereits funktionierenden Gefühlsstrom wieder möglich und ruft ein Verhalten bei Reinfrieds hervor, das der Inszenierung als Kuss entspricht. Erst nach der komplexen Präambel aus Unfähigkeitsbekundung und Kussstilisierung wendet sich der Brieftext der konkreten Situation zu. In diesem Briefteil steht neben der Funktion der Emotionsvermittlung die der Persuasion bzw. – so ließe sich zuspitzen – steht die Funktion der Emotionsvermittlung im Dienste der Persuasion, weshalb sich viele Parallelen zum emotionsgeladenen Hilfsgesuch der Yrkâne (s. Kap. 4.3.3) feststellen lassen. Die Sprecherstimme erwägt zunächst weiter im monologischen Stil die Möglichkeit einer Frau, ein männliches Herz so zu erfreuen, dass sein Träger seine Abenteuerfahrt für sie beendet (vgl. RvB, V. 24569). Wäre das überhaupt möglich, so würde dieser Brief – hie (RvB, V.  24570)  – den Angesprochenen dazu mahnen (vgl. RvB, V.  24568–24573). Da die Sprecherstimme den Mahncharakter ihrem Brief allerdings explizit abspricht (konsequenterweise sind die vorherigen Überlegungen im Konjunktiv gehalten), ist sie darauf angewiesen, direkt um Rückkehr zu bitten. Martschini bezeichnet diesen Eingang des konkreten Briefteiles als diplomatisch, werde doch Reinfried kein Vorwurf gemacht, das Anliegen hingegen vorsichtig etabliert.331 Wird der Gemeinte hier noch unspezifisch mit helt (RvB, V. 24570) bezeichnet und als derjenige dem mîn herze triuwe giht/und den mîn sîn in slâfe siht (RvB, V. 24571f.) umschrieben, so folgt darauf die eindeutige Identifizierung des Ritters mit dem Adressaten des Briefes.332 Die Stimme hebt neu an, lässt den monologischen Stil

331 Vgl. Martschini, Schriftlichkeit, S. 395f. 332 Auch beim Nebeneinander eines in der dritten Person beschriebenen, perfekten Ritters und eines damit zu identifizierenden Adressaten handelt es sich um eine Technik, die bereits in dem anderen Brief der Yrkâne zu beobachten ist und dort genutzt wird, um die noch nicht öffentliche und daher illegitime Verbindung zur Sprache zu bringen und persuasiv zu nutzen. Wenn auch nicht direkt auf die Geschehnisse bei dem persönlichen Treffen zwischen Reinfried und Yrkâne eingegangen wird, so ist die Sprecherstimme doch sehr deutlich, was ihre Gefühle gegenüber dem angesprochenen Empfänger betrifft. Sie schreibt von einem Ritter, einem Freund (vgl. RvB, V. 7587), den sie den Großteil des Briefes hindurch in der dritten Person beschreibt, aber einmal zwischendurch und am Ende in der zweiten Person direkt anspricht (vgl. RvB, V. 75440–7543, 7588–7598). Bei dem Empfänger handelt es sich damit um denjenigen, der – wie sie beschreibt mîn herze hât (RvB, V. 7513), dessen Herz ihr eine Wunde geschlagen hat, unter der sie ihre Liebe verwahrt (vgl. RvB, V. 7545–7549) und dem ich mînes lîbes gan/allein für alle die nu lebent,/nâ dem herz und sinne strebent, /muot mit gedenken,/von dem ich gewenken/niemer wil mit triuwen,/des liebe sich erniuwern/kan von stunt ze stunde/in mîns herzen grunde./[…]/er wunne mîner ougen,/ mîn trôst in sendem leide (RvB, V. 7558–7571). Solche Liebesbekundungen besonders außerhalb eines legitimen Liebesverhältnisses gehören nicht unbedingt in ein öffentlich vorgetragenes Hilfsgesuch. Kaum überraschen dürfte es angesichts der Thematisierung der Beziehung über diesen Brieftext, dass Martschini den Brief in ihrem Kapitel über ,Die Erfindung der höfischen Liebe‘ thematisiert (vgl. Martschini, Schriftlichkeit, S.  391–394). Der Kontext des Schreibens

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fallen und wendet sich in ihrer Ansprache mit mîn herr, mîn friunt, mîn liep an sehen (RvB, V.  24574) dem Empfänger und dessen unterschiedlichen Rollen in der Beziehung direkt zu, und macht direkt im Anschlussvers mit den von dort an verwendeten Pronomen333 in der zweiten Person Singular endgültig deutlich, dass derjenige, der diesen Brief erhält, das Objekt ihrer Minne und intendierter Empfänger der Aufforderung zur Heimkehr ist. Von nun an ist der Brieftext gesprächsnah gestaltet, stellt also Nähe im Sinne einer Gesprächsersatzfunktion her. Sogleich steht nicht mehr die verlustfreie Vermittlung von Emotionen allein im Fokus, sondern deren Mitteilung in überzeugender Funktion. Die möglichst eindrückliche Mitteilung der Gefühle unterstützt faktische Argumentationen334

lässt es hier primär als Hilfsgesuch erscheinen. Im Dienste der Funktion, zu Hilfe zu animieren, kommt es zu eindrücklichen Gefühlsäußerungen. Die Scheu davor, zu viel preiszugeben, zeigt sich innerhalb des Briefes in der Zuschreibung der Zuneigung auf eine anonym bleibende und nur assoziativ mit dem adressierten Empfänger in eins zu setzende Instanz. Die Stimme spricht den Großteil des Brieftextes nicht zu demjenigen, der ihr Herz besitzt, sondern über diese Person. Sie beschreibt ihre Gefühle zu dem Ritter und überlässt es dem Empfänger, die Identität zwischen dem Beschriebenen und dem Adressaten herzustellen, gegenüber dem sie sich mit Gefühlsbekundungen zurückhält. Dieser wird mit werder helt gehiure (RvB, V. 7540) und friuntlîch friunt (RvB, V.  7588) angesprochen und über dessen ritterliche Tugenden und Qualitäten, seine êren (RvB, V. 7594), seine hôhe[] werdekeit (RvB, V. 7895), seine Hoffnung keimen lassende und Trost spendende Hilfsbereitschaft und seinen Einsatz für die Ehre der Frauen (vgl. RvB, V. 7541–7543) definiert. Es ist leicht, beide Entitäten auf der Textgrundlage zusammenzubringen, da auch der beschriebene Geliebte über ritterlîche güete (RvB, V. 7528), ritterlîche[][n] muot (RvB, V. 7585) verfügt, fähig ist ritterlîche[][n] trôst“ (RvB, V. 7575) zu spenden und die Sprecherstimme von dem Geliebten allein Hilfe, die Wendung ihrer Sorgen zum Guten erhofft und erwartet (vgl. RvB, V. 7515–7517, 7528–7530, 7536f., 7553f., 7556f., 7567–7569, 7574f. 7582–7587), während sie den explizit Angesprochenen um seine Hilfe bittet. 333 dîn (RvB, V.  24575, 24637, 24642, 24645, 24666, 24679, 24681); dîner (RvB, V.  24589, 24591, 24593, 24613); dîne (RvB, V. 24592); du (RvB, V. 24580, 24590, 24594, 24621, 24644, 24649, 24654, 24680); dich (RvB, V. 24586, 24620, 24633, 24648, 24653, 24657, 24663, 24676); dir (RvB, V. 24586, 24615, 24616, 24624, 24627, 24630, 24640, 24659, 24663). 334 Als faktische Argumentation ließe sich die Nachricht der erfüllten Prophezeiung in Form des Nachwuchses und das Lob, den göttlichen Auftrag des Heidenkampfes zur Genüge erfüllt zu haben (zu den Träumen und Erscheinungen vgl. die Kap. 6.2.2 und 6.3.2), bezeichnen. Hier erhält der Brieftext nicht nur eine persönliche Note, der ihn – wie Martschini bemerkt – anders als die Briefe Willehalms und Amelies im Willehalm von Orlens nicht austauschbar, sondern individuell auf das Gegenüber zugeschnitten macht (vgl. Martschini, Schriftlichkeit, S. 397). Dieses Kind, das mit der Bezeichnung dîne fruht (RvB, V. 24592), der traumgemäßen Verbildlichung als junger, dem alten entsprungener Löwe (vgl. RvB, V. 24606f.) und der Rückführung auf dîne[] minn (RvB, V. 24593) eindeutig mit dem Adressaten verknüpft wird, wird als Anreiz eingesetzt. Es wird für Reinfried sogar die Möglichkeit eröffnet, im Falle erloschener Leidenschaft Yrkâne gegenüber nur um des Kindes Willen zurückzukehren (vgl. RvB, V. 24590–24594). Mit der Erwähnung des Sohnes wird das einzig legitime Gegenargument einer Rückkehr entkräftet. Denn die erfolgrei-

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zur Rückkehr mit dem Versuch, eine empathische Reaktion bei Reinfried auszulösen.335 Die Sprecherstimme bittet das Gegenüber, sich ihre Treue, sein Platz in ihrem Herzen sowie seine ritterlichen Bemühungen zu Beginn ihrer Beziehung (vgl. RvB, V. 24575–25583) ins Gedächtnis zu rufen. Ähnlich wie im Hilfsgesuch (s.  Kap.  4.3.3) setzt das Sprecher-Ich das Verhalten, das aus diesen Überlegungen resultiert, in ein Verhältnis zur Treue des Empfängers, denn an seiner Reaktion sei abzulesen, ob dîn triuwe sunder schranz/gen mir sî beliben ganz (RvB, V. 24575f.). Die Verpflichtung durch Treue wird im weiteren Briefverlauf als eines mehrerer Argumente für die Rückkehr wieder aufgerufen. So erwähnt das Sprecher-Ich, dass es die krône/ze Tenemarke dur dich lie (RvB, V. 24632f.) und erinnert an die Küsse, die ihm seine Treue offenbarten (vgl. RvB, V. 24630f.). Obwohl es ihn mehrmals an seine Treue gemahnt, lässt es nicht die Vermutung aufkommen, es zweifle an dieser, sondern weist diesen Verdacht mehrmals von sich. Ebenfalls wie im Hilfsgesuch der Figur baut sich eine Erwartungshaltung auf, der der Empfänger sich schwer entziehen kann (s. Kap. 4.3.3). Die Möglichkeit, dass Reinfried nicht durch das Sprecher-Ich von der Rückkehr zu überzeugen ist, wird bspw. kurz aufgerufen (wilt du durch mich komen niht, RvB, V. 24590), dann aber wieder mit Verweis auf Reinfrieds Tugendhaftigkeit suspendiert (des triuw ich kleine dîner zuht, RvB, V. 24591), die Lebensgefahr des Ichs im Falle einer weiter hinausgezögerten Rückkehr angesichts der Minneschmerzen dramatisch geschildert (zwâre ich muoz sterben,/gît mir dîn kunft niht balde trôst, RvB, V. 24636f.), dann mit hoffnungsvoller Zuversicht auf Erlösung kommentiert (doch triuw ich wol, ich werd erlôst, RvB, V. 24638). Diese antithetischen Formulierungen, die den schlimmsten Fall aufrufen, dann aber wieder in weite Ferne rücken, vermögen zu zeigen, welche Gefühle vermeintlich in Yrkâne streiten und fordern zur Veränderung des Verhaltens auf, ohne zu schelten. Die Gefährdung des Treueverhältnisses wird stets vor Augen geführt, von einer Unterstellung jedoch stets abgesehen, um ihre

che Empfängnis und Geburt wird als die göttliche Erfüllung der Abmachung gewertet (vgl. RvB, V. 24596f.), die impliziert, dass auch Reinfried seinen Kreuzzug erfolgreich beendet habe. Explizit wird diese zunächst nur angedeutete Angemessenheit erst gegen Ende des Briefes (vgl. RvB, V. 24644–24646). So gibt es nicht nur viele gute Gründe, heimzukehren, sondern auch keinen einzigen mehr, dies nicht zu tun. 335 Damit soll der Figur nicht das taktische Vortäuschen einer emotionalen Disposition vorgeworfen, sondern dem überzeugenden Effekt anschaulicher Emotionsvermittlung durch Empathieerzeugung sowie dem adressatenbezogenen Gestus dieses zweiten Briefteils Rechnung getragen werden.

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Haltung gegenüber dem Geliebten ungetrübt erscheinen zu lassen.336 Unterstrichen wird die verpflich­tende Einheit des Paares nicht zuletzt dadurch, dass ein uns (RvB, V. 24596, 24647) in den Text integriert wird und Bezug auf gemeinsame intime Momente genommen wird. So spricht der Brief die Träume an (vgl. RvB, V. 24598f., 24603–24611), über die sich Yrkâne und Reinfried im geteilten Ehebett unterhalten hatten (s. Kap. 6.3.2). Der Veranschaulichung der unbeschreiblichen Zuneigung dient außerdem ein Gedankenexperiment. Das Sprecher-Ich diskutiert den hypothetischen Fall, es könnte ohne den Angesprochenen über die ganze Welt herrschen. Aufgebaut wird eine verlockende Vorstellung von Allmacht. Diese wird jedoch sofort zurückgewiesen, um ein Leben mit dir in vollkommener Armut und Machtlosigkeit, niht wan wazzer unde brôt (RvB, V. 24587) vorzuziehen, das das Ich ê […] hân (RvB, V. 24586) will. Macht wird hypothetisch für ein gemeinsames Leben ausgeschlagen, um zu verdeutlichen, wie wichtig für das Sprecher-Ich die Aussicht auf eine Wiederkehr ist, was wiederum auf die Intensität der Zugeneigtheit verweist. Die hier getroffene Entscheidung zwischen Macht und Reinfried ist gar nicht nötig, dennoch wird sie zur Darstellung der Opferbereitschaft des Sprecher-Ichs, die den Empfänger zu einer dieser entsprechenden Bereitschaft verpflichtet, aufgebaut. Besonders stark in den Vordergrund rücken in diesem Briefteil explizite Aussagen über das Leid der Sprecherstimme, mit dem die Verfasserin Reinfrieds Entscheidung zu beeinflussen versucht. Ein Großteil des Briefes beschreibt eindrucksvoll die bereits anfänglich und erneut in der Mitte des Briefes337 dem Vorhaben, einen Liebesbrief zu schreiben, entgegengestellten Emotionen der Sehnsucht und der Trauer. Gleich zu Beginn des Briefes installiert das Sprecher-Ich seine Verfassung als ellendez wîp/fröudenlôsen armen (RvB, V.  24618f.). Es ist von einem Leid erfasst, durch das die sinne tief/verletzet und versunken/in jâmer ertrunken (RvB, V.  24530) sind und das dem Hochgefühl der Liebe, den hôhen sinnen,/von lieben und von minnen (RvB, V. 24523f.) gegenübergestellt wird. Die derzeitige Situation wird dem Liebesglück diametral entgegensetzt; gleichzeitig wird Minne als Ausgangspunkt von Liebe und Leid dargestellt und die emotionale Kippfähigkeit der Minne betont. Den direkten Bezug zwischen Minneleid

336 Vgl. RvB, V. 24571, 24572, 24578. So hält auch Martschini mit Blick auf diese Briefpassage fest: „Yrkane appelliert in diesen Zeilen an Reinfrieds Treue, wobei dieser Appell umso zwingender erscheint, als sie nicht im Geringsten an dieser Treue zu zweifeln vorgibt“ (Martschini, Schriftlichkeit, S. 396). 337 [D]ir vil saelden richer man, so behauptet die Sprecherstimme, kan ich gruozes schriben niht./ min sin min muot min herze giht/dir eigenliches willen gar (RvB, V. 24624–24627).

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und dem Adressaten stellt die Stimme dann an anderer Stelle über Einsatz des Pronomens in Objektstellung her. Der Sehnsucht wird ein nâ im dem ich schrîben sol (RvB, V. 24531) angefügt, später heißt es, ihr Sinn wolle nâ dir sterben sunder wet (RvB, V. 24615) oder aber in jâmer grôz nâch dir ich zer (RvB, V. 24616). Doch auch bildlich verleiht das Sprecher-Ich ihrer Sehnsucht und dem dadurch verursachten Schmerz Ausdruck. Mit Rekurs auf den Falkentraum (vgl. 24602–24604 sowie Kap.  6.3.2) beschreibt das Sprecher-Ich, dass Gefühle wie Glück und Freude sich an einem für dieses unerreichbaren Ort befinden, zu dem weder brugger noch die stege (RvB, V.  24600) führten. Es wird ein innerlicher ,Gefühls-Raum‘ gezeichnet, der analog zu physischem Raum gedacht scheint, und über die Negierung eines verbindenden, zum Überqueren von räumlichen Hindernissen geeigneten Mittels verdeutlicht, wie unerreichbar bestimmte emotionale Bereiche dem Sprecher-Ich sind. Von dort, wo es sich befindet, gibt es keinen Weg zu Freude und Hochstimmung, da es keine Möglichkeit zur Überbrückung des derzeitigen Trauerzustandes finden kann. Selbst die durch den Sohn evozierte Freude reiche nicht aus, um den Verlust des Gatten zu überwinden und den Weg zu hôher fröud (RvB, V. 24601) wiederzufinden.338 Die Verbindung ist wie die zwischen Senderin und Empfänger unterbrochen.339 Ein eindrückliches Bild wird auch gegen Ende des Textes kreiert. Dort spricht die Sprecherstimme davon, ihr Herz und ihr ganzes Leben an den Angesprochenen geheftet zu haben (vgl. RvB, V.  2452f.). Die metaphorische Umsetzung der emotionalen Verbundenheit und Abhängigkeit wird dann aber weiter auf die konkrete räumliche Entfernung und die körperliche Versehrtheit der Senderin projiziert, wenn sie fordert, mîn riuwic herze (RvB, V. 24656) mit nach Hause zu bringen.340 Der Empfänger erhält dieser leidenden Figur gegenüber eine Erlöser-Funktion (vgl. RvB, V. 24638). Eindringlich fordert die Sprecherstimme ihn auf, ihre nôt (RvB, V. 2458) durch seine Wiederkehr in zuoversîht (RvB, V. 24589) zu wandeln (vgl. RvB, V. 24588f.), da sie

338 Der neugeborene Sohn wird als Quell positiver Gefühle eingeführt. Er scheint die einzige Person zu sein, die neben Reinfried Glücksgefühle bei Yrkâne hervorzurufen vermag. Die Sprecherstimme berichtet, er habe ihr leit zerstœret (RvB, V. 24595) und könne ihr manch fröhliche Stunde bereiten (vgl. RvB, V. 24605). 339 Die enorme Distanz zwischen Reinfried und Yrkâne wird hingegen durch das separat erzählte Abenteuer des Boten, der den Brief austrägt, deutlich (s. Kap. 4.2.1). 340 Das Sprecher-Ich macht deutlich, dass ihm durch seine Abwesenheit ein wesentlicher Bestandteil seiner selbst fehlt und es an Reinfried ist, jenen Teil mit seinem Körper wieder zu ihm zu bringen. Freude, Gesundheit, ja sogar Leben der Senderin werden von dem Empfänger abhängig gemacht und drängen zu einer Entscheidung. An dieser Stelle ist wiederum der persuasive Gestus des Brieftexts nicht zu leugnen, der den Minnebrief in die Nähe des Hilfsgesuchs rückt.

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sonst – wie es später im Text heißt – verderben (RvB, V. 24635), ja sogar sterben (RvB, V. 24636) muss, gît mir dîn kunft niht balde trôst (RvB, V. 24637).341 Beschlossen wird Yrkânes Brief mit einer Zuwendung zur göttlichen Dreieinigkeit, die um die Rückkehr des Helden gebeten wird (vgl. RvB, V. 24660–24684). Dies generiert den Eindruck, die Entscheidung über seine Rückkehr liege nicht allein in Reinfrieds Händen, sondern müsse angesichts der bereits beim ersten Mal erhörten Bitte geradezu zwangsläufig erfolgen. Der Gestus wechselt erneut kurz, die Sprecherstimme löst sich vom Adressaten und lässt jenen am monologischen Sprechen zu Gott (s. Kap. 6.2.1) teilhaben, präsentiert somit die Rückkehr auch als authentischen Herzenswunsch der Senderin. Die sprachliche Gestaltung des Briefes macht die emotionale Verfasstheit der Senderin über die räumliche Entfernung hinweg erfahrbar – egal, ob man dies vorrangig als authentisches Versprachlichungsbemühen einer echten Gefühlsdisposition oder als Kalkulation der Senderin versteht.342 Explizite Begriffe findet diese hauptsächlich für Leid und Sehnsucht im zweiten Teil des Briefes. Intensiviert werden diese zusätzlich durch Bilder, die von der schmerzvollen Trennungserfahrung zeugen und über gemeinsame Erinnerungen sowie künstlich aufgebaute Szenarien das Gefühl der Verbundenheit und Einheit der bereits lange räumlich Getrennten herstellen. In Bezug auf diese Gefühle wird der auch direkt adressierte Reinfried als Erlöserfigur konstruiert, die den jetzigen qualvollen Zustand allein zu beenden vermag. Positive Gefühle werden nur in Bezug auf den Nachkommen direkt erwähnt und in der stets auch der Angst der Enttäuschung ausgesetzten Hoffnung auf Rückkehr erahnbar. Der antithetische Wechsel zwischen Ausdrücken der Gewissheit und Hoffnung sowie der Unsicherheit und der drohenden endgültigen und überwältigenden Trauer bildet die ambivalente und dennoch differenzierte Einstellung der Senderin ab. Bezüglich des Empfängers sind ihre

341 Es wird nicht ein stimmiges Bild-Konzept entwickelt, vielmehr werden additiv Bilder aneinandergereiht, die logisch inkongruent sind. So wird entgegen der Behauptung, ihr Herz habe Reinfried mit sich geführt (s. o.), das angesprochene ,Du‘ dafür verantwortlich gemacht, ihrem Herz, das alle Fähigkeit zur Freude verloren hat, wieder beizubringen, positive Gefühle überhaupt zu empfinden (vgl. RvB, V. 24621–24623). 342 Interessanterweise bezeichnet Martschini, die das hier als ,Hilfsgesuch‘ eingestufte Schreiben als Liebesbrief thematisiert, diesen Brief „nicht eigentlich [][als] Liebesbrief“ (Martschini, Schriftlichkeit, S. 399). Yrkâne bediene sämtliche Register, um Reinfried zur Rückkehr zu bewegen, wozu auch die Inszenierung, ja Tarnung der Forderung als Liebesbrief gehöre (vgl. ebd.). Unabhängig von einer Positionierung zu dieser Frage fällt in beiden Texten die enorme Medienkompetenz der weiblichen Figur und die kluge Instrumentalisierung medialer Konventionen durch diese auf, die auch an anderer Stelle noch zu thematisieren sein werden (vgl. Kap. 4.3.3; 6.2.1).

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Gefühle eindeutig (positiv), im Hinblick auf ihre Situation jedoch schwankend zwischen Angst, Verzweiflung und Hoffnung. Dass jedoch die emotionale Beziehung stabil ist, beweist vor allem der erste, reflexiv angelegte Briefteil. Erscheint diese überlegte und kunstvolle Art des Formulierens zunächst nicht sonderlich distanzreduzierend und somit wenig effektiv im Hinblick auf die möglichst unmittelbare Übertragung der Gefühle, so eröffnet sich bei genauer Lektüre und durch den Abschluss dieses Briefteils mit der performativen343 Bezeichnung des Briefes als Yrkânes Kuss seine distanzreduzierende und Emotionen transportierende Wirkung. Zugang zur Intensität der Minne zum Adressaten wird über den monologisch verfassten Diskurs zum Versprachlichen der Minne und die Unmöglichkeit, alle Aspekte gleichzeitig zu fassen bzw. die Intensität adäquat abzubilden, geschaffen. Dargestellt wird der Versuch einer ordnenden, logischen und nachvollziehbaren Präsentation der Emotionen, wie sie die sprachliche Umsetzung fordert, das Scheitern und die Überwältigung durch die selbst auferlegte Aufgabe, die zur Kapitulation führt. Die Gleichsetzung des Briefes mit einem Kuss macht diesen schließlich zu einer Form physischer Verbindung, die nicht nur die Überbrückung der räumlichen Distanz imaginiert, sondern auch als einzige Möglichkeit der Vermittlung der Minne erscheint. Während im Reinfried von Braunschweig ein Text verfasst wird, der sich als Minnebrief einstufen und damit in eine ausgeprägte literarische Tradition einordnen lässt, präsentiert der Apollonius von Tyrland einen Brief, der ein Liebesverhältnis aufkündigt und von Enttäuschung und Demütigung berichtet. In der vergleichenden Betrachtung der Briefe, die sich der Klärung zwischenmenschlicher Beziehungen widmen, wird anschaulich, dass schriftbasierte Kommunikation sowohl Distanzabbau als auch distanzierende Reflexion bedeuten kann344 und dass auf formaler Ebene der Briefgestaltung beides ineinanderlaufen und einander hervorbringen kann. Beide Texte wissen auf unterschiedliche Weise die emotionale Verfasstheit der jeweiligen Senderin in sprachliches Material zu wandeln und machen diese so anderen Figuren vermittelbar. Sie nutzen in ihrer Funktion jeweils nicht in besonderem Maße Ausdrücke des Empfindens, sondern nutzen andere Wege, um Emotionen auch ohne deren explizite Nennung deutlich Aus-

343 ,Performativ‘ ist hier im Sinne von bedeutungskonstituierend gemeint. Durch die Bezeichnung als Kuss wird der Brief als Kuss definiert, ist also ein Kuss und ist auch als solcher zu verstehen. 344 So bereits herausgearbeitet bei Egidi, Schrift, S. 163. Sie stellt das für Flore und Blanscheflur fest, wo die Suggestion einer Distanznahme und Reflexivität durch Schrift in der eigenen Literaturproduktion und das dabei beobachte Verwischen der Grenze zwischen Liebe und Repräsentation teilweise aufgehoben werde.

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druck zu verleihen. Während Diomenas Brief sprachlich Nähe erzeugt, um emotionale Distanziertheit zu vermitteln, kann Yrkânes Brief gerade in seiner reflektierten Überforderung und dem Versuch imaginierter wortloser Kommunikation das Ausmaß emotionaler Nähe zum Ausdruck bringen, das im Anschluss durch Bilder von Leid und Entbehrung intensiviert wird. Dabei dient die Darstellung dieses medialen Bemühens auch der narrativen Entfaltung eines Figureninnenraums. Die Beobachtung, dass die emotionale Verfasstheit darstellenden und Beziehungen thematisierenden Briefe von Frauenfiguren verfasst werden (und keiner der angesprochenen männlichen Helden mit einem äquivalenten Brief antwortet), lässt vermuten, dass nicht nur Emotionalität und affekthafter und performativer Emotionsausdruck in diesen beiden Texten dominant weiblich codiert ist, sondern auch deren Formen der Versprachlichung und distanzüberschreitenden Mitteilung.

4.3.3 Überzeugende Kompositionen: Brieftexte als Beispiele rhetorischpersuasiver Textgestaltung Die intentionsorientierte Gestaltbarkeit von Äußerungen über räumliche Distanzen, die schriftgestützte mediale Formen der Fernkommunikation ermöglicht, verleiht Briefen das Potenzial, besondere argumentative Schlagkraft zu entwickeln. Daher setzen der Reinfried von Braunschweig und der Apollonius von Tyrland Brieftexte nicht nur ein, um direkte Gespräche zu ersetzen oder Innensichten zu präsentieren, sondern auch, um exemplarisch das persuasive Potenzial gezielter Textgestaltung vor Augen zu führen. Brieftexte vermögen im narrativen Verlauf Handlung auszulösen, indem sie Figuren zu einem bestimmten Verhalten motivieren (s.  Kap.  4.1.1). Das legt nahe, dass auf Handlungsebene die Pointierbarkeit schriftlicher Fernkommunikation ein besonderes Potenzial zur Überzeugung bedingt. Verständnis ist die Grundlage dafür, dass der Sender in seinem Bestreben erfolgreich sein kann; eine präzise sprachliche Formung erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass der enthaltenen Bitte entsprochen wird. Im Rahmen einiger ausgestalteter Brieftexte im Reinfried von Braunschweig und Apollonius von Tyrland rückt die Chance, mit einem klugen Brieftext kooperatives Verhalten zu evozieren, besonders in den Fokus.  Die Mahnung zur Rückkehr der Braunschweiger (RvB, V.  24744–24811), das Hilfsgesuch des Königs Paldein (AvT, V. 2935–3039) und der briefliche Hilferuf Yrkânes (RvB, V. 7511–7598) fordern jeweils mehr oder weniger bestimmend ein spezifisches Verhalten des Adressaten ein, von dem jener aus unterschiedlichen Gründen erst überzeugt werden muss. Die Anliegen profitieren von der sorgfältigen und überlegten Gestaltung, die Schrift ermöglicht; diese Briefeinla-

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gen stellen daher das Potenzial dieser medialen Form gegenüber Boten besonders deutlich aus.345 Sie eignen sich, um zu betrachten, wie schriftsprachlich eine Forderung, eine Bitte so vermittelt wird, dass der Empfänger sich der Senderintention entsprechend verhält. In den Beispielen aus dem Reinfried und dem Apollonius kommen die Strategien der ars dictandi346 sowie die bereits behandelten Verfahren zur Erzeugung von Unmittelbarkeit und Nähe geschickt zum Einsatz.347 So sind die im Folgenden behandelten Brieftexte vor allem rhetorische Exempla unterschiedlicher Kombinationen verschiedener Techniken im Dienste persuasiver Textgestaltung. Gegen Ende des Romanfragments erhält Reinfried neben dem Kussbrief seiner Ehefrau (s. Kap. 4.3.2) drei weitere Briefe. Je ein Brief wird von Sahsen und von Westevâl,/von Brûneswîc (RvB, V. 23447f.) geschrieben und dem Boten auf seine strapaziöse Reise (s. Kap. 4.2.1) mitgegeben, um Reinfried erstens mitzuteilen, er solte wider wenden/sîn vart gegen Sahsen lant (RvB, V. 23426f.), ihn zweitens genauestens über Tag und Stunde der Geburt seines Nachkommen zu informieren (vgl. RvB, V. 23428–23433). Als rund 1300 Verse später die Briefe ihren rechtmäßigen Empfänger erreichen, ist keine Spur mehr von letztgenanntem Anliegen in den bei der Rezeption präsentierten Texten zu finden – jener Inhalt wird auf den Brief Yrkânes (s. Kap. 4.3.2) ausgelagert. Die Informationen in dem Brieftext aus Reinfrieds Heimat Braunschweig, der exemplarisch wiedergegeben wird,348 betreffen

345 Hier sei dennoch daran erinnert, dass die auserzählten Botenreden alle effektiv und durchaus geschickt gestaltet sind (vgl. Kap. 4.2.2). Ein Botenbericht im Apollonius, der nach allen Regeln der Kunst rhetorisch-persuasiv gestaltet ist, wurde hier auch diesbezüglich analysiert. Es ist also festzuhalten, dass Gestaltbarkeit und Rhetorizität nicht allein als Merkmale schriftlicher Kommunikation präsentiert werden; in der Auseinandersetzung mit den Brieftexten wird daher darauf zu achten sein, ob sie komplexer als die Botenberichte ausfallen. 346 Vgl. zur ars dictandi Anm. 4/97. 347 Emotional affizierende Wirkung kann im Dienste der Überzeugung stehen, sodass die Thematisierung der Beziehung der Kommunikationspartner, die im Dienste eines anderen Anliegens steht, relevant in der Analyse der persuasiven Textgestaltung sein kann. 348 Ausführlich und in direkter Wiedergabe des Wortlauts wird nur der Brief aus Reinfrieds Heimat Braunschweig dargestellt, der Inhalt derjenigen aus Sachsen und Westfalen wird nur knapp und mit auf inhaltliche Ähnlichkeiten hinweisenden Formulierungen paraphrasiert. Man erfährt, dass in ihnen jeweils die Bitte zum Ausdruck gebracht wird, der verehrte Landesfürst möge zurückkehren (vgl. RvB, V. 24723–24725, 24734–24736). In beiden Fällen wird dabei die Verantwortung gegenüber liute unde lant (RvB, V.  24738) bzw. land und liuten (RvB, V.  24729) als Argument in Anschlag gebracht. Seine Funktion als Landesherrscher und die damit verbundenen Aufgaben des Schutzes und der Versorgung werden zur grundlegenden Rechtfertigung der Forderung seiner Rückkehr. Nicht eindeutig zu beurteilen ist, ob beim Braunschweiger Brief nur diese Passagen des Briefes wiedergegeben werden, um die Beschreibung des Erzählers zu unterstützen, oder der gesamte Brief. Für die erste These ließe sich mit der fehlenden Eingangs- oder

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ausschließlich die Mahnung an die baldige Rückkehr. Die Art und Weise, in der die Erzählinstanz den Brieftext einführt – aus Westfalen kommen flîzlîche[] bete (RvB, V. 24722), aus Sachsen kleglîche[] bet (RvB, V. 24739), während der Braunschweiger Brief aus strâfende[][n] bitten (RvB, V.  24743) besteht349 –, legt nahe, dass es sich dabei um den Text mit dem strengsten Ton handelt. Umso deutlicher wird dadurch die zentrale rhetorische Herausforderung des Briefes. Das Sprecherkollektiv350 als textliche Repräsentation der ehemaligen engsten Vertrauten am Hof muss Missbilligung zum Ausdruck zu bringen, ohne das mit einer Reihe von Vorwürfen konfrontierte Gegenüber zu brüskieren. Vielmehr muss es von dem Vorteil der Rückkehr überzeugt werden. Der Brieftext wendet sich direkt an Reinfried, der respektvoll adressiert wird.351 Inhaltlich-argumentativ beginnt der Brief mit der These, Reinfried werde mit seinem Fortbleiben den Tugendansprüchen seiner Herrscher- und Ritterrolle nicht gerecht (vgl. RvB, V. 24744–24747). Gleich zu Beginn wird die Grundproblematik eingeführt, die in einer Diskrepanz aus Anspruch (herren sitten, RvB, V. 24744) und Verhalten (alsô lange trift/wîp kint lant liute mîdent, RvB, V. 24746f.) besteht. Diese These wird durch die folgenden Ausführungen in ihren einzelnen Bestandteilen detailliert ausgebreitet und untermauert. Zunächst aber wird die Folge dieses als inkongruent mit der Norm markierten Verhaltens vor Augen geführt und dabei die Sympathie mit Reinfried betont. Denn die Diskrepanz verringert Reinfrieds Reputation – zum explizit erwähnten Bedauern der Sprecherstimme (vgl. RvB, V.  24749), die sich damit als gutmeinender und vornehmlich im Interesse des Empfängers agierender Ratgeber stilisiert. Der Empfänger wird zunächst direkt mit einem Vorwurf konfrontiert; Aufmerksamkeit für den Fortgang der Ausführungen wird mit der Behauptung geweckt, der erfolgreiche Held und Abenteurer verhalte sich nicht, wie es sich gehöre. Über einen gütlichen

Ausgangsformel argumentieren, welche sich allerdings auch für die Gestaltung in Gesprächsersatzfunktion in Anschlag bringen ließe (vgl. Kap. 4.3.1). 349 Die Verschärfung des Tons zwischen den beiden Brieftexten fällt auch Martschini auf (vgl. Martschini, Schriftlichkeit, S. 289). 350 Die Konturierung der Sprecherinstanz ist uneindeutig. Es nennt sich keine Person als Urheber der ermahnenden Schimpfrede und in der Selbstreferenz treten neben der dominierenden Pluralform auch Referenzen im Singular auf. Neben wir (RvB, V. 24754, 24762, 24766, 24785), unser (RvB, V. 24783), uns (RvB, V. 24788, 24803, 24804) taucht am Anfang auch ein Mal eine Singularform (mir, RvB, V. 24749) auf, die sich jedoch auf den Brief als sprechende Instanz des Eingangs bezieht. 351 Angesprochen wir der herre (RvB, V.  24777) stets in der zweiten Person Plural: ir (RvB, V. 24744, 24746, 24748, 24753, 24755, 24758, 24759, 24760, 24764, 2478, 24783, 24784, 24787, 24792, 24800); iuwer (RvB, V. 24750, 24801); iuch (RvB, V. 24757, 24767, 24769, 24771, 24775, 24777, 24779, 24789, 24793, 24801, 24807).

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Nachsatz, der erklärt, dass der Urheber des Briefes um den guten Ruf des Empfängers besorgt und seiner Person generell zugeneigt ist, gewinnt der Eingang dennoch auch das Wohlwollen des Angesprochenen und schafft so eine günstige Ausgangsstellung für die wohlwollende Aufnahme der folgenden Kritik am Verhalten des Fürsten. An diesen Eingang schließt sich die detaillierte Argumentation an, welche die eingangs präsentierte These mit konkreten Beispielen untermauert. Sie beginnt mit Benennung derjenigen Qualität, die der Adressat nicht im richtigen Maß zum Ausdruck bringe und die er in den unterschiedlichen Beziehungen  – zu wîp kint lant liute (s.  o.) vermissen lasse – der triuwe (RvB, V.  24750). Erneut begibt sich die Sprecherstimme nicht in eine komplette Opposition zum Empfänger. Sie spricht ihm nicht die Tugend der ,triuwe‘ ab, es heißt lediglich, seine Treue zeige sich im derzeitigen Verhalten nicht (vgl. RvB, V. 24750–24755). Reinfried wird nicht charakterlich bloßgestellt, sondern erhält einen Rat zur adäquaten Inszenierung seiner Tugenden. Diese allgemeine Feststellung wird weiter konkretisiert. Im Falle seiner Frau wird auf die Diskrepanz zwischen den Anstrengungen am Beginn der Beziehung und den jetzt beobachtbaren Zeichen der Zuneigung hingewiesen (vgl. RvB, V.  24754). In Bezug auf seine Herrschaft wird die Pflicht des Landesherrn zur Pflege der Besitztümer hervorgehoben. Ausdrücklich wird von Ländern der ir pflegent (RvB, V. 24759) gesprochen, Ländern, die sich also unter seinem Schutz befinden, auf sein Eingreifen angewiesen sind und ihn in die Pflicht nehmen können, sich bezzer (RvB, V. 24758) als derzeit zu kümmern. Dass kein anderer außenpolitischer Erfolg diese Verpflichtung außer Kraft setzt oder sekundär werden lässt, zeigt sich durch die Voranstellung, ob alliu kristenlîche rîch/iuch eine wæren undertan (RvB, V. 24756f.). Durch die Miss­ achtung dieser Gesetzmäßigkeiten riskiere er, Land, Frau und Kind zu verlieren. Verdeutlicht wird das durch die Erwähnung der Ringe, die Yrkâne ihm als Symbol der Bindung mitgegeben hatte und die nun als aufs Spiel gesetzter Einsatz seines Handelns benannt werden (vgl. RvB, V. 24760f.). Am Ende dieser Erklärung steht als abschließende, die Schuldzuweisungen bekräftigende Wertung daz stât niht wol (RvB, V. 24761). Daraufhin geht der Text näher auf die Verzweiflung Yrkânes ein, die erneut der Gegenüberstellung von angemessenem Handeln und Reinfrieds defizitärem Verhalten dient. Reinfried erhält Verantwortung für deren augenscheinlich misslichen Zustand.352 In Verbindung zu den daraufhin erwähnten Opfern Yrkânes

352 Ihre jâmmerlîche[] pîn (RvB, V.  24766) könne man stets – all stunde (RvB, V.  24762)  – beobachten. Die Schönheit ihrer Augen werde vom ständigen Tränenfluss gebrochen, Reinfried zerstöre seine vormals über ihre äußerliche Erscheinung ausgezeichnete Ehefrau (die unzähli-

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zu Beginn der Beziehung kommt es zur ermahnenden Schilderung des wünschenswerten Verhaltens: sî solte baz geniezen/gên iuch der hôhen triuwe (RvB, V.  24770f.). Konjunktiv und Komparativ markieren die Überlegenheit des angemessenen Zustands gegenüber dem Ist-Zustand. Yrkâne erhält den ihr zustehenden Lohn für ihr Verhalten nicht; Reinfried vergilt ihre Treue nicht im rechten Maße.353 Die sich anschließenden Berichte der Trauer Yrkânes versuchen, neben dem ,triuwe‘-Diskurs auch eine emotionsbasierte Argumentation für die Intention des Briefes in Anschlag zu nehmen. Eingeleitet von einem Ausdruck des Mitgefühls und der eigenen Verzweiflung und Hilflosigkeit der Sprecherstimme (ei got, RvB, V. 24776)354 wird auf die sowohl seelisch als auch körperlich zu verstehende Not (vgl. RvB, V.  24779),355 sowie auf typische Trauerexpressionen verwiesen.356 Die Sprecherstimme, die selbst eine Reaktion auf das Leid Yrkânes zeigt, verfolgt eine anschauliche Darstellung des Leids und dessen Mitgefühl evozierenden Wirkung auf den Betrachter, die so vielleicht auch den Empfänger anzustecken vermag. Wenn in diesem Argument auch Yrkâne die zentral leidtragende Figur ist, so spricht der Brief kurz darauf von ir nôt und unser (RvB, V.  24783), wodurch das Leid des Sprecherkollektivs direkt neben die soeben beschriebene Qual der Königin gestellt wird. Beenden kann der Adressat dies, wie nun erneut erwähnt wird, indem er ins Land zurückkehrt (vgl. RvB, V. 24784–24788). Hier nun nimmt auch die Stimme des Braunschweiger Briefes einen bittenden Ton an, bettelt darum, dass Reinfried ihr bitten mit flêhelîchen sitten (RvB, V.  24786) erhören solle. Die Sprecherstimme ordnet sich dem Angesprochenen unter, gestaltet die zu Beginn so forsch zum Ausdruck gebrachte Forderung zum eigenen, persön-

gen Passagen, in denen Yrkâne als überaus schön und ästhetisch anziehend beschrieben wird, sind hier nicht einzeln aufzuführen. Exemplarisch verwiesen werden kann jedoch auf die initiale Vorstellung der Figur durch die Botenrede am Braunschweiger Hof, in der besonders von den optischen Vorzügen Yrkânes geschwärmt wird [vgl. RvB, V. 192–233, 380–402]). 353 So als sie – wie extra erwähnt wird, – ihr Heimatland, die Krone sowie all ihre Leute zurückließ, um mit ihm zu ziehen (vgl. RvB, V. 24772–24775). 354 Hier ist nochmals zu verweisen auf die bei Lechtermann herausgearbeitet Relevanz der Sprecher-Affizierung in der rhetorischen Tradition (vgl. Anm. 4/155). 355 Diese könnten laut Darstellung sogar zu ihrem Tod führen. Das Konditionalgefüge ob ir sî niht enbindent/mit iuwer kunft […] si schiere tôt/lît (RvB, V. 24778–24780) macht deutlich, dass Reinfried allein in der Verantwortung für das Leben oder Sterben Yrkânes steht. 356 Hier werden Handlungen beschrieben, die als Emotionsexpressionen für ,Trauer‘ codiert sind. Typische mittelalterliche (weiblich konnotierte) Trauergesten sind z.  B. Haarereißen, Händeringen, auf die Brust Schlagen, zu Boden Werfen, Tränen (vgl. Eming, Emotion, S.  95). Der Brieftext erwähnt neben dem übermäßigen Weinen (s. o.) das Ringen der Hände (vgl. RvB, V. 24776f.).

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lichem Leid entspringenden Herzenswunsch um, dessen Erfüllung allein in der Hand des Fürsten liegt. Reinfried wird (auch hier) zu einer Art Erlöserfigur erhöht (s. Kap. 4.3.2, s. u.), was zugleich an das initial angesprochene Ehrgefühl appelliert, der zugesprochenen Rolle gerecht zu werden. Wenn die bisherigen Schilderungen Reinfried nicht umzustimmen vermögen, so doch vielleicht – so die der nächsten Passage unterstellbare Strategie  – die Sorge um seine Reputation. Seine Rückkehr, steigt der Text in diese Argumentationslinie ein, bedeutet die Vermehrung von sælikeit (RvB, V. 24789) sowohl für den Fürsten selbst als auch für das Sprecherkollektiv – für Volk und Vertraute – (vgl. RvB, V. 24788). Denn in allen tiutschen rîchen treit kein einic man so hôhen prîs als ir, wan ritterlîcher flîz hât iuch daz errungen. von alten und von jungen hœrt man daz offenlîchen sagen. sô lebet ouch bî disen tagen kein fürst sô rîch an guote, an liut an friund an mâge (RvB, V. 24790–24799)

Der Empfänger wird wie in einer nachgeholten captatio benevolentiae angepriesen, ihm sein perfekter und ehrlich erworbener Ruf vor Augen geführt. Doch diese Preisung erhält eine Einschränkung, die – angeschlossen mit wan (RvB, V. 24800) – das ideale Bild trübt. Diese Einschränkung wiederholt den vorherigen Punkt, besteht sie doch darin, dass Reinfried sich Zeit lässt, um zu den ,Seinen‘ (vgl. RvB, V. 24801) zurückzukehren. Sein Fernbleiben wird durch den Begriff fliehent (RvB, V. 24802) mit einem Ausdruck belegt, der impliziert, Reinfried bleibe gewollt fern. Da dieses Verhalten auch ein schlechtes Licht auf Freunde und Verwandte wirft, rekapituliert die Sprecherinstanz das bisher Gesagte mit diu sache tuot uns allen wê (RvB, V. 24803). Reinfrieds Fernbleiben schmerzt nicht nur Frau und Verwandte, sondern schadet dem eigenen Ruf und dem des Landes. Bevor der als werder helt gehiure (RvB, V. 24810) respektvoll Angesprochene abschließend direkt aufgefordert wird, zum Ursprungsort der Botschaft (har, RvB, V. 24811) zu kommen, wird der Fokus noch einmal zurück auf die Ehefrau und ihr Leid verschoben (vgl. RvB, V. 24804–24809). Die Argumentationslinie führt also von der einleitenden These, dass Reinfrieds Verhalten seinen Tugendansprüchen nicht gerecht wird, zunächst über die zu befürchtende Gefahr des Ehrverlusts zum Bruch des reziprok versprochenen Treuehandelns gegenüber Yrkâne, zu den unerfüllten Pflichten des Landesherrn und den damit gefährdeten Rechten als Ehemann, Vater und Fürst, um dann

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nochmals auf das emotionale Leid der Königin einzugehen. Als Lösung aller Probleme wird mit einem impliziten Appell Reinfrieds Rückkehr dargestellt, bevor das Schema zugespitzt wiederholt wird. Dabei wird der drohende Ehrverlust dem ansonsten tadellosen Ruhm des Helden gegenübergestellt, der Imageschaden des Landes angesprochen und schließlich erneut auf die leidende Ehefrau rekurriert, um dann – dieses Mal in direkter Bitte und mit imperativischer Formulierung – zur Rückkehr aufzufordern. Aufgefangen wird der harsche Ton nicht nur in respektvollen Adressen und Versprachlichung einer generellen Wertschätzung, sondern auch in der äußerlichen Aufmachung des Briefes, die mit dem Auge erfassbarer erster Ausgangspunkt der Wahrnehmung des körperlich absenten ,Gegenübers‘ in der räumlich zerdehnten Kommunikationssituation ist.357 In den meisten Textpassagen spielt die Materialität der Briefe gar keine Rolle,358 hier jedoch findet die Versiegelung in Silber Erwähnung (vgl. RvB, V.  24813–24815).359 Die äußere Form verbürgt optisch einerseits Herkunft und Geheimhaltung, weist andererseits auf die Wertschätzung des Empfängers hin. Beides wiederum verweist auf die Relevanz des Inhalts. Die Äußerlichkeit des materiellen medialen Objekts stellt sich hier als vermittelndes Element der persuasiven Botschaft dar, das dem Empfänger die Wertschätzung durch den Absender und die Relevanz der darin zu findenden Informationen bereits vor der Lektüre deutlich macht und damit Funktionen einer captatio benevolentiae übernimmt. Die Reaktion Reinfrieds auf diese deutlichen Worte ist eigenartig. Er versinkt stundenlang in Gedanken (vgl. RvB, V. 24818), woraufhin er außerdem eine Beratung mit seinen Rittern benötigt, um zu beschließen, in die Heimat aufzubrechen.360 Sein eigener Gedankengang bleibt verborgen, nur von der Freude

357 Vgl. Fix, Textwelten, S. 331. Der konkreten Materialität der Schrift oder des Schriftträgers muss unter der Annahme, dass in der bewussten oder unbewussten Gestaltung bestimmte Interpretationsstützen bezüglich des Kontextes und der Intention der Verschriftlichung geschaffen werden, eine solche Bedeutung beigemessen werden. 358 S. für einzelne Ausnahmen, in denen im Brieftext oder in der Darstellung des fernkommunikativen Prozesses die Materialität erwähnt wird, Anm. 4/234; 4/359; s. für die Stellvertreterfunktion der Briefmaterialität Kap. 4.3.1. 359 Die Erwähnung der Versiegelung betont Sicherheit und Authentizität, indem sie die Möglichkeit einer Brieffälschung zugleich aufruft und zurückweist. Vgl. die Interpretation von Siegel­ erwähnungen als Hinweis auf das Problem möglicher Brieffälschung bei Wand-Wittkowski, Briefe, S. 40f.; Martschini, Schriftlichkeit, S. 294f., 311. Letztere macht auch auf die repräsentative Funktion schmückender Siegel aufmerksam . 360 Da sie in freudiger Erwartung der Rückkehr in die Heimat nach dreieinhalb Jahren rieten al die heinvart (RvB, V. 24823), entschließt er sich, in Richtung Heimat aufzubrechen.

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seiner Begleiter wird an dieser Stelle gesprochen.361 Im Sinne des dominanten Forschungsdiskurses ließe sich sein Zögern mit dem ihn noch immer gefangen haltenden Einfluss der curiositas362 erklären; auf Grundlage der Beobachtung der überwältigenden Wirkung des zuvor rezipierten Minnebriefes (s. Kap. 4.3.2) und der gleichfalls apathischen Reaktion auf Yrkânes Hilfsgesuch (s.  u. sowie Kap.  4.3.3) drängt sich aber auch emotionale Überforderung als Grund seiner schleppenden Reaktion auf. Dem rhetorischen Vorgehen des Briefes lässt sich weder Vagheit bezüglich der Intention noch ein Mangel an schlüssigen und effektvoll zusammengestellten Argumenten attestieren. Der an Reinfried adressierte Rückholversuch komponiert eine involvierende Mischung aus leitmotivisch eingeführtem Vorwurf, Erhöhung und Idealisierung, Mitleidsevokation sowie Appell an das Ehrempfinden des Adressaten unter Verweis auf dessen Verantwortung für Ruf und Wohlbefinden bestimmter Personen sowie des gesamten Landes. Gleichfalls auf der Grundlage persönlicher Bindungen, aber mit einer anderen, ebenso versierten rhetorischen Strategie argumentiert der briefliche Hilferuf im ersten Teil des Reinfried von Braunschweig in der Auseinandersetzung mit dem hoffnungslos und unglücklich in Yrkâne verliebten Ritter.363 Der Brief, den Yrkâne heimlich zu Reinfried bringen lässt, ist ebenso wie ihr späterer Minnebrief (s. Kap. 4.3.2) der Darstellung einer Affizierung der Senderin gewidmet. Durch die private Lektüre und die damit einhergehende Schaffung eines geheimen Kommunikationsraumes364 sowie den Rückgriff auf dieselben Nähe evozie-

361 [F]rœlîch ir aller herze schein/von der widerkêre./sî dûhte daz sî êre/dâ hetten genuoc errungen (vgl. RvB, V. 24830–24833). Ob Reinfried derselben Meinung ist, wird nicht deutlich. Doch immerhin vermag er eine Unterbrechung der bis dahin rastlosen Abenteuerfahrten des Protagonisten auszulösen und Reinfried zum reflektierenden Ruhen zu bewegen. 362 Zu den jeweiligen Forschungspositionen zur curiositas s. die Literatur in Anm. 2/113. 363 S. für den Kontext Anm. 4/10; 4/11. 364 Schrift eröffnet die Möglichkeit der privaten Lektüre und ermöglicht damit Intimität in der Fernkommunikation. Es ist davon die Rede, dass Reinfried später selbst mit sîner hende (RvB, V. 7508) den Brief öffnet und ihn auch allein für sich liest. In dieser Formulierung wird nicht allein ein zerdehnter Kontakt mit Yrkâne über die durch diese hervorgebrachte Schrift hergestellt, sondern über die Erwähnung der Hände, die diesen Schriftträger halten, auch eine konkrete physische Verbindung aufgebaut, eine angesichts der räumlichen Distanz größtmögliche Nähe und ein gemeinsamer und exklusiver Kommunikationsraum, in den nur Reinfried und Yrkâne eintreten. Dort können Sachverhalte mitgeteilt werden, die zu privat sind, um sie öffentlich mündlich vortragen zu lassen, deren anspruchsvolle Form und sorgfältige Gestaltung vielleicht aber auch eine wortgetreue Übermittlung fordert, welche nur eine materielle Festigung, wie sie durch Schrift möglich ist (s. Kap. 4.1.2), realisieren kann. Beides ist für Yrkânes Hilfsgesuch anzunehmen. Die Aufteilung von Adressat und geliebtem Helden im Brieftext signalisiert ein Bewusstsein darüber, wie prekär das Liebesverhältnis von Reinfried und Yrkâne ist.

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renden Mittel (s. u. sowie s. Kap. 4.3.2) ließe sich auch eine Zuordnung als Minnebrief rechtfertigen; in Anbetracht der Notlage und der Hoffnung auf Motivierung eines Fürstreiters, mit der Yrkâne den Brief verfasst, soll die Vermittlung von Emotionalität aber in erster Linie als persuasive Strategie betrachtet werden.365 Yrkâne nutzt die Anwesenheit eines Boten vom Braunschweiger Hof, um heimlich Mitteilung über ihre Notsituation zu machen. Seine Botschaft ist – wie bereits dargestellt wurde (s. Kap. 4.1.2) – informationshaltig genug, um Reinfried zu unterrichten und zum Einschreiten zu bewegen. Dennoch beschließt Yrkâne: ich wil dir schrîben einen brief an den lieben herren dîn, daz er sîn êre und ouch mîn fröude sô behüete mit helfeclîcher güete (RvB, V. 7236–7240)

Sie glaubt also, dass die briefliche Nachricht Reinfried zur Hilfe motivieren kann.366 Bei der Rezeption des Briefes zeigt sich schließlich auch, welchen Beitrag der wohlkomponierte Brieftext zu leisten vermag. Der Text des Hilfsgesuchs führt neben der Entfaltung eines schriftlichen Privatraums, innerhalb dessen Emotionalität expliziten Ausdruck finden kann (s.  o.), die Präzision, die schriftliche Textkomposition erlaubt und die einer spontanen mündlichen Aussage oder vermittelten Wiedergabe des Sachverhalts verwehrt ist, vor. Der Brief ist formal durchgestaltet, die einzelnen Worte wirken gewählt und gezielt kombiniert. Dazu zählt der Wechsel zwischen der Beschreibung des Geliebten und der Beziehung zu ihm in der dritten Person – also im monologischen Stil, wie er für den Beginn des Minnebriefs und den Brief Diomenas herausgearbeitet wurde (s.  Kap.  4.3.2) – und der gesprächsnah gestalteten Aufforderung an den in zweiter Person adressierten Empfänger Reinfried, Hilfe zu leisten.367 Außerdem hat die Zuschreibung bestimmter Rollen, wie z. T. auch

365 Ebenso ließe sich das Vorgehen im Minnebrief als persuasive Strategie thematisieren, da dort die Intention die Überredung zur Rückkehr ist. Wegen des Eingangs, der vor allem der Reflexion des Verschriftlichens und Vermittelns von Emotionen und damit auch der Zeichnung des Gefühlshaushaltes der Senderin dient, und aufgrund der Stilisierung des Briefes als Kuss (s. jeweils Kap. 4.3.2), überwiegt in der hier getroffenen Zuordnung der Aspekt der Emotionsvermittlung. Beide Briefe verbinden die hier voneinander getrennt betrachteten Funktionen. S.  dazu auch die Anm. 4/332; 4/334; 4/342. 366 Die dabei angesprochene Intention, Reinfried dazu zu bewegen, im Namen seiner Ehre und ihrer Freude aktiv zu werden, wird direkt mit dem Brief in Verbindung gesetzt (daz, RvB, V. 7238). 367 Sie schreibt von einem Freund (vgl. RvB, V. 7587), den sie konsequent in der dritten Person beschreibt, aber einmal zwischendurch und am Ende in der zweiten Person direkt adressiert (vgl.

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in dem soeben betrachteten Brief aus Braunschweig beobachtet, Relevanz in der Bewältigung der zentralen Herausforderung, Verantwortung zu- und Schuld gleichzeitig abzusprechen, Dringlichkeit zu vermitteln, ohne Zweifel am Vertrauen in den Empfänger zu zeigen. Der monologartige, auch an ein Gebet erinnernde368 Gestus, durch den ein unmittelbarer Einblick in die Gefühle der Senderin suggeriert wird (s.  Kap.  4.3.2), bestimmt den Brieftext. Er ist vielleicht der geheimen Natur der Beziehung geschuldet, verleiht aber vor allem den Inhalten besondere Authentizität, wodurch sich sowohl die positive Wirkung der lobenden und preisenden Worte als auch die Eindrücklichkeit des Leids verstärkt. Es wirkt so, als hätte Yrkâne – wie der Bote angekündigt hatte – irn willen (RvB, V. 7491) direkt in dieses Schriftstück übertragen. Der Authentizitätsgewinn gilt nicht ausschließlich für Zuneigungsbekundungen gegenüber der anonym bleibenden und nur assoziativ mit dem adressierten Empfänger in eins zu setzenden369 Instanz. Dieser wird durch die Ansprache mit werder helt gehiure (RvB, V. 7540) und friuntlîch friunt (RvB, V. 7588) sowie der Zuschreibung ritterlicher Tugenden und Qualitäten – êren (RvB, V. 7594), hôhe[] werdekeit (RvB, V. 7895), Trost spendenden Einsatz für die Ehre der Frauen (vgl. RvB, V. 7541–7543) – zunächst durch einen Blick von außen präsentiert, der nicht nur dem authentischen Empfinden der Sprecherstimme, sondern auch der Wahrnehmung einer objektiven Öffentlichkeit zu entsprechen

RvB, V. 75440–7543, 7588–7598; s. Anm. 4/332; dazu auch Anm. 4/333). Den Wechsel bemerkt in ihrer Analyse auch Martschini, die den Gebrauch der distanzierten Höflichkeitsform dahingehend deutet, dass „sie sich Reinfrieds noch nicht völlig sicher ist“ (Martschini, Schriftlichkeit, S. 393). Sie versuche gleichzeitig, sich höflich und korrekt zu verhalten und den Angesprochenen emotional zu erreichen (vgl. ebd.). Dreher hingegen betont, dass der wechsel in die zweite Person dann erfolge, wenn der Rezipient aufgefordert werde, dem Boten zuzuhören. Dadurch sei es ihr möglich, Apell und Darstellung ihrer Gefühle zu trennen und den Eindruck ihrer „words of affection“ zu intensivieren (vgl. Dreher, Enclosed Letters, S. 175). 368 Die Stimme erwähnt zu Anfang des Brieftextes, ihre Schmerzen Gott klagen zu wollen (vgl. RvB, V. 7520–7523). Das ließe sich auch als Anheben zu einem Gebet lesen, in dem sie Gott von ihrem Leid und ihren Hoffnungen bezüglich ihres Geliebten berichtet. Dass Gebete und Minnebriefe eine ähnliche narrative Funktion wahrnehmen, indem sie ein authentisches Bild des Inneren einer Figur auszugestalten versuchen, wird im Vergleich mit den Gebeten, die in Kap. 6.2.1 besprochen werden, deutlich. 369 Es ist zugegebenermaßen recht leicht, beide Entitäten auf der Textgrundlage zusammenzubringen (s. Anm. 4/332).

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scheint.370 Diese Außenperspektive animiert dazu, diesem überaus positiven Bild von sich selbst entsprechen zu wollen und gemäß dieser Ambition zu handeln. Der Wechsel von dieser Ausdrucksweise zur Ansprache in der zweiten Person hat auf dieser Grundlage eine besondere Wirkung. Das Sprecher-Ich wendet sich direkt an den Empfänger, um sich dann zu ermahnen, dass dies gar nicht notwendig wäre, da jener sicher richtig handeln werde. Es fordert den werde[][n] helt gehiure im Imperativ auf, sein Leid zu beenden (RvB, V. 7540–7543), stellt dann aber sich selbst fast beschämt die Frage: wes man ich in? (RvB, V. 7544). Es wisse doch, dass er genau das ihm zuliebe tun werde (vgl. RvB, V. 7544f.).371 Die Senderin scheint sich direkt an ihren Helden, auf dem so viele Hoffnungen ruhen, wenden zu wollen,372 fällt dann jedoch zurück in den ,Gedanken-Gestus‘, um zu verdeutlichen, dass sie eine direkte Aufforderung in dieser Form eigentlich nicht für nötig halte, da sie auf sein hilfreiches Eingreifen ohnehin vertraue.373 So wird es möglich, Reinfried explizit aufzufordern, die Notwendigkeit einer Aufforderung aber gleichzeitig zurückzunehmen und sein Ehrgefühl und seine Liebesverpflichtung zugleich vorauszusetzen und anzusprechen. Zur wirksamen sprachlichen Komposition des Briefes gehört ebenso die Verbindung von Leid und Bedrohung des Sprecher-Ichs mit dem auch hier zum Erlöser stilisierten Adressaten (s. Kap. 4.3.2; s. o.). Denn diesem allein wird die

370 Den Effekt, eine Draufsicht auf eine Figur zu kreieren, indem in der dritten Person von ihr gesprochen wird (auch wenn eigentlich der Sprecher von sich selbst redet oder auf den Angesprochenen verweist), beschreibt Schnyder auch für den Liebesbrief, den Lavinia an Eneas schickt und in dem sie konsequent die dritte Person verwendet, wenn sie eigentlich von sich spricht (vgl. Schnyder, Imagination, S. 245). 371 Da sie durch den Nachsatz die Bitte gegenüber dem in der dritten Person beschriebenen Helden als identisch mit der Bitte an den Adressaten kennzeichnet, wird spätestens an dieser Stelle deutlich, dass das ,Du‘ des Helden mit dem ,Er‘ des Geliebten übereinstimmt. 372 Damit enthüllt das Sprecher-Ich auch, dass ihm die Anwesenheit des Empfängers als Ansprechpartner trotz der vermeintlich unbeobachtet gedachten und unmittelbar auf den Schriftträger übertragenen Empfindungen, bewusst ist und es sich bei dem Schreiben in der dritten Person um eine Inszenierung des Gedanken-Gestus handelt. Das Bewusstsein Yrkânes, eine Botschaft zu verfassen und nicht einfach Gedanken zu verschriftlichen, wird am Ende des Brieftextes exponiert, wenn die Sprecherstimme auf die Verknüpfung der Botschaft mit dem Botenwort und die Überbringung des Briefes durch den Boten (vgl. RvB, V. 7589–7592) verweist und daher die Intention, Reinfried diese Worte zukommen zu lassen, sowie auch die Intention des Hilfsgesuchs eindeutig offenbart. 373 Die Stimme erwähnt an anderer Stelle ähnlich: ich gezwîfel niemer nicht,/er helfe mir (RvB, V.  7534f.); wie möht sîn helfe mich gelân (RvB, V.  7567); ich weiz […] mir wirt helfe schîn (RvB, V. 7552f.); ich gezwîvel niemer,/sîn vil ritterlîcher muot/mich nâ jâmer grœlich tuot (RvB, V. 7582– 7586). Vgl. die ähnlich ausfallende Beobachtung dieses Schwankens bei Martschini, Schriftlichkeit, S. 393f.

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Macht zugesprochen, dem bedrängten Sprecher-Ich zu helfen. Eingangs assoziiert die Stimme einige in Reihe aufgezählte und in ihrer Gesamtheit ambivalente Gefühle, die sie iemer (RvB, V. 7512) zu tragen habe – Liebe, Leid, Trost/Hoff­nung, Sorge, Freude und Trauer (vgl. RvB, V. 7511) – mit demjenigen, der ihr Herz besitzt. Sie installiert bereits zu Beginn eine unkappbare Verbindung mit dem potenziellen Helfer; noch im selben Satz gesteht sie die Angewiesenheit auf sein Eingreifen ein. Ihr Leben, ihre Ehre und Zuversicht hingen vom trôst (RvB, V. 7514) desselbigen, und zwar – wie es heißt – nur dieses einen (vgl. RvB, V. 7516f.) ab.374 Während die Empfängerperson mit Trost, Hoffnung und Hilfe verbunden wird, zeigt sich das eigene Sprecher-Ich mit Leid und Qual implizierenden Begriffen verknüpft.375 In der einzigen Formulierung, in der das Sprecher-Ich sich eindeutig als Yrkâne präsentiert, wird deren misslicher Zustand auf den Punkt gebracht: ich sorgen rîch Yrkâne/und arm an hôchgemüete (RvB, V. 7526f.). Diese Konstellation kehrt am Abschluss des Briefes wieder, wobei nun der Adressat des Briefes direkt als derjenige, von dem alles abhängt, angesprochen wird: Ihr […] kumberlîchez leit mac nieman verenden noch âne dich erwenden.’ (RvB, V. 7596–7598)

Die Verantwortung, ihr beizustehen, wird auf die Person des Empfängers zen­ triert; sich dieser zu entziehen, scheint kaum möglich.376 Subtil wird die Bitte um Hilfe zu einer unbedingten Verpflichtung. Diese ist umso eindringlicher, als der Brieftext zu Beginn erwähnt, der Geliebte habe eine

374 Diese Eingrenzung der möglichen Helfer auf eine Person ist innerhalb des Textverlaufs mehrmals zu beobachten. So ist es sînes herzen pfliht (RvB, V. 7532), mit der ihre Liebe, ihre Freude und ihr Leid stehen oder fallen, und so gerät er in die Position des Erlösers (vgl. RvB, V. 7576– 7587). Auch wird ihr Glück weiter mit seinem trôst verbunden (vgl. RvB, V. 7531, 7541, 7571, 7575). 375 Sie leidet smerzen (RvB, V. 7520), muss leit bî strenger nœte tragen (RvB, V. 7524), hat sorgen (RvB, V. 7529) etc. (vgl. RvB, V. 7537, 7538, 7553, 7596, 7576, 7586). 376 So sieht das auch die Sprecherstimme, die wiederholt der festen Überzeugung, der heldenhafte Ritter werde ihr zweifelsfrei helfen, Ausdruck verleiht. Dabei stilisiert sie mit der Aufzählung der einzig denkbaren Gründe, dieser Maxime ehrenhaft entgegen zu handeln – eine eigene konkrete Notlage oder sein Tod (vgl. RvB, V. 7554–7557) – unterlassene Hilfe zum Zeichen unerwiderter Treue (vgl. RvB, V. 7576–7581). Gerade an dieser Stelle führt das Sprecher-Ich erneut die emotionale Verbindung ins Feld. So könne es sich nicht vorstellen, dass der Mann, dem es all seine Liebe geschenkt habe, und der die Zuneigung täglich neu aufleben lasse, seine Hilfe versagen würde (vgl. RvB, V. 7556–7571). Weiter im Gestus des Gedankenberichts wird eine Erwartungshaltung aufgebaut, die der Empfänger keinesfalls enttäuschen darf, wenn ihm die Achtung des Sprecher-Ichs wichtig ist.

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Rolle in der Entwicklung der bedrohlichen Situation gespielt. Die Notlage sei an und für sich grundelôs[] (RvB, V. 7520) erklärt das Sprecher-Ich, es erdulde diese jedoch von im ân al sîn schulde (RvB, V. 7522). Diese Formulierung entschuldigt die erwähnte Person und erhebt diese über jeglichen Verdacht unehrenhaften Verhaltens, verbindet sie aber auch mit der Notlage des Sprechersubjekts und nimmt den Empfänger ohne eine direkte Ermahnung oder einen Vorwurf geschickt in die Verantwortung, sich um die Auflösung der Problemlage zu kümmern. Das evozierte Pflichtgefühl untermauert in der Mitte des Briefes zwischen der Bekundung der Zuneigung und dem Ausdruck der Erlösungsgewissheit eine allgemeingültige Lebensweisheit, die diese beiden Aspekte – Zuneigung und Hilfsbereitschaft  – zusammenführt und indirekt das erwartete Eingreifen als Möglichkeit, Zuneigung zu erwidern, definiert: [A]n der nœte schouwen/sol man den bewærten frünt (RvB, V. 7550f.). Diese durchweg geschickt kombinierten Botschaften, die die Sympathie Reinfrieds für Yrkâne, sein Ehr- sowie sein Pflichtgefühl ansprechen, kumulieren am Ende in einem konkreten Appell an den wiederholt im Brief adressierten ritterlichen Mut, an die heldenhafte Ehre und Würde des Empfängers. Diese sollen seine Entscheidung letztlich leiten: […] tuo als ez dîn muot vernimt, daz dînen êren wol gezimt und dîner hôhen werdekeit (RvB, V. 7593–7595)

Nach Gestaltung der Nachricht gibt es da jedoch nicht viel zu überlegen. Eine Absage wäre nur unter Gesichtsverlust möglich. Der Brief fungiert, wie später auch durch eine Bemerkung der Erzählinstanz zum Ausdruck gebracht wird,377 als Mahnung an die Verpflichtung, die aus Verbindung von Sender und Empfänger erwächst. Dass der Brief es schafft, in seinem Gestus diesen Umstand so zu formulieren, dass er beim Lesen primär den Eindruck der Zuneigung der Königstochter hinterlässt, beruht auf der geschickten Konstruktion des Brieftextes, die sich mit den langen Gefühlsbekundungen an den Konventionen eines Minnebrie-

377 [E]r las den beiden von dem brief/den ime ûz grôzen sorgen tief/diu minnenclîche sante,/und wie sî in mante/friunlîcher trûtschaft dâ bî (RvB, V. 7782–7785).

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fes (s.  Kap.  4.3.2) orientiert und – ganz im Sinne der Minnebrieftradition – die konkreten Details der Mitteilung auf die Botenfigur auslagert.378 Die einschlägige Wirkung dieses so gestalteten (und perfekt auf die Kombination mit der Botenrede, s. Kap 4.1.2, abgestimmten) Briefes erweist die Gestaltung als erfolgreich. Reinfrieds Herz und Verstand sind nach der Lektüre wie gelähmt, seine Gliedmaßen erschlaffen und seine Komplexion wechselt zwischen erbleicht, errötetet und ,ergrünt‘ (vgl. RvB, V. 7600–7606). Er reagiert also in höchstem Maße affiziert und kann sich zuletzt auch einer tatkräftigen Reaktion nicht entziehen. Auch dieser Brieftext veranschaulicht somit das mediale Potenzial der kompositorischen Möglichkeiten, die der schriftlichen Form der Fernkommunikation vorbehalten sind.379 Zeugen die Beispiele aus dem Reinfried von einer Aufforderung und Bitte gegenüber einem Vertrauten, so muss das folgende Beispiel aus dem Apollonius die Hilfsbedürftigkeit ihrer Absender besonders eindrücklich vermitteln, um das notwendigen Einschreiten des Empfängers herauszufordern. Dort gilt es, an einen Fremden heranzutreten, um um Unterstützung zu bitten. In der Nachricht380 geht es dem bedrohten Sender, König Paldein, nicht darum, in einer Weise zu schelten, die das Gegenüber das Gesicht wahren lässt und bestehende Verpflichtungen aktualisiert, sondern ein Gefühl von Zuständigkeit dort zu erzeugen, wo noch keine persönliche Beziehung besteht. Dieser Brieftext versteht es,

378 Mayser beobachtet in seiner Auseinandersetzung mit eingelegten Minnebriefen, dass diese meist keine oder keine primär mitteilende Funktion haben (Mayser, Brief, S. 144). Auch Brackert, der dessen Argumentation und Wertung der Briefeinlage im Sinne eines Aufstiegsund Verfalls-Modells durchaus kritisch gegenübersteht, bestätigt, dass Minnebriefe häufig keine Mitteilungsfunktion besitzen, sondern primär aus triuwe- und dienest-Formen bestehen. Am Beispiel des Willehalm von Orlens sei beobachtbar, wie die Liebenden sogar davor zurückschreckten, einen Brief mit dringlichen Neuigkeiten zu belasten. Die drohende Verheiratung Amelies verschweigt der Brief, allein der Bote berichtet dem Geliebten davon (vgl. Brackert, Minnebriefe, S. 10f.). Vgl. auch Martschini, Schriftlichkeit, S. 384–387, die aus diesem Befund ableitet, es könne sich bei Rudolfs von Ems Text um eine Sammlung von Musterbriefen für unterschiedliche Situationen einer Liebesbeziehung handeln (vgl. hier S. 388–390). 379 Die Festigkeit und Eindrücklichkeit des konstruierten Gebildes ist nur in dieser Form gewährleistet. Angesichts der sorgfältigen Gestaltung wäre ein Botenvortrag nur adäquat, wenn die Nachricht Wort für Wort auswendig gelernt und aufgesagt würde. Doch auch dann würde der Einfluss der Stimmfarbe den Eindruck, man sei hier Yrkânes Denken ganz nah, brechen. 380 Ähnlich wie im Bericht der Boten, die im Reinfried mit einer Turniereinladung vor den Dänischen und den Braunschweiger Hof treten (s. Kap. 4.2.2) ließe sich vermuten, dass es sich um eine Sammelnachricht auf der verzweifelten Suche nach Unterstützung handelt. Im Verlauf des Textes werden die werden Tarsere (AvT, V. 3026) und ihre Stärken (vgl. AvT, V. 3026–3030) jedoch direkt angesprochen. So sind zumindest bestimmte Teile des Schriftstücks spezifisch auf den Empfänger zugeschnitten bzw. leicht zuschneidbar.

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durch die Addition von Anreizen auf unterschiedlichen Ebenen, die auf Brüche in der Sprecherinszenierung zurückgehen, zum Einschreiten zu animieren. Das Hilfsgesuch des Königs Paldein, das Apollonius in Tarsis erhält, beginnt mit den wichtigsten Eckdaten: Zunächst benennt es sein Anliegen als öffentliche Bekanntmachung gegenüber einem unspezifischen ew (AvT, V. 2935). Nach Klarstellung des grundsätzlichen Briefanliegens wird der Urheber König Paldein (vgl. AvT, V. 2936) genannt, anschließend die Bekanntmachung spezifiziert und schließlich auch konkretisiert. Während die Erwähnung der Bekanntmachung noch nicht offenbart, ob diese positiver oder negativer Natur ist, wird spätestens bei der Nennung des ungefugen schaden (AvT, V. 2937) deutlich, dass es sich um eine Bitte um Hilfe angesichts einer großen Bedrohung handelt. Intensiviert wird die Vorstellung des Ausmaßes durch das angefügte Bild der sich vor Sorgen grau ver-, bzw. entfärbenden Haare (vgl. AvT, V. 2938) des Königs. Erst nach dieser einstimmenden Vorrede beginnt der Brief zu schildern, worin das Sorgen bereitende Problem besteht. Es folgt die kurze Erwähnung der Bedrohung durch Gock und Magock (vgl. AvT, V. 2939–2942), der sich Bitte um Beistand und die Ausschreibung einer konkreten Belohnung381 anschließen (vgl. AvT, V.  2944–2954). Trotz der genauen Vorstellungen über die Entlohnung erwähnt der Brief als weiteren materiellen Anreiz, dass dieser Lohn sich erweitern könnte (vgl. AvT, V. 2952). Nach der Darstellung aller relevanten Informationen auf bis dahin recht knappem Raum beginnt der Brief nun plötzlich auszuholen. Detailreich wird in einem Exkurs, der die vorherige Schilderung der Problemlage um das Dreifache übertrifft,382 die Gestalt und das Waffenarsenal der den König bedrohenden Völker beschrieben und mit der menschlichen Gestalt und Kraft verglichen.383 So kommt zum Ausdruck, welche Gefahr diese Völker darstellen; ihre Bedrohlichkeit wird ausgemalt, die Kreatürlichkeit hervorgehoben. Gleichzeitig wird aber auch das

381 Paldein bietet [z]ehen marck von golde (AvT, V.  2947) für einen gerüsteten Reiter, [f]unff marck (AvT, V. 2950) den Fußsoldaten. 382 Die Beschreibungen der Notlage und Bitten werden auch insgesamt immer noch um ein Drittel an Länge übertroffen. Die Einleitung und Schilderung der Notlage umfassen zusammen zwanzig Verse (V.  AvT, V.  2935–2955), die Monsterschilderung zweiundsechzig (AvT, V.  2956– 3018). Die sich am Ende anschließenden Worte zur Bedrohung der Tochter und die Bekräftigung und Ausdehnung des versprochenen Lohnes umfassen noch einmal neunzehn Verse (AvT, V. 3020–3039), sodass der Monsterbeschreibung insgesamt circa vierzig Verse gegenüberstehen, in denen um Hilfe gebeten und die Bedrohung erläutert wird. Dreher bezeichnet diese Passage gar als „narrative-within-the-narrative“ (Dreher, Enclosed Letters, S. 197). 383 Die Referenz stellt der Mensch mit einer Gesamtgröße von neun Fuß und einem starken, kräftigen Gang dar. Die Monster aber haben bereits Beine, die sechs Fuß lang sind (vgl. AvT, V. 1958f.).

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Bild faszinierender Mischwesen entworfen, das Interesse, wenn nicht Neugier, evoziert384 und neben der geschilderten Belohnung einen anderen Ansporn für eine Auseinandersetzung mit ihnen liefert.385 Abschließend kehrt der Brief zu der anfangs angesprochenen Bredouille des Königs und zur konkreten Bitte um Hilfe zurück. Dabei bringt der Text aber nun noch zwei neue Aspekte ein. Zum einen wird die zuvor auf allgemeiner Ebene geschilderte Bedrohung um eine persönliche Gefährdung ergänzt und

384 Die exzeptionelle Hässlichkeit und Widerwärtigkeit wird in einem Maße ausgebreitet, das ein Interesse an den Wesen fast zwingend hervorruft: Der mensch ist newn fusse langk/Und hatt ainen starcken gangk:/Ir pain langk wol sechs fuesß./Ir gestalt ist gar ungesuß:/Zwen fueß haben dy seitten./Sy en mügen nicht wol gereitten,/Sy mussen gar zu fussen gan./Sein leib ist ubelgetan:/Hoferott sind sy hinden und vor./Sy achselen stend in enpär./Sein antlutz recht als ein hundt:/ Weyt und Sunn ist in der mund,/Ane part so ist sein vel./Under den augen gruen und gel,/Dy augen tyeff, dy pra langk./Auß seinem munde get gestanck/Recht als auß ainem prifat./Lewen hewt ist ir watt./Sein har ist langk und rauch/Dunn schmal ist im der pauch./Des selben volckes stymme/ Ist unsuess und grymme/Ze gleicher weiß als ain wolff./Ir kunig haisset Lolff./Ir arme seind drey elen langk./An allen tugenden sind sy kranck./Ir harnasch der ist hurnein:/Da vor stend dicke scheybelein/Geschlagen auff dy leder vel./Sy seind zu fussen also schnell/Das in kain roß gefolgen mag./Es laufft nacht und tag,/Das es nymer mude wirt./Sein natur im das riett/Das sy wolff und hund/Und leutt flaisch zu aller stund/Essent für güete speyse./Es ist wild und unweyse./Sy trincken rosseine milch/Payde kald und willich./Er tregt ainen horenpagen:/Wen der wirt auff gezogen,/ So ist er dreyer elen weytt;/Der pfeyl der ane leyt,/Der ist wol vier ellen langk. Sy nahent manigem leib krangk:/Sy durchelent harnsch und plattern,/Ir pfeil kumen schir watten/Durch das flaisch und durch das werch:/Das ist alle tag ir werch./das ir helm solt sein,/Das ist ain haupt eysnein/ Mit nasen und mit mund./Geleich ainem hund/Redent dy posen schrantzen/Sy schissent mit den lantzen;/Mit sper und mit gaobelot/Tuent sy manigen den dot (AvT, V.  2958–3015). Solche Beschreibungen sind ebenso Ausdruck wie Ursache eines gesteigerten Interesses, von Faszination im emotionstheoretischen Sinne. Denn Faszination zeichnet sich vor allem durch Arretierung der Aufmerksamkeit, Bewertungsambivalenz und Attraktion aus (vgl. Baisch, Martin: Faszination im höfischen Roman. In: Machtvolle Gefühle. Hrsg. von Ingrid Kasten, Berlin, New York 2010 [Trends in Medieval Philology 24], S. 139–166, S. 151), resultiert damit hauptsächlich aus überraschender Exzeptionalität eines Phänomens und kann damit ebenso besonders schöne wie häss­liche Erscheinungen betreffen. Ist dieser Beschreibung auch intradiegetisch eine Funktion im persuasiven Gefüge nicht abzusprechen, so ist dennoch auch die Überlagerung der persuasiven Logik mit einer rezeptionsästhetischen Funktion der Narration nicht abzustreiten. 385 Ein anderer vermutbarer praktischer Grund dieser ausführlichen Darstellung wäre der einer Identifizierung des Gegners beim Aufeinandertreffen. Diese Vermutung wird jedoch im Brief selbst und auch durch den weiteren Verlauf kaum bestärkt. Sollte dies das Anliegen gewesen sein, so schlägt die Darstellung in dieser Hinsicht fehl. Denn auf der Anreise geraten Apollonius und seine Männer in einen erbitterlichen und auch verlustreichen Kampf mit Absolon, dem Verlobten Paldeins Tochter, der zwar eigentlich auf derselben Seite wie Apollonius kämpft, ihn jedoch mit Gock, Magock und Kolck verwechselt. Ebenso gesteht später Apollonius, er habe wiederum Absolon und seine Männer für ebendiese Völker gehalten (vgl. AvT, V. 3196–3366).

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für Figuren wie Apollonius besonders anschlussfähig gemacht. Eine neue Klage ankündigend (Nu lat euch das geklaget sein:, AvT, V.  3020), berichtet der Brief von dem Wunsch des ,Monsterkönigs‘, Paldeins Tochter Clara zu ehelichen (AvT, V.  2031f.), was angesichts der soeben geschilderten Gestalt und der Sitten des Volkes kaum im Rahmen des Akzeptablen liegt. Dass dies auch der König so empfindet, zeigt sich in der hyperbolischen Äußerung, die Vermählung würde des Königs Tod bedeuten (vgl. AvT, V. 3023–3025). Zum anderen werden die adressierten Tyrländer als mögliche Erlöser aus dieser Doppelbedrohung eingeführt. Mit schmeichelnden Attributen wie werde[] (AvT, V.  3026) streytpere (AvT, V.  3027), frech und kuene (AvT, V.  3030) verbunden, werden sie als hoffnungsstiftende Helfer konstruiert. Parallel zu der in der Einleitung verwendeten Formel des vor Sorgen ergrauenden Haares des Königs wird zur Verdeutlichung dieses Umstands nun erwähnt, welchen Effekt ihre Hilfe haben könnte. Sein Herz, so heißt es, wirt gruene/Ob ir mir zu hilffe kompt (AvT, V.  3031f.). Die äußeren Zeichen des Paldeinschen Kummers sind mit ihrer Hilfe ersetzbar durch ein Aufblühen und Hoffnungschöpfen des Herzen. Den Abschluss bildet eine Bekräftigung und Steigerung des versprochenen Solds im Falle ihrer Hilfe. Es ist nicht mehr wie zuvor von bestimmten Beträgen die Rede,386 sondern von der Entlohnung naeh ewr gir (AvT, V.  3039) aus den reichlichen Vorräten Paldeins (vgl. AvT, V.  3035f.). Den Brief beschließt somit der Ausdruck der Zahlungsbereitschaft in großzügigem und verhandelbarem Ausmaß. Inhaltlich versucht die Verknüpfung von Notlage, Besoldungsvorschlag und Monsterbeschreibung eine Bereitschaft zur Hilfe zu evozieren. Auf unterschiedlichen Ebenen wird der Wunsch zur Involvierung generiert: Die Beschreibung der Bedrohung des Landes und der Ehre von König und Tochter erwecken Hilfsbereitschaft aus Mitleid mit einem überforderten Landesherrn auf der einen, mit einem verzweifelten Vater auf der anderen Seite, das Lob befördert das zu verteidigende Ehrgefühl, die Erwähnung einer reichen Belohnung spricht materielle Interessen an und der ausführliche Exkurs zur monsterhaften Gestalt und Art der Bedrohung verstärkt nicht nur die beiden erstgenannten Anreize, sondern konstituiert außerdem in seinem faszinationsgenerierenden Potenzial einen eigenen Beweggrund. So sucht der Brief unterschiedliche Interessen, sich in einen Krieg zu begeben, anzusprechen und zu nutzen. Der Aufbau unterstützt dieses Vorgehen. Die Verbindung von Notlage und Belohnung wird zwei Mal variierend verwendet, indem zunächst das Schicksal des Volkes mit dem unspezifischen Versprechen einer Belohnung jedes Helfers und am Ende das Dilemma von König und Tochter mit einem spezifischen Hilfsgesuch gegenüber den Tyrer Bürgern mit einem noch

386 Auf dieses wird noch einmal mit deß soldes (AvT, V. 3037) rekurriert.

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gesteigerten Besoldungsangebot kombiniert wird. Beide Komplexe zusammen dienen wiederum als Rahmung des unterhaltenden, die Aufmerksamkeit fesselnden Monsterteils. Besonders hervor sticht stilistisch im Zusammenhang mit dieser variierenden Wiederholung inhaltlicher Aspekte die formal-sprachliche Gestaltung des Briefes, in der unterschiedliche Sprecherstimmen auszumachen sind, die die verschiedenen Aspekte des Hilfsgesuchs repräsentieren. Als Sprecher erscheint in der ersten Passage des Briefes einmalig ein später erneut auftauchendes, nicht benanntes uns (AvT, V. 2943, 3018). Diese Pluralform scheint auf die Boten zu verweisen, die den Brief überbringen, da die Sprecherstimme erklärt [e]r [der König] hatt uns her gesandt (AvT, V. 2943).387 Gleichzeitig kann dieses ,Boten-uns‘ im Text durch die semantische Unbestimmtheit die Gesamtheit der bedrohten Bevölkerung repräsentieren. Wenn die Sprecherstimme später zugibt uns vor in [den Mons­tern der Völker Gock und Magock] grausent (AvT, V. 3018), scheint sie mit dem Personalpronomen im Plural auf mehr als die anwesenden Boten zu verweisen. Die Sprecherstimme ist auf den Botenvortrag und die personale Präsenz der Boten ausgerichtet, repräsentiert aber gleichzeitig das hilfsbedürftige Volk, als deren Stellvertreter die Boten auftreten. Die angesprochene Notlage wird so über die Sprecherrollen im Text mit Personen verbunden, welche im Prozess der Rezeption als repräsentativer Teil eines ganzen bedrohten Volkes präsent sind. Doch es mischt sich zu diesem zweistimmigen uns noch eine dritte Instanz, die zunächst nur mittelbar, später auch unmittelbar in dem Brief erscheint. Direkt nach der einleitenden Inszenierung der Botschaft als öffentliche Bekanntmachung wird König Paldein (vgl. AvT, V. 2936) in der dritten Person als ihr Urheber dargestellt. Er düt pekant (AvT, V. 2935), gibt den nachfolgenden Sachverhalt bekannt. Wie bereits beim Brief Fontânâgrîs’ aus dem Reinfried von Braunschweig beobachtet (s. Kap. 4.3.1), bewirkt diese performative Konstruktion eine gewisse Präsenz des Senders im Brief. Im weiteren Briefverlauf lassen sich weitere performativ wirkende und an König Paldein zurückgebundene Formulierungen finden. Paldein

387 Der Moment der physischen Übergabe der Nachricht wird im Brieftext selbst repräsentiert und damit auch reflektiert (vgl. Schubert, der die Einleitung unter Rückgriff auf den Boten im Brieftext, insbesondere metaphorisierende Bezeichnungen des Briefes als Boten, als eine intentionale und reflexive Ausstellung der schriftlichen Form der Fernkommunikation interpretiert [vgl. Schubert, Love-Messages, hier insbesondere S. 46]). Der als Sender benannte König scheint die im Moment der Übertragung physisch anwesende Botenstimme zu ermächtigen, als Mittler sein Anliegen über räumliche Distanzen hinwegzutragen. Die Boten erhalten über den Text eine gewisse Autorität als im Sinne des Königs agierende, diesen vertretende Instanzen, was suggeriert, im Moment des Abfassens sei die Rezeptionssituation mitgedacht und bei der Textkonzeption berücksichtigt worden.

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pitt (AvT, V. 2944), gibt (AvT, V. 2946) und ermahnt (vgl. AvT, V. 2953–2955). Dieser Gestus, der das performative Sprechen des Königs in den Brief integriert, bleibt bis zum Ende der Monsterbeschreibung, in der die Sprecherstimme zurücktritt und das Bild der Monster in den Vordergrund rücken lässt, bestehen.388 Überraschend ist, dass sich nach dem Ende des Exkurses und dem Anheben zum zweiten und abschließenden Klageteil389 der Sprechgestus ändert. Ab der nächsten Verszeile wird nicht mehr durch ein Sprecher-Wir davon berichtet, was Paldein sagt, bittet und fürchtet, sondern es präsentiert sich eine sich mit ich benennende (AvT, V. 3034f., 3039), Pronomen in der ersten Person Singular verwendende Stimme,390 die sich als mit dem vorher benannten König identisch herausstellt. War in den performativen Formulierungen das Handeln des Königs zum Ausdruck gebracht worden, so spricht er nun selbst direkt zu seinem Empfänger und erweckt nun weniger den Eindruck von Handlungspräsenz als den einer Face-to-faceSituation (s.  Kap.  4.3.1). Der abschließende Hilferuf erhält eine persönlichere Note und das Gesagte – insbesondere die Soldversprechungen – ein höheres Maß an Verbindlichkeit. Der Wechsel der Sprecherstimme und das damit einhergehende deutliche Auseinandertreten von Stimme und Vortragendem korrespondiert mit dem inhaltlichen Wandel des Briefes von der allgemeinen Problemlage des gesamten Reiches hin zu der speziell den König als Vaterfigur betreffenden Bedrohung seiner Tochter Clara und von der allgemeinen Ansprache zur konkret auf die Tyrländer zugeschnittenen Adresse. Gibt Paldein im ersten Teil des Hilfsgesuchs noch als einflussreicher Landesherr die Bedrohung seines Landes und die Notwendigkeit von Unterstützung bekannt, so bittet er hier als Vater einer bedrohten Tochter direkt um Hilfe. Durch diesen Wechsel in der Sprecherstimme wird der inhaltliche Wandel, die Zuspitzung der Hilfsbedürftigkeit von der allgemeinen zur persönlichen Betroffenheit sprachlich forciert.391 Die inhaltliche und formale Komposition des Hilfsgesuchs Paldeins ist ein Musterbeispiel dafür, wie ein Anliegen durch die Gestaltung der Informationen so über räumliche Grenzen hinweggleiten kann, dass die Intention deutlich, die

388 Sogar zu Beginn des Monsterexkurses wird ganz in diesem Sinne darauf hingewiesen, dass ew yetz gezalt wird, welche Erscheinung das Volk besitzt (V. 2957). Dabei mischen sich intra- und extradiegetische Adressaten sowie Briefstimme und Erzählerstimme. 389 Markiert ist dieses neue Anheben durch die Formulierung [n]u lat euch das geklaget sein: (AvT, V. 3020). 390 Mein (AvT, V. 3021, 3023); mir (AvT, V. 3023, 3032, 3038). 391 Im Hinblick auf die Involvierung Apollonius’ hat die persönlich gehaltene Darstellung der bedrohten Tochter außerdem einen besonderen – wenn auch freilich unbewusst hervorgerufenen – Effekt. Denn dieser hat unmittelbar vor diesem Ereignis vermeintlich seine Frau verloren und seine Tochter in die Obhut von Pflegeeltern übergeben (vgl. AvT, V. 2850–2874). Er ist also

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Notlage auf mehreren Ebenen nachvollziehbar und eine kooperative Reaktion wahrscheinlich wird. Dementsprechend erfolgreich scheint der Brief des Königs Paldein zu sein. Die Tyrländer lesen Apollonius noch [a]n der selben stunde (AvT, V. 3056) den Brief mit der wohlwollend aufgenommenen Bitte, auf dieser bereits beschlossenen Unternehmung ihr Hauptmann zu sein, vor (vgl. AvT, V. 3044–3079).392 Nach der Betrachtung des Brieftextes dürfte deutlich geworden sein, dass gerade die Komposition der unterschiedlichen Sprecherstimmen in Verbindung mit dem inhaltlichen Aufbau sich wohl kaum durch einen Botenbericht ohne schriftliche Unterstützung realisieren ließe. Die Textpassage hebt damit gerade im direkten Vergleich zu dem in Botenrede vermittelten Hilfsgesuch des König Balthasar das persuasive Potenzial des wortgetreuen Nachrichtentransports eindrücklich hervor.393 Jenes war zwar ebenso durchgestaltet (und auf Handlungsebene erfolgreich), verfügte jedoch nicht über die Möglichkeit, elaboriert durch die Verschränkung von inhaltlichen Aspekten mit unterschiedlichen Sprecherrollen zu argumentieren (vgl. AvT, V. 7187–7264; Kap. 4.2.2). Erst in der

selbst als Vater einer nun für ihn vorerst verlorenen Tochter mit der Bitte eines Vaters konfrontiert, der den Verlust seiner Tochter fürchtet. 392 Die jeweiligen Beweggründe der Tyrländer werden nicht dargestellt; Apollonius’ Bereitschaft speist sich vornehmlich aus seinem Wunsch, nach Verlust von Frau und Tochter für einen guten Zweck zu sterben: Er gedachte ‘seyt ich hab verloren/Mein schone frauwen wol geporen/(Dy wil ich fürpaß ymmer klagen),/Leichte wurd ich da erslagen,/So kumpt mein sele doch zu ir:/Wie mocht paß geschehen mir?‘ (AvT, V. 3074–3079). 393 Ein Brief, der in ähnlicher Weise funktionieren soll, dessen Text aber nicht ausgestaltet wird, ist jener des Bâruc im Reinfried von Braunschweig. Im Kampf gegen die Christen in Bedrängnis geraten (vgl. RvB, V. 16253–16271, 16351–16361), fordert er alle Verbündete zu Hilfe auf. Die Paraphrase legt hier ebenso Überzeugung durch gemischte Motivationen nahe. Statt Mitleid und finanzielle Interessen anzusprechen, wird hier jedoch einerseits an die gemeinsame Identität und die damit verbundene Feindschaft gegenüber den Christen appelliert, andererseits über Drohungen und Abhängigkeiten ein Einschalten in die Auseinandersetzung evoziert. So scheint der dominierende inhaltliche Aspekt der Briefe die Mahnung, sich an der Rache der heidenschaft (RvB, V.  16531) an der kristenheit (RvB, V.  16532) zu beteiligen, zu sein. Verstärkt werden soll der Wunsch nach Teilhabe aber durch den Befehl und die Bitte des babylonischen Sultans. Es wird erläutert, dass viele Fürsten seinem Wunsch gar nicht widersagen können. Dass sowohl das Gebieten der Beteiligung, als auch das Flehen darum genannt wird (vgl. RvB, V. 16544–16546, 16579), und es heißt, kein königliches Heer wolle oder getraue sich, fern zu bleiben (vgl. RvB, V.  16548f.) bzw. diese würden geradezu zu der Reise gezwungen (vgl. V.  16580), lässt jedoch offen, ob die meisten aus Furcht und Verpflichtung oder Empathie und Zugehörigkeitsgefühl seinem Aufruf Folge leisten. In jedem Falle kommt hier ein Blick des christlich fokalisierten Texts auf die ,Heiden‘ zum Vorschein, der – auch in diesem als eher ,tolerant‘ geltenden Text (vgl. Classen, Toleration) – deutlich von einer dichotomen Wahrnehmung und einem Bedürfnis nach negativer Zeichnung des ,Anderen‘ im Detail zeugt.

Fernkommunikative Experimente im Apollonius von Tyrland 

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Form des Briefes werden auch komplexe und bewusst komponierte Botschaften zum Überwinden räumlicher Distanzen befähigt. Alle drei Brieftexte stehen in ihrem jeweils persuasiven Anliegen vor eigenen Herausforderungen und präsentieren raffinierte Kompositionen als Lösung. Die sprachlichen Strategien sind dabei perfekt auf die jeweilige Situation abgestimmt, um den Empfänger zu einem unterstützenden Eingreifen zu motivieren. Dem Brief der Lehnsmänner an Reinfried gelingt es unter Veranschaulichung der Diskrepanz zwischen dem Ideal des Lehnsherrn, des Ehemannes sowie des Verwandten und dem Anschein des aktuellen Handelns bei gleichzeitigen Bekundungen von Wohlgesinntheit, den Adressaten zu schelten, ohne jenen das Gesicht verlieren zu lassen. Das Hilfsgesuch Yrkânes nutzt vor allem den Wechsel monologischen und dialogischen Sprechens, um die emotionale Verbindung zum Adressaten anzusprechen, und verknüpft jenen in einer Weise mit dem sie bedrohenden Konflikt, die subtil Verantwortungs- und Pflichtgefühl aufbaut, ohne dieses auf Schuld zu gründen. Paldein hingegen kann keine vorgängigen Beziehungen nutzen, um zur Hilfe zu bewegen, versucht aber geschickt, durch einen gezielten Sprecherwechsel, die Aufspaltung der unterschiedlichen in einer Person verbundenen Rollen, auf unterschiedlichen Ebenen Anreize zur Hilfe zu schaffen, wo keine Verpflichtung besteht. Mit ihren verschiedenen Verfahren vermögen sie auch die jeweiligen TextrezipientInnen zu überzeugen; ihre Ausgestaltung dient also nicht allein dem Nachweis funktionierender rhetorischer Gestaltung, sondern auch der Verstärkung der jeweiligen Motivation, die die Figuren antreibt. Schriftgestützte mediale Formen bergen – so führen die erläuterten Beispiele vor – in ihrer präzisen Gestaltbarkeit und Stabilität immense Möglichkeiten für die detailgetreue und nuancierte Vermittlung von Informationen über räumliche Distanzen; die diese Kommunikationsform nutzenden Figuren wissen die in persuasiver Hinsicht gewinnbringenden Poten­ziale schriftlicher konzeptioneller Gestaltung zu ihrem Vorteil einzusetzen. Vorgeführt wird ein positiver, nachahmenswerter Umgang mit medialen Möglichkeiten.

4.4 Fernkommunikative Experimente im Apollonius von Tyrland Die Passagen, in denen der Reinfried von Braunschweig und der Apollonius von Tyrland von fernkommunikativen Bemühungen ihrer Figuren erzählen, zeigen Boten und Briefe als effektive mediale Formen zur Vermittlung von Informationen über räumliche Distanzen. Beiden Formen sind unterschiedliche Potenziale eigen, die einzeln oder in Kombination miteinander zur Geltung kommen; die

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Ausgestaltung ihres Wirkens ist in vielfältiger Weise narrativ funktionalisierbar. Während im Reinfried Boten und Briefe ausschließlich in konventionellen Kontexten wie den bislang beschriebenen auftauchen, stellt sich der Apollonius – wie die folgenden Kapitel zeigen – als experimentierfreudiger heraus, was sowohl den Einsatz der medialen Instanzen in ritualisierten Kontexten als auch die Imagination neuer Möglichkeiten der Raumüberbrückung betrifft.

4.4.1 Distanzschaffung und Ritualisierung: Die Werbungsbriefe für Lucina Wurde Schrift in den bisher betrachteten Szenen eingesetzt, um physischen Raum zu überbrücken, so nutzen Figuren in einer Passage des Apollonius schriftgestützte Mediation auch in Situationen, die ihren Einsatz zunächst unnötig erscheinen lassen. Im Rahmen eines Werbungsverfahrens verfassen drei Grafen je einen Brief an die Königstochter Lucina, Lucina wiederum schreibt eine Botschaft für ihren Vater in eine Wachstafel, obwohl sich doch alle fünf am selben Hof befinden. In dieser Passage wird das Verhältnis von Schrift, Nähe und Distanz in einer besonderen Art und Weise entfaltet. Lucina soll heiraten; für die Auswahl des Ehemannes implementiert ihr Vater Altistrates folgendes Verfahren: Die drei Grafen, die sich um eine Heirat mit Lucina bemühen, könnten dieser von Angesicht zu Angesicht ihr Heiratsangebot vortragen, sollen aber ihr Werben für Lucina schriftlich vollziehen. Altistrates führt als Grund für dieses Vorgehen einerseits an, dass Lucina sich sehr um ihre geistige Ausbildung bemüht habe – also wohl lesen kann und daher auch sollte –, sie außerdem krank und daher nicht direkt zu sprechen sei (AvT, V. 1980–1986).394 So sei es notwendig, ihr alle relevanten Angaben schriftlich zukommen zu lassen. Mit der Anweisung, die jeweilige Höhe der morgen gab (AvT, V. 1989) in den Brieftext zu integrieren, liegt auch nahe, dass das abgegebene Angebot unabhängig von dem der anderen in einer dauerhaften und prüfbaren Form vorliegen und somit eine objektive Vergleichbarkeit der Kandidaten gewährleistet werden soll. Seine Aussage, Lucina dürfe auf Basis der Briefe entscheiden, [w]elchen sy geren welle han (AvT, V. 2059), impliziert außerdem, dass Sympathie ein Faktor bei der Verheiratung seiner Tochter ist, diese jedoch nicht auf Grundlage einer direkten Präsenz zu ermitteln ist bzw. von äußeren Eindrücken unbeeinflusst entstehen

394 Altistrates äußert sich gegenüber den Grafen: Sy ist auch ytz nit wol berait;/Doch ist es nit gar langk/Das sy ist worden also kranck (AvT, V. 1983–1985). Zuvor erfährt man bereits, dass eigentlich Minnekrankheit der Grund für das Unwohlsein Lucinas ist, der nur durch die Anwesenheit Apollonius’ Abhilfe verschafft werden kann (vgl. AvT, V. 1939–1957).

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soll. Aus letztgenannter Vermutung ergibt sich, dass der Eindruck, den sie von den Grafen gewinnen kann, allein aus den geschriebenen Zeilen und den dort auffindbaren Spuren der Persönlichkeit entsteht. Das Vorgehen verspricht eine von Erscheinungsbild und Performanz abgelöste und stattdessen auf die Fähigkeit der intellektuellen Selbstdarstellung sowie den zwischen den Zeilen zu lesenden Persönlichkeitszügen zurückgeworfene Entscheidung. Ist die Annahme, das Verfahren basiere auf der Vorstellung, das schriftliche Zeugnis berge in unverfälschter Form das Wesen des Verfassers, für eine stark auf Präsenz und Visualität gerichtet Kultur vielleicht eine gewagte These, so lässt sich doch nicht bestreiten, dass zumindest die drei Kandidaten nur die Möglichkeit haben, sich Lucina durch ihren Brieftext vorzustellen. Die prieff (AvT, V. 1987), von denen der Text spricht (vgl. AvT, V. 1998–2050), sind intuitiv besser mit ,Schriftstücke‘ zu übersetzen, scheinen sie doch die Grundfunktion der lautlichen Entsprechung ,Brief‘ – Bewältigung einer räumlichen Distanz – nur im sehr streng genommenen Sinne zu erfüllen. Auf den zweiten Blick scheint ,Brief‘ jedoch keine schlechte Übersetzung zu sein. Denn dieses eher als rituell zu beschreibende Vorgehen Altistrates’ baut auf den Prinzipien der Briefkommunikation auf bzw. macht sich diese zunutze, um eine Distanz zu produzieren, die im Sinne des Werbungsprozesses liegt. Denn in dem Moment, in dem der tatsächlich minimale physische Raum zwischen den Anwärtern und Lucina überwunden wird, wird dieser hier gerade nicht nivelliert und eine Trennung überbrückt, sondern wird der trennende Raum, der dann mittels der Texte überwunden werden muss, erst hergestellt. Dieser Rückgriff auf die Verfahren distanzüberwindender Fernkommunikation wird dadurch deutlich, dass die Briefe dann auch noch mit einer petschafft (AvT, V. 2052), einem Siegel in Form eines goldenen Rings (vgl. AvT, V. 2053), ausgestattet und von einem Boten überbracht werden (zum Boten in diesem Prozess vgl. Kap. 4.2.1). Die eingeforderte Briefkommunikation hat die Funktion, künstlich eine Distanz zu schaffen, um die Bemühung, diese Distanz innerhalb der Briefe gerade wieder aufzuheben, nötig zu machen. Der konventionalisierte Mechanismus wird für ein Verfahren, das aus kommunikativer Hinsicht keiner Fernkommunikation bedarf, im Dienste eines Werbungsrituals zur gleichzeitigen Distanzschaffung und Distanzüberwindung produktiv gemacht. Wie nun nutzen die Heiratsanwärter ihre Chance zur Selbstdarstellung? Aufbau und Inhalt ähneln sich in allen Briefen sehr. Sie alle beginnen mit einer umfangreichen Adresse der jeweils namentlich mit lobreichen Formulierungen verbundenen Lucina, welche gleichzeitig deren Wertschätzung zum Ausdruck bringt. Fällt das Ausmaß dieser schmeichelhaften Worte auch unterschiedlich stark aus, so gleichen sich die dafür eingesetzten Formulierungen doch darin,

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dass sie Lucina einerseits als heiratswillige Frau395 markieren und als solche mit Begriffen attribuieren, die auf ihre Schönheit oder ihre lebensfrohe Art verweisen, andererseits Metaphern verwenden, die die Wertschätzung sowohl ihrer innerlichen wie auch erneut der äußeren Qualitäten zum Ausdruck bringen.396 Unterschiede im Detail sind auszumachen – so sind die Ausführungen der ersten beiden Briefe etwas knapper und konzipieren ein weltlich verhaftetes Bild einer Minnedame und Glücksherrin, während im dritten Brief ein religiöser Gestus Einzug erhält und Lucina zu einem paradiesgleichen Ziel alles Strebens und Ausweis der göttlichen Natur erhoben wird. Insgesamt gleichen sich die Botschaften im Gebrauch typischer Formulierungen397 jedoch so stark, dass sie besonders in der sukzessiven Repräsentation im Text austauschbar, wenig individuell und in ihrer überzeichneten Typisierung sogar komisch wirken können.398 In jedem Falle heben sie – wie bereits Egidi herausarbeitet – die ökonomische Logik, die allen Werbungen (gemäß Forderung) zugrunde liegt, hervor.399 Bezogen bleiben

395 Magett (AvT, V. 2000); fraue (AvT, V. 2009, 2010); mait (AvT, V. 2015); [f]raw (AvT, V. 2014); frawe (AvT, V. 2030). 396 Sie wird dort als des ersten Grafen hertzen wunne, frewden pernde sunne und mynnicklîche magett (AvT, V. 1998–2000) entworfen, im zweiten Brief mit Spiegel aller salikait, freudenreiche mait, sælden obedach, der schönsten Blumen schmach, des Herzen augen waid und Schilt vor hertzen laid sowie als Pfand der höchsten Abenteuer und Glücksrad des Herzen (AvT, V. 2014– 2021) angesprochen und schließlich durch den dritten Grafen mit werde creature/Wol gezierte figure, des Briefschreibers hail […] trost […] salden schrein (AvT, V. 2028–2034) sowie als paradeise, des wunsches reyß (AvT, V. 2036f.) und schœne trosterin (AvT, V. 2046) bezeichnet. 397 Der Begriff sælde fällt bspw. in allen Briefen (vgl. AvT, V. 2001, 2016, 2032); ebenso tauchen überall Genitivverbindungen mit herze auf (vgl. AvT, V. 1998, 2018, 2019, 2021). 398 So für Egidi, Schrift, S. 161. Auch Dreher beschreibt die Passage als „light and humorous“ (Dreher, Enclosed Letters, S. 193). 399 Alle Briefe folgten einer ökonomischen Logik von Liebe im Sinne eines Gabe-GegengabePrinzips (vgl. hier S. 161). Egidi arbeitet mit dem Begriff der Derridaschen Gabenlogik, nach der die ökonomische Logik eine Ordnung von Tausch, Rückkehr, Verrechenbarkeit, Verschuldung und Wiedergutmachung, Reziprozität und Symmetrie beschreibt, und anökonomische Logik die totale Gabe, die nicht vergolten wird, Verschwendung, Maßüberschreitung, Asymmetrie und Diskontinuität bedeutet (vgl. hier S.  147). Es lasse sich in dieser Szene wie in vielen Liebes- und Abenteuerromanen eine ökonomische Logik als Grundlage der Liebe der Protagonisten beobachten (vgl. hier S.  147). Während das Bezugskonzept von Minne geradezu von der Rela­tion ökonomischer und anökonomischer Logik geprägt sei (Minnedienst), zeigten Romane dieser Textsorte eine Tendenz zur Ökonomisierung der Liebe (vgl. hier S. 148f.), indem eine Reziprozität, eine Symmetrie zwischen den Liebenden aufgebaut werde anstatt im Sinne des klassischen Minnedienstes ein asymmetrisches Verhältnis darzustellen, bei der eine (in der Regel die männliche) Seite eine totale Gabe, eine Gabe ohne Vergeltung, liefert. Diese Symme‑ trie sei beim Apollonius von Tyrland verschoben und verzögert – so zerdehnt wie die briefliche Kommunikation, die die Beziehung einleitet (vgl. hier S.  155–163). Auch Dreher fällt der Ab-

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diese Aussagen jeweils auf den Werber selbst, den Effekt, den die Dame auf ihn ausübt, sein Begehren, sein mögliches Glück und sein Schicksal, über das sie verfügt. Wenn es darum geht, was der jeweilige hoffnungsvolle Bewerber in die Ehe bringt, geht es ausschließlich um den – vom Vater eingeforderten – monetären Aspekt der Verbindung. So offerieren sie in typisch überbietender Darstellung [f]unffzig tausent marck (AvT, V. 2011), sechtzigk tausent march (AvT, V. 2023) und [s]ilbers hundert tausent pfund (AvT, V. 2050). Mit diesen die Briefe jeweils abschließenden Vorschlägen sind ihre größten Unterschiede benannt. Sollte die vermutete Hoffnung, in den Briefen offenbare sich Lucina der Charakter der Heiratskandidaten, Altistrates zu diesem Werbungsritual bewegt haben, schlägt diese fehl, da die Briefe anstatt von individuellen Spuren und nähesprachlichen oder expressiven Darstellungsformen eher von stereotypen Bildern und Floskeln geprägt sind,400 welche kaum eine emotional begründete Entscheidung herbeiführen dürften. Doch das heißt nicht, dass der Text das Versagen der Grafen ausstellt zumal der dem Vergleich zugrunde gelegte Zweck der Charakterpräsentation angesichts der verborgen bleibenden konkreten Intentionen Altistrates’ ausschließlich ein vermuteter ist und den zeitgenössischen Anforderungen und Erwartungen – so sei mit Referenz auf die Literatur zu mittelalterlichen Minnebriefen betont – nicht unbedingt gerecht wird.401 Die Grafen zeigen alle, dass sie die üblichen Metaphern und schmeichelhaften Formulierungen beherrschen und aus den bekannten Bausteinen einen ansprechenden Werbungsbrief verfassen können. Sie verfügen über rhetorische Kenntnisse und wissen, welche Sprache dieser traditionellen Werbungssituation angemessen ist. Sie schreiben perfekte Minnebriefe nach dem von Brackert beschriebenen Modell der Objektivierung und Entpersonalisierung der Gefühle sowie der Her-

schluss der Briefe auf. Die monetären Angebote stünden in einem merkwürdigen Kontrast zu den vorherigen Huldigungen Lucinas: „On the one hand, they [die Briefe, B.W.] are filled with metaphors that praise Lucina from different perspectives. The bulk of each message is taken up with a playful repetition of addressing Lucina. The persistent cadence of the letters resembles a devotional chant that presents the variety of love praise and anticipates the protean images of the Humanist and Baroque poetry. On the other hand, all three letters end with monetary offers. These non-poetic statistics seem inappropriate after such lofty metaphors of praise (Dreher, Enclosed Letters, S. 189f.). 400 Einige ähnliche Floskeln führt Martschini im Bezug auf Willehalms und Amelies Briefe im Willehalm von Orlens an (vgl. Martschini, Schriftlichkeit, S. 382). 401 Hier sei nochmals auf Schnyder verwiesen, die erläutert, dass der Rückgriff auf konven‑ tionalisierte Formulierungen im Rahmen der Textwelt einer Darstellung von authentischen Gefühlen nicht entgegensteht (vgl. Schnyder, Schrift und Liebe, S. 10–14) und eher Regel als Ausnahme in der mittelhochdeutschen Literatur ist (dazu die Anm. 4/285 in Kap. 4.3.2).

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vorhebung der Perfektion des Adressierten.402 Diese Erkenntnis sowie die sich durchaus unterscheidenden Angebote bezüglich der Morgengabe beweisen den Erfolg des Verfahrens und legitimieren es zur Genüge. Der Einsatz von Briefen zur Überwindung einer erst durch ihren Einsatz physisch manifest werdenden Grenze ist effizient für die Markierung von Differenzen innerhalb der Bewerbergruppe, indem er diesen ein verbindliches Angebot und einen Nachweis der intellektuellen Eignung als Partner abverlangt. Wie Lucina diese Briefe aufnimmt, erfährt man nicht direkt. Auffallend aber ist, dass sie sich letztlich für keinen der so werbenden Kandidaten entscheidet, sondern ihre Zuneigung auf den physisch präsenten Boten Apollonius richtet (s. Kap. 4.1.2). Es heißt, sie finde denjenigen, den sie zum Mann nehmen wolle, nicht in den Briefen verschriftlicht (vgl. AvT, V. 2063). Das Geschriebene wird also zumindest von ihr als Repräsentation der Person verstanden; innerhalb der überbrachten Schriftstücke ist der ihr liebgewonnene Mann jedoch nicht wiederzufinden. Dieser Umstand lässt sich darauf zurückführen, dass ihr dieser bereits vertraut ist. Ihre Entscheidung könnte aber auch als Hinweis darauf gedeutet werden, dass die Erfahrbarkeit durch Text limitiert und inferior gegenüber dem physisch Präsenten ist. Ihr Antwortschreiben schließt, was die Konstruktion von Nähe und Distanz über Schrift betrifft, an ein bereits behandeltes Beispiel aus dem Reinfried von Braunschweig an. Der Brief, den Reinfried zum Dänischen Königshof mitführt, um seiner Bereitschaft, für Yrkâne zu kämpfen, Ausdruck zu verleihen und trotzdem inkognito zu bleiben, wurde als verschriftlichter Repräsentant eines Faceto-face-Redebeitrags angesprochen. Mittels des Briefes will er vermeiden, dass er identifiziert wird und nutzt daher Schrift, um die Kampferklärung von seiner physischen Stimme zu lösen und doch auf den anwesenden kampfbereiten Ritter zu verweisen (s. Kap. 4.3.1). Der Brief stellt sicher, dass der Kampf ohne Aufdeckung seiner Identität beginnen kann. Schrift leistet hier nicht einen räumlichen Distanzabbau – ein solcher ist auch überhaupt nicht nötig –, Schrift bewirkt die Dissoziation des Sprecher-Ichs von der Stimme des physisch präsenten Ritters, ohne jedoch die Assoziation mit der auftretenden Person aufzuheben. Der Brief überdeckt die Identität Reinfrieds und spricht doch mit dessen Stimme. In Lucinas Fall nun wird die mediale Form nicht nur eingesetzt, um bestimmte Identitäten zu überdecken, sondern sie erhält ein Eigenleben, das für das Gelingen der Kommunikation und die Gewährung der Wünsche der Senderin elementar ist. Lucina teilt ihrem Vater ihren Wunsch, Apollonius statt einen der Bewerber zu ehelichen, auf schriftlichem Wege und in einem für die behandelten Texte ein-

402 Vgl. Brackert, Minnebriefe, S. 7f. sowie Anm. 4/276–280.

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maligen Material mit: Sie schreibt ein paar Zeilen in eine Wachstafel, in denen sie ihrem Wunsch kurz und direkt Ausdruck verleiht, und lässt Apollonius diese überbringen (vgl. AvT, V. 2079–2091).403 In das bereits eröffnete Gespräch um den Ehepartner bringt sie damit einen neuen und unerwarteten Namen. Auffällig an ihrer Botschaft ist, dass sie weit mehr Platz als für die Mitteilung ihrer Entscheidung für eine Reflexion aufwendet, in der sie ihre Autorschaft thematisiert und negiert. Den Wunsch nach einer unstandesgemäßen Heirat so unumwunden zu äußern, markiert sie als unangemessen. Es heißt im Anschluss an die in Ich-Form formulierte Forderung: Wunderstu dan, herre, dich Das ain junckfrawe zuchten reich Ane scham geschriben hat? (AvT, V. 2086–2088)

Das Sprecher-Ich (vgl. AvT, V.  2083) suggeriert die Verwunderung des Empfängers über dieses Vorgehen und stellt heraus, dass es sich bewusst ist, dass der im Schreiben ausgedrückte Wunsch Stand, Erziehung und Schamgefühl Lucinas nicht angemessen ist. Solche Worte sind, so erkennen auch Dreher und Egidi, in einer direkten Face-to-face-Situation nicht denkbar.404 Die Schrift gibt Lucina die Möglichkeit, den Wunsch vorzubringen, dabei aber auch Selbstreflexion zu markieren. Denn diese Sprecherstimme macht die mediale Form selbst, die Wachstafel, in die ihr Wunsch eingraviert ist, zum Urheber der Botschaft. Die Sichtbarmachung ihres Wunsches (meines willen, AvT, V. 2090) sei des wachses tat (AvT, V. 2089).405 Daher sei die Botschaft keineswegs schamhaft. Lucina distanziert sich von einer unziemlichen Handlung, nämlich der offenen und direkten Darstellung eines unangemessenen und in dem Verlauf des Werbungsprozesses nicht vorgesehenen Begehrens, jedoch nicht von der Realität des Begehrens selbst. So wie sie die Zusammenhänge darstellt, ist die Wahrheit ihrer Zuneigung durch den dafür sensiblen medialen Träger selbst zu seiner Form oder zumindest das diffuse Gefühlte zu einer äußerlich sichtbaren und bereits ausgedeute-

403 Der Text selbst schreibt sich mit dieser Szene deutlich in eine literarische Tradition ein, erinnert doch das Vorgehen Lucinas stark an das bekannte Vorgehen der Lavinia im Eneasroman, die – von ihrer Mutter danach gefragt – den Namen des unangemessenen Geliebten in eine Wachstafel schreibt (vgl. Eneasroman, V. 10618–10630). 404 Vgl. Dreher, Enclosed Letters, S. 192 sowie Egidi, Schrift, S. 162. 405 Indem das Wachs zum essentiellen Teil der Nachricht wird, wird die Wachstafel zu einer ,mobilen Inschrift‘, wie sie Lieb und Ott mit ihrem spezifischen Begriff von Inschrift als einer besonders gesteigerten und in der Rezeption nicht auszublendenden Verbindung von Schrift und Schriftträger untersuchen (vgl. Lieb/Ott, Schrift-Träger, zum Inschrift-Begriff s. S. 18).

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ten Realisation gekommen.406 Dieser Umstand entlastet nicht nur sie, sondern verbürgt gleichzeitig die Wahrheit der Botschaft, die augenscheinlich direkt aus ihrem Herzen in das formbare Material übergegangen ist. Gleichzeitig verschiebt sie die relevanten Kategorien einer Bräutigamswahl vom ökonomischen Nutzen zur Erfüllung ihres nicht weiter erläuterten, aber eindeutig nicht auf Ruhm und Reichtum des als Schiffbrüchigen bekannten Apollonius beruhenden willen (AvT, V. 2090), nimmt also die Ausgangsbehauptung, sie könne nach ihrem Willen entscheiden (s. o.) auf und setzt dabei eigene, von der ökonomischen Logik abgekoppelte Maßstäbe, ohne dabei selbst maßlos zu wirken. Denn die Verantwortung für die Entäußerung wird dem vermittelnden Element zugeschrieben. Was hier schließlich vermittelt wird, ist mehr als die Entscheidung Lucinas für einen Mann. Ihre kurze Botschaft definiert im Moment der Entäußerung nicht nur ihre Gefühle als Zuneigung, sondern reflektiert gleichzeitig den sozialen Stand der involvierten Personen, die Unmöglichkeit der ersehnten Beziehung sowie außerdem die Unumgänglichkeit dieser. Die mediale Form vermittelt im übertragenen Sinne unvereinbare Standpunkte miteinander. Anders als im Falle der Werbung scheint das Ziel dieses Informationstransfers nicht zu sein, den Urheber in der Schrift präsent zu machen, sondern eine Distanz zu der Person Lucinas, die ihre soziale Stellung wohl zu reflektieren und ins Verhältnis mit ihrer Forderung zu setzen weiß, aufzubauen und gleichzeitig eine direkte und unreflektierte, daher unverfälschte Verbindung zwischen den Gefühlen und ihrem schriftlichen Ausdruck herzustellen, um dadurch Unvorstellbares darzustellen. Dementsprechend ist auch in Lucinas briefähnlicher Botschaft die zentrale überwundene Grenze nicht der physische Raum zwischen ihr und ihrem Vater, sondern die zwischen dem Erwarteten, Vorgesehenen und dem Unerwarteten und Normüberschreitenden, zwischen Pflichtbewusstsein und Herzenswunsch. Lucina praktiziert nicht nur erfolgreich diese Grenzüberschreitung, sondern zeigt in ihrem Verweis auf die Urheberschaft des Wachses, das schamt sich nicht umb ain har (AvT, V. 2091), auch ein Bewusstsein für die

406 Ähnlich beschreibt und deutet Schnyder den Prozess des Einschreibens ins Wachs im Eneasroman: „Was sich zuvor im Inneren von Lavinia abgespielt hatte, dass sich – nach den auf Aristoteles und Platon zurückgehenden Vorstellungen – das Geschehene (d.  h. Aenas) in das Gedächtnis eingegraben hatte wie in eine Wachstafel, wird im Moment, wo es veräusserlicht und mediatisiert wird, zum mit einem Begriff zu benennenden und darin zum gedeuteten Phänomen: Minne-Erinnerung oder Minne-Bild“ (Schnyder, Imagination, S. 244). Weiter heißt es: „Die in die Wachstafel gegrabenen Buchstaben sind das offene Geheimnis des verschwiegenen Gedankens“ (hier S. 248).

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Möglichkeit dieser gleichzeitigen Distanzierung und Annäherung durch die Vermittlung. Der Apollonius zeigt fernkommunikative mediale Formen auch in der Funktionalisierung des konventionalisierten raumüberwindenden Potenzials für sol‑ che ritualhaften Vorgänge. So kann sowohl Distanz überwunden als auch zunächst geschaffen oder aber im Sinn einer konzeptionellen Schriftlichkeit eine bestimmte Darstellungsweise gewählt werden, um Nähe oder Ferne zu suggerieren. Die Figuren nutzen die fernkommunikativen Konventionen, um künstlich Distanz zu evozieren und pointiert eine bestimmte Haltung zu markieren. Dabei erweisen sich mediale Formen vielmehr als in praktischer, physischer Hinsicht im metaphorischen Sinne als grenzüberschreitend und distanzüberwindend. In narrativer Hinsicht vermag der Prozess der zentralen Beziehung des Textes ein spannungsvolles Werbungsverfahren vorzuschalten, das die Partnerschaft von Apollonius und Lucina durch die Vorstellung und Diskussion unterschiedlicher Konzepte der Partnerwahl als besonders innig markiert.

4.4.2 Die Spiegelsäule als (Alb-)Traum einer direkten Live-Übertragung Bewegt sich die Funktionalisierung fernkommunikativer Elemente im Werbungsverfahren um Lucina im Bereich des lebensweltlich Möglichen (vgl. Kap. 4.4.1), so präsentiert der Apollonius mit der Spiegelsäule im Lande Crisa auch eine fernkommunikative mediale Form, die deutlich im Bereich des Wunderbaren angesiedelt ist. Mit ihr entwirft der Text ein faszinierendes mediales Phantasma, dessen Kippfunktion den Wunsch nach unbegrenzter Verfügbarkeit über Raum und räumliche Distanzen vorführt und gleichzeitig infrage stellt. Die bisher angesprochenen Textphänomene haben gezeigt, dass die kommunikative Überwindung von Raum ein Prozess ist, der in jedem Falle die Umwandlung informativen Gehalts in Sprachmaterial fordert. Im Apollonius von Tyrland jedoch ist ein Prozess zu beobachten, der die an den historischen Gegebenheiten orientierten Möglichkeiten der Überwindung räumlicher Grenzen übersteigt und einen unmittelbaren und verlustfreien Zugriff auf räumlich entfernte Informationen imaginiert. Es handelt sich bei dem medialen Akteur um die Spiegelsäule, die sich in dem in jeder Hinsicht exzeptionellen Tal Crisa407 befindet und die Hauptattraktion des dortigen Gartens Lisamunt darstellt.

407 Nicht nur auf Grundlage seiner Lokalisierung im „Phantasieorient zwischen Kaukasus und Indien“ trägt das Land „paradiesähnliche Züge: Reichtum, Blumen, schöne Frauen findet man darin, auch einen Jungbrunnen“ (Kaspar, Tugend- und Keuschheitsproben, S. 403). Für eine aus-

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Die Spiegelsäule des Apollonius schließt motivisch an eine lange Tradition in der mittelalterlichen Literatur an.408 Am ähnlichsten ist sie in ihrer Funktionsweise und ihrem ästhetischen Potenzial der Säule, die Gawein im Parzival auf schastel marveile entdeckt (vgl. Parz 589,5–593,29)409 und deren Inspiration wiederum im Presbyter-Johannes-Brief vermutet wird.410 Doch bereits der Eneasroman Heinrichs von Veldeke sowie antike und orientalische Erzählungen kennen ähnlich funktionierende Zauberspiegel, die auf ein historisches Phänomen zurückgehen und dieses mit phantastischen Übertragungsvisionen verbinden: Der Zauberspiegel ist mit der literarischen Überlieferung um den Leuchtturm von Alexandria verknüpft. Der gewaltige, ursprünglich wohl teleskopischen Zwecken dienende Hohlspiegel, der bis zum Anfang des 8. Jahrhunderts den Bau krönte, wurde unter östlichen Einflüssen in der Erinnerung zu einem Zauberspiegel, zum ,Spiegel Alexanders‘. Im Bericht des um 1170 in den Orient gereisten Benjamin von Tundela heißt es, daß man in diesem Spiegel alle feindlichen Kriegsschiffe schon in einer Entfernung von mehr als 500 Wegstunden (lieues) habe sehen können. Zauberspiegel und Zauberfenster dieser Art sind indoiranisch. Aufschlußreich ist, wenn es in Tausendundeiner Nacht (E. Litmann) Bd. 3, S. 27 heißt: ,Der Spiegel des Dschamschêd (mythischer König der altern Perser) ist gar nichts wert gegen dies Rohr, durch das alle Dinge vom Osten zum Westen und vom Norden zum Süden dem Blicke des Menschen klar erkennbar werden.‘ (Aus der Motivsammlung von Fr. Geißler). Der berühmte Spiegel Dschamschêds wurde später auf Salomo und nach diesem auf den Welteroberer Alexander übertragen. So nahm er seinen Weg auch in die Literatur des Westens. Im Brief des Priesters Johannes von ca. 1165 finden wir zum ersten Mal den

führliche Beschreibung verweist sie auf Ebenbauer, Apollonius von Tyrland, S. 317. Der Name ,Crisa‘ dürfte – so Achnitz – der Imago mundi des Honorius Augustodunensis entnommen sein (vgl. Achnitz, Babylon und Jerusalem, S. 308). Ebenso verweist er auf den deutschen Lucidarius und die Verzeichnung einer Crisa insula dives auro auf der Ebstorfer Weltkarte (vgl. hier S. 308f.). 408 Jan-Dirk Müller zufolge sind Zauberspiegel und -säulen in der höfischen Literatur keine Seltenheit, sondern typisches Inventar idealer Höfe (vgl. Müller, Jan-Dirk: Höfische Kompromisse. Acht Kapitel zur höfischen Epik, Tübingen 2007, S. 318; s. außerdem zum Zauberspiegel im Lanzelet und im Jüngeren Titurel Müller, Jan-Dirk: Der Blick in den anderen. In: Sehen und Sichtbarkeit in der Literatur des deutschen Mittelalters. XI. Anglo-German Colloquium London 2009. Hrsg. von Ricarda Bauschke/Sebastian Coxon/Martin H. Jones, Berlin 2011, S.  11–34, hier S.  15f.). Auch Wandhoff macht darauf aufmerksam, dass viele der Kunst- und Architekturbeschreibungen der höfischen Literatur Spiegelapparaturen aufweisen (vgl. Wandhoff, Ek­ phrasis, S. 33). 409 Zur dort entworfenen Funktionsweise s.  Anm.  4/419; 4/421. Bockhoff/Singer betonen, dass die Säule im Apollonius nicht direkt auf diejenige im Parzival zurückzugehen scheint, sondern sich enger an älteren Traditionen (s. u.) anlehnt (vgl. Bockhoff/Singer, Quellen, S. 66). 410 Vgl. Ernst, Ulrich: Mirabilia mechanica. Technische Phantasmen im Antiken- und im Artusroman des Mittelalters. In: Das Wunderbare in der arthurischen Literatur. Probleme und Perspektiven. Hrsg. von Friedrich Wolfzettel, Tübingen 2003, S.  45–77, hier S.  58; s.  für die Textausgaben des Briefes hier Anm. 57.

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magischen Spiegel mit dem Tempel der Diana in Ephesus verbunden. Nach der Legende setzt Vergil einen solchen Spiegel auch auf das Kapitol in Rom. Nach den Sept Sages Vers 3972ff. leuchtet er in 100 Fuß Höhe hell. Sogar in dunkelster Nacht sieht man darin, wohin sich ein Dieb gewandt hat und von welcher Seite ein Angriff droht. In der Spiegelsäule in Wolframs Schastel marveile sieht man alles, was im Umkreis von 6 Meilen geschieht. Die Reichweite von einer Meile bei Veldeke erinnert an die 1. Fassung des Floire. Floire trägt da Vers 576ff. auf dem Haupt einen Karfunkel, der in dunkler Nacht une liue im Umkreis leuchtet. An jungen Reminiszenzen weisen wir noch auf Tr. Mönch 3615ff., wo es vom Pilgerstab heißt An dem oversten ende stoent vurwaer Eyn appel van spiegel luchtende claer, Dae man clierliche ynne sach Eyn yeclich lant, we verre id lach, und Budapester Oswald 16v auf yedem maßpawm secz zu obrist ain karfunckelstain der da sey liecht scheinen das si pey der nacht wol davon gesehen muͤ gen.411

Die im Apollonius von Tyrland entwickelten Vorstellungen gehen in ihren medialen Möglichkeiten über jene Phantasmen hinaus und geben den Fähigkeiten der Säule eine andere Richtung. Als Ziel- und Fixpunkt aller Bemühungen, die Apollonius und seine Begleiter bei der Reise durch das Goldene Tal auf sich nehmen, wird die Säule bereits früh installiert. Ihre Anziehungskraft beruht jedoch zunächst nicht auf der raumüberwindenden Funktionsweise (s. u.), sondern auf ihrer ästhetischen Exzeptionalität. Die als äußerst prachtvoll, glänzend und kostbar beschriebene äußere Erscheinung412 sowie auch die Aufstellung im Zentrum des Gartens, welcher gleichzeitig den Endpunkt einer äußerst schwer zu passierenden Kette von Tugendprüfungen bildet (s. Anm. 4/294 sowie Kap. 6.3.1),413 weisen sie als etwas Besonderes, Attrak-

411 Schieb, Gabriele: Veldekes Grabmalbeschreibungen. In: Gabriele Schieb. Ausgewählte Schriften. Zur deutschen und niederländischen Sprach- und Literaturgeschichte. Gedenkschrift zu ihrem 75. Geburtstag. Hrsg. von Rudolf Bentzinger/Jochen Splett, Göppingen 1994 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 601), S. 91–131, hier S. 114f. Bei Wandhoff ist über den Spiegel im Brief des Priester Johannes zu erfahren, es handle sich um „eine gigantische Säule, die ihrerseits ein nach oben stetig sich verbreiterndes Säulen-Bauwerk trägt, das sich dann zur Spitze hin ebenso wieder verjüngt – bis zu einer Säule, auf der ein Wunderspiegel angebracht ist. Dieser Spiegel zeigt an, wo immer in den Reichen des Königs sich Mißstände erheben“ (Wandhoff, Ekphrasis, S. 79). 412 Die Erzählinstanz vergleicht ihre lautter und fein (AvT, V. 11995) Erscheinung mit einem hellen Kristall (vgl. AvT, V. 11996), sie reflektiert bzw. spiegelt in alle Richtungen und erzeugt somit eine exzeptionelle Strahlkraft (vgl. AvT, V. 11997–11999). Darüber hinaus ist das achteckige Gebilde mit Edelsteinen besetzt sowie mit Gold verziert (vgl. AvT, V. 12000–12003). 413 Die optisch eindrucksvollen ,lichtfarbenen‘ Stufen der letzten Prüfung, der Tugendtreppe, führen direkt zu der Säule, weisen sie also als Endpunkt der Bemühungen aus (vgl. AvT, V. 12004–12006).

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tives, Begehrenswertes, ein faszinierendes ästhetisches Erlebnis,414 aus.415 Daher ist es kaum verwunderlich, dass Apollonius sich bereits nach dem ersten Blick auf die Spiegelsäule daran interessiert zeigt, zu dieser zu gelangen und die Säule sich im weiteren Verlauf der Szene immer wieder als das Objekt, auf das sich alle seine Bestrebungen richten erweist.416 Als Apollonius schließlich alle Hindernisse

414 Als solches vermag es, die initiale Aufmerksamkeit des Betrachters zu erlangen und zu binden. Wie Baisch/Degen/Lüdtke darstellen geht „[ä]sthetisches Erleben […] in der Regel von einer willentlichen Aufmerksamkeitszuwendung auf die Töne einer Musik, die Formen einer Plastik oder die Schriftzeichen eines Buches aus. Im Verlauf der Verarbeitung bzw. imagina­ tionsstimulierenden Decodierung der Zeichen kann sich die immanente Motivationsstruktur ändern. Das Lustempfinden, das mit der positiven emotionalen Valenz von situationsentkoppelten Spannungs- und Erregungseffekten verbunden ist, kann soweit steigen, dass dem Subjekt die Kontrolle über die Aufmerksamkeitszuwendung scheinbar entgleitet“ (Baisch/ Degen/Lüdtke, Vorbemerkungen, S. 11). Hier ließe sich behaupten, dass bei der Spiegelsäule zunächst der ästhetische Eindruck den Wunsch, sich dem Objekt zu nähern und es weiter und intensiver zu bestaunen, befeuert. Sobald die mediale Funktionsweise erläutert wird (s. u.), spielt diese auch eine Rolle. 415 Ähnlich wie die Säule des Parzival wird sie als schönes Objekt, das die Aura des Exotischen und Staunenswerten umgibt und sogleich einen starken Eindruck bei den mit ihr konfrontierten Figuren hinterlässt, eingeführt. Die Beschreibung der Säule im Parzival als Element des Wunderbaren, das sogleich ein schönes Objekt und ein auratisch wirkender Gegenstand ist, stellt Baisch, Martin: Ästhetisierung und Unverfügbarkeit. Strategien der Inszenierung von Wissen bei Wolfram und Chrétien. In: Wolframs Parzival-Roman im europäischen Kontext. Hrsg. von Klaus Ridder, Berlin 2012 (Wolfram-Studien 23), S. 207–250, hier S. 245 dar. 416 Als Candor, wohlwollender Gastgeber der Reisenden, die zu ihr führenden Stufen hinaufgeht, wolt […] [er] nach im gan: (AvT, V. 12009). Apollonius gibt mehrmals gegenüber anderen Figuren zu verstehen, dass es sein größter Wunsch sei, den Garten mit der Säule zu betreten (vgl. AvT, V. 12100–12102, 12193–12195, 12693f.). Wenn meist auch nur der Garten genannt wird, lässt sich sein Bestreben aufgrund der vorherigen Darstellung der Säule als Mittelpunkt des Gartens (u. a. durch Candor) auf die Spiegelsäule beziehen. Scheitern ruft dementsprechend Traurigkeit hervor (vgl. AvT, V. 12684). In Candors aufmunterndem Rat taucht die Säule erneut als Zielpunkt der Bewegung auf (vgl. AvT, V. 12685, 12689) und selbst die Erzählinstanz weist sie bei Apollonius’ Versuch, die Hindernisse zum Garten zu überwinden, als Objekt seiner Bestrebungen und Wegweiser der Bewegungsausrichtung aus: Im was zu der sewle gach (AvT, V. 12643). Kaspar ist darin zuzustimmen, dass das Ziel des immer tieferen Vordringens in das Reich sicherlich Diomena ist, die Apollonius bereits tausende Verse zuvor indirekt von Albedacus und später direkt von Serpanta zugesprochen wird (vgl. AvT, V. 4214f., 9125–9127; vgl. Kaspar, Tugend- und Keuschheitsproben, S. 406); dennoch verliert die Frauenfigur mit dem Auftauchen der Spiegelsäule zunächst an Relevanz und Präsenz, während der Garten und die Säule in den Fokus der Figuren und auch der Erzählung rücken. Die Mühen, die zumindest Apollonius für den Kontakt mit der Spiegelsäule auf sich nimmt, verdeutlichen über die geschilderten Bekundungen hinaus den Wunsch, diese ungewöhnliche, exklusive und ästhetisch höchst ansprechende mediale Form zu verwenden. Waren die bis zu diesem Punkt absolvierten Tugendproben (s. Kap. 6.3.1) nicht direkt

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überwunden hat, wird er – in Bestätigung dieser Ausrichtung – sofort zur Säule geführt (vgl. AvT, V. 12871). Sie ist das primäre begehrenswerte Objekt des Gartens, dem sich die Gäste gleich nach der Erlaubnis, diesen zu betreten, widmen. Begründet wird das Anziehungspotenzial der Säule zunächst rein optisch, dann treten Ausweisungsfunktion und mediale Fähigkeit hinzu. Candor selbst stellt die Säule mit der Erklärung, nur ein tadelloser Held get zu der sewle dort (AvT, V.  12066) als Objekt dar, das den zu ihr Gelangenden ausweist und belohnt.417 Auch die nachgeschobene Bezeichnung der Säule als aller peste hort/ Den ye furste mer gewan (AvT, V. 12067f.) in Verbindung mit der nun hinzutretenden Aufklärung über die Fähigkeit (vgl. AvT, V. 12069–12075) bestätigt den in der äußeren Attraktivität bereits vermutbaren Wert dieses Objekts und überlagert die ästhetische Anziehung mit medialer Attraktivität. Denn die Säule hat in der Forschung nicht ohne Grund den Zusatz „Fenster zur Welt“418 erhalten. Sie lässt räumliche Differenz zumindest einseitig vollständig verschwinden, indem sie so etwas wie eine Live-Übertragung realisiert. Wie zunächst Candor erläutert, aber auch im Laufe des Textes mehrmals zu beobachten ist, handelt es sich um eine mediale Form, die rein visuell überträgt. Generell funktioniert die Spiegelsäule ähnlich wie die Säule, mit der Gâwân sich in Wolframs Parzival konfrontiert sieht.419 Der Grundzustand der Säule ist die eines Spie-

auf das Erreichen der Säule gerichtet, ist die Tugendtreppe (s. ebenso Kap. 6.3.1) auf den Garten und die Spiegelsäule konzentriert. 417 Die von Candor nach einem ersten gescheiterten Versuch der Treppenbesteigung erläuterten Prüfungsanforderungen – sie umfassen die Freiheit von Spott, Boshaftigkeit, Faulheit, Feigheit, Unehrlichkeit, Hoffart, Ruhmsucht, Völlerei und Trunksucht (vgl. AvT, V. 12046–12063) – machen ihr Erreichen selbst zu einem begehrenswerten Ausweis, denn [w]ellich an der missetat/ An im an nicht hatt,/Der get zu der sewle dort (AvT, V. 12064–12606; vgl. auch V. 12687–12689; vgl. zur kritischen Einschätzung des Prüfmechanismus Kap. 6.1.1 sowie Kap. 6.3.1). 418 Vgl. Achnitz, Babylon und Jerusalem, S. 320. 419 Gâwân erfährt, dass sich zu Tages- und zu Nachtzeit alles, was im Umkreis von sechs Meilen geschieht, in der clâriu sûl (Parz. 589,5) zeigt (vgl. Parz. 592,2–592,13). Diese Säule wird in der Forschung unter die Automaten, typische Elemente des (orientalischen) Wunderbaren gefasst (vgl. Baisch, Ästhetisierung, S. 246). Diese Einstufung ließe sich damit begründen, dass als Automaten all jene Technik, „die sich aus externen Energiequellen speist“ und die „künstliche Bewegungsprozesse oder überraschende Effekte in Gang setzt“, gilt (vgl. Friedrich, Udo: Contra naturam. Mittelalterliche Automatisierung. In: Automaten in Kunst und Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit [Wolfenbüttler Mittelalter-Studien 17], hrsg. von Klaus Grubmüller und Markus Stock, Wiesbaden 2003, S. 91–114). Da nicht explizit deutlich wird, dass die Vorgänge technisch bedingt sind, vielmehr magische Vorgänge verantwortlich zu sein scheinen, wird diese Bezeichnung und Einstufung hier nicht übernommen. Um die Unterscheidung deutlich zu machen, sei auf eine im Apollonius von Tyrland auftauchende Apparatur verwiesen, die viel deutlicher als die Spiegelsäule als Automat einzustufen ist. Diese erblickt Apol-

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gelglases, in dem das eigene Spiegelbild betrachtet werden kann, das aber unter bestimmten Bedingungen den Blick auf andere, ferne Orte freigibt. Das Phantasma der „völlige[n][] Transparenz der Welt“ in der Überwindung der natürlichen Begrenztheit des Sehens, das solchen Wundersäulen zugrunde liegt,420 treibt Heinrich von Neustadt aber noch ein Stück weiter als Wolfram. Denn die Säule gewährt nicht nur einen Blick über die nächsten sechs Meilen des Umlandes (vgl. Parz. 592,2–592,13), sondern auf den gegenwärtigen Zustand421 jedes erdenklichen und gewünschten Orts (vgl. AvT, V. 12074) – mag dieser auch tausent meyle (AvT, V. 12073) entfernt liegen. Candor erklärt den drei in den Garten vorgedrungenen Gästen (Apollonius, Printzel und Palmer)422 die Funktionsweise und leitet die erste Benutzung an. Er weist sie an, ihre Gedanken auf etwas Bestimmtes zu richten und auf die Säule zu blicken, um dann genau das in den Sinn Genommene visuell an dessen derzeitigen Aufenthaltsort in ,Echtzeitübertragung‘ in der Säule wahrnehmen zu können (vgl. AvT, V. 12872f.). In jeder erdenklichen Distanz befindliche Informationen, die sonst niemals ohne Zeitverzögerung sowie ohne sprachliche Formatierung durch Briefe und Boten zugänglich wären, werden sofort auf

lonius, als er alle Prüfungen bestanden und auch bereits die Spiegelsäule, den Garten und den Jungbrunnen in Lisamunt bestaunt hat. Candor führt ihn in einen Palast mit einem besonderen künstlichen Baum, welcher besondere ästhetische und auditive Eindrücke generiert (vgl. AvT, V. 13059–13160). Gerade wenn man die Spiegelsäule als mediale Form verstehen will, tut man gut daran, sie nicht gleichzeitig als Automat einzustufen, da Automaten als menschengemachte Apparaturen im Verdacht stehen, Simulationsmaschinerien [zu sein], die ihre Betrachter heftig, beinahe gewaltsam affizieren. Sie stehen im Dienste einer Erzeugung von Schein“ (Eming, Jutta: Faszination und Trauer. Zum Potenzial ästhetischer Emotionen im mittelalterlichen Roman. In: Wie gebannt. Ästhetische Verfahren der affektiven Bindung von Aufmerksamkeit. Hrsg. von Martin Baisch/Andreas Degen/Jana Lüdtke, Freiburg i. Br., Berlin, Wien 2013 [Litterae. Göppinger Beiträge zur Textgeschichte 191], S. 235–264, hier S. 238). Automaten wie die Spiegelsäule wären dann ,nur‘ Scheinmedien, die einem Empfänger vorspiegeln, etwas zu vermitteln. 420 Müller, Kompromisse, S. 318. 421 Es sey weyb oder man:/Wer zu der sewl mag komen/Der nymet dar gar schonen frumen./Mit seinen augen er sicht/Was uber tausent meyle geschicht/Gedenck an welcher slachte er wil/Des sicht er lutzel oder vil (AvT, V. 12069–12075). Zwar sieht auch Gâwân in der Säule die ihm liebste Orgeluse (vgl. Parz. 592,21–593–6), jedoch scheint diese sich praktischerweise gerade in dem sechs Meilen umfassenden Radius um die schastel marveile herum zu befinden, sodass ein reines Aufrufen eines beliebigen Raumes durch Gedankenkraft nicht möglich scheint. Auch sieht Arnîve beim Blick in die Säule dasselbe, da sie Auskunft über die dort zu sehenden Personen Auskunft zu geben vermag (vgl. Parz. 593,30–594,14). 422 Bei Printzel handelt es sich um den Sohn des König Paldein (vgl. AvT, V. 4902–4908), den Apollonius in seinem Kampf gegen Gock und Magock unterstützt hatte (s. Kap. 4.3.3), Palmer ist ein tugendhafter Graf, den Apollonius kennenlernt, als er ihm die Verwaltung des soeben gewonnenen Landes des Jechonias (Assierien) überträgt (vgl. AvT, V. 6337–6423).

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Wunsch und entbunden von dem Zweck der Verteidigung, der bei den antiken Vorbildern zentral ist (s. o.), zur Verfügung gestellt. Fokussieren also die Figuren ihre Gedanken auf einen bestimmten Ort oder eine bestimmte Person und blicken dann auf die Oberfläche der Säule, spiegelt sie die Gedanken des Hineinblickenden durch die Bereitstellung einer Übertragung zu diesem Ort oder dieser Person. Ästhetische und mediale Funktion gehen Hand in Hand miteinander und verhalten sich doch gegensätzlich zueinander: Das Spiegelglas, der unter anderem für den besonderen ästhetischen Reiz ihrer Erscheinung verantwortliche spiegel klar (AvT, V.  12876), wandelt sich unter dem gezielten Blick zu einem Bild und verschwindet selbst im Prozess der Übertragung, wird zum diaphanen Informationsträger, ohne dabei selbst zu kommentieren, Informationen in einen anderen Zeichencode umzuwandeln oder zu selektieren.423 Damit ist diese mediale Form in der Weitergabe von Informationen nicht nur schnell, sondern auch frei von den sonst in Vermittlungsprozessen anfallenden Anpassungen. Zugleich ist die Vermittlung unabhängig von bestimmten Fähigkeiten beim Empfänger. Die durch die Spiegelsäule zugänglichen Informationen sind laut Candors Beschreibungen räumlich nicht auf einen bestimmten Bereich beschränkt. Sie haben keinen überblickshaften Charakter, sondern sind individuell auf den Empfänger bezogen. Nicht das gesamte Umland wird jedem, der dort hineinblickt, gleichermaßen enthüllt, sondern ein individueller Blick auf das jeweils in den Gedanken Genommene wird der einzelnen Person gewährt. Das Vermittelte ist allein abhängig vom Empfänger und seinen Interessen beim Blick in die Säule. Anschaulich wird das, als Printzel in der Säule erblickt, dass seine Frau in seiner Abwesenheit verstorben ist. Für den danebenstehenden Candor, der Printzel nach dem genauen Ursprung der ihn befallenden Traurigkeit fragt (vgl. AvT, V. 12891– 12897), ist offensichtlich nur durch dessen Reaktion ersichtlich, dass dieser negative Informationen erhalten haben muss. Ebenso muss Palmer im Detail berichten, was er gesehen hat (vgl. AvT, V. 12907–12917). Die Spiegelsäule stellt so jedem die gewünschten Informationen individuell auf Grundlage der eigenen Gedanken zur Verfügung; um diese zu teilen, ist es dann nötig, die erblickten Informationen zu versprachlichen. Das gilt selbstverständlich auch für die Erzählung selbst.

423 Die angesprochene Gegensätzlichkeit der ästhetischen und medialen Funktion besteht also darin, dass dieses Objekt, das sich in großem Maße gerade durch die besondere und anziehende Ästhetik auszeichnet, im Mediationsvorgang transparent wird und spurlos überträgt. Die Erscheinung vermittelt die Exzeptionalität, die gerade im ästhetischen Verschwinden im Vermittlungsvorgang besteht und animiert den Blick eines jeden Passanten, motiviert damit auch die mediale Verwendung. Insofern bedeutet diese Gegensätzlichkeit der Funktionen keinen Widerspruch.

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Diese nutzt den Mechanismus des Sichtbar-Werdens der Gedanken424, um den TextrezipientInnen einen Zugang zur Gefühls- und Gedankenwelt der Figuren zu ermöglichen.425 In den auserzählten Beispielen betrifft das Vermittelte vor allem Gesundheitszustand, Aufenthaltsort und Treue nahestehender Personen,426 bei Apollonius außerdem den Frieden im Herrschaftsgebiet.427 Die durch äußerliche Mechanismen geschützte und damit höchst exklusive mediale Form428 verlangt im Mediationsmoment neben einem rudimentären,

424 Alle sehen jeweils das, worauf sie ihre Gedanken fokussieren. Die sinnliche Wahrnehmung des Sehens wird immer wieder erwähnt (vgl. AvT, V.  12879, 12888, 12893, 12907, 12909, 13534, 13569, 13574, 14303, 14518). 425 Darauf weist mit Bezug auf die Spiegelsäule im Parzival Baisch, Ästhetisierung, S.  249 hin. In einer ähnlichen Funktion wird von Matthews auch der Spiegel im zauberhaften Zelt im Lanzelet gesehen. Dieser spiegelt zwar nicht direkt die Gedanken der hineinblickenden Figur wider, sondern die Person, die dem Hineinblickenden selbst zugetan ist (zumindest in Matthews Übersetzung dieser nicht ganz eindeutigen Textstelle), gewährt aber in der Spiegelung dennoch der Figur und dem Rezipienten einen Einblick in die im Spiegel erscheinende sowie die hineinblickende Figur (da im Falle Lanzelets und Iblis’ beide nur jeweils den anderen sehen, ist ihre Minne befreit von dem Makel des Narzissmus, vgl. Matthews Alastair: Säulen, Spiegel, Gestirne. Das sehende und erzählte Ich in der Kaiserchronik, dem Lanzelet und dem Wilhelm von Österreich. In: Sehen und Sichtbarkeit in der Literatur des deutschen Mittelalters. XXI. Anglo-German Colloquium London 2009. Hrsg. von Ricarda Bauschke/Sebastian Coxon/ Martin H. Jones, Berlin 2011, S. 129–140, hier S. 135f.). 426 Während bei Apollonius’ Anfrage im Mittelpunkt steht, ob Tarsia sowie Altistrates lebendig und wohlauf sind (vgl. AvT, V. 12877–12884), und es auch bei Printzel um den mittels der Säule offenbarten Tod seiner Ehefrau geht (vgl. AvT, V. 12892f.), spielt bei Palmer und bei Diomena (vgl. AvT, V. 12909f., 14304f.) die Treue bzw. Untreue der jeweiligen Partner eine Rolle. 427 Bei den beobachteten Personen handelt sich jeweils um die nächsten Verwandten: um die Ehegatten (Printzel und Palmer sehen di schone frawe sein, AvT, V. 12893, bzw. sein schones weib, AvT, V. 12909, Diomena später den ihr angetrauten Tyrere, AvT, V. 142301) sowie im Falle des vom Tod seiner Frau ausgehenden Apollonius um Tochter und Schwager (vgl. AvT, V. 12877–12887). Er denkt außerdem an Galacia, um zu sehen, dass dort stund es allesampt wol (AvT, V. 12889). 428 Wie exklusiv der Zugang zu diesem Objekt ist, zeigt sich durch die Schwierigkeiten, die Apollonius durchläuft (vgl. dazu Anm. 4/294; 4/416), und durch das Scheitern aller außer zweier seiner Gefolgsleute (Printzel und Palmer, vgl. AvT, V. 12745–12751 sowie V. 12771–12780, V. 12841– 12843). Auch Candors Bemerkung, es sei seit hundert Jahren nie weib oder man/Dann ich und di frawe mein/Und mein schones kindelein (AvT, V.  12868–12879) in den Garten mit der Säule gekommen, bestätigt die wirksame äußerliche Abschottung dieses medialen Wunderapparats. Allerdings ist nur das einmalige Bestehen der Anforderungen nötig und die exklusiv erworbene Zugänglichkeit danach dauerhaft. Nachdem Apollonius einmal den Garten erreicht hat, geht er nochmals, ohne die Treppe erneut passieren zu müssen, mit Diomena zur Säule (vgl. AvT, V. 13571–13575) und auch Diomena selbst, die laut Candor einstmals den Zutritt zum Garten erwerben musste (vgl. AvT, V. 12866–12870), geht im Laufe der Erzählung hindernis- und prüfungslos zur Spiegelsäule (vgl. AvT, V. 14298f.).

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leicht zu vermittelndem Verständnis ihrer Funktionsweise kaum Kenntnisse oder Voraussetzungen für die unverschlüsselte Freigabe von Informationen. Die Säule gewährt jedem, [e]s sey weyb oder man (AvT, V. 12069), wie Candor betont, unbegrenzten Zugang,429 was die physischen Hindernisse ihrer Zugänglichkeit als Ausgleichssicherung erscheinen lässt. Wie genau die Übertragung funktioniert, wird nicht erklärt (anders als im Parzival wird nicht erwähnt, dass Zauberkraft eine Rolle spielt);430 nahegelegt wird durch die Funktionsweise jedoch ein universeller Zugriff des Objekts auf die nicht fassbaren, unverfügbaren Gedanken der einzelnen Empfänger sowie auf alle Orte der immanenten Welt.431 Denn die Säule scheint – wie Candors Beschreibung, die Denken und Sehen eng aneinanderrückt (weß ir gedenck, das secht ir da, AvT, V. 12873), deutlich macht – sofort und ohne Verzögerung die Gedanken des potenziellen Empfängers zu erkennen und über den universellen Zugriff eine Übertragung visuell wahrnehmbarer Bilder herzustellen. Es handelt sich hier um die Initiierung einer Mediation auf Grundlage konzentrierter Gedankenkraft, was sogar die Möglichkeiten jüngerer elektronischer Mittel übersteigt. Einzig notwendig ist neben Kenntnis der Funktionsweise ein gewisser Grad an Konzentration und die Richtung des Blickes auf die Säule. Damit imaginieren die Szenen um die Spiegelsäule die mediale Möglichkeit, Raumdifferenzen vollständig zu nivellieren. Die so enthüllten Informationen genießen zunächst hohe Vertrauenswürdigkeit. Das kommt im Text dadurch zur Geltung, dass die Säule von Diomena bei

429 Wie leicht diese mediale Form zu verwenden ist, wird dadurch deutlich, dass die kurze Gebrauchsanweisung Candors den Gästen ausreicht, um die Spiegelsäule erfolgreich zu verwenden. 430 Den magischen Ursprung der Säule behauptet Baisch, Ästhetisierung, S. 245f. Ohne kon­ kret den Begriff des Zaubers zu verwenden, wird sie in der Beschreibung durch die Abgrenzung von allen normalen Kunstwerken als Zauberwerk dargestellt. So heißt es: der meister Jêometras,/ solt ez geworht hân des hant,/diu kunst wære im unbekant./ez was geworht mit liste (Parz 589,14– 17). 431 In diesem Zugriff auf geradezu unverfügbare, innerliche Prozesse, Gedanken, die sich erst im Moment des Blickes in der jeweiligen Figur formieren und nicht notwendigerweise eine sprachliche Form haben, besteht Nähe zu den in Kap. 6 behandelten transsphärischen Phänomenen. Der transsphärische Charakter, der einerseits in dem universellen Zugriff auf alle Orte der immanenten Welt, andererseits auch in dem ebenso erstaunlichen Zugriff auf die Gedanken des Empfängers besteht, sticht hier aufgrund der Ähnlichkeit zu neuzeitlichen Übertragungsformen via Kamera nicht sofort ins Auge. Die Einordnung als exzeptionellen Sonderfall räumlich transgressiver Formen und als Beispiel der aussagekräftigen Imagination universeller räumlicher Verfügbarkeit beruht darauf, dass der Zugriff nicht eindeutig auf ein transzendentes Eingreifen zurückgeführt wird und hier vordergründig ein Phantasma des uneingeschränkten und verlustfreien Raumüberwindens dargestellt wird.

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dringender Besorgnis aufgesucht wird (s. u.).432 Zwischen Diomena und Apollonius findet sie als Beweisinstanz im Zweifelsfall Verwendung. Diomena gegenüber versucht Apollonius seinen Reisewunsch mit der Suche nach seiner Tochter zu begründen und mithilfe der Säule zu autorisieren. Seine Frau befürchtet, er könne nicht zu ihr zurückkehren (vgl. AvT, V.  13560f.), und steht dem Vorhaben skeptisch gegenüber. Wenn er vorbringt, er habe in der sewle gesehen (AvT, V.  13536), dass sein ersehntes mynnikliches kint (AvT, V.  13526) noch lebe, fungiert die Säule als eine Bekräftigungsinstanz, die die Existenz seines vorgebrachten Beweggrundes belegen kann. Als er droht, ohne Erlaubnis aufzubrechen, überzeugt sich Diomena in der Säule davon, dass die Aussage der Wahrheit entspricht. Sie schlägt vor, gemeinsam zur Säule zu gehen und mit einem Blick zu überprüfen ob die rede wär also (AvT, V. 13573). Als sie das Geschilderte in der Säule erblickt (vgl. AvT, V. 13574–13576),433 spricht sie Apollonius ihre Erlaubnis aus und sichert ihm Unterstützung zu (vgl. AvT, V. 13577–13585). Mittels der Säule prüft sie die Aussagen Apollonius’, welche sich ohne diese nicht be- oder widerlegen ließen. Durch die Fähigkeit, jedem per Gedankenfokussierung einen Ort oder eine Person vor Augen zu führen und so zum Augenzeugen zu machen, genießen die vermittelten Informationen der Säule höchste Glaubwürdigkeit. So eignet sich die Säule als Entscheidungshilfe und zur Lösung sozialer Konflikte, indem Mutmaßungen über fern gelegene Vorgänge schnell und ohne störanfälligen Mittler verifiziert oder widerlegt werden können. Doch diese geradezu phantastisch anmutende imaginierte Möglichkeit hat auch ihre Schattenseiten. Zunächst lässt die Funktionsweise es gar nicht zu, sie wirklich als Mittel der Fernkommunikation zu beschreiben. Besonders im Vergleich zu den Brief- und Botenszenen fällt auf, dass die Säule nicht Figuren verknüpft und einen Austausch zwischen ihnen ermöglicht. Hier gewährt die mediale Form einer Partei – im Sinne des Kommunikationsmodells dem Empfänger – den Blick auf die andere, während jene nichts von dem Informationsfluss zu einem anderen Ort und dem Kontaktwunsch des Informationsrezipienten weiß. Die Wechselseitigkeit von Kommunikation ist nicht gegeben, das Verhältnis von Sender und Empfänger pervertiert. Es kommt nur zu einer teilhabenden und stillen Beobachtung, die das Wissen über den in den Sinn genommenen Ort

432 Diomena sucht sie gezielt mit dem Wunsch auf, sich über den Zustand ihres Ehegatten Apollonius auf seiner Reise zu vergewissern. Ihre Befürchtung, er werde nicht wiederkommen (hertzen lieber man,/Grosse sorge ich dar umb han/Das ir mir nicht komet wider, AvT, V. 13559– 13561), und das von ihr eingeforderte Treueversprechen verweisen auf ihre konkrete Sorge. 433 Das bedeutet hinsichtlich des medialen Potenzials der Säule auch, dass nicht ausschließlich bekannte Personen betrachtet werden können, sondern auch solche, von deren Existenz man nur weiß.

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oder die sich dort befindlichen Personen aktualisiert, nicht zu einer Kommunikation. Darüber hinaus ist die Korruption des Empfängers und die Ausschnitthaftigkeit der vermittelten Informationen bei der Verwendung der Spiegelsäule durch Apollonius und Diomena zu beobachten. Von handlungslogischer Relevanz und narrativer Raffinesse sind vor allem die verpassten Chancen und de­struktiven Folgen der phantastischen Möglichkeiten. Diese Szenen zeigen deutlich die Grenzen dieses medialen Wunschtraums auf und stellen den tatsächlichen Gewinn durch das in dieser Weise verfügbar Gemachte infrage. Wichtige Bestandteile oder Bedeutungs­aspekte der am beobachteten Ort vor sich gehenden Ereignisse entziehen sich nämlich einerseits durch den unkommentierten und nur in jeweils unterschiedlichem Umfang gewährten434 Blick, andererseits führt die reine Abhängigkeit des Vermittelten von den Gedanken des Empfängers eher zu Missverständnissen als zu Beruhigung, Sorglosigkeit, Freude und Schlichtungshilfe.435 Beide Probleme werden anhand eines Fallbeispiels im Text dargestellt. Im Falle von Apollonius wird die problematische Abhängigkeit des Mediatisierten vom Empfänger bzw. von seinem Kenntnisstand illustriert. Die Erzählung erwähnt beim ersten Blick des Protagonisten in die Spiegelsäule Lucina. Sie verweist damit auf die Chance für Apollonius, zu erfahren, dass Lucina noch am Leben ist, und legt nahe, an diesem Punkt, kurz vor einer möglichen Vermählung mit Diomena, die Wiedervereinigung einzuleiten. Doch diese Möglichkeit verstreicht ungenutzt, was von der Erzählinstanz explizit mit der Abhängigkeit der übermittelten Information von den Gedanken des Empfängers begründet wird. Apollonius nämlich ist noch immer überzeugt vom Tod seiner Frau und unterlässt es deshalb, seine Gedanken auf sie zu richten: Lucina, di want er di wär dot: Dar umb was im deß nicht not Das er an si gedachte da. (AvT, V. 12885–12887)

Gerade vor dem Hintergrund der Szene aus Wolframs Parzival, in der Gawein in der Säule seine Geliebte erblickt und vom Schein ihrer Anwesenheit emotional

434 Candor erklärt, noch bevor die Gäste überhaupt zur Säule gelangen, man sehe in der Säule lutzel oder vil (AvT, V. 12063) von dem Ort an den man denke, sodass wohl niemals deutlich ist, ob alle Aspekte der Situation wirklich sichtbar werden. 435 Insgesamt lässt sich feststellen, dass bei drei von vier Fällen der Blick in die Säule negative Gefühle wie Trauer, Zorn und Leid hervorruft. Printzel gerät in Leid und beginnt, sich ubel gehaben (AvT, V. 12894), Palmer wird unmassen zoren (AvT, V. 12911) und von hertzen ungemüt (AvT, V. 12914), beschäftigt sich laut Candors Aussage mit trawen (AvT, V. 12919), Diomena reagiert mit Selbstverletzung und lauter Klage (vgl. AvT, V. 14306–14315, 14510, 14513).

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überwältigt wird,436 stellt die Säule eine Enttäuschung der mit dem immensen medialen Potenzial verbundenen (literarischen) Erwartungen dar. Was narrativ ein reizvolles intertextuelles Spiel ist, führt handlungslogisch umso eindrücklicher vor Augen, wie nutzlos jene mediale Form für die Zusammenführung des Paares ist. Das Vermittelte hängt zu sehr vom Wissensstand des jeweiligen Empfängers ab, um nicht nur zufällig relevante Inhalte zu übermitteln. Apollonius ist es durch die Spiegelsäule zwar möglich, seine größten Sorgen zu beruhigen, und er wird in Folge des Mediengebrauchs fro und gemait (AvT, V. 1284; s. auch V.  12890),437 die wichtigste Information wird ihm jedoch aufgrund eines klassischen Kontexteffektes nicht zuteil. Alle anderen im Text in die Säule blickenden Figuren erhalten – und das sollte ebenso skeptisch machen – negative Botschaften von Untreue und Tod.438 Anhand Diomena wird der das Vertrauen korrumpierende Reiz, unbemerkt zu beobachten und zu prüfen sowie die nur ausschnitthafte, kontextlose Übertragung eines zufälligen Moments problematisiert. Vordergründig heißt es, sie gehe zur Säule, um sich des Wohlergehens ihres mittlerweile abgereisten Mannes zu versichern: Di was zu der sewle kommen. Si hette gerne vernomen̅ Wie es dem Tyrere Seyt ergangen wäre. (AvT, V. 14299–14302)

In Anbetracht der vorherigen Drohungen bei Untreue (vgl. AvT, V. 13635f.), ist allerdings auch die Intention naheliegend, seine Treue zu überprüfen. Der positive Zweck der Säule, Sorgen zu entkräften, wird mit dem zumindest unterstellbaren voyeuristischen Nutzen, der aus Misstrauen erwächst, vermischt und zeigt, wie die Möglichkeiten der Säule Diomenas Vertrauen korrumpieren. In Anbetracht dessen scheint es fast ironisch, dass Diomena hier ihren Verdacht aufgrund des begrenzten verfügbar gemachten Ausschnitts bestätigt findet. Diomena nämlich sieht Apollonius gerade in einem Moment, in dem dieser und Palmina hetten […] gemach (AvT, V. 14294) und sich der mynne (AvT, V. 14297)

436 Vgl. zur Darstellung der emotionalen Affizierung durch das in der Säule Erblickte Baisch, Ästhetisierung, S. 249. 437 Auch Printzel, Palmer und Diomena reagieren – wenn auch mit negativem Vorzeichen – emotional auf das Gesehene (s. Anm. 4/435) und betonen damit die Relevanz der verfügbar gemachten Informationen für den Empfänger. 438 Vgl. für Palmers und Printzels Erfahrungen AvT, V.  12894–12919,  14306–14315; s.  dazu Anm. 4/435.

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widmen, im Moment des sichtbaren Betrugs also. Daraufhin sinkt die Betrogene zunächst verletzt zu Boden (vgl. AvT, V. 14306f.), klagt (vgl. AvT, V. 14308–14318)439 und treibt danach gemäß ihren Warnungen gegenüber Apollonius (vgl. AvT, V. 13635–13637) konsequent die Trennung und die damit verbundene Verbannung aus Crisa voran (vgl. AvT, V. 14319–14341 sowie V. 14415; s. Kap. 4.1.2, 4.2.2). Von der Abhängigkeit dieses Verhältnisses von Apollonius’ Versprechen gegenüber Venus, das auch ihre eigene Verbindung erst ermöglich hatte (vgl. AvT, V. 12727– 12732, 14139–14149) sowie auch von dem Umstand, dass der beobachtete Beischlaf Apollonius’ nur dadurch möglich ist, dass er sich bei Diomena in Lisamunt wähnt (Dannoch was sein gedang/Ze Lysemunt auff dem stain, AvT, V. 14220f.) und er zunächst erschrocken zögert, als er Palmina erkennt (vgl. AvT, V. 14226–14239), erfährt sie durch den Blick in die Säule nicht. Als sie jedoch nachträglich von diesen Umständen unterrichtet wird, zeigt sie Reue über ihre Entscheidung und versucht, sie rückgängig zu machen. Diomena artikuliert ihren Ärger über die falsche Verurteilung (vgl. AvT, V.  14507–14509), will Apollonius vergeben (vgl. AvT, V. 14520), weist ihren Boten an, zu übermitteln, es sei ihr im Bewusstsein aller Umstände von hertzen laid/das ich in petrubet han (AvT, V.  14525f.). Sie erkennt seine Unschuld an und bittet um Vergebung, Rückkehr und erneute Freundschaft (vgl. AvT, V. 14530–14537). Es wird deutlich, dass sie unter anderer Informationslage anders gehandelt hätte und die Verkürzung der Informationen in dem von der Säule gewährten Blick der Beziehung Unrecht tut. Diomena selbst reflektiert, dass die unvollständige Informationslage zu dieser im Rückblick nun falschen Entscheidung geführt hat, und bedauert explizit, den Blick in die Säule zu diesem ungünstigen Zeitpunkt getätigt zu haben, indem sie sich ausmalt, wie es anders hätte kommen und zu ihrer beider Nutzen hätte sein können: Hett ich ainen anderen tag Zu meinem schawen genomen, Das must mir und im frummen. (AvT, V. 14517–14519)

Auch der Vorteil der visuellen Unmittelbarkeit, mit der der oder die Bedachte vor den Augen erscheint, wird dabei zum Nachteil verkehrt. Diomena gibt nämlich zu, ihre heftige Reaktion und der heftige Bruch mit Apollonius gingen auf den Zorn zurück, den gerade der Anblick des Geliebten mit einer anderen Frau bei ihr ausgelöst habe:

439 Später beschreibt sie ihre Emotionen beim Anblick des Ehebruches als zoren (AvT, V. 14510) und bekräftigt, ihr Herz sei damals vor Schmerz gebrochen (vgl. AvT, V. 14513).

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 Worte in Bewegung, Handlungen im Spiegel – Raum

Sie sprach ’es hatt getan der zoren Das ich den heren han verloren. Do ich in also ligen sach, Das laid in mein hertze prach. (AvT, V. 14510–14513)

Deutlich wird, dass die Informationen, die durch die Säule verfügbar werden, zwar für sich glaubwürdig, aber durch die ausschnittartige Übertragung auch unvollständig und wenig aussagekräftig sind – sie eben nicht die (ganze) wahrhait (AvT, V. 14529) zeigen. Die Säule selektiert als mediale Form nicht selbstständig, produziert aber dennoch reduzierte und unterkomplexe Bilder der Realität. Möchte man die präsentierten medialen Vorgänge um die Spiegelsäule als poetologischen Kommentar lesen, so zeigt sich, dass bei der Rezeption literarischer Erzeugnisse ein unglaubliche Distanzen überwindender Blick auf Bereiche außerhalb des direkten menschlichen Interaktionsradius’ gewährt wird, diese aber nicht beanspruchen können, alle Zusammenhänge zu enthüllen. Es gibt Dinge, die unter der schönen Oberfläche verborgen bleiben. Weder Diomena noch Apollonius können den gewünschten positiven Nutzen aus den Möglichkeiten der Spiegelsäule ziehen, was die Nützlichkeit zumindest relativiert, jedoch insgesamt keineswegs die Erstaunlichkeit der hier erwogenen Möglichkeit vollkommen nivellierter Raumdifferenz schmälert. Ist die übliche mediale Form der Distanzüberwindung stets mit Zeitverzögerung und einem Authentizitätsproblem behaftet, so kann in der Spiegelsäule direkt und exklusiv der, die oder das Gewünschte sofort in Echtzeitübertragung beobachtet werden. Der Raum dazwischen schrumpft zusammen. Wenn auch im Laufe der Geschichte deutlich wird, dass diese unbegrenzte Verfügbarkeit über den Raum auch Leid und Unglück produzieren kann, so scheint hier doch der Wunschtraum erweiterter Möglichkeiten der Distanzüberwindung auf. Der Text imaginiert eine exzeptionelle und die Grenzen des Möglichen abtastende mediale Form der Raumüberbrückung, welche in der mittelalterlichen Literatur ihresgleichen sucht. Das exzeptionelle Objekt bleibt ambivalent, repräsentiert den Traum einer Nivellierung von Raum ebenso wie den Albtraum einer willkürlichen und verzerrenden Überwachung und die Verführungskraft des voyeuristischen Blicks.

4.5 Zwischenfazit Botenreden und Brieftexte erweisen sich im Reinfried von Braunschweig und im Apollonius von Tyrland als wirkmächtige mediale Formen der Fernkommunikation, deren speziellen Stärken die Figuren zu nutzen wissen. Die zuletzt bespro-

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chenen Szenen stellen die Umfunktionalisierung konventioneller fernkommunikativer Konventionen zur Schau bzw. imaginieren die Ausdehnung des medial Möglichen. Sie stecken die äußeren Grenzen der Szenensammlung unter dem Schwerpunkt ,Fernkommunikation‘ ab. Die bei der Lektüre zutage tretende Mannigfaltigkeit bei Fokussierung und Funktionalisierung fernkommunikativer medialer Prozesse führt zu einem ganzen Bündel von Beobachtungen. Konventionelle fernkommunikative Prozesse mit dem Einsatz von Boten und Briefen verlaufen sowohl im Apollonius als auch im Reinfried durchweg positiv, die jeweiligen Strategien erweisen sich als wirkmächtig und damit geradezu idealtypisch. Ein kommunikatives Scheitern an der Herausforderung räumlicher Distanz oder eine Schwäche fernkommunikativer medialer Instanzen stellt keine der Passagen aus. Zum Teil wird die erbrachte Leistung hervorgehoben440 und damit die Gefahr des Scheiterns angerissen, ohne dass jedoch jemals ein Negativbeispiel präsentiert würde. In Übereinstimmung mit Wand-Wittkowskis Untersuchung werden auch in diesen literarischen Darstellungen realhistorische Probleme wie Brieffälschungen,441

440 Insbesondere die positiv gezeichneten Figuren des Reinfried sind sich dem Verhalten gegenüber Botenfiguren nach zu urteilen bewusst, wie wichtig diese für jede Form der Fernkommunikation sind. Zu Reinfrieds Tugenden gehört es, dass er den zu Beginn der Erzählung eintreffenden Boten wirdeclîche enphie (RvB, V. 154), ihn nach der erfolgreiche Erfüllung seiner Aufgabe lobt (vgl. RvB, V. 316–319) und mit rîcher gâbe solt (RvB, V. 315), bzw. zehen marc/und rîchiu kleit (RvB, V. 324f.) entlohnt. Reinfried strebe – so bewertet die Erzählinstanz – gerade im Umgang mit dem Boten nach König Artus (vgl. RvB, V. 158–168). Einem prototypischen Botendienst wird der prototypische gute Umgang mit Boten entgegengebracht. Diese Norm scheint ebenso wie der Boteneinsatz universelle Gültigkeit zu besitzen und edle Figuren auszuzeichnen. Yrkâne verspricht dem für sie agierenden Boten, im Falle seines Erfolges wolle sie ihn iemer mêre/an guote und ouch an êre/ […] gern rîchen (RvB, V. 7253–7255). Die Erzählinstanz prognostiziert dem Boten, der die Botschaft von der Sichtung der verloren geglaubten Helden überbringt (und dafür die Friedensverhandlungen verschiebt), ein rîche botenbrôt (RvB, V. 23022). Auch grüßt der babylonische Sultan den eintreffenden Sächsischen Boten zühteclîch (RvB, V. 23923) und empfängt der Perser den Boten des aschalonischen Königs freundlich (vgl. RvB, V. 25962). Reichlich fällt auch die Belohnung des Boten aus Indien aus, der neben ausdrücklichem Dank für seine Reise außerdem rîchen solt/ros kleit silber unde golt (RvB, V. 26543f.) erhält. Dasselbe gilt für den Apollonius. Die Überbringer des Paldein’schen Hilfsgesuchs werden als geste (AvT, V. 2928) empfangen und ihr Anliegen umgehend (zu handt, AvT, V. 2930) bearbeitet; Apollonius reitet persönlich den Boten des Königs Balthasar entgegen (vgl. AvT, V. 7203), nimmt die Ankömmlinge mit eren (AvT, V. 7205) auf und beschließt später, ihnen einen beliebigen Anteil an den Anreizgeschenken des Königs zu überlassen (vgl. AvT, V. 7275–7277). Ebenso findet die materielle Entlohnung durch reiche petten prott (AvT, V. 10383) im Text Erwähnung (s. ähnlich AvT, V. 10383, 9171). 441 Wand-Wittkowski konstatiert, dass Brieffälschungen das am häufigsten zu beobachtende Problem der realen Praxis mittelalterlicher Briefkommunikation darstellte, bemerkt aber auch,

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Aktualitätsverlust,442 „komplizierte[] Zugangsvoraussetzungen für die Benutzer schriftlicher Informationen“,443 unüberwindbare Distanzen, Verbreitung von Fehlinformationen,444 faule und unzuverlässige Boten, sprachliche Barrieren445 ausgeklammert. Vielmehr werden die medialen Potenziale der Formen sowie

dass in den literarischen Texten eher selten auf dieses Thema eingegangen wird (die Erwähnung von Versiegelungen kann als eine Anspielung auf die Möglichkeit der Brieffälschung gelesen werden, vgl. Wand-Wittkowski, Briefe, S. 40f.). Im literarischen Beispiel Mai und Beaflor geht das Problem der Brieffälschung mit der Inkompetenz bzw. Eigensinnigkeit des Boten zusammen (s. Anm. 4/209), andere Beispiele für gefälschte literarische Briefe finden sich in Chrétiens Lancelot, Heinrichs Eneasroman, Rudolfs Weltchronik (vgl. Ernst, Schriftlichkeit, S. 320–323). 442 Auch dieses Problem tritt offenbar kaum in literarischen Briefdarstellungen zutage (vgl. Wand-Wittkowski, Briefe, S. 73). 443 Wandhoff, Der epische Blick, S.  305. Gemeint ist zum Beispiel, dass das Zeichensystem nicht dekodierbar sein könnte, oder aber die fehlende Wirkmächtigkeit einer Textkomposition. Wandhoff beschreibt, dass das Verhältnis zwischen dieser möglichen Schwierigkeit und den vielfältigen Nutzen eines Schriftsystems bei der Kommunikation und Informationsspeicherung der entscheidende Faktor in der Frage, ob skriptographische Kommunikations- und Verwaltungsformen sich durchsetzen können, sei. Dass ein Brief einer Figur vorgelesen wird, ist – darauf mach Wand-Wittkowski aufmerksam – noch kein sicherer Hinweis auf die mangelnde Lesefähigkeit dieser, sondern kann auch Ausdruck der hohen Stellung der Figur sein (vgl. WandWittkowski, Briefe, S.  39). Wo die Kompetenz, ein Schriftstück zu entziffern, nicht vorliegt, wird das daher deutlicher formuliert. Im Mai und Beaflor wird das Problem beschrieben, dass der Inhalt einer schriftlichen Botschaft dem Empfänger ohne Hilfe eines kooperativen Dritten unzugänglich bleibt. Als in Griffon das vermeintliche Antwortschreiben Mais (eigentlich der von dessen Mutter gefälschte Brief) eintrifft, soll der ortsansässige Geistliche diesen lesen und vortragen – wan erz wol chan (MuB, V. 5632) –, um den Inhalt publik zu machen (vgl. MuB, V. 5629– 5632). Die beiden verantwortlichen Grafen und auch Beaflor scheinen hingegen des Lesens nicht mächtig zu sein. Aufgrund des Inhaltes weigert sich der Geistliche, dieser Bitte nachzukommen (vgl. MuB, V. 5641–5678). An die Nachricht ist nur heranzukommen, weil die Grafen schließlich noch einen Schreiber finden, der ihnen den Briefinhalt vorträgt (MuB, V. 5700–5709). 444 Die Szenen im Orient zeigen, dass über Boten auch Unwahrheiten, Halbwahrheiten und Gerüchte Verbreitung finden. Mehrmals erfährt der Perser über Boten die Kunde seines eigenen Todes, die sich im Land verbreitet. Im ersten Fall berichtet ein Zwerg betrübt von dem vermeintlichen Tod des gerade vor ihm stehenden Persers (den werden Persan./der leider niulich ist erlagen, RvB, V. 18398f.), das zweite Mal ist es der Bote des Königs von Aschalon, der Reinfried und dem Perser gegenüber verkündet, man halte sie für verdorben leider (RvB, V. 22871) und klage um sie (vgl. RvB, V. 22872f.). 445 Ausnahme ist die Erwähnung der Rekrutierungsbriefe des Bârucs im Reinfried, welche in aller sprâche (RvB, V.  16523) verfasst werden, um die Verbündeten aller entfernter Länder zu erreichen. Diese kurze Erwähnung zeigt, dass auch sprachliche Differenzen mit den per Brief überwindbaren räumlichen Distanzen verbunden sind, semantische Gehalte aber durch die Überführung in unterschiedliche Sprachen geradezu beliebig weit verbreitbar sind. In der Beiläufigkeit und Singularität der Erwähnung scheint diese Herausforderung nicht von zentralem Interesse zu sein.

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auch die möglichen narrativen Funktionen ihrer Erwähnung oder Ausgestaltung in den einzelnen Passagen anschaulich. Jede Textstelle, die briefliche Kommunikation beschreibt, erwähnt auch das dazu notwendige zweite Trägerelement des Boten und konzipiert dieses als wichtigen medialen Bestandteil von Fernkommunikation. Den Texten ist ein Bewusstsein, wenn damit auch noch nicht notwendigerweise ein explizites Interesse an dieser Form nachzuweisen. Ein Blick auf die Kontexte der Integration dieses fernkommunikativen Elements macht deutlich, dass das konventionalisierte raumüberwindende Potenzial zur Handlungs- und Figurenmotivation entlang der jeweiligen Textstruktur häufig verwendet wird, ohne das Augenmerk auf den medialen Prozess zu lenken. Doch neben zahlreichen beiläufigen Erwähnungen gibt es auch Passagen, die das Agieren eines Boten ausgestalten. Insofern repräsentieren der Reinfried und der Apollonius nicht nur die lebensweltliche Relevanz von Boten und die handlungsinitiierende Funktionalisierbarkeit von Botenfiguren, sondern artikulieren außerdem ein Interesse an spezifischen medialen Fähigkeiten der medialen Form, die mit narrativen Potenzialen von Botenfiguren wie zum Beispiel multiperspektivischer Darstellung verknüpft sind. Die zentrale Fähigkeit ihres medialen Wirkens, die zuverlässige und schnelle Dis­tanzüberwindung, steht mit einer imposanten Ausnahme nicht im Fokus des Text­interesses. Das veranschaulicht, dass die Funktion der Boten nicht allein in der Trägerschaft aufgeht: Sowohl in der Rede als auch in ihrem Körpereinsatz für die Botschaft erweist es sich als förderlich oder sogar notwendig für die erfolgreiche Fernkommunikation, dass Boten sich selbst einbringen. Als eigenständige Personen werden sie außerdem wichtig, wenn sie selbst entscheiden müssen, welcher Nachricht sie Präferenz einräumen und mit wem sie kooperieren. Boten erweisen sich als potentiell multimedial agierende Formen als vielfältig einsetzbar, zeigen aber auch in der Kombination mit Briefen ihre andauernde Relevanz als autark agierende Mittler. Der menschliche Faktor, den sie vertreten, indem sie als ausführendes sowie vor allem aufnehmendes Organ des Senders/der Senderin auftreten, ohne dabei in der Repräsentation aufzugehen und den eigenen argumentativen Standpunkt aufzugeben, erweist sich als unverzichtbar. So können sie die situationsadäquate Interpretation einer Botschaft im Sinne des Senders/ der Senderin sicherstellen oder aber neben räumlichen auch soziale Differenzen überbrücken. Schriftliche Erzeugnisse haben hingegen durch die Fixierung der Nachricht die Möglichkeit, das rhetorische Potenzial von Sprache auszuspielen und so ihre Wirkung subtil zu steuern. Mit unterschiedlichen Mitteln vermögen sie Präsenz und Nähe zu erzeugen, Distanzierung zu leisten sowie Distanzierung zu vermitteln, die Befindlichkeit des Senders/der Senderin erfahrbar zu machen und

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den Empfänger von kooperativem Handeln zu überzeugen.446 Korrespondierend dazu ist auffällig, dass das Textinteresse jeweils bei der konkreten Gestaltung des Brieftexts liegt und weniger bei den praktischen Schritten der materiellen Formung447 oder deren Transport. Die behandelten Brieftexte erweisen sich als intradiegetisch aussagekräftig und erfolgreich – wenn auch nicht vorrangig in Gesprächsersatzfunktion. Ihre primäre narrative Funktion besteht selten in der Darstellung dialogähnlicher Redebeiträge. Auserzählte Brieftexte führen zwar Handlungsstränge weiter, indem sie die räumlich getrennten Figuren miteinander verbinden und die Veränderungen in den Beziehungen der Kommunikationspartner darstellen, sie dienen aber in erster Linie der Darstellung des Figureninnenraums oder fungieren als Beispiele überzeugender Rhetorik. Dabei kommen unterschiedlich Strategien zur Anwendung und es entstehen Texte, die nicht nur von den Bemühungen um Darstellung zeugen, sondern auch von den Entwürfen der darin verhandelten Themen Partnerschaft und Herrschaft. Der Umstand, dass in diesen von Reisemöglichkeiten geprägten Texten die Überwindung von Raum kein großes Problem zu sein scheint und das Kommunikationsproblem kein Interessenschwerpunkt der Texte ist,448 ließe sich als ein Symptom der diesen Texten attestierten ,Krisenlosigkeit‘ (s.  Kap.  2.2) oder als Verweis auf die historische Etabliertheit des fernkommunikativen Mediensystems am Ende des dreizehnten Jahrhunderts, auf die perfekt eingeübten, professionalisierten Praktiken, deuten. Doch erstens wird das schnelle und zuverlässige Handeln der Boten und die Strukturiertheit und Klarheit der Briefe in den lobenden Worten der Erzählinstanz oder der Figuren nicht als Selbstverständlichkeit, sondern als Ergebnis umsichtigen und kooperativen medialen Handelns präsentiert. Und zweitens schmälert die Problemlosigkeit der Prozesse nicht das

446 Der Variationsreichtum in der konkreten Gestaltung der Brieftexte offenbart, dass die literarischen Brieftexte sich weniger an formalen Standards orientieren und der formalisierte Brief nur eine Basiserscheinung ist, auf dessen Grundlage viel Freiraum für individuelle Ausgestaltung im jeweiligen Erzählkontext besteht. Darin bestätigt die Arbeit das Ergebnis Wand-Wittkowskis (vgl. Wand-Wittkowski, Briefe, S. 320). 447 Damit einher geht ein Desinteresse an der Medialität der Materialität brieflicher Botschaften. Kronzeugen für die Aussagekraft der äußeren Gestaltung eines Briefes gibt es in beiden Texten, die Passagen fallen aber kurz aus und weisen in ihrer Singularität in den Texten auf das relative Desinteresse der Texte an diesem Bestandteil der medialen Form hin. Aspekte wie das Schriftbild, welches in der Medialitätsforschung mit Sybille Krämers Begriff der ,Schrift­ bildlichkeit‘ akzentuiert wird (Krämer, Sybille: ‚Schriftbildlichkeit‘ oder: Über eine (fast) vergessene Dimension der Schrift. In: Bild – Schrift – Zahl. Hrsg. von ders./Horst Bredekamp, München 2003 [KULTURTECHNIK], S. 157–176), kommen gar nicht zur Sprache. 448 So bspw. Wand-Wittkowski: „Spuren einer Kommunikationsdebatte [sind] anhand der Briefeinlage im Roman nicht zu entdecken“ (Wand-Wittkowski, Briefe, S. 74f.).

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Interesse an ihrer Darstellung. Die Vorgänge verlieren durch ihre Konventionalität nicht an narrativem Reiz und veranschaulichen im Sinne eines medialen Diskurses gerade die Vielfältigkeit idealtypischer fernkommunikativer Strategien. Darüber hinaus verweisen die zuletzt in den Blick genommenen fernkommunikativen Experimente im Apollonius darauf, dass trotz Meisterung der Distanzen der Traum erweiterter und schnellerer Raumüberbrückung nicht an Faszinationskraft verliert, und dass konventionelle Mittel auch kreativ und innovativ umfunktionalisiert werden können. Während die Instrumentalisierung der konventionellen medialen Potenziale von Brief, Bote und Schrift in einem rituellen Werbungsprozess die kreative und sozial transgressive Nutzbarkeit medialer Instanzen außerhalb ihres ursprünglichen Kontextes zeigt, hebt das zuletzt besprochene Phänomen der Spiegelsäule hervor, dass das Phantasma der Verschiebung der Grenzen fernkommunikativer Möglichkeiten weiter besteht. Kommunikation über räumliche Distanzen lässt auch in Zeiten eines funktionierenden Fernkommunikationssystem Raum für Phantasmen, die die aktuellen Möglichkeiten übersteigen, die aber gleichzeitig die Frage aufwerfen, wie wünschenswert solche Transgressionen überhaupt sind. Poetologische Aussagen sind aus den Ähnlichkeiten der fernkommunikativen und literarischen Vermittlungstechniken und -herausforderungen abzuleiten. Während Botenfiguren auf die Notwendigkeit einer zwischengeschalteten Instanz hinweisen, deren Eigenständigkeit mögliche Veränderungen im Vermittlungsprozess impliziert, lassen sich die Möglichkeiten, aber auch die Grenzen und Unmöglichkeiten, die Figuren beim Verfassen erleben, auch auf die literarische Darstellung übertragen. Eine differenzierte, auch eine rezeptionslenkende Darstellung komplexer Themen ist im konzeptionellen, schriftsprachlichen Bereich erst denkbar, stets ist diese aber auch mit der eigenen Unzulänglichkeit konfrontiert. Dennoch vermögen solche Vermittlungen – so stellt in dieser Analogiebildung die Spiegelsäule dar, eine schillernde und faszinierende Präsenz zu entfalten, die trotz der jeweils nur ausschnitt- bzw. momenthaft direkten Zugriffe, die sie gewährt, eine unwiderstehliche Anziehungskraft besitzt.

5 Wissenswert und erinnerungswürdig – Zeit Medialer Aufbereitung, die nicht auf die Mobilisierung eines Kommunikationsbeitrags, sondern auf die Stabilisierung eines bestimmten Informationskomplexes zielt, stellen sich ganz eigene Herausforderungen. Die Abbildung solcher Bemühungen um Transmission im Reinfried und Apollonius steht in den folgenden Kapiteln im Zentrum. Im Vorfeld der Textanalyse soll es jedoch um die Vorstellung des Abspeicherns und Aufrufens von Ereignissen und Informationen und die Konzepte von ‚Wissen‘, ,Erinnerung‘ als Objekte dieser Vorgänge gehen, da diese sich maßgeblich auf die darauf zielenden medialen Strategien auswirken. In den sich anschließenden Kapiteln werden Textpassagen in den Blick genommen, in denen Figuren sich verschiedenster körpergebundener oder -entbundener Praktiken bedienen, um Inhalte zu verstetigen oder aber auf die Produkte solcher Bemühungen um das Bewahren stoßen. Die Aufmerksamkeit gilt dabei in jedem Kapitel einer anderen medialen Form, ihren Herausforderungen, Potenzialen und Darstellungsmöglichkeiten im narrativen Kontext.

5.1 Gegen den Ereignisstrom: Aspekte des Rückgriffs Zeit vergeht, doch das bedeutet nicht, dass alles außerhalb des Gegenwärtigen unzugänglich ist. Menschen bemühen sich darum, dass besondere Momente, Informationen und Ereignisse dem Strom der Zeit zum Trotz dauerhaft verfügbar sind. Bestimmte Begriffe und Metaphern tauchen immer wieder im Zusammenhang mit solchen Transmissionsvorgängen und daran beteiligten medialen Formen auf. Die Vorstellung ihres Wesens und ihrer Konstitution prägt das Bemühen um Bewahrung. Sie sollen daher vor der Auseinandersetzung mit den dargestellten Transmissionsvorgängen im Reinfried und im Apollonius thematisiert und auch dahingehend reflektiert werden, ob sich aus ihnen eine Kategorisierung der sehr diversen medialen Formen, derer sich die Figuren in den Texten bedienen, ableiten lässt.

https://doi.org/10.1515/9783110628913-005

Gegen den Ereignisstrom: Aspekte des Rückgriffs 

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5.1.1 Natürliches Erinnern, direkte Wissensweitergabe und die Grundmetaphorik des Speicherns Als Vergil in einer Binnenerzählung des Reinfried von Braunschweig den Magnetberg erreicht, muss er sich über tausend Jahre altes Wissen1 zu eigen machen, um die dort installierten Festungsanlagen unbeschadet betreten und zu dem Ziel seiner Reise, dem verschanzten Schwarzmagier Savilôn, vordringen zu können.2 Zu diesem Zweck sucht und findet er jenen Geist, der Savilôn bei der Errichtung der Verteidigungsmechanismen zur Hand gegangen war und den dieser in ein Glas verbannt hatte (vgl. RvB, V. 21532–21537, 21622–21624).3 Er lässt sich von dem Geist im Gegenzug zu dessen (temporärer) Freilassung4 in die Geheimnisse der Festungsanlage einweisen und findet so unbeschadet den Weg ins Innere des Berges (vgl. RvB, V. 21626–21655). Sein Erfolg ist durch die übernatürlich unproblematische Informationsweitergabe bedingt. Vergil kann auf die originär über jene wichtigen Informationen verfügende Instanz, den Geist, dessen Existenz anders als die des körperlich bereits verschiedenen Zauberers den Gesetzen der Zeit nicht unterliegt, noch gut zwölfhundert Jahre nach den Ereignissen zurückgreifen. Die Szene schildert den Idealfall eines stabilisierten Wissens: die andau-

1 Der Begriff ,Wissen‘ wird im Kap. 5.1.2 im Sinne einer Kategorisierungsoption diskutiert. 2 Die umfangreiche Magnetbergszene wird noch mehrmals von Interesse für diese Untersuchung sein. Eine Einführung in den Kontext, in dem auch dieses Grabmal auftaucht, sowie eine Auseinandersetzung mit der Tradition des Savilôn-Stoffs folgt in Kapitel 6.3.3 (s. inbes. die Anm. 6/488), da dort der Gesamtzusammenhang der einzelnen Ereignisse von größerem Interesse ist. 3 Der Text gibt keine Gründe für diese Handlung an. Der Hintergrund ist wohl hauptsächlich in der Texttradition zu suchen. Der Geist in der Flasche ist Herweg zufolge keine Erfindung des Dichters, sondern eine feste Größe im vormodernen Laienwissen über den Magnetberg aus der pseudohistorischen Wartburgkrieg-Überlieferung. Dort komme im Zabulon-Buch ein „mephistophelische[][r] Freigeist“ namens Melian (vgl. den Wartburgkrieg-Abdruck von K34 bei Siebert, Johannes: Vergils Fahrt zum Agetstein. In: PBB 74 [1952], S. 193–225, hier S. 203) vor, der dem im Reinfried im Glas eingeschlossenen Geist sowohl in seinem Schicksal als auch in seiner gelehrten und skrupellosen Art gleichkomme (vgl. Herweg, Glücksspiel, S. 63). Vgl. für eine ausführlichere Auseinandersetzung mit diesem Geist und der Tradition des hier aufgeführten Namens Siebert, Vergils Fahrt, S. 218, Anm. 12. Bei Lecouteux zählt er zu den nicht in allen Erzählungen vom Magnetberg enthaltenen, aber häufig auftauchenden Nebenmotiven des Stoffs (vgl. Lecouteux, Magnetberg, S. 63). Wenzel bespricht eine spätere Erzählung vom Geist im Glas (Hort von der Astronomie, um 1400) als transsphärische und zeitüberbrückende Wissensquelle (vgl. Wenzel, Franziska: Teuflisches Wissen. Strategien, Paradoxien und die Grenzen der Wissensvermittlung im Hort von der Astronomie. In: Literatur und Macht im mittelalterlichen Thüringen. Hrsg. von Ernst Hellgardt/Stephan Müller/Peter Strohschneider, Köln, Weimar, Wien 2002, S. 143– 163). 4 Vergil betrügt den Geist und sperrt selbigen erneut ein (vgl. RvB, V. 21708f.).

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 Wissenswert und erinnerungswürdig – Zeit

ernde Verfügbarkeit des ursprünglich Wissenden, den spätere Generationen als zuverlässigen Speicher nutzen können. Der Geist aus der Passage des Reinfried weist in seiner Funktion als Wissensfundus für Vergil Ähnlichkeiten zu Vorstellungen einer Informationszugriff ermöglichenden Instanz innerhalb des Menschen auf. Einen solchen innerpersonalen Zugriff illustriert der Apollonius von Tyrland. Der Protagonist trifft bei einem Fest am Ende des Textes auf Elanicus, eine Figur, die zu Beginn der Apollonius’schen Abenteuer eine kurze, aber entscheidende Rolle gespielt hatte (s. u.). Nun taucht er am Hof auf, spricht ein Lob aus und schenkt Apollonius ein prächtiges Horn (vgl. AvT, V. 20360–20374). Die Erzählung weist an dieser Stelle darauf hin, dass [e]s was der in gewarnet hett,/Do man in [Apollonius] in di acht det (AvT, V.  20357f.).5 Apollonius zeigt, dass er unwillkürlich auf die Ereignisse zurückzugreifen vermag. Ohne dass sich der Mann ihm vorgestellt hätte, verneigt Apollonius sich vor ihm und verspricht, ihm seine damalige Treue jetzt zu lohnen: Ich lone dir deiner treuwen: Es soll dich nicht berewen Das du mich warnest, guter man, Da ich in di ächt ward getan.’ (AvT, V. 20377–20380)

Apollonius macht sich angesichts des Auftretenden ein zurückliegendes Ereignis wieder präsent, erinnert6 daraufhin seine vergangene emotionale Bewegung und verleiht seiner damaligen Dankbarkeit in der Gegenwart Ausdruck.7 Impliziert wird ein kognitiver Zugriff der Figur auf vergangene Erfahrungen, den Elanicus durch sein Erscheinen bewirkt und der zeitgleich eine mit dieser Situation verknüpfte Emotion wachruft. Diese dargestellten Prozesse berufen sich gleichermaßen auf die Vorstellung, einen Zugriff auf einen Informationsspeicher darzustellen, der im ersten Fall außerhalb, im zweiten innerhalb der Figur, die diesen Informationszugriff erlebt, liegt. Apollonius’ Verhalten lässt sich als Nutzung der alltagssprachlich, aber auch in der Mehrzahl der theoretischen und philosophischen Abhandlun-

5 Apollonius ist nach der Aufdeckung des Inzests aus dem unmittelbaren Machtbereich Antiochius’ geflohen, weiß jedoch nichts von dem Kopfgeld, das auf ihn ausgeschrieben ist, als er Tarsis erreicht. Dort begegnet er Elanicus, der ihn nicht als Chance begreift, sich zu bereichern, sondern Apollonius von der Ächtung unterrichtet und zur Vorsicht mahnt. Eine monetäre Entlohnung schlägt Elanicus aus. Die Verweisstelle ist in den Versen 896–958 zu finden. 6 Der Begriff wird im Folgekapitel 5.1.2 im Sinne einer Kategorisierungsoption diskutiert. 7 Damals hatte der Mann die Belohnung für seine Unterstützung ausgeschlagen (vgl. AvT, V. 940–958).

Gegen den Ereignisstrom: Aspekte des Rückgriffs 

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gen als das ,Gedächtnis‘ bezeichneten Speicherkapazität interpretieren. Der Geist aus dem Beispiel des Reinfried wirkt wie die figurierte Externalisierung dieser Instanz. In beiden Fällen wird die Instanz als ein dem ständigen Fluss der Zeit widersagender Speicherungsort von Informationen konzipiert, auf den immer wieder zurückgegriffen werden kann.8 Die zur Szenenbeschreibung gewählten Begriffe des Zugriffs oder des Aufrufens sind insofern typisch als sie sich zum Ausdruck der kognitiven Leistung, Vergangenes mental gegenwärtig präsent zu machen, einer Metaphorik bedienen, die seit Beginn der (dokumentierten) Auseinandersetzung mit solchen Prozessen beobachtbar ist. Durch unterschiedliche religiöse und laikale Gesellschaftsformen hindurch werden kulturelle Speicherungstechniken als Gedächtnis- und Erinnerungsmetaphern9 in Anspruch genommen; ebenso konstant ist die konzeptuelle Differenzierung zwischen

8 Vgl. die Definition des Gedächtnisses bei Ferretti, Silvia: Zur Ontologie der Erinnerung in Augustinus’ Confessiones. In: Mnemosyne Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung. Hrsg. von Aleida Assmann/Dietrich Harth, Frankfurt a. M. 1991 (Fischer anfangs 10724), S. 356– 362, hier S. 359. Die Forschung zum ,Gedächtnis‘ findet größtenteils im Forschungsdiskurs um ,Erinnerung‘ statt und ist in den Einträgen zum Lemma ,Erinnerung‘ in den einschlägigen Konversationslexika präsent. In den Lexikoneinträgen ohne fachwissenschaftliche Ausrichtung fällt die Nähe und teilweise Identität der Begriffe ,Gedächtnis‘ und ,Erinnerung‘ auf. In den Definitionen der Wörterbücher kommt jeweils das eine zur Erklärung des anderen zum Einsatz und umgekehrt (vgl. die Artikel ,Erinnerung‘/,Gedächtnis‘ im Deutschen Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm: ,Erinnerung‘: Bd. 8 Emporerheben–Exzitieren. Neubearbeitung, Stuttgart 1999, Sp. 1842–1845; ,Gedächtnis‘: Bd. 4. 1. Abt. 1. Hälfte Forschel–Gefolgsmann, bearbeitet von Jacob Grimm, Karl Weigand und Rudolf Hildebrand , Leipzig 1878, Sp. 1927–1937 oder Weiss-Schäfer im Goethe Wörterbuch (Weiss-Schäfer, Dorothea: ,Erinnerung‘ In: Goethe Wörterbuch Bd. 3, Sp. 322 ff. = http://www.woerterbuchnetz.de/GWB?lemma=erinnerung [21. Februar 2019] sowie Weiss-Schäfer, Dorothea: ,Gedächtnis‘ In: Goethe Wörterbuch Bd. 3, Sp. 1176ff. = http:// www.woerterbuchnetz.de/GWB?lemma=gedaechtnis [21. Februar 2019]). Die enge Verbindung belegt auch der Blick ins etymologische Wörterbuch. ,Gedächtnis‘ wird trotz der unterschiedlichen Grundbedeutungen (vgl. Kluge, Etymologisches Wörterbuch, S. 338 sowie S. 255) zu einem Synonym für ,Erinnerung‘ oder aber zu einer Bezeichnung für das ,Erinnerungsvermögen‘ (vgl. hier S. 338). 9 Prominent sind die Bibliothek, der Speicher, das Buch oder Schrift. Sie zeugen von verschiedenen nebeneinander existierenden Vorstellungen der Organisation des ,Gedächtnisses‘ (s. die Ausführungen bei Assmann, Aleida: Zur Metaphorik der Erinnerung. In: Mnemosyne Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung. Hrsg. von Aleida Assmann/Dietrich Harth, Frankfurt a. M. 1991 [Fischer anfangs 10724], S. 13–35).

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(Speicher-)Kapazität (,Gedächtnis‘) und aktiver Nutzung (,Erinne­rung‘).10 Auch mittelalterliche memoria-Konzepte11 legen wieder aufrufbaren Informationsbe-

10 Weinrich stellt dar, dass im abendländischen Kulturkreis hauptsächlich zwei große metaphorische Traditionen beobachtbar sind, die sich mal stärker auf den Begriff des ,Gedächtnisses‘ – Magazinmetaphern –, mal auf den der ,Erinnerung‘ – Wachstafelmetaphern – beziehen (vgl. Weinrich, Harald: Typen der Gedächtnismetaphorik. In: Archiv für Begriffsgeschichte 9 [1964], S. 23–26, hier S. 26). Dies veranschaulicht die Übereinstimmung der von Aleida Assmann skizzierten Bilder für das Gedächtnis und Erinnerungsvorgänge (vgl. Assmann, Metaphorik) mit den Bildern, die historische theoretische Texte zur memoria entwerfen (vgl. Wenzel, Imaginatio und Memoria, S. 59). Offenbar wird (auch) im Mittelalter das ,Gedächtnis‘ meist als passive und unbewusst funktionierende Institution, die einem Speicher gleich Informationen aufnimmt und festhält, dargestellt, während das Konzept der ,Erinnerung‘ (bzw. des Erinnerns) auf die konkreten Prozesse des Zugriffs auf diesen Speicher angewandt wird (vgl. Carruthers, Mary J.: Mental Images, Memory Storage, and Composition in the High Middle Ages. In: Zur Bildlichkeit mittelalterlicher Texte. Hrsg. von Haiko Wandhoff, Berlin 2008 [Das Mittelalter 13/1], S. 63–79, hier S. 64). Neuere psychologische Ansätzen und die davon beeinflussten sozial- und kulturwissenschaftlichen Auseinandersetzungen legen die anhaltende Gültigkeit dieser Unterscheidung nahe. ,Erinnern‘ ist, so Hahn, der Vorgang des Vergegenwärtigens, der sich in einem konkreten Augenblick ereignet (vgl. Hahn, Alois: Habitus und Gedächtnis. In: Arbeit am Gedächtnis. Für Aleida Assmann. Hrsg. von Michael C. Frank/Gabriele Rippl, München 2007, S. 31–46, hier S. 32). Das ,Gedächtnis‘ bzw. seine Bestände hingegen seien die Grundlage des ,Erinnerns‘, bedingen ihre Möglichkeit (vgl. dazu hier S. 34, vgl. auch Assmann, Metaphorik, S. 14, 17, sowie den Artikel ,Erinnerung‘. In: Meyers großes Konversationslexikon (http://www.woerterbuchnetz.de/Meyers?lemma= erinnerung [21. Februar 2019]). 11 Da weder ,Gedächtnis‘ noch ,Erinnerung‘ als Begriffe für den Zeitrahmen der behandelten Texte belegt sind, ist man bei der Schärfung eines historisch anschlussfähigen Erinnerungsbegriffs auf mittelalterliche Konzepte, die mit anderem Vokabular arbeiten, zurückgeworfen. Die im Mittelalter dem Themenkomplex wohl am nächsten kommenden Theorien versammeln sich unter dem Schlagwort memoria. Es bezeichnet ein besonders in Theologie, Liturgie und Philosophie einflussreiches, aber auch andere Lebens- und Kulturbereiche prägendes, in sich nicht geschlossenes Konzept, das im Totengedenken fußt, sich aber von dieser spezifischen Bedeutung löst und dann allgemein auf die Vergegenwärtigung und Präsenzmachung des Abwesenden oder Vergangenen abhebt (vgl. Oexle, Otto Gerhard: Memoria, Memorialüberlieferung, 1. Definition. In: Lexikon des Mittelalters Bd. 6 Lukasbilder–Plantagenêt, München 1993, Sp. 510–512 sowie Schneider, Chiffren, S. 203, die Oexles Ausführungen kritisiert, ihm aber darin zustimmt, dass der mittelalterliche memoria-Begriff sich nicht ausschließlich auf das Totengedenken beziehe; vgl. zu den Überschneidungen der philosophisch-theologisch ausgerichteten Überlegungen und laikaler Praktiken Wenzel, Hören und Sehen, S.  321–337). Augustinus’ Ausführungen im zehnten und elften Buch der Confessiones erklärt zuerst Oexle als Bezugspunkt der populären memoria-Theorien. Diese seien die theologische, philosophische und psychologische Grundlage des memoria-Verständnisses des Mittelalters (vgl. Oexle, Memoria, hier Sp. 511). Diese Einschätzung ist auch an andere Stelle (u. a. mit Bezug auf Oexle) wiederzufinden (vgl. Ferretti, Erinnerung, S. 358; Schneider, Chiffren, S. 17, 203; Bumke, Joachim: Die Blutstropfen im Schnee. Über Wahrnehmung und Erkenntnis im ‚Parzival‘ Wolframs von Eschenbach, Tübingen 2001

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ständen eine Instanz zugrunde und gehen von der Beteiligung von memoria und imaginatio für die Erkenntnis12 aus.13

[Hermaea. Germanistische Forschungen 94], S. 35). Für einen Überblick der mnemotechnischen Theorien von Thomas von Aquin, Albertus Magnus, Bernhard von Clairvaux, des nunc igitur, der Artificiosa memoria secundum Parisien s. Heilmann-Seelbach, Sabine: Konzeptualisierungen von Mnemotechnik im Mittelalter. In: Kunst und Erinnerung. Memoriale Konzepte in der Erzählliteratur des Mittelalters. Hrsg. von Ulrich Ernst/Klaus Ridder, Köln, Weimar, Wien 2003 (Ordo. Studien zur Literatur und Gesellschaft des Mittelalters und der Frühen Neuzeit 8), S. 3–29. Für eine Einführung in die Stellung der memoria in der antiken und mittelalterlichen Rhetorik s. Knape, Joachim: Memoria in der älteren rhetoriktheoretischen Tradition. In: Memoria in der Literatur. Hrsg. von Wolfgang Haubrichs, Stuttgart 1997 (Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 105), S. 6–21. Zur Verarbeitung der bereits bei Aristoteles zu findenden Aspekte bei Thomasins Der Wälsche Gast vgl. Wenzel, Hören und Sehen, S. 326f.; Wenzel, Imaginatio und Memoria, S. 61. Wissenschaftssystematischer Ort dieser Theorien sind Philosophie (Metaphysik/ Erkennt­nistheorie), Theologie und Psychologie (vgl. Fritsch-Rössler, Waltraud: Multiple Memorialisierung in Gottfrieds von Straßburg ,Tristan‘. In: Kunst und Erinnerung. Memoriale Konzepte in der Erzählliteratur des Mittelalters. Hrsg. von Ulrich Ernst/Klaus Ridder, Köln, Weimar, Wien 2003 [Ordo. Studien zur Literatur und Gesellschaft des Mittelalters und der Frühen Neuzeit 8], S. 159–197, hier S. 160). Der Begriff finde sowohl im Bezug auf die Fähigkeit des Erinnerns (memoria naturalis) als auch in Bezug auf die Kunst des Merkens (memoria artifiosa) und die traditionelle Mnemotechnik der Rhetorik (ars memorativa) Anwendung (vgl. hier S. 159–197, S. 160). Verbreitet ist der memoria-Begriff vor allem durch die Fundierung der christlichen Religion auf der Erinnerung an wichtige Schlüsselmomente der Heilsgeschichte (vgl. Oexle, Memoria, hier Sp. 510f.). Die höfische Literatur entwickelt eigene, aber deutlich auf das memoria-Konzept und die ihm zugrunde liegenden Vorstellungen zurückgreifende Zugänge zum Thema ‚Erinnerung‘. Die Texte entfalteten einen Reflexionsraum, in dem Erfahrung und die Erinnerung an sie zum Ausgangspunkt von Individualität wird (vgl. Schneider, Chiffren, S. 17). Der Begriff und seine Rolle für die mittelalterliche Literatur ist seit den 1990er Jahren durch die Aufarbeitung mittelalterlicher Traktatliteratur in den Fokus der Forschung gerückt (vgl. Heilmann-Seelbach, Mnemotechnik, S. 3), einen Überblick über die Arbeiten bis Anfang der 2000er Jahre geben Ernst, Ulrich/Ridder, Klaus: Einleitung. In: Kunst und Erinnerung. Memoriale Konzepte in der Erzählliteratur des Mittelalters. Hrsg. von dens., Köln, Weimar, Wien 2003 (Ordo. Studien zur Literatur und Gesellschaft des Mittelalters und der Frühen Neuzeit 8), S. IX–XVII, hier S. IXf., Anm. 6. 12 Mit der Fähigkeit des Überwindens und Verbindens zählt memoria bei Augustinus zu den drei, bei Thomas von Aquin zu den vier inneren Sinnen (vgl. Bumke, Blutstropfen, S. 35). Obwohl die bei jenen entwickelten Vorstellungen vom Zusammenhang der ,Erinnerung‘ im Prozess der Erkenntnis nicht einheitlich oder direkt aneinander anschlussfähig sind, scheinen beide in der mittelalterlichen Kultur bekannt und anerkannt gewesen zu sein (vgl. hier S. 43). Eine wichtige Rolle für den meist stufenartig gedachten Weg zur Erkenntnis spielt die memoria in beiden Fällen (vgl. hier S. 36f.; vgl. auch Wandhoff, Ekphrasis, S. 24f., 38f.; Ferretti, Erinnerung). 13 Vgl. Ferretti, Erinnerung. Das ,Gedächtnis‘ (memoria) kommt in Oexles Lesart Augustinus’ einer Speicherkompetenz gleich. Es enthält „die Sinnesbilder von Dingen der Außenwelt als Wahrnehmungen oder als Vorstellungen der Phantasie, […] ideelle Gegenstände (Wissensinhalte zum Beispiel), […] seelische und geistige Zustände, […] jegliches Erkennen, Lernen und

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Auf Grundlage psychologischer und neurobiologischer Untersuchungen ist deutlich, dass das ,Gedächtnis‘ als metaphorische und komplexitätsreduzierende Bezeichnung für eine allgemein-menschliche neuronale Fähigkeit zu komplexen Vorgängen als Grundlage unterschiedlicher Wahrnehmungstypen des Aufrufens und nicht als tatsächlich lokalisierbarer Speicherort zu verstehen ist.14 Da sich kein primär zuständiges Hirnareal für die Gedächtnisfunktionen lokalisieren lässt, ist davon auszugehen, dass es keinen zentralen Sitz des Gedächtnisses oder einen abgrenzbaren Vorgang des Zugriffs gibt, sondern Prozesse im Wahrnehmungsmodus des Zugriffs15 innerhalb eines individuell ausgeprägten

Wissen bis hin zum Wissen des Wissens, bis zum Erinnern der Erinnerung und zum Erinnern des Vergessens. Memoria ist also Bewußtsein im umfassendsten Sinne. Sie ist jene Kraft, die bei allem Wechsel der Bewußtseinsinhalte immer die Identität des Bewußtseins herzustellen und zu sichern vermag“ (Oexle, Otto Gerhard: Die Gegenwart der Lebenden und der Toten. Gedanken über Memoria. In: Gedächtnis, das Gemeinschaft stiftet. Hrsg. von Karl Schmid, München 1985, S. 74–107, S. 77, zit. n. Schneider, Chiffren, S. 203, die gleichzeitig auf die Problematik an Oexles Verwendung des Bewusstseinsbegriffs hinweist). In eine ähnliche Richtung führt Thomas’ Bild der ,memoria‘ als Archivar, der über gespeicherte Erinnerungen verfügt, während die ,imaginatio‘ sich dieser Vorräte zur Vergegenwärtigung lange vergangener Erlebnisse bedient, um das geforderte Handeln daran zu orientieren (vgl. Wenzel, Imaginatio und Memoria, S. 65; dieser Zusammenhang ist nicht mit der Rolle von memoria und imaginatio für den Weg zur Erkenntnis, den Augustinus annimmt, identisch). 14 Das Bild eines lokalisierbaren, festen und systematisch-geordneten Ablageplatzes steht für innere, komplexe und wenig schematisch ablaufende Prozesse ein, in denen „das Bewusstsein sich in bestimmten Situationen eines Inhalts bewusst ist, den es sich als zwar vergangenes, aber doch wirkliches Geschehnis vorstellt, also nicht als blosse Phantasie oder Erfindung. Es mag sich zwar aus der Perspektive eines Beobachters um eine Illusion handeln. Aber derjenige, der sich erinnert, empfindet das anders. Er hat den zwingenden Eindruck, dass seine ,Gedächtnisvorräte‘ wirkliche Gegebenheiten der Vergangenheit repräsentieren, auf die er aktuell zugreift. Ihm erscheint sein Gedächtnis wirklich als Speicher, dessen ,Bestände‘ er besser oder schlechter ,wiederfindet‘, die sich vermehren oder vermindern, über die er eine genauere oder ungenauere Übersicht hat usw. Mit dieser Selbstauffassung von sich als einem ,Speicher‘, in dem sich etwas befinden muss, wenn man es wieder finden können soll, verbirgt sich das Gedächtnis seine eigene konstruktive Leistung“ (Hahn, Alois: Erinnerung und Prognose. Zur Vergegenwärtigung von Vergangenheit und Zukunft, Wiesbaden 2003 [Otto-von-Freising-Vorlesungen der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt 22], S. 2). ,Es‘ kann daher auch in unbegrenztem Umfang Informationen verarbeiteten, ist niemals ,voll‘ oder muss bestimmte Inhalte für die Aufnahme anderer ,löschen‘ (vgl. Carruthers, Mental Images, S. 65). 15 Die suggerierten Zugriffe lassen sich adäquater als spezifisches Erleben einer komplexen Hirnfunktion beschreiben, bei der bestimmte neuronale Vorgänge mit Empfindungen verknüpft sind, die auf Grundlage gesellschaftlicher Zuschreibungen als bestimmte Form des Denkens – z. B. als Aufrufen von ,Wissen‘ oder ,Erinnerungen‘ – eingestuft werden: „Durch den Prozeß, den wir ,Erinnern‘ nennen, werden jene im Nervensystem dauerhaft angelegten kognitiven Strukturen (Gedächtnis) ,prozessualisiert‘. Das bedeutet, daß Erinnerungen sich nicht im Gedächtnis

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neuronalen Musters (Engramme) stattfinden,16 an denen alle Hirnregionen beteiligt sind.17 Aufgrund der Komplexität der Vorgänge wird diese Fähigkeit im Bild

befinden; Erinnern kann nicht sinnvoll als Zugriff auf eine Datei oder ein Lexikon erklärt werden. Der Erinnerungsprozeß entspricht vielmehr strukturell der Wahrnehmungssynthese. Im Erinnerungsprozeß wird – durch einen gegebenen Anlaß – so viel Potenzial im Nervensystem aktiviert, daß ein ,gebahntes‘ Erregungsmuster aktiviert wird und damit andere Muster hemmt oder ausschließt“ (Schmidt, Siegfried J.: Gedächtnis – Erzählen –Identität. In: Mnemosyne Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung. Hrsg. von Aleida Assmann/Dietrich Harth, Frankfurt a. M. 1991 [Fischer anfangs 10724], S. 378–397, hier S. 383). Auf die diesen Prozessen entspringenden, aber als vorgängige Einheiten wahrgenommenen Informationsbündel wird mit Labeln wie ,Wissen‘ und ,Erinnerung‘ referiert. Die Vorstellung verschleiert, dass dabei nicht wirklich auf unverändert archivierte Speicherstände zurückgegriffen wird (vgl. Ernst/Ridder, Einleitung, S. X mit Verweis auf Schmidt, Gedächtnis, S. 378; s. auch Kap. 5.3.3). 16 „Die neurowissenschaftliche Gedächtnisforschung bezeichnet die neuronalen Aktivierungsmuster, die zu einer Vorstellung oder einer Erinnerung gehören, als Engramme; Engramme repräsentieren, wenn man will, die Spuren all unserer Erlebnisse und Erfahrungen“ (Welzer, Harald: Das kommunikative Gedächtnis und woraus es besteht. In: Arbeit am Gedächtnis. Für Aleida Assmann. Hrsg. von Michael C. Frank/Gabriele Rippl, München 2007, S.  47–62, hier S. 53). Weiter heißt es: „[…] Exogramme [sind] permanent, das heißt, sie überschreiten die zeitlichen und räumlichen Grenzen der individuellen Existenz und den Horizont persönlicher Erfahrung“ (ebd.). Dabei bezieht er sich vor allem auf Merlin Donald, der Engramme wiederum als „impermanent, small, hard to refine, impossible to display to awareness for any length of time, and difficult to locate and recall“ beschreibt (Donald, Merlin: A Mind so rare. The evolution of Human Consciousness, New York, London 2001, S. 309). Im neurowissenschaftlichen Jargon sind ,Erinnerungen‘ Leistungen in einem kognitiven System „(mit)bestimmt durch vergangene Erfahrungen und Lernprozesse, die die Konnektivität neuronaler ,Verschaltungen‘ material verändert haben“ (Schmidt, Gedächtnis, S. 385). Die Ergebnisse des ,Erinnerns‘ folgen gesellschaftlich entwickelten Schemata; Exogramme stellen all jene Gedächtnisstrukturen dar, die von außen auf das Individuum einwirken (vgl. Welzer, Das kommunikative Gedächtnis, S. 58; vgl. Reif-Hülser, Monika: Erzählen, Erinnern, Versöhnen? Beobachtungen zum Umgang Südamerikas mit den Folgen seiner traumatischen Geschichte und dem Versuch, die Demokratie zu wagen. In: Arbeit am Gedächtnis. Für Aleida Assmann. Hrsg. von Michael C. Frank/Gabriele Rippl, München 2007, S.  229–248, hier S.  229; Welzer, Das kommunikative Gedächtnis, S.  55 zum sogenannten ,autobiographischen Gedächtnis‘). Bereits Halbwachs wies in seiner Theorie des ,kollektiven Gedächtnisses‘ darauf hin, dass es keine Form der ,Erinnerung‘ gibt, die nicht an etwas Außerpersonales gebunden ist (vgl. Assmann, Jan: Die Katastrophe des Vergessens. Das Deutoronium als Paradigma kultureller Mnemotechnik. In: Mnemosyne Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung. Hrsg. von Aleida Assmann/Dietrich Harth, Frankfurt a. M. 1991 [Fischer anfangs 10724], S. 337–355, hier S. 346; vgl. Erll, Gedächtnis, S. 89, 93). 17 Vgl. Schmidt, Gedächtnis, S. 381. Insgesamt sei bisher wenig Stichhaltiges über Struktur und Funktionen der als ,Gedächtnis‘ bezeichneten Kompetenz herauszufinden gewesen (vgl. hier S. 378).

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einer medialen Entität, die den Zugriff auf der Vergangenheit entstammenden Informationen erlaubt, gefasst.18 Mittelalterliche Literatur interessiert sich in erster Linie für die negativen Effekte des Verlusts von Informationen über Zeiträume. Vor allem im volkssprachigen Roman des zwölften und dreizehnten Jahrhunderts wird häufig das Vergessen thematisiert,19 da die Erinnerungsproblematik eng mit Identitätsent­ würfen – ein zentrales Thema der Dichtungen – verknüpft ist: ,Vergeßlichkeit‘ scheint das paradigmatische Merkmal aller beschädigten oder unvollständigen Identitäten der mittelalterlichen Epik zu sein. Das richtige Maß an Erinnerung ist existenziell für denjenigen, der Herrschaft ausüben muß – Herrschaft über andere, aber eben auch über sich selbst. Er darf dem Sog der Gegenwärtigkeit nicht erliegen, sondern muß in der Lage sein, Realität abstrakt zu vermitteln, zu relativieren, zu vergegenständlichen, sich also dem, was als konkret erfahren wird, nicht auszuliefern, sondern es zu unterwerfen und zu bändigen. Nur wo diese Bändigung gelingt, kann gesicherte Identität entstehen, wo sie mißlingt, ist sie stets gefährdet oder schon verloren.20

Auch die Protagonisten des Reinfried von Braunschweig und des Apollonius von Tyrland drohen wichtige Ereignisse zu vergessen. Reinfried verfällt angesichts der Erfahrung des Sirenengesangs in eine Art Todessehnsucht (vgl. RvB, V. 22650– 22675); erst, als der Perser ihn ermahnt, von solchen Gedanken abzulassen, ob iuch ie liebe wart bekant (RvB, V. 22701), setzt bei Reinfried ein Vorgang ein, der deutlich macht, dass Reinfried die ehemals innige Beziehung zu Yrkâne zumindest zeitweise unter dem Eindruck des Gegenwärtigen vergessen hatte:

18 So stellt auch Assmann fest: „Wer über Erinnerung spricht, kommt dabei nicht ohne Metaphern aus. Das gilt nicht nur für literarische oder vorwissenschaftliche Reflexionen. Auch in der Wissenschaft geht jede neue Gedächtnis-Theorie meist mit einer neuen Bildlichkeit einher. Das Phänomen Erinnerung verschließt sich offensichtlich einer direkten Beschreibung und drängt in die Metaphorik“ (Assmann, Metaphorik, S. 13; vgl. auch Fritsch-Rössler, Memorialisierung, S. 160). 19 Vgl. Fritsch-Rössler, Memorialisierung, S. 164. 20 Philipowski, Körper, S.  157. Sie stellt fest: „Die mittelalterliche Dichtung ist voll von Beschreibungen dieses komplizierten Verfahrens der Einspeisung des zu erinnernden in ein Medium, dem Umgang mit diesem Medium und der Reaktivierung von Erinnerung“ (hier S. 140). Diese Behauptung untermauert sie mit Beispielen, die sowohl das Vergessen als auch das NichtVergessen-Können als Katastrophe und das ,Erinnern‘ als Herausforderung ausweisen: „Vergessen ist in der höfischen Epik eine nahezu allgegenwärtige Bedrohung und führt zu größten Irritationen“ (hier S. 142, s. zum Erec, Iwein und Tristan S. 145f.).

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bî diesen worten wart ermant sîn sin der wol getânen minneclîch Yrkânen diu sîn mit ganzen triuwen phlac und im ouch in dem herzen lac mit liebe ungemezzen. hât er ir hie vergezzen ein wîl, daz was kein wunder. so kam der minne zunder nu ân sende riuwe. ein fiur frisch unde niuwe sî in des fürsten herze stiez, daz in dâ von niht enliez vergezzen der vil klâren. man sach den helt gebâren baz denn er vor tæte. daz gedenken hæte in ein teil ze sinnen brâht, wan er hât sich vor verdâht an die süezen stimme, daz er tôdes grimme hatte gahtet kleine. nu wart im hie diu reine in sinnen lieber vil denn ê. sîn herze senete sich nu mê nâ ir denne ez tæte vor. (RvB, V. 22702–22727)

Der Erinnerungsprozess beginnt nicht von allein. Was die verschütteten Erlebnisse wieder freilegt, ist ein äußerer Anstoß – hier der Verweis auf erfahrene zwischenmenschliche Nähe in den Worten des Persers. Implizit war die Notwendigkeit eines äußeren Anstoßes für den Aufrufprozess21 auch in der eingangs geschilderten Begegnung von Apollonius und Elanicus enthalten. Anlass ist hier das Auftreten der Person, die mit den vergangenen Ereignissen verknüpft ist. Die Präsenz von Elanicus’ Körper, der bereits beim vergangenen Aufeinandertreffen anwesend war und eine Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart

21 Die bereits in der Antike von Aristoteles in De memoria et reminiscentia angestellten Überlegungen, die die Verknüpfung der Erinnerungs- bzw. Erkenntnisprozesse mit sinnlicher Wahrnehmung betonen (Carruthers, Mental Images, S. 64; vgl. ebenso Bumke, Blutstropfen, S. 35), fanden über Boethius und Cassidor ebenso Eingang in diesen Diskurs (vgl. Bumke, Blutstropfen, S. 35) und lassen sich auch bei Thomasin von Zerklaere, der die ars memorativa des Mittelalters im Wälschen Gast (v. a. ab V. 8789) zusammenfasst (Wenzel, Hören und Sehen, S. 326f.; vgl. zur dortigen Verknüpfung der Erinnerung mit dem Sehsinn auch Wenzel, Imaginatio und Memoria, S. 61), wiederfinden.

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schlägt, evoziert die mentale Präsenz der absenten schicksalshaften Ereignisse. Genauso regen die Worte des Persers unbewusst Reinfrieds Vermögen, Vergangenes präsent zu machen, an. Deutlicher wird die Funktionswiese der häufig notwendigen Evokation durch einen äußeren Anlass anhand der Textpassage um die Göttin Venus im Apollonius von Tyrland, die ein solches Aufrufen auf Figuren- und Erzählebene zugleich einfordert und provoziert. In der Unterredung bezüglich der Apollonius angelasteten Tugendverfehlungen (s.  Kap.  6.1.1) weiß Venus das Vermögen des Protagonisten, Erlebtes abzurufen, anzustoßen. Auf Apollonius’ Frage, [w]a und an welcher stund (AvT, V. 12121) er feige gewesen sein soll, antwortet sie mit der Aufforderung [g]e­dencke hin gegen Grotimunt, (AvT, V. 12129). Sie beginnt mit dem Appell, sich auf Ereignisse an einem bestimmten Ort zu besinnen, eine vergangene Situation gedanklich wieder aufzurufen. Im weiteren Verlauf der Gespräche finden sich ähnliche Wendungen.22 Diese Aufforderungen sind jeweils mit Informationen gekoppelt, die den Prozess lenken und zur betreffenden Situation führen. Über einen Schauplatz (Grotimunt, vgl. AvT, V. 12129) und über Figurennamen – genannt werden die Sirene (vgl. AvT, V. 12132), Kolkan (vgl. AvT, V. 12134), Piramort (vgl. AvT, V. 12138) und Ydrogant (vgl. AvT, V. 12141) – werden in nur vierzehn Versen (AvT, V. 12128–12142) drei längere Episoden der Abenteuerreise23 eindeutig identifizierbar referenziert. In einer zweiten Unterhaltung zwischen Apollonius und Venus fehlen explizite Hinweise auf das von Venus eingeforderte Aufrufen. Statt zum Erinnern aufzufordern, Schauplatz und Beteiligte zu nennen, formuliert Venus knapp: Du haissest Appolonius,/Du hettest dich Lonius genant:/Das ist ain luge so tzehant‘ (AvT, V. 12696–12698). Für Apollonius reicht diese Auskunft offenbar, um seiner Erinnerung zur passenden Situation den Weg zu bahnen. Ohne weitere Auskunft bezieht er sich in seiner

22 So heißt es noch im selben Redebeitrag nym auch in dein syn (AvT, V. 12136); in derselben Unterhaltung fordert sie außerdem erneut zu zukünftigem Erinnern auf, indem sie Apollonius auf die Kraft hinweist, die die Erinnerung an den Kuss der Diomena, entfalten kann. Diese sei hilfreich für die Wiedergutmachungskämpfe (vgl. AvT, V. 12207f.). 23 Streng genommen handelt es sich sogar um vier Passagen, denn über die Nennung der Sirene, die ihn für den Kampf gegen Kolkan ausrüstet, wird auch die Begegnung mit ihr und der darauf zulaufende Kampf des Apollonius gegen den Zentauren Achiron ins Gedächtnis gerufen. Die Darstellung umfasst beinahe vierhundert Verse (vgl. AvT, V. 4981–5369). Die Passage um die Tötung Kolkans erstreckt sich auf circa zweihundert (vgl. AvT, V. 5383–5595), die Flucht vor Piramort auf zweiundvierzig (vgl. AvT, V. 8368–8410), die gesamte zugehörige Episode auf vierhundert (vgl. AvT, V. 8171–8561) und der Kampf mit Ydrogant und Serpanta auf hundertsiebzig (vgl. AvT, V. 10685–10851) Verse. Nemrotts Gefangennahme des Apollonius und die Namenslüge wird in den Versen 7968–8056 erzählt.

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Antwort auf die zurückliegende Situation (vgl. AvT, V. 12709f.), mithilfe derer er versucht, sein Vorgehen zu legitimieren (s. Kap. 6.1.1). Die Beispiele veranschaulichen nicht allein den möglichen Effekt eines expliziten Erinnerungsanstoßes. Ebenso wird die Relevanz des Vergangenen für das Selbstverständnis, die bereits in der zitierten Aussage zur Rolle des Erinnerns und Vergessens in der mittelalterlichen Literatur angeklungen ist, deutlich. Jede Person macht eine Vielzahl an Erfahrungen, die sie als wichtig erachtet, die prägend wirken und lehrsam für die Zukunft sein können. Selbiges gilt auch für Gemeinschaften, deren Bezug auf bestimmte Informationsbestände wertvoll sowohl für die fortbestehende Existenz als auch für die Gruppenidentität ist. Die Sozialwissenschaften haben unter dem Stichwort des ,kollektiven Gedächtnisses‘ darauf hingewiesen, dass „nicht nur die individuelle, [sondern] auch die ,soziale Autobiographie‘ einer Gesellschaft […] weitgehend ,mit gedächtnisbasierten Erzählungen‘“ operiere24 und an der Institutionalisierung bestimmter Inhalte zu einem kollektiven ,Gedächtnis‘ arbeite.25 Der aus der wirkungsvollen26 Vorstellung eines kollektiven Gedächtnisses (memoire collective) bei Maurice Halbwachs27 und der Rezeption und Weiterführung in den Arbeiten Aleida und

24 Schmidt, Gedächtnis, S.  393. Vorrangiger Zweck kultureller Mnemotechnik sei jeweils die „Sicherung und Fortsetzung sozialer Identität“ (Assmann, Katastrophe, S. 343). 25 Das ,kollektive Gedächtnis‘ ist notwendigerweise institutionalisiert, wobei die Institutionalisierung die reale Bedeutsamkeit nicht ratifiziert, sondern sie erst kreiert (vgl. Hahn, Körper, S. 24f.). 26 Den Prozessen des ,Erinnerns‘ unterstellen bereits die erwähnten christlich-religiös-geprägten memoria-Konzepte des Mittelalters eine kollektiv-identitätsstiftende Dimension. Sie gehen von der gruppenkonstituierenden Bedeutung des ,Erinnerns‘ aus und sind auf das Erschaffen und Zelebrieren gemeinsamer ,Erinnerungsbestände‘ angelegt. Die gläubige Gemeinschaft entsteht im gemeinsamen ,Erinnern‘ bestimmter Ereignisse und der übereinstimmenden Interpretation dieser als göttliche Heilstaten (im Rahmen der Liturgie) (vgl. Oexle, Memoria). Die Aspekte des Konzepts, die das Gemeinschaftsempfinden betreffen, lassen sich recht problemlos aus dem religiösen und aufs Totengedenken fixierten Kontext lösen und auf andere Bereiche des Zusammenlebens übertragen, ohne jedoch außerhalb dieses explizit theoretisiert zu werden. So scheint es ebenso plausibel, eine solche Verbindung auch zu gemeinschaftlich oder individuell wichtigen Erlebnissen herstellen zu wollen, da diese den Erfahrungsschatz in wertvoller Weise prägen. Dass der mittelalterliche memoria-Begriff sich nicht ausschließlich auf das Totengedenken bezieht, sondern auch die Identitätsfrage miteinschließt, zeigt Oexle, Memoria. 27 Als Begründer der Forschung am kollektiven Gedächtnis bzw. an den davon ausgehenden Überlegungen zum kommunikativen und kulturellen Gedächtnis (und den zugehörigen Erinnerungsformen) bspw. bei Frank, Michael C./Rippl, Gabriele: Arbeit am Gedächtnis. Zur Einführung. In: Arbeit am Gedächtnis. Für Aleida Assmann. Hrsg. von dens., München 2007, S.  9–28, hier S.  15; Burke, Peter: Geschichte als soziales Gedächtnis. In: Mnemosyne Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung. Hrsg. von Aleida Assmann/Dietrich Harth, Frank-

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Jan Assmanns28 hervorgegangene Begriff des ,kulturellen Gedächtnisses‘ wird als Kollektivorgan,29 als „Sammelbegriff für alles Wissen, das im spezifischen Interaktionsrahmen einer Gesellschaft Handeln und Erleben steuert und von Generation zu Generation zur wiederholten Einübung und Einweisung ansteht“ definiert.30 Unter dem entwickelten Verständnis ist der Begriff des ,kollektiven

furt a. M. 1991 (Fischer anfangs 10724), S. 289–304, hier S. 290. Vgl. zur Genese seiner Theorie Hahn, Körper, ab S. 22 Ausgehend von einer Erklärung für individuelle ,Gedächtnis‘-Prozesse begreift Halbwachs diese als notwendigerweise gesellschaftlich beeinflusste Teilprozesse eines kollektiven Vorgangs, der bei ihm als Basis der Identität einer Gemeinschaft gilt und in dem je nach Biographiegeneratoren Erinnerungen generiert werden (vgl. hier S. 25). Die individuellen Teilprozesse sind jedoch wiederum gesellschaftlich geprägt. Halbwachs zufolge verwenden Individuen immer gesellschaftliche Bezugsrahmen, wenn sie sich erinnern, wodurch sich das Gedächtnis der Gruppe in den individuellen Gedächtnissen verwirkliche: „Nur Individuen können Träger von Gedächtnis sein […] gleichzeitig können Individuen jedoch nicht allein zu Gedächtnis­ trägern werden“ (Frank/Rippl, Gedächtnis, S. 16), da es kein mögliches Gedächtnis außerhalb des gesellschaftlichen Bezugsrahmens gibt. Das Individuum braucht Kommunikation und Identifikation mit einer Gruppe, um selbst gedächtnisartige Strukturen auszubilden. Aus der Summe individueller Gedächtnisse ergibt sich das kollektive Gedächtnis als gemeinsamer Speicher aller gesellschaftlich relevanten Informationen. Eine weitreichende Bedeutung und anhaltenden Einfluss erhält die Vorstellung eines ,kollektiven Erinnerns‘ vor allem durch die Rezeption und Weiterentwicklung des durch Halbwachs entworfenen, jedoch aufgrund des spezifischen historischen Kontextes seiner Arbeiten – Halbwachs’ Überlegungen bleiben fragmentarisch, da er 1945 dem Nazi-Regime zum Opfer fällt (vgl. Frank/Rippl, Gedächtnis, S. 15) – unscharfe Begriff in den Arbeiten Aleida und Jan Assmanns. Vgl. ausführlicher zu Halbwachs’ Theorie des individuellen und des kollektiven Gedächtnisses Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992, S. 14–47. 28 Federführend für fast alle kulturwissenschaftlich orientierten Arbeiten war die medientheoretisch basierte Gedächtnistheorie Aleida und Jan Assmanns. Sie entwickeln auf der bei Halbwachs gelegten Grundlage eine differenzierte Terminologie und stellen diese auf eine medientheoretische Basis (vgl. Erll, Gedächtnis, S. 87f.). 29 Aleida und Jan Assmann führen den Terminus des ,sozialen Gedächtnisses‘ als Bezeichnung für alle kollektiven bzw. kulturellen Informationsbestände und ihre – vorwiegend außerhalb des eigenen Erlebens liegenden – Inhalte ein. Dieses entspricht als ,Speicher‘ der Ereignisse, die außerhalb der eigenen Reichweite geschehen sind (vgl. Hahn, Körper, S. 24), der exogrammatischen Struktur, die als alle außerpersonalen Einflüssen in der Neurobiologie den Engrammen gegenübergestellt wird (vgl. Welzer, Das kommunikative Gedächtnis, S. 54; s. auch Anm. 5/16). 30 Assmann, Jan: Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität. In: Kultur und Gedächtnis, hrsg. von dems./Tonio Hölscher, Frankfurt a. M. 1988 (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 724), S. 9–19, hier S. S. 9. An anderer Stelle wird dieses Gebilde beschrieben als „den jeder Gesellschaft und jeder Epoche eigentümlichen Bestand an Wiedergebrauchs-Texten, -Bildern und -Riten […], in deren ,Pflege‘ sie ihr Selbstbild stabilisiert und vermittelt, ein kollektives Wissen vorzugsweise (aber nicht ausschließlich) über die Vergangenheit, auf das eine Gruppe ihr Bewußtsein von Einheit und Eigenart stützt“ (hier S. 15; s auch Frank/Rippl, Gedächtnis, S. 19).

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Gedächtnisses‘ selbstverständlich metaphorisch für gesellschaftlich-kommunikative (statt neuronale) Strukturen als Grundlage interpersonal kohärenter Wahrnehmungen zu verstehen. Die Vorgänge des Aufrufens betreffen immer nur eine Person und können neurobiologisch und psychologisch auch nur als individuelle Prozesse beschrieben werden; der Begriff des ,kollektiven Gedächtnisses‘ hingegen verweist darauf, dass bestimmte Informationsbündel als kollektives Eigentum gedacht werden und somit auch der Umgang mit ihnen gemeinschaftliches Bemühen um eine überindividuelle Übermittlung darstellt. Die Übermittlung richtet sich an ein vorweggenommenes Kollektiv aus Einzelpersonen mit jeweils ähnlichen, aber auch fundamental unterschiedlichen Erfahrungen und Wissensbeständen; Ziel dieser Bemühungen ist die Inszenierung und Stabilisierung „kollektiv geteilter und symbolisch vermittelter Annahmen über die Wirklichkeit“,31 auf die sich Gemeinschaften (identitätsstiftend) beziehen.32 Das obige Zitat zeigt  – ebenso wie die zitierte Aussage über das Vergessen in der mittelalterlichen Literatur –, dass diese identitätsstiftenden Bestände sich in der Mediation erst formieren.33 Idealbedingungen wie die dauerhafte Präsenz des originär Wissenden sind in der Regel nicht gegeben; Menschen verspüren aber – wie beide Texte zeigen –

Für eine ausführlichere, aber dennoch knappe Einführung zu Assmanns Konzept vgl. Mecklenfeld, Pia: Narrative Identity Theory Reconsidered – Mediation of Cultural Identity Through Narrative. In: Philologie im Netz 73/3 (2015), S. 78–100, hier S. 83–85 (http://web.fu-berlin.de/ phin/phin73/p73t4.htm [21. Februar 2019]). Bestimmte Narrative sind bereits so eingeübt, dass die grundlegende mediale Prägung kaum wahrgenommen wird (vgl. hier S. 82). 31 So Neumann/Nünning zum Begriff des ,kulturellen Wissens‘ (vgl. Neumann/Nünning, Kulturelles Wissen, S. 6; vgl. auch die bei ihnen angeführte weiterführende Literatur. Vgl. zu Erinnerungsinszenierung als Identitätsgeneratoren Hahn, Erinnerung, S. 14–21. 32 Vgl. Assmann, Katastrophe, S. 342 sowie weiter zum Zusammenhang von Erinnerung, Identität und Gesellschaft Welzer, Das kommunikative Gedächtnis, S. 61; Schneider, Chiffren, S. 203; Classen, Albrecht: Objects of Memory as hermeneutic Media in medieval german Literature. Hartmann von Aue’s Gregorius, Wolfram von Eschenbach’s Parzival, Thüring von Ringoltingen’s Melusine, and Fortunatus. In: ABäG 65 (2009), S.  159–182, hier S.  161; Schmidt, Gedächtnis, S. 391. Letzterer verweist auf Dubois, der bereits 1907 auf die Bedeutung des ,inneren Gesprächs‘ hingewiesen hat, und auf die kognitivistische Wende in der Psychologie und Psychotherapie, die den inneren Dialog betont. 33 Unterschiedliche Forschungsrichtungen sind sich einig darüber, dass ohne Interaktion ,Wissen‘ weder erworben noch transferiert werden kann (vgl. Beckers, Kommunikation, S. 30; Dittmar, Medienwissenschaft, S. 11). Auch die Arbeiten zum kollektiven ,Erinnern‘ in Nachfolge der assmannschen Überlegungen machen die Rolle der medialen Form für das Funktionieren massenwirksamer Prozesse der Wissensrepräsentation stark (vgl. Erll, Gedächtnis, S.  89 mit Bezug auf: Assmann, Aleida: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, München 2006, S. 33. Diese hält dort fest, das kulturelle Gedächtnis ruhe „auf

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dennoch das Bedürfnis, ihre Erfahrungen und ihr ,Wissen‘ zu bewahren und weiterzugeben.34 Da der unmittelbare Zugriff auf vergangene Ereignisse selbst ohne exorbitante Zeitspannen nicht unproblematisch und ob der Personengebundenheit des ,natürlichen‘ Gedächtnisses35 von begrenzter Dauer ist, haben

transferierbaren und tradierbaren kulturellen Objektivationen wie Symbolen, Artefakren, Medien und Praktiken sowie deren Institutionen, die sie von Menschen als sterblichen Individuen ablösen und durch ihre Übertragbarkeit ihre langfristige Geltung sichern.“ (hier S. 33). Die Anleitungen zum ,personalen Erinnern‘ zeigen, dass auch diese Vorgänge eine Formatierung der Informationsbestände erfordern, welche niemals ganz unabhängig von der kollektiven – und damit notwendigerweise medialen – Prägung sein kann. Diese Dimension vernachlässigen sozialwissenschaftliche Ansätze wie die Aleida Assmanns, welche in der Abhängigkeit von symbolischer Mediation gerade den Unterschied zwischen kulturellem, sozialem und neuronalem Gedächtnis versteht (Erll, Gedächtnis, S. 89). Das lässt sich jedoch vor allem auf die typisch medientheoretisch ausgerichtete Medienauffassung zurückführen, die unter ,Medien‘ hauptsächlich Mittel der Massenkommunikation versteht. Zur Mitteilung ,personaler Erinnerung‘ ist ohnehin der Gebrauch einer medialen Form notwendig, um dem Gehalt eine kommunikative Form zu verleihen. „Die kollektive Geprägtheit des individuellen Gedächtnisses ist als eine inhärent mediale Geprägtheit zu verstehen, denn auf ,soziale Denkströmungen‘ haben wir nur über symbolische Kommunikation und mithilfe eines ganzen Spektrums kulturell verfügbarer Medien Zugriff“ (hier S. 93). S. auch hier S. 97, wo Erll betont, welch große Rolle die Medien als konstitutiver Teil des soziokulturellen Kontextes bei der Herausbildung des individuellen Gedächtnisses spielen. 34 Dieses Bedürfnis setzt sich wie es in den Texten scheint, gegen alle Unwahrscheinlichkeit des Überdauerns durch. Einige Szenen illustrieren dieses Bedürfnis der unbedingten Weitergabe (selbst ohne Aussicht auf Transmission). Dazu zählt das Gespräch zwischen dem Herrn aus Ejulat, Reinfried und dem persischen Prinzen auf dem Magnetberg im Reinfried, bei der erstgenannter all sein Erfahrungswissen über die Ränder der Welt teilt (vgl. RvB, V. 21824–21966; vgl. zum thesaurusartig aufbereiteten Wissen Röcke, Lektüren, S. 289f.; vgl. zur handlungslogischen Unwahrscheinlichkeit, dass dieses Wissen den Magnetberg wieder verlässt RvB, V. 22072f.; zur Verlagerung eigener Erfahrung in die Narration Neudeck, Continuum historale, S. 181; Herweg, Glücksspiel, hier bes.  S.  52 sowie Lecouteux, Magnetberg). Mündliche Übermittlung, die auf die Weitergabe einer durch die Zeit gefährdeten Information, jedoch nur auf einen spezifischen Empfänger bzw. eine Empfängerlinie ausgerichtet ist, taucht in den Offenbarungen der Ligurdis auf. Bis dato hatte sie das Geheimnis um die Abstammung Tarsias gehütet; Tarsia hält ihre Pflege­eltern für ihre leiblichen Eltern (vgl. RvB, V. 15131–15136), nun – kurz vor ihrem sicheren Tod – verspürt sie den Drang, Tarsia einzuweihen (AvT, V. 15159–15168). Wie weit mündliche Weitergabeprozesse zu tragen vermögen, testet der Apollonius an dieser Stelle nicht aus. Denn Tarsia und ihr Vater werden bereits wiedervereint, bevor mündliche Weitergabe des genealogischen Wissens notwendig ist. 35 Bestimmte mediale Formen werden genau dann relevant, wenn eine Sicherung von Sachverhalten nicht mehr über Face-to-face-Situationen gewährleistet ist, jedoch dennoch bewahrt werden soll: „Eine medial vermittelte Geschichte, so Halbwachs, wird überhaupt erst nötig, wenn das mündlich kommunizierte Gedächtnis an seine biologischen Grenzen stößt, also die letzten Zeitzeugen sterben“ (Frank/Rippl, Gedächtnis, S. 18).

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Informationsbestände einen prekären Status und drohen in Vergessenheit zu geraten, kommt es nicht zur Aufbereitung in einer dauerhaft rezipierbaren und Aufmerksamkeit bindenden Form.36 Geht es nicht nur um persönliche Zugriffe auf bereits selbst Erlebtes, sondern um die Sicherung von Informationen über weite Zeitspannen, verschärfen sich – ohne übernatürliche Existenzen – die Herausforderungen bei der Gewährleistung solcher Informationsweitergabe. Um einem potenziellen Rezipienten Fakten zu übermitteln oder bekannte Fakten zu aktualisieren, muss über eine stabile, zeitbeständige Formatierung die langlebige Existenz der Informationen ermöglicht werden. Externalisierung und damit auch Medialisierung der Inhalte ist für die Garantie ihres Bestehens in folgenden Generationen unabdingbar. Da aus Informationen, die abrufbar aufbereitet werden, personen- und kulturbildende Entitäten, identitätsstiftende ,Erinnerungen‘ und lebenswichtiges ,Wissen‘ werden können, bemühen sich Menschen darum, Informationen, die sie für ihre Person oder die Kultur, in der sie leben, für relevant halten, zu bewahren und sowohl vor dem Vergessen als auch vor unkontrolliertem Zugriff zu sichern. Denn: „to have an object of memory means to hold the key both to the past and the future.“37 Als Bestrebung, Zugang zu Informationen zu ermöglichen, sind die Resultate der Bemühungen sowohl äußerst wertvoll als auch latent gefährlich. Sie können die Kreativität befeuern und Per-

36 Die Notwendigkeit einer materiellen Form für das ,Nicht-mehr-Präsente‘ stellt in Bezug auf Prozesse des ,Erinnerns‘ Philipowski in folgender Formulierung dar: „Denn erinnert werden muß nur das, was nicht gegenwärtig ist. Erinnert werden kann auch nur das, was nicht schon dem Vergessen anheimgefallen ist. Vormals Präsentes muß im Akt der Erinnerung deshalb einen Spezialstatus einnehmen – einen Zwischen-Körper, der sich dem zu Erinnernden für die Zeit seiner Ungegenwärtigkeit leiht, sich gleichsam zum Träger oder zur Materie der abstrakten zu memorierenden Information macht“ (Philipowski, Körper, S.  139). In diesem Sinne sind sie ordnungs- und gemeinschaftsstiftend: „So ist etwa unsere Kenntnis der (nicht-miterlebten) Geschichte ausschließlich medial vermittelt: Denkmäler, Geschichtsbücher, Fotografien, Dokumentarsendungen, Filme und Internet versorgen uns mit bestimmten Vorstellungen von der Vergangenheit“ (Erll, Gedächtnis, S.  94). Beckers fasst kollektives ,Wissen‘ als „[a]lle Manifestationsformen veröffentlichten Wissens“ (Beckers, Kommunikation, S. 31), was erinnerbare mündliche Äußerungen, ein kommunikatives oder kollektives Gedächtnis auf Grundlage von Publikationen oder modernen Medien einschließt und darauf hinweist, dass kollektives ,Wissen‘ per se immer kommuniziertes ,Wissen‘ sei (vgl. hier S.  31; s.  außerdem hier S.  92). Daher sind im Regelfall überhaupt nur Vorgänge des ,Wissens‘ und ,Erinnerns‘ wahrnehmbar, die in irgendeiner Form medial formatiert werden. All jenes, was kollektiv als ,Wissen‘ und ,Erinnern‘ der Gruppe erlebt werden soll, bedarf der Entäußerung, der medialen Aufbereitung. Da der Vorgang der versicherten Teilung und Vermittlung kommunikative Manifestationen der jeweiligen Bestände verlangen, sind kollektives ,Wissen‘ und kollektive ,Erinnerung‘ grundsätzlich immer kommunikativ (und damit explizit und deklarativ). 37 Classen, Objects of Memory, S. 179.

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spektiven eröffnen,38 in den falschen Händen aber auch Schaden anrichten. Die Ergebnisse dieser Bemühungen, Objekte und Inszenierungen, die den Bezug zu Vergangenem anregen, werden hier als mediale Formen im Dienste der Transmission gefasst und sollen im Folgenden im Zentrum der Textbeobachtung stehen. Es geht um Figurenmaßnahmen, bei denen eine bestimmte Materialität gezielt eingesetzt wird, um sich selbst oder anderen einen bestimmten Gehalt dauerhaft zur Verfügung zu stellen.39 Kern solcher Bemühungen ist die Überwindung des flüchtigen Charakters der an bestimmte Raum-Zeit-Konstellationen gebundenen Erfahrungen und die Transformation in stabile, zeitenthobene Entitäten mit mehr oder weniger exklusiver Zugänglichkeit. Die bereits angeführten Textpassagen zeugen bereits von einem Grundinteresse beider Texte an der Möglichkeit einer Stabilisierung von Informationen. Darüber hinaus entwerfen sie zahlreiche Szenen, die Figuren in der Aufbereitung von Informationen für die Überwindung zeitlicher Distanzen darstellen oder in denen Figuren auf Produkte dieser Aufbereitungsprozesse stoßen. Die in den Texten zutage tretende mediale Vielfalt zeugt von der potenziellen Einsetzbarkeit aller Mittel und Kanäle der Kommunikation:40 Körperzeichen (s. Kap. 5.2.1),

38 Zu der kaum zu überschätzenden Bedeutung von bewahrten und wieder aufrufbaren Informationen äußert sich Carruthers zu Beginn ihres Aufsatzes emphatisch, indem sie behauptet, man könne jegliche musische Produktivität auf den Umgang mit aufbereiteten und abgespeicherten Informationsbeständen (,memory‘) zurückführen: „This essay could be thougt of as an extended meditation on the ancient myth that Mnemosyne, ,memory‘, is the mother of all the muses. That story places memory at the beginning, as the matrix of invention for all human arts, of all human making, including the making of ideas; it memorably encapsulates an assumption that memory and intervention are, if not exactly the same, the closest thing to it. In order to create, in order to think at all, human beings require some mental tool or machine, and that machine lives in the intricate networks of their own memories“ (Carruthers, Mental Images, S. 63). 39 Wenn ,Erinnern‘ bedeutet, etwas imaginativ zu inszenieren (diese Formulierung stammt von Matussek, Peter: Performing Memory. Kriterien für einen Vergleich analoger und digitaler Gedächtnistheater. In: Paragrana 10 [2001], S. 303–334, hier S. 319, mit Bezug auf Edelman, Gerald M: Unser Gehirn – ein dynamisches System. Die Theorie des neuronalen Darwinismus und die biologischen Grundlagen der Wahrnehmung, München 1993), dann bedeutet das Bemühen um ,Erinnerung‘ die Veräußerlichung, Sichtbarmachung dieser Imagination durch sinnlich aufnehmbare Zeichen. 40 Vgl. Erll, Gedächtnis, S. 89 sowie Classen, Objects of Memory, S. 160f., bei dem es heißt: „information can be stored in many different formats and objects.“ Unterschiedliche Aufzählungen, die den Eindruck der theoretisch wahrgenommenen Möglichkeiten vor Augen führen bei Burke, Gedächtnis, S. 292f.; Welzer, Das kommunikative Gedächtnis, S. 50; Wenzel, Imaginatio und Memoria, S. 57. Schon in der Bibel werden Hilfsmittel kultureller Transmissionsprozesse unterschiedlicher Materialität eingeführt: Das 5. Buch Mose gebe Anleitungen zu kulturell geformter

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festgefügte sprachliche Einheiten (s. Kap.5.2.2), verschiedene For­men der Schriftfixierung (s. Kap. 5.2.1), Grab- und Ehrenmale (s. Kap. 5.3.2 und 5.3.3) werden als Transmissionsformen präsentiert. Die Menge an medialen Möglichkeiten eröffnet den Blick auf unterschiedliche Formen und Techniken, die aus den spezifischen Konfrontationen der Zeitgebundenheit menschlicher Existenz erwachsen. Die jenen Darstellungen zukommenden narrativen Funktion sind ebenso vielfältig und werden nicht vorab, sondern in den den einzelnen Strategien gewidmeten Kapiteln thematisiert. Um mit einem für alle konkreten Herausforderungen geschärften Blick die medialen Strategien, die auf inhaltlicher Ebene der Texte zu beobachten sind, analysieren zu können, soll im Folgenden unter Rückgriff auf die Annahmen der Medienkulturwissenschaft und der Transferwissenschaft sowie die soziologischen und psychologischen Erklärungsmodelle für intra- und interpersonale Erinnerungsprozesse41 geklärt werden, wie die sichere Überführung des Flüchtigen ins Stabile funktionieren kann. Das diversifiziert ausfallende Ensemble an Transmissionssituationen und medialen Formen in den Texten verpflichtet außerdem dazu, die Kategorisierungsmöglichkeiten der einzelnen Prozesse im Vorfeld der Analyse zu bedenken. Daher gehen den weiteren Textbeobachtungen theoretische Überlegungen zu den Intentionen, die solchen Stabilisierungs-

,Erinnerung‘, nennt das Einschreiben ins Herz (Bewusstmachung), die Weitergabe an Folgegenerationen (Erziehung), Denkzeichen/Körpermarkierung (Sichtbarmachung), Inschriften auf Türpfosten oder auf gekalkten Steinen (Limitische Symbolik, Speicherung und Veröffentlichung), Versammlungen und Wallfahrten (Feste der kollektiven Erinnerung), Poesie (mündliche und schriftliche Überlieferung, schließlich Kanonisierung), so Assmann, Katastrophe, S.  339–341. Häufig ist die Verwendung einzelner oder kombinierter auditiver und visueller Techniken, die auf dem System der Sprache beruhen zu beobachten. Gerade kulturelle Erinnerung wird aber auch durch größere Rahmen präsent gehalten, bei denen unterschiedliche mediale Formen zum Tragen kommen: Wort, Schrift, Bild und Figur bewirken im Kirchenraum zusammen die (erinnernde) Vergegenwärtigung des Heilsgeschehens (vgl. Wenzel, Imaginatio und Memoria, S. 61), Assmann verweist auf die Multimedialität zeremonieller Erinnerungsinszenierung: „In dieser zeremoniellen Kommunikation wird die kulturelle Erinnerung in der ganzen Multimedialität ihrer symbolischen Formen inszeniert; in mündlichen Stammgesellschaften sind dies vor allem Rituale, Tänze, Mythen, Muster, Kleidung, Schmuck, Tätowierung, Wege, Male, Landschaften etc., in Schriftkulturen sind es die kanonischen oder klassischen Grundtexte“ (Assmann, Katastrophe, S. 343). 41 Den erinnerungsbildenden Funktionen medialer Formen widmen sich die Medienkulturwissenschaft (zur Disziplin vgl. Erll, Gedächtnis, S. 90) und die neuro(medien)kulturelle Forschung (vgl. hier S. 95); im Hinblick auf Wissenstransmission beschäftigt sich die Transferwissenschaft mit den jeweiligen Zusammenhängen (vgl. Beckers, Kommunikation, S.  95). Auf dem Gebiet der innerhalb einer Person stattfindenden Vorgänge hat die Psychologie mediale Strategien zu beschreiben versucht (vgl. Erll, Gedächtnis, S. 89).

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versuchen zugrunde liegen, ihren Effekten sowie den zugehörigen theoretischen Grundlagen voran.

5.1.2 ,Wissen‘ und ,Erinnerung‘ als Kategorisierungsoptionen und die Aussagekraft dargestellter Transmission Mediale Formen der Transmission sind darauf angelegt, Vorgänge der Wahrnehmung im Modus des Zu- bzw. Rückgriffs auf einen Speicher anzustoßen und dadurch Informationsbestände vor dem Vergessen zu bewahren. Da die von den jeweiligen medialen Formen zu überwindende Distanz auf zeitlicher Ebene liegt, sollen sie Informationen nicht mobilisieren, sondern gerade festigen. Generell handelt es sich bei solchen Formen des Informationsmanagements um den Versuch, Flüchtigem Dauerhaftigkeit zu verleihen und die zukünftige Präsenz bestimmter Informationsbestände auch unter sich möglicherweise verändernden sozialen Rahmen42 zu garantieren. Aus diesem Ziel ergeben sich transmissionsspezifische Herausforderungen, welche nach besonderen medialen Strategien verlangen. Die Figuren im Apollonius von Tyrland und im Reinfried von Braunschweig finden ganz verschiedene Lösungen. Der Reinfried präsentiert drei Grabmale und drei – ausführlich und elaboriert ausfallende – Beispiele der schriftlichen Informationsfixierung, während im Apollonius in weitaus größerem Ausmaß und mit besonderer Vielfalt von zum Memorieren geeigneten Sprüchen und Liedern, von Inschriften43 und Büchern, von Grab- und Ehrenmalen oder von Körpermanipulationen erzählt wird.44 Nicht ohne Grund also stellt Schneider

42 Vgl. Assmann, Katastrophe, hier S. 347f. 43 Der Begriff wird hier im heuristischen Verständnis für solche Kombinationen von Schriftzeichen und Material verwendet, bei denen es sich beim „Schriftträger nicht um einen Stoff handelt, der gewöhnlich für das Schreiben verwendet wird (heute sind das vor allem Papier oder der Computer-Bildschirm), sondern um Materialien wie Stein, Holz, Metall. Zum anderen erwartet man gemeinhin von Inschriften, dass sie sich durch einen erkennbaren oder fühlbaren ,Höhenunterschied‘ gegenüber der Ebene des Schriftträgers auszeichnen. Die Schriftzeichen sind dann ,erhaben‘ beziehungsweise eingeritzt oder eingegraben“ (Lieb/Ott, Schrift-Träger, S.  17) und nicht in dem von Lieb und Ott selbst verwendeten Verständnis einer gesteigerten Verbindung von Schrift und Schriftträger, die die Ausblendung der Materialität unmöglich macht (hier S. 18). 44 Die medialen Aufbereitungsprozesse gehen zwar in ihrer Existenz im Text größtenteils bereits auf die lateinische Version zurück, haben aber in der Bearbeitung Änderungen erfahren und wurden im Binnenteil durch ähnliche und andere Formen ergänzt. In der Textausgabe der Historia nachzulesen sind das Tarser-Ehrenmal (S. 31), die Nachricht, die Lucinas Sarg beigelegt wird (S. 59), das Grabmal Tarsias (S.75, 85), das Ehrenmal von Apollonius und Tarsia (S. 109f.) (ebenso das Rätsel des Antiochius [S.  21] und ein zehnteiliger Rätselkorpus [S.  97–103]). Auf

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fest, dass der Apollonius sich als Text, der von Erinnerung erzählt, interpretieren und beschreiben lasse.45 Die Schwerpunkte der Analyse ergeben sich aus den Hauptschwierigkeiten, die sich aus der Herausforderung zeitlicher Distanz ableiten. Da abweichende kognitive Schemata oder Kontexteffekte umso wahrscheinlicher werden, je größer die zeitliche Distanz zwischen Kommunikationspartnern ausfällt,46 muss bereits zu Beginn des geplanten Transmissionsprozesses der noch ganz unbestimmte Rezeptionsprozess, die dem möglichen Empfänger zur Verfügung stehenden Denk-Schemata und Rezeptionsgewohnheiten imaginiert und berücksichtigt werden.47 Soll der Benutzerkreis begrenzt werden,48 verschärft sich diese Problematik, muss doch einerseits spätere Rezipierbarkeit gewährleistet, die Verwendung durch Unbefugte jedoch erschwert werden. Die Auseinandersetzung mit den Textpassagen muss herausarbeiten, welche der hier angedeuteten grundsätzlichen Probleme die Texte in ihrer Darstellung wahrnehmen und welche Strategien in den medialen Formen in Überlieferungs- und Memorialfunktion erkennbar werden, um diesen entgegenzusteuern. Thematisiert werden muss im Rahmen dieses Zusammenhangs die Art und Weise, wie bestimmte Inhalte für die Überlieferung aufbereitet oder aber wieder aufgerufen werden. Dabei ist bspw. auf

einen detaillierten Vergleich wird hier verzichtet, an gegebener Stelle wird die Ver­sion der lateinischen Vorlage zitiert. 45 Vgl. Schneider, Chiffren, S. 20. Dementsprechend richtet sie ihre Analyse auf den Komplex ,Erinnern und Vergessen‘ aus. 46 Da beide Parteien an der Sinnkonstitution beteiligt sind (s. Kap. 3.1.2), sind für ein Verständnis ähnliche kognitive Schemata notwendig, denn „[t]he greater the differences between their system of relevances, the fewer the chances for the success of the communication“ (so Schütz, Alfred: Symbol Reality and Society. In: Collected Papers I. The problem of social reality. Hrsg. von dems./Maurice Natason. Den Haag 41973 (Phaenomenologica 11), S.  287–356, hier S.  323, zit. n. Keller, Kommunikative Konstruktion, S. 88). Selbst formuliert Keller dort: „Das kollektiv erzeugte Diskursuniversum bildet die Grundlage und Voraussetzung des Funktionierens von Apperzeptions- und Appräsentationsprozessen. Die im kommunikativen Handeln erfolgende Sprach- und Symbolverwendung ist eine durch soziale Konventionalisierungen geregelte gesellschaftliche Praxis“ (s. auch Kap. 3.1). 47 Hilfreich ist es, Formen zu nutzen, die sich bereits als mediale Transmissionsmittel eta­bliert haben oder zumindest aufgrund etablierter Rezeptions- und Deutungsmuster verstehbar sind (vgl. Fritsch-Rössler, Memorialisierung, S. 161). 48 Ein Beispiel für die Generierung eines elitären Kreises durch ,Wissen‘ im Rahmen der untersuchten Texte stellt der vertuschte Inzest im Apollonius von Tyrland dar. In der Verrätselung (s. Anm. 5/139, 5/143) wird der Übergriff des Königs zu „einem verborgenen Wissen, dessen Teilhabe die Voraussetzung bildet, Zugang zur Herrschaft in Antiochia zu erlangen“ (Schneider, Chiffren, S. 200).

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das Verhältnis von Narrativtät49 und (Ab)Bildlichkeit,50 von Präsenz des Absenten und Präsenz der Absenz in der Übermittlung zu achten.51 Ebenso verdient das

49 In ihrer Struktur folgen solche Aufbereitungsprozesse meist dem Schema kohärenter Erzählungen, indem sie sich darum bemühen, durch die Bewahrung bzw. Herstellung kausaler und temporaler Relationen einzelne Geschehnisse zu ordnen und mit Sinn auszustatten (vgl. Schmidt, Gedächtnis, S.  388 mit Bezug auf Rusch, Gebhard: Erkenntnis, Wissenschaft, Geschichte. Von einem konstruktivistischen Standpunkt, Frankfurt a. M. 1987; vgl. für eine Zusammenfassung der Erkenntnisse über die Bedeutung des Erzählens für die Bildung und Festigung bestimmter Erinnerungen und Identitäten durch Ranking und Ricoeur Mecklenfeld, Narra­ tive Identity). 50 Gerade die visuelle Aufbereitung scheint Kanter zufolge besonders effektiv für das Bewahren und Abrufen von Informationen zu sein, da bildhafte Informationen leichter abzuspeichern und aufzurufen seien (vgl. Kanter, Heike: Die Macht in Bildern – Habitus, Bildakt & ikonische Macht. In: Visuelles Wissen und Bilder des Sozialen. Aktuelle Entwicklungen in der Soziologie des Visuellen. Hrsg. von Petra Lucht/Lisa-Marian Schmidt/René Tuma, Wiesbaden 2013 [Wissen, Kommunikation und Gesellschaft], S. 107–122, hier S. 109f.). Schrift und Bild beschreiben Wenzel/Wenzel als Medien der Wahrnehmung, die „vor dem inneren Auge vergegenwärtigen, was außerhalb der Reichweite des äußeren Auges liegt“ (Wenzel/Wenzel, Tafel des Gregorius, S. 102). Den Erinnerungs- (oder Wissens-)inhalten eine sichtbare Form zu geben, bedeutet sicherzustellen, dass der visuelle Zugang zu Vergangenem dauerhaft besteht und passierbar ist (vgl. auch Classen, Objects of Memory, S. 160). Damit schließen sie an eine weit zurückreichende Tradition an, die die Fähigkeit des Abspeicherns und Aufrufens mit der Kompetenz der Einbildung in einen engen Zusammenhang stellt. Eine ähnliche Konstanz wie für die Metaphern für ,Gedächtnis‘ und ,Erinnerung‘ (s. Anm. 5/9; 5/10) lässt sich im Hinblick auf die in aussagekräftiger Konstanz zu findenden Ratschläge zur Optimierung der eigenen Fähigkeit, gezielt zu erinnern und Wissensinhalte sicher zu speichern, behaupten. Alle bekannten Formen der Mnemotechnik beruhten – so Weinrich – auf der Vorstellung, dass visuelle Einbildungskraft besonders wichtig für die effektive Nutzung der durch die Gedächtniskompetenz verfügbaren Informationen ist. Sie empfehlen „Gedächtnisgegenstände in Form von ,Bildern‘ (phantasmata, imagines) zu visualisieren und diese Gedächtnisbilder an vorgestellten ,Örtern‘ (topoi, loci) zu deponieren“ (Weinrich, Über Sprache, Leib und Gedächtnis, S. 90f.). Vgl. zur ars memorativa auch FritschRössler, Memorialisierung, S. 159–197, S. 160f. und Heilmann-Seelbach, Mnemotechnik, S. 4; vgl. zur Relevanz von (architektonischen) Bildern und Räumlichkeit für die ars memorativa auch und besonders in christlicher Perspektive Wandhoff, Ekphrasis, S. 107–115. Ein Ausgangspunkt dieser Verbindung von bildlicher Vorstellung und Aufrufvermögens ist das memoria-Konzept des Mittelalters (s. Anm. 5/11). Während dort memoria und imaginatio Möglichkeiten darstellen, sich mental in bildhafter Weise ,Erinnerungen‘ oder Erkenntnisse ins Bewusstsein zu rufen, sind bereits in den mnemotechnischen Anleitungen Platons und Aristoteles visuelle materielle Merkzeichen (Fritsch-Rössler, Memorialisierung, hier S 161), mediale Formen wie Schrift, Bild und Skulptur nötig zur „Exterritorialisierung der Memoria, die Auslagerung von Gedächtnisinhalten aus dem menschlichen Körper“ (Wenzel, Hören und Sehen, S. 322, s. auch S. 323). 51 Philipowski thematisiert diesen Aspekt. Für sie stellt sich bei der Wahl der medialen Form gerade die Schwierigkeit, dass diese Formatierung „nicht so verletzlich sein [darf], daß er die Auslöschung des zu Erinnernden zuläßt wie im ,Iwein‘ Hartmanns von Aue, wo die Präsenz des

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Problem der Aufmerksamkeitsgeneration besondere Beachtung – nicht nur, weil Aufmerksamkeit zu eingehenderer interpretativer Beschäftigung führt:52 Aus den Beispielen in Kap. 5.1.1 lässt sich ableiten, dass mediale Formen zunächst einmal darauf angelegt sein müssen, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, um die nötigen Prozesse anzustoßen. Da es größtenteils um Übermittlungsprozesse geht, die ein Menschenleben überdauern (sollen) (Ausnahme ist Kap. 5.2.1), handelt es sich bei den medialen Formen ausschließlich um unbelebte Objekte, die sich nicht ohne Weiteres wie ein Bote Gehör verschaffen können (s. Kap. 4.2.2) oder wie Elanicus wieder auftauchen, sondern bei denen bereits in der Anlage sichergestellt werden muss, dass sie nicht zu stummem Dekor werden. Es gilt also nicht nur, die Auseinandersetzung überhaupt anzuregen, sondern auch zur Reflexion der in der materiellen For­matierung liegenden Erkenntnispotenziale53 zu motivieren. Als literarische Textelemente funktionieren Transmissionsprozesse außerdem  – so zeigen die behandelten Textbeispiele natürlichen Erinnerns (s. Kap. 5.1.1) – parallel auf Discours-Ebene, indem auch den TextrezipientInnen ein Anstoß gegeben wird, bereits aufgenommene Informationen die Handlung oder aber ein spezifisches Vorwissen betreffend aufzurufen. Besonders deutlich wird das an den in Kap.  5.1.1 erläuterten Passagen um Venus. Ihre Aufforderung [g]edencke hin (AvT, V. 12129) kann nicht nur als an Figuren gerichtet gelesen werden, sondern spricht in ihrer imperativischen Formulierung auch die TextrezipientInnen an und animiert zum Aufrufen der bereits gelesenen/gehörten Ereignisse. Die Figur erweist sich somit nicht nur als Anstoß für natürliche Erinnerungsprozesse auf Handlungsebene, sondern auch als mediale Strategie des Textes, Erzählzeit zu überbrücken und bereits erzählte Ereignisse im Sinne einer Aufladung und Stützung der aktuellen Erzählsituation wieder aufzurufen.54 Doch damit ist nur eine

Artushofes das seiner Frau gegebene Versprechen auslöscht. Doch der Zwischenkörper der Erinnerung darf auch nicht so stark sein, daß er vergessen macht, dass die Erinnerung nicht gegenwärtig ist wie es Lancelot mit den Haaren Ginovers geschieht oder Parzival mit den Blutstropfen im Schnee“ (Philipowski, Körper, S. 140). 52 Vgl. zum gesteigerten Bewusstsein durch Aufmerksamkeitsgeneration Baisch/Degen/ Lüdtke, Vorbemerkungen, S. 7. 53 Mit Bezug auf Automaten und ihre aufmerksamkeitsbindende, faszinierende Wirkung hält Eming – das positive Potenzial ästhetisch ansprechender Apparaturen betonend – fest: „Das faszinierende Objekt kann ebenso wie das Wunderbare Fragen aufwerfen oder Erkenntnispotentiale anbieten, welche der Betrachter reflektieren kann, aber nicht reflektieren muss“ (Eming, Faszination, S. 244). Wird eine mediale Strategie verfolgt, müsste ein Interesse daran bestehen, sicherzustellen, dass nicht nur ästhetisches Vergnügen, sondern auch eine Reflexion angestoßen wird. 54 Ohne Fokus auf eine moralische Bewertung, stattdessen unter Betonung der bisherigen Leis­tungen findet eine solche Rückschau bspw. auch beim Konflikt mit Nemrott statt. Nach-

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spezifische Situation und eine der Funktionalisierungsmöglichkeiten dargestellter Transmissionsvorgänge benannt, nach denen die Textpassagen jeweils zu befragen sind. Wie die kurze Aufzählung der medialen Transmissionsformen in den behandelten Texten zeigt, kommen im Gegensatz zur Fernkommunikationen bei den erzählten Überlieferungsprozessen deutlich vielfältigere Formatierungen zum Einsatz. Aufgrund der Diversität der im Reinfried und im Apollonius zum Tragen kommenden medialen Techniken sowie der Unterschiedlichkeit der Kontexte von Transmission ist es angemessen, jeder Konfiguration der bewahrenswerten Informationen einen eigenen Blick zu gewähren. Um die Betrachtung der sich unter dem Stichwort ,Transmission‘ sammelnden Vorgänge dennoch zu strukturieren, soll im Folgenden die Eignung der sich aufdrängenden Kategorisierungsoption über die Art der übermittelten Inhalte reflektiert werden. Diese Auseinandersetzung ist gleichzeitig als Sensibilisierung für weitere Analyseschwerpunkte zu verstehen. Für die im Zentrum solcher Verstetigungsambitionen stehenden Informationen tauchen in der Forschung prominent die Label ,Wissen‘ und ,Erinnerung‘ auf; beide Begriffe wurden in den Beschreibungen der Textszenen intuitiv verwendet (s. Kap. 5.1.1). Die Begriffe implizieren, sich auf etwas Spezifischeres als auf reine Ansammlungen von Informationen – vor allem aber auf etwas voneinander Differenzierbares, auf distinktive Funktionen von Transmission, zu beziehen.55 Eine grobe Kategorisierung der Textstellen entlang dieser Begriffe gelingt mit einem heuristischen Verständnis auf den ersten Blick gut und lässt vermuten, dass unterschiedliche Implikationen mit den Begriffen verknüpft sind, die auf die Verfahren der Informationsaufbereitung ausstrahlen. Die Sammelbegriffe bieten

dem Apollonius in dessen Gefangenschaft Heldentaten vollbracht hat, fordern nun die Gefolgsleute Nemrotts dessen Freilassung, indem sie seine Taten aufzählen und somit Nemrott, aber auch den RezipientInnen diese wieder ins Gedächtnis rufen: Si sprachen ‘herre, nu nym war:/Der man hatt dir gedienet wol./Er düt noch alles das er tuen soll:/Er prachte dir von Wabilon/Den grossen hort den Achiron/Ließ Pliades und Piramort;/Das hafftel was ain starcker hort/Das wilde weib hin trug:/Do hett er sich geledigt gnüg;/Dar nach slug er Asclepidan,/Celicn und Aurigan,/Alkysil und Woletun,/Chinobron und Cerastum;/Er hatt sy dir pezwungen,/Im ist wol pelungen;/Er hatt Garganam erschlagen,/Di uns gar in kurzten tagen/Schaden vil hatt getan:/ So hatt erloßt der werde man/Unser kint von jamer not/Wir wanten sy waren dot (AvT, V. 9772– 9792). Eine andere, weniger wörtlich auffordernde Strategie wäre der Bart des Apollonius (s. Kap. 5.2.1). 55 ,Gedächtnis‘ und ,Erinnerung‘ sind, so Hahn, nicht bloßes ,Wissen‘ (Hahn, Körper, S. 8, zur Konturierung der Begriffe bei ihm insbesondere S. 17–22).

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sich daher als Ausgangspunkt der weiteren theoretischen Auseinandersetzung an. ,Wissen‘ und ,Erinnerung‘ ähneln sich als Objekte des wissenschaftlichen Interesses. So sind beide Begriffe seit einiger Zeit innerhalb vieler Disziplinen sehr präsent. Aufgrund des Bedeutungszuwachses, den ,Wissen‘ in der Wissensgesellschaft erfahren hat,56 wird er in der Psychologie, der Kommunikations- und Transferwissenschaft,57 in jüngerer Zeit auch in den Kultur- und Geisteswissenschaften, somit auch in Literaturwissenschaft und Mediävistik58 thematisiert, wobei sich das Interesse hauptsächlich auf die Konturierung des Begriffs und auch auf die Prozesse der Generierung, Konstruktion und Vermittlung von ,Wissen‘ – auch mit Blick auf die Zusammenhänge von ,Wissen‘ und Literatur – richtet.59 Bereits länger – in etwa seit Ende der 1980er Jahre – ist der Themenkom-

56 Diese Vermutung stellen Grandt/ Schnyder/Wolf 2011, S.  X vor. Sie sehen das wissenschaftliche Interesse an Wissensbildung und -vermittlung als „Reflex aktueller gesellschaftlicher Entwicklungen“, in denen die Kategorie ,Wissen‘ für „die Zukunft der westlichen Gesellschaften eine zentrale Rolle spielt“. 57 Repräsentiert wird die Transferwissenschaft hier durch Beckers, Kommunikation. Neben der klassischen Kommunikationswissenschaft beschäftigt dieser Zweig sich besonders mit den „kulturellen, sozialen, kognitiven, sprachlich-medialen und emotionalen Bedingungen, […] [den] medialen Wege[n] sowie Prinzipien und Probleme[n] der Wissensproduktion und -rezeption unter dem Gesichtspunkt ihrer strukturellen und sozialen Vernetzung, ihrer Relevanz für Nicht-Experten und den Chancen ihres globalen wie gruppen- wie zielspezifischen Transfers“ (Antos, Gerd: Transferwissenschaft. Chancen und Barrieren des Zugangs zu Wissen in Zeiten der Informationsflut und der Wissensexplosion. In: Wissenstransfer zwischen Experten und Laien. Umriss einer Transferwissenschaft. Hrgs. von dems./Sigurd Wichter, Frankfurt a. M. 2001 [Transferwissenschaften 1], S. 3–35, hier S. 5). 58 In diesem Bereich ist auf jüngere Publikationen zum Themenkomplex (bspw. Baisch, Martin: Wissen, Indexikalität und Neugier in Hans Stadens Brasilien-Bericht. In: Dynamiken des Wissens. Hrsg. von Klaus W. Hempfer, Freiburg i. Br. u. a. 2007 [Rombach Wissenschaften Reihe Scenae 6], S. 163–185 oder Grandt/ Schnyder/Wolf 2011) und auf den Sonderforschungsbereich 980 „Episteme in Bewegung“ an der Freien Universität Berlin, an dem auch die Mediävistik unter dem Schwerpunkt des Wunderbaren als Konfiguration des ,Wissens‘ in der Literatur des Mittelalters mitarbeitet, zu verweisen. Der Fokus liegt auf der Frühen Neuzeit als Zeit der medial bedingten Beschleunigung und Diversifizierung des Wissens (vgl. Grandt/ Schnyder/ Wolf: 2011, S.  IX) oder auf der Produktion und Reproduktion zeitgenössischer Wissensstandards in Literatur (s.  das mediävistische Teilprojekt des genannten Sonderforschungsbereichs (http:// www.sfb-episteme.de/teilprojekte/zeigen/B02/index.html [21. Februar 2019]). Um textinterne Wissensvermittlung geht es meist nicht. 59 Das Forschungsfeld bleibt dabei – so die Behauptung der einschlägigen Überblicksdarstellungen – unübersichtlich (vgl. Köppe, Tilmann: Literatur und Wissen: Zur Strukturierung eines Forschungsfeldes und seiner Kontroversen. In: Literatur und Wissen. Theoretisch-methodische

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plex ,Erinnerung‘ Forschungsgegenstand unterschiedlicher Fachrichtungen.60 Die Auseinandersetzungen stehen zunächst in einer sozial- und kulturwissenschaftlichen Tradition, haben aber auch Eingang in Neurologie, Psychologie, Psychoanalyse und Psychotherapie, Soziologie, Geschichte, Politologie, Literatur- und Kunstwissenschaft gefunden.61 Eine dementsprechend umfangreiche Erschließung des Themengebietes ist festzustellen;62 mediävistische Anknüpfungspunkte an das Forschungsfeld sind zunächst weniger Erinnerungsprozesse in Erzähltexten63 als historische und literarische Erinnerungsmedien64 sowie

Zugänge. Hrsg. von dems., Berlin u. a. 2011 [Linguae & Litterae 4], S. 1–28, hier S. 1; s. auch Danneberg/Spoerhase, Wissen, S. 30). 60 „Gedächtnisforschung hat Konjunktur“, konstatiert Anfang der 1990er Jahre Schmidt, Gedächtnis, S. 378. Fast zur selben Zeit sagt Assmann dem Themenfeld im Vorwort zu ,Das kulturelle Gedächtnis‘ angesichts der für ihn seit zehn Jahren beobachtbaren Virulenz des Themas eine große Relevanz in der aktuellen und zukünftigen Forschung voraus (vgl. Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, S. 11). Mit Verweis auf die Forschung bestätigt Aleida Assmann 2006 im Rückblick auf das letzte Jahrzehnt die Prognose (vgl. Frank/Rippl, Gedächtnis, S. 12f.). Vgl. zur anhaltenden Relevanz Heilmann-Seelbach, Mnemotechnik, S.  3; Ernst/Ridder, Einleitung, S. IX; Erll, Gedächtnis, S. 98. 61 Erll kommt zu einer ähnlichen Liste, ergänzt lediglich die Religionswissenschaften (vgl. Erll, Gedächtnis, S.  88). Inter- und transdisziplinäre Möglichkeiten sind offenbar noch nicht erschöpfend genutzt worden (vgl. Welzer, Das kommunikative Gedächtnis, S. 61). 62 So Welzer, Das kommunikative Gedächtnis, S.  49 im Rückblick auf die letzten zwei Jahrzehnte. 63 Ende der 1990er Jahre stellt Haubrichs noch fest, dass die Auseinandersetzung mit literarischen Erscheinungen der memoria angesichts der Bedeutung, die dem Konzept zukommt, noch recht spärlich ausfällt (vgl. Haubrichs, Wolfgang: Einleitung. In: Memoria in der Literatur, hrsg. von dems., Stuttgart 1997 [Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 105], S. 3–5, hier S. 4). Literarische Erinnerungsvorgänge standen mit einem Blick auf die einschlägigen Fachbibliographien auch seitdem eher selten im Fokus. Ausnahmen bilden die Arbeiten zu Hartmanns Gregorius (s.  Wenzel/Wenzel, Tafel des Gregorius; Classen, Objects of Memory), zu Wolframs Willehalm (s. Przybilski, Martin: Die Selbstvergessenheit des Kriegers. Rennewart in Wolframs ,Willehalm‘. In: Kunst und Erinnerung. Memoriale Konzepte in der Erzählliteratur des Mittelalters. Hrsg. von Ulrich Ernst/Klaus Ridder, Köln, Weimar, Wien 2003 [Ordo. Studien zur Literatur und Gesellschaft des Mittelalters und der Frühen Neuzeit 8], S. 201–222; Wolf, Jürgen: Wolframs ,Willehalm‘ zwischen höfischer Literatur und Memorialkultur. In: Kunst und Erinnerung. Memoriale Konzepte in der Erzählliteratur des Mittelalters. Hrsg. von Ulrich Ernst/ Klaus Ridder, Köln, Weimar, Wien 2003 [Ordo. Studien zur Literatur und Gesellschaft des Mit‑ telalters und der Frühen Neuzeit 8], S. 223–256; Czerwinski, Peter: Der Glanz der Abstraktion. Frühe Formen von Reflexivität im Mittelalter. Exempel einer Geschichte der Wahrnehmung, Frankfurt a. M. 1989; Philipowski, Körper), zu Gottfrieds Tristan (s. Fritsch-Rössler, Memorialisierung, S. 169–197) oder zum Apollonius von Tyrland (s. Schneider, Chiffren). 64 In diesem Sinne liest Classen Carruthers (Carruthers, Mary: The Book of Memory. A Study of Memory in Medieval Culture [Cambridge Studies in Medieval Literature 10], Cambridge

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Begriff, Konzept und theoretische wie lebensweltliche Relevanz des mittelalterlichen memoria-Konzepts,65 welches seine Attraktivität vor allem der Anschlussfähigkeit an moderne Erinnerungstheorien verdankt.66 Das Interesse an beiden Begriffen richtet sich vor allem an den Produktionsprozessen, ihren gesellschaftlichen Einflüssen und an einer Begriffsbestimmung aus. Zu einer eindeutigen Begriffsbestimmung oder einem Konsens über die richtige Herangehensweise dafür ist es weder für ,Erinnerung‘ noch für ,Wissen‘ innerhalb eines Forschungsbereichs, geschweige denn darüber hinaus gekommen,67

1990); Coleman (Coleman, Janet: Ancient and Medieval Memories. Studies in the Reconstruction of the Past, Cambridge 1992) und Wenzel, Hören und Sehen (vgl. Classen, Objects of Me‑ mory, S. 162). 65 Grundsätzliches zum memoria-Konzept, das sich in erster Linie auf den Umgang mit dem Tod von Mitmenschen bezieht (vgl. Oexle, Memoria, hier Sp. 510), und zu diesbezüglicher Forschungsliteratur in Anm.  5/11; 5/66. Mit den als Transmission bezeichneten Vorgängen lassen sich die Theorien insofern verknüpfen, als gerade die grundlegende Vorstellung, der Tod könne durch Erinnerungsprozesse überwunden und Erkenntnis erlangt werden, darauf verweisen, dass die Verbindung getrennter Zeiträume das Kernpotenzial der memoria darstellt. 66 Den unterschiedlichen Ausrichtungen der recht umfangreichen mediävistischen Auseinandersetzung (vgl. zur Forschung zu memoria als mnemotechnische Bildungstechnik, als konstitutives Element mittelalterlicher Gemeinschaften, als Instrument des Besitzergreifens und der Bewusstseinserzeugung Haubrichs, Einleitung, S.  5, dort auch die jeweiligen weiterführenden Literaturhinweise) ist – laut Haubrichs – gemein, dass sie alle memoria als Ergreifen der Welt in Erinnern und Gedenken verstehen (vgl. hier S. 4).Wie anschlussfähig die einzelnen Gedächtnis-Vorstellungen trotz der Entbindung aus einem anders geprägten theoretischen Kontext im allgemeinen auch für moderne Vorstellungen sind, ergibt sich nicht zuletzt aus der erwähnten Konstanz der bildlichen Vorstellungen des Gedächtnisses und der grundsätz‑ lich ähnlichen Wahrnehmung der Rolle medialer Formen im Zugriff auf bestimmte Inhalte (s.  Kap.  5.1.1). Die Ähnlichkeit der grundlegenden Annahmen und die Verknüpfung mit konstruktivistischen Gedächtnistheorien, die Schmidt, Gedächtnis, zeigt, ermutigen dazu, jüngere Vorstellungen in die Auseinandersetzung mit älteren Texten einzubringen. Dennoch ist eine produktive Aufnahme der modernen Theorien zum Feld ,Erinnerung‘ und ,Gedächtnis‘ in der germanistischen Mediävistik in dieser ersten Phase des Interesses laut Ernst/Ridder kaum zu beobachten (vgl. Ernst/Ridder, Einleitung, S. X). 67 Obwohl kulturwissenschaftliche Arbeiten Hahn zufolge entweder bei definitorischen oder produktions- und rezeptionstheoretischen Fragestellungen ansetzen (vgl. Hahn, Körper, S. 17), ist ein konsensfähiges Verständnis nicht gewonnen worden, was, wie Beckers in Bezug auf ,Wissen‘ erklärt, ohnehin nur annäherungsweise unter Einbeziehung unterschiedlicher Blickrichtungen und unter jeweils zu reflektierender Vernachlässigung einiger Aspekte zugunsten anderer möglich sei: „Bis heute mangelt es an einer ,holistischen‘ Konzeptualisierung von Wissen, die alle relevanten Aspekte beinhaltet und in Beziehung setzt, fraglich ist jedoch, ob eine derartige Konzeptualisierung überhaupt möglich ist. In den diversen Konzeptualisierungen herrschen jeweils unterschiedliche Foci vor, die andere relevante Aspekte meist ausklammern“ (Beckers, Kommunikation, S. 41).

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was nicht immer als Defizit, sondern häufig genug auch als Ausweis der Komplexität der Objekte und Produktivität der Begriffe gewertet wird.68 Eine Folge ist, dass viele WissenschaftlerInnen breit angelegte Begriffsbestimmungen als dynamische „normativ-deskriptive[][n] Komplexbegriff[e]“69 ontologischen Definitionsversuchen vorziehen. So ist der Kern der durch die Transferwissenschaft vorgeschlagenen Auffassung von ,Wissen‘, dass nicht be­stimmte Informationseigenschaften ,Wissen‘ ausmachen, sondern die jeweils kulturspezifischen Praktiken, mit denen es konstituiert, deklariert und zugleich bestätigt wird.70 ,Wissen‘ ist so ein „interaktiv gewonnenes und gewachsenes mentales Konstrukt“,71 eine Bezeichnung für einen bestimmten, kulturell kodifizierten Umgang mit Informationseinheiten, der erst über jeweils variabel zu besetzende, dynamische und in einem reziproken Einflussverhältnis mit Kultur und Gesellschaft stehende Eigenschaften ein konkreteres Profil erhält.72 Die Annahmen zur Entstehung und

68 Bei näherer Beschäftigung mit der Forschungsliteratur zum Wissensbegriff werde anhand der Unschärfe in den jeweiligen Einleitungen augenscheinlich, dass dieser sich „einer allgemein verbindlichen und objektivierbaren Konzeption entzieht“ (vgl. Beckers, S. 34). Auf den Seiten 33f. stellt sie Lexikaeinträge mit jeweils anderer fachspezifischer Ausrichtung, auf S. 41–45 einzelne Definitionsversuche unterschiedlicher Disziplinen vor, anhand derer dies gut zu beobachten ist. Ähnlich interpretiert Welzer die Uneindeutigkeit des Forschungsbegriffs ,Erinnerung‘ als Beweis der definitorischen Unbestimmbarkeit, welche sich als Ergebnis des Diskurses werten ließe. Er stellt fest: „woraus Erinnerung gemacht ist und jeden Tag gemacht wird, ihre Textur, scheint so komplex und so ephemer, dass wissenschaftliche Instrumente einfach versagen“ (Welzer, Das kommunikative Gedächtnis, S. 49). 69 Unter ,Komplexbegriff‘ sind „bewusst offen angelegte Containerwörter, die die einzelnen Diskussionspartner jeweils aus ihrem Vorverständnis und gemäß ihrer Diskussionsziele hinreichend mit Inhalt füllen können“ zu verstehen (Gottschalk-Mazouz, Niels: Was ist Wissen? Überlegungen zu einem Komplexbegriff an der Schnittstelle von Philosophie und Sozialwissenschaften. In: Wissen in Bewegung. Dominanz, Synergien und Emanzipation in den Praxen der ,Wissenschaftsgesellschaft‘. Hrsg. von S. Ammon u. a., Weilerswist 2007, S. 21–40, hier S. 25). 70 Beckers beschreibt zwei Möglichkeiten einer Definition von ,Wissen‘. Die erste Möglichkeit ist eine sehr weite Definition, die allgemeine Vorschläge auf Grundlage der Beschreibung von Wissen als „wahre[], begründete[] Überzeugung“ in Platons Theätet umfasst (hier S. 34). Eine solche entwickle zwar kennzeichnende Kriterien, bleibe aber unfasslich und für eine wissenschaftliche Analyse unbrauchbar (vgl. hier S. 86f.). Die andere Möglichkeit ist die von der Transferwissenschaft entwickelte Begriffsbestimmung, die die Dynamik und kulturelle Abhängigkeit des Konzepts von Wissen und dessen Füllung betont (s. u.). 71 Hier S. 35. 72 Dabei wird die unterschiedliche konkrete Füllung des Begriffs und somit bewusst Mehrdeutigkeit und Pluralität angenommen und angestrebt (vgl. hier S. 86f.). Zugrunde liegt dieser Position die Annahme einer starken Abhängigkeit zwischen Weltbildern und Begriffskonzepten (vgl. hier S. 35). Die komplexen Abhängigkeiten und Einflussgefüge (vgl. dazu neben Beckers auch Hornidge, Anna-Katharina: Wissen-fokussierende Wirklichkeiten und ihre kommunika-

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Vermittlung können über die vergleichende Betrachtung verschiedener Definitionsansätze und unter „Zentrierung verschiedener Bedeutungskerne“ gewonnen werden.73 Die grundsätzliche Vorstellung eines jeweils kulturell neu besetzbaren Konzepts, das von spezifischen Bildungs-, Deklarierungs- und Wahrnehmungsprozessen abhängt, betont durch den Fokus auf die zugrunde liegenden Prozesse die gesellschaftlichen Einflussfaktoren in ihrer Bedeutung für das jeweilige Begriffskonzept und löst den Begriff von zeitgebundenen Vorstellungen über Inhalte und Generierungsstandards.74 Ob ähnlicher Definitionsschwierigkeiten beim Begriff ,Erinnerung‘ werden hier in Anlehnung an Beckers’ Konzeption von ,Wissen‘ sowohl ,Wissen‘ als auch ,Erinnerung‘ als sich in den Formen des gezielten Umgangs mit Informationen bewahrheitende Containerworte, die „die einzelnen Diskussionspartner jeweils aus ihrem Vorverständnis und gemäß ihrer Diskussionsziele hinreichend mit Inhalt füllen können“,75 gefasst.76 ,Wissen‘ und ,Erinnerung‘ entstehen als Entitäten des Wahrnehmungsmodus eines ,Gedächtniszugriffs‘ (s.  Kap.  5.1.1) aus einer undefinierten Masse semantischen Gehalts in dem Moment, in dem ihnen diese Bedeutung entweder durch die Benennung oder den Umgang mit ihnen zugeschrieben wird.77 Das verweist auf die geradezu ontologische Relevanz, die die mediale Aufbereitung eines Sachverhalts spielt,

tive Konstruktion. In: Kommunikativer Konstruktivismus. Theoretische und empirische Arbeiten zu einem neuen wissenssoziologischen Ansatz. Hrsg. von Reiner Keller/Jo Reichertz/ Hubert Knoblauch, Wiesbaden 2013 [Wissen, Kommunikation und Gesellschaft], S.  207–234, hier S. 215 und Hahn, Körper, S. 205) machen plausibel, warum in dieser Denkweise eine allgemeingültige Definition solcher Begriffe wie ,Wissen‘ nicht möglich ist. Die zunächst von der Transferwissenschaft und reflexionstheoretischen Ansätzen propagierte Annahme, dass kommunikative und sozialkonstruktive Prozesse ,Wissen‘ herstellen und transferieren, ,Wissen‘ also keine feste, sondern eine ständig in transformatorischen Prozessen befindliche, variable Größe ist, sei mittlerweile in viele Disziplinen eingedrungen (vgl. Beckers, Kommunikation, S. 41–44). 73 Beckers, Kommunikation, S. 88. 74 Das ist für Begriffe wie ,Wissen‘ insofern für die Arbeit an Texten aus älteren Kulturen relevant als in der Auseinandersetzung mit fremden Kulturen die Notwendigkeit besteht, bestimmte Informationsbündel unabhängig von einer bestimmten Methode als ,Wissen‘ zu beschreiben, da die Verfahren und Maßstäbe nach den aktuell als wissenschaftlich erachteten Methoden möglicherweise kein ,Wissen‘ herstellen. 75 Gottschalk-Mazouz, Wissen, S. 25; s. zum Begriff ,Containerwort‘ dort Anm. 10. 76 Hier zum Beispiel schränken die zugrunde gelegten kommunikations- und medientheoretischen Annahmen die unter die Begriffe fallenden Phänomene auf Gegenstände ein, die bewusst wahrgenommen und intentional aufbereitet werden können (s. Kap. 3.1.1). 77 Die Prozessualität, die den Begriffen in dieser Definition zugrunde liegt, erweist sich auch beim Blick auf die Etymologie als Bedeutungskern. Bei beiden Begriffen handelt es sich um das Produkt des Verbs, von dem es sich ableitet (vgl. Kluge, Etymologisches Wörterbuch, S. 255, 992). Angesichts der Feststellung, dass ,Wissen‘ und ,Erinnerung‘ sich hinsichtlich der Art und

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und die die Anschlussfähigkeit der Theorien im Bereich ,Wissen‘ und ,Erinnerung‘ für die einen starken Medienbegriff propagierenden Vorüberlegungen der Analyse (s. Kap. 3.1, insbes. 3.1.3) belegt. ,Wissen‘ und ,Erinnerung‘ konstituieren sich aus der Gestalt- und Umsetzbarkeit eines semantischen Gehalts in kommunikative Zeichen und aus der Betitelung mit den Labeln ,Wissen‘ und ,Erin­nerung‘. Wie, was, was nicht und unter welchem Label bei einem bestimmten Anlass aufgerufen wird,78 ist bewussten und unbewussten, intrapersonalen79 und gesellschaftlich beeinflussten Selektions- und Deutungsprozessen80 sowie aktuellen Handlungsanforderungen81 unterworfen und hängt damit maßgeblich von der Form der Speicherbemühungen ab. Es wird mithilfe von Transmis­sionsmedien nicht etwas Vorgängiges, sondern das, was die Aufbereitung produziert, aufge-

Weise ihrer Beschreibbarkeit ähneln, ist kaum verwunderlich, dass auch die entwickelten Thesen bezüglich der ihnen zugrunde liegenden Mechanismen Gemeinsamkeiten aufweisen. 78 Das, was nicht erneut aufgerufen wird, wird ,vergessen‘. „Überhaupt etwas zu behalten, impliziert das Verzichten auf andere Möglichkeiten“ (Hahn, Habitus, S.  40). Das bedeutet allerdings im hiesigen Verständnis nicht, dass es aus den Beständen der Informationen, die über das Potenzial des Gedächtnisses zugänglich sind, gelöscht wird, sondern dass im gegebenen Kontext bestimmte Verbindungen nicht hergestellt oder aktualisiert werden und andere Aspekte oder Informationen in diesen Situationsrahmen einrücken und stattdessen erinnert werden. ,Vergessen‘ beruht darauf, dass bestimmte Konnektivitäten im neuronalen System aufgelöst oder verändert werden (vgl. Schmidt, Gedächtnis, S. 386). S. auch Assmann, Katastrophe, S. 347. Das Gedächtnis ist daher ein „dynamisches Medium subjektiver Erfahrungsverarbeitung“ (Assmann, Schatten, S. 25). 79 Die Frage, ob in der sogenannten ,Vormoderne‘ der von ,modernen‘ Implikationen geprägten Begriff der ,Individualität‘ ansetzbar ist, hat sich zu einem umfangreichen Forschungsdiskurs ausgedehnt, ohne eine eindeutige Antwort auf die Ausgangsfrage zu finden (vgl. Schneider, Chiffren, S.  14–20). Auch wenn die literarische Gestaltung eines subjektiven Innenraums mit Erinnerung und Gewissen als eine Konzeption von Vorstufen eines Individualitäts-Phänomens gelesen werden kann (vgl. hier S. 17), wird hier neutraler von personalen Vorgängen bzw. intrapersonaler Transmission gesprochen. 80 Vgl. Burke, Gedächtnis, S. 289. 81 Schmidt bezeichnet ,Erinnerung‘ als aktuelle Sinnproduktion im Zusammenhang mit aktuell wahrgenommenen Handlungsnotwendigkeiten (vgl. Schmidt, Gedächtnis, S. 386) und macht damit darauf aufmerksam, dass die Situation, in denen bestimmte vergangene Ereignisse präsent gemacht werden, die Auswahl der Erinnerungsinhalte prägt.

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rufen82 und zum Gegenstand kultureller Ordnungen gemacht.83 Die Wirksamkeit der Wahrnehmungsmodi besteht darin, diese Formung zu verschleiern.84 Die

82 Zu ,Erinnerung‘ als „mediales Produkt“ Schnyder, Sehen und Hören, S.  378, 399; vgl. im Hinblick auf ,kulturelle Erinnerung‘ Röcke, Kulturelles Gedächtnis, S. 181. So heißt es auch bei Fritsch-Rössler, Memorialisierung, S.  196f. in Bezug auf Gottfrieds Tristan: „Memoria ist nicht statisch, Erinnerung lähmt nicht, und die erinnerte Vergangenheit determiniert nicht bis in alle Zukunft. Das Gegenteil scheint der Fall. Erinnerung schafft Freiraum zur Reflexion, Selbstbestimmung, und Wahl“. Hier erweise sich Erinnerung als „subjektiv und veränderbar, manipulierbar“. Vgl. auch den Verweis auf den kreativ-produktiven Anteil im Konzept der memoria bei Wandhoff, Ekphrasis, S. 31. 83 Bei überpersonalen Prozessen besteht die Hauptschwierigkeit darin, Bestände, die zunächst grundsätzlich auf dem eigenen Erleben beruhen, in institutionell geformte und gestützte Bestände, die auch ohne persönlichen Bezug zu den Ereignissen emotional und identitätsstiftend funktionieren, zu überführen (vgl. Assmann, Katastrophe, S. 343f.). Ethnologen haben festgestellt, dass das ,soziale Gedächtnis‘ ohne Mediatisierung (in Form von Schrift) verhältnismäßig kurz ist (hier S. 342). Assmann bezieht sich dabei auf Jan Vansinas Untersuchung des Geschichtsbewusstseins afrikanischer Stämme. Erinnert würden in diesen Kulturen rezente Ereignisse in der eigenen Lebenszeit bzw. alle in der Lebenszeit zur Gemeinschaft Gehörenden (drei Generationen) und Ursprungsmythen. Keith Thomas bestätigt solche Befunde (vgl. hier S. 342f.). Das auf Kommunikation gestützte Gedächtnis ließe sich daher als „Kurzzeitgedächtnis einer Gesellschaft“ bezeichnen (Assmann, Schatten, S. 26, s. auch S. 28). Außerdem gilt es, ihre Autorität zu bewahren und zu vermitteln. „Medien des Wissens“ sind – so stellt Mein fest – „[…] einer ständigen Dynamik unterworfen, die nicht nur aus der internen Dynamik im Bereich des Medialen bzw. im Bereich des Wissens resultiert, sondern auch und vor allem aus dem unauflöslichen Verhältnis dieser beiden Bereiche zueinander“ (Mein, Medien, S.  21). Jede Gesellschaft bildet privilegierte „symbolspezifische Repräsentationsweisen und […] distinktive Regeln […], nach denen bestimmtes Wissen positiviert, anderes negativiert wird“, aus (Neumann, Birgit: Kulturelles Wissen und Literatur. In: Kulturelles Wissen und Intertextualität. Theoriekonzeptionen und Fallstudien zur Kontextualisierung von Literatur. Hrsg. von Marion Gymnich, unter Mitarbeit von Martin Butler, Trier 2006 [Studies in English Literary and Cultural History 22], S.  29–52, hier S. 43). 84 Auch aus der konzeptionellen Verknüpfung des personalen ,Erinnerns‘ mit dem eigenen Erleben folgt nicht automatisch die Verlässlichkeit auf die Übereinstimmung des Erinnerten mit den vergangenen Ereignissen. Dass derjenige, der etwas aufruft, sich zunächst einmal sicher ist, dass das Wachgerufene genau mit dem vergangenen Ereignis übereinstimmt, ist Grundlage für das Funktionieren des Konzepts. Das sich ,erinnernde‘ Subjekt muss sich der Verlässlichkeit seiner ,Erinnerungen‘ sicher sein, um den auftauchenden Bildern und Empfindungen überhaupt Bedeutung zu unterstellen und ihnen nicht denselben Status wie einem Traum oder einer Fantasie zuzuweisen (vgl. dazu Hahn, Habitus, S. 33). Gerade im Hinblick auf diese ,Täuschung‘ spielt die Vorstellung des Gedächtnisses als Speicher (s. Kap. 5.1.1) eine Rolle. Denn diese suggeriert, es gebe einen Ort, in dem sich Erlebtes wie eine Datei oder ein Buch ablegen und von dort unverändert wieder aufrufen lasse (vgl. hier S. 34). Schmidt gibt zu bedenken, dass gerade die immer wieder aufscheinende Wahrnehmung der Unregelmäßigkeiten und Veränderungen, die das individuelle Gedächtnis eben nicht gleich einem Speicher macht, zu den eingangs erwähnten

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Bewertung der Produkte dieser Wahrnehmungstypen und das Vertrauen in ihre Lauterkeit sind von der Gemeinschaft, die das erinnernde oder wissende Subjekt umgibt, abhängig, entwickeln sich doch auch die jeweils gültigen Definitionsparameter gesellschaftsintern. Im konkreten Fall bedeutet das, dass die Mehrheit dasselbe Informationsbündel auf Grundlage seiner Entstehung als eine wahrheitsgemäße ,Erinnerung‘ oder ein faktengetreues ,Wissen‘ anerkennt. Nur auf medialer Grundlage können Informationsbestände als ,Erin­nerung‘ oder ,Wissen‘ gebildet, bewahrt und weitervermittelt werden. Transmissionsbemühungen bilden somit nicht nur Wissens- und Erinnerungsbestände aus, sondern tragen zur Konstitution des Verständnisses von ,Wissen‘ und ,Erinnerung‘ bei. Diese Erkenntnis lässt eine der Textarbeit an der Medialisierung von Informationen vorgängige Bestimmung von ,Wissen‘ und ,Erinnerung‘, welche in erster Linie dem Versuch der Ordnung der zu untersuchenden Textszenen geschuldet wäre, unmöglich erscheinen. Eine Annäherung an eine solche Differenzierung ist auf Grundlage theoretisch fundierter Abstraktion der Lektüreeindrücke durchaus möglich. Beim heuristischen Versuch einer Kategorisierung der literarischen Phänomene und dem Vergleich der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit den lebensweltlichen Prozessen treten die Charakteristika ihrer Objekte und ihre Funktion als mögliche Unterscheidungsaspekte der als ,Wissen‘ oder ,Erinnern‘ gelabelten Prozesse hervor.85 Immer wieder jedoch

Gedächtnismetaphern als Ausdruck einer idealtypischen, aber unerreichbaren Verlässlichkeit geführt haben könnte (Schmidt, Gedächtnis, S. 390). 85 Der Bezug auf Erfahrungen scheint beim Modus des ,Wissens‘ ein anderer als bei dem des ,Erinnerns‘ zu sein. Während ,Wissen‘ als Abstraktion mit einer distanzierten Haltung zu konkreten Ereignissen erscheint, ist ,Erinnern‘ direkt auf konkrete Ereignisse, Erfahrungen und Personen bezogen und mit einer emotionalen Beziehung zu diesen verknüpft. Als entscheidend erscheint nicht allein die Episodenhaftigkeit, sondern die enge emotionale oder identitätsstiftende Verknüpfung mit einem Ereignis. So werden die Inhalte des ,kulturellen Gedächtnisses‘ als Bestandteil kollektiver Erinnerungsarbeit verstanden, bei denen es um die Bewahrung und Präsenzerhaltung konkreter Ereignisse mit identitätsstiftender Bedeutung für die Gemeinschaft geht. ,Wissen‘ hingegen kann unabhängig von den Kontexten, aus denen es hervorgegangen ist, stattfinden, sich weniger auf ein bestimmtes Setting als auf abstrakte Zusammenhänge beziehen. In der Beziehung des Inhalts zu den erinnernden oder wissenden Subjekten zeichnet sich daher ,Wissen‘ gegenüber ,Erinnern‘ durch ein höheres Maß an Abstraktheit und Unverbundenheit aus. ,Erinnern‘ ist – so ließe sich behaupten – eine Form des ,Wissens‘ über ein Ereignis mit emotionaler, sinnlicher und identitätsstiftender Komponente. Dieser Unterschied schlägt sich auch in der Funktionalität der einzelnen Vorgänge nieder. Während ,Erinnern‘ als Zugriff auf eigens erlebte Ereignisse, die als mehr oder weniger prägend empfunden werden, jedoch immer in direkter Verbindung mit dem erinnernden Subjekt und dessen Selbstwahrnehmung steht, wird ,Wissen‘ als Zugriff auf eine außerhalb des Selbst, des eigenen Lebens bzw. Erlebens bestehende Entität, die kognitiv aufgenommen oder in Abstraktion produziert (aber nicht mit emotionaler

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fällt die Trennung in sich zusammen und wirft Zweifel an der kategorialen Differenzierbarkeit auf. Eine grundsätzliche Verschiedenheit oder eine klare, überschneidungsfreie Trennung zwischen den unter diesen Labeln gefassten Informationsbeständen ist nicht anzunehmen.86 Gerade die Bestände des ,kol­ lektiven Gedächtnisses‘ schwanken semantisch zwischen der Zuordbarkeit von ,Wissen‘ und ,Erinnerung‘. Ein Aufbau der Textuntersuchung nach Zuordnung zu einem Label erscheint angesichts dieser Schwierigkeiten und umso mehr vor dem Hintergrund der Kultur- und Gesellschaftsabhängigkeit der Zuordnung vor allem im Hinblick auf historische Texte nicht tragfähig. Es wird daher dort, wo die Texte selbst keine Zuordnungen vorgeben, neutraler vom Bewahren von Informationen/Gehalten/Inhalten gesprochen. Aufgrund der Schwierigkeit einer theoretisch fundierten, an den Inhalten der Übermittlung orientierten Strukturierung der Analyse, sieht sich die Ordnung der Textphänomene auf Textbeobachtungen zurückgeworfen. Dem an der Art der Formatierung interessierten Blickwinkel der Untersuchung entsprechend bietet sich als übergeordnete Klassifizierung die Zuordnung der jeweiligen Vorgehensweisen nach zwei zentralen Techniken an,87 die mitunter verbunden sind mit dem

Teilhabe wahrgenommen) wird, konzipiert. Heuristisch ließen sich ,Ereignishaftigkeit‘ sowie die ,identitätsstiftende Relevanz‘ als Charakteristika von ,Erinnerung‘, ,Abstraktion‘ und ,Distanziertheit‘ als Charakteristika von ,Wissen‘ bezeichnen. 86 So taucht in den theoretischen Auseinandersetzungen, ,Erinnerung‘ als Bestandteil von ,Wissen‘ auf und umgekehrt. Schneider bspw. schreibt, die memoria enthalte ideelle Gegenstände wie auch Wissensinhalte (vgl. Schneider, Chiffren, S. 203); andererseits gilt als Inhalt des kollektiven Gedächtnisses „alles Wissen, das im spezifischen Interaktionsrahmen einer Gesellschaft Handeln und Erleben steuert und von Generation zu Generation zur wiederholten Einübung und Einweisung ansteht“ (Assmann, Jan: Kollektives Gedächtnis, S. 9). 87 Die Unterscheidung von vorrangig persönlicher oder kollektiver Bedeutung liegt nahe, hat aber im speziellen Fall den Nachteil, dass erstgenannter Fall im Rahmen des Textkorpus’ nur ein Mal auftritt. Gerade bei den auf Dauer angelegten medialen Übermittlungsprozessen ist außerdem eine Verschiebung möglich: „Ein ursprünglich persönliches Gedenken kann sich zu einem kollektiven verschieben, für die Öffentlichkeit konzipierte Denkmäler können individuell genutzt werden“ (Ridder, Klaus: Ästhetisierte Erinnerung – erzählte Kunstwerke. Tristans Lieder, Blanscheflurs Scheingrab, Lancelots Wandgemälde. In: Memoria in der Literatur. Hrsg. von Wolfgang Haubrichs, Stuttgart 1997 [Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 105], S. 62–85, hier S. 65). Durch den Moment der Entäußerung ist ein Ineinanderwirken individueller und kollektiver Prozesse fast unvermeidbar (vgl. hier S. 83). Die Maßstäbe, die der Einordnung als ,Wissen‘ oder ,Erinnerung‘ dienen, stammen aus komplexen überindividuellen Rahmen, die mit den Erfahrungen des Individuums vielfach verknüpft sind, sodass viele intrapersonale und gesellschaftliche Einflussfaktoren beteiligt sind, die in ihrer vielfachen Verflechtung weder hinreichend beschreibbar noch eindeutig zugeordnet werden können (vgl. mit Bezug auf Brockmeier Mecklenfeld, Narrative Identity, S. 82f.; vgl. auch Haupt, Barbara: Literarische Memoria

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Maß an Festigkeit und Größe des Zeithorizonts und wiederum unterschiedliche Ausprägungen medialer Transmissionsformen zum Ergebnis haben: die an einen oder mehrere menschliche Körper gebundene Übermittlung und die Auslagerung auf einen nichtmenschlichen Träger.88 Wenn die Überlegungen zu ,Wissen‘ und ,Erinnerung‘ auch nicht zu einer Kategorisierung der erzählten Vorgänge für die Analyse geführt haben, so konnten sie dennoch den Blick für die Aussagekraft der Prozesse schärfen. In dem Differenzierungsversuch ist die implizite Aussagekraft der gemeinschaftsbildenden Prozesse zum Vorschein gekommen. Wenn ,Erinnerungen‘ und ,Wissensbestände‘ einen elementaren Einfluss auf die relevanten Eckpunkte der gemeinschaftlich geteilten Ansichten und Überzeugungen haben, so bedeutet das, dass die Prozesse ein mehr oder weniger konsistentes Bild davon, was eine Gemeinschaft sein will, gleichzeitig entwerfen und bewahren. Die Denk- und Empfindungsweisen, die Werte und Bedeutungen einer Kultur finden sich in medialen Symbolsystemen materialisiert89 und werden so über die Betrachtung des Bemühens, solche Bestände zu schaffen und zu bewahren, sichtbar.90 Das Bestreben zu bewahren geht mit der eigentlichen Konstitution der zu bewahrenden Informationsstruktur in einer benennbaren Einheit einher. Die beobachtbaren Prozesse der Transmission sind nicht einfach Bemühungen, einen Informationskomplex dauerhaft

im Hochmittelalter, Chrestien de Troyes und der Discours de la Méthode. In: Memoria in der Literatur. Hrsg. von Wolfgang Haubrichs, Stuttgart 1997 [Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 105], S. 39–61, hier S. 39). 88 Die mediale Entität ist in beiden Fällen, wie oben angemerkt, nicht belebt. Eine Ausnahme bildet die Strategie des Apollonius’ die sich gerade der Lebendigkeit seines ,Er­innerungsträgers‘ bedient (vgl. Kap. 5.2.1). Die hier auf Grundlage der Textphänomene getroffene Unterscheidung bestätigt Winklers These, dass bei der medialen Überwindung von Zeit ,Wiederholung‘ und ,materielle Einschreibung/Monumentalisierung‘ als basale Mechanismen mit je spezifischen, jedoch auch miteinander verknüpften Funktionsprinzipien zu beobachten sind (vgl. Winkler, Basiswissen, S. 195): „Materielle Einschreibung (Monument) und Wiederholung also unterliegen unterschiedlichen Gesetzen. Beides sind Wege zur Überwindung der Zeit, Mechanismen kultureller Kontinuierung. […] Das Monument nämlich ist – letztlich – eine Maschine zur Initiierung von Wiederholung […[ Und umgekehrt enthält die Wiederholung einen Aspekt von Monumentalität. Damit etwas als eine Wiederholung überhaupt erkannt werden kann, muss das wiederholte Ereignis irgendwo – z. B. im Ge­dächtnis – materiell zwischengespeichert werden“ (hier S. 230). 89 Vgl. in Bezug auf ,kollektives‘ bzw. ,kulturelles Wissen‘ Neumann/Nünning, Kulturelles Wissen, S.  11. Dass diese synchron und diachron stets plural und niemals unumstritten sind, ist vorauszusetzen (vgl. hier S. 44f.). 90 Dass dies auch für die Bemühungen einzelner Personen, bestimmte Informationen an Zukünftige zu vermitteln, gilt, zeigt eine Analyse der Tafel des Gregorius von Edith und Horst Wenzel. In dem Schrifttext entsteht – so heißt es – ein Bild der Senderin (vgl. Wenzel/Wenzel, Tafel des Gregorius, S. 106).

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rezipierbar zu machen, sondern bilden den Prozess der Wissenskonstitution und Erinnerungsbildung in dem Moment der medialen Aufbereitung als Entscheidung, diesen bestimmten Gehalt als relevante, identitätsstiftende Einheit wahrzunehmen und in eine stabile Form für andere zu bringen, ab. Damit stellen die in den Blick genommenen Prozesse nicht nur dar, wie ein gewisser Informationsbestand beständig gemacht wird, sondern auch, was als wissenswert und erinnerungswürdig markiert wird und was die kulturell gültigen Konzepte von ,Wissen‘ und ,Erinnerung‘ ausmacht. Wie also über den medialen Umgang mit Ereignissen bestimmte Standards, Institutionen und Identitäten geformt werden und wo­durch sich jene Ereignisse, Personen, Informationen auszeichnen, die als einer Bewahrung würdig erachtet werden, entpuppt sich damit als zentrale Frage im Umgang mit erzählten Transmissionsprozessen.

5.2 Tragen – Singen – Sagen: Körpergebundene Bewahrungstechniken Beginnen soll die Textarbeit mit den körpergebundenen Techniken. Die verstetigende Materialisierung der Informationen ist von Körperfunktionen, jedoch nicht notwendigerweise von einem bestimmten Körper abhängig. In der Regel wohnt gerade der Reproduzierbarkeit durch je andere Körper die relevante Verstetigungsfunktion inne. Doch es gibt Ausnahmen. Zuerst wird ein Fall intrapersonaler medialer Aufbereitung besprochen, welcher in Heinrichs Apollonius von Tyrland zu beobachten ist. Er setzt die Körperbindung besonders wörtlich und spezifisch um, indem ein bestimmter Körper mit Erinnerungszeichen versehen wird bzw. zum Erinnerungszeichen selbst wird.

5.2.1 Der Körper als Zugang zur eigenen Vergangenheit: Der Bart des Apollonius Apollonius vermag sich – so beweist das Aufeinandertreffen mit Elanicus am Ende des Textes (s. Kap. 5.1.1) – Vergangenes anhand eines äußeren Reizes präsent zu machen. Im beschriebenen Fall ist dieser Reiz zufällig, doch bei einem besonders bedeutsamen Ereignis im Leben des Helden scheint dieser sicherstellen zu wollen, dass immer wieder die Möglichkeit besteht, durch einen solchen Reiz zum Aufrufen eines bestimmten Informationskomplexes gezwungen zu werden. Apollonius erfährt nach seiner Heirat mit Lucina vom Tod des ihn ins Exil drängenden Herrschers Antiochius und beschließt, das dadurch ererbte Land in Besitz zu nehmen (vgl. AvT, V. 2293–2331). Trotz einiger Bedenken seinerseits

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begleitet ihn die schwangere Lucina auf der notwendigerweise über das Meer führenden Reise (vgl. AvT, V. 2355–2387). Während der Überfahrt kommt sie nieder; dabei allerdings fällt sie in eine tiefe Ohnmacht, die alle Anwesenden glauben macht, sie sei im Kindbett verstorben (vgl. AvT, V. 2444–2471). Nachdem Lucina auf See bestattet (s.  Kap.  5.3.2) und das Festland erreicht ist, lässt Apollonius seine Tochter Tarsia und ihre Amme Ligurdis in der Obhut zweier Tarser zurück (vgl. AvT, V.  2874). Apollonius beschließt, von nun an das Leben eines Exilanten zu führen. Um dieser Änderung der Lebensführung gebührend Rechnung zu tragen, formuliert er im Akt der Kindesübergabe die Absicht, seinen Körper in bestimmter Form zu gestalten und den Anwesenden (euch, AvT, V. 2884) damit einen Eid zu schwören. Apollonius möchte […] nagel, part noch har Nicht abschneid untz an das jar Das ich mein kind zu manne gebe, Ob ichs mit Gottes hilffe lebe. (AvT, V. 2886–2889)

Die angekündigten körperlichen Maßnahmen, die auf den ersten Blick als Kommunikationsform von Trauer bzw. als rituelle Trauerexpressionen erscheinen, sind unter einem medialen Blickwinkel als zuverlässige Erinnerungszeichen zu deuten. Als solche spielen sie nicht erst bei der entsprechenden Eliminierung nach der Wiedervereinigung mit Frau und Tochter (vgl. AvT, V.  16785–16820, 17273–17316) wieder eine Rolle, sondern auch bei deren zeitweiligen Verlust im Garten von Lisamunt (vgl. AvT, V. 12927–14377). Die Passagen illus­trieren sowohl den Zusammenhang von Erinnerung und Identität als auch von Kommunikation und Transmission und veranschaulichen, wie figurales und textuelles Erinnern füreinander produktiv zu machen sind. Obwohl Apollonius die zitierten Worte öffentlich vor anderen Figuren spricht, soll die Äußerung nicht primär kommunikativ gelesen, vielmehr soll sie als Versuch verstanden werden, etwas für das eigene Selbstverständnis Relevantes vor dem Vergessen zu schützen.91 Die Figur bemüht sich darum, Informationen so aufzubereiten, dass sie innerhalb ihres Bewusstseins stabil bleiben und die verstreichende Zeit überdauern können. Sender und intendierter Empfänger sind miteinander identisch.92 Die Inhalte müssen sich in dieser besonderen Kon-

91 Hahn, Körper, S. 17. 92 Diese Besonderheit ist ausschlaggebend für die Abgrenzung zu den übrigen Prozessen. Der hier beschriebene Vorgang ist auf die Stabilisierung und die medial gestützte Präsenzhaltung bestimmter Informationen ausgelegt, die Perspektive ist jedoch im Gegensatz zu allen folgenden

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stellation gegen die in dieser Zeit stetig anwachsenden Erlebnisse durchsetzen oder dürfen zumindest nicht unter neuen Eindrücken verschüttet werden. Solche Bemühungen sind insbesondere für männliche Figuren der höfischen Literatur93 keine Seltenheit. Zu diesem Zweck stehen Mittel und Techniken zur Verfügung, die auf der Externalisierung von Erfahrungen, Gedanken und Emotionen im Sinne einer Ablösung in sprachlichen oder bildlichen Zeichensystemen basieren und deren Produkte von anderen Figuren der mittelhochdeutschen Literatur – man denke bspw. an Gregorius94 – auch genutzt werden. Apollonius aber wählt mit seinem Gelübde eine andere Möglichkeit. Die Interpretation dieses eher ungewöhnlichen Vorgehens als Transmissionsbemühen verlangt Erläuterung. Apollonius nutzt seinen Körper, um Informationen mit sich und über die Zeit hinweg bei sich zu tragen. Die Verwendung des eigenen Körpers als mediale Form ist, wie das interdisziplinär ausgeprägte Interesse am Körper und an Körpertechniken95 nachweist, für die mittelalterliche Kultur nicht unüblich.96 Dementsprechend ist ein körperzentriertes Vorgehen in

Textpassagen stark begrenzt, indem hier nicht über Menschenalter hinaus gedacht wird, wie es für Vorgänge, die als Transmission zu bezeichnen sind, eigentlich der Fall ist (s. Kap. 3.1.2). 93 Indem er sich darum bemüht, stets zu erinnern, reiht sich Apollonius – darauf macht Philipowski aufmerksam – in ein Ensemble männlicher Figuren ein, deren Problem und/oder Aufgabe es ist, sich etwas gegenwärtig zu halten: „Überhaupt erscheint es, daß Erinnern geschlechtsspezifisch funktioniert: Während Männer sich Probleme eher damit einhandeln, daß sie wie Iwein, Erec und Tristan vergessen, besteht das Problem der Frauen eher in zu starker Erinnerung. Meistens firmiert diese Fähigkeit, sich dem Vergessen standhaft zu widersetzen, als weibliche triuwe“ (Philipowski, Körper, S. 148). 94 Dieser betrachtet täglich eine Tafel mit genealogischen Informationen, „um sich mit seiner sündigen Herkunft zugleich des tragischen Urgrunds seiner Existenz zu vergewissern“ (Wandhoff, Ekphrasis, S. 318). 95 So heißt es am Anfang des einundzwanzigsten Jahrhunderts bereits bei Haubrichs: „Daß das ,Interesse am Körper‘ seit langem eine ungebrochene Konjunktur besitzt, in der sich – vereint oder getrennt – Historiker, Kulturwissenschaftler, Philologen, Psychologen, Theologen, Soziologen, Philosophen usw. über das Objekt ihrer Neugierde beugen, braucht kaum wiederholt zu werden“ (Haubrichs, Wolfgang: Habitus Corporis. Leiblichkeit als Problem einer historischen Semantik des Mittelalters. Ein Beispiel physiognomischer Körperdarstellung in der Limburger Chronik. In: Körperinszenierungen in der mittelalterlichen Literatur. Kolloquium am Zentrum für interdisziplinäre Forschung an der Universität Bielefeld [18. bis 20. März 1999]. Hrsg. von Klaus Ridder/Otto Langer, Berlin 2002 [Körper – Zeichen – Kultur 11], S. 15–43, hier S. 15). Das Paradigma könne vielfältigen Fragestellungen dienen; bspw. Fragen zur ,Darstellung von Körperlichkeit‘, zum ,Handeln mit dem Körper und durch den Körper‘, zum ,Handeln am Körper‘, zu ,Stadien des Körpers‘, zur ,Theorie des Körpers‘, oder zum ,Körper als Metapher in anthropomorpher Wahrnehmung‘ (vgl. hier S. 16–18). 96 Vgl. Fritsch-Rössler, Memorialisierung, S. 161.

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der mittelalterlichen Literatur nicht nur im Apollonius zu beobachten. In anderen Darstellungen wird der Körper mit einer Applikation oder Gravur verändert oder mithilfe von Kleidung inszeniert. So versucht Willehalm im gleichnamigen Roman Wolframs von Eschenbach, bestimmte Ereignisse an seinem Körper zu manifestieren, indem er nach seiner Niederlage beschließt, seine Waffen nicht mehr abzulegen (ein Verweis auf die Kriegssituation) und kein Fleisch zu essen (ein Verweis auf Mangel und Bedrängnis).97 Wie in diesem Fall spielt auch im Apollonius die Außenwirkung der Maßnahme eine Rolle für die Interpretation als Erinnerungszeichen. Vor dem Hintergrund des mittelalterlichen Konzepts der Leib-Seele-Einheit98 kommuniziert der durch die gelobte Maßnahme geprägte Körper unbestreitbar zunächst nach außen. Apollonius’ Vorgehen geht aber nicht in einer Trauergeste99 auf. Kienings Interpretation des Barts als Zeichen mit wechselnder Referenz – zunächst auf Trauer, dann auf Differenz100 – und Schneiders Darstellungen zur Verknüpfung von Erinnerung und von Identitätswahrung in der hier gefährdeten Familienkonstellation101 zeugen nicht allein von der bereits

97 Vgl. Wolfram von Eschenbach: Willehalm. Text und Kommentar, hrsg. von Joachim Heinzle (Bibliothek des Mittelalters 9), Frankfurt a. M. 2009, V. 105,1–11. 98 Die Vorstellung ist Voraussetzung dafür, dass dem Körper in der mittelalterlichen Kultur so eine starke Aussagekraft zugeschrieben wird. Das religiöse Konzept der Einheit von Leib und Seele dringt laut Philpowski im Mittelalter auch in weltliche Diskurse ein und erlangt so für die Anlage literarischer Figuren höfischer Texte Bedeutung (vgl. Philipowski, Körper, S. 141). Schreiner formuliert: „Nur, weil Leib und Seele eine Einheit bilden, besteht nach Auffassung mittelalterlicher Theologen und Literaten die Möglichkeit, an Bewegungen des Körpers (motus corporis) Bewegungen der Seele (motus animae) abzulesen, aus dem Gesicht (facies) einen Spiegel des Herzens (speculum cordis) zu machen und die Haltung des Körpers (gestus corporis) als Zeichen innerer Gesinnung (signun mentis) zu betrachten“ (Schreiner, Klaus: ,Er küsse mich mit dem Kuß seines Mundes‘ [Osculetur me osculo oris sui, Cant. I,I6]. Metaphorik, kommunikative und herrschaftliche Funktionen einer symbolischen Handlung. In: Höfische Repräsentation. Das Zeremoniell und die Zeichen. Hrsg. von Hedda Ragotzky/Horst Wenzel, Tübingen 1990, S. 89–132, hier S. 89). 99 Achnitz bspw. wertet diese Geste wie folgt: „In der mittelalterlichen Erzählliteratur ist das Wachsenlassen der Haare einerseits Symbol großer Stärke, andererseits, wie im ,Apollonius‘, Zeichen von Trauer“ (Achnitz, Babylon und Jerusalem, S. 268). Gleichzeitig weist er darauf hin, dass das Gelübde, sich das Haupthaar wachsen zu lassen, im Alten Testament als Zeichen der Gottgeweihten (z. B. Nm 6,1–21) gelte (vgl. hier S. 269). 100 Der Bart sei „ursprünglich ein Zeichen der Trauer (über den vermeintlichen Verlust der Seinen) und dann ein Zeichen der Differenz zwischen früherem und gegenwärtigem Zustand“ (Kiening, Apollonius, S. 417). 101 Während bereits die im Eingang des Textes stehende Geschichte vom Traum des Nebukadnezar (vgl. AvT, V. 11–86; s. Kap. 6.3.2) die Relevanz von Erinnern und Vergessen in der Verknüpfung von Tugend mit dynastischer Ordnung in der Geschichte etabliere, zeige sich besonders in den Szenen zwischen Antiochius und seiner Tochter, wie sehr Erinnerung und

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geleisteten Einstufung des Barts als Memorialzeichen.102 Sie sprechen auch den Aspekt der Identität, der Selbstwahrnehmung und der äußerlichen Abbildung dieser an, welcher für die Interpretation des Barts als mediale Form im Dienste von Transmission zentral ist. Der manipulierte Körper ist auch als Kommunikationsmittel zu inter­ pretieren,103 diese kommunikative Funktion kann jedoch im Dienste des intra­ personalen Erinnerns an identitätsstiftende Ereignisse stehen, da Apollonius das Körperzeichen, das die Identität des Trauernden gegenüber jüngeren Ereignissen präsent hält, nur in Bezug auf die umgebende Gesellschaft setzen kann. Dieser Zusammenhang wird bereits in Bourdieus Überlegungen zur Rolle von Körperinszenierung für kollektive Prozesse sowie deren Übertragungen auf Einzelpersonen bei Foucault deutlich. Bourdieu nimmt an, dass Gruppen Körper

Identität (Identität hier gemeint im Sinne einer Verortung des Einzelnen in der Ordnung des dynastischen Gefüges, vgl. Schneider, Chiffren, S. 204) miteinander verknüpft sind (vgl. ebd. S. 199; dort heißt es: „[I]n der Kombination von Prolog und Rahmenerzählung [wird] der Komplex von Vergessen und damit zugleich Erinnern als wesentliches Thema des Romans markiert. Das Vergessen erscheint darüber hinaus unmittelbar an einen Akt der Zerstörung gebunden, wenn auch zwischen Prolog und Rahmenhandlung die Folge von Ursprung und Konsequenz vertauscht ist. Bei Nebukadnezar wird das Vergessen durch die Zerstörung und ihren Anblick ausgelöst, bei Antiochius dagegen begründet es diese erst.“ Vergessen bedeute Identitätsverlust (für die Tochter), daher müsse Erinnerung als ein Fundament des Selbst betrachtet werden (vgl. hier S.  202). Apollonius versuche über den Handlungsverlauf, sich der Zusammenhänge und der ihnen innewohnenden Gefahren der Destruktion von Ordnung und Genealogie zu erinnern. Schneider geht davon aus, dass Apollonius Antiochius’ Position, Tarsia die der Königstochter einnimmt. Dort, wo Antiochius die Identität seiner Tochter durch das Vergessen der dynastischen Ordnung zerstöre, könne Apollonius die Identität seiner Tochter wahren/ herstellen, indem er sich an das zerstörte genealogische Ordnungsgefüge erinnert und diese Erinnerung bis zur Verheiratung der Tochter – ihrer gesicherten Übergabe in eine legitime Ordnung – präsent zu halten gelobt (vgl. hier S. 205, weitere Ausführungen auf S. 206–221). Auch die Monsterwesen im Text liest sie als Verweise auf das fatale Vergessen genealogischer Ordnung (vgl. hier S. 240). 102 Das angesprochene Gelübde wertet Schneider explizit als Versuch, ein stets gegenwärtiges Memorialzeichen als Fundament des eigenen Selbst zu realisieren (vgl. hier insbes. S. 214–217). Apollonius, heißt es dort, wolle mit dem Bart die Zerstörung der Genealogie (seiner eigenen wie auch der in Antiochia) erinnern (vgl. hier S. 214). 103 Als solches spielt er seit einiger Zeit eine prominente Rolle in den Geisteswissenschaften (vgl. Kellermann, Körper, S.  3; grundsätzlich kommunikationstheoretisch dazu Knoblauch, Grundbegriffe, S. 31; s. Reichertz, Grundzüge, S. 54; Hornidge, Wirklichkeiten, S. 210). Häufig gehe es in den Untersuchungen um die historische und kulturelle Bedingtheit solcher Techniken und um die Zuschreibungsfunktion zu Kollektiven (vgl. Hahn, Körper, S. 126).

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als Speichermedien nutzen;104 Foucault referiert mit dem Begriff der ,Selbsttech­ nologie‘ auf dieselbe Indienstnahme des Körpers für Gedächtnisfunktionen bei Einzelpersonen. In diesem Ableitungsvorgang deutet sich an, dass in dem Versuch, „das eigene Selbst zum Gegenstand von Praktiken unterschiedlicher Art zu machen“,105 nach außen gerichtete kommunikative und fürs Selbst bestimmte transmittive Funktionen miteinander verknüpft sind. Die Einschreibung von Informationen in den eigenen Körper bzw. dessen Manipulation eignet sich als eine Technik des Selbst106 gegenüber anderen Strategien der Veräußerlichung von Informationen, indem sie gerade nicht die Ablösung des jeweiligen Gehalts vom Körper verfolgt, sondern die unwiderrufliche Bindung an diesen und die wiederholbare Ablesbarkeit von diesem. Der Körper wird in diesem Prozess zu einem Zeichen, das für einen konkreten Informationszusammenhang steht und diesen dem eigenen Bewusstsein durch unignorierbare und nur schwer oder gar nicht tilgbare Manifestation107 geradezu aufdrängt. Die Figur setzt sich ein Zeichen, mit dem es sich verortet, die Dauerhaftigkeit des Zeichens schafft eine ständig nach außen kommunizierte und daher ständig zurückgespiegelte Konstanz dieser Verortung. Die kommunikative Dimension eines solchen Zeichens ist also Gestaltungsmittel der Selbstwahrnehmung und daher auch mit den Versuchen des Festhaltens und Anbringens bestimmter Ereignisse im persönlichen Wahrnehmungshorizont verbunden. Diese Verflechtung von Transmission und Kommunikation, die auch in anderen literarischen Darstellungen zu beobachten ist,108 wird am Phänomen des Bartgelübdes des Apollonius besonders anschaulich. Im Text gestaltet sich diese Indienstnahme der kommunikativen Wirkung für die intrapersonale Transmission wie folgt: Apollonius kündigt – auffälliger-

104 „Alle sozialen Gruppen vertrauen ihr kostbarstes Vermächtnis dem Körper an, der wie ein Gedächtnis behandelt wird“ (Bourdieu, Pierre: Was heisst Sprechen? Die Ökonomie des sprachlichen Tauschs. Übersetzt aus dem Französischen von Hella Beister, Wien 1990, S. 89). 105 Vgl. Rieger-Ladich, Markus: Lektionen in symbolischer Gewalt. Der Körper als Gedächtnisstütze. In: Medien des Wissens. Interdisziplinäre Aspekte von Medialität. Hrsg. von Georg Mein Bielefeld 2011 (Literalität und Liminalität 4), S. 169–185, hier S. 182. 106 Vgl. Hahn, Körper, S. 113. 107 Im Hinblick auf Tätowierungen versteht Hahn das Einschreiben in den Körper als Wandlung dieses zu einem „Gedächtniszeichen, das nur schwer zu tilgen ist“ (hier S. 11). 108 Die Wahl eines Erinnerungszeichens, das stets am Körper die Abgrenzung zur Höfischkeit markiert, ist in literarischer Tradition aus dem Willehalm des Wolfram von Eschenbach bekannt (s. die Belegstelle in Anm. 5/97). Czerwinski erklärt dieses Verhalten damit, dass Willehalm sich selbst ein Erinnerungszeichen der Niederlage und der Bedrängnis zu setzen versucht, um diese in der Umgebung der Hoffreude nicht zu vergessen (vgl. Czerwinski, Reflexivität, S. 22 sowie mit Bezug auf seine Ausführungen Schneider, Chiffren, S.  215f.). Auch Philipowski interpretiert

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weise beim dem die ,Urszene des Vergessens‘ aufrufenden Aufbruch zu seiner (Exil-)Reise109 – eine Maßnahme an, die seinen Körper betrifft, und verbindet diese sprachlich mit der Klage um seine verstorbene Frau. Denn […][a]lso (AvT, V. 2890) – auf die geschilderte Weise – möchte er [k]lagen die ich maine, Lucinam, die frawen mein, An dy ich layder nu muß sein.’ (AvT, V. 2891–2893)

Während auf Grundlage des Eides Ausgangspunkt der Maßnahme die Trauer um Lucina ist, setzt Apollonius als Fluchtpunkt und endgültige Frist ein positives Ereignis – die Verheiratung der gemeinsamen Tochter (s. o.). Apollonius macht deutlich, wie er das am Körper getragene Zeichen versteht und wie es zu lesen ist. Seine äußere Erscheinung wird zum lesbaren Zeichen seiner Klage oder vielmehr – unter Berücksichtigung der prädikativen Formulierung – zur Klage selbst. Das Vorhaben, Haare, Bart und Nägel nicht mehr zu schneiden, wird als Klage und als Form des Trauerns um Lucina ausgewiesen. Der Bart wird mit der Zeit der Trauer, die auf den Zwischenraum zwischen ehemaligem und in Aussicht gestelltem Glückszustand festgelegt wird, verknüpft. Dabei sind die Form der Körpermanipulation und die damit vollzogene Aussage arbiträr; sie bedarf trotz der

das Vorgehen als Versuch, eine vergangene ,Gegenwärtigkeit‘ vor dem Vergessen zu bewahren. Dazu sei es für Willehalm nötig, ihre Abstraktheit zu überwinden und ihr einen – seinen – Leib zu leihen. Sein Körper sei nunmehr kein „Bürge personaler Identität, sondern Träger einer kollektiven Topographie des Krieges und des Elends. Würde Willehalm diesen Träger löschen, indem er die Rüstung abnähme, sich dem Genuß höfischer Speisen hingäbe oder sich durch höfische Konversation zerstreute, wäre die Information, die er zum König trägt, unwiederbringlich verloren“ (Philipowski, Körper, S. 149). Weiter heißt es: „Willehalms Körper macht, als er zum Träger der Botschaft von Krieg wird, eine eigentümliche Metamorphose durch: Er hört auf, Willehalms Körper zu sein und wird zum Ding, zur Materie, in der sich die zu memorierende Nachricht fest eingeschrieben hat. Körper, Person, Botschaft und Rüstung sind in eins verschmolzen“ (hier S. 149f.). ,Erinnerung‘ scheint für den Willehalm insgesamt ein dominantes Thema zu sein. Unter anderer Perspektive behandeln das Thema außerdem: Przybilski, Selbstvergessenheit, und Wolf, Willehalm. 109 Jan Assmann beschreibt die Reise in die Fremde als „Urmodell oder die Urszene solchen vergessensfördernden Rahmenwechsels […].“ Verantwortlich macht er dafür die so grundlegende Veränderung der Umwelt, die keinen Anknüpfungspunkt mehr zu dem zu erinnernden Objekt oder Ereignis zulässt. „[Die Figuren vergessen], weil nichts in der neuen Welt die Erinnerung stützt und trägt. Sie hat keine Bezugsrahmen mehr, wird unwirklich und verschwindet“ (jeweils Assmann, Katastrophe, S. 344). Anschaulich ist das im Rahmen der Texte an Reinfried, der im Orient Yrkâne vergisst (s.  die entsprechende Thematisierung der Textpassage zu Beginn des Kap. 5.1.1).

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Verwendung eines zeitgenössisch wohl konventionalisierten Zusammenhangs110 einer Erläuterung, wie Apollonius sie voranschickt. Denn der Wuchs ist keine unmittelbare und spontane körperliche Reaktion, sondern der Verzicht auf Trimmung eine wohlreflektierte Entscheidung, die symbolisch kommuniziert. Der unbegrenzte Bartwuchs ist als Trauerexpression nur durch den Nachvollzug der sprachlich geleisteten Konstruktion verstehbar. Dennoch beruht das angestrebte Zeichen auf der Vorstellung, über die Oberfläche des Körpers werde der innere emotionale Zustand natürlicherweise veräußerlicht.111 Indem diese Strategie auf einem natürlichen Körperprozess basiert, konstruiert Apollonius seine Gesichtsbehaarung für die Mithörenden, vor allem aber für die TextrezipientInnen, als authentischen, natürlichen Ausdruck anhaltender Trauer.112 Diese Überformung der Oberfläche greift den zumindest als natürlich wahrgenommenen Zusammenhang von Körperexpression und Emotion auf und sucht die Flüchtigkeit der natürlichen körperlichen Ausstellung emotionaler Affiziertheit in einer auf

110 Apollonius verwendet ein für die Textwelt konventionalisiertes Zeichen, das mittlerweile an Gültigkeit verloren hat. Im derzeitigen Alltagsverständnis würde bspw. eher Trauerkleidung als ein ,ungepflegtes‘ Äußeres auf das aktive Trauern hinweisen. Am Ende der Abenteuerreise belegt jedoch dasselbe Vorgehen bei einer weiteren Figur im Roman die Konventionalität. Altistrates hat sich seit dem vermeintlichen Tode seiner Tochter seinen pard/Noch das har nie geschoren (AvT, V. 17449f.) – so erfährt man erst beiläufig bei Tilgung des Zeichens. Erst als die Tochter wieder auftaucht, lässt er seine Trauer fahren und, wie die Erzählung im selben Atemzug erläutert, Haar und Bart trimmen (vgl. AvT, V.  17454–17461). Auch hier verweist der Terminus des Loslassens in Verbindung mit dem ungestoppten Wachstumsprozess auf die verbindende, erinnerungsbildende Funktion dieser Praxis. 111 Die Emotionen einer Person (oder einer Figur) sind ausschließlich über die nach außen dringenden codierten und codierenden Signale einer Emotion wahrzunehmen, die als ihr (un‑ mittelbarer) Ausdruck interpretiert werden. Sowohl im Mittelalter als auch im einundzwanzigsten Jahrhundert ist die Vorstellung gegenwärtig, dass sich Emotionen zum einen durch Sprache und Stimme, zum anderen über Körperzeichen, etwa durch Mimik und Gestik im Körper widerspiegeln bzw. zum Ausdruck gebracht werden (vgl. Eming, Emotion, S. 249; s. auch Anm. 5/98). 112 Insofern arbeitet er an der Wahrnehmung dieses als ,natürlich‘. Emotionsausdruck gilt in emotionstheoretischer Hinsicht nicht einfach nur als nach außen hin sichtbare, abgeschwächte Spiegelung des inneren Empfindens, sondern bestimmt vielmehr, wie eine Gesellschaft eine bestimmte Emotion konzeptualisiert. Er kann daher nicht als sekundär oder akzidentiell gesehen werden, sondern muss als konstitutiv für Konzepte von Emotionen betrachtet werden (vgl. Jutta Eming: Affektüberwältigung als Körperstil im höfischen Roman. In: anima und sêle. Darstellungen und Systematisierungen von Seele im Mittelalter. Hrsg. von Katharina Philipowski/Anne Prior, Berlin 2006 [Philologische Studien und Quellen 197], S. 249–262, hier S. 249). Emotionsausdrücke sind dann abhängig von kulturellen Konventionen. Sie stellen erst lesbare Kategorien für den Ausdruck einer Emotion bereit und bringen die Ausdrucksformen von Emotionen und somit auch die Vorstellung einer Emotion selbst erst hervor (vgl. Eming, Affektüberwältigung, S. 249; vgl. auch Eming, Emotionen als Gegenstand, S. 257f.).

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Dauer angelegten Materialität zu überwinden. Der Trauerzustand soll durch das Zeichen ein garantierter Dauerzustand werden. Die Art und Weise, wie dieses körperliche Zeichen konstruiert wird, macht deutlich, wie kommunikatives Trauerzeichen und transmittives Erinnerungszeichen miteinander verknüpft sind. Was Apollonius in der zitierten Passage ankündigt, ist weniger eine aktive Manipulation des Körpers als die Verweigerung, diesen den Konventionen gemäß zu pflegen. Denn (auch) in der mittelalterlichen Literatur zeichnen sich schöne Körper durch Gepflegtheit aus.113 Dieses Ideal umschließt bei allen Figuren ungeachtet von Alter oder Geschlecht die Haare.114 Auch wenn der Text keine Aussage darüber trifft, wie häufig Haare, Bart und Nägel geschnitten werden sollten,115 wird in Apollonius’ Formulierung sofort deutlich, dass in dem Vorhaben, dies gar nicht mehr zu tun, eine Abweichung von der Norm besteht. Der von Apollonius eingebrachte Einschub [e]s sey wem es welle laidt (AvT, V. 2885) verweist darauf, dass sein Handeln außerhalb gesellschaftlicher Konvention liegt und er indifferent gegenüber erwartbarer Missbilligung ist. Er stellt sich mit seinem Verhalten wissentlich gegen die Norm eines gepflegten, kultivierten und – hier im wörtlichen Sinne – gestutzten Körpers. Bestätigt wird dieser Normverstoß später dadurch, dass er was er ain so schoner man (AvT, V. 17315), als Bart und Haar geschnitten sind. Der Kommentar bei der Tilgung des Zeichens macht retrospektiv anschaulich, dass Apollonius sich mit seinem Äußeren seinem gesellschaftlichen Rang entzogen, sein Identität als unvollständig ausgestellt hatte. Apollonius schafft an seinem Körper ein Differenzkriterium, das ihn im Vergleich zu anderen auszeichnet und ihn zugleich

113 „Gerade am Gegenbild erworbener Häßlichkeit zeigt sich aber auch, daß der schöne Körper nicht nur ein Ergebnis von disciplina ist, denn der schöne Körper ist der in jeder Hinsicht gepflegte, d.  h. vor allem: der versorgte Körper, und dazu gehören, außer der Körperhygiene, ausreichende Nahrung und Pflege der Gesundheit“ (Haupt, Barbara: Der schöne Körper in der höfischen Epik. In: Körperinszenierungen in mittelalterlicher Literatur. Kolloquium am Zen­trum für interdisziplinäre Forschung an der Universität Bielefeld [18. bis 20. März 1999]. Hrsg. von Klaus Ridder/Otto Langer, Berlin 2002 [Körper – Zeichen – Kultur 11], S. 47–73, hier S. 61). 114 „Beim älteren Mann, beim Jüngling und bei der Frau scheint sich die Disziplinierung des Körpers insbesondere im Umgang mit den Haaren abzuzeichnen. Schönes Haar ist gepflegt“ (hier S. 61). 115 Historische medizinische Ratschläge treffen diesbezüglich sicherlich Aussagen; für das Verständnis des Vorhabens Apollonius als dieser Norm widerstrebend ist ein solcher Nachweis jedoch unerheblich, da Apollonius’ Gelübde sein Vorhaben bereits als normüberschreitend markiert.

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von seinen vorherigen Zugehörigkeiten abgrenzt.116 Durch den Konventionsbruch stellt er eine Identitätskonstitution im Spiegel der Anderen sicher,117 die seinem Entwurf als am Rande bzw. außerhalb der durch Freude geprägten höfischen Gesellschaft Stehender entspricht. Der Wunsch nach Abgrenzung über ein äußerlich sichtbares und gesellschaftlich rezipierbares Trauerzeichen beruht aber auf der Verbindung des gegenwärtigen Selbst mit der Trauer um Lucina, der Identifizierung mit ihr und dem auslösenden Ereignis. Vor dem Hintergrund der Zusammenhänge von Identität und Erinnerung118 muss der Verlust Lucinas und Tarsias präsent gehalten werden, um die erwünschte Identität des Trauernden dauerhaft aufrecht erhalten zu können. Die angekündigte Maßnahme setzt diesen Zweck konkret und wörtlich um. Seinen Körper weiterhin den Konventionen anzupassen und sich als Teil der Gesellschaft zu präsentieren, hieße Körpermaterial abzustoßen, das Wachstum des Körpers zu unterbrechen. Dem Wachstum des Körpers, der auf den Tod Lucinas verweist und der im Wachstumsprozess um diese klagt (s. o.), will Apollonius keinen Einhalt gebieten, bis Tarsia eine eigene Familie gründet und die verlorene genealogische Linie erneuert. Mit der Gegenwart des Zeichens sichert er eine Präsenz des Unglücks.119 Doch darin erschöpft sich die Symbolik der gewählten Maßnahme nicht. Sie weist nicht allein auf den Trauereid, sondern auch auf dessen Ursprung. Nicht die Haare, den Bart oder die Nägel zu schneiden bedeutet, eine körperliche Verbindung zu der Zeit des Unglücks, der Trennung von der Tochter und dem ausgesprochenen Vorhaben, sie zu verheiraten, aufrecht zu erhalten. Denn das bereits zu dieser Zeit vorhandene Körpermaterial bleibt – zumindest theoretisch – erhalten und mit dem Rest des Körpers verbunden. Die auf Trauer verweisenden Bestandteile des Körpers überdauern seit jenem Zeitpunkt des Versprechens an Apollonius, sind sichtbar und repräsentieren das Vergangene. Es lässt sich

116 So bemerkt bereits Schneider: „Seinen eigenen Körper setzt Apollonius damit als Träger eines Erinnerungszeichens in der Weise ein, daß er ihm sein höfisches Aussehen nimmt und sich selbst so zum Außenstehenden stigmatisiert“ (Schneider, Chiffren, S. 214). 117 Diese Formierung des Körpers sei deswegen für die Selbstwahrnehmung wichtig, da diese auch davon abhinge, das andere einen (an)erkennen (vgl. Philipowski, Körper, S. 153f.). Ähnlich heißt es später in Bezug auf Hartmanns Iwein: „Identität ist das, was die anderen über den Ritter wissen, nicht das, was er selbst über sich weiß“ (hier S. 154). Apollonius sorgt also dafür, dass ihm von außen die passende Identität immer wieder vermittelt werden kann. 118 Vgl. Schneider, Chiffren, S. 17–19. 119 So interpretiert Schneider sein Handeln: „Die Furcht vor dem Vergessen ist es demnach, die […] [Apollonius] dazu bringt, solche Zeichen zu wählen, da nur in der permanenten Gegenwart zumindest der Zeichen Erinnerung gesichert scheint“ (hier S. 215).

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körperlich eine Kontinuität herstellen, die sonst beim Haare-, Bart- und Nägelschneiden gekappt wird. Dass es sich dabei um Bereiche des Körpers handelt, die nicht durchblutet sind, in denen sich keine Muskeln oder Nerven befinden, bedeutet darüber hinaus, ,unbelebtes‘ Material anzuhäufen, den Tod als Ereignis des Glücksumschwungs am eigenen Körper präsent zu machen, ihn als Teil der eigenen Identität sogar wachsen zu lassen. Der Tod gehört damit genauso zum Körper des Helden wie der Tod seiner Frau zu dessen Lebensgeschichte. Der überbrückte Zeitraum selbst ist in Apollonius’ Transmissionsverfahren präsent. Apollonius macht das Vergehen von Zeit durch das unbegrenzte Wachsen seines Körpers anschaulich und überbrückt die entstandene zeitliche Distanz durch körperliche Kontinuität, um emotional wie mental eine Verbindung zu den Kern­ ereignissen seiner Identität zu schaffen. Wie stark das körperliche Mittragen des Vergangenen in das Selbstverständnis der Figur eingeht, sucht die Erzählinstanz dadurch zu veranschaulichen, dass der Protagonist des nun anhebenden Binnenteils einige Verse nach dem geleisteten Gelübde als Appolonius mit dem parte (AvT, V. 2917)120 vorgestellt wird. Der Bart, der hier und in allen weiteren Textstellen metonymisch für die Gesamtheit der von nun an ungehindert wachsenden Körperbestandteile steht, wird hier als fester und von der vorherigen bartlosen Figur Apollonius abgrenzende Teil der neuen Hauptfigur ausgewiesen. Die Selbstbezogenheit der Maßnahme wird beim Blick auf die Reaktion anderer Figuren auf den Bart evident. Die äußerlichen Veränderungen, die mit dem Gelübde einhergehen, wird in keiner der sich später auf den Bartwuchs beziehenden Szenen primär als ein Merkmal konstruiert, das auf seine Wahrnehmung durch andere wirkt. In kaum einer Szene nehmen andere Figuren direkt Bezug auf die Erscheinung oder deuten diese als ein Zeichen (z. B. von Traurigkeit). Wenn es bspw. darum geht, dass Diomena den angekündigten Helden nicht erkennt (sie fragt Welches ist der von Tyrland?/Er ist mir noch unpekant, AvT, V. 11623f.), liegt das daran, dass jener den Helm, den Diomena ihm als Erkennungszeichen zugesandt hatte, nicht trägt, da er diesen in einem Kampf verloren hat.121 Sein Bart fungiert an dieser Stelle dann weder als Entstellungsnoch als Erkennungsmerkmal oder Ausweis seiner Trauer, sondern findet einfach gar keine Erwähnung. Ein Erkennungszeichen ist seine normbrechende Erscheinung auch zwischen Vater und Tochter nicht. Sie findet zwar in der Beschreibung

120 Später wird er nur als der mit dem parte (AvT, V.  16539) oder Lonius mit dem hare (AvT, V. 8292) benannt oder aber seine Taten rückblickend beschrieben mit Verweis auf denjenigen, der strayt mit dem parte (AvT, V. 17061). 121 Zum Helmgeschenk vgl. AvT, V. 11500–11505. Der Verlust des Helms im Kampf folgt in Vers 11533.

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des Vaters der Amme Ligurdis gegenüber Tarsia in einer fast wörtlichen Wiederholung des originalen Schwurs Erwähnung,122 spielt bei der Anagnorisis zwischen Apollonius und seiner Tochter allerdings keine Rolle (s. Anm. 5/131). Bei der Begegnung von Lucina und Apollonius verhindert er hingegen, dass Lucina, die nichts von dem Gelübde weiß, ihn wiedererkennt,123 verschleiert also seine alte, ihr bekannte Identität. Wenn der Haar-, Nagel- und Bartwuchs Apollonius auch nach außen hin markiert und eine aktive Abgrenzung darstellt, so scheint dieses körperliche Zeichen doch primär für die Selbstwahrnehmung der Figur oder aber für die RezipientInnen eine Funktion zu haben. Wie gut die beschriebene Strategie aufgeht, ob Apollonius’ Versuche tatsächlich allesamt scheitern und, wie Schneider erarbeitet, kein Zeichen subjektiver Erinnerung als Element eines differenzierten Figurenbewusstseins im Text entwickelt wird,124 in welchen Kontexten Apollonius’ Vorgehen nach seinem Gelübde relevant wird und welche Bedeutung es demnach im weiteren Verlauf für Figur und Erzählung einnimmt, soll anhand des wiederholten Auftretens des Memorialzeichen überprüft werden. Nur selten greift der Text das Gelübde bzw. seine Folgen wieder auf; die denkbaren praktischen Probleme während der durch Körpereinsatz geprägten Abenteuerreise werden vollkommen ausgeblendet.125 Dennoch stellt der Text sicher, dass das Versprechen, dieses Erinnerungszeichen zu tragen, nicht vergessen wird. Der Text beweist, wie bereits Schneider feststellt, ein ausgeprägtes Erinnerungsvermögen – bei ihr vor allem im Gegensatz zu dem an der Erinnerung scheiternden Protagonisten.126 In unregelmäßigen und langen Abständen findet der unregulierte Wuchs immer wieder Erwähnung, sodass die Textrezi­pientInnen

122 Er schwur deß ainen gestalten aid/Das der nagel, part noch har/Nicht abgeschnite untz an das jar/Das du zu manne wirst geben,/Ob im Got wil fristen das leben (AvT, V. 15180–15184). 123 Die Erzählinstanz begründet ihre Unfähigkeit, in dem betenden Mann ihren einstigen Ehemann zu erkennen, explizit mit dem Bart: Dannoch hett er den partt,/Das sy sein nicht erkante (AvT, V. 17270f.). 124 Bei Schneider heißt es: „Apollonius’ Bemühungen, sich an seine eigene genealogische Katastrophe und ihre Konsequenzen zu erinnern, mißlingen sämtlich“ (Schneider, Chiffren, S. 219) und „[e]in differenziertes Figurenbewußtsein, mit dem ein Raum subjektiver Erinnerung geöffnet würde, ist im Apollonius nicht gestaltet“ (ebd.). 125 Auch diese Tatsache ließe sich als Verweis auf die primär symbolisch-verweisende Bedeutung des Vorgehens lesen. Achnitz wertet dies als Hinweis darauf, dass die für ihn mit dem Bartwuchs implizierte göttliche Auserwähltheit (s. Anm. 5/99) für den Text im Vordergrund stehe und logische Fragen hinter dieser Ausweisungsfunktion zurückstehen müssen (vgl. Achnitz, Babylon und Jerusalem, S. 270). 126 „Nicht als Fähigkeit des Protagonisten ist Erinnerung gestaltet, sondern erweist sich zuerst als Vermögen des Textes jenseits der Gestaltung eines Figurenbewußtseins“ (Schneider, Chiffren, S. 221).

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ebenso wie Apollonius selbst – so die hier verfolgte These – während seiner Abenteuer immer wieder fast vergessen, um dann doch wieder erinnert zu werden. Der Verweis auf das textinterne Erinnerungszeichen dient in den Fällen seiner Erwähnung auch für die RezipientInnen als Memorial- und Vergegenwärtigungszeichen und führt so den Effekt, den es für die Figur hat, eindrücklich vor Augen. Das erste Mal nach dem Gelübde erwähnt wird die am Körper getragene Erinnerung während der Feier, die König Paldein anlässlich des Sieges über Gock und Magock veranstaltet. Dabei wird anschaulich, wie das Zeichen auf Handlungsund Erzählebene funktioniert. Es wird beschrieben, dass das Fest so reich ist, dass in hundert jaren seyt/Nie kain so grosse war (AvT, V. 4034–4036). Dem jedoch wird sofort entgegengestellt: Appolonio wuchs sein part (AvT, V.  4037). Noch bevor explizit auf die Trauer des Helden, die der allgemein überschwänglichfröhlichen Stimmung gegenübersteht, eingegangen wird, erfährt der wachsende Bart Erwähnung, der in der ihm gegebenen Bedeutung die währende Aktualität des Verlusts und der damit verbundenen Trauer symbolisiert. Im Anschluss stellt eine Erläuterung eine direkte Verbindung zwischen dem Bart und der stetigen Erneuerung Apollonius’ Trauer her. Mit einem [w]an (AvT, V. 4038) wird die Klage um den Tod seiner Frau, die [w]as im stet newe (AvT, V.  440), als Begründung für den anhaltenden Bartwuchs nachgeschoben. Weil also der Schmerz stets als frisch empfunden wird, er ihm so präsent wird, als wäre er aktuell, wächst sein Bart weiter. An dieser Stelle wird durch die Erwähnung der beständigen Erneuerung in Verbindung mit dem ebenfalls kontinuierlich ablaufenden Bartwuchs fast so etwas wie ein Automatismus etabliert, der die funktionierende Erinnerung mit dem Vorgang des Haare-Wachsens gleichsetzt. Erinnerung und Schmerzerfrischung laufen ebenso beständig fort wie der Bartwuchs, der für die Weiterführung dieser Empfindung garantiert. Der Vorgang des Bartwachsens symbolisiert die Erneuerung und das Nachwachsen des aus unerschöpflicher Quelle gespeisten Schmerzes, katalysiert ihn aber gleichzeitig. Es entsteht eine komplexe Verflechtung von Erinnerungszeichen, Erinnern und Empfindung. Diese Verbindung wird immer wieder aufgerufen, wenn der Bart Erwähnung findet. Nach dieser Szene kommt der Text erst wieder auf den Bart und seine Funktion zurück, als zuerst die Identität des Apollonius, dann der Bestand des Erinnerungszeichens und die Einlösung des Versprechens gefährdet ist. Apollonius muss sich nach langen kämpferischen Auseinandersetzungen dem despotischen Herrscher Nemrott gefangen geben (vgl. AvT, V. 7993–8048). Als er nach seinem Namen gefragt wird, gibt er einen verkürzten Namen (Lonius) an – wie er später argumentiert ein Ausdruck seiner unvollständigen Identität in der Gefan-

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genschaft.127 Wichtig ist in diesem Kontext aber, dass Apollonius sich gerade im Moment gefährdeter Identität hieß sich […]/Lonius mit dem parte (AvT, V. 8055f.). Er benennt den Bart als Teil seiner Identität, welchen auch durch die Beschneidung der Identität in der Unterwerfung seiner Person nicht abtritt. Er bleibt auch in dieser Reduktionsform bestehen. Obwohl Apollonius hier ein Teil seiner selbst verliert, stellt die Figur mit der Nennung des Barts unmissverständlich aus, dass dieser mit Trauer und Buße verknüpfte Teil des Selbstverständnisses unangetastet bleibt. Dieser Ausspruch zeugt von der Wichtigkeit, die der Traueridentität, dem auslösenden Ereignis und damit auch dem Körperzeichen, das den Zugang zu diesem ebnet, zukommt. Die Aussage nimmt das Körpermaterial als notwendigen Bestandteil der Identität wahr und suggeriert, der Bart garantiere die Identität, die über den Namen nicht mehr eindeutig ausgewiesen werden kann. Narrativ bedeutet die Erwähnung des Barts darüber hinaus einen Fingerzeig auf die prekäre Situation des Protagonisten, der ein bereits mit Trauer beladener Exilreisender ist und nun auch noch seine Autonomie abtreten muss. Der Bart dient aufgrund seiner Aufladung mit den komplexen emotionalen Zusammenhängen als narratives Element auch als Empathiegenerator, der hier zur Verstärkung der misslichen Lage des Protagonisten zum Einsatz kommt. Die Reaktion bei Verlust und Wiedergewinn des Erinnerungszeichens im Rahmen der Erlebnisse im Land Crisa hebt die erarbeiteten Funktionen des Erinnerungszeichens besonders hervor. Dort nämlich verschwindet es. Apollonius hatte zu den wenigen Privilegierten gehört, die den Garten in Lisamunt hatten betreten und im Jungbrunnen hatten baden dürfen (vgl. AvT, V.  12927–13003). Apollonius’ Erscheinung gleicht seit seinem Bad nicht mehr dem des büßenden, alternden Mannes mit langen Haaren und Bart, sondern dem Antlitz eines Zwanzigjährigen: Si [Apollonius und seine Gefährten] wurden liecht und klar. Ir har ward den seyden geleich. Si wurden alle wunnikleich Als di jungen knabelein Di in der pluenden jugend solten sein. (AvT, V. 13010–1314)

Kurioserweise wird hier weder Apollonius’ Erscheinung im Allgemeinen noch sein Bart bzw. sein langes Haupthaar erwähnt, sondern nur indirekt mit der sei-

127 Gegenüber der Stimme der Göttin Venus, mit der Apollonius ein paar Tausend Verse später eine Unterhaltung über genau diesen Moment der vermeintlichen Lüge führt (s. Kap. 5.1.1, 6.1.1), gibt er an: Do was ich mein aigen nicht (AvT, V. 12711).

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digen Qualität aller Haare implizit Bezug auf das Gelübde genommen. Apollonius taucht in dieser Formulierung nicht als Individuum auf, sondern wird als Teil eines Kollektivs, einer Gruppe, deren Mitgliedern dasselbe geschieht, erwähnt. Er ist wieder Teil der perfekt höfischen, fröhlichen Gemeinschaft. Dafür aber spielt die besondere Erscheinung Apollonius’ sehr wohl eine Rolle, als er sie später wiedererhält. Als Apollonius seine derzeitige Ehefrau Diomena mit einer anderen Frau hintergeht, schickt jene ihm einen Ring, der beim Ansetzen die durch den Jungbrunnen hervorgerufenen Veränderungen der Physis wieder rückgängig macht (vgl. AvT, V. 14353–14363; Kap. 4.1.2). Zunächst reagiert Apollonius ob seiner Alterung zornig (Das was im laid und zoren, AvT, V. 14364), dann jedoch wird sein zuvor goldgelb-gelockter, schöner Bart wieder schwarz und lang, woraufhin sich seine Einstellung ändert. Plötzlich äußert er sich positiv über die Rückverwandlung. Der falsche Schein, seine mit gauckel […] [g]uldein gemachet (AvT, V. 14374f.) verjüngte körperliche Gestalt, sei nun endlich berichtigt. Bevor er sich allgemein darüber auslässt, dass der verjüngte und vergoldete Körper ein falsches Abziehbild von ihm gewesen sei (vgl. AvT, V. 14378–14398), erwähnt er explizit den Bart, der noch genau derselbe sei, den er schon durch viele Kämpfe getragen habe (vgl. AvT, V. 14376f.). Nicht nur wird in dieser Aussage erneut auf die Zeitdimension verwiesen, die über den körperlichen Bestandteil des wachsenden, kontinuitätsstiftenden Barts bearbeitet wird; es ist die Veränderung des Barts, das wieder auftauchende Erinnerungszeichen, das seine Wahrnehmung der rückgängig gemachten Verjüngung verändert. Hier zeigt sich der Bart in seiner Funktion als Erinnerungszeichen und das Wachsenlassen als identitätsstiftende Maßnahme, indem mit dem Auftauchen des Barts das unverjüngte Selbst, das sich der Erinnerung an den Tod der Frau und den Verlust der Tochter verschrieben hatte, ebenso wieder eine – mit der Barttilgung zuvor verlorene – Stimme in Apollonius erhält bzw. als Stimme bis nach außen dringen kann.128 Dass hier die ,Erinnerung‘ der Figur direkt an das Vorhandensein des langen Barts geknüpft ist, erklärt auch, warum der Verlust dieses für Apollonius und demnach auch in der Erzählung keine Rolle gespielt hatte. Mit dem Verschwinden des Erinnerungszeichens  – interessanterweise am entlegensten Punkt, an den Apollonius auf seiner Reise

128 Auch für Schneider hat diese Szene eine elementare Bedeutung für die Interpretation der Körperarbeit als Erinnerungsarbeit. Als sein Bart wieder lang und grau wird, empfinde Apollonius das so, als habe er ein Zeichen seiner Identität zurückgewonnen (vgl. Schneider, Chiffren, S. 217). Vgl. zur Relevanz des Sinneswandels jedoch ohne Fokus auf den Bart bereits Achnitz, Babylon und Jerusalem, S. 331.

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gelangt129 – wird auch das, worauf es verweist, und sogar die Bedeutung des Körpermaterials als Erinnerungsträger gelöscht. Der Bartwuchs wird hier in seiner erinnerungsstiftenden Bedeutung besonders deutlich, indem die Problematik seiner Tilgung bereits im Moment der Verjüngung nicht mehr präsent ist130 – ein Effekt, der die RezipientInnen gleichermaßen betrifft, sodass für diese derselbe Prozess wie für die Figur hervorgerufen wird. In Folge der wiedergewonnenen Gelübde-Gestalt taucht der Bart in etwas höherer Frequenz auf, was sich darauf zurückführen lässt, dass nun Ereignisse und Figuren in den Blick rücken, die eng mit dem Bart und dem Gelübde verbunden sind. Als nächstes erwähnt ihn Ligurdis gegenüber Tarsia. Als die Amme der jungen Königstochter krank wird und im Sterben liegt, entschließt sie sich, dieser ihre Abkunft zu offenbaren (vgl. AvT, V.  15121–15140). Ihre Aussagen bestehen in der Eröffnung, dass ihr Vater Apollonius ein König ist (vgl. AvT, V.  15161), der Erwähnung eines ihr hinterlassenen Vermögens (vgl. AvT, V. 15175–15179) und der fast wörtlichen Wiedergabe des Gelübdes (vgl. AvT, V. 15180–15184). Neben Name, Status und Reichtum wird das Gelübde als viertes Charakteristikum genannt und weitergegeben. Das zeigt (erneut), dass der Bartwuchs als elementarer Bestandteil der Identität des Apollonius gelten muss. Narrativ eröffnet die Erwähnung die Möglichkeit einer späteren Identifikation des Vaters über das Gelübde bzw. ein optisches Erkennungszeichen, welche jedoch nicht eingelöst wird.131 In Verbindung mit Tarsia findet das Erinnerungszeichen noch drei weitere Male Verwendung. Je näher also die Figur rückt, die einerseits Ursprung, andererseits möglicher Endpunkt seiner Maßnahmen ist, desto stärker tritt das Zeichen

129 Dieser Zusammenhang scheint den bereits angeführten vergessensfördernden Einfluss des Rahmenwechsels auf die ,Erinnerung‘, den Jan Assmann annimmt (vgl. Anm. 5/109), zu bestätigen. 130 Das Vergessen betrifft aber hauptsächlich die Selbstwahrnehmung als Trauernder/Büßen‑ der mit untrennbarer Verbindung zu der Verstorbenen und dem Tod selbst sowie mit Verpflichtungen gegenüber seiner Tochter Tarsia. Denn Apollonius versäumt zwar, an der Spiegelsäule, an Lucina zu denken (s. Kap. 4.2.2), dies liegt dem Text zufolge aber eindeutig nicht daran, dass Lucina selbst vergessen ist, sondern gerade daran, dass das Bewusstsein um ihren Tod präsent ist (vgl. AvT, V. 12885–12887; s. zu der Passage Kap. 4.4.2). 131 Ligurdis gibt nur das Gelübde wieder, lässt jedoch die Auswirkungen und die sich daraus ergebende Möglichkeit, den Vater optisch zu identifizieren, unerwähnt. Auch ist die Erscheinung Apollonius’ später kein Indiz für Tarsia, dass es sich um ihren Vater handelt (vgl. AvT, V. 16416–16794). In der Szene ihres ersten Zusammentreffens und ihrer Unterhaltung haben Bart und das Haar in der Wahrnehmung der Figuren keine Relevanz (vgl. AvT, V. 16411–16820). Die Anagnorisis beruht auf dem gewalttätigen Übergriff Apollonius’, der Tarsia dazu bringt, unter Nennung ihrer Abstammung zu klagen. Sein Aussehen spielt für sie keinerlei Rolle.

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ins Bewusstsein des Textes und markiert die Kontinuität der Erinnerung sowie die spezifische Verbindung mit Tarsia. Zunächst wird der Bart und das lange Haupthaar erwähnt, als Apollonius die Nachricht bevorsteht, welche eine Loslösung von Trauer und Tod unmöglich erscheinen lässt. Apollonius ist gerade nach Tarsis gekommen und erkundigt sich nach seiner Tochter (vgl. AvT, V.  16006– 16042). Daraufhin wird beschrieben, in welcher Erscheinung er sich den Bewohnern Tarsis’ präsentiert: Das har er vor den augen swanck, Das was rauch und lanck, Und der part druckt er nider: Wann es was nie beschnitten sider Seyt er von dan fur, das ist war, Deß waren funffzehen jar. (AvT, V. 16043–16048)

In dem Moment, in dem Apollonius hofft, seine nun heiratsfähige Tochter wiederzufinden, werden Haar und der Bart in ihrer mittlerweile den Helden auch körperlich einschränkenden Länge erwähnt und mit dem bereits verstrichenen Zeitraum von fünfzehn Jahren verbunden. Das Haar rückt dadurch die gegenwärtigen Ereignisse mit den damaligen zusammen und veranschaulicht so die Fähigkeit, durch Körpermanipulation auf intrapersonaler Ebene Transmission wichtiger Inhalte zu realisieren. Apollonius’ Körper wird durch die Last, die er ständig mit sich trägt und die seinen Blick auf die Welt mittlerweile im wörtlichen Sinne prägt, unentwegt an die Katastrophe erinnert und an die Umsetzung der Verheiratung, die allein ihn wieder von diesem Zeichen und dessen Last befreien kann, gemahnt. Was es also bedeutet, dass Apollonius seine Tochter in Tarsis nicht wie erhofft finden wird – wie die Erzählinstanz noch einmal deutlich zu verstehen gibt132 – wird in der Erwähnung seiner wachsenden Haare besonders eindrücklich. Ähnlich ist die Darstellung seiner bärtigen und langhaarigen Erscheinung bei der Ankunft in Metalein. Auch hier wirkt seine Erscheinung als Last. Denn Apollonius hält nun die Begrüßung als Tyrer von rechter art (AvT, V. 166328) angesichts seiner Erscheinung133 für Spott (vgl. AvT, V. 16329–16337). In den Passagen wirkt der Bart erneut auch als Empathiegenerator. Kurz wird nochmals auf das angehäufte Material als kontinuitätsstiftendes, Zeiteinheiten veranschaulichendes Erinnerungszeichen in dem Rätselwettstreit

132 Dem Grund der Anreise (Tarsia zu finden) wird direkt hinterhergeschoben: Ich wane er ir nicht vinde (AvT, V. 16008). 133 Langk, rauch was im das har:/Es waren funfftzehen jar/Das es nie gekurtzed ward./Ungefuge was im sein part (AvT, V. 16337–16340).

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mit seiner Tochter verwiesen. Bevor Apollonius auf die richtige Antwort kommt, bei der es sich um ,das Jahr‘ handelt, wird erwähnt, wie er sich die Haare aus dem Gesicht streicht (vgl. AvT, V. 16561). Der von seinen Haaren, die über Jahre die Erinnerung überbrückt haben, geprägte Blick führt ihn – wie die Erzählweise nahelegt – zu der Antwort, lassen ihn an Zeiteinheiten und das Vergehen und Überdauern von Zeit denken. Ebenso kurz findet der Bart nach der Wiedervereinigung mit der Tochter in einer selbstreflexiven Figurenrede des Apollonius Erwähnung. Dabei wird deutlich, dass das Gelübde bzw. das darauf verweisende Zeichen sich um Verweisfunktionen anreichern lässt. Attaganoras hält sofort nach der Zusammenführung von Vater und Tochter bei Apollonius um die Hand Tarsias an (vgl. AvT, V.  16625–16640). Apollonius ist durchaus angetan, bittet Attaganoras jedoch, ein Jahr zu warten, Wann ich hab ver redet mich Das ich part noch har Abgeschnite untz an das jar Das ich sy ainem manne gebe, Ob ich mit freuden deß gelebe: Das gelube wirt nit zerbrochen, Ich enwerd ee gerochen An dem possen̅ pulian Der uns di schmachait hat getan.’ (AvT, V. 16848–16856)

Wird im ersten Teil des Zitats nicht ersichtlich, warum mit der Hochzeit ge­wartet werden soll (im Gegenteil, je früher die Hochzeit, desto eher auch die Befreiung von der Last des Barts), so zeigt sich am Ende, dass der Körper, den Apollonius mit seinem Gelübde gestaltet, symbolisch vor allem auf die Unvollständigkeit seiner Idealidentität verweist, welche mit der Verheiratung der Tochter ebenso wie mit der Bestrafung ihres Peinigers verbunden ist. Apollonius behauptet, das Gelübde erst rechtmäßig zu Ende führen zu können, wenn der Bordellbesitzer bestraft worden ist, gleichzeitig aber gibt er an, sein Gelübde sei an die Verheiratung der Tochter gebunden. Das bedeutet, vor einer Verheiratung der Tochter muss zunächst die schmachait (AvT, V.  16856), die zur Zeit des Gelübdes noch nicht mitgedachte Ehranfechtung gegenüber Apollonius und Tarsia (uns, AvT, V. 16856) aus dem Weg geräumt werden. Diese Ungerechtigkeit wird qua des Ausspruches nun gleichermaßen mit dem Bart visualisiert. Das Memorialzeichen kann also neue kommunikative Verweisfunktionen auf- und übernehmen. Diese treten nicht an die Stelle der Memorialfunktion, sondern erweitern die Wirkmacht des Zeichens. Schließlich wird wiederholt auf Bart und Haar verwiesen, als die gesamte Familie zusammengeführt und das Erinnerungszeichen endgültig und recht-

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mäßig getilgt wird. Die Erwähnung des Barts kurz vor der Anagnorisis dient zur Begründung, warum Lucina Apollonius gerade zunächst nicht erkennt (s.  o.); direkt nach der gegenseitigen Offenbarung der Identität beschreibt die Erzähl­ instanz die stürmischen Liebkosungen, die die beiden angesichts ihrer Wiedervereinigung austauschen und flicht in die Darstellung auch den Bart ein: Als Lucina ihren Mann an sich drückt, verfliegt ihre Trauer (vgl. AvT, V. 17285f.) und [s]i kuste in gutlich an sein munt/Durch den part wol tausent stunt (AvT, V. 17287f.). In der körperlichen Annäherung durchdringt ihre Präsenz die ,Ver­gangenheitsschicht‘, die Apollonius seit ihrer Trennung umfängt, die er an und mit sich hat (ver-) wachsen lassen. Der Moment der Barttilgung wird dann als Ablösung der Trauer durch allgemeine Freude gekennzeichnet, indem der Bart­abnahme die Feststellung [s]i waren allesampt fro (AvT, V. 17311) direkt vorausgeschickt wird. Sich den Bart zu scheren sei in dieser allgemeinen Freude das aller erst (AvT, V.  17313), was Apollonius erledige. Der Bart war mit Trauer und Klage verknüpft und hat nun eine leere und angesichts der Hochstimmung auch unpassend Referenz und kann daher entfernt werden. In seiner Gelübde-Erscheinung hatte er der bereits zitierten Aussage, er was er ain so schoner man (AvT, V. 17315) zufolge in den Augen der Erzählinstanz seinem Heldenstatus wie auch seinem adeligen Status als König und Herrscher nicht entsprochen. Mit der Bartabnahme einher geht damit die Synchronisierung von Name, Rang und äußerlicher Erscheinung, die seine Identität wieder innerhalb der Gesellschaft verortet. Er ist wieder dort angekommen, wo er vor dem Verlust von Ehefrau und Tochter war bzw. wo er ohne ihren Verlust jetzt wäre. Die Zwischenzeit, die Zeit der Trauer, scheint keine Rolle mehr zu spielen. Wichtig ist, dass fortgesetzt wird, was zuvor begonnen und durch die Trennung von Frau und Kind unterbrochen und gefährdet wurde. In diesem Sinne ist auch die Eliminierung der Erinnerungszeichen der logische Schritt. Eine Kontinuität zum Verlust von Frau und Tochter muss nun nicht mehr gestiftet werden. Nun gewährt eher die schöne, makellose Erscheinung eine Kontinuität zur Person vor der den vorgesehenen Verlauf unterbrechenden Katastrophe. Die dazwischen liegenden fünfzehn Jahre werden damit nicht ausgelöscht, sie sind jedoch nicht elementarer Bestandteil der Identität des jetzigen Apollonius, sondern sind mit dem geschorenen Bart ganz im Sinne des Chronotopos von biografischer Zeit und Abenteuerzeit (s. Kap. 2.2, Anm. 2/86) abgelegt. In der detaillierten Betrachtung von Apollonius’ Vorgehen ist anschaulich geworden, dass das Handeln der Figur nicht ausschließlich der Expression von Trauer dient, sondern auch erinnerungs- und identitätsstiftende Funktion hat, bzw. dass die kommunikative Wirkung im Dienst der Transmissionsfunktion steht. Der Körper wird mit seinem natürlichen Wachstum eingesetzt, um Kontinuität zwischen der Gegenwart und dem mehrere Jahre zurückliegenden Ereignis, das

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Apollonius’ Identität als Trauernder bestimmt, herzustellen. Die Technik, mit der das Ereignis präsent gehalten wird, ist dabei äußert aussagekräftig im Hinblick auf die im Text entwickelte Vorstellung von Erinnerung und Identität. Apollonius schlägt sich keine Wunde, deren Narbe auf den körperlichen Schmerz verweist und an die emotionale Verwundung erinnert. Er trägt auch nichts auf seinen Körper auf oder schreibt etwas in ihn hinein. Vielmehr nutzt er die Funktionsweise des Körpers, um ein Erinnerungszeichen zu setzen. Körperliche Kontinuität in der Form eines nicht unterbundenen Wachstums und einer Anhäufung von totem, damit direkt auf das auslösende Moment verweisenden Material, soll eine emotionale, kognitive und identitätsstiftende Kontinuität ge­währen. Daher ist auch weniger von Körpermanipulation, als vielmehr von einer Funktionalisierung der Körperfunktionen für die Transmission eines als elementar für das eigene Selbst empfundenen Ereignisses zu sprechen. Durch diesen Blick auf das Vorgehen des Apollonius’ wird sichtbar, wie stark das Selbstverständnis durch bestimmte Ereignisse geprägt und verändert werden kann und wie sehr das Bedürfnis besteht, die jeweils aktuelle Version des Selbst konstant zu erhalten. Der eigene Körper kann in seiner bewussten Formung und durch sein kommunikatives Wirken im sozialen Raum ein Zugang zu den Er­eignissen und der daraus erwachsenen Identität sein, eine mediale Form darstellen, die über lange Zeiträume hinweg die Konstanz wichtiger Eckpfeiler der Identität garantiert. Wie nötig eine solche Manifestation ist, veranschaulicht der Text nicht nur dadurch, dass er die Figur beim Verlust des Zeichens vergessen lässt, sondern auch in der parallelen Nutzung des Barts als Textelement auf Erzählebene. Auch dort vermag er die Katastrophe der Hauptfigur ins Gedächtnis zu rufen, das immer wieder in den Hintergrund geratene Ereignis präsent zu machen und als Empathiegenerator zu nutzen. In diesem Vorgehen offenbart sich die Konstruktion von wiedererkennbaren Symbolen als Erzähl-Prinzip, dessen Potenzial – wollte man den Passagen auch eine poetologische Dimen­sion unterstellen – im Laufe der Erzählung nachvollziehbar entfaltet wird. Sprachlich lassen sich komplexe Zusammenhänge bündeln und an ein narratives Element heften, sodass mithilfe dieses Elements im Laufe des Erzählens immer wieder eine Vielzahl an Informationen wieder aufgerufen und durch die Setzung in andere Kontexte auch angereichert werden kann.

5.2.2 Narratives Gedächtnis und klingendes Gedenken Die Zeichen, die Apollonius mit seinem Körper produziert (s. Kap. 5.1.2), können auch von anderen Menschen wahrgenommen werden, sind in ihrer spezifischen Verweisfunktion auf einen zentralen biographischen Moment jedoch vornehmlich für den Protagonisten relevant. Daher müssen sie ihn selbst nicht überdau-

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ern. Andere Figuren möchten Informationen über den eigenen Tod hinaus und auch gegen alle Wahrscheinlichkeit des Gelingens weitergeben, zielen mit ihren Äußerungen aber nicht auf besonders dauerhafte oder überindividuelle Übermittlung (s.  Anm.  5/34). Ist die Angelegenheit von größerem öffentlichen Interesse als die Nachricht Ligurdis’ für Tarsia und ist die Lage weniger aussichtslos als für den Herrn aus Ejulat, so lassen sich Vorkehrungen treffen, die ein längeres Überdauern wahrscheinlich machen bzw. die zur Etablierung eines kollek­tiven Gedächtnisinhaltes führen. Als eine Vorkehrung ließe sich die Anweisung zur wiederholten Weitergabe oder aber die Ausstattung des Sachverhalts mit einer gut memorierbaren und die Weitergabe stützenden Form verstehen. Die Inhalte lösen sich in der Weitergabe vom einzelnen Körper, sie sind aber insofern ,körpergebunden‘ formatiert, als ein menschlicher Sprechapparat notwendig ist, um sie (wieder) hervorzubringen und weiterzugeben. Die medialen Strategien, die dabei zum Einsatz kommen, sind auf Körper als Produktionsstätte angewiesen. Der Reinfried von Braunschweig und der Apollonius von Tyrland stellen Erzählungen, Rätsel und Lieder als Sprach­ einheiten mit einem solchen Transmissionspotenzial vor. Die unterschiedlichen Ausprägungen thematisieren die spezifischen Vor- und Nachteile einer körpergebundenen Transmission sowie die möglichen Inhalte von Übermittlungsmechanismen, die ohne Ersatzkörper auskommen und stattdessen in der wiederholten Reproduktion überdauern. Ob die sprachlichen Einheiten im Bemühen um Transmission angelegt werden, wird nicht in allen Fällen deutlich. Der Reinfried deutet in einer Textpassage kurz an, dass die in einer bestimmten Form gestalteten Gehalte in rein mündlicher Formatierung eine lange Zeit im Bewusstsein einer Kultur existieren können. Auf dem Magnetberg lesen Reinfried und der Perser unter anderem von Vergil (vgl. RvB, V. 21568–21699; s. Kap. 5.3.1), dessen Person mit den Geschehnissen auf dem Magnetberg und der Heilsgeschichte eng verknüpft ist.134 Diese Verbindung beruht darauf, dass er […] hôrt […] sagen von der hôhen künste die mit rîcher vernünste Savilôn hât funden,

134 Zur Tradition dieses Motivs s.  Anm.  4/131; zum weiteren Verlauf dieser Episode s. die Kap. 5.3.1, 6.3.3. Hier sei erwähnt, dass die Aufladung des für außergewöhnliche Gefahren bekannten Ortes zu einem „Schauplatz widergöttlicher, providenzgefährdender Hybris“ (Herweg, Glücksspiel, S. 62) nur beim Reinfried von Braunschweig zu beobachten ist und daher dem Dichter des Textes zugeschrieben wird (vgl. hier S. 62).

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und wie vor mangen stunden er verloren wære. er hôrt ouch sagen mære daz der meister læge und hôher künste pflæge dort ûf dem magnêten, durch daz er der planêten spêren möhte gar dursehen und ir loufes ende spehen. (RvB, V. 21582–21594)

Vergil also erfährt über Hörensagen sowohl von der Expertise als auch vom Verschwinden und dem möglichen Verbleib des Schwarzmagiers, obwohl dieser gerade darauf bedacht war, dass niemand seinen Aufenthaltsort erfährt (vgl. RvB, V. 21414–21439). Ganz genau weiß auch niemand, wo der Mann sich aufhält (nie kein mensche moht für wâr/sprechen war er wære komen, RvB, V.  21544f.), dennoch erfährt Vergil über die mündliche Weitergabe – so wird in der zweimaligen Formulierung er hôrt […] sagen (RvB, V. 21582, 21588) und der sich anschließenden Bekräftigung [d]iz wart im sicherlîch geseit (RvB, V. 21595) deutlich – die (überraschenderweise) vollkommen richtige Vermutung und kann schließlich den Magier auf dem Magnetberg finden (vgl. RvB, V. 21617–21659). Der Schwarzmagier hat Spuren im kollektiven Gedächtnis hinterlassen, die Vergil zunächst motivieren, ihn zu suchen, und dann beim Verfolgen seines Vorhabens dienlich sind. Die Sterne, die Savilôn bei seinen Vorhaben unterstützt hatten (s. Kap. 6.3.3) oder (anderweitige) göttliche Inspiration kommen in Bezug auf Vergil nicht zur Sprache; allein die Erzählung über das Verschwinden des Zauberkünstlers regt Vergils Suche an, indem sie der Paraphrase des Erzählers zufolge von seiner Meisterschaft berichtet.135 In den paar Zeilen zur Motivation der Reise Vergils scheint der kreative Prozess der Erinnerungsbildung um eine mysteriöse Figur herum auf. Denn obwohl von im niemen hât vernomen/diz noch daz noch sus noch sô (RvB, V. 21546f.), enthalten die Erzählungen einen Grund für sein Verschwinden und eine Vermutung über seinen Verbleib. Da die Vermutung dem wahren Vorhaben nicht entspricht, ist anzunehmen, dass es sich sowohl bei der Angabe, er halte sich auf dem Magnetberg auf, als auch bei der Unterstellung, er forsche weiter an

135 So hält auch Meyer fest: „nur, weil er [Savilôn] Spuren hinterlässt, weil er ein erfolgreicher Wissenschaftler und Magier ist, kann im entscheidenden Moment ein anderer diese Spuren wieder lesen, kann sich das bisherige Wissen Savilons aneignen (und überbieten) und so, unwissentlich und unwillentlich, die Heilsgeschichte ermöglichen“ (Meyer, Briefe, S. 30f.). Meyer nimmt dabei ob der Prominenz von Schrift in diesen Vorgängen (s.  dazu die Kap.  5.3.1, 6.3.3) diesen Prozess als schriftgestützt wahr, womit er hauptsächlich meint, dass göttliche Inspiration eine nachrangige Rolle spielt (vgl. ebd.).

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der Bedeutung von Sternen- und Planetenkonstellationen, um narrative Ergänzungen der Leerstellen im ,Wissen‘ über Savilôn handeln soll. Das unerklärliche Verschwinden des für seine Abstammung, seine Schönheit, vor allem aber seine schwarzmagischen Fähigkeiten überaus bekannten Jünglings136 stellt ein Mysterium, eine Angelegenheit ohne Abschluss dar, das Interesse weckt und – so ließe sich interpretieren – dazu führt, dass die Geschichte des Verschwindens mündlich weitergetragen wird. Besonderes Interesse des jungen Vergils evoziert die Anreicherung der bekannten Informationen mit Mutmaßungen, die zu den mysteriösen Umständen seines Verschwindens passen. Die Sternenschau wird als Motiv, ein sagenumwobener Ort als möglicher Aufenthaltsort ergänzt. Auch wenn hier nicht systematisch versucht wird, eine kollektive Erinnerung weiterzutragen und daher nicht von Transmission im engeren Sinne zu sprechen ist, zeigt diese kurze Szene doch, wie dauerhaft auch mündlich formatierte Inhalte – hier nicht in sprachlich festgefügter Form, sondern über die Verfestigung narrativer Verknüpfung – sein können. Im geschilderten Falle kann die Erzählung die Erinnerung an das Verschwinden Savilôns immerhin ûf zwelf hundert jâr (RvB, V. 21543) überbrücken. Unterschlagen werden soll jedoch nicht, dass weitere 1200 Jahre später diese Erinnerung an Savilôn offenbar nicht mehr präsent ist, denn Reinfried und sein Gefährte wissen vor ihrem Besuch nichts von jenen Geschehnissen.137 Gleichzeitig veranschaulicht die kurze Textpassage eindrücklich den Zusammenhang von Erinnerungsprozessen und narrativen Verknüpfungs- und Motivationsstrukturen. Erinnerungen scheinen sich parallel zu narrativen Mustern zu entwickeln, Leerstellen werden kreativ ergänzt.138 Eine ähnliche Anreicherung im Prozess der narrativen Wissensweitergabe fällt im Abgleich des paraphrasierten Berichts Reinfrieds nach seiner Rückkehr vom Magnetberg in die Zivilisation mit dem zuvor wiedergegebenen Buchinhalt

136 Die Erzählung im Grabbuch (s.  Kap.  5.3.2) berichtet, er sei ein fürste edel ûz erkorm./rîch geltes unde guotes,/frî lîbes unde muotes/für alle die dâ lebten gewesen (RvB, V.  21316–21319). Zudem habe er über außergewöhnliche Schönheit verfügt (vgl. RvB, V. 21324f.). Er sei der erste Mensch gewesen, der sich mit Astronomie beschäftigt habe (vgl. RvB, V. 21328f.) und sei ob dieses Interesses im positiven Sinne berühmt geworden, denn swie daz diu kunsît nu sîe/verboten, iedô was sî wert (RvB, V. 21332f.). 137 Das ist besonders im Vergleich zu den Büchern, die die Informationen problemlos auch diese 1200 Jahre überdauern lassen und von der potenziellen Beständigkeit von Schrift zeugen (vgl. Kap. 5.3.1 sowie Martschini, Schriftlichkeit, S. 365), erwähnenswert. 138 Schon Schmidt formuliert in seiner Erinnerungstheorie diesen Zusammenhang. Da er „das Gedächtnis nicht mehr als Aufbewahrungsinstrument, sondern ,als Konstruktionsarbeit‘ auf[fasst], […] liegt es nahe, einen grundlegenden Zusammenhang zwischen Erinnern und Erzählen anzunehmen, dergestalt, daß die Organisation des Erlebens, die Koordination von Wahrnehmungen durch handlungsschematische Strukturen und die Organisationsmuster des Erin-

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auf dem Magnetberg auf. Während jenes Buch, dessen Inhalt Reinfried und der Perser am Hofe nacherzählen, keine Auskunft darüber gibt, wie Vergil den Geist, dessen Hilfe er sich bedient (s. Kap. 5.3.1, 5.3.2), wieder zu zähmen vermag (vgl. RvB, V. 21708–21713), erzählen Reinfried und der Perser gerade wie er in lie und ûf der trift in balde kündeclîch betruoc, daz der ungefüege bouc sich wider in daz kleine glas. (RvB, V. 24266–24269)

Man mag es als erzählerische Ungenauigkeit auslegen, dass der Wissensstand der Erzählinstanz auf die Hauptfiguren übertragen wird, man kann die – zugegebenermaßen nur bei genauer Lektüre auffallende – Diskrepanz aber auch als Hinweis auf die narrative Anreicherung in der mündlichen Weitergabe von In­formationen lesen. Wird in den soeben besprochenen Passagen aus dem Reinfried der Überlieferungsweg nur angedeutet und die konkrete Materialisierung, in der die Informationen über die Generationen weitergetragen werden, ausgespart, so zeigt der Apollonius sowohl das Ergebnis als auch potenzielle Verfahren solcher Transformationen von Ereignissen und Erfahrungen in kompakte und daher in einer gewissen Festigkeit memorier- und mündlich transferierbare Einheiten. Es sei [d]er haiden gewonhait, so wird erklärt, […] das sie alle ir weißhait Legten an die ratt liett. Wer sie der gantzlich peschied, Der word gehaissen weyse, Und lobten in mit preyse. (AvT, V. 398–402)

Die Erzählinstanz betont am Anfang des Romans die gesellschaftliche Relevanz, die dem Entschlüsseln von Rätselfragen beigemessen wird,139 und deutet

nerns mit den Schemata kohärenter Erzählungen (Geschichten) strukturell vergleichbar sind‘“ (Ernst/Ridder, Einleitung, S. X mit Zitat aus Schmidt, Gedächtnis, S. 378). 139 Bockhoff/Singer sehen in dieser Erklärung ein Bemühen um Aktualisierung und Plau­ sibilisierung. So stelle sie das Rätsellösen, welches durch kulturelle Veränderungen nicht mehr ohne weiteres verständlich sei, als Gewohnheit der ,Heiden‘ dar und mache die im Text präsente Praxis des Rätselratens als besondere Auszeichnung des Protagonisten verständlich (vgl. Bockhoff/Singer, Quellen, S.  15). Der Zusammenhang von Rätseln mit Wissen bzw. Nicht-Wissen spielt im Apollonius-Stoff eine entscheidende Rolle: Antiochius setzt gleich zu Beginn der Hand-

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an, dass Rätsel im Rahmen der erzählten Gesellschaft entweder eine kognitive Übung, oder selbst sprachlich kompakte Informationsträger sind.140 Der ersten Übersetzungsmöglichkeit des ersten Zitatteils zufolge verwenden die ,Heiden‘ all ihr Können darauf, Rätsel zu entschlüsseln.141 Die Übersetzungsalternative deutet das an (AvT, V.  399) als ,in‘142 und interpretiert diese Bemerkung als Hinweis, dass die ,Heiden‘ all ihr ,Wissen‘ in Rätsel transformieren, feste Sprachformationen also als beständige und nur unter bestimmten Voraussetzungen zugängliche Transmissionsform nutzen. Denn das den Rätseln eigene Verhältnis des Enthüllens und Verbergens143 verlangt für die Aufnahme des vermittelten Inhalts

lung ein Rätsel ein, um seine inzestuöse Beziehung zu seiner Tochter aufrecht zu erhalten und gleichzeitig zu verschleiern. Er allerdings entlohnt falsche wie richtige Lösungen mit dem Tod (vgl. AvT, V. 351–706). Zuvor nutzt – ebenso offenbarend wie verschleiernd – die namenlos bleibende Tochter eine rätselartige Formulierung, um ihrer Amme mitzuteilen, welches Missbrauchs sie Opfer geworden ist, ohne direkt ihren Vater zu beschuldigen (vgl. AvT, V. 285–289). Die späteren Rätsel der Tarsia hingegen verhindern inzestuöse Handlungen. Tarsia soll ihr Gegenüber, bei dem es sich um ihren Vater handelt, mit ihren Reizen aufmuntern, kann aber durch ihren Intellekt ein harmloses Rätselraten initiieren (vgl. AvT, V. 16529–16732). 140 Dass Rätsel sprachlich kompakte, kommunikative Konfigurationen darstellen, ist auch in Anerkennung der Definitionsschwierigkeiten wohl kaum in Abrede zu stellen. Umfassende Begriffsbestimmungen bzw. Reflexionen der Bestimmungsversuche gibt es mit unterschiedlichem Fokus. S. für eine literaturwissenschaftliche Ausrichtung Tomasek, Rätsel, S. 7f.; mit Blick auf antike sowie moderne wissenstheoretische aber auch linguistische Forschung Schittek, Claudia: Die Sprach- und Erkenntnisformen der Rätsel, Stuttgart 1991, S. 32–65, s. S. 65–69 zur neueren Forschung. Als Grundlage einer Auseinandersetzung kann auch noch immer Jolles’ „Einfache Formen“, unter die er auch das Rätsel zählt, dienen (vgl. Jolles, André: Einfache Formen. Legende, Sage, Mythe, Rätsel, Spruch, Kasus, Memorabile, Märchen, Witz, Studienausg, Tübingen 5 1974 [Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft 15], S. 126–149.; in Auseinandersetzung damit Tomasek, Rätsel, S. 11–13) Tomasek schlägt eine offen gehaltene Verortung zwischen den Polen ,Spiel‘-,Ernst‘, ,Verfügbarkeit‘-,Gebundenheit‘ und ,Ratbarkeit‘-,Unratbarkeit‘ vor (vgl. Tomasek, Rätsel, S. 24). Schittek definiert das Rätsel über eine Spannung zwischen Verbergen und Enthüllen und begründet damit die Universalität dieser Kulturtechnik (vgl. Schittek, Rätsel, S. 3f.). 141 Tarsias Kommentar zu Apollonius’ beeindruckender Rätselkompetenz – er zeige sich so bewandert, dass sie glaube, sie habe einen König vor sich (vgl. AvT, V. 16634–16638) – spricht für die erste Interpretation. 142 Auf Grundlage des Wörterbuchs scheint beides legitim, kann legen in Verbindung mit an doch sowohl ,verwenden auf‘ als auch ,legen in‘ oder ,anhäufen‘ heißen (vgl. Hennig, Wörterbuch, S. 200). 143 Einen Einblick in diese Kunst lässt sich über die Betrachtung der jeweiligen Rätsel gewinnen. Rätselstrukturen im Allgemeinen und die Rätsel des Texts sind hinsichtlich ihres Funktionierens bereits gut aufgearbeitet. Tomasek und Schneider gehen die einzelnen Rätsel Tarsias durch und erläutern ihren Ursprung sowie ihren sinn- und kohärenzstiftenden Bezug zum vorher Erzählten (vgl. Tomasek, Rätsel; Schneider, Chiffren). Besonders gut zu beobachten ist das

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ent­ weder komplexes Denken auf Grundlage bestimmter ,Wissens‘-Bestände oder aber die Kenntnis der zugehörigen Antwort. Die teilweise aus dem antiken Stoff übernommenen Rätsel, mit denen die Figuren der Erzählung konfrontiert sind,144 sind dann nicht nur selbst Gegenstand schriftgestützter Transmission (s.  Kap.  5.3.1), sondern erscheinen auch als Ergebnis einer Transformation von Informationen in eine memorierbare und mündlich überlieferbare Form. Bei der Lektüre des Apollonius von Tyrland stechen mit einem auf mediale Formen konzentrierten Blick aber stärker als die Rätsel fünf kurze intradiegetische Dichtungen ins Auge, die die Bemühung um Bewahrung und den Beginn von

Verhältnis von Verbergen und Enthüllen an Antiochius’ Rätsel, das den Inzest, der durch die Rätselpraxis verborgen werden soll, in chiffrierter Form enthüllt (vgl. Egidi, Inzest, S.  283, Schneider, Chiffren, S. 202). Es handelt sich um ein vermeintliches Brautwerbungs-, eigentlich jedoch um ein Sphinxrätsel (für Apollonius) und Halslöserätsel (für Antiochius) (zur Beschreibung dieser Typen s. Jolles, Formen, S. 132f.). Mit der Einladung, das Rätsel um die Hand seiner Tochter willen zu lösen, suggeriert er den Wunsch, sie zu verheiraten, durch die Tötung all jener, die das Rätsel nicht lösen können, werden potenzielle Heiratskandidaten und eventuelle Mitwisser eliminiert; gleichzeitig setzt Antiochius sein Geheimnis der Gefahr aus, aufgedeckt zu werden. 144 Die frühe Forschung beschäftigte sich hinsichtlich der Frage nach Herkunft und Überlieferung mit den Rätseln der Historia und des Apollonius von Tyrland. Klebs stellt im Bemühen um eine Datierung der lateinischen Übertragung des vermuteten griechischen Ursprungstexts fest, dass die Rätsel der lateinischen Historia aus der zeitgenössischen Rätselsammlung des Symphosius (Aenigmata) stammen (vgl. Klebs, Apollonius, S.  178–185; mit Fokus auf den lateinischen Text Müller, Carl Werner: Der Romanheld als Rätsellöser in der Historia Apolloni Regis Tyri. In: Würzburger Jahrbücher für die Altertumswissenschaft 17 [1991], S. 267–279, hier S. 273; ebenso später in einer detaillierteren Analyse der Rätsel der Apolloniustradition Tomasek, Rätsel, S. 175–206; Schneider, Chiffren, S. 223). Bei der hundert Rätsel umfassenden Sammlung aus dem fünften nachchristlichen Jahrhundert ist – so Schittek – „[f]ür die lateinische Überlieferung und damit für diejenige, die die europäische Kultur am direktesten geprägt hat, […] ein Anfang zu setzen“ (Schittek, Rätsel, S. 12). Obwohl Rätsel bereits in der Historia eine prominente Rolle spielen – Müller spricht aufgrund der Rätsel und der Reden in Rätselform sogar von einem „Markenzeichen des Autors“ der lateinischen Historia (Müller, Rätsellöser, S.  273)  –, überträgt Heinrich nicht ausschließlich, sondern komponiert auch selbst. Das Rätsel des Antiochius ist quasi wörtlich übertragen, alle zehn Tarsia-Rätsel wurden aus dem lateinischen Text getilgt und durch sechs deutsche Rätsel gleichartiger Form ersetzt (vgl. Historia, S. 92–103; AvT, V. 16551–16727). Die Rätsel der Tarsia sind selbständig und von ihrer Vorlage losgelöst, es herrscht allerdings keine Klarheit darüber, „wie die lateinische Vorlage Heinrichs im Bereich der Tharsia-Rätsel genau ausgesehen hat“ (Tomasek, Rätsel, S. 185f.). Weitere Forschungsschwerpunkte waren die auf Ebene der Rezeption wirksam werdenden Querverweise zwischen Erzählungsverlauf und Tarsia-Rätseln (vgl. Tomasek, Rätsel; Schneider, Chiffren) und die Charakterisierung des Protagonisten als Rätsellöser (vgl. für die Historia Müller, Rätsellöser, S. 277; für Heinrichs Text vgl. Tomasek, Rätsel, S. 177; Wachinger, Heinrich von Neustadt, S. 100; Schneider, Chiffren, S. 234).

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Heldenmythen (wie der um Savilôn, s. o.) darstellen. Es handelt sich bei diesen kurzen poetischen Erzeugnissen, welche im Binnenteil der Erzählung liegen und daher nicht auf Vorbilder in der lateinischen Historia zurückgehen, um Lieder, die Figuren zu bestimmten Gelegenheiten für den Protagonisten erdichten und singen. Die Szenen, in denen von Lieddichtungen erzählt wird, verlaufen jeweils ähnlich: Am Anfang steht die Schilderung einer Situation, in der ein Lied gesungen wird, auf diese Ankündigung hin folgt dann die Wiedergabe des Liedtextes. Veranschaulicht sei das hier am kürzesten Beispiel. Infolge einer Heldentat des Protagonisten heißt es: Da ward im an lobe lied Frolich gesungen Von alten und von jungen. Sy sprachen all gemaine ’Appolonius der raine Ist der aller teurist man Den frauwen leib ye gewann.’ (AvT, V. 3109–3115)

Die Behandlung dieser Lieder, die bislang noch kein Forschungsinteresse wecken konnten,145 als potenzielle Transmissionsmedien bedarf angesichts ihrer Materialität einer Begründung. Dass Lieder im Allgemeinen etwas in ihrer spezifischen Materialität verarbeiten und vermitteln, scheint kaum strittig. Die Formatierungstechniken erschweren jedoch die Bestimmung ihrer primären medialen Funktion. Lieder setzen ihre Inhalte in einer flüchtigen performativen Situation um. Ihre Formatierung ist nur punktuell präsent, selbst ereignishaft, sodass sie sich prinzipiell nicht dafür zu eignen scheint, flüchtigen Inhalten Dauerhaftigkeit zu verleihen.146 Angesichts der zeitgebundenen, punktuellen Existenzform von Liedern in einem Liedvortrag wären sie im Moment der Aufführung mediale Formen mit

145 Kerstin Bartels, die sich in ihrer Dissertation den Musikdarstellungen in der mittelalterlichen Literatur widmet (s. Bartels, Kerstin: Musik in deutschen Texten des Mittelalters, Frankfurt a.  M. 1997 [Europäische Hochschulschriften Deutsche Sprache und Literatur 1601]) führt zwar Heinrichs Apollonius von Tyrland häufig an (besonders hervorgehoben auf den Seiten 57–60 und 239–243) und stellt sowohl für diesen Text als auch für dessen Autor ein besonderes Interesse an Musikalität fest (vgl. hier S. 57, 243), kommt aber nicht auf die Lieder zu sprechen, da die musikalische bzw. instrumentale Komponente, auf die sie ihren Fokus legt (vgl. zum Ein- und Ausschluss bestimmter Textphänomene hier S. 14–16), in den hier thematisierten Passagen keine Rolle spielt. 146 Auch die – nicht unumstrittenen – Definitionen von ,Lied‘ (s. die folgende Anm. 5/147, sowie 5/150; 5/152) erwähnen die Funktion der Übermittlung nicht (s. u.).

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kommunikativer Wirkung, besäßen allerdings kaum die Fähigkeit, Inhalte über längere Zeit (oder besonders großen Raum) zu transportieren. Die Definitionen von ,Lied‘147 beinhalten nicht explizit die Funktion der Übermittlung, sondern beruhen vor allem auf der tatsächlichen oder idealtypischen Singbarkeit.148 Dennoch birgt die von Reim und Melodie getragene einfache Memorierbarkeit einer bestimmten Wortfolge unbestreitbar das Potenzial, bestimmte Zusammenhänge zumindest innerhalb des kommunikativen Gedächtnisses einer Gesellschaft (s. Kap. 5.1.1; Anm. 5/83) länger präsent zu halten. Alle Arten metrischer und rhythmischer Gestaltung von aufs Hören oder Sprechen ausgerichteten Strukturen stellen „mnemotic devices“149 dar, indem sie die Merkbarkeit und damit Wiederholbarkeit einer spezifischen sprachlichen Formation erhöhen – und das im Vergleich zu Schrift recht voraussetzungslos. Im literaturwissenschaftlichen Forschungsdiskurs wird dieses Potenzial anhand der Begriffe des ,Volkslieds‘ und des ,historischen Ereignislieds‘ betont. Die Definitionen beziehen sich auf ähnliche, jeweils nicht ohne Weiteres auf die erzählten Lieder des Apollonius übertragbare Phänomene. Sie bezeichnen Texte, die hauptsächlich seit dem vierzehnten Jahrhundert überliefert sind,150 wobei der seit dem

147 Diese fallen selbstverständlich unterschiedlich aus. Der Begriff ,Lied‘, dessen germanische Vorläufer im Gotischen Angelsächsischen und Altnordischen in ähnlicher Form auftauchen (gotisch liuƥon – ,lobsingen‘, angelsächsisch leóđ, altnordisch líóđ, ahd. liod), wird offenbar seit 1500 inner- und außerwissenschaftlich häufig verwendet, weist dabei allerdings eine Hetero­ genität und Unschärfe auf (vgl. Brunner, Horst: ,Lied‘. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte Bd. II H–O, 3. neubearb. Aufl., Berlin, New York 2000, S. 420–423, hier S. 421). Versuche zur Klärung wurden sowohl von musik- wie von literaturwissenschaftlicher Seite unternommen, ohne dabei zu einer einheitlichen oder die jeweiligen Ansätze vereinenden Position zu kommen (vgl. hier S. 421). 148 Vgl. hier S. 421. 149 Vgl. Carey, Communication, S.  22. Das gilt für sie für geformte Sprache in Lyrik oder in Liedform. Sie hälfen dabei, Dinge besser im Gedächtnis zu halten. Bei Wandhoff heißt es bei über geformte Sprache: „Formeln, Reime und Metrik erleichtern in der akustischen Performanz weiterhin den Zugang zu den Informationen und erhöhe überdies ihre Merkbarkeit für bloße Zuhörer, die keine Gelegenheit haben, das Gehörte noch einmal nachzuschlagen“ (Wandhoff, Der epische Blick, S. 309). 150 Brednich gibt zu verstehen: „Manche Forscher stellen an den Beginn der hist[orischen] Lieddichtung das Ludwigslied von 881/882. Aber erst mit dem vierzehnten Jahrhundert setzt eine dichtere schriftl[iche] Überlieferung h[istorischer] L[ied]er ein“ (Brednich, R.W.: ,Historisches Lied‘. In: Lexikon des Mittelalters Bd. 5 Hiera–Mittel-Lukanien, München, Zürich 1991, Sp. 54–56, hier Sp. 55). Dass das sechzehnte Jahrhundert als Blütezeit des historischen Liedes gelte, führt er daher auch auf die bessere Überlieferungslage nach 1500 zurück (vgl. hier Sp. 55). Eine umfassende Gesamtgeschichte des deutschen Liedes aus literaturwissenschaftlicher und/ oder musikwissenschaftlicher Perspektive wurde bisher offenbar nicht verfasst (vgl. Brunner,

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ausgehenden achtzehnten Jahrhundert gebräuchliche Terminus ,Volkslied‘151 und der um ihn geführte, höchst problematische152 Forschungsdiskurs sich vor allem mit der sozialen und gemeinschaftlichen Relevanz der unter dem Label subsumierten Phänomene beschäftigt, während für die Forschung zum ,historischen Ereignislied‘ der Textinhalt zentral ist.153 In der Zusammenschau bieten die Begriffe sich an, um mit den für jene Textgruppen in Anschlag gebrachten Merkmalen eine Interpretation der Lieder im Apollonius als Transmissionsmedien zu stützen.154 ,Volkslieder‘ zeichnen sich bspw. dadurch aus, dass sie sich einer

Lied, S. 422). Laut Brunner sind deutschsprachige Lieder zuerst im Prozessionskontext überliefert: Das althochdeutsche Petruslied stelle den Anfang der überlieferten volkssprachigen Lied­dichtung dar. Zwischen dem zwölften und vierzehnten Jahrhundert seien Lieder nur im Rahmen höfischer Literatur überliefert. Seit dem vierzehnten Jahrhundert seien auch Liedtypen nachzuweisen, die sich unter den im achtzehnten/neunzehnten Jahrhundert geprägten Begriff ,Volkslied‘ ordnen ließen. Im Lauf des fünfzehnten Jahrhunderts dringe das Lied in den stadtbürgerlichen Kontext ein (vgl. hier S. 422). 151 Der Begriff des ,Volksliedes‘ ist eine Schöpfung des ausgehenden achtzehnten Jahrhunderts (vgl. Röhrich, Lutz: Gesammelte Schriften zur Volkslied- und Volksballadenforschung Bd. 2, Münster u a. 2002, S. 19). 152 Bestenfalls könne man ihn als Sammelbegriff für höchst heterogene Erscheinungen, als „Dachbegriff für ein ganzes Bündel recht unterschiedlicher Gruppen und Untergruppen von Liedern“ verwenden (vgl. hier S. 8). Röhrich führt in seiner Einleitung (S. 3–22) aus, warum der Begriff selbst nach einer 200-jährigen Existenz noch keine einheitliche Definition seiner Extension oder Intension hervorgebracht hat und warum der Begriff, zu dem es zahlreiche Alternativbegriffe wie ,das populare Lied‘, das ,Gruppenlied‘, ,Volksgesang‘, ,grundschichtiges Singen‘, ,laienmäßiger Gruppengesang‘ gibt (vgl. hier S. 3, S. 6), selbst äußerst umstritten ist. ,Volkslied‘ sei in jedem Falle ein Kunstwort, das für keine Zeit außerhalb der literaturwissenschaftlichen Versuche der Beschreibung zu belegen ist (vgl. hier S. 6f.). So ist es ihm wichtig klarzustellen, dass die Herausgeber des Bandes sich einig seien, „daß mit dem Herderschen Volksliedbegriff nicht mehr viel Staat zu machen ist, daß von dem Volkslied schlechterdings überhaupt nicht mehr die Rede sein kann, und daß die Vokabel ,Volkslied‘ hier nicht mehr als ein Arbeitstitel für einen Forschungsgegenstand ist, den es nach sehr verschiedenen Gesichtspunkten, literaturwissenschaftlich-ästhetischen und musikethnologischen, historischen wie soziologischen und psychologischen näher zu differenzieren und vielseitig zu beleuchten gilt“ (hier S. 6). 153 Per Definition handelt es sich um „aus aktuellen gesch[ichtlichen] Situationen entstandene Dichtung, die über Ereignisse informiert, sie kommentiert und bewertet“ (Brednich, Historisches Lied, hier Sp. 54). 154 Überschneidungen des Textphänomens mit den unter die jeweilige Gruppe fallenden Liedtypen rechtfertigen diesen Seitenblick. Der Begriff des ,Ereignisliedes‘ verweist auf die historische Anbindung des Liedtextinhalts, die im Apollonius sichtbar wird. Zu bestimmten Gelegenheiten werden Lieder verfasst, die sich inhaltlich dem auslösenden Ereignis widmen (s. u.). Umfasst der Begriff ,Volkslied‘ auch Lieder unterschiedlichsten Inhalts, verschieden starker Verbreitung und unterschiedlichen Alters sowie stark voneinander abweichenden Form und Stils (vgl. Röhrich, Volkslied- und Volksballadenforschung, S. 9; ausführliche Ausführungen zu den

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längeren, gesellschaftlich breit gestreuten Popularität oder zumindest Bekanntheit erfreuen155 und ihr textueller und melodiöser Bau stabil und langlebig bei gleichzeitiger Offenheit für Variation156 ist. Im Diskurs um Ereignislieder wird die Untergruppe der ,Volkslieder‘, darüber definiert, dass jene „volksläufig wurden und noch lange nach dem besungenen Ereignis weiterlebten“.157 Die mediale Form des Liedes kann also in seiner prekären Existenzform beständig werden und eine auf konkrete historische Ereignisse bezogene Wort- und Tonfolge als mediale Form zu transmittiven Zwecken eingesetzt werden. Besonders in partizipativen Gesellschaftsformen scheint das von besonderer Bedeutung zu sein.158

einzelnen Aspekten S. 9–18), so ist ihnen gemein, dass die Träger dieser Lieder unabhängig von den unterschiedlichen Arten der singenden Realisierung stets Gruppen (erneut unterschiedlicher Ausprägung) sind (vgl. Röhrich, Volkslied- und Volksballadenforschung, S. 21). So heißt es auch bei Steinitz, Wolfgang: Arbeiterlied und Volkslied, Berlin 1965 (Sitzungsberichte der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin), S. 8: „Ein Werk der Folklore existiert nur, wenn es von einer Gemeinschaft angenommen wurde; es existiert von ihm nur das, was diese Gemeinschaft anerkennt und weitergibt. Wenn die Bedürfnisse der Gemeinschaft sich ändern, ändert sich auch ein Volkslied“. 155 Die anhaltende Bekanntheit und vielleicht sogar Popularität wird bspw. zur Abgrenzung von der zeitlich begrenzten Berühmtheit populärmusikalischer Hits herangezogen (vgl. Röhrich, Volkslied- und Volksballadenforschung, S. 17). Die primäre Intention solcher Lieder kann die dauerhafte Bereitstellung von Informationen für eine Gruppe und ihre Nachfahren sein. Das schlägt sich mitunter in Benennung von ,Volksliedern‘ nach Liedträgergruppen, die nicht eindeutig macht, ob die Lieder von einer Gruppe oder für eine Gruppe entworfen sind, nieder: „In allen nach Liedträgern benannten Gattungen entsteht die Problemfrage: Handelt es sich um ein Lied ,von‘ oder ,für‘? Ist die genannte Personengruppe Produzent oder Verbraucher dieser Liedgattung?“ (hier S. 15). 156 Ein wichtiges Kriterium für die Kategorisierung als ,Volkslied‘ ist die Stabilität von Musik und Text (vgl. hier S. 22). Röhrich gibt aber gleichzeitig zu bedenken: „Zum Volkslied gehört eine gewisse Wandlungsfähigkeit. Fast jeder Sänger verändert ein Lied in dieser oder jener Weise“ (hier S. 21). Dominanter und langlebiger ist beim Lied offenbar die Melodie. Ihr werde wenn nötig ein neuer oder veränderter Text gegeben (vgl. hier S. 19). 157 Brednich, Historisches Lied, hier Sp. 55. 158 Die Singszenen dürften in ihrer kollektiven, partizipatorischen Dimension für einen zeitgenössischen Rezipienten weniger auffällig sein als für einen modernen. Ein Problem, das nicht nur im wissenschaftlichen Bereich mit dem ,Volkslied‘-Begriff besteht, beruht unter anderem auf der Ablehnung starker kollektiver – und dabei über die Sprache auch nationaler – Identitäten. Die Abneigung gegen Volkslieder und den ,Volkslied-Begriff‘ lasse sich – so Röhrich – psychologisch und soziologisch recht einfach damit begründen, dass Individualität heutzutage als wichtiger denn je empfunden wird: „Je größer die individuelle Selbständigkeit, die mentale Differenzierung, je größer die Zurückhaltung vor emotionalem Aufgehen in das Gruppensingen“ (Röhrich, Volkslied- und Volksballadenforschung, S. 5). Im gemeinsamen Singen entsteht eine Gruppenidentität, im Singen bildet sich eine Gemeinschaft, ein ,wir‘, das singt und kollektiv empfindet. Das bedeutet, dass in einer stark partizipatorisch geprägten Gesellschaft dem ge-

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Lieder des Typs ,lobpreisendes Volkslied‘ bzw. ,volksläufiges Ereignislied‘ sind Produkte von Gemeinschaften, die sich inhaltlich auf ein bestimmtes historisches Ereignis beziehen und die die textuell-mu­sikalische Konfiguration von Liedern auf Wiederholbarkeit und Einprägsamkeit anlegen.159 Ist jede Liedpräsentation auch flüchtig, so verspricht doch die Kopplung geformter Sprache, die auf ein Ereignis verweist, mit einer Melodie Iteration und damit Festigkeit jenes Verweises. Liedkomposition kann ein Bemühen um Erinnerungsstabilisierung sein, besitzt zumindest Transmissionspotenzial.160 Ob die Lieder, die im Apollonius auftauchen, tatsächlich als mediale Formen mit vornehmlicher Transmissionsfunktion zu beschreiben sind, ist anhand der Textpassagen zu überprüfen.161 Dabei muss das Verhältnis von Kommunikation und Transmission (s. Kap. 5.2.1) erneut Betrachtung finden. Der Apollonius selbst stützt eine Zuordnung zu den Transmissionsmitteln nicht explizit. Gesungen werden die Lieder jeweils in Anwesenheit und zu

meinsamen Singen eine wichtige Aufgabe zufällt und dass das gemeinsame Singen hohe Popularität aufweisen dürfte. 159 Brednich weist darauf hin, dass sich viele ,historische Ereignislieder‘ bekannter Melodien bedienten, um „ihre Wirkung über den Tag hinaus“ zu fördern (Brednich, Historisches Lied, hier Sp. 55). 160 Vgl. auch Winkler, der Rhythmen als basale Form der Wiederholung, eines der zwei bei ihm zentralen Prinzipien medialer Überwindung von Zeit, bezeichnet (vgl. Winkler, Basiswissen, S. 213). Ritus und Wiederholung seien „Kulturtechniken, die die Bewahrung und die Verbreitung im Kollektiv garantieren. […] Mnemotechniken der oralen Gesellschaft: der Reim, das Versmaß, die Strophenform und der Rhythmus in der Musik.“ (hier S. 212). 161 Hinweise dafür, dass der Apollonius die Annahme, mündlich konfigurierte Informationen besäßen das Potenzial, informativen Gehalt zu bewahren und zu übermitteln, teilt, geben nicht nur die Rätsel (s. o.). Ein weiterer lässt sich aus der Begegnung zwischen Albedacus und dem wundersamen Geschöpf Milgot ableiten. Während der Protagonist nicht weiß, was es mit dem Wesen auf sich hat (vgl. die ambivalente Reaktion in AvT, V. 6634–6651), kann Albedacus es sofort identifizieren. Die Erzählinstanz gewährt einen Einblick in die Gedanken des Sternensehers und enthüllt dabei zwar keine direkte Quelle des ,Wissens‘, macht aber dennoch die Existenz eines von Albedacus aufgenommenen Informationsfundus’, in dem das Tier vorkommt, plausibel. Die Szene legt bei genauer Lektüre nahe, dass Albedacus mit einem auswendig gelernten Spruch eine Information gespeichert hat und dass es ihm möglich ist, diese abzurufen. Als ihm das wundersame Tier beschrieben wird, [d]er weissage Albedacus/Gedacht in seinem hertzen suß:/,Ain tier haisset Milgot:/Di tyr laistent sein gepot/Sy sein klain oder groß./Kain tyer ward nie sein genoß (AvT, V.  6953–6960). Der spruchartige Gestus der wiedergegebenen Gedanken, der darauf beruht, dass kein Bezug zu der gegenwärtigen Situation hergestellt wird, weist auf eine feste sprachliche Form hin, scheint auf in dieser Form gelerntes und nun wieder abgerufenes ,Wissen‘ zu deuten. Gleichzeitig hilft dieser Spruch Albedacus nicht nur, sein Gegenüber einzuordnen und zu identifizieren, sondern auch zeitgleich eine Zusatzinformation aus dem Gedächtnis heraufzubeschwören – nämlich, was diese Begegnung für ihn bedeuten und wozu Milgot

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Ehren des verehrten Protagonisten. Die Liedtexte, die fast alle von ihrer Intention berichten,162 legen eine vornehmlich kommunikative Absicht im Moment der Aufführung nahe. Es werden Segenswünsche für Tyrland (vgl. AvT, V. 1165) und Danksagungen gegenüber Apollonius (vgl. AvT, V. 5351, 4002)163 formuliert, jenem die Landeskrone, Lob und Preis zugesprochen (vgl. AvT, V. 9754–9756) – das Ganze zum Teil in performativen Wendungen. Alle geäußerten Intentionen beziehen sich auf Apollonius bzw. auf sein Land und sind jeweils mit Dank und Lohn diesem gegenüber verknüpft. Insofern scheint zunächst die kommunikative Funktion im Vordergrund zu stehen. In den Momenten ihrer initialen Aufführung, die in den Texten geschildert werden, haben die Lieder eine kommunikative Funktion gegenüber dem Helden einerseits, gegenüber der Gemeinschaft, die sich im gemeinsamen Singen konstituiert, andererseits. Auch wird nach einmaliger Wiedergabe der Liedtexte nicht wieder auf sie eingegangen, die Erzählinstanz gibt keine Hinweise darauf, dass die Lieder zu einem immer wieder aufgeführten und rezipierten Kulturgut würden. Dennoch gibt es sowohl in der textlichen Gestalt als auch in der Art und Weise ihrer Einbettung gute Begründungen für die Einordnung als Transmissions­ formen. Zunächst wird Apollonius in keinem der Texte angesprochen. Ein Adressat (überdies nicht Apollonius)164 wird nur in einem Falle genannt, alle anderen

nützlich sein könnte. Albedacus wird die heilende Wirkung von dessen Herzen bewusst. Das ist zunächst an der sich direkt anschließenden Ableitung (Hiette ich des tyeres hertzen,/So verchte ich kainen smertzen, AvT, V.  6955–6960) und an der Erklärung Apollonius gegenüber (Wiltu hundert jar leben,/Jungk an allen smertzen?/So iss des tyeres hertzen, AvT, V.  7012–7014) deutlich. Während die Ableitung sich direkt auf Albedacus und seine Situation bezieht (s. Kap. 6.3.3), kehrt die Sentenz über die Wirkung des Herzen wieder zum Duktus eines allgemein formulierten ,Wissens‘ zurück. Im Spruch ist das Tier mit seinem Nutzen direkt verknüpft; Albedacus kommt angesichts des fremden Wesens der vollständige Spruch in den Sinn. Die Szene deutet ein Textbewusstsein darüber an, dass die sprachlich komprimierte, einprägsame Formatierung dem Aufrufen bestimmter Informationen dienlich ist und unterstützt die Wertung des Erdichtens von Sprüchen oder Liedern als Umgang mit Informationen, der (auch) auf ihre Dauerhaftigkeit angelegt ist, also eine übermittelnde Funktion haben kann. 162 Nur einer der Liedtexte gibt nicht explizit Auskunft darüber, welche Ambition mit dem Lied verbunden ist. Das sehr kurz ausfallende Lied der Tarser nach der Einwilligung, die Heerfahrt zu leiten, formuliert in seiner nur aus einem Satz bestehenden Aussage zwar eindeutig ein Lob, nimmt aber anders als die anderen Lieder diese Handlung nicht als performative Wendung in den Text auf (vgl. AvT, V. 3113–3115). 163 Das Lied ist nicht die einzige ,Belohnung‘, s. Anm. 5/171. 164 In dem einzigen Lied, das sich explizit an jemanden wendet, handelt es sich nicht um eine natürliche Person, sodass auch diese Anrede nicht dem geschilderten Eindruck widerspricht. Die Tarser sprechen in ihrem Lied nicht den Helden oder einen späteren Rezipienten, sondern Tyrland an: Selig seistu, Tyrland! (AvT, V. 1165) beginnt der Liedtext, bevor das Sprecherkollek-

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richten sich nicht explizit an einen bestimmten Empfänger. Vielmehr wird über Apollonius in der dritten Person berichtet. Der Geehrte wird – auch wenn er vielleicht Adressat der kommunikativen Funktion des initialen Liedvortrags ist  – nicht zum Adressaten des Liedtexts. Passend dazu versprechen einige Lieder ewig währende Danksagung und zukünftiges Zudienstsein: Das sey in ymmer danck gesait (AvT, V. 4008) und Deß sull wir im danck sagen. Wo er vert auff dem mer, Da soll im dienen unser her.’ (AvT, V. 5351–5353)

Die Passagen entfalten zumindest einen Zeithorizont, der auf das mögliche Wirken verweist und deutlich macht, dass auch die einmalige kommunikative Wirkung mit dem Versprechen von Transmission verknüpft ist. Davon abgesehen präsentiert der Apollonius Liedkomposition als aktiven medialisierenden Umgang mit Ereignissen und damit die Lieder als potenzielle Transmissionsmedien. Die Entscheidung, einen bestimmten Gehalt als eine relevante Einheit wahrzunehmen und in eine stabile Form zu bringen – zum Ausdruck gebracht durch die Erwähnung des Erdichtens – [g]edichtet ward ein newes lied [AvT, V. 9747] –, zeugt von dem Bedürfnis, ein Ereignis aufzuarbeiten, ist Ausdruck des Bemühens um Festigung und Bewahrung, also Transmission. Der Apollonius interessiert sich außerdem augenscheinlich nicht nur für die Existenz einer solchen Kulturtechnik, sondern auch für die Art und Weise, wie diese vollzogen wird. Sowohl die Ereignisse selbst als auch die daraufhin gedichteten Liedtexte werden auserzählt. Obwohl die RezipientInnen des Textes bereits ausführlich von den Vorgängen gehört haben und die Liedtexte keinen inhaltlichen Mehrwert enthalten, werden sie einzeln dargestellt. Die Funktion für die Narration geht nicht einfach in dem erzählerischen Abschluss der jeweiligen Abenteuerepisode auf. Die Liedtexte repräsentieren die Sicht der beteiligten Figuren auf die bereits zuvor auserzählten, auktorial präsentierten Ereignisse und zeigen, dass die Umwandlung einer Ereignisfolge in eine kompakte sprachliche Einheit notwendigerweise einhergeht mit einer Komprimierung und Gewichtung der Ereignisse. Insofern veranschaulichen die Passagen, welche Aspekte eines Geschehens oder einer Person als besonders erwähnenswert erachtet werden, offenbaren die mit der medialen Aufbereitung einhergehenden Selektions- und

tiv sich in Dankbarkeit gegenüber dem ursprünglichen Herrschaftsbereich Apollonius’ übt, das diesem ihren Retter zu Hilfe gesandt habe (vgl. AvT, V. 1165f.) und deswegen als hoch wert hertum (AvT, V. 1168) eingestuft wird.

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Akzentuierungsprozesse. Die Tatsache, dass alle erwähnten Lieder textuell in der Erzählung repräsentiert werden, bezeugt also das Verständnis der Lieder als relevante Form der Ver- und Aufarbeitung der Ereignisse und somit als mediale Prozesse, die sich damit auseinandersetzen, wie Gemeinschaften Ereignisse verarbeiten und Vorstellungen der daran Beteiligten manifestieren. Diese Perspektivierung wäre narrativer Mehrwert wie Beitrag zum medialen Diskurs gleichermaßen. Sowohl die begrifflichen als auch die auf Textbasis gemachten Beobachtungen erlauben es, den Lobliedern ein Transmissionspotenzial zu unterstellen. Wie intentional sich die Figuren in den konkreten Textbeispielen des musikalischtextlichen Potenzials jedoch bedienen und ob daher Transmission als zentrale Funktion dieser intradiegetischen Lieddichtungen zu beschreiben ist, bleibt zu prüfen. Um das spezifische Potenzial einer Informationsspeicherung in Liedform gerade gegenüber anderen Aufbereitungsformen hervorzukehren, lohnt es sich, auf die Kontexte zu blicken, in denen es zu den Lieddichtungen kommt. Spezifische Kontexte, so die These, verlangen bestimmte Formgebungen. Zunächst sollen daher die Situationen, die im Apollonius dazu führen, dass Lieder gedichtet und gesungen werden, ins Zentrum rücken, um herauszufinden, ob bestimmte Konstellationen verantwortlich für die Wahl dieser medialen Form zu machen sind und ob dabei die Intention der Transmission deutlicher hervortritt. Unmittelbarer Ausgangspunkt ist in allen Fällen ein selbstloses Eingreifen des Protagonisten angesichts der Bedrohung einer Gemeinschaft von außen. Das erste Loblied entsteht in der Stadt Tarsis und geht der Errichtung eines Ehrenmals (s. Kap. 5.3.3) direkt voraus. Nach Zeiten der Entbehrung sind dank Apollonius in der Stadt wieder alle Güter im Überfluss vorhanden. In dieser fröhlichen und ausgelassenen Feststimmung165 wird mancherlei Kurzweil getrieben, gespeist, getanzt – und auch gesungen (LI)166 (vgl. AvT, V.  1153–1174). Kurz nach seinem Gelübde, ins Exil zu gehen, erklingt am selben Ort ein weiteres kurzes Ehrenlied (LII), nachdem Apollonius sich auf Bitte der Tarser bereit erklärt hat, ihr Heer als Hauptmann in einem Kampf167 anzuführen (vgl. AvT, V. 3056–3084), den

165 Ir groß laid ward vergessen/Mit trincken und mit essen./Do gieng es in von hertzen wol,/Sie wurden aller freuden vol (AvT, V. 1153–1156). 166 Der Übersichtlichkeit halber, wird mit den Kürzeln LI-LV auf die einzelnen Liedeinlagen referiert. 167 Die Tarser erhalten einen Brief des König Paldein, dessen Land vom Kaiser Ejectas und den Völkern Gock, Magock und Kock bedroht ist (AvT, V. 2290–2955; s. Kap. 4.3.3). Apollonius erklärt sich auf Bitte der Tarser, die auch Gefahr für ihr eigenes Land fürchten, sofort bereit, ihr Heer als Hauptmann in den Kampf zu führen (vgl. AvT, V. 3056–3084).

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ihm angebotenen Sold jedoch ausgeschlagen168 und für die Gemeinschaft eingesetzt hat (AvT, V. 3106). Aufgrund dieser Entscheidung – die direkte Verbindung seiner Aussage mit der Danksagung wird hier durch einen Anschluss mit [d]a (AvT, V. 3109) kenntlich – wird ihm ein lobe lied/Frolich gesungen (AvT, V. 3109f.). Gleich mehrere lobliedel (AvT, V. 3995) ruft Apollonius’ Sieg in jenem Konflikt – ein Kampf gegen die antichristlichen Völker Gock, Magock und Kolck – hervor. Apollonius gelingt es durch eine List, die Gefahr zu eliminieren;169 es verbreitet sich das märe (AvT, V. 3986) des Sieges, die Freude über die Niederschlagung des übermächtigen Gegners (vgl. AvT, V. 3991, 4011) sowie Lob und Ehre im Lande.170 Das bewirkt die Dichtung verehrender Lieder, deren Inhalt exemplarisch anhand eines Liedtextes in der Textpassage repräsentiert wird (LIII). Durch eine ähnlich heroische Tat kommt es zum vierten Gesang auf Apollonius. Auf dem Weg zu Kolkan, einem Aggressor, der in Galacides sein Unwesen treibt, verschlägt es Apollonius auf eine kleine Insel (vgl. AvT, V. 4929–4969), wo er Zeuge einer Auseinandersetzung zwischen dem Kentauren Achiron und der Sirenenkönigin wird. Unter Einsatz seines und seines Knappen Leben kann der Kentaur bezwungen und die Sirene vor einer Vergewaltigung bewahrt werden (vgl. AvT, V. 4981–5166). Belohnt wird Apollonius unter anderem171 mit einem spontan erdichteten Lied (LIV). Zuletzt führt eine Reihe unglücklicher und glücklicher Fügungen Apollonius

168 Mit einer ähnlichen Begründung wie zuvor die Entlohnung für seine wirtschaftliche Hilfe schlägt er den sogleich herbeigeschafften Sold aus und überlässt ihne den Tyrern: Er sprach ‘es soll nicht gezemen/das ich diene umbe solt./Ich han noch silber und golt (AvT, V. 3101–3103). Er hebt hervor, nicht als Söldner zu agieren und daher nicht um des Geldes Willen als Heerführer einzutreten. Er verfüge im Gegenteil über genügend Reichtum, um selbst die Finanzierung des Kriegszugs zu leisten. Statt also die brieflich zugesicherte finanzielle Unterstützung Paldeins in Anspruch zu nehmen, erweist sich Apollonius erneut als besonders ehrenhaft und nutzt sein eigenes Kapital, um anderen zu helfen. Weiter gibt er zu verstehen, er wolle sein Habe geren mit ew zeren (AvT, V. 3106). 169 Es wird ein dreitägiger Friede geschlossen und den Feinden große Mengen guten Weins zur Verfügung gestellt (vgl. AvT, V. 3590–3665). Da diese Alkoholkonsum nicht gewohnt sind (vgl. AvT, V. 3672) und die Wirkung des übermäßigen Genusses nicht kennen, trinken sie [r]echt als küe und schwein (AvT, V. 3722) davon und sind am Tag des auslaufenden Waffenstillstandes in einem kampfunfähigen Zustand und damit leicht für die Kämpfer Paldeins und Apollonius‘ zu bestehen (vgl. AvT, V. 3227–3806). 170 Ir lob ward prait und groß,/Ir ere in die land floß (AvT, V. 3992f.). 171 Ebenso belohnt die Sirenenkönigin ihn mit dem Recht, die Sirene als Wappenbild zu tragen (vgl. AvT, V. 5345–5349) und der Versicherung, sich auf allen Wassern der Unterstützung der Sirenen gewiss sein zu können (vgl. AvT, V. 5352f.). Außerdem erhält er den entscheidenden Hinweis für eine erfolgreiche Auseinandersetzung mit Kolkan (vgl. AvT, V. 5213–5260).

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in die Höhle der wilden Frau Gargana (AvT, V. 9475–9522),172 aus deren Gefangenschaft er hundert Kinder einer nahegelegenen Stadt befreit.173 Auch nach dieser Rettungsaktion schlägt Apollonius den materiellen Lohn174 aus. Daraufhin wird ein newes lied (AvT, V. 9747) für Apollonius bzw. über die Ereignisse entworfen (Lied V). Ausgangspunkt ist – so ergibt eine vergleichende Aufstellung der Liedkontexte – eine selbstlose Handlung des Protagonisten, in dessen Anwesenheit die Lieder auch jeweils vorgetragen werden. Die Maßnahme wirkt in erster Linie kommunikativ gegenüber Apollonius. Doch die Kontexte der fünf Liedeinlagen bestimmt nicht einfach Dankbarkeit gegenüber einem erfolgreichen und selbstlosen Apollonius. Immer werden auch die Freude und Fröhlichkeit derjenigen, die das Lied vorbringen, erwähnt, meist als ein Prozess des Froh-Werdens. Lieder werden gedichtet und gesungen, wenn die Gemeinschaft [f]rolich (AvT, V. 3110, 5337, 5357) und fro (AvT, V.  5331) wird, freuden (AvT, V.  4011, vgl. auch V.  3991, 9722) eine vorherige kollektive Niedergeschlagenheit ablösen. Besonders eindrücklich wird die Feststimmung, in die das Lied eingebettet wird, im Vorlauf des ersten Liedtextes. In ausgelassener Atmosphäre175 und im Rahmen mancherlei anderer Festaktivitäten wird zu Ehren des Helden gesungen:

172 Während Apollonius versucht, einem Auftrag Nemrotts nachzukommen, taucht ein Drache namens Pelua auf, welcher auf dem Schlachtfeld Beute sucht und auch Apollonius mit sich führt (AvT, V. 9438–9463). Nur mit Glück und Gottes Hilfe kann Apollonius entkommen, er bleibt jedoch bewusstlos am Meeresstrand liegen, wo Gargana ihn findet und verschleppt (vgl. AvT, V. 9475–9522). 173 Dort hausen bereits hundert Kinder einer nahegelegenen Stadt, welche Gargana in Reaktion auf die Erschlagung ihres Sohns Grissoppo entführt hat – darunter auch der Sohn des Grafen Grandicor (Clinsior). Nach einer handfesten Auseinandersetzung, bei der die wilde Frau, nicht aber der von Gott behütete Apollonius zu Tode kommt, kann Apollonius alle Kinder wohlbehalten zurückbringen (vgl. AvT, V. 9570–9721). 174 Wie bereits in den anderen Fällen wird wieder seine Selbstlosigkeit besonders betont. Denn auch nach dieser Rettungsaktion beschließt die Gemeinschaft zunächst, Apollonius seinen Dienst monetär zu danken: Im ward gabe vil getragen/Von silber und von gold geslagen,/Hohe roß und güt gewant (AvT, V. 9727–9729). Erneut schlägt Apollonius den materiellen Lohn aus, verkündet umb dise ding/Nymmer kainen pfennyng‘ (AvT, V. 9734) entgegen nehmen zu wollen und setzt sich dafür ein, dass der für den Verlust des Sohnes geächtete Silomant vom Graf Grandicor finanziell unterstützt wird (vgl. AvT, V. 9735–9744). 175 Ir groß laid ward vergessen/Mit trincken und mit essen./Do gieng es in von hertzen wol,/Sie wurden aller freuden vol (AvT, V. 1153–1156).

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Si wurden aller freuden vol. Sich hueb ain frolicher schal In der statt uber all Mit sagen und mit singen, Mit tantzen und mit springen. Kurtzweil manigvalt Der pflagen paide jung und alt. Paide groß und chlain Sungen alle gemain (AvT, V. 1156–1164)

Die Sirenen singen zwar bereits, als sie ihre Königin noch verloren glauben. Das von ihnen erzeugte luden (AvT, V. 5321) auf dem Meer wird jedoch als klagleich/ Traurig und jammerlich (AvT, V. 5322f.) beschrieben. Erst als die gerettete Königin wieder ins Wasser getragen wird, werden sie fröhlich (vgl. AvT, V. 5331, 5337, 5357) und stimmen in das Lied ihrer Anführerin ein (vgl. AvT, V. 5338–5343). Es ist also nicht allein der Wunsch, jemandem eine Ehre zu erweisen, der im Apollonius zur Dichtung von Lobliedern führt, sondern eine gelöste und überschwängliche Stimmung angesichts eines für das Kollektiv positiven, erleichternden Ereignisses.176 In der Verbindung von Hochstimmung und Gesang liegt nahe, dass die besondere emotionale Affizierung im positiven Sinne dazu verleitet, die Danksagung klanglich zu gestalten und singend zu realisieren. Die präsentierte Einbettung suggeriert, dass das Transmissionspotenzial solcher Lieder auch auf den Kontext des Vortrags bezogen ist. Die Verbindung von Text und Melodie ist Ausdruck eines positiven kollektiven Empfindens. Die dargestellte soziale Funktion der Lieder scheint vor allem ein punktueller Ausdruck positiver Stimmung zu sein – einer Stimmung jedoch, die gleichwohl in Text und Melodie auch speicher- und wiederabrufbar ist. Einige Passagen weisen auf die klangliche Qualität der sprachlichen Formationen und deren besondere emotionale Valenz hin. So bezeichnet die Erzähl­instanz die Lieder der ehemals von Gock und Magock bedrohten Gemeinschaften als harte schone (AvT, V.  3996) aufgrund ihrer sussen done (AvT, V.  3997). Zu diesbezüglich superlativischen Beschreibungen lässt die Erzählinstanz sich angesichts der Sirenengesänge hinreißen.177 Der Blick auf literarische Repräsentationen von

176 Vgl. auch den Ausruf des Erzählers, der der Lieddichtung direkt vorangestellt wird: Ey, wie fro sy alle sint! (AvT, V. 9746). 177 Auch hier handelt es sich um tone susse (AvT, V. 5355), die eine solche Lautstärke annehmen, dass es bis in die Wolken erschallt. Der Klang – so heißt es in Bezug auf die Stimme der Königin – stellt alle Instrumente in den Schatten (vgl. AvT, V. 5326f.); der Chor lässt sich nur als ein groß wunder (AvT, V. 5359) bezeichnen. Außerdem vermag die Performance alle Zeugen des Ereignisses zu eigenem Lob auf die Besungenen anzuregen (vgl. AvT, V. 5359–5365).

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Liedern ist hinsichtlich des klanglichen Aspektes aber – natürlich – limitiert, da der Beitrag der musikalischen Komponente nicht zum Ausdruck kommt.178 Ein besonderes Bemühen um die Darstellung ist allerdings auch nicht zu konstatieren. Der Fokus liegt auf den Texten. Beim Blick auf die Kontexte sticht auch das über die Praxis des Liedvortrags inkludierte Personal ins Auge. Bei den Sirenen ist ein schöner Gesang als Reaktion auf besondere Ereignisse sicherlich in der grundsätzlichen Figurenkonzeption angelegt,179 in den anderen Szenen ist allerdings auffällig, dass stets vor der Wiedergabe des Texts darauf verwiesen wird, dass die gesamte Gemeinschaft in dieser Form fähig ist, zu partizipieren: Paide groß und chlain/Sungen alle gemain (AvT, V.  1163f.) oder [v]on alten und von jungen/Sy sprachen all gemaine (AvT, V. 3111f.)180 heißt es dort; im dritten Lied – hier wird keine Gruppe, sondern unspezifisch man und [d]i genannt (AvT, V.  3995f.) – vermag sich so das Lob in alle Lande zu verbreiten; im letzten Beispiel sind es explizit Kinder, das schone junge diet (AvT, V. 9748), die das Lied vortragen. Auch die im Liedtext auftauchenden Sprecher benennen sich – sofern sie nicht verborgen bleiben (vgl. LII und LIII) – mit einem nicht weiter spezifizierten wir (vgl. AvT, V. 1169, 1171, 1174, 5351, 9748).181 Ein Loblied stellt sich somit als niedrigschwellige und inkludierende Form dar, welche es allen Mitgliedern der jeweiligen Gemeinschaft  – Armen, Reichen, Jungen, Alten, Gebildeten und Analphabeten, Menschen wie Wunderwesen – voraussetzungslos ermöglicht, zunächst performativ an der Ehrung des Helden und der Feierlichkeit teilzunehmen und – was für die Interpretation als Transmis-

178 Die Repräsentation des elementaren Aspekts der Tonalität, des Zusammenspiels von Melodie und Text, das den zentralen Kontext des Fests und der Freude zu vermitteln und zu evozieren vermag, bleibt literarischen Texten versperrt. Ähnlich wie bei anderen in Erzähltexte integrieren Liedpassagen wie bspw. in Ulrichs von Liechtenstein Frauendienst wäre es spannend zu wissen, ob im Vortrag des Textes die Lieder melodiös vorgetragen wurden. Auch Reim und Rhythmus, welche den Text eingängig machen und gegen das Vergessen der in ihm aufgenommenen Informationen arbeiten, sind in diesen Fällen unauffällig und in ihrem Übermittlungspotenzial verdeckt, da der gesamte Text in Reimpaarversen verfasst ist. 179 Wobei hier der Gesang nicht mehr zum Verderben führt, sondern einem harmlosen Lobpreis dient. Für eine Auseinandersetzung mit der einmaligen Zeichnung dieser Sirenen abseits der üblichen dämonisierenden Erzähltraditionen vgl. Ebenbauer, Sirene. 180 Im Falle der multiplen Loblieder ist nur die Rede davon, dass sich werder man (AvT, V. 3991) freut und dass man (AvT, V. 3994f.), also eine unspezifizierte Vielheit, Apollonius preist und ihm Loblieder singt. Auch in der Sirenenepisode kommt zur Sprache, dass alle gar (AvT, V. 5343) zum Gesang anheben. 181 Referiert wird daher dann auch auf ein uns (AvT, V. 1170, 5353, 9751). Bei ,wir‘ handelt es sich um einen der beiden häufigsten ,Volkslied‘-Eingänge (neben ,ich‘) (vgl. Röhrich, Volkslied- und Volksballadenforschung, S. 11).

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sionsmedien noch wichtiger ist – diese zu rezipieren und über sie einen Zugang zu den vergangenen Ereignissen sowie zur gemeinsamen Freude zu erhalten. Inhaltlich werden in den kurzen Liedpassagen drei Themen erkennbar. Es geht stets um Apollonius, um die Markierung als Loblied durch Erwähnung der Intention und um die der Verehrung zugrunde liegenden Ereignisse. Apollonius erscheint, wie angesichts der Kontexte kaum verwundern dürfte, in allen Liedern als strahlender Held. In diesem Prozess der Heldenlieddichtung, dem die Text­ rezipientInnen hier beiwohnen, lässt sich die Fremddarstellung von heroisierten Persönlichkeiten und die Konstruktion identitätsstiftender Ereignisse beobachten. Nicht immer wird Apollonius namentlich genannt wie in LI, II und IV (vgl. AvT, V.  1167, 3112, 5345); wo das nicht geschieht, wird über den Herrschaftsbereich von Tyrland (AvT, V.  3998, 9748) eine eindeutige Identifizierung der zentralen Figur der Loblieder garantiert. Charakterisiert wird er jeweils mit superlativischen, recht stereotypen und nicht besonders auf die konkrete Situation zugeschnittenen Attributen. So sei er werden (AvT, V. 1167) bzw. ein werder man (AvT, V. 5345, 9753), der teurist man/Den frauwen leib ye gewann (AvT, V. 3114f.), sei raine (AvT, V. 3112), verfüge über [t]ugent, ere und wirdikaitt (AvT, V. 4003)182 und habe eine  – hier der einzige Hinweis auf die in diesem Falle eingesetzten kämpferischen Fähigkeiten – ellenthaffte[] hant (AvT, V. 9749). Im Lied der Tarser wird auch sein Status als König betont (vgl. AvT, V. 1166, 1173); die anderen Texte zeigen kein Bedürfnis, seine Stellung besonders hervorzuheben. Aus dem Lob sind daher kaum Informationen über den Grund der Verehrung bzw. die zugrunde liegenden Ereignisse oder die Persönlichkeit des Verehrten zu erfahren. Offenbar sind diese Aspekte in diesen Texten nicht zentral. Eine Ausgestaltung der Erlöserrolle erfolgt in den längeren Liedtexten – also in allen außer in LII – durch die kurze Repräsentation des Ereigniszusammenhangs, in dem der Besungene sich positiv hervorgetan hat: jeweils in der Auseinandersetzung mit einem bedrohlichen und übermächtigen Gegner. Dabei gehen die Texte in unterschiedlichem Ausmaß auf die dem Triumph vorhergehende Auseinandersetzung ein. Recht unspezifisch ist bspw. die Erläuterung im Lied nach dem Sieg über Gock, Magock und Kolck. Dort heißt es nur: Gock und Magock ist erslagen, Di sull wir alle lutzel klagen. Si waren uns zu schade komen̅ , Si haben klainen gewin genomen. (AvT, V. 4000–4003)

182 Das gilt in diesem Falle auch für die anderen namentlich genannten Mitkämpfer, die Tarser, Pliant von Absolon und Paldein von Warcilone (vgl. AvT, V. 3999–4001).

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Dass es sich um zwei Völker gehandelt hat, die mit ihrer ästhetischen Abnormität und kämpferischen Brutalität auf die – den Zeitgenossen noch verborgenen – heilsgeschichtliche Bedeutung der Schlacht verweisen (vgl. AvT, V.  2939–3019, 3482f., 3545–3552), bleibt hinter dem unkonkreten [s]ie ebenso verborgen wie die Tatsache, dass Apollonius den Sieg durch List und nicht durch reine kämpferische Stärke (s. Anm. 5/169) herbeiführen konnte. Mehr Raum nimmt die namentliche Aufzählung der siegreichen Heerführer ein. Noch knapper Auskunft über das dem Dank zugrunde liegende Ereignis gibt das Lied der Sirenen, das lediglich eine Verszeile dem Geschehen widmet: Er hatt Achiron erslagen (AvT, V.  5350). Es fällt zwar der Name des Aggressors, auch hier bleiben weitere Hintergrundinformationen über den Besiegten oder aber die konkrete Situation des Kampfes verschwiegen. Achirons Kentaurengestalt, seine langjährige Feindschaft mit den Sirenen, seine persönlichen wie politischen Gründe für seine Haltung und die Umstände des Kampfes – Apollonius kann mit größter Mühe und nur durch tatkräftige Unterstützung eines Knappen die Vergewaltigung der Sirenenkönigin verhindern – (vgl. AvT, V. 5159–5196) bleiben unerwähnt. Nicht das Ereignis wird festgehalten, sondern die Verehrung, die aus diesem resultiert. Im Zentrum stehen jeweils der Sieg und die Namen der Sieger und nur diese werden über dieses Lied auch zukünftig übermittelt. Der genaue Grund der Verehrung wird nicht weitergegeben und darf in Vergessenheit geraten. Etwas ausführlicher fallen die Darstellungen im Lied der geraubten Jungen und im Loblied der Tarser Bürger aus. Erstgenannter Text nennt nicht nur die Widersacherin Gargana namentlich, sondern gestaltet sie – wenn auch minimal – aus. Zunächst wird über die Bezeichnung als wilden (AvT, V. 9751) die Einstufung als wilde Frau im Lied aufgenommen. Darüber hinaus gibt ein weiterer Vers Aufschluss über das Verhalten, das sie zur Antagonistin Apollonius’ gemacht hat. Dieser verweist zusätzlich auch auf die ursprünglichen Sprecher des Textes: Mit [d]i uns in den perg trug (AvT, V. 9752) werden sowohl die Sprecher als auch die besiegte Gargana mit einer Hintergrundgeschichte ausgestattet. Apollonius’ Heldentat erhält also eine konkreten Kontext – auch, indem mit der Textzeile [e]r hatt gesiget kampfes an/Den zwelffen (AvT, V. 9753f.) die Umstände seines rettenden Eingreifens kurz angerissen werden. Hinter den zwelffen verbergen sich die zwölf riesigen Söhne des Heidenkönigs Baligan,183 gegen die Apollonius im Auftrag Nemrotts in einer Reihe von Zweikämpfen angetreten war, wodurch er schließlich in Garganas Höhle landet (vgl. AvT, V. 9218–9501). Einzelheiten des Konfliktzusammenhangs sind im Liedtext in komprimierter Form repräsentiert und ermög-

183 Zur intertextuellen Bestimmung als Söhne Baligans vgl. Achnitz, Babylon und Jerusalem, S. 302.

Tragen – Singen – Sagen: Körpergebundene Bewahrungstechniken 

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lichen in der Rezeption einen etwas detaillierteren Zugang zu den vergangenen Geschehnissen, indem sie mehrere stichwortartige Anknüpfungspunkte für narrative Anreicherung bieten. Im zweiten Fall sind die Stilisierungen des Helden als Tröster und Erlöser zunächst noch unkonkret gehalten (Wir wurden von im getrost/Der uns von sorgen hat erloßt, AvT, V. 1169f.), kurz darauf folgt jedoch ein direkter Verweis auf die Lebensmittelknappheit, die dank Apollonius überwunden werden konnte: Wir warn all sampt tod Von deß pittern hungers nott, War der furst nit gewesen: Von im sein wir all genesen.’ (AvT, V. 1171–1174)

Nicht nur das erfolgreiche und rettende Eingreifen des Verehrten wird repräsentiert, sondern auch das spezifische Leid der nun gelösten Gemeinschaft gespeichert. Die ersten zwei Lieder markieren den Sieg und den Sieger als erinnerungswürdig und unterschlagen in der Transmission die lebensbedrohliche Situation und den Konfliktkontext. Nicht das Ereignis wird festgehalten, sondern Verehrung und Freude, die aus diesem resultiert. Letztgenannte Lieder hingegen erwecken stärker den Eindruck, nicht allein Apollonius’ Heldentum, sondern auch die Geschichten dahinter übermitteln zu wollen. Sie arbeiten auch daran, die eigene Notsituation präsent zu halten und der im Singen konstituierten Gemeinschaft die kollektive Identifikation über das gemeinsam ertragene Elend und die ebenso gemeinsam erlebte Rettung zu ermöglichen. Der Apollonius stellt die Loblieder nicht als Transmissionsmedien vor. Er nutzt sie in narrativer Funktion zur Markierung eines Episodenendes, an dem ein idealer Held eine euphorisch-positive Stimmung ermöglicht, und präsentiert sie in ihrer sozialen Funktionalität sowohl als kommunikativ-performativ als auch als Auseinandersetzung und Aufbereitung mit Transmissionspotenzial. Die Ehrung der gelobten Person steht im Zentrum der Texte, der Ereigniszusammenhang reichert nur manchmal den Preisgesang mit Kontext an. Das stützt den Eindruck, die kommunikative Funktion im Moment der Aufführung gegenüber Apollonius stehe im Zentrum des Vorgehens. Diese ist jedoch mit einer transmittiven Funktion verknüpft. Der enge Zusammenhang von Kommunikation und Transmission, der bereits anhand der Körpermanipulation des Apollonius’ beobachtet worden ist (s. Kap. 5.2.1), bestätigt sich an diesen Beispielen in anderem Verhältnis. Der kommunikative Effekt beruht hier auf dem Versprechen wiederholter Verehrung und langlebiger Erinnerung. So lassen die Lieder sich theoretisch als mediale Formen

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 Wissenswert und erinnerungswürdig – Zeit

mit Transmissionspotenzial bezeichnen, zumindest werden sie als Ergebnis einer Auseinandersetzung einer Gemeinschaft mit einem prägenden Ereignis präsentiert.184 Das Spezifische dieser medialen Form ist die Situation, in der sie auftaucht. Erstens stellt der Text in seiner Betonung eines breiten Spektrums der an dieser Form der Erinnerungsbildung Teilhabenden die Niedrigschwelligkeit sowohl in Produktion als auch Rezeption aus. Zweitens ist auffällig, dass in den Szenen, in denen Liedtexte wiedergegeben werden, stets von Feierlichkeiten und ausgelassener Stimmung die Rede ist. Lieder werden als eine mediale Form präsentiert, die stark mit Emotionalität verknüpft ist. Innerhalb der Texte schlägt sich dies kaum nieder.185 In ihrem unterschiedlich ausgeprägten Bezug auf die zugrunde liegenden Ereignisse, zeigen sie eine gewichtende Fokussierung auf das positive, stimmungsvolle Ergebnis der Heldentaten. Das Potenzial der musikalischen Komponente, Emotionen zu repräsentieren und zu evozieren, wird angedeutet, kann jedoch in der limitierten Darstellungsweise nicht entfaltet werden. Es ließe

184 Im Vergleich mit einem anderen Lied, das im Apollonius von Tyrland auftaucht, verstärkt sich der Eindruck, dass es hier nicht ausschließlich um die Kommunikation der Wertschätzung gegenüber Apollonius, sondern auch um die Bewahrung und Stabilisierung dieser identitätsstiftenden Dankbarkeit und der ihr vorausgehenden Ereignisse geht. Das Kontrastbeispiel ist das Lied der Tarsia, welches kein Loblied, sondern eine Mischung aus Rätselrede und musikalisch gestalteter Selbstbeschreibung darstellt. Tarsia erdichtet ein biographisches Lied, das in seiner Struktur ihren Rätseln ähnelt und diesen vorausgeht. Sie befindet sich in der prekären Situation, einen Freier bedienen zu müssen. Wie zuvor in ähnlichen Situationen versucht sie, durch nichtgewerbetypische Aktivitäten zu unterhalten und stimmt daher ein kleglich liet (AvT, V.  16425) an, welches ihr das ellende riett (AvT, V. 16426). Bereits die Situation, in der es zu diesem Lied kommt, unterscheidet sich gänzlich von denen der bisher behandelten. Sie stimmt ihr Lied nicht im öffentlichen Raum während einer gemeinschaftlichen Feier an, sondern in einer emotional negativ aufgeladenen Face-to-face-Situation. Dieser Kommunikationssituation entsprechend wendet sie sich auch als Sprecher-Ich des Liedes (s. die Verwendung von ich [AvT, V. 16427, 16428, 16431, 16435, 16437, 16438, 16439, 16442, 16443, 16444, 16446, 16447, 16449], mir [AvT, V. 16441, 16450, 16460], mein [AvT, V.  16429, 16430, 16440, 16442, 16445]) zu einem in zweiter Person Singular direkt angesprochenen Gegenüber (s.  die Proklisen soltu [AvT, V.  16451], tuestu [AvT, V. 16454], die Pronomen [d]ein; deinen; deinem [AvT, V. 16457, 16459, 16462], dich [AvT, V. 16454, 16456] und [d]u [AvT, V. 16462, 16462] und die Imperative im Singular [t]reib [AvT, V. 16455], [l]aß [AvT, V. 16456], [e]npfihe [AvT, V. 16457], hab [AvT, V. 16460]). Das Lied fungiert als kommunikative Sprachhandlung in einer Face-to-face-Situation und besitzt keine Ambition, bestimmte Ereignisse einem Kollektiv dauerhaft zur Verfügung zu stellen. 185 Positive Affizierung ist in den jeweiligen Liedtexten nicht repräsentiert, sondern ist allein über die Schilderung der Umstände zu erfahren – und wird unter Umständen durch den Begriff der Liedform, des Singens und des Klangs in der Melodiegestaltung suggeriert. Ihr spezifisches Übermittlungspotenzial kann sich in der Lektüre nicht entfalten.

Schreiben – Bauen – Bilden: Körperentbundene Strategien des Bewahrens 

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sich auf Grundlage des Kontextes, der musikalisch-emotionalen Valenz und des relativ geringen Interesses der Liedtexte an der Transmission der zugrunde liegenden Ereignisse spekulieren, dass nicht das spezifische Ereignis, sondern vielmehr der Moment der erlösten Freude und das Gefühl der Dankbarkeit und Verpflichtung gegenüber Apollonius über den Liedtext gespeichert und abrufbar werden sollen. Das Hauptereignis, auf das diese Lieder verweisen sollten, wäre dann das des initialen Vortrags, die in der Überlieferung wiederholbare Feierstimmung nach Abwendung der Bedrohung.

5.3 Schreiben – Bauen – Bilden: Körperentbundene Strategien des Bewahrens Entwerfen die soeben betrachteten Passagen auch Mechanismen langfristiger mündlicher Transmission durch Komposition gut vermittel- und reproduzierbarer sprachlicher Entitäten, so bleiben die darin gespeicherten Informationen doch hochgradig abhängig von der wiederholten Reproduktion innerhalb jeder Generation. Ihr Existenzstatus ist daher stets von der Ambition jeder einzelnen Generation, etwas weiterzugeben, abhängig und erscheint damit gefährdet. Unabhängig von menschlichen Trägern und deren andauerndem Einsatz für die Übermittlung werden Informationen erst durch den Transfer auf Formen, die von konkreten Menschen bzw. Körpern ablösbar sind – Schrift, Bild und Plastik.

5.3.1 Am Rande der Banalität? Informationsstabilisierung durch Ein- und Aufschreiben Informationen können mündlich transmissionsfähig aufbereitet werden, sofern – so hat das vorherige Kapitel gezeigt – sich Menschen geformter Sprache bedienen und für die wiederholte Reproduktion solcher Spracheinheiten Sorge tragen. Eine beständigere Möglichkeit, Transmission über die Grenzen eines kommunikativen Gedächtnisses hinaus zu garantieren und Inhalte unabhängig von ihrer Reproduktion durch den menschlichen Körper zu machen, bedeutet die Externalisierung und beständige Materialisierung der zu bewahrenden Informationen. Der Herausforderung, die Dauerhaftigkeit bestimmter Informationen zu garantieren186 und ihre wiederholte Rezeption anzuregen, lässt sich – so wurde bereits im Hin-

186 Dauerhaftigkeit bzw. ,Beständigkeit‘ von Schriftlichkeit ist auch bei Martschini ein Schwerpunkt der Auseinandersetzung mit Formen literarischer Schriftlichkeit (vgl. das

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 Wissenswert und erinnerungswürdig – Zeit

blick auf Fernkommunikation festgestellt – mit Schrift begegnen (s. Kap. 4.1.2).187 Das spezifische Potenzial von Schrift, Informationen von Individuen zu lösen und mit einer gewissen Dauerhaftigkeit verfügbar zu machen,188 ist – so belegen die Aufzeichnungen Isidors von Sevilla und Johannes’ von Salisbury – auch im Mittelalter Gemeingut.189 So verwundert es kaum, dass die Passagen im Reinfried von Braunschweig und im Apollonius von Tyrland, die längerfristige Transmission ausstellen, auch zeigen, wie Informationen durch Verschriftung vom Menschen abgelöst und dauerhaft zur Verfügung gestellt werden. Die konkreten medialen Formen fallen durchaus unterschiedlich aus. Der Apollonius erwähnt Rätselanthologien, der Reinfried berichtet von magischen Büchern und auf Säulen eingravierten Texten. Ausgespart bleiben in der Analyse Texte auf Grab- und Denkmalen, bei denen Text in Dialog tritt mit plastischen Darstellungen (s. Kap. 5.3.2, 5.3.3). In Texten, die selbst eine Vielzahl an Erzähltraditionen und Wissensbeständen kompilieren, ist zu erwarten, dass ein ausgeprägtes Interesse für schriftba-

Kapitel „Beständigkeit – Lebendigkeit – Vergänglichkeit“ bei Martschini, Schriftlichkeit, S. 326–370). 187 Schrift und ihre Autorität in medialen Prozessen ist bereits bei der Fernkommunikation via Briefen zur Sprache gekommen und konnte die Einsetzbarkeit der Kulturtechnik Schrift für unterschiedliche Zwecke veranschaulichen. Über die besonderen Vorteile der Schrift als vertrauensvollem Träger von Informationen, aber auch über die Herausforderung der Umsetzung abstrakter, immaterieller Gehalte in verschriftlichte Sprache ist in den jeweiligen Kapiteln (vgl. Kap.  4.1.2, 4.3) genug gesagt worden. Gerade im Hinblick auf das vorangehende Kapitel veranschaulicht das Zitat des ,Volkslied‘-Forschers Steinitz die gesteigerte Lebensdauer von verschriftlichten Inhalten: „in der folkloristischen Tradition verschwindet ein Einzelwerk, das von der Gemeinschaft nicht anerkannt wird, vollständig; in der literarischen Tradition lebt es wenigstens potentiell unbegrenzt weiter.“ (Steinitz, Arbeiterlied, S. 9). Manuskripte und Bücher, auf Schrift basierende mediale Formen, zählen zu den eher spät entwickelten, aber besonders erfolgreichen Phänomenen sowohl der menschlichen Kommunikation als auch des menschlichen Gedächtnisses (vgl. Classen, Objects of Memory, S. 160). 188 „Im Medium Schrift wird das Wissen seiner interaktiv-personalen Gestalt entkleidet, es wird äußerlich und tritt in eine entscheidende Distanz zum Wissenden“ (Mein, Medien, S. 11). Die Konzeption von Schrift als Wissensträger ist eine kaum einer komplexen Herleitung bedürftige Grundannahme. So setzt Martschini in ihrer Beschäftigung mit der Schrift in literarischen Texten unterstellte Beständigkeit voraus: „Schrift speichert, konserviert und tradiert Wissen“ (Martschini, Schriftlichkeit, S.  327) und diene – die Haltbarkeit des Schreib- und Beschreibungsstoffes vorausgesetzt – der Bewältigung größerer zeitlicher Distanzen. 189 Vgl. Ernst, Schriftlichkeit, S. 255f. Er bezieht sich dabei auf Isidors von Sevilla Etymologiae sowie auf Johannes’ von Salisbury Policraticus (vgl. die konkreten Hinweise in seinen Anm. 15/16). Was literarische Texte betrifft, so erwähnt er, dass im Prolog zu Chrétiens Cligés und in Heinrichs Enearomans ein ebensolches Bewusstsein zu finden sei (vgl. hier S. 256f.).

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sierte Aufbereitung und Bewahrung von Informationen besteht. Ein erster Blick auf die Texte erweckt jedoch den Anschein, dass diese Form der Informationsübermittlung keinen besonders großen Reiz auf die Erzählungen ausübt. Obwohl Schrift in unterschiedlichen Kontexten und in verschiedenen Konkretisierungsformen als Garant für Informationsstabilität auftritt und obwohl beide Texte ihre Protagonisten als Nutzer schriftlich überlieferter Infor­mationen zeigen,190 ist die Anzahl der Textpassagen, die sich schriftgestützter Transmission widmen, doch recht überschaubar, das daran zu messende Interesse für die medialen Vorgänge eher schwach ausgeprägt. Äußerst selten wird der Blick auf die Produktion schriftlicher Wissensträger und ihre Kontexte geworfen; fast ausschließlich tauchen schriftliche Formen der Transmission wie selbstverständlich als Möglichkeit eines unproblematischen Zugriffs auf in ihnen gespeicherte Inhalte auf. Die schriftlichen Repräsentationen der Informationen werden mit einer Ausnahme jeweils nicht wörtlich wiedergegeben, sodass kaum Aussagen über das Verfahren der medialen Aufbereitung zu machen sind. Szenen, die ausführlich von SchriftObjekten erzählen, zeigen Schriftstücke nicht als mediale Formen, sondern als magische Objekte;191 die dargestellten schriftlichen Transmissionsprozesse hingegen werden eher nebenbei erwähnt. Das gilt zum Beispiel für den Zugriff auf Bücherwissen durch den Rätsellöser Apollonius. Die nötigen Kompetenzen zum Rätsellösen weist der Text nicht nur

190 Besonders, wenn es um die Konturierung der Titelfigur und dessen Bildung geht, finden Bücher als Quelle der Gelehrtheit Erwähnung (vgl. RvB, V. 15815–15821, AvT, V. 409, 671f., 16648, 16634–16636, 16663f.). 191 Das fesselnde Schriftstück Albedacus’ (vgl. AvT, V. 6964–7047), die heilsgeschichtlich aktiv werdende Bannschrift Savilôns (RvB, V.  213988–21439) oder aber das schwarzmagische Buch, das den Schwebezustand des letztgenannten zwischen Leben und Tod über physischen Kontakt aufrecht zu erhalten vermag (vgl. RvB, V. 21456–21685), demonstrieren eindrucksvoll das Potenzial von Schrift, nicht ,nur‘ zu übermitteln, sondern auch ohne gelesen zu werden, allein durch ihre Präsenz in der Welt, Einfluss auf die Realität auszuüben. All solche Phänomene, die Schrift in anderer Form nutzen, fallen hier aus der Untersuchung heraus (vgl. zu der Macht, die Schrift und Verschriftlichung hier auch ohne Rezeptionsvorgang zugesprochen wird, Röcke, Lektüren, S. 296–301; Strohschneider, Sternenschrift). Dass beide Texte eine solche Szene enthalten, verweist einerseits auf die Popularität solcher Phänomene in mittelhochdeutscher Literatur (vgl. Ernst, Schriftlichkeit, S. 305 sowie die Beispiele magischer Schrift in mittelhochdeutscher Literatur auf den Seiten 347–351, darunter der Schutzbrief im Wigalois, die schwarzmagischen Bücher im Liet von Troye und in Konrads Trojanerkrieg, der schriftgestützte Impotenzzauber in Die gute Frau, der ,Verführungsbrief‘ im Alexander Ulrichs von Etzenbach). Andererseits kann die Integration in die Texte als Indikator dafür gelten, dass auratische Fähigkeiten neben dem medialen Potenzial im zeitgenössischen Schriftdiskurs eine Rolle spielten. Herweg formuliert für den Reinfried von Braunschweig wie folgt: „Die buchstäblich alles entscheidende Rolle, die Bücher und Briefe im Kontext der Savilonmythe spielen, lässt ermessen, wie stark auch die noch immer

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als Weisheit, sondern auch als eine Kunst, eine bestimmte und geschulte Fertigkeit aus.192 Antiochius gibt sich in seiner Auseinandersetzung mit Apollonius zu Beginn der Erzählung mit der richtigen, den Inzest aufdeckenden Antwort Apollonius’ auf sein vermeintliches Braut- und Halslöserätsel nicht zufrieden, sondern schickt ihn mit der Aufgabe, binnen dreißig Tagen eine bessere Lösung zu finden, fort (vgl. AvT, V.  697–706). Kaum ist Apollonius an seinen Hof zurückgekehrt, sucht er sofort, satzehandt (AvT, V.  755), sein ritter puch (AvT, V. 756), liest nach und stellt fest, dass die gegebene Antwort das gestellte Rätsel bereits perfekt gelöst hatte (vgl. AvT, V.  757–760).193 Ihm scheinen Frage

mehrheitlich orale Laienkultur um 1300 einer nachgerade sakralen Wirksamkeit des Mediums Schrift vertraute“ (Herweg, Glücksspiel, S. 67). Zur ausführlicheren Kontextuierung sowie zur textimmanenten und rezeptionsästhetischen Bedeutung der hier genannten Phänomene im Apollonius und Reinfried s. Kap. 6.3.3. 192 Tarsia fordert unter der Voraussetzung, Apollonius verfüge über Kunstfertigkeit, zum Er­ raten ihres ersten Rätsels auf (Rat, herre, ist dir kunst pey, AvT, V.  16559); Apollonius gibt an, ihr von diser kunst genüg darzubieten (AvT, V.  16650), bevor er eines der Rätsel löst, bescheinigt seiner Tochter wiederum selbst nach dem dritten Rätsel: Dir ist der kunst gar ze vil (AvT, V.  16614). Antiochius wiederum fordert Apollonius auf [p]esser kunst (AvT, V.  697) aufzubringen, um sein Rätsel zu lösen. Dass diese Kunstfertigkeit über Schrift und lehrsame Texte entwickelt wird, scheint auf, wenn Apollonius als der puecher wol gelertt (AvT, V. 409) eingeführt wird. Apollonius beruft sich auch auf Buchwissen, wenn er wichtige Entscheidungen trifft. Als er von Albedacus hört, sein Plan, zu einem Turnier zu reiten, werde für ihn auch Anstrengungen bedeuten, entgegnet er mit Rekurs auf Bücher, dass Bequemlichkeit und Ehrerwerb nun einmal nicht zusammen passten (vgl. AvT, V. 6200–6212); die richtige Beantwortung der Rätselfrage des Antiochius’ begleitet die Bemerkung, er sei schließlich zu hoher schule gewesen/Und hett puecher vill gelesen (AvT, V. 671f.). Diesen Zusammenhang stellt Apollonius dann später erneut her, wenn er einer Antwort im Rätselwettstreit mit Tarsia voranschiebt: ich hab so hohe pucher gelesen (AvT, V. 16648). Auch Tarsia konstatiert nach Beantwortung der Hälfte ihrer Rätsel beeindruckt: ‘du pist geleret wol:/Hietestu nit hohe püch gelesen,/Du en mochst nit so synnig wesen (AvT, V. 16634– 16636) und verbindet somit ebenfalls Rätsellösekompetenz und die Rezeption gelehrter Bücher, wobei hier mit der abschließenden Bemerkung über Apollonius’ ,Synnigkeit‘ nicht eindeutig auf die konkrete Kenntnis der Rätsel, sondern auf die Fähigkeit, die Antwort zu erschließen, verwiesen wird, welche sich aus dem Umgang mit Büchern speist. Auch ihre anstachelnde Aussage, er bedürfe für die nächste Frage all sein Buchwissen (‘hastu püch ye gelesen,/Deß mustu yetzung durfftig wesen, AvT, V. 16663f.), unterfüttert die Annahme, der Text wolle vor allem betonen, dass Buchlektüre als solche die Fähigkeiten schule, die zur Beantwortung nötig sind. Rätsel­lösen wird als Kompetenz inszeniert, die dem Nachweis einer solchen Bildung dient. Das bestätigt sich im Rahmen der Tarsia-Rätsel auch dadurch, dass ihr letztes Rätsel Kenntnisse in Latein bzw. die Fähigkeit, lateinische Schrift zu lesen und zu verstehen, fordert (vgl. AvT, V. 16711–16726). 193 Schneider versteht diese Bezeichnung als ,Roman‘ (vgl. Schneider, Chiffren, S. 210). Dann würde den Ereignissen der Vorgeschichte ähnlich wie der Traumerzählung (s. Kap. 6.3.2) eine programmatische Bedeutung zukommen, indem sie Erzählliteratur zum Wissensspeicher und Lösungsweg bei aktuellen Fragestellungen macht.

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und Antwort schriftlich in seinen Büchern zur Verfügung zu stehen.194 Eine Herausforderung stellt die Überlieferung über Bücher und Schrift nicht dar. Die Bücher, die nebenbei im Rahmen des Nachschlagens Erwähnung finden und somit im Erzählprozess eine unauffällige Randerscheinung darstellen, speichern die Rätsel und ihre Antworten und machen der Figur ihren Abruf zu jeder Zeit möglich. Dass im selben Atemzug mit der außergewöhnlichen Klugheit des Helden schule (AvT, V. 617) und Bildung (glerert, AvT, V. 16634; gelerrt, AvT, V. 409) genannt werden, deutet zumindest an, dass die in Schriftform bewahrten Inhalte nicht voraussetzungsfrei zugänglich sind, sondern der Zugriff eine (institutionell verwaltete) Vorbildung – und damit verbunden ein Aktivwerden im Sinne der eigenen Ausbildung – erfordert. Da diese Hinweise auf Zugangshindernisse jedoch nur marginalen Raum im Text einnehmen, illustrieren die Rätselszenen in erster Linie die Funktionalität der Vermittlung und benennen innerhalb der Prozesse die schriftliche Niederlegung kultureller Weisheiten als elementare, jedoch an sich grundsätzlich unproblematische und etablierte Form der Transmission. Ebenso unkompliziert scheint Reinfrieds Zugang zu religiösem Wissen durch Bibellektüre in seiner Motivationsrede im Kampf gegen die ,Heiden‘. Ähnlich wie Apollonius erweist sich auch die Titelfigur dieses Textes mit eher beiläufigem Verweis auf die Schriftquellen seiner Expertise als belesen. Reinfrieds Rede erwähnt, wie Martschini feststellt,195 mehrmals die Heiligen Schriften als Grundlage seines religiösen ,Wissens‘. Seinen Kampf gegen die Andersgläubigen rechtfertigt er bspw. mit Verweis auf die Geschichte von Moses und Aaron, [a]ls uns diu buoch noch tuont bekant (RvB, V. 15815) bzw.

194 Es ist nicht eindeutig, ob es sich um dieselben wörtlichen Formulierungen handelt. Die Behauptung, Apollonius lese dort, dass der frag nit anders was/Dan als ir dort war gewesen/Da sie ze hoff ward gelesen (AvT, V. 758–760) legt durch die Erwähnung des Verlesens der Antwort eine wörtliche Identität der dort vorgetragenen und hier nachgelesenen Frage nahe, ebenso schließt sie aber nicht aus, dass die Hinweise, die Apollonius in seinen Büchern findet, ihm erlauben, seine Antwort durch Schlussfolgerungen zu verifizieren. Ob Apollonius’ Leistung darin besteht, spontan eine Lösung für dieses spezifische Rätsel bzw. diese spezifische Kombination an Rätselelementen zu finden, also richtig zu abstrahieren und zu kombinieren, oder aber darin, das Rätsel und seine Lösung zu kennen und im richtigen Moment das korrekte Frage-Antwortpaar abzurufen, wird auch angesichts dieser Tatsache nicht eindeutig, da nicht erwähnt wird, welche Denkprozesse bei ihm stattfinden. Der Text verlautbart lediglich, Apollonius erkenne durch seine Weisheit, in seiner kunst (AvT, V. 687), sofort die ganze Bedeutung dieser Frage (vgl. AvT, V. 685–688). 195 Vgl. Martschini, Schriftlichkeit, S. 272.

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 Wissenswert und erinnerungswürdig – Zeit

[…] als ich [Reinfried] hân von Abirôn und Dathân in der rihter buoch vernomen (RvB, V. 15819–15821)196

Dabei betont Reinfried, dass die Bibel all diese zurückliegenden Ereignisse noch seit (RvB, V. 15916), also noch immer verkündet. Der Schrift attestiert er in dieser Vorstellung der Bibel als Wissensspeicher197 beiläufig das Potenzial, Informationen vom Anbeginn der Welt bis zum heutigen Tag weiterzutragen. Diese immense Transmissionsmöglichkeit schreibt die Hauptfigur Schrift fast selbstverständlich zu. Auch diese Aussagen sind nicht darauf gerichtet, die Medialität und die mediale Leistung von Schrift darzustellen, sondern nutzen in erster Linie die Autorität von Schrift. Auf Grundlage der in den Beispielen illustrierten Selbstverständlichkeit, mit der schriftliche Überlieferung rezipiert wird, ist es auch kaum verwunderlich, dass die Szenen im Reinfried, die Figuren vor die Herausforderung der Transmission einer konkreten Information stellen, sich unhinterfragt und unproblematisiert Schrift bedienen. So passiert es bspw. in der Hintergrunderzählung bei der Konfrontation der Helden und des Publikums mit den unterschiedlichen Monstern in den Heeren der Könige von Aschalon und von Assyrien. Es handelt sich dabei um eine der wenigen Textpassagen, die sowohl vom Fixierungsprozess als auch von der Rezeption des Fixierten berichten. Die Reisenden beobachten, dass in beiden Heeren wunderbare Wesen kämpfen (vgl. RvB, V. 19286–19424). Ez ist erlogen und niht wâr (RvB, V. 19657), klagt ein imaginärer Rezipient, als dieser von den zahlreichen mitwirkenden Wunderwesen hört.198 Daraufhin schickt sich die Erzählinstanz an, die Zweifel zu

196 Weitere Erwähnungen der biblischen Schrift oder des Lesens in dieser Rede s.  RvB, V. 15868f., 15896, 15904f. Zusammengetragen werden diese Textstellen bei Martschini, Schriftlichkeit, S. 272f. 197 So heißt es: dâ vint man sunder valschen wân/alliu dinc geschriben an,/wie diu welt êrst ane vienc,/waz got wunders ie begienc, /war umbe wenne und wâ von,/und wie wunderlîchen kon/diu welt ist von êren (RvB, V. 15917–15923). 198 Vögel fasst das Monsterarsenal, das in dieser Passage aufgeführt wird, inklusive kleiner Erläuterungen zusammen. Auf Seite des Königs Aschalôn befinden sich Mohren, einbeinige Kyklopen, Akephale (die der Tradition des Alexanderromans entsprechen), Menschen mit Widderhörnern und Kynokephale, im Heer des Königs von Assyrien befinden sich Skiapoden, Kranichschnäbler, Panotier und Amazonen, die ein gehörntes Volk mit sich führen; der König von Tatten führt ein Volk mit, das nur ein Auge sowie nur ein Bein besitzt, dabei aber besonders schnell ist (hierbei handelt es sich um eine gelehrte Verwechslung des Monocoli – Einschenkler – mit dem Monoculi – Einäugiger– oder ihre kreative Kombination), Hundsköpfige und Bogenschützen mit übergroßen Ohren (vgl. Vögel, Naturkundliches, S. 73–79).

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zerstreuen (vgl. RvB, V. 19684f.) und die Wahrheit seines Berichts und die Existenz der traditionsreichen monströsen Wesen199 mit einem Exkurs über ihren Ursprung zu unterfüttern.200 Die Erklärungsmuster sind allesamt typisch für das dreizehnte Jahrhundert;201 in der am ausführlichsten auserzählten, ,salomonischen‘ Lösung der Monsterproblematik durch Rückführung auf die göttliche Schöpfung202 spielt schriftliche Übermittlung eine große Rolle. Transmission erweist sich auch dabei zunächst als planbares Geschehen, schriftgestützte Mittler als unproblematisch. Dennoch kehrt die Passage Schwierigkeiten von Transmission über eine besonders große und bewahrungsfeindliche Zeitspanne hervor. Der erste Mensch – Adam – habe seine umfangreichen Kenntnisse zunächst mündlich an seine Nachfahren weitergegeben (vgl. RvB, V.  19732f.) und diese gebeten, für deren Fortbestand Sorge zu tragen (vgl. RvB, V.  19733f.). In dieser Form scheint die Weitergabe der Informationen jedoch angesichts eines spezifischen Inhalts der Überlieferung nicht gesichert. Von Adam wissen die Weisen nämlich, dass got wolt alle menscheit und alle crêâtiure

199 Die Beschreibung monströser Völker, wie sie hier im Reinfried vorkommt, gehört, wie Vögel berichtet, zu einem festen Bestandteil der mittelalterlichen Naturkunde, die sich – zumindest in diesem Punkt – aus Erzählungen und ikonographischen Traditionen der griechischen Antike oder antiker Stoffe wie dem um Alexander den Großen speist (vgl. hier S. 70). 200 Das Interesse an diesen Wesen ist somit ausgeprägt, enthält der Text doch nicht nur eine Beschreibung der Völker und ihrer physischen Andersartigkeiten (vgl. RvB, V. 19292–19424, 19630– 19647), die zwar für jedes einzelnen Wesen knapp (vgl. Vögel, Naturkundliches, S. 79), insgesamt jedoch recht umfangreich ausfällt und in der Aneinanderreihung der exotischen Merkmale vom Faszinationspotenzial der fremden Wesen zeugt, sondern auch einen naturwissenschaftlich anmutenden Exkurs über Monster (vgl. RvB, V. 19683–19921) und einen historischen Exkurs über die Geschichte des Amazonenvolks (vgl. RvB, V. 19427–19626). 201 Vgl. zur Problematik, die Existenz der Wundervölker in Einklang mit dem christlichen Glauben zu bringen Vögel, Naturkundliches, S. 79–90; Röcke, Lektüren, S. 294. S. zu unterschiedlichen Erklärungsansätzen auch Simek, Rudolf: Monster im Mittelalter. Die phantastische Welt der Wundervölker und Fabelwesen, Köln 2015, S.  140–144; Wunderlich, Werner: Dämonen, Monster, Fabelwesen. Eine kleine Einführung in Mythen und Typen phantastischer Geschöpfe. In: Dämonen, Monster, Fabelwesen. Hrsg. von Ulrich Müller und dems., St. Gallen 1999 (Mittelalter-Mythen 2), S. 11–38, hier S. 25–27; Wittkower, Rudolf: Marvels of the East. A Study in the History of Monsters. In: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 5 (1942), S. 159–197, hier S. 159–171. 202 Diese wird auch wirkmächtig bei Augustinus in Betracht gezogen (vgl. Vögel, Naturkundliches, S. 80).

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 Wissenswert und erinnerungswürdig – Zeit

mit wazzer ald mit fiure verderben unde tœten. (RvB, V. 19752–19755)

Die Fortführung des mündlichen Übermittlungsweges ist somit gefährdet, und es muss eine Form gefunden werden, in der die relevanten Informationen die durch die Naturgewalten bedingte Lücke der mündlichen Überlieferung zu überdauern vermögen. In dem folgenden Verfahren bestätigt sich der bereits herausgearbeitete Eindruck, Schrift sei ein effektives, problemloses Mittel dieses Übermittlungsvorhabens, für deren spezifischen Herausforderungen in der Transmission kein ausgeprägtes Textinteresse zu beobachten ist. So diskutieren die Weisen nicht darüber, wie die Bestände weitergegeben werden sollen. Schrift scheint die einzig plau­sible Wahl zu sein und muss daher gar nicht erst argumentativ begründet werden. Dabei ist keinerlei Sensibilität für die Wandelbarkeit von Sprache und Schriftsystemen zu identifizieren. So ist es dann später auch problemlos möglich, die niedergeschriebene Zeichenfolge zu lesen. Die Transmission ist durchweg erfolgreich: [D]ô die sintfluot zergie (RvB, V. 19828), hunderte Jahre nach Adam,203 finden die Menschen an den selben siulen hie (RvB, V. 19827) jene vorsintflutlichen Informationsbestände. Wie genau die Rekonstruktion der fixierten Inhalte funktioniert, stellt die Exkurserzählung nicht dar.204 Als He­rausforderung präsentiert sie vielmehr die Materialwahl.205 Denn die Schrift muss laut Vorhersage Feuersbrünste und Sintfluten überstehen. Den Anfechtungen durch Feuer und Wasser tragen die Weisen Rechnung, indem sie diese Naturgewalten in der Wahl ihres Materials, über das sie das ,Wissen‘ in der Welt halten wollen, berücksichtigen. Sît daz diu welt ein ende nimt/mit wazzer ald mit fiure (RvB, V. 19778f.), fertigen sie zwô siule (RvB, V. 19781) mit meisterlîhen sachen (RvB, V. 19782), schôn

203 Berechnungen über die zeitlichen Abstände zwischen Adam und der Sintflut sind hier für eine genaue Bestimmung nicht relevant, da die Fixierung weder in der Darstellung im Reinfried datiert wird noch in der Bibel Erwähnung findet. 204 Die sich stellenden Fragen, ob bspw. beide Säulen vollständig oder nur beschädigt aus der Sintflut hervorgehen, ob daher kombiniert und ergänzt werden muss oder einfach abgelesen werden kann, und auch, wie genau das konkrete ,Wissen‘ über die Kräuter, die zur Monstergeburt führen, formuliert sind, spielen keine Rolle in der Darstellung. Martschini argumentiert rein logisch, dass die Lehmsäule durch die Wassermassen zerstört worden sein müsste, weist aber darauf hin, dass die Erzählinstanz auch nach der Sintflut im Plural von den Säulen berichtet (vgl. RvB, V. 19827; vgl. Martschini, Schriftlichkeit, S. 368). 205 Mazal betont in seiner Geschichte der Printmedien, dass Im Verlauf der Geschichte der Menschheit zahlreiche Materialien wie Fels und Stein, Marmor, Holz, Rinde, Bast, Ton, Wachs, Metall, Scherben, Leder, Leinen, Knochen und dickblättrige Pflanzen zur Anbringung von Schrift verwendet wurden (vgl. Mazal, Geschichte, S. 439).

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(RvB, V.  19790) und mit hôher künste (RvB, V.  19791) aus widerstandsfähigem Material.206 Da keines zur Verfügung steht, das gegenüber beiden Zerstörungsmechanismen resistent ist,207 wird die Überlieferung durch die zwei Säulen gedoppelt.208 Eine Säule besteht aus wasserresistentem Marmor (vgl. RvB, V. 19784f.), die andere aus gebranntem Lehm (vgl. RvB, V. 19786–19788). In diese Beständigkeit versprechenden Säulen lassen sie ihre Weisheiten einschreiben (vgl. RvB, V. 19790–19793, 19821).209 Mittel des Überdauerns ist die Manipulation eines Materials, das auch unter extremen Einwirkungen seine Form bewahrt, in einer Weise, die es sprechen macht. Wie es spricht, ist nicht von Bedeutung, sondern dass es darin erfolgreich ist. Eine ähnliche Feststellung lässt sich für die Säule des Herakles, von der ebenfalls der Reinfried berichtet, machen. Das Monument kommt zur Sprache, als der Herr aus Ejulat, der geschworen hatte, alliu lant [zu] durvarn (RvB, V.  21844), von seinen Abenteuern berichtet (s. Anm. 5/34). Er bereist die Welt und kommt schließlich an ihr Ende.210 Die Erzählinstanz setzt an dieser Stelle zu einem kurzen Exkurs über Herakles an. Bei dessen Vorhaben, auf dem Meerweg das Ende der Welt zu suchen (vgl. RvB, V.  21899–21902), sei jener schließlich an den Punkt gekommen, an dem er sach daz wol und wart gewar, dass er niht fürbaz mohte

206 Das kulturelle ,Wissen‘ ist in dieser Episode eindeutig an materielle Voraussetzungen geknüpft (vgl. Röcke, Kulturelles Gedächtnis, S. 287). 207 Stein, ob seiner materiellen Eignung zur Informationstransmission ein häufig genannter Beschreibstoff der höfischen Erzählliteratur (vgl. Martschini, Schriftlichkeit, S.  293), kommt offenbar nicht infrage. 208 Sie scheuen im Hinblick auf die Gewaltigkeit dieser Anfechtungen keine Kosten (vgl. RvB, V. 19780), um ihr Wissen diese überstehen zu lassen. Wissensbestände werden als äußerst kostbar gekennzeichnet. Letzteres zeigt sich nicht nur anhand der zum Teil kostspieligen Materialen, die im Dienste der Transmission beschafft und verarbeitet werden, sondern auch darin, dass mit einer bestimmten Sorgfalt und Kunstfertigkeit an die Aufgabe herangegangen wird. Diesen Eindruck vermittelt der Kommentar der Erzählerinstanz, der dazu auffordert, sich dankbar gegenüber diesen weisen Männern zu zeigen, da das durch sie Übermittelte auch den Wissensschatz der ,Jetzt-Zeit‘ noch maßgeblich begründe: dar umbe sagen lobes danc/daz sî unser sinne kranc/ mit irre kunst bedâhten./die diul sî vollebrâhten/mit durgrabener geschrifte,/daz man mit wârer trifte/hât an diesen stunden/alle künste funden/der sî wîlent pflâgen (RvB, V. 19817–19825). Die Erzählinstanz unterstreicht die Güte dieses Vorgehens damit, dass sie anmerkt, dieses Vorgehen beweise eine mittlerweile unübliche Treue gegenüber der und Vertrauen in die Nachkommenschaft (vgl. RvB, V. 19804–19815). 209 Es fällt dabei auch wieder das für Inschriften übliche Verb ergraben (vgl. RvB, V. 19790). 210 Zunächst wird nur beschrieben, dass der Entdecker weit auf das Meer hinaus fährt, dann wird die Außergewöhnlichkeit der dortigen Umgebung markiert, um schließlich mit einem direkten Verweis auf das Ende der Welt zu vereindeutigen, wo der Herr aus Ejulat sich befindet (vgl. RvB, V. 21882–21893).

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komen (RvB, V.  21904f.). An diesen Punkt habe er ins Meer eine Säule gesetzt und dort etwas mit schrifte (RvB, V. 21907) eingetragen. Der Reinfried greift damit auf eine bekannte antike Sage zurück,211 zitiert diese aber nicht nur an, sondern stattet die Geschichte mit Details zur Säule – sie ist im Reinfried aus Erlenholz gefertigt (erlîn siul, RvB, V. 21907)212 – aus und motiviert das Verhalten des Helden.

211 Die Säulen des Herakles (Herculis Columnae) bezeichnen eigentlich die Meerenge von Gibraltar, die durch die Vorgebirge der jeweiligen Landzungen gebildet wird: „Die Phönizier, welche die Meerenge auf ihren Entdeckungsfahrten um 1100 v. Chr. erreichten, benannten die das Mittelmeer begrenzenden Vorgebirge nach ihrem Sonnengott Melfart, den die Griechen ihrem Herakles gleichsetzen“ (Meyers Großes Konversations-Lexikon Band 17, Leipzig 1909, S.  640). Zur überwiegend festen Platzierung an der Meerenge von Gibraltar, aber auch zu den späteren Verschiebungen s. Nesselrath, Heinz-Günther: Die Säulen des Herakles – eine mythische Landmarke und ihre Bedeutung in der Klassischen Antike. In: Jahrbuch der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen (2009), S.  226–232. In der mittelhochdeutschen Literatur finden sie außerdem Erwähnung im späteren Alexander des Seifrit im Rahmen der Paradiesepisode (vgl. Hofer 2015, S. 119). Ausführliche Informationen zum Mythos der Herakles-Säulen in der antiken Literatur und der unterschiedlichen Verortung der Säulen liefert Nesselrath, Säulen. Bezüglich der ersten literarischen Überlieferungen äußert er sich wie folgt: „In Herodots – wahrscheinlich zwischen 435 und 425 v. Chr. entstandenem – Werk erscheinen die ,Säulen des Herakles‘ insgesamt elfmal; nirgends gibt es Hinweise, dass sie nicht in der Gegend von Gibraltar liegen. Die erste einigermaßen sichere Bezeugung dieser Säulen findet sich ein Dreivierteljahrhundert früher in zwei Fragmenten der Erdbeschreibung des Hekataios von Milet (FGrHist 1 F 39 u. 41), und auch dort stehen diese Säulen am westlichen Ende des Mittelmeeres. Ihren ersten großen Auftritt in der griechischen Literaturgeschichte aber haben die ,Säulen des Herakles‘ in den uns noch erhaltenen Gedichten Pindars, und zwar wahrscheinlich in den Jahren 476 bis 474 entstandenen Chorliedern auf siegreiche griechische Athleten (Pindar, Ol. 3,41–44; Nem. 3,20–23; Isthm. 4,11–14). In allen drei Fällen sind die Säulen des Herakles ein Bild für das äußerste Maß an Glück und Leistung das ein Mensch durch einen persönlichen Erfolg erreichen kann, ein Punkt, über den hinaus ein Mensch nicht streben kann und auch nicht darf“ (hier S. 227). S. zur Figur des Herakles in der mittelhochdeutschen Literatur Kern, Manfred: ,Hercules‘. In: Lexikon der antiken Gestalten in der Literatur des Mittelalters. Hrsg. von dems./Alfred Ebenbauer, unter Mitwirkung von Silvia Krämer-Seifert, Berlin, New York 2003, S. 294–298. Laut der dortigen Aufstellung, kommt das Motiv der Säulen des Herakles außerdem im Prosalancelot II (79,32), im Lohengrin (215) und im Wartburgkrieg (Rätselspiel 25,5) vor (vgl. hier S. 295–297). 212 Zur Übersetzung s. Henning 2007, S. 81 sowie http://woerterbuchnetz.de/cgi-bin/WBNetz/ wbgui_py?sigle=Lexer&mode=Vernetzung&lemid=LE02287#XLE02287 (21. Februar 2019). Das Material scheint zunächst wenig geeignet, um Dauerhaftigkeit zu garantieren. Erlenholz ist „wenig fest und auch wenig elastisch“ sowie „wenig dauerhaft“. Es scheint gerade nicht prä­ destiniert, um das Überdauern einer Botschaft zu garantieren. Allerdings lässt es aufgrund dieser Eigenschaften auch recht problemlos zu, dass der Entdecker sich in das Material einschreibt. Außerdem ist es wohl gegenüber Wasser recht stabil: „Der Witterung ausgesetzt oder bei Kontakt mit der Erde ist es wenig dauerhaft, zeigt aber unter Wasser verbaut eine ähnlich hohe Dauerhaftigkeit wie Eichenholz“ (https://de.wikipedia.org/wiki/Erlenholz, gesehen [21.  Februar

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Es interessiert den Text hingegen nicht, was genau er in der Säule zurücklässt bzw. ob die Säule und ihre Gravur in der Textwelt eine gewisse Zeit überdauern. Nicht der Herr aus Ejulat berichtet davon, diese Säule gesehen zu haben, die Erzählinstanz schiebt die Erzählung über Herakles und seine Säule ein (vgl. RvB, V.  21804–21911), um zu beschreiben, wie weit der an den Magnetberg gespülte Reisende bereits gekommen ist. Die Säule erscheint also weniger in der Textwelt als im Kosmos der Erzählinstanz als Überlieferungsträger. Die Welten des Apollonius von Tyrland und des Reinfried von Braunschweig vertrauen ihre Erkenntnisse Schrift an, legen ihr ,Wissen‘ in Bücher und gravieren es in beständige Materialien. Eine größere Rolle spielt das Ein- und Aufschreiben in beiden Texten allerdings weder im Rahmen der Handlung noch in erzählerischer Hinsicht. Auch wenn die Szenen Aspekte von schriftlicher Transmission ansprechen, so liegt ihr Fokus doch darauf, einen Zusammenhang zu erläutern und nicht, mediale Vorgänge und ihre Herausforderungen zu demonstrieren. Die Praxis ist etabliert und bereitet den Figuren keinerlei Probleme bzw. unterschlägt, ähnlich wie bereits im Hinblick auf Briefeinlagen bemerkt (vgl. Kap. 4.5), denkbare Schwierigkeiten von Schriftüberlieferung. Schrift wird wie auch in anderen Texten als funktionale mediale Formatierung zur Stabilisierung präsentiert.213 Allein in der Magnetbergepisode, für die Schriftüberlieferung in unterschiedlichen Formen eine bedeutsame Rolle spielt, zeigt der Reinfried von Braunschweig das Bestreben, die Gestaltung der Fixierung wiederzugeben und diese Transmissionsform auszugestalten. Die schwarzmagischen Bücher, die Savilôn in seiner Festungsanlage versteckt, werden in der beschriebenen Art und Weise als effek-

2019]), wie das Buch der Natur bestätigt: Das erlein holtz, alſo gruͤ nes in wazzer gelegt, gefaulet gar langev iar nuͤ mmer, vnd darvmb ſleht man pfeiler in die mozigen ſtet auz derlay holtz vnd pawet dar auf tuͤ rn, maur vnd andrev werch (Konrad von Megenberg: Das ›Buch der Natur‹. Bd II Kritischer Text nach den Handschriften. Hrsg. von Robert Luff/Georg Steer, Tübingen 2003 [Texte und Textgeschichte 54], Buch IV.A.6, S. 345; bei weiterer Erwähnung als Buch der Natur). Das Lexikon des Mittelalters führt keine Hinweise auf die besondere Eignung, außer der Tatsache, dass Erlen offenbar gut in überschwemmten Gebieten gedeihen (vgl. Willerding, U.: Nadelund Laubhölzer. In: Lexikon des Mittelalters Bd. 6 Lukasbilder–Plantagenêt, München, Zürich 1993, Sp. 1002–1004, hier Sp. 1002). 213 Meyer hält im Abschluss seiner stichprobenartigen Lektüre verschiedener intradiegetischer Inszenierungen von Schriftlichkeit in Texten des dreizehnten Jahrhunderts fest, dass sich in den narrativen Texten spiegle, wie Schriftlichkeit sich als Leitform der Literatur immer stärker durchsetze (Meyer, Briefe, S. 31). „Dass das Christentum als Schriftreligion einen hohen Anteil an diesem Prozess hat, ist eigentlich eine Plattitüde. Wichtiger erscheint mir, dass dieser Prozess am Ende des 13. Jahrhunderts so weit gediehen ist, dass Schriftlichkeit als Wissensspeicher auf jeden Fall positiv ist – egal ob christlich oder unchristlich, und egal, wo die Bücher liegen“ (hier S. 32).

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tiver und problemlos nutzbarer Informationsspeicher für den 1200 Jahre später eintreffenden Vergil genannt. Savilôn nutzt für seine Zwecke nigranmanzîe buoch (RvB, V. 21464), in denen – wie wenig später durch einen Geist zu erfahren ist – aller tiuvel fluoch/meisterlîchen stât geschriben (RvB, V. 21632f.). Vergil kann die Bücher schließlich an sich nehmen und nutzt sie problemlos als Quell schwarzmagischen Wissens, denn der werde helt Virgilîus, dâ nâch […] gewaltic wart der künste ûf der selben vart (RvB, V. 21692–21694)

Anhand dieses Phänomens legt auch diese Szene den Fokus nicht auf die He­rausforderung der schriftlichen Übermittlung oder aber ihre besondere Form. Doch als es um das Buch geht, das die Geschichte des Magnetbergs, Savilôns und Vergils enthält und das Reinfried und sein persischer Begleiter auf ihrer Reise zu den Ruinen der einstigen Festung lesen, gewinnt kurzzeitig eine Pro­blematik schriftsprachlicher Transmission Aufmerksamkeit. Dem Grabmal Sa­ vilôns, welches die Identität des Toten klärt, dessen Herkunft und Ableben übermittelt (vgl. RvB, V. 21286–21289; s. Kap. 5.3.2), wird ein mit einer Kette am Sarg befestigtes buoche (RvB, V. 21295) zur Seite gestellt, das die Informationen zu Savilôn anreichert. Darin ist zu erfahren wie von Savilône der stein von êrst gebûwen wart, wan er was, von weler art, war umb ald wie er har bekan, (RvB, V. 21290–21293)

Es handelt sich um eine Art Chronik dieses Ortes.214 Während also die erinnerungswürdigen Informationen bezüglich des Verstorbenen Platz auf dem Sarg finden, werden die wissenswerten Informationen über den Schauplatz in einem Buch fixiert. In medientheoretischer Hinsicht ist diese Passage besonders aussagekräftig, da hier nicht nur über Schrift eine physische Verbindung zu den heilsgeschichtlich relevanten Ereignissen hergestellt wird,215 die in der Größe der überdauerten

214 So Neudeck, Continuum historale, S. 176. 215 Vgl. Vögel, der auf das Geflecht heilsgeschichtlicher Verweise aufmerksam macht, in die die Expedition zum Magnetberg verwoben ist (vgl. Vögel, Naturkundliches, S. 99). Er spricht von Präsenzmachung der zentralen Heilsereignisse (vgl. hier S. 95) und betont damit die Nivellierung

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Zeitspanne das immense Transmissionspotential von Schrift vor Augen führt. Die spezifische Konfiguration der Schrift versucht auch sicherzustellen, dass jeder, der an diesen Ort gelangt – und das ist nicht selbstverständlich, sondern eine Herausforderung für sich216 – auch Zugang zu der in ihr codierten Geschichte erhält. Das Buch, welches durch seine Position im merkwürdigen Ensemble der Grabhöhle zum Versuch einer Lektüre anregt,217 ist nämlich […] alsô geschriben […] daz ez menneclîch wol las von aller sprâche zungen. (RvB, V. 21303–21305)

In dieser kurzen Bemerkung reflektiert der Reinfried die Problematik, dass derjenige, der das Buch in Auftrag gibt (ein ,Grieche‘) eine andere Sprache spricht und andere Schriftzeichen kennt, als die späteren Empfänger (in diesem Falle ein ,Deutscher‘ und ein ,Perser‘). Er macht damit explizit auf eine Schwierigkeit von Transmissionsprozessen über die Form der Schrift aufmerksam. Obwohl sie Dauerhaftigkeit garantieren kann, ist es ihr angesichts der Vielfalt und der Veränderbarkeit von Sprache und Schrift kaum möglich, auch die Rezipierbarkeit des Geschriebenen mit Sicherheit zu ermöglichen. In diesem Falle besteht die Lösung in der übernatürlichen Macht, die das Grabmal und das Buch bzw. die Mirabile218 gestaltet hat. Die Schrift wandelt sich

der verstrichenen Zeitspanne in der Lektüre der Geschehnisse. Herweg propagiert, dass der Codex von Savilôn begonnen und von Vergil weitergeführt worden sei (explizit wird das im Text nicht) und somit über die Schrift zwei welthistorische Epochen (jüdisch-römisch) verbunden würden (vgl. Herweg, Glücksspiel, S. 65; s. zur Beständigkeit auch Martschini, Schriftlichkeit, S. 364–370). Mit der Lektüre durch Reinfried ließe sich noch eine dritte, christliche Epoche als über den Schriftträger mit den anderen Epochen verknüpft betrachten. 216 Das veranschaulicht der Weg der beiden Reisenden: Nur mithilfe eines Krautes, das ihnen die Amazonen aus Dankbarkeit für ihre Verschonung in kriegerischer Auseinandersetzung schenken, kann ein Schiff gebaut werden, das keinen Nagel enthält, also eisenlos und damit vor der Anziehungskraft des Magnetberges gefeit ist (vgl. RvB, V. 20804–20836; das Zimmern eisenloser Schiffe, um der Anziehung des Magnetberges zu entgehen, ist bereits in der AlexanderromanTradition verankert [vgl. Vögel, Naturkundliches, S. 97], die heilsgeschichtliche Anbindung an die Geschichte Salomons ist im Reinfried jedoch auffällig und ungewöhnlich [vgl. hier S. 98f.; vgl. dort die Anm. 235 zu den Hintergründen der dort präsentierten Salomon-Geschichte]). 217 Vgl. zum Anziehungspotenzial der Grabhöhle Kap.  5.3.2. sowie RvB, V.  21269–21279; zum Grabensemble vgl. RvB, V. 21282–21299. 218 Als eine solche bezeichnet Ernst auch die Inschrift im Apfel in Konrads von Würzburg Trojanerkrieg, welche ebenso jedem Leser in seiner eigenen Sprache erscheint (vgl. Ernst, Schriftlichkeit, S. 299; s. die Textstelle bei Konrad von Würzburg: Trojanerkrieg. Und die anonym

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so, dass sie jeweils denselben inhaltlichen Gehalt in dem dem Rezipienten vertrauten Schriftsystem wiedergibt. Die Konfiguration der Schrift illustriert den Traum eines sich den jeweiligen Lesefähigkeiten des Schriftrezipienten anpassenden Zeichensystems – stellt eine fern jeglicher realweltlicher Möglichkeiten liegende Imagination dar, die dem Bedürfnis nach Übersetzung ohne Zeitverzögerung und semantischen Verlust entspringt. Der Gehalt ist gerade deshalb statisch und solide,219 weil die Schriftzeichen es nicht sind, sondern sich den jeweiligen Kompetenzen des/der Lesers/Leserin anpassen. Die Schrift fängt in diesem Falle eine Unbekannte der Gleichung bei der Kommunikation ins Offene auf bzw. eliminiert diese vollständig. Der Sinn wohnt dem Text ontologisch inne und ist nicht auf Übersetzung angewiesen.220 Die Irrealität und Wunderhaftigkeit dieser Vorstellung einer Universalsprache, im christlich-religiösen Sinne nicht unproblematisch,221 wird nicht explizit erwähnt, aber eindeutig markiert – nicht von ungefähr ist der Text Bestandteil eines von Geistern gestalteten Grabmals eines Schwarzmagiers. Über dieses Phantasma einer sich stets zur Rezeptionssprache wandelnden Zauberschrift hinaus gewährt diese Passage auch als einzige einen Blick auf den Inhalt eines zur Transmission verfertigten Textes. Die Erzählung lässt den Textrezipienten selbst den Inhalt des Buches ,lesen‘, denn die Erzählinstanz erklärt sich bereit, all die wunderlîche[][n] wunder (RvB, V. 21309), die die Fürsten darin geschrieben finden (vgl. RvB, V. 21308f.), nachzuerzählen (vgl. RvB, V. 21310–21313). Es entspinnt sich eine Binnenerzählung von 375 Versen (vgl. RvB,

überlieferte Fortsetzung. Kritische Ausg. Hrsg. von Heinz Thoelen/Bianca Häberlein, Wiesbaden 2015 [Wissensliteratur im Mittelalter 51], V. 1472–1481). 219 Auch wenn Neudeck wegen des Scheiterns Savilôns (s. Kap. 6.3.3) die Szene nicht zu Unrecht als Demonstration der menschlichen Begrenztheit in zeitlicher und räumlicher Hinsicht begreift (vgl. Neudeck, Continuum historale, S. 169), so muss festgehalten werden, dass die zeitlichen und räumlichen Grenzen der Vermittlung durch das Festhalten in der Zauberschrift doch weit ausgedehnt werden. Dass Reinfried und der Perserkönig von Savilôns Geschichte erfahren, beweist dass die Transmission dieses ,Wissens‘ erfolgreich ist – auch wenn vom Scheitern an bestimmten Grenzen erzählt wird. 220 Vgl. Strohschneider, Sternenschrift, S. 46, der diese Schrift gar nicht mehr als mediale Form begreift. 221 So bemerkt Meyer. Dieser Form der Sprachmagie hafte – so wunderbar und utopisch im positiven Sinne sie erscheinen möge, etwas ,Heidnisches‘ an. Durch sie werde die babylonische Sprachverwirrung und damit ein Werk Gottes rückgängig gemacht (vgl. Meyer, Briefe, S.  28). Martschini stellt hingegen gerade eine Verbindung zu einem christlich-religiösen Ereignis – dem Pfingstwunder – her, das als Gottes Werk die Wirkung der Aufhebung der Sprachverwirrung hat (vgl. Martschini, Schriftlichkeit, S. 367).

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V.  21314–21699), die den Magnetberg heilsgeschichtlich verortet222 und anhand der die Struktur des Vermittelten einerseits, die Markierung des Wissenswerten durch die Anordnung der Informationen andererseits nachzuvollziehen ist. Als Schwerpunkt der Darstellung erweist sich dabei die Möglichkeit, Informationen nicht nur sicher, sondern rhetorisch-strategisch konzipiert (s. die Kap. 4.3) und damit faszinierend und ansprechend aufzubereiten, um die Rezeption und Einprägung anzuregen. Die Faszinationskraft können die RezipientInnen einerseits an dem lesenden Protagonisten und seinem Freund beobachten, die über daz buoch […] sâzen (RvB, V. 21302) und mit der Lektüre ein lange zît vertriben (RvB, V. 21307), andererseits können sie diese im Nachvollzug des Niedergeschriebenen selbst nachempfinden. So eröffnet die mediale Form, mit der die Helden sich auseinandersetzen, die Möglichkeit für einen erzählerischen Exkurs, der nicht nur Hintergrundinformationen zum Schauplatz der Handlung liefert, sondern auch zeigt, wie Informationen unterhaltsam und anregend überliefert werden können. Ohne die Erzählung im Detail nachzuerzählen, sollen hier die grundsätzlichen Strategien, nach der diese gestaltet ist, herausgearbeitet werden, sind sie doch als Kommentar zum Transmissionspotenzial des durch Schrift ermöglichten Erzählens zu verstehen. Nach der Einstimmung auf wunderlîche[] wunder vil (RvB, V.  21309) setzt der Text bei der ausführlichen Beschreibung einer Figur an, die als griechischer Fürst edler Abstammung, beeindruckender Schönheit und ausgeprägter Talente eingeführt (vgl. RvB, V.  21314–21325) und schließlich über den Namen mit dem auf dem Magnetberg begrabenen Schwarzmagier identifiziert (er was geheißen

222 Herweg nimmt an, dass der Adressat des Buches primär der/die RezipientIn, der/die über Zeit, Zufall und Bestimmung unterrichtet werde, ist (vgl. Herweg, Glücksspiel, S. 66). Wie genau der Text lautet, ist der Erzählung dann allerdings nicht zu entnehmen, da die Erzählinstanz in eigenen Worten darstellt. Sie kündigt zwar an, von anegenge unz ûf ein ort (RvB, V.  21311) berichten zu wollen, und wie ez stuont geschriben dort (RvB, V. 21312), ganz vollständig (volleclîch, RvB, V. 21313) den Inhalt des Buches wiederzugeben, scheint dann aber doch eigenständig zu formulieren. Abgesehen davon, dass kein Wandel des Erzählstils zu bemerken ist, weder Vergil noch die Geister, die das Buch verfertigt haben sollen, als Sprecher-Ich auftreten, fällt auf, dass die Erzählinstanz die Handlung kommentiert. Zu Savilôns Vorhaben äußert sie sich: der künste rîche tôre/wânde got betwingen/an sô hôhen dingen/diu man mit keinen dachen/mohte wendigc machen,/sô eht kan diu rehte zît (RvB, V. 21512–21517) und führt in den darauffolgenden Versen die nicht zu brechende Macht Gottes aus (vgl. RvB, V. 21518–21528). Zur Zeit der Abfassung durch den ,Heiden‘ Vergil ist diese Allmacht noch kein Allgemeingut. Der kurze Exkurs passt vielmehr zu der belehrenden Art der dominanten Rolle, die die Erzählinstanz durchweg annimmt (vgl. dazu allgemein Ridder, Ästhetisierte Erinnerung).

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Savilôn, RvB, V.  21326) wird.223 Durch die Konfrontation des augenscheinlichen Endes Savilôns mit Informationen über seine Herkunft entsteht ein Spannungsbogen, der die Erzählung von nun an bestimmt. Denn der Eingang der Erzählung wirft die Frage auf, wie ein durch und durch vorbildlicher junger Fürst zu einem einsamen Ende auf dem festungsartigen Magnetberg gekommen ist. Die Vermittlung der historischen Zusammenhänge an dem rätselhaften Ort entfaltet sich in einem Narrativ, das mit der Anbindung an die Realität der Lesenden einen hohen Unterhaltungswert verspricht. Nach und nach liefert die Erzählung nun Hinweise, die die so unvereinbar wirkenden Eindrücke zu verknüpfen vermögen. Zunächst berichtet das Buch von der Besessenheit des Jungen von astronomischem ,Wissen‘.224 Aus diesem ergeben sich schrittweise Savilôns Rückzug, seine Abschottung und sein Einsiedlerleben auf dem zur Verteidigungsfestung ausgebauten Magnetberg (vgl. RvB, V.  21344–21453; s.  auch Kap.  6.3.3). Die Frage nach dem Fortgang von Savilôns Geschichte bleibt dann zunächst offen und generiert damit Aufmerksamkeit. Der Text arbeitet sich langsam an die Erklärung des vorgefundenen Zustandes heran. Die Anbindung an die Erlebnisse der Lesenden wird wiederholt, wenn davon berichtet wird, wie Savilôn mit Zauberkraft (vgl. RvB, V. 21440) das Eisentor und die bedrohlichen Statuen hervorbringt, die auch Reinfried und der Perser gesehen hatten (vgl. RvB, V. 21148–21165). Der Text übermittelt in der Erklärung der Erlebnisse der Lesenden historische Informationen über den Magnetberg, wirft jedoch sogleich neue Fragen auf, die das Interesse an der Narration wachhalten. Die Rüstung des Magnetbergs hatten die Protagonisten erlebt, angegriffen wurden sie jedoch nicht. Auch Savilôn, der in der Erzählung seinen Geist vorm Verscheiden mit dem sterblichen Körper sichert, ist augenscheinlich nicht mehr in der zu diesem Zweck errichteten Konfiguration zu finden,225 sondern wurde

223 Der Name fällt zuvor nur, als direkt nach der Beschreibung des Grabmals auf das Buch und die dortigen Informationen über den Erbauer Savilôn verwiesen wird. Die Nähe macht insofern plausibel, dass der Verstorbene auch der Erbauer Savilôn ist (vgl. RvB, V. 21283–21296). 224 [D]es fürsten sin niht anders gert/sunder meines trâgen/wan der sternen lâgen,/wie sî in irre spêre/ hetten manic kêre/mit wunderlîcher tiute/sîn sin der lie bî niute,/er fuor ie in dem furte/der sternen unde spurte/dar an wunderlîchiu dinc (RvB, V. 21334–21343). 225 Kurz und verständlich paraphrasiert Strohschneider das Ensemble, das Vergil laut Buchtext vorfindet: „Eine männliche Gestalt thront inmitten eines erzenen Mauerrings, durch den vier ungefüege wîtiu tor (21259) führen, deren jedes von einer furchteinflößenden riesigen Wächterfigur aus Gußeisen gesichert wird. Weder tôt noch lebende (21498) ist diese Gestalt, deren Pneuma (lebelîcher geist) in einem twalme (21478f.) den Leib umschwebt. Die Füße ruhen auf einem mit Schließen versehenen Buch, und im Ohr des Zwischenwesens ist ein mikroskopisch kleinez brievel (21397 usw.) versteckt. Direkt über seinem Kopf befindet sich – man weiß nicht wie – eine weitere eherne Figur mit einem derart aufgereckten Hammer, daß dieser im Herunter-

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begraben. Die Schilderungen bieten weiterhin Anbindungen und Diskrepanzen, die die eröffneten Spannungsbögen zum Schicksal Savilôns und der Geschichte des Magnetbergs weiterführen. Dem involvierten Rezipienten der Erzählung ist klar, dass etwas passiert sein muss zwischen dem bisher preisgegebenen und dem selbst erfahrenen Zustand. Dass zunächst von den Vorkehrungen des Schwarzmagiers, seine Zauber wirksam zu halten (vgl. RvB, V.  21456–21511) berichtet wird, verstärkt die Spannung auf die Schließung dieser Lücke. Der Magnetberg und Savilôn sind durch die Rüstungsmaßnahmen abgesichert, das Ende, von dem die Erzählung zu berichten verspricht, erscheint unmöglich und doch unumgänglich. Ganz im Sinne einer finalen Motivation wird die Spannung auf den Weg, den die Ereignisse bis zum bekannten Ergebnis nehmen, im Erzählen mehrmals befeuert. Erst jetzt führt die Narration Vergil ein (vgl. RvB, V. 21548–21581) und motiviert auch dessen Aufbruch zum Magnetberg – in diesem Falle mit der Suche nach Savilôn bzw. nach seinem ,Wissen‘ (s. u.). Schließlich stellt der Text recht ausführlich dar, wie Vergil alle zuvor installierten Hindernisse überwindet und die Zauber bricht (vgl. RvB, V.  21607–21687). Die Spannungsbögen erhalten schließlich ihre Auflösung, als die Magnetbergfestung und die Höhle die nun aufgefundene Form annehmen: der Zauber erlischt, wodurch hât ein genomen ende/ der listeclîchen bilde wern (RvB, V. 21688f.), und Vergil lässt die Geister ein Grab gestalten (vgl. RvB, V. 21695f.). Die Binnengeschichte führt das Potenzial schriftlicher Transmission in größerem Umfang (in Buchform) vor. Schrift ermöglicht die genaue Gestaltung der zu vermittelnden Inhalte und in diesem Falle auch die anregende, zur weiteren Beschäftigung einladende und unterhaltsame Lektüre der historischen Informationen. So ermöglicht diese mediale Aufbereitung in Form eines längeren Textes, die Aufnahme der Informationen mit einem Vergnügen zu verknüpfen und animiert daher gleichzeitig zur Auseinandersetzung. Es ist vielleicht etwas gewagt, zu behaupten, in der Doppelung des Erzählvorgangs entfalte sich eine selbst­ reflexive Kommentierung des Erzählens, jedoch wird die Verknüpfung von Informationsvermittlung und der Möglichkeit, narrativ einen Spannungsbogen zu entwickeln, der der Informationstransmission dienlich ist – und diesen schriftlich zu festigen – vor Augen geführt. Dass die das ausstellende Erzählung in einer Universalsprache verfasst ist, verweist insofern auch auf die Universalität des

fallen die ganze statuarische Konfiguration zerschlüge, vor welcher, wie es aussieht, seit unvordenklicher Zeit, ein Licht brennt“ (Strohschneider, Sternenschrift, S. 37f.).

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Faszinationspotenzials von schriftlichen, strategisch-konzi­pierten Erzählungen, welches gleichzeitig ein Übermittlungspotenzial ist. Angesichts der Feststellung der Problemlosigkeit schriftsprachlicher Transmission in den zuerst erwähnten Beispielen und der Aufmerksamkeit und Aufnahmebereitschaft, die schriftliche Fixierung in der zuletzt beobachteten Szene erzeugen kann, verwundert es nicht, dass auch Reinfrieds neu erlangte Informationen über den Magnetberg schriftlich festgehalten werden. Aus den Erzählungen Reinfrieds geht ein schriftlich fixierter Bericht hervor. Da die Informationen, die laut der stichwortartig zusammengefassten Erzählthemen in dem angefertigten Reisebericht (vgl. RvB, V. 24228–24269) übermittelt werden, mit jenen zuvor von der Erzählinstanz vermittelten Informationen über den Magnetberg, Vergil und Savilôn übereinstimmen,226 suggeriert auch diese Bemerkung die Dauerhaftigkeit der schriftlichen Aufbereitung und zeigt das Zusammenspiel mündlicher und schriftlicher Überlieferung. Nachträglich legt die Erzählinstanz nahe, dass die von ihr präsentierten Informationen auch auf der Überlieferung jenes mündlich initiierten und schriftlich weitervermittelten Reiseberichts beruht, der seine Kenntnisse aus einer Schriftüberlieferung speist. Der Text inszeniert sich als mündliche Erzählung, die auf schriftliche Überlieferung eines mündlich vermittelten Buchtextes zurückgeht.227 Externalisierung mittels Schrift ist in den untersuchten Passagen funktionierendes Mittel zur dauerhaften Sicherung von Informationsbeständen, dessen

226 Neben dem Bericht über das Erlebnis mit der Sirene (vgl. RvB, V. 24233–24243) wird von den eisernen Standbildern (vgl. RvB, V. 24244–24249) erzählt, die Reinfried und den Perser zunächst sehr erschrecken (vgl. V. 21148–21165) und von deren Erschaffung, Zweck und Funktionsweise sie im Buch am Grab des Savilôn erfahren (RvB, V. 21440–21453) sowie waz an dem buoche was geschriben/dort bî Savilônes grabe […] wie Mantouw Virgilius,/der fürste wandels frîe/buoch von nigramancîe/von êrste von dem stein gewan,/wie er dar und dannen kan:/daz wart in allez gar bekant; [Parallelstelle in der nacherzählten Buchlektüre RvB, V. 21548–21609] /wie er in dem glase vant/des tiuvels geist verriegelt/und meisterlîch versigelt/mit eines kleinen brieves schrift/wie er in lie und ûf der trift/in balde kündeclîch betruoc/daz der ungefüege bouc/sich wider in daz kleine glas [Parallelstelle in der nacherzählten Buchlektüre RvB, V. 21622–21713] (RvB, V. 24252–24269). 227 Der Text enthält unzählige kurze Verweise auf vermeintliche mündliche oder schriftliche Vorlagen der jeweiligen Erzählung. Sie legen zugleich nahe, auf ein anderes Buch bzw. Schriftquellen (vgl. RvB, V. 922, 967, 6242, 10884, 12500, 18045, 18258. 18616, 20978, 22312, 26717) und auf mündliche Überlieferungen (vgl. RvB, V. 681, 950, 14854, 16321, 16754f., 16765, 17021, 17180, 17970, 18240, 18266, 19137, 19926, 22595, 23172, 23311, 23441, 25311, 25319, 27030, 27066) zurückzugehen. Zugleich wird die eigene Rezeption sowohl hörend durch Verweis aufs Sprechen der Erzählinstanz bzw. aufs Hören der intendierten RezipientInnen (vgl. RvB, V. 38, 56, 374f., 379, 403, 1227, 1471, 2926, 2956, 3749f., 4144, 4457, 5799f., 6479, 6988, 7104, 7279, 8060f., 8131–8133, 8258, 9175–9184, 9336, 9356–9359, 9682, 9816, 10170, 10244, 10537, 11206, 12101, 12245, 12363, 12692–12694, 12733, 12813–12859, 12917, 13200, 13367, 13970–13975, 14708, 15360, 16615, 16666,

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sich die Figuren mit größter Selbstverständlichkeit bedienen. Die Materialisierung stattet bestimmte Formen von Informationen mit Autorität und Wichtigkeit aus.228 Aus der Lektüre der Erzählung über den Magnetberg hat sich ergeben, dass ein Interesse darin besteht, historische Ereignisse bzw. die historische Relevanz eines Ortes oder von Handlungen sowie Persönlichkeiten zu verstetigen. Ursprung der zentralen Informationen der im Monsterexkurs zur Sprache gebrachten Prozesse ist die Offenbarung Gottes gegenüber Adam. In Adams Bitte um Sorge für die Übermittlung (vgl. RvB, V. 19733f., s. o.) und dem dieser Bitte entsprechenden Bemühen der Weisen zeigt sich das Bewusstsein dafür, dass nicht jedes ,Wissen‘ zu jeder Zeit selbständig von jedem erlangt werden kann. Informationen wie die Weisheiten Adams, die aus der göttlichen Offenbarung diesem besonderen, ersten Menschen gegenüber hervorgegangen sind, können nur in der Transmission als Wissensbestände zukünftiger Generationen gesichert werden, da der ursprüngliche Erkenntnisweg bereits verschüttet, die generöse Wissensquelle versiegt ist.229 Das den Menschen vor mangen stunden (RvB, V. 19801) offenbarte ,Wissen‘ scheint für die Völker, die nach der Sintflut die alter welt (RvB, V. 19795) bewohnen, ohne diese Überlieferung nicht mehr erreich- oder erlernbar (vgl. RvB, V. 19798–19803).230 Da nicht dargestellt wird, was in die Säulen eingraviert wird, sind die wissenswerten Informationen nur aus der anfänglichen Aufzählung der

16759, 17216, 17295, 17312, 17765, 18174, 18310, 18927, 19217, 19426, 19444, 19627, 20025, 20277, 20548f., 20580f., 21083, 21247, 21454f., 21658, 2169, 22754, 22772, 22834, 22841, 23128–23131, 23212, 23443, 23523, 24128, 2424, 24687, 24930–24941, 24981–24983, 25013, 25028f., 2542–25045, 25809, 26065, 26078, 27149, 27379–27399) als auch lesend durch Erwähnung eines Lesevorgangs (vgl. RvB, V. 12165, 22814) imaginiert. 228 Dass diese Transmissionsprozesse spontan dem Label ,Wissen‘ zuzuordnen wären, ist eine Beobachtung, die vielleicht mehr mit den modernen als den mittelalterlichen Charakteristika, über die ,Wissen‘ definiert wird, zu tun hat. Andererseits scheint auch dahingehend eine gewisse Konstanz zu bestehen. Laut Ernst garantiert Schriftlichkeit im mittelalterlichen Verständnis für den Wahrheitsgehalt des verschriftlichten Inhalts, verbürgt sich für dessen veritas (Ernst, Schriftlichkeit, S. 258). Für das zwölfte Jahrhundert sei „die hohe Wertschätzung des Buches als eines Wissensbehälters, materiellen Objekt und ideellen Wertgegenstandes“ und das Avancieren der „Schriftlichkeit zu einem Kriterium von Wahrheit“ beobachtbar (hier S. 259). 229 Zur Interpretation des Verfahrens als Wissenskommunikation über einen längeren Zeitraum kommt auch Röcke, Lektüren, S. 295. 230 Die intellektuellen Anführer halten fest, dass das nachkommende Volk – dabei handelt es sich um eine Hoffnung und nicht um eine Gewissheit (vgl. RvB, V. 19794) – nicht über den Verstand verfügen wird, der ihnen all ihre Kenntnisse zugänglich gemacht hat (vgl. RvB, V. 19765– 19771) und bemühen sich, das ,Wissen‘ nicht verloren zu geben, sondern zu übermitteln (vgl. RvB, V. 19776f.).

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Offenbarungsinhalte Adams gegenüber abzuleiten. Adam erkennt (und benennt) alles swaz gotes kraft lie werden (RvB, V. 19706) und marht und bekande alle maht, der wurzen und der kriuter kraft, der tiere lauf, der vogel flug, der würme kriechen sunder lug (RvB, V. 19711–19714)

Besondere Bedeutung für die Erläuterungen hat das Wissen um den Effekt bestimmter Kräuterzufuhr.231 Adam weiß: swer daz krût az, daz was sîn tôt: dâ wider gap diz guote kraft. sô maht daz dritte berhaft; daz vierde daz tet frühte frî. diz merken was im allez bî, wan er ir kraft erkante. swel swanger wîp genante an einz, sô vollefuor ir fruht: sô maht das ander frühte fluht. sô hât daz dritte lîht die art, swer ez nôz, daz dâ von wart daz ungeborne kint ein tier. wan sîn kraft diu bôt im schier ein unmenschlich figûre. nâ der wurz nâtûre wart einez sus, daz ander sô. (RvB, V. 19716–19731)

Fundamentale Kenntnisse über die Natur und das sichere Interagieren des Menschens mit ihr sind es offenbar, die in dem beschriebenen Prozess in Textform gebracht und in die Säulen eingraviert werden.

231 Die Übermittlung wird dem Zweck untergeordnet, die Geburt weiterer Monster zu verhindern (dâ mit ir forme ende nam, RvB, V. 19735). Die Erklärung der Monsterwesen mit der Einnahme verbotener Kräuter findet sich bereits in der zwischen 1050 und 1100 (vgl. Simek, Monster, S. 143) bzw. 1160–1180 (vgl. Wunderlich, Dämonen, Monster, Fabelwesen, S. 25) datierten Wiener Genesis (vgl. Vögel, Naturkundliches, S . 81f.; Wunderlich, Dämonen, Monster, Fabelwesen, S. 25; Simek, Monster, der die entsprechenden Verse 644–660 auf S. 143 abdruckt).

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Die Säule, die Herakles aufstellt (s. o.), sucht hingegen laut Paraphrase der Gravur das Ende der befahrenen und befahrbaren Welt zu markieren.232 Begründet wird Herakles’ Handeln mit der Aussage daz man dâ bî næme war daz nie kein mensche fürbaz mohte komen […] (RvB, V. 21908–21910)

Herakles, der die Grenzen seiner Welt bis zum Limit ausgereizt hat, setzt seiner Reise und seinen Anstrengungen ein Denkmal, das diese Information – eingegraben in das wasserbeständige Holz – präsent hält. Im Errichten eines Zeichens am entlegensten Punkt der Welt, das im Rahmen seiner Formatierung einige Zeit stabil zu überdauern vermag, offenbart sich der Wunsch, der Leistung, die flüchtiger Natur ist und physisch keine Spuren hinterlässt, eine Gestalt und damit Gültigkeit zu verleihen. Herakles schreibt sich in die Geschichte der Entdecker und Eroberer ein; es ließe sich aber auch unterstellen, dass die hölzerne Säule, in die der Seefahrer sich einträgt, von der Hoffnung zeugt, dass es einst wieder Menschen an diesen Punkt schaffen und vielleicht auch über ihn hinauskommen. Die Säule trägt das Potenzial, nachfolgenden Entdeckern zu vermitteln, dass hierher bereits ein Mensch gekommen ist, dass an diesem Punkt aber auch das ,Wissen‘ über das, was folgt, endet. Herakles markiert den Endpunkt des Weltwissens und übermittelt den Entdeckungsstand seiner Zeit. Nur angedeutet werden die Inhalte der Bücher, die Apollonius verwendet (s. o.). In einem Erzählerkommentar zu Beginn der Erzählung kehrt der Text hervor, dass Rätselfragen und -antworten nicht nur für den Textverlauf, sondern auch für die Welt, in der die Ereignisse stattfinden, elementare Wissensinhalte oder sogar Wissensträger sind, die die Gesellschaft und die Stellung des Einzelnen in ihr nachhaltig prägen.233 Die beschriebene Szene zwischen Antiochius und Apollonius suggeriert, dass Bücher Rätsel und ihre Lösungen übermitteln, dass Rätsel also selbst Objekt von Übermittlung sein können. Es scheint in der Lebenswelt der Figuren ein Set an Rätselfragen zu geben, die samt ihrer Entschlüsselung niedergeschrieben sind – im konkreten Fall eine Frage, die sich unmissver-

232 Die Erzählinstanz erwähnt, es sei hier geleit/ein ende al der welte mez (RvB, V.  21894f.), bevor er von der Säule berichtet, benennt sie also als das Zeichen, das das Ende der Welt der alten Zeit anzeigt. 233 Beide Lesarten der Verse 397–402 (s. Kap. 5.2.2) stützen die Feststellung, Rätsel und Rätselraten würden im Apollonius als besonders gesellschaftlich relevant ausgestellt.

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ständlich auf die Konstellationen Vater-Tochter-Inzest bezieht.234 Der komplexen sprachlichen Form wird – so ließe sich diese Verknüpfung von Rätseln und Schriftüberlieferung deuten – als perfekter Träger eines verschlüsselten Begriffs ein Wert beigemessen, sodass sie als bewahrenswertes Kulturgut in Schriftform verstetigt wird. Ähnlich wenig ist über die Informationen der schwarzmagischen Bücher Savilôns zu erfahren. Sie enthalten Zauberformeln, wie recht lapidar erwähnt, aber nicht ausgeführt wird (vgl. RvB, V. 21632f.). Historische Ereignisse, naturwissenschaftliche Kausalitäten, Erfahrungsund Weltwissen, komplexe Verschlüsselungsgebilde und Zauberformeln sind es laut der behandelten Texte wert, formatiert und überliefert zu werden. Sie lassen sich gleichermaßen niederschreiben und sind Figuren ob der Beständigkeit des Schreibstoffes oder dessen sorgsamer Verwahrung auch nach Jahrzehnten, Jahrhunderten, Jahrtausenden zugänglich. Auf das Problem der Vielsprachigkeit, das den medialen Transmissionsformen, die auf Schrift basieren, innewohnt, weist nur das positive Phantasma der sich dem jeweiligen Leser anpassenden Zaubersprache in der Magnetbergpassage hin, während in keinem der anderen Beispiele eine Schwierigkeit der Schriftrezeption – auch nach längeren Zeitintervallen – zur Darstellung kommt. Dennoch ist der Einsatz von Schrift kein Garant für Transmission im Sinne des Senders. Funktioniert die Rezeption der medialen Form problemlos, und vermögen Schrifterzeugnisse dauerhaft konkret, unterhaltsam und konzise zu übermitteln, so treten andere transmis­sionsspezifische Herausforderungen in den Vordergrund, von denen die diesbezüglich sensiblen Erzählungen berichten. Diese kommen vor allem in der Magnetbergepisode sowie im Exkurs zur Entstehung der Monster zum Vorschein. Hier erfährt man wenig Spezifisches über die wissenswerten Inhalte, jedoch umso mehr über ihr Attraktionsvermögen sowie gleichzeitig über ein zentrales Problem der Bewahrung durch Ablösung. Ein abschließender Blick auf diese zwei Passagen kann den eingangs heraufbeschworenen Eindruck der Banalität schriftlicher Transmission in den Texten nochmals herausfordern. So zeigt sich bei einer genauen Beschäftigung mit den Passagen, dass sie nicht nur einen zentralen Beitrag zu der Frage nach Bewahrungswürdigkeit von Informationen leisten, sondern ebenso aus unterschiedlichen Blickwinkeln beleuchten, inwiefern die Dauerhaftigkeit und Stabilität

234 Das tut sie entweder, indem die Frage-Antwort-Kombination genau in dieser Form konventionalisiert existiert oder aber mit bekannten Verschlüsselungselementen arbeitet, die nachzuschlagen und in Kombination einen eindeutigen Rückschluss zulassen. Die konkrete Rätselform ist dann in ihrer Verschriftung stabil übermittelter, kommunikativer Mittler eines Sachverhalts, der durch Aufruf auf einen beliebigen Kontext appliziert wird.

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garantierende Ablösung durch schriftliche Fixierung einen gefährlichen Kontrollverlust bedeuten. Anhand Savilôns Verfahren mit seinen schwarzmagischen Büchern kommt ein ganz anders ambitionierter Umgang mit Wissensinhalten als in den bisherigen Fällen zur Sprache. Während sowohl die Säulen als auch die Rätselbücher oder das Grabbuch dafür angelegt sind, das ,Wissen‘ um einen bestimmten Sachverhalt zu verfestigen und später wieder abrufbar zu machen, ist der Schwarzmagier darauf bedacht, den Inhalt seiner Bücher unzugänglich zu machen. Wird im Falle der schwarzmagischen Bücher auch deren Kapazität, Informationen zu speichern, inszeniert, so sind sie handlungslogisch in erster Linie wegen ihrer magischen Kräfte von Bedeutung (s. Anm. 5/191; Kap. 6.3.3, insbes. Anm. 6/541; 6/544). Savilôn nutzt eines der Bücher, um Körper und Geist in einem Zustand zwischen Leben und Tod zu erhalten, die drei anderen verstaut er samt der in ihnen gebundene Teufel in ein want/diu nieman konde vinden (RvB, V. 21468f.) auf dem zur Festung aufgerüsteten Magnetberg, schließt sie ab und wirft den Schlüssel ins Meer (vgl. RvB, V. 21504–21507). Das ,Wissen‘ muss verschriftet existieren, soll aber offenbar nicht entdeckt werden.235 Ihr Inhalt und die Zauberkraft sind somit in der Welt, jedoch dem Zugriff anderer entzogen. Der Zweck der Zauberbücher, magisches Wissen zu speichern, wird hier von der Figur, die über sie verfügt, sabotiert, das Archiv muss – so Kellner und Strohschneider in Bezug auf die ZabulonErzählung im Wartburgkrieg – erst aufgebrochen werden, bevor die in ihm verstauten Informationen in der Lektüre verfüg- und kommunizierbar werden.236 Savilôn tut alles, damit die in ihnen zu lesenden Schriften nicht gefunden und rezipiert werden können bzw. nur jemandem zukommen, der erstens den Magnetberg unbeschadet zu erreichen, zweitens dessen Rüstungsanlagen zu überwinden, die Bücher zu finden und den Schlüssel aus dem Meer zu beschaffen weiß. Im Umgang mit der medialen Form setzt er der Rezeption der gesicherten Informationen äußerst herausfordernde Bedingungen. Dementsprechend elitär ist der Kreis der Figuren, der es zu Gesicht bekommt. Nur Vergil weiß den medialen Speicher zu erreichen und für sich nutzbar zu machen,237 kann die Bücher finden und an

235 Vgl. den Abschnitt bei Strohschneider, Sternenschrift S. 41–47; s. dazu auch Kap. 6.3.3. 236 Vgl. Kellner, Beate/Strohschneider, Peter: Die Geltung des Sanges. Überlegungen zum ,Wartburgkrieg‘ C. In: Neue Wege der Mittelalter-Philologie. Landshuter Kolloquium 1996. Hrsg. von Joachim Heinzle/Peter Johnson/Gisela Vollmann-Profe, Berlin 1998 (Wolfram-Studien 15), S. 143–167, hier S. 165. 237 So macht auch Meyer darauf aufmerksam, dass das Eingreifen Vergils in die Heilsgeschichte ein schriftgestützter, schriftinduzierter Prozess ist, der auf dem Streben nach schriftlich gesichertem Wissen beruht (vgl. Meyer, Briefe, S. 30f.).

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sich nehmen.238 Animiert zu diesem beschwerlichen und entmutigenden Weg wird er durch seinen Drang nach ,Wissen‘.239 Im Rahmen seiner Hintergrundgeschichte wird nicht das Bemühen um die Aufbereitung von Informationen für die spätere Rezeption geschildert, sondern das Interesse, an Gespeichertem teilzuhaben, es sich verfügbar zu machen. Das Verlangen Vergils überwindet schließlich Savilôns Bemühen um Geheimhaltung (s.  zu dessen eigenen ,Wissensdrang‘ Kap. 6.3.3). Eine andere Form des Kontrollverlusts durch die Entäußerung und Übermittlung von Kenntnissen zeigt sich im Falle des Monsterexkurses. Denn trotz der wohlüberlegten und erfolgreichen Maßnahmen hat der Prozess seine Tücken und kann nicht garantieren, dass die mediale Form gemäß der ursprünglichen Intention wirkt. Denn gerade das, was die Übermittlung im Hinblick auf die Kräuter zu erreichen versucht, schlägt fehl. Adam hatte um die Weitergabe seines Wissens gebeten, dâ mit ir forme [monströse Völker] ende nam, RvB, V.  19735), die neu-

238 Wie genau das vonstatten geht, bleibt eine explizite Leerstelle. Die Erzählinstanz gibt an, wie Vergil an die am Meeresgrund liegenden Schlüssel für die Bücher komme, erwähne das Grabbuch nicht (vgl. RvB, V. 21700–21713). 239 Der junge Grieche begibt sich auf die gefährliche Reise zum Magnetberg, weil er von den hôhen künsten (RvB, V. 21583) gehört hat, die der Zauberer Savilôn auf dem abgeschiedenen Stück Land verwalte (vgl. RvB, V. 21580–21594). Die Erzählungen bewirken, dass der fürste schiere […] wolte endelîche dar (RvB, V. 21596f.). Die Verknüpfung schreibt ,Wissen‘ ein großes Anziehungspotenzial zu. Die Nennung der vier schwarzmagischen Bücher als Fluchtpunkt der Abenteuerfahrt direkt im Anschluss (ir sin der wolt versuochen,/ob in von den wier buochen/ieman gesagen künde, RvB, V. 21603–21605), bestätigt den Eindruck, Vergil breche nicht zum Magnetberg auf, um das Mysterium um den verschwundenen Schwarzmagier zu erhellen, sondern um dessen ,Wissen‘ zu erlangen, und er sei dafür bereit, Einiges auf sich zu nehmen: Vergil und seine Mannschaft fuoren lang und lange stunt (RvB, V. 21607) und beschließen, wenn nötig sogar ihr Leben zu opfern für die hochgeschätzten künste/diu in mit hôher günste/wol mohe fügen allez guot (RvB, V. 21613–21615). Auch der im Glas eingesperrte Geist vermutet in den schwarzmagischen Büchern das Objekt seiner Begierde, wenn er Vergil vorschlägt: ,ich weiz wol es ir ruochent./ir vindent swaz ir suochent,/ob ir mich lœsent hinnen./ich wil iuch gewinnen/der buoche slüzzel und diu buoch,/ dar an aller tiuvel fluoch/meisterlîchen stât geschriben (RvB, V. 21626–21633). Damit ist diese die einzige der drei Erzählungen von Vergils Fahrt zum Magnetberg, die Vergil aus Interesse an ,Wissen‘ bzw. medialen Wissensspeichern zu seiner Reise aufbrechen lässt (vgl. die Abdrucke der jeweils anderen Versionen bei Siebert, Vergils Fahrt, S. 199–215 sowie die Ausführungen desselben zu den Motiven, die die Texte ihren Figuren unterstellen [vgl. hier S. 197f.]). Die Bücher selbst werden dort erwähnt, wenn Vergil sie an sich nimmt und mit sich führt. In der Wartburgkrieg-Tradition repräsentieren die Bücher den Wissensumfang des gesamten „jüdisch-heidnischnigromantische[][n]“ ,Wissens‘ (das dem im Buch St. Brandans enthaltenen christlichen ,Wissen‘ gegenüber steht) (vgl. Kellner/Strohschneider, Geltung des Sanges, S. 164, 162).

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gierigen240 Frauen, die von der auf der Säule niedergeschriebenen Warnung, die problemlos die Sintflut überstanden hat, hören, werden jedoch davon nicht abgeschreckt, sondern gerade angeregt, am eigenen Leib die Wahrheit der niedergeschriebenen Behauptung zu testen (vgl. RvB, V.  19883–19847). Die erfolgreich übermittelten Informationen provozieren ihren Versuch statt ihn zu unterbinden, bringen die Frauen erst auf die Idee, sich während der Schwangerschaft unter den Einfluss der Kräuter zu begeben, die dafür sorgen, dass es Monsterwesen in der Welt gibt. Auch diese kurze Hintergrunderzählung veranschaulicht das angesprochen Problem der auf Zeitüberbrückung angelegten medialen Prozesse. Die Transmission kann durch solide Schriftlichkeit und stabile, resistente Materialitäten zwar abgesichert sein, eine Kontrolle über den Umgang mit den übermittelten Informationen im Sinne des Urhebers oder Senders kann sie jedoch nicht herstellen.241 Der Bereich der Rezeption entzieht sich bei allen Entäußerungen; extreme Transmissionsprozesse veranschaulichen diesen Kontrollverlust des Senders nur umso deutlicher.242 Dies liegt daran, dass zur Sicherstellung der fortdauernden Existenz angesichts der riesigen zu überbrückenden Zeiträume auf unbelebte Träger zurückgegriffen wird, die nicht mit dem Empfänger interagieren können. Der Vorteil der Ablösung von sterblichen Körpern und die Starrheit der Informationen zeigt hier seine Schattenseite: Mediale Formen wie hier die Schriftsäulen können nicht reagieren und ihre Botschaft nicht anpassen. In der (lediglich vermutbaren) Knappheit der Darstellung bleibt den EmpfängerInnen genügend Imaginationsraum, um faszinierende Vorstellungen zu entwickeln. Das Übermittelte stillt

240 Der Text impliziert einerseits, dass die Frauen generell bereits von Natur aus neugierig sind, indem es nicht heißt, sie würden neugierig, sondern sie wâren so niugern (RvB, V. 19833). Andererseits ist dieser Zustand doch auf die Säulen bezogen, indem dieser Zustand mit dô (RvB, V. 19833) an die Übermittlung der Wissensinhalte geknüpft wird. 241 Auch der Jüngere Titurel stellt diesen Aspekt von Schriftlichkeit Philipowksi zufolge aus, indem die lesende und hörende Rezeption des Brackenseiltexts gänzlich andere Folgen haben (vgl. Philipowski, Katharina: We, daz ie man die strangen sach geschribene! Gehörte und gelesene Schrift in Albrechts Jüngerem Titurel. In: IASL 34/1 [2009], S. 49–74). 242 Bereits Röcke stellt fest, dass die falsche Interpretation des auf den Säulen gesicherten ,Wissens‘ sogleich als Gefahr dieses dargestellten Prozesses schriftlicher Konservierung Form gewinne (vgl. Röcke, Lektüren, S. 295f.). In einer späteren Auseinandersetzung spricht er von der Gefahr der Verzerrung und Entstellung der ,Erinnerung‘ (vgl. Röcke, Kulturelles Gedächtnis, S. 288). Genau genommen zeigt die Szene aber nicht die Manipulation des vermittelten Inhalts in der medialen Überführung (vor allem, da der genaue Wortlaut überhaupt nicht erzählt wird, s. o.), sondern die mit der Lösung des scheinbaren Hauptproblems – der Flüchtigkeit von Informationsbeständen – noch nicht bearbeitete Problematik des Kontrollverlusts über die Informationen sowie die Versuchung der eigenen, waghalsigen Erfahrung.

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nicht den Drang nach eigener Erfahrung, sondern befeuert diesen eher. Die Abstraktheit und Situationsenthobenheit, die Informationsbestände kennzeichnet, macht es – so zeigt der Reinfried von Braunschweig in dieser Szene – besonders schwer, diese medial so zu kontrollieren, dass die spätere Rezeption der Intention der Fixierung entspricht. Schrift verlangt nach einem verantwortungsbewussten Gebrauch, wenn das in ihr fixierte ,Wissen‘ keinen Schaden hervorrufen soll.243 Die Szenen, die sich der Darstellung von Stabilisierung und Übermittlung widmen, sind – so konnte die genaue Lektüre zeigen – trotz ihres selbstverständlichen Umgangs mit Schrift und Text nicht banal. Zunächst zeugt die Tatsache, dass schriftliche Formen verwendet werden, von einem generellen Vertrauen in die materielle Stabilität und die dauerhafte Entschlüsselbarkeit von Schriftzeichen sowie von dem autoritativen Charakter, der ihr durch die Wahl als Transmissionsmittel unterstellt wird.244 Die Figuren weisen in ihrem Bemühen um Sicherung Informationen über die Welt und ihre Grenzen, Funktionszusammenhänge, logische Grundsätze, Kulturgut, historische und sachliche Fakten als wissenswert aus; den Narrationen dienen die Passagen einerseits zur Anreicherung mit Informationen, zur Motivation und Plausibilisierung bestimmter Vorgänge und zum Anschluss an Erzähl- und Wissenstraditionen. Anhand der Binnenerzählung, die Figuren wie TextrezipientInnen gleichzeitig aufnehmen, deren spätere mündliche Übertragung und Verschriftlichung aber als Grundlage der Erzählung inszeniert wird, fallen Informationsvermittlung und Reflexion über den Zusammenhang von Informationsvermittlung und narrative Gestaltung so ineinander, dass ein selbstreflexiver Kommentar zum Potenzial schriftlich gesicherter Erzählungen entsteht. Darüber hinaus stellen sich der Transmission auch in dem Moment, in dem die Rezeption der medialen Form problemlos wird, Herausforderungen. Das kann die räumliche Erreichbarkeit der medialen Form sein wie im Falle der Bücher auf dem Magnetberg oder der Säule am Ende der Welt, im Falle des Monsterexkurses sind es einerseits die Naturgewalten, die sich gegen eine einfache Übermittlung in Buchform stellen, andererseits bergen die im Rahmen der Vermittlung mitgetragenen Faszina­tionspotenziale Gefahren. Wenn die Szenen auch zeigen, dass Schriftlichkeit für die Transmission ein großes Potenzial bietet, das in vielerlei Hinsicht eine recht problemlose Weitergabe ermöglicht, so machen sie doch gleichzeitig deutlich, dass Informationen, die einmal sicher fixiert sind,

243 So bereits Röcke, Lektüren, S. 296. 244 Das korrespondiert zumindest mit der Tatsache, dass der Apollonius und der Reinfried in einer Phase der zunehmenden Verschriftlichung der Volkssprachen entstehen (vgl. Schnyder, Schrift und Liebe, S. 4).

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nicht mehr ausgelöscht oder für immer vorenthalten werden können. Dass eine Information materialisiert in der Welt ist, bedeutet dagegen nicht, dass sie auch sinnvoll genutzt wird. Andererseits können Informationen trotz ihrer Verschriftlichung Jahrtausende lang verschüttet liegen, da sich schriftgestützte mediale Formen wie das Buch dem möglichen Empfänger nicht aufdrängen, sondern von diesem Initiative sowie zum Teil Vorbildung fordern. Allerdings bietet – so zeigt die Erzählung des Grabbuches – gerade die Buchform die Möglichkeit einer präzisen und die Lektüre animierenden Gestaltung, eines Erzählens, das unterhält und belehrt bzw. in seiner Unterhaltsamkeit zur Lektüre und damit zur Aufnahme von Informationen anregt. Insofern verhandelt besonders der Reinfried von Braunschweig unterschiedliche Probleme, die mit dieser medial gestützten Art der Informationsweitergabe verknüpft sind245 – mögen die Szenen, die sie beschreiben, auf den ersten Blick noch so unproblematisch wirken.

5.3.2 Grabmale als Zeugen von Tod und Identität Wollen Gruppen einen langlebigen, anschaulichen und stabilen Anlass für Erinnerungsprozesse gestalten, der nicht von der lautlichen Reproduktion sprachlicher Einheiten durch Einzelkörper abhängig ist, sind sie darauf angewiesen, mit langlebigen ,Ersatzkörpern‘ zu arbeiten. Texte erreichen jedoch nur ein bestimmtes Publikum. Als effektive Massenmedien246 lassen sich hingegen  – die unterschiedlichen stofflich-ästhetischen Gebilde beschreiben, die Gemeinschaften im Reinfried von Braunschweig und im Apollonius von Tyrland zu verschiedenen Anlässen entwerfen. Verwenden die bisher in den Blick genommenen Strategien jeweils einen Kanal zur Übermittlung, so sind die zuletzt unter dem Stichwort ,Transmission‘ behandelten medialen Formen in der Textauswahl als visuell multimedial zu bezeichnen. Denn in Ehren- und Grabmalen verbindet sich die Technik des In- und Einschreibens mit visueller Eindrücklichkeit plastischer Bestandteile. Die Endlichkeit des menschlichen Körpers ist in der Auseinandersetzung mit Strategien der Verstetigung bereits als zentrales Problem von (vor allem körper-

245 Mit Blick auf text- und schrifttheoretische Überlegungen stellt bereits Strohschneider fest, dass der Reinfried Schriftphantasmen entwickelt, die durch Verschiebungen zwischen Textuellem und Skripturalem, durch Kurzschließungen von Zeichenreferenten und Zeichenmaterial, durch Übergänge zwischen Diskursivem und Phänomenalem gekennzeichnet sind (vgl. Strohschneider, Sternenschrift, S. 47). 246 S. zur Begriffsdefinition Anm. 5/269.

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gebundener) Transmission zur Sprache gekommen. Doch der Tod einer Person ist selbst wohl der prototypischste Anlass des Ringens um Bewahrung.247 Bestimmte Informationen über die verstorbene Person, ihre Stellung und Relevanz sind nicht mehr über ihre Präsenz im Bewusstsein der Hinterbliebenen gesichert. Eine häufig zu beobachtende Reaktion ist das Errichten multimedialer Objekte, die sich als spezifische Ausprägung des alltags- wie fachsprachlich verwendeten Begriffes ,Denkmal‘ zeigen, welcher alle der grundsätzlich der Vergegenwärtigung von Urbildern und der „medialen Vermittlung kollektiver Erinnerung“248 verpflichteten Artefakte umschließt.249 Auch in der Literatur findet der Zusammenhang von Tod, Streben nach Transmission und Grabgestaltung Niederschlag.250 Der Reinfried erzählt von

247 „Bei dem Phänomen des Totengedenkens handelt es sich ,sicher um Ursprung und Mitte dessen, was Erinnerungskultur heißen‘ kann, ,die an den Toten sich knüpfende Erinnerung [ist] die Urform kultureller Erinnerung‘“ (Haupt, Memoria, S. 40, mit Zitat von Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, S. 61). 248 Wenzel, Hören und Sehen 1995, S. 324. 249 Die etymologische Nähe des ,Denkmals‘ zum Begriff ,Gedächtnis‘ (der Begriff ,Denkmal‘ leitet sich von dem griechischen mnēmósynon [,Gedächtnis‘] ab und setzt sich aus den Komponenten ,denken‘/,erinnern‘ und ,Zeichen‘ zusammen: „Die ursprüngliche Bedeutung ist also ,Erinnerungszeichen‘“ [Kluge, Etymologisches Wörterbuch, S.  290]) macht deutlich, dass das Denkmal als eine Entäußerung des natürlichen Informationsspeichers (s.  Kap.  5.1.1) wahrgenommen wird und legt nahe, dass für diese mediale Form die Übermittlung von Informationen über einen längeren Zeitrahmen im Zentrum steht. Ausgehend von der alltagssprachlichen Mehrdeutigkeit des Begriffs – er bezeichnet sowohl bewusst errichtete plastische Darstellungen als auch [Kunst]Werke als Zeugnisse einer Kultur – grenzt sich das hiesige Verständnis im Sinne der intentionsbasierten Definition von Transmissionsprozessen (s.  Kap.  3.1.2) von einer metaphorischen Begriffsauffassung ab (vgl. den Hinweis auf metaphorische bzw. nachträglich geprägte Denkmalsbegriffe bei Schubert, Dietrich: Formen der Heinrich-Heine-Memorierung im Denkmal heute. In: Mnemosyne Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung. Hrsg. von Aleida Assmann/Dietrich Harth, Frankfurt a. M. 1991 [Fischer anfangs 10724], S. 101–143, hier S. 104). Literaturwissenschaftliche Auseinandersetzungen verwenden den Denkmalbegriff häufig metaphorisch. Dann ist von ,literarischen Denkmalen‘, also großen, und langanhaltend einflussreichen Werken die Rede, von literarischen Texten, die einem Ereignis oder einer Epoche ein Denkmal setzen, oder aber von tatsächlichen Dichter-Denkmalen. An dieser Stelle sei auf die online in der Bibliographie der Sprach- und Literaturwissenschaft unter dem Schlagwort ,Denkmal‘ verzeichneten Titel verwiesen (https://www.bdsl-online.de; Abfrage am 06. März 2019). Ähnlich verhält es sich mit dem Schlagwort ,Grabmal‘. Zu letzterem sind insgesamt weniger, aber im Verhältnis mehr Aufsätze zu innerliterarischen Phänomenen zu finden. 250 Textpassagen, die sich den Bemühungen um die Erinnerung an eine Person (in einem Grabmal) widmen, sind in der mittelalterlichen Literatur keine Seltenheit: „Interesse an den Bestattungszeremonien und Grablegen der Helden ist in den neuen, für adliges Publikum bestimmten Romanen, zuerst den antikisierenden, dann auch den Artusromanen, vor und um

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einem Grab, das die Riesen für ihren im Kampf mit Reinfried gefallenen Anführer entwerfen (RvB, V. 25038–25059), vom Grabmal der Heiligen Katharina (RvB, V.  26970–27129) und vom Grab des Savilôn in der Höhle des Magnetbergs (vgl. RvB, V. 21267–21310). Im Apollonius wird streng genommen keine Grabgestaltung geschildert. Die Figur, die ein Grabmal erhält (Tarsia, vgl. AvT, V. 15507–15525), ist nicht tot und wird zur Wahrung des Scheins bzw. irrtümlicherweise mit einem Grabmal bedacht, die Figuren, die – ob tot (Ydrogant und Serpanta, vgl. AvT, V. 11179–11188) oder lebendig (Lucina, vgl. AvT, V. 2522–2577) – bestattet werden, erhalten aus unterschiedlichen Gründen kein Grabmal. Dennoch sind die Passagen für die Vorstellung des Umgangs mit dem Tod und dem daran geknüpften Bedürfnis nach Bewahrung von Bedeutung. Dieses Kapitel konzentriert sich daher auf alle genannten Passagen, in denen Figuren dafür Sorge tragen, dass „die Erinnerung der Lebenden an den Toten, die sich zunächst in den mündlichen Totenklagen der Hinterbliebenen äußert, weit über die Gedächtnisleistung sterblicher Personen hinaus dauerhaft an eine Nachwelt überliefert“251 wird. Es mag an der Unaufgeregtheit liegen, mit der der Reinfried seine Grabmale schildert,252 oder an der kaum als Grabmale einzustufenden Techniken im

1200 allenthalben zu beobachten“ (Haubrichs, Wolfgang: Memoria und Transfiguration. Die Erzählung des Meisterknappen vom Tode Gahmurets [Parzival 105,1–108,30]. In: Erzählungen in Erzählungen. Phänomene der Narration in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hrsg. von Harald Haferland/Michael Mecklenburg, München 1996 [Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 19], S. 125–154, S. 134). Dieses Interesse führt er auf den Wandel der Grabkultur in der mittelalterlichen Gesellschaft zurück (vgl. hier S.  137f.). Bereits Schieb hatte  – nicht ohne eine gewisse Abwertung der mittelalterlichen gegenüber den antiken Texten – die Darstellung von Grablegungen einem „gewandeltem Stilgefühl“ zugeschrieben (Schieb, Grabmalbeschreibungen, S.  92). Gleichzeitig sei das ausgeprägte Interesse an ausschweifenden Grabmalsbeschreibungen zeitlich auf das Mittelalter beschränkt. So lasse sich konstatieren, dass auserzählte Grabmale in der volkssprachigen Literatur Westeuropas „charakteristisch vor allen für die antikisierenden Romane der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts“ sind (hier S. 120). 251 Haupt, Memoria, S. 42. 252 Es lassen sich zugegebenermaßen Texte finden, die exzeptionellere Grabmale ausführlicher schildern. Besonderes Interesse erweckt haben das Grabmal Gahmurets aus Wolframs Parzival (vgl. Parz 105,1–108,3), die literarisch richtungsweisenden (vgl. Eming, Faszination, S. 251) Grabmale von Dido, Pallas und Camilla aus Heinrichs Eneasroman (Eneasroman, V. 2501–2521, 8235– 8408, 9385–9574), das Grabmal Japhites in Wirnts Wigalois (Wirnt von Grafenberg: Wigalois. Text der Ausgabe von J.M.N. Kapteyn, übersetzt, erläutert und mit einem Nachwort versehen von Sabine Seelbach und Ulrich Seelbach , Berlin/New York 2005 (De-Gruyter-Texte), V. 8254– 8319), der Gralstempel im Jüngeren Titurel (ausführlich beschrieben von Brokmann, Steffen: Die Beschreibung des Graltempels in Albrechts ,Jüngeren Titurel‘, Bochum 1999, https://d-nb. info/978070062/34 [21. Februar 2019]) sowie das gefälschte Grabmal in Flore und Blanscheflur

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Apollonius, dass die germanistische Mediävistik, die aufgrund ihres Interesses an Ekphrasen mit selbstreflexivem Kunstwerkcharakter253 bereits aussagekräftige Arbeiten mit mediendiskursiven Thesen254 zu exzeptionell ausfallenden Grabmal-

(Konrad Fleck: Flore und Blanscheflur. Text und Untersuchungen. Hrsg. von Christine Putzo, Berlin, New York 2015 [Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 143], V. 1947–2117, im Folgenden FuB) und die Statue der Isolde, die Tristan sich in der altnordischen Saga und im Turiner Thomas-Fragment nach seiner Trennung von dieser errichtet. Dieser Liste ist auf Grundlage der Ausführungen bei Wunderlich das Dariusgrab sowie das Grab der Gattin des Perserkönigs in Walters Alexander hinzuzufügen (vgl. Alex., VII, 379–430 und Alex., IV,176–274; vgl. Wunderlich, Werner: Ekphrasis und Narratio. Die Grabmalerei Apelles und ihr ,Weiberlisten‘ in Walters von Chatillon und Ulrichs von Etzenbach Alexanderepen. In: Erzählungen in Erzählungen. Phänomene der Narration in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hrsg. von Harald Haferland/Michael Mecklenburg, München 1999 [Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 19], S. 259–271, hier S. 260) hinzuzufügen. Schieb erwähnt darüber hinaus das Grabmal des Hectors im Roman de Troie (vgl. Schieb, Grabmalbeschreibungen, S. 111). Eine Aufführung weiterer literarischer Grabmale mit Inschriften im deutschsprachigen Raum finden sich inklusive kurzer Beschreibungen bei Ernst, Schriftlichkeit, S.  286–295. Die jeweilige Sekundärliteratur ist bei Wandhoff, Ekphrasis, S. 15 zusammengetragen. 253 Vgl. Wandhoff, Ekphrasis; Wunderlich, Ekphrasis und Narratio. Das zunächst im nordamerikanischen Raum prominent werdende Thema (vgl. Wandhoff, Ekphrasis, S.  2f.; s.  für einen Abriss der Forschungsgeschichte hier S. 1–12 sowie für eine Auseinandersetzung mit der Etymologie und Bedeutung des Begriffes hier S. 20–23) hat – wie die zahlreichen Einzeluntersuchungen zu exzeptionellen Grabmalen zeigen (vgl. Anm. 5/252; 5/255), auch in die deutschsprachige Forschung Eingang gefunden. Die Beiträge konzentrieren sich in intermedialer, in narrativer und in rezeptionsästhetischer Perspektive (auf die erstgenannten verweist Wandhoff [s.  o.], auf die rezeptionsästhetischen Wunderlich, Ekphrasis und Narratio, S.  260) auf die Leistung, ein materielles Bild vor dem geistigen Auge der TextrezipientInnen zu entwerfen. Als Gemeinsamkeit aller Ansätze lasse sich die Wahrnehmung einer die ornamentale Funktion übersteigenden Bedeutung fassen (vgl. Wandhoff, Ekphrasis, S. 12). Neben Grab- und Ehrenmalen sind die folgenden Ekphrasen thematisiert worden: Erecs Krönungsmantel in Chrétiens Erec et Enide, Enites Pferd in Hartmanns Erec, Helmbrechts Haube in Wernhers Helmbrecht, die Wandmalereien im Prosalancelot, der Pokal in Konrad Flecks Flore und Blanscheflur (vgl. Wandhoff, Ekphrasis, S. 15; dort auch die jeweiligen Literaturverweise). 254 So macht Wandhoff darauf aufmerksam, dass Bilder und Schriftzeichen als die visuelle Wahrnehmung ansprechende Phänomene in literarischen – rein sprachlich evozierten – Denkmalen ineinander übergehen. Das gelte in besonderem Maße für die literarische Darstellung von Kunstwerken in mittelalterlichen Texten, da hier nicht nur die Schrift imaginäre Bilder ausdrücke und erzeuge, sondern auch die beschriebenen Kunstwerke häufig ,schrifthaltig‘ seien (vgl. Wandhoff, Ekphrasis, S.  19). Passagen der Ekphrasis könnten daher aufschlussreich für die Differenzierung und Funktionszuschreibung einzelner Formatierungsformen sein: „Kennzeichnend für die mittelalterliche Kunstbeschreibung ist gerade auch an diesem Punkt ein Oszillieren zwischen Wort, Bild und Schrift, das eine ontologische Unterscheidbarkeit von ikonographischen und skriptographischen Medien und Kunstformen einerseits dementiert, das andererseits aber dort, wo Buchstaben und Bilder im Rahmen einer Ekphrasis explizit unterschieden werden,

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beschreibungen der mittelhochdeutschen Literatur hervorgebracht hat,255 den Blick bislang nicht auf jene Textpassagen im Reinfried und im Apollonius gelenkt hat. Dabei sprechen alle genannten Passagen geradezu mit Nachdruck von dem Wunsch, zu bestatten und die Grabstätte mit unterschiedlichen Techniken so zu inszenieren, dass sie Informationen langfristig übermitteln. Ganz besonders deutlich wird dieses Bedürfnis nämlich gerade, wenn die Umsetzung nicht möglich ist. In der bereits geschilderten Situation um Lucinas vermeintlichen Tod (s.  Kap.  5.2.1) besteht der Schiffsherr auf einer raschen Beseitigung des toten Körpers, da er glaubt [d]as mere tregt den doten nicht‘ (AvT, V. 2508) und dementsprechend um sein Schiff fürchtet. Apollonius stimmt schweren Herzens zu, versucht aber, durch die Gestaltung der Holzkiste, in der der Leichnam aufs Meer gesandt wird, für eine Bestattung zu sorgen.256 In einer Botschaft, die er in ein Bleistück auf dem ,Sarg‘ gravieren lässt (vgl. AvT, V. 2542), erklärt Apollonius, Lucina sei [z]u Antiochia an gever (AvT, V.  2545) gewesen. Dass Lucina nicht gleich in angemessener Weise beerdigt wurde, ist – so legt die explizite Erwähnung des Notstands nahe – allein auf die prekäre Situation zurückzuführen. Zusätzlich zu jener Botschaft verfasst Apollonius eine persönliche Nachricht (auch an ain pley, AvT, V. 2562) an den hypothetischen Finder des Sargs und verstaut diese neben der ,Leiche‘. Seine Nachricht, die in ihren Formulierungen vom Inhalt der lateinischen Vorlage abweicht,257 mahnt vor allem

aufschlußreiche Zuweisungen medialen Figurierens erkennbar werden“ (Wandhoff, Ekphrasis, S. 19). 255 Haubrichs zeigt in seiner Auseinandersetzung mit dem Grabmal Gahmurets aus dem Parzival, dass das Interesse literarischer Texte für die unterschiedlichen Techniken der Grabmalgestaltung ein Spiegel der historischen Bemühungen um die möglichst aussagekräftige Inszenierung des Lebens, Sterbens und Wirkens der jeweiligen Figur ist (vgl. Haburichs, Memoria). Dazu gehört auch, dass sich (literarische) Grabmale – wie Eming am Camilla-Grab des Eneasroman herausarbeitet – die Beziehung der Figuren zum Erinnerten und deren (emotionale) Reaktion auf den Verlust manifestieren (vgl. Eming, Faszination; s. auch Martschini, Schriftlichkeit, S. 315, die betont, dass Grabschrift auch dem noch Lebenden, Handelnden Identität verleiht, sodass auch zu beobachten ist, ob und in welcher Form die Beziehung jeweils zu Ausdruck kommt). Wedell macht hingegen auf das medienreflexive Potenzial literarischer Grabmale wie in Flore und Blanscheflur aufmerksam (Wedell, Moritz: Flore und Blanscheflur im bilde. BildErzeugung und Bild-Übertragung in Konrad Flecks Floreroman. In: Das Mittelalter 13/1 [2008], S. 42–62, insbes. S. 54–62). 256 Dementsprechend verzeichnet Ernst die Botschaft am Sarg Lucinas unter der Rubrik der öffentlichen Briefe (vgl. Ernst, Schriftlichkeit, hier S. 320). Sein Blick ist dabei nicht von der Intention und dem Wissensstand Apollonius’ geleitet, der es um das Gedenken an die Verstorbene geht, sondern von den ,technischen‘ Parametern des Schriftstücks. 257 Sowohl die Seebestattung als auch die Gräber für Tarsia sind bereits in der lateinischen Historia zu finden, die genaue Ausgestaltung unterscheidet sich aber jeweils (s. u.).

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zur Beerdigung.258 Das Sprecher-Ich wendet sich direkt an denjenigen [d]er disen doten funde (AvT, V.  2563), bindet diesen in einer gedoppelten performativen Formulierung an einen Treueschwur (Sein trew ich da mit punde/ […] /Das tuen ich mit der geschrifft kund, AvT, V. 2564–2566) und fordert ihn auf, einen Zehnt des mitgeschickten Goldes für sich zu nehmen, den Rest aber für die Bestattung aufzuwenden (vgl. AvT, V. 2565–2569). Am Ende der Nachricht, in dem nochmals die Grablegungspflicht aufgeworfen wird, verschärft sich der Ton der Mitteilung. Das Sprecher-Ich setzt eine Drohung nach, um eine Beerdigung nach Wunsch des Senders sicherzustellen. Jeder mögliche Finder – [e]s sey man oder weib (AvT, V. 2570) – wird in die Verantwortung genommen und muss damit rechnen, bei Zuwiderhandlung zur Rechenschaft gezogen zu werden. Als ob das Sprecher-Ich einen Fluch ausspreche, prophezeit es demjenigen, der wieder di geschrift düt (AvT, V.  2571) ewiges Unglück und finanziellen Misserfolg (vgl. AvT, V.  2572f.). Apollonius tut alles in seiner Macht Stehende, um sicherzustellen, dass Lucinas Körper begraben wird. In der Unbedingtheit der Forderung wird der einem Begräbnis beigemessene Wert anschaulich. Warum eine Grablegung als wichtig empfunden wird, stellt die Sprechinstanz der Botschaft ebenso wenig dar, wie die Erzählinstanz den Wunsch der Figur erläutert. Es scheint nicht erklärungsbedürftig, warum eine Beerdigung stattzufinden hat. Aus dem Desinteresse, die Grab­ legung, die so vehement forciert wird, zu motivieren, lässt sich die Universalität der Praxis schließen, der konventionalisierte Charakter ist verschleiert.259 Tote Körper zu bestatten wird – so zeigen die weiteren Szenen aus dem Apollonius – nicht als abhängig von einer Wertschätzung, sondern als ein allgemeines Bedürfnis, eine in jedem Falle zur Anwendung kommende Kulturtechnik konzipiert. Selbst die Monster Ydrogant und Serpanta werden von den Crisanern, den Leidtragenden ihres Wirkens, begraben (vgl. AvT, V. 11782), selbst der Tyrann

258 Der kurze Text enthält keinerlei Aussagen zu der Verstorbenen, sondern geht neben den Mahnungen ausschließlich auf die Trauer, die der Tod bei Apollonius auslöst, ein (s. u.). 259 Einziges Grabmal im Textkorpus, das seinen Zweck schriftlich festhält, ist das Tarser Grabmal. Das Gebilde identifiziert sich als menschen-[g]emachet […] grabe (AvT, V.  15521) und beschreibt seine Funktionalität – die Ehrung der Verstorbenen (vgl. AvT, V.  15221–15525). Damit wird sichergestellt, dass die Technik an sich nicht intransparent wird und die damit verbundenen Intentionen nicht verloren gehen. Obwohl die Universalität der Technik in beiden Texten angelegt ist, scheint hier ein Anzeichen dafür auf, dass ein solches Kunstwerk später einmal nicht mehr in seiner ursprünglichen Funktion erkannt werden könnte. Schrift wird als Möglichkeit erachtet, die Dauerhaftigkeit sowohl der Identität der Toten und ihrer Beziehungen als auch der dem Handeln zugrunde liegende Kulturtechnik zu garantieren (zur Hoffnung, Dauerhaftigkeit mit Schrift sicherzustellen vgl. Martschini, Schriftlichkeit, S. 553). Diese kurze Selbstidentifizierung bleibt allerdings der einzige Hinweis darauf, dass es sich um eine gesellschaftlich hervorgebrachte Kulturform handelt, die in Zukunft Wandelerscheinungen unterlegen sein könnte.

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Antiochius begräbt seine Opfer (vgl. AvT, V. 394).260 Aufschluss über das Verhältnis der verstorbenen Person zu denjenigen, die die Beerdigung veranlassen, gibt nicht die Tatsache, dass die toten Körper unter die Erde kommen, sondern die konkrete Ausgestaltung des Grabes. Illustration dieser Aussagekraft sind die Beschreibungen der Verfahren der Crisaner Bürger mit den Leichen der Monster Ydrogant und Serpanta, denen wie gesagt nicht die Grablegung, aber eine aufwendige Ausgestaltung des Grabes verweigert wird. Nach dem Sieg des Apollonius über jene Wesen bestatten die Bewohner der Stadt Crisan, welche lange Zeit unter dem Wüten der zwei teuflische Kreaturen gelitten haben (vgl. AvT, V.  8840–10858), die Monster. Sie schleifen die beiden Leichen [i]n ain gruben, di was tieff (AvT, V. 11782) und häufen darüber in einem solchem Ausmaß Steine und Erde auf, dass der entstehende Erdhügel [v]erre hoher dann ain sper (AvT, V. 11785) über den Erdboden hinausragt. Die Wirkung dieser Grabgestaltung ohne Grabmal ist zunächst eine kommunikative. [Z]ehant (AvT, V.  11192) verbreitet sich laut Erzählinstanz im gesamten Land die Kunde, [d]as Serpanta und Ydrogant/Waren pracht ab dem wege (AvT, V. 1193f.).261 Der Text

260 Nur Dionisiades und Strangwillo erhalten noch nicht einmal ein Grab. Die Stiefeltern Tarsias haben sich durch ihr Verhalten als selbst dieser Respekthandlung unwürdig erwiesen. Sie werden nach der Aufdeckung ihrer Schandtaten von den Tarser Bürgern gesteinigt (vgl. AvT, V. 17189–17193) und anschließend – wie extra erwähnt wird – nicht begraben: Den pösen korpern ward verzigen/Das man sy nicht ließ pegraben,/Man wurff sy den hunden und den raben/Und den wilden tiere:/Si wurden fredden schiere (AvT, V. 17194–17198). Auf Grundlage des Verhaltens ließe sich eine Hierarchisierung der Vergehen der Stiefeltern und der Monsterwesen behaupten. Der Betrug von Menschen an anderen, der Vertrauensmissbrauch, wertete der Text dann als schlimmer als die Tyrannei der Monsterwesen. 261 In aktueller Hinsicht wird Raum überwunden, indem die Rezipienten der Grabstätte zu Boten der Neuigkeit gemacht werden. In einer ausschließlich kommunikativen Funktion steht das Mahnmal (s. zum Begriff Anm. 5/265) des Antiochius, welches hier der Vollständigkeit halber kurz erwähnt sei. König Antiochius’ Plan, alle heiratswilligen Kandidaten für seine Tochter durch ein unlösbares Rätsel zu eliminieren (vgl. AvT, V. 351–367), ist effektiv. Als Apollonius sich dem Rätsel zu stellen wagt, hat sich aus den Überresten der vorherigen Anwärter eine Art Mahnmal gebildet, welches Überschneidungen zum Grabmal aufweist, jedoch in erster Linie symbolisch kommunikativ funktioniert als eine dauerhafte Transmission zu verfolgen: All zehant nach der geschicht/Schlueg man im das haubet ab,/Den potisch trueg man zu dem grab,/Das haubet an die zynnen: (AvT, V. 363–367), heißt es zunächst ohne Bezug auf den Ausgang der Prüfungsfrage. Später wird deutlich, dass diese Ausstellung des abgeschlagenen Kopfes denjenigen droht, die die Frage falsch beantworten (vgl. AvT, V. 388–395). Den Zweck, der mit diesem Vorgehen verfolgt wird, stellt der Text dar, indem er die Reaktion derjenigen, die sahen an der zynnen da/Werder ritter haubet vil (AvT, V.  376f.), schildert. Viele der Fürsten, die nach Antiochia kommen, um mit der Rätselfrage ihr Glück zu versuchen, entscheiden sich angesichts der dargestellten möglichen Folgen gegen eine Anwärterschaft. Die exemplarische Reaktion gibt der Text in direkter

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nimmt aber auch das transmittive Potenzial dieser ,Grabgestaltung‘ durchaus wahr, indem dem Vorgehen der Bürger auch eine zukunftsorientierte Wirkung zugeschrieben wird. Die Bewohner Crisans graben ein Loch und schütten es reichlich wieder zu. Der Erdhügel bleibt. Allein dieser vermag die Bewohner des Landes an ihre einstige Unterdrückung und das Glück der Befreiung durch den Tod der beiden Monster zu erinnern. Die Verstorbenen selbst ehrt das Grab nicht. Nichts ziert den Ort, keinerlei Aufwand wird betrieben, um Andenken zu gewährleisten. Die Bedeutung des unmarkierten Erdhügels wird mündlich weitergereicht: Wer da reyttet oder get fur her, Der sprichet wol ’das ist das grab Da des tievels urhab, Serpant und Ydrogant leyd Untz an di hewtigen zeyt.’ (AvT, V. 11184–11188)

Dass die Erzählinstanz im Zitat im Präsens spricht, legt nahe, dass die Bedeutung des Erdhügels bis zur Zeit der Narration überdauert hat. Der orale Transmissionsweg scheint funktionstüchtig, doch nur solange das kommunikative Gedächtnis den Erdhügel mit Bedeutung auflädt, funktioniert das Grab als Erinnerungsanker. Ohne Erläuterung handelt es sich ausschließlich um einen Erdhaufen. Die Kontextinformationen werden einem unfesten, vor allem aber unaufwändigen Träger – der mündlichen Überlieferung – anvertraut. Im Grab werden die tyran-

Rede wieder: ‘Ditz ist ain poses schimpf spil‘/Sprachen sie gemain./‘Solt mir die vil rain/Tausent kunigkreich geben,/Durch sie wag ich nicht also mein leben‘ (AvT, V.  378–382). Mit seinem mit jedem Anwärter wachsenden Gebilde gemahnt Antiochius an das Risiko, das jeder Bewerber einzugehen bereit sein muss und erreicht damit, dass ein großer Anteil der potenziellen Werber erst gar nicht versucht, seine Aufgabe zu bestehen. Gleichzeitig wird die Abneigung des Königs, seine Tochter überhaupt wegzugeben, verdeckt. Es scheint lediglich so, als sei besonderer Mut Voraussetzung der Heirat, welche auf die Wertschätzung der eigenen Tochter zurückgeführt werden könnte. Als symbolisch kommunikativ lässt sich das Mahnmal deswegen bezeichnen, weil es die Köpfe der erfolglosen Anwärter verwendet, um einerseits metonymisch auf den Ritter bzw. dessen Tod, andererseits auf das drohende Schicksal eines Scheiternden sowie außerdem auf die Potenz des König Antiochius’ (im Sinne einer Ursache-Wirkung-Beziehung) zu verweisen. Man könnte auch so weit gehen, die Ausstellung des abgetrennten Kopfes auf die unzureichenden intellektuellen Fähigkeiten zu beziehen, da die Ritter jeweils an ihren intellektuellen Fähigkeiten scheitern. Auf der Ebene der Rezeption weckt dieses Vorgehen die literarische Erinnerung an Mabonagrins ,Gartenzaun‘ im Erec (vgl. Hartmann von Aue: Erec. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Hrsg. übersetzt und kommentiert von Volker Mertens, Stuttgart 2008 [Reclams Universal-Bibliothek 18530], V. 8765–8802). Dieser intertextuelle Verweis verdeutlicht die eigentlich verdeckte sexuelle Bedeutung seines Handelns.

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nisch herrschenden Monster zu Besiegten und ehrlos Verscharrten. Die enorme Macht, die die Monster zu Lebzeiten besaßen,262 findet in dem Grab keine Spiegelung, ihre furchteinflößende aber auch faszinierende Hässlichkeit263 wird dem Vergessen anheimgegeben. Was bleibt, ist – wenn überhaupt – der mündlich übermittelte Tod der beiden tievels leut (AvT, V. 11179) und der Triumph der Gemeinschaft. Die gewählte Grabgestaltung zeugt zumindest in erster Linie von Distanzierung, indem die Körper der verhassten Wesen in die Tiefe der Erde verbannt werden. Der über ihnen errichtete Berg aus Stein- und Erdmasse besiegelt ihre Niederlage und manifestiert die Abgrenzung der menschlichen Gemeinschaft von den Monstern. Diese werden dem natürlichen Verblassen der Zeichen und somit dem Vergessen überantwortet. Anders als die im Folgenden thematisierten Gräber, Grabmale und Grabstätten zeugt diese Praxis von der Geringschätzung der Getöteten und setzt der Abgrenzung der Gemeinschaft von diesen ein Denkmal statt jenen ein Grabmal. Das Errichten eines Grabmals dient also dieser Passage zufolge als Ausdruck der Anerkennung und Wertschätzung.264 Das mag an dem ihm innewohnenden Versprechen liegen, Informationen über die verstorbene Person, die nicht mehr über ihre Anwesenheit im Bewusstsein der Hinterbliebenen gesichert sind, zu bewahren. Denkmale (und damit auch Grabmale)265 überliefern, indem sie die Präsenz von Ereignissen oder Persönlichkeiten über deren Dauer hinaus

262 Nichts verweist darauf, dass die beiden dazu fähig waren, den Landstrich ganze zwanzig Jahre zu versperren (vgl. die Behauptung Nemrotts in AvT, V. 8839). 263 S. Kap. 6.2.2 264 Diese Bedeutung scheint für alle Kulturen Gültigkeit zu besitzen (vgl. Eming, Faszination, S. 246). 265 Die grundsätzliche Funktion kann kommunikativen Intentionen – bspw. Preis, Dank, Mahnung – unterstellt sein. Im lateinischen Pendant des Begriffs sind mehrere Funktionen zu entdecken: Das Verb monere, aus dem der Begriff des Monumentums hervorgegangen ist, bedeutet ,erinnern, aber auch warnen‘ (vgl. Kmec, Sakralisierung, S. 153). Hier wird das breite Funktionsspektrum von Denkmalen deutlich: Mediale Formen der Erinnerung können der Abschreckung dienen; aber auch das Gegenteil, die Glorifizierung und Sakralisierung von Dingen oder Ereignissen erwirken. Sie können auch wie beim Grabmal an einen bestimmten Kontext geknüpft sein. Den konkreten Intentionen der Denkmalserrichtung lassen sich unterschiedliche Bezeichnungen – Grab-, Ehren- und Mahnmale – zuordnen. Das Grabmal kommt nur in einem spezifischen Kontext, nämlich beim Tod einer Person auf dessen Grabstätte zum Einsatz. Ehrenund Mahnmale sind in der jeweiligen Breite der Einsetzbarkeit einander dichter. Während für Ehrenmale zum glorifizierenden Gedenken an bestimmte Personen oder Ereignisse anregen, erinnern Mahnmale in ausdrücklich appellativer, warnender Intention an Geschehnisse, die mit negativen Auswirkungen assoziiert sind. Der sich in der Nomination widerspiegelnden unterschiedlichen Funktion entsprechend müssen die unterschiedlichen Formgebungen getrennt voneinander betrachtet werden.

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zeichenhaft ausdehnen, die natürlich gesetzten Grenzen überschreiten und das Vergangene mit der Gegenwart verbinden.266 Ihr Transmissionspoten­zial beruht auf der bereits in mittelalterlicher Theorie als erinnerungsstiftend wahrgenommenen Visualität,267 die materialbedingt Langlebigkeit gewinnen kann. Ähnlich wie das Körpermaterial Apollonius’ (s. Kap. 5.2.1) verknüpft die Beständigkeit des öffentlich sichtbaren Materials eines Denk- bzw. Grabmals Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft268 und überwindet die Absenz des Verflüchtigten. Das diesen – bei freierer Interpretation einiger Definitionsmerkmale  – als Massenmedien zu bezeichnenden Objekten269 innewohnende Potenzial macht sie zu Grundlage und

266 So formuliert Ridder: „Über Kunstwerke wird personengebundenes Wissen erinnert“ (Ridder, Ästhetisierte Erinnerung, S. 64). 267 Die mittelalterliche Theorie beschäftigt sich mit der erinnerungsfördernden Medialität von Bildern. Das zeigt bspw. die von Johannes Balbus’ von Genua im Catholicon vorgebrachten Gründe dafür, Bilder in Kirchen aufzustellen. „Wisse, daß es drei Gründe für die Institution von Bildern in Kirchen gibt. Erstens zur Unterweisung der einfachen Menschen, weil sie durch Bilder belehrt werden, als wären es Bücher. Zweitens, um das Geheimnis der Inkarnation und Beispiele der Heiligen dadurch stärker auf unser Gedächtnis wirken zu lassen, daß wir sie täglich vor Augen haben. Drittens, um Empfindungen der Frömmigkeit hervorzurufen, die durch Gesehenes leichter wach werden als durch Gehörtes“ (Baxandall, Michael: Die Wirklichkeit der Bilder. Malerei und Erfahrung im Italien der Renaissance. Übersetzt von Hans-Günther Holl, Berlin 1999, S. 54). Auch in den Rhetoriken Albertus’ Magnus oder Thomas’ von Aquin lässt sich die Feststellung entnehmen, dass der ,Erinnerung‘ Figuren und bildliche Formen dienlich sind (vgl. hier S. 324). Für den höfischen, nichtkirchlichem Rahmen ist dieser Zusammenhang nicht theoretisiert worden, aber dennoch beobachtbar (vgl. Wenzel, Hören und Sehen, S. 325). Isidor von Sevilla gesteht Bildern nur aufgrund ihrer Funktion als „Medien der Erinnerung“ überhaupt Nützlichkeit und ihrer Herstellung Legitimität zu (vgl. Seiler, Peter: trovare cose non vedute. Naturnachahmung und Phantasie in Cennio Cenninis Libro dell‘ arte. In: Imagination, Transformation und die Entstehung des Neuen. Hrsg. von Philipp Brüllmann/Ursula Rombach/ Cornelia Wilde, Berlin, Boston 2014 [Transformationen der Antike 31], S. 111–154, hier S. 137; als entscheidende Belegstelle gibt er Kapitel XIX, 16,5 der Etymologiae an). Literarische Grab- und Ehrenmale gehören aufgrund ihrer Fähigkeit, Aufmerksamkeit zu generieren und zu binden, zu den Objekten, denen Baisch eine besondere Bedeutung als Faszinationsgeneratoren zuschreibt: „Im Rahmen einer Analyse höfischer Literatur wären Ekphrasen (außergewöhnlicher Figuren), Visualisierungen wie Bild- und Kunstbeschreibungen, Darstellungen etwa von Automaten, Grabmälern und Dingen von besonderer Bedeutung“ (Baisch, Martin: Medien der Faszination im höfischen Roman. In: Wie gebannt. Ästhetische Verfahren der affektiven Bindung von Aufmerksamkeit. Hrsg. von dems./Andreas Degen/Jana Lüdtke, Freiburg i. Br., Berlin, Wien 2013 [Litterae. Göppinger Beiträge zur Textgeschichte 191], S. 213–234, S. 225f.). 268 Vgl. Kmec, Sakralisierung, S. 153, vgl. auch Wenzel, Hören und Sehen, S. 323. 269 Auf Grundlage der Forschungsliteratur häufig angeführten Definition nach Maletzke werden Phänomene als ,massenmedial‘ verstanden, wenn sie, öffentliche, technisch aufbereitete Aussagen indirekt und einseitig an ein disperses Publikum kommunizieren: „Unter Massenkommunikation verstehen wir jene Form der Kommunikation, bei der Aussagen öffentlich (also

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Ausdruck eines kollektiven Bezugs auf Ereignisse zugleich. Sie sind – so zeigen die bisherigen wissenschaftlichen Auseinandersetzungen,270  – Gedächtnisund Identitäts­stifter,271 die die Geschichte in der Notwendigkeit der Reduktion zähmen, eine bestimmte Perspektive einnehmen, Normen festschreiben272 und hegemoniale Erinnerung durchsetzen.273 Es wird eine äußerlich wirksame, mate-

ohne begrenzte und personell definierte Empfängerschaft) durch technische Verbreitungsmittel (Medien) indirekt (also bei räumlicher oder zeitlicher oder raumzeitlicher Distanz zwischen den Kommunikationspartnern) und einseitig (also ohne Rollenwechsel zw. Aussagenden und Aufnehmenden) an ein disperses Publikum vermittelt werden“ (Maletzke, Gerhard: Psychologie der Massenkommunikation. Theorie und Systematik, Hamburg 1963, S. 32; vgl. zu dem Begriff und seiner Prägung Pürer/Springer/Eichorn, Grundbegriffe, S. 39–48). Dabei ist eine bereite Auslegung des Begriffs ,technisch‘ nötig, um die Bezeichnung anwenden zu können. Das Hauptargument für eine Einordnung als Massenkommunikationsmittel liegt in Öffentlichkeit, Indirektheit und Einseitigkeit, welche auch als Merkmale von Grab- und Ehrenmalen anzuführen sind. Die in sie eingearbeiteten Texte fallen daher unter den nicht nur materiell definierten Begriff der Inschrift: „hinsichtlich ihres Adressatenkreises sind Inschriften“ – so Martschini – „tendenziell öffentlich zu nennen. Sie richten sich nur selten an eine bestimmte Person, sondern geben die in ihnen gespeicherten Informationen jedem Preis, der sozusagen gerade vorbei kommt und die Schriftzeichen zu entziffern weiß“ (Martschini, Schriftlichkeit, S.  330f.). In Abgrenzung zu Briefen komme ihnen weniger ein konkreter Botschaftcharakter als eine dauerhafte Vermittlungsfunktion mit indefinitem Adressatenkreis zu (vgl. Wand-Wittkowski, Briefe, S. 36, auf die in diesem Zusammenhang ebenfalls Martschini verweist [vgl. Martschini, Schriftlichkeit, S. 331; vgl. außerdem Ernst, S. 308]). 270 Diese sind hauptsächlich in den Geschichts- und Sozialwissenschaften zu finden. Einerseits geht es den Forschungsbeiträgen um den bewussten Umgang mit als gesellschaftlich relevant erachteten Ereignisfolgen, die als ,kollektive Erinnerungen‘ im ,kulturellen Gedächtnis‘ verankert werden und die im Begriff ,Geschichte‘ kulminieren, andererseits um die kollektiven Verhaltensweisen, die Gesellschaft konstituieren, verhandeln, bewahren und verändern. 271 Vgl. Schubert, Memorisierung, S. 104. So formuliert auch Martschini das Verleihen und Sichern von Identität als Hauptfunktion von Grabsteinen und Epitaphien (vgl. Martschini, Schriftlichkeit, S. 314). 272 Haupt macht deutlich, inwiefern die Art des Gedenkens mit der Aushandlung von Normen verknüpft ist. Der soziale Aspekt des Totengedenkens bestehe darin, dass die Werte, die den Einzelnen unvergesslich machen und die für die Zukunft bestehen sollen, bei dem Entwurf des Denk- bzw. Grabmals ausgehandelt werden (vgl. Haupt, Memoria, S. 41). 273 Kmec, Sakralisierung, S. 167. Sie sollen „das Wuchern der Vergangenheit bändigen und in geordnete Bahnen lenken“ (hier S. 153). Übergeordneter Effekt ist die Stabilisierung des kollektiven Selbstverständnisses als Gemeinschaft und die Zugehörigkeit des Einzelnen zu dieser sowie die Entwicklung und Festigung einer gemeinsamen Sichtweise, welche wiederum Grundlage für das Fortbestehen des Zusammengehörigkeitsgefühls sein kann. Da in diesem Vorgehen automatisch Differenzen nivelliert und Komplexitäten abgebaut, bestimmten Sichtweise auf ein Ereignis repräsentiert, während andere Interpretationen und Bestandteile weggelassen werden (vgl.

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rielle Körperlichkeit274 geschaffen, die mit bestimmten Ereignissen verknüpft und mit identitäts- bzw. gemeinschaftsstiftender Bedeutung aufgeladen wird.275 Diese Überlegungen fasst die Definition, die dem ,Lexikon der Kunst‘ zu entnehmen ist, eingängig zusammen. Demnach ist ein Denkmal […] jedes bewusst mit der Absicht der Wahrung des Andenkens an Personen oder Ereignisse errichtete architekton. oder plast. Werk. D[enkmäler] propagieren meist die herrschenden Ideen und führenden Persönlichkeiten der jeweiligen hist. Formation bzw. ihrer einzelnen Perioden und entfalten deshalb eine aktive gesellschaftspolit. Wirksamkeit.276

Bei ihrer Analyse ist zu fragen, welche Informationen jeweils weitergegeben werden sollen und welche Techniken verwendet werden, um sie zu bewahren und weiterhin zugänglich zu machen. Denn jeder literarischen Grabgestaltung kann sich ob der Beobachtbarkeit der Informationsüberführung im Rahmen der Gestaltung sowie der Rezeption277 die Sicht der Figuren auf andere Figuren und ihre Lebensläufe offenbaren. Aufgrund der universalen Gültigkeit des Zusammenhangs von Grabmal, Transmissionsintention und Wertschätzung (s. o.) vermögen Grabmale aber auch

Kmec, Sakralisierung, S. 163 sowie 167), ist über die Betrachtung solcher Prozesse Aufschluss darüber zu gewinnen, was ein Ereignis oder eine Person qualifiziert, erinnert zu werden. 274 Es handelt sich um ein Mal in seiner etymologischen Doppeldeutigkeit. Repräsentiert ist die Nähe im Wortbestandteil des Mals, das sowohl auf einen kennzeichnenden Fleck, eine Verfärbung der Haut oder aber ein selbst zugefügtes Körperzeichen als auch auf ein „größeres plastisches, architektonisches Gebilde“ verweist. Eintrag ,Mal‘ unter https://www.duden.de/ rechtschreibung/Mal_Zeichen_Stelle_Tor (21. Februar 2019); zur Bedeutung ,Fleck‘/,Markie‑ rung‘ s. auch Kluge, Etymologisches Wörterbuch, S. 595). 275 Denkmale sind darin dem Prozess der Funktionalisierung des Körpers als Erinnerungsvermittler ähnlich. So könnte man behaupten, es handle sich bei der Herstellung von Denkmalen um die Schaffung eines kollektiven Körpers mit Memorialfunktion mit in diesen durch Verformung des Ausgangsmaterials eingeschriebener Geschichte. Dazu muss gerade im Gegensatz zum personalen ,Erinnern‘ des Apollonius eine Ablösung vom erinnernden Subjekt stattfinden: „Erst die Distanz des sich erinnernden Subjekts zum Erinnerten ermöglicht die Vergegenständlichung der Erinnerung als Kunst“ (Ridder, Ästhetisierte Erinnerung, S. 81). 276 S. den Eintrag im Lexikon der Kunst (Olbrich, Harald/Strauss, Gerhard [Hg.]: Lexikon der Kunst. Architektur, bildende Kunst, angewandte Kunst, Industrieformgestaltung, Kunsttheorie Bd. 3 Cin–Gree, Leipzig 1989, S. 204). 277 Während Gestaltung, Strategien der Verständnissicherung und Rezeption in der Realität schwer zu untersuchen sind (vgl. Kmec, Sonja: Tote leben länger. Sakralisierung, Vergemeinschaftung und Gesellschaftskritik durch Monumente. In: Medien des Wissens. Interdisziplinäre Aspekte von Medialität. Hrsg. von Georg Mein, Bielefeld 2011 [Literalität und Liminalität 4], S. 153–168, hier S. 167), können Texte Figuren im Umgang mit den jeweiligen Erinnerungsträgern zeigen. So werden „[i]n literarischen Texten […] Statuen und Bilder als Medien der Erinnerung,

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als Nachweis des Todes zu wirken. Das Grab, das Dionisiades, die Stiefmutter Tarsias, jener nach ihrem vermeintlichen Ableben errichtet, dient zunächst der Kommunikation des Todes, spricht aber im Hinblick auf die Reaktion der Tarser Bürger auch von der Wertschätzung der/des Toten im Grabmal. Das Grab findet kurz in Dionisiades’ Klagegeschrei Erwähnung. Sie erklärt, sie und ihr Mann hätten Tarsia gar erlichen pegraben‘ (AvT, V.  15507). Es handelt sich – ähnlich wie in Flore und Blanscheflur278 – um ein gefälschtes Grabmal, das im Sinne der Auftraggeberin die Bürgerschaft täuschen, für den Tod Tarsias einstehen sowie die geheuchelte Trauer der Stiefmutter um Tarsia besiegeln kann. Denn diese wollte sie eigentlich von dem Bauern Cofilus ermorden lassen, um die eigene Tochter nicht weiterhin in den Schatten der Ziehtochter gestellt sehen zu müssen (vgl. AvT, V. 15236–15304).279 Die Reaktion der Bürger auf die daraufhin begutachtete Grabstätte lässt darauf schließen, dass die für alle sichtbare Grabstätte die Abwesenheit Tarsias plausibel und die vorgetäuschte Reaktion der Stiefmutter glaubhaft macht (vgl. AvT, V. 15508–15514).280 Das Grab verweist auf die Realität des Todes, fungiert als Zeuge für Tarsias Ableben.281 Erinnerungszeichen und auslösendes Moment sind so eng miteinander verknüpft, dass der Verweis des Grabmals auf die verstorbene Person auch auf deren Zustand hin interpretiert wird – auch wenn die dem Ritual zugrunde liegende Konstellation gar nicht auf andere Art bewiesen ist. Niemand hat den leblosen Körper Tarsias gesehen,

als bedeutende Zeugen einer außerliterarischen ars memorativa dargestellt“ (Wenzel, Hören und Sehen, S. 389). Im Tristan werde bspw. die Literatur als Medium der memoria und Repräsentation selbstreferentiell und erreiche eine besondere artistische Komplexität (vgl. hier S. 334). 278 Zur der parallel funktionierenden Abwesenheitsmarkierung durch das Grab in Flore und Blanscheflur und zu dieser Funktion der medialen Form des Grabes allgemein vgl. Eming, Faszination, S. 253; Martschini, Schriftlichkeit, S. 335–338 sowie FuB, V. 1930–1941. 279 Tarsia ist diesem Plan unbemerkt entronnen, denn Tarsias ,letztes Gebet‘ (s. Kap. 6.2.1) dauert so lange, dass in der Zwischenzeit Piraten am Ort des Geschehens auftauchen und die junge Frau rauben (vgl. AvT, V. 15397–15416). Dionisiades geht jedoch vom Tode ihrer Stieftochter aus, da der Auftragsmörder vorgibt, seinen Auftrag ausgeführt zu haben (vgl. AvT, V. 15430–15434). 280 Ihrem Mann Strangwilio gegenüber offenbart Dionisiades den Plan: Wir sullen jamerlichen clagen,/Und sullen an uns zehant/Legen cläglich gewant,/Und sullen paid erscheinen/Mit clagen und mit waynen./Wir sullen den purgeren clagen/Ir sey we in dem magen/So gar vast gewesen/Das sy mit nichte kund genesen‘ (AvT, V. 15440–15448). 281 Vgl. dazu Ridder: „Im Grabmonument etabliert sich das Verhältnis des Dargestellten zur Realität als Vergangenes“ (Ridder, Ästhetisierte Erinnerung, S. 72). Auch wenn das Kunstwerk das das Vergangene vergegenwärtigt (vgl. hier S. 81), bleibt es doch als Vergegenständigung erkennbar.

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dennoch gehen alle beim Anblick des Grabes davon aus, dass sie wie behauptet verstorben ist. Dass ein Grab in erster Linie auf den Tod einer Person verweisen kann, wird erneut erkennbar, als Apollonius nach Tarsis kommt. Nachdem er von dem vermeintlichen Tod seiner Tochter mündlich erfahren hat (vgl. AvT, V. 16058f.), verlangt Apollonius, das Grab (der Tarser, s. u.) zu sehen (Ich will gen zu dem grabe, AvT, V. 16112) und interpretiert die Grabinschrift282 als eindeutigen Verweis auf die Wahrheit des Todes seiner Tochter. Die Schrift auf dem Grabstein [z]aiget (AvT, V. 16122), so formuliert es die Figur selbst, den Tod an. Apollonius ist daher auch höchst irritiert, als die Reaktion seines Körpers nicht den visuell wahrgenommenen Signalen entspricht, wobei er dem Eindruck des Grabmals höhere Autorität als seinen intuitiven Körpersignalen zumisst (s. Kap. 6.3.1).283 In der primär kommunikativen Funktion berufen sich die Grabmale auf die unterstellte transmittive Intention. Das Grab kann glaubwürdig machen, dass Tarsia gestorben ist und betrauert wird, weil einem Grab die Intention, zu erinnern und zu ehren, unterstellt wird – weil es ein konventionalisiertes Transmissionsmedium ist. Die soeben besprochene Szene ist ebenso wie die Passage um die Grablegung Serpantas und Ydrogants Ausweis dafür, dass der Apollonius Grabmalgestaltung als direkten Verweis auf die Beziehung versteht. Denn obwohl Dionisiades bereits ein Grab angefertigt hat, haben die Tarser das Bedürfnis, ein neues, kosperes grab (AvT, V. 15514) zu gestalten. Das erste Grab, das Tarsias Stiefmutter in nur scheinbarer Trauer errichtet, steht in anderem Kontext als das der Tarser, die tatsächlich um den vermeintlichen Tod der jungen Frau trauern. Letztere verfahren so, als entwürfen sie eine tatsächliche Grabstätte; die Stiefmutter glaubt zwar fälsch­ licherweise ebenso, dass Tarsia tot ist, die Trauer der Pflegeeltern und damit auch der Wunsch, ein Grab zu Ehren der Stieftochter zu errichten, ist jedoch geheuchelt (s. Anm. 5/279; 5/280). Über das erste Grab selbst lässt sich der Text nicht weiter aus, er legt aber mit der Tatsache, dass die Tarser ein neues Grab errichten wollen, nahe, dass dieses nicht als angemessen empfunden wird oder die Tarser zumindest einen eigenen Bezug zur Verstorbenen darstellen wollen. Dient das erste Grab der Stiefmutter vorwiegend zum Beweis des Todes, so bedient das Grabmal, das die Tarser bauen, die Bedürfnisse der Gemeinschaft nach einem

282 Vgl. zum Inschrift-Begriff Anm. 5/43; 5/269. Fiktive Inschriften sind bereits seit der Antike eine literarische Tradition. Sie tauchen bereits im hellenistischen Liebesroman auf, sind in den römischen Epen zu beobachten und gehen schließlich in die höfischen Romane des Mittelalters ein (vgl. Ernst, Schriftlichkeit, S. 278). 283 Gerade die Tatsache, dass der Körper Apollonius andere Signale als die mediale Form sendet, macht auf den Störfall der Kommunikation, der hier vorliegt, aufmerksam (vgl. hier S. 294).

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eigenen, angemessenen Ort der Erinnerung. Dem zugrunde liegen muss die Vorstellung, dass eine gewisse Korrespondenz zwischen dem Grabmal und der verstobenen Person erstrebenswert ist – zur Not auch durch Gestaltung eines zweiten, passenderen Grabes. Während die Beerdigung noch nicht als Ausweis von Wertschätzung zu verstehen ist, verfolgen die Gräber der jeweils positiv oder negativ von der bestattenden Gemeinschaft erachteten Figuren im Apollonius von Tyrland die angemessene Abbildung der Beziehung zwischen Verstorbenem und Hinterbliebenen. Die Ausstattung mit einem Grabmal ist die basale Form der Anerkennung, Aufwand und Kostbarkeit zeugen von einer positiv besetzten Beziehung.284 Eine solch differenzierte Auseinandersetzung mit der Frage, ob eine Grabstätte gestaltet wird und wann sie angemessen ist, findet sich im Reinfried von Braunschweig nicht, handelt es doch sich bei allen Bestatteten auch um Personen, die für die jeweilige Gemeinschaft von hoher Relevanz sind (so die christliche Heilige und die Anführer der Riesen),285 oder die historische Bedeutsamkeit besitzen (so der Schwarzmagier Savilôn). Im letzten Falle jedoch kann für den Erbauer dieses Grabes der Erfolg einer Übermittlung höchstens vage Hoffnung gewesen sein. Nicht einmal Reinfried und sein Gefährte, die bewusst den Magnetberg aufsuchen, wissen etwas von dieser am entlegensten Ende der Welt platzierten Grabstätte. Nie zuvor kommt sie zur Sprache, die Vorsicht, mit der sich die Besucher der Grabhöhle nähern (vgl. RvB, V.  21164–21245), vermittelt, dass ihnen unbe-

284 Dieses System kann Universalität beanspruchen, gilt es doch für die Menschen unterschiedlichen Glaubens im Apollonius, für Riesen, heidnische und christliche Menschen im Reinfried gleichermaßen. Dass sich die Tarser gleich nachdem sie vom vermeintlichen Ableben Tarsias erfahren, entschließen„[a]in kosperes grab [zu] graben“ (AvT, V.  15514), verwundert kaum. Dennoch verweist die Erzählinstanz darauf, dass die Inschrift auf haydenischen (AvT, V. 15516) verfasst ist. Wenn auch ein Großteil der Handlung in einem nicht-christlich geprägten Raum spielt (auch der Protagonist ist bis zum Ende der Handlung kein Christ), so kennzeichnet die Erwähnung der fremden Schrift doch besonders dieses Bestattungsritual als eine auch nichtchristlichen Konfessionen eigene Kulturhandlung, die in ihrer Ausgestaltung dem christlichen Umgang mit Toten ähnlich ist. 285 Der Umgang der Riesen mit dem Leichnam ihres Anführers kommt zur Sprache, als diese einen Racheangriff auf die Zwerge planen. Das Grab, das sie errichten, dient auf Textebene dazu, den Angriff der Riesen mit der Trauer um ihren Herrscher zu motivieren. In dieser Funktion wird es als Akt und Ausdruck der Trauer der Riesen stilisiert, indem von klag und manic weine (RvB, V. 25040) berichtet wird, bevor die Erzählinstanz sich der Heimholung und dem Begräbnis des Verstorbenen widmet. Die Grablegung und auch die Grabgestaltung ist ein Anliegen, das der Erfahrung von Verlust und Trauer entspringt, und das – was die wohl spannendere Beobachtung ist – unterschiedlichen Kulturkreisen zugesprochen wird. Die mit der Bezeichnung ungefüege grôze art (RvB, V. 26042) eigentlich abgewerteten Riesen beerdigen auch alle anderen Verstorbenen (vgl. RvB, V. 26043–26045, 26060f.).

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kannt ist, was sie dort erwartet.286 Dass an diesem Ort dennoch ein keiserlîchez (RvB, V. 21283) Grab gestaltet wurde, entspricht dem musealen Charakter287 des Magnetbergs, der sich mit dem im Reinfried bereits bei Herakles’ beobachtbaren, menschlichen288 Bedürfnis, auch ins Ungewisse zu übermitteln (s.  Kap.  5.3.1), erklären lässt. Bei der Gestaltung der Gräber ist die Angemessenheit von Gestaltungsaufwand in Bezug zur Wertschätzung der jeweiligen Person das Ideal. Die Beziehung zwischen dem/der Produzenten/Produzentin und dem/der Verstorbenen soll Verstetigung erfahren. Doch auch Informationen über die Verstorbenen selbst sollen bewahrt werden. Das wird bereits bei dem auserzählten Grab für die Riesenkönigin aus dem Reinfried anschaulich. Im Zusammenhang mit dem Grab der Riesenkönigin im Reinfried wird deutlich, dass Angemessenheit bspw. die Abbildung der gesellschaftlichen Stellung einer Person in der Art ihrer Bestattung bedeutet. Nach der Niederlage der Riesen machen die Überlebenden eine Bestandsaufnahme. Die Verletzten werden verarztet und gepflegt (vgl. RvB, V. 26046–26049), die auf dem Kampffeld Verstorbenen eingesammelt (vgl. RvB, V.  26042f.) und zehant (RvB, V. 26045), also vor Ort und Stelle, bestattet. Nur den Leichnam der Königin überführt man ins Heimatland, wo sie ein Begräbnis erhält, das ihrem Status geziemt – sie wird zur Ruhe gebettet swie man ein küneginne sol/begraben und bestatten (RvB, V. 26060f.). Diese Unterscheidung unterstellt, dass es divergierende Ansprüche an eine angemessene Bestattung je nach Status der/des Verstorbenen gibt. Auch Apollonius’ Bemühungen bei der Gestaltung des Sargs Lucinas legen nahe, dass dem Stand eine besondere Relevanz bei einer angemessenen Grabgestaltung zukommt. Zwar ruft Apollonius explizit nur zur Bestattung auf (vgl. AvT, V. 2566f.), in Verbindung mit dieser Aufforderung erwähnt er jedoch auch ausdrücklich, dass es sich um einen hochgeporen tod leib (AvT, V. 2569) handelt. Dass er außerdem Geld mitschickt, welches er für die Kosten des Grabes mindestens veranschlagt, und dass er unter Zuhilfenahme zerdehnter schriftbasierter Kommunikation viele Informationen bereitstellt, deutet darauf hin, dass er sicherzu-

286 Es wird sogar erwähnt, dass sie sich fragen, waz dar inne möhte sîn (RvB, V. 21273) und sich dur schowe waz ez wære (RvB, V. 21277) diesem nähern. Nur diejenigen, die einerseits die Ankunft am Magnetberg überstehen und sich dann bis in die Höhle vorwagen, erblicken das Grab. 287 Neudeck, Continuum historale, S. 176. 288 Während Geister an der konkreten Formgebung beteiligt sind (s.  u.), geht der Befehl zur Gestaltung eines Grabes und das Bedürfnis, etwas Dauerhaftes zu errichten, um die Geschichte des Toten vor dem Vergessen zu bewahren, auf eine menschliche Figur zurück: Virgilîus […] hiez […] ein grap die geiste machen (RvB, V. 21692–21696).

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stellen versucht, dass das Grab nach seinen Wünschen ausfällt und dass ihm für Lucina etwas Aufwändigeres vorschwebt. Was er gern im Grabmal repräsentiert haben möchte, zeigt sich in der provisorischen Inszenierung des Leichnams, die unterschiedliche mediale Strategien verbindet. Zunächst setzt Apollonius im Dienste einer angemessene Grabgestaltung ein Mittel zerdehnter Kommunikation289 ein. Er lässt auf dem Sarg, in dem Lucina aufs offene Meer geworfen wird, eine Bleitafel mit ,Memorabile‘290 anbringen (vgl. AvT, V. 2542), den Sarg lässt er so ausstatten, dass er explizit und implizit Informationen über Lucina vermittelt. Denjenigen, die auf Lucinas Leichnam stoßen, lässt er bestimmte Informationen zukommen, welche dann  – so ließe sich spekulieren – auf das von Apollonius imaginierte Grabmal zu übertragen sind oder aber zumindest deutlich machen, welcher Aufwand und was für eine Grabgestaltung angemessen ist. Der Text auf Lucinas Sarg, welcher bereits in der lateinischen Historia existiert,291 wird in Heinrichs Text im Moment der Aufzeichnung indirekt in Paraphrase wiedergegeben; dennoch ist gut erkennbar, welche Aspekte Apollonius als relevante – erinnerungswürdige – Charakteristika seiner ,verstorbenen‘ Frau erachtet. Ganz am Beginn des Textes steht als wichtigste Information die genea­ logische Einordnung Lucinas als Königstochter und königliche Braut. Ihr Vater

289 Die Eingrabung stellt formal eine ,Inschrift‘ dar, welche trotz ihres Botschaftscharakters grundsätzlich nicht in Gesprächsersatzfunktion stehen. Ihnen kommt eine dauerhaftere Bedeutung zu und ihr Adressatenkreis ist indefinit, sodass Gesprächsfunktion, authentische Spre­ cherrepräsentation und Dialogizität keine Rolle spielen (vgl. Wand-Wittkowski, Briefe, S. 36). 290 Auf Grabmälern angebrachten schriftliche Bestandteile wie Tafeln mit Gravur sind als literarische Form mit dem Begriff ,Memorabile‘, kurze Texte mit Informationen über Verstorbene, zu beschreiben. Diese Textgattung zeichnet sich typischerweise dadurch aus, dass sie Informationen über die verstorbene Person, ihr Leben und die Umstände, vielleicht sogar Gründe für den Tod angeben (vgl. Jolles, Formen, S. 200). Üblich ist es für die Gattung offenbar auch, aus dem allgemeinen Geschehen etwas Einmaliges herauszuheben und damit dem Ganzen einen Sinn zu geben (vgl. hier S. 203). Er erarbeitet dieses Verständnis allerdings anhand eines exemplarischen Nachrufs aus einer alten Zeitung. 291 Der Brieftext wird hier erst im Moment der Rezeption geschildert. Es heißt: Qui cum resignasset, invenit sic scriptum ,Quicumque hunc loculum invenerit, habentem in eo XX sestertia auri, peto ut X sestertia habeat, X vero funeri impendat. Hoc enim corpus multas dereliquit lacrimas et dolores amarissimos. Quodsi aliud fecerit, quam dolor exposcit, ultimus suorum decidat, nec sit, qui corpus suum sepulturae commendet‘ – [Er öffnete den Brief und fand folgendes geschrieben: ,Wer diesen Sarg auffindet, den bitte ich, von den beigelegten zwanzig Goldstücken zehn zu behalten, die restlichen zehn aber für das Begräbnis zu verwenden. Denn dieser Leichnam hat viele Tränen und bitterste Schmerzen hinterlassen. Sollte er aber anders handeln, als der Schmerz verlangt, so soll er als der letzte seines Geschlechtes verlöschen, und keiner soll seine Leiche einem Grab übergeben.‘] (Historia S. 58, Übersetzung S. 59).

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sei ein König, sie selbst eine Königin (vgl. AvT, V. 2543f.). Unverzichtbar scheint die gesellschaftliche Verortung des ohne Gefolge kaum zuzuordnenden und als adlig zu identifizierenden Körpers zu sein.292 Anschließend geht es um die Umstände des Todes und die Erklärung der Seebestattung (s.  o.). Das ist nicht nur eine den Tod untermalende Information, sondern wichtige Aussage für die Glaubhaftigkeit der vorherigen Behauptung, bei der Toten handle es sich um eine Königin und Königstochter. Die Äußerung vermittelt, dass die Notsituation zu einer solchen, eigentlich unangemessenen Bestattung geführt hat und kittet so den Bruch zwischen improvisierter Bestattung und behauptetem Status. Diese Interpretation wird dadurch gestützt, dass die Umstände des Todes von dieser auf die Notsituation anspielenden Aussage abgesehen nicht dargestellt werden. So findet ihr Tod im Kindbett und auch die Entscheidung, die Tochter in Pflege zu geben, keine Erwähnung. Vorrang auf dem begrenzten Schriftraum hat eine Aussage, die nicht den Tod erklärt, sondern die Wahl der Bestattungsform erläutert und damit die genealogische Einordnung plausibilisiert. Die letzte Information, die Platz auf der Bleitafel findet, ist schließlich der Name (vgl. AvT, V. 2546), welcher zusammen mit den anderen Informationen eine ein­deutige Identifikation ermöglicht, gleichzeitig dem Leichnam eine persönliche Identität verleiht. Neben der gesellschaftlichen Stellung sind demnach die Erklärung der mit jener konfligierenden Bestattungssituation sowie die Verknüpfung des leblosen Körpers mit der persönliche Identität, die im Namen gebündelt wird, wichtig für die Ermöglichung einer angemessenen Grabstätte. Das Innere des Sargs arbeitet der Intention einer ehrwürdigen Ausstattung des Grabes weiter zu, denn auch die provisorische Ruhestätte Lucinas wird von Apollonius selbst mit Bedacht und im Hinblick auf den Moment der Konfrontation eines Fremden mit dem toten Körper gestaltet. Mit der Innenausstattung des Sargs stellt Apollonius sicher, dass die Behauptung der Bleitafel eine optische Bestätigung findet: Er legt ir an gut gewandt. Er setzt ir auff schone Von gold ain edel krone (AvT, V. 2547–2549)

292 Ähnlich wie Martschini für Parcevals tatsächlich tote, aber ebenfalls auf dem Meer bestattete Schwester im Prosalancelot konstatiert, wäre Lucina ohne die Schriftgravur auf dem Sarg lediglich eine ,Leiche‘ ohne Identität (vgl. Martschini, Schriftlichkeit, S. 313).

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Die Apollonius’ unterstellte Motivation bestätigt sich dadurch, dass die Erzählinstanz die Kostbarkeit von Kleidern und Krone (vgl. AvT, V. 2551–2555) auf die königliche Natur Lucinas zurückführt (Wann sy ain kunigin was, AvT, V.  2550). Diese reiche Ausstattung, wird noch durch wertvolle Spangen, die Apollonius Lucina in die Hände legt (vgl. AvT, V.  2556–2559), und rotes Gold im Wert von hundert Pfund (vgl. AvT, V. 2560f.) abgerundet. Die Innenausstattung des Sargs verweist mit materieller Kostbarkeit auf die Wertschätzung der Toten, stellt durch Symbole des Adelsstandes Kohärenz her zwischen dem visuellen Eindruck und der Aussage der Bleitafel. Apollonius tut alles, um sicherzustellen, dass Lucinas Körper nicht nur begraben, sondern auch als auch Königstochter und Königin bestattet und erinnert wird. Ganz erfolglos ist er in seinen Bemühungen nicht, auch wenn es nicht zu einer Bestattung kommt. In der beschriebenen Aufmachung wird die lediglich scheintote Lucina an den Strand Ephesus’ gespült und von Ansässigen gefunden (vgl. AvT, V. 2618–2621), wobei auch die verfasste Botschaft Beachtung findet (vgl. AvT, V. 2655f.). Da pey an pley geschriben was/Als ich euch ee die rede laß (AvT, V. 2655f.), ruft die Erzählinstanz die Formulierungen des Apollonius’ wieder ins Gedächtnis. Hier dient die Bleitafel als textinterne Identifizierung der angespülten Kiste mit dem aufs Meer geworfenen Sarg und erinnert so an die nicht erneut zur Darstellung gebrachte aufwändige Aufmachung und den damit verknüpften Wunsch nach Bestattung. Als die Bewohner des Küstenstreifens sich näher mit der mysteriösen Kiste und dem enthaltenen, schließlich für scheintot befundenen Körper auseinandersetzt haben, spielen die getroffenen Vorkehrungen eine handlungsrelevante Rolle. Der hinzugezogene Cerimonius […] gelaß Das sy aines kuniges dochter was, Dar zu aines kuniges weib (AvT, V. 2782–2784)

und entscheidet sich auf Grundlage dieser – in der gesamten Aufmachung glaubhaften – Auszeichnung als Königin und Königstochter (do, AvT, V.  2785) dazu, Lucina bei sich aufzunehmen (vgl. AvT, V. 2785–2787). Apollonius’ Inszenierung der temporären Grabstätte kann daher zwar keine angemessene Grabgestaltung durchsetzen, hat aber dennoch eine bedeutsame Wirkung, indem diese die Sicherheit Lucinas in der Fremde gewährleistet. Die bei Apollonius’ Bemühungen beobachtete Multimedialität der Inszenierung prägt auch alle im Folgenden genauer betrachteten Grabmaldarstellungen. So ergibt sich das, was das Grabmal der Tarsia, welches ebenso wie die Inschrift auf dem Sarg der Lucina bereits eine lateinische Vorlage besitzt (s. Anm. 5/296), über die Tote zu berichten hat, zum einen aus dem verwendeten wertvollen Mate-

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rial, das symbolisch auf die Wertschätzung der aufgenommenen Königstochter verweist,293 zum anderen aus der Verwendung von Schrift und Bild. Die Erwähnung des symbolträchtigen Materialwerts fällt recht kurz und unspezifisch aus: Das Grab sei, so lässt die Erzählinstanz wissen, von messinge […] kosper[…] bzw. von kostlichen sachen gefertigt (vgl. AvT, V. 15513f., 16104). Das Bildnis Tarsias, das auf dem Grab installiert wird (vgl. AvT, V. 15515),294 trägt für die Repräsentation der Erscheinung und damit für die dauerhafte Präsenz der einstigen äußeren Gestalt bzw. einer Momentaufnahme dieser Gestalt Sorge. Mehr erfährt man darüber, was den Tarsern so wichtig erscheint, dass sie es schriftlich festhalten. Ein Teil des in der fremdartigen, ,heidnischen‘ Schrift (s. o.)295 verfassten Textes, der auf dem Grabmal angebracht ist, wird paraphrasiert, ein anderer direkt wiedergegeben. Der paraphrasierte Teil der Inschrift erzählt aus dem Leben der Verstorbenen, genauer, wie sie Teil der dortigen Gemeinschaft geworden ist. Es geht darum, [w]ie Tarsia da was peliben (AvT, V. 15517). In dem wörtlich wiedergegebenen Teil der Inschrift spricht die Stimme der Tarser, die Schrift verleiht dem Kollektiv eine dauerhafte kommunikative Potenz. Eingeleitet wird die direkte Wiedergabe mit einer Formulierung, die die entäußernde Kraft und das Transmissionspotential der nachfolgenden Schrift betont. Mit der Formulierung [d]i geschrift sprach also (AvT, V. 15518) verweist der Text auf die Möglichkeit der Inschrift, die Betrachter des Grabmals zu sprechen und sie immer wieder von Neuem zu adressieren und zu unterrichten. Sie vertritt das trauernde Kollektiv, koordiniert, kanalisiert und konstituiert deren gemeinsame Haltung und stellt sicher, dass auch deren Vergänglichkeit überwunden wird, indem die momentane Positionierung zum Tod Tarsias in der Schriftmaterialisierung festgeschrieben wird. Besonders umfangreich fällt dieser verstetigte Sprechakt nicht aus, dennoch lassen sich ihm wichtige Informationen über die als erinnerungswürdig erachteten Informationen entnehmen. Der Text ist wie

293 Wertvolle Materialien der Grabgestaltung seien ein Verweis auf den individuellen (und damit sogleich sozialen) Wert der bestatteten Person, so Martschini, Schriftlichkeit, S. 315. 294 Haubrichs stellt in seiner Auseinandersetzung mit historischen Grabdenkmalen fest, dass äußerliche Ähnlichkeit (similitudo) erst im vierzehnten Jahrhundert zu einem relevanten Merkmal individueller Abbildung wird. Vorher steht die idealtypische Inszenierung (significatio) im Vordergrund (vgl. Haubrichs, Habitus Corporis, S. 22–24). 295 Die Erzählinstanz spricht implizit durch die Erwähnung die Problematik der Kultur- und damit in gewisser Weise auch Zeitgebundenheit von Schriftsystemen an, die die Dauerhaftigkeit der Übermittlung einschränken kann, gestaltet sie jedoch nicht aus. Die spätere Rezeption des Grabmals bzw. derartige Probleme des Verstehens werden nicht dargestellt und auch im Erzählvorgang findet eine solche Problematik keine weitere Erwähnung. So hat die Erzähl‑ instanz keine Schwierigkeiten, die Formulierung in ihrer eigenen Sprache wiederzugeben.

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schon in der lateinischen Vorlage296 vollkommen auf Apollonius ausgerichtet. Er ist in erster Linie gar nicht der Verstorbenen, sondern deren Vater gewidmet. Es heißt: ’Zu eren Appolonio.’ Do sprach der ander puchstabe ’Gemachet ist das grabe Zu lieb und zu mynne. Da ligt pegraben inne Sein liebes kint Tarsia, Die dulce amur amia.’ (AvT, V. 15519–15525)

Nicht nur behauptet die Inschrift, das Grabmal sei zu Ehren Apollonius’ gestaltet, auch taucht Tarsia namentlich erst am Ende und auch dann nur als Tochter des im Zentrum stehenden Apollonius auf. Das Hauptinteresse gilt damit nicht der Erinnerung an die Verstorbene, sondern ihrer Funktion als Bindeglied zu dem lokal als Helden verehrten Apollonius (vgl. dazu Kap. 5.2.2 und 5.3.3). Es wird nur ganz am Ende, man könnte sagen am Rande, erwähnt, welche Person (vermeintlich) an diesem Ort begraben ist. Auch an späterer Stelle heißt es, das Grab sei zwar für Tarsia, jedoch Apollonius zu Ehren errichtet worden (vgl. AvT, V. 16103– 16106). In der wiedergegebenen Grabinschrift wird weder etwas Näheres über ihre Person preisgegeben, noch eine entsprechende Verlustreaktion der Tarser dargestellt. Die Motivation und die Funktion der Grabmalgestaltung in der tarsischen Gemeinschaft besteht hauptsächlich in der Verknüpfung mit Tarsias Vater und

296 In diesem Falle bleibt Heinrich dem lateinischen Text sehr nahe: Tunc pergunt cives, ubi figuratum fuerat sepulcrum a Dionysiade, et pro meritis ac beneficiis Apollonii patris Tharsiae fabricantes rogum ex aere conlato inscripserunt taliter: D.M. CIVES THARSI THARSIAE VIRGINI BENEFICIS TYRII APOLLONII [Da gingen die Leute dorthin, wo von Dionysias eine Grabstätte geschaffen war, errichteten wegen der Verdienste und Wohltaten ihres Vater Apollonius von Geldbeträgen der Bürgerschaft ein Grabmal für Tarsia und brachten folgende Inschrift an: DEN GUTEN GEISTERN DER VERSTORBENEN. DIE BÜRGER VON TARSUS WEIHEN DIESES GRABMAL DER JUNGEN TARSIA FÜR DIE VERDIENSTE IHRES VATERS APOLLONIUS VON TYRUS] (Historia, S.  74, Übersetzung S.  75). Als Apollonius die Inschrift liest, wird sie erneut, allerdings in etwas abgeänderter Form, dargestellt: D.M. CIVES THARSI THARSIAE VIRGINI APOLLONII REGIS FILIAE OB BENEFICVM EIVS PIETATIS CAVSA EX AERE CONLATO FECERVNT [DEN GUTEN GEISTERN DER VERSTORBENEN. DIE BÜRGER VON TARSUS HABEN DER JUNGEN TARSIA, DER TOCHTER DES KÖNIGS APOLLONIUS, WEGEN DER VERDIENSTE IHRES VATERS IN DANKBARER GESINNUNG DIESES GRABMAL AUS GELDSPENDEN ERRICHTET!] (Historia, S. 84, Übersetzung S. 85).

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der Ausstellung des Vorgehens als Bemühen um seine wiederholte Ehrung.297 Für die Verstorbene wird vor allem ihre Abstammung als relevant gekennzeichnet, über sie selbst erfährt man über die wiedergegebene Schrift nichts außer ihrer verzückenden Schönheit, die ihr im Nachsatz mit der Formulierung [d]ie dulce amur amia (AvT, V. 15525) zugeschrieben wird.298 Narrativ fungiert der Hinweis auf die Beziehung zwischen Tarsia und Tarsis in erster Linie als Marker, um an die Vorgeschichte zu erinnern. Im Zentrum der intradiegetischen Maßnahmen und der Erzählung steht an dieser Stelle nicht Tarsia. Die Textstelle zu diesem Artefakt vermittelt trotz der Kürze der Ausgestaltung eindrücklich die Möglichkeiten gestalterischer Kombination zur Erinnerung Verstorbener und veranschaulicht, wie in der Gestaltung eine Sichtweise der Hinterbliebenen auf die Verstorbene entwickelt und festgeschrieben wird. Diese Sichtweise spiegelt die Rolle, die ihr in der Narration zukommt. Ein Bemühen um eine adäquate Repräsentation und andere Möglichkeiten der Ehrerweisung durch eine dem Status des oder der Verstorbenen entsprechende Inszenierung zeigen auch die jeweiligen Ausgestaltungen der drei tatsächlichen Grabmale im Reinfried von Braunschweig. Das Verfahren der Riesen im Reinfried ist dem der Tarser im Apollonius ähnlich. Die Beschreibung des Riesengrabmals fällt kurz aus; sie besteht hauptsächlich aus einer Weigerung der Erzählinstanz, die Grabmalgestaltung detailliert zu schildern. Bevor sie eine Aussage über die Beschaffenheit des Grabes trifft, gibt sie zu verstehen, dass es eine grôziu bürde (RvB, V. 25044) sei, von den Einzelheiten zu berichten. Stattdessen wolle sie lieber davon erzählen, wie es auf Grundlage des Todes zu einem Rachefeldzug komme (vgl. RvB, V. 25056–25081). Das Erzählen von der Vergeltungsschlacht hat Priorität vor der Beschreibung des Memorials. In der Behauptung, die Schilderungen wären der berichtenden Zunge ze swære (RvB, V.  25048f.), suggeriert die Erzählinstanz Größe und Kunstfertigkeit,299

297 Dass das Gebilde sich explizit als Grab identifiziert, indem es darauf hinweist, dass es menschen-[g]emachet (AvT, V.  15521) ist und sich auf eine bestimmte Funktionalität hin beschreibt, räumt der Erwähnung der Kulturtechnik Raum ein. Dem materiellen Objekt wird der eigene Zweck eingeschrieben. Damit wird nicht nur performativ festgelegt, worum es sich han‑ delt, sondern auch sichergestellt, dass das Grabmal auch dann noch als solches identifizierbar ist, wenn sich die Konventionen diesbezüglich wandeln (s. Anm. 5/259). 298 Im Vergleich mit dem lateinischen Text (s. Anm. 5/301) ist dieser Befund einzuschränken. Da der erste paraphrasierte Teil der Inschrift sich in Abweichung vom lateinischen Text zumindest der Verankerung Tarsias in der Gemeinschaft widmet, bezieht sich zumindest dieser in seinem Wortlaut verborgen bleibende Teil deutlich auf sie. 299 Es wird impliziert, dass es sich dabei um so ausschweifende Schilderungen handeln müsste, dass diese sein Sprechorgan ermüden und vom Erzählen anderer, als wichtiger erachteter

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ganz zurückhalten kann sie sich dann doch nicht und gewährt zumindest einen flüchtigen Blick auf die Bestandteile und die Gestaltung des Grabmals. Als sie nämlich aufzählt, was nun alles nicht erzählt werde, nennt sie das epitaffîum (RvB, V.  25050), das in des sarkes stein ergraben (RvB, V.  25051) wird,300 sowie das Abbild des Verstorbenen, das mit koste wilde/von golde und gesteine (RvB, V. 25054f.) geschmückt ist. Zu dem Gesamtkunstwerk gehören ähnliche Elemente wie zum Grabmal der Tarser: ein in die steinerne Oberfläche des Sargs eingehauener Nachruf und eine bildliche Repräsentation. Die Ruhestätte des Leichnams erhält eine Beschriftung (hier wird weder wörtlich noch sinn­gemäß wiedergegeben), die die Grabstätte mit konkreten Informationen anreichert. Die Riesen vertrauen ebenso wie die Tarser auf das Zeichensystem der Schrift, um über die natürliche Erinnerung der Zeitgenossen und Nachfahren hinaus Informationen über den Toten festzuhalten. Zusätzlich bemühen sich auch die Riesen um eine visuelle Repräsentation des verstorbenen Körpers des Königs, indem sie sîns lîbes bilde (RvB, V.  25053) nachbilden. Dieses Abbild bewirkt insofern mehr, als die dauerhafte Repräsentation des Antlitz des Riesen, als darin die besten Materialien mit der anschaulichen Repräsentation des Verstorbenen, damit auch mit dem dadurch heraufbeschworenen Identitätsentwurf dieses verknüpft werden.301

Bestandteile der Geschichte abhalten würde. In diesem leicht abgewandelten Unsagbarkeitstopos schwingt der Aufwand, den die Riesen betreiben, mit. 300 Dabei handelt es sich um eine formal auf das „Andenken und die Verewigung des Verstorbenen“ (Wiegand, Hermann: Epitaph. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte Bd. I A–G, 3., neubearb. Aufl., Berlin, New York 1997, S. 475–476, hier S. 475) zielende Textform. Die bereits aus der griechischen Antike stammende Tradition der Grabaufschrift (epitáphios – zusammengesetzt aus epi = ,auf‘ und thaphos = ,Grab‘, ,Grabmal‘, lat. epithapfium) wird motivisch und formal mit marginalen Verschiebungen (v. a. unter Betonung der Jenseitsorientierung) ins Christentum übernommen (v.a. in der Karolingerzeit erlebt die Gattung, ausgehend von den Märtyrertituli des Papstes Damasus [viertes Jahrhundert] und den Epithaphien des Venantius Fortunatus [sechstes Jahrhundert] weite Verbreitung) und zeichnet sich von Beginn an durch Kürze und die Konzentration auf das Lob des Toten aus (vgl. hier S. 475; vgl. zu den antiken Wurzeln und der mittelalterlichen Popularität der Textform als literarisches Element Schieb, Grabmalbeschreibungen, S. 116; Ernst, Schriftlichkeit, S. 284). Ein früher Beleg, den Ernst anführt, ist der Schausarg im Palast des Xerxes, von dem der Straßburger Alexander erzählt (vgl. hier S. 284). „Richtungsweisend für die mittelalterliche Tradition der Grabinschrift wurde vor allem der altfranzösische ,Roman d’Eneas‘, der, dem hochmittelalterlichen Stilideal der dilatatio materiae, genauer der amplifizierten descriptio verpflichtet, ohne Vorbild bei Vergil drei prunkvolle Grabbeschreibungen mit Inschriften enthält, die auch Heinrich von Veldeke inspiriert haben“ (hier S. 285). 301 Sie stellen sicher, dass die „Ansehen des Einzelnen auch nach seinem Tode noch ,glänzen‘“ (Haupt, Memoria, S. 42). Sie bezieht sich dabei auf die kostbaren Materialien, die bei den literarischen Gräbern von Pallas, Camilla und Dido verwendet werden. Die Strahlkraft, die dabei von

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So entsteht auch für Betrachter, die die Inschrift nicht entziffern können, ein eindrückliches Bild von der Erscheinung und von der gesellschaftlichen Stellung des Betrauerten, der die Kostbarkeit der Steine und des Goldes entsprechen. Eine etwas andere Perspektive erhält man durch die beiden weiteren Grabmale im Reinfried. Sie unterscheiden sich nicht nur von den bisher beobachteten Phänomenen, weil statt der Produktion der Rezeptionsprozess nach nicht unerheblichen Zeiträumen und damit auch der Erfolg der Techniken in Szene gesetzt wird. Auch die Ausgangssituationen weichen von den besprochenen scheinbaren oder wirklichen Grabmalen ab. Zunächst soll die Grabstätte des Schwarzmagiers Savilôn näher betrachtet werden. Es gelingt diesem Grab problemlos, die Aufmerksamkeit der Besucher des Magnetbergs auf sich zu ziehen und sein mediales Potenzial zu entfalten. Bereits am Eingang der Höhle, in der das Grab platziert ist, namen [Reinfried und der Perser] ein liehtes schîn/neben in der hüle wa (RvB, V. 21274f.) und gehen – von diesem Lichtschein neugierig gemacht – schiere dar (RvB, V. 21276). Die mediale Form generiert durch Inkohärenz die Aufmerksamkeit der Reisenden. Das, was sie über den Magnetberg zu wissen glauben, nämlich dass er unbewohnt und menschenleer ist,302 passt nicht zusammen mit dem, was sie sehen (einen Lichtschein, Indiz für die Anwesenheit von Menschen), und ruft Neugier hervor. So ist es dieses Strahlen, das die beiden bis zu dem Grab im hinteren Teil der Höhle überhaupt erst vordringen lässt. Worin genau der Schein seinen Ursprung hat, bleibt vage. Er ließe sich auf die goldenen Lettern auf dem Grab (vgl. RvB, V.  21284f.)303 oder aber direkt auf eine übernatürliche Quelle zurückführen. Während dem Grab selbst die Urheberschaft nicht zu entnehmen ist, berichtet die Erzählinstanz an späterer Stelle,304 Vergil, der für Savilôns (endgültigen) Tod verantwortlich ist, habe Geister beauftragt, dieses Grab zu entwerfen (vgl. RvB, V. 21692–21696). Die Ausgestaltung selbst und somit auch das Leuchten weisen

den Materialien auf die Verstorbenen fällt, reflektiert außerdem die Werte, die sie verkörperten (vgl. Martschini, Schriftlichkeit, S. 315). 302 Zumindest das, was Reinfried von anderen Figuren über den Ort hört, muss ihm diesen Eindruck vermitteln (vgl. die Ausführungen der Amazonenkönigin in V. 20768–20802). 303 Diese Passage ist ein kurzer Verweis auf ,Schriftbildlichkeit‘ (vgl. Krämer, Schriftbildlichkeit) und (möglicherweise) deren Wirkung. Ein Interesse an der materialen Medialität der Schrift ist auch in den hier behandelten Textpassagen sonst nicht zu erkennen (vgl. bereits Kap.  4.5, Anm. 4/447). 304 Dabei beruft er sich auf das Buch, das Reinfried und der Perser am Grab finden. Nachdem von dem Befehl Vergils berichtet wurde, gibt er an: swaz ich dâ vor hân geseit,/daz stuont an disem buoche hie (RvB, V. 21698f.).

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daher auf einen übernatürlichen Ursprung.305 Auch andere Bestandteile sind dieser übermenschlichen Quelle zuzuschreiben, dennoch hebt sich das Grabmal als das von einer menschlichen Figur geplante Werk dann wenig von den anderen Grabmalen in der Textauswahl ab. Reinfried und der Perser, die viele Jahre nach der Gestaltung des Höhlen­ innenraums zum Magnetberg kommen, können anhand der Grabgestaltung genau nachvollziehen, was sich dort zugetragen hat. Das beruht auf der extensiven Nutzung von Schrift. Denn auch dieses Grab besitzt ein Epitaph (vgl. RvB, V.  21287), welches mit süezen worten schône (RvB, V.  21289) umfassend Auskunft gibt. Es bekommt ähnlich wie die Grabinschrift der Tarser die Funktion eines erzählenden Vermittlers zugesprochen, wenn behauptet wird, es spräche zu den Ankömmlingen (seit, RvB, V. 21287). Die optische Wirkung der Buchstaben wird narrativ sofort und problemlos umgewandelt in ein quasi-akustisches Erlebnis. Wie bereits für andere Schriftmedien beobachtet, repräsentiert auch hier der Text die möglichen Probleme schriftlicher Aufbereitung nicht, sondern präsentiert Schrift als zuverlässiges Mittel eindeutiger und sicherer Transmis­sion (s. Kap. 4.3, 5.3.2). Die RezipientInnen erfahren hier – anders als im Falle des Riesengrabs – zwar, was auf dem Epitaph vermerkt ist, da aber nur paraphrasiert wird, dort sei zu lesen wer dar inne lac begraben und den anevanc. des endes drum (RvB, V. 21286, 21288), lässt sich in diesem Falle nicht wie bei den Inschriften für Lucina und Tarsia eindeutig herausarbeiten, was wie übermittelt wird. Angaben zur Person des dort Begrabenen sowie Anfang und Ende seines Lebens scheinen die Angaben zu sein, die auf dem begrenzt Platz bietenden Epitaph festgehalten sind. Es geht um die verstorbene Person selbst, die Klärung der Identität des Toten ist der wichtigste Aspekt. Ergänzt werden diese Angaben durch ein dickes Buch, das bî dem sarke (RvB, V. 21296) platziert und mit einer Kette an diesen Ort gebunden ist (vgl. RvB, V.  21298f.; s.  Kap.  5.3.1). Die ausführlichen Erläuterungen zu Leben, Wirken und Sterben des Begrabenen werden auf dieses fest am Grab fixierte Buch ausgelagert. Eine Missinterpreta­tion wird durch umfangreiche

305 Das Leuchten erlischt von selbst, als der Zauber gebrochen wird: der alte starp, das lieht erlast (RvB, V. 21685), was den Zusammenhang mit Zauberei besonders deutlich macht.

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Erläuterungen und deren wundersame Uni­versaltransferierbarkeit in alle möglichen Empfängersprachen ausgeschlossen (s. Kap. 5.3.1).306 Wirklich anders fällt die Grabgestaltung im Rahmen der Textauswahl nur beim Grab der Heiligen Katharina aus,307 welches Reinfried mit seinem persischen Freund auf seiner Besichtigung der Wunderstätten des Alten Testaments (RvB, V.  26970–27129)308 besucht. Die Inszenierung übermittelt Informationen rein symbolisch-bildlich und bedient sich weder Inschriften noch Abbildungen. Das Grabmal dient nicht nur der Erinnerung an die Heilige und ihr vorbildliches Verhalten, sondern arbeitet textintern (aber auch darüber hinaus) ihrer Sakrali-

306 Obwohl jenes von Savilôn erzählt und das Grabmal ergänzt, indem es ausführlich über die Bebauung des Magnetberges durch Savilôn, dessen Beweggründe, überhaupt zum Magnetberg zu kommen (vgl. RvB, V. 21290–21293) und alle Geschehnisse auf dem Magnetberg von Savilôns Ankunft bis zu dessen Tod (vgl. RvB, V. 21314–21685) informiert (vgl. RvB, V. 21314–21699; für eine kompakte Darstellung sei auf Herweg, Glücksspiel, S. 62f. sowie Kap. 6.3.3 verwiesen), wird es als Form der Schriftüberlieferung einzeln betrachtet (s. Kap. 5.3.1). 307 Gemeint ist eindeutig das Grabmal der zur Heiligen erklärten Katharina von Alexandrien, welche zu den vier virgines capitales gezählt wird. Die bereits in der Legenda Aurea auftauchende Legende der Heiligen Katharina (vgl. Jacobus de Voragine: Legenda Aurea. Goldene Legende. Text – Übersetzung – Kommentar. Legendae sanctorum – Legenden der Heiligen. Zweiter Teilband. Fünfter Teil [Kap. 77–182]. Von Pfingstoktav bis Advent. Feste zur Zeit der Wanderschaft. Einleitung, Edition, Übersetzung und Kommentar von Bruno W. Häuptli, Freiburg i.  Br. 2014 [Fontes Christiani. Zweisprachige Neuausgabe christlicher Quellentexte Sonderband Teil 2], S. 2263–2283, im Folgenden LA) ist der Überlieferung zufolge besonders im spätmittelalterlichen deutschsprachigen Raum weit verbreitet und gut bekannt (vgl. Wenzel, Kathrin: Die bekannte Fremde und die unbekannte Einheimische – Die Heilige Katharina und Thiatildis in Westfalen. In: Text Analyses and Interpretations. In Memory of Joachim Bumke. Hrsg. von Sibylle Jefferis, Göppingen 2013 [Kalamazoo Papers 2012–2013], S. 275–290, hier S. 276). Die Zuordnung fällt eindeutig aus, da sich ihre Reliquien an ihrem vermeintlichen Fundort (zu dem sie Engel nach ihrem Martyrium gebracht hatten) in einer Basilika eines Katharinenklosters auf dem Sinai befinden (vgl. hier S. 276) und im Text davon gesprochen wird, dass Reinfried und sein Begleiter den Spuren von Moses folgen – auch dorthin, wo got mit dem himelbrôt/hie vor die juden spîset (RvB, V. 26992f.), also zum Berg Sinai. Eine weitere Übereinstimmung ist die Erwähnung des heilenden Öls, das aus ihren Gebeinen fließt (vgl. RvB, V. 27005–27007 und LA S. 2274f.: Ex cuius ossibus indesinenter oleum manat). Für eine knappe Darstellung der historischen Entwicklung und Überlieferung der Legende s. Seeliger, Hans Reinhard: Katharina von Alexandrien. In: Lexikon für Theologie und Kirche. begründet von Michael Buchberger Bd. 5 Hermeneutik–Kirchengemeinschaft, 3. völlig neu bearb. Aufl., Freiburg i. Br. 2006, Sp. 1330–1331. 308 Diese Überreste des biblischen Geschehens können sicherlich ebenfalls als Denkmale be­ trachtet werden, da sie auf ein Geschehen verweisen, das offensichtlich nicht vergessen wer­den soll. Von solchen unterscheiden sie sich darin, dass sie nicht zu dem Zwecke einer Memorialstützung geschaffen oder – soweit die Erzählung zu verstehen gibt – inszeniert wurden, sondern allein durch ihre Existenz auf ein bestimmtes Geschehen verweisen.

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sierung zu309 und bietet jeweils die Möglichkeit, sich der Christenheit zugehörig zu empfinden, deren Privilegierung sich in den Zeichen der Heiligkeit, die am Grab zu erleben sind, bestätigt. Trauer und persönlicher Verlust sind weniger treibende Motivation, das Grab zu besuchen, als das Erleben von Heiligkeit im Gedenken an vergangene Ereignisse. Hier streift die Funktion der Transmission die der Transgression zwischen immanenter und transzendenter Ebene und beweist ihr besonders im religiösen Kontext zum Vorschein kommendes310 gemeinschaftsstiftendes Potenzial. Eigentlich wird kaum etwas über die konkrete Optik des Grabmals erzählt. Jenes wird nur ein Mal kurz erwähnt, ohne dabei auf die Materialität näher einzugehen (vgl. RvB, V. 27004). Näher beschrieben wird hingegen das Setting und die Grabpflege (wie man des grabes pflac, RvB, V. 27004). Beides trägt zur Gestaltung des Gedenkens bei. Dieses Ensemble wird durch die Augen des Besuchers Reinfried geschildert, die RezipientInnen sind in die Rolle des Pilgers versetzt und können eine eigene Reaktion auf das Grabmal hervorbringen. Das Erlebnis und die Eindrücke, die das Grabmal der Heiligen Katharina bei den Reisenden hinterlässt, ist für die TextrezipientInnen nachvollzieh- und sogar fast miterlebbar: sî [Reinfried und der Perser][…] […] nâmen eigenlîhen war wie diu hôhgeborne lac ganz, wie man des grabes pflac, wie öle von irme lîbe flôz, […] wie in dem klôster niht mê was denn zwelf herren an der zal, wie zwelf liehter über al schôn brinnent unde reine (RvB, V. 27001–27005, 27008–27011)

Das Ambiente wirkt nicht prächtig wie in den bisherigen Beispielen, sondern andächtig. Denn in dem Klosterraum, der als Grabstätte fungiert, befindet sich nichts außer zwölf Männern und zwölf Lichtern311 (s. u.). Dass es sich dabei nicht

309 Zur Auffassung von ,Sakralisierung‘ als Effekt des Umgangs mit Vergangenem (und somit von Transmission) Kmec, Sakralisierung, S. 155. Dort wird sie beschrieben als „Kulturtechnik zur Erzeugung von ,Heiligkeit‘, die sowohl von kirchlichen Institutionen wie auch anderen sozialen Gruppen in Anspruch genommen wird, um Geschichte zu verarbeiten“. 310 Wie bereits im Einführungskapitel dargestellt, ist gerade für das Christentum ,Erinnerung‘ ein entscheidender Faktor der religiösen Gemeinschaft (s. Kap. 5.1.1). 311 Der Einsatz von Licht im Rahmen von Grabgestaltung ist nicht ungewöhnlich in der mittelalterlichen Literatur (vgl. Schieb, Grabmalbeschreibungen, S. 117). Zu den Beispielen gehö-

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einfach um eine Mahnwache handelt, sondern um eine bewusste Gestaltung des Bestattungsortes, die die Zeitdifferenz zu den Geschehnissen um die Heilige Katharina zu überbrücken, ja nicht nur die ,Erinnerung‘ zu wahren, sondern sogar die Präsenz der Heiligkeit auszustellen versucht, wird im Angesicht der Details der Legende offenbar. Katharina, die sich nicht zum Heidentum bekehren lassen will, bekehrt selbst in ihrer Gefangenschaft die Kaiserin Faustina und wird daraufhin zwölf Tage lang gegeißelt und ohne Nahrung eingesperrt. In dieser Leidenszeit leisten ihr Engel, eine Taube und auch Christus selbst Beistand, sodass Katharina die Marter übersteht und erst später durch Enthauptung den Märtyrertod erleidet.312 Es ist daher naheliegend, dass die Zahl ,zwölf‘, die in der Anzahl der Lichter sowie der an­wesenden Mönche am Grab präsent ist, auf die zwölftägige Qual und Standhaftigkeit Katharinas verweisen soll.313 Sie macht diese symbolisch anschaulich, visuell wahrnehmbar und gewährt somit (mit dem richtigen Vorwissen) einen Zugang zu der Geschichte der Verstorbenen. Die körperlich-performative Verge-

ren auch die bekannteren mittelhochdeutschen Grabmale, das Pallas- sowie das Camilla-Grab im Eneasroman und das Scheingrab in Flore und Blanscheflur (vgl. Eneasroman, V. 8348–8373, 9530–9556, FuB, V. 2012–2017). 312 Vgl. für die vollständige Legende s. die bereits angegebene Ausgabe der LA, S. 2263–2283 (auf S. 2270f. heißt es über die Folterzeit: Quia vero XII dies sine cibo tyrannus eam esse iusserat, Christus per hos dies missa de caelo cndida columba caelesti eam cibo fovebat) sowie Wenzel, Heilige Katharina, S. 276. Simon paraphrasiert die ausführliche Fassung der Legende wie folgt: „Die Heilige Katharina von Alexandrien (4. Jh.) wird vom heidnischen Kaiser Maxintius als Braut für seinen Sohn begehrt. Nach ihrer Bekehrung zum Christentum vermählt sich aber Katharina in einer Traumvision mit Christus. Maxentius lässt fünfzig Philosophen kommen, die sie für das Heidentum wiedergewinnen sollen, aber dank der Eloquenz Katharinas bekehren sie sich auch zum Christentum und werden prompt auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Katharina soll gerädert werden, aber das Rad zerbirst bei ihrem Gebet und tötet viertausend Heiden. Sie wird ins Gefängnis geworfen, wo sie die Königin Faustina und der kaiserliche Hauptmann Porphyrius besuchen und sich ebenfalls bekehren. Darauf erscheint ihr Christus im Kerker und erteilt ihr mit eigenen Händen die Eucharistie. Katharina wird enthauptet und ihre Leiche von Engeln auf den Sinaiberg gebracht“ (Simon, Anne: Da sach sie ein antluczt gar klarlichen. Sicht und Spektakel in der Legende der heiligen Katharina von Alexandrien. In: Sehen und Sichtbarkeit in der Literatur des deutschen Mittelalters. XXI. Anglo-German Colloquium London 2009. Hrsg. von Ricarda Bauschke/Sebastian Coxon/Martin H. Jones, Berlin 2011, S. 364–375, hier S. 364, Anm. 2). 313 Darüber hinaus ist die heilige Zahl ,zwölf‘ selbstverständlich von besonderer Bedeutung für die christliche Tradition, sodass auch andere Assoziationen zur Heiligkeit über diese geweckt werden. Einen Überblick über die – vornehmlich biblisch geprägten – Bedeutungen der Zahl gibt das Lexikon der mittelalterlichen Zahlenbedeutung (vgl. Meyer, Heinz/Suntrup, Rudolf (Hg.): Lexikon der mittelalterlichen Zahlenbedeutungen, München 1987 [Münsterische MittelalterSchriften 56], Sp. 619–645).

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genwärtigung der Geschichte der Heiligen, die in der konkreten Gestaltung der Grabstätte erkennbar wird, beruht auf der erwähnten Zahlenanalogie. Zwölf Männer und zwölf Lichter repräsentieren die von Katharina durchlittenen, aber auch überdauerten zwölf Tage der Anfechtung. Auffällig ist nicht nur die Gleichzahl, sondern auch, dass sich über eine Inszenierung des Rauminhalts noch andere Parallelen herstellen lassen, durch die das Ensemble als umfänglichere ,Verkörperung‘ des Märtyrerschicksals erscheint. Dabei bleibt die genaue Bedeutung der Inszenierung allerdings unklar und nur hypothesenhaft erschließbar. Ebenso wie die Qualen, die Katharina während ihrer zwölftägigen Folter durchlebt, sind die Männer – so könnte man interpretieren – vergänglich. Der Text erwähnt das Ableben der Grabwache haltenden Mönche (vgl. RvB, V.  27012f.); sie ließen sich daraufhin als Stellvertreter des Irdischen und Vergänglichen, das in Katharinas Position explizit, in abstrahiertem Verständnis implizit mit den Qualen des Körperlichen verbunden ist, deuten. Die zwölf Lichter signalisieren das Verlöschen eines Lebens damit, dass auch eines von ihnen erlischt. Es besteht also immer ein ausgeglichenes Verhältnis (zwischen Weltlichem, Qualvollem und göttlicher Erlösung?). Das legt nahe, dieses als einen positiven Gegenpart (bspw. die Hoffnung, die Erlösung) zu verstehen, der stets im Ausgleich mit dem Schmerz steht. Die ununterbrochene Wiederholung dieses Prozesses macht nicht nur wiederholt die Märtyrerereignisse zugänglich, sondern versinnbildlicht auch den immerwährenden Ausgleich von transzendenter Stütze und weltlicher Qual/ Vergänglichkeit. Erst in der Abstraktion wird deutlich, wie präzise diese Gestaltung des Grabumfeldes ein Erinnerungsmal für die Heilige Katharina darstellt, das die Distanz zu der vergangenen Zeit überbrückt und in der Gegenwart den Ablauf immer wieder ,nachspielt‘. Anders als im Falle der mit Plastiken ausgestatteten Gräber wird hier nicht der Körper der Verstorbenen repräsentiert, sondern symbolisch die Geschichte, die dieser widerfahren ist, veranschaulicht und nachhaltig zugänglich. Diese Abstraktionsleistung und das für diesen Schritt nötige Vorwissen setzt das Grabmal zum Verständnis voraus. Das Leben der Katharina, das am Grab (trotz der notwendigen Vergänglichkeit der verkörpernden Subjekte) präsent gehalten wird, reduziert diese Gestaltung der Grabstätte außerdem auf eben jenen religiös relevanten Punkt, den Augenblick der standhaften Verweigerung der Konvention, der sie zur Heiligen und Erinnerungswürdigen macht. Wie auch bei den zuvor besprochenen Grabmalen werden bestimmte Aspekte in der Gestaltung des Grabmals bzw. der Grabstätte herausgegriffen und avancieren somit zu dem die Identität der Verstorbenen Prägenden. Ist dies dort Stand, Macht und Reichtum, ist es hier Martyrium und Glaubensfestigkeit. Die besondere Heiligkeit der Verstorbenen kann die Grabmalgestaltung auch dadurch hervorheben, dass sie den Leichnam öffentlich oberirdisch präsentiert und nicht etwa unter einer Erd,- Holz- oder Steinschicht verbirgt und durch ein

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künstliches Abbild ersetzt. Die Formulierung legt nahe, dass man ihren lîbe (RvB, V. 27005) direkt betrachten kann. Dieser heilige Körper weist sich selbst als heilig aus, indem er Öl absondert, welches eine heilende Wirkung besitzt (vgl. AvT, V. 27005–27008). Dieser Vorgang ist eines der drei Wunder, die der Legende zufolge die Heiligkeit Katharinas bezeugen,314 und typischer Ausweis der Heiligkeit eines Körpers, welcher kommuniziert, dass die göttliche Kraft noch in den sterblichen Überresten aktiv ist. Zu der Sakralisierung, die im Zuge der Erinnerungsarbeit forciert wird, ist somit auch zu zählen, dass die verstorbenen Überreste in einer Art und Weise präsentiert werden, in der sie für sich selbst sprechen können. Ausführlich wird die Reaktion auf dieses Grabmal – nur eine von vielen Stationen auf der die Orientreise abschließenden ,Sightseeingtour‘ durch die Schauplätze der wichtigsten biblischen Geschichten – nicht geschildert. Die beiden Besucher liezen rîhiu opfer dâ (RvB, V. 27025), so heißt es im Anschluss. Das Grabmal ruft das Bedürfnis hervor, an diesem Ort eine religiöse Handlung vorzunehmen, muss also Kraft seiner Bedeutung oder aber auch seiner Gestaltung einen affizierenden Effekt auf die Betrachter haben. Anders als bei den anderen Heiligen Stätten auf der Reiseroute hält sich der Text länger bei Beschreibung des Ortes und kürzer bei der expliziten Bedeutungszuweisung auf. Er nutzt das entworfene Bild des Grabmals, um die Geschichte Katharinas aufzurufen. Während bei den anderen Stationen jeweils kurz nacherzählt wird, was dort passiert ist, vermögen die Elemente der Grabstätte die Geschichte anzuzitieren. In der Gegenüberstellung mit der narrativen Einbettung der anderen Orte315 wird deutlich, wie

314 Neben dem heilsamen Öl wird berichtet, es sei Milch statt Blut aus ihren Wunden geflossen. Außerdem hätten Engel ihren Leichnam zum Berg Sinai getragen (vgl. Wenzel, Heilige Katharina, S. 276). 315 Zum Gebirge Sinai erläutert die Erzählinstanz dâ got Moŷses gap/die alten ê mit urhap (RvB, V. 26973f.), zu Ôreb dâ hie vor daz guldîn kalp/von den juden wart gemaht (RvB, V. 26978f.). Sie sehen auch den Brunnen der dâ trinken bôt/den juden, dô sî wolten tôt/durstes sîn gemeine,/den dâ û einem steine/Moŷses der guote sluoc/mit der ruoten sôer truoc/von Egipten sunder wer (RvB, V. 26981–26987) und das Rote Meer dar inn künc Pharaôn ertranc (RvB, V. 26989). Nachdem sie das Grabmal besucht haben, fahren sie in das gelobte Land (vgl. RvB, V. 27027–27031) und nach Babylon, dessen biblische Bedeutung und Geschichte ebenfalls kurz erläutert wird (vgl. RvB, V. 27042–27051). Ebenso besichtigt Reinfried die Salzsäule, zu der Lots Frau erstarrt ist (vgl. RvB, V. 27089–27101). Stets ist es die Erzählinstanz, die mehr oder weniger ausführlich die biblische Bewandtnis der Orte schildert.

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die Gestaltung hier eine narrative, Vergangenheit und Gegenwart verbindende, bestimmte Ereignisse übermittelnde Funktion übernimmt. Das Grabmal der Heiligen Katharina beruht auf der Symbolisierung des für die Verehrung dieser Person relevanten Ausschnitts aus deren Biographie. Die Andersartigkeit der Gestaltung bereichert das Spektrum der zwar unterschiedlichen, doch jeweils ähnlich aufgebauten anderen Grabmalschilderungen in den beiden Texten. Zugänglich dürften die Details dieser Gestaltung allerdings nur einer bestimmten Gruppe von RezipientInnen sein. Nicht nur ist zum Aufdecken der Zahlenbedeutung die Kenntnis der Geschichte der Märtyrerin nötig; auch Grundannahmen des christlichen Glaubens sind Voraussetzung. Gleichzeitig kann nur mit einem abstrahierenden, mit symbolischer Darstellung vertrauten Blick auf das Sichtbare verstanden werden, inwiefern das Grab gezielt mit Hinblick auf die Verstorbene gestaltet wurde. Anders als die leicht verständlichen Abbilder und die zumindest innerhalb des Textes problemlos rezipierbaren In­schriften ist diese Formgebung exklusiv: Es spricht nur Christen an. Dafür wirkt die Gestaltung für diejenigen, die Zugang zu dieser Form der Aufbereitung haben, umso gemeinschaftsstiftender. Im verstehenden Anblick erleben jeweilige RezipientInnen nicht nur Heiligkeit, sondern fühlen sich auch eingeschlossen in eine Gemeinschaft, für die dieses Grabmal und dessen Gestaltung eine über normale Grabmale hinausgehende Bedeutung besitzt. Eindrücklich wird in dieser nur bestimmten Gruppen verständlichen, auf beispielhaftes christliches Verhalten zentrierenden Darstellung, wie stark der erinnernde Blick auf die Festigung einer bestimmten Perspektive und Gruppenidentität angelegt ist. Auf die Komplexität und Exklusivität dieser religiösen Memorialform geht der Text nicht ein. Weder fühlt sich die Erzählinstanz verpflichtet, näher zu erläutern, was die einzelnen Komponenten des Grabmals zu bedeuten haben, noch zeigt sich einer der Besucher irritiert (selbst vom ,heidnischen‘ Perser werden keine Nachfragen oder andere Zeichen des Unverständnisses berichtet). Erneut dürfte dies, wie bereits auf die Praxis der Grablegung hin bemerkt, ein Zeichen dafür sein, dass ein Verständnis (bei den Hauptfiguren und den TextrezipientInnen) vorausgesetzt wird. Gerade über den modernen, wesentlich weniger in Heiligenviten versierten Blick erschließt sich daher, wie voraussetzungsvoll das Verständnis einer solchen Form der Transmission sein kann, für wie voraussetzungslos und zugänglich sie jedoch gehalten wird. Es zeigt sich gerade aus moderner Perspektive, welche funktionalen Einbußen Gestaltungstechniken haben können, wenn sich der Rahmen wandelt. Die Relevanz des christlichen Glaubens und die Kenntnis der Schlüsselerzählungen scheinen den Produzenten des (literarischen) Grabmals bzw. auch der Erzählinstanz jedoch so dauerhaft, dass keine

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Maßnahmen nötig scheinen, die Aussagen des Arrangements schriftsprachlich zu stützen oder zu vereindeutigen. Das Spektrum der in den Texten geschilderten Grabmale ist den unterschiedlichen Ausgangssituationen entsprechend breit. Sie zeigen gefälschte, falsche und echte Gräber, die (wirklich oder nur vermeintlich) geliebte Verwandte, gemeinschaftlich relevante Personen, Riesenkönige, Heilige, Schwarzmagier und teuflische Monster bergen, und die in ihrer Gestaltung mit verschiedenen Techniken unterschiedliche Aspekte dieser Verstorbenen oder der mit ihnen verbundenen Ereignisse aufbereiten. Das bisherige Desinteresse der Forschung lässt sich wohl mit dem Desinteresse der Texte an ausschweifenden descriptio-Passagen begründen. Die recht knappen Ausgestaltungen der Grabinszenierungen zielen weniger auf Darstellung von Exzeptionalität und Kunstfertigkeit; sie dienen vielmehr dem Zweck, das Verhältnis der lebenden Figuren zu den gestorbenen Figuren zu erzählen und damit die Bedeutung des Todes deutlicher hervorzukehren.316 Aus der Vielzahl und Diversität der jeweiligen Gräber, die jeweils andere Aspekte dieser Kulturpraxis in den Vordergrund stellen, lässt sich dennoch ein umfassender Einblick in die möglichen (medialen) Funktionsweisen der Grabgestaltung und die dabei eine Rolle spielenden Techniken gewinnen. Gräber auszuheben und aussagekräftig zu gestalten scheint eine zum inneren Bedürfnis gewordene kulturelle Praxis im Umgang mit dem Tod zu sein.317 Die unterstellte Transmissionsfunktion solcher Verfahren hat sich anhand der Textpassagen in doppelter Hinsicht bestätigt, es hat sich aber jeweils auch gezeigt, dass die Texte Grabmalgestaltung nie ausschließlich in ihrer Übermittlungsfunktion wahrnehmen. Grabmale dienen den Figuren zwar zur stabilen Übermittlung bestimmter Informationen über eine Person, gerade die Textstellen im Apollonius von Tyrland

316 Die Ausnahme stellt hier das Grab der Heiligen Katharina dar, das narrativ auch als Ankerpunkt dient, sich als TextrezipientIn der Legende zu erinnern und sich durch Beiwohnung der Auseinandersetzung des Protagonisten mit der Reliquie als Teil der christlichen Gemeinschaft zu empfinden. 317 Angesichts der historischen Etabliertheit der Grablegungspraxis ist das kein verwunderlicher Befund. Seit spätrömischer Zeit ist in den provinzialrömischen und späteren romanischen Gebieten die Grablegung von Leichnamen verbreitet. Seit dem fünften Jahrhundert wird sie auch in den Herrschaftsbereichen der Alamannen, Bajuwaren, Burgunder, Gepiden, Lango­ barden, Ost- und Westgoten, Thüringer übernommen (vgl. Müller-Wille, Michael: ,Grab, -formen, -mal. Archäology‘. In: Lexikon des Mittelalters Bd. 4 Erzkanzler–Hiddensee, München 1989, Sp. 1621–1622, hier Sp. 1621). Einziges Gegenbeispiel aus den Texten, das vermuten lässt, dass es für möglich gehalten wird, ein Grab später nicht mehr als solches zu identifizieren, ist die Betonung einer Grabinschrift, es handle sich hier um ein Grab (vgl. AvT, V. 15521; s. bereits Anm. 5/259, 5/297).

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zeigen aber, dass Grabmale auch vornehmlich in Kommunikationsfunktion mit hohem Authentizitätspotenzial wirksam sein können. Hier vermitteln Gräber und Grabmale primär den Tod und die Abwesenheit der (vermeintlich) Verstorbenen, bauen dabei aber auf der konventionalisierten Transmissionsintention auf. Es handelt sich dabei im Sinne der medialen Form um einen kontextbedingten Nebeneffekt, der nicht den Wunsch, mittels eines Grabmals Kontakt zu einer Zeit gemeinsamer Präsenz zu halten und etwas über verschiedene Personen zu übermitteln, überschreibt oder verdrängt. Im Sinne der Transmissionsfunktion geht es in erster Linie darum, die Eckdaten der Identität der/des Verstorbenen in ihrer Rolle für die hinterbliebene Gemeinschaft zu sichern und den Einfluss immer wieder aufrufbar zu machen. Die mediale Aufbereitung einer Erinnerung an eine Person tritt damit vorrangig als posthume Arbeit an der Vorstellung von dieser in Erscheinung. Zwischen der konkreten Ausgestaltung des Grabmals und der Wertschätzung der verstorbenen Person besteht ein Verweisverhältnis, das als mehr oder weniger gelungen empfunden werden kann. Die Grabmale versuchen, ein akkurates Bild der Wertschätzung durch die zurückbleibende Gemeinschaft zu zeichnen, wobei die emotionale Haltung der Hinterbliebenen, die nicht immer nur als Trauer und Verlustempfinden, sondern auch als Dankbarkeit und staunende Anbetung oder abgrundtiefer Hass zu beschreiben ist, nur implizit in der Gestaltung und im Bemühen um Angemessenheit, jedoch nicht in expliziter Erwähnung am Grab zum Ausdruck kommt. Jedes Grabmal wird individuell auf die verstorbene Persönlichkeit,318 aber auch auf die jeweiligen Gegebenheiten und imaginierten Kompetenzen des intendierten Empfängerkreises zugeschnitten. Dabei können bei den Grabmalen, die über die Platzierung an bzw. über totem Körpermaterial errichtet werden, sowohl Nachbildungen und symbolische Verweise als auch schriftsprachliche Erläuterungen einzeln oder in einem Ergänzungsverhältnis zum Einsatz kommen. Schrift eignet sich, um präzise bestimmte persönliche Eckdaten (Name, genealogische Anbindung,319 gesellschaftliche Rolle der oder des Verstorbenen – bei Frauenfiguren auch deren Schönheit)320 zu übermitteln, die Zeit- und Kulturraumgebunden-

318 Darin zeigt sich – so Ernst in Bezug auf eine vergleichende Lektüre verschiedener literarischer Grabinschriften der mittelhochdeutschen Zeit – ein „von antikem und germanischem Denken beeinflußtes Streben nach individuellem Nachruhm“ (Ernst, Schriftlichkeit, S. 295). In den Grabbauten der mittelalterlichen Texte zeige sich eine „deutliche Tendenz zur Individualisierung und Monumentalisierung des Todes sowie zur Verewigung der Memoria in einer kostbaren Materialität von Schrift und Beschreibstoff“ (ebd.). 319 Darin stimmen die hier untersuchten Grabinschriften mit anderen mittelhochdeutschen literarischen Grabinschriften überein (vgl. hier S. 295). 320 Die Todesursache wird, wenn überhaupt, nebenbei erwähnt.

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heit eines Schriftsystems stellt aber auch eine Herausforderung dar, die ebenso wie die Einschränkung des Rezipientenkreises durch Schrift in der Integration abbildender Bestandteile ihre Lösung findet. Diese wiederum setzen nicht nur Abstraktionsvermögen, sondern häufig auch ein spezifisches Vorwissen voraus, welches erneut exklusive Rezeptionsgruppen generiert. In narrativer Hinsicht dienen die Grablegungs- und Grabmalsbeschreibungen vor allem der Hervorhebung der Beziehungsgefüge sowie im Falle des Grabmals der Heiligen Katharina dem Aufrufen einer Legende als Bestandteil der Evokation eines christlichen Gemeinschaftsgefühls. Versteht man die Pas­sagen als Kommentierung des eigenen literarischen Vorgehens, so zeigen sie, dass literarische (Figuren-)Entwürfe multimedial – durch explizite Zuschreibungen und durch Bilder mit symbolischem Aussagewert – funktionieren.

5.3.3 Säulen der Erinnerung: Ehrenmale als multimediale Träger im Apollonius von Tyrland Nicht nur Toten können multimediale Erinnerungszeichen gesetzt werden. Eine weitere Untergattung des Denkmals mit anderen Ausgangsbedingungen und anderer Funktionalität als die soeben betrachteten Grabmale (s. Kap. 5.3.2) taucht ausschließlich im Apollonius von Tyrland auf. Der Text lässt seine Figuren in zwei Passagen Ehrenmale für den Protagonisten entwerfen. Verwenden sie auch ähnliche Techniken wie Grabmale, so sind die Bedingungen, unter denen sie errichtet werden, doch andere. Sie sollen daher separat betrachtet werden. Wie die Mehrzahl der Gräber und Grabmale sind die Ehrenmale bereits in der lateinischen Fassung der Geschichte vorhanden.321 Es handelt sich dabei um mit Bild und Text ausgestattete saul (AvT, V. 1207) bzw. sewl (AvT, V. 17006), die Figuren dem Protagonisten infolge bestimmter Ereignisse widmen und die nach der Differenzierung des Denkmalbegriffs (s. Anm. 5/265) als Ehrenmale zu bezeichnen sind.322 Sie lassen ähnlich wie die Loblieder (s. Kap. 5.2.2) am Prozess

321 Sie wird von dort auch in die Erzählung von Heinrich Steinhöwel übernommen (s. Anm. 5/331). 322 Dass der Begriff ,Ehren‘- bzw. ,Denkmal‘ nicht fällt, ist angesichts der Tatsache, dass der Begriff erst im sechzehnten Jahrhundert ins Deutsche aufgenommen wird (vgl. Kluge, Etymologisches Wörterbuch, S. 290; s. auch Anm. 5/249) nicht verwunderlich, macht aber bei der Betrachtung auch die Auseinandersetzung mit der intuitiven Bezeichnung der Textphänomene als solche notwendig. Sie entspringt dem in der Analyse hinterfragten Eindruck, die Säulen würden in einem Kontext aufgestellt, vor dem man heutzutage von einem ,Ehrenmal‘ sprechen würde, d. h. sie würden in der Funktion des Erinnerungszeichens dargestellt.

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der Heldenmythosbildung und der darin verflochtenen Prozesse von Transmission und Kommunikation teilhaben und ergänzen den Blick auf die bereits im Hinblick auf Grabmale thematisierte (s. Kap. 5.3.2) Kombinationsleistungen von Text und Bild. Seine Flucht vor Antiochius führt Apollonius in die Stadt Tarsis (AvT, V. 891– 893). Da er nicht zurück in seine Heimat kann, möchte er dort bleiben, erfährt jedoch, dass sein Exilort sich nicht besonders gut um Gäste zu kümmern vermag, da gerade eine schlimme Hungersnot wütet (vgl. AvT, V.  986–1004). Daraufhin verkauft Apollonius [h]undert tausent maut (AvT, V.  1011, 1135f.), die er gerade bei sich führt, zu je acht Pfennig und hilft den Bewohnern so, die Nahrungsmittelknappheit zu überwinden. Nachdem diese ihn als vorbildlichen Fürsten besungen haben (s.  Kap.  5.2.2), überlässt er ihnen mit Hinweis auf einen ihm angemessener als monetäre Entschädigung erscheinenden Wunsch das zusammengetragene Geld für Verbesserungen der Stadt (vgl. AvT, V. 1180–1186): Der wert Tyrlandere Gedacht das er ware Ain kunig und nicht ain kauff man: Die purger hieß er zu im gan: Er sprach ’ir lieben heren mein! Das silber sol ewr sein Das von dem korn genomen̅ ist. Da mit sult ir zu dieser frist Euwr stat zieren: Di turne wol formyren, Paide strass und weg, Graben, prucken unde steg. Da mit will ich euch schencken, Das ir mein mugt gedencken.’ (AvT, V. 1175–1188)

Apollonius ist wie er sagt kein Kaufmann will dementsprechend keinen Tausch; er strebt er nach Dank und Ehre, oder besser gesagt nach Andenken: Er möchte – so wird in dem Zitat deutlich – dass er als Wohltäter der Stadt nicht in Vergessenheit gerät. Das Versprechen, zu erinnern, Anerkennung zu sichern, ist ihm eine angemessene Entlohnung. Dem zum Ausdruck gebrachten Wunsch versuchen die Tarser in den sich anschließenden Beratungen zu entsprechen: Die purgere peraitten sich Wie si dem fursten herlich Daten etlich ere, Da man ymmer mere An mocht gedenken:

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Da mit solt man im schenken. Ain groß saul ward erhaben (AvT, V. 1201–1207)

Der direkte Anschluss des Säulenbaus an die erwähnten Beratungen zeigt, dass dieses Vorgehen Resultat gezielter Überlegungen der Tarser Bürger ist und sie ein Objekt, das gedencken garantiert, für die Möglichkeit halten, ihm etlich ere zu erbieten. Auch den Bürgern scheint das Versprechen ewigen Gedenkens ein adäquater Ausdruck der Ehrung zu sein (vgl. AvT, V. 1204–1206). Angesichts der ausgeschlagenen monetären Geste der Anerkennung ist das Sorgetragen um andauernde ,Erinnerung‘ an ehrenvolles Verhalten die adäquatere Form der Ehrerbietung. Das Versprechen kultureller ,Erinnerung‘ kann Dankbarkeit und Ehrerbietung kommunizieren. In einer handlungslogisch und narrativ parallel angelegten Situation kommt es im Text zu einem zweiten Säulenbau. Hier bildet den Kontext die mehr oder weniger erwünschte Dissoziation der Stadt Metelin von einem Zuhälter. Dieser hatte lange erfolgreich ein Bordell in der Stadt betrieben, in das auch Tarsia verkauft worden war (vgl. AvT, V. 15543–15583). Als Apollonius und Tarsia jedoch in eine Situation geraten, die zu einem unbewussten Inzest hätte führen können, erkennen sich Vater und Tochter glücklicherweise (AvT, V.  16390–16806). Der ansässige Fürst Attaganoras hält erfolgreich um Tarsias Hand an und lenkt mit ihrer Hilfe die Rachegefühle des Vaters von der Stadt auf den Zuhälter um, sodass nur dieser gerichtet wird und die Stadt verschont bleibt (vgl. AvT, V. 16880–16968). Da Tarsia den Bürgern zugute hält, sich ihr gegenüber stets sittlich gezeigt zu haben, sodass sie trotz Drängen des Zuhälters eine Jungfrau habe bleiben können, stiftet Apollonius der Stadt einen Teil seines Reichtums (vgl. AvT, V. 16981–17005).323 Die Szene gestaltet sich wie folgt: Auff stund Appolonius In dem palaß und sprach alsuß: ’Ir purger, lieben heren, Ich danck euch grosser eren. […] Dar umb gib ich euch zestund Zu eren goldes funfftzig pfund, Das ir der statt zynnen, Ewr turne aussen und innen Da mit wider machett,

323 Die Ausgangssituation ist dieselbe wie im lateinischen Text, in dem Apollonius den Bürgern nach der Verhandlung der Verbrechen und der Tötung des Kupplers hundert Goldtaler für den Aufbau der Mauern bereitstellt (vgl. Historia, S. 108f.).

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Da man inne wachett.’ (AvT, V. 16981–16984, 16997–17002)

Daraufhin kommt es auch hier zu einer entsprechenden Haltung der gerade beschenkten Gemeinschaft: Deß war gedancket im da wol: Si sprachen ’er ist eren vol: Er muß sein geniessen.’ Ain sewl sy machen hyessen (AvT, V. 17003–17006)

Die Parallelen zum obigen Fall sind evident. Auch hier beruht der Wunsch, eine Säule zu errichten, auf der Erfahrung von Dankbarkeit aufgrund monetärer Unterstützung bei der Stadtentwicklung und knüpft direkt an den Entschluss der Gemeinschaft an, in angemessener Weise Dank zum Ausdruck zu bringen, um exzeptionelles moralisches Verhalten zu belohnen. Die kollektive Feststellung, Apollonius’ Ehrhaftigkeit müsse diesem gelohnt werden (AvT, V. 17004f.), führt zu einem Vorgehen, das die Erzählinstanz als Dank, der Ausspruch, der der Gemeinschaft in den Mund gelegt wird, als Belohnung konzipiert. Wie in der zuerst geschilderten Szene beruht die Danksagung auf dem Versprechen, Andenken zu sichern. Die auslösenden Ereignisse gleichen sich in beiden Szenen. In der Betrachtung dieser wird bereits offenbar, dass diese Säulen sich ihrer vom Text zugeschriebenen Funktion zufolge problemlos als Ehrenmale und als solche als Transmissionsformen bezeichnen lassen. Bestätigt wird die Verwendung der Säulen als Erinnerungszeichen in einer Szene, die die Möglichkeit der späteren Rezeption der Tarser Säule und damit die Option eines späteren Zugriffs auf die in dieser Form gespeicherten Erinnerungsbestände zeigt. Rund vierzehntausend Verse nach der Errichtung der Säule wendet sich die Erzählung Tarsia zu, die nach dem scheinbaren Tod ihrer Mutter in Tarsis zurückgelassen wurde. Tarsias Amme Ligurdis erkrankt schwer und ist dem sicheren Tode nahe. Bevor sie stirbt und Tarsia bei ihren scheinheiligen Pflegeeltern, die Tarsia zu diesem Zeitpunkt noch für ihre leiblichen Eltern hält (AvT, V. 15131–15136), zurücklässt, klärt sie sie über ihre wahre Herkunft auf (AvT, V. 15139–15170). Auf diese solle sie sich in Notsituationen berufen, um sich die Unterstützung der Tarser zu sichern. Ligurdis weist sie an, in Bedrängnis auf den Platz zu eilen,

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[…] da die sewle statt Di man deinem vatter hatt Zu eren auff gerichtet Und kosperlich gedichtet. (AvT, V. 15187–15190).

Mit lautstarkem Verweis auf dieses Ehrenmal könne sie die werden purger von Tarsey an die mittels des Ehrenmals gelobte Dankbarkeit gegenüber Apollonius, [d]urch den di sewl gemachet ist und aus der auch eine Verpflichtung ihr gegenüber hervorgeht, erinnern. Sie solle das Bild als Mahnung einsetzen (vgl. AvT, V. 15194f.), damit die Tarser – so prophezeit es die Amme – gedenckent […] an die guten dat/Di er in getan hatt (AvT, V. 15199f.) und sich ihr, dem Kind ihres Retters, zu Hilfe verpflichtet fühlen. Die Säule vermag – so lässt sich aus der Annahme der Amme schließen – das Erinnern der Bürger an die Taten des Apollonius zu evozieren und auch die aus diesem resultierenden Gefühle, die mit der Errichtung des Ehrenmals gegebenen Versprechen und die daraus ableitbaren Verpflichtungen abzurufen. Das Wiederaufleben dieser Empfindungen könne zur Unterstützung Tarsias mahnen. Deutlich wird in dem wiedergegebenen Redebeitrag, dass der Säule eine Ehrenmalfunktion inklusive gesellschaftlichem Einfluss zugeschrieben wird, indem sie die Identität der Tarser Bürger festschreibt und diese zu Dank und Hilfe verpflichtet. Da Tarsia in dem Moment, in dem sie Hilfe benötigt, keine Möglichkeit hat, den Rat ihrer Amme zu befolgen, wird nicht sichtbar, ob das Ehrenmal die Funktion, die Ligurdis ihm hier zuschreibt, zu erfüllen vermag. Deutlich wird in dem kurzen Dialog, dass das Ehrenmal zwar das Kollektiv der Tarser Bürger anspricht und ihre Identität als Apollonius zu Dank verpflichtete Stadt trägt, es aber in seiner Funktion primär auf den Nutzen für Apollonius, [d]urch den di sewl gemachet ist (AvT, V. 15195) ausgerichtet ist. Primär soll es die Ehrerbietung überliefern, die Grundlage der Gemeinschaft ist. In den Szenen zeigt sich, dass es das Ziel ist, ,Erinnerung‘ an Apollonius, an die Dankbarkeit ihm gegenüber und an die dieser zugrunde liegenden Ereignisse zu wahren. Ebenso deutlich wird, dass den entstehenden Gebilden zugeschrieben wird, Erinnerungsprozesse zu generieren. In der Verbindung des Wunsches nach gemeinschaftlich gepflegter ,Erinnerung‘ an Heldentaten mit dem Königsstatus und in der engen Verknüpfung der Wahrnehmung als ehrenhaft mit dieser Form der Danksagung schreiben die Figuren der kollektiven ,Erinnerung‘ eine große Bedeutung, einen Wert, der über Materielles hinausgeht, zu. Die Figuren nehmen außerdem an, dass die Gebilde einen Einfluss auf zukünftiges Verhalten der mit ihnen lebenden Gemeinschaft haben. Schließlich zeigt sich in den Szenen, dass die Funktion des Stabilisierens, des Bewahrens und Übermittelns von Informationen über zeitliche Grenzen, mit einer unmittelbaren kommunikativen Funktion verknüpfbar ist. Informationen

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werden verstetigt und Dauerhaftigkeit spielt jeweils in der Motivation zur Errichtung des Ehrenmals eine Rolle, alles richtet sich aber primär auf die Person des Helden. Der Bau der Monumente ist eine Geste, die direkt an Apollonius gerichtet ist. Das Vorgehen ist eine performativ ausagierte Danksagung und Ehr­ erbietung, die zunächst einmal eine Art des Kommunizierens der Gemeinschaft gegenüber Apollonius ist. Es lässt sich an diesen kurzen Textausschnitten beobachten, wie der Text die Funktionen der Kommunikation und der Übermittlung zusammen denkt: Die mediale Form des Ehrenmals ist aufs Andenken, auf die Übermittlung von Informationen über einen größeren Zeitraum ausgelegt. Die primäre Funktion im Moment der Entscheidung ist aber eine kommunikative – die Danksagung gegenüber dem Helden. Was die Form allerdings unabhängig von der konkreten Ausgestaltung kommuniziert, funktioniert nur, weil das Ehrenmal als mediale Form des Übermittelns – genauso wie das Grabmal als Ausweise des Todes (s. Kap. 5.3.2) – konventionalisiert ist. Nur weil Apollonius davon auszugehen hat, dass mit der Plastik ein ewiges Andenken ermöglicht und verfolgt wird, kommuniziert sie ihm Dank und Anerkennung. Das Übermittlungspotenzial der Ehrenmale besteht für die Figuren darin, auch später immer wieder in derselben Weise die dankbare Haltung kommunizieren zu können. In der Konventionalisierung dieser Form wiederum liegt der zentrale kommunikative Aspekt zum Zeitpunkt der Errichtung. Damit kommt Ehrenmalen trotz der Ungleichheit der medialen Konfiguration eine ähnliche transmittive Funktionalität wie den Liedern (s. Kap. 5.2.2) zu. Für eine solch tiefe Dankbarkeit, wie beide Gemeinschaften sie empfinden, scheint nicht Geld, sondern Anerkennung in Form einer Verknüpfung der Stadtidentität mit dem Helden die angemessene Form der Entlohnung zu sein. Die Ehrenmale sind ein dauerhaftes Bekenntnis zur Dankbarkeit gegenüber Apollonius, indem sie seine moralische Überlegenheit in einem stabilen Material zur Schau stellen. Die primäre Funktion ist die Belohnung des Helden, das Ehrenmal gleicht jeweils dem Versprechen, zu erinnern und zu rühmen, welches das Mittel des Lohns ist. Die in Aussicht gestellte Transmission untersteht damit der primären kommunikativen Funktion, die kommunikative Funktion beruht aber auf dem Potenzial, zu übermitteln, auf dem Versprechen von Anerkennung über das Bestehen der Zeitzeugen hinaus. Der Apollonius stellt somit das Spannungsverhältnis, in dem das Ehrenmal als mediale Form steht, in der Motivation seiner Errichtung dar. Er präsentiert Ehrenmale als komplexe mediale Formen mit jeweils aufeinander beruhender Wirkungsmacht in der Gegenwart und in der Zukunft.

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Was im Folgenden weiter an diesen Ehrenmalen interessiert, die auch in der knapp ausfallenden Ekphrasis324 in der Vorstellung der RezipientInnen entstehen können, ist, was die Figuren über diese mediale Form in der Welt zu halten versuchen. Damit zusammen hängt die Frage, wie die Figuren die Möglichkeiten dieser medialen Form nutzen, um das, was sie vermitteln soll, zu gestalten. Die beiden Ehrenmale weisen auch in ihrer Gestaltung eine Reihe Gemeinsamkeiten auf: Es handelt sich jeweils um eine Säule mit einer darauf gesetzten Skulptur, die die verehrte/n Person/en abbildet und die sich durch ihre Größe und Höhe sowie ähnlich wie die Abbilder der beschriebenen Grabmale (s. Kap. 5.3.2) durch ihre kostbare Substanz auszeichnet. In Tarsis wird eine große Säule aus Marmor mit einem breiten Sims aus Gold, einem Adamas325 und einem ebenfalls goldenen, mit Edelsteinen verzierten326 Abbild327 des Apollonius aufgestellt: Ain groß saul ward erhaben Von mermelstain wol ergraben. Oben auff der seule graß Ain weytter syms auß schoß Harte maisterlich ergraben.

324 Trotz der Kürze der Darstellung handelt es sich um eindrückliche Monumente. Umso erstaunlicher ist es, dass sie keine Darstellung in einer der Bebilderungen anregen konnten (s. die Übersicht bei Schultz-Balluff, Dispositio picta, S.  334–344 und die Konkordanz der in den Handschriften enthaltenen Bildfolgen bei Krenn, Bildprogramm, S. 190–219). 325 Adamas, ein im Mittelalter spätestens seit Plinius bekannter Begriff bezeichnet unter anderem Diamant, stellt also einen, wie für die Transmissionsfunktion wichtig ist, extrem beständigen Stoff und, was wiederum für die kommunikative Wirkung nicht unerheblich ist, ein besonders kostbares Material dar. S. das Plinius-Zitat am Beginn der Ausführungen zur Traditionslinie von Diamant und Bockblut bei Ohly, Friedrich: Diamant und Bocksblut. Zur Traditions- und Auslegungsgeschichte eines Naturvorgangs von der Antike bis in die Moderne, Berlin 1976, S. 9, Anm. 3. 326 Sicherlich haben die Edelsteine primär eine ästhetische und damit kommunikative Funktion für das Ehrenmal. Dass diese dauerhafte Wirkung hat, gewährleistet aber die sprichwörtliche Beständigkeit solcher Steine: Martschini weist in ihren Ausführungen zum Brackenseil im Jüngeren Titurel darauf hin, dass im Lexikon des Mittelalters ,Dauerhaftigkeit‘ als zweite von drei kennzeichnenden Eigenschaften von Edelsteinen erwähnt wird (vgl. Martschini, Schriftlichkeit, S.  342 mit Verweis auf Hahn, Karin/Elbern, Victor H.: ,Edelsteine‘. In: Lexikon des Mit­telalters Bd. 3 Codex Wintoniensis–Erziehungs- und Bildungswesen, München, Zürich 1986, Sp. 1560–1565, hier Sp. 1560). 327 [P]ild (AvT, V. 1213, 1217, 1223; s. auch V. 1219: pilde). Nach Wedell handelt es sich dabei um einen auf Medienreflexivität verweisenden Begriff. Der Begriff bilde benenne sowohl die medien- und erzählebenenübergreifenden Akte des Bildgebens und -nehmens als auch das je konkrete Bildnis; der Ausdruck markiere damit auch ein reflexives Interesse von Texten an medialen Phänomenen (vgl. Wedell, Flore und Blanscheflur, S. 61).

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Auff dem syms was erhaben Von gold ain pild erlich Dem kunig Appolonio geleich; Der syms auch von golde was, Dar auff lag ain adamas: Das was das pild auff gesatzt, Mit edlem gestaine wol gefaßt. (AvT, V. 1207–1218)

In Metelin besteht das Ehrenmal aus einer großen Messingsäule mit einer darauf gesetzten Statue von Apollonius und Tarsia: Ain sewl sy machen hyessen Von schonem mëssinge, Groß und nit ze ringe. Oben auff der sewle saß Der zucht noch eren nie vergaß, Der werde kunig von Tyrlant Er hette in der rechten hant Tarsiam dar gegossen. (AvT, V. 17006–17013)

Es handelt sich also jeweils um eine Säule mit einer Statue, die die Körper der Verehrten in der Repräsentation auch nach Abreise oder Tod inmitten der Gemeinschaft präsent hält und als Anknüpfungspunkt für ,Erinnerungen‘ dient. Die Höhe, in die die Repräsentationen erhoben werden,328 sorgt nicht nur dafür, dass sie dauerhaft und gut von überall in der Stadt zu sehen sind, sondern kann bereits als Übersetzung der ideelle Wertschätzung der städtischen Gemeinschaft in die real-räumliche Physiologie der Staue gelesen werden. Wie genau die Abbilder gestaltet sind, wird nur angedeutet, eine äußerliche Übereinstimmung – eine Abweichung von der idealisierten, stereotyp-schönen Nachbildung, die realweltlich bis ins vierzehnte Jahrhundert üblich bleibt,–329 wird dabei nahegelegt, indem in beiden Fällen die Beschreibung die Unterscheidung zwischen Person und Abbild nivelliert. Der Wertschätzung arbeiten außerdem die verwendeten Materialien zu. Die Säulen und z.  T. auch die Abbilder sind jeweils aus einem edlen, glänzenden Material, das zunächst dafür Sorge trägt, dass die Ehrenmale ästhetisch ansprechend ausfallen und die Aufmerksamkeit eines Betrachters auf sich ziehen.

328 Im ersten Beispiel wird die Säule als graß bezeichnet, was sowohl als ,groß‘ als auch als ,grasfarben‘ (grüner Marmor) oder ,grau‘ (von grâ) gelesen werden kann. 329 Vgl. Haubrichs, Habitus Corporis, S. 22–24.

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Darüber hinaus trifft der mit der Materialwahl verbundene Kosteneinsatz sowie das unterstellbare Analogieverhältnis von materieller und ideeller Wertigkeit ähnlich wie die Höhe Aussagen über das positive Verhältnis der Gemeinschaft zum Abgebildeten.330 Auf die Spitze getrieben wird das im ersten Ehrenmal, wo eine verfremdete, vergoldete Apolloniusversion entsteht. Die Kombination des Heldenkörpers mit dem höchstmöglichen materiellen Wert ließe sich nicht nur als Repräsentation von Tugendhaftigkeit und Wertigkeit interpretieren, sondern überdies als Anspielung auf den zugrunde liegenden Ereigniszusammenhang deuten. Apollonius ist mit seinem Einsatz nicht nur für das Überstehen der Hungersnot, sondern mit dem Ausschlagen einer Entlohnung direkt für den Wohlstand der Stadt verantwortlich. Im Ehrenmal wird in der Vergoldung des Helden, in der Wahl von Marmor, Adamas und Edelsteinen der Reichtum repräsentiert, der auf dem Handeln des Helden beruht.331 Die Interpretation, die die Verwendung solch kostbarer Materialien darstellt und vermittelt, erschließt sich intuitiv und unmissverständlich, solange bestimmte Materialien als kostbar gelten oder ihnen zumindest ein besondere ästhetischer Wert zugeschrieben wird. Die bildliche Darstellung fällt jeweils symbolisch aus, referiert also nicht auf einen bestimmten Moment in der Vergangenheit, sondern veranschaulicht auf einer abstrakteren Ebene einen Ereigniszusammenhang. Die Ensemble fassen den Ereignisverlauf zusammen. Dementsprechend stehen diese Statuen auch nicht vor dem Problem, eine Bewegung oder eine konkrete Ereignisfolge abbilden zu müssen.332 Die Herausforderung besteht vielmehr darin, eine symbolische Pose für den Helden zu finden, die eindeutig auf die relevanten Ereignisse referiert.

330 Der Text selbst stellt diesen Zusammenhang zwischen materiellem und moralischem/ideellem Wert in seiner Vorrede her. Dort deutet die Erzählinstanz den Traum des Nebukadnezar anders als in der Bibel aus, indem sie die einzelnen Materialien der im Traum geschauten Statue als Sinnbilder der moralischen Integrität des Menschen liest (vgl. AvT, V. 68–77; s. Kap. 6.3.2). 331 In der Version Heinrich Steinhöwels rutscht diese Information in die Darstellung des Ab‑ bildes. Das Material, aus der es besteht, findet dort keine Erwähnung, dafür weist es das angebotene Geld in seiner Haltung ab (sin bild, das mit der rechten hand das koren ussgab vnd mit dem linggen fůß das gelt von im stieß, Steinhöwel, Heinrich: Apollonius. Edition und Studien. Hrsg. von Tina Terrahe, Berlin 2013 [Studien und Dokumente zur deutschen Literatur und Kultur im europäischen Kontext 179], Zz. 455f., in weiteren Angaben abgekürzt als Steinhöwels Apollonius). Steinhöwel ergänzt hier die Ablehnung des Geldes in der bildlichen Darstellung und versprachlicht die Intention der Gestalter in der schriftlichen Aussage. 332 Schon Lessing stellt fest, dass zur Darstellung von Bewegung im Bewegungslosen gerade Momente abgebildet werden müssen, die auf das Vorherige und das Nachfolgende verweisen (vgl. Winter, Gundolf: Erzählung und Zeit im Medium Skulptur. Berninis David. In: Anderes als Kunst. Ästhetik und Techniken der Kommunikation. Peter Gendolla zum 60. Geburtstag. Hrsg. von Thomas Kamphusmann/Jörgen Schäfer, München 2010, S. 83–96, hier S. 84f.).

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Zur Linken der Tarser Statue steht – ebenfalls aus Gold – ein metz (AvT, V. 1210), ein Gefäß, das üblicherweise als Maß für trockene Nährstoffe dient,333 und auf das bzw. in das er – Apollonius bzw. sein Abbild – einen Fuß/seine Füße setzt.334 In Metelin hält das auf der Säule sitzende Bild des Apollonius in der rechten Hand Tarsia, während sich seine Linke um den Kopf des Zuhälters schließt (vgl. AvT, V. 17009–170115).335 Eine abstrahierende, interpretierende Rekonstruktion der in der Darstellung komprimierten Ereignisabfolge durch die Aufschlüsselung der symbolischen und metonymischen Darstellungsweisen, die dabei zum Einsatz kommen, ist in jedem Fall nötig, um die anzitierten zugrunde liegenden Ereignisse nachzuvollziehen. Die Bildsprache des Meteliner Denkmals fällt direkter aus. Über die Positionierung wird Apollonius als zentrale Figur, die alles bzw. alle in der Hand hält, als die im Mittelpunkt stehende Persönlichkeit mit entsprechender Macht über die ihm zur Seite gestellten Personen markiert. Die wiedergewonnene Tochter wird ihm symbolisch zurück in seine Verfügung gegeben bzw. ist bereits (wieder) in seiner Verfügung. Das Leben des Zuhälters liegt in seiner Hand, wie Apollonius’ Griff um dessen Haupt repräsentiert. Die Bildsprache benötigt wenig Abstraktion, um verstanden zu werden. Die Komposition erlaubt es nicht, eine eindeutige Ereignisabfolge zu rekonstruieren, oder den Ursachenzusammenhang der Verehrung zu veranschaulichen, bei einer Übertragung der Stellung der Figuren auf die Verhältnisse der historischen Personen wird jedoch eine Grundkonstellation mit wenig Abstraktionsleistung nachvollziehbar. Mehr Interpretation und Vorwissen bedarf das Ehrenmal in Tarsis. Das Gefäß, auf das der güldene Apollonius seinen Fuß setzt, ist ein direkter Verweis auf die Ausgangssituation, welcher jedoch nicht ohne Weiteres zu verstehen ist und komplexere Abstraktionsleistungen verlangt. Das Gefäß kann als Verweis auf den landwirtschaftlichen Aufschwung, für den Apollonius verantwortlich ist, gelesen werden. Um es als Hinweis auf die

333 Bei einer Metze handelt es sich um ein geeichtes Gefäß, das als Trockenmaß dient. Abgeleitet ist das Wort von ahd. metzo. Während im Mittelhochdeutschen im Femininum das Wort mitte verwendet wird, was sich bis ins Neuhochdeutsche durchsetzt, wird für Maskulina metze verwendet (vgl. den Eintrag ‘metze‘ im Deutschen Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm 1885 Einen der älteren Belege stellt dabei der Apollonius von Tyrland selbst dar; s. auch Kluge, Etymologisches Wörterbuch, S. 619). 334 Die Textstelle beschreibt eigentlich, dass Apollonius mit beiden Füßen in dem Gefäß steht. Es heißt: Mit den fuessen dratt er dar in (AvT, V. 1222). Andererseits heißt es, die Skulptur des Gefäßes stehe Zu der tencken seytten vor (AvT, V. 1219). Es ist also nicht eindeutig, wie ge‑ nau die beiden Abbilder zueinander platziert sind. In jedem Falle sind sie aber verbunden. 335 Damit lehnt sich das Denkmal, das Heinrich in seinem Text entwirft, deutlich an das in der lateinischen Version auftauchende Gebilde an (s. Anm. 5/339).

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Verdienste Apollonius’ auszudeuten, muss der Zweck des Gefäßes bekannt sein, dieses nicht als Abbildung eines Konkretums ausgelegt, sondern metonymisch für den Inhalt verstanden und dieser Inhalt wiederum als Synekdoche für den wirtschaftlichen Aufschwung der Region, für den Apollonius verantwortlich ist, gelesen werden. Das ist nicht unmöglich, macht doch auch die Vergoldung des Heldenkörpers macht aufmerksam auf die symbolische Lesart, die das Denkmal fordert. Das Verständnis ist aber nicht voraussetzungslos, ist an Ableitungsvermögen und Vorkenntnisse, die kulturellem Wandel unterliegen, gebunden. Die zwar den Sinnen leicht zugängliche Bildlichkeit entpuppt sich als weniger basal als Analogieverhältnisse zwischen materieller und ideeller Wertigkeit; der potenzielle Aussagewert ist dementsprechend allerdings auch größer. Wegen der Interpretationsnotwendigkeit sowie der Schwierigkeit, komplexe Ereigniszusammenhänge in nur einem Bild darzustellen,336 verlässt sich keines der Ehrenmale rein auf die Aussagekraft der bildlichen Darstellung. Des Weiteren ähneln sich beide Ehrenmale nämlich darin, dass sie nicht nur ein kostbares Abbild als Bestandteil einer aussagekräftigen bildlichen Darstellung auf ihre Säule stellen, sondern dieses außerdem um einen kurzen Text ergänzen. Ebenso wie bei den Grabmalen für Tarsia oder den Riesenkönig (s. Kap. 5.3.2) entstehen komplexe Gebilde, die Informationen in unterschiedlicher Weise materialisieren und so auf mehreren Wegen an der Übermittlung arbeiten. Sie nutzen Schrift, um  – so ist zunächst einmal anzunehmen337 – das Verständnis der Bilder zu

336 Ereignisabfolgen müssen darin koexistent bestehen, werden komprimiert und in mehrere, sich überlagernde Schichten überführt (vgl. Winter, Erzählung und Zeit, S. 83), um als Materialisierung von Erinnerungsnarrativen wirken zu können (Brockmeier bezeichnet Denkmale als „materialized narrative“: Brockmeier, Jens: Remembering and Forgetting. Narrative as Cultural Memory. In: Culture Psychology 8/1 [2002], S. 15–43, hier S. 34) und verweist damit auf das dem Denkmal zugrunde liegende Konzept, ein nach narrativen Mustern organisiertes Ereignis in eine komprimierte Form zu bringen). Bei literarischen Phänomenen ist die vermittelte Zugänglichkeit verdoppelt und verdreht, indem das Bild, das eine Ereignisfolge zu vermitteln sucht, narrativ erzeugt wird. Wandhoff findet Ekphrasen vor allem deshalb spannend, da hier die mediale Diaphanie besonders eindrücklich werde. In der Lektüre komme es zu einem Oszillieren zwischen Text und Bild (vgl. Wandhoff, Ekphrasis, S.  1), welches den Akt der Vermittlung im Artefakt selbst hervorhebt. 337 Wer ein Denkmal vor welchem Hintergrund rezipieren wird, ist bei seiner Planung nur erahnbar: „Das Kunstwerk tritt mit seiner Vollendung in einen Kommunikations- und Wirkungszusammenhang, in dem neue Funktions- und Bedeutungssetzungen die Intentionen des Urhebers überlagern“ (Ridder, Ästhetisierte Erinnerung, S. 65). Das gelingt nicht immer in dem Maße, wie der oder die Urheber eines Denkmals sich das vorstellen (zum Kontrollverlust durch Ablösung s. auch Kap. 5.3.1). Das bedeutet zwar nicht automatisch, dass damit das Funktionieren der medialen Form gescheitert ist (vgl. hier S. 168), ein Denkmal sollte aber so konzipiert sein, dass es sehr viel später ohne allzu große Verständnisschwierigkeiten rezipierbar ist. Be­stimmte Gestal-

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fördern. Die Uneindeutigkeiten, die bei dem Blick auf die zunächst ästhetisch anziehende bildliche Darstellung auffallen, vermögen bestenfalls das Interesse des potenziellen Betrachters zu binden und die Aufmerksamkeit schließlich auf den erklärenden Text zu lenken. Die Funktion, der sich das jeweilige Ehrenmal unterstellt, gehört zu den besonders schützenswerten Aspekten, für die auf Schrift zurückgegriffen wird. In beiden Fällen kommt explizit der Zweck der Säule zum Ausdruck. In Metelin heißt es Zu eren dem von Tyrlant […] Und Tarsiam […] Zu ainem ewigen lobe/Stend der sewle obe (AvT, V. 17021–17028), in Tarsis ist zu lesen, die Säule sei zu preyse/ her gesatzt (AvT, V.  1232f.). Die Erinnerungsobjekte beschreiben ihren Zweck. Können die Bilder ihre Bedeutung verlieren bzw. kann der Bezug zu der um die Ehrenmale lebenden Kultur verblassen, so kann die Schrift relativ dauerhaft sicherstellen, dass zumindest der grundlegende Anlass der Errichtung – nämlich die Ehrung der darauf abgebildeten Person/en – auf Dauer unmissverständlich übermittelt wird. Das wiederum unterstreicht die bereits erläuterte Verknüpfung von Transmissions- und Kommunikationsfunktion. Die Texte geben Aufschluss über die Funktion der eigenen Materialität und stellen sicher, dass die transmittive Wirkung nicht hinter dem dekorativen Effekt zurücktritt. Inhaltlich kehren die Texte neben dem Grund, Sinn und Zweck zuerst die Identität und den Status des Verehrten hervor. Der Tarser Text nennt den Namen ,Apollonius‘ und klärt darüber auf, dass es sich um den König und Herrscher über Tyrland handelt, der Meteliner Text identifiziert Apollonius und Tarsia als Vorlage der Abbildungen. Die Texte stellen sicher, dass die dem Bild verliehene, zugeschriebene Identität und der Zweck des Ehrenmals über die Gravur in festes Material gesichert wird, die wichtigsten Informationen über den Helden der Stadt sind Name und Status. Als zweitrangig erscheint die Charakterisierung der Verehrten, die in beiden Fällen wenig spezifisch ausfällt und von Idealen geprägt ist, die nichts mit den konkreten Ursachen der Verehrung zu tun haben. So betitelt und charakterisiert der Schriftzug auf dem Sockel des Meteliner Ehrenmals Apollonius als weygant (AvT, V. 17020) – obwohl Apollonius sich gar nicht als solcher in Metelin hervorgetan hat – beschreibt Tarsia stereotyp als weyse[] und schone (AvT, V. 17025f.). Das Zusammenwirken von Bild und Text als Träger (und Produzent) von Erinnerungsinhalten in der multimedialen Form des Ehrenmals fällt in den Passagen unterschiedlich aus und hebt sich jeweils von der lateinischen Vorlage ab.

tungsweisen geben daher Aufschluss über die Wahrnehmung möglichen kulturellen Wandels sowie über die in der Imagination betroffenen Bereiche. In der Anlage der medialen Form gehen die Figuren mit der quasi offenen Empfängerschaft um.

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Das Bild des Apollonius im Tarser Ehrenmal hält in seiner rechten Hand einen brieff (AvT, V.  1224), der entweder aus Stein, Gold, oder Marmor (den genannten festen Materialien des Ehrenmals) ist, denn die darauf zu lesenden Buchstaben sind in ein festes Material gegraben (AvT, V. 1225). Innerhalb der medialen Form des Ehrenmals taucht also die kommunikative Form des Briefes auf. Warum der inkorporierte Text durchaus auch als Brief und nicht nur als Schriftstück zu bezeichnen ist,338 wird bei einem Blick auf den Inhalt und den Sprachgestus deutlich. Der eingravierte Text imitiert eine Face-to-face-Kommunikation zwischen dem Betrachter und dem Abbild des Apollonius (s. zu dieser Funktion des Briefes Kap. 4.3.1). Das Bildnis spricht über die im Ehrenmal enthaltene mediale Form zu dem Betrachter und erklärt dabei sich selbst und seine Funktion: ’Ich kunig Appolonius, Furste da zu Tyrlant, Pey disem pild tuen pekant Das ich die Tarsere Loßt auß grosser schwere Mit leibnär und mit speyse. Da von pin ich zu preyse Her gesatzt, wie es ergie, Und pin sein gezeug alhie.’ (AvT, V. 1226–1234)

Das Bildnis spricht über die im Ehrenmal enthaltene mediale Form des Briefes in der ersten Person (vgl. AvT, V. 1226, 1229) zu dem Betrachter.339 Dadurch fungiert

338 Wand-Wittkowski macht darauf aufmerksam, dass In- und Aufschriften im mittelalterlichen Sprachgebrauch häufig als Brief bezeichnet werden, betont aber auch die kommunikations- und medientheoretische Differenz dieser Schriftmedien hinsichtlich Adressatenkreis und Botschaftscharakter (vgl. Wand-Wittkowski, Briefe, S.  36; s.  zum ersten Punkt auch Hennig Wörterbuch, S. 45). Martschini wiederum weist darauf hin, dass die Ausrichtung der Inschrift auf einen indefiniten Adressatenkreis die Inschrift nicht grundsätzlich vom Brief unterscheidet, der – gerade in mittelalterlicher Literatur – ebenso häufig wie der privaten Nachricht der öffentlichen Bekanntmachung bestimmter Informationen diene (vgl. Martschini, Schriftlichkeit, S. 332), wie auch Beispiele aus dem hier untersuchten Textkorpus gezeigt haben (vgl. Kap. 4.3.1, 4.3.3). Der Unterschied scheint damit stärker in der hier stark gemachten Unterscheidung zwischen Fernkommunikation und Transmission zu liegen. 339 In dieser schriftlichen Ergänzung unterscheidet sich Heinrich von seiner Vorlage. Fällt das Bild ähnlich aus, so weicht es hinsichtlich des Sprechgestus’ von selbigem ab, indem es die Bildunterschrift der Tarser mit dieser dem Bildnis selbst in den Mund gelegten Botschaft ersetzt. Im lateinischen Text heißt es: locaverunt in foro, in biga stantem, in dextra manu fruges tenentum, sinistro pede modium calcantem et in base haec scripserunt: TARSIA CIVITAS APOLLONYO TYRO DONVM DEDIT EO QVOD STERILITATEM SVAM ET FAMEM SADAVIT [sie stellten

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das Bild tatsächlich als Repräsentant des Helden, der brieff erhält in dem entstehenden Bild die Funktion eines Spruchbandes. Dennoch geht das Abbild durch den Text nicht in der Repräsentation von Apollonius’ Stimme auf, sondern bleibt als Abbild zu erkennen, wenn sich im zweiten Textteil der Sprechgestus ändert. Hier beschreibt es, zu preyse […] gesatzt (AvT, V. 1232f.) zu sein und verweist in der dritten Person auf Apollonius, als dessen gezeug (AvT, V. 1234) es sich inszeniert. Es spricht also das Bild in seiner doppelten Natur als Präsenz beanspruchende Repräsentation des Helden und als den Dank der Tarser in seiner Gemachtheit bezeugendes Objekt. Der König Apollonius tut – so heißt es zunächst in der performativen Wendung – mit dem Bild kund, dass er die Tarser gerettet hat. Dann wechselt der Sprechgestus und das Bild spricht über sich selbst nicht mehr als ,König Apollonius‘, sondern als sein Abbild von seinem Zweck, an die Taten des Apollonius zu erinnern. Die abgebildete Figur vermittelt also zweierlei: ein Ereignis und die eigene Abbildungsfunktion inklusive der dieser zugrunde liegenden Verehrung. Eine andere Strategie im Hinblick auf die Integration von Text sowie ein anderes Text-Bild-Verhältnis ist bei dem Meteliner Ehrenmal zu beobachten: An der sewl geschriben was, Wer da stund und da laß: ’Zu eren dem von Tyrland, Appolonio dem weygant, Ist di sewl gegossen (Er hatt deß genossen Das er di mawren an der statt Und di turne gepessert hat) Und Tarsiam der weysen, Der schonen und der preysen. Zu ainem ewigen lobe Stend der sewle obe.’ (AvT, V. 17017–17028)

es auf dem Marktplatz auf, wie er auf einem Zweigespann steht, Getreidehalme in der Rechten haltend, den linken Fuß auf einen Scheffel gesetzt, und auf den Sockel schrieben sie folgende Worte: DIE STADT TARSUS HAT DEM APOLLONIUS VON TYRUS DIESES DENKMAL GESTIFTET WEIL ER IHRER HUNGERSNOT EIN ENDE GEMACHT HAT] (Historia, S. 30, Übersetzung S. 31). Steinhöwel wandelt die Darstellung etwas ab. Dort heißt es: Darum das volk in grossem gunst vnd innerclichen liebi gegen im enzindet ward vnd liessend im howen ain staine sul vnd die stellen mittel an den marckt, vnd dar uff sin bild, das mit an der rechten hand das koren ussgab vnd mit dem linggen fůß das gelt von im stieß, zů ainer ewiger gedächtnuß des gůtten, das Appolonius an in getan hett, vnd liessend schriben an den fůß der sul ,Da mit sol begabet sin Apollonius von Tiria, der dise stat von tödlichem hunger erledigt hant, des wir nümermer vergessen sullen‘ (Steinhöwels Apollonius Zz. 453–460).

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In dem der Statue beigegebenen Text wird ein neutraler Sprechgestus angeschlagen, der einem Statement der Erinnerungsgemeinschaft entspricht. Die Stimme und Perspektive des um ,Erinnerung‘ bemühten Kollektivs wird direkt zugänglich, während sie aus den Worten, die der Repräsentation des Verehrten im Tarser Denkmal in den Mund gelegt werden, nur ableitbar ist. Hier erinnert eine Gemeinschaft die zukünftige Konfiguration ihrer selbst. Der Unterschied dieser Sprechweisen für die Wahrnehmung der Ehrenmale ist ohne innertextuelle Rezeption nur theoretisch zu beschreiben. Im ersten Falle erinnert ein Stellvertreter des Apollonius an die Verpflichtung ihm gegenüber, während im letztgenannten Falle eine Gemeinschaft sich selbst und die eigenen Nachkommen an die eigene Dankbarkeit und die daraus ableitbare Verpflichtung Apollonius gegenüber ermahnt. Die Haltung und dementsprechend auch die Reaktion, die für alle, die sich als Teil dieser Gemeinschaft verstehen, angemessen ist, scheint durch den Text des Meteliner Ehrenmals stärker als im Falle des appellativen Tarser Ehrenmals – in dem die ,sprechende‘ Instanz zwar materiell und quasi-körperlich präsent ist, jedoch von außen auf den Betrachter einredet – festgesetzt, ja bereits vorausgesetzt zu sein. Doch es fällt auch ein Unterschied bezüglich der Verknüpfung von Bild und Text in den literarischen Ehrenmalen auf. Die Tarser Darstellung benötigt – so ist deutlich geworden – Abstraktionsprozesse; diese werden mit Schrifteinsatz unterstützt. Der Text erläutert die bildliche Darstellung, mit der er über den Sprechgestus eng verknüpft wird. Denn der Text wendet sich auch dem im Bild gezeigten, der Verehrung zugrunde liegenden Ereignis zu und macht die bildliche Darstellung plausibel. Der ,Brief‘ nämlich erwähnt leibnär und […] speyse (AvT, V. 1232), auf die das Metzgefäß bildlich hinweist (s. o.). Genannt wird im Rahmen dieses Zusammenhangs die Gemeinschaft der aus grosser schwere (AvT, V. 1229) Erretteten, sodass eine Anbindung an den Standort des Denkmals und an die dort lebende Bevölkerung stattfindet. Die Plastik zeigt nur das Vorhandensein von Erntegut; dass das gerade einen Umschwung zum vorherigen Mangel der Nahrungsmitteln bedeutet, lässt sich über das Bild allein nicht darstellen, wird aber durch den Text ergänzt. Zuletzt erklärt der Text die Erlösung aus der Hungersnot über den Anschluss [d]a von (AvT, V. 1232) als Ursache der eigenen Existenz. Der in das Ehrenmal eingearbeitete Text kann die bildliche Darstellung vereindeutigen bzw. mit einer sukzessiven Ereignisabfolge unterfüttern und so auch noch zugänglich zu machen, wenn der Zeitraum kommunikativer Erinnerung bereits überschritten ist. Die uneindeutige bildliche Darstellung erfährt über den Text ein höheres narratives Potenzial. Bild und Text ergeben eine stimmige Gesamtkomposition. Anders funktionieren Bild und Text in Metelin. Dort entsteht ein inkohärenter Eindruck. Der auf dem Sockel angebrachte Text enthüllt als konkreten Grund

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der Verehrung Apollonius’ Großzügigkeit. Er habe die Säule verdient, da er die mawren an der statt/Un di turne gepessert hat (AvT, V.  17023f.). Angesichts der Geschehnisse, die zu diesem Resultat geführt haben und der bildlich dargestellten Szene, ist die monetäre Großzügigkeit des Königs zwar durchaus tatsachengetreu340 doch als einziger angegebener Grund verwunderlich. Denn ist es auch wahr, dass Apollonius die Erneuerung der Stadt mit seinen Mitteln unterstützt, so ließen sich relevantere Ereignisse nennen – bspw. dass Apollonius hier seine Tochter unter unglaublichsten Umständen wiedererkannt und von der Zerstörung der Stadt abgesehen hat, dass Tarsia vor sexueller Ausbeutung verschont geblieben ist und deswegen die Begnadigung des Oberhauptes erbeten und erwirkt hat, oder aber, dass die Stadt von dem Zuhälter befreit worden ist bzw. die Bürger (und nicht Apollonius!) entschieden haben, diesen dem Feuer zu übergeben.341 Die genannten Teilereignisse, die das Bild durch die Personen andeutet, treten durch den Text, der die bildliche Darstellung nicht stützt, hinter die dort erwähnte Großzügigkeit des Helden zurück. Der Text hilft nicht, die bildliche Darstellung zu verstehen oder unterfüttert diese mit anschlussfähigen Informationen, sondern bringt einen eigenen Aspekt zur Geltung. Wichtige Bestandteile der Geschichte bleiben sowohl im Bild als auch im Text unerwähnt. Während die Wiedervereinigung mit der Tochter zumindest im Bild Repräsentation findet,

340 Außerdem ist die Aussage so vorlagengetreu: At vero cives accipientes aurum fuderunt ei statuam stantem et caput lenonis calcantem, filiam suam in dextro brachio tentem, et in ea scripserunt: TYRIO APOLLONIO RESTITVTORI MOENIVM NOSTRORVM ET THARSIAE PVDICISSIME VIRGINTATEM SERVANTI ET CASVM VILISSIMVM INCVRRENTI VNIVERSVS POPVLVS OB NIMIUM AMOREM AETERNVM DECVS MEMORIAE DEDIT [Die Bürger aber nahmen das Gold und gossen eine Statue von ihm, wie er dastand, einen Fuß auf den Kopf des Kupplers gesetzt, seine Tochter im rechten Arm haltend, und sie schrieben darauf: DEM APOLLONIUS VON TYRUS, DEM WIEDERERBAUER UNSERER MAUER, UND DER TARSIA, DIE IHRE JUNGFRÄULICHKEIT SO SITTSAM BEWAHRTE UND IN DAS NIEDRIGSTE SCHICKSAL GERIET, VOM GESAMTEN VOLK WEGEN GROSSER LIEBESGABEN ZUM EWIGEN EHRENVOLLEN GEDENKEN GESTIFTET] (Historia, S. 108, 110, Übersetzung S. 109, 111). Hier verkürzt Steinhöwel die Darstellung: vnd [Apollonius] schencket dem common fünffczig pfund goldes, das sie in grossen eren vnd danck von im empfingen, vnd liessen [38r] im setzen ain sul mittel in die stat vnd dar an schriben ,Dise sul ist gesetzet ze eren dem Künig Apopolonio Tirio vnd siner tochter Tarsie zu ainer ewigen gedächtnus ires lebens‘ (Steinhöwels Apollonius, Zz. 1438–1442). 341 Angesichts des unbändigen Zorns Apollonius’, der im Begriff ist, die ganze Stadt für das Schicksal seiner Tochter büßen zu lassen, entscheiden die Bürger in einer internen Beratung, ihm vorzuschlagen, seine Rachlust am Bordellbesitzer auszuagieren (vgl. AvT, V. 16853–16907). Daraufhin übermittelt Attaganoras den Vorschlag, welchem Apollonius zustimmt. In dem Gerichtsprozess votiert das Volk dann einstimmig für den Feuertod des Zuhälters: Di leutte rufften alle/Mit ainem grossen schalle:/’Der pulian soll alzehant/Werden lebendig verprant (AvT, V. 16914–16917).

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bleiben einige Aspekte der Geschichte, Details um den Zuhälter und seine Verknüpfungen mit der Stadt, unerwähnt. Die Vernachlässigung dieser Ereignisse lässt sich damit erklären, dass das Ehrenmal komplett auf den auch bildlich im Mittelpunkt stehenden Apollonius ausgerichtet ist. Die ausschließlich die Bürger der Stadt betreffenden Informationen spielen daher in dem Ehrenmal keine Rolle. Im Vordergrund soll bei der Erinnerung Apollonius’ Einsatz für die Stadt stehen. Der Zuhälter ist zwar im Bildprogramm enthalten, er wird jedoch im Text sowohl als Person als auch als Einflussfaktor für die Stadt unterschlagen. Seine Person wird nur in der Abbildung eines unbenannt bleibenden und besiegten Widersachers des Helden übermittelt. Der Bordellbesitzer und die vorherige Verknüpfung der Stadt mit jenem wird nivelliert, wird – auch durch das Verschweigen des Befreiungsmoments – aus der Geschichte der Stadt und der Identität der Gemeinschaft gelöscht. Auch die prominente Rolle Tarsias oder Attaganoras’ geht in der Komposition unter. Letzterer fällt ganz aus der Darstellung heraus; Tarsia erfährt ausschließlich als die dem heldenhaften Vater zurück in die Hand gegebene, verschonte Tochter Aufmerksamkeit. Tarsias Jungfräulichkeit ist das schlagende Argument, das die Städter Apollonius gegenüber vorbringen, um ihn davon zu überzeugen, ihren Wohnort nicht zu verwüsten, sondern seinen Zorn auf den Zuhälter zu fokussieren (vgl. AvT, V. 16855–16907). Nur durch ihre moralische Überlegenheit sei sie [m]aget peliben auff dise frist (AvT, V. 16951). Tarsia wiederum ist diejenige, die diese Aussage bestätigt und ihren Vater besänftigt (vgl. AvT, V. 16967–16973). Im Bild steht Apollonius als Sieger und alleiniger Retter Tarsias, in der Beschreibung als Wohltäter der Stadt im Zentrum.342 All die anderen komplexen Zusammenhänge finden in dem Ehrenmal keine Erwähnung und sind

342 Dass Bild und Text eines Erinnerungsmals sich ergänzen bzw. variierende Interpretationen des erinnerten Geschehens oder der erinnerten Person bieten, ist bereits für andere Texte herausgearbeitet worden. So stellt Schnyder bei seiner Untersuchung des Zusammenhangs von Schriftlichkeit und Erinnerung im frühneuhochdeutschen Melusineroman fest: „Der Aussagegehalt beider Zeichen, der Skulptur und der Inschrift [in der Awalonepisode], ist, bedingt durch ihre andersartige Medialität, sehr verschieden: Wo das Bild Helmas in königlicher Wür‑ de hieratisch starr und ohne Fehl und Tadel erinnernd zeigt, da entwickelt der Text auf der Tafel eine lange Erzählung, die den König in ambivalentem Licht erscheinen lässt. Je nachdem mag dann die Erinnerung des lesenden Beschauers unterschiedlich ausfallen: es mag sich ihm der Kontrast zwischen Text und Bild einprägen oder es mag sich ihm die lange Erzählung aus der Geschlechtergeschichte mit ihren zahlreichen Protagonisten, mit den diversen Verwicklungen, den Vor- und Rückblicken, mit ihren moralischen Zweideutigkeiten schließlich vereinfachen, verflüchtigen, zu einem klaren, einfachen, Erhabenheit vermittelnden Bild verfestigen“ (Schnyder, Sehen und Hören, S. 393). Außerdem zeugen die zahlreichen Arbeiten zu Text-BildBezügen im Rahmen bestimmter Textzeugen mittelalterlicher Literatur von den Diskrepanzen, die im Neben- und Miteinander der Darstellungsformen möglich werden.

Schreiben – Bauen – Bilden: Körperentbundene Strategien des Bewahrens 

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daher lediglich im Zeitrahmen des lebendigen kommunikativen Gedächtnisses zugänglich. Die Selektion und Hierarchisierung ist nicht als komplette Umdeutung der Ereignisse zu bezeichnen, dennoch lässt sich an diesem Textbeispiel gut erkennen, wie in der medialen Gestaltung kultureller Erinnerung die Inhalte verändert oder zumindest nur verkürzt und der gewünschten Gruppenidentität angepasst dargestellt werden. Die komplexe mediale Form des Ehrenmals kann viele Aspekte vermitteln, vielschichtige Zusammenhänge müssen aber zwangsläufig reduziert werden. So kann die weitere Erinnerung an sie in der Materialisation der Ereignisse geformt und auch umgeformt werden. Auch an diesem Beispiel ist – zumindest für die aufmerksamen RezipientInnen – gut zu erkennen, wie in der Formatierung der Ereignisse die Geschichte erst geprägt wird und wie dabei bestimmte Umgewichtungen und Umdeutungen vorgenommen werden. Die beiden Gebilde im Apollonius von Tyrland sind eindrucksvolle Darstellungen von Erinnerungsbildungsprozessen in literarischen Texten des Mittelalters, die die anhand der erzählten Grabmale und Lieder gemachten Beobachtungen stützen und ergänzen können. Ihre jeweilige Anlage zielt auf die Konstitution und Stabilisierung einer gemeinschaftsstiftenden Erinnerung, andererseits scheint die momentane Ehrung des noch lebendigen Helden im Zentrum zu stehen. Auch hier unterliegt die Praxis zunächst einer kommunikativen und auf die Gegenwart bezogenen Funktion. Diese allerdings ist unweigerlich und unauflösbar mit der medialen Fähigkeit der Transmission verknüpft, denn die Botschaft, die mittels der Ehrenmale gegenüber Apollonius kommuniziert werden soll, beruht auf dem mit den Statuen gegebenen Versprechen, sich zu erinnern und auch in Zukunft die großzügigen Taten zu rühmen. Die transmittive Funktion der Ehrenmale ist also Mittel der unmittelbaren kommunikativen Funktion. Die beschriebenen Szenen stellen dar, aus welchen Ambitionen Ehrenmale hervorgehen, welche medialen Strategien in dieser Form kulminieren können, um einem flüchtigen Ereignis Dauerhaftigkeit und Stabilität zu verleihen, und welche Prozesse mit diesen Bemühungen einhergehen. Wie genau die gewählten Strategien aufgehen, lässt sich auf Textebene nicht beobachten, nur Probleme und Irritationen, die in der eigenen Lektüre auftreten, sind Indizien der Wirkungsweise. So wird beim Versuch, die Ehrenmale hinsichtlich ihres Umgangs mit den ursprünglichen Ereignissen zu beschreiben, deutlich, dass die Formatierungen jeweils unterschiedliche Rezeptionsherausforderungen generieren, bzw. auf unterschiedliche Kompetenzen bei den Empfängern ausgerichtet sind. Die verschiedenen Bestandteile ermöglichen mehrere, sich ergänzende und erweiternde Zugänge. Dabei entstehen kaum Redundanzen, sodass für ein umfassendes Verständnis die Wahrnehmung und z.  T. auch Aufschlüsselung aller

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Bestandteile nötig ist. Bei einem sorgfältigen Abgleich der Denkmale mit den Ausgangssituationen ist außerdem beobachtbar, wie in der Gestaltung der Denkmale Schwerpunkte hinsichtlich der Erinnerungen gesetzt werden. Besonders bei dem Denkmal der Meteliner veranschaulicht der Text, dass mediale Formen, die sich der Erinnerungsver- bzw. -übermittlung verschreiben, Erinnerungsbestände ausbilden und dass die Gestaltung nicht nur in ästhetischer, sondern auch in historischer Perspektive ein kreativer, produktiver und gewichtender Prozess ist. Die geschilderte Umgewichtung zu erkennen, erfordert allerdings eine aufmerksame Lektüre. Die Beschreibung der Ehrenmale, die dem Blickverlauf eines möglichen Betrachters folgt und die RezipientInnen zum „Augenzeugen“343 der Ehrenmale macht, beschließt die jeweiligen Szenen und setzt damit auch die abschließende Wahrnehmung des Helden durch die TextrezipientInnen in dieser Ereigniskonstellation fest. Der Text zeigt zwar, wie Erinnerungsbildung funktioniert, verschleiert aber gleichermaßen den umgewichtenden Effekt, der auch die eigene Medialität bestimmt, indem er in seiner Narration die ästhetische, aber auch reduzierende Form des Denkmals als Schlusspunkt der Erzählpassagen nutzt.

5.4 Zwischenfazit Ziel von Transmissionsprozessen ist es, Vergänglichem eine Form zu geben, in der es physisch in der Welt bleibt, die Möglichkeit zur wiederholten Vergegenwärtigung zu schaffen und einen stabilen individuellen und kollektiven Informationsbestand auszubilden. Das Spektrum der medialen Formen, die die Figuren des Reinfried von Braunschweig und des Apollonius von Tyrland344 ver­wenden, um gegen das Vergessen anzuwirken, ist breit. Informationen werden in Stein gemei-

343 Diese treffende Bezeichnung für das sprachliche Vor-Augen-Führen durch Ekphrasen fin­ det Wandhoff, Ekphrasis, S. 25. Literatur sei fähig dazu, diese Verwandlung vom Leser/Hörer zum Augenzeugen zu vollziehen. Dass dies bereits den mittelalterlichen Verfassern bewusst gewesen ist, untermauert er mit Ausführungen zu mittelalterlichen Kognitionstheorien, in denen angenommen wird, der Geist des Menschen könne gar nicht anders, als aus Gehörtem oder Gelesenem imaginäre Bildnisse zu modellieren (vgl. hier S.  25–27; er spricht von „innerer Wahrnehmung“, „mentalen Bildern“, „sprachlich erzeugten Schauräumen“, hier S.  30). Diese Auffassungen wiederum stünden im Einklang mit neueren neuro- und sprachwissenschaftlichen Kognitionstheorien (vgl. hier S. 28–30). 344 War bezüglich der Anzahl der darstellenden Szenen im Falle der Fernkommunikation ein Ungleichgewicht zugunsten des Reinfried von Braunschweig festzustellen (s. Kap. 4.5), so verhält es sich im Hinblick auf Transmissionsprozesse umgekehrt.

Zwischenfazit 

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ßelt und in Formen gegossen, Ereignisabfolgen, Beziehungsgefüge, Charakteristika erhalten eine physische Gestalt, werden zu sprachlich stabilen Gebilden oder Textkörpern. Diese Vielfalt erschwert allgemeine abschließende Aussagen. Fast jede Passage nimmt einen eigenen Blickwinkel ein, fokussiert einen anderen Aspekt medialen Handelns und medialen Wirkens über die Herausforderung der Zeit und nutzt die Transmissionsformen anders als Elemente der Narration. Das Erzählen von Transmissionsmedien kann bspw. selbst als Erinnerungsmarker auf Textebene eingesetzt werden. Häufiger beschließt es einen Handlungsstrang und besiegelt damit die Rolle einer Figur im Beziehungsgefüge oder die relevante Leistung dieser in der vorangegangenen Episode. Teilweise sind Transmissionsmedien Bestandteile eines Exkurses, manchmal tragen sie selbst handlungsrelevante Informationen oder ganze Binnenerzählungen, gleichzeitig werden sie als Quellen der vorliegenden Erzählung stilisiert. Während die letztgenannten Funktionalisierungen den Zusammenhang von Erzählen und Überlieferung reflektieren, nutzen die erstgenannten die Wirkungen von Transmissionsmedien zum Abschluss sowie zum Aufruf eigener Textpassagen. Ihr mediendiskursives Potenzial erhalten die beobachteten Textelemente dadurch, dass sie einen Blick auf die mediale Formung von Erinnerungs-, Identitäts- und Wissensbildungsprozessen gewähren. Die jeweiligen Urheber sind durch die große zeitliche Distanz, die es zu überbrücken gilt, dazu gezwungen, ihr ,Wissen‘ und ihre ,Erinnerung‘ von sich abzulösen, ihre Wahrnehmung äußerlich zu machen und Entscheidungen darüber zu treffen, was vernachlässigbar und was zu bewahren ist. Die entstehenden medialen Formen sind geprägt vom Blick ihrer Urheber und ermöglichen einen Zugriff auf ihre jeweiligen Positionierungen und Interessen. Die Transmissionsmöglichkeiten sind dabei nicht immer wie zuerst vermutet im Zentrum des Interesses, oft genug scheint vielmehr die kommunikative Funktion im Vordergrund zu stehen. Transmission ist aber immer elementare Voraussetzung der kommunizierten Botschaft, der Wertschätzung, die in dem Versprechen zukünftiger Ehrung und ,Erinnerung‘ ihren Ausdruck findet. Beide Funktionen sind in den Passagen in je unterschiedlicher Weise miteinander verknüpft. Die Inszenierungen, die die Figuren wählen, zeigen unterschiedliche Strategien und fordern unterschiedliche Kompetenzen bei der Rezeption. Erzählungen müssen von Generation zu Generation weitergegeben werden und sind so nicht nur anfällig, dem Vergessen anheimzufallen, sondern auch verändert zu werden und sich vom historischen Kern zu entfernen. Lieder und Rätsel festigen eine bestimmte Wortfolge und erweisen sich als körpergebundene Formen zwar als latent gefährdet, jedoch inklusiv und emotional effektiv in der Präsenzmachung. Schrift als Gravur in einer festen Materialität garantiert das stabile Überdau-

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ern der gewählten Worte und macht – unter bestimmten Voraussetzungen345  – knapp,346 aber auch eindeutig Informationen über zeitliche Distanzen hinaus nachvollziehbar. Die Applikation auf Buchseiten hingegen lädt zu ausladenden Schilderungen ein, bei denen größere Spannungsbögen entfaltet werden können, mit deren Hilfe sich Informationen unterhaltsam weitertragen lassen. Auch der menschliche Körper bzw. einzelne Bestandteile können zu einem auslesbaren Zeichen werden. Die kollektiv übermittelnden Ersatzkörper – Plastiken – arbeiten jeweils mit materieller oder bildlicher Symbolik oder setzen auf Abbildlichkeit. Die Wahl kostbarer oder kunstvoll gestalteter Materialitäten vermittelt auf Grundlage der Gültigkeit materieller oder ästhetischer Wertigkeitsverhältnisse basale Informationen. Beruhen die Darstellungen nicht auf Ähnlichkeit,347 sondern auf symbolischen und metonymischen Verweisstrukturen, erhalten sie häufig die Unterstützung durch Schrift wie im Falle der Grab- und Ehrenmale oder der kommunikativen Weitergabe des Kontextes wie im Falle der Körperpraktiken des Apollonius. Da eine Darstellungsform die andere nicht restlos mit ihren Mitteln

345 Für diese zeigen die Texte jedoch kaum ein Interesse. Sie gehen von der andauernden Gültig- und Rezipierbarkeit des gewählten Zeichencodes und der Lesefähigkeit des angesprochenen Rezipientenkreises aus. Dass im Apollonius von Tyrland auf andere, ,heidnische‘ Buchstaben, verwiesen wird, mit denen eine Grabinschrift realisiert wird, zeugt aber auch von dem Bewusstsein dafür, dass auch Schrift zeit- bzw. kulturgebunden ist und Rezeptionsproblematiken bergen kann. Weiter ausgearbeitet wird das Rezeptionsproblem, das sich hinter dieser Formulierung verbirgt, jedoch weder auf Figurenebene noch im Erzählvorgang. 346 Die bereits im Briefkapitel festgehaltene Problematik spitzt sich, wie auch die folgende Formulierung bei Martschini zeigt, bei Inschriften im Allgemeinen – egal ob auf Denk- oder Grabmalen oder anderen medialen Formen (vgl. die Gravur von Informationen in Säulen in Kap. 5.3.1, 5.3.2, 5.3.3) – zu: „Texte, die für lange Zeit bewahrt und dazu nicht immer wieder kopiert werden sollen, meißelt man daher am besten in Stein, obwohl die erforderliche Buchstabengröße und der Arbeitsaufwand eine gewisse Kürze in der Formulierung der Information mit sich bringen, weshalb solche Inschriften denn auch oft eines bestimmten Kontexts bedürfen, damit die in ihnen komprimierte Information richtig oder überhaupt verstanden werden kann“ (Martschini, Schriftlichkeit, S. 328). Mit Verweis auf Mathias Meyer hält sie gegen diese Feststellung die chinesische Tradition, in der man auch lange Texte in Stein meißle (vgl. hier S. 328, Anm. 335). Das sich bei solchen Inschriften stellende Platzproblem und die daraus resultierende Herausforderung der kurzen prägnanten Formulierung bzw. die notwendige Reduktion auf die wichtigsten Informationen, die dabei gleichzeitig möglichst wenig Kontextwissen verlangen, wird nicht explizit thematisiert, lässt aber den abgebildeten Kurztexten eine besondere Bedeutung zukommen. 347 Wie genau die Abbilder gestaltet sind, wird in keinem Falle besonders beschrieben, es wird jedoch bei den Ehrenmalen nahegelegt, dass die abgebildeten Personen lebensecht nachgebildet werden. Gemäß der Grabdenkmal-Konventionen (vgl. nochmals Haubrichs, Habitus Corporis, S. 22–24) ist mit einer idealtypischen Gestaltung zu rechnen.

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paraphrasiert, sondern beide sich gegenseitig ergänzen, fordern multimediale Formen mehrere Kompetenzen ein. In diesen Beispielen wird deutlich, dass diese medialen Formen zwar optisch jeweils allen Betrachtern zugänglich sind, die korrekte Übermittlung der relevanten Inhalte hingegen an bestimmte Voraussetzungen beim Rezipienten gebunden ist, die in ihrer Zugänglichkeit und Nutzbarkeit eine Gemeinschaft der Verstehenden konstituieren und Betrachter ohne das nötige Hintergrundwissen exkludieren. Anschaulich wird das besonders durch den modernen, anders vorgeprägten Blick auf die literarischen Artefakte.348 Der Zugang zu diesen Phänomenen und ihre präzise Beschreibung stellt eine weitaus größere Herausforderung dar als die Fälle zerdehnter Kommunikation. Sowohl die einzelnen Techniken, die die medialen Formen, die zum Einsatz kommen, nutzen, als auch die Intentionen sind stärker ineinander verschränkt, sodass nicht nur die Dominanz kommunikativer oder transmittiver Motive (s. o.), sondern auch die Zuordnung zu den Polen ,Wissen‘ und ,Erinnern‘ Pro­bleme bereitet, die auch bei wiederholter Analyse nicht aufzulösen sind. Das liegt nicht allein daran, dass die Vorgänge offener und auch dementsprechend in ihrer literarischen Repräsentation schwerer zuzuordnen sind. Gerade die Versuche, die Passagen, die von Transmission erzählen, zu kategorisieren, zeigen, wie stark miteinander verflochten und voneinander durchdrungen die Be­reiche ,Wissen‘ und ,Erinnerung‘ sind und in welchem Ausmaß die kommunikative Funktion einer medialen Form mit deren Überlieferungspotenzial verknüpft sein kann.349 Durch die Vielfalt der medialen Formen und die Anzahl der Passagen, die von ihnen berichten, lässt sich trotz der für einige Einzelbeispiele weniger exzeptionell ausfallenden Darstellungen ein exorbitantes Textinteresse an Transmissionsprozessen behaupten. Viele Überlieferungsprozesse werden nebenbei erwähnt, Probleme, die die Aufmerksamkeit auf die Herausforderungen richten könnten, werden ebenso wenig erzählt wie meist der Rezeptionsprozess – manchmal auch der Aufbereitungsprozess. Wenn sichtbar wird, dass die Intention fehlschlägt, liegt das nicht an der medialen Komponente, sondern am Umgang mit Informati-

348 Die Beziehung zwischen materiellem und ideellem Wert bleibt offenbar recht stabil und erschließt sich problemlos, bestimmtes Alltagswissen oder religiöse Kontexte, die die Voraussetzung zum Verständnis bestimmter Gestaltungen sind und von den literarischen Figuren auch beim zukünftigen Betrachter vorausgesetzt werden, sind mittlerweile technischem und sozialen Wandel zum Opfer gefallen und müssen rekonstruiert werden, was durch die narrative Einbettung in der Regel recht leicht gelingt. 349 So ist auch nach der Analyse nicht klar, wie ,Wissen‘ und ,Erinnerung‘ als Intentionen einer medialen Handlung voneinander abzugrenzen sind. Als Indizien bleiben emotionale Valenz eines konkreten Ereignisses versus Abstraktheit zwar für die intuitive Zuordnung hilfreich; sie führen jedoch nicht zu einer trennscharfen Unterscheidbarkeit in den hier untersuchten Fällen.

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onen, die bereits in der Aufbereitung verkürzt und umgedeutet werden oder eine Wirkung entfalten, die im Prozess der Formatierung nicht mitgedacht wurde. Alle Textpassagen stellen so den konstruktiven und kreativen Charakter, der den Prozessen der medialen Aufbereitung zur Transmission innewohnt und der einen kritischen und gewissenhaften Umgang mit Transmissionsmedien anmahnt, aus. Die Erinnerungszeichen sind – so wird anschaulich – das Ergebnis von Reflexions- und Deutungsprozessen und streben danach, diese Deutung zu stabilisieren. Sie arbeiten der Variabilität und Selektivität des Vergangenheitsbezugs, die sie hervorgebracht haben, entgegen, um Verbindlichkeit herzustellen, wo sie nicht garantiert erscheint.350 Doch nicht immer gelingt die Bändigung und nicht immer reicht die vermittelte Überlieferung aus. Die Figuren suchen überlieferte Informationen, doch sie messen auch der eigenen Erfahrung eine Attraktivität bei, die nicht durch Übermittlung gezähmt werden kann.

350 Es zeigt sich das Bedürfnis, dem Immateriellen eine Form zu geben, um sicherzustellen, dass es (auf eine bestimmte Art und Weise) erinnert wird. Insofern dienen diese medialen Formen der Aneignung der Vergangenheit (vgl. dazu Ridder, Ästhetisierte Erinnerung, S. 74).

6 Der Austausch mit höheren Wesen und die Ränder des Erfahrbaren – Sphäre Räumliche wie zeitliche Distanzen erscheinen in den Texten nicht als unüberwindbare Herausforderungen. Mit den medialen Techniken, die zur Verfügung stehen, sind die jeweiligen Schwierigkeiten zu meistern; der Umgang der Figuren mit diesen erweist sich als geschult. Weltliche Kommunikationshindernisse scheinen somit mittels der richtigen Techniken und Kompetenzen bewältigbar. Doch wo enden dann die Möglichkeiten der medialen Distanzüberwindung? Das letzte Kapitel widmet sich dieser Frage anhand von Textphänomenen, die an der Grenze des immanent Verfügbaren wirken. Zunächst wird es um die theoretische Fundierung des Kommunikationshindernisses zwischen immanenter und transzendenter Sphäre im Horizont des vorwiegend christlich geprägten europäischen Mittelalters1 und ihre Repräsentation in den literarischen Welten des Reinfried von Braunschweig und des Apollonius von Tyrland gehen. Nach einer Einführung in die Thematik mit zwei sehr unterschiedlichen Szenen aus dem Apollonius werden daher theologische Diskurse um transsphärische Interaktion in den Blick genommen. In den darauffolgenden Analysen werden die medialen Formen einzeln, jedoch grob unterteilt nach dem Mitteilungs- bzw. Wahrnehmungskanal, in dem die Informationen sich zwischen den Sphären ,bewegen‘, behandelt. So geht es erst um alle primär auditiven Erlebnisse, einerseits im Sprechen zu Gott, andererseits im Aufnehmen von Botschaften durch Mittler, dann um die visuelle Erfahrung durch Evidenzphänomene, Träume und Sternkonstellationen.

6.1 Die Transgression der ultimativen Grenze in Theorie und literarischer Praxis „Ohne Zuhilfenahme von Medien, also Materialitäten, mögen allenfalls Götter miteinander ,kommunizieren‘“.2 Untereinander mag das stimmen, eine Verständigung zwischen immanenter und transzendenter Sphäre ist jedoch darauf angewiesen, sich materieller Kommunikations- und Übertragungsformen zu bedienen. Dass aber ein solcher Austausch überhaupt denkbar ist, zeigen sowohl der

1 Vgl. zu der Dominanz des christlichen Glaubens trotz aller Vorsicht gegenüber allzu pauschalen Aussagen Anm. 6/50. 2 Plumpe, Literatur, S. 162. Bei der dadurch implizierten Annahme, immanente Kommunikation setze ein Medium voraus, bezieht er sich auf den Anfang des zweiten Kapitels in Luhmann, Niklas : Die Gesellschaft der Gesellschaft. Erster Teilband, Frankfurt a. M. 1997, S. 190–202. https://doi.org/10.1515/9783110628913-006

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 Der Austausch mit höheren Wesen und die Ränder des Erfahrbaren – Sphäre

Reinfried von Braunschweig als auch der Apollonius von Tyrland. Sie entwerfen Szenarien, in denen Informationen, die eigentlich im Bereich immanenter Unverfügbarkeit liegen, über eine zwischengeschaltete Instanz für die Figuren erfahrbar werden. Sie stellen jedoch auch Situationen vor, in denen transsphärische Interaktion scheitert oder sich als unangemessen erweist. Letztgenannte Darstellungen sollen genutzt werden, um den anschließend thematisierten Vorgängen einen Rahmen zu geben und der kurzen theoretischen Auseinandersetzung mit den theologischen Grundlagen transsphärischer Interaktion Textperspektiven voranzustellen.

6.1.1 Eine unerreichbare Insel und eine allzu gesprächsbereite Göttin: Illustrationen eines Verständnisses von transsphärischer Kommunikation im Apollonius von Tyrland Die grundlegenden Aspekte transsphärischer Interaktion im christlich geprägten Weltbild machen vor allem Passagen aus dem Apollonius von Tyrland anschaulich. Sie illustrieren den Wunsch nach Offenbarung einerseits, die autoritäre Regulation des Kontakts durch die transzendente Sphäre andererseits. Das menschliche Streben nach ,Wissen‘ und Erfahrung ist im Rahmen dieser Untersuchung bereits zur Sprache gekommen (vgl. Kap. 5.3.1). Wie stark dieses jedoch ist, veranschaulichen besonders Situationen, in denen der Zugang zu ihnen verweigert wird – so z. B. bei der Auseinandersetzung der Figuren des Apollonius mit der ,Insel des Lachens‘. Auf der Reise nach Tarsis, wo Apollonius seine Tochter vermutet, stoßen Apollonius und seine Mannschaft auf eine merkwürdige Insel. Der aus verschiedenen Sagenkomplexen des orientalischen Raums gespeiste3 Ort ist nicht nur für die Figuren ein höchst faszinierendes Phänomen,

3 Sowohl der Sagenkomplex um die Bâhit-Wunderstadt in der Kosmographie des arabischen Enzyklopädisten Kazwînî (1203–1283) als auch der Abriß der Wunder des Ibrahim ben Wasif Schâh (zehntes Jahrhundert) und das Buch der Länder (Kitâb al-Buldân) des arabischen Geographen Ibn al-Faqîh (um 903) werden als Motivgeber angenommen; darüber hinaus scheinen die Alexander- und die Nilquellensage einflussreich gewesen zu sein (vgl. Lecouteux, Menschmagnet). Lecouteux zieht damit die Darstellung von Bockhoff und Singer in Zweifel, die das Motiv auf die altirischen Imrama, die Insel der Freuden, die in der Reise von Bran, Febals Sohn (Immram Brenainn) erwähnt wird und deren Einwohner unablässig lachen, zurückführen (vgl. Bockhoff/ Singer, Quellen, S.  72). Die oientalische Sage sei auch im Abendland in alchemistischer und medizinischer Fachliteratur im Umlauf gewesen und sei möglicherweise auf diesem Wege zu Heinrichs Kenntnis gekommen (vgl. Lecouteux, Menschmagnet, S. 210).

Die Transgression der ultimativen Grenze in Theorie und literarischer Praxis 

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welches „nicht seinesgleichen in der mittelhochdeutschen Literatur“ findet.4 Als die Reisenden an [a]in grosse mawr als ain stat (AvT, V. 14708) gelangen, versuchen sie alles, um zu erfahren, was auf der anderen Seite liegt. Die Anziehung beruht einerseits auf ästhetischer Exzeptionalität – die die Insel umgebende Mauer ist liecht und glantz (AvT, V. 14719) und weiß als ain sne (AvT, V. 14720), verfügt also über eine anziehende Strahlkraft –; andererseits spielt Unwahrscheinlichkeit für das immense Interesse eine Rolle. Es führt zu Verwunderung, Neugier und ,Transzendenzverdacht‘, dass die Mauer nach außen hin ununterbrochen ist: Sy sprachen alle ’me! Was hat gemacht dise stat, Das sy nicht ain tor hatt?’ (AvT, V. 14721–14723)

Indem die Reisenden fragen, was – nicht wer oder welches Volk – diese Stadt geschaffen hat, scheinen sie einen nichtmenschlichen Urheber der Kuriosität in Betracht zu ziehen. Die daraufhin versuchte Annäherung an das ästhetisch anziehende Gebilde zeugt von dem menschlichen Verlangen nach dem Verborgenen. Es steht den Figuren kein Mittel zur Verfügung, über das Einblick in den verborgenen Bereich zu erlangen wäre. Alle fehlschlagenden Versuche, sich der Insel zu nähern oder eine mediale Form zu installieren und so etwas über den Bereich bzw. den Grund seiner Abriegelung in Erfahrung zu bringen, resultieren in stets neuen Transgressionsversuchen. So fahren sie an die Mauer heran, umrunden das Gebilde, und versuchen, menschliche Mittler einzusetzen.5 Dies führt jedoch nicht zu der erwünschten Offenbarung des unverfügbaren Bereichs. Erst drastische Zeichen der Kommunikationsverweigerung lassen die Gruppe davon Abstand nehmen, die Grenzüberschreitung weiter zu forcieren. Die Reisenden glauben, das räumliche Hindernis, das zwischen ihnen und dem von der Mauer Umschlossenen liegt, durch eine klassische Botenfigur überwinden zu können. Als sie festgestellt haben, dass es kein Tor in der umschließenden Mauer gibt und daher keine Möglichkeit besteht, sich Zutritt zu verschaffen, die Mauer außerdem so hoch ist, dass vom Schiff aus kein Blick auf die

4 Mit dieser Feststellung begründet Lecouteux, Menschmagnet, S.  197 sein Interesse an der Szene. 5 Im Text heißt es zunächst: Di scheffknechte er ziehen pat/Er fur der maur nahent pey/‘Wartet, herre, was ditz sey‘ (AvT, V.  14709–14711). Daraufhin [s]i furen sy alle umb gar (AvT, V.  14716), schließlich [a]iner staig auff den masspawm:/Er wolte recht tuen gawen,/Das er sagte mare/Was in der stat ware (AvT, V. 14724–14727).

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 Der Austausch mit höheren Wesen und die Ränder des Erfahrbaren – Sphäre

andere Seite möglich ist, steigt ein Mitglied der Mannschaft auf den Mastbaum, um das Verborgene zu betrachten und es den anderen zumindest in der Narration verfügbar zu machen.6 Trotz vielfacher Anläufe scheitert dieser Versuch, sich so einem Kontakt mit dem über die Mauer recht unmissverständlich als unzugänglich markierten Bereich aufzudrängen. Denn sobald die Person auf dem Mastbaum angekommen ist und einen Blick hinter die Mauer geworfen hat, beginnt sie euphorisch zu lachen und springt – ohne die Möglichkeit der Wiederkehr oder des weiteren Kontakts mit den im Schiff zurückbleibenden Personen – in den unverfügbaren Bereich.7 Die potenzielle mediale Instanz entzieht sich bzw. wird vom Bereich des Unverfügbaren absorbiert und dem Zugriff der Mannschaft (bzw. der immanenten Sphäre) entzogen. Sie ist damit nicht mehr zugänglich und für die Wissbegierigen verloren.8 Im Verhalten dieser Personen steckt der einzige Informationsgewinn, den die Reisenden erlangen können. Denn wenn es nach mehrmaliger Wiederholung des Prozesses mit jeweils gleichem Ausgang heißt, der Ort sei so [d]as nie kainer under in/her wider auß wolten komen (AvT, V. 14741f.), weist dies zumindest auf die überlegene Qualität dieses Ortes und den Wunsch, diesen nicht wieder zu verlassen, hin. Nachdem bereits zehn Personen auf die andere Seite der Mauer gesprungen sind (vgl. AvT, V. 14740), modifizieren die Reisenden die der Vermittlung dienende Installation. Die zum Boten erkorene Figur wird in der Zwischenposition, also in Blickkontakt mit dem Unverfügbaren und in Hörweite der restlichen Mannschaft fixiert, sprich, am Mastbaum festgebunden, um das physische Verschwinden in den unverfügbaren Bereich zu unterbinden (vgl. AvT, V. 14746–14753). Doch auch dieses Vorgehen bringt nicht den erhofften Erfolg. Die fixierte Person wolte […] gesprungen han (AvT, V. 14754), da ihr das aber nicht möglich ist, durchleidet sie qualvolle Schmerzen (vgl. AvT, V. 14758f.) und verstirbt, als man sie schließlich herunterlässt, ohne – wie betont wird – auch noch nur ein Wort zu sprechen.9 In

6 Die Teilschritte dieses Plans werde einzeln angeführt und zeigen eindrücklich die intendierte Funktionsweise der zu installierenden medialen Form (vgl. nochmals AvT, V. 14724–14727). 7 Die sofortige Wirkung des Eindruckes zeigt sprachlich eine temporale Verknüpfung des Moments des Erblickens und der Reaktion: Do er auff den mastpawm kam/Und der stete ding vernam,/Do lachte er, alser war fro./Hand und fuß ließ er do/Und viel in di stat nider./Si wartent, wann er kam wider;/Deß was im lutzel gedacht (AvT, V. 14728–14734). 8 So stellt auch die Erzählinstanz fest, dass nur bei einer Rückkehr der Personen man di warhait hett [Konj. II, B.W.] vernomen (AvT, V. 14743). 9 Der Freiwillige schreit, wird heruntergeholt, dann was er als ain stumme./Si kerten in all umbe,/Das er wort nie gesprach/Und mit den augen nicht ensach./Er lag auff der stat dot (AvT, V. 14762–14766). Dass er die anderen noch nicht einmal anblicken kann, betont, dass überhaupt keine Kommunikation mit dem potenziellen Mittler mehr möglich ist.

Die Transgression der ultimativen Grenze in Theorie und literarischer Praxis 

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dem Moment, in dem die eingesetzte mediale Form gebunden ist, sie nicht mehr in den unverfügbaren Bereich übergehen und sich dem immanenten Zugriff entziehen kann, wird sie selbst in einen Zustand der Unzugänglichkeit versetzt, in dem sie sich nicht mehr äußern kann. Das hinter der Mauer Liegende ist für die Reisenden so mit keiner Anstrengung verfügbar zu machen. Die vollkommene Vereinnahmung einer menschlichen Mittlerinstanz entweder mit seinem Körper oder mit seinem Leben schließt radikal jede Erfahrbarkeit des Verborgenen für die sich jenseits dieses Bereichs Befindlichen aus und führt auch die Figuren zu der Aufgabe weiterer Versuche. Mit der Einsicht, es handle sich hier offenbar um einen per se unzugänglichen Bereich – ain paradeyß (AvT, V. 14777)10 –, schwören sie weiteren Kontaktversuchen ab. Gleich darauf setzt ein Sturm ein, der das Schiff in Richtung einer weiteren Insel trägt (vgl. AvT, V. 1478). Auch jene Insel ist – so behaupten zumindest die Bewohner – ain paradeyß (AvT, V. 14892) und auch auf jener dringt Apollonius nicht weiter bis an den Küstenbereich vor. Allerdings sind dort Mittler installiert, die zwischen dem unzugänglichen – ,trans­ zendenten‘ – und zugänglichen immanenten Bereich zu vermitteln vermögen und Apollonius sogar einen Vorgeschmack auf den jenseitigen Bereich verschaffen können (s. Kap. 6.2.2). Die direkt auf die Auseinandersetzung mit der ,Insel des Lachens‘ folgende Begegnung mit den dort lebenden Propheten – Figuren, die in der Alexander-Tradition mit Alexander über den Einlass in das Paradies

10 Der im achten Jahrhundert aus dem Spätlateinischen (paradisus) ins Deutsche übernommene, dorthin bereits aus dem Griechischen (parádeisos) mit Bezug aufs Iranische (pairi-daeza) entlehnte Begriff erhält seine spezifisch christliche Bedeutungsverengung auf den ,Garten Eden‘ in der griechischen Bibel. In die griechische Sprache gelangt er hingegen noch allgemein als Bezeichnung für die Parks der persischen Adeligen und Könige bei Xenophon (vgl. Kluge, Etymologisches Wörterbuch, S. 682). Da hier mit unbestimmtem Artikel von ,einem‘ und nicht ,dem‘ Paradies die Rede ist, scheint der Text von mehreren Räumen auszugehen, die als Paradies zu fassen sind, was allerdings nicht bedeutet, dass hier nur ein Garten oder Park ohne religiöse Konnotation gemeint ist. Das Vorhandensein mehrerer irdischer Paradiese ist im mittelalterlichen Horizont keine unorthodoxe Vorstellung. Strijbosch beschreibt in ihrer Auseinandersetzung mit ,Brandans Reise‘ die zeitgenössischen Paradiesvorstellungen und die literarischen Motive, die aus dieser hervorgehen. Dort würden in der Vorrede drei Himmel und zwei Paradiese angekündigt, die sich mehr oder weniger eindeutig im Text bestimmen ließen (vgl. Strijbosch, Clara: Himmel, Hölle und Paradiese in Sanct Brandans ,Reise‘. In: ZfdPh 118/1 [1999], S. 50–68, hier S. 52–62). Die spirituelle Deutung des Paradieses als vollkommenen Zustand des Menschen, die im neunten Jahrhundert Johannes Scottus Eriugena in seinen Periphyseon vertritt, sei hingegen eher als „abweichende[r] Standpunkt in der westeuropäischen Paradiesdebatte“ (hier S. 61) zu bezeichnen.

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verhandeln,11 – akzentuieren nachträglich, dass sich Apollonius mit seiner Mannschaft im Grenzbereich von immanenter und transzendenter Sphäre bewegt hat.12 Im Fall der ,Insel des Lachens‘ geht es weniger um die Initiation einer Interaktion mit einer transsphärischen medialen Instanz als um den Versuch der immanenten Figuren, sich ohne transzendent eingesetztes transsphärisches Phänomen dem Unverfügbaren zu nähern. Der Verlauf der Episode stellt aus, wie attraktiv der Umgang mit dem Unverfügbaren ist. Er zeigt aber auch, dass für die Teilhabe in der immanenten Sphäre transzendent autorisierte Mittler notwendig sind. Ein Kontakt, ein teil- oder zeitweises Verwischen der Sphärengrenzen ist von der transzendenten Bereitschaft, etwas verfügbar zu machen, abhängig.13 Das Scheitern des Versuchs, ohne eine solche Instanz Zugang zu Unverfügbarem zu erlangen, verdeutlicht die Wahrung dieser Grenze – auch durch die Erzählinstanz, die ebenso keinen Blick über die Mauer freigibt. Im Apollonius ist die transzendente Autorisation medialer Formen stets erste Bedingung transsphärischer Kommunikation; jede Möglichkeit der Grenzüberschreitung liegt in der Hand der transzendenten Sphäre. Der Reinfried von Braunschweig enthält keine so paradigmatische Szene, seine Figuren zeigen allerdings in ihrer Referenz auf die Paradiesentwürfe der Alexander-Tradition, dass die im Apollonius noch vom Protagonisten selbst erleb-

11 Bzw. ihm diesen verweigern (vgl. Hofer, Georg: Betreten verboten! Das irdische Paradies in den deutschsprachigen Alexanderdichtungen des Mittelalters. In: Historische Räume. Erzählte Räume. Gestaltete Räume. Festschrift für Leopold Hellmuth zum 65. Geburtstag. Hrsg. von dems./Robert Schöller/Gabriel Viehauser, Wien 2015, S. 103–123, hier S. 112, 115f.). 12 Zu den Paradieszeichnungen in der deutschsprachigen Alexander-Tradition, die eine Erzähltradition um „Gottes Bezirk auf Erden und seine[] Unzugänglichkeit“ bilden, vgl. den raumtheoretischen Beitrag von Hofer, Betreten verboten, Zitat S. 106. Die Parallelen der Erzählung des Apollonius zu der Alexander-Tradition lassen sich anhand seiner Untersuchung gut nachvollziehen. Übereinstimmend sind neben der Paradiesmauer (vgl. hier S.  105) schlechte bzw. kuriose Wetterbedingungen, die die Nähe zum Paradies anzeigen (vgl. in Bezug auf den Straßburger Alexander hier S. 106 sowie hier S. 117 in Bezug auf den Alexander des Ulrich von Etzenbach), sowie die letztendliche Unzugänglichkeit des Paradieses (vgl. hier S. 109). Ein Element, das in den meisten Alexanderdichtungen, jedoch nicht bzw. nur abgewandelt in einer anderen Episode des Apollonius auftaucht, ist der Paradiesstein (erwähnt bei hier S. 109f., 113, 117, 119; s.  Kap.  6.3.1). Durch die nachträgliche Einordnung als Paradies erinnert der hier geschilderte Raum auch an das im Reinfried von Braunschweig durch den Herrn aus Ejulat geschilderte Paradies (s. Anm. 6/14). 13 Auch in anderen Erzählungen von Reisen in irdische Paradiese oder paradiesnahe Gegenden gibt es unterschiedlich zugängliche paradiesische Räume. So kann St. Brandan zwei Paradiesburgen als realräumliche Orte bereisen, während den Zugang zu einem Ort, der an die Er‑ scheinung des himmlischen Jerusalem in der Bibel erinnert, nur eine Vision gewährt (vgl. Strijbosch, Himmel, Hölle und Paradiese, S. 55).

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ten Unmöglichkeit einer eigenmächtigen Annäherung ohne Mediationsangebot vorausgesetzt wird.14 Eine Passage im Apollonius von Tyrland jedoch scheint der gerade proklamierten Notwendigkeit der Mediation zwischen Immanenz und Transzendenz zu widersprechen. Als Apollonius in Crisa im Rahmen der dortigen Tugendprüfungen (s. Kap. 6.3.1) der zaghait (AvT, V. 12019) angeklagt wird, schickt Candor ihn mit dem Hinweis, einige Vergehen könnten abgebüßt werden,15 in den Tempel der Venus.16 Ohne Umschweife oder Rat des Priesters (wie Candor es ihm empfohlen hatte, vgl. AvT, V. 12110–12115) richtet Apollonius das Wort direkt an die dort verehrte Göttin:17

14 Auch das Paradies, von dem der Herr aus Ejulat berichtet, ist – wie auch schon in der Alexander-Tradition – am Ende der Welt gelegen und von einer Mauer umgeben. Der Herr berichtet: er wære komen/mit strenger nœte sûre/an die hôhe mûre/dâ al diu welt ein ende nint (RvB, V. 21846– 21849) und identifiziert diese Mauer mit derjenigen, an die Alexander bei seinem Versuch, das Paradies zu erobern, gestoßen sei (vgl. RvB, V. 21850–21875). Anders als Apollonius versucht der Herr aus Ejulat nicht, diese Mauer zu überwinden, da er von den erfolglosen Versuchen Alexanders weiß (vgl. RvB, V. 21851–21853) und auch Reinfried, der sich sonst allen Reiseherausforderungen stellt, macht keine Anstalten, das Paradies zu bereisen. 15 Laut Candor gibt es einige Verfehlungen, die angeboren und nicht durch Buße zu bereinigen sind: Rüm, lug und spot/Di enkumment dar ein nicht wayß Got:/Dy pusse ist gar an im verloren;/ Wan es ist an geporen (AvT, V. 12106–12109). Dass Apollonius später über den Vorwurf der Lüge erfolgreich verhandeln kann (s. u.), spricht nicht für die Prinzipientreue dieses Systems. 16 Er tut dies nicht von sich aus, sondern auf Anfrage Apollonius’ hin. Apollonius zeigt sich zunächst höchst irritiert. Er könne sich – so die Erzählinstanz – keinen Moment in Erinnerung rufen, in dem er sich feige verhalten habe (vgl. AvT, V. 12022f.). Dann erkundigt er sich, ob es nicht eine Möglichkeit gäbe, die auf sich geladene Schuld zu büßen (vgl. AvT, V. 12096–12098). 17 In mittelalterlichen Vorstellungen, die andere antike Gottheiten primär als Personifikationen von Seelenkräften denken, stellt Venus neben Amor eine Figur mit zumindest transzendenten, mythischen Anteilen dar (vgl. Schnell, Rüdiger: Causa amoris. Liebeskonzeption und Liebesdarstellung in der mittelalterlichen Literatur, Bern 1985 [Bibliotheca Germanica 27], S. 373). Zur Aufnahme der Venusfigur in die mittelalterliche Literatur s.  Kern, Manfred: ,Venus‘. In: Lexikon der antiken Gestalten in den deutschen Texten des Mittelalters. Hrsg. von dems./Alfred Ebenbauer, unter Mitwirkung von Silvia Krämer-Seifert, Berlin, New York 2003, S. 639–662. Da sie im Apollonius bereits zuvor als transzendente Instanz eingeführt wurde, sie Einblick in die Gedanken aller Reisegefährten beweist und auf explizite Bitte hin deren Schuld als abgebüßt einzustufen vermag, darf sie als transzendente Instanz des Textentwurfs gewertet werden (s. außerdem die Zuschreibungen durch Apollonius [s. u.]; vgl. auch Kap. 6.2.1).

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’Venus, frauwe! tü mir kunt Wa und an welcher stund Ich sey gewesen ain zage, So will ich an disem tage Nach deinen genaden pussen.’ (AvT, V. 12120–12124)

Ähnlich trägt es sich erneut zu, als Apollonius der Vorwurf der Lüge trifft (vgl. AvT, V. 12640–12660). Auch dieses Mal rät ihm Candor, Erkundigung im Tempel einzuholen.18 Noch unumwundener eröffnet Apollonius seine Rede mit der Frage nach dem konkreten Grund des Vorwurfs: Was hab ich luge getan,/Das ich in das gartel nicht mag gan? (AvT, V.  12693f.). Venus unterstellt er mit diesen Fragen einerseits die Autorität, ihn in einen sündenfreien Zustand zu versetzen; andererseits versteht er sie als Instanz, die von den konkreten Vergehen, die bei ihm identifiziert und augenscheinlich gemacht wurden, weiß und diese für ihn darzustellen bereit ist. Ziel seiner Worte an die damit durchaus transzendent ge­zeichnete Instanz ist es, die verborgen liegenden Gründe der Anschuldigungen zu erfahren (s. Kap. 5.1.1), sie auf dieser Grundlage abzubüßen und nach Revision der Schuld Zugang zum Garten in Lisamunt zu erlangen (s. Kap. 4.4.2).19 Auch hier geht es also darum, verborgen liegende Informationen verfügbar zu machen. Anders als bei der ,Insel des Lachens‘ erweist sich die zuständige Autorität hier als äußerst interaktionsbereit. Auf beide Fragen antwortet jeweils ain stymme (AvT, V. 12126 bzw. Di styme, AvT, V.  12695), die den Ursprung in der Apostrophierten zumindest nicht in Zweifel zieht. Es ergibt sich für Apollonius – so scheint es – die Möglichkeit, ohne zwischengeschaltete Instanz direkt kommunikativ an die transzendente Instanz wie an einen immanenten Gesprächspartner heranzutreten20 und auf dieselbe Weise Antwort von dieser zu erhalten. Die folgenden Äußerungen sowohl Apollonius’ als auch der ihm antwortenden Stimme werden durch Einleitung mit inquitFormeln (vgl. AvT, V.  12127, 12146, 12196, 12698, 12731) oder aber mit einem auf

18 Dies tut er trotz der eigens getätigten Behauptung, der Vorwurf der Lüge sei unauslöschbar (s. Anm. 6/15). Als Apollonius stürzt, wiederholt er seine Stellungnahme Luge get in den garten nicht (AvT, V. 12659). Da aber nicht nur Apollonius enttäuscht auf diesen vermeintlich endgültigen Ausschluss aus dem Garten reagiert (vgl. AvT, V.  12684, V.  12661–12665, V.  12665–12682), erteilt Candor doch den Rat, sich auf eine weitere Auseinandersetzung im Tempel einzulassen (vgl. AvT, V. 12685–12689). 19 Der Wunsch nach Offenbarung näherer Details ist mehr Mittel zum Zweck. Vgl. dazu die Passagen zu den Gebeten der Reisegruppe gegenüber Venus in Kap. 6.2.1. 20 Selbst das Einnehmen einer bestimmten Haltung scheint nicht unbedingt nötig zu sein, vgl. Anm. 6/178.

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den dialogischen Charakter verweisenden Ausdruck21 als Gespräch präsentiert.22 Ist zunächst beim Verweis auf den Wahrnehmungsvorgang bei Apollonius ([d]o hörte er, AvT, V.  12126) noch nicht eindeutig, dass es sich um ein äußerliches Erklingen handelt, so veranschaulicht der angeschlossene Hinweis auf die den gesamten Tempelraum ausfüllende Stimme (vgl. AvT, V.  12127) die physische Präsenz des Schalls, der nicht nur Apollonius im Geiste erscheint, sondern ganz profan im Raum der Unterredung präsent ist. Auch der Einwurf Candors im Rahmen der zweiten Unterredung23 zeigt, dass hier eine immanent einwandfrei wahrnehmbare Stimme ertönt. Einzig, dass die den Tempelraum erfüllende Stimme körperlos bleibt, sie also keinem sinnlich wahrnehmbaren Ursprungsort, keinem körperlichen Resonanzraum zugeordnet wer­den kann, kennzeichnet ihre Überweltlichkeit.24 Die nichtchristliche Transzendenz lässt sich auf eine direkte wechselseitige Auseinandersetzung im sprachlich-auditiven Kanal ein und gesteht damit der immanenten Figur eine recht starke Rolle in der Interaktion zu. Eine solche Unterredung wird allerdings nur Apollonius zuteil. Mit keinem außer ihm entwickelt Venus jemals ein Gespräch.25 Nur er, der zwar zwei Mal der Tugendverfehlungen

21 Bei der ersten Unterredung heißt es, Venus spreche zu im (AvT, V.  12128), im Rahmen des zweiten Austausches heißt es, Venus antwurte (AvT, V. 12695). 22 Im Falle des ersten Gesprächs haben Apollonius (vgl. AvT, V. 12120–12124, 12147–12195) und Venus (vgl. AvT, V. 1219–12144, 12197) je zwei, sich abwechselnde und aufeinander bezogene Redeanteile, im zweiten Gespräch sprechen beide Parteien drei Mal (Apollonius vgl. AvT, V. 12691– 12694, 12699–12716, 12731f.; Venus vgl. AvT, V.  12695–12698, 12727–12730, 12733f.) Im zweiten Gespräch sind die einzelnen Redebeiträge kürzer, damit auch stärker dialogisch ineinander verschränkt. Hier schaltet sich dazwischen zusätzlich Candor ein (vgl. AvT, V. 12719f.). 23 Candor steht pey der tür hie vor (AvT, V. 12718) und reagiert auf den Gesprächsverlauf, indem er Apollonius’ vermeintlich lügnerisches Vorgehen entschuldigt (vgl. AvT, V. 12719f.). 24 Im weiteren Verlauf steht der Protagonist noch einmal in Kontakt mit einer körperlosen und aus der Transzendenz heraus sprechenden Stimme, diese wird allerdings nicht mit der Göttin identifiziert und verhält sich insofern anders, als sie initiativ im Traum an Apollonius herantritt und kein Aufsuchen des Tempelraumes voraussetzt (vgl. AvT, V. 17219–17230). Sie wird hier zusammen mit der Marienerscheinung des Reinfried, dem Phänomen, dem diese Stimme am ehesten gleichkommt, besprochen (s. Anm. 6/223). 25 Die anderen Figuren gestehen auf Rat des Tempeldieners vor dem Götterbild die Gedanken, die sie als verantwortlich für den Ausgang der Brunnenprobe vermuten, und entwickeln keinen weiteren Kontakt mit ihr (s. dazu Kap. 6.2.2). Palmina, die Juno (eine altitalische, besonders im kapitolinischen Kult verehrte Göttin, die abhängig von ihren verschiedenen Beinamen unterschiedliche Funktionen ausfüllt und vorwiegend – so wie auch im Apollonius von Tyrland – für die Belange von Frauen und Mädchen agiert [vgl. Kottmann, Gott, S.  714]) um Rat in ihrem bislang unerwiderten Verlangen nach Apollonius bittet (das Sprechen zu dieser Instanz wird als gepett [AvT, V. 14095] und Bitte [vgl. AvT, V. 14096] klassifiziert), also sich ebenfalls als initiativ

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überführt wird, Venus aber aufsucht und eine Auskunft fordert, erhält sofort (und problemlos) Antwort.26 Ob ihn das besonders auszeichnet oder Venus als transsphärische Autorität infrage stellt, bleibt wie der Status der Instanz selbst schillernd. Auffällig ist Apollonius’ kommunikatives Vorgehen, das im Gegensatz zu den Beichtgebeten anderer Gefolgsleute (s. Kap. 6.2.1) Äußerungsformen wählt, die auf die Herstellung eines Gesprächs zielen und daher Venus animieren, direkt zu antworten. Er ist außerdem der einzige, der sich nicht wie andere Kandidaten mit Vorwürfen arrangiert,27 sondern mit der Forderung einer Erläuterung an Venus herantritt. Es gibt also Indizien für die Interpretation ihrer Zuwendung als Resultat klugen kommunikativen und kritischen Verhaltens; letztlich lässt der Text aber in der Schwebe, ob Venus innerhalb des stark abgeschotteten Landes28 Informationen bereitwillig preisgibt, sobald sie darum gebeten wird,29 oder ob

gegenüber einer paganen Gottheit erweist, erhält ebenso unkompliziert Antwort durch eine Stimme: Ain stimme antwort ir do:/Si sprach ’Palmina, piß fro!/Mane den kunig an di wort/Di er in dem tempel dort/Venus zu Crisa gehieß,/Da sy in hulde haben ließ,/Das er das alle date/Weß in ain junckfrauwe pete’ (AvT, V. 14102–14109). Auch Palmina scheint in ein unvermitteltes Gespräch zu treten. 26 Die dialogisch gestalteten Unterredungen zwischen Apollonius und Venus initiiert Apollonius jeweils problemlos durch eine kurze Anrede (vgl. AvT, V. 12120, 12691f.), gefolgt von einer ebenso kurzen, eine Gegenrede herausfordernde Formulierung. Im ersten Fall folgt der Apostrophe eine Aufforderung, ihn über sein angebliches Fehlverhalten aufzuklären, ergänzt um einen Ausdruck der Bereitwilligkeit zur Buße (vgl. AvT, V. 12120–12124). Beim zweiten Mal fällt der Teil sogar noch kürzer aus, indem der Gesprächseröffnung nur die Frage nach dem Grund seines erfolglosen Bemühens um den Garteneintritt angefügt wird (vgl. AvT, V. 12693f.). Venus reagiert kooperativ: Di styme antwurte suß (AvT, V. 12695; s. auch V. 12126–12128). 27 Als der Sultan von der letzten Treppenstufe stürzt, erklärt Candor, warum er diese Stufe nicht habe erklimmen können. Dem Urteil widerspricht der Sultan nicht (vgl. AvT, V.  12765–12770). Auch alle weiteren Ritter fügen sich der zunächst von Candor, dann einfach durch die Erzählinstanz verlautbarten Entscheidungen (AvT, V. 12785–12850). Sie unternehmen keinen Versuch, ihre Urteile anzuzweifeln, ja kommen nicht einmal zu Wort (vgl. V. 12758–12843). 28 Die Annäherung an das Reich Crisa, in dem der Kontaktraum dieser medial fungierenden transzendenten Stimme (der Tempel) situiert ist, ist nicht einfach. Venus’ Tempel liegt in Lisamunt, dem Zentrum des Landes. Bevor Figuren überhaupt in dieses Land vordringen können, muss zunächst ein äußerst gefährlicher Weg zurückgelegt werden, denn Crisa ist – wie die Beschreibung des Umlandes und der darin lebenden monströsen Völker zu verstehen gibt – allein durch die zahlreichen umliegenden Gefahren ein nicht ohne Mut und kämpferisches Geschick (und Prädestination?) zu erreichender Ort (vgl. AvT, V. 10948–10998). Darüber hinaus reguliert auch das Tugendrad (s. Kap. 6.3.1) den Einlass. 29 In erstem Falle, für den der Ratschlag Candors spricht, schiene durch die exklusiven Gespräche mit Apollonius Prädestination als die Wirksamkeit der zu durchlaufenden Prüfungssysteme außer Kraft setzendes Kriterium auf; ein Indiz für letztere These ist Juno, die in ähnlich freigiebiger Weise mit den ihr verfügbaren Informationen umgeht, als Palmina die Göttin in ihrem

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Apollonius durch Venus’ Zuwendung eine besondere Exklusivität zugewiesen werden soll. Angesichts der vollkommen problem- und mediationslosen erinnerungsfördernden Verhandlungen (s. Kap. 5.1.1) scheint der Fokus der Erzählung hier nicht primär der Kontakt zwischen Sphären zu sein. Dennoch lassen sich aus der dargestellten Auseinandersetzung Aspekte der entworfenen intersphärischen Kommunikationsmöglichkeiten ableiten. Im Zentrum der Passage stehen die Apollonius und den RezipientInnen vermittelten Inhalte und die in diesem Kontakt möglich werdende Verhandelbarkeit moralischer Positionen.30 Die Rolle der Göttin Venus für den Blick der RezipientInnen auf die Reihe von Tugendproben hat bereits Almut Schneider eindrücklich dargestellt.31 Aus medientheoretischem Blickwinkel ist die im Tem­pel ertönende Stimme Mittler der jeweiligen transzendent gesetzten Verfehlungen gegenüber dem Protagonisten und der Rezipientenschaft gleichermaßen. Die Stimme kann die transzendente Evaluation des bisherigen Geschehens auf immanenter Ebene wahrnehmbar machen und verknüpft so den Erinnerungsappell (s.  Kap.  5.1.1) mit multiperspektivischer Anreicherung des Erlebten bzw. Gelesenen. Während das Scheitern auf der Tugendtreppe allgemeine Zweifel an der Tadellosigkeit des Helden aufruft, konkretisiert Venus die Vorwürfe, die – so ließe sich vermuten – möglicherweise einen Rezeptionseindruck aufnehmen. Venus offenbart Apollonius die konkreten Situationen, die Grundlage der moralischen Bewertung sind. Ihre Aussagen machen insofern unverfügbare Bereiche zugänglich, als sie den bislang verborgenen Blick einer moralisch wertenden Instanz auf die bereits erlebten bzw. erzählten Geschehnisse erlauben. In Bezug auf die Deutungsangebote, die in den initialen Erzählungen der hier wiederholt aufgerufenen Situationen gemacht werden, stellt ihre Rede eine neue Lesart vergangener Situationen

Liebeskummer um Rat fragt (vgl. Anm. 6/25). Es lässt sich vermuten, dass Initiative, der Schuld nachzuforschen anstatt sie hinzunehmen, nötig ist, damit es zu einem Austausch mit der Trans­ zendenz kommt. 30 Die kurzen Gesprächsinitiationen der Immanenz hingegen geben einiges über die Figureninteressen preis. So ist es auffällig, dass Apollonius im zweiten Falle gar nicht die ihm unterstellte Schwäche (Lüge) anspricht wie das im ersten Falle beim Vorwurf der Feigheit noch geschehen war. Die Figur scheint sich nicht dafür zu interessieren, wo sie fehlgegangen ist, sondern hauptsächlich wissen zu wollen, warum sie noch immer nicht in den Garten gelan­gen konnte. Das Faszinationspotenzial des Gartens und der darin platzierten Spiegelsäule (s. Kap. 4.4.2) überlagert für die Figur die Frage nach dem unterstellten Makel. 31 Mehr dazu im Kap. 6.3.1; zu Schneiders Position s. Anm. 6/362; 6/371.

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zur Verfügung.32 Die Rede der Göttin stellt moralische Vorwürfe anhand der Biographie der Figur sprachlich zur Verfügung33 und übernimmt so die Funktion der conscientia, ist Darstellungsmedium der Vernunftinstanz, die ein übergeordnetes Normwissen auf die Handlung anwendet.34 Der Fortgang der Auseinandersetzungen zeigt jedoch, warum das Verhalten Venus’ einer Transzendenz nicht gut ansteht. In ihrer Gesprächsbereitschaft

32 Neu sind die Lesarten insofern, als die Situationen weder von der Erzählinstanz noch von der Figur selbst zuvor als moralische Gratwanderung aufgefasst worden waren. Apollonius zeigt jeweils starke Verwunderung und Ratlosigkeit über den möglichen Grund seiner angeblichen Verfehlungen, lässt damit kein Bewusstsein darüber erkennen, was ihm vorgeworfen werden könnte. Beim ersten Abwurf heißt es, er enkunde nie gedencken dar an/Wa er zaghait hette getan (AvT, V. 12022f.). Im Gespräch mit Venus fordert er daher auch: tü mir kunt/Wa und an welcher stund/Ich sey gewesen ain zage (AvT, V.  12120–12122). Beim zweiten Abwurf fragt er entsetzt: [W]affen, herre, Got!/Ditz groß laster und der spot/Den ich yetzund leyden muß!/Will meyner sorgen nymmer puß/Werden? was hab ich getan,/Das ich in das gertel nicht mag gan? (AvT, V. 12649– 12654). Erneut verleiht er seiner Verwunderung gegenüber Venus mit der bereits erwähnten Frage Was hab ich luge getan,/Das ich in das gartel nicht mag gan? (AvT, V. 12693f.) Ausdruck. Da Venus den Fragen, die Apollonius an sie richtet, jeweils etwas zu entgegnen und die Verurteilung mit konkreten Situationen aus der Biographie ihres Gesprächspartners zu untermauern weiß, hat sie einen transzendenten Zugriff auf Informationen, die den Figuren verborgen sind. 33 Die Vorwürfe der jeweiligen Tugendproben sind sehr allgemein gehalten, sodass die Betroffen bei ihrem Scheitern stets mit Verblüffung und Ratlosigkeit reagieren. Dies zeigt sich an Apollonius’ Reaktionen (s. Anm. 6/32), vor allem aber in der Erzählung des von seinem Scheitern berichtenden Arfaxat. Als dieser nicht über das Rad am Eingang des Goldenen Tals hinwegkommt, ist er sich keiner Verfehlung bewusst und fragt erstaunt: Was maynet das? (AvT, V. 11304). Er ist in die Prüfung gegangen, ohne sich einer Schuld bewusst zu sein, der Abwurf macht in diesem Falle sichtbar, dass er fehl gegangen sein muss und erst eine Auslegung vereindeutigt, welche Handlung ihn in den Zustand der Untugend gebracht hat. Ebenso ahnungslos wie Arfaxat bei seinem Scheitern in der Radprobe sind die Ritter bei der späteren Brunnenprobe. Si enwesten sicherleiche/Von wie es in wer geschehen (AvT, V. 11785f.). Nur durch die Auseinandersetzung mit Venus wird jeweils deutlich, worauf sich die Vorwürfe der Verfehlungen genau beziehen. 34 Kartschoke arbeitet jenen als einen zentralen mittelalterlichen Begriff des Gewissens heraus. In seiner Einführung in die vielfältigen und nicht mit einem verbindlichen Modell zu beschreibenden mittelalterlichen Gewissenstheorien stellt Kartschoke die Konzeption der Gewissenstätigkeit bei Thomas von Aquin vor, welche sich aus syneidesis und conscientia zusammensetze. Thomas bestimme ersteren Begriff als die zum Guten strebende menschliche Grundeinstellung, letztere als Urteilsinstanz im konkreten Fall. Die conscientia umfasse „1. die Erinnerung an das, was getan oder unterlassen wurde; 2. das Urteil über das, was getan oder unterlassen wurde; 3. das Urteil über das, was zu tun oder zu unterlassen sei. Mit anderen Worten: ,conscientia‘ ist ein auf Haltungen und Handlungen bezogenes Normwissen mit Kontrollund Weisungsfunktion“ (Kartschoke, Dieter: Der Kaufmann und sein Gewissen. In: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 69 [1995], S. 666–691, hier S. 672; dabei bezieht er sich auf Reiner, H.: Gewissen. In: Historisches Wörterbuch der Philoso-

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eröffnet Venus Apollonius ein Mitspracherecht und desavouiert so die transzendente Urteilsmacht. So lässt sie im Verlauf der Auseinandersetzung eine Vereindeutigung der soeben ambivalent präsentierten Ereignisse zu. Apollonius ist nämlich in beiden Fällen nicht überzeugt oder eingeschüchtert von den offenbarten Vorwürfen. Im ersten Falle – Apollonius’ Feigheit verbrieften35 die hinterrücks erfolgte Erschlagung Kolkans, die Flucht vor dem Kentauren Piramort und die Tötung Ydrogants im Schlaf36 – bezieht Apollonius sofort im Anschluss an die Rede der Venus Stellung und entgegnet,37 er sei seines Wissens niemals vor einem Manne aus Feigheit geflohen (vgl. AvT, V. 12148–12151). Er definiert Feigheit implizit als an das Bewusstsein geknüpft und weigert sich daraufhin außerdem, die angeführten Widersacher als adäquate Gegner im Sinne von man (AvT, V. 12150) anzuerkennen. Dazu weist er als Allgemeingut aus, dass man erstens [m]it list vahend […] di tier (AvT, V. 12153)38 und es sich zweitens zumindest bei Ydrogant und Kolkan um Tiere handle (vgl. AvT, V. 12158f.). Schon durch eine Schärfung der Begriffe lässt sich für ihn das Urteil der Göttin als ungerechtfertigt darstellen. Die

phie, Bd. 3 G–H, Basel 1974, Sp. 574–592, hier Sp. 582). Mehr zum mittelalterlichen Begriff und Verständnis ist zu finden bei hier Sp. 581–583. 35 Hier wird in einem Bild gesprochen, dass die Autorität der schriftlichen Fixierung betont. Die aufgezählten Beispiele seien die geschriftt und der prieff/Der zagelichen missetat/Di dein leyb pegangen hatt (AvT, V. 12143–12145). 36 Es kommt zur verkürzten Wiederholung und durch die Verbindung mit Suggestivfragen zur Umwertung der zuvor als Heldentaten präsentierten Handlungen als Momente der Feigheit. Den Abschluss der ersten geschilderten Szenen bildet die rhetorisch anmutende Frage Was das nicht ain zaghait (AvT, V.  12132). Weiter fragt sie Da dich Piramort jagt/Wärestu nicht alda verzagt?/ Awe der schanden! (AvT, V. 12138–12140). Schließlich impliziert auch die Formulierung Wi slugstu Ydroganden/Da er lag und slieff! (AvT, V.  12141f.) gerade in der Reihung mit den vorherigen Schilderungen und Fragen die Antwort ,mit Feigheit‘ bzw. ,feige‘. Diese Aufforderung ermahnt nicht allein Apollonius, sondern auch die RezipientInnen zu jener Neubewertung der bereits rezipierten, hier jedoch neu arrangierten Ereignisse. Es werden bislang unabhängige Textpassagen – jeweils Auseinandersetzungen des Titelhelden mit monsterartigen Kreaturen – in einen Zusammenhang gebracht, wodurch die Handlungsweise in den Einzelsituationen sich für den Rezipienten als charakteristisches – und fragwürdiges – Verhalten der Figur präsentiert. Auf die Tatsache, dass Apollonius gegen Ydrogants Frau Serpanta nur deswegen bestehen kann, weil Printzel ihm im entscheidenden Moment zu Hilfe eilt (vgl. AvT, V. 10797–10817), geht Venus nicht ein. 37 Darüber muss er nicht einmal lange nachdenken. Die Unmittelbarkeit seiner Antwort markiert das sich direkt anschließende Anheben zur Verteidigungsrede (Do sprach der von Tyrlant, AvT, V. 12146). 38 Das wiederum ist eine Lüge, denn in betreffender Szene heißt es: Er sprach ’es wär nicht wolgetan/Das ich disen tievels man/Groß und ungefuge/Slaffand ersluge’ (AvT, V. 10714–10717) und auch Ydrogant klagt ihn an: Das ist slaffund geschehen,’/Sprach Ydrogant ’das ist ain schande’ (AvT, V. 10733f.).

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Flucht vor Piramort legitimiert er mit der die Argumentation Venus’ nicht unbedingt eigentlich entkräftenden Rationalität des klugen Kampfes.39 Der zweiten Anschuldigung der Lüge, die Venus in ihrem kurzen Redebeitrag mit ’Du haissest Appolonius, Du hettest dich Lonius genant: Das ist ain luge so tzehant‘.’ (AvT, V. 12696–12698)

konkretisiert, begegnet er ebenso mit einer Uminterpretation seines Handelns. Gibt selbst Apollonius zu, dass Venus eine akzeptable Lesart vorstellt – das dewtet sich alsuß (AvT, V. 12706) – so bietet seinem Verständnis nach gerade die von Venus unterschlagene Situation eine andere, passendere Perspektive. Ist der Kontrast der beiden Namen, den Venus aufführt, auch nicht von der Hand zu weisen, so will er vor dem Kontext seiner Gefangenschaft, den Apollonius selbständig (und korrekt)40 ergänzt (vgl. AvT, V. 12709f.), sein Verhalten dewten paß (AvT, V. 12707). Infolge seiner Unfreiheit sei er nicht er selbst gewesen; daher habe er seine Unvollständigkeit durch den genannten Namen zum Ausdruck gebracht (vgl. AvT, V. 12711–12713).41 Der von Venus vermittelten moralischen Betrachtungsweise setzt Apollonius mit Erfolg mehr oder weniger schlüssige Argumente der Logik und der Definitionsabhängigkeit entgegen und Venus vertritt ihre moralischen Wertungen daraufhin nicht konsequent weiter, sondern lässt sich darauf ein, den Vorwurf der Feigheit für einen ausgleichenden Löwenkampf (vgl. AvT, V.  12200–12224; s.  Kap.  6.3.1), den der Lüge für ein Blanko-Versprechen (vgl. AvT, V. 12721–12731) bzw. aufgrund der Entschuldigung durch den Herrscher des Reichs42 (vgl. AvT, V. 12717–12720) fallenzulassen. Die Gültigkeit der verfügbar gemachten Maßstäbe sowie Venus’ Wirken als mediale Form auf Darstellungsebene werden nicht eingeschränkt,43

39 Es sei schlichtweg ain torhait (AvT, V. 12174), in das Feuer eines Drachen zu springen (vgl. AvT, V. 12163–12179). 40 Zur Fähigkeit der Figur, anhand der Aussagen Venus’ Erinnerungsprozesse in Gang zu setzen, s. Kap. 5.1.1. 41 Bei der Selbstbezeichnung als ,Lonius‘ handle es sich also nicht um eine Lüge, sondern um eine Version seines wahren Namens, eine Reduktionsform, die sogar seine prekäre Situation abgebildet habe. 42 Candor lauscht der Konversation und ruft nach Apollonius’ Erläuterungen: di schuld ist raine:/Lonius der ist aine (AvT, V. 12719f.), woraufhin Venus einwilligt, Apollonius eine Möglichkeit des Abbüßens bereit zu stellen (vgl. AvT, V. 12721–12730). 43 Auch wenn Apollonius die Vorwürfe in beiden Situationen wortgewandt zurückweisen und Venus von einer Änderung ihrer Bewertung überzeugen kann, so vermittelt und enthüllt Venus

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doch zumindest die Konsequenzen der Schuld erweisen sich als wegdiskutierbar; die moralischen Urteile Venus’ sind offenbar nicht absolut oder endgültig.44 So werden die Zweifel an der Tugendhaftigkeit Apollonius’ in der Szene sowohl aufgerufen, aktualisiert und konkretisiert als auch durch den Handlungsverlauf wieder entschärft.45 Die Autorität der Transzendenz, ja der transzendente Status Venus’ überhaupt, wird dabei infrage gestellt. Die Passagen kehren hervor, dass es mehrere sich überlagernde Maßstäbe und Lesarten des dargestellten Heldenweges geben kann.46 In beiden Fällen erinnert sich Apollonius seinerseits an bestimmte Aspekte der aufgerufenen Situationen, die in der verkürzten Wiedergabe durch die transzendente Stimme verknappt und auf einen Kern reduziert wurden, der zu einem abwertenden Urteil verleitet. Er kritisiert die Reduktion der komplexen Ereignisse und plädiert dafür, weitere Faktoren in die Wertung einzubeziehen. Die Szenen vermitteln keine eindeutigen Richtlinien, sondern die Relativität und Interpretationsabhängigkeit von Urteilen. Dass Apollonius sich aber überhaupt erfolgreich mit den angeblichen Verfehlungen auseinandersetzen und sie – vor den Augen der eventuell ebenso skeptischen RezipientInnen – aus der Welt schaffen kann, liegt an der direkten Kommunika-

auf einer abstrakten Ebene, dass bestimmte Bewertungsmaßstäbe der bisherigen Einschätzung einer Situation entgegengesetzt sein können und ein körperlicher oder intellektueller Sieg nicht automatisch die moralische Überhand bedeutet. Denn Apollonius wehrt sich stets gegen das Zutreffen der Vorwürfe, nicht aber gegen die Relevanz der Tugenden Mut und Ehrlichkeit selbst. So werden ihm in Anbetracht seiner nachweislich von den Umständen abhängigen Vergehen Ersatzhandlungen für das Erlassen der Schuld auferlegt, die er ableistet – er tut das zunächst durch das erfolgreiche Aufeinandertreffen mit dem Löwen (vgl. AvT, V. 12221–12225, 12532–12584; s.  Kap.  6.3.1), dann durch das, später in der Verbindung mit Palmina eingelöste (vgl. AvT, V. 12727–12732, 14103–14109, 14139–14149) Versprechen (vgl. AvT, V. 12731f.), wodurch er sich zu seinen Verstößen gegen den Tugendkatalog zumindest teilweise und zur Gültigkeit der Maßstäbe vollständig bekennt. 44 Die offensichtlich überzeugenden Diskussionsbeiträge Apollonius’ und ihre Arrangements mit ihm beeinträchtigen die Autorität ihrer Bewertungen sowie auch ihre eigene moralische Integrität. Ihr Einfluss auf den Ausgang der wiederholten Prüfungen ist durch die Revision durch Kampfkraft sowie den Einsatz eines Zauberrings (vgl. AvT, V. 12737–12742) ohnehin fragwürdig. 45 Die Venusrede fordert – so wurde bereits in Kap.  5.1.1 erläutert – zu intrapersoneller ,Er­ innerung‘ auf und zeigt dabei auch, wie im gemeinsamen ,Erinnern‘ Differenzen sichtbar werden, aber auch Deutungskonsens hergestellt wird. 46 In diesem Sinne ist die Szene auch nicht unbedingt für Apollonius oder die transzendente Sphäre der Göttin diskreditierend. Gerade die Widersprüche, die sich aus dem Anspruch der Radprobe und den folgenden Proben ergeben, sowie die Gespräche mit Venus sind für Schneider eher ein Verweis darauf, dass hier nicht die Tugendhaftigkeit der Helden zur Diskussion steht, sondern, wie Tugendhaftigkeit von wem definiert wird und wer schließlich die Entscheidung fällen darf und kann (vgl. Schneider, Chiffren, S. 67).

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tion mit der transzendent gesetzten, aber in ihrer Gesprächs- und Diskussionsbereitschaft gar nicht mehr transzendent – im Sinne von absolut-autoritär und wertsetzend – wirkenden Instanz.47 Was in der raffenden Darstellung der Szenen tatsächlich problematisch wirkt,48 vermag Apollonius sogleich argumentativ zu entkräften. Moralische Urteile werden verhandelbar und perspektivabhängig, sobald sie in Sprache formatiert werden. Nicht der Kontakt zwischen immanenter und transzendenter Sphäre ist problematisch, sondern dass Venus ihre Vorwürfe diskutiert. Der direkte wechselseitige Kontakt ist ein Einfallstor für Widerspruch und Apollonius erweist sich als eloquent genug, die Urteile sprachlich zu untergraben. Die Inkonsequenz der Göttin Venus besteht daher weniger darin, dass sie Apollonius Möglichkeiten zur Buße anbietet, sondern ist vielmehr darin begründet, dass sie sich als Göttin auf eine direkte sprachliche Auseinandersetzung einlässt, sich dazu zwingen lässt, ihr Urteil sprachlich zu formulieren, festzulegen, damit zu verkürzen und angreifbar zu machen.49 Wo die ,Insel des Lachens‘ klare Grenzen setzt, zeigt Venus sich Verhandlungen über moralische Maßstäbe gegenüber offen. Wahre Transzendenz – so zeigt der Text mit der ,Insel des Lachens‘ – zieht eindeutige Grenzen und bedient sich – so zeigen die im Folgenden verhan-

47 Die Exzeptionalität dieser Funktion wird in den Passagen unterlaufen, in denen es nicht um die Verfehlungen Apollonius’ geht, sondern um die Palmers, Printzels, des Sultans und Syrinus’ von Galacia. Hier ist es Candor bzw. die Erzählinstanz, die über die Details der Biographie und die jeweiligen Verfehlungen Bescheid wissen. Nun haben anscheinend auch diese einen Zugriff auf die unverfügbaren Inhalte und übernehmen ebenso problemlos die zuvor von Venus ausgefüllte Rolle (ohne jedoch damit eine Chance der Revision zu erwirken) (vgl. AvT, V. 12755–12805). Dass Venus hier nicht erneut auftritt, kann als Ausweis Apollonius’ im Sinne von Vorbestimmung gelesen, als Ausstellung des nur bei Apollonius korrekt gehandhabten Umgangs mit solchen Vorwürfen interpretiert oder aber als Zeichen der Inkonsequenz und beschränkten Autorität Venus’, die in diesen Fällen entweder nichts ausrichten will oder kann, gesehen werden. 48 Kaspar geht dagegen davon aus, dass das Publikum die genannten Vorwürfe „nur als unbedeutend empfinden konnte“ (Kaspar, Tugend- und Keuschheitsproben, S.  405). Es handle sich um „beckmesserische[], nachgerade kleinliche[] Vorwürfe“ (hier S. 408), überdies von einer Instanz, die vielleicht für die Brunnenepisode, jedoch nicht für die Beurteilung der bei der Treppenprüfung gefragten Tugenden zuständig sei (vgl. hier, S. 408). 49 So heißt es auch bei Müller: „Indem das ungreifbare Gerücht vor aller Augen sichtbar wird, kann sich der Held dagegen verteidigen und das Gerücht widerlegen“ (Müller, Blick, S.  27). Darin sieht er jedoch nicht eine Kritik an der transzendenten Instanz, sondern die Veranschaulichung der Differenz zwischen religiöser und höfischer Ordnung, die sich in der höfisch-visualisierten Berichtigung eines moralischen Vorwurfs in einem bußsakramental gestalteten Verfahren zeige (vgl. hier S. 27).

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delten Passagen  – zwischengeschalteter Instanzen oder anderer Formate und begibt sich nicht in direkte Unterhaltung mit immanenten Figuren. Die im Laufe der Handlung beider Texte auftretenden transsphärisch agierenden Formen bleiben nach der Lektüre der Textpassagen also erstaunliche und seltene, transzendent gewollte oder zumindest geduldete Zugriffsmöglichkeiten auf einen Bereich, der sich sonst der menschlichen Wahrnehmung entzieht und allein mit den Zugang regulierenden Mittlern einen exklusiven und klar begrenzten Einblick in das Unverfügbare gewährt.

6.1.2 Theoretische Grundlagen mittelalterlicher Konzeptionen des transsphärischen Kontakts Anhand der betrachteten Textpassagen ist deutlich geworden, dass verborge‑ nes ,Wissen‘ attraktiv und begehrenswert, der Kontakt zwischen Immanenz und Transzendenz im Erzählkosmos exzeptionell, transzendental autorisiert und an die Auseinandersetzung mit vermittelnden Instanzen gebunden ist. (s. Kap. 6.1.1). Bevor sich die Untersuchung transsphärischen Interaktionen und den dabei zum Einsatz kommenden medialen Formen im Apollonius und im Reinfried zuwendet, sollen die grundlegenden theoretischen Fundamente einer Vorstellung intersphärischen Kontakts aufgearbeitet, die spezifischen Erkenntnisinteressen vorgestellt und das Vorgehen zu ihrer Erschließung erläutert werden. Denn die dominanten mittelalterlichen Vorstellungen davon, wie die transzendente und die immanente Sphäre in Beziehung zueinander stehen und welche Möglichkeiten des Kontakts anzunehmen sind, sind die notwendige Grundlage für die weitere Auseinandersetzung mit den literarischen Phänomenen.50 Die

50 Die christliche Prägung der europäischen mittelalterlichen Kultur und der religiöse Einfluss auf die mittelalterliche volkssprachliche Literatur ist ein kaum anzuzweifelnder Allgemeinplatz der historischen und literaturwissenschaftlichen Mittelalterforschung. „Das Mittelalter heißt das christliche. Erst mit der Frühen Neuzeit setzt ein Säkularisierungsprozess ein, über dessen Legitimität lange Zeit gestritten wurde, an dessen Ende dem allgemeinen Verständnis nach eine in ihren heterogenen Traditionen und Zukunftschancen plurale Welt steht, den einen möglichkeitsreich und offen, den anderen zerrissen und zukunftslos, eine Welt gewiss mit christlichen Traditionen, aber nicht mehr von einem mit einer einzigen Stimme sprechen Christentum dominiert. Der Erfahrung einer entfremdeten Moderne wurde an der Wende der Frühen Neuzeit die angebliche Einheit und Geschlossenheit der mittelalterlichen Welt unter Führung des Christentums gegenübergestellt. Dieses romantische Mittelalterbild hat die Forschung zwar längst ad acta gelegt. Man hat gelernt, die Pluralität und die Antagonismen der mittelalterlichen Kultur zu

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folgenden Darstellungen geben einen groben Überblick zur Orientierung; in den Analysekapiteln schließen sich spezifischere Ausführungen zu einzelnen transsphärischen Kommunikationswegen an. Der jüdisch-christliche Gott steht per se außerhalb der sinnlich fassbaren Welt.51 Doch trotz der theologischen Exorbitanz von Kontakten zwischen den kategorisch getrennten Sphären sind solche weder in theologischen Diskursen des Mittelalters noch in biblischen oder weltlichen Erzählungen Ausnahme­ erscheinungen. Mit der strikten Trennung von Immanenz und Transzendenz gehen stets Überlegungen einher, wie und in welchem Ausmaß Kommunikation zwischen ihnen stattfinden kann. Biblische Erzählungen und geistlichthe­ologische Texte – häufig Auslegungen biblischer Erzählungen – entwerfen in großer Vielfältigkeit die Kontaktaufnahme zwischen Gott und Mensch52 und bilden immer wieder das Anziehungspotenzial des seit jeher faszinierenden Bereichs metaphysischen ,Wissens‘, zum Beispiel über die Zukunft,53 ab.54 Die Möglichkeit, sich den höchsten Autoritäten der christlichen Religion mitzutei-

lesen. An der Dominanz der christlichen Religion, der geistigen Führungsmacht der Kirche und der Prägung der literarischen Kultur durch die schriftkundigen clerici besteht aber kein Zweifel“ (Müller, Jan-Dirk: Wie christlich ist das Mittelalter oder: Wie ist das Mittelalter christlich? Zum Herzmaere Konrads von Würzburgs. In: PBB 137/3 [2015], S. 396–419, hier S. 397f.). Dieser Eingang dient Müller dazu, die unhinterfragte Eindeutigkeit dieses von Generation zu Generation von MediävistInnen weitergegebenen Befundes zu veranschaulichen. Dennoch hält auch er es für „absurd, die grundsätzliche christliche Ausrichtung der mittelalterlichen Kultur insgesamt zu bezweifeln“ (hier S. 397). Wenn das auch nicht die in der Forschung bereits zur Genüge dekonstruierten Einheitlichkeit christlich-religiöser Vorstellungen bedeutet (sehr bestimmt vertritt Wagner die Pluralität an Religionsentwürfen und Gottesbildern, die nicht nur in der erzählenden Literatur des Hochmittelalters festzustellen ist [vgl. Wagner, Postmodernes Mittelalter, hier insbes. S. 188f.]), so ist die Rolle, die der Bezug auf christliche Glaubensinhalte spielt, doch nicht von der Hand zu weisen (vgl. dazu auch Goetz, Hans-Werner: God. In: Handbook of Medieval Culture. Fundamental Aspects and Conditions of the European Middle Ages Vol. 1: Hrsg. von Albrecht Classen, Berlin 2015, S. 613–627, hier S. 613). 51 Vgl. Debray, Mediologie, S. 93; Goetz, Gott, insbes. S. 626f.; vgl. den gesamten Beitrag für eine knappe Einführung zum mittelalterlichen Gottesbild. 52 Es wäre müßig, die einzelnen Szenen anzuführen, in denen es in der Bibel zu kommunikativem Austausch zwischen immanenter und transzendenter Sphäre kommt, handeln doch alle Erzählungen vom Verhältnis jener Sphären und sind jene Erzählungen selbst doch mediale Formen des göttlichen Worts. Besonders bedeutsame Szenen kommen anhand der Textarbeit an Phänomenen, die sich auf solche biblischen Beispiele berufen, zur Sprache. 53 Zum Zukunftsbegriff s. Anm. 3/81. 54 „Die Faszination an der Zukunft bzw. der Metaphysik gehört wiederum zu den typischen Merkmalen des Menschen und hat noch niemals ihre Wirkung eingebüßt“ (Classen, Albrecht: Die narrative Funktion des Traumes in mittelhochdeutscher Literatur. In: Mediävistik 5 [1992], S. 11–37, hier S. 13; s. auch die Passagen zur ,Insel des Lachens [Kap. 6.1.1]).

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len oder mit göttlichen Botschaften/prophetischen Informationen gesegnet zu werden, also sowohl das Sprechen zu Gott aus der Immanenz als auch die Mitteilung Gottes in diese hinein, spielt von Beginn der Textüberlieferung an eine Rolle in der christlichen Erzähltradition, welche in die weltliche Literatur hineinwirkt. Dort fällt die Konzeption der Kontakte zwischen den Sphären je nach Textsortenund Stofftradition verschieden aus und beschränkt sich keineswegs nur auf die Darstellung von Auseinandersetzungen von Figuren mit christlicher Transzendenz.55 Gemein ist allen Entwürfen – darunter auch den in den folgenden Kapiteln besprochenen Darstellungen aus dem Reinfried und dem Apollonius – dass sie die grundsätzliche Möglichkeit intersphärischer Kontakte annehmen. Theologisch-theoretisch einflussreich sind zum einen die bereits im Vorfeld der Untersuchungen benannte Christologie, welche sich mit Mittlerfiguren beschäftigt, Jesus als prototypisches Leitmedium betrachtet und die Besetzung der Mittlerposition mit sozialen (Institutionen), semiotischen (zeichenhaften Vermittlungsprozessen) oder materiellen (Objekten, Artefakten) Mustern etabliert56 (s.  Kap.  3.2.1), zum anderen Überlegungen aus dem mittelalterlichen Prophetiediskurs (bspw. von Bernhard von Clairvaux oder Wilhelm von St. Thierry). Denn all jene Kommunikation, die von der transzendenten Sphäre in die immanente Sphäre verläuft, kann unter dem Begriff der Prophetie subsumiert werden. Da­runter fassen die theologischen Autoritäten wie Gregor der Große oder Cassidor,57 die neben den Bibeltexten selbst für die mittelalterliche

55 „Die antiken Gottheiten waren im Mittelalter aus den antiken Schriften und Stoffen bekannt und wurden aus den theoretischen und literarischen Produkten weder verbannt, noch kommentarlos übernommen“ (Kottmann, Gott, S. 71). Kottmann, der anhand des mittelalterlichen deutsch- und französischsprachigen Eneas-Romans nach der Art und Weise, wie die antiken Göttervorstellungen in der Literatur des christliche geprägten Mittelalters aufgenommen, rezipiert und bearbeitet werden, fragt, hält fest: „Im allgemeinen wurden im christlichen Mittelalter die Götter natürlich nicht geduldet, sie wurden zumindest in ihrer religiösen Funktion beraubt – und auf theologisch-dogmatischer Seite wurden sie regelrecht bekämpft. Das heißt allerdings nicht, daß die Antiken Götter im Mittelalter tot waren“ (hier S. 71). Literatur und Theologie entwickeln unterschiedliche Haltungen zu diesen Instanzen, ihre Autoritäten reagieren an antike Deutungen anschließend mit Euphemerismus, Astrologie, Moralisierung (Allegorisierung), Psychologisierung und Dämonisierung (vgl. Schnell, Causa amoris, S. 370–372; vgl. auch Goetz, God, S. 613). 56 Vgl. Kiening, Mediologie. 57 Für die mittelalterliche Vorstellungen von Prophetie seien bis ins Hochmittelalter neben biblischen Texten deren patristische Auslegungen relevant (vgl. Meier, Christel: non verba prophetae. Evaluation und Reproduktion der prophetischen Rede der Bibel im Mittelalter. Eine Skizze. In: Prophetie und Autorschaft. Charisma, Heilsversprechen und Gefährdung. Hrsg. von ders./Martina Wagner-Engelhaaf, Berlin 2014, S. 71–104, hier S. 72). Cassidor sei im Mittelalter im Hinblick auf die Prophetie, die er in seiner Expositio Psalmorum knapp charakterisiert, eine

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Vorstellung von transsphärischem Kontakt richtungsweisend sind, nämlich nicht ausschließlich die Vorhersage zukünftiger Ereignisse, sondern allgemeiner ein Vor­zeigen und Zugänglichmachen des Verborgenen.58 So zählt Cassidor die unterschiedlichen biblischen Erfahrungen Davids (Geistesinspiration), Esaus und Jakobs (Geburtsverhältnis), Abrahams, Loths, Zacharias’ und Marias (Engelerscheinung), Isaias’ und Ezechiels (Visionen), Salomons und Daniels (Träume) sowie Moses’ (Wolke sowie himmlische Stimme) zu prophetischen Prozessen.59 Folgt man dieser Zuordnung, dann dürften alle Figuren, die im Apollonius und im Reinfried von der Transzendenz adressiert werden, als Empfänger von Prophetien gefasst werden – was sie nicht alle automatisch zu Propheten macht.60 Die Offenbarung von Informationen, die für gewöhnlich verborgen bleiben,61 wird in der Regel auch in der Theorie als transzendenzinduziert bzw. zumindest

Autorität (vgl. hier S. 73), die Ezechiel-Homilien in den einundzwanzig Predigten, die Gregor der Große 601 veröffentlicht, enthielten sowohl einen – auf Cassidor zurückgreifenden – theoretischen Teil über Prophetie als auch eine implizite Poetik prophetischer Rede und sind daher „für das Prophetieverständnis des Mittelalters von fundamentaler Bedeutung“ (hier S. 76). 58 Cassidor weite das Phänomen der Prophetie über die Zeitenmitte der Inkarnation hinaus aus und schreibe ihr eine ungebrochene Präsenz vom Alten Bund bis zum Weltende zu (hier S. 74f.). Laut Gregor gebe die Bibel sowohl Beispiele für Vergangenheits- (Gen 1,1) als auch für Zukunfts(Is 7,14) und Gegenwartsprophetien (1. Cor. 14,24f.); mit der Rückführung des Begriffs auf das lateinische Verb procedere (,vorzeigen‘) lehnt er die semantische Engführung auf zukünftiges Geschehen ab (vgl. hier S. 77). Auch in den Briefen des Neuen Testaments überwiegt Meier zufolge ein weiter Prophetiebegriff, der davon ausgeht, dass Prophetie eine jederzeitliche Erscheinung ist (vgl. hier S. 72f.). Dieses Verständnis stellt sie auch bei Hildegard von Bingen fest (vgl. hier S. 95). 59 Vgl. hier S. 74. 60 Mit jenem Begriff geht in den hier zugrunde gelegten theoretischen Schriften auch stets ein Vermittlungsauftrag und eine Vermittlungsfunktion einher. Propheten würden verstanden als „Werkzeug oder Medium eines höheren Auftraggebers und Inspirators“ (hier S. 72). Dem Propheten werde eine himmlische Botschaft von einem transzendenten Auftraggeber gegeben, um sie weiter zu vermitteln (vgl. hier S. 72). Mit Bezug auf die pseudo-dionysische Tradition hält Meier fest: „Es ist also die eigentliche Aufgabe des Propheten beziehungsweise des propheta theologus, die göttlichen Botschaften aus dem höheren intelligiblen Bereich in symbolischer Form zu empfangen und den übrigen Menschen in der richtigen Weise zu vermitteln“ (hier S.  85f.). Daher werden hier nur die Figuren als Propheten gefasst, die auch diese Funktion wahrnehmen. Alle anderen werden hier als Empfänger transzendenter Botschaften und Rezi­pienten der jeweils für sie wahrnehmbar machenden medialen Formen verstanden. 61 Dass es sich nicht einfach um Informationen handelt, die immanent mit den richtigen technischen Hilfsmitteln wahrnehmbar sind, unterscheidet die hier fokussierten medialen Formen von denjenigen, die im modernen Mediendiskurs unter ,Wahrnehmungsmedien‘ fallen (z. B. Lupe, Mikroskop; vgl. dazu Winkler, Basiswissen, S. 122), wobei der Zusammenhänge und Funktionsweisen der Umwelt offenbarende und bildgebende Effekt möglicherweise ähnlich sein kann.

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transzendenzautorisiert verstanden. Die Frage, aus welcher Motivation transzendente Instanzen ihre Pläne mit immanenten Akteuren teilt, wurde im mittelalterlichen Prophetiediskurs mit den Schlagworten ,Tröstung‘, ,Erbarmen‘ und ,Erbauung‘ beantwortet.62 Dass allein die Transzendenz das Ausmaß des Einblicks in das göttlichen Walten und das immanent Verbogene bestimmt und diesem daher auch Grenzen setzt, steht im christlichen Verständnis außer Frage. Erzählerisch etabliert wird dieses eindeutig asymmetrische Verhältnis bereits durch die biblische Geschichte von Adam und Eva;63 gemeinsam bleibt den nachfolgenden biblischen wie literarischen Entwürfen, dass sie in der Regel eine transzendent umspannte Welt darstellen, in der immanenten Figuren in unterschiedlichem Ausmaß Möglichkeiten der Erfahrung der Transzendenz zuteil werden, in der sich jedoch die Grenzen niemals vollständig auflösen. Selbst in der sich schließlich zur personalen Liebesmystik steigernden Entwicklung der Liebeslyrik,64 die im Fließenden Licht der Gottheit Mechthilds von Magdeburg gipfelt,65 bleibt das Konzept eines Gottes, der sich entzieht, momentweise Vereinigung gewährt und schließlich aus der immanenten Sphäre heraus doch nicht fassbar ist, stabil.66 Die medialen Prozesse bzw. die zum Einsatz kommenden medialen Instanzen, die im Fokus der folgenden Untersuchungen stehen, überwinden nicht weniger als die größte denkbare und wichtigste Distanz der das europäische Mittelalter prägenden jüdisch-christlichen Tradition. Davon zeugt auch die Platzierung der Szenen, die im Reinfried von Braunschweig und im Apollonius von Tyrland transsphärische Mediation ausstellen, an erzählstrategisch besonders wichtigen Textstellen. Während im Reinfried die Sequenz von Gebeten, Erscheinungen und Träumen die Trennungsphase des Paares und damit den Abenteuerteil des Textes initiiert und die referierten Ereignisse um und auf dem Magnetberg die heilsgeschichtliche Perspektivierung der Erzählung verantwortet, setzt der Apollonius direkt nach dem Vorwort mit einer Traum-Szene ein, die die darauffolgende

62 So stellt Meier sowohl für Gregor als auch für Cassidor fest (vgl. hier S. 75, 78). 63 Vgl. 1. Moses 2,1–23. 64 Mit der Liebeslyrik entwickelt sich circa ab dem zwölften Jahrhundert ein neues, allerdings auf das alttestamentarische Hohelied bezogenes Muster, nach dem die Begegnung zwischen Mensch und Gott gedacht und gestaltet wird (vgl. Haug, Walter: Gotteserfahrung und Du-Begegnung. Korrespondenzen in der Geschichte der Mystik und der Liebeslyrik. In: Geistliches in weltlicher und Weltliches in geistlicher Literatur des Mittelalters. Hrsg. von dems./Christoph Huber/Jans-Joachim Ziegler, Tübingen 2000, S.  195–213, hier S.  200). Er erklärt weiter: „Für das Frühmittelalter galt, daß die Braut auf die Kirche und der Bräutigam auf Christus gedeutet wurden“ (hier S. 200). 65 Vgl. hier S. 200f. 66 Vgl. hier S. 200.

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Handlung präfiguriert sowie außerdem in die christlich-religiös determinierten Gesetzmäßigkeiten der erzählten Welt einführt. Von da an scheint Apollonius’ Reise geradezu bestimmt von transsphärischen Interaktionen. Auch hier stoßen Gebete Richtungswechsel der Handlung an; daneben gibt es eine Vielzahl unterschiedlicher Figuren und Phänomene, die prophetisch agieren oder Auskunft über verborgene Informationen geben können (Menschen, Monster, Objekte und Naturphänomene) und deren spezifische Funktionalität im Handlungsverlauf und in der Erzählung noch herauszuarbeiten ist. In jedem Falle unterstreicht die Verwendung transsphärischer Ereignisse an den narrativ oder handlungslogisch besonders wichtigen Punkten der Texte die Bedeutsamkeit, die der sphärenübergreifenden Mediation zukommt. Aufgrund der prominenten Rolle der Mittlerinstanzen bei der Überwindung der Grenze zum Unverfügbaren nehmen diese zuletzt besprochenen Szenen transsphärischer Interaktion einen besonderen Stellenwert für den medialen Diskurs der beiden Texte ein. Sie diskutieren, welche Kanäle sich einem solchen Austausch anbieten und welche Formatierungen transzendente Akteure zur Mitteilung wählen. Aufgrund der theoretischen Unwahrscheinlichkeit eines transsphärischen Kontakts ist die Frage nach dessen Zustandekommen besonders relevant. Die Kontaktaufnahme ist als wesentlicher Bestandteil solcher Mediationsprozesse und als Aussage über die generelle Kontaktierbarkeit der Transzendenz zu werten, weshalb den Situationen und Voraussetzungen sowie der Initiative67 besondere Aufmerksamkeit zukommen muss. Über die Beschäftigung mit den Bedingungen und Herausforderungen, die sich bereits vor dem Kontakt mit den medialen Formen und Figuren stellen, lässt sich beobachten, wem unter welchen Bedingungen die Transzendenz nach Textlogik einen Kontakt zugesteht. Ebenso wichtig für die Textkonzeption von Transzendenz und transsphärischer Interaktion sind die handlungslogischen und figurenpsychologischen Folgen des Kontakts. Dabei stellt sich auch die Frage, ob sich innerhalb eines Textes oder textübergreifend innerhalb einer medialen Form ein konstantes Bild der Funktionsweise solcher Kontakte ausbildet, ob eine Differenz zwischen christlichen und nichtchristlichen transzendenten Instanzen beschworen wird und als wie außergewöhnlich die Texte diese Möglichkeit im Rahmen der einzelnen Vorgänge markieren. Schließlich ließe sich weiter fragen, inwiefern diese Szenen den Blick

67 Initiative wird anhand der Gesprächs- bzw. Kommunikationseröffnung sowie des verbal ausgedrückten und im Verhalten beobachtbaren Wunsches, in Kontakt zu treten (z.  B. durch den Versuch räumlicher Annäherung oder Zuwendung des Blicks), unterstellt. S. dazu die Zeichen der Initiative, die das Verhalten der Mannschaft angesichts der ,Insel des Lachens‘ zeigt (s. Kap. 6.1.1).

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auf die Ereignisse der Handlung verändern. Da mit der lenkenden, leitenden transzendenten Ebene die Gesetzmäßigkeiten, nach denen die erzählte Welt funktioniert, in den Bereich der Dar­stellung rücken, ist auch anzunehmen, dass es sich um Schlüsselszenen für das Verständnis anderer Textpassagen und Handlungsverläufe handelt. Die Textpassagen versprechen Einsichten in die Vorstellungen über transzendente Enthüllungen sowie in die in der medialen Aufbereitung aufscheinenden Selbst- und Fremdentwürfe – das betrifft die transzendente Sphäre68 ebenso wie die der/des Gläubigen – und in die im Text entwickelten Vorstellungen des überhaupt Wiss,- Verfüg- und Vermittelbaren. Für die Gruppierung der Szenen, die transsphärische Interaktionen präsentieren, bietet sich angesichts der Vielfalt der Formen und in Anbetracht der Tatsache, dass es nicht möglich ist, eine Intention auszumachen, weder eine Kategorisierung strikt nach Materialisierungsart noch nach Zweck des medialen Gebrauchs an. Stattdessen eignet sich die rudimentäre Einteilung nach ange­ sprochener Sinneswahrnehmung, in der das sonst sinnlich Verborgene jeweils erfahrbar – hörbar, spürbar, sichtbar – wird.

6.2 Sprechen zu Gott und mit seinen Stellvertretern Die zwischenmenschliche Kommunikation ist maßgeblich bestimmt durch den Austausch auditiver Signale. Doch ein direktes Gespräch mit der Transzendenz ist – wie bereits dargestellt wurde – nicht nur äußerst selten, sondern entspricht auch nicht der textimmanenten Vorstellung angemessenen transzendenten

68 Da die Erzählinstanz hier ihr Bild der transzendenten Instanz entwirft, ist – mit Theisen, der darauf aufmerksam macht, dass Gott als häufig auch nur implizit angelegte Figur genauso wie andere Figuren der Erzählinstanz schutzlos ausgeliefert ist (Theisen, Joachim: Des Helden bester Freund. Zur Rolle Gottes bei Hartmann, Wolfram und Gottfried. In: Geistliches in weltlicher und Weltliches in geistlicher Literatur des Mittelalters. Hrsg. von Burghard Wachinger/ Christoph Huber/Jans-Joachim Ziegler, Tübingen 2000, S. 153–169, hier S. 155) – die relevante Frage, „welchen Platz die Erzähler Gott einräumen, welche Ereignisse und Vorfälle sie ihm zuschreiben“ (hier S. 156). Dass es sich bei den in mittelalterlicher Literatur entwickelten Gottesbildern nicht um miteinander identische und mit geistlichen Entwürfen übereinstimmende Vorstellungen handelt, betont Wagner in seinem alteritätskritischen Aufsatz zur Religiosität im Mittelalter. Das Hochmittelalter entfalte eine „Pluralität von Gottesbildern“, die höfische Epik zeuge von sehr unterschiedlichen Gottesbildern und religiösen Entwürfen, ja bringe innovative Vorstellungen zur Sprache, die nicht zwangsläufig auf einen konsistenten christlichen Glauben zurückzuführen seien (Wagner, Silvan: Postmodernes Mittelalter? Religion zwi­schen Alterität und Egalität. In: Wie anders war das Mittelalter? Fragen an das Konzept der Alterität. Hrsg. von Manuel Braun, Göttingen 2013 [Aventiuren 9], S. 181–201, S. 186–188).

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Kommunikationsverhaltens (s. Kap. 6.1.1). Doch es gibt Möglichkeiten, über das gesprochene Wort transsphärische Mitteilung und sogar Interaktion zu realisieren: Botschaften, die in einer bestimmten Form zur Transzendenz gesprochen werden, oder aber der Austausch mit Stellvertretern Gottes, die zwischen den Sphären wandeln und mit denen von Angesicht zu Angesicht Worte gewechselt werden können. Beides ist im Apollonius von Tyrland und im Reinfried von Braunschweig zu beobachten.

6.2.1 Lautstarke Bitten und stille Antworten: Gebete als immanentes Mitteilungsmittel Transsphärische Interaktion funktioniert in den jeweiligen Weltentwürfen des Reinfried von Braunschweig und des Apollonius von Tyrland im Einklang mit zeitgenössischen Theorien nach den Regeln der Transzendenz (s. Kap. 6.1). Doch das heißt nicht, dass die Initiative eines intersphärischen Kontakts mit einem geeigneten Mittler nicht von der Immanenz ausgehen kann. Das zeigen Reinfried und Yrkâne. Diese führen eine vorbildliche Ehe, die von fröude (RvB, V.  12945), êren und sælden (RvB, V.  12946) geprägt ist und weder unmuot zorn haz noch nît (RvB, V.12942) kennt. Ihre tadellose und gottesfürchtige Liebe (vgl. RvB, V.  12934–12953) jedoch trägt über zehn Jahre lang keine Früchte (RvB, V.  12955–12969). Das Paar leidet unter der Kinderlosigkeit;69 die Reaktion auf den ausbleibenden Nachwuchs passt in das tugendhafte Profil des Paares. Yrkâne und Reinfried – fest im christlichen Glauben verankert – richten sich an die Instanz, die in ihrem Verständnis ihrem Wunsch Abhilfe verschaffen kann: Gott. Das tun sie, indem sie jenen wiederholt und ausgiebig in Gebeten ansprechen, wie das exemplarisch vollständig wiedergegebene Gebet der weiblichen Figur70 und die Ausführungen über Reinfrieds ausdauern­de und wortgewaltige Gebetsroutine71 vermitteln. Damit sind sie nicht allein. Es gibt, wie beide

69 Sie truobt in dick die sinne (RvB, V. 12955), bricht die Freude, die ihnen die konfliktlose und erfüllte Beziehung beschert (vgl. RvB, V. 12959–12601, 12964f.), und beeinflusst die Stimmung im gesamten Herrschaftsbereich negativ (vgl. RvB, V. 13206–13209). 70 Es wird deutlich, dass das ausführliche Gebet keinesfalls exzeptionell ausfällt. Der Wiedergabe schließt sich die Bemerkung an, solche Klage bringe sie alle zît/tac und naht ân underlâz,/ ze bett ze tisch ze weg ze strâz (RvB, V. 13174–13176) vor. Niemals, nicht eine kleine stunde (RvB, V. 13179), gehe sie dieser Tätigkeit nicht nach. 71 Vgl. RvB, V. 13180–13195. Es wird erwähnt, dass er Gott anfleht und an selbigen seine Bitte richtet (vgl. RvB, V. 13182, 13188). Reinfried stellt dieselbe typische kommunikative Situation her, die hier als Beten bezeichnet wird (s. u.).

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Texte darstellen, unterschiedliche Anlässe, den Kontakt mit der transzendenten Sphäre zu suchen. Zur Mitteilung und zur möglichen Öffnung des Kanals steht dem Menschen offenbar nur ein Mittel zur Verfügung: das gesprochene Wort im Gebet. Viele Szenen des Reinfried und des Apollonius zeigen ihre Haupt- und Nebenfiguren beim apostrophischen Sprechen zu der Instanz, die in ihrem Verständnis für den Lauf der Welt zuständig ist. Reinfried und Yrkâne wenden sich an den christlichen Gott, Apollonius und Tarsia klagen dem jüdischen Gott bzw. antiken Göttern in ausweglosen Situationen ihr Leid, der babylonische Sultan wendet sich auf der Suche nach Beistand im Religionskampf an eine Vielzahl von Gottheiten und die Ritter in Apollonius’ Gefolgschaft ersuchen Venus angesichts einer Verfehlung um Vergebung.72 In einem Gebet73 versuchen Menschen über ihren herkömmlichen Kommunikationsraum hinaus zu sprechen. Es zeugt von dem Bedürfnis, sich der Entität, die als verantwortlich für den Lauf des Weltgeschehens verstanden wird, mitzuteilen, diesem Sorgen und Ängste zu klagen, Dank oder Preis auszusprechen

72 Durch die christliche Prägung der mittelhochdeutschen Literatur (s.  Anm.  6/50) ruft das Schlagwort ,Gebet‘ zuerst die Vorstellung eines Sprechens zum christlichen Gott hervor. Doch wie bereits dargestellt, wurden die aus antiken Stoffen bekannten Gottheiten nicht einfach aus den jeweiligen Texten gestrichen (vgl. Kottmann, Gott, S. 71; Schnell, Causa amoris, S. 370–372; s. Anm. 6/55). So finden in beiden Texten handlungs- und stoffbedingt Gebete Ausgestaltung, die sich nicht an den christlichen Gott richten. Der babylonische Bâruc vertraut konsequenterweise auf andere transzendente Instanzen als der christliche Reinfried; der Protagonist des Apollonius bewegt sich in einer Welt, in denen der antiken Stoffvorlage gemäß nicht-christliche Götter und Halbgötter das Geschick zu beeinflussen versuchen (die Figuren erkennen deren Macht an, während die Erzählinstanz die Allmacht des einen, christlichen Gottes für den Rezipienten immer wieder deutlich hervorkehrt [vgl. Achnitz, Babylon und Jerusalem, S. 272]); auch der Protagonist ist über weite Strecken der Handlung kein Anhänger des Christentums (vgl. AvT, V. 20561). Apollonius ist eine religiöse Figur, die sich auch an einen im Singular angesprochenen Gott richtet (vgl. AvT, V. 6515f., 6588f., 6658, 6669f., 6918), beim Aufeinandertreffen mit Albedacus wird sie jedoch als polytheistischen Traditionen verhaftet präsentiert (vgl. AvT, V. 4253–4260) und auch auf dem Tafelrundenturnier wird Astrot und vor Machmet (AvT, V. 19088) gehuldigt. Kottmann erklärt in Bezug auf die mittelalterlichen Aeneis-Adaptionen, dass die Verwendung der Singularform eher dem christlichen Kolorit und monotheistischen Zeitgeist der Texte entspreche und nicht eindeutig auf die Zuwendung zum christlichen Gott verweise (vgl. Kottmann, Gott, S. 80; s. auch S. 58–60). 73 Nach der Definition, die Krass in seinem Lexikonartikel anführt, sind alle apostrophischen Texte oder Redebeiträge – hier Figurenredebeiträge –, die sich an ein übermenschliches, höheres bzw. ein als solches konzipiertes Wesen richten, als Gebete zu bezeichnen (vgl. Krass, Andreas: ,Gebet‘. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte Bd. 1 A–G, 3., neubearb. Aufl., Berlin, New York 1997, S. 662–664, hier S. 662).

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oder um etwas zu bitten.74 Es handelt sich also um einzelmediale Formgebungen elementarer Empfindungen auf Grundlage des Basismediums Sprache. Das auf den Wunsch nach einem intersphärischen Kontakt verweisende Sprechen zu einer höheren Instanz ist in allen Religionen beobachtbar,75 die theologische Grundlage für die Praxis im Juden- und Christentum legt die Heilige Schrift. In den Büchern des Alten Testaments, besonders in den Psalmen, wenden sich Menschen in einer quasi-persönlich angelegten Kommunikation an ihren Gott;76 das Neue Testament erzählt vor allem über die Jesusfigur von der Möglichkeit

74 Diese Funktion hängt mit den etymologischen Wurzeln des Begriffs ,Gebet‘ zusammen. Beim Lexem ,Gebet‘ handelt es sich um ein westgermanisches Substantiv, das sich vom Verb ,bitten‘ ableitet (,beten‘ hingegen stellt eine sekundäre Ableitung zu ,Gebet‘ dar, vgl. Kluge, Etymologisches Wörterbuch, S.  337; Krass, Gebet, S.  662). Die Bitte führt Schaller neben Anbetung, Lob und Danksagung als Hauptgebetsakte auf (vgl. Schaller, Hans: Gebet. Systematisch-theologisch. In: Lexikon für Theologie und Kirche. begründet von Michael Buchberger Bd. 4 Franca– Hermenegild, 3. völlig neu bearb. Aufl., Freiburg i. Br. 2006, Sp. 313–314, hier Sp. 313). Hagby/ Hüpper benennen Bitte, Preis bzw. Lobpreis, Dank, Klage oder Bekenntnis als Grundintentionen des Betens (vgl. Hagby, Maryvonne/Hüpper, Dagmar: Gebete als dialogische Reden. Die Königstochter von Frankreich [1400] und die Belle Hélène de Constantinople [14. Jahrhundert]. In: Sprechen mit Gott. Redeszenen in mittelalterlicher Bibeldichtung und Legende. Hrsg. von Nine Miedema/Angela Schrott/Monika Unzeitig, Berlin 2012 [Historische Dialogforschung 2], S. 191–214, hier S. 209). Lentes fügt den Anliegen die ,Memoria‘ hinzu und verweist darauf, dass dies nicht nur im Sinne der Fürbitte, also im Hinblick auf das Totengedenken gilt (vgl. Lentes, Thomas: Gebetbuch und Gebärde. Religiöses Ausdrucksverhalten in Gebetbüchern aus dem Dominikanerinnen-Kloster St. Nikolaus in undis zu Straßburg [1350–1550], Münster 1996, S. 26 und s. u.). Die aufgezählten dominanten Intentionen stellen eine Möglichkeit der näheren Beschreibung dar, auf die im Einzelfall zurückgegriffen wird, Ausgangspunkt eines trennscharfen Bezeichnungssystems können sie aber nicht sein (vgl. Lutz, Rhetorica divina, S. 109–112). 75 Vgl. Schaller, Gebet, hier Sp. 313, der seinen Ausführungen voranstellt, Beten werde in allen Religionen als sinnvoll angesehen. Vgl. auch Hagby/Hüpper, Gebete, S. 191, die das Gebet als in allen Religionen zu beobachtenden Ausdruck menschlicher Zuwendung zur Gottheit bezeichnen, dabei beziehen sie sich auf Ratschow, Carl Heinz: Gebet I. Religionsgeschichtlich. In: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 12 Gabler–Gesellschaft V, Berlin/New York 1984, S. 31–34, S. 31. Dort heißt es gleich im ersten Satz: „Das Gebet ist allen Religionen als Ausdruck menschlicher Zuwendung zur Gottheit eigen. […] Das Gebet gehört zur religiösen Praxis der schrift- und geschichtslosen Völker ebenso wie zu den Hochreligionen. Solange wir den Menschen in seinen Religionen beobachten können, betet er zu der ihm bekannt gewordenen Gottheit.“ Auch das breite Spektrum dargestellter Gebetssituationen in den Texten legt diese Universalität nahe, kann allerdings auch als eine Übertragung christlicher Vorstellungen auf die dargestellten nichtchristlichen Kulturen gelesen werden (s. Anm. 6/72). 76 Vgl. Wahl, Otto: Gebet. Biblisch-theologisch. Altes Testament. In: Lexikon für Theologie und Kirche. begründet von Michael Buchberger Bd. 4 Franca–Hermenegild, 3. völlig neu bearb. Aufl., Freiburg i. Br. 2006, Sp. 309–310, hier Sp. 309.

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und Wichtigkeit des Sprechens zu Gott.77 Aufgrund der dem Gebet zugeschriebenen zentralen Funktion im Christentum nimmt das Beten einen festen Platz in der monastischen Tradition des Mittelalters ein;78 auch in anderen Bereichen des mittelalterlichen Lebens spielt es eine wichtige Rolle. Auf eine ausführlichere Auseinandersetzung mit dem weder religions- noch literaturwissenschaftlich hinreichend untersuchten Phänomen des Gebets79 wird an dieser Stelle verzichtet. Relevant im Hinblick auf den medientheoretischen Fokus der Arbeit sind ausschließlich Überlegungen zur transgressiv-kommuni­kativen Funktion, die diese Form des Sprechens bestimmt.80 Der Bedeutung des Betens entsprechend ausgeprägt sind im Mittelalter die sprachlichen wie außersprachlichen Konventionen, in die Gebete wie andere

77 Die frequenten Verweise auf das Beten durch Jesus sowie die Darstellung der jeweils an wichtigen Wendepunkten und Entscheidungen platzierten Gebete Jesu unterstrichen die Bedeutung und den Rang, den das Gebet in Leben und Auftrag Jesu einnehme (vgl. Untergassmair, FranzGeorg: Gebet. Biblisch-theologisch. Neues Testament. In: Lexikon für Theologie und Kirche. begründet von Michael Buchberger Bd. 4 Franca–Hermenegild, 3. völlig neu bearb. Aufl., Freiburg i. Br. 2006, Sp. 310–311, hier Sp. 310). Dabei führt er die folgenden Bibelpassagen als schlagendste Beispiele an: Lk 2,41–52; Joh 2,13; 5,1; 6,4; Mk 11,1–11par.; Lk 4,16; Lk 3,21; Lk 5,16; Lk 22,41–45; Lk 23, 46; Lk 6,12; Lk 22,32: Lk 23,42; Mk 14,36. Durch den Gotteskindstatus der Menschheit, den Jesus verkörpere, veranschauliche sein Vorgehen die Möglichkeit, sich an Gott als Vater zu wenden (vgl. hier Sp. 311; Schaller, Gebet, S. 313). 78 Vgl. Weismayer, Josef: Gebet III. Historisch-theologisch. In: Lexikon für Theologie und Kir­ che. begründet von Michael Buchberger Bd. 4 Franca–Hermenegild, 3. völlig neu bearb. Aufl., Freiburg i. Br. 2006, Sp. 312–313, hier Sp. 312. 79 Vgl. Krass, Gebet, S.  662f.; Lutz, Rhetorica divina, S.  138; Linke, Elisabeth: Die Gebete in Morant und Galie (mit einem Zusatz von Theodor Frings). In: PBB 73 [1951], S. 124–175). Die Ergebnisse beider Arbeiten bezüglich des Aufbaus der inserierten Gebete fasst Lutz, Rhetorica divina, S. 153f. zusammen. Auch aus religionswissenschaftlicher Sicht scheint es dem Lexikonbeitrag Gensichens zufolge noch keine umfassenden Untersuchungen des Phänomens zu ge­ ben (vgl. Gensichen, Hans-Werner: Gebet. Religionswissenschaftlich. In: Lexikon für Theologie und Kirche. begründet von Michael Buchberger Bd. 4 Franca–Hermenegild, 3. völlig neu bearb. Aufl., Freiburg i. Br. 2006, Sp. 308–309, hier Sp. 308). Ein von Mirko Breitenstein und Chris­ tian Schmidt herausgegebener Themenband zu Theorien und Praktiken des Gebets in Mittelalter und Früher Neuzeit soll im November 2019 erscheinen (s. https://www.hsozkult.de/event/ id/termine-36772 [21. Februar 2019]). 80 Zunächst in den Hintergrund gerückt wird hier ein von Thomas in der summa theologiae als Hauptfunktion des Gebets zur Sprache gebrachter, weder zu vernachlässigender noch von der angenommenen transsphärischen Interaktionsfunktion strikt zu trennender Aspekt. Ihm zufolge dient das Beten vor allem der damit vollzogenen internen Vergegenwärtigung der göttlichen Heilstaten und damit einer Praxis der Gottesverehrung. Das macht plausibel, inwiefern das Gebet als Memorialleistung über das Totengedenken hinaus zu verstehen ist (vgl. Gensichen, Gebet, hier Sp. 308; er bezieht sich dabei auf die summa theologiae II-II,83,3). Diesen Aspekt hebt auch

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Sprachhandlungen eingebettet sind,81 sowie die von diesen nicht sauber zu trennenden theoretischen Reflexionen über das Beten. Die theoretisch-theo­logischen Auseinandersetzungen mit Sinn, Zweck und Form des richtigen Betens im christlichen Verständnis, die in monastischer und mystischer Tradition stehen, sind hier nicht im Einzelnen wiederzugeben.82 Die Bibel präsentiert eine Vielzahl kanonischer oder exemplarischer Gebete,83 die für die mittelalterliche Gebetspraxis prägend sind;84 ihnen entstammen Ansätze zur Gebetsklassifizierung85 und Schilderungen von Gottes Entgegnung. Die Passagen geben entweder direkt oder über die Darstellung betender Menschen Auskunft über die Regeln und Prämissen, nach denen zu beten ist, und lassen sich durch einen Gläubigen wie Kom-

Lentes hervor: „Beten bedeutete sich zu erinnern – der Toten zu gedenken und bittend für sie einzutreten. Die kulturellen Leistungen dieser Memoria sind auf breiter Basis erforscht. Doch beschränkte sich die Memorialleistung beim Beten keineswegs auf den Gedenkdienst für die Toten. Jegliches Beten beinhaltete einen Akt des Erinnerns, und die Imaginationsleistung der Beter war auf diese Memoria hin geordnet“ (Lentes, Gebetsbuch, S. 26). Vgl. zum Erinnern als Rückgriff auf transzendente, nicht selbst erlebte Inhalte Wandhoff, Ekphrasis, S. 31; s. Anm. 5/267. Der Erinnerungsaspekt des Betens nimmt ab dem zwölften Jahrhundert in der theoretischen Auseinandersetzung mit Gebeten und ihren Funktionen im Umfeld der mystischen Bewegung eine besonders prominente Stellung ein (vgl. Lentes, Gebetsbuch, S. 26). 81 Vgl. Hagby/Hüpper, Gebete, S. 194f. Einen Einblick in die (spät-)mittelalterliche Gebetskultur erarbeitet Lentes in seiner Auseinandersetzung mit spätmittelalterlichen Gebetsbüchern (s. Lentes, Gebetsbuch, für eine allgemeine Einführung S. 11–35). 82 Besonders die mystischen Erfahrungen entstammende Konzeptualisierung des Gebets als alle Differenzen auflösende unio (vgl. zum mystischen Verständnis des Gebets als inneren Vorgang der Vereinigung des menschlichen mit dem göttlichen Geist Lentes, Gebetsbuch, S.  30; für eine ausführlichere Auseinandersetzung mit der Konzeption des Gebets bei Meister Eckhart Löser, Freimut: Oratio est cum deo confabulatio. Meister Eckharts Auffassung vom Beten und seine Gebetspraxis. In: Deutsche Mystik im abendländischen Zusammenhang. Neu erschlossene Texte, neue methodische Ansätze, neue theoretische Konzepte. Kolloquium Kloster Fischungen 1998. Hrsg. von Walter Haug/Wolfram Schneider-Lastin, Tübingen 2000, S. 283–316) scheint für die Textpassagen, die hauptsächlich von einem lauten Sprechen zu Gott und nicht einer unmittelbaren Erfahrung von Gott berichten, weniger relevant zu sein. 83 Dabei übernehmen die einzelnen religiösen Texte bereits untereinander Gebetstexte. So entstammen viele Gebetsworte Jesu, ihrerseits Vorlage für mittelalterliche Gebete, Psalmen aus den jüdischen Gebetssammlungen (vgl. Untergassmair, Gebet, hier Sp. 310; Lutz, Rhetorica divina, S. 113, 115). Die Überlieferung christlicher Gebete außerhalb der Bibel wird ab dem späten sechsten Jahrhundert breiter (vgl. Wahl, Gebet, hier Sp. 309). 84 Vgl. Lutz, Rhetorica divina, S. 113, 115. 85 Erste Ansätze seien bereits bei Paulus (Col 3,16f./Eph 5,19f.) zu finden. Es entsteht daraus jedoch keine umfassende Typologie (vgl. hier S. 109).

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munikationsregeln der Transzendenz lesen.86 Die Anlage exemplarischer Gebete erfolgt nach dem Vorbild zwischenmenschlicher, also dialogisch-strukturierter Kommunikationen.87 Dabei ist das Sprechen zu Gott formal zunächst ein monologisches, richtet es sich doch nicht an ein physisch vorhandenes Gegenüber. Die Konzeption des Betens als gesprächsbasiertem Kontakt zur Transzendenz, welche sowohl die mittelalterliche Theorie als auch die Gebetspraxis bestimmt,88 beruht auf der Prominenz einer körperlichen Vorstellung Gottes, Jesus’ und der Heiligen im Mittelalter.89 Der oder die Betende setzt einen solchen Gesprächspartner – so die historische Dialogforschung – ähnlich wie beim Briefschreiben als präsent und aufnahmebereit voraus, ohne dass dieser sich in Sprachhandlungen direkt äußern müsste.90 Daher richten sich die Anweisungen zum richtigen Beten an den Konventionen immanenter Kommunikation aus. Wird transsphärische Interaktion als Gespräch mit einem quasi-physisch konzipierten, aber physisch augenscheinlich abwesenden Adressaten verstanden, so können die einzelnen Komponenten des Betens mediale Instanzen in Gesprächsersatzfunktion91 – die Stimme als Bote

86 Aufmerksam auf die Diskurstraditionen zur richtigen Gesprächseröffnung und -beendung sowie zum angemessenen Bitten, die sich in literarischen Gebeten zeigen, machen Miedema, Nine/Schott, Angela/Unzeitig, Monika: Einleitung. In: Sprechen mit Gott. Redeszenen in mittelalterlicher Bibeldichtung und Legende. Hrsg. von dens., Berlin 2012 (Historische Dialogforschung 2), S. 1–12, hier S. 3f. 87 „Der Mensch als zu einem Anderen sprechenden Wesen kann sich auch Gott als dem Anderen nur dialogisch nähern und erfasst Gott als dialogisch agierenden Zuhörer und Gesprächspartner“ (hier S. 5). 88 Mit Augustinus fasst eine zentrale geistliche Autorität das Gebet als Gespräch bzw. Aussprache mit Gott: Lentes bezieht sich in seinen Ausführungen dazu auf Augustinus Enn. in Ps. 85 n. 7 (CCSL 118f.): Oratio tua locutio est ad deum: quando legis, deus tibi loquatur; quando oras, deo loqueris (hier zit. n. Lentes, Gebetsbuch, S. 28, Anm. 1). 89 „Mit Gottvater, Jesus Christus, Maria, den Engeln und allen Heiligen wurde geradezu face-toface kommuniziert“ (hier S. 11). Alle mittelalterlichen Definitionen des Gebets, die Imagination der Kommunikation mit ihnen auf einer körperliche Wahrnehmungsebene setzten diese Vorstellung voraus, so hier S. 28. Theologisch gerechtfertigt werden könne diese Annahme mit der Erschaffung des Menschen nach Gottes Ebenbild (vgl. Miedema/Schott/Unzeitig, Einleitung, S. 5). 90 Vgl. Hagby/Hüpper, Gebete, S. 191f. Das Gebet werde wie ein Gesprächsbeitrag auf das Gegenüber ausgerichtet. Ein typischer Hinweis auf die dialogische Funktion, die einem Sprechakt innewohnt, sei die Anrede oder die Verwendung von Pronomen in der zweiten Person (vgl. hier S. 197). Die Annahme der dialoghaften Inszenierung von Gebeten, auf die die Transzendenz auch durch Eingebungen antwortet, bestätigen sich offenbar in ihrer Analyse der Belle Hélène de Constantinople und Die Königstochter von Frankreich (vgl. hier S. 204). 91 Zur Gesprächsersatzfunktion der medialen Form des Briefes s. Kap. 4.3.1. In Bezug auf die Übertragung dieser Vorstellung auf das Gebet s. Lentes, Gebetsbuch, S. 32.

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und der Gebetsinhalt als Brief92 – verstanden werden. Folglich ist in jenen Disziplinen, die sich dem richtigen und vorbildlichen Sprechen und Formulieren widmen, nach Hilfestellungen bei der Gestaltung dieser spezifischen Rede zu suchen. Die mittelalterliche Auseinandersetzung mit der Gebetspraxis bringt daher nicht nur eine Hierarchie von Gebetstexten,93 sondern auch eine Rhetorik der Rede mit Gott hervor, die sich an die Briefschreibelehren (ars dictaminis, s.  Kap.  4.3, Anm. 4/97) anlehnt und sich damit auf das Aufbauschema bezieht, das die antike Rhetorik für Gerichtsreden entwickelt.94 Im Anschluss an eine weit zurückgehende Traditionslinie der Verknüpfung von Gebet und Rhetorik95 formuliert

92 Diesen Vergleich legt Wilhelm von Auvergne seiner ars oratoria (s. u.) zugrunde: „Brief und Gebet haben beide die Aufgaben von Boten“, heißt es bei Lutz, Rhetorica divina, mit Verweis auf Guilemus, Rhet. DiV. S. 375bA-B. Lentes elaboriert: „Der Bote (die Stimme beim Gebet, die vox) werde stellvertretend vom Beter an das himmlische Konsistorium gesandt, um dort durch den Brief (die Inhalte des Gebetes, die verba) als advocatus & propugnator für den Beter einzutreten. Freilich repräsentiert der Bote den Beter selbst. Durch den Boten, das Gebet, ist der Beter persönlich vor dem Angesicht Gottes gegenwärtig“ (Lentes, Gebetsbuch, S. 32). 93 Humbertus de Romanis entwickelt eine Hierarchie der Gebetstexte, an deren Spitze das Paternoster, das Ave Maria, das Credo, das Salve Regina – die aus dem Himmel selbst stammenden Gebete – stehen (vgl. Lentes, S.  34). Aus der privilegierten Stellung des Paternoster und der daraus erwachsenen Vaterunser-Exegese ergibt sich auch dessen Wahrnehmung als paradigmatisches Gebet (vgl. Lutz, Rhetorica divina, S. 127). 94 Wilhelm von Auvergne geht dabei ausschließlich von lateinischen Gebeten aus und berücksichtigt volkssprachliches Beten nicht (vgl. Lentes, Gebetsbuch, S. 34). Die Konzentration auf lateinische Gebetstexte beruht auf der Annahme, es komme vornehmlich auf die Form bzw. die Formulierung an. So sei bis ins vierzehnte/fünfzehnte Jahrhundert als zweitrangig betrachtet worden, ob der oder die Betende den Inhalt des Gebetstextes versteht (vgl. hier S. 35). Es lässt sich dennoch eine Orientierung der volkssprachigen Gebete an den für das Lateinische formulierten Normen annehmen, da sie hauptsächlich den Aufbau und nicht spezielle Wendungen betreffen (für eine umfassende Auseinandersetzung mit der rhetorischen Gliederung des Gebets s. Lutz, Rhetorica divina, S. 131–137). 95 Sie ist bereits in Paulus’ 1. Brief an Timotheus (Tim 2,1) zu beobachten und wird durch Texte wie De Oratione des Origines, De institutione virginis des Ambrosius und De sacramentis des Pseudo-Ambrosius weiter ausgebildet (vgl. Lutz, Rhetorica divina, S. 120–127, zu dem von Origines erarbeiteten Gebetsaufbau S. 121–124, die Bezeichnung als Vorläufer der Wilhelmschen Gebetsrhetorik S. 136f., zu Ambrosius und dem Traktat des Pseudo-Ambrosius S. 125f.). Auf Grundlage seiner Lektüren hält Lutz fest, dass bereits vor Wilhelm Verknüpfungen zwischen weltlicher und geistlicher Oratorik hergestellt wurden, die vor allem auf der Verbreitung des rhetorischen Wissens in der Gelehrtenkultur zurückzuführen sind: „Die Selbstverständlichkeit, mit der in diesen beiden Texten [gemeint sind der Ambrosiustext und der des Pseudo-Ambrosius] die Verbindung zwischen geistlicher und weltlicher oratio in die Ausführungen über die Form des Gebets einbezogen wird, ist für den Grad rhetorischer Bewußtheit im Gebet bezeichnender als ein breit angelegter Vergleich zwischen Rede und Gebet es sein könnte. Denn hier wird deutlich, daß die rhetorische Struktur des Gebets offenbar schon mit wenigen Sätzen verständlich gemacht,

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Wilhelm von Auvergne96 in seiner Rhetorica divina, sive ars oratoria eloquentiae divinae (um 1240) erstmals programmatisch97 aus der weltlichen Rhetorik abgeleitete Maßstäbe fürs richtige Beten, eine ars oratoria.98 In der Übertragung des ursprünglich auf Persuasion ausgelegten Aufbauschemas (exordium – narratio – petitio – confirmatio et infirmatio – conclusio)99 auf religiöses Sprechen, dessen Ziel nicht das Überreden des Gegenübers, sondern die Vorbereitung auf den Empfang des Erbetenen sein soll, erhalten die Begriffe für die klassischen Redebestandteile jeweils andere Bedeutungsnuancen. Die Anrufung, die zunächst noch aus einem magischen Verständnis heraus die Unterstützung Gottes he­rausfordert und sich schließlich zur typischen Einleitungsformel wandelt,100 soll demzufolge nicht nur ein Kommunikationsangebot darstellen, sondern das Verhältnis der Kommunikationspartner – in diesem Falle das eindeutige Gefälle zwischen Kommunikationsinitiator und intendiertem Empfänger – angemessen und in einer Weise, die wohlwollend – in diesem Falle gnädig – stimmt, zum

die Präsenz rhetorischen Denkens vorausgesetzt werden konnte. Rhetorische Form vertrug sich eben durchaus mit den Erwartungen, die man dem Inhalt des Gebets und der Haltung des Betenden entgegen brachte“ (Lutz, Rhetorica divina, S. 126f.). 96 Zur Datierung um 1240 verweist Lutz auf Lingenheim, Jérôme: L’Art de prier de Huillaume d’Auvergne, Lyon 1934, S. 19 (zit. n. Lutz, Rhetorica divina, S. 118). 97 Vgl. Lutz, Rhetorica divina, S.  128. Erst Wilhelm übernehme die bei Cicero geprägten Bezeichnungen der partes orationis rhetoricæ für das Gebet (vgl. hier S. 131). Kurz zuvor entsteht durch Gunther von Paris um 1205 De oratione, jejunio et eleemosyna (Datierung nach Lingenheim S. 141 [s. Anm. 6/96, zit. n. Lutz, Rhetorica divina, S. 128]), welches viele Unterschiede zu Wilhelms Werk aufweist, jedoch ebenso den Vergleich des Gebets und der Gerichtsrede anführt, was Lutz zu dem Schluss führt, die Vergleichbarkeit sei ein bereits bekannter Gedanke, den beide unabhängig voneinander aufnehmen (vgl. hier S. 128–130). 98 Vgl. Lentes, Gebetsbuch, S. 31. Es handle sich dabei um „[d]ie reflektierteste und in ihrer Art einzigartigste Rhetorik des Gebetes“ (ebd.). Obwohl dieser Text die erste Rhetorik des Gebets darstellt, empfindet sich Wilhelm nicht als Begründer. Er zeige sich erstaunt, dass er noch nicht auf eine solchartige Rhetorik gestoßen sei und als erster eine solche verfasse, da er keinen Zweifel an ihrer ständigen Anwendung habe (vgl. Lutz, Rhetorica divina, S. 119f.). 99 Vgl. Lentes, Gebetsbuch, S.  31 mit Verweis auf Wilhelms von Auvergne Rhetorica divina 338aH-338bE. In dieser Aufzählung verändert er einige der bei Cicero gebräuchlichen Begriffe, es sei aber davon auszugehen, dass das nicht eine Abwandlung im Hinblick auf das Gebet darstellt, sondern Änderungen sind, die Wilhelm auch für die weltliche Rede propagiert. Ob diese Änderungen von Wilhelm selbst stammen oder bereits übernommen wurden, ist unklar (vgl. Lutz, Rhetorica divina, S. 131). 100 Ursprünglich sei die invocatio im Alten Testament noch ein magisches Verfügen über Gott. Indem man ihn laut anspreche, beschwöre man Gott und dessen Hilfe. Bereits in den Psalmen sei aber die Wandlung zur Einleitungsformel zu beobachten (vgl. Lutz, Rhetorica divina, S. 131). Wilhelm bezeichnet es als angemessen, ein Gebet mit Lob und Dank zu beginnen (vgl. hier S. 132 mit Bezug auf Wilhelms von Auvergne Rhetorica divina 339aA/B).

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Ausdruck bringen.101 Unter die narratio fallen das Sündenbekenntnis, Bitte um Vergebung sowie Anamnese-Passagen,102 die petitio besteht klassischerweise aus dem Ansinnen, von den eigenen Fehlern erlöst bzw. vor ihnen bewahrt zu werden oder aber aus Bitten um bestimmte Gaben.103 Während die unausgeführte Erwähnung der confirmatio bzw. informatio104 offenbar nur dem Abgleich mit dem rhetorischen Gerichtsredeschema dient,105 schreibt Wilhelm der conclusio eines Gebets die Funktionen der Bekräftigung und Zusammenfassung zu, die Gott der Entscheidung über Gewähren oder Verweigern der erbetenen Hilfe zur Grundlage dienen.106 Die Tatsache, dass es Zeugnisse solch detaillierter Überlegungen über das richtige Beten gibt, zeigt, dass das Sprechen zu Gott zumindest in theologischen Auseinandersetzungen als intrikates mediales Unterfangen, als spezifische Formgebung der Gedanken und Empfindungen der oder des Betenden für die Mitteilung gegenüber Gott, verstanden wurde, das wie das Formulieren einer Rede oder eines Briefs mit Sorgfalt durchzuführen ist. Wenn auch nicht von einem Komponieren literarischer Gebete rein nach dem beschriebenen Modell auszugehen ist, da unterschiedliche Denkmuster des Religiösen und verschiedene Diskursdomänen107 neben- und gegeneinander auf die Literatur des Mittelalters wirken, so

101 Das bedeutet in diesem besonderen Verhältnis der Ausdruck des Glaubensbekenntnisses (vgl. hier S.  131 mit entsprechenden Literaturverweisen zur invocatio). Lutz fasst zusammen: „Das exordium des Gebets hat also wie die Einleitung der Gerichtsrede die Aufgabe einer captatio benevolentiæ. Es beginnt meistens mit einer invocatio, einer einfachen Anrede Gottes, die bereits als Bekenntnis oder Lobpreis verstanden werden muß und durch eine Bitte um den rechten Anfang erweitert werden kann; Lob und Dank bilden eine traditionsreiche gebetstypische captatio benevolentiæ und können sehr ausführlich gehalten sein“ (hier S. 133). 102 Vgl. hier S. 133. 103 Vgl. hier S. 134. 104 Wilhelm macht über diese kaum inhaltliche Aussagen (vgl. hier S.  135). Beispielsweise scheint nicht eindeutig zu sein, ob es sich bei der die beiden Begriffe verbindenden Formulierung um nur einen Bestandteil der Rede oder um zwei voneinander geschiedene handelt (vgl. hier S. 131). 105 So erklärt sie sich zumindest hier S. 135. Die infirmatio habe in einem Gebet rein theoretisch keinen rechten Platz, da der Gegenredner der Gerichtsrede fehle. 106 Vgl. hier S. 136. 107 Mit ,Diskursdomänen‘ meinen Miedema, Schrott und Unzeitig die verschiedenen Bereiche, in denen das richtige Sprechen in argumentativer oder hierarchischer Hinsicht thematisiert wird und die alle Einfluss auf literarische Rede ausüben. Als Beispiele nennen sie den Bereich des Rechts oder aber den des Religiösen. Die darin entwickelten Vorgaben würden in die Erzähltexte – selbstverständlich nicht ohne literarisch bedingte, vor allem gattungsbedingte Transformation – übertragen (vgl. Miedema/Schott/Unzeitig, Einleitung, S. 6).

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kann rhetorisches Grundwissen doch als einflussreich für literarische Gebete in mittelhochdeutscher Epik aufgefasst werden.108 Nicht jeder Textpassage des Apollonius oder des Reinfried, in der ein Gebet einer Figur wiedergegeben wird, kann ein spezifisches Interesse an der rhetorischen Gestaltung eines solchen immanenten Kontaktangebots unterstellt werden. Die eingangs angesprochene Passage des Reinfried von Braunschweig zeugt jedoch recht eindrücklich von einer Sensibilität für die Schwierigkeit des richtigen Betens. Schon die Erwähnung der Gebetspraxis Reinfrieds präsentiert das Beten als eine Fähigkeit, die gezielt erworben und beherrscht werden kann. Es heißt: der werde fürst ouch kunde mit ernestlîchen sitten got flêhen unde bitten umb eins rehten erben art. swaz in ie gelêret wart, daz sach man in leisten (RvB, V. 13180–13185)

Eine Bitte an Gott heranzutragen, Kummer und Wünschen Ausdruck zu verleihen, kann und will – so legt diese Aussage nahe – gelernt sein. Noch deutlicher tritt das Interesse für die Kunst des angemessenen und erfolgreichen Betens in der sich auf knapp zweihundert Verse erstreckenden Figurenrede Yrkânes (vgl.

108 So heißt es bei Lutz: „Selbstverständlich soll auch an dieser Stelle nicht behauptet werden, daß man von der bewußten Anwendung rhetorischer Baugesetze auf die Gebete der mittelalterlichen Epik auszugehen habe; gerade von den Autoren der frühen weltlichen Epik ist dies am allerwenigsten zu erwarten. Andererseits wird man nicht daran zweifeln können, daß die beschriebenen vielseitigen, oft unbewußten Einflüsse der rhetorischen Kultur, d. h. ,natür­licher‘ und durch schulische Übung auch alltägliche Praxis verstärkter Rhetorik, gerade in der Dichtung, also bei bewußter, sorgfältiger sprachlicher Gestaltung von größerer Bedeutung waren. Dies gilt auch für das literarische Gebet des 12./13. Jh.s“ (Lutz, Rhetorica divina, S. 155). Weiter heißt es: „Wir können nach unseren bisherigen Untersuchungen davon ausgehen, daß im Mittelalter Denken, Reden und Schreiben jedes (auch nur durchschnittlich) Gebildeten der Prägung durch rhetorische Kultur ausgesetzt waren und dieser Einfluß rhetorischer Strukturen gerade im 12./13. Jh. auf allen Gebieten wahrgenommen und beschreiben wurde. Diese Umstände lassen erwarten, daß dem sorgfältig vorgehenden Verfasser eines (literarischen) Bittgebets für sein Vorhaben eine Form angemessen erscheinen mußte, die etwa der des nach Situation und Anliegen dem Gebet verwandten Briefs entsprach. Damit ist nicht besagt, daß dem Dichter diese Verbindung zwischen Gebet und Brief bewußt war; aus seiner Vertrautheit mit dem Aufbau des Briefes standen ihm aber mehr oder minder bewußte allgemein theoretische Richtlinien für seine Vorgehen zur Verfügung“ (hier S. 157). Dabei weist er darauf hin, welch vielfältige Gestaltungsmöglichkeiten sich auch innerhalb dieses Schemas eröffnen (vgl. hier S. 158f.).

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RvB, V. 12975–13172) zutage.109 Die Darstellung konzentriert sich in dieser Passage ganz auf die Art und Weise des Sprechens zu Gott, indem sie das Gebet als (Rede-)Text inszeniert. Die sonst stets präsente Erzählinstanz wird vollkommen zurückgenommen und die Rede ohne Kommentare oder zwischengeschobene Verweise auf die äußeren Umstände dieses Sprechens – Komponenten wie Klang und Dynamik der Stimme, Körperhaltung oder Bewegungen – wiedergegeben.110 Neben den rhetorischen Raffinessen, die das Gebet vor Augen führt, lassen sich aus dieser umfangreichen Darstellung auch die verschiedenen handlungslogischen, narrativen und diskursiven Funktionen einer dargestellten Gebetsrede herausarbeiten. Diese treten bei den anderen Figurengebeten im Untersuchungsrahmen jeweils einzeln in den Vordergrund und bringen in der Summe das überraschend vielfältige (medien-)diskursive und erzählerische Potenzial der medialen Form zum Vorschein. Das umfangreiche Gebet Yrkânes stellt die Urheberin ähnlich wie deren Brieftexte (s.  Kap.  4.3.2, 4.3.3) als medial kompetent und als vertraut mit den Techniken und Zielen einer guten (Gebets-)Rede dar. Yrkâne beginnt ihr Gebet mit einem klassischen Gebetseingang, mit invocatio und exordium in der Funktion einer captatio benevolentiae. Sie verwendet einen Ausdruck, der emotionale Erregung suggeriert,111 und verbindet diesen mit einer ersten namentlichen Apostrophe des Angesprochenen: ei Crist (RvB, V. 12974). Der intendierte Empfänger dieses Kommunikationsprozesses, der gleichzeitig als Adressat eines emotional besetzen Anliegens gekennzeichnet wird,112 ist damit festgelegt. Yrkâ­nes Gebet

109 Diese kennzeichnen der Bezug auf andere gebet (RvB, V. 13166), die vorweg erwähnte Richtungszuweisung des Sprechaktes ze gote (RvB, V.  12973) sowie die enthaltenen Apostrophen (Crist, RvB, V. 12974; minneclîcher zarter got; RvB, V. 13070; hôhgelopter got, RvB, V. 13163) eindeutig als Sprechen zu Gott. 110 Was allein deutlich wird, ist das laute Entäußern der Rede (sprach sî, RvB, V. 12975). Einen Hinweis auf die klangliche Qualität und gleichzeitig eine Spezifikation des Gebets als Klage gibt die Redeeinleitung: sî weinde/ze gote bitterlîche (RvB, V. 12972f.). Im Gebet selbst erfolgt keine explizite Benennung als Klage. Einmal kommt die Spezifikation als bete (RvB, V. 13157) zur Sprache, die auch nachträglich von der Erzählinstanz als Bezeichnung gewählt wird (RvB, V. 13174, 13178). Das einmalig erwähnte Weinen ließe sich außerdem als Verweis auf die richtige, emotional erregte Haltung während des Betens lesen. Als einen solchen stufen Hagby und Hüpper bei ihren Beispielen das Weinen der Betenden ein (vgl. Hagby/Hüpper, Gebete, S. 199). 111 Monika Schwarz-Friesel bezeichnet solche Interjektionen als ,emotionsausdrückende Wörter‘, in der der „expressive Ausdruck der emotiven Einstellung des Sprachproduzenten“ versprachlicht wird (Schwarz-Friesel, Monika: Sprache und Emotion, 2. akt. und erw. Aufl., Tübingen, Basel 2013 [utb 2939], S. 151). 112 Angeredet wird in der Folge vornehmlich, wenn auch nicht durchgängig, Gott selbst. Zwischen zwei Exempeln ergeht sich das Sprecher-Ich in einer Zwischenanrufung, bei der kurzzeitig

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weist durch Pronomina in der zweiten Person Singular durchweg eine starke Ausrichtung auf diesen Adressaten auf;113 durch die verwendeten Begriffe wird die Rolle des Empfängers ständig wiederholt und manifestiert. Die sich an den ersten Ausruf anschließende umfangreiche Eingangsapostrophe fällt zusammen mit einem ersten Entwurf des Gottes, in dem Preis und Anerkennung der Allmacht zum Ausdruck gebracht werden. Die Anrede wird zu einer Mischung aus Benediktion und Doxologie,114 in der Allmachtszuschreibungen ge­genüber dem, der alliu dinc vermac (RvB, V. 12975) und in des gewalt ez allez stât (RvB, V. 12978), geäußert werden.115 Diese Allmacht wird – in Weiterführung der ausgedehnten

von Gott in der dritten Person gesprochen wird und die in der zweiten Person angeredete Instanz Maria ist. Dieser eingeschobene Fokuswechsel wird nicht begründet oder kommentiert und spiegelt sich auch kaum in der Wahrnehmung der angesprochenen Instanz wieder. Bis Vers 13072 beziehen sich die Ansprachen eindeutig auf Gott/Jesus, dann aber folgt eine Doppelansprache: minneclîcher zarter got,/und ouch diu wandel frîe/hôhgelobt Marîe,/der sêlen trôst, der sünder schilt,/sît daz du erhœren wilt/swaz dich in nœten rüefet an,/ob ich dich niht wol biten kan,/doch solt du mich erhœren/und mîne sorgen stœren/mit dîner gnâde stæte (RvB, V. 13070–13079); es folgt eine Nacherzählung von Bibelpassagen, in denen Gott in der dritten Person auftaucht (got mit sînem vinger schreip/daz himelbrôt,/dâ mite got von aller nôt/die juden hie vor wîste./vierzic jâr er spîste/sî, RvB, V. 13117–13121) und auch sonst niemand direkt adressiert wird, bevor in Vers 13154 das erste Mal wieder dîn (RvB, V. 13154) vorkommt, was einige Verse später auf Gott bezogen ist (vgl. RvB, V. 13158, 13163). Von da an wird die vorherige Haltung konsequent weitergeführt. Die Zeichnung der Maria entspricht in etwa der anderen angesprochenen Instanz. Auch sie kann Gehör schenken, Sorgen auflösen und Gnade verleihen (vgl. RvB, V. 13077–13078, s. auch V.  13080, V.  13080–13083). Hervorgehoben wird lediglich ihre Mittlerposition, die sie zu einer Fürsprecherin und Trösterin der Menschen (diu wandel frîe/hôhgelobt Marîe,/der sêlen trôst, der sünder schilt, RvB, V. 13071–13073), zur Ansprechpartnerin macht, die geneigt ist, die Bitten der Leidenden aufzunehmen (sît daz du erhœren wilt/swaz dich in nœten rüefet an,/ob ich dich niht wol biten kan, RvB, V. 13074–13076). 113 S. du (RvB, V. 12991, 12992, 12996, 13037, 13156, 13164, 13170); dîn/dîne/dînen (RvB, V. 12982, 12992, 12997, 13004, 13035, 13045, 13049, 13052, 13053, 13058, 13069, 13154, 13162); dich (RvB, V. 13015). Ihre Rede rutscht in ihrem Bezug zu Gott abgesehen von der anfänglichen Apostrophe nur einmal kurz in die dritte Person (vgl. RvB, V. 13065). Anrede und Verwendung von Personalpronomina in der zweiten Person können als Hinweis auf die dialogische Funktion und Nähesprachlichkeit des formal monologischen Gebetstextes verstanden werden (vgl. Hagby/Hüpper, Gebete, S. 197 sowie Anm. 6/90). 114 In Form der Benediktion wird in der dritten Person von Gott gesprochen. Sie folgt dem Schema „Gelobt sei Gott, der ... hat“ (vgl. Lutz, Rhetorica divina, S. 112). Die Doxologie zeichnet sich durch das Rühmen göttlicher Werke, der Schöpfung etc. aus (vgl. hier S.  113), lässt sich also besonders gut mit der Form, die der Benediktion eigen ist, verbinden. 115 Die beispielhafte Ausgestaltung der Macht erfolgt in den Versen 12975–12981. Zuvor heißt es bereits, er besitze auch die kraft, alle Dinge zu ordnen (vgl. RvB, V. 12976f.).

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Apostrophe – mit konkreten Beispielen untermauert.116 Untrennbar von diesem Gottesentwurf ist die gleichzeitige Konstitution des sprechenden Ichs als Gläubige, da diese Formulierung zugleich das Bekenntnis zu diesem Entwurf enthält. Yrkânes Rede baut im Folgenden maßgeblich auf diesen Entwürfen der gütigen göttlichen Instanz und der ergebenen Gläubigen auf. Diesem Eingang, der die grenzenlosen Möglichkeiten der göttlichen Handhabe akzentuiert, folgt eine Frage, die der Schöpfungskraft ein ernüchterndes Einzelbeispiel – das Sprecher-Ich117 – entgegenstellt und von einer gewissen Enttäuschung zeugt. Fast klingt die Frage wie hât dîn süezer trôst allein/mich unberhaft gelâzen (RvB, V. 12982f.) wie eine rhetorische Wendung, ein Vorwurf. In Verknüpfung mit der vorangegangenen Allmachtszuschreibung wird dem Angesprochenen die Verantwortung für das Schicksal der Sprecherin zugeschrieben, dem diese sich fügt. Sie spitzt die Rolle, in der der allmächtige Angesprochene adressiert wird, zunächst auf Schöpfungspotenz, dann Fruchtbarkeit und Unfruchtbarkeit im speziellen Falle zu. Dabei wird die schöpferische Fähigkeit der transzendenten Instanz nicht infrage gestellt, nur scheint diese die Fähigkeit im konkreten Fall118 nicht zu nutzen. Das Ausbleiben neuen Lebens steht nicht im Widerspruch zur Allmacht, bildet jedoch eine Opposition zur Schöpfungsmacht, die die Sprecherin zu irritieren scheint. In dieser Irritation offenbart sich ein erstes Anliegen der Senderin, die mit der Frage zunächst eine Erklärung einzufordern scheint. Doch das Gebet fährt sogleich mit einer weiteren, dieses Mal eindeutig rhetorischen Frage fort. Die sich anschließende Frage wie mac mîn nôt gemâzen/sich an mir armen iemer? (RvB, V. 12984f.), beantwortet die Sprecherin gleich selbst – nämlich nie. Erneut kommt es zu einer Entgegensetzung – dieses Mal von der Hoffnung auf Linderung (iemer, RvB, V. 12985) und Ausschluss einer glücklichen Regung (niemer, RvB, V. 12986). Diese Negation von Freude119 vermittelt unbändiges Leid, das in dem Ausschluss einer Bes­serung eine ins Unendliche weisende Perspektive erhält (vgl. RvB, V. 12986–12989). Der Charakter der Gebetsrede wird von der Bitte um Auskunft zur Klage verschoben. Das SprecherIch wirkt in der Trauer um ihre Unfruchtbarkeit, die hier zum ersten Mal in der

116 So sei der Angesprochene genialer Schöpfer der von nihte hât gemaht/swaz himels trôn hât überstraht/und swaz diu sunne ie überschein (RvB, V. 12979–12981). 117 Die diese Rede entäußernde Yrkâne wird als identisch mit dem Sprecher-Ich präsentiert. Zumindest gibt es an keiner Stelle einen Hinweis auf das Auseinandertreten der sprechenden Figur und der Sprecherinstanz des Gebets, welche auch bezügliche des Umstands, unglücklich kinderlos zu sein, übereinstimmen. 118 Die Inszenierung als Ausnahme wird deutlich in der Formulierung allein/mich (RvB, V. 12982f.). 119 [F]rôlîch mac ich niemer/unz an mîn ende werden (RvB, V. 12985f.).

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durch den Text fortgeführten Verknüpfung dezidiert als nôt (RvB, V. 12984) definiert wird,120 vollkommen hoffnungslos. Doch dieser Eindruck wird sogleich gebrochen. Das Sprecher-Ich gibt sich ebenso absolut gnadengewiss: In zweifacher Verstärkung des Verbs ,wissen‘ heißt es: und weiz doch sicherlîchen wol/daz du gnâde ân mich begâst (RvB, V. 12990f.) – eine Bestätigung des in der Anrede bezeugten Vertrauens in die Transzendenz. Hoffnungslosigkeit und Gnadengewissheit bilden erneut eine aussagestarke Opposition, die in erster Linie die Selbstinszenierung des Sprecher-Ichs als tadellose und unbeirrbare Gläubige stützt, darüber hinaus aber auch das Gottesbild nicht unerheblich erweitert. Die zwei Verse zeichnen einen Gott, der grundsätzlich gnädig agiert und dessen gutmeinendes Wirken auch in ausweglosen Situationen nicht infrage zu stellen ist. Da im weiteren Verlauf des Gebetes die späte Empfängnis als Gnadengeschenk Gottes bezeichnet wird (s. Anm. 6/120), kann diese Aussage als Ausdruck des Vertrauens auf das Wirken Gottes in der konkreten Problemlage gelesen werden. Die in den ersten achtzehn Versen entwickelten Zuschreibungen ändern sich im Laufe des Gebets kaum. Der transzendenten Instanz wird die Rolle der übergeordneten, Entscheidungen treffenden, Gebote erlassenden und durchsetzenden Kraft,121 Gnade gewährenden,122 Wunder wirkenden,123 Gebete erhörenden124 Instanz zugeschrieben – wobei mit allen Formulierungen auch auf die Potenz, Empfängnis zu gewähren, referiert wird. Ergänzt wird dieses anfangs entwickelte

120 So wird später der Zustand frühte bar enggeführt mit trôstelôs (RvB, V. 13003). Konstant ist auch die Umkehrung, die Bezeichnung der Empfängnis als Erlösung (vgl. RvB, V. 13006f.), Trost (vgl. RvB, V. 13005, 13046, 13142, 13154) oder Gnade (vgl. RvB, V. 13046–13049, 13066, 13162, sogar im Sinne von Weltenheil V. 13016). Der transzendenten Instanz wird dementsprechend die Fähigkeit, Trost zu spenden, zugeschrieben . Alle mit ,Trost‘ verknüpften Begriffe zeigen eine auffällige, wenn auch für ein Klagegebet nicht überraschende Präsenz (trôst, RvB, V. 12982, 13016, 13046, 13073, 13142, 13154; trôste, RvB, V. 13005; trôstelos, RvB, V. 13003) und dienen als sprachliche Verknüpfung der allgemeinen Trostfähigkeit Gottes mit der hier im Besonderen geforderten Macht, der Kinderlosigkeit Abhilfe zu verschaffen. 121 Das zeigt sich bspw. in der Bitte, dass er helfest mir daz ich geber‘ (RvB, V. 13172), in der Aufforderung der [Gnade der Empfängnis] lâ mich herre geniezen hie (RvB, V. 13067), in der Ansprache als herre (vgl. RvB, V. 12994, 13067, 13169), dessen Gebot zu befolgen das Sprecher-Ich verspricht (vgl. RvB, V. 130689). Konkret artikuliert wird die Regentschaft auch über die Körper der Menschen beim Beispiel der Anna (vgl. RvB, V. 13004–13007, 13035). 122 Vgl. RvB, V. 12991, 13162f., 13004, 13046–13049, 13066, 13162. Dazu gehört auch die Fähigkeit, Erbarmen zu haben und freigebig zu sein (er könne grôz erbermde [RvB, V. 12992] zeigen, sei minneclîche[] zart[] [RvB, V. 13070] und milteclîch [RvB, V. 13143]). 123 Durch die angeführten Beispiele habe Gott bereits bewiesen, dass er gegenüber seinen friun den (RvB, V. 12997) frömde[] wunder[] (RvB, V. 12995) wirken kann (vgl. RvB, V. 12995–12999). 124 Vgl. RvB, V. 13166, 13169–13172, 13131–13144.

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Bild im späteren Gebetsverlauf um die Doppelnatur Jesus’,125 die auf die Verknüpfung des Gottessohnes und des Erlösungswunders mit dem Anliegen aufmerksam macht. Die Sprecherinstanz hingegen zeigt sich als Sorgenbeladene,126 als auf Gnade Angewiesene127 und nicht zuletzt als treu ergebene und tadellos sündenfreie Gläubige.128 Letzteres stellt sie vor allem durch die Nacherzählung biblischer und apokrypher Geschichten von gottinduzierter Empfängnis älterer Frauen129 unter Beweis, die sie sowohl als biblisch bewandert ausweisen als auch Bekenntnisse zum Glauben an diese Wunder darstellen. Die Argumentation, die bereits in den ersten Versen vorgeführt wird, erhält durch die nacherzählten Geschichten inhaltlich keine neuen Argumente. Viel-

125 Kurz hintereinander folgt zwei Mal der Hinweis darauf, dass Jesus mensche und got (RvB, V. 13015) bzw. got und menschen fleisch und bein (RvB, V. 13031) sei. 126 Vgl. RvB, V. 12985, 12986–12989, 13155 sowie die für Hanna geschilderten Empfindungen, über die sie viel ausführlicher berichtet als sie von eigenen Emotionen spricht: des wart von grunt des verhes/ir herze in nôt geschicket./verleitet und verstricket/was ir süeze güete/n sendez ungemüete,/wan sî was stæteclîch unfrô (RvB, V. 13086–13091). Hanna lässt sich als Vermittlungsinstanz ihrer emotionalen Disposition verstehen, über die sie Verzweiflung zum Ausdruck bringen kann, ohne sich selbst in übermäßigen Leiddarstellungen zu ergehen und sich so hoffnungslos zu zeigen. Dass Yrkâne und Reinfried ebenso verzweifelt sind, hat die Erzählinstanz bereits vor Wiedergabe des Gebets deutlich gemacht (vgl. RvB, V. 129658–12967). 127 Vgl. RvB, V. 13045f., 13066f. 128 Die Verweise auf ihren christlichen Glauben ziehen sich durch das gesamte Gebet. So kommt es im Rahmen der Nacherzählung immer wieder zu Glaubensbekenntnissen (vgl. RvB, V. 13038–13043) und Zwischenanrufung um Gnade (vgl. RvB, V. 13044–13046, 13066–13081) inklusive der Begründung, dass sie diese Gnade verdiene. Sie zählt sich zur christlichen Gemeinschaft (die Geburt Jesu sluoc uns alle sorge nider (RvB, V. 13017), beruft sich auf der schrifte wort (RvB, V. 13095), verleiht ihrem Vertrauen gegenüber Gott Ausdruck (vgl. RvB, V. 13169–13172) und bekräftigt ihren zweifelsfreien Glauben an die Jungfrauengeburt (vgl. RvB, V. 13038f.). Dabei vertritt sie einen radikalen und absoluten Glauben, denn swer diz eine/umb ein hât misgeloubet,/daz der ist geroubet/der sêle êweclîche (RvB, V. 13040–13043) – das bekräftigt sie mit dem Beispiel des wankelmütigen Zacharias: dem kund dîn güete rouben/die sprâche sîner zungen (RvB, V. 13058f.). Als tadellos und sündenfrei stellt sie sich einerseits über den Vergleich mit Hanna, einem reinen wîbe (RvB, V. 13083), andererseits in der expliziten Aussage mîn sin nie übergie/dîn hôhez götelîch gebôt (RvB, V. 13068f.) dar. 129 Diese Nacherzählungen stehen im Zentrum. Nebenbei erwähnt sie aber auch Einzelheiten über den Tempel von Heli (dem Schauplatz der Geschichte um Anna und Elkana), in dem moyses wünschelruote/und Aarônes dürrez rîs (RvB, sowie 13106f.) sowie die Tafeln der zehn Gebote (vgl. RvB, V. 13110–13113) und das Himmelsbrot (vgl. RvB, V. 13114–13119) liegen. Sie weiß sogar zu berichten, wo genau diese Details in der Bibel nachzulesen sind: swer welle daz im werd bekant/ diz dinc ûf ein ende,/ze den fünf buochen sende/ich in die man Moysenen gît:/dâ vint er sunder widerstrît/wie wâ wenne unz ûf ein ort,/daz im gebristet niht ein wort (RvB, V. 13124–13130). Martschini wertet den zuletzt zitierten Hinweis auf die Bibel als unmarkiert eingeschobene Rede der Erzählinstanz (vgl. Martschini, Schriftlichkeit, S. 270).

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mehr dienen die Beispiele, die Yrkâne nun entfaltet, als bestätigende, vielfarbig variierende Illustrationen des bereits geäußerten, kaum zu überschätzenden Macht Gottes, Frauen, denen der Kindersegen versperrt ist, zu helfen. Ungeschickt stellt Yrkâne das nicht an. Sie bezeichnet eine späte Schwangerschaft als frömde[] wunder[] (RvB, V.  12995), das Gott bereits an anderen friunden Gottes (RvB, V.12997) aus einem Akt der Barmherzigkeit (vgl. RvB, 12992–12999) vollbracht habe.130 Daraufhin stellt sie sich über Vergleichsvokabeln wie als (RvB, V. 13046, 13045f., 13080–13085) und ouch (RvB, V. 12998, 13084) in eine Reihe mit Anna, Elisabeth und Hanna – Frauen des Alten Testaments bzw. des Protoevangeliums des Jakobus, den ouch hôher frühte tor/was versetzet und verspart (RvB, V. 12998f.)131 und deren Schicksal Yrkâne nach dem typischen Muster des Paradigmengebets132 nutzt, um für Abhilfe in ihrer eigenen Notlage zu werben.

130 Gott selbst wird nicht die Verantwortung für die Unfruchtbarkeit gegeben, ihm wird ausschließlich die Empfängnis angerechnet: frömden wunders stæte/daz du mit willen tæte/an dînen friunden lang hie vor,/den ouch hôher frühte tor/was veretzet und verspart (RvB, V. 12995–12999). Gott ist in dieser Darstellung nicht derjenige, der ihnen das Kinderglück vorenthält, sondern derjenige, der es ihnen trotz allem ermöglicht. 131 In der Kombination von ouch (RvB, V.  12298) und lang hie vor (RvB, V.  12997) kommt es außerdem zu einer Verbindung der damaligen und derzeitigen Situationen. Auf die Gleichsetzung mit Anna und die biblische Parallelstelle (LK 1,5–66) weist bereits Achnitz, Babylon und Jerusalem, S. 157 hin. 132 Yrkânes Gebet lässt sich im Anschluss an die – nicht unkritisiert gebliebene – Einteilung der romanistischen Forschung als typisches Paradigmengebet (im Gegensatz zum Konfessionsgebet) beschreiben, dessen narratio aus einer reihenden Aufzählung göttlicher Hilfe besteht und aus diesen Beispielen die Bitte um Hilfe im eigenen Dilemma ableitet. Zu Geschichte, Kritik und Entwicklung der Einteilung in Paradigmengebete und Konfessionsgebete vgl. Lutz, Rhetorica divina, S. 138–140; zu weiteren Ausführungen über die einzelnen Typen s. hier S. 140–150.

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Die drei Beispielpaare Joachim und Anna (vgl. RvB, V. 13000–13035),133 Elisabeth und Zacharias (vgl. RvB, V. 13046–13065)134 sowie Hanna und Elkana (vgl. RvB, 13082–13153)135 scheinen nach den daraus erwachsenden hôhe[][n] frühte[n] (RvB, V.  12998) ausgewählt zu sein. Denn alle Sprösslinge, die durch Gottes Eingreifen (von dînen grüezen, RvB, V.  13035) noch entstehen, sind nicht nur minneclîche(n) (RvB, V. 13014, 13060), sondern spielen auch Hauptrollen in der Umsetzung des heilsgeschichtlichen Plans, handelt es sich doch um Johannes den Täufer, den Propheten Samuel und Maria, die Mutter Jesus’. Die Sprecherin belässt es nicht bei Hinweisen auf diese besonderen Kinder, sondern beschreibt mit Nachdruck deren Exzeptionalität.136 Die Beispiele dienen damit nicht aus-

133 Legende und Namen der Eltern Marias sind erstmals im sogenannten Protoevangelium des Jakobus überliefert, das auf das zweite Jahrhundert n. Chr. datiert und dessen Ursprung in Syrien oder Ägypten vermutet wird. Dabei handelt es sich um eine Nachbildung der alttestamentarischen Geschichte von der unfruchtbaren Hanna, der Mutter Samuels (s. Anm. 6/135, vgl. Nitz, Genoveva: Anna. In: Lexikon für Theologie und Kirche. begründet von Michael Buchberger Bd. 1: A–Barcelona, 3. völlig neu bearb. Aufl., Freiburg i. Br. 2006, Sp. 689–690, hier Sp. 689; vgl. auch Hoheisel, Karl: Kindheitsgeschichte Jesu, Kindheitserzählungen 2. Apokryphe Schriften. In: Lexikon für Theologie und Kirche. begründet von Michael Buchberger Bd. 5: Hermeneutik– Kirchengemeinschaft, 3. völlig neu bearb. Aufl., Freiburg i. Br. 2006, Sp. 1450–1451). Die Erzählung wird auf das Interesse der Volksfrömmigkeit an der Mutter Gottes zurückgeführt. Die im Rahmen der Erzählung stattfindende Rückbindung an das königliche, davidsche Geschlecht sowie an eine wunderbare, göttlich herbeigeführte Empfängnis (vgl. Nitz, Anna, hier Sp. 689) unterstreicht den Eindruck der bereits pränatalen Auserwähltheit. Während die Ostkirche sich zu der Geschichte bekennt und bereits im sechsten Jahrhundert einen ausgeprägten Anna-Kult zeigt, lehnen die führenden geistlichen Denker der Westkirche die Geschichte zunächst ab; dort bleibt sie umstritten. Dass die Geschichte trotz des apokryphen Status’ des Protoevangeliums weite Bekannt- und Beliebtheit besaß, zeigen die Anna-Zyklen in der abendländischen Kunst ab dem zwölften Jahrhundert. Erst in reformatorischer Zeit ebbt Nitz zufolge die Verehrung der Mutter der Mutter Gottes ab (vgl. hier Sp. 689f.). 134 Nachzulesen im Lukasevangelium (Luk I, 25–38; vgl. außerdem Kaut, Thomas: Elisabeth. In: Lexikon für Theologie und Kirche. begründet von Michael Buchberger Bd. 3 Dämon– Fragmentstreit, 3. völlig neu bearb. Aufl., Freiburg i.  Br. 2006, Sp.  599; Wehnert, Jürgen: Zacharias. In: Lexikon für Theologie und Kirche. begründet von Michael Buchberger Bd. 10: Tho­maschristen–Žytomyr, 3. völlig neu bearb. Aufl., Freiburg i. Br. 2006, Sp. 1359–1360). 135 Nachzulesen im 1. Buch Samuel (1 Sam 1,2–2,11). Das Lexikon für Theologie und Kirche listet darüber hinausfolgende Bibelstellen als Referenz auf die Figur auf: Gen 16,1–6;30.1f.; Gen 18,10; Ri 13,3; 2 Kon 4,16; Lk 1,13; Gen 30,22 (vgl. Hentschel, Georg: Hanna. In: Lexikon für Theologie und Kirche. begründet von Michael Buchberger Bd. 4: France–Hermenegild, 3. völlig neu bearb. Aufl., Freiburg i. Br. 2006, Sp. 1184). 136 Vgl. RvB, V. 13062–13064, 13050–13054, 13146, 13148–13153. Bei Maria holt sie am weitesten aus und gibt zu bedenken, dass das durch Gott bewirkte Kind der eigenen Menschwerdung diente (vgl. RvB, V. 13008–13023).

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schließlich als Nachweis der eigenen Bibelkenntnis, als Vergleich mit ebenso verzweifelten, aber letztlich erlösten frommen Frauenfiguren oder als Zeugnis der Handlungsmacht Gottes, an die appelliert wird, sondern auch als sachliches Argument. Nicht nur das Sprecher-Ich selbst erinnert sich an die Wundertaten, es animiert auch den Adressaten, sich ihrer zu besinnen. Das Wirken des Angesprochenen hat – so beweisen die Exempel – besonders fromme Menschen hervorgebracht, hat sich aus Perspektive Gottes ,ausgezahlt‘. Indem sie sich im Gebet als tadellose Christin in einer Reihe mit Anna, Hanna und Elisabeth inszeniert, legt sie nahe, dass auch sie ein solches Potenzial berge. Mit dem Beispiel Hannas legitimiert sie darüber hinaus das Klagegebet, das sie vorträgt, selbst. Denn Hanna klag in klêgelîcher art (RvB, V. 13133) im Tempel und wart milteclîch gewert/swes ir herze hât begert (RvB, V. 13143f.). Die Klage zu Gott versteht die Sprecherin als biblisch überlieferte Art und Weise, der ungewollten Kinderlosigkeit entgegenzutreten, als vorgelebten Weg, das Gehör Gottes zu suchen und dessen wohlwollende Antwort zu erhalten. Durch den Verweis auf die Gebetspraxis Hannas involviert Yrkâne also auch Motivation und Reflexion des eigenen Vorgehens. Sie präsentiert Gebetsworte als transsphärische mediale Formen. Die Anamnese-Passage in Yrkânes Gebet vollführt und veranschaulicht zugleich die bei Thomas von Aquin betonte memoria-Funktion von Gebeten und ihren Effekt.137 Wenn im Sprechen zu Gott von Gott und seinen Heilstaten die Rede ist, dient das Beten dem Ins-Gedächtnis-Rufen dieser beim Betenden – und hier selbstverständlich auch bei den diesem Gebet ,lauschenden‘ TextrezipientInnen.138 Diese Memorialleistung hat bei der Betenden einen Effekt, der sich im Abschluss des Gebets zeigt. Gott könne mühelos ihre Sorgen lindern, wenn er ihre Bitte erhöre, das Kommunikationsangebot annehme, ihre Worte wahrnehme: dîn süezer trôst vil lîhte moht mich sorgen stœren, geruohtest du erhœren min bete und mîner zungen ruof. (RvB, V. 13154–13157)

Im Gebetabschluss werden Formeln des Anfangs wieder aufgenommen, sodass ganz im Sinne der Prämisse, vorbildliches Beten sei an einen gezielten rhetorischen Aufbau gebunden, der Eindruck eines durchdachten Gebetstextes entsteht. Dabei kommt es zu minimalen, aber aussagekräftigen Änderungen. So taucht die anfängliche Verknüpfung von schöpferischer Potenz und der Unfruchtbarkeit

137 Vgl. Anm. 6/80. 138 Lentes, Gebetsbuch, S. 26.

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der Sprecherinstanz am Ende erneut auf, allerdings wird nun der schöpferischen Kraft nicht das Ausbleiben der Schwangerschaft gegenübergestellt, sondern die Hoffnung der alliu dinc von niht geschuof, der mohte mich ouch bringen ze frühtebæren dingen (RvB, V. 13158–13160)

Das Gebet, die sprachliche Vergegenwärtigung der Empfängniswunder der biblischen und apokryphen Geschichten, hat die Einstellung der Betenden verändert. Die sprachliche Aufbereitung, die während des Gebets geleistet wird, hat eine Rückwirkung auf die Senderin, macht diese zu einer noch entschlossener glaubenden, hoffnungsvolleren Frau. In weitergeführter inhaltlicher – und formal gestützter139 – Verbindung der den biblischen Beispielen voran- und nachgehenden Passagen folgt dem Statement zur Schöpfungskraft Gottes und dem Ausdruck des Gemütszustandes – dort tiefe Betrübnis, hier Hoffnung – das Thema Gnade. Wo am Anfang des Gebets Gnadengewissheit entgegen der gegenwärtig aussichtslosen Situation steht,140 fordert die Sprecherinstanz nun den hôchgelopte[][n] got (RvB, V. 13163) auf, ihr Gnade in dem im Gebet entwickelten Sinne zuteil werden zu lassen (vgl. RvB, V. 13162f.). Der auffordernde Ton wird durch die Ergänzung mit dem Nachsatz wær ez an mînem heile (RvB, V. 13161) zu einer potenzgewissen Formulierung gedämpft. Das Sprecher-Ich unterstellt sich auch in der Hoffnung auf ein Empfängniswunder vollkommen dem göttlichen Plan. Dadurch kann es gleichermaßen eine Aufforderung und eine Demutsbekundung zum Ausdruck bringen. Für die Konzeption der Transzendenz, die sich in den Figurenworten entfaltet, bedeutet das die Bestätigung der Grenzziehung zwischen Immanenz und Transzendenz. Gebrochen wird die Symmetrie von Eingangs- und Schlussteil durch das auf die angeführten alttestamentarischen Beispiele zurückspiegelnde Zusatzargument, mit dem Yrkâne ihr Gebet beschließt und das daher besonderes Gewicht erhält. Sie fordere Gnade ein, da – sît (RvB, V.  13164) – Gott selbst die Gebete der jüdischen Frauen erhört habe: den juden sorge stôrtest/und ir gebet erhôrtest

139 Diese Parallelität wird dadurch verstärkt, dass an derselben Position die einzigen beiden Imperative des Gebets stehen (vgl. RvB, V. 12994f., 13162f.). 140 Sie bittet um Teilhabe am Erbarmen (lâ mich herre geniezen/des frömden wunders stæte, RvB, V. 12994f.), das sich aus der göttlichen Quelle ergießt: ob du dîn grôz erbermde lâst/ein teil gên mir zerfliezen (RvB, V. 12992f.). In dem hier gebrauchten Vokabular ist sicherlich ein Hinweis auf mystische Vorstellungen zu verstehen.

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(RvB, V. 13165f.).141 Den beispielhaft angeführten Paaren, allesamt Personal des Alten Testaments und daher jüdischen Glaubens, hat Gott ihre Bitten erfüllt. Sie als Christin, die nur rehter dinge (RvB, V. 13171) verlange, vertraue daher umso mehr – deste baz (RvB, V. 13169) – auf seine Hilfe. In ihrem maßlosen Vertrauen und unter Betonung der privilegierten Verbindung baut sie indirekt eine Art Zugzwang auf. Sie berichtet nur von ihrem unerschütterlichen Zutrauen, dennoch erzeugt diese Gegenüberstellung ,der Juden‘ und ihrer kristellîche[][n] art (RvB, V. 13168) den Eindruck, sie habe einen größeren Anspruch auf die Gnade Gottes (vgl. RvB, V. 13171f.). Die an der Chronologie des Gebets orientierte Betrachtung zeigt, dass Yrkâne ihr Gebet in einer Art und Weise spricht, die einem an weltlicher Rhetorik orientierten Gebetsaufbauschema grundsätzlich folgt. Sie beginnt mit einer invocatio und einer ausgedehnten captatio benevolentiae, der sich eine lange AnamnesePassage anschließt, die als paradigmatisch aufgebaute narratio fungiert. Am Ende steht eine wiederum steigernd auf den Eingang bezogene conclusio, die unzweifelhaft lässt, worum der Angesprochene gebeten wird.142 Ähnlich wie bei ihrem Hilfsgesuch und in ihrem Minnebrief wird der Figur eine Gestaltungsweise in den Mund gelegt, die dadurch überzeugt, ein Vertrauen zum Ausdruck zu bringen, das nicht aggressiv wirkt, aber dennoch zur Kooperation herausfordert (s. Kap. 4.3.2, 4.3.3). Der Text lässt keine Anzeichen erkennen, dass Yrkâne dabei taktisch und kalkulierend vorgeht; vielmehr zeigt sie wie zuvor eine gut ausgeprägte Medienkompetenz und rhetorisches Geschick. Unter der Prämisse einer authentischen Versprachlichung dient die Gebetpassage außerdem der Profilierung der Figur als vorbildliche Gläubige. Das Vorgehen inklusive des etwas forsch ausfallenden Endes143 erfährt Berechtigung durch die Reaktion des Angesprochenen. In recht unmittelbarer

141 Wie hier das Erhören des Gebets mit dem Lindern der Sorgen verknüpft wird, so hatte sie zuvor das Erhören ihrer bete und mîner zungen ruof (RvB, V. 13156f.) mit dem Term sorgen stœren (RvB, V. 13155, ebenso mit Bezug auf sich selbst bereits V. 13078) verbunden. 142 Die petitio erhält hier keinen eigenen Part, sondern durchzieht die narratio. Die Nach­ erzählungen regen immer wieder zur Bitte um Abhilfe an. Dass die Betende auf Bekenntnis zur eigenen Sündhaftigkeit verzichtet, sich stattdessen als bedingungslos Gläubige, und tadellose Christin einstuft, zeigt, dass Klage und Bitte hier miteinander verknüpft werden und die unterschiedlichen, dem Gebet zugeschriebenen Funktionen ineinanderlaufen. Das bestätigt sich dadurch, dass auch die Eingangs- und Endpassagen, die größtenteils dem Preis des Angesprochenen dienen, argumentatorisch im Dienste der Bitte stehen. Ein Bittgebet wie dieses nutzt unterschiedliche kommunikative Funktionen des Gebets im Bestreben, das Anliegen auf mehreren Ebenen zu legitimieren (vgl. dazu Hagby/Hüpper, Gebete, S. 210). 143 Bei der Lektüre entsteht zunächst der Eindruck, er könnte der Demutsbehauptung widersprechen. Ebenso relevant wie die sprachliche Gestaltung der Rede ist im theologischen Ver-

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Nähe zu den Gebeten erfährt Reinfried eine Marienerscheinung (s.  Kap.  6.2.2), Yrkâne erreicht zeitgleich ein rätselhafter Traum (s. Kap. 6.3.2). Direkten Bezug zu dem diesen Ereignissen vorangehenden Gebet bzw. zu der Gebetspraxis beider Eheleute stellt die Erscheinung Reinfrieds her,144 indem sie ihre Rede mit einem Verweis auf das Flehen von Yrkâne und Reinfried beginnt: [D]u und Yrkâne hânt ze vil/mit flêhe gên mir übertreten (RvB, V. 13272f.). Die Ausmaße, die das Beten der beiden angenommen hat – damit kann in dieser Formulierung sowohl die Frequenz als auch die Form der einzelnen Gebete gemeint sein –, überschreiten das Maß und begründen – so liegt nahe – ihr Auftreten. Auch angesichts dieser Rüge lässt sich der Erfolg nicht absprechen, ist doch mit diesem transzendenten Hinweis auf das Überschreiten der Norm ein wechselseitiger Kontakt mit der göttlichen Sphäre hergestellt. Das ständige Ansprechen, das umfangreiche Bitten, Klagen und Flehen gen Himmel, provoziert letztlich eine Gegenbewegung von oben.145 Der Text stellt dar, dass eine höhere Ebene von diesen Apostrophen Notiz

ständnis die Gesinnung (recto intentio) und das Verhalten der oder des Betenden: „Stets betont das AT, daß ein G[ebet] nur gottgefällig ist in Verbindung mit der richtigen Gesinnung u. dem rechten Verhalten gegenüber dem Mitmenschen“ (Wahl, Gebet, hier Sp. 310; s. auch wiederholt Lentes, Gebetsbuch). Ein literarisches Beispiel für die Relevanz der Einstellung, jedoch auch für den Zusammenhang von Einstellung und Verbalisierung ist Rudolfs von Ems Der guote Gêrhart. Dort wird Kaiser Otto in dem Moment für seine hochmütigen Annahmen getadelt, in dem er sie in seinem Gebet offenbart. Ob der Text die Verfehlung des Kaisers primär in der Zungensünde, im falschen Sprechen gegenüber Gott sieht, oder aber ob bereits die Gesinnung bei der Stiftung des Erzbistums, für das er im Gebet Lohn einfordert, den Kaiser im Sinne des Texte in Misskredit bei der Transzendenz bringt, ist eine unterschiedlich beantwortete Forschungsfrage (vgl. Lechtermann, Redeordnungen, insbes. S. 86–95; Cieslik, Katrin: ,sô bit ich dich/daz dû geruochest hœren mich‘. Rede- und Figurengestaltung im Guoten Gerhart des Rudolf von Ems. In: Sprechen mit Gott, Redeszenen in mittelalterlicher Bibeldichtung und Legende. Hrsg. von Nine Miedema/ Angela Schott/Monika Unzeitig [Historische Dialogforschung 2], Berlin 2012, S. 169–190, hier S. 186, Anm. 58 [dort Anmerkungen zur Diskussion dieser Forschungsfrage]; Becker, Anja: Poetik der wehselrede. Dialogszenen in der mittelhochdeutschen Epik um 1200, Frankfurt a. M. 2009 [Mikrokosmos 79], S. 181–196). 144 Für den Traum ist hingegen nur über das zeitliche Zusammenfallen mit der Erscheinung Reinfrieds dasselbe Initiationsmuster anzunehmen. Der Text wechselt den Fokus von Reinfried zu Yrkâne, indem er zunächst ihre Unwissenheit über die sich an Reinfried vollziehende Offenbarung anspricht, dann aber ergänzt, dass ir ouch wunderlîch beschach (RvB, V. 14513). Der im Anschluss geschilderte Traum wird in ein Ähnlichkeitsverhältnis zu der Erscheinung gestellt. Dass dies alles gleichzeitig geschieht, evoziert den Eindruck, dass beide Erfahrungen gleichermaßen auf die Gebete zurückzuführen sind. 145 Theologisch bedeutet das Empfangen einer solchen Botschaft, das Erblicken einer transsphärischen, vornehmlich in der Transzendenz beheimateten Instanz eine Auszeichnung, eine Anerkennung der besonderen religiösen Vorbildlichkeit, sodass die Passage Reinfried trotz der tadelnden Worte am Eingang der Rede positiv ausweist (vgl. Haubrichs, Wolfgang: Offenba-

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nimmt, sich angesprochen und zur Kontaktaufnahme eingeladen fühlt; Provokation und Persistenz scheinen – entgegen der Maßregelung – ein effektiver Weg zu sein, um die transzendente Sphäre aus der Reserve zu locken, sie zu einer wechselseitigen Kommunikation und schließlich zu einer kooperativen Absprache zu bewegen (vgl. dazu RvB, V. 14836–14843, 23304–23310). Erscheint durch die Position in der Narration das beschriebene Gebet handlungslogisch die Initiation der Verhandlungen um Nachkommenschaft mit der Transzendenz zu sein, so ist der Moment der Empfängnis wiederum mit wei­teren ,Gebeten‘ der Figuren verknüpft, die allerdings jeweils auf die Entäußerung verzichten und die Transzendenz rein gedanklich ansprechen. An die durchs Beten angestoßene Erscheinung (s. Kap. 6.2.2) folgt eine Gedankenrede Reinfrieds, die auf einen unmissverständlich als transzendente Autorität ausgewiesenen Kommunikationspartner ausgerichtet ist,146 und einer performativen Einverständniserklärung mit den von dieser vorgebrachten Bedingungen gleichkommt.147 Er

rung und Allegorese. Formen und Funktionen von Vision und Traum in früheren Legenden. In: Formen und Funktionen der Allegorie. Symposion Wolfenbüttel 1978. Hrsg. von Walter Haug, Stuttgart 1979 [Germanistische Symposien. Berichtsbände III], S. 243–264, hier S. 248). 146 Direkt nach dem Anheben zu einer neuen Redepassage (ich wil mîn leben kêren, RvB, V. 13472), schiebt er die Adresse minnenclicher zarter got (RvB, V. 13473) ein, auf den sich dann das nächste Possessivpronomen in der zweiten Person Singular direkt bezieht (hiut in dîn götelîch gebot, RvB, V. 13474). Beinhaltete die vorherige Gedankenrede ausschließlich Verweise auf Gott in der dritten Person (vgl. RvB, V. 13429, 13430, 13441, 13454, 13458, 13461, 13465, 13468, 13469, 13470), so wird nun durchgängig die zweite Person verwendet (vgl. RvB, V. 13474, 13476, 13477, 13481, 13482, 13489, 13494). 147 Die Erzählinstanz stuft dieses Sprechen als performativ ein (vgl. RvB, V. 13497–13499), und auch die Rede selbst enthält performative Wendungen, die die gedankliche Formulierung zum Vollzug einer Abmachung befördern. So beginnt die Rede zu Gott mit zwei parallel formulierten Versprechen: ich wil mîn leben kêren […] in dîn götelîch gebot (RvB, V. 13472–13474) und ich wil dir hiut entheizen/und dîner muoter zart/über mer ein hervart (RvB, V. 13476–13478) heißt es nachdrücklich und mit von Entschlossenheit und Demut zugleich zeugendem Gestus. Er beteuert, sich niemals von dem Vorhaben abzukehren (vgl. RvB, V. 13484–13487). Dabei gibt er an, alle Hindernisse und Gefahren in Kauf nehmen zu wollen, die Fahrt zu beenden swiez mir ergât (RvB, V. 13493). Wenn Gottes Wille ihn vor dem Tod verschone, so muoz allez daz beschehen/daz ich in slâfe hân gesehen (RvB, V. 13495f.). Alles also, was in Reinfrieds Macht steht, um die Fahrt zu vollenden, verspricht er aufzuwenden. In Bezug auf die vorherige Auseinandersetzung mit der Erscheinung erweckt er den Eindruck, es handle sich für die transzendenten und die immanenten Instanzen um einen über mediale Träger ermöglichten kommunikativen Austausch, in dem die jeweils vorherigen Aussagen beim Kommunikationspartner vorausgesetzt werden können. Anders als die Gebete Yrkânes enthält das Gedankengebet Reinfrieds Passagen, in denen er um Gnade und Vergebung bittet (vgl. RvB, V. 13480–13483). Auch unterstellt er sich unmissverständlich vollständig dem Willen Gottes, wenn er in seine Beteuerung, zum Grab Christi zu reisen, die Formulierung ob mich dîn trôst eht leben lât (RvB, V. 13494) integriert. Das in diesem Sprechen zu

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wolle im Namen Gottes und der Gottesmutter kristes grabe (RvB, V.  13488) mit ritterlîcher wer (RvB, V.  13492) aufsuchen und all das wahr machen, was ihm im Schlaf offenbart wurde (vgl. RvB, V. 13484–13486, 13494–13496). Mit diesem mehrmaligen Bezug auf das Erlebnis knüpft er direkt an die zuvor über Gebete und Erscheinungen ausgetauschten Informationen an.148 Selbiges trifft auch auf Yrkânes zweites Gebet zu, das die versprochene Umsetzung der Vereinbarung besiegelt. Im Zusammenhang mit diesem Gedankengebet kommt es endlich zur Empfängnis. Als alle Vorbereitungen zum gelobten Kreuzzug getroffen sind und der Tag der Abreise bevorsteht, halten die Sorgen um den Ehemann und die inbrünstigen gedanklichen Fürbitten149 Yrkâne wach (vgl. RvB, V.  14724f.). Ein in wörtlicher Rede wiedergegebenes Gebet verleiht Yrkânes Trauer sowie Angst angesichts der bevorstehenden Trennung Ausdruck,150 führt andererseits das vorherige ,Gespräch‘ des Paares mit Gott weiter, indem sie an dieser Stelle nicht explizit um Nachkommenschaft, sondern auch darum bittet, der Verheißung, die die bevorstehende Trennung von Reinfried notwendig macht, nachzukommen.151 Da Yrkâne sich auf einen kommunikativen Austausch zwischen immanenter und transzendenter Sphäre berufen kann, in dem die Frage der Empfängnis bereits verhandelt wurde, kann sie ohne Wiederholungen auf den versprochenen Lohn des in Angriff genommenen Kreuzzugsunternehmens verweisen. Die einzelnen Ereignisse – Gebet(e), Erscheinung/Traum, Gebet – werden als eine fortlaufende Kommunikation aufgefasst, die eine sprachlich formatierte Verständigung über

Gott aufscheinende Bild der Transzendenz schließt daher bruchlos an das bei Yrkâne entwickelte Bild des gebietenden, Gnade gewährenden, Gehorsam einfordernden Gottes (s. o.) an. 148 Es handelt sich bei diesem Gedankengebet um das einzige ,Sprechen‘ zu Gott, das nicht initiativ ist und keine reine Bitte um Hilfe, sondern ein antwortender Ausdruck des Einverständnisses gegenüber dessen (vermittelt vorgebrachten, s. Kap. 6.2.2) Vorschlag ist. Es handelt sich nicht um eine flehende Zuwendung, ein Kommunikationsangebot, das auf Erhörung hofft, sondern um eine Fortführung der mit dem vorherigen Gebet angestoßenen Kommunikation zwischen Transzendenz und Immanenz. 149 Nur in ir herzen rief [sie]/ze got vil tougenlîche (RvB, V. 14726f.). Die Formulierung dâht sî (RvB, V. 14729) ersetzt die übliche inquit-Formel. 150 Sie bezeichnet sich als ellende[] arme[] (RvB, V. 14731), das Gebot Gottes wisse sie zu ellenden (RvB, V. 14738), sie zeigt sich besorgt über ihre ungewisse Zukunft (vgl. RvB, V. 12320–14371) und spricht von ihrer grôzen riuwe (RvB, V. 14733). Sie beendet ihr Gebet mit der Aufforderung: hilf daz sîn widerkêre/schier werde frœlîch wol gesunt‘ (RvB, V. 14740f.). 151 Im Namen der Ehre der ebenso wie Gott selbst apostrophierten Mutter Gottes (vgl. RvB, V.  14728, 14739), ermahnt sie dazu, das gegenüber Reinfried gegebene Wort zu halten: sô solt ouch du besorgen mich/an allem dem des dîn geheiz/nôtdürftic mich ellenden weiz (RvB, V. 14736– 14738).

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die jeweiligen Wünsche und Forderungen der jeweiligen Sphären und damit auch eine Kooperation zwischen Immanenz und Transzendenz möglich macht. Mit der Empfängnis ist dieses zweite Gebet Yrkânes in zweierlei Hinsicht direkt verknüpft.152 Zunächst ist es parallel zu dem ersten angelegt, indem es auch hier vor eine Szene mit einer Unterredung zwischen Reinfried und Yrkâne im Ehebett gesetzt wird. Im Falle des ersten Gebetes kommt es in dieser Nacht zu einer Antwort auf die Kommunikationsofferte, die der im Gebet geäußerten Bitte unter bestimmten Bedingungen zustimmt (s. Kap. 6.2.2). Im zweiten Gebet wird bestätigt, dass diesen Forderungen nachgekommen wurde und die Bitte erneuert, woraufhin es – so ließe sich interpretieren – zur Antwort in Form der nun gewährten Schwangerschaft kommt.153 Dass Yrkâne infolge ihres zweiten Gebets schwanger wird, wäre somit die zweite Entgegnung der Transzendenz, die sich in diesem Falle nicht in Worten und Bildern, sondern gleich in Taten äußert. Darüber hinaus wird auch auf praktischer Ebene das stille zweite Gebet Yrkânes als auslösendes Ereignis der Schwangerschaft stilisiert. Denn die Sorgen, die Yrkâne im Herzen trägt und sie animieren, Gott nochmals anzurufen, schüren Trauer und Schmerz – hier zeigt sich erneut das transformatorische Potenzial des Betens (s. o.) – und führen dazu, dass die Emotionen schließlich nach außen hervorbrechen und Reinfried aufwecken (vgl. RvB, V. 14742–14748). Daraufhin kommt es zu einem Minnegespräch (vgl. RvB, V. 14748–14831) sowie schließlich zu der Vereinigung, bei der das so lange erhoffte Kind gezeugt wird (vgl. RvB, V. 14832–14843). Der Passage ist ein starkes Interesse an der vorbildlichen rhetorischen Gestaltung eines Gebets als medialer Kontaktform nachzuweisen. Dennoch werden auch hier die medialen Aussagen der Szenen, die die Schwangerschaft Yrkânes als göttliches Wunder präsentieren, das aus der wechselseitigen intersphärischen Kommunikation hervorgeht, verschränkt mit handlungslogischen und narrativen Funktionen. Der Kreuzzug Reinfrieds wird motiviert, das Innenleben der Figuren

152 Argumentatorisch führt Yrkâne keine neuen Aspekte ein. Ebenso wie im ersten Gebet zeugen ihre Formulierungen von einer Selbstwahrnehmung als treue, gnadengewisse Anhängerin (vgl. RvB, V. 14734f.), die auf das erbarmen (RvB, V. 14732), die Sorge und Hilfe des gna‑ denfähigen Gottes vertraut, diese aber auch einzufordern bereit ist (vgl. RvB, V. 14732–14741). 153 Dass die kommunikative Situation zwischen Mensch und Gott zwar grundsätzlich dialogisch und gesprächsartig gedacht ist, bedeutet nicht, dass Gott sich auch in einer Form äußert, die mit der Form der Ansprache übereinstimmt. So zeigen die Beispiele bei Hagby und Hüpper, dass Gott zwar jeweils direkt zu antworten scheint, dass die Antworten allerdings nicht sprachlich manifest werden, sondern in unmittelbare Eingebung, in der Erregung der Figuren sowie durch den Wandel der Handlungsoptionen im Anschluss an das jeweilige Gebet bestehen können (vgl. Hagby/Hüpper, Gebete, S. 204).

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inklusive der wahrnehmungsmodifizierenden Funktion des Sprechens zu Gott154 mit einem Anspruch auf größte Authentizität dargestellt und Bibelgeschichte, (auch) zur memoria der TextrezipientInnen, erzählt. Die Analyse führt vor Augen, dass literarische Gebete als eingelegte Texte ähnlich wie Briefeinlagen155 nicht nur handlungslogisch mediale Formen mit mediendiskursiver Aussagekraft sind. Sie sind selbst Textelemente, die mit der Sichtbarmachung sonst verborgen liegender Figurendispositionen156 und diskursiver Textpositionen in medialer Funktion stehen. Außerdem offenbaren sie, da „[Gebete] auch die theolog., kulturellen u. hist. Merkmale der betr[effenden] Religion auf[zeigen]“,157 die kulturell zugrunde liegenden Vorstellungen der transzendenten Instanz sowie die dazugehörigen Annahmen über die Möglichkeit des kommunikativen Austauschs über Sphärengrenzen hinaus. Sie geben Aufschluss

154 Wenn Sprache ein Mittel der Gedankenstrukturierung, der Memoralisierung und der Verarbeitung emotionaler Erregungszuständen ist (auf diesen auch für literarische Gebete des Mittelalters relevante sprecherzentrierten Blickwinkel weisen Miedema/Schott/Unzeitig, Einleitung, S.  6 hin. Sie berufen sich dabei vor allem auf die Beschreibung der kommunikativen und sprecherzentrierten Funktionen durch Gardt, Andreas: Die zwei Funktionen von Sprache: kommunikativ und sprecherzentriert. In: Zeitschrift für Germanistische Linguistik 23/1 [1995], S. 153–171), dann lässt sich auch danach fragen, inwiefern diese Aufbereitung der Informationen im Gebetstext Hierarchien und Rollen konstruiert oder aber im Rahmen des Sprechens den oder die SprecherIn bzw. seine/ihre Wahrnehmung verändert. 155 Zur Ähnlichkeit von Briefen und Gebeten, die auch in der rhetorischen Theorie beschrieben wurde, s. o. sowie Lentes, Gebetsbuch, S. 31–34. 156 In dem, was Figuren ihrem Schöpfer gegenüber formulieren, äußern sich auch Gefühle, Interessen, Hoffnungen, die sonst dem Blick der RezipientInnen verborgen bleiben. So heißt es bspw. auch bei Wahl über das Gebet (wobei er Gebete in realweltlichen Zusammenhängen meint und nicht spezifisch literarische Gebete), es bringe das ganze Menschenleben vor Gott zur Sprache, klage mit „unerhörter Offenheit vor Gott“ (Wahl, Gebet, hier Sp. 309). Darin unterscheiden literarische Gebete sich als Zeugnisse des als spontan bzw. situationsbezogen konzeptualisierten Sprechens zu Gott von den exemplarischen, formelhaft-rituell festgefügten Gebetssammlungstexten. Sie ergänzen die Einwände Lutz’ gegenüber der These von Eduard Freiherr von Goltz, Ende des dritten Jahrhunderts sei die Form des Gebets festgefügt und die hervorgegangenen Formeln ersetzten von da an wirkliches Sprechen mit bzw. zu Gott (vgl. Lutz, Rhetorica divina, S. 105 mit Verweis auf Goltz, Eduard Alexander von der: Das Gebet in der ältesten Christenheit. Eine geschichtliche Untersuchung, Leipzig 1901, S. VIII). Diese beziehen sich hauptsächlich auf die bei Goltz propagierte Anteilslosigkeit der Form auf die Vermittlung des Gebetsanliegens (vgl. Lutz, Rhetorica divina, S. 106). Die erzählenden Texte des Mittelalters zeigen ihre Figuren aber bei individuellen Gebeten und entwerfen somit persönlich formulierte Texte. Dass die bekannten Gebete sicherlich einen Einfluss auf dieses Sprechen ausgeübt haben, steht mit dieser Feststellung nicht infrage. 157 Gensichen, Gebet, hier Sp. 309.

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über das Bild des adressierten Gottes158 und über das angemessene und effektive Sprechen (einer/s exemplarischen Gläubigen) zu ihm. In der Auseinandersetzung mit weiteren Gebetseinlagen im Reinfried von Braunschweig und im Apollonius von Tyrland sollen jeweils einzelne dieser Funktionen der Textelemente in den Fokus gerückt und im Detail untersucht werden, um das herausgearbeiteten Bild von erzählten Gebete zu ergänzen. In Bezug auf die Hauptfiguren des Apollonius von Tyrland, die jeweils in lebensbedrohlichen Situationen ihr Wort an Gott richten – Tarsia angesichts ihrer drohenden Ermordung (vgl. AvT, V.  15365–15296), Apollonius angesichts seines Schiffsbruchs (vgl. AvT, V. 1316–1383) sowie seines Zurückbleibens auf einer verlassenen Insel (vgl. AvT, V. 6545–6592) – dienen Gebete hauptsächlich dem Empathie erzeugenden Blick auf den Gefühlshaushalt der Figuren, welcher ver­bunden wird mit der handlungslogischen Funktion, einen Schicksalswechsel auszulösen und – vor allem für die TextrezipientInnen – als göttliche Fügung zu plausibilisieren. In dem Moment, in dem Tarsia der Absichten des ihr gegenüberstehenden Auftragsmörders Cofilus gewahr wird, befindet sie sich beim Beten am Grab ihrer Amme. Ihr Gegenüber gibt ihrer Bitte, ihr Gebet fortführen zu dürfen (vgl. AvT, V. 15357), statt. In der Wiedergabe wirkt das Gebet nicht sonderlich ausgefallen, es handelt sich jedoch, wie die Erzählinstanz bereits im Voraus angibt, dabei nur um einen Ausschnitt aus dem wain und […] clagen (AvT, V. 15361), welches – wie man später beiläufig erfährt – ganze [d]rey stund (AvT, V. 17201) währt. Ihre Rede entpuppt sich als Klage über ihr Schicksal, die sogar Züge einer Anklage gegen-

158 Denn wie jemand betet, so hebt Lentes hervor, „ist nicht Sache einer wesensmäßigen Vorgabe, sondern ist immer historisch bedingt“ (Lentes, Gebetsbuch, S. 13). Daher spiegelten die Formen des Gebets Deutungen des Gott-Mensch-Verhältnisses wider und seien von großer religionsgeschichtlicher Relevanz (vgl. hier S. 14). Dem Bittgebet liegt bspw. die Vorstellung zugrunde, die Transzendenz sei zu einem schicksalshaften Eingreifen auf Zuruf überhaupt bereit (vgl. dazu Schaller, Gebet, hier Sp. 314; s. auch Lutz, Rhetorica divina, S. 110). Ein eindrückliches Beispiel für den Effekt unterschiedlicher Konzeptionen des Mensch-Gott-Verhältnisses stellt Lentes im Vergleich der Gebete der Christen zu Gott und der Römer der Antike zu ihren Göttern dar (vgl. Lentes, Gebetsbuch, S. 13f.).

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über dem angesprochenen Gott159 zeigt.160 Sie fordert den Apostrophierten explizit auf, ihre Lage (mein ellende, AvT, V. 15370) und das bereits durchlebte Leid (vgl. AvT, V. 15374, 15378–15389, 15375–13580, 15370) zu bedenken. So steigert die Wiedergabe der Klage in erster Linie die Empathie gegenüber Tarsia, die so unverschuldet in diese aussichtslose Lage geraten ist. Einen ähnlichen Effekt dürfte der abgebildete Auszug aus Apollonius’ Klagegebet zu Beginn des Textes hervorrufen, dessen verzweifelter Ton sich auch in Apollonius’ späterem Gebet an den jüdischen Gott161 auf der Insel wiederfindet:

159 Tarsia verwendet Pronomen wie deinem (AvT, V.  15366), deinen (AvT, V.  15373), du (AvT, V. 15375, 15384), dir (AvT, V. 15383) und die Imperative Hilff (AvT, V. 15367), Nym (AvT, V. 15368), Fur (AvT, V.  15369) und Gedenck (AvT, V.  15370). Was für einer transzendenten Instanz diese Worte gewidmet sind, ist nicht eindeutig. Wie ihr Vater wächst Tarsia nicht im christlichen Glauben auf, sondern erfährt ihre der Taufe parallel angelegte Weihe in einem tempel (AvT, V. 14930) und [n]ach der haydenischen ee (AvT, V. 14936). Als ihre Amme Ligurdis verstorben ist, nimmt sie ein Glas mit rotem Wein zum Grab der Verstorbenen, denn [d]a mit det sy kunt Gor ir laid:/Sein was auch doch gewonhait (AvT, V. 15229f.). Sie richtet ihr Gebet an einen nicht näher spezifizierten Gott (vgl. AvT, V. 15365, 15385), so wie auch ihre Amme selbst sich nur auf einen Got (AvT, V. 15184) bezieht. 160 Zwar unterwirft sie sich sogleich nach der gesprächseröffnenden, respektbekundenden Apostrophe (vgl. AvT, V. 15365) dem göttlichen Plan (vgl. AvT, V. 15366), versteht Gott als gnadenbegabte Instanz (vgl. AvT, V. 15373), die Hilfe zu spenden fähig ist und sich um diese auch ersuchen lässt (vgl. AvT, V. 15367), ihre Rede ist aber dennoch von Zweifeln an den Verfahrensweisen durchzogen. Sie habe von ihm gelesen, dass er parmhertzig (AvT, V. 15384) sei, wenn das stimme, dann sei er aber nicht gründlich: So hastu mein vergessen gar (AvT, V. 15386), stellt Tarsia fest. Das ist das Resümee, das sie aus dem Vergleich ihres bisherigen und bevorstehenden Schicksals und dem angelesenen Wissen über das Walten Gottes zieht. Sie bringt seine Barmherzigkeit zur Sprache, um dann zu konstatieren, dass er diese Maxime zumindest bei ihr nicht anwende. So, wie sie sich selbst in ihrem Gebet entwirft, wirkt die angesprochene und verantwortliche göttliche Instanz nicht barmherzig, sondern ungerecht. Sie klassifiziert ihre Ermordung als unschuldig dot (AvT, V.  15368), stellt also infrage, ob ihr Tod gerecht ist und den barmherzigen Maximen des Angesprochenen entspricht. Komprimiert wird dieses Empfinden in der Aussage: Hiet ich verdienet disen dot,/So wolt ich sein nymmer clagen (AvT, V. 15392f.). Tarsia ist bereit, sich dem göttlichen Gebot, dem sie sich unterworfen empfindet, zu fügen, sofern ihr das gerechtfertigt erscheint. Das – so drückt bereits der verwendete Konjunktiv aus – tut sie aber nicht. Sie empfindet ihren Tod vielmehr als willkürlich, spricht davon, des todes loß (AvT, V. 15381) zu ziehen. Sie betont auch, weder in Taten noch Gedanken eine Sünderin zu sein (vgl. AvT, V. 15387–15394). Ihr selbst ist dem Gebet zufolge kein Verhalten zuzuschreiben, das ihren vorzeitigen Tod rechtfertigen könnte. Ihre eingangs vorgebrachte Aufforderung, ihren Tod als die Bereinigung ihrer Tadel anzunehmen (Nym mein unschuldigen dot/Für mein missewende, AvT, V. 15368f.), scheint insofern eine Formel zu sein, die aus ihrer Perspektive der Grundlage – nämlich Verfehlungen ihrerseits – entbehrt. 161 Im ersten kurzen Gebetstext (vgl. AvT, V. 6515–6518) wird nicht deutlich, dass der jüdische Gott gemeint ist, sondern in der späteren Reaktion auf den hereinbrechenden Sturm. Dort leitet

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Mein leben das ist gar vertzert, Mein leben das ist vaige, wa es vert Mein trost der muß sich enden. Wa soll ich zu lenden? Ob mein gelucke zäme Das ich zu lande käme, Wer wolt sich erparmen Uber mich vil weißlosen armen? Ich pin nackend und ploß. Mein jamer klage ist so groß Das ich niemand chan geclagen. Ich muß selber an mir verzagen. Was soll mein leben? es ist enwicht: Ich ger halt zu leben nicht. (AvT, V. 1326–1339)162

Wichtig sind die Gebete für die Erzählpassagen jedoch in erster Linie, um die Rettung und die Darstellung der schicksalshaften Wendung als schützendes Eingreifen der Transzendenz zu plausibilisieren. Im Anschluss an Tarsias Gebet – Da sy das gepett also verlie (AvT, V. 15397) – tauchen Piraten in Sichtweite zum Schauplatz der Hinrichtung auf, erblicken die jugendliche Schönheit, beschließen, an Land zu gehen, den Auftragsmörder zu bedrohen und Tarsia als Beute mit sich zu führen (vgl. AvT, V. 15398–15416). Was zunächst nicht wie eine besonders wünschenswerte Entwicklung der Ereignisse erscheint, vereindeutigt sogleich die Erzählinstanz als positive Wendung: Es ist doch pesser das di maget/Lebt dan sy sey erslagen (AvT, V. 15420f.).163 Im Falle Apollonius’ folgt in der erstgenannten Szene auf die dargestellte Klage die Nacht, während derer Apollonius wohlbehalten – [a]ls in Got selber dar sandt (AvT, V. 135) – an den Strand gespült wird, wo ihm direkt im Anschluss an eine weitere Klage (Do das dise clag also geschach,

Apollonius mit Der engel kunig Sabaoth (AvT, V. 6546) seine fortgesetzte Klage ein. Damit verwendet er als Apostrophe eines der wesentlichen im jüdischen Glauben bzw. im Alten Testament auftauchenden Epithea (vgl. Stemberger, Günther: Gottesnamen [H.n.], Gottesepithea. 2. Altes Testament u. Judentum. In: Lexikon für Theologie und Kirche. begründet von Michael Buchberger Bd. 4 Franca–Hermenegild, 3. völlig neu bearb. Aufl., Freiburg i. Br. 2006, Sp. 936–938, hier Sp. 937). Auch andere Figuren beziehen sich auf diese Instanz (vgl. die Sirenen in AvT, V. 5335). 162 Ähnlich fällt die Klage aus, die er anstimmt, als er am nächsten Morgen an einen fremden Strand gespült wird (vgl. AvT, V. 1377–1383). Als Apollonius einige tausend Verse später merkt, dass er von seiner Mannschaft getrennt wurde, nimmt die Verzweiflung in seiner Rede zu Gott vergleichbare Ausmaße an (vgl. AvT, V. 6552–6578). 163 Zur Forcierung dieser Deutung ergänzt sie ihre Einschätzung um eine Sentenz, die sie auf die weysen (AvT, V. 15422) zurückführt. Bei zwei Übeln sei das kleinere vorzuziehen und zu loben (vgl. AvT, V. 15423–15426).

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AvT, V.  1384) ein Fischer begegnet, der ihm großzügig aus der Notlage hilft, sodass selbst der Protagonist erwägt: Villeicht Got will enden/Mein not und mein armütt (AvT, V. 1478f.). Etwas komplexer erscheint der Sachverhalt zu Beginn der ,Robinsonade‘.164 Als Apollonius feststellt, dass er nicht weiß, wo er sich befindet und wie er zu seinem Schiff zurückkommt (vgl. AvT, V. 6507–6509), denkt er: ’Herre Got, wo pin ich nu? Sende mir deinen engel zu, Der mich pringe wider dar Zu meinen leutten an das var!’165 (AvT, V. 6515–6518)

Ob das daraufhin einsetzende Unwetter eine Reaktion, eine nonverbale Antwort des Angesprochenen ist, lässt die Erzählinstanz, die sich in dieser Passage mehrmals einmischt, um bestimmte Vorgänge auf göttliche Fügung zurückzuführen,166 offen. Die enge Verknüpfung des wiedergegebenen Gedankengangs mit dem Heranziehen des Unwetters lässt eine solche Deutung zumindest plausibel erscheinen.167 Für Apollonius ergibt sich zumindest zweifelsfrei der Schluss, Gott in Rage versetzt und mit seiner Klage das Unwetter herbeigeführt zu haben: Nu muß ich von schulden jehen/Das ich dich erzurnet hab (AvT, V. 6548f.), stellt er beim Ausbruch des Unwetters fest. Doch die Geschehnisse müssen nicht zwangsläufig als transzendente Strafe gedacht werden:

164 Für diese Episode, in der Apollonius und seine Mannschaft auf einer einsamen Insel anlegen und Apollonius ein Jahr zu einem Leben in der Wildnis gezwungen wird, hat sich in der Forschungsliteratur die Bezeichnung ,Robinsonade‘ etabliert (s. Röcke, Wahrheit, S. 204; Birkhan, „Diz sind abenteure“, S. 121f., 125; Achnitz, Babylon und Jerusalem, S. 274). 165 Ob Apollonius diese Worte denkt oder spricht, ist nicht eindeutig. Heißt es vor der direkten Wiedergabe noch [d]o gedacht der vil raine (AvT, V. 6514), so impliziert der darauffolgende Vers einen Sprechakt (er di rede gesprach, AvT, V. 6519). 166 So weist sie das gütlich gesinnte Verhalten des Tieres Milgot (Das was Gottes will, AvT, V. 6712) und die Erlösung des Festsitzenden (Doch ward der hochgeporen degen/Von des hohen Gottes trost/Kurtzlich darnach erlost, AvT, V. 6788–6790) als Wirken Gottes aus. 167 Sobald – [d]o (AvT, V. 6519) – Apollonius den Gedanken gefasst hat, erblickt er auch schon das Unwetter, das seine Mannschaft zum fluchtartigen Aufbruch bewegt und dem so­eben geäußerten Wunsch um eine wundersame Zusammenführung mit seinen Gefährten zu widersprechen scheint (vgl. AvT, V. 6520–6536).

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Zur Frage der nicht erhörten Bitten ist auf das Wort Augustinus hinzuweisen: ,Gut ist Gott, der oftmals nicht gibt, was wir wollen, auf daß er uns gebe, was wir lieber wollen sollen.‘ So gesehen ist das Abschlagen einer Bitte Antwort, nicht Willkür.168

Betrachtet man unter dieser Annahme den Zusammenhang von Gebet und Sturm, so gewinnen die dem Gebet nachfolgenden Ereignisse durch das erzählte Gebet besondere Bedeutung. Dann ist das Verbleiben auf der Insel und das ein Jahr währende Leben unter den wilden Tieren nicht als Zufall zu interpretieren, sondern als von Gott geforderte Schicksalslenkung, die wichtig für Apollonius ist.169 Auch ließe sich das Aufeinandertreffen mit dem Tier Milgot, welches Apollonius zwar nicht zum Schiff zurückbringen kann, jedoch dafür sorgt, dass es später zu einem Wiedersehen zwischen Apollonius und seiner Mannschaft kommt,170 auf Grundlage der Bitte um einen Engel im Gebet (vgl. AvT, V. 6516) als Erhören der Bitte in einem anderen Gewand deuten. Auch hier erwägt Apollonius angesichts der ihm infolge des Betens erscheinenden Figur: Leichte will sich Got erparmen (AvT, V. 6669).171 Im glücklichen Ausgang entpuppt sich somit nicht nur das Sprechen zu Gott als erfolgreich, sondern auch die an ihn gerichtete Bitte um Beistand und Hilfe – auch wenn das zunächst – ähnlich wie im Falle Tarsias und nach Apollonius’ erstem Gebet – nicht unbedingt so erscheint. Die Textpassage führt dann mithilfe des inserierten Gebets auch vor, dass die transzendente Hilfe dem richtig

168 Schaller, Gebet, hier Sp. 314. 169 Inwiefern die Apolloniusfigur durch ihren Verbleib auf der Insel und das Einsiedlerleben eine dauerhafte Entwicklung erfährt, sei dahingestellt. Die Reflexivität der Klage, welche wiederum der Sturm und das (scheinbare) Abschlagen der Bitte bewirkt, ist jedoch auffällig. Apollonius erkennt das Glück in der zuvor noch als Elend empfundenen Situation (vgl. AvT, V. 6554–6557), gesteht die Unbedeutsamkeit irdischer Eroberungen (vgl. AvT, V. 6565–6567), ohne dabei seine Regierungsverantwortung, der er sich nun auch entzogen hat, zu vergessen (vgl. AvT, V. 6568f.), macht sein Handeln verantwortlich für die in den Sturm geratene Mannschaft, die er ertrunken glaubt (vgl. AvT, V.  6570–6576) und klagt sich selbst des unbüßbaren Vergehens an, den Tod seiner Frau Lucina verschuldet und danach auch noch erneut geheiratet zu haben (vgl. AvT, V. 6579–6592). Es folgen offenbar weitere Selbstanklagen, die der Text nicht direkt wiedergibt: Klage gie da wider klage./Es wurd gar ain lange sage,/Solt ih es alles schreiben:/Da von wil ich lassen peleyben (AvT, V. 6593–6596). 170 Milgot stärkt Apollonius körperlich und moralisch (vgl. AvT, V.  6666–6671), ruft die wilden Tiere zusammen, die sich unter dessen Aufsicht Apollonius unterwerfen und ihn umsorgen (vgl. AvT, V. 6672–6724), bringt Apollonius ein Kraut, das ihn zu Kräften kommen lässt (vgl. AvT, V. 6725–6740) und versorgt ihn mit Essen (vgl. AvT, V. 6771–6774). Die Unterwerfung der Tiere führt die Erzählinstanz auf Gottes Wirken zurück (vgl. AvT, V. 6712f.; s. Kap. 6.3.1). 171 Später präsentiert er den anderen Reisenden das Tier als gottgesandtes Geschöpf. Es sei [v]on des werden Gottes segen (AvT, V. 6942).

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Betenden nicht versagt wird, jedoch nicht immer unmittelbar als solche zu erkennen ist bzw. die Hilfe auch im Abschlagen einer Bitte bestehen kann. Auf die Handlungsfunktion reduziert eingesetzt wird dieses Schema beim Gebet, das den Protagonisten und seine erste Frau Lucina – mittlerweile Priesterin im Tempel der Diana (vgl. AvT, V.  2789–2812) – wieder zusammenführt. Gleichzeitig macht sie die transzendente Lenkung umso deutlicher. Dieses Gebet bricht nicht aus der Immanenz hervor; die an Gott gerichtete Klage172 wird dem Protagonisten durch eine sich im Schlaf aufdrängende Stimme auferlegt (vgl. AvT, V. 17224–17227). Seine Rede wird nicht wörtlich wiedergegeben, sondern nur ihr Inhalt paraphrasiert (vgl. AvT, V.  17253–17256); das Interesse liegt nicht auf dem konkreten Sprechen zu Gott als Versuch eines Kontakts mit der transzendenten Sphäre, was insofern konsequent ist, als die transzendente Sphäre selbst zur sprachlichen Veräußerlichung auffordert – und zwar nicht, um selbst noch einmal von Apollonius’ Leid zu hören, sondern um die Anagnorisis zwischen Apollonius und Lucina auszulösen. Denn jene ist es, die im Tempel die Klagen des Apollonius überhört und das in dem Gebet referierte Schicksal – ausdrücklich nicht die äußere Erscheinung des Betenden173 – wieder­ erkennt (vgl. AvT, V. 17273–17276). Das auferlegte Gebet ist daher zwar als Sprechen zu Gott angelegt, bedient aber nur die Möglichkeit der überhörbaren Selbstoffenbarung, die das Erzählen einer glücklichen und unverhofften Zusammenführung des getrennten Ehepaares ,braucht‘. Gleichzeitig erscheint die Zusammenführung gerade im Kontext des ausgesprochenen Klagegebets auch hier als Antwort Gottes. In den vorgestellten Passagen hat die handlungslogische Funktion, zum Teil gekoppelt mit einer Präsentation der Innensicht der Figuren, Vorrang beim Erzählen von Gebeten. Um eine Innensicht geht es auch der Sequenz im Apollonius, die eine Gruppe Ritter beim Bußgebet vor der Göttin Venus zeigt. Doch hier ist das Ziel nicht, die Intensität des Leids und die Ausweglosigkeit der Situ-

172 Auf die Inkohärenzen die Religiosität der Figuren und ihrer Lebenswelt betreffend ist bereits hingewiesen worden (s. Anm. 6/72), an dieser Stelle sei ergänzt, dass der Text keine Probleme damit hat, Lucina (wie im lateinischen Text) zu einer Priesterin im Dianatempel zu machen und Apollonius gleichzeitig von einer nicht weiter identifizierten Stimme die Anweisung zu einem Gebet zu dem einen Gott (vgl. AvT, V. 17225) aufzuerlegen, der Apollonius auch Folge leistet (vgl. AvT, V. 17253). Apollonius sucht hier also den Tempel einer griechischen Göttin auf, um auf dessen Altar zu [d]em hohen Got (AvT, V. 17253) zu sprechen. 173 Wie der Text wissen lässt, betrachtet Lucina den fremden Mann in ihrem Tempel und empfindet sofort eine Zuneigung, erkennt diesen aber aufgrund seines Bartes nicht (vgl. AvT, V. 17268–17271).

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ation zum Ausdruck zu bringen und damit die Wunderhaftigkeit der göttlichen Wendung hervorzuheben. Der Anlass der Zuwendung der Figuren zur Göttin Venus ist profaner Natur und weit weniger existentiell als in den soeben geschilderten Szenen. Grundsätzlich geht es allen, die versuchen, Venus mit ihrem Gebet zu erreichen, lediglich darum, in den Garten von Lisamunt vorzudringen. Diesen kann nur der Tugendhaft-Makellose erreichen (s. auch Kap. 4.4.2, 6.3.1), was für alle in der Reisegruppe zum Problem wird, als die Verfärbung iher Hände beim Eintauchen in ein Brunnenwasser anzeigt, dass alle in mehr oder weniger starkem Ausmaß beim Anblick der Jungfrauen bei der Begrüßung im Reich in erotischen Gedanken geschwelgt haben. Auf Rat des Landesherrschers Candor und des Priesters (vgl. AvT, V. 11794, 11810–11813, 1210–12113, 12683–12689) begeben die Reisenden sich jeweils in den Tempel der Venus,174 um vor ihrem Abbild175 um Verzeihung zu bitten (vgl. AvT, V.  11889, 11848, 11862, 11874, 11892, 11909, 11923, 11929, 11967). Das Bemühen, frei von der Schuld zu werden, richtet sich trotz der moralischen Implikation der Prüfung dezidiert nicht auf moralische Reinigung. Der Wunsch nach Tilgung der Schuld ist vielmehr bei allen auf den Garten gerichtet; die Reinigung der Seele, die beim Bußsakrament, dem die Passage nachgebildet ist, wird, so Müller, mit der Reinigung des Körpers ersetzt.176

174 Der Weg in den Tempel ist obligatorisch, die Kontaktinitiative wird demnach an einen bestimmten Ort gebunden. Dieser ist durch vorgeschaltete Tugendproben nicht unbedingt einfach zu erreichen (der Kontakt mit Venus scheint zumindest von den bei der Radprobe und dem darauffolgenden Kampf ausgewiesenen Tugenden abzuhängen [s.  Kap.  6.3.1]), allerdings wird er wie die über diesen zu erreichende Instanz auch erst innerhalb dieses Bereichs als Kontaktzone interessant. Ähnlich fallen die Kontaktangebote an die Göttin Juno aus, die Palmina um Hilfe bei der Gewinnung des Tyrländers als Ehemann ersucht (vgl. AvT, V. 14092–14110; s. Anm. 6/25). Auch sie besitzt einen Tempel, der dadurch, dass die Person, die mit ihr in Kontakt treten möchte, diesen aufsuchen muss (vgl. AvT, V. 14094), als transsphärischer Kommunikationsraum festgelegt ist. 175 Zunächst heißt es nur, in diesem Tempel was ain gottynne (AvT, V. 11799). Auch der Priester spricht davon, dass sie fur di gottin (AvT, V. 11807) gehen sollen. Ein paar Verse später of­fenbart der Text dann, dass es sich um eine bildliche Darstellung, ein pilde (AvT, V. 11814, 11840) handelt, die in den Folgeversen näher beschrieben wird (vgl. AvT, V. 11815–11817). 176 Candor selbst macht den Garten wiederholt zum Fix- und Zielpunkt der Tugendproben (vgl. AvT, V. 11782f., 12016f., 12064–1266, 12659), Apollonius gibt mehrmals an, unbedingt in diesen Garten kommen zu wollen (vgl. AvT, V. 12100–12102, 12193–12195, 12693f.). Zur Umbesetzung der Elemente des Bußsakraments in der Passage vgl. Müller, Blick, S. 26–28.

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Fünf der Beichtgebete177 gegenüber Venus werden wörtlich abgebildet. Auch wenn in den ersten Szenen eine bestimmte Geste zur Herstellung der Gesprächssituation angedeutet wird – den Beichten geht jeweils ein Kniefall vor dem Götterbild voraus178 – wirken die Kontaktaufnahmen nicht sonderlich komplex, die Redebeiträge gegenüber der Gottheit wenig gestaltet. Die monologisch bleibenden Beichtreden aller Ritter folgen demselben Muster und weichen auch inhaltlich (wenn überhaupt) nur graduell voneinander ab. Stets schildern die Betenden die Situation, in der sie meinen, sich versündigt zu haben, um dann in Verbindung mit einer Beschreibung des Anblicks ihren Gedankengang nachzuerzählen179 und am Ende diese Gedanken als Schuld zu bezeichnen und  – mehr oder weniger nachdrücklich180 – um Reinigung zu bitten.181 Dass trotz der Gleichförmigkeit fünf Beichtgebete in ihrem Wortlaut dargestellt werden, verweist auf ein Textinteresse

177 Nach der fünften Beichte beschließt die Erzählinstanz zusammenzufassen, da [e]s wurde langk solt ich gar sagen (AvT, V. 11974). Daher begnügt er sich damit festzustellen, dass sy alle gar gesunt werden (AvT, V. 11986). 178 Vgl. AvT, V. 11818, 11840, 11872, 11891, 11933. Auch den jeweiligen Nachfolgern wird dieses Vorgehen empfohlen: ir sult gar/Der mayle ane werden/Fur di gottin knien auff di erden (AvT, V. 11971–11973). Dass dieses Vorgehen immer wieder erwähnt wird, spricht für die Bedeutung, die dieser Geste für das Funktionieren der Kommunikation zugeschrieben wird. Gegen eine allgemeine Relevanz des Niederkniens für die Funktion der Kommunikationsinitiation spricht, dass in den späteren Unterredungen zwischen Apollonius und Venus dieses Vorgehen nicht erneut zur Sprache kommt: Im Rahmen der ersten Nachfrage findet der Kniefall erneut Erwähnung (Er kniete ir zu den fussen, AvT, V. 12125), bei der letzten Unterredung wird deutlich, dass Apollonius im Stehen mit Venus gesprochen haben muss, da er sich der Göttin erst zu Füßen wirft, als diese ihm ihre Erlaubnis, trotz misslungener Tugendprüfung in den Garten zu gehen, erteilt hat (vgl. AvT, V. 12721f.). In der Bebilderung fallen die drei Bilder, die Apollonius vor Venus zeigen, diesbezüglich ähnlich aus und stellen den Protagonisten kniend dar (vgl. die Abbildungen der Szene in b und c bei Krenn, Bildprogramm, als Tafel 55 [Gotha, Chart. A689, fol. 93v/Wien, Cod. 2886, fol. 72r], Tafel 58 [Gotha, Chart. A689, fol. 100v/Wien, Cod. 2886, fol. 78r], ohne Abbildung das zweite Gebet auf Gotha, Chart. A689, fol. 96r/Wien, Cod. 2886, fol. 74r). 179 Eine Ausnahme stellt das Gebet des Sultans dar, welcher nur paraphrasierend den Eindruck der schönen Diomena auf ihn wiedergibt (vgl. AvT, V. 11875–11887). 180 Printzel bspw. muss erst zur Beichte aufgefordert werden (vgl. AvT, V. 11835–11839) und zeigt sich dann nicht sonderlich reumütig bzw. geradezu indifferent gegenüber seinem ,Vergehen‘: Für eine Liebeserfahrung sei er gern bereit, zehn Jahre mit schwarz verfärbten Händen zu leben (vgl. AvT, V. 1158–11861). Der Priester sieht sich in diesem Falle daher genötigt, Printzel vor Frau Venus als jungen und ungestümen Mann zu bezeichnen und für ihn um Gnade zu bitten (vgl. AvT, V. 11864–11869). 181 Situationsbeschreibung jeweils in den Versen 11820–11822, 11842–11845, 11894–11904, 11914–11922, 11934–11946; Schilderung der dadurch angeregten Gedanken in den Versen 11823– 11826, 11845–11847, 11905–11908, 11923–11928, 11947–11956; Bezeichnung als solt, schuld(e) oder schult in den Versen 11831, 11863, 11887, 11909, 11929, 11965.

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an der Ausformulierung. Dieses scheint sich aber weniger auf den Austausch mit einer transzendenten Instanz zu richten, sondern vielmehr auf das Inserat erotischer Körperbeschreibungen. Hauptinteresse des Erzählens ist die Darstellung der Versündigung (narratio). Sie nimmt den größten Raum ein,182 während die Respektbezeugung gegenüber der Gottheit (exordium) und die Bitte um Vergebung (petitio) kurz ausfallen und nebensächlich erscheinen.183 Die umfangreichen Beschreibungen der Wahrnehmungen der Jungfrauen bei der Begrüßung in Lisamunt (vgl. AvT, V. 11716–11721) und der dadurch ausgelösten Erregung stehen der stets nur eine Zeile einnehmenden Einsicht der Schuld gegenüber und laufen damit der Behauptung von Reumütigkeit, unter deren Postulat die ,Heilung‘ der äußerlichen Verfehlungsmerkmale steht, zuwider, ja zeugen gerade von der Verzückung, die selbst die Erinnerung an das Aufeinandertreffen noch auszulösen vermag. Die Gebete sind zwar formal mediale Formen, um mit einer transzendenten Instanz in Kontakt zu treten, für den Text scheint aber die Präsentation

182 Ist in Wilhelms Gebetsschema die ausführliche narratio die Voraussetzung dafür, auf Gottes Barmherzigkeit hoffen und um sie bitten zu dürfen (vgl. Lutz, Rhetorica divina, S.  134), lässt sich hier doch eher ein Auserzählen der sündigen Gedanken als ein umfassend ausfallendes Bekenntnis feststellen. 183 Eine Art invocatio findet immer statt, nicht unbedingt wächst sich diese aber zu einer captatio benevolentiæ oder gar einer Doxologie aus. Meist befindet sich zu Beginn der Rede eine Formulierung, die die Sprechrichtung angibt (vgl. AvT, V. 11819, 11874, 11891, 12120, 12691). Printzel, Chlarantz von Ägypten und Syrinus von Galacia verzichten auf einen solchen Eingang und ergehen sich vielmehr gleich in einer Versprachlichung ihrer Phantasien (vgl. AvT, V. 11841– 11861, 11914–11928, 11934–11966). Beide formulieren allerdings am Ende ihrer Ausführungen explizit, an wen die Rede gerichtet ist (vgl. AvT, V. 11882, 11929, 11968). Neben der attributslosen Namensnennung (vgl. AvT, V. 11968, 12176, 12731, 11909, 11929, 12708, 12714) tauchen immer wieder dieselben Zuschreibungen – in unterschiedlichster Verknüpfung auf. Wahrgenommen wird Venus als Gott/Heiland (vgl. im Rahmen der Gebete AvT, V. 11891, 12147, 12152, 12700; vgl. für Referenzen außerhalb der Gebete V.  11838, 11807; auch die Erzählinstanz stimmt in diese Bezeichnung ein: AvT, V. 11798f.) und – nicht in Opposition zur Qualifizierung als Gottheit – als Königin und Herrin (vgl. AvT, V. 11874, 11882). Weniger häufig tritt die Bezeichnung als mynne (AvT, V. 11819, 12691) und damit die Identifikation als Personifizierung der Minne auf. Zur näheren Beschreibung dient vor allem das auf äußerliche Qualitäten hinweisende Adjektiv susse (AvT, V. 11819, 12152, 12183, 12692, 12700), daneben treten jeweils einmalig die Zuschreibungen edel (AvT, V.  11882) und klar (AvT, V.  11819) auf. Diesen Bezeichnungen zufolge verstehen die Figuren Venus als Instanz, die Herrschaft und transzendente Verfügungsgewalt in Sachen Minne besitzt und auf die passend zu ihrem Herrschaftsgebiet auch weitere positive Attribute, die mit Minnedamen verknüpft sind, zutreffen.

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schöner Frauenkörper und die durch sie angestoßenen Imaginationen im Vordergrund zu stehen.184 Gebetseinlagen bleiben, wie auch die zuletzt betrachtete Szene zeigt, nicht ohne Effekt auf den jeweiligen Transzendenzentwurf des Textes. Die inhaltliche Gestaltung, die dem vorgeblichen Bußgedanken entgegengesetzt ist, präsentiert die Maxime, nach der diese Instanz urteilt, als zweifelhaft – ein Eindruck, der sich durch die dialogischen Szenen zwischen Apollonius und der Göttin verstärkt (s. Kap. 6.1.1). Die Vergebung scheint von den wahren Empfindungen abgekoppelt und nur an der sprachlichen Oberfläche orientiert zu sein.185 Insofern sind die Szenen auch selbst Vermittler einer kritischen Textpositionierung zu dieser nicht-

184 Auf die Einzelheiten soll an dieser Stelle nicht ausführlich eingegangen sein. Zusammengenommen ergeben die Darstellungen allerdings ein recht detailreiches Bild der schönen Jungfrauen und ihrer Wirkung auf die Ritter. Es wird nicht nur allgemein ihre Jugend und unberührte Schönheit erwähnt (vgl. AvT, V. 11820, 11828, 11845, 11875, 11882, 11894, 11934, 11951), auch einzelne Körperteile – Haare (vgl. AvT, V. 11853, 11915), Augen (vgl. AvT, V. 11854, 11900f., 11938f.), Mund (vgl. AvT, V. 11846, 11850f., 11902, 11920, 11957), Brüste (vgl. AvT, V. 11852, 11918f.), Arme (vgl. AvT, V. 11948), Hände (vgl. AvT, V. 11876, 11878, 11896, 11916), Finger (vgl. AvT, V. 11916) – sowie ihren Gang (vgl. AvT, V. 11917) und Duft (vgl. AvT, V. 11949) beschreiben die Ritter in ihren Beichtreden. Die Berührungen bei der Entkleidung durch die Jungfrauen werden als elektrisierendes Erlebnis dargestellt; die sich an diese Erfahrung heftenden Gedanken sind durchaus explizit. Apollonius ist der Dame sofort hold (AvT, V.  11830) und denkt an Diomena, die ihm Erleichterung verschaffen könnte (vgl. AvT, V. 11824–11827), Printzel wird beinahe von Ohnmacht übermannt (vgl. AvT, V 11843) und stellt sich eine Liebesbegegnung sowie einen Kuss vor (vgl. AvT, V. 11845–11847, 1856–11861), für den er tausent pfund (AvT, V. 11847) zu bezahlen bereit ist. Der Sultan beschreibt seine Verstrickung in den Fängen der Minne und seine Verbrennung durch das Minnefeuer (vgl. AvT, V. 11879–11881, 11883f.), Palmer gibt an, fast die Besinnung verloren zu haben (AvT, V. 11896–11899) und gibt zu, um die Dame zum geselle zu haben (AvT, V. 11906), zehn Jahre Hölle in Kauf zu nehmen (vgl. AvT, V. 11905–11908). Chlarantz von Ägypten wiederum beschreibt, das mynne tockel (AvT, V. 11914) an seine Brust schmiegen und dafür all sein Gold hergeben zu wollen (vgl. AvT, V. 11923–11928). Syrinus bricht beim Anblick der Jungfrau nicht nur sofort das Herz (vgl. AvT, V. 11936f.), auch er stellt sich vor, sie an seine nackte Brust zu drücken (vgl. AvT, V.  11953–11955) und würde – in typischer Steigerungslogik– sogar den Tod für eine Nacht in Kauf nehmen (vgl. AvT, V. 11960–11964). 185 Venus reagiert jeweils sofort. Sie äußert sich in diesen Situationen gar nicht gegenüber den Besuchern des Tempels, sondern legt ihr Eingehen auf die Kommunikation allein dadurch nahe, dass sie der an sie herangetragenen Bitte nachkommt: Zehand ward im der nagel weiß (AvT, V. 1183) heißt es, nachdem Apollonius seine Beichte beendet hat. Genauso – im Übrigen wie bereits zuvor von dem Tempelpriester prognostiziert (vgl. AvT, V. 11811–11813) – verläuft die Beichte auch bei allen anderen Rittern (vgl. AvT, V. 11870, 11888, 11911f., 11932, 11968f.). Im Tempel der Juno vernimmt Palmina sogleich nach Beendigung ihres Gebets – ähnlich wie Apollonius (s.  Kap.  6.1.1) – [a]in stimme (AvT, V.  14102). In ihrem Ansinnen, eine Kommunikation mit der Transzendenz zu initiieren, erweist sich ihre Art des Betens also als erfolgreich und unproblematisch. Es muss der richtige Ort aufgesucht werden, an diesem jedoch reicht eine einfache Anspra-

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christlichen transzendenten Instanz. Gerade im Vergleich zu den zuvor besprochenen Passagen, die Apollonius und Tarsia in Notlagen im Gebet zu einem singulären jüdisch-christlichen Gott zeigen, werden noch mehr Differenzsetzungen deutlich. Bei der Göttin Venus ist das Aufsuchen eines bestimmten Kontaktraumes notwendig, während es sowohl Apollonius als auch Tarsia möglich ist, überall spontan Worte an den jüdisch-christlichen Gott zu richten, der dann – so ließen sich die den Gebeten folgenden Ereignisse zumindest deuten (s. o.) – auch reagiert. Im Vergleich werden so der jüdisch-christliche Gott als unabhängig von äußerem Zeremoniell erreichbar, die pagane Gottheit als auf einen ganz bestimmten Kontaktraum bedacht gezeichnet. Auch die jeweils verhandelten Zuständigkeits- und Einflussbereiche, auf die die Gebete verweisen, zeugen von einer hierarchisierenden Unterscheidung christlicher und ,heidnischer‘ Gottheiten. Das Anliegen der Betenden vor Venus ist das Eintreten in einen Garten, vor Gott die Rettung aus lebensbedrohlichen Situationen. Die Gebetsreden ähneln sich in ihrem Bezug auf die adressierte Transzendenz und in ihren lobenden Anrufungsformeln, doch Tarsias und Apollonius’ Gebete zeugen von einer grundsätzlichen Einsicht möglicher moralischer Verfehlungen, während die Aussagen gegenüber Venus zwar offiziell Bußgebete sein sollen, jedoch die ,Vergehen‘ in ihrer ausgeweiteten Nacherzählung glorifizieren. Die Entgegnungen der transzendenten Instanzen stellen wohl den wichtigsten Unterschied zwischen den ,heidnischen‘ und christlichen Autoritäten im Apollonius dar. Anders als bei Venus, die durch unmittelbare Umsetzung des Erbetenen bzw. eine körperlose Stimme antwortet,186 sind die Entgegnungen des jüdisch-christlichen Gottes im Apollonius nicht eindeutig, da sie – auch im Unterschied zu der Passage aus dem Reinfried – nicht in einer Gegenkommunikation bestehen, sondern direkt in Ereignisse umgesetzt auftreten. Daher ist der ,Erfolg‘ des Betens für die Figuren wie auch für die RezipientInnen bei der paganen Instanz leicht nachzuvollziehen, während die Antworten des jüdisch-christlichen Gottes – und ihr Sinn – erst in Retrospektive als barmherzige Tat interpretierbar werden. Die ,heidnische‘ Göttin gewährt das, worum sie gebeten wird, ja sie lässt auch mit sich verhandeln, während der jüdisch-christliche Gott ohne Diskussion oder Rechtfertigung das ,Richtige‘ für die Figuren erwirkt.187

che, um Gehör zu finden. Ein besonders formvollendetes Sprechen scheint für das Eingehen der Göttin auf das Kommunikationsangebot nicht nötig. 186 In der Beichtreihe vor Venus besteht die Entgegnung der Transzendenz ebenso nicht in sprachlichen Äußerungen, sondern in einem stillen Gewähren der Bitte. 187 Warum das von der christlichen Transzendenz nicht zu erwarten ist, beantwortet eingehender das Kap. 6.1.1.

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Die Perspektive auf die Gebetseinlagen als Schlüssel zu den Repräsentationen eigener und fremder Religion drängt sich auch für das letzte Textbeispiel aus dem Reinfried auf. Als der babylonische Bâruc, oberster Vertreter der durch den Kreuzzug des Protagonisten angegriffenen ,Heidenschaft‘, erfährt, dass seine Armee durch die christlichen Kreuzritter in große Bedrängnis geraten und die schumpfentiure slaht […] liederlich verlorn (RvB, V. 16379–16381) ist, gerät er zunächst in Zorn,188 dann in Trauer189 und hebt schließlich zu einem Klagegebet190 an, das von diesen beiden Emotionen geprägt ist.191 Da ein ausladendes Gebet erfolgt, lässt sich ähnlich wie für das Gebet der Yrkâne – bzw. fast noch nachdrücklicher – nach dem damit bedienten Textinteresse fragen. Denn um ein vorbildliches Gebet kann es sich bei den auf hundertsechsunddreißig Versen (vgl. RvB, V.  16385–16521) ausgedehnten Formulierungen des ,heidnischen‘ Bârucs kaum handeln. Die auch hier festzustellende Konzentration auf den Gebetstext192

188 Von seiner zornigen Erregung ist mehrmals die Rede (vgl. RvB, V.  163766f., 16374–16377, 16382). 189 Erwähnt wird sein trûren dicke (RvB, V. 16383) sowie sein jâmer[] (RvB, V. 16369, 16384). 190 Als Gebet bezeichnet der Text die wiedergegebene Rede nicht, es handelt sich jedoch ein­ deutig um ein Sprechen zu Gottheiten, was nicht nur die jeweils an- und aufgerufenen Gottes­ namen (s. u.), sondern auch die zahlreichen Personalpronomina in der zweiten Person bezeugen (vgl. RvB, V. 16389, 16392, 16395, 16396, 16401, 16402, 16403, 16404, 16405, 16410, 16411, 16413, 16416, 16418, 16424, 16426, 16428, 16432, 16434, 16436, 16438, 16440, 16442, 16443, 16446, 16448, 16450, 16452). Dieses formal dialogische Sprechen, das typisch für Gebete ist (s. o. bzw. erneut Hagby/Hüpper, Gebete, S. 197), wandelt sich ab Vers 16461, sodass man ab diesem Moment an der Bezeichnung der weiteren Gedanken als Gebet zweifeln kann (s. u.). 191 Ausdrücke emotionaler Affizierung oder direkte Aussagen über die missliche Disposition des Betenden treten zwar nicht stark hervor, lassen sich jedoch immer wieder finden (s. Anm. 6/188; 6/189). Zu nennen sind die Eröffnung des Gebets mit der Wendung ach, mir armen, iemer ach (RvB, V.  16386), die eingeschobenen Interjektionen (vgl. RvB, V.  16388, 16390), die expliziten Äußerungen zu seinem Schmerz: des ist mîn herze überladen/mit grôzem jâmer alle frist (RvB, V. 16422f.) sowie Des muoz ich jâmer dulden (RvB, V. 16461; erneut erwähnt wird sein jâmer in V. 165112). Er müsse trûren (RvB, V. 16469), seine Freude werde ,ver­säuert‘ (vgl. RvB, V. 16470), er sei leides überladen (RvB, V. 16514), jegliche Freude sei von ihm gerückt (vgl. RvB, V. 16492), ihm sei wê (RvB, V. 16497) zugefügt, er befinde sich in riuwen (RvB, V. 16504). 192 Auch hier wird kaum ein Wort über die außersprachlichen Bestandteile seines Sprechens zu Gott verloren. Es wird nur einmal eingangs erwähnt, dass er die wiedergegebenen Worte vil lîhte tougenlîchen sprach (RvB, V. 16385), es sich also um ein ebenso intimes privates Sprechen zu Gott wie im Falle der Yrkâne und nicht um eine repräsentative Rede handelt.

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lädt ein, es hinsichtlich der Gestaltung, aber auch der expliziten und impliziten religiösen Positionierung im Vergleich mit dem Gebet der Yrkâne zu lesen.193 Die trotz der divergierenden Anliegen194 jeweils als Klage- und Bittgebet einzustufenden Texte unterscheiden sich im Grundton deutlich voneinander. Statt mit einer Lobpreisung zu beginnen und sich der Verfügungsmacht demütig zu unterstellen, beginnt der Bâruc sein Gebet mit einem Ausdruck seiner beklagenswerten Lage sowie einer Beschuldigung gegenüber dem Angesprochenen: ,ach mir armen, iemer ach des grôzen schaden den ich hân! owê wie hât mich verlân dîn helfelîche stiure! ach milter got gehiure, hôhgelopter Tervîant, was mîn swære dir bekant und trôst mich niht diu helfe dîn, sô ist sicherlichen schîn daz du mir treist grôzen haz, ald aber du enmaht niht baz: der dinge muoz entwederz wesen. (RvB, V. 16386–16397)

Die adressierte Transzendenz wird zwar als machtvoll, gütig und lobenswert bezeichnet, offensichtlich bestehen beim Sprecher-Ich aber dennoch Zweifel an deren Kompetenz, die hier nicht wie in Yrkânes Fall in Gnadensgewissheit aufgelöst werden. Das Sprecher-Ich findet drei mögliche Erklärungen für die erlittene Niederlage: Erstens, die Transzendenz vernimmt seine Sorgen nicht, zweitens, sie nimmt seine Sorgen zwar wahr, will ihm aber nicht helfen, oder drittens, sie kann gar nicht helfen. In diesem Gebetseingang ist zwar die Möglichkeit auf zukünftige Abhilfe, trôst und helfe (RvB, V. 16393) enthalten, dennoch zeugen die

193 Beide Gebete sind handlungslogisch verbunden. Die Kontaktaufnahme des babylonischen Bârucs ist mit der geschilderten Szene um Yrkâne insofern verknüpft, als jene die Motivation eben des Kreuzzuges darstellt, der den Bâruc zum Beten bewegt. 194 Vielleicht ist es auch der Ausgangslage geschuldet, dass im Reinfried unterschiedliche Gebetsmotivationen bei Christen und ,Heiden‘ auftreten: Yrkâne betet um Nachwuchs, der Bâ­ruc um Beistand im heiligen Krieg. Ihn interessiert nicht weniger als die Auseinandersetzung zwischen ,Heidenschaft‘ und Christenheit. Geht es bei ihr um ein noch nicht gestiftetes Menschenleben, so bei ihm um die Verwüstung ganzer Landstriche und den Einsatz unzähliger religiös motivierter Kämpfer (vgl. RvB, V. 16166, 16239–16361). Der mögliche Eindruck, hier würden die Anlässe zum Vorteil des ,heidnischen‘ Betens gegenübergestellt, relativiert sich jedoch durch das dem Gebet des Bârucs vorausgehende umfangreiche Sprechen von Gott, das Reinfried direkt vor dem Triumphzug der Christen leistet (vgl. RvB, V. 15776–15966).

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aufgeworfenen Alternativen nicht von einer Allmachts- und Gnadensgewissheit, wie sie in Yrkânes Gebet festzustellen war, sondern eher von Skepsis und enttäuschter Hoffnung.195 Dieser Eindruck wiederholt sich im fortlaufenden Gebet, das in der ersten Hälfte vor allem aus einer Reihung ähnlicher Einzelanrufungen besteht. Der Bâruc betet nämlich nicht zu einem Gott, sondern zu einer Vielzahl von Gottheiten, die jeweils namentlich aufgerufen werden. Neben Tervîant (vgl. RvB, V. 16291) sind das Jovis (vgl. RvB, V. 16398), Apollo, Mars, Jupiter (vgl. RvB, V. 16399), Pallas (vgl. RvB, V. 16408), Vênus (vgl. RvB, V. 16414), Jûnô, Diâne (vgl. RvB, V. 16415), Thetis (vgl. RvB, V. 16418), Neptûnus (vgl. RvB, V. 16432), Ceres (vgl. RvB, V. 16438), Prosperinâ (vgl. RvB, V. 16442) und Mahmeten (vgl. RvB, V. 16464). Diese beeindruckend große Anzahl vermag im Sinne des christlichen Profils der Erzählung sicherlich den einen, singulären und problemlos die Scharen an ,heidnischen‘ Göttern überbietenden Gott, zu dem sich Reinfried und seine Kreuzritter noch kurz zuvor in einer scheinbar aussichtslosen Situation bekennen (vgl. RvB, V. 15777–15998), zu profilieren. Sie bietet im Rahmen des Gebets aber außerdem Gelegenheit, die Argumentation des Bârucs mehrmals zu wiederholen. So wird allen Gottheiten mehr oder weniger ausführlich vorgeworfen, ihm Unterstützung versagt zu haben  – und das, obwohl die Sprecherinstanz, wie ebenso immer wieder betont wird, Gottesdienst betrieben und keinen Anlass zu einer feindlichen Haltung ihr gegenüber gegeben habe.196 Offenbar geht das Sprecher-Ich von der zweiten Alternative der anfangs eingebrachten Möglichkeiten aus: Die Götter registrieren seine Bedrängnis und sind in der Lage, zu helfen, verweigern aber

195 Auch Martschini spricht angesichts dieser Passage von einer Anklage gegenüber den Göttern (vgl. Martschini, Schriftlichkeit, S. 273). 196 Wizzent ir niht, ich bin doch der/der iuch ie gedienet hât (RvB, V. 16400f.) erinnert er drei der erwähnten Gottheiten, nu hab ich doch mit triuwen ie/dir gedienet mîniu jâr (RvB, V. 16412f.) bringt er gegenüber Pallas hervor. Weitere solcher Aussprüche finden sich in Bezug auf weitere AdressatInnen (vgl. RvB, V. 16440f., 16458f., 16466f., 16452f.). Der Hinweis auf unterlassene Gegenleistung geht jeweils voraus oder folgt (vgl. RvB, V. 16402f., 16410f., 16416f., 16438f., 16468) und bildet einen starken Kontrast zwischen Einsatz des Sprecher-Ichs und der diesem gerade nicht zugekommenen Unterstützung in Not. Es führt sogar im Einzelfall Szenarien an, die ein solches als göttliche Rache eingestuftes Verhalten rechtfertigen würden. Gegenüber der Meeresnymphe Thetis, Mutter des Achilles, argumentiert es: ob dîn sun Achilles/von mîneæn handen wre erslagen,/sô möht dîn strâfe hân getragen/ûf mich niht grœzer râche (RvB, V. 16426–16429). Etwas allgemeiner äußert es sich gegenüber Mahmeten: het ich mit keinen schulden/mich missehuot ald übertreten/gên dem hôhen Mahmeten/sô muote mich mîn swære niht (RvB, V. 16462–16465) und verweist auf Rachetaten, zu denen es die Götter für fähig hält. So sei Ceres’ Reaktion auf die Entführung ihrer Tochter Proserpina râche, die moht sich über al/hân niemer baz gerochen (RvB, V. 16446f.).

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ihre Unterstützung. So fasst das Sprecher-Ich auch nach Hälfte des Klagegebets zusammen: het ich ie gescholten keine götelîche maht, ich schult den tag und ouch die naht, den sunnen und dâ zuo den mân,197 den ich vil gedienet hân und grœzlîch mîn opfer brâht, daz mich ir helfe nu versmâht. (RvB, V. 16454–16460)

Immer wieder wird diese Opposition zwischen eingebrachtem Dienst und ausbleibender Hilfe wiederholt und immer wieder bringt das Sprecher-Ich seine Verwunderung und Verärgerung zum Ausdruck.198 Tiefe erreicht das Sprechen des Bârucs damit nicht. Die Vielzahl der Gottheiten, auf die sich in der Präsentation ,heidnischer‘ Religiosität die Aufmerksamkeit aufteilt, bedingt, dass jeder Instanz in einer Art ,name-dropping‘ nur ein bis zwei Sätze gewidmet werden können. Der Betende eilt von einer Instanz zur nächsten, anstatt sich wie Yr­kâne in eine Instanz zu versenken und sich ausführlich mit deren Heilstaten auseinanderzusetzen. Der Effekt, den der Bâruc antizipiert, bleibt aus. Es kommt weder zu einer Antwort aus der transzendenten Sphäre noch zu einem Glücksumschwung in der kämpferischen Auseinandersetzung mit den christlichen Kreuzfahrern.199 Dieses Sprechen zu Gott bleibt monologisch, scheitert in seinem Ansinnen, eine – wenn überhaupt als existent angenommene – transzendente Ebene zu erreichen. Dabei liegt dem Gebet eigentlich eine ähnliche Gabe-Gegengabe-Logik wie dem Gebet

197 Nicht nur die angesprochenen Gottheiten, auch Naturinstanzen verehrt der Bâruc offenbar. 198 Die Verwunderung machen Formulierungen in Frageform kenntlich: war tæt du dîne sin­ne/ daz mich dîn trôst verlieren lie? (RvB, V.  16410f.); wie hânt ir helfe âne/mich armen sô gelâzen (RvB, V. 16416f.). Beschuldigungen bringt das Sprecher-Ich gegenüber einzelnen Instanzen vor: Apollo, Mars und Jupiter hätten an mir missevarn (RvB, V. 16405) und verdienten Schelte (vgl. RvB, V.  16403f.), Ceres wie Thetis hätten alle Hoffnung gebrochen (vgl. RvB, V.  16418–16421, 16439–16448f.), Neptûnus wird des Völkermordes bezichtigt (vgl. RvB, V. 16432f.). 199 Achnitz weist darauf hin, dass der Kampf zwischen Christen und ,Heiden‘ weder durch Reinfrieds Anrufung der göttlichen Allmacht, noch durch die Gebete an die ,heidnischen‘ Götter durch den Sultan entschieden werden kann, sodass der Streit schließlich im Zweikampf Reinfrieds und des Perserkönigs mündet (vgl. Achnitz, Babylon und Jerusalem, S. 165). Das mag zwar stimmen, dennoch erfolgt nach der Anrufung Reinfrieds ein Umschwung der Situation im Sinne der christlichen Kreuzfahrer – initiiert durch die List Reinfrieds – (vgl. RvB, V.  16086–16859); infolge des Gebets des Bârucs ist so eine Wandlung hingegen nicht zu beobachten.

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Yrkânes zugrunde. So wird auch diesen durchaus positiv attribuierten (milte[n], gehiure[n] und hôhgelopte[][n])200 Gottheiten die Möglichkeit, zu helfen – wiederum mit ähnlichen oder denselben Vokabeln201 – zugeschrieben und so legt der Bâruc genauso wie Yrkâne seiner Forderung zugrunde, sich für die göttliche Unterstützung verdient gemacht zu haben. Der Unterschied in der Haltung der Betenden liegt darin, dass die Rede des Bârucs auf Enttäuschung und Entrüstung fokussiert, Yrkânes Gebet vielmehr in ihrem ausführlichen narratio-Part die Erfolgsgeschichte in den Vordergrund stellt und Forderungen und Wünsche in Formulierungen der Gnadensgewissheit verpackt. Die Übereinstimmung fällt durch den hier mit Nachdruck immer wieder vorgebrachten Vorwurf und durch den Verzicht auf ausufernde Lobpreisungen und Demutsbekundungen kaum auf. Die wiederholende Reihung im Gebet des Bârucs zeigt daher nicht ein prinzipiell anderes Verhältnis zwischen Immanenz und Transzendenz, sondern überdeckt die Ähnlichkeiten zu Yrkânes Gebet. Die im Vergleich aufscheinenden Kontraste lassen entweder das Sprechen des ,heidni­schen‘ Sultans oder die paganen Glaubensprinzipien oder die angesprochenen Instanzen oder aber alles zugleich – die Ebene ist nicht eindeutig zu bestimmen – inferior erscheinen. Auch in diesem Text ist den Gebeten eine Hierarchisierung der christlichen und nicht-christlichen Religionen eingeschrieben. Die Markierung der Differenzen zwischen christlichem und ,heidnischem‘ Glauben erfolgt im Reinfried über die Gebetsworte, anders als im Apollonius (s. o.) ist im insgesamt stärker auf die gesprochenen Wortlaute fokussierenden Reinfried hinsichtlich außersprachlicher Aspekte kein Unterschied zu konstatieren.202 Yrkânes Gebet ist rhetorisch geformt, enthält eine ausgedehnte Anamnesepassage, die von miteinander ver­knüpftem, gesteigertem Lobpreis gerahmt wird. Das Prinzip der Wiederholung dient der Versenkung in die präsentierte Handlungsmacht Gottes und ist das Hauptargument ihrer gnadengewissen Hoffnung. Der Bâruc hingegen schreitet, ohne seiner Rede

200 Vgl. RvB, V. 16390f. Jovis wird hingegen als fürste ûz erlesen (RvB, V. 16398), Pallas als wediu guoteî/strtæriu götinne (RvB, V. 164098f.) bezeichnet, Mahmeten als hôhen (RvB, V. 16464) charakterisiert. 201 Auch hier hatte sich der Bâruc helfelîche stiure (RvB, V. 16389, 16485; vgl. auch V. 16475), helfe (RvB, V. 16393, 16402, 16416, 16460, 16468; helf, V. 16491), trôst (RvB, V. 16393, 16402, 16411) erhofft und auf der Gottheiten güete (RvB, V.  16438, 16478), gewalt (RvB, V.  16437, vgl. auch V. 16481) und gnâde (RvB, V. 16501) vertraut. 202 Dass Yrkâne und Reinfried beten, wo und wann immer es geht, das Sprechen zu Gott also auch hier abgekoppelt von einem bestimmten Ort oder einer bestimmten Gestenabfolge ist, der Bâruc hingegen nur einmal im Zorn infolge einer Niederlage sein Wort an die Transzendenz richtet, legt unterschiedliche Konventionen im Umgang mit der Transzendenz nahe, macht diese aber auch auf die Charakterisierung der Figuren rückführbar.

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einen besonderen Aufbau zu verleihen, sprachlich die verschiedenen, profillosen Gottheiten ab, deren unterlassene Hilfestellung einen Eindruck von Machtlosigkeit oder aber Verweigerung vermittelt. Die Reihung verdeutlicht die Vielzahl der angesprochenen Gottheiten, die dennoch nichts ausrichten können oder wollen. Der christliche Gott gewährt die an ihn herangetragene Bitte, die angesprochene Vielzahl ,heidnischer‘ Götter scheint gar nicht zu reagieren, sodass nicht deutlich wird, ob der Text überhaupt von der Existenz solcher Instanzen ausgeht.203 Die eingangs des Gebets vom Bâruc selbst angeführten anderen Optionen (s. o.) lässt der Text neben dieser Möglichkeit stehen. Ein diesbezüglicher Kommentar der Erzählinstanz ist aber auch nicht nötig. Sie kann sich darauf verlassen, dass das inserierte Gebet darstellen kann, dass der praktizierte Glaube bzw. seine Ausübung nicht solide ist. Doch es gibt einen Bruch in der Rede des Bârucs, der eine andere Ähnlichkeit zu Yrkânes Gebet darstellt und auf einer höheren Ebene auf einen universellen Effekt des medialen Verfahrens des Betens verweist. Denn nur die erste Hälfte des Gebets ist von der zornigen Erregung des Bârucs und seiner Enttäuschung geprägt. Schließlich ändert sich zuerst die Sprechweise, dann auch die Einstellung des Sprecher-Ichs. Schon als es die mehrmals vorgebrachte Argumentation für Mahmet wiederholt, wendet das Sprecher-Ich sich nicht mehr diesem Gott zu, sondern spricht in der dritten Person über ihn. Es habe im (RvB, V.  16467) gedient, und er (RvB, V. 16468) habe nicht geholfen. Das dialogisch konzipierte Gebet wandelt sich zu einer Art inneren Monolog, in dem dann schließlich viel hoffnungsvollere Töne angeschlagen werden. In dieser Rede ist sich das Sprecher-Ich auf einmal sicher, dass es bald durch göttliche Hilfe ergetzet (RvB, V. 16480) werde, man bald die Zeiten der Trauer und Verzweiflung belache[][n] (RvB, V. 16488) werde (vgl. auch RvB, V. 16507).204 Das Sprecher-Ich verleiht sogar seiner Beschämung angesichts der vorherigen Beschuldigungen Ausdruck und erneuert mit Nachdruck seinen Gottesdienst: ich hân wol befunden daz sî ân helf mich liezen und fröude von mir stiezen niht wan durch bezzerunge.

203 Die Anhäufung an enttäuschten Aufrufen erweckt zumindest auch den Eindruck, dass auch die Vielzahl der angebeteten paganen Gottheiten ihre Anhänger entweder nicht gegen den singulären christlichen Gott zu schützen vermag oder aber diese nicht vertrauenswürdig und in ihrem Handeln unzuverlässig sind. 204 Dabei wird gerade die Größe der erlittenen Niederlage als Argument für das Ausmaß der nun zustehenden Unterstützung ins Feld geführt. [T]ûsentvalte (RvB, V. 16482, 16498) würden die Götter das erfahrene Leid mit Freude vergelten (vgl. RvB, V. 16482f., 16497–16499).

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mîn strâfe rîchiu zunge hât an in leider missetân, daz ich sî bestrâfet hân; wan hânt sî mir gegeben wê, sô went sî tûsentvalte mê fröude mir nu lîhen. ich wil noch sol verzîhen mich irre gnâde niemer. mîn leben sol in iemer dienestlîch getriuwen, sît daz sî mînen riuwen ze fröuden schiere wandelnt. (RvB, V. 16490–16505)

Der zuvor auf die transzendenten Instanzen gerichtete Zorn lagert sich gleichzeitig um auf die verfluohte kristenheit (RvB, V.  16509), der es nun unerbittliche Rache schwört (vgl. RvB, V. 16510–16521). Weder das Sprecher-Ich noch die Erzählinstanz geben Gründe für diese Einstellungsänderung an; es ließe sich vermuten, dass sich angesichts der vielen an- und aufgerufenen transzendenten Unterstützer, die nun an ihre Aufgaben gemahnt worden sind, Siegesgewissheit einstellt. Dann zeigte diese Passage genauso wie das Gebet der Yrkâne das transformatorische Potenzial des Betens auf den Sender im Sinne einer Glaubensfestigung. Das Aufzählen der göttlichen Wundertaten bzw. im Falle des Bârucs der Vielzahl an Gottheiten bewirkt bei den Figuren eine Veränderung der Einstellung, zur Übernahme einer jeweils von Zweifeln befreiten, hoffnungsvollen Sicht­ weise. Dann aber dient die Gebetseinlage nicht nur der Darstellung religiöser Differenz, sondern auch der Darstellung der allgemeinen, religions­unspezifischen sprecherzentrierten Funktion des Gebets. Die Situationen, in denen die Figuren ihr Wort an transzendente Instanzen richten und somit um Transgression der Sphärengrenze in irgendeiner Form bitten, sind im Reinfried und im Apollonius unterschiedlich, jedoch stets durch eine Situation motiviert, in der die Figuren sich Hilfe oder Unterstützung erbeten.205 Das Interesse richtet sich nicht auf monologisches Sprechen zur Transzendenz, sondern auf Sprachhandlungen, die die angesprochene Sphäre zu einer Reaktion, einer transsphärischen Interaktion, auffordern. Im Vergleich miteinander zeigen die beiden Texte geradezu konträre Wege auf, erfolgreich das Wort an die christliche Transzendenz zu richten. Obwohl

205 Alle Gebete lassen sich daher als Bitt- und/oder Klagegebete sowie als Paradigmengebete einstufen (s. Anm. 6/74; 6/132).

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im Reinfried umfangreiche und rhetorisch durchdachte Bemühungen angestellt werden, das Sprechen im Apollonius kaum gestaltet wird, kommt es – mit einer Ausnahme – immer zu einer Antwort oder einer Reaktion, die als Antwort gelesen werden kann und im Interesse der oder des Betenden liegt – auch wenn das im ersten Moment nicht immer so erscheint.206 Es ergibt sich für den Reinfried ein Ideal des ,richtigen‘ Betens, für den Apollonius entsteht der Eindruck sehr unterschiedlicher Möglichkeiten, Hilfe zu erbitten. In beiden Texten scheint sich jedoch der ab dem zwölften Jahrhundert zu beobachtende Trend zur Verinnerlichung des Gebets207 niederzuschlagen, indem jeweils vorgeführt wird, dass das Sprechen zu Gott nicht wörtlich vollzogen werden muss, sondern auch gedanklich Formuliertes die transzendente Sphäre erreicht bzw. eventuell sogar eine höhere Kommunikationsebene darstellt. Insgesamt lässt sich behaupten, dass über die grundsätzlich ähnlichen Versuche, sprachlich einen Kontakt zu initiieren und die Reaktionen aus der transzendenten Sphäre subtil und implizit Unterschiede zwischen ,heidnischen‘ und christlichen Praktiken nahegelegt werden, welche

206 Ob es in mittelalterlicher Literatur Texte gibt, in denen sich Gott nicht als hilfsbereit erweist, ist fraglich. Gott mag zwar Bitten ablehnen, wie in der Lohnforderung des Kaiser Otto im Guoten Gêrhart des Rudolf von Ems (vgl. Rudolf von Ems: Der guote Gêrhart, hrsg. von John A. Asher, 3. durchges. Aufl. [Altdeutsche Textbibliothek 56], Tübingen 1989, V. 517–548; im Folgenden wird mit dem Kürzel GG auf diese Ausgabe referiert), allerdings stellt dann der Text deutlich aus, dass es dafür gute Gründe gibt (im Falle Ottos dessen Selbstrühmung). Diese Feststellung zeigt also keine Besonderheit oder Auffälligkeit, sondern bestätigt die ungebrochen christliche Ausrichtung mittelalterlicher Literatur sowie die gnädige und wohlgesonnene Haltung gegenüber den – zumindest nicht vermessen – Betenden. 207 Zöller spricht in Bezug auf das hochmütige Gebet Kaiser Ottos von den traditionellen Gebetslehren, nach denen das Vorgehen des Kaisers zunächst normkonform ist, und von dem bei diesem gerade nicht zu beobachtenden Trend der Verinnerlichung (vgl. Zöller, Sonja: Von zwîfel und guotem muot – Gewissensentscheidungen im ,Guten Gerhard‘? In: Zeitschrift für deutsches Altertum 130 [2001], S. 270–290, hier S. 278). Das laute und stille Beten als religionstypische ,heidnische‘ und ,christliche‘ Formen, das im Apollonius aufscheint, kooperiert mit der historischen Feststellung Lentes’, demzufolge Gebete im antiken Rom laut gesprochen wurden, da sie als Vehikel der menschlichen Interessen vor allem die räumlich gedachte Distanz zwischen Menschen- und Götterwelt zu überbrücken suchten, während das christliche Gebet, die die Distanz zwischen Mensch und Gott gerade nicht räumlich, sondern metaphysisch versteht, auch still, ja sogar rein gedanklich, wortlos gesprochen werden konnte (vgl. Lentes, Gebetsbuch, S. 13f.).

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erst durch einen medial geschärften Blick und die Kontrastierung der Textstellen sichtbar werden.208 Dass die Kontaktaufnahme nur in einer Ausnahme als besonderes rhetorisches Unterfangen dargestellt wird, veranlasst zu der Frage, welche Funktionen die Gebete für die Texte übernehmen. Besonders der Apollonius scheint insgesamt weniger ein Interesse an den Gebeten als transsphärischen medialen Formen zu haben. Beide Texte aber nutzen sie, um handlungslogische Zusammenhänge herzustellen209 oder um über die weibliche Figur als Mediatrix religiöses Wissen zu erzählen,210 die Innenperspektiven der Figuren zugänglich zu machen, Transzendenzentwürfe verschiedener Religionen (aus christlicher Perspektive) darzustellen oder aber gar Erotisches zu inserieren.

6.2.2 In Gottes Namen oder im eigenen Interesse? Intersphärische Botenfiguren Gebete sind Formatierungen eines immanenten Anliegens, das auf transzendente Antwort hofft. Betende versuchen mit ihnen, den Kanal zwischen Immanenz und Transzendenz zu öffnen. So zu beten, dass die Transzendenz es registriert, vernimmt und erhört, kann zwar eine rhetorische Kunst sein, jedoch ist die Kon-

208 Die Kontaktinitiationen gestalten sich nicht grundsätzlich anders, die Erzählinstanzen enthalten sich einer expliziten Wertung oder Kommentierung sowohl christlicher als auch ,heidnischer‘ Gebetspraktiken. Auszunehmen ist die Gebetspraxis von Reinfried, über die die Erzähl­ instanz verlauten lässt, sie folge allen Regeln der Betkunst (vgl. RvB, V. 13180–13185). 209 Bis auf eine Ausnahme sind alle Gebete Ausgangspunkt schicksalhafter Wendungen, die das Geschehen vorantreiben bzw. neue Handlungsstränge initiieren. Die allen Szenen zugrunde liegende Vorstellung einer Transzendenz, die auf Zuruf reagiert und somit bestimmte Wendungen, die außerhalb der Handlungsmacht der Figuren liegen, herbeiführen kann, wird ge­nutzt, um bestimmte Handlungsgänge zu motivieren oder zu plausibilisieren. Bei der Ausnahme – dem Gebet des babylonischen Sultans – geht es gerade darum zu zeigen, dass sein Sprechen wirkungslos ist (s. o.). 210 Besonders viel über Gebete erzählt wird im Reinfried von Braunschweig. Er inseriert das lange Gebet der Yrkâne, um mit und über dieses religiöses ,Wissen‘ zu erzählen. Er interessiert sich nicht nur, bzw. nicht vornehmlich für die transsphärische Interaktion, sondern nutzt den Kontakt zwischen Immanenz und Transzendenz, um einen religiösen Exkurs einzustreuen. Die bereits für die betende Figur beobachte Memorialfunktion erweitert sich im literarisch repräsentierten Gebet auf die Rezipientenschaft. Die Erzählinstanz, die sich sonst häufig der Aufgabe, zu erklären, zu erläutern, zu untermalen annimmt, wird dabei zurück genommen und eine Frauenfigur, die sich nicht nur an dieser Stelle als kompetent im Umgang mit medialen Formen zeigt, als Mediatrix dieses religiösen Inhalte eingesetzt, die Stimme einer untadeligen Gläubigen in den Dienst religiöser Inhalte gestellt.

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taktherstellung an sich – so haben die Textpassagen in Kap. 6.2.1 gezeigt – kein besonders schwieriges Unterfangen. Andersherum gestaltet sich das komplizierter. In den bisher untersuchten Szenen ,antwortet‘ die transzendente Sphäre meist in Taten; gibt es aber Details zu verhandeln oder mitzuteilen, so ist auch für sie der Rückgriff auf kommunikative Kanäle und die Formatierung in Sprache nötig. In den literarischen Darstellungen solcher transzendenter Äußerungen in die Immanenz gibt die transzendente Sphäre ihren Botschaften häufig nicht nur eine Stimme, sondern auch einen Körper. Sie setzt Botenfiguren ein, die menschliche Kommunikationswege beschreiten können, aber über transzendentes ,Wissen‘ verfügen. Die Zwischenschaltung von Figuren, die sich entweder in einem intersphärischen Kontaktraum befinden oder selbst den Umgang mit transsphärischen Vermittlungsformen beherrschen, findet sich als Möglichkeit des intersphärischen Kontakts im Reinfried wie im Apollonius in unterschiedlichen Ausformungen. Die mediale Form wird dabei zu einem selbständigen – und nicht immer vertrauenserweckenden – Bestandteil im Kommunikationsprozess. Dir muß geschehen noch vil we, Ee dan du es uber windest Und gantze rewe findest. (AvT, V. 4207–4209)

Mit dieser Aussage sieht sich der Protagonist des Apollonius zu Beginn seiner Abenteuerreisen konfrontiert. Ganz ähnlich bekommt Reinfried vor seinem Auszug gen Jerusalem zu hören: sô muost du mange sêre lîden doch dar under. wunderlîchiu wunder hât got ûf dich geschalten und hât dir doch gehalten dâ bî ein frœlîch ende.’ (RvB, V. 13310–13315)

Die hier jeweiligen Informationen entstammen einer Sphäre, die bereits den Fortlauf des Schicksals der Figuren überblickt.211 Zu den jeweiligen Protagonisten gelangen diese Informationen jedoch in der Rede anderer Figuren, im Falle Apol-

211 Besonders deutlich wird das bei Albedacus. Die verwendeten futurischen Verbformen ,sollen‘, ,müssen‘ und ,werden‘ erzeugen einen Gestus, der von Zukunftsgewissheit bestimmt ist (vgl. AvT, V. 4195, 4231f., 4205, 4207, 4861, 6190; vgl. auch V. 4215f., 4221, 4263, 4854). Die Vorhersagen bekräftigt er mehrfach und signalisiert damit die Zweifellosigkeit, mit der er meint, seine Aussagen über zukünftiges Geschehen behaupten zu können (vgl. AvT, V. 4857, 4217, 4862, 4224f.).

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lonius’ durch den Sternenseher Albedacus, im Falle Reinfrieds durch eine Frauengestalt, die nachts an seinem Bett erscheint. Von ähnlicher Zukunftsgewissheit geprägt sind im Apollonius die Redebeiträge zweier alter Männer auf einer abgelegenen Insel sowie zweier Ungeheuer, die den Weg nach Crisa belagern. Die quasi-körperliche Marienerscheinung,212 die Menschen, denen Apollonius zufällig in einem sonderbaren Raum am Rande der immanenten Welt begegnet, die Monsterwesen mit verwandtschaftlicher Beziehung zu paganen Gottheiten213 und der sonderbare, aber vollkommen immanent verhaftete Sternenseher – sie alle vereint ihre transsphärische Mittlerfunktion. Sie besitzen eine physische Präsenz und alle damit einhergehenden immanenten kommunikativen Möglichkeiten, verfügen aber über Informationen aus höheren Sphären. Die personenhaften Instanzen überführen die transzendenten Informationen in der Interaktion mit den Protagonisten jeweils in kurze, leicht verständliche narrative Darstellungen.214 Nur im Falle des Sternensehers, der sowohl als Empfänger transsphärischer Mediation als auch als mediale Form gezeigt wird, wird diese Übertragungsleistung explizit. Er formatiert die den Sternen abgerungenen Informationen215 in menschliche Sprache216 und vermittelt sie in einer Faceto-face-Kommunikation weiter:

212 Die ausführliche Erläuterung der Einstufung des Phänomens folgt in Anm. 6/217. 213 Vgl. AvT, V.  9116f. Ydrogants ebenso monsterhafte Frau Serpanta ist die Tochter von Pri­gamot (vgl. AvT, V. 9070), die mit Pluto verwandt ist, oder zumindest aus derselben Sphäre stammt (vgl. die genealogische Übersicht bei Birkhan, Nachwort, S. 420). 214 Apollonius spricht mit all seinen transsphärisch agierenden Widerparts: Serpanta schre mit ainer stymme laut (AvT, V. 9060), Ydrogant sprach (AvT, V. 9113), die Propheten lassen sich problemlos ansprechen (vgl. AvT, V. 14801, 14819) und antworten in vil susse wort (AvT, V. 14809). Auf die direkte mündliche Kommunikation mit den Propheten verweisen außerdem die Rede­ einleitungen [d]o sprach zu yn der allte man (AvT, V. 14824), [d]o sprach der alt (AvT, V. 14864), die auf unspektakuläre menschliche Sprachvorgänge schließen lassen, und die ebenso unproblematisch erscheinende Erwähnung des Aufnahmevorganges durch Apollonius, der [d]i rede horte vaste wol (AvT, V. 14886). Zahlreiche solcher Belege für das normal menschliche Kommunizieren über Sprache – direkt wiedergegebenen Worte und inquit-Formeln – lassen sich auch bei Albedacus finden (vgl. AvT, V. 4173f.; vgl. für weitere Belege V. 4172, 4177, 4277, 4846, 4921, 4932, 6189, 6433). Auch die Marienerscheinung im Reinfried von Braunschweig spricht zu Reinfried: Die ihrer Rede zugeschriebene Passage wird mit diu hôhgelopte werde/sprach (RvB, V. 13270f.) eingeleitet, sie selbst fordert zum Zuhören auf (hœre, was ich dagen wil, RvB, V. 13271), später informiert die Erzählinstanz darüber, dass sie wie zuvor zu Reinfried rette (RvB, V. 13369) und er die süeze jehen (RvB, V. 13404) zu hören glaubt. 215 Er beruft sich auf die Sterne als seine Quelle (vgl. AvT, V.  4193, V.  4200, V.  4226, V.  4235 V. 4858, 4922f., 6869). Mehr zum Vorgehen Albedacus’ in Kap. 6.3.3. 216 Den dabei verwendeten Sprachgestus oder den Klang qualifiziert die Erzählinstanz zusätzlich als angenehm und daher der Rezeption dienlich, wenn er ausführt, Albedacus spreche mit

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Da horten sy di maister jehen Er hette in der nacht gesehen Ainen stern zornes vol: (AvT, V. 4921–4923)

Der konkrete kommunikative Vermittlungsprozess stellt in allen Fällen keine Herausforderung dar. Die überwiegend in wörtlicher Rede wiedergegebenen Redebeiträge der Mittlerfiguren bedienen sich versteh- und nachvollziehbarer Worte und Sätze und pragmatisch eindeutiger Formulierungen und verzichten auf metaphorische oder andersartig verschlüsselte Sprache. Erläuterungen, Drohungen, Aufforderungen und Ratschläge sind jeweils eindeutig; sprachbedingte Verständnisschwierigkeiten finden keine Erwähnung. Dennoch sind nicht alle Prozesse problemlos oder erfolgreich: Reinfried ringt lange mit sich, bevor er die Informationen als transzendente Botschaften anerkennt, Apollonius reagiert teilweise gar nicht auf die Enthüllungen. Und so kehren die Passagen besonders in der vergleichenden Betrachtung die Schwierigkeiten hervor, die die Personalisierung der Schnittstelle zwischen immanenter und transzendenter Sphäre birgt. Um den immanenten Figuren transzendente Informationen zu eröffnen, müssen diese Mittler als von der Transzendenz autorisiert erkannt, ihre Aussagen als Enthüllungen rezipiert werden. Auf der Handlungsebene ist ebenso wie auf der Darstellungsebene die zentrale Frage, wie eine Unterredung zweier Figuren als transsphärische Interaktion gekennzeichnet ist. Es soll daher zunächst danach gefragt werden, wie die Texte die genannten Figuren von anderen abheben und unter welchen Voraussetzungen diese Markierungen für die mit jenen Mittlern interagierenden Figuren erkennbar sind. Da in den jeweiligen Passagen kaum erläuternde Erzählerkommentare auftauchen und der/die RezipientIn auf den Wahrnehmungs- und Einstufungsprozess der Figuren zurückgeworfen ist, ist diesbezüglich die Darstellungsebene eng mit der Wahrnehmung der Figuren verknüpft. Gleichzeitig stellt diese Konstellation die klassische medientheoretische Frage nach dem transformatorischen Einwirken der medialen Instanz auf die vermittelten Inhalte in den Vordergrund. Im Anschluss ist daher mit Blick auf das Zustandekommen des Kontakts und auf den Verlauf der Kommunikation darauf

schoner weyse (AvT, V.  4846) bzw. mit schon̅ warten (AvT, V.  4184). Die bildsprachlichen Ausdrücke, Apollonius müsse manigen sturm (AvT, V. 4218) durchleben und sich als ain wurm (AvT, V. 4219) erniedrigen, sind so konventionell und eingängig, dass sie kaum als schwer zu verstehen gelten können.

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zu achten, welche Eigenständigkeit und Transformationskraft im Vermittlungsprozess diesen Figuren zugeschrieben wird. Die größte Herausforderung für die erfolgreiche Vermittlung der transzendenten Informationen ist die Identifikation des transsphärischen Potenzials und der medialen Funktion der Figuren durch die jeweiligen Empfänger. Ein entscheidendes Indiz ist im Rahmen der Textauswahl die äußere Erscheinung. Alle transsphärisch agierenden medialen Formen personal-menschlicher Prägung zeichnen sich durch unterschiedliche Formen ästhetischer Exzeptionalität aus, die auf den intersphärischen Charakter verweist und die Aufmerksamkeit einer Figur auf sich zu ziehen vermag. Die Marienerscheinung217 kündigt ein durhliuhteclîhen

217 Kurz muss hier die Bezeichnung als ,Erscheinung‘ begründet werden. Der Text selbst stellt die Unsicherheit, wie das Phänomen einzuordnen ist, einerseits über die Figur Reinfrieds, andererseits über die Ausgestaltung des exzeptionellen Zustands, in dem es zu der Erfahrung kommt, dar (s. u.). Schließlich ordnet Reinfried die Erfahrung den Träumen als Form der Erkenntnis im Schlafe zu. Er spricht davon, etwas in troume (RvB, V. 13484) bzw. in mîns slâfe (RvB, V. 13452) gesehen zu haben und vergleicht sein Erlebnis mit prophetischen biblischen Träumen (vgl. RvB, V. 13435–13442). Das Auftreten von Engelserscheinungen und ähnlichen Phänomenen wird auch in der Forschung als Ausgestaltung transsphärischer Träume gedeutet (vgl. Schmidt-Hamnisa, Hans-Walter: Traum. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte Bd. 3 P–Z, 3., neubearb. Aufl., Berlin, New York 2003, S. 676–679, hier S. 677), da Engelserscheinungen als theo­rem­atische Traumerlebnisse in der Bibel (vgl. bspw. Mos. 31,10–13; Mt 1,20–25; Mt 2,12–13; Apg. 27,23–25) und in der antiken und mittelalterlichen Traumtheorie auftauchen (dann unter dem Begriff oraculum; Wehrle, Jan: Dreams and Dream Theory. Handbook of Medieval Culture. Fundamental Aspects and Conditions of the European Middle Ages Vol. 1: Hrsg. von Albrecht Classen, Berlin 2015, S. 329–346, hier S. 330, 340). Dennoch wird das Phänomen hier im Kapitel zu Mittlerfiguren behandelt – einerseits, weil Reinfrieds Schlaf gerade so diffizil von ,normalem‘ Schlaf unterschieden wird und die Erzählinstanz niemals behauptet, Reinfried träume, andererseits aufgrund des Mitteilungsformats. Alle anderen Träume im Reinfried und Apollonius stellen visuelle Vorgänge in einer von der äußeren Realität strikt geschiedenen Traumwelt dar (s. Kap. 6.3.2), während die Marienfigur hier in der Schlafkammer erscheint und Reinfried – wie alle weiteren Mittlerinstanzen – vornehmlich auf auditivem Wege ihre Informationen vermittelt. Es geht also trotz des visuellen Eindrucks der Marienfigur weniger um das Schauen transzendenter Informationen, das für die Begriffe von Traum und Vision elementar ist (vgl. Schmidt, Paul Gerhard: Vision. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte Bd. 3 P–Z, 3., neubearb. Aufl., Berlin, New York 2003, S. 784–786, der auf S. 784f. auf die etymologische Bedeutung, die sich im Visionsbegriff und -verständnis gehalten hat, hinweist; s. zur Beziehung dieser Begriffe Kap. 6.3.2), sondern um das Hören der sprachlich formatierten Botschaft. Das Wahrnehmen der Erscheinung selbst kann als Visionserfahrung beschrieben werden (so stuft auch Achnitz die Passage „eher als Vision denn als Traum“ ein [Achnitz, Babylon und Jerusalem, S. 159]), die Informationsvermittlung erfolgt jedoch auf auditivem Weg. Von einer Vision im engeren Sinne wie Dinzelbacher sie beschreibt (vgl. Dinzelbacher, Peter: Vision und Visionsliteratur im Mittelalter, Stuttgart 1981 [Monographien zur Geschichte des Mittelalters

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leuchtendes schœn lieht (RvB, V. 13222f.) in der Schlafkammer an. Dieses ist von ganz besonderer Qualität, wie ein bildlicher Vergleich mit zierlichstem Garn zu beschreiben sucht (vgl. RvB, V.  13224–13227), und dringt dem Betrachter Reinfried sofort direkt ins Herz (vgl. RvB, V.  13264–13267). Die daraufhin in diesem Glanz erscheinende Instanz trägt ein Gewand, von dem der eigentümliche Schein ausgeht (vgl. RvB, V. 13230, 13236f.). Die Verbindung von Erscheinung und Lichtschein ist unzertrennlich, der Schein gehört zur physischen Präsenz der damit selbst außerweltlich wirkenden Erscheinung, denn als diese plötzlich verschwindet, ist augenblicklich auch der Lichtschein erloschen (vgl. RvB, V. 13316–13320). Die Identifikation des Lichtscheins mit dem ,himm­lischen Licht‘, das Bestandteil vieler Visionsschilderungen ist,218 drängt sich auf. Eingeführt wird das Antlitz der Erscheinung selbst dann als wunder wilde (RvB, V.  12331, vgl. auch V.  13402)219 welches sogleich konkretisierend als wîplîch bilde (RvB, V. 13232) bezeichnet wird. Die weiblich anmutende Gestalt, die in ein kostbares Gewand aus cyclâde wîze (RvB, V. 13242) gehüllt ist, eine hell glänzende goldene Krone auf dem Haupt trägt

23], S. 29–33, zu den terminologischen und phänomenologischen Übergängen zwischen Vision und Erscheinung S. 29–39 sowie S. 45), lässt sie sich als ,Erscheinung‘ abgrenzen, da sie ohne Verlust der Wahrnehmung der eigentlichen Umwelt vonstatten geht (s.  die Definition der ,Erscheinung‘ hier S. 33–36). 218 Vgl. zum Bild des ,himmlischen Lichts‘ in der Visionsliteratur das gleichnamige Kapitel bei Benz, Ernst: Die Vision. Erfahrungsformen und Bilderwelt, Stuttgart 1969, S. 326–340. Es gebe eine breite Palette an Schilderungen, die Lichtvisionen beschreiben (vgl. hier S. 328f.). Die den Schilderungen zu entnehmenden Besonderheiten dieses Lichtscheins führt Benz auf S. 330–335 auf. Dass der Schein so wie im Reinfried das erste Anzeichen einer transsphärischen Kommunikation ist, scheint üblich zu sein und wird teilweise noch differenzierter ausgestaltet: „In der Regel beginnt eine Vision mit der Schau eines blendenden Lichts […]. Häufig aber entfalten sich dann allmählich aus dem Lichtkern einzelne Figuren, Bewegungen, Farben, Gruppen und Szenen und kristallisieren sich zu festen Anschauungsbildern aus“ (hier S. 339f.). Zu ausführlicheren Darstellungen gehörte auch das skalierte Abklingen dieser Färbung am Ende der Vision (vgl. hier S. 339f.). 219 Man könnte sie mit dieser Bezeichnung als Element des Wunderbaren einstufen. In dem von Jutta Eming entwickelten Forschungsbegriff stellt das religiös Magische neben Phänomenen des Geographischen, Naturwissenschaftlichen, Geschichtlichen, Mythischen und geheimnisvoll Verbotenen eine Kernkonstituente des Wunderbaren dar. Die Kategorie des Wunderbaren umfasst in diesem Verständnis des Forschungsbegriffs in mittelalterlicher Literatur auch das religiöse Wunder (vgl. zur Definition Eming, Jutta: Funktionswandel des Wunderbaren. Studien zum ,Bel Inconnu‘, zum ,Wigalois‘ und zum ,Wigoleis vom Rade‘, Trier 1999, S. 33–37).

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(vgl. RvB, V. 13262f.)220 und ein liebliches Kind221 im Arm hält (vgl. RvB, V. 13251– 13253), ist von einer so herausragenden Schönheit, dass Reinfried von dieser buchstäblich geblendet ist und glaubt, an dem schmerzhaft-schönen Glanz, der von der Erscheinung ausgeht, zu erblinden (vgl. RvB, V. 13234f., 13244f.).222 In der Verbindung von exzeptioneller Schönheit und Glanz verweist die Erscheinung auf ihren besonderen Status.223 Die Aufmerksamkeit Reinfrieds gewinnt sie mit diesem Auftritt problemlos. Bereits das merkwürdige Licht, das dem Auftauchen der Frauengestalt vorausgeht, vermag ihn kognitiv zu vereinnahmen. Er wird sorgen vol (RvB, V.  13228)

220 So ausführlich beschrieben wird sie nur in der Passage, die das erste Erlebnis darstellt. Beim zweiten und dritten Auftritt wird jeweils darauf verwiesen, dass es sich optisch um dieselbe Erscheinung handelt (vgl. RvB, V. 13362, 13363f., 13403f.). 221 Es sei trût (RvB, V. 13258), schœn (RvB, V. 13259), liep (RvB, V. 13259) und zart (RvB, V. 13259) und erweckt einen kindlich-niedlichen Eindruck (vgl. RvB, V. 13268f.), sodass es in Reinfrieds Gedanken die Formulierung ach wie trût ein kindelîn (RvB, V. 13258) hervorruft. 222 Von dem besonderen Eindruck, den das Äußere der Frauenfigur erweckt, zeugen neben der einführenden Beschreibung die wiederholt von der Erzählinstanz sowie durch den Gedankenbericht der Figur vorgenommenen Einstufungen: In unterschiedlichen Schreibvarianten, Deklinationen und Derivationen tauchen dort in Bezug auf die Erscheinung die Begriffe schôn (RvB, V. 13233, 13237), klârheit (RvB, V. 13237), fîn (RvB, V. 13251, 13358, 13366), rein (RvB, V. 13319, 13358, 13360), zarten (RvB, V.  13238), die süeze (RvB, V.  13404) und minneclîch (RvB, V.  13233, 13248, 13256, 13316, 13361) auf. Die Einordnung als weibliche Erscheinung erfolgt durch die Bezeichnung als frouwe (RvB, V. 13251) und wîp (RvB, V. 13256). Außerdem wird erneut ihr leuchtender Anblick (vgl. RvB, V. 13249) erwähnt. Mehrmals fällt auch der von Wertschätzung und Verehrung zeugende Begriff hôhgelopt (13251, 13270, 13319), hôchgeborne (RvB, V. 13360), sælden rîche (RvB, V. 13366) und werde ûz erkorne (RvB, V. 13359). 223 Als identischen Prozess könnte man sich die im Apollonius erwähnte Unterredung zwischen Daniel und dem Engel vorstellen, die sich im Text allerdings auf nur zwei Versen entspannt. Während die biblische Erzählung vom Nebukadnezar-Traum (s. Kap. 6.3.2) das ,Wis­sen‘ Daniels allgemeiner auf eine Vision (vgl. Dan 2,19) zurückführt, wird es Daniel im Apollonius vom Engel Gabriel gerawmt zu (AvT, V. 64f.). Phänomenologisch ähnlich, jedoch nicht eigentlich eine Begegnung mit einer Mittlerfigur, ist das nächtliche Erlebnis, das Apollonius zu seiner totgeglaubten Ehefrau Lucina führt. Dem Protagonisten ruft im Traum eine Stimme etwas zu. Die Einfachheit, in der dieser Umstand geschildert wird – es heißt lapidar do er slieff,/Im entraumte das im ain stymm rieff (vgl. AvT, V. 17219f.) –, steht in Kontrast zu dem Aufwand, den die Erzählinstanz des Reinfried betreibt, um eine ähnliche Situation zu beschreiben und zeigt, dass der Apollonius an dieser Stelle kein Interesse daran besitzt, wie genau es zu der Offenbarung kommt. Apollonius muss nicht durch Grübelei in einen bestimmten Zustand geraten und mehrmals unterrichtet werden; wenn sich die Transzendenz ihm gegenüber äußern will, reicht es, einmalig im ganz normalen Schlafzustand eine Traumstimme an ihn herantreten zu lassen. In der Formulierung [i]im entraumte (AvT, V. 17220) wird das Erlebnis zwar auch an Apollonius’ Wahrnehmung gebunden, der Zustand ist aber nicht so exzeptionell, dass die Erzählinstanz Mühe hätte, die Kontaktaufnahme darzustellen. Die Szene dient vielmehr dazu, Apollonius’ Gebet im Ephesischen

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und fragt sich, was es damit auf sich haben möge (vgl. RvB, V. 13229). Er re­agiert ambivalent: sîn herze224 wart des gastes/beide trûric unde frô (RvB, V. 13246f.) und versucht das vor Augen gestellte Phänomen einzuordnen. Es folgt ein Gedankenbericht, der von der kognitiven Beschäftigung mit der Bedeutung des Phänomens, die sich an der optischen Exorbitanz und Rätselhaftigkeit entzündet, zeugt (vgl. RvB, V. 13254–13261). Anhaltende Aufmerksamkeit erreicht die Erscheinung dann durch ihr plötzliches Verschwinden, wodurch auch das Licht schlagartig verlischt (vgl. RvB, V.  13320). Über diesen plötzlichen Wechsel von strahlender Helligkeit zu nächtlicher Dunkelheit erschrickt Reinfried und blickt suchend um sich, ohne noch eine Spur des Erlebten zu finden (RvB, V. 13323–13327). Das stößt genau die Zweifel an, die ihn in den richtigen Zustand für eine zweite Erfahrung versetzen (s.  u.; vgl. RvB, V.  13334–13349). Die Erscheinung ist einerseits eindrucksvoll und anregend, verschwindet andererseits so plötzlich, dass sie im nächtlichen Kontext wie ein Traum wirkt. Die Intensität des Erlebnisses kontrastiert mit dem Eindruck der leeren dunklen Schlafkammer, produziert einen Gegensatz, der eine Entscheidung für einen der Eindrücke verlangt. Auch nach der zweiten Erscheinung umfangen Reinfried widerstrebende Eindrücke, die die wiederum zur dritten Erscheinung führende Verstrickung in Gedanken fortführen (s. u.; vgl. RvB, V. 13378–13397). Der Reinfried entwickelt mit der Marienerscheinung eine Gestalt, deren Äußeres eindrücklich auf ihren Sonderstatus verweist und den Empfänger ihrer Botschaft in ihren Bann zieht. Auch die Mittlerfiguren im Apollonius sind – jeweils auf ihre Weise – optisch auffällig, regen ihr Gegenüber zur Auseinandersetzung an und vermitteln aufgrund ihrer optischen Besonderheit ebenso multimedial wie immanente Boten (s.  Kap.  4.2.2). Albedacus ruft bei seinem ersten Auftritt am Hof des Königs Paldein die freudige Vermutung ,ditz sind abentewer‘ hervor (AvT, V. 4135) und wird sogleich zu einem Gespräch geladen (vgl. AvT, V. 4176). Diese Bereitschaft zum initialen Interaktionsaufbau generiert Albedacus vor allem225 über seine Neugier weckende Selbstinszenierung. Er ist zwar nur ein alt[]

Tempel zu motivieren (s. Kap. 6.2.1), wo die Wiedervereinigung mit Lucina stattfindet (vgl. AvT, V. 17245–17286). 224 Das Herz kann in der mittelalterlichen Literatur als besonders sensibles und auf die inneren Reize fokussiertes Wahrnehmungsorgan dargestellt werden, so zeigt Cieslik für den Protagonisten des Guoten Gêrhart. Dort zeige es sich als „dem Intellekt übergeordnet“, als „Zentrum des menschlichen Fühlens und Wollens“ (vgl. Cieslik, Rede- und Figurengestaltung, S. 184). 225 Eine Rolle spielt selbstverständlich auch die Ankündigung einer Botschaft (vgl. AvT, V. 4192; s. u.).

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man (AvT, V. 4177),226 kommt aber auf einem gut genährten Schimmel reitend (vgl. AvT, V.  4151–4153), mit einem lasurblauen Samtgewand, einem grünen Mantel und einem goldenen Tuch bekleidet (vgl. AvT, V. 4154–4159) mit vier Knechten (vgl. AvT, V. 4160f.) und zwei kamelein, die einen watsack (AvT, V. 4141) und zwei sawmschrein (AvT, V. 4141) mit je einem in bestem Samt gekleideten Zwerg darauf (vgl. AvT, V.  4143–4148) tragen, hinein. Außerdem führt er einen goldenen Hut (vgl. AvT, V. 4162) und einen reich mit [g]olt und edel gestain (AvT, V. 4167) verzierten Stab mit sich. Diese farbenfrohe und geschmückte Erscheinung in Kombination mit den dem exotischen Orientraum entspringenden Lasttieren, den Zwergen und der kostbaren Ausstattung, lässt ihn kurios wirken, generiert Aufmerksamkeit und erweckt – wie die geschilderte Reaktion veranschaulicht – den Wunsch, sich mit ihm auseinanderzusetzen. Seine Stimme erschallt dann einem Horn gleich durch den Saal (vgl. AvT, V. 4172), führt den Eindruck der Exzeptionalität auf akustischer Ebene fort227 und vermag die visuell hergestellte Aufmerksamkeit in gespanntes Zuhören zu überführen. Ydrogant und Serpanta hingegen faszinieren ob ihrer hybriden Hässlichkeit. Sie bestechen optisch durch ihre Monstrosität,228 die ebenso wie die Schönheit der Marienerscheinung und die Kuriosität Albedacus’ für Aufmerksamkeit sorgt und Exzeptionalität ausstellt. Nachdem Apollonius am Hofe des Herrschers Nemrott erfahren hat, dass das Land Crisa ganz in der Nähe liegt,229 bittet er Nemrott mit Beharrlichkeit um Erlaubnis, dorthin reisen zu dürfen.230 Ein Grund

226 Vgl. ebenso AvT, V. 4174, 4845, 6433, 6437. Sein Antlitz ist von weißem Haar und einem langen grauen Bart gesäumt (vgl. AvT, V. 4155f.). 227 Die äußerliche Besonderheit wird weder als Resultat eines Kontakts mit der transzendenten Sphäre noch als eigentliche Strategie der Figur dargestellt. Vielmehr ist die umfassende Beschreibung der Erscheinung, die Apollonius und Paldein sichtlich in ihren Bann schlägt, auch für die TextrezipientInnen ein Marker der ungewöhnlichen Fähigkeiten der Figur und ein vielversprechender Ausblick auf die mit und durch diese Figur erlebten Abenteuer des Helden. 228 S.  für eine ausführliche Auseinandersetzung mit den Figuren im Hinblick auf ihre ,Monstrosität‘ Wittchow, Britta: Menschliche und Monströse Schichten. Eine intersektionale Analyse der Monster im Apollonius von Tyrland Heinrichs von Neustadt. In: Gender Studies – Queer Studies – Intersektionalität. Eine Zwischenbilanz aus mediävistischer Perspektive. Hrsg. von Ingrid Bennewitz/Jutta Eming/Johannes Traulsen, Göttingen 2019 (Berliner Mittelalter- und Frühneuzeitforschung 25), S. 365–393. 229 Das nun erneut als gulden tal (AvT, V. 8846), aber auch als ander paradeyß (AvT, V. 8848) bezeichnete Gebiet sei uns hie nahend pey (AvT, V. 8836). 230 Do sprach Lonius der degen/’Herre, welt ir eren pflegen,/So vertigt mich an di vart/Da das land ist verspart,/Das mir Serpanta und Ydrogant/Mit gesichte werdent erkant./Villeichte uns das gelucke purt/Das ditz land offen wirt./[…] Lat mich varen!’ – ’wi ir welt!’ (AvT, V. 8981–8988, 8998). Er argumentiert: Ir sind zway und nicht me/Dy disem land tunt so we;/Nu nemet ir ewr synne:/ Pliades di mer mynne/Und iren man Piramort/Hett wol funff hundert tracken dort/Ze Wabilon, von

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für den Wunsch, diesen gefährlichen Weg zu bereisen, ist laut Apollonius [d]as mir Serpanta und Ydrogant/Mit gesichte werdent erkant (AvT, V. 8985f.). Er scheint zumindest zum Teil dadurch motiviert, die im vorherigen Gespräch angesprochene Schrecklichkeit Ydrogants und Serpantas zu erblicken.231 Im Aufeinandertreffen mit Apollonius wird die Gefährlichkeit vor allem aber die Hässlichkeit der Wesen überaus umfangreich ausgestaltet,232 sodass das Attraktionspotenzial ihrer Erscheinung im Moment der Konfrontation auch auf Rezeptionsebene nachvollziehbar ist. Wenn Apollonius sich auch nicht allein aufgrund dieser ästhetisch stimulierenden Erfahrung auf eine Kommunikation mit den Monstern einlässt,233 so ist das Äußere der Figuren doch als eine Grundlage des grundsätzlichen Interesses und als – implizit bleibende – Repräsentation der Verbindung mit den ,heidnischen‘ Göttern234 zu lesen. Am wenigsten in ihrer Äußerlichkeit beschrieben und diesbezüglich wohl auch am wenigsten auffällig sind die zwei Männer, die Apollonius gen Ende

dem ich kam./Das gelucke mich von dannen nam,/Das düt es hie auch, werder helt (AvT, V. 8989– 8997). Damit nimmt er Bezug auf Nemrott, der angibt, man müsse sein Glück in Anspruch nehmen, um in das beschriebene Land zu kommen bzw. Ydrogant und Serpanta zu passieren (AvT, V. 8930f.). 231 Die Berichte enthalten eine Warnung vor der tiefflin (AvT, V. 8942) und hose (AvT, V. 8915; vgl. zur möglichen Übersetzung den Stellenkommentar zu AvT, V.  8915, S.  143 der Edition) Ser­panta. Serpanta und ihr Mann Ydrogant treiben auf dem Weg ihr Unwesen und machen den Zugang quasi unmöglich (vgl. AvT, V.  8839–8844, 8914–8927). Nicht zu vernachlässigen sind aber auch andere Aspekte: So hat Apollonius bereits viel von Crisa gehört, unter anderem, dass ihm das Land zu erobern vorhergesagt ist. Das erste Mal hört Apollonius von Crisa in einer Vorhersage des Albedacus, in der es als eines der von Apollonius zu erringenden Reiche auftaucht (vgl. AvT, V. 4214). Eingebettet in eine ausführliche Erzählung wird es im vom selben angeregten Bericht des König Paldein über Galacides, dessen Herzstück Crisa zu sein scheint. Die nun folgende Beschreibung der geographischen Besonderheiten, der Schönheit und des Reichtums Galacides’, in der auch das guldein tal (AvT, V. 4325) genannt wird, erstreckt sich über fast fünfzig Verse (vgl. AvT, V. 4328–4353) und endet mit einer Unfähigkeitsbekundung: Man kunde nicht in zwelff tagen/Geschreiben alle die reichait/Di das Land in ime drait (AvT, V. 4352–4354). 232 Vgl. AvT, V. 9015–9030, 9039–9059, 9061–9106, 10775–10777. 233 Die Fragen, die Apollonius an die beiden richtet (s. u.; vgl. AvT, V. 9032–9035, 9111f.), zielen allein auf eine Auskunft bezüglich des versperrten Wegs nach Crisa. Es ließe sich höchstens argumentieren, die Diskrepanz zwischen monsterhafter Erscheinung und und menschlicher Artikulationsweise generiere Aufmerksamkeit und Rezeptionsbereitschaft. Apollonius ist jedoch nicht überrascht, rechnet ja mit einer verständlichen Antwort von den Angesprochenen. Zudem hält ihn der Redebeitrag Ydrogants nicht davon ab, diesen anzugreifen, initiiert also bei ihm nicht den Wunsch nach einer ausführlicheren Auseinandersetzung (vgl. AvT, V. 9129). 234 Die Verbindung von Monstern mit dem Dämonischen ist in der biblischen Interpretationstradition der Monstervölker begründet: „In der Verbindung von biblischer Geschichte mit den Abenteuern Alexanders des Großen in Gog und Magog verdichtet sich auch das, was den

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seiner Reise auf einer Insel trifft. Auf der Reise nach Tarsis, wo Apollonius seine Tochter vermutet, trägt der Wind sein Schiff in unbekannte Gewässer, in denen die Reisenden orientierungslos herumtreiben (vgl. AvT, V.  14775–14779), bis sie zunächst auf die ,Insel des Lachens‘ stoßen (s.  Kap.  6.1.1) und schließlich eine weitere Insel erblicken, an der sie erfolgreich anlanden können. Dort trifft Apollonius auf zwei schon alt man (AvT, V. 14800). Diese Beschreibung mag trotz der semantisch auffälligen Kombination von Schönheit und Alter noch kein deutliches Indiz einer transsphärischen Stellung der Männer sein. Eine starke Reak­ tion zeigen die Gäste jedoch auf die Behauptung, die beiden lebten bereits über tausend Jahre auf dieser Insel – wie bei den Eindrücken Reinfrieds (s.  o.) ein Bruch mit dem physisch immanent Plausiblen (vgl. AvT, V. 14818). Mehr aber als die Mittler weist die Exorbitanz ihres Aufenthaltsortes auf eine Stellung zwischen der immanenten und transzendenten Sphäre hin. So trägt die Umgebung, in der Apollonius die Männer antrifft, eindeutig Spuren des Wunderbaren.235 Die Insel fällt Apollonius bei seinem ersten Anblick als schonste stain/Der auff erden ye geschain (AvT, V. 14788f.) auf. Gleich darauf folgt eine kurze Beschreibung, die diese Figurenaussage motiviert und bestärkt. Die Erzählinstanz führt aus: Er was aller sinewel Geleich als ain rundel. Si namen der purgk gawme. Do stund vil schoner pawme. Der stain was auff geschossen, Recht als er wär gegossen Von silber maisterlich dar. Die purgk was kostreich gar. (AvT, V. 14790–14797)

Monstern an Gefährlichkeit anhaftet, nicht zuletzt, weil sie in der Bibel zu den apokalyptischen Gefahren gerechnet werden“ (Simek, Monster, S. 38; s. auch S. 40f.). Die Indikatorfunktion des Monster-Körpers ist in der Etymologie des Begriffs ,Monster‘ abgebildet. Das lateinische ,mons­ trum‘ bedeutet ,Wahrzeichen‘ oder ,Warnzeichen‘ (vgl. Wunderlich, Dämonen, Monster, Fabelwesen, S. 23; Cohen, Jeffrey Jerome: Monster Theory. Reading Culture, University of Minnesota 1996, S. 4). Das Verständnis des von der Norm abweichenden Körpers als Zeichen, als Verweis, behält offenbar bis ins siebzehnte und achtzehnte Jahrhundert Gültigkeit (vgl. Gebhard, Gunther/Geisler, Oliver/Schröter, Steffen: Einleitung. In: Von Monstern und Menschen. Begegnungen der anderen Art in kulturwissenschaftlicher Perspektive. Hrsg. von dens., Bielefeld 2009 [Kultur- und Medientheorie], S. 9–30, hier S. 16–18). Dass Ydrogant und Serpanta in einer dämonischen Genealogie stehen, zeigt der Stammbaum, den Birkhan abbildet (vgl. Birkhan, Nachwort, S. 420). Ebenso werden sie mit der transzendenten Instanz des Teufels, in dessen Reich sie gern gesehene Gäste sind (vgl. AvT, V. 8917f.), assoziiert. 235 S. zur religiösen Konnotation des Begriffs Anm. 6/219.

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In diesem Falle ist die mediale Form selbst weniger visuell auffällig; der Eindruck der Außergewöhnlichkeit vermittelt sich eher über deren Umfeld. Die exzeptionelle äußere Erscheinung oder aber das außergewöhnliche Umfeld sind Hinweise auf das transsphärische Potenzial der Figuren. Die Hauptfiguren nehmen diese wahr und sind angeregt, sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Einige der Phänomene verlassen sich auf diese Signale und verzichten auf explizite Äußerungen zum eigenen Mittlerstatus, andere weisen sich als transsphärische Mittler aus. Die Ausstellung des eigenen medialen Charakters ist ein deutlicherer Hinweis für die Einordnung der Phänomene. Die Passagen unterscheiden sich darin, ob die Empfänger eine solche Selbstidentifizierung benötigen und – wenn sie denn erfolgt – ob sie ihrer Einschätzung nützt. Gerade im Vergleich der Protagonisten ergeben sich daraus Positionen zu den Anforderungen, die die transzendente Sphäre an die Empfänger solcher über Mittlerfiguren verfügbar werdenden Botschaften stellt. Die Frauenerscheinung weist sich genauso wenig explizit als mediale Form des göttlichen Wortes aus wie sie sich selbst benennt oder vorstellt. Indirekt identifiziert sie sich jedoch bereits zu Beginn ihrer Rede recht deutlich als Bild der Maria,236 wenn sie sich als Adressatin der Gebete Reinfrieds und Yrkânes offenbart.237 Die Erscheinung spricht im Namen der klassischen christlichen Mediatrix;238 diese wiederum versteht sich als Teil der transzendenten Personalunion.239 An anderer Stelle bezieht sie sich direkt auf Gott als planende Instanz,

236 Vgl. auch die unmittelbare Identifikation als diese bei Martschini, Schriftlichkeit, S. 270. 237 [I]r hânt mich und mîn kint gebeten (RvB, V. 13274), begründet sie ihr Erscheinen; da in dem Gebet der Yrkâne (s. Kap. 6.2.1) ausschließlich Gott und die Gottesmutter Maria angerufen werden, kommt diese Aussage einer Vorstellung gleich. 238 Maria erhalte – so Kiening, Mediologie, S.  24f. – im Rahmen körperlicher Praktiken der Empathie, die als mediale Handlungen der Kommunikation zwischen Immanenz und Transzendenz zu verstehen seien, die Rolle der Interzessorin und der Mediatrix. S.  ausführlich zu der vielschichtigen Medialität der Maria und ihrer religiösen sowie theologischen Grundlagen Mertens Fleury, Katharina: Maria mediatrix – mittellos mitel aller súnder. In: Modelle des Me‑ dialen im Mittelalter. Hrsg. von Christan Kiening/Martina Stercken, Berlin 2010 (Das Mittelalter 15, Heft 1), S. 33–47, hier insbes. S. 36–38. „Maria mediatrix überbrückt aktiv und passiv als Medium und Mittlerin die Grenze zwischen Immanenz und Transzendenz. Grundlegend für ihre Medialität ist ihr Status als auserwählte Gottesmutter; sie ist daher per se Medium der Inkarnation, Medium göttlicher Offenbarung an die Welt. Aber auch umgekehrt wird Maria für die Menschen ein Weg zu Christus und durch ihn auch zu Gottvater. Der Mensch kann sie unvermittelt um Hilfe anrufen und auch darum bitten, menschliche Gaben gottgefällig zu machen. […] Sie verhilft […] dem Menschen zu einer Stimme vor Christus, wenn ihm der direkte Zugang zu Christus und zu seinem Vater zu fehlen scheint“ (hier S. 47). 239 In ihrem Redebeitrag referiert sie meist mit der ersten Person Singular auf sich selbst (ich, RvB, V. 23271, 13281, 13285, 13410; mich, RvB, V. 13274; mîn, RvB, V. 13274, 13409), erwähnt dann

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von deren Plan sie offenbar unterrichtet ist (wunderlîchiu wunder/hât got ûf dich geschalten, RvB, V. 13312f.). Auch die Aussagen, Versprechen und Forderungen ihrer Rede verweisen selbstverständlich auf den besonderen Status der preisgegebenen Informationen (s.  u.), doch bereits diese impliziten Hinweise machen vor einem christlichen Hintergrund unmissverständlich deutlich, wer hier mit welcher Autorität das Wort an Reinfried richtet. Die Identifizierung bereitet Reinfried dann auch keine Mühe. Als die Erscheinung verschwunden ist, wendet er sich sogleich an muoter magt von himmelrîch (RvB, V. 13328f.).240 Trotz der deutlichen Indizien eines transsphärischen Charakters ist das Gelingen dieser Mitteilung dennoch nicht unproblematisch. Denn Reinfried stellt die Echtheit der Wahrnehmung infrage. Nicht nur die Erzählinstanz signalisiert mit der Rückbindung an die Wahrnehmungen der immanenten Figur241 implizit Zweifel an der Wahrheit der Erscheinung, auch Reinfried selbst ist – so lässt die Erzählung über Gedankenberichte wissen – keinesfalls sofort überzeugt, dass die Jungfrau, die er gesehen hat, für wahr zu halten und die Worte, die er vermeintlich von ihr vernommen hat, ernst zu nehmen sind. Bereits kurz zur

aber die Bitte um Gnade seitens der Figuren gegenüber einem nicht weiter spezifizierten uns (RvB, V. 13287, 13289) und verleiht Forderungen im Namen eines wir (RvB, V. 13288) Ausdruck. 240 Auch später spricht er gegenüber Yrkâne und seinen Ratgebern von seinem Gelübde gegenüber Gott und Maria (vgl. RvB, V. 13708–13713, 14084–14091). 241 Der Zustand des wahrnehmenden Subjekts bleibt in der Beschreibung ebenso in der Schwebe wie der Status der Erscheinung als rein internes oder auch realweltlich physisches Ereignis. Dass die Erscheinung sich in dem realen Raum, im gademe (RvB, V. 13223) vollzieht, verweist auf die Nähe zum Wachzustand und die physische Anbindung des optischen Eindrucks an die immanente Welt; dass Yrkâne neben Reinfried schläft und die Stimme, die zu Reinfried spricht, nicht wahrnimmt, verweist wiederum auf die Beschränkung des Phänomens auf seine Wahrnehmung und eine nicht vollständig den Regularien der immanenten Sphäre unterliegende Präsenz. Gebunden werden die wiedergegebenen Eindrücke über das Verb ,dünken‘ (vgl. RvB, V. 13234, 13240, 13250, 13265, 13400). Verbindungen der Wahrnehmungsvorgänge mit diesem Verweis auf die Figurenwahrnehmung spitzen, wie die Beispiele sîn dunken hôrt die süeze jehen (RvB, V. 13404) und nu begonde in dunken/wie er aber sæhe/das frümde wunder spæhe (RvB, V. 13400– 13402) zeigen, diese Bindung zu. Vereinzelt verweisen konjunktivische Formulierungen auf die Indirektheit, mit der die Erzählinstanz von dem Phänomen erzählen möchte (vgl. RvB, V. 13252, 13401f.). Die Verwendung des Konjunktivs ist aber nicht unbedingt als Hinweis auf die Unglaubwürdigkeit der Erlebnisse, vielmehr als grammatische Markierung des Übergangs vom Wachen zum Schlafen zu deuten (der Konjunktiv als grammatische Markierung solcher Übergänge bei van Well, Benjamin: Mir troumt hînacht ein troum. Untersuchungen zur Erzählweise von Träumen in mittelhochdeutscher Epik, Göttingen 2016 [Schriften der Wiener Germanistik 4], S. 19). Dem in diesen Formulierungen zumindest aufgeworfenen Eindruck der Fragwürdigkeit unterliegt aber auch Reinfried selbst, der sich entsprechend unsicher ist, wie seine Wahrnehmungen einzustufen und zu werten sind (s. u.).

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Sprache gekommen sind die Fragen nach der Realität der Eindrücke direkt nach deren Verschwinden. Er fragt sich, ob die Erscheinung ein Wach- oder ein Traum­ erlebnis, damit real und bedeutsam oder rein fiktiv und unbedeutend gewesen ist (vgl. RvB, V. 13334–13336). Sein intensiver sinnlicher Eindruck vermittelt ihm zwar das Gefühl, die Erscheinung im Wachzustand gesehen und gehört zu haben (des wæn ich wol, RvB, V. 13337), er ist aber hinsichtlich der Wahrheit seiner Wahrnehmung verunsichert (der Satz wird fortgeführt: und weiz sîn niht, RvB, V. 13337). Die zweite Erfahrung steigert diese Unsicherheit noch, denn: was im vor gewesen wê, dâ wart im dar nâch michel wirs von schrecken grôz, geloubent mirs daz er grôzer fröuden phlac. in jâmers fiur er alsô lac und leit bitterlîche nôt. sîn lîp was wol halber tôt von sorgen und von schrecken, daz grôze widerstecken begonde im in dem herzen. mit jâmerlîchem smerzen was er umbevangen. wie ez im wær ergangen, begond er aber denken und in sîn herze senken sô jâmerlîche riuwe. leit und sorgen niuwe wart im von sorgen quâle (RvB, V. 13378–13395)

Die Länge der Darstellung seiner Zweifel ist gegenüber der ersten Situation noch ausgedehnt, die Erzählinstanz berichtet, dass das widerstecken (RvB, V.  13386) von stärkerer, gar körperlich-schmerzvoller Qualität ist. Selbst nach dreimaliger Wiederholung des Phänomens ist Reinfried zögerlich, ob der Erfahrung zu trauen ist.242 Ein längerer innerer Monolog gibt Aufschluss über die widerstrebenden Interpretationen der Erlebnisse, die seinen manger hand betrahte (RvB, V. 13416; vgl. auch die Vokabeln des Nachdenkens in V. 13418, 13426) entspringen und ihm erneut sorgen (RvB, V. 13415; vgl. auch V. 13419) und kumber (RvB, V. 13417) bereiten. Die Grundfrage der wiedergegebenen gedanklichen Erörterung formuliert

242 Zentral ist für den Umgang mit solchen Erlebnissen im mittelalterlichen Verständnisho­ rizont die Rückführung dieser auf göttliches Mitteilungsbedürfnis und dämonische Verführungsversuche sowie die (Un-)Möglichkeit, die Urheberschaft eindeutig und endgültig zu be­stimmen (vgl. dazu auch Kap. 6.3.2).

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die Figur zu Beginn der Gedankenrede selbst: [I]st ez wâr ald ist ez niht/daz du in tröumen hast gesehen?‘ (RvB, V. 13420f.). Der Einblick in die Figur vermittelt die Identifikation einer göttlichen Botschaft als solche eindrücklich als zentrales Problem transsphärischer Mediation über Mittlerfiguren. Das Erlebnis ist für den Text Auslöser, um einen zweistimmigen Diskurs über die realweltliche Relevanz nächtlicher Erscheinungen und Träume zu führen, und lässt dabei die Zweifel, die einer Kommunikation mit der Transzendenz selbst bei Kommunikationsbereitschaft im Wege stehen, zunächst auch zu Wort kommen. [N]ein (RvB, V. 13422) lautet die erste Einschätzung, die das Erlebnis als Trug abtut. Doch auf das erste Ergebnis seiner Überlegungen, regt sich sofort Widerstand in Reinfried. [N]ein benamen ez ist wâr (RvB, V. 13427) schießt es ihm sogleich und wider sich selbst (RvB, V. 13426) durch den Kopf und nun sammeln sich alle Argumente, die der Erscheinung Bedeutung, ihren Worten realweltliche Relevanz zuschreiben. Die Argumentation in favorem der Wahrheit der Erscheinung fällt etwa fünfmal so lang wie die Äußerung des Zweifels aus (vgl. RvB, V.  13422–13425, 13427–13451) und zeugt so von dem Bemühen des Textes, die ,richtige‘ Lösung, das Vertrauen in das allen realweltlichen Gesetzmäßigkeiten widersprechende Geschehen, zu untermauern. Figur und RezipientIn werden gleichzeitig von der Wirklichkeit und Wahrheit des Erlebnisses überzeugt. Für die Figur hat interessanterweise auch die mediale Formatierung der Argumente Gewicht. Reinfried nämlich räumt der schriftlich fixierten Argumentation eine höhere Gültigkeit vor der mündlich überlieferten ein.243 Aufgrund seiner Bibellektüre ist für ihn schließlich evident,

243 Das Argument, Träume seien Trugbilder, beruht auf Hörensagen (ich hœr die wîsen je­hen/ daz tröume dicke triegen/und trugenlîche liegen, RvB, V. 13422–13424); alle ,Proargumente‘ entnimmt Reinfried hingegen der Bibellektüre. Er leitet seine Kenntnisse über die Offenbarungspraxis Gottes – Gott kommuniziere mit der Immanenz im Schlaf, da dann die äußerlich-oberflächlichen Kommunikationssinne ausgeschaltet sind, das Herz, zu welchem Gott sprechen möchte, jedoch wach und empfangsbereit ist (vgl. RvB, V. 13429–13433) – und die Aufzählung an Exempeln, die das kommunikative Vorgehen Gottes als dem seinen Erlebnis ähnlich darstellen, mit dem Hinweis wir hân gelesen offenbâr (RvB, V. 13428) ein. Die Beispiele aus der Bibel (Ezechel, vgl. RvB, V.  13434f.; Johannes, vgl. RvB, V.  13436f.; Paulus, vgl. RvB, V.  13438f.; Samuel, vgl. RvB, V. 13446–13451; vgl. zur Ähnlichkeit der Vorgänge Achnitz, Babylon und Jerusalem, S. 157) wirken gegenüber der allgemeinen und unspezifischen traumskeptischen Sentenz der Weisen plastischer und überzeugender. Die dreimalige, entweder identische oder variierte (intensivierte) Wiederholung desselben Visionserlebnisses, ist laut Benz, Vision, S. 174 ein typisches Phänomen in der Schilderung solcher Erfahrungen aus unterschiedlichsten Ländern, Epochen und kulturellen Schichten (vgl. hier S. 175): „Die dreimalige Wiederholung ist ein Mittel der Intensivierung und Akzeleration der Auseinandersetzung zwischen dem Beharrungsvermögen des traditionell geformten religiösen Selbstbewußtseins und dem Überbewußtsein, das mit neuen Forderungen an das religiöse Bewußsein herantritt. Bei vielen Gläubigen genügt ein ein-

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dass er dieses Ereignis für wâr (RvB, V. 13457) nehmen müsse,244 es sich um einen Vorgang handelt, den got hât getan ze maniger stunt/und tet ie und tuot noch (RvB, V.  13454f.) und der ihm Zugang zu ganz besonderen Informationen gewährt  – nämlich zu solchen, die nur mit slâfes ougen (RvB, V. 13452) wahrnehmbar sind, die ihm wachende […] unkunt (RvB, V.  13453) bleiben müssen – Informationen also, die genau an diesen Modus der Rezeption gekoppelt sind.245 Diese Einsicht bezeugt Reinfried in einem Bekenntnisgebet (s.  Kap.  6.2.1; vgl. RvB, V.  13472– 13496), das die Erzählinstanz als eine die Verabredung zwischen Gott und Reinfried besiegelnde Handlung bewertet: Mit disen worten und alsô hât er got entheizen dô der reise vart unz ûf ein ort. (RvB, V. 13497–13499)

Die Figur Reinfried zeigt, dass religiöses Wissen oder zumindest ein Erwägen eines transzendenten Ursprungs solch merkwürdiger Erscheinungen246 die Vor-

maliger visionärer Anstoß, ein einmaliger Anruf, um die innere Wandlung hervorzurufen, den Empfänger der Botschaft zum Gehorsam bereit zu machen und zur Ausübung des Auftrages zu stärken. Andere aber [so hier zum Beispiel Reinfried, B.W.] leisten Widerstand. […] Was sich bei Hildegard und in zahlreichen ähnlich gelagerten Fällen in Form eines einmaligen Anstoßes und einer anschließenden langwierigen Krise abspielt, die sich im physischen Bereich als schwere Erkrankung auswirkt, wird bei Petrus [Benz nutzt das Beispiel aus Apg 10,9–16:9, B.W.] – und in zahlreichen anderen Fällen – durch die raschere und gröbere Methode des dreimaligen Schlages erreicht“ (hier S. 179f.). 244 Der innere Monolog wird weitergeführt mit Bekundungen, Gottes Macht, Abhilfe zu verschaffen, zu vertrauen, sich in die göttliche Gewalt zu begeben, sich dem über die Erscheinung vermittelten Gebot unterstellen zu wollen (vgl. RvB, V. 13460–13471) und geht schließlich über in ein direktes gedankliches Sprechen zu Gott (vgl. RvB, V. 13472–13496; s. Kap. 6.2.1). 245 Damit vertritt er einen zeitgenössisch populären Standpunkt, der in der ,inneren Schau‘ einen „bevorzugte[][n] ,Kanal‘ der Gotteserkenntnis vermutet“ (Wandhoff, Ekphrasis, S.  24). Diese Bevorzugung sei vor allem für die mystische Tradition zu konstatieren, die das innere Sehen mit der höheren Erkenntnis in Verbindung setzt (vgl. hier S. 27). 246 Wesentlich weniger Gedanken macht sich Apollonius, als ihn im späteren Textverlauf eine Traumstimme unterrichtet, was er zu tun habe (s.  Anm.  6/223). Obwohl diese nicht über eine exzeptionelle visuelle Erscheinung verfügt und sie in ihrer kurzen Ansprache auch kein Wort darüber verliert, wer sie ist und welchen Status sie hat, folgt Apollonius ihrem Befehl zeitnah. Er tut das allerdings auf Rat seiner Gefolgsleute, denen er den Inhalt der Rede berichtet (vgl. AvT, V. 17231). Diese überzeugen ihn, den Worten Folge zu leisten. In Apollonius’ Erkundigung zeigt sich kurzzeitig ein Zweifel, ob einer solchen Botschaft Relevanz beizumessen sei, im Ergebnis bestätigt die sofortige Reaktion der Gefolgsleute herre, düt also! (AvT, V. 17232) jedoch nicht nur die einfache Zugänglichkeit und die der vermittelten Information zugestandene Wichtigkeit,

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aussetzung darstellt, die Besonderheit der Erscheinung ,richtig‘ zu interpretieren (und dass – was in medientheoretischer Hinsicht interessant ist – dieses ,Wissen‘ glücklicherweise schriftlich gesichert ist).247 Ein ebenso deutliches Beispiel für diese Voraussetzung auf Empfängerseite ist Apollonius, der allerdings die Enthüllung der christlichen Autoritäten ob fehlender Grundkenntnisse nicht als solche wahrnimmt, obwohl sich auch ihm deutliche Indizien bieten, um den transsphärischen Charakter seiner Unterhaltungen zu verstehen. Das zeigt sich eindrücklich bei seiner Begegnung mit den ,Inselbewohnern‘. Der Aufenthaltsort der beiden Männer ist nicht nur außergewöhnlich (s. o.), die Bewohner der Insel weisen diese am Ende ihrer Rede explizit als ain paradeyß (AvT, V. 14892) und damit als Kontaktraum zwischen der immanenten und transzendenten Sphäre aus.248 Die Parallelen des beschriebenen Ortes zu biblischen

sondern auch die diesem Phänomen beigemessene mediale Bedeutung. Nachträglich wird dem Phänomen in Apollonius’ Äußerung gegenüber Lucina, Gott habe ihn zu ihr nach Epheso in den Tempel gesandt (vgl. AvT, V. 17278f.), von diesem selbst ein transzendenter Ursprung zugeschrieben. Hier erweist es sich als hilfreich, dass der Trauminhalt durch seine sprachliche Form leicht wiederzugeben und weiterzuvermitteln ist. Einstimmig raten seine Gefolgsleute Apollonius zum Gehorsam, sofort initiiert man die Ausführung des Auftrages, indem die Segel [g]en Epheso (AvT, V. 17234) gesetzt werden. 247 Auch wenn Reinfried eine deutliche Beweisführung liefert, so gibt doch die Bibel für die Beurteilung keine wirklich eindeutige Hilfestellung, heißt es doch in Jer 28,9 eher kritisch über die Aussagen von Propheten: „Wenn aber ein Prophet von Heil weissagt – ob ihn der Herr wahrhaftig gesandt hat, wird man daran erkennen, dass sein Wort erfüllt wird“ (Jer 28, 9; vgl. auch Jer 27,9–22). Demnach ist immer erst rückblickend endgültig festzustellen, ob das vermittelte Wort tatsächlich ein Gotteswort ist und es sich tatsächlich um einen Propheten handelt und nicht um eine teuflische Versuchung. 248 S. einleitend zum Paradiesverständnis im Mittelalter Anm. 6/10. Im mittelalterlichen Diskurs über Himmel, Hölle und Paradies besteht auch die Vorstellung einer intersphärischen Zone, die immanente literarische Figuren auf ihren Reisen streifen und temporär auch betreten (vgl. Strijbosch, Himmel, Hölle und Paradiese, hier bes. S. 60). Dort heißt es: „Hieraus [gemeint ist De ordine creaturarum, eine wohl im siebten Jahrhundert im irischen Raum verfasste Abhandlung, B.W.] kann geschlossen werden, dass es zwischen Himmel und Erde eine höhere, stabile und eine niedere, instabile Zone gibt. Engel befinden sich im himmlischen Paradies, aber auch zwischen Himmel und Erde, und letztere sind in ihrem Sturz in den niederen Teil, in die Nähe der Erde geraten. Hier leben sie in Abwartung des Jüngsten Gerichts.“ Für die mittelalterliche Vorstellung von Zwischenräumen kann Strijbosch weitere Belege anführen. Auch Augustinus, dessen Schrift De genesi ad litteram „für die westliche Paradiestradition richtungsgebend gewesen“ sei (hier S. 54), gehe von der Existenz solcher Bereiche mit Anbindung an die irdische Welt, von der historischen Realität und irdischer Erreichbarkeit von Paradiesen aus (vgl. für konkrete Ausführungen zur Bedeutung der augustinischen Position das Kapitel ,Das normative Para­ digma der westlichen Paradiesauslegung: Aurelius Augustinus‘ Grimm, Reinhold R.: Paradisus

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und literarischen Darstellungen irdischer Paradiese,249 zu denen auch die Anwesenheit der alten Männer gehört,250 macht eine explizite Einstufung für RezipientInnen mit entsprechendem religiösen und literarischen Vorwissen geradezu obsolet. Die Männer präsentieren sich aber gegenüber Apollonius auch explizit als intersphärische Figuren. Als sie sich erfreut über den Besuch zeigen und dabei erwähnen, es sei seit über tausend Jahren niemand zu ihnen auf das Eiland gekommen (vgl. AvT, V. 14813–14817), sind die Gesprächspartner von der Behauptung, ein solch (biblisches) Alter erreicht zu haben verblüfft, ja bezeichnen das vorgefundene Szenario als wunder (AvT, V. 14822). Der ältere der beiden klärt auf,

coelestis, paradisus terrestris. Zur Auslegungsgeschichte des Paradieses im Abendland bis um 1200, München 1977 [Medium Aevum philologische Studien 33], bes. S. 55–71). 249 Bei der Lektüre der Paradiescharakteristika, die sich aus der Bibel ableiten und in der St. Brandan-Legende jeweils Umsetzung und Ausgestaltung erfahren (vgl. Strijbosch, Himmel, Hölle und Paradiese), lassen sich Parallelen zum Phänomen im Apollonius finden: Die in der Bibel gezeichnete biblische Stadt (das Himmlische Jerusalem) ist eine goldene, strahlende Stadt (vgl. Offenbarung 21, 10–25); im Apollonius ist die Stadt, die sie betrachten, zumindest kostreich (AvT, V. 14797), die Insel wie aus Silber gegossen (vgl. AvT, V. 14795f.). Ebenso wie im biblischen Text erwähnt der Apollonius vil schoner pawme (AvT, V. 14793). Die Erweiterung des Baummotivs auf das Fehlen irdischen Gebrechens, auf das Strijbosch hinweist (vgl. Strijbosch, Himmel, Hölle und Paradiese, S. 54), nimmt der Apollonius auf, indem der Geschmack der Äpfel, die die Propheten Apollonius schenken, jegliches Unbehagen vertreiben (vgl. AvT, V.  14887–14891). Auch die Platzierung auf einer schwer oder nur zufällig erreichbaren Insel ist typisch für Beschreibungen des irdischen Paradieses. Strijbosch bezieht sich mit der Feststellung, das irdische Paradies in mittelalterlichen Beschreibungen so schwer zu erreichen, weil es auf einem hohen Berg liege und/oder – vor allem in der irischen und damit für die Brandanlegende einflusseichen Tradition – von finsteren Nebeln umgeben sei (vgl. Strijbosch, Himmel, Hölle und Paradiese, S. 54), auf Howard Patch, wobei es ihm an der genannten Stelle weniger um christliche Paradiesvorstellungen als um keltische Darstellungen der Anderswelt geht (vgl. Patch, Howard Rollin: The Other World. According to descriptions in medieval literature, Cambridge [Mass.] 1950 [Smith College Studies in Modern Languages, New Series 1], S. 27, 44–47; Paradiesfahrten widmet er sich erst auf den S. 134–174). Der Apollonius nimmt (ebenso wie die Paradiesburgen in der Legende von St. Brandan, vgl. Strijbosch, Himmel, Hölle und Paradiese, S. 54f.) beides auf, indem er die Insel als auff geschossen (AvT, V. 14794) bezeichnet und das Schiff erst einen nebeligen Bereich durchdringen muss, bevor die glänzende Insel mit der kostbaren Stadt in Sicht kommt (vgl. AvT, V. 14778–14783). 250 Es handelt sich um die alttestamentarischen Propheten Elias und Henoch (vgl. dazu Anm. 6/252). Auch sie gehören zur Paradiestradition. In der Bibel wird von ihnen berichtet, „dass sie nie gestorben seien, sondern dass Gott sie aus dem irdischen Leben genommen habe (Gen. 5: 23–24 und 4 Rg. 2, 11–12). Für die Bibelinterpretation im Literalsinn stellte sich die Frage, wo die beiden geblieben sind, weil es vor dem Kreuztod Christi unmöglich gewesen wäre, den Himmel zu betreten, während sie die Verurteilung zur Hölle auch nicht verdient hätten. Üblich war die Vorstellung, dass sie im irdischen Paradies weiterleben, bis der Antichrist sie in der Endzeit besiegen wird“ (Strijbosch, Himmel, Hölle und Paradiese, S. 54f.).

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Gott selbst habe sie hie pehalten (AvT, V. 14827; vgl. auch V. 14830, 14865), denn: An dem jungisten tage/Sull wir Gotes kempfer sein (AvT, V. 14833f.)251 Gott lässt seine auserkorenen Gotteskämpfer, die sich schließlich als die alttestamentarischen Propheten Elyas und Enoch (AvT, V.  14876) identifizieren,252 an seinem Vorhaben teilhaben. Jenen Propheten ist sowohl in der Bibel als auch in weltlichen Texten, die von Paradiesfahrten handeln, ein entrückter Platz im Paradies zugewiesen.253 Sie verfügen über transzendentes ,Wissen‘ sowie auch

251 Diese Erklärung wiederholt einer der beiden Männer später (vgl. AvT, V. 14877f.). 252 Elias, bzw. Elija aus Tischbe in Gilead ist in christlichen und jüdischen Schriften überliefert (vgl. Hentschel, Georg: Elija. 1. Altes Testament. In: Lexikon für Theologie und Kirche. begründet von Michael Buchberger Bd. 3: Dämon–Fragmentstreit, 3. völlig neu bearb. Aufl., Freiburg i. Br. 2006, Sp. 595–596; Stemberger, Günther: Elija. 2. Judentum. In: Lexikon für Theologie und Kirche. begründet von Michael Buchberger Bd. 3: Dämon–Fragmentstreit, 3. völlig neu bearb. Aufl., Freiburg i. Br. 2006, Sp. 596, Sp. 596 sowie Nützel, Johannes M.: Elija. 3. Neues Testament. In: Lexikon für Theologie und Kirche. begründet von Michael Buchberger Bd. 3: Dämon–Fragmentstreit, 3. völlig neu bearb. Aufl., Freiburg i.  Br. 2006, Sp.  596–597, hier Sp.  596–597). Das Lexikon für Kirche und Theologie führt auch einen Artikel über die Bedeutung im Islam, welche für die behandelten Texte allerdings keine Relevanz besitzt. Henoch wird in der biblischen Tradition in die direkte Linie Adams gezählt (die genaue Position variiert je nach Text, s. Wacker, Marie-Theres: Henoch, Henochliteratur. 1. Biblisch. In: Lexikon für Theologie und Kirche. begründet von Michael Buchberger Bd. 4: Franca–Hermengild, 3. völlig neu bearb. Aufl., Freiburg i. Br. 2006, Sp. 1424 ; s. auch 4 Gen 1,17f., 5 Gen 18–24). In Bezug auf die Wirkungsgeschichte gibt Peters an, Hennoch gelte im Christentum als Entrückter (vgl. Peters, Ulrike: Henoch, Henoch­ literatur. 3. Traditions- und Wirkungsgeschichte. In: Lexikon für Theologie und Kirche. begründet von Michael Buchberger Bd. 4: Franca–Hermengild, 3. völlig neu bearb. Aufl., Freiburg i. Br. 2006, Sp. 1425; s. auch Wacker, Henoch, Sp. 1424). Die Entrückung des Elijas’ findet bereits im Alten Testament Erwähnung (s. 1 Kön 2,1–8), wo auch die erwartete Wiederkehr in der Endzeit prophezeit wird (s. Mal 3,23f. sowie Sir 48,1–11). Elias gilt daher laut Stemberger bereits in der jüdischen Tradition als mediale Instanz, als „Bote zw[ischen] Himmel u[nd] Erde“ (Stemberger, Elija). Das Neue Testament nimmt diese Inhalte wieder auf (vgl. Nützel, Elija, Sp. 596, der Mk 6,15; 8,27f. parr.; 9,11–13 par und Joh 1,21 anführt). Peters stellt dar, dass es eine Tradition gibt, die Elias und Hennoch zusammen denkt (vgl. Peters, Henoch, Sp. 1425). Im Mittelalter gehören die beiden entrückten Propheten außerdem fest zu Beschreibungen von Paradiesreisen (vgl. Strijbosch, Himmel, Hölle und Paradiese, S. 54f.; s. zu Paradiesauffassungen Anm. 6/10; 6/12). Das hier verwendete Motiv des Eilands von Elias und Enoch stammt offenbar aus Irland, wo es sich bereits im achten Jahrhundert finden lässt. Diese bereits bei Bockhoff/Singer herausgearbeitete Feststellung bestätigt später in seiner durchaus kritisch gegenüber vorherigen Quellenfunden auftretenden Arbeit Lecouteux (vgl. Lecouteux, Menschmagnet, S. 197, mit Verweis auf weiterführende Literatur). 253 Vgl. die Begegnung, die Hofer aus dem Alexander Ulrichs von Etzenbach schildert: „Der Bitte, des Eroberers, zu erklären, von welcher Art dieser abgelegene Bezirk sei, kommt der greise Mann nach und liefert dabei die detaillierteste Information zum Garten Eden eines Alexanderromans: Er (Elias) und Henoch (der andere alte Mann) leben in dem von der Mauer umschlossenen

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bereits über paradiesische Freuden und vermitteln beides ihren Besuchern weiter, ersteres sprachlich, letzteres durch Überreichung eines gustatorischen Mittlers. Bei der Verabschiedung überlassen sie Apollonius einen Korb mit zwölf Äpfeln, die ihm jegliches ungemach (AvT, V.  14891) vertreiben, also durch ihre Wirkung auf die Wirkungsmacht ihres Ursprungsortes verweisen.254 Auch wenn die Männer sich nicht als Vermittler präsentieren, sondern vielmehr der Intention Ausdruck verleihen, den Empfänger selbst als mediale Form zur immanenten Welt zu nutzen (s. u.),255 ist mit einem religiösen und literarischen Vorwissen die besondere Stellung und die transsphärische Potenz ähnlich wie bei der Marien­ erscheinung kaum zu übersehen. Apollonius jedoch ist sich der Exorbitanz der Begegnung nicht bewusst, weshalb sie für ihn und seine religiösen Ansichten folgenlos bleibt. Apollonius konvertiert erst am Ende des Textes zum Christentum;256 er bemerkt den ungewöhnlichen Effekt der wohlschmeckenden Äpfel (vgl. V.  14890f.), nimmt die Aussagen und das ihm geradezu vor Augen geführte Funktionieren der transsphärischen Verbindung257 aller synne vol (AvT, V. 14887) auf, all das löst jedoch

und geschützten Gebiet (in V. 24557 als gotes garten bezeichnet), wo sie bis zum Jüngsten Tag verweilen müssen, um beim Kampf gegen den Endchrist zu helfen“ (Hofer Betreten verboten, S. 116). 254 Dieses Geschenk ließe sich als Erzählvariante des Paradiessteins, der in der verwandten Paradieserzählung der Alexandertradition jeweils dem übereifrigen Eroberer mitgegeben wird und je nach Erzählung eine andere Bedeutung erhält (vgl. hier S. 109f., 111, 113, 117, 119), bezeichnen. Wie dieser Stein sind die Äpfel Objekte, die aus dem unverfügbaren, unbetretbaren Bereich stammen und – hier mehr durch ihre Wirkung als durch ihren Geschmack– auf den Charakter ihres Ursprungsortes verweisen, also einen Ausschnitt des Unverfügbaren erfahrbar machen. Zuvor bereits erhält Apollonius in Crisa einen Paradiesstein überreicht, der ebenfalls auch als mediale Form mit transsphärischen Potenzial entpuppt (s. Kap. 6.3.1). 255 Sie tun das durch Formulierungen, die auf eigene emotionale Involvierung hinweisen. So ruft einer von ihnen aus: Gelobest seyestu, werder trost! (AvT, V. 14866), als er von der Erfüllung der Prophezeiung um Jesus Christus hört und bezeichnet die Tatsache, Jesus niemals erblickt zu haben als groß slage (AvT, V. 14879). Darüber hinaus verleiht er dem Wunsch Ausdruck, an einem anderen Ort zu sein und die Gottheit selbst zu sehen (vgl. AvT, V. 14884). All diese Aussagen zeugen von eigenen Wünschen, Interessen und emotionaler Ergriffenheit. 256 Zwar konvertiert er schließlich, jedoch steht die Konversion erst am Ende der Erzählung und lässt sich nicht auf die Unterredung mit den Propheten zurückführen, sondern auf Prädestination, wie die Erzählinstanz am Ende berichtet: Er muste Gottes gefangen sein./Got det gnad an im schien (AvT, V. 20561f.). 257 Die Propheten berichten von einer vorhergesagten Jungfrauengeburt und der besonderen Rolle dieses Kindes (vgl. AvT, V. 14835–14847). Da sie sich erkundigen, ob Apollonius von diesem vorhergesagten Kind etwas zu berichten wüsste (vgl. AvT, V.  14837, 14848f.), da sie seit mehr als tausend Jahren mit keinem Menschen in Kontakt gekommen sind, Apollonius aber wieder-

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ebenso wenig wie andere Schnittpunkte seiner Biographie mit heilsgeschichtlich relevanten Ereignissen258 eine Reaktion bei ihm aus. Woran diese Mitteilung an Apollonius scheitert, ist nicht die Präsentation der Inhalte, sondern die Unfähigkeit des Empfängers, die alten Männer als transsphärische Mittler, die Inhalte als Enthüllung des Unverfügbaren wahrzunehmen. Die Propheten sind zwar als mediale Formen mit transsphärischer Potenz erkennbar und machen unverfügbare Inhalte zugänglich, fungieren für Apollonius jedoch in erster Linie als immanente Gesprächspartner und Wegweiser nach Tarsis. Die Weitergabe transzendenter Informationen wird gerahmt von einer Kommunikation, die sich allein auf die Weiterfahrt nach Galacia richtet. Mit der Frage um Rat geht Apollonius auf den ersten Mann zu (vgl. AvT, V.  14801–14803), mit der Richtungsweisung durch die Propheten endet die Begegnung (vgl. AvT, V. 14894f.); das dazwischen Besprochene hinterlässt bei Apollonius nicht mehr Eindruck als Smalltalk.259 Dass die sprachlich vermittelten Inhalte nicht als transzendente Enthüllung erkannt werden, ist, so wird im Kontrast zu Reinfried deutlich, auf den fehlenden religiösen Horizont des Empfängers zurückzuführen. In der vermeintlichen Zufälligkeit des Aufeinandertreffens und der Normalität der Unterhaltung erscheinen die Gesprächsinhalte für Apollonius nicht als Offenbarungen. Die genannten Signale des intersphärischen Status’ der Gastgeber finden keine Anknüpfung in Apollonius’ Vorwissen. Ohne die Kenntnis biblischer und literarischer Paradiesbeschreibungen und ohne Vorstellung von dem jungisten tage (AvT, V. 14833, 14878) oder dem Leben nach dem Tod (vgl. AvT, V.  14869–14872), ohne jemals von den Propheten Elyas und Enoch (AvT, V. 14876) gehört zu haben, ist das in

um das Eintreten der beschriebenen Ereignisse vor circa zehn Jahren bestätigen kann (vgl. AvT, V. 14851–14863, s. u.), muss Apollonius annehmen, dass Sie bereits lange zuvor über diese Ereignisse Bescheid wussten. Das verbürgt ihren Zugriff auf Informationen, die der immanenten Welt nicht vorliegen. 258 Achnitz, Babylon und Jerusalem führt die einzelnen Schnittpunkte in seiner Nachzeichnung des Weges auf. Den Eintritt in die christliche Heilsgeschichte stelle die Episode um den Kampf mit Gog und Magog dar (vgl. hier S.  279; zu Gog und Magog s.  Gn 10,2; 1 Chr. 1,5; Ez 38,1–39,28; Apk 20,7–10 sowie Hossfeld, Frank Lothar: Gog und Magog. In: Lexikon für Theologie und Kirche. begründet von Michael Buchberger Bd. 4: Franca–Hermengild, 3. völlig neu bearb. Aufl., Freiburg i. Br. 2006, Sp. 818–819, hier Sp. 818). Erwähnung finden diese Völker auch in der Erzählung des Herrn aus Ejulat im Reinfried von Braunschweig (vgl. RvB, V. 21930). Darüber hinaus ergäben sich vielfältige Parallelen zwischen Apollonius’ Schicksal und dem Lebensweg Christus’ (vgl. Achnitz, Babylon und Jerusalem, S. 303–306). 259 Die eher bedrohlichen Inhalte (s. u.) hinterlassen keinen bleibenden Eindruck, die glücklich an ihr Ziel gelangte Gesellschaft unterhält sich kurz darauf schon wieder mit freuden und spil,/Kurztweyl unmassen vil (AvT, V. 14916f.) Der Botschaft vom baldigen Einbrechen des Jüngsten Tages folgt keine Reaktion; es kommt hier noch nicht zu einer Bekehrung.

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dieser Begegnung liegende Potenzial, kaum erschließbar. Die Propheten zeigen ihm zwar – wie man sicher vor dem Hintergrund der religiös aufgeladenen Situation auch metaphorisch verstehen kann – den rechten Weg (Si zaygten in di rechten schla/Gutlich gegen Galacia, AvT, V. 14894f.), ihre Enthüllungen und deren Bedeutungen werden Apollonius jedoch nicht klar. Vor allem scheint aber Apollonius kaum Interesse an prophetischen Informationen zu haben. Denn ebenso wenig wie auf die Äußerungen der christlichen Propheten reagiert er auf die Offenbarungen der paganen Monster Ydrogant und Serpanta. Sie offenbaren ihren Mittlerstatus nur indirekt. Beide besitzen erstaunliche Kenntnisse über den fremden Ritter,260 beide verwenden den Begriff der Weissagung (vgl. AvT, V. 9064, 9071, 9128), der die damit verknüpften Informationen in den Bereich transzendenten ,Wissens‘ rückt, Ydrogant benennt die Gottheit Pluto als seinen Verwandten und Quelle der ihm vorliegenden Informationen (vgl. AvT, V. 9116f.). Doch all das geschieht beiläufig. Ydrogant und Serpanta betonen ihre transsphärische Vermittlerfunktion nicht, sondern führen nur den aufmerksamen RezipientInnen vor Augen, welches me­diale Potenzial sie besitzen.261 Dementsprechend schenkt Apollonius den Enthüllungen keine Beachtung.262 Er verfolgt sein – aussichtsloses (s. u.) – kämpferisches Vorhaben weiter

260 Ydrogant zeigt Kenntnis über die Ehrentaten seines Gegenübers sowie über dessen Gefangenschaft unter Nemrott (vgl. AvT, V.  9115, 9119f.); Serpanta weiß, dass Apollonius Kolkan erschlagen hat (vgl. AvT, V.  9068). Während letztere Information auf Hörensagen zurückgeführt wird (vgl. AvT, V. 9066), führt Ydrogant einmal seinen Vater Pluto als Quelle an (vgl. AvT, V. 9116) und lässt das andere Mal offen, woher genau die Informationen stammen. Eventuell gehören die Aussagen zur Gefangenschaft Apollonius bereits zu den Aussagen, die am Ende der Rede auf eine Weissagung gegründet werden. Es heißt dort, [a]lso ist von dir geweissaget (AvT, V. 9128), wobei nicht deutlich ist, welche Information unter das [a]lso fallen. Die transsphärische Quelle dieses guten Informationsstands macht die Berufung auf Weissagungen und auf Pluto, der im Laufe der Erzählung als wasser got (AvT, V. 4929) bezeichnet wird und der in der durch antike Gottheiten (Venus, Junos etc.) geprägten Erzählwelt einen transzendenten Status besitzt (vgl. zu seiner Macht AvT, V. 4929–4945), plausibel. 261 Serpantas Rede legt nahe, dass sie sich selbst nicht in Mittlerposition wahrnimmt. Denn die prophetischen Informationen erwähnt sie vor allem in ihrer Klagerede gegenüber ihrem Mann [u]ns [Serpanta und Ydrogant] ist von im [Apollonius] geweissaget (AvT, V. 9064). Ihre Rede richtet sich an Ydrogant, den sie in ihrer Bedrängnis zur Unterstützung gegen Apollonius auffordert. Sie eröffnet ihre Klage mit ‘Wa pistu, lieber Ydrogant? (AvT, V. 9061) und adressiert diesen auch danach mehrmals in der zweiten Person (vgl. AvT, V. 9066, 9067, 9069). Von Apollonius spricht sie zunächst weiter in der dritten Person (vgl. AvT, V. 9065, 9068). Erst dann hebt sie neu an und richtet ihre Rede an Apollonius: Appolonius von Tyrlant,/Ich sich das swert in deiner hant (AvT, V. 9073f.). 262 Apollonius scheint keinerlei Interesse an transzendenten Informationen zu haben, da er für einen Kampf gekommen ist und diesen zu Ende zu führen gedenkt. Dafür spricht, dass er

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(vgl. AvT, V. 9129) und zeigt kein Interesse an weiteren Informationen oder Konkretisierungen.263 Für eine bezüglich der Identifikation transsphärischer Mittler unbedarfte oder aber an den Enthüllungen einfach uninteressierte Figur wie Apollonius ist die explizite Ausstellung des Mittlerstatus’ und das Forcieren einer Reaktion durch den Mittler wichtig. Das versteht die nur jene Mittlerfigur, die sich interessiert an der Vermittlung transzendenter Inhalte zeigt und die sich selbst um transzendente Informationen bemüht. Ist Albedacus zwar kurios und faszinierend (s. o.), so sorgt er dennoch aktiv dafür, dass er als mediale Form mit transsphärischem Potenzial verstanden wird, und dass seinen Enthüllungen Gehör geschenkt wird. Albedacus zeigt in seiner ersten Unterredung mit Apollonius nicht nur durch Gebrauch des richtigen Namens und Kenntnis des bisherigen Schicksals seines Gegenübers, dass er Informationen aus den Sternen lesen kann. Er stellt gegenüber Apollonius auch wiederholt seinen Mittlerstatus und die von ihm geleistete Mediation aus. Mehrmals spricht er seinen visuellen Zugang zum Unverfügbaren als Quelle der mündlich hervorgebrachten Informationen an und hebt damit den Vorgang der geleisteten Überführung von visuell wahrgenommenen transzendenten Informationen in narratives Material hervor. Seine ersten prophetischen Aussagen bekräftigt er sogleich mit der Erklärung [i]ch pin ain stern sehere (AvT, V. 4191) und der Berufung auf die Apollonius wohlbekannten264 Göttinnen als Auftraggeberinnen (vgl. AvT, V. 4193–4196). Diese Autoritäten, die die transzendente

ungeachtet des Redebeitrags Ydrogants, der ihm einen Kampf versagt, auf selbigen losgeht (vgl. AvT, V. 9129); eine Reaktion auf die Rede bleibt aus. Ebenso interpretierbar ist die ausbleibende Reaktion auf das Gehörte damit, dass die Herrschaft über Crisa, die Ydrogant ihm mitteilt, ihn kaum überraschen dürfte, da ihm dies bereits vor mehreren tausend Versen durch Albedacus mitgeteilt worden ist (vgl. AvT, V. 4214f.). 263 So reagiert er auch nicht enttäuscht auf das Verschwinden der Monster. Der Text stellt überhaupt keine Reaktion dar. Das Sturmwetter, das Ydrogant hervorruft, trennt die feindlichen Parteien (vgl. AvT, V.  9141–9149); dann wendet sich die Erzählung den Folgen der Identifizierung Apollonius’, dem handlungsfunktionalen Zweck der Enthüllungen, zu (s. u. sowie vgl. AvT, V. 9150–9210). 264 Besonders diese Rückbindung der Botschaft scheint verantwortlich dafür zu sein, dass Apollonius die Rede des Albedacus ernst nimmt. Denn ob ihres unwahrscheinlichen Inhalts ist er perplex – es heißt: Tyrus erschrack der rede do (AvT, V. 4238). Dass er es überhaupt für möglich hält, dass er Lucina lebendig wiedersehen könnte, führt die Erzählung in einem kurzen Gedankenbericht darauf zurück, dass Apollonius an die göttliche Allmacht glaube (vgl. AvT, V. 4248f.). Auch bestätigt Apollonius gegenüber Albedacus, dass die Autoritäten, auf die jener sich mit seiner Botschaft beruft, zu den Instanzen gehören, [d]en ich hab gedienet her,/Macheteten und Jupiter,/Diana und Venus,/Juno und Saturnus,/Pallas und Trevigant (AvT, V. 4254–4258). Wie uneingeschränkt Apollonius Albedacus vertraut, lässt sich hinsichtlich der späteren Hinweise auf den fest in Apollonius verankerten Glauben an den Tod Lucinas (s. Kap. 4.4.2) hinterfragen.

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Natur der übermittelten Informationen deutlich herausstellen, bringt Albedacus daraufhin wiederholt ein. Im Umfeld der einzelnen prophetischen Behauptungen finden sich Formulierungen wie [d]as zaiget dein edel sterne (AvT, V. 4200) oder [a]n dem stern hab ichs gesehen (AvT, V. 4226).265 Den Akt des Vorher-Sagens macht Albedacus explizit, indem er seine Ratschläge mit Kommentaren wie [d] a pey sag ich dir noch me: (AvT, V.  4206), [d]as will ich dir pey Got jehen (AvT, V. 4227) oder [i]ch will dir der warhait jehen: (AvT, V. 4857) begleitet. Gibt es auch Hinweise darauf, dass sich für Apollonius angesichts der zuerst vorgebrachten, geradezu unglaublichen Prophezeiung – unzählige Herrschaften und ein Wiedersehen mit Lucina (vgl. AvT, V. 4202–4222, s. u.) – die Frage stellt, ob Albedacus tatsächlich in Verbindung mit der transzendenten Sphäre steht, seinen Aussagen Glauben zu schenken und seinen Ratschlägen Folge zu leisten ist,266 so ist Albedacus nach Bewahrheitung des Vorhergesagten augenscheinlich mit seinen Beteuerungen glaubwürdig, sodass Apollonius ihn in seiner Nähe wissen will.267 Seinen Anregungen und Warnungen wird stets Folge geleistet.268 Das Zustandekommen des Kontakts der immanenten und transsphärisch agierenden Figuren spielt für die Markierung der Exzeptionalität vor allem auf

265 Vgl. ebenso AvT, V. 4858, 4923. Einmalig kommt auch die Berufung auf die Lektüre einer – nicht näher identifizierten oder beschriebenen – geschrift (AvT, V. 4235) vor. 266 Nach der ersten Prophezeiung wird der Darstellung der Zweifel Apollonius’ Raum gegeben. Apollonius’ unmittelbare Reaktion auf die Vorhersage ist von ambivalenten Empfindungen geprägt (vgl. AvT, V.  42439–4245). Gleich darauf besinnt er sich jedoch auf die Allmacht Gottes, die selbst die unwahrscheinliche Prophezeiung in den Horizont des Möglichen rückt (vgl. AvT, V. 4246–4249). Bereits Achnitz macht die Beobachtung, dass Albedacus von Apollonius nicht in allen Punkten Glauben geschenkt wird, da er einen anderen Hintergrund als die RezipientInnen hat, für die wiederum durch das ,Wissen‘ um Lucinas Scheintod auch alle anderen Vorhersagen wahrscheinlicher werden (Achnitz, Babylon und Jerusalem, S. 280f.). 267 Nach seinem ersten Auftritt versorgt man den Gast angemessen (vgl. AvT, V.  4266–4271), bei dem sommerlichen Ausritt am nächsten Tag ist der Sternenseher selbstverständlich dabei (vgl. AvT, V. 4272–4287); auf die – auf sein Anraten hin – beschlossene Fahrt gen Galacia wird Albedacus – wie die Erzählinstanz zwar lakonisch, jedoch explizit erwähnt – mitgenommen (vgl. AvT, V. 4913). 268 Kurz nach dem Ratschlag, gen Galacia aufzubrechen (vgl. AvT, V.  4852–4862), formuliert Apollonius Paldein gegenüber diese Fahrt zu seinem nächsten Vorhaben (vgl. AvT, V. 4871–4874). Als Apollonius entscheidet, trotz der Bitten seiner schwangeren Frau zu einem Turnier aufzubrechen, bestärkt ihn Albedacus in seinem Ansinnen. Seine Vorhersage, die nicht nur Erfolg und Freude enthält (vgl. AvT, V. 6188–6198), beantwortet er mit: Sanfftes leben und ere/Mugen nicht pey ain ander wesen (AvT, V. 6200f.). Im Falle einer Proviantaufstockung, die aufgrund der Klagen des Sternensehers erfolgt (vgl. AvT, V. 6427–6441), ist der Text nicht eindeutig, was genau Albedacus veranlasst, diesen Ratschlag zu geben (s.  u.). Es ist nicht klar, ob er auf eine Prophezeiung reagiert, Albedacus’ Autorität bzw. den Glauben in seine prophetischen Fähigkeiten

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der Darstellungsebene eine Rolle. Gleichzeitig lässt sich im vergleichenden Blick auf den jeweiligen Beginn der Auseinandersetzungen beleuchten, welche Situationen und Verhaltensweisen im Textentwurf zu einer Begegnung mit transsphärischen Mittlerinstanzen führen und inwiefern diese selbst aus eigenem Antrieb agieren. Die Marienerscheinung des Reinfried ist – so macht die Erscheinung selbst deutlich – eine direkte Reaktion der Transzendenz auf das wiederholte, maßlose Beten beider Ehegatten um Nachwuchs (s. Kap. 6.2.1; vgl. RvB, V. 13272f.).269 Doch nicht nur der allgemeine kommunikative Mechanismus der Kommunikationsinitiation durchs Gebet kommt zur Darstellung. Der Text bemüht sich vielmehr auch, die konkrete Situation, in der der Kontakt zur Transzendenz entsteht, ganz genau abzubilden und dabei als außergewöhnlich und geradezu unbeschreiblich zu kennzeichnen. Die Erzählinstanz wiederholt bei der Beschreibung Formulierungen, die die Oppositionen Wachen und Schlafen nutzt. Reinfried befindet sich in der Nacht seiner Begegnung in einem Zustand höchster emotionaler Erregung und besonderer kognitiver Aktivität. Aufgrund der belastenden Situation liegt er in angestlîcher trahte (RvB, V.  13211), ist in jâmer (RvB, V.  13220) bzw. in leit versunken (RvB, V. 13218). Sein Bewusstsein vertieft sich zunehmend in Gedanken. Er ist in sorgen wunderlîch verdâht (RvB, V. 13213) und wälzt sender sorgen (RvB, V. 13219) hin und her, bis ihn ein Zustand umfängt (vgl. RvB, V. 13214f.), der in der Schwebe zwischen wachendem Bewusstsein und tiefem Schlaf liegt. Er enwachete noch slief (RvB, V. 13216), sondern liegt in twalmes art (RvB, V. 13217). Am ehesten zu vergleichen ist der besondere Zustand, in den Reinfried verfällt, mit einem Traum, einer gespannten Aufmerksamkeit und quasi-sinnlichen Wahr-

bekräftigt die Reaktion aber dennoch. Selbige Autorität genießt Albedacus auch, als die Mannschaft für ein Jahr auf dem Lebermeer stecken bleibt. Sobald Albedacus das Schiff befreit hat, ordnet er an, zu der Insel, auf der sie Apollonius zurückgelassen haben, zurückzukehren, da er weiß, dass dieser dort noch am Leben ist (vgl. AvT, V. 6856–6866). Auch in diesem Falle richtet man sich nach seinem Wort. 269 Theologisch sind solche Zuwendungen eine Auszeichnung, vgl. Anm. 6/145.

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nehmung im Schlaf.270 Dennoch erlebt er die Erscheinung nach einem Moment des Erwachens.271 Der Eindruck, es handle sich um einen äußerst sonderbaren Zustand, bestätigt sich dadurch, dass die Erzählung sich bei jedem Auftauchen der Instanz von Neuem ereifert, die Disposition, in der die Figur empfänglich für die Wahrnehmung der Erscheinung ist, neu zu umschreiben. In variierender Wiederholung wird die Mischung aus emotionaler und kognitiver Wachheit und Ausschaltung körperlicher Wahrnehmung als Zustand der intersphärischen Empfänglichkeit beschrieben, die in der Variation der z. T. bildlichen Darstellungen wie ein Ringen um die treffenden Worte, die es für einen derart exzeptionellen Zustand – so scheint es – gar nicht geben kann, wirken. Intensiviert durch die nicht eindeutig einzuordnende Erfahrung ist Reinfried (bzw. sîn herze, RvB, V. 13338) mit sorgen pfliht/beheftet und bevangen (RvB, V. 13338f.). Die Gemütsbewegung nimmt die gesamte Aufmerksamkeit ein und führt erneut zu einer kognitiven Versenkung der Figur.272 Wieder treibt diese Rastlosigkeit Reinfried in jenen besonderen

270 Damit schließt der Text an Vorstellungen und Darstellungen an, wie sie aus der mittelalterlichen Mystik bekannt sind. Wöhrer zählt diese Form des schlafähnlichen Angeregtseins, den „,geistliche[n] Schlafe‘ – ,Schlaf‘ als Metapher für einen übernatürlichen, kontemplativen (in moderner Diktion also ,mystischen‘) Seelenzustand, der nach außen hin als ,schlafähnlich‘ erscheint, nach innen hin jedoch als ein ,überwacher‘ Ruhezustand höchster Rezeptivität definiert ist, in dem ,die Einheit mit dem Göttlichen ersehnt oder erfahren wird‘ – […] zu den zentralen Topoi der abendländischen Mystik“ (Wöhrer, Franz: Zur Phänomenologie des ,geistlichen Schlafs‘ (goostly sleep) in der englischen Mystik des Spätmittelalters. In: Deutsche Mystik im abendländischen Zusammenhang. Neu erschlossene Texte, neue methodische Ansätze, neue theo­retische Konzepte. Kolloquium Fischingen 1998. Hrsg. von Walter Haug/Wolf­ram SchneiderLastin, Tübingen 2000, S. 725–748, hier S. 725, darin Zitat von Ruh, Kurt: Geschichte der abendländischen Mystik. Bd. 2 Frauenmystik und Franziskanische Mystik der Frühzeit, München 1993, S. 434). 271 Das Textmaterial ist hier nicht eindeutig. Interpretatorisch zulässig scheint es, die Verse dô er alsus in jâmer lac/und wachte, des in dûhte,/durchliuhteclîchen lûhte/ein schœn lieht in dem gademe (RvB, V. 13220–13223) sowohl als Verweis auf seinen anhaltenden halbwachen Zustand zu beziehen als auch, sie als einen Moment des Wachens, der Änderung des Wahrnehmungszustandes, zu deuten. Letztere Interpretation würde die besondere Qualität des im Folgenden beschriebenen Erlebnisses stärker betonen, erstere die von den Sorgen hervorgerufene, erschöpfende Ruhelosigkeit in den Vordergrund stellen. In beiden Fällen verweist dieses wachte (RvB, V. 13221) auf die bereits zuvor als besonders und schwer greifbar beschriebene Disposition der Figur, die dem Kontakt zur transsphärischen medialen Form vorausgeht. 272 Das Ereignis löst denken und trahten (RvB, V. 13342; s. auch V. 13347) aus und ihn ergreift erneut sorgen kraft (RvB, V. 13344) und kumber (RvB, V. 13346). Zum zweiten Mal in kurzer Folge verwendet die Erzählinstanz in dem Zusammenhang den Begriff ,bevangen‘ (vgl. RvB, V. 13338, 13344). Die kognitive Aktivierung, das Umwenden der Gedanken erscheint als unumgäng-

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Zustand, in dem die Erscheinung sich zeigt, bzw. Reinfried sie wahrnehmen und ihre Botschaft empfangen kann:273 […] im sîn herze aber seic zuo slâflîchem twalme. der in mit eime halme het ein klein gerüeret, der het wol zerfüeret des dünnen slâfes huote. (RvB, V. 13348–13353)

Es handelt sich um eine Art des Absinkens in traumartige Wahrnehmungen von höchster Fragilität. Erneut wird betont, dass dieser dünnhäutige Schlaf eben nicht mit der Abschaltung jeglichen Erlebens oder Wahrnehmens einhergeht, sondern es sich um einen wachende[n] slâf mit schîne (RvB, V.  13357) handelt; Reinfried wachet rechte noch enslief (RvB, V. 13355). Auch zu der dritten Erscheinung kommt es durch – erneut verstärkte – kummervolle Gedanken (vgl. RvB, V.  13378–13395) und die schließlich dadurch herbeigeführte äußerste Konzentration auf die inneren Sinne im Zustand körperlicher Entspannung.274 Erst in dem Moment des besonderen Kippzustands zwischen Traum und Schlaf, in höchster emotional-kognitiver Erregt- und Bewegtheit und tiefster Versenkung des Herzens in den Schmerz kam diu reine fîne (RvB, V.  13358, vgl. auch V. 13400f.).275 Während Reinfried sich um transsphärische Interaktion bemüht, letztendlich aber erst in einem nicht intentional herbeigeführten, höchst ungewöhn-

lich und in dem verwendeten Bild – Reinfrieds Herz sei von den Sorgen gebunden (vgl. RvB, V. 13344f.) – geradezu gewaltvoll. 273 Der Übergang in den traumartigen Zustand, den das emotional involvierte Grübeln bewirkt, markiert der mehrmals in dieser Weise verwendete Anschluss biz (RvB, V. 13348, 13396). Er liegt wie beschrieben, bis die Wahrnehmungsveränderung eintritt. 274 Dieses Mal scheint er tatsächlich zu schlafen und rein innerlich die Begegnung zu erleben. Der Text erwähnt selbst, dass sich der Vorgang zem dritten mâle (RvB, V. 13396) wiederholt, stellt also eine eindeutige Ähnlichkeit aller drei Zustände, die den Erscheinungen vorausgehen fest, schränkt die Deckungsgleichheit aber im letzten Falle durch die Bemerkung aber wærlîchen entslief (RvB, V. 13397) ein. Auch wird sein Zustand später als slâfe bezeichnet (RvB, V. 13413), aus dem er schließlich erwachet (RvB, V. 13414). Übereinstimmend mit den vorherigen zwei Zuständen ist das tiefe Absinken, Vertiefen von Herz und Sinnen in den Schmerz (vgl. RvB, V. 13398f.). Ob der dritte Prozess also den anderen gerade gleich sein soll, oder er sich von ihnen unterscheidet, bleibt offen. Die bei der Lektüre entstehenden Uneindeutigkeiten zeugen so auch von der besonderen Schwierigkeit, den Zustand einzuordnen und zu beschreiben. 275 In ähnlicher Weise wird das Zusammentreffen von Gêrhart und einem Engel Gottes in Rudolfs von Ems Der Guote Gêrhart geschildert (vgl. GG, V. 1813–1869).

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lichen und fragilen Zustand die Gnade göttlicher Zuwendung erfährt, werden transzendente Inhalte Apollonius stets ungewollt zuteil (auch deswegen kann es kaum verwundern, dass er selten ihre Relevanz erkennt). Das Engagement, das die mediale Form dabei zeigt, ist unterschiedlich stark ausgeprägt. Scheinbar zufällig macht Apollonius die Bekanntschaft mit den Propheten Elias und Henoch. Weder Apollonius noch die Propheten planen oder wünschen das Zusammentreffen, ein transzendentes Interesse ist höchstens zu vermuten und die dahinterstehende Motivation handlungslogisch kaum zu erklären. Die physische Bewegung geht streng genommen von Apollonius aus, an den Ort gerät er jedoch, ähnlich wie die Protagonisten im Baseler Alexander und dem Alexander Ulrichs von Etzenbach,276 zufällig. Seine Mannschaft weiß nach einem Sturm nicht, wo sie sich befindet, ist weyslose[] (AvT, V. 14784), und bedarf einer Auskunft (vgl. AvT, V. 14779–14781), weswegen es nur situationsadäquat ist, sich einem möglichen Zivilisationspunkt, als welcher die in Sichtweite auftauchende Insel den Verirrten erscheinen muss, zu nähern. Zwar wirkt der Ort ästhetisch anziehend (s. o.), die mögliche transsphärische Mediation wird jedoch nicht als Motivation der Kontaktsuche entwickelt. Die Kontaktinitiative der Ankömmlinge (vgl. AvT, V.  14801) richtet sich nicht auf transsphärische Interaktion; der das Gespräch eröffnende Redebeitrag bezieht sich ausschließlich auf Rat und Hilfe bei der Orientierung (vgl. AvT, V. 14802f.) und verschiebt sich erst im Gesprächsverlauf auf transzendente Zusammenhänge. Anlass zur Enthüllung der den göttlichen Heilsplan betreffenden Informationen gibt die (in Verwunderung der Gastgeber geborene)277 Auskunft, seit mer dann tausent jar (AvT, V.  14815) habe kein Mensch die Insel besucht. Diese Feststellung wiederum erweckt das Interesse der Ankömmlinge278 und so kommt es zu der Anschlussfrage über die Umstände ihres tausendjährigen Verweilens auf einer isolierten Insel (vgl. AvT, V. 14821–12823). Um diese Frage zu beantworten und eine Rückfrage im eigenen Interesse zu begründen, ist ein Rekurs auf den Heilsplan und die Enthüllung einiger seiner Bestandteile nötig. Denn die Propheten erkennen ihrerseits dieses

276 Hofer beschreibt, wie Alexander in beiden Fällen geradezu ,unverhofft‘ seinen Weg zum Paradies findet und vor Ort über dessen besonderen Status und die damit verbundene Uneinnehmbarkeit aufgeklärt wird (vgl. Hofer, Betreten verboten, S. 111f., 115f.). 277 Sie verleihen bei der Begrüßung ihrer Verwunderung über das Erscheinen der Gäste Ausdruck: Was hatt ew pracht an di stat?/Michel wunder unß das hat,/Das ist ganzlich war:/Es sind mer dann tausent jar/Das menschen augen nie erschain/Da der an disen stain (AvT, V.  14812– 14817). 278 Die Erzählinstanz beschreibt: Das nam di leute wunder (AvT, V. 14818), in der Entgegnung jener ,Leute‘ selbst ist die Rede von ditz wunder (AvT, V. 14822), wobei sich diese Aussage vor allem darauf bezieht, dass die Männer ganz allein auf der Insel hausen (vgl. AvT, V. 14822f.).

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Zusammentreffen als Chance, Erkundigungen darüber einzuholen, an welchem Punkt des Heilsplans sich die Welt gerade befindet. Obwohl die beiden Männer in Bestandteile der göttlichen Pläne eingeweiht sind, sind sie unwissend bezüglich der Vorgänge in der sie umgebenden und doch so weit entfernten Welt. Um eine Auskunft zu generieren, erläutern sie ihre Situation näher und entschließen sich dabei, Details des Heilsplans preiszugeben.279 Die Ausgangsfrage nach dem richtigen Weg nach Galacides wird durch das beiderseitige Interesse am Gegenüber zurückgestellt, während die einerseits aus Verwunderung, andererseits aus Informationsmangel hervorgehende Frage nach den Zusammenhängen, die dieses Treffen bedingensse, sich nach vorne drängt und schließlich die Enthüllung der göttlichen Pläne unumgänglich macht. Der Gesprächsdynamik entsprechend ist ein Vermittlungsinteresse der Propheten, das über das von den Gästen initiierte Erzählen hinausgeht, nicht zu unterstellen.280 Die Mediation wird so von zwei Seiten im Verlauf eines nicht unbedingt auf eine solche Vermittlung angelegten Gesprächs herbeigeführt. Eine nicht auf Kontingenz abzielende Erklärung für das Zusammentreffen ist die transzendent gelenkte räumliche Annäherung der Gesprächspartner zur Initiation eines Austauschs durch das Arrangement der diesen Austausch bedingenden Situation. Die Beschreibung, die im Vorfeld der Begegnung die menschliche Einflusslosigkeit auf die Fahrtrichtung betont, suggeriert die Lenkung des Schiffs durch einen auf Gott zurückgeführten Wind: Sych hub ain sturm wetter groß: Der wint pließ, des meres doß Er warf sy in ainer weyl Hin dan wol hundert meyl, Das der mornere En west nicht wa er ware, Wann er er kante sein nicht Von deß nebeles geschicht. (AvT, V. 14774–14781)

279 Ihrer Aussage, Gott habe sie hier mit einem weisen Vorhaben behalten (vgl. AvT, 14828f., 14830, 14877), schieben sie mit der Bereitschaft, mehr zu erzählen, das Geheimnis um das ih‑ nen zugedachte Wirken, den Grund ihrer lebendigen, aber nur abgeschieden möglichen Existenz aufzudecken, hinterher: Ir sult wissen umb wie (AvT, V. 14831). 280 Im Verlauf des Gesprächs werden die Gäste aus der Immanenz Mittler des Weltgeschehens für die entrückten Propheten (s. u.). Für die ursprüngliche Kontaktaufnahme scheint dieser Aspekt jedoch keine Rolle zu spielen.

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Bereits zuvor war transzendente Kontrolle über die Naturgewalten an der Bestimmung des apollonius’schen Schicksals beteiligt.281 Der vordergründig zufällige Kontakt ist so unwahrscheinlich und der Versuch einer räumlichen Annäherung aus eigener Kraft im Anbetracht der Aussage der Propheten selten oder niemals erfolgreich. Die Unwahrscheinlichkeit dieses Zusammentreffens legt ein transzendentes Interesse an einem weder von Mittler noch von Empfänger unmittelbar herbeigesehnten Austausch nahe. Apollonius wird ohne Kontrolle über sein Schiff vom Wind in Richtung der rätselhaften Insel getragen, auf der die Propheten bewusst von Gott platziert wurden282 und die kaum anders als über den Apollonius dorthin führenden Mechanismus erreichbar scheint. Warum unter der Annahme einer vom Sender ausgehenden, transzendenten Lenkung gerade Apollonius der Empfänger der Heilspläne sein soll,283 bleibt unklar.284 Es wirkt fast plausibler, dass hier Apollonius als Mittler für Elias und Henoch ,eingesetzt wird‘. Denn auch aus dem Blickwinkel der Propheten muss das Zusammentreffen mit Apollonius, der sie ohne die Bedeutung seiner Worte zu kennen, über die fortschreitende Erfüllung des Heilsplans und ihren näher rückenden Einsatz (s. u.; vgl. V.  14833f. sowie V.  14867–14872) informiert, wie eine göttliche Fügung, die Zusammenführung mit einer vermittelnden Instanz zur mittlerweile außerhalb ihres eigenen Aktionsrahmens liegenden Immanenz erscheinen. In jedem Fall scheint es so, als ob für diese Kontaktaufnahme nicht Intentionen, bestimmte erwerb- oder erlernbare Fähigkeiten oder Eigenschaften erforderlich sind.

281 Der Wassergott Pluto bewirkt bspw. das Unwetter, das die Reisenden auf ihrem Weg nach Galacia von ihrer Route abdrängt (vgl. AvT, V.  4927–4959); auf den vermutlich göttlich bewirkten Sturm, der ,Robinsonade‘ (vgl. AvT, V.  6519–6535), wurde bereits hingewiesen (s. Kap. 6.2.1). Deutlich wird die Möglichkeit transzendenter Lenkung über das Wetter auch in einer späteren Textstelle: Da kcherte er den segel hin,/Als es Got wolde/Und auch sein solde (AvT, V. 16164–16166). 282 Got in seyner mayestat habe sie hie pehalten und wisse in seiner weißhait wol/Was er mit uns wurcken sol (AvT, V. 14826–14829). 283 Den Eindruck, dass die Zusammenführung durch die mit dem Sender identifizierbare Transzendenz für Apollonius bestimmt ist, stützt die Übergabe der Paradiesäpfel am Ende des Gesprächs, die dem Empfänger einen Vorgeschmack auf ihren Ursprungsort gewähren (vgl. AvT, V.  14888–14893) und diesen gleichzeitig als etwas Besonderes, als transzendent legitimierten Empfänger der soeben erhaltenen und weiterzutragenden Botschaft auszeichnen. Durch das Geschenk der zwölf Äpfel erhalte Apollonius symbolisch den Auftrag zur Verkündigung des Chris­ tentums, so Achnitz, Babylon und Jerusalem, S.  335. Korrespondierend dazu wird Apollonius nachträglich als zum Missionar erkoren ausgezeichnet (vgl. AvT, V. 20573–20578). 284 Die Motivation der Transzendenz hinter dieser Enthüllung lässt sich über die wiederholt zu beobachtende Auserwähltheit Apollonius’ (s. vor allem Achnitz, Babylon und Jerusalem) hinaus nicht ermitteln und ließe sich höchstens mit Blick auf die Ebene der Textrezeption als Ausweisungsstrategie und religiös-historische Anbindung der Erzählung begründen.

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Menschliche Anstrengungen scheinen kaum erfolgversprechend; allein Zufall oder aber Prädestination vermögen den Kontakt zu initiieren. Den Eindruck der Zufälligkeit erweckt auch die transsphärische Interaktion mit den prophetisch agierenden Monstern Ydrogant und Serpanta. Denn auch wenn Apollonius diese gezielt aufsucht, geht es ihm nicht um das transsphärische Potenzial einer Zusammenkunft (s.  o.).285 Das prophetische ,Wissen‘ der Wesen kommt auch hier erst im Laufe der Auseinandersetzung zum Vorschein.286 Kaum betritt Apollonius dem lebensfeindlichen Raum, den die beiden beherrschen,287 tauchen Serpanta und Ydrogant auf (vgl. AvT, V.  9008–9012); sowohl Serpanta als auch Apollonius suchen die Konfrontation (Serpanta lieff an in dar – Lonius der rayd auff sy, AvT, V. 9013, 9031), Apollonius ist es schließlich, der die Konversation zuerst gegenüber Serpanta, später gegenüber Ydrogant mit einer Frage eröffnet (vgl. AvT, V.  9032–9035, 9107–9112). Die eingeforderten Informationen sind jedoch erstens immanenter Natur – Apollonius verlangt eine Erklärung für die Versperrung der Straße (vgl. AvT, V. 9032–9035, 9111f.) –, zweitens sind sie weniger als ernst gemeinte Gesprächseröffnung zu verstehen. Denn Apollonius weiß um das Wüten der Monster und scheint die Kommunikation eher als Möglichkeit zu begreifen, die offene Auseinandersetzung zu initiieren. Serpanta kommt dieser konfrontativen Absicht mit ihrer Entgegnung nach.288 Erst in ihren Redebeiträgen wirken Serpanta und Ydrogant als mediale Formen transsphärischer Kommunikation, indem sie Apollonius – sich auf einen Ahnen und eine

285 Die Kontaktaufnahme verfolgt Apollonius nur insofern gezielt, als die kämpferische Auseinandersetzung mit Ydrogant und Serpanta für den Zugang zu Crisa unumgänglich ist (vgl. AvT, V. 8839–8844). Apollonius entscheidet sich mit seiner Bitte um Erlaubnis, in diese Richtung aufzubrechen, für diese Begegnung. Apollonius bemüht sich zwar um die persönliche Konfrontation mit dem Monstern, von den prophetischen Fähigkeiten der Wesen ist aber weder in der Auskunft Nemrotts noch in dem formulierten Wunsch Apollonius’ die Rede. 286 Allein die Tatsache, dass in dem Bericht von Ydrogant erwähnt wird, dass dieser eine gewisse Verfügungsgewalt über das Wetter habe (vgl. AvT, V. 8922–8927), stellt ihn in eine Reihe mit anderen monströsen Wesen wie Flegedein, Sohn des von Apollonius erschlagenen Kentauren Achiron, der das einjährige Festsitzen im Lebermeer verschuldet (vgl. AvT, V. 6795–7829, 8340– 8342). Man könnte dies als Indiz für die Verbindung Ydrogants zu Wesen mit übernatürlichen Kräften und somit auch Zugängen zu übermenschlichen Informationen lesen. 287 Vgl. zur trostlosen Zeichnung des Raumes AvT, V. 8912, 9003–9007. 288 Die erste Antwort Serpantas besteht vor allem aus einer Provokation, die zur kämpferischen Auseinandersetzung führt. Auf Apollonius’ Frage entgegnet sie: [W]iltu mein peytten,/So sag ich es dir nach deiner ger‘ (AvT, V. 9036f.). Sie fordert also für jegliche Auskunft einen kämpferischen Einsatz.

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Weissagung berufend289 – Bruchstücke zukünftiger Geschehnisse enthüllen, die erklären, warum sie den Weg besetzt halten und einen Kampf auf Leben und Tod zu diesem Zeitpunkt zurückweisen (s.  u.). Serpanta verrät ihr Wissen im Schmerzgeschrei, Ydrogant gibt seine Informationen ungefragt im Dienste der momentanen Verschonung Serpantas preis. Diese Informationen sind ausschließlich für Apollonius bestimmt, denn nur Apollonius kann Serpanta in eine Situation nötigen, die zur Weitergabe transzendenter Informationen führt.290 Ydrogant teilt ihm auf die als Frage formulierte Feststellung ‘Du pist es, Appolonius? (AvT, V. 9114) hin sogleich all jenes mit, was er über Apollonius’ Schicksal zu wissen meint (vgl. AvT, V. 9115–9128). Die Enthüllung ist das entscheidende Argument seiner Behauptung, es könne zwischen ihnen (noch) nicht zu einem Kampf kommen (vgl. AvT, V.  9121f.). Sie erscheinen damit als mediale Formen transsphärischen Austauschs, die nicht gezielt nach einem Sendungsauftrag, aber dennoch gezielt gegenüber Apollo­nius handeln. Der transsphärische Austausch wird von keiner Seite explizit verfolgt oder bewusst angestoßen, sondern ergibt sich aus der bereits vorbestimmten Konfrontation der Monsterwesen mit der Person, die ihnen aus Weissagungen bekannt ist, und kann daher auch nur durch diese ausgelöst werden. Unbegrenzt zur Verfügung stehen diese Mittlerfiguren Apollonius jedoch nicht, wie der Text sogleich demonstriert. Apollonius muss unverrichteter Dinge zu Nemrott zurückkehren. Ydrogant flieht direkt nach seinen Enthüllungen in ain tieffes tal (AvT, V.  9131) und entzieht sich somit auch als mediale Form dem Zugriff. Sowohl in dieser als auch in der zuvor betrachteten Passage scheint es so, als liege es in der Welt des Apollonius – anders als im Reinfried von Braunschweig – nicht in der Macht (oder im Interesse) der Menschen oder des Mittlers, eine transsphärische Kommunikation zu initiieren. Eigenmächtig tritt hingegen Albedacus auf, der sich als Mittler dem ahnungslosen Empfänger geradezu aufdrängt. Der Sternenseher, der Apollonius zahlrei-

289 Serpanta bezieht sich auf ihre Mutter Prigamot (vgl. AvT, V. 9070), Ydrogant hingegen beruft sich auf seinen Vater Pluto (vgl. AvT, V. 9116). Ereignisse und Ereignisabhängigkeiten (s. u.) werden also bestimmten Instanzen offenbar, hier Prigamot und Pluto, die ihr Wissen jeweils an ihre direkten Nachkommen weitergeben. Der Text installiert eine Kette aus Figuren, die zwischen immanenter und transzendener Sphäre stehen und Informationen über Sphärengrenzen weiterreichen. 290 Nachdem Apollonius erfolgreich die eingeforderte Gewaltdemonstration erbracht hat (vgl. AvT, V. 9056–9059) und sich Serpanta als Apollonius von Tyrland zu erkennen gibt – sie erkennt ihn an dem Schwert des Achiron, mit dem er Kolkan erschlagen hat (vgl. AvT, V. 9073–9075) – verleiht sie in ihrem Klagegeschrei ihrer Entdeckung Ausdruck und enthüllt dabei prophetische Informationen über Apollonius, die ihr zur Verfügung stehen (vgl. AvT, V. 9061–9076).

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che Eroberungen sowie auch das Ende seines Unglücks voraussagt und ihn auf dessen Seereisen mit weiteren Prophezeiungen unterstützt, lässt sich wohl als die insgesamt am transsphärischen Austausch am meisten interessierte Figur beschreiben. Denn während er selbst ein aktives Bemühen um transzendente Informationen zeigt (s.  Kap.  6.3.3), wirkt er auch als mediale Form Apollonius gegenüber offensiv. Er versteht sich – so macht er in seiner Selbstinszenierung deutlich – als Botschafter transzendenter Instanzen. Dabei geht er recht progressiv vor. Zunächst sucht er mit einer potschafft (AvT, V. 4178) den Aufenthaltsort Apollonius’ auf. Initiativ reist er laut eigener Aussage Apollonius hinterher (vgl. AvT, V. 4229). Nach kurzer Begrüßung und noch vor einer Vorstellung seiner Person richtet er sich gezielt an selbigen291 und spricht, ohne eine Antwort seiner Gastgeber abzuwarten oder diesen eine Chance zur Unterbrechung zu geben, weiter, stellt sich vor, beruft sich auf die Götter als Auftraggeber und offenbart, was Apollonius zukünftig bevorsteht (vgl. AvT, V. 4191–4199). Auch in allen anderen Textstellen, in denen der Sternseher auftritt, schaltet er sich jeweils ungefragt in Gespräche ein und drängt so sein niemals direkt erbetenes ,Wissen‘ förmlich auf. So initiiert er ein Gespräch über Galacia, das Land, das laut seiner Vorhersage am Vortag einst Apollonius gehören werde (vgl. AvT, V. 4188, 4389f.) und mischt sich erneut ein, als Apollonius den Aufbruch dorthin erwägt, Paldein ihm jedoch unter Aufzählung der Gefahren davon abrät, sich dorthin zu begeben292 (vgl. AvT, V.  4837–4862). Ebenso redet Albedacus Apollonius zu, wenn der Aufbruch zur Turnierfahrt des Königs Jechonias (während der Schwangerschaft seiner zweiten Frau Cirilla) im Raum steht (vgl. AvT, V. 6190–6198). Später ermahnt er im Zuge der Vorbereitungen auf eine Seereise zur Pflege des Schiffes und zur Ausrüstung für einen Sturm (vgl. AvT, V. 4921–4930), an anderer Stelle schlägt er vor, mehr Proviant auf die anzutretende Heimreise mitzunehmen, als regulär für nötig erachtet wird (vgl. AvT, V. 6430–6440). Den Beiträgen geht an keiner Stelle eine Beratungsszene oder ein Hinweis auf die Befragung des Sternensehers voraus. Zwar zeigt Apollonius nach der ersten Prophezeiung ein Interesse an einer Fort-

291 Albedacus leitet seine Botschaft mit der direkten Ansprache Appolony weygant,/Künig herr von Tyrland (AvT, V. 4186f.) ein und spricht von da an in seinem gesamten Redebeitrag zu einem somit deutlich als Apollonius identifizierbaren du (AvT, V. 4194), bzw. dir (AvT, V. 4195). 292 Nachdem zunächst Albedacus das Thema initiiert, spricht Paldein über mehrere hundert Verse erst über Galacia, dann über die größten dortigen Gefahren, Kolkan und Flata (vgl. AvT, V. 4291–4840), bevor er mit den warnenden Worten Dar umb rat ich euch wol,/Als ain freund raten sol,/Ir sul ewr leben pewaren/Und lasset di abentewr varen (AvT, V. 48377–4840) seine Rede beschließt. Dieser von Zweifeln an den Erfolgsaussichten Apollonius’ geprägte Abschluss ist Auslöser der Offenbarung Albedacus’.

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führung der Interaktion, indem er bittet: Maister, ir sult pey mir wesen (AvT, V. 4262), in Anbetracht seines Verhaltens muss Albedacus hier aber als die die Interaktion forcierende Kraft bezeichnet werden. Eine Begründung für die aufdringliche Art dieses Mittlers liefert er selbst. Im Rahmen seiner ersten Prophezeiung berichtet er von einem göttlichen Auftrag. Er vermittle im Namen der Göttinnen Pallas, Venus und Juno293 den zu großen Taten Auserwählten von den prophezeiten Erfolgen (vgl. AvT, V. 4193–4196). Trotz des abweichenden Verhaltens des Mittlers stimmt das durch Albedacus entworfene Bild des transzendenten Äußerungswillens insofern mit dem der zuvor besprochenen Passagen überein, als auch Albedacus deutlich macht, dass er nur einer Person – nämlich Apollonius – Mitteilung zu machen hat, und die Auswahl auf einem Kriterium, dessen Erfüllung nicht menschlich beeinflussbar ist – Prädes­ tination – beruht. Albedacus gibt an, gesandt zu sein, da Apollonius erkoren (AvT, V. 4199) sei und über seine Zukunft in Kenntnis gesetzt werden solle. Dieser Umstand ist wiederum nach Aussage des Sterndeuters auf den Zeitpunkt seiner Geburt zurückzuführen: Du pist zu solcher zeyt geporen Das sy dich haben aus erkoren. Das zaiget dein edel sterne (AvT, V. 4198–4200)294

Das Mitteilungsbedürfnis der transzendenten Instanzen wurzelt in Anbetracht der Platzierung im Erzählverlauf und des Inhalts der prophetischen Reden in

293 Dass diese drei Göttinnen hier zusammen erwähnt werden (und einen transzendenten Kommunikationsraum zu teilen scheinen – immerhin weiß Juno Palmina zu berichten, was Apollonius Venus versprochen hat), stellt einen Anschluss an die antike Erzähltradition des Disputs um den Schönheitspreis, den Paris an eine der drei vergeben soll, dar. Im Roman d’Eneas wird diese Episode recht umfangreich geschildert, während Heinrich von Veldeke nur mit Stichwörtern auf sie verweist und den Konflikt der drei Instanzen – so wie Heinrich von Neustadt – ausblendet (vgl. Kottmann, Gott, S. 75f., wo dieser die Handlung zusammenfasst). 294 Dass Albedacus ihm also das ,Wissen‘ über seine eigentlich noch im Bereich des Unverfügbaren liegende Zukunft zukommen lässt und ihm sowie seiner Mannschaft als Ratgeber zur Seite steht, beruht dieser Aussage zufolge auf einem Auserwählungsmoment, der dem eigenen menschlichen Zutun und Einfluss nicht weiter entzogen sein könnte: dem Zeitpunkt der eigenen Geburt und der astrologischen Konstellationen zu diesem Zeitpunkt. Dass in den Sternen Informationen über die ,Art‘ eines Menschen zu finden sind, scheint viele Jahrhunderte lange eine prominente Vorstellung zu sein: „Die Vorstellung, dass die Stellung der Planeten zum Zeitpunkt der Geburt das Schicksal und die Veranlagung des Einzelnen bestimme, ist ein Grundsatz der Astrologie, der auf die Analogien zwischen den einzelnen Bereichen des Kosmos zurückgeht, die eine so große Rolle in der Philosophie von der Antike bis zur frühen Neuzeit

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der notwendigen Anregung des gerade in zweiter Ehe häuslich gewordenen Apollonius zur Aktivität. Schließlich ist es Albedacus, der Apollonius wiederholt motiviert, zu Eroberungsabenteuern aufzubrechen (vgl. AvT, V. 4853–4862, 6190–6198). Über Albedacus scheinen die transzendenten Instanzen sicherzustellen, dass der von ihnen Auserwählte die vorbestimmte Rolle auch einnimmt. Albedacus soll die Erfüllung der Prophezeiung anstoßen. In narrativer Hinsicht ist die Figur somit eine Variation des Botenschemas, durch das im Apollonius immer wieder Handlungsstillstand überwunden wird (vgl. Kap. 4.1.1).295 Doch dass der Sternenseher in seinem Selbstverständnis als berufene Mittlerinstanz gegenüber dieser Aufgabe ein stark ausgeprägtes Pflichtgefühl zeigt und er diesen Auftrag aus der eigenen Sternenbeobachtung erst generiert hat,296 verweist auf zusätzliche Beweggründe, die in der Mittlerfigur selbst angelegt sind. Die mediale Instanz verhält sich gegenüber Apollonius im Vergleich mit den anderen Mittlern recht offensiv, wirbt um Aufmerksamkeit und Gehör. Die Frage, wie viel Eigeninitiative und Eigeninteresse der medialen Instanz zu unterstellen ist, in welchem Ausmaß sie getrieben ist von dem eigennützigen Grund, mehr über den eigenen Lebensverlauf zu erfahren und diesen eventuell zu ändern,297 wirft die Figur bereits zu Beginn der Interaktion mit Apollonius selbst durch den Hinweis auf, sie müsse sterben und genesen/Mit dir, Tyrus, werder man (AvT, V. 4263f.) und habe ihn deswegen ([d]ar umb, AvT, V. 4264) aufgesucht (s. ausführlicher dazu Kap. 6.3.3).

spielten. Man ging davon aus, es gehe von den Gestirnen ein direkter Einfluss auf den Mikrokosmos des menschlichen Leibs aus. Laut der Humorallehre beeinflusste das Vorherrschen bestimmter Sternbilder das menschliche Temperament durch Begünstigung eines der vier Kör‑ persäfte.“ (Goodbody, Axel: Die Ringe des Saturn und Solar. Sinnbilder und Schreibstrategien in literarischen Stellungnahmen zur ökologischen Krise von W.G. Sebald und Ian McEwan. In: Ökologische Transformationen und literarische Repräsentationen. Hrsg. von Maren Ermisch/ Ulrike Kruse/Urte Stobbe, Göttingen 2010, S. 131–148, hier S. 133). 295 Das zeigt sich durch die Parallelität des ersten Auftretens mit den in Kap.  4.1.1 beschriebenen Passagen. Nachdem Apollonius mit seinem Gefolge Gock und Magock geschlagen hat, regieren Friede und Feststimmung das Land Warcilone (vgl. AvT, V. 3920–4125). An diesem Ruhepunkt der Erzählung taucht Albedacus eines Tages überraschend auf. Die Erzählung hebt an diesem Punkt selbst mit der Formel [e]ines tages (AvT, V. 4126) neu an, nachdem raffend berichtet wurde, wie Apollonius am Hof lebt und sich um die Erziehung von Paldeins Sohn bemüht (vgl. AvT, V. 4105–4125). Paldein und Apollonius erhalten während des gemeinsamen Mahls die Mitteilung, dass ein gast eingetroffen sei (AvT, V.4130f.). 296 Zu Albedacus’ Vorgehensweise als Empfänger transzendenter Informationen s. Kap. 6.3.3. 297 Selbst bei der Annahme, Albedacus komme hauptsächlich aus eigenem Interesse (s. u.), ist dafür die in den Sternen ablesbare und damit ebenso unbeeinflussbar vorbestimmte Verknüpfung der Schicksale des Sternsehers und des Protagonisten verantwortlich.

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In Bezug auf das Zustandekommen eines Kontakts zwischen transsphärisch informierter und immanent verhafteter Figur zeigen die Romane unterschiedliche Konzeptionen. Während im Reinfried die Empfängerfigur aktiv daran arbeitet, zur Transzendenz vorzudringen und schließlich in einem als höchst exzeptionell gekennzeichneten Zustand Auskunft erhält, stellt sich die Begegnung des an transzendenten Informationen desinteressierten Protagonisten mit den Mittlerfiguren im Apollonius im Endeffekt stets als vorbestimmt heraus, wobei einige Mittler stärker als andere daran interessiert erscheinen, in Kontakt mit ihrem Empfänger zu gelangen und ihr ,Wissen‘ zu teilen. Was diese Mittlerinstanzen zu enthüllen vermögen, generiert nicht nur Aussagen hinsichtlich der Möglichkeiten und Grenzen immanenten Zugriffs, sondern erlaubt außerdem Einblicke in die jeweilige Konzeption der transzendenten Sphäre. Aus den Aussagen der Marienerscheinung gehen recht eindeutige Handlungsprämissen der transzendenten Sphäre hervor. Es handelt sich um eine prophetische Vision, die – einem populären Muster folgend – das zukünftige (mögliche) Geschick eines einzelnen Gläubigen zum Gegenstand hat.298 Die Transzendenz steht in der Position, die Wünsche der immanenten Figuren umzusetzen. Die Erscheinung verspricht Reinfried, dass sie seinen Wunsch wahr machen werde (vgl. RvB, V. 13297–13299, 13300f.). Auch präsentiert sie die transzendente Sphäre als souverän in den Entscheidungen über die Geschicke der immanenten Figuren, wenn sie Reinfried versichert, Gott habe wunderlîchiu wunder […] ûf dich geschalten (RvB, V. 13312f.). Die Bereitschaft der Transzendenz, das Schicksal des Einzelnen den persönlichen Wünschen anzupassen, ist aber an eine Gegenleistung geknüpft. Diese besteht in diesem Fall darin, im Rahmen eines Kreuzzugs Gefahr und Leid für Gott auf sich zu nehmen (vgl. RvB, V. 13305f., 13310f., 13372, 13405f.).299 Demzufolge steht zwar bereits fest, was passieren wird, wenn Reinfried sich der gestellten Aufgabe verschreibt; die Entscheidung, das geforderte Unternehmen in Angriff zu nehmen, muss aber offensichtlich erst von ihm gefällt werden. Konkrete Details über die potenzielle Zukunft des Protagonisten behält sich die Mittlerfigur vor. Sie versichert im Falle des Aufbruchs

298 Benz macht darauf aufmerksam, dass diese Form von Vision im kirchlichen Kontext nicht selten ist, aber nicht zu verwechseln ist mit verwerflicher Neugier an der eigenen Zukunft oder Wahrsagerei (wie man sie Albedacus unterstellen könnte [s.  Kap.  6.3.3]). Ihr Gegenstand sei immer das Heil oder Unheil des betreffenden Menschen, welcher durch das Erlebnis zu einer dafür relevanten Tat ermutigt (oder von ihr abgehalten) werde (vgl. Benz, Vision, S. 142). 299 Dabei zeigt sich eine erbarmungslose Position gegenüber den dem christlichen Glauben nicht angehörigen Menschen, die als die vertâne heidenschaft (RvB, V. 13296) bezeichnet werden und gegen die Reinfried zu vehten (RvB, V.  13294) animiert wird. Sein spätere Kreuzzug wird durch die Worte des transsphärischen Mittlers als gottgewollter Auftrag ausgewiesen.

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zum Kreuzzug größtmögliches Leid, den insgesamt positiven Ausgang, ein guot ende (RvB, V. 13303, vgl. auch V. 13314f., 13373–13375, 13409–13411), und die Erfüllung seines Wunsches; die einzelnen Stationen, Gefahren, Glücksumschwünge enthält die Instanz der Figur und somit auch die Erzählung den RezipientInnen vor. Transzendente Enthüllungen beschränken sich in dieser Hinsicht auf grobe, fast allgemeingültige Aussagen und fordern vom Empfänger nicht weniger als eine Zustimmung zu unbestimmtem Leid und blindes Vertrauen in die Verheißungen. Es ließe sich diskutieren, ob Reinfrieds Vertrauen in die Versicherung, er müsse niemals um seinen Tod fürchten, nicht auch ein Grund für seine spätere, teilweise fatalistisch anmutende Haltung gegenüber Gefahren ist.300 In erzählerischer Hinsicht erwirken diese Enthüllungen trotz der positiven Prognose in erster Linie einen Spannungsaufbau auf die konkrete wundersame (vgl. RvB, V. 13312f.) Ausgestaltung all der Gefahren, die den Protagonisten in tiefste Bedrängnis zu stürzen, ihn jedoch nicht vorzeitig aus dem Handlungsverlauf zu entfernen wissen. Serpanta und Ydrogant verfügen über unterschiedlich detaillierte Informationen über Apollonius. Serpanta berichtet, von Apollonius sei geweissaget/Das er uns [Serpanta und Ydrogant] hier zerslorn soll (AvT, V. 9064f.). Sie geht davon aus, dass dieses Ereignis nun eintritt, dass es sich jetzt um di [vorhergesagte] stund handelt, denn [d]y ist yetzund worden kuntt (AvT, V.  9071f.). Dabei handelt es sich aber eher um eine Vermutung angesichts des Zentaurenschwerts, das sie bei Apollonius erblickt und von dem sie zu berichten weiß, dass [d]a enmag nieman vor genesen (AvT, V. 9076). Ydrogant widerspricht ihrer Aussage, da er die Bedingungen für das tatsächlich bevorstehende Ereignis noch nicht erfüllt sieht. Crisa werde schließlich tatsächlich Apollonius gehören (vgl. AvT, V. 9125), was voraussetzt, dass er Serpanta und Ydrogant überwindet. Doch:

300 Der Protagonist räsoniert in zwei Situationen, in denen er sich unbekannten Gefahren aussetzt, um Wunder zu schauen, dass er wie jeder andere irgendwann durch irgendetwas sterben müsse, und wenn es nun nicht hier geschehe, dann eben zu einer anderen Gelegenheit. Deswegen solle man sich nun nicht das faszinierende Erlebnis entgehen lassen (vgl. RvB, V. 21223–21229, 22114–22129). In beiden Situationen (auf dem Magnetberg und auf der Fahrt zur Sirene) ist der angesprochene Tod in Anbetracht der Situation eine naheliegende Gefahr. In diesen Passagen zeigt sich, dass Reinfried bereit ist, für das Erlebnis des Faszinationsmoments den Tod in Kauf zu nehmen. Gerade diese Szenen sind verantwortlich dafür, dass dem Protagonisten wiederholt curiositas attestiert wurde (vgl. Anm. 2/113). Die Enthüllung der Marienerscheinung schränkt nicht die Faszinationskraft des Wunderbaren, die hier zur Schau gestellt wird, ein, mildert aber den Eindruck einer vollkommen leichtsinnigen Handlungsweise.

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Du enschaffest nicht zu diser frist: Du pist Nemrott undertan, Gevanden und aigen man; Du en macht hie geschaffen niht, Dein vechten ist nu gar enwicht (AvT, V. 9118–9122)

Solange Apollonius unter der Vorherrschaft Nemrotts steht, kann der zweite Teil der Prophezeiung, die besagt, dass er, nachdem ([d]arnach, AvT, V. 9125) er ledig und frey (AvT, V. 9124) geworden ist, über Crisa regieren und Diomena für sich gewinnen werde (vgl. AvT, V. 9125–9127), nicht eintreten. Es gibt diesen Ausführungen zufolge eine vorbestimmte Ereignisabfolge, die nicht durch immanente Bemühungen durchbrochen oder umgestellt werden kann. Ydrogant betont, dass Apollonius in seiner jetzigen Position auf dem Schicksalsweg nichts erreichen könne [w]ie kune dir das hertze sey (AvT, V. 9123).301 Auch in dieser Konzeption funktioniert die erzählte Welt nach vorbestimmten Abläufen und treten vorgesehene Ereignisse in einer bestimmten, unerschütterlichen Reihenfolge ein. Alternativen Wendungen wird kaum Spielraum eingeräumt. Wenn Serpanta davon ausgeht, dass sie und ihr Mann einst von Hand des Tyrländers sterben müssen und Ydrogant sich sicher ist, dass Apollonius Crisa beherrschen und Diomena für sich gewinnen wird, dann scheint auch die dafür notwendige Befreiung von der Herrschaft Nemrotts – ebenso wie der Fall unter die Herrschaft des Tyrannen – vorherbestimmt, der Werdegang der Figuren ein komplexer Algorithmus für ein zumindest für die einzelnen Lebensläufe feststehendes und immanent unbeeinflussbares Ziel. Der weitere Verlauf untermauert diesen Eindruck. Denn gerade die Offenbarung des vorhergesagten Schicksals löst dessen Erfüllung aus, sodass auf Ebene der Erzählung die zunächst zufällig und im Hinblick auf Apollonius’ ,Wissen‘ redundant erscheinende Enthüllung302 als ebenso vorherbestimmtes Ereignis auf dem vorgezeichneten Weg, zumindest als handlungslogische Notwendigkeit, erscheint. Die Figur, für die die Enthüllungen Ydrogants tatsächlich neu und

301 Das hält jenen nicht auf, es dennoch zu versuchen – jedoch, wie vorhergesagt, ohne Er‑ folg (vgl. AvT, V. 9129–9158). 302 Apollonius weiß, wer er ist und was ihm vorhergesagt ist, denn die Information, dass er Crisa einnehmen werde, hat ihm der Sternendeuter Albedacus bereits 5000 Verse (vgl. AvT, V. 4214f.) und einige Jahre erzählter Zeit zuvor vermittelt und durch die Richtigkeit all seiner anderen Vorhersagen glaubhaft gemacht. Dass die Figur diese Informationen nicht vergisst, zeigt sich in der Auseinandersetzung mit der Göttin Venus, der gegenüber er mit der Vorhersage Albedacus’ argumentiert: Albedacus der weyssage/Ze Warcilone an ainem tage/Sagt auß seinem munde mir/Vin anderen gottynnen und von dir/Ewr gnad und ewr gruß (AvT, V. 12186–12190). Mit dem Gruß ist die Botschaft der Götter gemeint, dass Apollonius auserwählt sei (vgl. AvT, V. 413–4201).

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handlungsanweisend sind, ist Climodin, der Vertraute Nemrotts, welcher Apollonius begleitet und die Aussagen der Monster hört (vgl. AvT, V. 9077f.). Die Identifikation des bislang unerkannt als ,Lonius‘ in Diensten Nemrotts stehenden Ritters als Apollonius stößt Prozesse an, die zu ebenjener Befreiung aus Nemrotts Knechtschaft führen – Voraussetzung dafür, erneut und erfolgreich gegen Serpanta und Ydrogant anzutreten – wiederum Voraussetzung für die erfolgreiche Befreiung des hier noch versperrt bleibenden Landstriches.303 Insofern ist diese Passage und die Offenbarung vor allem eine handlungslogische Notwendigkeit,304 die die Erfüllung der darin formulierten Vorhersagen anstößt und bereits erzählte Prophezeiungen wiederholt bzw. in Erinnerung ruft. Henoch und Elias zeichnen im selben Text ein recht umfangreiches Bild der christlichen transzendenten Sphäre, wobei weder eine Abgrenzung von der transzendenten Sphäre Ydrogants und Serpantas noch eine Überschneidung mit ihr explizit wird. Die eher beiläufig enthüllten Informationen, die hauptsächlich für die zeitliche Verortung des Geschehens durch die TextrezipientInnen relevant sind, da der Protagonist sie nicht versteht, bleiben auf einer allgemeinen, die Heilsgeschichte betreffenden Ebene und beziehen sich an keiner Stelle auf das konkrete Gegenüber.305 Zusammengefasst kündigen Elias und Henoch die baldige Ankunft des Antichristen an. Die Art und Weise dieser Ankündigung ent-

303 Mit der durch die offenbarte Statusgleichheit entstehenden Konkurrenzstellung und der ebenfalls von Climodin weitergegebenen Vorhersage, dass dieser andere König Crisa einst – nach der Entlassung aus seiner Gefangenschaft einnehmen werde (vgl. AvT, V. 9161–91669) – beginnt die Eifersucht des Herrschers, die zur immer stärkeren Loslösung Apollonius’ von Nemrott, schließlich zur vollständigen Emanzipation von diesem führt. Climodin und dessen Überhören der wahren Identität ,Lonius‘ spielt dabei keine unwichtige Rolle, wie erst im Nachhinein deutlich wird. Von Apollonius hat dieser nämlich bereits gehört, [w]as er eren hette pejaget (AvT, V. 9198), sodass er Nemrott gegenüber für einen ehrenvollen Umgang mit dem Gefangenen, ja sogar für dessen Freilassung plädiert (vgl. AvT, V.  9170–9174) und sich von Nemrott abkehrt, als dieser sich Apollonius gegenüber nicht angemessen verhält (vgl. AvT, V. 9181–9204; die Entzweiung ist nicht im Einzelnen nachzuerzählen, vgl. aber zur letzten Auseinandersetzung AvT, V. 10550–10559). 304 Darin, dass die intersphärische Kommunikation eigentlich dazu dient, von einer anderen immanenten Figur mitgehört zu werden, gleicht die Passage der des Gebets Apollonius’ im Dianatempel (s. Kap. 6.2.1). 305 Ob das Wissen der Propheten auf das Preisgegebene begrenzt ist oder ob sie selbst entscheiden, den Gästen Informationen vorzuenthalten, ist nicht auszumachen. Das Enthüllte wird vom textinternen Empfänger weder verlangt noch wirklich verstanden und zieht daher auch keine Nachfragen, kein Interesse an Konkretisierung, nach sich. So bleibt ihm die eigene Zukunft verschlossen; ob sie ihm bei Nachfrage gewährt worden wäre, erschließt sich aus dem Text nicht. Zur zeitlichen Verortung der Textgeschehnisse, die außerdem den verstrichenen Zeitrahmen von vierzehn Jahren verdeutlicht, vgl. Achnitz, Babylon und Jerusalem, S. 333f.

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hüllt jedoch noch mehr über die transzendente Sphäre. Zunächst zeugen auch ihre Aussagen von der Transzendenz als planende und die Schicksale der Immanenz lenkende Instanz, die Zugriff auf Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit hat, diese nach einem fest gefügten Plan gestaltet und dabei einzelnen Personen klar umrissene Funktionen überträgt, diese den Betroffenen jedoch nur in seltenen Fällen offenbart. Sie kennzeichnen die übermächtige Instanz, die sie auf der einsamen Insel am Leben erhält, als mächtig und planvoll agierend. Sie handle auf Grundlage der ihr eigenen, immanent undurchschaubaren weißhait (AvT, V. 14828) und wisse genau [w]as er mit uns wurcken sol (AvT, V. 14829). Teil dieses Plans ist bspw. der noch in der Zukunft liegende jungiste[] tage (AvT, V.  14833, 14878), auf dessen Bedeutung die Propheten nicht weiter eingehen, an dem sie aber eine ebenso festgelegte wie wichtige Rolle als Gotes kempfer (AvT, V. 14834) einzunehmen haben. Ihre Existenz wird auf eine vorbestimmte Funktion in dem bereits festgelegten Weltgeschehen ausgerichtet, über das nur zu erfahren ist, dass ein großer und schicksalhafter Kampf herannahen wird, bei dem die eine Seite Gott untersteht. Ohne zunächst eine Verbindung zu ihrer Aussage zum Jüngsten Tag herzustellen, sprechen die Propheten außerdem von einer älteren Prophezeiung, nach deren Eintreten sie sich erkundigen. Dass Apollonius deren Angaben – es werde eine besondere Person (namens Jesus Christus von Nazareth) in Jerusalem von einer Jungfrau geboren, die Sünden der Welt tragen, drei Tage nach ihrer Tötung wiederauferstehen und die Ewigkeit einläuten306 – verifiziert (vgl. AvT, V. 14850– 14863),307 bestätigt ihren prophetischen Zugriff – und verortet für die TextrezipientInnen die Erzählung im Heilsgeschehen.308 Schließlich stellen die Propheten

306 Alle Aussagen über Jesus werden in einem prophetischen Ton – mithilfe der zukunftsgewissen Verbformen ,werden‘ und ,sollen‘ – vorgetragen: Es wirt geporen ain kindelein/Zu Jerusalem von ainer magt:/Hat ew da von yemand gesagt?/Der soll der weld sunde tragen:/Es wirt durch uns ze tod erslagen/Es wirt an dem dritten tage/Lebendig an alle clage./Der wirt dan geben ain ee/Und nach der kain ander me/An der ee muß di welt wesen/Wer an der sele wil genesen./Sein name wurt gehaissen alsuß/Von Nasareth Jhesus Christus (AvT, V. 14835–14847). 307 Apollonius habe tatsächlich von einem Mann gehört, den die Juden für einen grosse[][n] zauberere (AvT, V. 14855) gehalten und daraufhin getötet hätten, der jedoch nach dem dritten Tage wieder auferstanden sei und um dessen Person sich nun eine Anhängerschaft aufbaue. Kaum hat Apollonius seine Angaben beendet, bestätigt einer der Alten sofort, dass es sich um ein und dieselbe Person wie aus der Prophezeiung handle, die Prophezeiung sich bereits erfüllt haben müsse (vgl. AvT, V. 14865f.). 308 Heinrich Steinhöwel verortet die Erzählung nicht nur an anderer Stelle, sondern auch in anderer Weise. Bevor in seinem Text die Erzählung um Antiochius einsetzt, informiert eine längere Vorrede über die Platzierung der Erzählung im Weltgeschehen, die mit der Feststellung endet: Nun regniret Seleucus, der durchächter Appolonij, da man zalt von anfang Rom vierhundert vier

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einen Bezug zwischen dem erwähnten Jüngsten Tag und Jesus her, indem das Auftreten dieses als Anzeichen für das Hereinbrechen jenes dargestellt wird. Als die Propheten nämlich hören, dass die Ereignisse um Jesus schon vor mer dann zehen jar (AvT, V. 14860) eingetreten sind, sagen sie mit Bestimmtheit voraus: So werden wir doch schier erloßt Von disem ellende.’ Si sprachen ’schier ist ende Diser vaigen welte kranck: Es ist furpaß nit lanck Das ditz leben ende hatt. (AvT, V. 14867–14872)

In Kombination ergeben die Informationen ein recht eindeutiges Bild der transzendenten Pläne und ihres Voranschreitens. Indem die beiden zuvor als Gotteskämpfer am Jüngsten Tage gezeichneten Männer sich mit der Nachricht der bereits erfüllten Prophezeiung von Jesus Christus als bald erlöst betrachten, offenbaren sie, dass es sich bei dem erwähnten Plan der waltenden Instanz um einen lückenlos vorausgedachten, bereits zum Teil erfüllten Ablauf der Zeitgeschichte handelt, in dem die vorbestimmte Rolle eingenommen, aber nicht selbst bestimmt werden kann. Der zugedachten Rolle kann man sich nicht entziehen, ihre Erfüllung ist aber abhängig vom Eintreten bestimmter Ereignisse. Den Aussagen der Propheten zufolge haben die Ereignisse um Jesus die nächsten Ereignisse – den Jüngsten Tag und den dann zu erwartenden Kampf – quasi freigeschaltet. Für die TextrezipientInnen wird daher nicht nur enthüllt, wie die Welt funktioniert und dass ein Zugriff auf das Unverfügbare in Sonderpositionen möglich ist, sondern auch, dass Schlüsselprozesse eingeleitet sind und der Jüngste Tag unabwendbar bevorsteht. Vor dem Hintergrund der anderen Mittlerfiguren im Apollonius zeichnen die Prophezeiungen des Sternensehers ein etwas anderes Bild von Immanenz und Transzendenz in der erzählten Welt. Die Göttinnen, die er als seine Auftraggeberinnen benennt, haben sich entschieden, sich für Apollonius einzusetzen, besitzen also eine gewisse Verfügungsgewalt über dessen Leben. Sie helffent (AvT, V. 4201) ihm bereitwillig und können ihm

vnd achczig iar; danoch belibt zwaij hundert acht vnd sechczig jar zů der gepurtt Cristi von Appolonji vngefell (Steinhöwels Apollonius, S. 161; die gesamte Passage vgl. S. 155–161).

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[m]ynne, weißhait und güt, Cuenhait, starcken müt, Starcker leib, langes leben (AvT, V. 4202–4204)

zukommen lassen. Beeinflusst ist diese Auswahl nicht aus der Immanenz heraus, Apollonius qualifiziert sich nicht durch ein bestimmtes Betragen für diese Unterstützung. Denn die Loyalität der Göttinnen erhält Apollonius durch die Stunde seiner Geburt (vgl. AvT, V. 4198f., s. o.). Damit ist aber offenbar noch nicht der gesamte Lebensverlauf festgelegt, macht Albedacus doch mit seiner Aussage, die Göttinnen würden ihm all jene Gebiete, die er sich wünsche, untertan machen (vgl. AvT, V. 4194f.), deutlich, dass die konkreten Wünsche der immanenten Figur in der transzendenten Planung Berücksichtigung finden können und noch nicht feststehen. Die Tatsache, dass die Göttinnen Albedacus zu Apollonius schicken und dieser wiederholt versucht, Apollonius zum Antritt einer Unternehmung zu bewegen, die – der Vorhersage nach – gut ausgehen und zur Eroberung der ihm bereits transzendent zugesprochenen Länder führt, legt nahe, dass einige weniger konkrete Aspekte der jeweiligen Biographie für Apollonius zum Zeitpunkt der Geburt horoskopartig angelegt sind. Daher kann Albedacus bereits bei der ersten Begegnung recht langfristige Enthüllungen über Apollonius’ Zukunft als Herrscher bereitstellen. Gleich zu Beginn eröffnet Albedacus, Apollonius werde die Herrschaft über Galacia gewinnen (vgl. AvT, V. 4188f.)309 – ein Land, das Apollonius noch nicht einmal bekannt ist,310 ihm aber offenbar bestimmt ist. Dieser zuerst genannten Eroberung fügt Albedacus in selbigem Redebeitrag mit Armenia, Purgaria Du wuste Romania Und das guldene tal […] Anthiochia […] (AvT, V. 4212–4216)311

eine Reihe weiterer Länder hinzu. Selbst die Regierung seiner Tochter Tarsia uber drew lant (AvT, V. 4237) sagt Albedacus voraus. Die Prophezeiung belässt es jedoch bei der Feststellung des Eintretens der Herrschaft, ohne auf die Reihen-

309 Diese Information wird wiederholt vermittelt, so auch in AvT, V. 4856–4861. 310 Das zeigt der Text dadurch, dass am nächsten Tag eine ausführliche Unterredung über Galacia mit Paldein stattfindet, in der letzterer über Beschaffenheit, Vorzüge und Gefahrenpotenzial dieses Landes unterrichtet (vgl. AvT, V. 4291–4840). 311 Auf die hier vorausgesagte Herrschaft über das Goldene Tal beruft sich der Held dann auch vor Venus (vgl. AvT, V. 12186–12191), nutzt sie also als Legitimation einer Landesübernahme.

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folge oder den Ablauf im Einzelnen näher einzugehen.312 Es handelt sich vielmehr um eine Liste, die Apollonius bereits zugeschrieben wird und an der er sich mit dem Wissen um seine Möglichkeiten abarbeiten muss. Es entsteht der Eindruck, die konkreten Ereignisse auf diesem Lebensweg müssten trotz der transzendenten Vorbestimmung aus dem Handeln der immanenten Figur he­raus initiiert werden und Albedacus verstehe es als seine Aufgabe, den Anstoß zu leisten.313 Sonst lässt sich kaum erklären, warum Albedacus so erpicht darauf ist, Apollonius von seinem Schicksal und seiner Bestimmung wissen zu lassen, er wiederholt Überzeugungsarbeit leistet, um ein Abenteuer des Helden zu motivieren. Im Hinblick auf den privaten Bereich vermittelt Albedacus die Abfolge bestimmter Ereignisse, die in Apollonius’ Situation geradezu absurd klingen. Der zur Zeit bei seiner zweiten Frau häuslich Eingerichtete werde mit seiner Gefolgschaft viel we (AvT, V. 4207) – unter anderem von dem mere (AvT, V. 4211) – erleiden, sich als ain wurm (AvT, V.  4219) quälen, bevor sich schließlich das Glück wenden und das schier Unglaubliche eintreten werde: die Wiedervereinigung mit seiner totgeglaubten ersten Frau (vgl. AvT, V.  4221f.). Anders als bei der Aufzählung der noch zu erobernden Gebiete werden die einzelnen enthüllten Aspekte in eine zeitliche Abhängigkeit gebracht, sodass deutlich wird, dass zunächst Gefahren auf See und schwere Zeiten zu überstehen sind, bevor sich das Schicksal dreht

312 Zumindest die Reihenfolge der Eroberungen stimmt mit der Position in der aufgezählten Reihe überein. 313 Wie viel Spielraum der Text sieht, von diesem Plan abzuweichen, wird in Kap. 6.3.3 genauer thematisiert. Die Vorhersagen legen wie die anderen Passagen im Apollonius nahe, dass der Lauf der Ereignisse komplett festgelegt ist, jedoch der Aktivierung bedarf. Spielraum im Schicksalsplan eröffnet auch die Stimme, die Apollonius am Ende des Textes auffordert. Die Enthüllungen sind extrem auf die Situation des Empfängers zugeschnitten, beziehen sie sich doch auf das nur die Person des Helden betreffende und durch eine bestimmte Handlungsweise zu erlangende Glück. Es ist der Plan einer höheren, die immanenten Geschehnisse überblickenden Instanz bestimmte, für den jetzigen Zeitpunkt angelegte Ereignisse unter der Voraussetzung, dass Apollonius sich den Anweisungen entsprechend verhält, herbeizuführen. Diese Instanz hat die Fähigkeit und den Willen, sein Leid beim Befolgen der Aufforderung zu beseitigen (vgl. AvT, V. 17220–17230). Die Möglichkeit, dem Traum nicht Folge zu leisten, macht deutlich, dass das vom Traum Versprochene abhängig vom Handeln des Angesprochenen noch nicht fest vorbestimmt, sondern – wie auch schon bei den Enthüllungen der anderen transsphärischen Prozesse im Apollonius zu beobachten war – nur angelegt ist.

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und Apollonius Glück erfährt.314 Bestimmte Ereignisse oder schicksalhafte Bezüge zwischen Figuren erscheinen fest und unumstößlich transzendent angelegt.315 Darüber hinaus schaltet sich der Sternenseher in konkreten Gefahrensituationen mit seinem ,Wissen‘ ein. Dabei handelt es sich jedoch weniger um wirkliche Offenbarungen, sondern eher um zeitnahe Konkretisierungen der zuvor erwähnten Glückswandel bzw. um Ratschläge der eigenständig handelnden Figur. Schon im initiativen Einbringen von Informationen zeigt sich, dass Albedacus als mediale Form keinesfalls neutral bleibt, niemals hinter den vermittelten Inhalten verschwindet. Überbringt Albedacus im ersten Gespräch lediglich die ihm zur Verfügung stehenden Informationen, hat bereits sein nächster Beitrag einen appellativen Charakter, indem er Apollonius mit der Garantie des Erfolges nahelegt, den Warnungen seines Freundes Paldein entgegen einen Feldzug nach Galacia zu wagen (vgl. AvT, V. 4853–4862). In ähnlicher Weise unterstützt Albedacus den Aufbruch zu einem Turnier auf Einladung des Königs von Assiria gegen den Willen von Cirilla (Apollonius’ zweiter Ehefrau).316 In dieser Hinsicht fungiert Albedacus als beeinflussender Vermittler von glücklicher Zukunftsgewissheit gegen aufkommende Zweifel nahestehender Figuren und – ähnlich wie die Marienfigur, die Reinfrieds Entscheidung vor der Ehefrau legitimiert (s.  o.) oder die Spiegelsäule (s.  Kap.  4.4.2) – zur Bestärkung einer unpopulären Entscheidung. Der Umfang der zugänglich gemachten Informationen ist – verglichen mit anderen transsphärischen medialen Formen – zwar recht groß und kann unterschiedliche Aspekte der näheren oder auch fernen Zukunft betreffen, in dieser Spannbreite der Definition von ,Zukunft‘ in den Vorhersagen liegt jedoch auch die zentrale Problematik. Wenn auch verfügbar wird, was passieren wird, und

314 Die Brisanz dieser Vorhersage unterstreicht Albedacus selbst, wenn er mit Einblick in den Gefühlshaushalt des Helden oder zumindest Empathiefähigkeit beifügt: Du gelaubest sein doch klain (AvT, V. 4223). Apollonius reagiert dann auch entsprechend: Tyrus erschrack der rede do./Er ward traurig und fro (AvT, V. 4238f.). 315 Unter die Informationen aus dem Bereich der vorbestimmten Zukunft des Protagonisten zu zählen ist auch die kurioserweise freimütig von Albedacus weitergegebene heikle Verknüpfung ihrer Lebensläufe (vgl. AvT, V. 4263–4265; s. Kap. 6.3.3). 316 Albedacus schaltet sich ein, prophezeit Apollonius Erfolg bei dieser Unternehmung und bekräftigt damit den Entschluss zur Abreise. Die Mittlerinstanz hat hier angesichts der ihr zugänglichen und von ihr vermittelten Informationen eine eigene Position, die sie zum Ausdruck bringt, indem sie sie einer anderen entgegenhält: Dein rayse wirt da vil güt,/Du pist vor schanden wol behüt,/Du gewinnest lob und ere (AvT, V. 6190–6192). Sie verschweigt nicht die Tiefschläge, die Apollonius auch erwarten (vgl. AvT, V. 6193–6196); insgesamt aber sagt sie einen guten Ausgang voraus, denn alles das zuvor erwähnte unheil und all die bevorstehende arbait sowie die Zeit [i]n grossem ellende – nympt […] ein ende (AvT, V. 6198).

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einige Relationen und zeitliche Abhängigkeiten wahrnehmbar werden, so ist nach dem Mediationsprozess doch nicht ersichtlich, wie genau und in welchem Zeitrahmen die Vorhersage zur Erfüllung kommt und ob zwischendurch noch kurzfristigere und genauere Vorhersagen sichtbar werden, die das initial Vorhergesagte eventuell ändern können. Die Informationen sind unvollständig, lassen zwischen den feststehenden biographischen Punkten blinde Flecken ungeklärten Ausmaßes entstehen.317 Wie genau das Einschreiten der Mittlerfigur dem Auftrag bzw. seinen den Sternen abgerungenen Informationen318 entspricht und was Albedacus den anderen Figuren vorenthält, verschleiert der Text. Es wird auch für die RezipientInnen nicht sichtbar, ob die Lücken und Vagheiten der Prophezeiungen auf die mediale Form erster oder zweiter Instanz zurückzuführen sind. Abhandlungen über Prophetie zeugen davon, dass man sich den Zugriff einerseits nicht unbegrenzt vorstellte,319 andererseits die Weitervermittlung über prophetische Rede und Schriften problematisch ausfallen konnte.320 Die Mittlerfigur entlastet in der Frage nach der Verantwortlichkeit für diese Lücken und Unschärfen, dass es ihr unmöglich ist, frühzeitig mehr als die Gewissheit [d]as ich mein leben lassen soll/Pey dir von deinen schulden (AvT, V.  4231f.) zu Zeitpunkt und Umständen seines Todes zu erfahren, sodass auch für Albedacus die verfügbaren Informa­ tionen eingeschränkt scheinen. Allerdings wird in zwei späteren Szenen deutlich, dass der Zugriff der Figuren auf die transzendenten Informationen stark

317 Die verfügbar gemachte Vorbestimmung Apollonius’ zum Herrscher über unzählige Länder, unter anderen Galacia und das Goldene Tal, lässt hingegen keine Schlüsse darauf zu, welche Hindernisse sich der Regentschaft vorher in den Weg stellen, in welcher Reihenfolge die Er­ oberungen erfolgen und wann mit dem Erringen dieser zu rechnen ist. Ebenso nützt die Vorhersage, Apollonius müsse manchen Sturm durchfahren und leiden, bis er Lucina wiederfinde (vgl. AvT, V.  4218–4221), Apollonius wenig bei Einzelentscheidungen und bewirkt offensichtlich in Momenten der Trauer auch keinen besonderen Trost. So zeigt die Klage Apollonius’ nach seiner Isolation auf der Insel, dass er Lucina noch immer für tot hält (vgl. AvT, V. 6579–6592). Auch bei der Verwendung der Spiegelsäule wird deutlich, dass Apollonius davon ausgeht, dass Lucina nicht mehr am Leben ist (vgl. AvT, V. 12885–12887; s. Kap. 4.4.2). 318 Ausführlicher mit den Techniken, mittels derer Albedacus selbst sich diese Informationen zu verschaffen weiß, beschäftigt sich Kap. 6.3.3. 319 Cassidor bspw. spricht davon, dass der Geist der Prophetie den Propheten nicht konstant zur Verfügung steht, sondern sich ihnen auch wieder entzieht (vgl. Meier, Evaluation, S. 77). 320 Uneindeutigkeit und „Dunkelheit“ werden geradezu als identifikatorische Charakteristika prophetischer Rede angenommen (vgl. hier S. 80–83). Das entspreche gerade dem letztendlich nicht vollständig überbrückbaren Gefälle zwischen Immanenz und Transzendenz. Mit Bezug auf Gregor den Großen stellt Meier dar: „[D]er Mund des Menschen ist zu eng, die Sprache ist defizitär“ (hier S. 80).

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von der Mittlerinstanz geprägt ist, bzw. die Offenbarungen, die der Sternenseher bereitstellt, ausschließlich aus den verfügbaren Inhalten abgeleitete Handlungsempfehlungen sind. Deutlich wird das, als erstmals kurzfristigere Vorhersagen getroffen werden, der Blick auf die Informationen also im Rahmen der erzählten Handlung liegt. Hier taucht der Zugang zu den Informationen des Mittlers nicht nur als Quelle und Autorisierungsstrategie in der Rede der Figur auf, sondern findet selbst als Ereignis Darstellung. Als sich Apollonius mit seiner Mannschaft Galacides nähert, berichtet Albedacus eines Morgens von einem stern zornes vol (AvT, V. 4923), den er nach eigener Aussage in der Nacht gesehen habe. Er fügt einige Verse später hinzu, Pluto treibe in den Gewässern sein Unwesen (vgl. AvT, V.  4927–4931), bindet diese Aussage aber nicht an die nächtliche Erscheinung zurück und lässt so offen, ob der Stern ihm enthüllt hat, dass eine Gefahr droht und er sich die Bedrohung durch Pluto erschlossen hat, oder ob er konkret von der Bedrohung durch Pluto oder gar durch die Bedrohung durch einen schweren Sturm (ein solcher bricht kurz darauf über dem Schiff herein, vgl. AvT, V. 4932– 4959) wusste. Denn was dieser Bemerkung folgt, ist ein Ratschlag: ’Ir sult der scheff pflegen wol, Oder ir kompt in solche not Das wir alle ligen dot. (AvT, V. 4924–4926)

Er vermittelt nicht die Enthüllung des Sterns, diese verschwindet hinter der Handlungsempfehlung, die er auf deren Grundlage entwickelt. Albedacus berichtet zwar von dem Erlebnis, das seiner Aussage zugrunde liegt, er gibt aber nur seine Schlussfolgerungen und nicht die Offenbarungen selbst weiter. Er stellt – anders als Reinfried, der seiner Frau jede Einzelheit seiner prophetischen Erfahrung haargenau mitteilt321 – keine Offenbarungen zur Verfügung, die den anderen Figuren als Entscheidungsgrundlage dienen, sondern generiert eine Einschätzung der Situation. Dabei verstellt er den Blick auf die enthüllten Informationen, überschreibt sie mit seiner eigenen Stimme bzw. erzeugt – um auf medienthe-

321 Nachdem er ihr seinen Entschluss, nach Jerusalem zu fahren, mitgeteilt hat, verspricht er, ihr ûf ein ende[zu] sagen/war umb wâ von wie ich bin komen/komen an der verte sin (RvB, V.  13728–13730) und hebt dann zu einem minutiösen Bericht an: [S]wâz im der troum in sâlfe kunt/des nahtes hât gemacht,/daz wart dô erwachet/der frouwen offenlich geseit,/alsô daz er nie hâres breit/wolt verswîgen noch verhalt./von ende zende über al/seit er des troumes schouwe./ der schîn, daz kint, diu frouwe,/ir rede, ir kleit, swaz sî sprach,/der reinen er des gar verjach/von ende ûf biz an ein ort (RvB, V. 13732–13743). Ebenso berichtet auch Yrkâne Reinfried jeweils ihre Traumbilder und nicht ihre Interpretation davon (s. Kap. 6.3.2).

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oretisches Vokabular zurückzugreifen – ein lautes Rauschen.322 Zugespitzt zeigt sich dieses Eingreifen der medialen Form in den Mediationsprozess vor Antritt der Rückreise gen Warcilone, deren Beschwerlichkeit Albedacus bereits vor der Abreise betont (vgl. AvT, V. 6193–6197). Es wird mehr Proviant geladen als normalerweise für diese Reise benötigt wird, denn: Das riet der alte weyssage. Er hett jammerliche klage, Er laid kumer und not, Er vorhte er lag dot. Da mitte schuff der greyse Das michel mer speyse In das scheff ward gelan, Da man sust hette gethan. (AvT, V. 6433–6440)

An dieser Stelle wird nicht einmal mehr deutlich, ob der Ratschlag auf das zuvor gegenüber Apollonius erwähnte Leid (in ebenjener Vagheit, s. o.) zurückgeht oder ob Albedacus konkretere Informationen zur Verfügung stehen, die ihn gerade in dieser Situation zum Bestehen auf Notproviant bewegen. Albedacus verschweigt den anderen Figuren – so wie die Erzählung den RezipientInnen –, was er weiß oder auf welcher Grundlage er etwas zu wissen und bestimmte Maßnahmen anordnen zu müssen meint. Albedacus fungiert nur noch indirekt als Mittler, macht nicht wirklich transzendente Informationen zugänglich, sondern vermittelt nur die vage Vorstellung einer drohenden Gefahr durch seine eigene Furcht. Den letzten Einblick in die transzendenten Geschicke, der Albedacus zugestanden wird, stellt der Text zwar wieder da, diesen teilt Albedacus allerdings gar nicht mehr mit anderen Figuren (AvT, V. 6869–6876, s. außerdem Kap. 6.3.3). Albedacus entscheidet selbst, wem er wann was offenbart. Was nur in diesen Szenen durch eine genaue Lektüre sichtbar wird, rückt auch die vorherigen Offenbarungen Albedacus’ gegenüber Apollonius in ein weniger zuverlässiges Licht und lässt die daraus abgeleiteten transzendenten Prinzipien sowie Kommunikationsstrategien weniger eindeutig wirken. Albedacus bleibt als mediale Form bei der Bereitstellung von Informationen für die menschliche Wahrnehmung nicht passive Vermittlungsinstanz, die einfach die aus den selbst visuell empfangenen Signalen konstruierte Botschaft neutral weiterträgt, sondern mischt sich selbst ein, was durchaus als kritisch markiert wird. Die mediale Form prägt – was in kaum einer

322 Darin verstößt er gegen das von Gregor dem Großem in seiner Ezechiel-Homilie in Anschlag gebrachte Gebot, Propheten sollten nur das weitertragen, was sie gehört haben (vgl. Meier, Evaluation, S. 91).

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anderen der besprochenen Textszenen so deutlich wie hier wird – durch die Art der Formulierung oder die Vorgabe von Handlungen die Wahrnehmung des Vermittelten. Angesichts der bereits bei der ersten Begegnung enthüllten Verflechtung seines und Apollonius’ Schicksals ist nicht auszuschließen, dass Albedacus dies auch tut, um eine eigene Agenda zu verfolgen (s. Kap. 6.3.3). Die über die Einordnung als intersphärische Botenfiguren zusammengeordneten Textphänomene sind so unterschiedlich wie der Umgang der Protagonisten der beiden Texte mit ihnen es ist. Die Szenen entfalten bei der Darstellung der Möglichkeit, über Mittlerinstanzen in der Immanenz Kenntnis über transzendente Informationen zu erlangen, unterschiedliche Schwerpunkte, die Figuren lassen sich jedoch hinsichtlich ihrer Zugänglichkeit und Nutzbarkeit als transsphärische Formen aussagekräftig vergleichen. Häufig liegt der Schwerpunkt der Darstellung nicht auf dem Moment der Vermittlung, sondern auf den narrativen Funktionen solcher Figuren. Sie stellen eine Schnittstelle zwischen den Textebenen dar, indem sie gleichzeitig den Figuren wie auch den RezipientInnen einen Überblick auf den Gesamtverlauf gewähren. Ihre Rede übernimmt die Funktion einer auktorialen Erzählerstimme, die – so sie denn aufgrund des nötigen Vorwissens und der aussagekräftigen Inszenierung als transsphärische Mittler (an) erkannt werden – auch intradiegetisch vernehmbar ist, und setzt damit Figuren und RezipientInnen auf denselben Wissensstand sowie in dieselbe Position, das Gesagte zu bewerten, als vertrauenswürdig einzuordnen oder als unzuverlässig oder irrelevant zu verwerfen. Besondere Ähnlichkeit weisen in dieser Hinsicht zwei Figuren auf, die auf den ersten Blick kaum etwas gemeinsam haben, deren Aussagen aber nicht ohne Grund im Eingang der Untersuchung nebeneinender gestellt wurden: Albedacus und die Marienerscheinung. Beide treten in den Text, als der Protagonist einen Punkt erreicht hat, an dem ihm Stillstand, der Erzählung damit ein vorzeitiges Ende droht. Beide sorgen dafür, dass jener über den groben Verlauf der für ihn vorgesehenen Zukunft unterrichtet wird und zu neuen, erzählenswerten Abenteuern aufbricht. Und beide enthüllen in einem Ausmaß Informationen über das Bevorstehende, das einen insgesamt positiven Ausgang zusichert, dabei aber Spannung auf die dazwischenliegenden Passagen, die nur vage als mühevoll und gefährlich charakterisiert werden, generiert. Die Analyse der möglichen Zeichen des transsphärischen Statuses sowie die Reaktion der Protagonisten auf die mehr oder weniger stark transsphärisch ausgewiesenen Mittlerfiguren zeigt, dass äußerliche Exzeptionalität als Darstellungsmodus für den besonderen Charakter der Figuren nur unter bestimmten Bedingungen reicht, um immanente Figuren dazu anzuregen, den transsphärischen Charakter zu erwägen. Die auftretenden Voraussetzungen für das Zuteilwerden prophetischer Informationen wie religiöses Wissen und transsphärisches

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Interesse ließen sich auch als Kommentar zu dem Vermittlungspotential von Literatur, den notwendigen Fähigkeiten und Prämissen des Publikums sowie darstellerischen Reaktionsmöglichkeiten darauf lesen. Die Kontakte mit transsphärischen Mittlerfiguren und deren Offenbarungen, die mit einer Ausnahme jeweils in unterschiedlicher Reichweite und Konkretheit die Zukunft des Protagonisten betreffen, enthüllen in beiden Texten ähnliche Entwürfe des Zusammenwirkens von transzendenter und immanenter Sphäre, die in sich von einer gewissen Widersprüchlichkeit und Uneindeutigkeit geprägt sind: Es hängt von der Figur ab, bestimmte Entscheidungen zu treffen und damit vorgeplante Wege einzuschlagen. Mittlerinstanzen, wie sie hier beschrieben wurden, sind in diesem Sinne klassische Helferfiguren, die die Helden in die richtige Richtung leiten.323 Was passiert, wenn ein Weg eingeschlagen wird, steht schon fest und kann kaum noch verändert werden;324 es ist aber nicht klar, wie detailliert vorbestimmt ist, was passiert. Ob also bspw. Leid und Gefahr nur in dieser Allgemeinheit prädestiniert sind und unterschiedlich realisiert werden können oder ob die einzelnen Ereignisse und das Verhalten der Figuren darin festgelegt sind, ist auf Grundlage der figural vermittelten Enthüllungen in keinem Fall eindeutig zu beantworten.

6.3 Herausfordernde Blicke und aufdringliche Enthüllungen Beweist die Vielzahl und Vielfalt der Szenen, in denen vermittelt oder unvermittelt mit bzw. zu transzendenten Instanzen gesprochen wird, auch die literarische Produktivität dieses Konzepts, so muss transsphärische Interaktion nicht immer einem direkten oder zerdehnten Gespräch gleichkommen. Das führen eine Reihe von Textpassagen im Reinfried von Braunschweig und Apollonius von Tyrland vor Augen, in denen sich transzendente Wertungen und Pläne über den optischen Kanal bildlich offenbaren. Die Vermittlung funktioniert entweder über die am Nachthimmel beobachtbaren Sterne, in einer quasi-visuellen Schau im Schlaf oder aber wird, wie in den nächsten Beispielen aus dem Apollonius, an tierischen Figuren und wunderbaren Objekten sichtbar.

323 Damit entsprechen sie der Helferfigurfunktion des Ablaufschemas des hellenistischen ,Liebes- und Abenteuerromans‘. In diesem tauchen Helferfiguren immer an Wendepunkten auf, um den Protagonisten auf den richtigen Weg zu stoßen (vgl. Schulz, Erzählungen, S. 44). 324 Dieser Zusammenhang ist auch aus anderen antiken Stofftraditionen bekannt. So bestimmen den Weg des Helden bei Vergil und auch bei seinen mittelalterlichen französischen und deutschen Nachdichtern die Götter, doch Eneas muss diesen Willen erst erkennen und verstehen, damit dieser sich in seinem Handeln erfüllen kann (vgl. Kottmann, Gott, S. 74).

Herausfordernde Blicke und aufdringliche Enthüllungen 

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6.3.1 Evidenz im binären Code: Der sigestain und die Prüfinstrumente im Apollonius von Tyrland Augenzeugenschaft ist ein Garant für Glaubwürdigkeit,325 Veranschaulichung in einem binären Code schafft eindeutige Aussagen, erzeugt Evidenz. Waren die prophetischen Offenbarungen der Mittlerfiguren im Apollonius in ihren verständlichen, aber vage bleibenden sprachlichen Äußerungen oft wenig hilfreich bei konkreten Entscheidungen der Figuren (s. Kap. 6.2.2), so versprechen in dem Text Phänomene wie der sigestain ganz spezifische prophetische Informationen, auf deren Grundlage sich sinnvoll Entscheidungen treffen lassen. Der Text entwirft damit einen ganz anderen – und vermeintlich auch einfacheren – Zugang zu Plänen und Einschätzungen der transzendenten Sphäre und erweitert sein mediales Inventar um ganz unterschiedliche Objekte und Wesen. Der sigestain ist ein Abschiedsgeschenk Diomenas bei Apollonius’ Aufbruch aus Lisamunt (vgl. AvT, V.  13609–13640).326 Sein Besitz und seine Nutzung als mediale Form sind dementsprechend exklusiv. Den Umgang mit ihm gewährt nur Diomena, ein beschwerlicher, nur Wenigen vergönnter Weg ins Zentrum Crisas (s. u.) ist als Selektionsmechanismus der freundschaftlichen Bindung zu Diomena vorgeschaltet.327 Apollonius strebt nicht aktiv nach dem Besitz dieses

325 Bei dem Begriff ,Wissen‘ trägt die Etymologie Spuren des Zusammenhangs, indem sie auf die Generierung von Wissen durch Augenzeugenschaft verweist. ,Wissen‘ „geht zurück auf ei‑ ne idg. Wurzel ✻uid-, ,sehen‘ mit dem Perfekt ✻uoida ,ich habe gesehen‘, ,ich weiß‘“ (Wenzel, Hören und Sehen, S. 334; vgl. auch Kluge, Etymologisches Wörterbuch, S. 992). 326 Vgl. auch die Verse 13912–3921, 14325–14345, 14468–14471, 14532–14536, 14575–14579. 327 Im Gegensatz zur Spiegelsäule gewinnt Apollonius erst Verfügung über den sigestain, als er bereits mit Diomena verheiratet ist. Wie diese beim Überreichen ihres Präsents deutlich macht, ist der Besitz des Steins an ihr Wohlwollen gebunden, welches sie wiederum von der Treue ihr gegenüber abhängig macht (vgl. AvT, V. 13635f., 13639). Im weiteren Verlauf der Geschichte wird diese Verknüpfung konsequent weitergeführt. Als Diomena erfährt, dass Apollonius keineswegs auf der Suche nach seiner Tochter ist wie bei der Abreise versprochen, sondern mittlerweile bereits eine andere Frau geehelicht hat, schickt sie einen Boten, zu Apollonius, der noch vor der offiziellen Aufkündigung der Freundschaft unbemerkt den sigestain wieder an sich nehmen soll (vgl. AvT, V. 14325–14338; s. Kap. 4.1.2). Beim Zusammentreffen mit Apollonius fügt der Bote hinzu, sie wolle ihn mit ihrer Handlungsweise an die treuwe dein (AvT, V. 14352) ermahnen und betont damit die Verknüpfung des Besitzes mit Diomenas Gunst und damit seiner Treue. Als sich für Diomena das Missverständnis aufklärt (s. Kap. 4.4.2), sendet sie ihm sogleich den Stein mit der neuen Erklärung ihrer Freundschaft wieder zu. Dem Boten trägt sie auf: Pringe im den sigestain/Wider hin ze Montiplain/Und dar zu sein vingerlein./Sprich ich welle sein freunt sein/ Das er mir diese dät vergäbe: (AvT, V. 14532–14535). Beim Versuch der Versöhnung fällt dementsprechend der Akt der Übergabe mit dem Sprechakt des Freundschaftsangebots zusammen: Er gab im den stain rot/Und dar zu das vingerleich./Er sprach sy will dein frewnt sein (AvT, V. 14575–

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Objekts, erfährt er doch erst während der Überreichung von diesem Objekt und seinen Fähigkeiten. Bei seinem ursprünglichen Erwerb durch die Crisaner und auch bei seiner medialen Nutzung durch Apollonius geht die Initiative jedoch jeweils von den Figuren aus. Beide Beobachtungen verweisen auf die vielschichtige Attraktivität dieses Steins, der die für die Nutzung seines transsphärischen Potenzials notwendige Initiative des Empfängers mühelos erzeugt. Ursprünglich wurde der Stein laut Diomena auß dem paradeyse/Pracht mit abentewre (AvT, V.  13626f.). So zeichnet ihn bereits der genannte Ursprungsort und die Beschaffung als etwas Besonderes und Begehrenswertes aus. Er entstammt einem exklusiven und eigentlich unzugänglichen Ort,328 ist über diesen mit der transzendenten Sphäre verbunden und wird darüber hinaus über die für seinen Besitz in Kauf genommene Gefahr als wertvoll dargestellt. Die Motivation der Crisaner, dem Paradies den Stein abzuringen, wird nicht erwähnt; die Aussagen über jenen zeigen, dass es sich um ein unvergleichliches ,Kleinod‘ (vgl. AvT, V. 13611f.) handelt, das in mehrerer Hinsicht begehrenswert ist. Er besticht zuerst durch seine exzeptionelle ästhetische Erscheinung. Doch Apollonius lässt den kopfgroßen, feuerroten und doch klaren, durchsichtigen und leuchtenden Stein (vgl. AvT, V. 13613–13615, 13620, 14575)329 nicht zu sich bringen, um ihn als ästhetisches Objekt zu betrachten, sondern um wahrzunehmen, was er sichtbar

14577). Der Stein dient als materielle Bekräftigung der Freundschaftserklärung. In der gesamten Sequenz ist der Besitz des sigestain mit der Freundschaft Diomenas und der Treue Apollonius’ ihr gegenüber assoziiert. 328 Die Identifikation mit dem in der Alexander-Tradition häufig erwähnten, dem Titelhelden bei seinen stets erfolglosen Versuchen, das Paradies zu erobern, übergebenen Paradiesstein drängt sich auf. Der Stein taucht als Element der meisten Alexanderdichtungen im Zusammenhang mit der Paradieseroberung auf; es handelt sich um eine bereits den lateinischen Alexandererzählungen entstammende „Konstante, auf die auch dann nicht verzichtet werden kann, wenn das Wesen des Steins und die damit zusammenhängende Lehre keine nachhaltige Wirkung mehr entfaltet“ (Hofer, Betreten verboten, S. 109, Anm. 13). Die Lehre, die mit dem Stein, der sich als unaufwiegbar erweist, einhergeht, wird Alexander im Straßburger Alexander besonders deutlich: „Der Herrscher gleicht“, so paraphrasiert Hofer, „dem Stein, den kein Gold/ keine Macht der Welt aufwiegen kann, dessen ruhmreiche Taten mit Blick auf die eigene Sterblichkeit jedoch an Bedeutung verlieren“ (hier S. 110; zum Auftauchen des Motivs in den deutschsprachigen Alexanderfassungen S.  109f., 113, 117, 121). Steht der Stein meist für Alexanders Hochmut bzw. sein anmaßendes Eroberungs- und Entdeckungsstreben, so wird er in Seifrits Alexander als Stein der Paradiesmauer zum Zeichen göttlicher Macht (vgl. hier S. 121). 329 Die ästhetische Einzigartigkeit spiegelt sich nun in einem dementsprechend kostbaren, eigens für ihn hergestellten Kästchen, eine Art Schrein, in dem es dem Helden präsentiert wird. Es ist die Rede von Ain ciborje und ain liechter knopf/Auff vier fussen […]/Di was mit turlein pedacht (AvT, V. 13616–13618), das für den Stein was gemacht (AvT, V. 13617). In diesem liegt der Stein und scheint durch die Tür hindurch (vgl. AvT, V. 13619).

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macht. In einem konkreten Kontext lässt er ihn zu sich tragen, um ihn als mediale Form zum Gewinn prophetischer Informationen zu verwenden. Es geht um die Entscheidungsfindung hinsichtlich der fraglichen Aufnahme von Kampfhandlungen. Apollonius ist bereit, für Palmina gegen Prothasius zu kämpfen, als ihm Größe und Stärke des feindlichen Heeres gewahr wird (vgl. AvT, V. 13891–13911). Auf die Einsicht der kämpferischesn Wagnis hin wird der sigestain hereingetragen und betrachtet: Den sigestain den trug man dar. Si deten alle sampt war: Wann der stain hett di art, Von weß gesichte er trube wart, Der solte lenger peytten, Deß selben dags nit streytten. (AvT, V. 13912–13917)

Erst als dieser pelaib lautter und klar (AvT, V. 13918), entscheidet Apollonius sich endgültig für den Zug in die nun für ihn gewiss ruhmreiche Schlacht (vgl. AvT, V.  13920f.). Die sich hier darstellende Funktionsweise entpuppt sich als recht einfach: Der normalerweise klare (vgl. AvT, V. 13613f.) Stein kann sich beim Blick auf ihn in bestimmten Situationen eintrüben (vgl. AvT, V. 13915). Die Erscheinung des Steins verwendet den optisch eindeutigen, binären Code ,klar‘ versus ,trüb‘, um das entsprechende Paar ,Erfolg auf dem Schlachtfeld‘ versus ,Niederlage auf dem Schlachtfeld‘ sichtbar zu machen.330 Er visualisiert konkrete und individualisierte Aussagen über die unmittelbare Zukunft. In einem speziellen Bereich macht er wahrnehmbar, welche der zwei möglichen Alternativen – Erfolg oder Misserfolg im Kampf – für die in den Stein blickende Figur eintreten wird. Die beschriebene Veränderung ist unter der Voraussetzung eines direkten Sichtkontakts zwischen Stein und potenziellem Empfänger für jede beliebige Person ohne weitere Voraussetzungen sicht- und wahrnehmbar; allein dem Wandel bzw. der Beständigkeit der äußerlichen Erscheinung des Steins muss die richtige Bedeutung zugemessen werden.331 Die zeichenhaft arbiträre Zuordnung der jeweiligen Paare muss beim Blick auf den Stein bewusst sein, um die entsprechende

330 Die Erzählinstanz erklärt hier zunächst, was die Eintrübung bedeutet, bevor durch die Handlung die oppositionelle Bedeutung des Klarbleibens explizit deutlich wird: Wann der stain hett di art,/Von weß gesichte er trube wart,/Der solte lenger peytten,/Deß selben dags nit streytten./ Der stain pelaib lautter und klar:/Do sprach der kunig an var/,Nu wol auff, ir weren man!/ Wir sullen rü, hie pegan (AvT, V. 13914–13921). 331 Woher die Kenntnisse bei den Figuren stammen – Diomena vermittelt sie nicht –, interessiert den Text nicht.

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Information aus der Färbung des Steins zu gewinnen und einen Nutzen aus ihr zu ziehen. Denn das mediale Objekt selbst zeigt in seiner Unbelebtheit332 kein eigenes Interesse, sondern macht die Mediation vom Empfänger abhängig. Er überlässt es diesem, aus seiner Erscheinung eine Entscheidung über das Kampfverhalten zu ziehen. Die sich mit dem Stein verbindenden Hoffnungen beziehen sich auf strategische Vorteile in kämpferischen Auseinandersetzungen, bzw. abstrakter formuliert, auf die Herstellung von Sicherheit. Insofern illustriert der Umgang mit dem sigestain im Apollonius das Interesse an noch nicht eingetretenen, aber zu erwartenden Ereignissen im Hinblick auf persönliche Erfolge, Herrschaftsgewinne, aber auch mögliche Gefährdungen. Dass die Figuren im Apollonius den Stein als vertrauenswürdig hinsichtlich dieser Frage betrachten, zeigt sich daran, dass sie ihre Entscheidung im geschilderten Fall nach den Signalen des Steins richten. Das Ergebnis des Kontakts mit der medialen Form wird durch den Anschluss [d]o sprach der kunig (vgl. AvT, V. 13919) kausal mit der Artikulation der Entscheidung verbunden. Es wird anschaulich, wie Apollonius die Zweifel am Erfolg des Vorhabens mithilfe der über den sigestain zu erlangenden Kenntnisse ausräumt. Im Bereich der Frage nach Erfolg im Kampf kann er zuverlässige, konkrete und praktisch hilfreiche Informationen vermitteln und wird daher von den Figuren als Entscheidungshilfe zurate gezogen. Die Möglichkeiten, die der Stein als mediale Form eröffnet, sind wertvoll, sein Besitz – auch aufgrund der Spiegelung seiner besonderen Fähigkeiten im exzeptionellen, eine initiale Auseinandersetzung geradezu provozierenden Äußeren erstrebenswert.333 Ein ähnlich nutzbares Gespür zeigen Lebewesen und Gegenstände im Apollonius von Tyrland auch für verborgen liegende Informationen anderer Art. Im Weltentwurf des Textes beweisen sich unterschiedliche Phänomene als sensibel

332 Offenbar gab es im Mittelalter eine Diskussion über den Grad der Belebt- bzw. Unbelebtheit von Steinen (vgl. Cohen, Jeffrey Jerome: Stone. An Ecology of the Inhuman, Minneapolis u. a. 2015, S. 195–252). Im Apollonius sind indes über den Farbwechsel hinaus keine Hinweise auf die Belebtheit zu finden. 333 Auch seine Fähigkeiten abseits der medialen Grenzaufweichung zu transzendenten Inhalten rechtfertigen das Bestreben, den Stein zu besitzen. Gegenüber dem Empfänger des Geschenks wird angepriesen, er habe die Kraft, seine Besitzer monhaft/Frolich und weyse (AvT, V. 13622–13624) zu machen sowie vor Feuer, Wasser und jeglichem Unglück zu schützen (vgl. AvT, V. 13627–30) und könne eine Art Speisewunder vollbringen (Fur allen er ew labet, AvT, V. 13632). All diese den Stein neben seiner ästhetischen Attraktivität auch hinsichtlich seines Nutzens als begehrenswertes Objekt ausweisenden Funktionen kommen im weiteren Textverlauf nicht zum Einsatz; verwendet, in seiner Funktionsweise dargestellt und erläutert, wird er im Text nur ein Mal mit dem expliziten Zweck, prophetische Informationen zugänglich zu machen.

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für Charakterzüge eines Menschen und können durch Verwendung eines binären Zeichencodes bei ihrer Reaktion sowohl für andere Figuren als auch für die RezipientInnen mit Eindeutigkeitsanspruch vor Augen stellen, ob eine Figur tadellos ist oder nicht. Es handelts sich um klassische mythische Autorisationsformen handelt,334 die in anderer Form auch in anderen mittelalterlichen Texten vorkommen335 und als Tugendproben bereits in der Forschung thematisiert wurden.336 Transsphärisches mediales Potenzial und damit eine Relevanz für den im Text entwickelten medialen Diskurs haben diese Phänomene insofern, als sie in einem verdeckt bleibenden Funktionsmechanismus337 Informationen zugänglich machen, die sonst in ihrer Immaterialität nicht fassbar sind und deren objektive und eindeutige Bewertung außerhalb des menschlichen Verfügungsbereichs liegen. Denn Die Tugendprobe macht innere Werte äußerlich erkennbar und führt so zu einer Objektivierung. Der Körper fungiert dabei als sichtbares Medium der Tugend und kann direkt auf die

334 Vgl. Linden, Sandra: Tugendproben im arthurischen Roman. Höfische Wertevermittlung mit mythischer Autorität. In: Höfische Wissensordnungen. Hrsg. von Hans-Jochen Schiewer/ Stefan Seeber, Göttingen 2012 (Encomia Deutsch 2), S. 15–38, hier S. 16. 335 Es handle sich, so hält Linden in ihrer Untersuchung zu Tugendproben im Artusroman fest, um ein Motiv, das in seinem wiederholten und vielgestaltigen literarischen Auftreten (das Arsenal umfasse Wasser, Spiegel, Steine, Täler, Mantel, Trinkhörner, Becher, Gürtel, Brücken, Schwerter, Kronen, Handschuhe, Truhen, Säulen und Grabdeckel) von der großen Faszination dieser Vorstellung zeugt (vgl. hier S. 15). Die Talepisode samt ihrer Proben lasse sich jedoch mit keiner der anderen untersuchten Textpassagen vergleichen – selbst in struktureller Hinsicht. Denn obwohl es sich um Kollektivproben handle, trete, so Kaspar, Apollonius (der Beste) stets als erster an (vgl. Kaspar, Tugend- und Keuschheitsproben, S. 405f.). Bei der Suche nach Motivvorlagen beruft Kaspar sich auf den von Bockhoff/Singer erarbeiteten Forschungsstand. Diese konnten für die Proben, insbesondere für die Stufenprobe keine Quellen ausfindig machen und spekulieren, die Passage sei beeinflusst aus antiken und byzantinischen Stoffen (vgl. Bockhoff/ Singer, Quellen, S. 66 sowie Kaspar, Tugend- und Keuschheitsproben, S. 407f.). 336 Vgl. Schneider, Chiffren, S. 64–71; Kaspar, Tugend- und Keuschheitsproben, S. 403–409 sowie Müller, Blick, S. 26–28. 337 Woher die Objekte und Wesen, die die innerlichen Eigenschaften hervorzukehren vermögen, ihre Kenntnis erlangen, bleibt stets im Dunkeln, „statt eines rationalen nachvollziehbaren Erkennens wird gläubige Akzeptanz gegenüber den offenbarten Ergebnissen eingefordert“ (Linden, Tugendproben, S. 19). Gerade darin erwiesen sich Tugendproben als mythischem Denken verhaftet. Für eine knappe Darstellung der Denkform des Mythos, die den Tugendproben zugrunde liegt vgl. hier S. 20.

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Eignung der Person hin gelesen werden, d. h. die äußere Erscheinung, die über die Tugendprobe hergestellt wird, ist sicherer und unmittelbarer Indikator entweder innerer Exzellenz oder Schlechtartigkeit.338

Eine besondere Sensibilität für solche auf höheren Wahrheiten beruhenden Einschätzungen eines Gegenübers wird im Text Tieren zugeschrieben. In der Begegnung mit dem wundersamen Geschöpf Milgot empfindet Apollonius zunächst eine gewisse Furcht.339 Angesichts des ambivalenten Eindrucks, den sei­ne äußere Erscheinung macht,340 und in Anbetracht der prekären Lage des Helden – er befindet sich allein und vollkommen wehrlos341 in der Wildnis einer ihm unbekannten Insel – ist das eine plausible Reaktion. Doch das wilde und körperlich überlegene Tier, das sich später als König aller Inseltiere erweist (vgl. AvT, V.  6683–6691, 6955), verhält sich anders als erwartet: Nachdem es sein Gegenüber wahrgenommen hat (vgl. AvT, V.  6652), vollführt es Gesten der Unterwerfung, robbt auf dem Bauch an Apollonius heran und legt seinen Kopf auf die Füße des Fremden (vgl. AvT, V. 6655–6665), sodass der Erzählinstanz der Vergleich mit einem zahmen Hündchen in den Sinn kommt (vgl. AvT, V.  6657, 6702). Dieses Verhalten wiederholt es in Anwesenheit der anderen tierischen Inselbewohner,

338 Ebd. hier S. 21. Linden stellt dar, dass Tugendproben als „mythische Residuen innerhalb der fiktionalen Welt eine ganz selbstverständliche Akzeptanz entgegengebracht wird“ (ebd.). Sie entfalteten als ,Auszeichnungssignatur‘ für die Protagonisten der höfischen Romane eine bestechende und nicht hinterfragte Eindeutigkeit (vgl. ebd.). Ihnen schreibe man eine unbestechliche Präzision und Klarheit bei der Sichtbarmachung innerer Wahrheiten zu (vgl. hier S.  22). Müller erklärt die Prominenz solcher Visualisierungsstrategien des Unsichtbaren, als die er Tugendprobenphänomene fasst (vgl. Müller, Blick, S. 14, s. a. S. 23) mit der Visualität der mittelalterlichen höfischen Kultur: „Gerade weil sie auf Sichtbarkeit ausgelegt ist, richtet die höfische Literatur ihr Interesse auf das, was sich der Sichtbarkeit entzieht oder sich hinter oder unter der sichtbaren Oberfläche verbirgt“ (hier S. 20). So sei im höfischen Roman „,Vi‑ sualität‘ das Leitmedium, ,Sehen‘ die Leitwahrnehmung“ (hier S. 23). 339 Es heißt: Doch vorcht er es ain tail (AvT, V.  6637). Nachdem er der Erscheinung nach zu urteilen einem edlen Geschöpf wie Milgot zunächst keine bestialischen Taten zutraut (vgl. AvT, V. 6634–6636), scheint er nun doch davon auszugehen, dass das Tier ihn verletzen oder gar töten könnte: Er sprach ,ungeluck und unhail/Hatt sich hie gesellet:/Das tier mich yetzund vellet/Und dotet mich an alle wer (AvT, V. 6638–6641) und stellt sich auf einen Kampf ein: Er satzte sich ze kampfe dar (AvT, V. 6651). 340 Beschrieben wird Milgot als sowohl merkwürdige als auch edle Erscheinung (vgl. AvT, V. 6619–6633). Achnitz zufolge trägt Milgot „sowohl Züge des krokodilartigen Leviatan aus dem Buch Hiob als auch solche der von Gott gesandten Mischwesen aus dem Bereich der höfischen Literatur“ (Achnitz, Babylon und Jerusalem, S. 295) und fordere die RezipientInnen zu einer Deutung der ambivalenten Zeichen heraus. 341 Außer ein schaid messerlein (AvT, V. 6649) führt er nichts bei sich.

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woraufhin jene das Verhalten imitieren342 und Apollonius ein Überleben in der Wildnis ermöglichen (vgl. AvT, V. 6714–6724).343 Ähnlich verläuft eine Begegnung von einem Panther und Apollonius. Auch hier glaubt Apollonius zunächst, das imposante Tier344 werde ihn töten (vgl. AvT, V.  10250); auch dieses macht sich klein und kriecht auf den hilfsbedürftigen Helden zu (vgl. AvT, V. 10258–10262). Das in Anlehnung an die erste Szene unterstellte Gespür für die Besonderheit Apollonius’ wird durch jenen als Dankbarkeit infolge einer bestimmten Handlung seinerseits eingestuft;345 Milgot jedoch, das edelste unter den Tieren, erkennt nicht wegen Unterstützung durch den Helden, sondern trotz der ihm entgegengebrachten Kampfgebärden Apollonius’, dass jener ihm übergeordnet ist. Die Erzählinstanz bezeichnet dies als gottgewolltes Wunder: Das ditz wilde kunder Vor im was worden still, Das was Gottes will, Der wunders vil gewurchen mag. (AvT, V. 6710–6713)

Der Schutz, den Gott über Apollonius verhängt, ist – so legt die Verknüpfung des unterwürfigen Verhaltens mit der Betrachtung des Fremden nahe – für Milgot wahrnehmbar. Es vermag eine höhere Wahrheit, die ,Auserkorenheit‘ Apollonius’, zu spüren und sich dementsprechend zu verhalten. Die Hilfe, die an dieser Stelle auch durch die narrative Autorität an den göttlichen Willen zurückgebunden wird, ist somit in erster Linie eine Möglichkeit, den mit der Konventionalität

342 Dort heißt es: Das erste tier naigte sich/Und kroch ainem hunde geleich/Zu dem ellenden man,/Als es ee het getan./Es naig im, als er sagte sider./Die tier vielen alle nider/Fur in auff di erden/Und nigen dem vil werden (AvT, V. 6701–6708). 343 Dabei zeigt Milgot ihm persönliche Zuwendung. So bringt Milgot Apollonius die Wurzel, die ihn heilt und sättigt (vgl. AvT, V. 6725–6740). 344 Apollonius nimmt das Tier wie folgt wahr: Das tier ist hoch und groß/An lauffe ains orses genoß/Sein hauppt ist krumpp, sein har gra,/Es hatt als ain greyffe cla‘ (AvT, V. 10264–10267). 345 Verweist das Gespür des Tieres, dass Apollonius Hilfe beim Überqueren des vor ihm liegenden Flusses benötigt, möglicherweise auf eine bestimmte, als transsphärisch zu bezeichnende Sensibilität, so wird doch die Hilfsbereitschaft im Text durch die Unterstützung des Panthers im Kampf gegen einen Drachen (vgl. AvT, V.  10167–10215) motiviert, auf die Apollonius selbst das Verhalten zurückführt: Der edel under der gut/Gedacht in seinem mute:/,Ich hab fur das tier gestritten./Nu will es mich mit guten sitten/Leicht durch das wasser tragen (AvT, V. 10268–10272).

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dieser Darstellungsform vertrauten RezipientInnen346 die prinzipiell äußerlich nicht wahrnehmbare Bestimmung der Figur wahrnehmbar zu machen. Doch auch Apollonius selbst unterstellt dem Verhalten eine göttliche Lenkung.347 Wenn ihm seine Verschonung auch nicht als Zeichen der Auserwähltheit scheinen mag, dann doch als Erhörung seiner Gebete um Beistand (vgl. AvT, V. 6545–6592, s. Kap. 6.2.1). Er kann das Verhalten als transsphärische Mitteilungsform erkennen. Dieses Gespür für höhere Wahrheiten, das das Verhalten beider Tiere ab­bildet, wohnt – so zeigt eine andere Textpassage – auch dem menschlichen Körper inne. Als Apollonius an dem Grabmal seiner Tochter steht,348 stellt er irritiert, ja sogar zornig fest, dass er nicht fähig ist, die angemessene Trauerexpression hervorzubringen. Seiner Verwunderung verleiht er in einem kurzen Selbstgespräch Ausdruck: ’Got herre, wie mag das wesen Das ich di geschrift hab gelesen Di meines kindes dot Zaiget, was ist dise not Das ich nicht en waine Und clag da mit peschaine? (AvT, V. 16119–16124)

Apollonius ist ratlos, warum die plastische und schriftliche Bestätigung des Todes im Grabmal bei ihm nicht zu Tränen führt. Denn Tränen sind, so wird über die Verbindung des Weinens und deren indexikalischer Funktion (peschaine, AvT, V. 16124) deutlich, ein Zeichen von Klage. Sie vermitteln Trauer um Tarsia in einer äußerlich wahrnehmbaren körperlichen Reaktion. Das Ausbleiben aber hat durch das Verweisverhältnis der Trauerzeichen auf ihren Ursprung ebenso Aussagekraft. Apollonius zweifelt zunächst an sich selbst und richtet seine Verzweiflung auf die vermeintlich nicht funktionierenden Augen. Er klagt sie als

346 Birkhan weist darauf hin, dass die Unterwerfung von Tieren den auserwählten Herrscher in mittelalterlicher Literatur häufig besonders kennzeichnet (vgl. Birkhan, „Diz sind abenteure“, S. 124). 347 Auf die überraschenden Gesten hin, kommt Apollonius in den Sinn: Leichte will sich Got erparmen/Uber mich vil armen‘ (AvT, V. 6669f.). 348 Der Text ist nicht eindeutig hinsichtlich der Motive für seinen Besuch am Grabmal, ob er also den Gedenkort zum Trauern aufsuchen oder er dort in dem Grabmal und der zugehörigen Inschrift den Beweis der Behauptung finden will. Letzteres wird durch den mehrmaligen Verweis auf die Schrift, die den Tod anzeige (vgl. AvT, V. 16115, 16116, 16120), nahegelegt, andererseits wird aber auch bereits bevor Apollonius sich zum Grab aufmacht betont, dass er den Aussagen der Tyrer Glauben schenkt (Er want der rede wer also, AvT, V. 16108).

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unsalig[…] (AvT, V.  16125) an und befragt dieses Körperteil, warum es an dem jamer, den er im Herzen trägt (vgl. AvT, V. 16132), nicht partizipiert. War umb clagt ir nicht (AvT, V. 16226, vgl. auch V. 16131), lamentiert er.349 Dann aber kommt es zu einem kurzen Moment des Zweifels an den menschengemachten Indizien des Todes und eines Vertrauens auf den Körper als Vermittler einer höheren Wahrheit: Tarsia […]/Mich dunckt sy leb, wa sy sey‘ (AvT, V. 16135f.). Dass er mit dieser kurz geäußerten und dann allerdings nicht weiter verfolgten Vermutung Recht hat und er vor einem leeren Grab steht (vgl. Kap. 5.3.2), wissen zu diesem Zeitpunkt nur die RezipientInnen. Für jene ergibt sich in dieser Situation ein Blick auf den Körper als Empfänger und Mittler höherer Wahrheit. Die von Apollonius so schmählich beschimpften Augen funktio­nieren in der Hinsicht gerade richtig, wenn sie sich weigern, das leere Grab zu betrauern. Für dieses Phänomen sucht und findet der Text keine Erklärung. Im Desinteresse dafür, wie und warum dieser Körperteil weiß, dass Trauer entgegen der vorrangig über die Augen wahrnehmbaren Zeichen in dieser Situation nicht die adäquate Reaktion ist, wird vorausgesetzt, aber nicht thematisiert, dass der Körper ein Empfänger sinnlich nicht wahrnehmbarer Nachrichten sein und sie im adäquaten Verhalten nach außen tragen kann. Dieser Gedanke kommt kurz in Apollonius auf, dann vertraut er allerdings doch den menschengemachten Zeichen und verwirft die sich an seinem Körper manifestierende Wahrheit.350 Der Text präsentiert in den bislang betrachteten Passagen einen Zugriff auf transzendente Informationen über Dinge und Wesen, der in seiner grundsätzlichen Anlage eindeutige Aussagen produziert und den Figuren hilft, Sicherheit und Gewissheit zu erlangen bzw. ihnen ermöglicht, die Wahrheit zu erkennen. Doch das funktioniert nur, solange die Transzendenz konsequent unverhandelbare Urteile zu fällen vermag. Die Auseinandersetzung der Figuren mit dem Tugendprüfsystem in Crisa stellt diesen Grundsatz infrage, indem evidente Urteile revidiert werden und sich Evidenz als künstlich inszenierbar entpuppt. Im Rahmen der Tugendprüfungen, denen Apollonius sich gezwungenermaßen unterzieht – Voraussetzung des Vordringens in das Zentrum des wunderbaren Landes ist der Nachweis absoluter Tugendhaftigkeit im Passieren eines Rades, eines Brunnens und einer Treppe –, vermag Apollonius eine transzendente Ein-

349 Aus der quälenden Inkohärenz von Fühlen und Körperreaktion leitet er Bestrafungs­ imaginationen ab, die den scheinbar nicht kooperierenden Teil eliminieren (vgl. AvT, V. 16128f.). 350 Er lässt den Gedanken sofort wieder fallen und konzentriert sich auf seine Trauer, indem er sein Schiff aufsucht, um sich dort [m]it clage und mit weinen/Umb mein kint und umb mein weyb (AvT, V. 16140f.) zu quälen.

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schätzung mit ihrem Absolutheitsanspruch vorzutäuschen. So zeigt sich, dass die Prüfinstrumente Eindeutigkeit suggerieren, wo solche nicht besteht. Am Eingang des Goldenen Tals reguliert ein kostbares Rad den Eintritt ins Reich. Die applizierten Edelsteinverzierungen des Rades vermögen Tugendverfehlungen aufzuspüren. Der Ausschlag der Apparatur kommuniziert mit den binären Reaktionsmöglichkeiten ,passieren lassen‘ und ,abwerfen‘, wer tadellos ist und wer nicht. Nur ein turnöter man (AvT, V.  8907) an alle missetat (AvT, V.  11214) vermag unbeschadet an ihm vorbei zu kommen (vgl. AvT, V. 8901–8907). Dabei scheint das Prüfungsinstrument konsequent vorzugehen und jegliche erdenkliche Verfehlung abzustrafen, wie der Verweis auf die Fruchtlosigkeit wiederholter, nicht aussichtsreicher,351 sogar lebensgefährlicher352 Versuche zeigt. Während die Warnung vor erneuten Versuchen die Radikalität der Auswahl betont, verdeutlich die Geschichte des ansässigen Fürsten Arfaxats, dass die Beurteilung einer unverfügbaren und (zumindest was diese Probe betrifft) unbeeinflussbaren Instanz unterliegt, sodass auch gut gemeinte Taten als Verfehlung bewertet werden können (vgl. AvT, V. 11268–11315).353 Nicht die Intention des Handelnden ist ausschlaggebend, sondern die Interpretation dieser Instanz, die damit einen transzendenten Charakter erhält. Obwohl die erste Prüfungsinstanz des Tugendrades radikal die absolut Tugendhaften herausgefiltert haben sollte, liegen weitere Tugendprüfungen auf dem Weg nach Crisa, die ebenso unbewusste Vergehen präsent zu machen vorgeben. Nächstes Prüfungsinstrument354 ist ein Brunnen, der in literarischer Anlehnung an Becher- und Mantelprobe355 gedankliche Verfehlungen sichtbar macht. Die Ritter müssen ihre Hände in einen Brunnen halten, worauf-

351 Arfaxat erläutert, dass es sich um eine einmalige Probe handelt und das Urteil des Rades irreversibel ist (vgl. AvT, V. 11231–11238). 352 Es steht außer Frage, dass weitere Versuche den Tod zur Folge hätten (vgl. AvT, V. 11220– 11223; vgl. Kaspar, Tugend- und Keuschheitsproben, S. 406). Einige ereilt dieser bereits bei ihrem ersten Versuch (vgl. AvT, V. 11404f.). 353 Er berichtet, er habe gegen einen jungen Ritter gestochen, der selbst nach einer Niederlage noch habe weiterkämpfen wollen (vgl. AvT, V. 11279–11297). Die Fortführung der Auseinandersetzung habe er ihm verweigert, um, wie er explizit sagt, diesen zu schonen (vgl. AvT, V. 11292– 11295). Nach dem gescheiterten Versuch, das Rad zu passieren, und der Aussendung eines Boten nach dem Grund dafür, habe er erfahren, dass Diomena ihn fur ainen zagen (AvT, V. 11313) halte [s]eyt ich durch frauwen ere/Nicht stechen wolte mere (AvT, V. 11314f.). 354 Zwischen diese beiden Prüfungsinstrumente schiebt sich ein klassischer Ausweis kämpferischer Tatkraft. In einem Stechen gegen die hinter dem Rad lebenden Walsamiter wird der Nachweis kämpferischer Fertigkeiten dieser bereits exklusiven und reduzierten Gruppe als Voraussetzung eines weiteren Vordringens gefordert (vgl. AvT, V. 11252–11257, 11514–11520). 355 Vgl. Schneider, Chiffren, S. 66.

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hin die meisten bei Berührung mit dem Wasser ganz, andere nur stellenweise [s]chwartz als aines peren zagel (AvT, V. 11767) bzw. [r]echt als ain geprantes hartz (AvT, V. 11771) werden.356 Wenn auch hier die Binarität ,Verfärbung‘ – ,keine Verfärbung‘ eine eindeutige Einordnung als ,tadellos‘ und ,tadelbehaftet‘ generiert, so produziert die Wirkung des Brunnenwassers doch gegenüber dem Tugendrad genauere Aussagen. Apollonius wird nur ein Teil seines Nagels schwarz, während sich bei anderen Figuren ein Finger oder gar die gesamte Hand verfärbt. Das legt nahe, dass das Ausmaß der Färbung mit dem Grad der Verfehlung korrespondiert, die Offenbarungen dieses Instruments sind insofern detaillierter als beim Tugendrad,357 das Feigheit, Geiz und unangemessenes Verhalten gegenüber Frauen allgemein unter der Opposition ,tugendhaft‘ – ,tadelbehaftet‘ abgeurteilt hatte.358 Diese Art der Sichtbarmachung bedeutet die Zurückweisung binärer Einordnung und stellt Tugend als graduell dar. Anders als bei der Radprobe bedeutet das Fehlen in dieser Prüfung dann auch nicht, dass jegliche Chance auf weiteres Vordringen in das Reich vertan ist. Durch ein Geständnis, das Artikulieren und Hörbarmachen dieser Gedanken sowie Bitte um Vergebung vor Venus ist diese Verfehlung auszulöschen (vgl. AvT, V. 11818–11978; s. Kap. 6.2.1). Das gilt auch für die Tugendtreppe, die mit einem ähnlichen Verhalten wie das Tugendrad, aber konkreter als jenes Verfehlungen sichtbar macht, indem sie denjenigen, der mit einem bestimmten Laster behaftet ist, von einer ihrer acht mit den jeweiligen Verfehlungen assoziierten Stufen abwirft.359 Jedoch erweisen sich auch diese Urteile nicht als endgültig. Apollonius wird zwei Mal abgeworfen und dadurch zunächst als feige, dann als unehrlich ausgewiesen (vgl. AvT,

356 Diese Kennzeichnung würde beim Versuch, sich dem prächtigen Garten zu nähern, zur Erschlagung der Markierten durch einen Riesen führen (vgl. AvT, V. 11791f.). 357 Vgl. auch Kaspar, Tugend- und Keuschheitsproben, S. 406. 358 Arfaxats Beispiel weist die Verweigerung eines Kampfes im Namen der Frauenehre als Vergehen aus (vgl. AvT, V.  11279–11315, s.  Anm.  6/353), Wilhalm von Chralan, der auch scheitert, habe – so die Erzählinstanz – nicht gut von Frauen gesprochen (vgl. AvT, V. 11379–11381), Assar wird zunächst weniger explizit als schanden vas (AvT, V. 11353) bezeichnet, bevor ihm Feigheit attestiert wird (vgl. AvT, V. 11354f.). Socholt von Spangen hingegen ist zu sehr auf das Materielle bedacht (vgl. AvT, V. 11377), um als vollkommen tugendhaft zu gelten und das Rad passieren zu können. Nur dreißig Ritter der Gruppe – darunter auch Apollonius, bei dem das Rad kain wanck nie gedet (AvT, V. 11322) – vermögen den Tugendstandards dieser Probe zu genügen (vgl. AvT, V. 11392–11396). 359 Die von Candor nach einem ersten gescheiterten Versuch der Treppenbesteigung erläu­ terten Prüfungsanforderungen der Treppe umfassen die Freiheit von Spott, Boshaftigkeit, Faulheit, Feigheit, Unehrlichkeit, Hoffart, Ruhmsucht, Völlerei und Trunksucht (vgl. AvT, V. 12046– 12063). Kaspar bezeichnet die Stufen daher als „eine Art Sündenfilter“ (Kaspar, Tugend- und Keuschheitsproben, S. 405).

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V.  12011–12017, 12643–12659), kann sie dennoch schließlich hinter sich lassen, indem er mit Venus über die Rechtmäßigkeit der Beschuldigung debattiert und diese schließlich von seiner Legitimation, überzeugen kann (s.  Kap.  6.1.1).360 Die Wirkung dieser Reihe von Tugendproben hat bereits Almut Schneider dargestellt:361 Apollonius erscheint am Ende der Proben nicht als makelloser Held362 und gewinnt doch Zutritt zum exklusiven Garten sowie Diomenas Gunst. Die dafür notwendige Fähigkeit der Auseinandersetzung und Uminterpretation,

360 Dies ist umso merkwürdiger, als es sich bei den Tugendverfehlungen laut Candor um angeborene Makel handelt. Bußversuche seien daher sinnlos. Als Apollonius der Feigheit bezichtigt wird und nach der Ablösung der Schuld durch Buße fragt, antwortet ihm Candor: Ja wol, diser missetat/Ettliche ein pusse hatt;/Rüm, lug und spot/Di enkument dar ein nicht wayß Got:/Dy pusse ist gar an im verloren;/Wann es ist an geporen (AvT, V. 12104–12109). 361 Es ergibt sich bei Berücksichtigung der Aneinanderreihung mehrerer Proben, die eigentlich nach der Radikalität der ersten Probe obsolet sein müssten, wie Wachinger feststellt, kein nachvollziehbares Tugendsystem oder konsequentes Verfahren von Steigerung oder Entwicklung (vgl. Wachinger, Heinrich von Neustadt, S. 108). Auch wenn sich argumentieren ließe, dass das Tugendrad die generelle Disposition beurteile und im Passieren der Treppe jeweils der Lebenslauf des Helden allgemein geprüft werde, was durch Arfaxats Geschichte des Scheiterns am Rad (s. Anm. 6/353) und die Erklärung Candors (s. Anm. 6/360) bereits zweifelhaft ist, scheint der gesamte und komplizierte Prozess doch doppelbödig und in sich kaum konsequent. Darüber hinaus wird die Ausweisungs- und Distinktionsfunktion der Probenreihe durch die Verhandlungsund Revisionsmöglichkeiten (vgl. AvT, V.  11814–11833, 12129–12228) und die die Sinnhaftigkeit der Proben infrage stellende vorzeitige Auswahl Apollonius’ durch Diomena unterlaufen, die angeblich geprüfte Tugendhaftigkeit als unerheblich oder zumindest als verhandelbar dargestellt. Während Apollonius bei der Brunnenprüfung noch seine Schuld eingesteht und um Vergebung bittet, nimmt er bei den beiden anderen Auseinandersetzungen die jeweilige Beurteilung seiner Handlungen als Feigheit und Unehrlichkeit nicht an und stellt den Behauptungen erfolgreich Argumente entgegen. Der zum Ausgleich des Vorwurfs der Feigheit notwendige Löwenkampf ist eine Revisionsmöglichkeit, die die Einschätzung der Treppe radikal in Zweifel zieht, da nicht das Besiegen des Löwen und damit momentane Kampfkraft relevant für das Bestehen dieser Probe ist, sondern hier die von der Treppe zu Unrecht infrage gestellt generelle Disposition des Helden durch die lewen art (AvT, V. 12543) geprüft (s. u.) und seine Makellosigkeit in Sachen Kampfesmut und -wille bestätigt wird. In der letzten Auseinandersetzung mit Venus (AvT, V. 12691–12784) erweist sich diese in ihrem Urteil als bestechlich, indem sie dieses Mal keine Ausweichprobe anbietet, sondern Apollonius ein später zur Einlösung kommendes Versprechen abringt (vgl. AvT, V. 14203–14252, 14103–14109). Schneider, Chiffren hat mit Fokus auf die Inkonsequenz der Prüfungsreihe überzeugend dargestellt, dass bei näherer Betrachtung diese als Tugendproben inszenierten Vorgänge nicht als solche fungieren und es vielmehr um den aktiven Umgang mit der bisherigen Biographie geht als um die tatsächliche moralische Integrität (s. Anm. 6/ 362; 6/371). 362 Schneider, Chiffren, S. 69. Er erscheint nicht als Bester der Gruppe, indem er bei der Besteigung der Treppenstufen mehrmals abgeworfen wird und neu verhandeln muss, während König Printzel und König Palmer ohne Zwischenfälle die Treppe passieren (vgl. AvT, V.  12745–12751, V. 12771–12780; s. auch Schneider, Chiffren, S. 71).

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die bereits mit Blick auf die Göttin Venus diskutiert wurde (s. Kap. 6.1.1), ist auch die Begegnung mit einem Löwen relevant, mit der Apollonius sein öffentliches Bild vom Vorwurf der Feigheit zu bereinigen vermag. Hier zeigt Apollonius, dass er die den Evidenzphänomenen unterstellte Aussagekraft als Mechanismus versteht und für sich zu nutzen weiß. Als Apollonius bei der Tugendtreppe an der vierten Stufe scheitert und der Feigheit bezichtigt wird, überzeugt er Venus davon, ihm eine Chance zu geben, ihr das Gegenteil zu beweisen (vgl. Kap. 6.1.1). Da Venus sich auf seine Erklärungen einlässt, darf er zehn Ritter im Stechen besiegen und sich danach ohne Körperschutz einem Löwen stellen (vgl. AvT, V. 12202–12221). Besiegt er all jene, so ist er, wie Venus ihm mitteilt, als hoher man (AvT, V. 12223) rehabilitiert. Noch ein drittes Mal taucht also im Apollonius ein Tier auf, das – deutlicher und konkreter als in den vorherigen Fällen – als transsphärische mediale Form gezeichnet wird: Während Apollonius im Kampf gegen die Ritter seine praktische Kampfkraft zu beweisen hat, gilt der Löwe als mediale Form höherer Wahrheit. Candor lässt jenen auf Apollonius los, um – so heißt es – in Erfahrung zu bringen, ob wirklich kein Fünkchen Feigheit in dem Helden steckt: Er [Candor] det es in dem synne Das er deß wurde inne Ob yendert kain zaghait An den helt war gelait. Deß leuwen art ist so gestalt: Lauffet er an ainen degen palt, So kennet er zu kurtzer frist Das er ain rechter reck ist; Vindt er den ainen zagen, Dem zerret er halß und kragen. (AvT, V. 12539–12548)

Das Verhalten des Löwen macht dieser Aussage zufolge augenscheinlich, wie es um die Tapferkeit eines Menschen gestellt ist. Es liegt in des lewen art (AvT, V.  12543),363 einen Feigling von einem kühnen Helden zu unterscheiden, die Be­wertung in seinem Verhalten diesem gegenüber anzuzeigen und so als objektive Bewertung nach außen sichtbar zu machen. Das Verhalten des Löwen macht mit dem binären Code ,aggressiv‘ – ,zahm‘ in Verbindung mit den oppositionellen Möglichkeiten der Disposition des dem Löwen Gegenüberstehenden ,feige‘ – ,mutig‘ den Charakterzug eines Menschen visuell wahrnehmbar. Der Vorgang

363 Es ist in dieser Formulierung nicht eindeutig, ob die Erzählinstanz dieses Gespür für Feig­ heit ,dem Löwen‘ im Allgemeinen zuspricht, oder nur diesem, in Crisa auftretenden Tier.

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soll die infrage gestellte und nur von einer höheren Instanz objektiv bewertbare Disposition des Apollonius’ über eine Instanz in einer für immanente Empfänger (hier Candor bzw. die Gesellschaft in Crisa)364 rezipierbaren Form eindeutig beurteilen. Candor setzt den Löwen gezielt als mediale Form einer verborgenen Wahrheit ein und führt später seine Einsicht, Apollonius sei kuenhait vol (AvT, V. 12610), auf die Beweiskraft der Begegnung zwischen Löwe und Helden zurück.365 Apollonius’ Mut führt – so machen diese Figurenaussagen deutlich – zur Reaktion des Löwen, dessen Verhalten verweist im Umkehrschluss auf die unhinterfragbare Tapferkeit des Helden. Wieder also vermag Apollonius ein wildes Tier, das hier nun deutlich als mediale Form dargestellt wird, zu einem zahmen Geschöpf zu machen. Die Parallelität der Szene zu den bereits geschilderten ist schlagend. Auch hier han­ delt es sich um eine furchterregende Bestie, mit der Apollonius sich schutzlos konfrontiert sieht;366 und wieder zeigt sie sich durch den Helden gezähmt. Die beschworene transsphärisch aussagekräftige Reaktion wird jedoch durch das kämpferische Unterwerfen des Tieres bedingt. Denn dieser Löwe wird erst durch Gewalteinwirkung Apollonius’, Pritzels und des Sultans zu einem ,Hund‘, ein Vergleich, den in diesem Falle nicht nur die Erzählinstanz, sondern auch die Figur selbst zieht (vgl. AvT, V. 12574, 12587, 12602).367 Der von Candor aus der Situation abgeleitete Mut scheint nicht allein für das Verhalten des Löwen verantwortlich, sondern die demonstrierte Körperkraft seines Antagonisten. Apollonius jedoch betont gegenüber Candor, wie zahm das Tier sich ihm gegenüber verhalte. So ließe sich die Vermutung anstellen, Apol-

364 Es sind einige Crisaner Bürger im Löwengarten mit Apollonius (vgl. AvT, V. 12525f.). Als der Löwe auf den Plan tritt, bricht kurz Panik aus (vgl. AvT, V.  12550–12553), als sie jedoch Candor sehen, der gespannt in den Garten blickt, beginnen auch sie, auf den Ausgang dieses Tests zu warten (Candor stund auff dem sall/Und sach in den garten./Di lewte pegunden warten,/Das yederman sähe/Wie Appolonio geschehe, AvT, V. 12554–12558). Sie scheinen in die Aussagekraft der folgenden Ereignisse eingeweiht. 365 Er äußert sich gegenüber Apollonius: Der mein dochter will han,/Er muß den lewen ploß pestan./Ich west auch harte wol/Das dein leib ist kenhait vol,/Das dir der lewe nicht endet (AvT, V. 12607–12611). 366 Der Löwe wird bei seinem Auftritt als starck[] (AvT, V. 12532) und von ungeuge[r], insgesamt angsteinflößender Erscheinung (AvT, V. 12533) präsentiert. Immerhin heißt es: Rauch was sein fürpüge/Sein augen prunnen als ain glut,/Sein gestalt was nicht güt (AvT, V. 12534–12536). Zuvor beschreibt ihn Venus Apollonius gegenüber als unmassen groß (AvT, V. 12221). 367 Nochmals mit dem verniedlichenden, verharmlosenden Begriff auf den Löwen referiert Apollonius am Ende seiner selbstbewussten Rede: mir war nit wol gelungen/Solte mich plossen hie zestund/Fressen haben ain wilder hund‘ (AvT, V. 12600–12602). Sein Redebeitrag gegenüber Candor fällt polemisch aus (vgl. AvT, V. 12585–12602).

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lonius wisse hier das dem Löwen zugeschriebene mediale Potenzial für sich zu nutzen, indem er den Löwen kämpferisch unterwirft und sein Verhalten als transsphärisch aussagekräftige Reaktion zu inszenieren weiß.368 Der lewe gegen dem degen lieff. […] Da der lewe her sprang, Di faust er zu samen twang. Er sprach ’du pist ain tore.’ Er slug in an das ore, Das er verre von im schoß. Er schre mit ainer stymme groß. Er lieff gegen Printzelin. Printzel der wolt an in sein Mit ainem starcken aste. Der lewe floch vor im vaste Und lieff an den soldan. Der was doch aller zaghait an. Er slug im ainen fauste slag Das er in dem grase lag. Da det der lewe an der stunt Als ain wolgezemer hunt. Er kroch auff den fussen Fur Appolonio den sussen. Der Tyrer nam ein gurtelein: Das hett gemacht di frauwe sein. Wiß ir wen ich maine? Diamenā di raine. Der lewe wart zu ainem zagen. Das gurtel legt er im umb den kragen. Er zoch in auff das palaß, Da der kunig selb was. Zu Candor sprach er an der stund

368 Wie auch die anderen Zweifel, die an den Verfahren und den damit zu beweisenden Qualitäten des Protagonisten in dieser Passage entstehen, bleibt diese Wahrnehmung einer genauen und unterschiedliche Textpassagen abgleichenden Lektüre vorbehalten und wird nicht von der Erzählinstanz selbst gestützt. Diese stellt dem tatkräftigen Handeln des Sultans gerade die Feststellung voran, dass jener keineswegs feige sei (vgl. AvT, V. 12570), wertet also das beherzte Agieren gegen den schrecklichen Löwen als Nachweis der Tapferkeit. Für die Erzählinstanz scheint somit Mut nicht wie von Candor im Sinne seines Prüfungssystems eine angeborene Disposition, sondern eine jeweils situativ neu unter Beweis zu stellende Eigenschaft zu sein.

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’Herre, haisset ir ewren hunt Lauffen also an ainen plossen man Der wol mit rittern vechten kan? (AvT, V. 12549, 12559–12588)

Das mehrstufige Tugendprüfungssystem in Crisa beruht auf der im Text an anderen Stellen bewahrheiteten Annahme, Objekte oder Lebewesen könnten bestimmte charakterliche Eigenschaften erkennen und sichtbar machen; dieses stellt sich allerdings – das ist bereits in der Forschung herausgearbeitet worden – als wenig zuverlässig bzw. weniger eindeutig als suggeriert heraus. Im Kontrast von behaupteter, literarisch-traditionsbildender Eindeutigkeit und zu beobachtender Debattier- und Revidierbarkeit der Urteile relativiert sich das bereits durch die Reihung der Prüfungen infrage gestellte Funktionieren des Prüfungssystems. Vielleicht steht also Apollonius auch aufgrund seiner Erfahrung, scheinbar eindeutige und endgültige Urteile der Transzendenz wenden zu können, am Ende seiner Freundschaft mit Diomena der Aussagekraft des sigestain skeptisch gegenüber.369 Doch die Tugendproben in Crisa erweisen sich weder als „reines Requisit“370 noch erzählt die Sequenz – wie es auf den ersten Blick erscheinen mag – von der Falschheit solcher Evidenzmechanismen. Hier spielen Prädestination, gekoppelt mit der Fähigkeit, sich mit den eigenen Handlungen auseinanderzusetzen, sie korrekt zu interpretieren und zu inszenieren, gegenüber Tugendhaftigkeit die entscheidende Rolle. Schneider arbeitet mit Fokus auf die auffallende Präsenz und Inkonsequenz der Prüfungsreihe heraus, dass es hier ,Tugend‘ diskutiert und allgemeinen Wertungen entzogen wird. Was tugendhaft ist, werde aus einem festen Tugendsystem, das die scheinbar eindeutigen Prüfungs­instrumente symbolisieren, herausgelöst, der Perspektive des Einzelnen unterstellt und als keineswegs folgenlose Überprüfung der Inszenierungskompetenz ausgewiesen,371

369 Als sein Diener ihm aufgebracht mitteilt, der Stein sei verloren (AvT, V. 144671), konstatiert er lakonisch, der Verlust tangiere ihn weder emotional noch taktisch (das ist mir als ain ay, AvT, V. 14472). Er habe auch vor Besitz eines solchen Steins zu siegen verstanden (vgl. AvT, V. 14483– 14485). Er bekundet nicht allein Desinteresse, sondern stellt auch die Vertrauenswürdigkeit, vor allem aber die Nützlichkeit infrage. 370 Schultz-Balluff, Dispositio picta, S. 28. 371 Vgl. Schneider, Chiffren, S. 67, 71. Denn „die Abfolge der Proben [nimmt] eine so zentrale Rolle in der Crisia-Aventiure und damit auch im Romanganzen ein, daß nach der narrativen Funktion der Probenreihung zu fragen ist“ (Schneider, Chiffren, S. 64). Gerade die Wider­sprüche, die sich aus dem Anspruch der Radprobe und den folgenden Proben ergeben (s.  Anm.  6/361) sowie die Gespräche mit Frau Venus (s. Kap. 5.1.1, 6.1.1), in denen Ergebnisse jeweils besprochen und Urteile revidiert werden können, sind für Schneider ein Verweis darauf, dass hier nicht

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die sich in medientheoretischer Hinsicht als ,Medienkompetenz‘ darstellt. So hält auch Müller fest, dass das ,Öffentlichkeitsprinzip‘ in den Pas­sagen überprüft und in seiner Gültigkeit bestätigt wird.372 Die Instanzen sind als transsphärisch agierende mediale Formen aussagekräftig. Sie sind mediale Formen des Unverfügbaren, indem sie Tugendmaßstäbe und häufig nicht einmal den Betroffenen bewusste Vergehen, ja sogar gedankliche Verfehlungen äußerlich wahrnehmbar machen. Ihre Fähigkeit, Zugang zu Unzugänglichem zu gewähren, zeigt sich in der Erzählung deutlich in den Momenten des Scheiterns. Arfaxats Bericht (s. Anm. 6/353) stellt dar, dass er ohne sich einer Schuld bewusst zu sein in die Prüfung gegangen war.373 Der Abwurf macht ihm sichtbar, dass er fehlgegangen sein muss, erst eine Auslegung374 erklärt, welche Handlung ihn in den Zustand der Untugend gebracht hat. Ebenso ahnungslos sind die Ritter bei der Brunnenprobe. Das Verfärben ihrer Extremitäten beim Bad macht sie auf ein Vergehen aufmerksam, jedoch sind auch sie sich noch im Moment des Scheiterns keiner

die Tugendhaftigkeit der Helden zur Diskussion steht, sondern, wie Tugendhaftigkeit von wem definiert wird und wer schließlich die Entscheidung fällen darf und kann. Tugend erweise sich als verhandelbar und der Perspektive des Einzelnen unterstellt (vgl. hier S. 67). Es zähle nicht Tugendhaftigkeit, sondern die Fähigkeit, alle glauben zu lassen, tugendhaft zu sein (vgl. hier S. 70). Bereits Kaspar stellt fest: „Derjenige, der den Garten betritt, muß also auch gesellschaftlich lupenrein sein. Die Stufenprobe ist damit die einzige Probe, die nicht auf das – hinter einem noch so prunkvollen Schein verborgene – Sein abzielt, sondern gerade den Schein noch als Bestandteil der persönlichen Integrität auffaßt“ (Kaspar, Tugend- und Keuschheitsproben, S. 409). Daneben tritt außerdem der Eindruck von göttlicher Prädestination des Protagonisten. Bereits der Nebukadnezar-Traum zu Beginn verweise darauf, dass die Tugendhaftigkeit des Einzelnen von Gott allein bewertet wird (vgl. Schneider, Chiffren, S. 65). Apollonius weiß aber auch dieses Muster vor allem geschickt zu inszenieren, wenn er sich in seiner Diskussion mit Venus auf die von Albedacus (in Venus’ Auftrag) verkündete Bestimmung zur Herrschaft über Crisa beruft (vgl. AvT, V. 12186–12191, die Erwähnung der Herrschaft über das Goldene Tal durch Albedacus vgl. AvT, V.  4214f.). Prädestination und Inszenierung von Prädestination überlagern sich hier. Apollonius versteht seinen Erfolg unabhängig von der konkret abgeprüften Exzeptionalität, begründet das mit der göttlichen Vorbestimmung, die er im Gespräch forciert inszeniert (vgl. dazu Schneider, Chiffren, S. 65–72). 372 Vgl. Müller, Blick, S. 26–28. Das Prüfungssystem veranschauliche den Leumund und erlaube dem Helden daher Korrektur der ersten Wertungen (vgl. hier S. 28). 373 Selbst im Moment des Scheiterns, den er nacherzählt, ist er sich keiner Verfehlung bewusst und fragt daher erstaunt: Was maynet das? (AvT, V. 11304). 374 Diese findet kurioser-, aber zugleich auch logischerweise nicht im Venustempel, sondern im Tempel der Göttin Dyana (AvT, V. 11308) statt. Kaspar weist darauf hin, dass drei Handschriften an dieser Stelle Diamena als eine häufiger im Text auftauchende Nebenform zu Diomena verzeichnen (vgl. Kaspar, Tugend- und Keuschheitsproben, S. 404).

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Schuld bewusst (vgl. AvT, V. 11785f.).375 Und auch Apollonius wundert sich jeweils über mögliche Gründe seines augenscheinlichen Misserfolgs, zeigt kein den Prüfungssituationen vorgängiges Bewusstsein über moralische Fehltritte im eigenen Lebenslauf.376 Mit dem Bewusstsein werden einzelne Vorwürfe – zumindest für Apollonius – verhandelbar, das Image der Tadellosigkeit rehabilitier- oder zumindest inszenierbar377 – nicht aber die moralischen Maßstäbe selbst. Das Prüfungssystem macht den Figuren sowie den TextrezipientInnen neue Perspektiven auf Ereignisse sichtbar und bürgt für die Existenz eines transzendenten, bewertenden Blicks auf immanente Handlungen. Die dabei zutage tretenden Maßstäbe der Transzendenz, vor denen die Handlungen zu lesen sind, werden über binäre Codes einwandfrei, wenn auch in ihrer zeichenhaften Arbitrarität nur vor spezifischem Bedeutungswissen, wahrnehmbar und beanspruchen auch ungeachtet der Verhandelbarkeit im konkreten Fall unangetastete Gültigkeit. Den mit der Funktionsweise verbundenen Anspruch, Sicherheit und Eindeutigkeit zu produzieren, lösen die Prüfinstrumente jedoch nicht ein, da die binären Darstel-

375 Die in der Formulierung vom peren zagel (AvT, V. 11767) anklingende Interpretation dieser Kennzeichnung als Hinweis auf erotische Gedanken, folgt erst durch einen Tempeldiener (vgl. AvT, V. 11803–11809), zu dem die Ritter angesichts ihrer schwarzen Male geschickt werden (vgl. AvT, V. 11794) und der sie wiederum an Venus verweist (vgl. AvT, V. 11806–11813; s. Kap. 6.2.1). 376 Beim ersten Abwurf heißt es er enkunde nie gedencken dar an/Wa er zaghait hette getan (AvT, V.  12022f.); im Gespräch mit Venus fordert er direkt auf: tü mir kunt/Wa und an welcher stund/Ich sey gewesen ain zage (AvT, V. 12120–12122). Beim zweiten Abwurf fragt er: waffen, herre, Got!/Ditz groß laster und der spot/Den ich yetzund leyden muß!/Will meyner sorgen nymmer puß/ Werden? was hab ich getan,/Das ich in das gertel nicht mag gan? (AvT, V. 12649–12654) bzw. verleiht seiner Verwunderung, der Lüge bezichtigt zu werden, mit Was hab ich luge getan,/Das ich in das gartel nicht mag gan? (AvT, V. 12693f.) Ausdruck. 377 Der Reihung der drei Instanzen lässt sich vielleicht – mit etwas Wohlwollen – eine gewisse Systematik unterstellen. Tugend erweist sich nämlich als umso verhandelbarer, je weniger allgemein sie angezeigt wird, je stärker die transzendente Sphäre nicht nur zu allgemeinen Statements, sondern zu konkreten Bewertungen genötigt wird. Das Rad verlangt allgemein ,Tugendhaftigkeit‘ und lässt keine Diskussionen oder Zweitversuche zu, das Brunnenwasser zeigt spezifischer unlauteres Gedankengut an und lässt sich entschuldigen, die Treppe verweist auf einzelne Tugendverfehlungen, deren Behauptung einer Konfrontation mit den konkreten Situationen wie Apollonius sie in der Auseinandersetzung mit Venus einfordert, nicht standhält. Dem widerspricht Arfaxats Geschichte des Scheiterns am Rad, das sich im Nachhinein konkretisieren und dennoch nicht ausräumen lässt, und die Erklärung Candors, es handle sich bei der Treppenprobe um Enthüllungen unveränderlicher Dispositionen (diese Aussage erweist sich jedoch im Endeffekt als unzutreffend). Schließlich bleibt bei der Interpretation jeweils ein Rest. Die umfassende Passage ist widersprüchlich, damit aber für Deutungsversuche umso attraktiver.

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lungsmittel keine binäre Entsprechung in dem durch sie anschaulich gemachten Bereich ,Tugend‘ finden. Die hier behandelten Instanzen generieren optisch wahrnehmbare, binäre und damit eindeutige Aussagen über Informationen, die aufgrund des speziellen abstrakten oder prophetischen Charakters der sinnlichen Wahrnehmung normalerweise verborgen bleiben. Sie erzeugen Evidenz. Die Bezüge zwischen Aussage und Vermitteltem sind arbiträr und müssen im Vorfeld gewusst oder erläutert werden. Die Instanzen vermögen stets nur eine spezielle Einschätzung vorzunehmen, die für die Figuren hilfreich sein kann, jedoch auch angesichts anderer Signale nicht berücksichtigt wird oder aber sich als weniger eindeutig und endgültig erweist, als es die Binarität der Darstellungsweise der Vermittlungsform suggeriert. Die Darstellungsmöglichkeiten der medialen Form sind beschränkt, eine der Komplexität der Sache gerecht werdende Vermittlung ist nicht möglich. Auch deutet sich an, dass gerade die zugeschriebene Eindeutigkeit und Autorität bewusst von Figuren inszeniert werden kann. Das zeugt von dem grundsätzlichen Wunsch nach einer transzendenten Ebene und der Eindeutigkeit ihrer Urteile sowie dem Bedürfnis, klar ein- und zuzuordnen. Die Tugendprüfinstrumente in Crisa bedienen das Bedürfnis, werfen aber für die RezipientInnen immer wieder Fragen nach dem Anspruch der hier wertsetzenden Instanz, den Prüfmechanismen oder der Eindeutigkeit der Bewertung bzw. der Bewertbarkeit auf. Eindeutigkeit verweigern die Phänomene – auch der einwandfrei funktionierende sigestain – auf einer abstrakten Ebene. Denn sie verstärken eher die Verwirrung, was die Gesetzmäßigkeiten der Textwelt betrifft. Sie wiederholen das für den Apollonius bereits herausgearbeitete Bild des transzendent vorgeprägten, aber nicht bis ins letzte Detail vorbestimmten Weltlaufs, ohne Aufschluss darüber zu geben, wie weit die Prädestination oder aber die Handlungen der Figuren ausschlaggebend sind (s. Kap. 6.2.2). Die Pro­phezeiungen des Steins implizieren bspw. einen vorbestimmten Ablauf von Ereignissen, jedoch widerspricht die Verhinderung von Niederlagen durch Vertagung eines Kampfes der absoluten Festigkeit der angelegten Pläne. Der Ausgang einer Schlacht ist von einer transzendenten Macht vorbestimmt, das Eintreten dieses Ausgangs kann aber offensichtlich verhindert werden, indem das Ereignis selbst vermieden wird. In welchem Verhältnis also

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transzendente Lenkung und notwendiges Engagement in der Textwelt zueinander stehen, gewinnt auch durch die Evidenzphänomene keine scharfe Kontur.

6.3.2 Träume als quasi-visuelle Offenbarungen mit besonderer poetologischer Aussagekraft Sind die optischen Signale der soeben behandelten transsphärisch agierenden oder als transsphärisch inszenierten Phänomene eindeutig (s. Kap. 6.3.1), so ist die Reaktion auf die Phänomene unterschiedlich, die Sicherheit nur eine scheinbare, die Aussagekraft für das Funktionieren, Walten und Werten der Transzendenz widersprüchlich. Das macht umso spannender, was passiert, wenn die Bilder, derer sich die Transzendenz bedient, komplexer sind und die Wahrnehmungssituation diffuser ist – wie bei Träumen. Stellen bestimmte Wesen und Objekte im Apollonius im wörtlichen Sinne eine höhere Wahrheit vor Augen, so präsentieren sowohl der Apollonius als auch der Reinfried Wahrnehmungsvorgänge, in denen transzendente Informa­tionen eine bildliche Form annehmen, welche jedoch nicht über die klassischen Wahrnehmungsorgane des Menschen verfügbar wird. Die Augen bleiben für jenes ,Schauen‘ geschlossen, denn die göttlichen Botschaften erreichen die Figuren im Schlaf. Im Reinfried von Braunschweig suchen Yrkâne zwei rätselhafte Traumerlebnisse heim (vgl. RvB, V. 13520–13585, 14914–14985), der Apollonius von Tyrland wiederum setzt mit den Traumbildern Nebukadnezars378 ein (vgl. AvT, V. 11–87). Obwohl es sich bei beiden Texten um allegorische, bildlich verschlüsselte Träume des symbolischen Rätsel-Typus379 handelt, stehen sie doch in unter-

378 Zur Figur s. Anm. 6/430. 379 Laut Giesen handelt es sich dabei um einen der zwei in biblischen Texten vorkommenden Traumtypen (wiederum zwei von vier in den umgebenden Kulturen bekannten Traum-Grund­ typen). Den anderen Typus, der sich dadurch auszeichnet, dass der Inhalt und Aussage sogleich unmittelbar verständlich sind, bezeichnet er als Botschafts-Traum (vgl. Giesen, Heinz: Traum III. Biblisch-theologisch. In: Lexikon für Theologie und Kirche. begründet von Michael Buchberger Bd. 10: Thomaschristen–Žytomyr, 3. völlig neu bearb. Aufl., Freiburg i.  Br. 2006, Sp. 205–206, hier Sp. 205). Es ist an dieser Stelle wenig sinnvoll, die einzelnen Beschreibungsund Differenzierungsversuche aller Lehren einzeln abzubilden, zumal es ausführliche Übersichten bereits gibt: van Well verweist auf Wittmer-Busch, Maria Elisabeth: Zur Bedeutung von Schlaf und Traum im Mittelalter, Zürich 1990 (Medium aevum quotidianum 1); Speckenbach fasst die mittelalterlichen Traumtheorien sowie die dafür einflussreichsten Überlegungen der griechischen Antike zusammen (vgl. Speckenbach, Klaus: Kontexte mittelalterlicher Träume. In: Lingua Germanica. Studien zur deutschen Philologie. Jochen Splett zum 60. Geburtstag. Hrsg. von Eva Schmitsdorf/Nina Harl/Barbara Meurer, Münster u. a. 1998, S. 298–316,

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schiedlichen Traditionen. Schließen die Träume im Reinfried mit ihrer Tier­ motivik – Yrkâne träumt von einem Falken und von zwei Löwen (s. u.) – deutlich an Darstellungskonventionen aus der erzählenden mittelalterlichen Literatur an, ohne jedoch in ihrer spezifischen Form Vorbilder zu haben, so geht die Traum­ erzählung im Apollonius auf eine Passage des alttestamentarischen Buches Daniel zurück, die auch andere literarische Texte des Mittelalters, bspw. das Annolied, Rudolfs von Ems Alexander380 oder die Sprüche des Berufsdichters Rumzlant von Sachsen,381 nacherzählen.382 Den verschiedenen Texttraditionen entsprechend fällt die Bildsprache der Träume, der Umgang mit ihnen sowie ihre

hier S. 298–302); Haubrichs liefert eine kompakte Darstellung der einzelnen Diskursstimmen von Makrobus, Augustinus, Artemidoros, Tertullian, Prudentius, Cassian, Gregor dem Großen, Bernhard von Clairvaux, Richard von St. Viktor, Hugo von St. Viktor (vgl. Haubrichs, Offen­ barung, S.  244–248; vgl. auch Bumke, Blutstropfen, S.  50–52); Anmerkungen zu jüngeren Kategorisierungen – bspw. bei Le Loyer (siebzehntes Jahrhundert), Görres (neunzehntes Jahrhundert), Tanquerey (neunzehntes Jahrhundert) und Farges (zwanzigstes Jahrhundert) – versammelt Dinzelbacher, Vision, S.  83. Die differenzierteste Kategorisierung erarbeitet selbigem zufolge der evangelische Kirchenhistoriker Ernst Benz (vgl. hier S. 84–86, gemeint ist die auch hier zurate gezogene Arbeit Benz, Vision, die auf den Seiten 85–222 in neun Kapiteln die Haupttypen der Vision in ihren jeweiligen Abgrenzungen zu Nachbarphänomenen beschreibt). Aus den einzelnen Auseinandersetzungen lassen sich inhaltlich-semantische, strukturalsyn­tagmatische und funktional-pragmatische Fragen herauslesen, nach denen Träume näher be­stimmt werden (vgl. Haubrichs, Offenbarung, S. 244, Ausführungen dazu S. 244–248). 380 Vgl. Rudolf von Ems: Alexander. Ein höfischer Versroman des 13. Jahrhunderts. Hrsg. von Victor Junk, Stuttgart 1928/29 (Bibliothek des Literarischen Vereins in Stuttgart Bd. 272 und 274) [Nachdruck Darmstadt 1970], V. 15383–15634; im Folgenden wird mit dem Kurztitel ,Alexander‘ auf den Text dieser Ausgabe referiert. 381 Vgl. Speckenbach, Kontexte, S. 304. Er bezieht sich auf: Rûmzlant von Sachsen: Nebukadnezars Traum. In: Die deutsche Literatur. Texte und Zeugnisse. Hrsg. von Helmut de Boor, Bd. 1., München 1965, S. 558f.; Im Folgenden wird bei Verweis auf einzelne Verse mit RNT auf den dort abgedruckten Text verwiesen. Bei de Boors Textsammlung finden sich außerdem zwei weitere vom Nebukadnezartraum handelnde Sprüche. Einer davon erzählt in neun Versen bruchstückhaft nach und befindet sich im Anhang der im dreizehnten Jahrhundert verfassten Heidelberger Freidankhandschrift (vgl. Nabukadnezars Traum. In: Die deutsche Literatur. Texte und Zeugnisse. Hrsg. von Helmut de Boor, Bd. 1, München 1965, S. 558; im Folgenden wird bei Verweis auf einzelne Verse mit ANT auf den dort abgedruckten Text verwiesen). Der andere wird Fürst Wizlav von Rügen zugeschrieben, dessen Regierungszeit sich auf den Zeitraum 1302–1325 beläuft (vgl. Wizlav von Rügen: Nebukadnezars Traum. In: Die deutsche Literatur. Texte und Zeugnisse. Hrsg. von Helmut de Boor, Bd. 1, München 1965, S. 559f.; im Folgenden wird bei Verweis auf einzelne Verse mit WNT auf den dort abgedruckten Text verwiesen). 382 Schneider macht darauf aufmerksam, dass der Traum „vielfache Aufnahme in mittelalterliches Schrifttum“ (Schneider, Chiffren, S. 61) erfahren hat. Aus ihrem Text stammt auch der Hinweis auf die frühe Verwendung im Annolied. Dort stehen in Str. 11 die Danielprophetie mit Abfolge der vier Weltreiche im Zentrum (vgl. ebd.).

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narrative und handlungslogische Funktionalisierung in den jeweiligen Schilderungen unterschiedlich aus. Während anhand der Reinfried-Träume der Umgang mit der literarischen Tradition der Tiertraumerzählungen zu beobachten ist und der Apollonius-Traum die Integration und Modifikation eines biblischen Stoffes präsentiert, sprechen beide Fällen dieselben Fragen transsphärischer Mediation an. Es lässt sich herausarbeiten, in welchen Kontexten und unter welchen Bedingungen es zu den Träumen kommt, welche Autorität den Träumen zugeschrieben wird, was sie wie auf Handlungsebene vermitteln und auf Textebene erzählen, welche Aussagen sie den bisherigen Beobachtungen über die Transzendenz, ihre Wirkweise und Mitteilungsbereitschaft hinzufügen und inwiefern sie den medialen Diskurs der Texte vertiefen und/oder erweitern. Gerade in der Unterschiedlichkeit versprechen die Traumszenen auf­schlussreich für die Positionierung der beiden Texte im Hinblick auf diese trans­sphärische Kommunikationsmöglichkeit in Bildern und für den Einsatz dieser medialen Form als Erzählelement der Texte zu sein.383 Gemeinsam ist den Passagen das Verständnis der Träume, die in beiden Fällen gleichermaßen nicht die männliche Hauptfigur betreffen,384 als Mittel transsphärischer Mitteilung. Die Annahme, dass Träumen eine realweltliche Bedeutung zuzuschreiben ist, darf ebenso wie das Bemühen, die Art und Weise der Anbindung an die Lebensrealität des Träumenden auszuloten und die konkrete Bedeutung bestimmter Traumbilder zu enthüllen, als anthropologische

383 Vgl. zu Träumen als elementare Bedeutungselemente eines Textes Huber, Martin: Traum 5. Literatur. In: Lexikon für Theologie und Kirche. begründet von Michael Buchberger Bd. 10: Thomas­christen–Žytomyr, 3. völlig neu bearb. Aufl., Freiburg i.  Br. 2006, Sp.  206–207, hier Sp. 206; Speckenbach, Kontexte, S. 303f.; Schmidt, Vision, S. 785; Schmidt-Hamnisa, Traum, S. 676. Nähere Ausführungen zu den typischen Funktionen in der mittelalterlichen Literatur folgen. 384 Während im Reinfried mit Yrkâne immerhin eine zentrale Figur des Textes Traumbotschaften erhält, so ist es im Eingang des Apollonius mit Nebukadnezar nicht einmal eine im weiteren Text vorkommende Figur, der sich im Traum etwas offenbart.

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Konstante betrachtet werden.385 Davon zeugen die überepochal und -kulturell produzierten Traumtheorien, die an jene angelehnten Traumdeutungsliteraturen386 sowie die literarischen Zeugnisse imaginierter und narrativ instrumentalisierter Träume.387 Die Vorstellung des objektiv nicht nachweisbaren konkreten Bezugs zwischen Trauminhalt und Lebenswirklichkeit388 fällt je nach kultureller Umgebung unterschiedlich aus,389 ist auch kulturintern angesichts der „prinzipiellen Polyinterpretabilität der Träume“390 alles andere als einheitlich und un­ terliegt stets Veränderungen. Die im modernen Diskurs auf theologische Perspektiven beschränkte Interpretation von Träumen als transsphärische mediale

385 „Von frühesten Zeiten an gab das Phänomen des Traumes dem Menschen Rätsel auf. Es stellten sich die Fragen, woher die Träume kommen oder wie sie entstehen, dann auch, ob die Traumbilder etwas bedeuten, und wenn ja, was sie aussagen“ (Speckenbach, Kontexte, S. 298). 386 „Die Rätselhaftigkeit des Naturphänomens Traum hat das Kulturphänomen Traumdeutung geschaffen, deren Geschichte in archaische Zeiten zurückreicht“ (Schönau, Walter: Erdichtete Träume. Zu ihrer Produktion, Interpretation und Rezeption. In: Literaturpsychologische Studien und Analysen. Hrsg. vom dems., Amsterdam 1983 [Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanis­ tik 17], S. 41–68, hier S. 42). S. auch van Well in seiner Einleitung (vgl. van Well, Erzählweise, S. 15). 387 Traumtheorien, fiktionale Träume und Traumdeutung sind bei Speckenbach die drei Tra­ ditionsstränge der menschlichen Beschäftigung mit dem Phänomen ,Traum‘ (vgl. Speckenbach, Kontexte, S. 298). 388 Es handelt sich bei allen theoretischen Äußerungen über Träume und ihre Bedeutung und die richtige Art ihrer Ausdeutung nicht um objektiv wissenschaftlich überprüfbares Wissen (vgl. Classen, Traum, S. 13), sondern stets um Annahmen, die jenen Zusammenhang neu entwerfen. Selbst die sich der Erforschung der einzelnen Schlafphasen und deren Funktionen widmende experimentelle Schlafforschung habe, so Schönau, zwar neue Einsichten und Hypothesen hervorgebracht, konnte jedoch die Funktion des Traumes ebenso wenig eindeutig be­stimmen (vgl. Schönau, Träume, S. 41). 389 Ob sich mit der Wandlung dieser Vorstellung auch die Art und Weise des Träumens selbst wandelt, ist umstritten (vgl. Schönau, Träume, S. 43). 390 Hier S. 54 mit Verweis auf das folgende Zitat Henri Michauxs: „Die Möglichkeiten, Träume zu deuten, sind unbegrenzt. Was für ein Dechiffrierungssystem man auch anwendet, es antwortet immer und scheint sich so einzurichten, daß es immer im Sinne der Frage antwortet“ (Michaux, Henri: Zwischen Tag und Traum. Aus dem Französischen von Susanne Kaiser, Frankfurt a. M. 1971, S. 42).

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Formen391 lässt sich für die stärker religiös geprägte mittelalterliche Kultur als recht verbreitet bezeichnen.392 Im (christlich)393 religiösen Verständnis sowie in dem davon geprägten Sprachgebrauch von der Antike bis zur Neuzeit gehören

391 Ist das pietistische siebzehnte und achtzehnte Jahrhundert von der Erfahrungsseelenkunde geprägt, so dominieren im zwanzigsten und einundzwanzigsten Jahrhundert die von Sigmund Freud entwickelten Thesen zum Unbewussten und deren Weiterentwicklungen (vgl. SchmidtHamnisa, Traum, S. 677f.; vgl. zur Relevanz der Freudschen Theorien für das Traumverständnis des zwanzigsten/einundzwanzigsten Jahrhunderts Classen, Traum, S. 12; Schö­nau, Träume, S. 44, 54). Auch synchron ist die Vorstellung innerhalb eines Kulturkreises alles andere als einheitlich. Unterschiedliche Diskurse formulieren voneinander abweichende Deutungen, die gleichzeitig nebeneinander bestehen und Gültigkeit beanspruchen können. Beispielsweise ist es für die im zwanzigsten und einundzwanzigsten Jahrhundert sozialisierten Menschen „selbstverständlich, Träume als eine Ausdrucksform der menschlichen Psyche zu verstehen und entsprechend der psycho-analytischen Einsichten der je unterschiedlichen Schulen zu deuten“ (Speckenbach, Kontexte, S. 298); dennoch gilt der Traum offenbar auch im modernen religionswissenschaftlichen Diskurs durchaus als „wichtiger Weg […], mit der übermenschl. Welt u. ihren Mächten in enge u. direkte Verbindung zu kommen“ (Quack, Anton: Traum 2. Religionswissenschaftlich. In: Lexikon für Theologie und Kirche. begründet von Michael Buchberger Bd. 10: Thomaschristen–Žytomyr, 3. völlig neu bearb. Aufl., Freiburg i.  Br. 2006, Sp.  204–205, hier S. 204). 392 So heißt es bei Speckenbach: „Dem Mittelalter ist dagegen Psychologie oder gar Psychoanalyse als Denkkategorie wie als Wissenschaft völlig fremd. Der Traum ist hier vorrangig mit magischen und religiösen Vorstellungen verbunden und erst in einer späteren Phase auch mit der aus der Antike ererbten Humoralpathologie“ (Speckenbach, Kontexte, S. 298). Vgl. zu den durchaus sehr unterschiedlichen Vorstellungen und Theorien im Mittelalter Wehrle, Dreams. Im poetologischen Einsatz von Träumen sei jedoch, so Classen, die Vorstellung des Traums als Spiegel der unterdrückten oder noch nicht entfalteten Bewusstseinsebenen zu erkennen (vgl. Classen, Traum, S. 14, als Beleg führt er eine Stelle aus der romanischen Literatur an, s. dort Anm. 22). 393 Die Vorstellung, Träume seien im Sinne ihrer Kommunikationsmöglichkeit zwischen Im­ manenz und Transzendenz real, und könnten prophetische Informationen offenbaren, sei keine dezidiert christliche, sondern lasse sich für viele Religionen und Kulturen beanspruchen (vgl. Quack, Traum, S. 204; Classen, Traum, S. 12; vgl. auch Wehrle, Dreams, S. 329).

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Träume neben anderen Phänomenen zu den Visionen,394 klassischen Instanzen zwischen immanenter und transzendenter Sphäre.395 Wichtig für diese Interpretation von Träumen sind Bibelerzählungen, die Träume als transsphärisches Phänomen darstellen,396 sowie theologische Autoritäten und Vertreter der antiken Bildungselite, die sich über die (religiöse) Bedeutung von Träumen äußern. Fallen die Bedeutungszuweisungen durch die einzelnen Autoritäten auch unterschiedlich aus, und wird im zwölften und dreizehnten Jahrhundert sowie nochmals in der Reformationszeit über die Diskussion um

394 „Der von der Antike bis zur Neuzeit unverändert gebrauchte Oberbegriff ,Vision‘ umschließt eine Vielzahl heterogener Phänomene wie Traum, Erscheinung, Halluzination, Phantasie, Ekstase, prophetische oder mystische Schau“ (Schmidt, Vision, S. 785), die alle visuellen Wahrnehmungen von Orten, Zeiten und Handlungsentrückungen mit vornehmlich religiösem Inhalt beschreiben (vgl. hier S. 784, im erläuterten Sinne aufgefasst spätestens seit Macrobius [Somnium Scipionis 1,3; fünftes Jahrhundert n.  Chr.] und Augustinus [De Genesi ad litteram 12], vgl. hier S. 785). Ausgangspunkt für die Zuordnung dieser unterschiedlichen Erlebnisse ist die Etymologie des Begriffs: Lateinisch visio ist die vom Verb videre (,sehen‘, ,schauen‘) abgeleitete Schau und bezeichnet den Anblick einer konkreten Sache (vgl. hier S. 784f.). Die Differenzierung des Traumbegriffs vom Oberbegriff fällt in religionswissenschaftlicher Perspektive nicht leicht (vgl. Fuchs, Hans: Vision. 2. Religionswissenschaftlich. In: Lexikon für Theologie und Kirche. begründet von Michael Buchberger Bd. 10: Thomaschristen–Žytomyr, 3. völlig neu bearb. Aufl., Freiburg i. Br. 2006, Sp. 811–812, hier Sp. 811), ein Charakteristikum der Vision sei die – die Unterscheidung zum Traum ausmachende – Erfahrung im „Wachbewußtsein“ (hier Sp.  812; vgl. auch Bumke, Blutstropfen, S. 50; Dinzelbacher, Vision, S. 39). Haubrichs weist darauf hin, dass die Trennung in der mittelalterlichen Theorie weniger scharf wahrgenommen wurde (vgl. Haubrichs, Offenbarung, S. 243f.); für die Zuordnung der behandelten Textpassagen ist das Grundkriterium des Schlafes dennoch hilfreich. Nebukadnezars visuelle Eindrücke, die explizit als trawm (AvT, V. 21, 34, 46, 52, 55, 63, 65, 87, 872, 2293, vgl. auch V. 44, 59, 61) bezeichnet werden, erreichen ihn in ainem slaf (AvT, V. 20), im Reinfried werden in entsprechender Szene mehrfach die Begriffe ,Schlaf‘ und ,Traum‘ verwendet (vgl. RvB, V. 13502, 13510, 13521, 13596, 13514, 13559, 13732, 13636, 13654, 13661, 13666, 13677, 13681, 13682, 13697, 13732, 13618, 13622, 13634, 13650), das Erwachen aus diesem Zustand wird eigens erwähnt (vgl. RvB, V.  13610–13616). Die Marienerscheinung, mit der Reinfried sich in derselben Nacht auseinanderzusetzen hat, wird zwar mit denselben Begriffen in Zusammenhang gebracht, gerade der Zustand Reinfrieds scheint aber nicht einem gewöhnlichen Schlaf zu entsprechen (vgl. auch Kap. 6.2.2, Anm. 6/241). 395 Die Aussagen zur Dominanz bestimmter Traumverständnisse, die im Rahmen dieser einleitenden Worte getroffen werden können, sind selbstverständlich verallgemeinernd und bilden nicht im Detail ab, dass es auch in den mittelalterlichen christlichen Gelehrtenkreisen keine einheitliche Position zu Träumen gab und wie heute auch verschiedene Vorstellungen neben- und gegeneinander existierten (vgl. Speckenbach, Kontexte, S. 301; vgl. dazu Wehrle, Dreams). 396 Sowohl im Alten als auch im Neuen Testament wird das Träumen biblischen Personals erwähnt und als Kontaktform zwischen Immanenz und Transzendenz dargestellt (vgl. Giesen, Traum, Sp. 205–206). Giesen führt in seinem Artikel auch die wichtigsten Bibelstellen auf (vgl. auch Wehrle, Dreams, S. 330; hier sind sie in den Anm. 6/436–439 zu finden).

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die Echtheit von Reliquien auch die Frage nach dem Wahrheitsgehalt von Visionserfahrungen allgemein angestoßen,397 so kommt es zur weitgehenden Ablehnung der Deutung als göttliche Botschaft laut Schmidt doch erst ab der Aufklärung.398 Die mittelalterlichen Vorstellungen gehen primär von einem außerhalb des Menschen liegenden Ursprung der Träume aus399 und nehmen eine zu entschlüsselnde Bedeutung für die Lebenswirklichkeit des Träumenden an. Träume

397 Auch antike Theorien, die Träume auf somatische Ursachen zurückführen, waren im Mittelalter bekannt (vgl. Dinzelbacher, Vision, S. 39f.; Wehrle, Dreams, S. 336f.; vgl. zu den antiken Einflüssen auf die biblisch-christliche Traumtheorie, die Träume auf einen göttlichen Ursprung zurückführt Haubrichs, Offenbarung, S. 245; Bumke, Blutstropfen, S. 50; Speckenbach, Kontexte, S. 300; Classen, Traum, S. 13; van Well, Erzählweise, S. 15f.). Zum anderen findet die in vielen der unterschiedlichen Traumtheorien enthaltene Möglichkeit, dass der Teufel oder Dämonen für Träume verantwortlich sein können, ebenso wie die Gottgesandtheit und Bedeutungshaftigkeit in der Bibel – vor allem im Alten Testament (vgl. Benz, Vision, S. 104) – explizite Erwähnung (vgl. Sir 34, 1–8; skeptisch: 5. Mose 13,5f.; eine deutliche Hierarchie von direktem Gotteswort und Traum(bild) zeichnet Jer 23, 16–22) und mahnt immer auch zu Skepsis gegenüber der Einstufung von Traumerlebnissen als göttliche Botschaft (vgl. Haubrichs, Offenbarung, S. 246). Bereits bei Tertullian, Prudentius und Cassian, vor allem aber bei und seit Augustinus wird die pagane Unterscheidung der Traumursprünge (Mensch, Transzendenz) um die dämonisch-teuflische Seite ergänzt und somit der christlichen Problematik der Herkunft der Träume in den Traumtheorien besondere Beachtung geschenkt. So vermutet Augustinus, die Seele sei im Schlafzustand besonders anfällig für dämonische Eingebungen, da ihr rationaler Teil schlafe (vgl. hier S. 246). Schmidt-Hamnisa weist auch auf die – etwas konstruierte – etymologische Verwandtschaft von ahd./mhd. troum (von germ. *draugma) zu ahd. triugan (,trügen‘) hin, die für die Interpretation des Traumbildes als Trugbild eine Rolle spielen könnte (vgl. Schmidt-Hamnisa, Traum, S. 677 mit Verweis auf den ersten Eintrag zum Lemma ,Traum‘ im Deutschen Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm 1935). Als besonders deutliche Position sei die Birgittas von Schweden angeführt. In den Aufzeichnungen ihrer Visionen warnt Christus selbst vor Träumen, da diese zwar göttlichen Ursprungs, jedoch auch vom Teufel beeinflusst sein könnten (vgl. Benz, Vision, S. 111 mit Bezug auf eine dort zitierte längere Textstelle aus Brigitta, Revelationes, Bd. IV, c. CXXXIX, S. 298, zit. n. Benz, Vision). Gänzlich abgeneigt zeige sich schließlich Filippo Neri im sechzehnten Jahrhundert (vgl. Benz, Vision, S. 112). So bemerkt auch Speckenbach: „Als Hauptproblem schält sich schließlich heraus, wie göttliche Träume von teuflischen Täuschungen zu unterscheiden sind“ (Speckenbach, Kontexte, S. 301). 398 Vgl. Schmidt, Vision, S. 785. Dinzelbacher scheut sich, pauschal von einem Glauben an die Bedeutsamkeit von Trauminhalten oder einem Handeln nach Trauminhalten zu sprechen, hält aber dennoch fest: „Hat er [der Traum] heute heuristischen Wert nur für die Welt unserer Seele (Psychoanalyse), so hatte er damals heuristischen Wert für die Erkenntnis einer realen, sonst aber nicht zugänglichen Welt außer uns, wie der von Himmel und Hölle. […] Freilich wurde eine Distinktion zwischen Traum und Wachen gemacht, aber der Realitätshintergrund vieler Träume wurde höher gewertet, als wir dies tun würden“ (Dinzelbacher, Vision, S. 40). 399 Vgl. Speckenbach, Kontexte, S. 298, der als den grundlegenden Unterschied zwischen ,moderner‘ und ,vormoderner‘ Traumtheorie die Annahme über den Ursprung der Träume benennt.

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können in diesem Verständnis einen Zugang zum Jenseitigen, Unsinnlichen, Unkonkreten schaffen und einen Einblick in die Funktionsweise und Gestalt des Transzendenten gewähren.400 Eindeutig von dieser Vorstellung geprägt sind sowohl die Figuren als auch die wertsetzenden Erzählinstanzen der behandelten Texte. Eines nachtes es geschach Der kunig in ainem slaf sach Ainen trawm, der was wunderlich, Kostber und merklich: (AvT, V. 19–22)

So hebt die Erzählinstanz des Apollonius von Tyrland nach einer einleitenden Sentenz (vgl. AvT, V. 1–6), zu deren Untermauerung sie die Geschichte des Königs Nebüchodonosor (AvT, V. 11) erzählen will, an. Es folgt die nur in wenigen – allerdings nicht unwichtigen – Punkten abweichende Nacherzählung der in der Bibel geschilderten Zusammenhänge (vgl. AvT, V. 23–65). Der König träumt von einem säulenartigen Bildnis eines Menschen, das – dem dieses Körperbildnis von oben nach unten abschreitenden Blick folgend – aus Gold, Silber, Kupfer, Blei und Erde besteht und schließlich durch eine plötzlich hereinbrechende Naturgewalt zerstört wird. Er wacht auf und vergisst den Traum (vgl. AvT, V. 23–44). Die Erzählinstanz suggeriert in der zitierten Textpassage bereits vor der Schilderung des Geschauten, dass es sich bei den Traumbildern um eine göttliche Botschaft für besagten König, bei dem Traum um eine mediale Form transsphärischer Interaktion handelt. Der Traum sei auffällig, wunderbar (wunderlich, AvT, V. 21 bzw. [d]er her sach ain wunder hie, AvT, V. 32)401 und daher besonders wertvoll und bemerkenswert ([k]ostber und merklich, AvT, V. 22). Dem Traum wird auf Textebene eine Auffälligkeit attestiert, die ihm Bedeutung zuschreibt. Die daraufhin geschilderten quasi-visuellen Traumeindrücke des Königs bestätigen dieses Statement: Die geschaute Bildfolge ist wahrlich geeignet, Interesse zu wecken und Fragen nach der Bedeutung zu evozieren. Denn eine Statue, wie sie im Traum entworfen wird, deren weiches Material das Fundament für die festeren, schwereren Bestandteile des Bildnisses bildet, kann es in der Realität schwerlich geben. So ist es nachvollziehbar, dass dieses Bild der Erzählinstanz wunderlich anmutet und auch den intradiegetischen Betrachter wundert (AvT, V. 36) und zu dangken (AvT, V. 37) anregt. Das als ungewöhnlich wahrgenommene Traumbild zieht die

400 Vgl. Haubrichs, Offenbarung, S. 252. 401 Vgl. zur Einordnung des Religiösen in den Bereich des mit wunderlîch angesprochenen Wunderbaren Anm. 6/219.

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Aufmerksamkeit des Träumenden auf sich und befeuert ein erstes, unspezifisch bleibendes Nachsinnen. Das Bild der Statue, auf dem der Blick des Träumenden und des/der RezipientIn, der/die den Eindruck der träumenden Figur teilt, ruht, wird anschließend von einem Blitz, welcher ohne Vorwarnung und ohne erkennbaren Grund [v]on himel (AvT, V.  38) niederfährt, getroffen und zertraib,/Das nicht da pey ainander pelaib (AvT, V. 39f.). Dass dieses nicht nur einen starken visuellen Reiz suggerierende Traumereignis Nebukadnezar erschreckt und ihm in seiner Wirkung, seiner Besonderheit im Gedächtnis bleibt, obwohl sich ihm das Geschaute noch beim Erwachen wieder entzieht (vgl. AvT, V. 43f.), und dass er diesen visuellen Eindrücken eine Bedeutung unterstellt, ist im Mitvollzug seines Erlebens verständlich. Nebukadnezar geht ohne Zweifel von eine realweltlichen Relevanz der Traumbilder aus, obwohl er diese gar nicht mehr abrufen kann. Als er in höchster Erregung aufwacht und merkt, dass der Grund für sein plötzliches Aufschrecken ihm abhandengekommen ist, ergreift ihn übermäßiger Zorn (vgl. AvT, V.  45f.); sogleich setzt er alles daran, die Traumbilder zurückzuerlangen: Er santt weytten in die lantt, Do man dy hochsten maister vantt Von astronomia Und von nigromancia, Das sie im däten so zestund Den wunderlichen402 trawm kund Das er so hette vergessen. (AvT, V. 47–53)

Deutlich wird das unbedingte Verlangen, den vergessenen Traum wieder verfügbar zu machen. Auch die affektgeladene Reaktion auf das Misslingen seiner Versuche – er lässt die zurate gezogenen, aber erfolglosen Meister verbrennen (vgl. AvT, V. 62) – zeugt nicht allein von der charakterlichen Disposition Nebukadnezars (vgl. AvT, V. 11–17), sondern auch von der Unbedingtheit, mit der jener um die Traumbilder bemüht ist. Demnach empfindet die Figur den Traum – möglicherweise ob seiner Fähigkeit, ihn dermaßen zu erschrecken und sich seinem Zugriff sofort wieder zu entziehen – als relevant für die eigene Person und glaubt an den medialen transsphärischen Charakter von Träumen. Mit dieser Einschätzung scheint Nebukadnezar nicht allein zu sein. Die in Astronomie und schwarzer Magie ausgebildeten Gelehrten die der König auf-

402 Ob das Attribut wunderlichen (AvT, V. 52) der Figur oder der Erzählinstanz zuzuschreiben ist, bleibt in dieser Formulierung offen.

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fordert, ihm seinen Traum zu erzählen und auszudeuten, sind keineswegs überrascht, dass eine Traumdeutung von ihnen gefordert wird, und geben sich zuversichtlich, den Traum ausdeuten zu können (vgl. AvT, V. 48–58). Außerdem scheint Nebukadnezar – so zeigt sich im Text spätestens mit der Erzählung vom erfolgreichen Traumdeuter Daniel – mit seiner Vermutung Recht zu haben. Dass diese Bedeutung des Traums tatsächlich eine göttliche Botschaft darstellt und der Traum als mediale Form transsphärischer Interaktion funktioniert, beweist sich durch den Einsatz einer typischen Mittlerfigur der Transzendenz – eines Engels403 – zur Unterrichtung dieses Traumdeuters (vgl. AvT, V. 64f.). Wenn der Apollonius auch nicht über den Traum als Äußerungsform der transzendenten Sphäre referiert, so weist die Szene jenen doch eindeutig als eine solche aus. Yrkâne hingegen wird von der Bedeutungshaftigkeit von Traumbildern erst durch Reinfrieds Reaktion überzeugt. Als sie, durch Reinfried geweckt, aus ihrem ersten Traum aufschreckt und sich jener erkundigt: ,Ouch, frouwe, herzen künegîn, sag an wie hât daz slâfen dîn sô unmuotic gemaht? (RvB, V. 13617–13619)

ist sie zunächst nicht daran interessiert, Reinfried den Trauminhalt wissen zu lassen. Sie spricht über ihr Empfinden (vgl. RvB, V. 13650–13659) und zeigt sich erleichtert darüber, dass die durchlebte Situation ,nur‘ eine geträumte gewesen ist: mir hânt des slâfes tücke lieber fröuden vil benomen und bin des alles wider komen sît du an mînen arme lîst. der troun nint fröude mir, so gîst du mir hôchgemüete. der milte got behüete uns beide hie vor swære.

403 Etymologisch sind Boten mit Kontakt zum Heiligen, Transzendenten verbunden. ,Engel‘ (von gr. angelos – ,Bote‘) kommen sowohl in ,heidnischen‘ als auch in jüdisch-christlichen Traditionen als Boten Gottes bzw. der Götter, somit als die relevanten Instanzen der Kommunikation zwischen immanenter und transzendenter Ebene, vor (vgl. Debray, Mediologie, S. 142; Wenzel, Hören und Sehen, S. 274; Hacke, Botenwesen, S. 132; Knoch, Engel und Boten, S. 5). Die einzige Instanz, die über die vergessenen Traumbilder verfügt und fähig ist, diese weiter zu vermitteln, ist Sender dieser Mittlerinstanz. Dass eine typische Botenfigur der Transzendenz als Quelle des Wissens Daniels genannt wird, weist daher auf den göttlichen Ursprung des Traumes zurück.

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ich wânde daz ich wære an fröuden arm, nu bin ich rîch.’ (RvB, V. 13650–13659)

Das Geträumte hält sie gerade gegenüber der jetzt erlebten Realität für irreal und damit für irrelevant. Zu dieser Einschätzung könnten auch die RezipientInnen kommen. Tierträume sind in der mittelalterlichen Literatur keine Seltenheit,404 werden aber nicht unbedingt als Entwurf einer transsphärischer Kommunikationsform verstanden.405 Im Falle des Reinfried legt der Text aber eine Mitteilungsfunktion der Transzendenz über die Träume textlogisch nahe, folgen die Träume doch direkt dem so mühsam abgerungenen Plädoyer des Protagonisten für die Bedeutsamkeit von Träumen aufgrund ihrer Gottgesandtheit (vgl. RvB, V. 13420– 13451) und befinden sie sich doch mitten in der Darstellung eines recht regen Austausches zwischen den Figuren und der transzendenten Sphäre (s. Kap. 6.2.1, 6.2.2). In der Überleitung von Reinfrieds Gelübde gegenüber der Marien­ erscheinung zum Traumbericht findet eine Nebenordnung der Erfahrungen statt (ir [Yrkâne] ouch wunderlîch beschach, RvB, V.  13513), die suggeriert, dass es sich bei Reinfrieds und Yrkânes nächtlichen Erlebnissen gleichermaßen um Erfahrung mit besonderem, transsphärischen Status handelt. Dass Yrkâne nicht selbst den Traum aus sich heraus bildet, sondern dass dieser von außen auf sie einströmt, zeigt sich außerdem recht deutlich in der Wortwahl bei der Beschreibung des ersten Vorgangs. Dort ist die Rede vom Hereinbrechen ins Herz der Träumenden (vgl. RvB, V. 13514f.) bzw. vom ,Sich-Zeigen‘ des Traums (vgl. RvB, V.  14948–14950).406 Wenn sich später die Träumende aus dem Traum ausklinkt

404 Prominente Beispiele wären Falken- und Wildschweintraum im Nibelungenlied (vgl. Nibelungenlied. Text und Einführung. Nach der St. Galler Handschrift. 2. durchges. und ergänzte Aufl. Hrsg. und erläutert von Hermann Reichert, Berlin, Boston 2017 [De Gruyter Texte], Str. 11–13 [Ba 13–15]; im Folgenden zitiert mit dem Kurztitel ,Nibelungenlied‘), der Ebertraum im Tristan (vgl. Gottfried von Straßburg: Tristan. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Nach dem Text von Friedrich Ranke neu herausgegeben, ins Neuhochdeutsche übersetzt und mit einem Stellenkommentar und einem Nachwort von Rüdiger Krohn, 2 Bde., (9. Aufl.) Stuttgart 2007 [Reclams-Universal-Bibliothek 4472], V. 13512–13539), der Taubentraum in Flore und Blanscheflur (vgl. FuB, V. 1057–1141). 405 Dinzelbacher bspw. schreibt über den Falkentraum des Nibelungenlieds: „Dies ist allerdings keine göttliche Offenbarung, sondern ,es dokumentiert sich vielmehr eine im Menschen innewohnende magische Kraft, die eine richtige Deutung der Traumbilder bewirken kann‘“ (Dinzelbacher, Vision, S.  40f. mit Zitat von Forstner, Karl: Das Traumgedicht Baudris von Bourgueil [Carmen 37]. In: Mittellateinisches Jahrbuch 6 [1970], S. 45–57, hier S. 54). 406 Diese Formulierung geht allerdings beim zweiten Traum auf Yrkâne zurück, die so gegenüber Reinfried spricht (und nicht auf die Erzählinstanz). Das heißt, hier lässt sich streng genom-

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(s. u.), bestätigt sich außerdem dessen außerhalb der Wahrnehmung der Träumenden liegende Existenz. Für Yrkâne führt erst Reinfrieds wiederholte Aufforderung, ihm den Trauminhalt kundzutun (vgl. RvB, V. 13636–13643, 13661–13667), dazu, dass sie den ernest sach/den er dâ zuo hatte (RvB, V. 13666f.) und realisiert, dass Reinfried mit seiner Frage nach dem Grund ihres Verhaltens (vgl. RvB, V. 13616–13640) nicht an ihren Empfindungen, sondern am konkreten Traumbild interessiert ist und diesem realweltliche Bedeutung beimisst. Reinfrieds Drängen, schließlich sein Verweis auf biblische Traumdeuter wie Joseph und Daniel und sein Versuch, des troumes fünde (RvB, V. 13697) zu bestimmen, bringen zum Ausdruck, dass er dem Traum transsphärisches Potenzial unterstellt.407 Reinfrieds Zuschreibung lässt nun auch Yrkâne an die realweltliche Bedeutung ihres Traumes glauben, schließt sie doch die (nicht wörtlich im Text repräsentierte) Nacherzählung mit der Aufforderung. herre zwart, nu sage mir/des wilden troumes tiute (RvB, V.  13680f.). In ihrer Reaktion auf die Auslegung und das damit verknüpfte Geständnis über das nächtlich getätigte Gelübde Reinfrieds beweist sich die Realitätsanbindung des Traums, hebt sich doch die zuvor von Yrkâne propagierte Unterscheidung zwischen Traumrealität und Lebensrealität auf. Denn nun besteht die Diskrepanz der Gefühlslage nicht mehr. Die im Traum erlebte Verzweiflung ist nun auch in ihrer Lebensrealität Wirklichkeit. Mit den Worten: ,[W]ê mir ach! daz bitterlîche ungemach nimt mir al die fröude mîn.’ (RvB, V. 13723–13725)

reagiert sie auf Reinfrieds Deutung und Auslegung.408 So bewahrheitet sich direkt im Anschluss an den Traum der diesem zugeschriebene Effekt – der Traum bringe jâmer, smerzen, kumber, leide und verwüste muot und sinn beide (RvB, V. 13515–

men nur behaupten, dass der Traum als etwas von außen auf die Träumende Einströmendes gegenüber einer anderen Figur inszeniert wird. 407 Dass Reinfried die Erscheinungen hierarchisiert, wie Achnitz annimmt (Reinfried „mißt seiner Marienerscheinung [im Halbschlaf], die eher als Vision denn als Traum einzustufen und überdies durch biblische Parallelen legitimiert ist, größere Bedeutung bei als dem nicht auf biblische, sondern literarische Träume Bezug nehmenden Traum Irkanes [im Tiefschlaf]“, Achnitz, Babylon und Jerusalem, S.  159), ist angesichts des Eifers, mit dem Reinfried die Träume auszulegen versucht, nicht zu behaupten. 408 Als er sein Vorhaben mit der Verpflichtung gegenüber der Marienerscheinung untermauert und einen Einspruch quasi unmöglich macht, stellt die Erzählinstanz fest: ir jâmer daz wart bitter (RvB, V. 13745).

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13519) – nicht nur für die im Traum, sondern auch für die außerhalb dieses existierende Yrkâne.409 Nach dieser Erfahrung ist es nicht überraschend, dass Yrkâne bei einem zweiten Erlebnis auch ohne Hinweis von Reinfried davon ausgeht, dass den Traumbildern eine Bedeutung innewohnt. Sie erinnert sich an den ersten Traum und die Deutung (vgl. RvB, V. 14940–14945) und bildet selbst Hypothesen, was ihr der Traum wohl kundtue (vgl. RvB, V. 14915–14931). Sie fordert dann – mehr zur rechtlichen Absicherung als zur Verifizierung ihrer Interpretation (s. u.) – erneut eine Auslegung von Reinfried. Für die TextrezipientInnen dürfte kaum ein Zweifel an der Bedeutungshaftigkeit der Träume für die Realität der Figuren bestehen. So universell präsent wie das Interesse an Träumen und ihrer Bedeutung ist auch ihre Präsenz in literarischen Erzeugnissen.410 Da die häufig allegorisch ausfallenden Traumerzählungen411 als Bedeutungselemente des Textes angelegt sind und sie sich meist einer konventionalisierten oder einfach erschließbaren Symbolik bedienen,412 lassen sie sich

409 Ausführlicher von ihrer verzweifelten Lage wird erzählt in RvB, V. 13802–13816, 13916–13933, 14556–14574. 410 Vgl. Schmidt-Hamnisa, Traum, S. 676–679; van Well, Erzählweise, S. 16; Speckenbach, Kontexte, S. 298; Schönau, Träume, S. 42. 411 Wird in den Traumtheorien und in der Mehrzahl der von transsphärischen Träumen be‑ richtenden Bibelpassagen dem prognostischen vor dem agnostischen, dem theorematischen vor dem allegorisch-bildlichen, dem transzendent-göttlichen vor dem psychosomatischen (und selbstverständlich vor dem trügerisch-dämonischen) Traum Relevanz und Bedeutung zugemessen, erfreut sich im literarischen Bereich der allegorische Traum weitaus größerer Beliebtheit als der theorematische (vgl. Speckenbach, Kontexte, S. 304 sowie Classen, Traum, S. 12). 412 Literarische Träume „können innerliterarisch überliefert sein, mythologisches Gedankengut enthalten, von christlichen Wertungen bestimmt sein oder im Einzelfall auf Traumbücher zurückweisen“ (Speckenbach, Klaus: Der Traum als bildhafte Rede. In: Uf der mâze pfat. FS für Werner Hoffmann zum 60. Geburtstag. Hrsg. von Waltraud Fritsch-Rössler/Lieselotte Homering, Göppingen 1991 [Göppinger Arbeiten zur Germanistik 555], S.  421–442, hier S.  441f.). Auch wenn bestimmte Darstellungsformen konventionalisiert sind, so zeigt Speckenbach doch, dass Traumbücher und Traumtheorien kaum hilfreich bei der Entschlüsselung der Traumgebilde sind. Traumbücher enthalten keine vollständigen Träume, die sie ausdeuten, sondern weisen einzelnen Traumbestandteilen ohne Rücksicht auf deren Ursprung und spezifische Kombination bestimmte, häufig mehrere widersprüchliche Bedeutungen zu (vgl. Speckenbach, Kontexte, S. 298; vgl. ausführlicher zu den unterschiedlichen Arten von Traumbüchern Wehrle, Dreams, S. 343–346), da sie davon ausgehen, dass jedes Traumelement nach einem festen Schlüssel aus der ,Traumsprache‘ in die Alltagssprache übersetzt werden kann (vgl. Schönau, Träume, S. 55). Diese Annahme kritisiert offenbar bereits Freud; jener halte jedoch auch fest, dass literarische Träume, die sich einer überindividuellen Symbolik bedienen, ohne größere Schwierigkeiten auszudeuten seien (vgl. hier S. 55).

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im Gegensatz zu nicht-fiktiven Träumen im Rahmen der jeweiligen Vorstellungen der Beziehung zwischen Trauminhalt und Lebenswirklichkeit des Träumenden413 recht leicht durch die RezipientInnen ausdeuten.414 Ist seit dem großen Erfolgszug der Psychoanalyse415 der Traum in der europäischen und amerikanischen Literatur primär eine Form der Verarbeitung bestimmter, zum Teil unterdrückter (traumatischer) Erlebnisse,416 eine Spiegelung der den Figuren selbst unbewuss-

413 Diese reproduziert und modifiziert die Verknüpfung von Traumerzählungen mit den Handlungen und Erlebnissen der Figuren und dem Verlauf der Geschichte (vgl. Schmidt-Hamnisa, Traum, S. 677; Speckenbach, Traum, S. 421). 414 Meist können die Figuren die Bedeutung hingegen nicht erkennen (vgl. Classen, Traum, S. 22 in Bezug auf Parzivals Unverständnis seines Traumes auf der Gralsburg und S. 28 in Bezug auf Kriemhilts Falkentraum). Allgemein stellt er fest, dass in vielen seiner Beispiele den Figuren das Verständnis oder aber der Wille zur Transponation der Botschaft in die eigene Lebenswirklichkeit fehle. Sie seien „blind und taub den Warnungen gegenüber“ (hier S. 30). Speckenbach erwähnt in diesem Zusammenhang, dass das richtige Verständnis durch die Figuren selten wirklich handlungsrelevant ist (vgl. Speckenbach, Traum, S. 434). Eine eindeutige Auflösbarkeit auf Ebene der TextrezipientInnen bedeutet die Verwendung einer konventionalisierten Symbolik selbstverständlich dennoch nicht. Während für die TextrezipientInnen das Ereignis, auf das sich ein literarischer Traum bezieht, meist recht deutlich hervortrete, bleibe die Wertung doch häufig im Dunkeln, da viele der Bedeutungsträger mehrere und zum Teil auch konträre Zusammenhänge symbolisieren können (vgl. hier S. 434). Als ein Beispiel führt er Traum-Drachen an, die sowohl bedrohlich, destruktiv, teuflisch, als auch heldenhaft und christusgleich in ihrer Bedeutung sein können (vgl. hier S. 434f.). Über die schwierigere oder einfachere Deutung realer oder literarischer Träume äußert Schönau sich wie folgt: „Einerseits ist also beim erdichteten Traum die Deutungssituation tatsächlich viel komplizierter als beim wirklichen, weil der eigentliche ,Produzent‘ des Traumes der Autor ist und weil der Leser eine ,Fremddeutung‘ des Traumes vornimmt. Andererseits ist die Deutung auch wieder einfacher, weil ein intentionales Gebilde, ein Element der gesamten virtuellen Textintention interpretiert wird, dessen Sinnhaftigkeit a priori vorausgesetzt werden kann. Der artifizielle Traum ist insofern auch leichter deutbar als der reale, weil ersterer meistens Teil eines größeren Sinnganzen (des Kunstwerkes ist), auf den sich die Interpretation des einzelnen Traums beziehen kann und soll, während der Traum in der Wirklichkeit dieser Einbettung in einen sinnvoll konstruierten ästhetischen Kontext entbehrt“ (Schönau, Träume, S. 62). 415 Das betrifft sowohl die Ansätze Freud’scher als auch Jung’scher Prägung. Die Symbollehre, die Jung für die Traumanalyse entwickelt, ist offenbar „differentierter[] und reichhaltiger[]“ als die Freuds und hat demnach in der Literaturdeutung mehr Anklang gefunden (vgl. Schö‑ nau, Träume, S. 56, dort auch das Zitat). 416 Vgl. Huber, Traum, hier Sp. 207.

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ten Wünsche und Ängste,417 so gründen die Träume in den deutschsprachigen418 mittelalterlichen Texten, wie die umfangreiche Forschung419 zu dem textsortenübergreifend auftretenden Phänomen420 herausgearbeitet hat, vor allem auf den erläuterten transsphärischen Vorstellungen.421 Träume stellen insofern auf Textebene für gewöhnlich die Vermittlung zwischen Diesseits und Jenseits, die „Realisation des Zukünftigen und die Materialisierung des Immateriellen“422 dar.

417 Vgl. Schmidt-Hamnisa, Traum, S. 678. Selbstverständlich wandelt sich durch die Rezep­ tion psychoanalytischer Ansätze auch der bereits im neunzehnten Jahrhundert auf literarische Traumdarstellungen gerichtete Blick literaturwissenschaftlicher Forschung (vgl. hier S. 678f.). 418 In der romanischen Literatur gestaltet Guillaumes de Lorris Roman de la Rose in auffälligem Umfang allegorische Träume (vgl. Classen, Traum, S. 12). 419 Die Inkorporation von Traumerzählungen in mittelalterliche Erzähltexte hat zahlreiche Fallstudien mit unterschiedlichen Zugängen inspiriert und ist erst jüngst zum wiederholten Male Thema einer Dissertation geworden: van Well, Erzählweise, mit Ausführungen zum Alexanderroman des Pfaffen Lamprecht, dem König Rother, dem Orendel, dem Rolandslied, zum Nibelungen­lied, zur Rabenschlacht, zum Wolfdietrich D, zum Parzival und zum Iwein und einem Fokus auf die Erzählweise von Träumen als Literarisierung zeitgenössischer Traumvorstellungen. Prominent sind die Träume im Nibelungenlied, im Parzival, im Helmbrecht oder im Tristan; für die Vielzahl der eingearbeiteten Traumerzählungen bekannt sind die spätmittelalterlichen/frühneuzeitlichen Texte Alexander (Hartliebs) (vgl. dazu Bachorski, Briefe, Träume, Zeichen, S. 378f.) und der Prosalancelot (vgl. dazu Speckenbach, Klaus: Die Galahot-Träume im Prosa-Lancelot und ihre Rolle bei der Zyklus-Bildung. In: Wolfram-Studien 9 [1986], S. 119–133; Klinger, Judith: Die Poetik der Träume. Zum Erzählen von und mit Traum-Bildern im ,ProsaLancelot‘. In: Lancelot: Der mittelhochdeutsche Roman im europäischen Kontext. Hrsg. von Klaus Ridder/Christoph Huber, Tübingen 2007, S. 211–234). Einen die jeweiligen Zugänge der Forschung systematisierenden Forschungsüberblick gibt van Well, Erzählweise, S. 23–37. Mit Visionsberichten sowie literarischen Werken, die in Visions- und Traumform verfasst sind, beschäftigt sich hingegen Dinzelbacher, Vision; vgl. dort auf den S. 25–28 die Auflistung der als Vision verfassten Werke sowie der erlebten Visionen auf den S. 13–23. 420 Nicht nur in Textgattungen, die aus Traumberichten, Traumdeutungen und der Schilderung anderer Visionserlebnisse bestehen, sondern auch in fast allen anderen Textsorten spielen Träume – nicht ausschließlich, aber vor allem in Verbindung mit Jenseitsreisen (vgl. SchmidtHamnisa, Traum, S. 677) – eine bedeutende Rolle (vgl. Schmidt, Vision, S. 785; van Well, Erzählweise, S. 16; Wehrle, Dreams, S. 339–342). Literarische Träume machen sogar die Mehrzahl der aus dem Mittelalter überhaupt überlieferten Träume aus. ,Wirklich‘ geträumte Träume hingegen wurden offenbar kaum aufgezeichnet. Selbst die als authentisch ausgegebenen Träume von Heinrich I. von England (um 1130), sind höchstwahrscheinlich erfunden oder zumindest stilisiert, haben sie doch eine klar erkennbare politische Absicht (vgl. Speckenbach, Kontexte, S. 311f.). 421 Vgl. Huber, Traum, Sp. 206f. 422 Classen, Traum, S. 13. Im selben Absatz verweist er nochmals darauf, dass in dieser literarischen Tradition die Traumbilder als entschlüssel- und deutbare Mitteilungen der Transzendenz

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Sie dienen der Vorausdeutung und der Motivation von Handlungssträngen423 oder aber der Darstellung der Begnadigung und Auserwähltheit der Figur.424 Es handelt sich um transsphärisch agierende mediale Formen,425 die von außen auf die Figur einwirken, anstatt ihr selbst zu entspringen,426 und deren Bedeutsamkeit vorausgesetzt werden darf.427 Auf die Traditionen, die für das Verständnis der in mittelalterlichen Texten verwendeten Symbolik wichtig sind und an die die konkrete Traumerzählung jeweils anschließen könnte, macht Speckenbach aufmerksam. Wer die Traumallegorie mittelalterlicher Dichtungen aufdecken will, muß […] einerseits den Traum als bildhafte Rede im Strukturgeflecht anderer literarischer Mittel wie z. B. Vordeutung, metaphorische Anspielung oder Parallelität von Handlungen interpretieren, andererseits muß er sich Klarheit verschaffen, welche Deutungsintentionen der jeweiligen Traumsprache zugrunde liegen könnten, ob etwa Allegorese, Wappensymbolik, eine bestimmte

zu verstehen sind (vgl. hier S. 13 mit Verweis auf Vetere, Benedetto: I sogni nel medioevo. In: Mediävistik 1 [1988], S. 185–192, S. 187f.). 423 Vgl. Schmidt-Hamnisa, Traum, S. 676. Diese Aussage bezieht sich auf die mittelalterliche Epik. Laut Schönau handelt es sich beim prophetischen Traum vor dem Erfolgszug der psychoanalytischen Traumdeutung um den beliebtesten literarischen Traumtyp (vgl. Schönau, Träume, S. 44). Ebenso hält Speckenbach fest, dass mittelalterliche Dichter vor allem vom prophetischen Charakter von Träumen Gebrauch machen (vgl. Speckenbach, Traum, S. 422). Aus dem Inventar literarischer Träume in moderner Literatur sind prophetische Träume hingegen, „zugunsten seiner Eignung als Aussage über unbewußte Motivationen und Konflikte des Träumers zurückgetreten“ (Schönau, Träume, S. 45). 424 Vgl. Haubrichs, Offenbarung, S.  256. Diese Aussage bezieht sich auf Legenden, bei Haubrichs eine nichtfiktionale Textsorte. 425 So stellt bereits Schmitz in seiner auf eine Entwicklungslinie hinarbeitenden knappen Auseinandersetzung mit literarischen Träumen und Visionen vom neunten bis zum dreizehnten Jahrhundert fest, dass es sich bei beiden Kulturen, die sich von jenseitigen Mächten bestimmt glauben, um Äußerungsformen der Transzendenz handelt: „[S]ie führen beide in das Grenzgebiet zwischen dem Irdisch-Rationalen und dem Überirdisch-Irrationalen, sie stellen beide Verbindungsmittel dar zwischen Welt- und Außer- (bzw. Über-)welt, zwischen Mensch und jenseitiger Macht. Es handelt sich bei beiden um ein Hereintragen transzendenter Wirklichkeit ins Irdische, um ein Wirksamwerden überirdischer Entschlüsse im menschlichen Bereich“ (Schmitz, Willhelm: Traum und Vision in der erzählenden Dichtung des deutschen Mittelalters, Münster 1934, S. 1). 426 Schmitz liest die literarischen Träume der höfischen Dichtung bereits als psychisch-illusionistisch (vgl. hier S. 8); ein solches Verständnis von Träumen scheint jedoch sehr zeitgenössische Vorstellungen auf mittelalterliches literarisches Personal zu übertragen. 427 Vgl. Schönau, Träume, S.  62. „Die Träume in profanen Dichtungen gelten durchweg als wahr, eine Sicherung ihrer Legitimation wird nicht für nötig gehalten“, formuliert Speckenbach gerade im Kontrast zu der Notwendigkeit, in geistlicher Literatur göttliche von teuflischen Traumbotschaften zu unterscheiden (vgl. Speckenbach, Traum, S. 435f.).

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literarische Tradition oder auch Traumbücher die Bildsprache des Traumes bestimmen. In diesem Zusammenhang erweist sich der moderne psychoanalytische Zugriff als ungeeignet, weil dabei der fiktive Charakter des literarischen Traums und die ihm eigenen Deutungsvorgaben unbeachtet bleiben.428

Die Deutung des Nebukadnezar-Traumes dürfte den (mittelalterlichen) TextrezipientInnen bekannt sein. Der intradiegetische Traumempfänger jedoch muss, um an den Inhalt des Traumes zu gelangen und – wenn überhaupt möglich – davon zu profitieren, wie bereits angeklungen ist, einigen Aufwand betreiben. Dem Träumenden nutzt sein momenthafter Kontakt zur Transzendenz im Schlaf zunächst gar nichts. Allein die geschaute Bilderfolge bedürfte Interpretationen der Bildkomponenten (s. u.), doch erinnert Nebukadnezar sich nicht einmal an die Bilder, die ihn so erschreckt und angeregt haben, sodass er keine Möglichkeit hat, sich deren Gehalt auch nur anzunähern. Das mag damit zusammenhängen, dass die Figur Gott nicht besonders nahesteht.429 Entwickeln die Bibeltexte ein ambivalentes Bild des Nebukadnezar,430 so

428 Speckenbach, Traum, hier S. 421. 429 Es ist, wie Benz feststellt, bereits in der biblischen Tradition keine Seltenheit, dass die Träumenden Gott fern stehen (vgl. Benz, Vision, S. 106). Die damit verbundene Aussage sei die Hie­rar­chisierung von Traumbild und direkter Offenbarung (bspw. im Prophetenwort); letztere sei für jene Gott nahestehenden Menschen reserviert, während über Träume auch mit gottesferneren Menschen kommuniziert werde (vgl. hier S. 106f.). Die Offenbarungen gegenüber solchen Figuren zeigen die Reaktion auf transsphärische Erfahrungen durch Personen, die den Kontakt nicht erwarten, da sie nicht bereits vertraut sind mit den Kommunikationsweisen der Transzendenz. Meist wird an ihnen Unverständnis, die Unfähigkeit, mit symbolischer Kommunikationsweise umzugehen, exemplifiziert (vgl. hier S. 106). Schlagendes Beispiel ist 1. Mos. 37,5–10. „Der unqualifizierte Träumer – so Richard von St. Viktor – fällt wie Nebukadnezar (Dan. 2, 1ff.) in Furcht und Schrecken durch den excessus mentis, der Eingeweihte, der Priester zumal, erfaßt die Bedeutung der Gesichte“ (Haubrichs, Offenbarung, S. 249; er beruft sich dabei auf De eruditione interioris hominis, c 2, PL 196, Sp. 1233). 430 Nebukadnezar gilt als wichtigster nicht-israelitischer Herrscher des Alten Testaments. Das Leben und Wirken des babylonischen Königs (605–562 v.  Chr.) wird in einer Vielzahl alttestamentarischer Texte erwähnt und erfährt sowohl positive als auch negative Deutungen. Als gottgewollten Anfangs- und Höhepunkt der die vier Weltreiche anführenden Herrscher zeichnet ihn Dan 2,4 (vgl. auch für eine Aufführung weiterer relevanter Bibelstellen Stipp, Hermann-Josef: Nebukadnezar. In: Lexikon für Theologie und Kirche, Lexikon für Theologie und Kirche. begründet von Michael Buchberger Bd. 7 Maximilian–Pazzi, 3. völlig neu bearb. Aufl., Freiburg i. Br. 2006, Sp. 719–720, hier Sp. 719). Daneben findet sich in Jdt 2 auch eine deutlich negativere Stilisierung. Dort „erscheint N., legendarisch z. Haupt einer nachexil. assyr. Weltmacht verwandelt, als übergesch. Repräsentant eines gottwidrigen, gewalttätig-vermessenen Heidentums“ (vgl. hier Sp. 720). Vorherrschend im Mittelalter sei, so Achnitz, ein negatives Bild Nebukadnezars (vgl. Achnitz, Babylon und Jerusalem, S. 253).

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findet der Apollonius deutlich abwertende Worte: Er trayb gewalt mit hochvartt (AvT, V. 13), sodass Gott seiner später überdrüssig wird und ihn fallen lässt (vgl. AvT, V.  16–18), gibt die Erzählinstanz zu verstehen. Wenn Nebukadnezar seine Eindrücke nicht in Worte überführen und ausdeuten kann, so wird damit die Gefahr einer Verfälschung durch den uninspirierten Empfänger umgangen. Umso mehr stellt sich die Frage, warum die Transzendenz sich gerade diesem Empfänger geradezu aufdrängt. In seiner Reaktion erweist sich Nebukadnezar als Traumempfänger zumindest als geeignet. Er lässt sich von dem Traum affizieren, schreibt ihm Bedeutung zu, verlangt seinen Inhalt und seine Bedeutung zu wissen431 und verfügt über Macht und Mittel, um die weiteren notwendigen Bemühungen anzustellen.432 Wie in der biblischen Vorlage433 ist ein ganz besonderer Traumdeuter – in der mittelhochdeutschen weltlichen Literatur eher eine Seltenheit434 – notwendig, um nicht nur die Bedeutung, sondern zunächst auch den Inhalt des Traumes zu erschließen. Die mediale Form bringt zwar den Emp-

431 Konrads von Würzburg Engelhard schildert anhand Dietrich den Fall, dass die Traumbotschaft als Versuchung abgetan und ignoriert wird (vgl. Konrad von Würzburg: Engelhard. Nach dem Text von Ingo Reiffenstein ins Neuhochdeutsche übertragen, mit einem Stellenkommentar und einem Nachwort von Klaus Jörg Schmitz. Hrsg. von Klaus Jörg Schmitz, Göppingen 1989 [Göppinger Arbeiten zur Germanistik 501], V. 5434–5548). 432 In diesem komplizierten transsphärischen Kommunikationsprozess steckt trotz Ausschluss einer Fehlinterpretation durch den Träumer oder dessen Berater Potenzial, dass die Mitteilung ins Leere läuft; somit funktioniert der Prozess nicht ohne jegliche Aktivität Nebukadnezars. Während die Reaktion Nebukadnezars zwar angesichts der Traumbilder nachvollziehbar ist, so scheint die verfolgte Handlungsweise und das Bemühen nicht zwingend. Die Transzendenz stellt es dem Empfänger frei, sich um die Botschaft zu bemühen oder diese verloren zu geben. Obwohl also die Initiative von der göttlichen Sphäre ausgeht, indem sie den Traum der Figur aufdrängt, überlässt sie den Umgang mit dem Erlebnis dem Empfänger, gewährt schließlich nur Zugriff, wenn dieser sich interessiert an transzendentem ,Wissen‘ zeigt, der Kontaktinitiative nachgeht und keine Mühe scheut, die Informationen präsent und nutzbar zu machen. Dazu gehört es in diesem Fall, sich eines mit spezifischem Vorwissen ausgestatteten und in anderweitigem Kontakt mit der Transzendenz stehenden Deuters zu bedienen. 433 Solche Traumdeutungen kommen nur im Alten Testament vor. Im Neuen Testament fallen die Träume nicht mehr bildlich ambivalent und damit deutungsbedürftig aus, sondern sind verständlich und enthalten eindeutige Weisungen (vgl. Benz, Vision, S. 109). 434 „Im Unterschied zur alttestamentlichen und antiken Tradition hat dieser [der Traumdeuter] in den literarischen Werken des Mittelalters eine untergeordnete Funktion. Oftmals bleiben Träume – wie im ,Tristan‘ – ungedeutet, oder sie werden wie im ,Helmbrecht‘ und im ,Nibe­ lungenlied‘ vom Träumer selbst oder von einem nahen Verwandten ausgelegt. Manchmal bietet auch die Erzählinstanz einen Traumkommentar, wie das ,Nibelungenlied‘ ebenfalls belegt. Auf jeden Fall ist in der deutschen Literatur die systematische und handlungsbestimmende Suche nach der Bedeutung von Träumen durch berufsmäßige, meist geistliche Traumdeuter wie im ,Prosa-Lancelot‘ die absolute Ausnahme“ (Speckenbach, Kontexte, S. 312f.).

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fänger über Bilder in Kontakt mit transzendenten Botschaften und regt diesen an, es ist aber eine weitere, transzendental auserwählte Vermittlungsinstanz nötig, die mit den Traumbildern richtig umzugehen, sie angemessen zu interpretieren weiß.435 So ist es auch nicht einer der zunächst befragten Traumdeuter, der die nötigen Kompetenzen aufweist, den Traum zu bedeuten, sondern der Gott nahestehende, direkt von jenem unterrichtete Daniel. Sowohl die biblischen Passagen, die von gottgesandten Traumbotschaften436 (oder ihrem Ausbleiben),437 von kompetenter Deutung438 (oder Unverständnis)439 sprechen, als auch die antiken Traumtheorien propagieren, dass das Verständnis göttlicher Traumbotschaften nur besonderen Menschen zuteil werde.440 So ließe sich behaupten, die Sendung der sofort wieder gelöschten Traumbilder an Nebukadnezar sei nur das auf das Verlangen nach transzendentem Traumwissen bauende Mittel der Kontaktinitiation zwischen dem tyrannischen Herrscher des Weltreichs und dem göttlich inspirierten jüdischen Gefangenen. Jener Deuter nun bezieht sein Wissen über das Geschaute über eine weitere Mittlerinstanz, die den Unterschied zwischen dem Gottesfernen und Gottesnahen

435 Ob Nebukadnezar die Traumbilder zu interpretieren vermocht hätte, thematisiert die Erzählung nicht, die Transzendenz scheint durch das schlagartige Entziehen der Bilder jedoch sicherzugehen, dass eine geschulte bzw. inspirierte Person, die die richtige Aufnahme der ersten medialen Form sicherzustellen vermag, die Rolle der zwischengeschalteten Vermittlungsinstanz einnimmt. Auch hier muss Daniel zunächst den Traum selbst finden, den Nebukadnezar vergessen hat (vgl. Dan 2,1–3, 19–35). Auch in Hiob 20,8 wird von der Flüchtigkeit der Traumerlebnisse gesprochen, die dem Träumenden selbst im Wachzustand nicht mehr präsent sind. 436 Vgl. 1. Mos. 28, 10–19; 1. Mos. 20, 1–7; 1. Mos. 31,10–13; 1. Mos. 37,5–10; 1. Mos. 40,8–11, 16f.; 1. Mos. 41, 1–7; 1. Mos. 46, 1–4; 4. Mose 12, 6–16; 1. Kön 3,2–15; Dan 2; Dan 4,1–14; Dan 7,1–15; Mt 1,20–25; Mt 2,12–13; Apg 16,9–10; Apg 18,9–10; Apg 23, 11; Apg 27,23–25; Mt 2,12–13. 437 Vgl. 1. Sam. 28,6–16. 438 Vgl. 1. Mos. 40, 12–15, 18f.; 1. Mos. 41, 25–36; Dan 2,36–45; Dan 4, 15–24; Dan 7,16–27. 439  1. Mos. 37,5–10. 440 Vgl. Haubrichs, Offenbarung, S. 248 mit Bezug auf: Dulaey, Martine: Le rêve dans la vie et la pensée de Saint Augustin, Paris 1973, S. 22. Er verweist auch auf Prudentius, der davon spricht, dass die Träume durch die jeweilige Lebensführung verdient würden (vgl. hier S. 248). Zumindest die Fähigkeit der richtigen Traumdeutung sei auf einen göttlichen Ausweis und damit auch auf exorbitante religiöse Vorbildlichkeit zurückzuführen (vgl. hier S. 249). Auch Benz führt neben der biblischen Skepsis gegenüber Traumvisionen biblische Beispiele dafür an, dass die richtige Deutungsgabe als eine besondere, gottgegebene Qualifikation verstanden wird (vgl. Benz, Vision, S. 104–111). Die Bewertung und Wertschätzung einer richtigen Traumdeutung kann wie im Falle Ruperts von Deutz auf einer Stufe mit der Exegese der heiligen Texte gestellt werden; in diesem Falle wird gerade allegorischen Träumen ein revelatorisches, jedoch erst richtig zu entschlüsselndes Potenzial zugeschrieben (vgl. Haubrichs, Offenbarung, S. 249; er bezieht sich dabei auf In Num. comm., PL 167, Sp. 871).

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nochmals akzentuiert. Die Bedeutung, die Daniel Nebukadnezar mitteilt, entwickelt er auf Grundlage der narrativierten göttlichen Traumbilder durch einen Engel. Daniel erblickt nicht eines Nachts dieselben Bilder wie Nebukadnezar, sondern erhält das Geschaute eingeflüstert (vgl. AvT, V. 64f.). Der Apollonius ist diesbezüglich spezifischer als der Bibeltext, der allgemein von einer Enthüllung per visionem441 berichtet. Berücksichtigt man die zeitgenössische Diskussion um die Hierarchie unterschiedlicher Visionserlebnisse/Traum­formen, dann schließt Heinrich in der kurzen Erwähnung der Mitteilung über den Erzengel Gabriel an die Lehrmeinung an, Gott näherstehende Personen würden theorematisch durch Mittler unterrichtet, während die ihm fern Stehenden rätselhafte, noch zu entschlüsselnde und in diesem Falle sich auch wieder entziehende Bilder heimsuchten.442 Wie genau die medialen Prozesse bei Daniel ablaufen, erzählt aber der Apollonius ebenso wenig wie der Bibeltext.443 So bleibt offen, ob hier die göttliche Inspiration zur Deutung führt oder aber eine Vertrautheit mit der Offenbarungsweise der Transzendenz (s. u.). Ebenso wenig gibt er Auskunft darüber, wie Daniel überhaupt gegenüber Nebukadnezar die Traumbilder narrativiert. Die Präsentation des Trauminhalts ist gegenüber der biblischen Geschichte444 vorgezogen auf den Moment des Träumens anstatt im Moment der Auslegung erzählt zu werden. Gänzlich weggelassen wird die Ausdeutung Daniels. Seine Deutungsleistung

441 Vgl. Dan 2,19; s.  auch die kurze Erwähnung im Kapitel zu transzendenten Botenfiguren (s. Kap. 6.2.2, Anm. 6/223). 442 Die Erkenntnisleistung der visio werde in der mittelalterlichen Theorie als der des somnium überlegen eingestuft (vgl. Haubrichs, Offenbarung, S. 244; vgl. auch van Well, Erzählweise, S. 18), wobei sie in der Bibel als gleichwertige Phänomene betrachtet würden (vgl. Benz, Vision, S. 104). Die Mitteilung über Bilder wird zum Teil als Zugeständnis Gottes gegenüber der beschränkten Auffassungsgabe, Einsicht und Robustheit des Menschen verstanden, sodass Bilder als „das Instrument der Mitteilung“, „das Alphabet, mit dem die göttliche Wirklichkeit für den Menschen zu buchstabieren ist“, gelten (Haubrichs, Offenbarung, S. 248 mit Verweis auf Benz, Vision, S. 311ff. [sic]). S. auch Anm. 6/411. 443 Da der Text nicht zeigt, was der Engel Daniel zur Verfügung stellt, macht er nicht deutlich, ob die Vision des Daniel eine theorematische, oder aber eine narrativierte Version der allegoretischen Traumbilder ist. So bleibt offen, ob die Deutung Daniel selbst vornimmt, oder er nur derjenige ist, der sie in menschliche Worte für den den göttlichen Worten verschlossenen Nebukadnezar wiederholt. Daher kann der Engelerwähnung nicht allzu viel Gewicht für eine diesbezügliche Positionierung des Textes zugeschrieben werden. 444 Vgl. Dan 2,1 (Bericht von Traum und dem Entziehen der Traumbilder); 2,31–35 (Bericht des Trauminhalts durch Daniel). Dasselbe gilt gegenüber Rudolfs Alexander (vgl. Alexander, V. 15394–15397, wo von dem Traum und dem Traumverlust erzählt wird, sowie V. 15497–155014, wo in Daniels Erzählung der Trauminhalt folgt).

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findet lediglich kurz Erwähnung (vgl. AvT, V. 63) – gerade genug, um das Bibelwissen der RezipientInnen zu aktivieren.445 Dennoch bleiben die präsentierten Bilder nicht unkommentiert, denn [w] as diese geschicht pedewtet nw,/Das will ich [die Erzählinstanz] euch [der Zuhörerschaft] pekennen lan (AvT, V.  66f.), folgt der lakonischen Erwähnung der Daniel’schen Auslegung. Die Erzählinstanz übernimmt gegenüber der Rezipientenschaft in zweifacher Hinsicht die den zwischengeschalteten Vermittlungsinstanzen – in der Bibelgeschichte Daniel, im Apollonius zusätzlich dem Engel  – zukommende Funktion: Sie erzählt, vermittelt und deutet den Trauminhalt für ihren Empfänger, das Publikum des Textes. Die biblische Vermittlungsinstanz tritt zurück und überlässt der vermittelnden Instanz des Erzähltextes ihre Kompetenzen. So wird der mediale Prozess zwischen Transzendenz und Immanenz im Apollonius durch das Auftreten der Erzählinstanz und einer vorausgesetzten Rezipientenschaft des Textes verkompliziert. Der biblische Traum erhält hier nun eine auf die nachfolgende Erzählung zugeschnittene, konkrete Ausdeutung durch die über die Erzählung verfügende Instanz. Die Interpretation weicht von der Bibeldeutung ab und wählt, wie auch die des Alexander und der in Rûmzlants Sprüchen einen etwas anderen Fokus. In allen drei Texten werden die Veränderungen der im Traum geschauten Statue nicht auf die vier Weltreiche hin gedeutet,446 sondern (im Alexander auch, im Apollonius und in den Sprüchen Rûmzlants ausschließlich) als Bild für den Tugendverfall der Menschheit bzw. des einzelnen Menschen gelesen.447 In diesem Fall nimmt sich das wie folgt aus:

445 Ebenso unerwähnt bleiben die Folgen, die der Traumempfänger schließlich aus der Botschaft zieht und die in der Bibel ausgeführt werden (vgl. Dan 2, 46–49). 446 Die Deutung des Daniel (vgl. Dan 2,37–45) beruht auf der Hieronymus-Exegese und ist Ausgangspunkt des Translatio Imperii-Konzepts (vgl. Schneider, Chiffren, S.61). Diese Deutung dominiert auch das Verständnis der Erzählung im Mittelalter, neben der die ebenso prominente Deutung auf die den sechs Lebensphasen des Menschen entsprechenden Weltzeitaltern steht (vgl. Achnitz, Babylon und Jerusalem, S. 254). 447 Die hier hinzugezogenen Vergleichstexte nehmen die Deutung, die im Bibeltext präsentiert wird, unterschiedlich auf. Der Alexander übernimmt zunächst die biblische Weltreiche­deutung (vgl. Alexander, V.  15526–15590), unterfüttert diese jedoch mit ergänzenden, erläuternden Kommentaren (vgl. Alexander V.  15549–15554, 15585–15590) und überführt das Verfallsmodell schließlich in eine Zeitklage (vgl. Alexander, V. 15605–15628). Wizlavs zweiter Spruch übergeht die biblische Auslegung und begibt sich sogleich in Ausführung über den diachron verlaufenden, fortschreitenden Werteverfall (vgl. WNT, V. 16–30); ebenso verfährt – mit anderer Standortbestimmung – die anonyme Kurzdichtung (vgl. ANT, V. 8f.). Rûmzlant verzichtet auch auf die Deutung aus dem Danielbuch und präsentiert anstelle eine Ausdeutung, die der des Apollonius nahesteht, indem sie vom Tugendabfall des Einzelnen berichtet (vgl. RNT, V. 11–20; s. dazu auch Speckenbach, Kontexte, S. 304). Ganz unterschlagen wird die Auslegung Daniels im Apollonius

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Auff der sewle der gulden man Das ist die pluende jugentt. Wan die wechsett in grosser tugent, So wirt ir wol zu lone Ein guldin kron. Ist aber das sie sinckett Und an den tugenden hinckett, So wirt silber schir ir gold, Darnach kupfer wirt ir sold, So wirt es denne waiches pley. ....... [sic] Dem sust zu poßhait ist so gach, Und er der alles volgett nach, Der mag wol schier werden Zu ainer ploden erden. So sein nicht mer will leyden Gott, So kompt schier sein gepott, Das zerstörett und zerprichett: Allsust den zoren er richett. (AvT, V. 68–86)

Nw ist der trawm peschaiden (AvT, V. 87), schließt die Erzählinstanz diese Ausführungen. Die Deutung löst in ihrem Sprachgestus die Traumbilder von ihrer Relevanz für den konkreten Traumempfänger Nebukadnezar, indem nur allgemeine Formulierungen (vgl. AvT, V.  69, 71, 75f., 79) verwendet werden, die das in der Statue Dargestellte auf einen exemplarischen, abstrakt bleibenden Menschen mit zunehmender moralischer Degeneration projiziert. Die Interpretationsweise der Bilder bleibt dieselbe wie in der biblischen Deutung: Die einzelnen Körperteile der Statue repräsentieren sukzessive aufeinander folgende Stadien entweder der Welt- oder eben der Lebensgeschichte eines Menschen, bei denen der Wert der jeweiligen Materialien auf einen moralischen Status verweist. In diesem Falle wird das Bild der sich im Zeitverlauf ändernden Statue unter Herstellung eines Äquivalenzverhältnisses zwischen bildlich-sichtbarer materieller und dadurch metaphorisierter unsichtbarer moralischer Wertigkeit als Darstellung der wandelbaren moralischen Konstitution eines Menschen aufgefasst. Gold als das edelste der Materialen macht den Kopf der Statue und ihre Krone aus448 und verweist in

nicht. Wenn auf seinen Deutungsprozess verwiesen wird (vgl. AvT, V. 63), ist davon auszugehen, dass ein christlich gebildetes Publikum den Inhalt dieser Deutung kennt. Sie wird allerdings nicht paraphrasiert oder umschrieben. 448 Vor dem Hintergrund dieser Deutung scheint die den Säulen für Apollonius unterstellte Bedeutung der verwendeten Materialen (vgl. Kap. 5.3.3) besonders zwingend. Wenn der Text bereits in seinem Eingang durch die Erzählinstanz darauf hinweist, dass Gold als edelstes Material für

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der biblischen Deutung auf das größte und mächtigste babylonische Weltreich, im Apollonius auf die unbescholtene Jugend des Menschen, die gekrönt wird von der grosse[][n] tugent (AvT, V. 70), in der der Mensch heranwächst. Mit vergehender Zeit wandelt sich die Reinheit/Edelkeit der Materialien so wie die der herrschenden Reiche (in biblischer Auslegung) und die der menschlichen Tugend. Aussagekräftig ist dieser Materialwandel gerade in der im Apollonius präsentierten Deutung nicht nur ob der monetären und ästhetischen Wertigkeit von Gold, Silber, Kupfer, Blei449 und Erde, sondern auch aufgrund der ebenso stufenartig abnehmenden Festigkeit, die sich ebenso sowohl auf die Stärke eines Reiches als auch auf die idealistische Stetigkeit des tugendhaften Menschen beziehen lässt.450 Die auf Äquivalenz von materiellem und ideellem Wert beruhende Deutung des Bildes verlangt dem Interpreten kein spezifisches Vorwissen ab.451 Für die Deutung der Zerstörung der Statue, muss jedoch ein (christlich) religiöser – im Falle der Daniel’schen Deutung ein explizit heilsgeschichtlicher – Wissenshorizont hinzutreten. Insofern ist der Personenkreis, der die Bilder zum Sprechen bringen kann, durch Vorwissen begrenzt. Für solche Figuren wie den einflussreichen und gottesfernen Herrscher Nebukadnezar, in dessen Macht es steht, Gebote umzusetzen, ist für die Rezeption der Bedeutung ein zweiter, narrativer Vermittlungsschritt durch eine mit der bildlichen Sprache Gottes vertraute und in der Ausdeutung einzelner Bestandteile versierte Instanz notwendig. Sowohl Daniel als auch die Erzählinstanz gehören dem elitären Kreis derer an, die die göttliche Botschaft verstehen. Am Ende der an der Statue ablesbaren (unabwendbaren?)452

die moralische Reinheit des Menschen steht, dann lässt sich die Vergoldung eines auf Dauerhaftigkeit angelegten Abbildes einer Person als Versuch, die tugendhaftige Stetigkeit der abgebildeten Person zur Abbildung zu bringen, interpretieren. 449 Blei, ein Material, das in seiner Festigkeit zwischen den unedleren Metallen und Erde liegt und daher gut in das Bild der fortschreitenden Degeneration passt, wird nur von Heinrich von Neustadt verwendet (neben dem zitierten Vers bereits zuvor in V. 33). Die anderen Texte sprechen von îsen (ANT, V. 6), êrin, hertem stâle und îsnîn (RNT, V. 5f.; so ähnlich auch WNT, V. 8–12). In der Bibel wird außerdem Ton genannt (vgl. Dan 2,33). 450 Vgl. auch Erläuterung der Deutung bei Schneider, Chiffren, S. 63. 451 Wie bereits in Kap. 5.3.3 erwähnt, funktioniert diese Deutung so lange intuitiv, wie bestimmte Materialien als mehr oder weniger kostbar gelten oder ihre ästhetischen Werte oder in diesem Falle auch ihre Festigkeit eindeutig hierarchisiert werden können. 452 In ihrer Unkonkretheit entbehrt die Offenbarung konkreter Ratschläge, was gegen diese Entwicklung und die fatalen Folgen zu tun ist. Außerdem scheint in der biblischen Erzählung fragwürdig, ob auf die offenbarten Entwicklungen überhaupt aus der Immanenz Einfluss zu nehmen ist. Nebukadnezar zeigt sich jedoch von dem Traumerlebnis gewandelt: Im biblischen Text, wendet sich Nebukadnezar Gott zu, lobt die Möglichkeit dieses Gottes, seine Geheimnisse zu offenbaren (!) und beschenkt Daniel, welcher nun am Hofe des Königs lebt, reichlich (vgl. Dan

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Entwicklung steht die göttliche Auslöschung. Die Deutung des Apollonius projiziert dieses Ende auf den einzelnen Menschen am Tiefpunkt seiner Tugendhaftigkeit. Es geht dem Apollonius nicht darum, die Geschichte der Bibel wiederzugeben, sondern das Bild, das der biblische Traum entwickelt und das sich als mediale Formatierung einer höheren Wahrheit entpuppt, als moralische Lektion am Texteingang zu nutzen. So rechtfertigt auch die Erzählinstanz vor dem Pu­blikum (vgl. AvT, V. 88f.) die vorangestellte kurze Nacherzählung mit der hohe[n] gloß (AvT, V.  90), die dieses zwispiel (AvT, V.  89) für alle Gotteskinder, die nw und furpaß lebentig sint (AvT, V. 92) habe, also mit der die historische Situation überschreitenden Bedeutsamkeit der Geschichte. In dieser exponierten Stellung am Anfang des Textes hat die Warnung vor dem unweigerlichen Ende des Sittenverfalls als Mahnung zunächst eine Funktion als allgemeine Sentenz, die ein bestimmtes christliches Welt- und Transzendenzverständnis als Grundlage der Erzählung festschreibt.453 In der Erzählung herrscht – so wird dadurch mitgeteilt – eine transzendente Instanz, die ausführlich über das objektiv bestimmbare Moral- und Sündenkonto des einzelnen Menschen unterrichtet ist.454 Die autoritäre Instanz toleriert moralisch verwerfliches Verhalten nur bis zu einem gewissen Grade und ist gewillt und befähigt, diesem ,blitzschnell‘ – im wörtlichen Sinne – ein Ende zu machen.455 Darüber hinaus fungiert die Erzählung in ihrer Anfangsposition als Vorwort für die folgende Inzestgeschichte, die das beschriebene Verhältnis von immanenter und transzendenter Sphäre unterstreicht. Die vorgebrachte Deutung gelte – so erklärt die Erzählinstanz – auch auff ainen man/Von dem ich muet zu sagen han: (AvT, V. 93f.) – gemeint ist Antiochius, auf den die Erzählung sich anschließend

2, 46–49). In der Deutung im Apollonius erscheint ein Bemühen um das Andauern des goldenen Status’ bzw. um die moralische Integrität möglich. 453 Ob die hier propagierte Eindeutigkeit der moralischen Bewertung und die transzendente Handlungsweise, die sehr bedrohlich dargestellt wird, im weiteren Textverlauf (abgesehen von der Antiochius-Episode) auch eingelöst und konsequent und ungebrochen weitergeführt wird, sei dahingestellt. 454 Zugespitzt ließe sich behaupten, der Blick auf die Materialitäten der Säule entspreche dem visuellen Eindruck der Transzendenz beim Blick auf einen Menschen, das Bild sei somit eine Überführung transzendenter Wahrnehmung immaterieller Wahrheit in materielle Entsprechungen. 455 Dass gerade ein Objekt, das Menschen erschaffen haben, um Flüchtigem Dauerhaftigkeit zu verleihen – ein Vorgehen, das der Apollonius selbst thematisiert (vgl. Kap.  5.3.3) – von der göttlichen Gewalt zerschmettert wird, unterstreicht die alle menschliche Gewalt übersteigenden Befugnisse der Transzendenz.

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fokussiert. Die eigene, von der Bibelerzählung abweichende Deutung ermöglicht es der Erzählinstanz, eine Brücke [zu] schlagen zwischen seiner allgemeinen Eingangssentenz vom wechselhaften Schicksal, dem als Negativ-Figur dienenden Protagonisten des Bibel-Exempels (Nebukadnezar) und der Negativ-Figur der Apollonius-Handlung (Antiochius).456

Dieser nämlich stellt das Einzelfallexempel par exellence für den im Traumbild und auch in der Deutung der Erzählinstanz nur allgemein beklagten moralischen Verfall dar. Der mächtige, wohlhabende und vom Glück bedachte König457 kommt vom Pfad der Tugend ab, als er sich nicht nur auf Einflüsterung des Teufels von der minne zu seiner eigenen Tochter entzünden lässt (vgl. AvT, V. 142–147), sondern dem Drängen auf erotische Nähe zu dieser auch nachgibt (vgl. AvT, V. 229–245), sie fast zum Suizid treibt (vgl. AvT, V.  299–304) und danach eine newe poßhat (AvT, V. 345) in Angriff nimmt, indem er sein Wirken darauf richtet, die inzestuöse Beziehung aufrechtzuerhalten und die Möglichkeit exogamer Beziehungen unter dem Anschein einer Bräutigamssuche zu unterbinden (vgl. AvT, V. 355–396). Die Krönung des Fehlverhaltens bildet die Beauftragung seines Dieners Taliarcus mit dem Mord an dem legitimen Bräutigam Apollonius, durch den er die Aufdeckung seiner verwerflichen Taten fürchtet, und schließlich die Ausschreibung eines Kopfgeldes auf jenen (vgl. AvT, V. 720–734, 846–862). An dieser Stelle zieht der Text eine explizite Verbindung zur vorgebrachten Deutung des Traums als Sinnbild für Sittenverfall und die dafür zu erwartende göttliche Strafe. Die entrüstete Erzählinstanz richtet sich maßregelnd an die Figur, wobei der Traum und sein Bild der im Wert parallel zur Tugend abnehmenden Materialien Erwähnung findet: Anthiochius, unrainer pawm! Nu rurt dich der trawm: Dein got verplaichet vaste, Es hinked an dem gelaste. Dein silber das wirt kupfer. Valsch ist gar dein opfer,

456 Junk, Transformationen, S. 67. 457 Eingeführt wird diese Figur mit: Ain kunig hieß Anthiochius./Nach im wart gehaissen sa/ Ain statt haist Anthiochia./Er hett purg und di lantt./Im ainer warttet zu seiner hant/Vil mangs ritterlichs her. Er was gewaltig auff dem mer./Er hett auch was er wolde/Von silber und von golde./ Im gab pey seinem leyb/Got pey seinem weyb/Das aller mynniklichste kind/Das pey den zeytten oder sind/Von frawen ye ward geporen:/Es was suß außerkoren (AvT, V. 97–111). Er wird nicht als Krönung der Tugendhaftigkeit hervorgetan, allerdings fällt kein negatives Wort über ihn, sein weltlicher Erfolg verweist auf Akzeptanz und Vorbildlichkeit des Königs.

Herausfordernde Blicke und aufdringliche Enthüllungen 

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Dir sagt schir matt das roch. Du tregst auff dir der schadnen joch Als der hundt der hund lannen. Der doner stett gespannen. (AvT, V. 871–880)458

Die hier bereits angekündigte Bedrohung des zum Schlag bereiten, nur noch auf ein letztes auslösendes Ereignis wartenden Donners, macht sich an Antiochius schließlich in konkreter Realisation des ursprünglichen Traumbildes wahr. Der übergriffige König wird zuletzt ebenso wie die Statue im Traum des Nebukadnezar – abweichend von dem bedeutungsvollen Zerstörungsmechanismus, der in allen anderen Erzählungen dieser Säule zum Einsatz kommt459 – von einem donnerslag (AvT, V.  2283) niedergestreckt. (vgl. AvT, V.  2282f.). Begründet wird dieses Schicksal von der Figur, die die Todesbotschaft überbringt, mit der Sünd­

458 Obwohl diese Warnung die Figur direkt adressiert, vernimmt die Figur sie nicht. So findet hier kein ,transsphärischer‘ Austausch zwischen den Ebenen der Narration statt. 459 Der erwähnte Blitz dürfte nicht nur den Träumenden überraschen, sondern selbst die mit der biblischen Geschichte vertrauten RezipientInnen. In der Bibelpassage erschlägt ein von transzendenter Hand gelenkter Stein, der alle Materialien vermengt und in sich aufnimmt, die Statue (vgl. Dan 2, 34f.). Dieser Mechanismus erhält jeweils eine besondere Rolle in der Deutung der Vorgänge. Der Alexander Rudolfs von Ems reproduziert dieses Bild und erklärt genau, wie der Stein und das Aufschichten zu einem Berg zu verstehen ist: dû sæhe dar nâch einen sâtein/ ne menschen hende/von eines berges ende/vallen ûf daz bilde dar/daz erz zerdruht alsô gar/daz ez niht mê vürbaz schein./ûf dem bilde wuohs der stein/zeinem grôzen berge ich/der sich gein grôzer hœhe zôch:/daz ist daz himelrîche/daz sô gewaîlteclche/dar nâch ûf die erde kumt/daz ez die krefte gar zerdrumt,/des kraft niht abeganges hât,/sîn gewalt ân ende stât./daz ist der stein der âne werc/ûf dem bilde wart ein berc.‘/(hier an het er gemeinet Krist,/des kraft alsô gewahsen ist/daz er nû krefteclîche/verdruht hât diu rîche/und al die krefte und den gewalt/diu ich hân hier vor gezalt (Alexander, V. 15567–15590). Ebenso ist in dem anonym überlieferten Spruch sowie in den zwei Sprüchen von Fürst Wizlav von Rügen und in den drei Sprüchen Rûmzlants von Sachsen von einem Stein (vgl. ANT, V. 5; WNT, V. 14, 28; RNT V. 8, 21, 23, 27, 30) die Rede. Besonders Rûmzlant von Sachsen bemüht sich um eine Auslegung des Steins, indem er selbst die Frage aufwirft: Welch ist der stein? (RNT, V. 23), um sogleich darauf zu antworten: daz ist der got, der sich liez Jêsus toufen./der berc ist Mâriâ, von der man wunder sprichet:/got was âne aller sünden meil in ih, von ir ze kinde/wart er geborn./er ist der stein, sî ist der berc (RNT, V. 23–27). Im Apollonius geschieht nun geradezu das Gegenteil. Die Materialien werden nicht vermengt, sondern zerschlagen, versprengt, zerstört. Das hier gezeichnete Bild ist weniger versöhnlich und tröstlich, indem es nicht die Aufnahme der Einzelbestandteile in das ewige himmlische Reich suggeriert, sondern die pulverisierende Auslöschung des in Ungnade gefallenen Menschen. Die Abweichung des Zerstörungsmechanismus’ im erzählten Traum deu­ten bereits Schneider und Achnitz als Verweis auf das Ende des Antiochius (vgl. Schneider, Chiffren, S. 62; Achnitz, Babylon und Jerusalem, S. 255). In Steinhöwels Text werden Antiochius und seine Tochter durch das Höllenfeuer auf dem Meer verbrannt werden und versinken (vgl. Terrahe, Steinhöwel, S. 195, Z. 785–787).

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haftigkeit des Königs (vgl. AvT, V. 2283). Die Beziehung der Ereignisse zum Traum des Nebukadnezar, die durch die zuvor installierte Verbindung zwischen (drohendem) Donnerschlag und sündhafter Lebensführung besteht, wird durch gemeinsame Wiederholung der Schlagworte wieder aufgerufen. Ein erneut an die Figur gerichteter Erzählerkommentar stellt anschließend sicher, dass die suggerierte Interpretation des Todes Antiochius’ als göttliche Strafe auch wirklich deutlich wird, indem er die Geschehnisse explizit als Erfüllung des aus der eingangs erzählten Traumbotschaft Abgeleiteten ausweist: Anthioch, du schanden paum, An dir ist erfullet der trawm: Der doner slag hatt dich geschlagen, Dein leib, dein gut, dein er zetragen.460 Du pist an eren gar verwundt. Dein sel pauwet der helle grundt. (AvT, V. 2293–2298)

Diese in der medialen Form des Traums inszenierte Ekphrasis der Säule veranschaulicht eindrücklich, was Wandhoff meint, wenn er beschreibenden MikroErzählungen das Potenzial zuschreibt, die Makro-Erzählung zu spiegeln461 – und noch mehr: Die Allegorese statuiert das Exempel einer wünschenswerten Literaturrezeption und erweist sich damit als literaturreflexives Element.462 Durch die beiden kurzen Passagen, die das eingangs entfaltete Traumbild wieder aufgrei-

460 Dieses Ereignis gehört zum biblisch vermittelten ,Wissen‘ des Mittelalters. Der Reinfried nimmt in einer Rede des Protagonisten Bezug auf die Zerstörung des von einem tyrannischen König beherrschten Antiochia: sô sönt ouch wir getriuwen/got, sîn helfe lâz und niht,/sît er mit helfelîcher pfliht/sî nert vor jâmerlîcher drô/diu in von Antiochîô/dem bœsen künege wart bereit (RvB, V. 15910–15915). Dass sich auch mit der Todesform damit die Deutung des eingangs präsentierten Traums bestätigt, spricht dagegen, Apollonius’ Verhalten in der Passage als fehlerhaft zu interpretieren, wie Achnitz es tut. Für ihn erledigt Gott mit dem Blitzschlag das, was Apollonius hätte tun sollen: die Auslöschung des Bösen. Da der Protagonist diese Chance verpasse, müsse er sich noch in der Verlängerung mit Ausgeburten des Bösen auseinandersetzen (vgl. Achnitz, Textproduktion und Sinnkonstituierung, S.  132). Die Verknüpfung der Vorgeschichte mit der Traumerzählung legt aber gerade nahe, dass alles genau so verläuft, wie es vorgesehen ist, auch wenn der dabei beschrittene Weg das Gegenteil zu zeigen scheint, oder, wie es der Erzähleingang ausdrückt: [d]er welte schancz ist wunderlich (AvT, V. 1). 461 Vgl. Wandhoff, Ekphrasis, S. 33. 462 Der Text löst ein bekanntes Potenzial literarischer Träume ein. Denn „als Bestandteil literarischer Texte haben Traumerzählungen insofern immer selbstreflexives Potenzial und können zur ,Metafiktion‘ werden, indem sie Probleme der Repräsentation und Interpretation thematisieren“ (Klinger, Träume, S. 22 mit Bezug auf die Darstellungen bei Kruger, Steven F.: Dreaming in the Middle Ages, Cambridge 1992 [Cambridge studies in medieval literature 14]).

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fen, kommt zum Vorschein, dass der Traum nicht erzählt wird, damit die den Traum empfangende Figur davon profitiert. Jene kommt im weiteren Textverlauf nicht mehr vor; die ihr gegenüber getätigte Deutung, die bei einem religiös gebildeten Publikum ohnehin aufgerufen wird, ist zweitrangig. Die von den im Traum anklingenden Konsequenzen betroffene Figur wiederum erhält keine Warnung, die sie zur Umkehr bewegen könnte.463 In der Applikation der Traumbotschaft auf eine andere Figur zeigt sich, dass die narrativierten Traumbilder hier vor allem als mediale Form für die auf den Einzelnen zu beziehende Lehre, die aus der biblisch überlieferten Traumbotschaft abzuleiten ist und die die Erzählinstanz anfangs propagiert, fungiert.464 Damit ist die Traumerzählung aber auch Mittel der Veranschaulichung literarischer Mechanismen. Mit ihr wird exemplarisch vorgeführt, wie bildliche Erzählungen zu lesen sind, wie sie auf einer höheren Ebene zum Sprechen gebracht werden können. Die Ableitung der Lehre einer bildhaften Erzählung für den Einzelnen, die die Erzählinstanz vorführt, ist ein Vorgang, zu dem dieser Texteingang anleiten will. Diese Interpretation deckt sich mit der Präsentation des Traumes. Während die Bibel und auch der Alexander den Trauminhalt erst unmittelbar vor der Ausdeutung präsentieren (in den kürzeren Sprüchen sind Bildbeschreibung und Deutung ohnehin eng aneinandergerückt), berichtet der Apollonius zunächst das, was Nebukadnezar in seiner Amnesie noch verborgen bleibt. Die RezipientInnen nehmen quasi den Traumblick des Nebukadnezar ein, ohne jedoch mit diesem zu verschmelzen. Denn während jener die visuellen Reize vergisst, lässt sich das narrativ vor Augen gestellte Bild der Erzählinstanz nicht einfach so löschen. Wie die Worte des Engels gegenüber Daniel vermittelt die Erzählinstanz die Bilder an die Rezipienten weiter und gibt diesen vor der eigenen Auflösung Zeit, die konventionelle Deutung aufzurufen oder abzuleiten, sich Gedanken zu machen, um erst dann ihre Deutung vorzustellen und aufzulösen, wie der Text seine Bilder anlegt und wie sie zu lesen sind. Den RezipientInnen wird Raum gelassen, selbständig eine Deutung aufzurufen oder zu entwickeln und an der anschließend verfügbar gemachten Deutung zu überprüfen. Die dabei aktivierten Kompetenzen qualifizieren zur richtigen Lesart der weiteren Narration, deren Ereignisse – wie

463 Das ließe sich als Hinweis auf das kommunikative Verhalten der transzendenten Sphäre verstehen. Der Apollonius macht deutlich, dass die Möglichkeit der Transzendenz, sich zu offenbaren, eine Gnade ist, die nicht jedem zuteil wird und nicht dazu verwendet wird, jedem, der vom rechten Wege abkommt, eine Warnung zukommen zu lassen. Die biblische, hier wiederholte Erzählung hingegen ließe sich als eine allgemeinen Warnung verstehen. 464 Dass die Botschaft literarischer Träume nicht handlungsrelevant und daher in erster Linie für die intendierten RezipientInnen gedacht sind, ist für dieses Textelement gerade typisch (vgl. Speckenbach, Traum, S. 434; s. auch Anm. 6/414).

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hier suggeriert wird – interpretiert und in einer bestimmten Denkweise gelesen werden sollen, um einen Sinn, eine Wahrheit zu erschließen. Die Erzählung wird somit wie der Traum zu einer medialen Form stilisiert, die unter bestimmten Vo­raus­setzungen zum Sprechen gebracht werden kann, die ihren Sinn nur denjenigen preisgibt, die über die richtige Einstellung und ein gespanntes Interesse verfügen und sich im Zweifelsfall auf die Wertung der Erzählinstanz einlassen. Die einzelnen Funktionen im erzählten medialen Prozess werden dabei im Erzählvorgang mehrfach besetzt. Die RezipientInnen sind Empfänger von Bildern wie Nebukadnezar, die jene allerdings narrativiert wie Daniel erreichen und dieselbe Möglichkeit der Ausdeutung geben. Die kompetente und für den Text gültige Deutung übernimmt dann aber die Erzählinstanz, sodass sich nun die bisher wie der Engel fungierende Instanz auf die Position des Traumdeuters Daniel setzt, während die RezipientInnen wieder in der Rolle des Nebukadnezar erscheinen. Gleichzeitig verfügt sie geradezu gottgleich über den Verlauf der Erzählung. Liest man diesen Eingang als programmatische Einführung in die Textlektüre, so ergibt sich daraus, dass der Text sowohl aktiv-engagierte und kognitiv involvierte Aufnahme der entworfenen, ausdeutbaren Bilder als auch ein Vertrauen in die Deutungen anbietende Erzählinstanz fordert, die sich als Arrangeur, mediale Form und auch als Deuter in einer Mehrfachfunktion präsentiert.465 Die Träume, die Yrkâne im Reinfried von Braunschweig im Rahmen der Verhandlungen um einen Erben ereilen, sind in ein anderes Verhältnis zwischen immanenter und transzendenter Sphäre eingebunden, übernehmen aber wie der geschilderte Traum im Apollonius von Tyrland wichtige narrative Funktionen und leisten einen ebenso wertvollen medientheoretischen Beitrag. Als Antwort auf die Bemühungen der Protagonisten um einen Kontakt (s. Kap. 6.2.1) sind diese Träume keine von den eigentlichen Figuren der Erzählung losgelöste Präambel des Texts, sondern befinden sich mitten im Text auf der Gelenkstelle zwischen Minne- und Aventiurehandlung in direkter Anbindung an die Ereignisse um

465 Zu dieser programmatischen Lektüre des Texteingangs passt die Beobachtung Schneiders zur sich anschließenden, ebenfalls noch zur Vorgeschichte gehörenden Rätselepisode. Ihr fällt auf, dass „[d]ort [in der Historia, B.W.] es gerade philosophische Schriften [sind], in denen Apollonius die Richtigkeit seiner Lösung überprüft. Bei Heinrich ist dagegen die Lösung des Inzest­ rätsels in der Niederschrift eines Romans zu finden“ (Schneider, Chiffren, S. 210), als welchen sie die Formulierung ritter puch (AvT, V. 756) – die zur Überprüfung seiner Lösung verwendete Quelle (vgl. Kap. 5.3.1) – interpretiert. So ließe sich diese Textstelle als Hinweis lesen, dass die Binnengeschichte des Apollonius auf das Rätsel, auf die Rahmenerzählung, ausgerichtet ist (vgl. hier S. 210) oder aber, so die hier vertretene Deutung, dass die Überprüfung der jeweiligen Deutungsversuche an der Erzählung nötig und möglich ist.

Herausfordernde Blicke und aufdringliche Enthüllungen 

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Yrkâne und Reinfried.466 Der Einbindung in die Handlung entsprechend integrieren sie die träumende Person stärker als erlebende Protagonistin einer umfassenden Traumrealität. Besonders deutlich wird das im ausführlich erzählten ersten Traum: sî hatte einen valken, als sî in slâfe dûht, erzogen. nâ al ir girde was gebogen er mit flukes swenken. swaz sî kund erdenken in sinnen und in muote, des wart diu reine guote geweret sunder lucken von des valken flucken. des hatte daz vil reine wîp den vogel zarter denne ir lîp in herzen und in sinne. swaz der künneginne leit ald sorgen ie geschach, sô sî den valken werden sach, sô was ir jâmer gar dâ hin. ir herz ir leben und ir sin ir muot ir lîp mit stætekeit hatten al ir trôst geleit alleine ûf des valken art. sô liep sô trût und alsô zart moht der werden künegîn ân got ûf erd niht lieber sîn, als sî in slâfe dûhte. eines morgens lûhte diu sunne mit ir glanze, durliuhteclîchen ganze sunder trüeber wolken art, dâ von heid und anger wart, velt und wisen berc und tal mit schîn durliuhtet über al nâ wunsches rîcher schouwe. diu hôchgeborne frouwe nam den valken ûf ir hant. dâ von der starken sorgen bant

466 Die für die Textsorte typische Zweiteiligkeit des Textes ist beim Reinfried besonders deutlich zu beobachten. Nach der Zusammenführung des bereits anfangs installierten Minnepaares sind keine Fragen oder Handlungsstränge offen, eine Sinneinheit ist abgeschlossen (vgl. dazu Achnitz, Babylon und Jerusalem, S. 100; vgl. auch Kap. 2).

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kont jâmer ûf sî reizen. sî wolte mit im beizen, als sî vil dicke hât getân, nâch dem als ir vil tumber wân in troume sich erscheinde. nun weiz ich waz ez meinde, wan dô sî den valken liez ûf sîn geverte und er stiez ûf des rehten beizes spor, als er dicke hât dâ vor getân mit willeclîcher ger, sô koment girdeclîchen her in snellen fluken schier gevarn zwên ungefüege grôze arn und wolten ûf in ziehen. durch nôt sô muoste fliehen des valken fluc mit güften. er kêrte gên den lüften ûf, wan er die fluht gevienc snelleclîchen unde gienc sô hôhe über sich enbor das man keinen vogel vor noch sît sô hôhe nie gesach. iedoch nâ dem valken brach der aren swenken ûf sîn vart, wan er überfolgen wart von in: sî zarten sîn gevider vil und vil, daz viel har nider und wart der frouwen in ir hant. dâ bî wart ir wol erkant daz sîn fluc was überzogen. (RvB, V. 13520–13585)

Die Träumende tritt nicht nur souverän und nach eigenen Wünschen agierend im Traum auf;467 sie ist in dieser Parallelrealität auch fähig, zu fühlen und zu denken. So besitzt die Traumprotagonistin eine enge emotionale Bindung an den Falken

467 Die mit demselben Pronomen, ja sogar mit demselben Namen wie die Träumende bedachte und von dieser nicht differenzierte Protagonistin des Traums (besonders deutlich in RvB, V. 13582–13591) ist im Besitz eines durch sie selbst aufgezogenen Falken (vgl. RvB, V. 13520f.), nimmt diesen zur Beizjagd mit (vgl. RvB, V. 13552–13557), lässt ihn fliegen (vgl. RvB, V. 13561) und fängt schließlich die Federn des Vogels auf (vgl. RvB, V. 13582f.).

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(vgl. RvB, V.  13528–15542)468 und interpretiert den Anblick der Falkenfedern (vgl. RvB, V. 13581–13591). Ihre Bindung wird eindeutig als Traumwahrnehmung gekennzeichnet, indem der Beschreibung des innigen Verhältnisses nachgeschoben wird als sî in slâfe dûhte (RvB, V. 13543, vgl. auch V. 13521), dennoch macht die Formulierung auch deutlich, dass die Yrkâne der Diegese sich mit der Traumprotagonistin identifiziert. Später teilt sie auch deren emotionale Affizierung: Als die trauminterne Yrkâne annimmt, dass der Falke von Adlern getötet wurde und daraufhin in die bereits vor der Traumschilderung von der Erzählinstanz angekündigte angest und nôt (RvB, V.13592) verfällt,469 reagiert die im Bett neben Reinfried liegende Yrkâne körperlich diesen Emotionen entsprechend: diu süeze küneginne, diu reine hôchgelopte, in dem slâfe topte sô vaste und sô sêre daz der fürste hêre erschrac von den geberden. (RvB, V. 13594–13599)470

Wenn auch bei dem zweiten Traum, der Yrkâne heimsucht, kaum ausgestaltet wird, was genau in ihm geschieht oder für die Träumende zu sehen ist (s. u.), so haben auch diese Erfahrungen hier eine mit der Träumenden gleichgesetzte Pro­ tagonistin, die einen alten Löwen verliert und an seiner statt einen jungen Löwen vorfindet.471 Dass die Traum-Yrkâne schlichtweg für die Yrkâne der Diegese einsteht, zeigen hier – wenn auch nur indirekt – die In-Eins-Setzungen, die sowohl die Träumende als auch die textinternen Deuter (s. u.) automatisch vornehmen:

468 Die Bindung sowie auch die Erziehung des Falken legen nahe, dass die Traumfigur nicht nur im Moment des erlebten Traums existiert, sondern eine eigene, kontinuierliche Geschichtlichkeit besitzt. 469 Er formuliert: ein troum der hôchgebornen brach/mit jâmer zuo dem herzen/ze sorgen und ze smerzen, ze kumber und ze leide (RvB, V. 13514–13517). 470 Dass sich dieses Ergriffensein kaum aufheben lässt, zeigt sich darin, dass Reinfried einigen Aufwand betreiben muss, um Yrkâne aus ihrem Traum zu lösen (vgl. RvB, V. 13604–13613). Reinfried berichtet seiner Frau nach dem Erwachen, wie erschreckend sie sich verhalten habe und bestätigt damit die vorherige Schilderung der Erzählinstanz (vgl. RvB, V. 15620–15623). Er vermutet auch sogleich einen Traum als Auslöser für ihr wunderlîch gebâre[][n]“ (RvB, V. 13635, vgl. auch V. 15635–13640). 471 Es heißt: ir was misselungen/an dem alten sâ zehant (RvB, V.  14955f.) und wie sî dô den jungen vant (RvB, V. 14958).

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Berichtet Yrkâne, dass ihr im Traum der alte Löwe unauffindbar entlaufen sei,472 so spricht Reinfried von dem löwe alte/der dir unwizzenlîch engât (RvB, V. 14970f.), berichtet Yrkâne von einem entflogenen Falken, so spricht Reinfried vom valken den du hâst verlorn (RvB, V.  13700). In beiden Fällen kennzeichnet Yrkâne die Ereignisse, die der Traumprotagonistin widerfahren, als eigene Erlebnisse; und stets verbindet Reinfried die erlebende Instanz des Traums mit der neben ihm liegenden Ehefrau. Yrkâne erlebt im Schlaf in stärkerem Ausmaß als Nebukadnezar, der im Traum auf etwas blickt und nur durch die erlebten Eindrücke affiziert wird. Sie scheint als sie selbst in einen allegorisch funktionierenden Raum zu treten, in jenem wie sie selbst zu handeln, zu denken und zu fühlen. Erzählt werden die beiden Träume im Reinfried von Braunschweig unterschiedlich. Während beim Falkentraum ähnlich wie bei Nebukadnezars Traum im Apollonius zunächst zusammenhängend die visuellen Eindrücke und Erlebnisse der Schlafenden geschildert werden, sich daran die Präsentation der (emotionalen) Reaktion auf jene anschließt und schließlich – hier nun von einer Figur des Texts – ein Deutungsangebot vorgetragen wird, findet der Löwentraum keine gesonderte Schilderung. Stattdessen berichtet der Text von bitter jâmer (RvB, V.  14886), der nach den Freuden des – im Sinne der erbetenen Empfängnis  – erfolgreichen Geschlechtsakts mit bitterlîcher riuwe (RvB, V.  14888) in Yrkânes Herz bricht (vgl. RvB, V. 14885–14889). Das ähnelt der Beschreibung des über die schlafende Yrkâne hereinbrechenden ersten Traums.473 Dass ihr auch in dieser Nacht ein Traum beschert ist, erwähnt die Erzählung mit keinem Wort. Auch in den Überlegungen der erwachten Yrkâne werden weder Traumbilder erzählt noch gibt es andere Hinweise auf ein Traumerlebnis. Dass ihre Gedanken mit einer Verwunderung, die der ambivalenten Reaktion auf die Traumbilder474 entspricht, einsetzen (diu rein gedâht hier under/,Wie sol ez mir nû ergân, RvB, V. 14914f.),

472 In der Paraphrase der Erzählinstanz: sî seite von dem löwen/[…]/ wie ir was misselungen/an dem alten sâ zehant (RvB, V. 14954–14957). 473 [E]in troum der hôchgebornen brach/mit jâmer zuo dem herzen/ze sorgen und ze smerzen (RvB, V. 13514–13516). 474 Entwickelt wird das durch Referenz auf einzelne Haltungen zum Geschehen im Laufe der Passage. Die Sorgen, die Yrkâne ergreifen und vor diesem Gedankenbericht stehen, wurden bereits erwähnt. Später heißt es, der Traum (wie auch die vermutete und auf Erzählebene bereits bestätigte Empfängnis, das werk, RvB, V. 14932), sorgte bei ihr für zwîvelîchen muot (RvB, V. 14933). Während sie nun gegenüber Reinfried von der unmuoze (RvB, V. 14961) berichtet, die der Traum ihr bereitet habe, erwähnt der Text auch, dass der Gedanke an den Traum ir fröude brâhte (RvB, V. 14939).

Herausfordernde Blicke und aufdringliche Enthüllungen 

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mag auf ein besonderes und sonderbares Erlebnis anspielen. Die anschließend zum Ausdruck gebrachte Vermutung – vil liht hât got ze mir getân sîne götelîhen maht alsô daz ich mac hînaht von im hân empfangen: (RvB, V. 14916–14919)

– macht deren Ursprung in jenem sonderbaren nächtlichen Erlebnis plausibel. Erst nachdem sie den Entschluss fasst, Reinfried von dieser Vermutung zu unterrichten, erwähnt die Erzählinstanz den troum den ir getroumet was (RvB, V. 14927). Der bildliche Inhalt des Traums offenbart sich erst in Yrkânes eigener Schlussfolgerung (RvB, V.  14928–14931) und in der Nacherzählung für den zur Deutung aufgeforderten Reinfried (vgl. RvB, V. 14954–14959).475 Aus der indirekten Wiedergabe ihrer Äußerungen gegenüber Reinfried, dem gegenüber sie von einem wilde[][n] troum, der sich ihr erzöuget in dem slâfe (RvB, V. 14948f.) spricht, lassen sich einige Einzelheiten über den Verlauf des Traums entnehmen. sî seite von dem dem löuwen, dem alten und dem jungen, wie ir was misselungen an dem alten sâ zehant,

475 Zunächst ist aus der Aussage an dem [Traum] spurt sî unde mâz,/ob ir der alte löwe entran,/ daz sî wolt den jungen hân/ze trôst in irme leide (RvB, V. 14928–14931) nicht eindeutig zu entnehmen, dass mit den Tieren nicht symbolträchtige Ausdrücke der Erzählinstanz gemeint sind, die Reinfried und seinen Nachwuchs bezeichnen und der in den Sinn genommene Traum überhaupt von dem vorigen Falkentraum verschieden ist. Ohne den Hinweis der Erzählinstanz auf die zwei Träume, der eine, der bereits lange zît dâ vor (RvB, V. 14941) ausgelegt wurde, und diesen troum, der nun ouch schîn (RvB, V. 14945) gemacht werden soll, könnte die Traumerzählung auch als eine eines wirklichen Erlebnisses entbehrende Strategie Yrkânes, das transsphärisch kommunikative Potenzial der medialen Form zu nutzen, um die mögliche Schwangerschaft vor Reinfried zu plausibilisieren, gelesen werden. Sie würde dann die Möglichkeit erkennen, in der letzten gemeinsam verbrachten Nacht schwanger geworden zu sein, sich des Traums und dem Glauben ihres Mannes an deren Bedeutsamkeit erinnern und einen ähnlichen Traum erfinden, um diesen dann selbst in der Erzählung eine vermeintlich göttliche Verkündigung der Schwangerschaft erkennen zu lassen. Sie würde dann die in der ersten Traumerzählung vorgeführte Funktionsweise und Autorität dieser medialen Form zur eigenen Absicherung instrumentalisieren. Diese der als äußerst medienkompetent gezeichneten Figur (s. Kap. 4.3.2, 4.3.3, 6.2.1) durchaus zuzutrauende und verlockende Interpretation wird durch die zitierten Verse jedoch eher zurückgewiesen.

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und wie sî dô den jungen vant ligen an des alten stat. (RvB, V. 14954–14959)

Den Abschluss der Traumerzählung bildet nun auch hier die Deutung Reinfrieds (vgl. RvB, V.  14964–14981), die in diesem Falle jedoch neben der bereits von Yrkâne selbst vermuteten Interpretation steht. Nicht die Traumbilder selbst stehen hier im Vordergrund, sondern Yrkânes und Reinfrieds Umgang mit ihnen. Reinfried ist sich seiner Deutungen entgegen der vorangestellten Erklärung, seine Fähigkeiten reichten an die der biblischen Traumdeuter nicht heran (vgl. RvB, V. 13688–13699), recht sicher. Ohne Andeutung einer Unsicherheit, ja sogar unter Verwendung der Bekräftigungsformel sunder zwîfel ungelogen (RvB, V. 13703) bzw. sunder klöuwen (RvB, V. 14967), identifiziert er den Falken des ersten Traums und den alten Löwen des zweiten Traums als Bilder seiner selbst (vgl. RvB, V. 13700–13703, 14970f.), den jungen Löwen als während seiner Abwesenheit trostspendenden Nachwuchs, also – wie Yrkâne – als Hinweis auf die Empfängnis (vgl. RvB, V. 14964–14975). Er erklärt sein Deutungsvorgehen nicht und geht auch nicht auf weitere Bedeutungskomponenten des Bildes ein. Dennoch dürften die angebotenen Deutungen weder mit mittelalterlicher Literatur vertraute noch diesbezüglich weniger vorgebildete RezipientInnen überraschen. Denn zwischen den beiden prominenten Tieren und dem Protagonisten bestehen allein situationsgebunden so viele Ähnlichkeiten, dass im Kontext der Erzählpassage die Deutung eines alten und jungen Exemplars desselben Tieres auf Vater und Sohn476 ebenso naheliegend wie es die Deutung des Gefahren ausgesetzten

476 Gerade in Tierträumen scheint die Verwendung des Bildes eines alten und eines jungen Tieres derselben Art typisch für die Bezeichnung von Individuen unterschiedlicher Generationen desselben Geschlechts: „Hier sind Väter und Söhne mit dem alten und jungen Tier bezeichnet, wodurch die Traumhandlung leichter erfaßbar wird. Im ,Reinfried‘ z. B. verläßt im Traum der alte Löwe Yrkane, läßt ihr aber einen jungen Löwen zurück, worunter nichts anderes zu verstehen ist, als daß Reinfried seine vor Maria gelobte Pilgerfahrt ausführen, Yrkane aber in seiner Abwesenheit den heißersehnten Erben gebären wird (14964ff.; 24602–24613)“ (Speckenbach, Traum, S. 426, wobei er sich neben dem Reinfried auch auf den Wilhelm von Wenden bezieht; vgl. dort die Verse 2078–2099, zit. n. Ulrich von Etzenbach: Wilhelm von Wenden. Kritisch hrsg. von HansFriedrich Rosenfeld, Berlin 1957 [Deutsche Texte des Mittelalters 49]). Die Deutung des Löwen auf Reinfried und seinen Spross macht über den Kontext (der Nachwuchswunsch des Paares und die Empfängnis Yrkânes) und die Bildtradition hinaus plausibel, dass dieser (zwei) Löwen im Wappen führt (vgl. RvB, V. 17204–17227, 17425–17427; s. bereits Speckenbach, Traum, S. 426–428) und er kurz vor seinem Einsatz als miles christianus steht, für den der Löwe häufig symbolisch einsteht (vgl. Achnitz, Babylon und Jerusalem, S. 162).

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Falken mit dem zur Kreuzfahrt aufbrechenden Reinfried ist.477 Dass also die im Traum erscheinenden Tierbilder symbolisch für Figuren der Diegese stehen, wie Reinfried in seiner Traumdeutung behauptet, dürfte zeitgenössischen RezipientInnen sogleich und auch ohne die Deutung, die die Figuren hier vornehmen, plausibel sein. So schlüssig und wenig überraschend diese Deutungen auch sein mögen, sein Versprechen, Yrkâne die Bedeutung ganz genau und bis ins letzte Detail, ûf ein ort [zu] durchgründe[n] (RvB, V. 136998), löst Reinfried damit nicht ein.478 Denn seine Deutung des Falken begründet er nicht ausführlicher als mit dem gerade gelobten Aufbruch ins Heilige Land (vgl. RvB, V. 13708–13717), die des Löwen erfährt keine Erläuterung;479 auf den vermeintlichen (s. u.) Tod des Falken geht er ebenso wenig ein wie auf die Bedeutung der angreifenden Adler,480 das Motiv des Über-

477 Bereits textintern liegt die Referenz des Traumfalken auf die Figur Reinfried nahe. Der Pro­ tagonist wird zuvor mit einem Falken gleichgesetzt (vgl. Speckenbach, Traum, S. 432). Gemeint sind die Verse RvB, V. 505–529, in denen, anders als Speckenbach behauptet, nicht Yrkâne über Reinfried spricht, sondern die Erzählinstanz den verliebten Reinfried mit einem auf die beste Beute fokussierten Jagdfalken (einem leige valken, RvB, V. 518), der für sein Ziel auf alles andere verzichtet, vergleicht. Darüber hinaus ließe sich wohl keine andere Figur benennen, der Yrkâne ähnliche Gefühle wie diesem Falken entgegenbringt. Die aufwändige Inszenierung der intensiven Bindung zwischen Reinfried und Yrkâne (s. Kap. 4.1.1, 4.3.2, 4.3.3) macht es recht leicht, den Falken, der Yrkâne zarter denne ir lip (RvB, V. 13630) ist, ihr stetiger, aber auch einziger trôst (RvB, V.  13538) zu sein vermag, dem sô liep sô trût und alsô zart/moht der werden künegîn/ân got ûf erd niht lieber sîn (RvB, V. 13540–13542), mit Reinfried gleichzusetzen. Im letztgenannten Fall ist die Bildsprache überdies – wie Speckenbach im Hinblick auf den fast identisch mit dem ersten Traum um Reinfried ausfallenden ,Falkentraum‘ im Nibelungenlied (vgl. Nibelungenlied, Str. 13f.) feststellt – dem mittelalterlichen Publikum wohlvertraut (vgl. Speckenbach, Kontexte, S. 305; Speckenbach, Traum, S. 423). 478 Das erschüttert nicht das Vertrauen Yrkânes in seine Deutungskünste. Als sie später der zweite Traum heimsucht, erinnert sie sich, wie ir was lange zît dâ vor/getroumet von des valken spor,/wie in der fürste den beschiet./dâ von sô wolt sî lâzen niet/sî maht im disen troum ouch shîn (RvB, V.  14941–14945) und fordert ihn auf: lieber herre mîn,/hœr durch dîne tugende mich./ein wilder troum hât mir sich/erzöuget in dem slâfe/hînaht sunder strâfe:/des solt du mir sîn meinen/ tugentlîch erscheinen;/sô maht du mich erfröuwen (RvB, V. 14946–14953). 479 Inhaltlich bleibt beim Löwentraum nicht viel Traummaterial ungedeutet, da dieser Traum wenig ausgestaltet wird: Die Abwesenheit des alten Löwen scheint fast zwingend auf die bereits beschlossene Abwesenheit Reinfrieds zu verweisen und enthält für die Figuren kaum neue Informationen – nur, dass Reinfried bei der Geburt seines Kindes noch nicht wieder zu Yrkâne zurückgekehrt sein wird, lässt sich über die Empfängnisbotschaft hinaus ableiten. 480 Dass es sich um zwei Adler handelt, die den Falken Reinfried scheinbar (s. u.) tödlich verwunden, ist nicht ohne Aussagekraft. Zwar zeigen die willkürlich wandelbaren Antagonisten in Kriemhilds Falkentraum, dass wichtig für das Funktionieren des Bildes die bedrohliche Überzahl und Größe ist, jedoch ist es aus mentalitätsgeschichtlicher Perspektive wahrscheinlich,

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fliegens oder das der verlorenen Federn. Obwohl er es war, der die Bedeutung des ersten Traumes hervorgehoben hatte, fungiert dieser für ihn nun doch eher als Aufhänger für die Mitteilung seines Entschlusses zum Kreuzzug,481 während der zweite wiederum vor allem Yrkâne dient, um ihren Mann überzeugend von ihrer Schwangerschaft zu unterrichten. Denn Yrkâne vermag diesen zweiten Traum eigentlich allein genau so zu deuten (s. o.; vgl. RvB, V. 14915–14919), wie Reinfried es später tut (vgl. RvB, V. 14965–14975).482 Da Yrkâne bereits selbst ahnt, dass der Traum auf ihre Schwangerschaft hinweist, überlegt sie sich, es sei besser, sich Reinfried jetzt vor seiner Abreise zu offenbaren, dâ von daz er iht zwîfel habe/an sîner frühte sâmen (RvB, V. 14924f.). Reinfried soll später vor allem nicht an seiner Vaterschaft zweifeln. Auch der Einblick in ihre Assoziationen trifft Aussagen über die Instrumentalisierung des Traumes durch die Figur, macht jedoch keinen Vorschlag zu der Frage, welchen interpretatorischen Gehalt das Löwenbild trägt und warum dieses nun anstelle des Falkenmotivs auftaucht. Die Erzählinstanz hält sich in beiden Fällen – anders als an manch anderer Textstelle im Reinfried und im Kontrast zu der Erzählinstanz im Apollonius (s. o.) – zurück und überlässt die noch ungedeuteten Bestandteile den TextrezipientInnen.483 Während beim ersten Traum viel Raum für weiterführende Ausdeutungen geboten wird, unterbindet der zweite Traum fast jegliche Interpretation, die über die Aussagen der Figuren hinausgeht, da nur im Moment der Deutung bestimmte ,Traumschnipsel‘ erwähnt werden und keine ausführliche Darstellung einer Ausdeutung vorangeht. Beide Träume sind trotz der vom Text und den Figuren unterstellten transsphärischen Relevanz auf Figurenebene eigentlich in erster Linie Anstöße einer direkten Kom-

dass die Wahl der Tiere dennoch Aussagen über die vermeintlichen Angreifer macht (vgl. dazu Speckenbach, Traum, S. 424, 426; s. auch Anm. 6/483). 481 Dafür nimmt er später auch den Löwentraum in Anspruch. Reinfried betont in seiner Deutung nochmals, dass er entschlossen ist, aufzubrechen (vgl. RvB, V. 14970–14975). 482 Auf Erzählebene ist diese Deutung ohnehin bereits durch die zuvor von der Erzählinstanz preisgegebene Empfängnis in der Traumnacht bestätigt (vgl. RvB, V. 14836–14843). 483 Hinweise auf den mittelalterlichen Deutungshorizont gibt eine Zusammenstellung der Textstellen zu möglichen Bedeutungen der einzelnen Tiere in mittelalterlichen Traditionssträngen bei Schmidtke, Dietrich: Mittelalterliche Tierinterpretation deutschsprachiger Literatur des Mittelalters (1100–1500) Teil I: Text, Berlin 1968, ab S. 231; dort zum Adler S. 231–237, zum Falken S. 285f., zum Löwen S. 331–347. Das Arsenal an Bedeutungen, das der Aufstellung zu entnehmen ist, ist jedoch so vielfältig und uneinheitlich, dass daraus kaum bestimmte Bedeutungen abzuleiten sind. Es ergeben sich höchstens Bedeutungstendenzen. So scheint der Adler vorwiegend positiv besetzt zu sein und nur in Ausnahmefällen für neidische und hoffärtige Personen einzustehen; der Falke, unter dessen Lemma Schmidtke wieder auf den Adler verweist, scheint häufig eher auf problematische Verhaltensweisen hinzudeuten. Der Löwe wird meist als Symbol für Christus verwendet, kann aber ebenso für den Teufel stehen.

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munikation zwischen den beiden Hauptfiguren. Mittels der Traumnarrationen und der Deutungen teilen sie sich wichtige Entscheidungen und Ereignisse mit, die über die transsphärisch anmutende Formatierung sowohl von der Erzählinstanz als auch von den Figuren als göttlich vorbestimmt inszeniert werden. Auch der Reinfried von Braunschweig setzt seine Traumerzählungen nicht (nur) ein, um immantente und transzendente Sphäre (oder aber zwei immanente Figuren) seiner Erzählung miteinander in Kontakt zu bringen. Ebenso wichtig scheint die Präsentation der Träume als Mittel der Erzählspannung zu sein. Das beweist vor allem der Falkentraum, dessen interessantester Zug sowohl als mediale Form der Erzählung, die die Makro-Erzählung spiegelt und Vorausdeutungen erlaubt, als auch als gewährter Einblick in höhere Geschicke darin besteht, den Zugriff auf den Traum im entscheidenden Moment für die Träumende – nicht jedoch für die RezipientInnen – einzuschränken. Während Traum-Yrkâne die Federn des verfolgten Falken auffängt und daraus schließt, daz sîn fluc was überzogen (RvB, V.  13585) und daz der valke wære tôt (RvB, V.  13591), weiß die Erzählinstanz zu berichten, dass der Falke eigentlich doch den Adlern entkommen ist; Yrkâne jedoch wiste des vil kleine (RvB, V.  13587). Ihr entzieht sich nicht der Traum in Gänze wie Nebkuadnezar, jedoch entgeht ihr ein wichtiger Bestandteil. Dadurch, dass Yrkâne den Traum personal erlebt, verfügt sie in diesem auch über einen eingeschränkten Blickwinkel, eine interne Fokalisierung. Der/die RezipientIn jedoch erhält durch die den Traum nullfokalisiert überblickende Erzählinstanz eine entscheidende Zusatzinformation und wird auf die Diskrepanz dieser Einblicke explizit hingewiesen. Vor dessen/deren Augen läuft die Bildfrequenz des Traumes wie ein Film mit erweiterter Kameraperspektive weiter, während Yrkâne ihren Blick auf die verlorenen Federn richtet, die die Zerstörung des Falken zu symbolisieren scheinen, und es dabei verpasst, hoch oben den sich den Fängen der Adler doch noch entwindenden Falken wahrzunehmen. Für die Interpretation des Traums als transsphärisch aktive mediale Form, wie die Figuren selbst es nahelegen, ergibt sich daraus eine interessante Information über den dem Text zugrunde gelegten Gottesentwurf bzw. sein intersphärisch-kommunikatives Verhalten. So gibt die transzendente Instanz Yrkâne hier einen Einblick in zukünftige Geschehnisse, gewährt ihr aber keinen Überblick. Damit zieht sie andere Grenzen als bei den mündlich gestalteten Offenbarungen gegenüber Reinfried (s.  Kap.  6.2.2) oder aber dem Traum des Nebukadnezar im Apollonius. Reinfried bekommt versichert, dass ihn trotz aller Gefahren auf seiner Kreuzfahrt ein guot ende (RvB, V. 13303) erwartet, ihm bleibt jedoch verborgen, worin die Prüfungen bestehen und welcher Zeitrahmen mit dieser Ankündigung umfasst ist; Nebukadnezar erblickt mit der Zerstörung der Statue das Ende der Menschheit, behält aber die bedeutungsvollen Bilder weder im Gedächtnis noch versteht er sie. Yrkâne nun vermag eine wichtige

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und auch vermittelte Information in ihrem Erlebensmodus nicht aufzunehmen. Die Transzendenz gewährt ihr nur einen limitierten Ausschnitt der zukünftigen Geschehnisse. Transsphärische Offenbarungen sind – das scheint in medialer Hinsicht die zentrale Aussage der Passage – nicht eindeutig oder endgültig und sind hinsichtlich des Einblicks, den sie gewähren, beschränkt. Die Bildsprache des Traums und deren partielle Auslegung durch Reinfried setzt der Träumenden ein Schlussbild, das diese, wenn sie dieser Auslegungstechnik folgt,484 bewusst in dem Irrglauben lässt, hier kündige sich der Tod Reinfrieds an. Erzählerisch ist das Weitererzählen des Traums über die Wahrnehmung der Träumenden hinaus die Schlusspointe.485 Die Erzählautorität baut diese Diskrepanz auf, um einen in der Zukunft der Geschichte liegenden Konflikt anzudeuten.486 Der Traum gibt dabei nicht nur Auskunft darüber, dass Reinfried den scheinbar tödlichen Gefahren entkommt, er nimmt vorweg, was Yrkâne glauben wird,487 ist selbst mediale Form, die über die Chronologie der Geschichte hinausblickend ein zukünftiges Erzählereignis andeutet. Allerdings lassen sich solche Spekulationen anhand des weiteren Textverlaufs nicht überprüfen, da das Fragment keine Ereignisse (mehr) umfasst, die auf die anderen Traumelemente zurückzuführen wären. Installiert wird hier jedoch eine Wissensdiskrepanz zwischen Figur und Rezipient, die spannungsgeladen ist, indem sie eine zukünftige Gefährdung der Beziehung aufgrund des Yrkâne suggerierten Todes des mit Reinfried assoziierten Traumfalken verspricht.

484 Im erhaltenen Fragment kommt es nicht mehr zu einem Rückgriff auf die das Traumerlebnis für Yrkâne beschließende Szene, nur im Traum selbst nimmt Yrkâne an, daz der valke wære tôt (RvB, V. 13591). 485 Vgl. auch Achnitz, der diese Szene als Beispiel für den Informationsvorsprung der RezipientInnen vor den Figuren heranzieht (Achnitz, Babylon und Jerusalem, S. 159). Nicht zu vernachlässigen ist an dieser Stelle auch das literarische Spiel mit der Erwartung, die die anfängliche Ähnlichkeit zum Falkentraum des Nibelungelieds auslöst und die mit diesem Ende gebrochen wird. 486 Zu den Spekulationen über den Fortlauf der Geschichte nach Fragmentabbruch s. Anm. 2/38. Eine offensichtliche Verbindung zu den zwei Adlern des Traums lässt sich nicht herstellen, allein die falsche Annahme, Reinfried sei auf seinem ,Ausflug‘ zu Tode gekommen, scheint im Hinblick auf die bei Achnitz angenommene drohende Wiederverheiratung Yrkânes (vgl. Achnitz, Babylon und Jerusalem, S. 92, 217 sowie 160) mit dem eingeschränkten Wissen und der Fehlinterpretation der ,Traumyrkâne‘ übereinzustimmen und wird kurz darauf auch durch eine Bemerkung Reinfrieds, man solle seine Frau im Falle seines Ablebens wieder verheiraten, forciert (vgl. RvB, V. 14124–14133). 487 Dementsprechend stellt Yrkâne in ihrem späteren Brief an Reinfried auf fest: beide tröum sint worden wâr/an valken und an löuwen (RvB, V. 24610f.).

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Die Lesart der Träume als transsphärische mediale Formen, über die sich transzendente Instanzen immanenten Figuren mitteilen bzw. diesen einen Einblick in ihren Verfügungsbereich gewähren, setzen beide Texte eher voraus, als dass sie sie diskutieren. Nicht nur für das Publikum der Texte gibt es eindeutige Hinweise auf die mediale Rolle in der transsphärischen Interaktion, auch die Figuren interpretieren die Träume als Gottesbotschaften mit realweltlicher Bedeutung. Fokus der Darstellung ist sowohl beim Nebukadnezartraum im Apollonius als auch beim Falkentraum im Reinfried die unkommentierte Präsentation der Traumbilder, die zweiundvierzig (vgl. AvT, V. 23–65) und fünfundsiebzig (vgl. RvB, V. 13520–13585) Verse einnimmt, die unmittelbare Reaktion des Träumenden sowie im Anschluss die Deutungen durch die Erzählinstanz (im Apollonius) bzw. eine Figur des Texts (im Reinfried). Abweichend verläuft die Darstellung des Löwentraums im Reinfried vom Braunschweig, dessen Bilder hinter dem Umgang der Figuren mit ihnen zurücksteht. In den zuerst beschriebenen Fällen nähert sich der Blick der TextrezipientInnen dem des/der Träumenden an – ohne, was in beiden Fällen wichtig ist, vollständig mit diesem zu verschmelzen. Es bietet sich Gelegenheit, das biblische und literarische Vorwissen zu aktivieren und für eine Auslegung der bekannte Erzählungen der Bibel oder der weltlichen Literatur aufgreifenden Bilder zu nutzen, bevor eine Deutung vorgegeben wird. Im anderen Fall steht die abgeleitete Bedeutung vor der Andeutung der Traumbilder, sodass diese selbst rekonstruiert werden müssen. Der Eingang des Apollonius nutzt die Traumerzählung auch, um sein Publikum in den medialen Prozess der Lektüre und die Anforderungen, die dabei nicht nur zur Aufnahme der Bilder, sondern auch zum Verständnis der darin enthaltenen Wahrheit nötig sind, einzuführen. Die erste Traumszene des Reinfried prüft die Kompetenz der allegorischen Tiertrauminterpretation bei den Rezi­pientInnen, um ein Einverständnis über die Funktionsweise dieses transsphärisches Mitteilungsorgans zu erzeugen, auf der die verkürzte zweite Darstellung aufbaut. Sowohl im Apollonius von Tyrland als auch im Reinfried von Braunschweig nehmen die Traumerzählungen markante und wichtige Positionen im Erzählverlauf ein. Im Reinfried motiviert die Passage den Aufbruch des Protagonisten zum Kreuzzug und plausibilisiert so auf Figurenebene den für die Textsorte ,Liebesund Abenteuerroman‘ so typischen zweiten Textteil, der von den Abenteuern in der Trennung der Partner erzählt. Beim Apollonius bleibt die Funktion auf Figurenebene unsichtbar. Weder die dort erarbeitete Deutung noch die Folgen für die Beteiligten oder ihre Instrumentalisierung des Traums finden Erwähnung. Dafür nutzt der Text diese Erzählung umso mehr als Einleitung des moralischen Exempels, das anhand der Vorgeschichte statuiert wird. Dass die aus dem Traum abgeleitete Sentenz sich wiederum an Antiochius bestätigt, betont die Funktion, die der Passage als Lektüreanleitung für den Gesamttext (vielleicht sogar für

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Literatur/bildliche Sprache im Allgemeinen) zukommt. Nicht so programmatisch lassen sich die Szenen im Reinfried lesen. Dennoch wird auch über sie noch mehr erzählt. Denn aufgrund der extra ausgestellten Diskrepanz zwischen Yrkânes Traumerlebnis und dem ,eigentlichen‘ Traum­ausgang entspinnen sich spannungsgeladene Erwartungshaltungen an den späteren Fortlauf der Geschichte. Die Traumpassagen bestätigen in beiden Texten die generelle Mitteilungsbereitschaft der Transzendenz sowie auch die nicht bedingungslose oder vollständige Offenbarung. Recht ausführlich wird diskutiert, wer was versteht und wer einer Interpretationshilfe bedarf. In den beschriebenen Ausdeutungsprozessen wird ein komplexes, multimediales und mehrstufiges Vermittlungs- und Deutungssystem geschildert, das nur unter bestimmten Bedingungen zu einem Verständnis der Bilder führt. Yrkâne kann das Geschaute direkt nach dem Erwachen in ein Narrativ überführen, das sie Reinfried mündlich mitteilt und das dieser – durch die gerade durchlebte intime Auseinandersetzung mit einer transzendenten Instanz im Schlaf (s. Kap. 6.2.2) zum Traumdeuter berufen – ausdeutet. Bei Nebukadnezar stellt sich die Angelegenheit als komplizierter heraus. Damit verweist dieses Szenario wie schon in der Bibel auf das Problem der Flüchtigkeit, das dieser transsphärischen medialen Form innewohnt. Demgegenüber betont der Reinfried die eingeschränkte Sicht der Träumenden, macht darauf aufmerksam, dass die Interpretationen ob der Eingeschränktheit des menschlichen Blicks fehlgehen können. Obwohl die Texte jeweils dritte Figuren auftreten lassen, die die narrativ übermittelten Bilder ausdeuten, bleibt  – im Falle des Reinfried ob der recht grob ausfallenden angebotenen Deutungen – Raum für weiterführende Interpretationen, und – im Falle des Apollonius – Umdeutungen im Sinne der erzählten Geschichte. Die Erzählinstanzen der Texte verhalten sich hier unterschiedlich. Im Apollonius bietet diese eine restlose und für diesen Text gültige (ja später sogar durch den Handlungsverlauf eindeutig bestätigte) Ausdeutung, im Reinfried bleiben Traumbestandteile rätselhaft und unaufgelöst, sodass am Ende nicht festgelegt ist, was die transzendente Sphäre mitzuteilen bestrebt ist.

6.3.3 Look, don’t touch: Die Versuchung transzendenter Offenbarung und die Grenzen immanenter Reichweite Die transzendente Sphäre der Texte scheint – so das Fazit der drei vorangegangenen Kapitel – mitteilungsbereit, was die Eröffnung der eigenen Pläne betrifft. Das Bild der Wirkweise der Transzendenz, das sich aus den bislang in den Blick genommenen Darstellungen transsphärischen Kontakts im Apollonius von Tyrland und im Reinfried von Braunschweig (s. Kap. 6.2 und 6.3), ergibt, ist jedoch nicht widerspruchsfrei. Es entsteht der Eindruck, bestimmte Ereignisse seien vor-

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herbestimmt, andererseits scheint es notwendig, ihr Eintreten durch immanente Entscheidungen anzustoßen. So scheint fraglich, wie viel individueller Entscheidungsspielraum dem Einzelnen im Rahmen des jeweiligen Weltentwurfs bleibt, um die eigenen Geschicke zu lenken; und so ist der Gedanke nicht abwegig, dass der Weltenlauf oder zumindest das eigene Schicksal unter gewissen Bedingungen selbstbestimmbar ist. Diesem Eindruck unterliegt auch je eine Figur im Reinfried und im Apollonius. Savilôn und Albedacus fragen sich – wie vielleicht manch/e RezipientIn auch – welcher Nutzen aus den Informationen, die die transzendente Sphäre unter bestimmten Bedingungen preisgibt, zu ziehen ist. Diese Figuren streben aktiv nach Einblick in transzendente Pläne und versuchen dann, in jene einzugreifen. An ihrem transgressiven Umgang mit den verlockenden transzendenten Informationen wird schließlich jedoch gezeigt, dass transzendente Offenbarungen kein fundamentales Mitspracherecht bedeuten. In beiden Fällen entzündet sich das Vorhaben immanenten Eingriffs in transzendente Pläne an einer bestimmten visuellen medialen Form – den Sternen. Da die Figuren sich nicht nur hinsichtlich der Frage nach immanenter Nutzbarkeit transzendenter Informationen und des Umgangs mit transzendentem ,Wissen‘ ähneln, sondern sie auch mittels derselben medialen Form Zugriff auf die Informationen erlangen, die Ausgangspunkt ihrer Handlungen sind, scheint eine vergleichende Betrachtung der Textpassagen, die sich um Savilôn und Albedacus drehen, besonders fruchtbar. Im Zentrum der folgenden Analyse sollen aufgrund des besonderen Strebens der Figuren nicht allein die Media­tionsvorgänge, sondern auch die sich aus ihnen ergebenden Ereignisse stehen, die die aufgeworfene Frage nach dem Funktionieren der erzählten Welten und nach dem richtigen und falschen Umgang mit transsphärischen Möglichkeiten weiter erhellen. In die jeweilige Erzählung eingebunden sind die Figuren sehr unterschiedlich. Der Bericht von Savilôn488 im Reinfried ist Bestandteil einer rund vierhun-

488 Einen Überblick über die wichtigste Literatur zu den Traditionshintergründen dieser Episode liefert Strohschneider, Sternenschrift, S. 37, Anm. 13. Erzählungen mit Figuren, die ähnliche Namen tragen und inhaltliche Überschneidungen aufweisen, gibt es eine Handvoll (vgl. knapp dazu Ebenbauer, Spekulieren, S. 151–155); doch durch die zahlreichen Abweichungen bleibt der Hintergrund der Gestalt Savilôns insgesamt schwer bestimmbar. „Man hat den Namen unter anderem mit diabolus diavolo in Verbindung gebracht; […] Am meisten für sich hat wohl die Herleitung von Salomon: dafür spricht, die Tatsache, daß Salomon traditionell übermenschliches Wissen, Weissagerqualitäten und Macht über die tiuvil, die bösen Geister zugeschrieben werden (so etwa auch in Rudolfs von Ems ,Weltchronik‘); dafür spricht auch, daß im ,Reinfried‘ Savilons und Salomons Bannung teuflischer Geister in ein Glasgefäß gleichsam in einem Atemzug erwähnt wird (RvB v. 21042–21054); dafür spricht ferner, daß Zabulons Buch in anderen Versionen der Er-

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dert Verse umfassenden intradiegetischen Erzählung (vgl. RvB, V. 21315–21715), die Reinfried und sein persischer Freund in einem Buch, das in der Höhle des Magnetbergs an ein Grab gekettet ist, lesen, und die von der Vorgeschichte der heilsgeschichtlich relevanten Ereignisse am Magnetberg handelt (vgl. RvB, V. 21290–21299; vgl. Kap. 5.3.1). Dieser Binnengeschichte ist es wohl zu verdanken, dass die Magnetbergepisode trotz Tilgung jeglicher Spannung was das

zählung als Salomons Buch bezeichnet wird (allerdings ist eine sekundäre Übertragung auf bzw. Identifikation mit Salomon nicht auszuschließen)“ (Kerth, Sonja/Lienert, Elisabeth: Die Sabilon-Erzählung der ,Erweiterten Christherre-Chronik‘ und der ,Weltchronik‘ Heinrichs von München. In: Studien zur ,Weltchronik‘ Heinrichs von München Bd. 1. Überlieferung, Forschungsbericht, Untersuchungen, Texte. Hrsg. von Horst Brunner, Wiesbaden 1998 [Wissensliteratur im Mittelalter 29], S.  421–475, hier S.  436). Zur Ausbreitung der Erzählungen vom Zauberer Vergil im deutschen Sprachraum s. die Literatur bei Zironi, Alessandro: Der Wartburgkrieg. Toleranz und Intoleranz über Astronomie und Zau­berkunst im deutschen Mittelalter. In: Toleranz und Intoleranz im Mittelalter. Tolerance et intolerance au moyen age. VIII. Jahrestagung der ReinekeGesellschaft (Toledo, 14.05.–20.05.1997). Hrsg. von Danielle Buschinger/Wolfgang Spiewok, Greifswald 1997 (Jahrbücher der Reineke-Gesellschaft 8, Greifswälder Beiträge zum Mittelalter 74), S. 163–183, hier S. 173, Anm. 50; Kern Manfred: ,Vergilius‘. In: Lexikon der antiken Gestalten in den deutschen Texten des Mittel-alters. Hrsg. von dems./Alfred Ebenbauer, unter Mitwirkung von Silvia Krämer-Seifert, Berlin, New York 2003, S. 662–669. Laut Sieberts Aufstellung ist die Episode im Reinfried eine der drei Erzählungen, die die Figur des Zauberers Vergil mit einer Fahrt zum Magnetberg verbinden: die anderen sind ein im Thüringer Herrenton verfasstes Gedicht, das einen Teil des Wartburgkrieges darstellt (vollständig in Cgm 4997, fragmentarisch in der Manessischen Handschrift C; Näheres zur Verortung im Wartburgkrieg bei Kellner/ Strohschneider, Geltung des Sanges, S. 143–167), und ein mit Mayster Hainrich von Mugelen im langen don überschriebenes Meisterlied in der Wiltener Handschrift (Cgm 5198, Bl. 35a-36a); ein Abdruck befindet sich bei Siebert auf den Seiten 199–215; vgl. auch den Lexikoneintrag von Schanze, Frieder: ‚Virgils Fahrt zum Magnetberg‘. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon Bd. 10 Ulrich von Lilienfeld–,Das zwölfjährige Mönchlein‘, Berlin, New York 1999, Sp. 377–379. In den italienischen Geschichten über Vergil sei diese Episode nicht enthalten (Siebert, Vergils Fahrt, S. 193–196). Alle drei Texte weisen markante Überschneidungen, aber auch eine Vielzahl von Unterschieden auf (vgl. hier S. 196). Eine weitere Sabilon-Erzählung kennen drei Handschriften der Erweiterten Christherre-Chronik (A [Cod. 472, 182rb-189ra], B [Cod. Ser. nova 2642, 1172ra-178va], C [Cod.  3060, 288r-299r]) und fünf Handschriften der Weltchronik Heinrichs von München (Wo1 [Cod. Guelf. 1.5.2. Aug. 2o,57va-61va], B2 [Mgf 1416, 104ra-108rb], W4 [Cod. 13704, 165ra–177rb], W5 [Cod. Ser. nova 9470, 162va–169ra], M5 [Cgm 7377, 72rc–75vc]; vgl. Kerth/Lienert, Sabilon-Erzählung, S.  421f.). Diese jedoch speisen sich aus der Traumdeuter-Episode des Götterweiger Trojanerkriegs und der Zabulon- bzw. Savilôn-Erzählung des Wartburgkriegs und des Reinfried von Braunschweig (vgl. hier S. 429–438; vgl. die Inhaltszusammenfassung auf den Seiten 423–427, die jeweiligen Abweichungen auf S. 438). Ein Abdruck der Erzählungen der Weltchroniken befindet sich bei Kerth/Lienert, Sabilon-Erzählung, S. 442–475. Die bei allen Erzählungen auftauchende und damit die Namensanleihe in den Weltchroniken erklärende Konstante ist die Prophezeiung der Jungfrauengeburt in 1200 Jahren.

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ei­gentliche Gefährdungspotenzial, das vom Magnetbergmotiv ausgeht, betrifft489 so ausführlich von der Forschung behandelt worden ist. Es hat, wie Herweg bemerkt, etwas Atemberaubendes, mit welcher Konsequenz sich über einen Zeitraum von zweimal 1200 Jahren gespannte Geschichtsspekulation in extremster Raumreduktion auf ein winziges, motivgeschichtlich stark ,vorbelastetes‘ Felseneiland am Rande der Oikumene, der bewohnten Welt, kapriziert.490

Albedacus491 hingegen taucht über weite Strecken der Binnenhandlung des Apollonius immer kurz, aber stets in wichtiger Funktion auf. Er erscheint am Hof des Königs Paldein, stellt sich dort als Mann mit prophetischen Einsichten vor und spielt von da an aufgrund seiner Fähigkeit, transzendente Informationen mündlich aufzubereiten und weiterzuvermitteln (s. Kap. 6.2.2), über circa dreitausend Verse eine Nebenrolle als Begleiter und Berater des Protagonisten, bis er nach einer Auseinandersetzung über das wundersame Tier Milgot aus der Erzählung ausscheidet (vgl. AvT, V. 4130–7055). Savilôn und Albedacus verbindet eine Leidenschaft – der Blick in die Sterne und die Verwendung dieser als transsphärisch agierende mediale Form. Albedacus beruft sich in seinen Redebeiträgen meist492 auf astronomische Quellen,493

489 Vgl. unter anderem Vögel, der darauf hinweist, dass die Gefahr bereits im Vorfeld gebannt wird, es sich durch die vorherige Kenntnis aller relevanten Fakten um ein kalkulierbares und schließlich auch überwindbares Risiko handelt, und die Gefährlichkeit des Unternehmens bzw. die Frage nach dem Entkommen vom Magnetberg im Reinfried nicht mehr im Mittelpunkt der Episode steht (vgl. Vögel, Naturkundliches, S. 92). 490 Herweg, Glücksspiel, S. 73. 491 Albedacus habe laut Achnitz Anklänge des arabischen Astronom Al-Bagatti sowie des christlichen Habakuk (Achnitz, Babylon und Jerusalem, S. 281). Er trete als heidnischer Prophet auf, der sich der Bedeutung des entstehenden Christentums bewusst sei (vgl. Achnitz, Babylon und Jerusalem, S. 281). 492 Er kann auch mit den Göttinnen Pallas, Venus und Juno kommunizieren. Dass diese drei Apollonius auserkoren haben, ist zwar für ihn in den Sternen erkennbar (vgl. AvT, V. 4196–4200), zumindest mit Venus scheint er aber einen direkten Kontakt zu pflegen, da seine Wortwahl, [d]y gottin haben mich her gesant (AvT, V. 4193) einen direkten Auftrag nahelegt. Da­rüber, wie genau diese Kommunikation zwischen Albedacus und den Göttinnen aussieht, informiert der Text nicht (s. dazu Kap. 6.2.1; s. u.). 493 Das zaiget dein edel sterne (AvT, V. 4200), oder [a]n dem stern hab ichs gesehen (AvT, V. 4226), fügt der sich als stern sehere (AvT, V. 4191) vorstellende Mann seinen Aussagen gegenüber Apollonius an. Er definiert sich – noch bevor er seinen Namen nennt – als Sternenseher, sieht den Blick nach oben zu den Sternen als seine Profession und als Kern seiner Person an (einzige Abweichung ist der Hinweis auf eine schriftliche Quelle: Das hab ich an der geschrift gelesen, AvT, V. 4235). Die Erzählinstanz nimmt diese Bezeichnung nicht auf, verweist aber mit weissage (AvT,

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Savilôns Selbstverständnis kommt nicht zur Sprache, seine Figur wird jedoch eingeführt als der êrste dem ie wart/astronomîe bekannt (RvB, V. 21328f.). Anschließend wird er wiederholt in seinem Interesse für Sternenbeobachtung gezeigt (s. u.). Sind Figuren, die sich wie Savilôn und Albedacus der Sternenbetrachtung und -deutung widmen, auch in anderen mittelalterlichen Texten zu finden,494 so erhalten sie sowie die medialen Vorgänge, die sie nutzen, doch selten eine so breite Ausgestaltung. Dass Sterne transzendente Pläne sichtbar und immanent rezipierbar machen, wirkt insofern ,fahrlässig‘ von der transzendenten Sphäre, als diese Informationen problemlos preisgeben. Ihr Anblick ist beim Blick in den Sternenhimmel für bestimmte Zeitintervalle unbeschränkt zugänglich. Doch beide Texte machen deutlich, dass nur wenige Figuren die Sterne als transsphärische mediale Formen nutzen (können) und der Zugriff etwas Besonderes, Nicht-Alltägliches ist. Im Reinfried taucht neben Savilôn keine weitere Figur auf, die in diesem Sinne agiert,495 im Apollonius wird neben Albedacus nur noch ein zweiter Sternseher, der ,Wissen‘ aus der Betrachtung der Sterne gewinnt, genannt.496 Offenbar handelt es sich bei den Sternen um ein visuell uneingeschränkt zugängliches Phänomen mit einem medialen Potenzial, das nur wenige immanenten Figuren unter bestimmten Bedingungen nutzen können.497 Da der Text Albedacus vornehmlich als Mittler darstellt und seinen Empfän­ gerstatus zurückdrängt, ist kaum etwas darüber abzuleiten, wie bzw. unter

V. 6953, 6433) auf ihn, betont damit die resultierende Tätigkeit als die seine Figur ausmachende Funktion und übernimmt die Sterne als Ursprung seines ,Wissens‘ (AvT, V. 4921–4923). 494 Bereits Heinrichs von Veldeke Eneasroman übernimmt wie seine französische Vorlage die in Didos Ablenkungsmanöver erwähnte Priesterin, die mit umfassenden Kenntnissen über die Planeten ausgestattet sei und […] gelîchet den prophêten, indem sie an den sternen sehen [kan],/ swaz iemanne sal geschehen (Eneasroman, V. 2278–2280). 495 Es wird suggeriert, dass Savilôn weitere Sternenseher nachfolgen, da er als der êrste As­tronom (RvB, V. 21328f.) bezeichnet wird. Auch scheint Vergil später an astronomischen Informationen interessiert zu sein (vgl. RvB, V. 21582–21597). 496 Im späteren Verlauf des Texts wird Tholomeus, Sohn Apollonius’ und Diomenas, erwähnt, welcher ein hoher stern sehäre (AvT, V. 13494) geworden sei und aufgrund seiner niedergeschriebenen Weisheiten noch immer hoch im Preis der Menschen stünde (vgl. AvT, V. 13493–13498). Gemeint sein könnte nach der in HS A erscheinenden Schreibweise Ptolomens (vgl. AvT, Stellenkommentar zu V.  13492, S.  215) Claudius Ptolemäus, dessen Profession und Lebensspanne in den Erzählrahmen passen (vgl. dazu Schmeidler, F.: Ptolemeaus, Claudius. In: Lexikon des Mittelalters Bd. 7 Planudes–Stadt [Rus‘], München, Zürich 1995, Sp. 312). 497 Es ließe sich argumentieren, dass die Sterne der Freigabe transzendenter Informationen eine zur Teilhabe notwendige Fähigkeit, die in der Formatierung liegt, vorschalten, weil sie äußerlich jeder optischen Wahrnehmung zugänglich sind. Die in der Funktionsweise liegenden Hindernisse gleichen dann die unbeschränkte Zugänglichkeit der medialen Form aus.

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welchen Voraussetzungen die Sterne nach Vorstellung des Apollonius ein me­diales Potenzial für Albedacus entfalten. Mehr erfährt man über Savilôns Entwicklung zum Sternenseher und -deuter. Savilôn wird als edler und in jeglicher Hinsicht privilegierter junger Mann vorgestellt. Nicht allein seine adlige Abstammung und sein Reichtum (vgl. RvB, V. 21314–21319), vor allem sein ausgebildeter Verstand und sein unbedingtes und ausschließliches Streben nach hôher künste (RvB, V. 21322)498 ermöglichen es ihm, zum ersten Astronom der Menschheitsgschichte (s. o.) zu werden und sich in den schwarzen Künsten zu befleißigen, die – wie die Erzählinstanz berichtet – zur seiner Zeit keinesfalls verboten, sondern hoch angesehen gewesen seien (vgl. RvB, V. 21332f.). Mit derselben Ausschließlichkeitsformel der Sinnesausrichtung wie zuvor auf die hohen Künste (niht wan, RvB, V. 21322, 21234–21336) wird anschließend das Interesse für die Sterne beschrieben (vgl. RvB, V. 2120–21322, 21334–21339). Das allgemeine Interesse für Bildung scheint sich auf einen Bereich, der nun all seine Aufmerksamkeit zu binden vermag, zugespitzt zu haben. Ausgangspunkt eines über die Sterne vermittelten Einblicks in transzendente Pläne ist bei Savilôn also zunächst ein allgemeines Streben nach ,Wissen‘ und Erkenntnis, das sich schließlich auf einen Bereich spezialisiert, der ihn fasziniert und fortan ausschließlich beschäftigt. In der Darstellung der vollkommenen Ausrichtung auf die Spur der Sterne wird deutlich, dass ein gewisses Engagement, eine initiative Aktivität mit der Nutzung der Sterne als mediale Form verbunden ist. Weniger explizit dargestellt wird diese Aktivität bei Albedacus. Zu seiner Rezep­tionsform heißt es, er habe [a]n dem stern […] gesehen (AvT, V. 4226) oder an der geschrift gelesen (AvT, V. 4235),499 was Albedacus einen aktiven, aber nicht zwangsläufig auch initiativen Part zuschreibt.500 Das Zusammenrücken der Tä­tigkeit der Sternenschau mit Wissensvermittlung bei dem nur am Rande erwähnten Sternenseher Tholomeus (vgl. Anm. 6/496; 6/557) stützt den

498 Die Stärke dieses Interesses wird im längeren Zusammenhang des Zitats noch eindrück­ licher: sîns herzen sinne strebten/mit ganzlîcher vernünste/niht wan ze hôher künste (RvB, V. 21320–21322). 499 Ähnlich sind AvT, V. 4858, 4922f. und 6869. 500 Es lassen sich Hinweise zusammentragen, die nahelegen, dass sich Albedacus aktiv um transzendente Informationen bemüht. Die von der Erzählinstanz genutzte Bezeichnung maister (AvT, V. 4921, 6869) weist Albedacus’ Handeln als eine perfektionierte Kunst, eine aktiv verfolgte und geübte Fähigkeit aus, und legt nahe, dass Albedacus in den Sternen aktiv nach einer Kontaktmöglichkeit zum Unverfügbaren sucht. Daneben findet sich auch die Bezeichnung als weissage (AvT, V. 6953, 6433). Im ersten Begriff wird eine durch Übung, Arbeit und Lektüre erworbene Fertigkeit, im zweiten Begriff eine Sonderbegabung nahegelegt.

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Eindruck, dass die Intention, der transzendenten Sphäre Informationen abzuringen, Voraussetzung zur Nutzung der Sterne als transsphärische mediale Form ist. Auch wenn nicht zur Darstellung kommt, wie Savilôns Spezialisierung vonstatten geht,501 so gibt der Text doch Auskunft darüber, was für ihn so faszinierend an den Sternen ist und wie ihr mediales Potenzial nutzbar ist: des fürsten sin niht anders gert sunder meines trâgen wan der sternen lâgen, wie sî in irre spêre hetten manic kêre mit wunderlîcher tiute. sîn sin der lie bî niute, er fuor ie in dem furte der sternen unde spurte dar an wunderlîchiu dinc. (RvB, V. 21334–21343)

Faszinierend sind die Konstellationen und Bewegungen, die zu beobachten sind und von denen sich offenbar Bedeutungen – tiute (RvB, V. 21339) – ableiten lassen. Wie eine physische Fährte verfolgt Savilôn des Nachts als Zeichenleser den Lauf der Sterne und spürt dessen Bedeutung nach. Es ließe sich behaupten, Savilôn habe ein besonderes Bedürfnis nach Herstellung von Bedeutung des Sichtbaren. Er erblickt hinter der Oberfläche der visuellen Wahrnehmung eine Information, die nicht nur – wie seine Zeitgenossen annehmen – den Lauf der Sterne, eine naturwissenschaftliche Gesetzmäßigkeit,502 sondern den Lauf der Welt betrifft. Die beiden notwendigen Prozesse, die Wahrnehmung und die Interpretation des Wahrgenommenen, veranschaulicht Savilôns Umgang mit dem Saturnstern. Die Erzählinstanz berichtet davon, dass er diesen Stern wahrnehme, ihm dann durch

501 Für den ersten Kontakt mit einer solchen medialen Form ist eine ästhetisch fundierte Grundlage der Aufmerksamkeitsgeneration denkbar. Die Sterne haben als in ungleichmäßigen Abständen zueinander stehende Punkte von differierender Helligkeit am nächtlichen Sternenhimmel das ästhetische Potenzial, den Blick auf sich zu lenken, Aufmerksamkeit zu binden und Annahmen über die Bedeutung zu generieren. 502 Den Erzählungen Vergil gegenüber ist zu entnehmen, dass er versucht, ein System zu ergründen, nach dem die Planeten sich bewegen. Savilôn wolle die Himmelssphäre dursehen (RvB, V. 21593), auf Grundlage seiner Beobachtungen verstehen, und damit den Planetenlauf bis zu seinem Ende vorhersagen (vgl. RvB, V. 21588–21594). Aus der Beobachtung, der Empirie würde er auch in diesem Falle etwas vorhersagen, allerdings beträfe das nur den beobachteten Bereich selbst und nicht den übertragenen Bereich des Weltgeschehens.

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diesen Anblick und dessen Deutung offenbar werde, was zu tun ist: Er nam aber des sternen war (RvB, V. 21383), sogleich […] wart dem meister aber schîn von des sternen tiute, er solte […] (RvB, V. 21388–21390)

Savilôn beobachtet und misst dem Erblickten eine Bedeutung, die über den Bereich des Erblickten hinausgeht, bei. Zusammengefasst wird dieser Prozess des Beobachtens und Interpretierens mit dem Begriff des ,Sehens‘: [N]u sach der selbe jungelinc/mit zeichen offenbâren (RvB, V. 21344f.), leitet die Erzählinstanz eine sich auf eine bestimmte Entdeckung beziehende Wiedergabe der Offenbarung ein. In diesem üblicherweise für Prozesse der visuellen Wahrnehmung verwendeten Begriff, welcher nun wiederholt zum Einsatz kommt,503 ist in dieser Verwendung die Bedeutungszuweisung enthalten. Die Formulierung verschleiert die notwendigen Ableitungsvorgänge ebenso wie die in der Textpassage ebenfalls zu findende Formulierung, der Stern ,sage‘ Savilôn etwas (vgl. RvB, V. 21305, 21413). Ähnliche Vorgänge werden für Albedacus impliziert, bei diesem beschränken sich die Beschreibungen jedoch auf jenen Begriff des ,Sehens‘, während über den Ablauf des eigentlichen Mediationsmoments bzw. die Rezeption des Beobachteten keine Aussagen zu finden sind.504 Sterne überführen bestimmte Ereignisse und zeitliche Zusammenhänge in abstrakte, sichtbare Zeichen, die unter bestimmten Voraussetzungen entschlüsselt und versprachlicht weitervermittelt werden können.505 Für Savilôn wie für Albedacus zumindest ist der Sternenhimmel – so legen beide Texte mehr oder weniger deutlich nahe – ein lesbares

503 Später heißt es erneut, die Offenbarung einleitend: an dem sterne er ouch sach (RvB, V. 21426). Seine Zauberschrift formuliert er nâ des selben sternen schîn (RvB, V. 21423), also aus dem, was er aus dem visuell Wahrnehmbaren ableitet. 504 Einige Formulierungen suggerieren, die visuelle Wahrnehmung des sternenbeleuchteten Nachthimmels führe zu den prophetischen Kenntnissen, die Albedacus besitzt. Als Quelle von Vorhersagen wird von der Erzählinstanz oder von Albedacus jeweils allgemein die visuelle Aufnahme astrologisch generierter Informationen genannt. Sie offenbaren ihm die Auserwählt‑ heit Apollonius’ (Das zaiget dein edel sterne, AvT, V. 4200) und machten ihm sichtbar, was in seiner und Apollonius’ Zukunft liegt (An dem stern hab ichs gesehen, AvT, V. 4226). S. auch AvT, V. 4858, 922f., 6869, in denen Albedacus bzw. die Erzählinstanz erwähnt, dass dieser prophetische Informationen in den Sternen sieht, also – so die Deutung dieses Ausdrucks – visuelle Reize aufnimmt und wie einen Code interpretiert. 505 Dass Albedacus dies tut und die mediale Form der Sterne sich ihm eher durch seinen gezielten Blick erschließt, als es sich ihm aufdrängt, wird ebenso wenig thematisiert wie Albedacus’ genaue Vorgehensweise oder der initiale Kontakt mit der medialen Form, dessen er sich in den

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Symbolsystem, das es zu erschließen gilt. Während der ästhetische Eindruck in diesem speziellen Blickwinkel zurücktritt, ziehen die Empfänger aus dem Sichtbaren durch Interpretation der Konstellationen als zeichenhaft Schlüsse. Erst ein bestimmter Blickwinkel macht die Sterne also zu nutzbaren Mittlerinstanzen. Nur Figuren mit gezieltem, suchendem und geschultem Blick offenbart sich das mediale Potenzial. Der Reinfried setzt explizit eine bestimmte Bildung voraus, indem er betont, dass Savilôn sich in seiner Kunst ausgebildet hat.506 Im Apollonius wird wiederum nicht explizit thematisiert, was Albedacus befähigt, seine Doppelrolle als Empfänger und Mittler auszuüben, die Relevanz von Bildung wird jedoch auch hier suggeriert. Zusätzlich zu den Sternen stehen Albedacus nämlich auch schriftliche, nicht weiter explizierte Quellen zur Verfügung, in denen er nach eigener Aussage von den zukünftigen Ereignissen gelesen (AvT, V. 4235) habe.507 Die Fähigkeit, sich lesend zu informieren,508 verweist auf die Übung, aus visuell zugänglichen Zeichen einen Sinn herauszulesen, welche im Verständnis des Texts für den versierten Umgang mit den Sternen Voraussetzung zu sein scheint.509 Hinter den sichtbaren Konstellationen eine über die Sterne hinausweisende Bedeutung zu sehen, setzt eine Affinität zu komplexem Denken voraus und wird – so legen beide Texte durch ihre Betonung von Bildung

Textpassagen routiniert bedient. Seine Quelle, die anfangs noch genannt wird, wird im späteren Verlauf des Textes nicht mehr explizit erwähnt (vgl. AvT, V. 6188–6197). 506 Die nigramazie (RvB, V. 21331), die Savilôn betreibt, wird als kunst (RvB, V. 21332, s. auch V.  21583, 21590) bezeichnet, seine Werke verrichtet er mit künste (RvB, V.  21440, 21445) oder meisterlîch (RvB, V. 21633), seiner Figur selbst werden die Attribute meister (RvB, V. 21388, 21589), wîse (RvB, V. 21456) und künste rîch (RvB, V. 21354, 21512) verliehen. Insofern macht der ReinfriedRoman die Relevanz von Bildung für die Erschließung transsphärischen Potenzials stark. 507 Woher in diesem Falle die schriftlich fixierten Prophezeiungen über die in diesem Kontext erwähnte Herrschaft Tarsias über drei Länder (vgl. AvT, V. 4236f.) kommt und wie Albedacus sich Zugang zu dieser verschafft hat, bleibt ungeklärt. 508 Auch anderes, nicht unverfügbare Bereiche betreffende Kenntnisse, die Albedacus präsentiert (vgl. AvT, V. 4929–4931, 6953–6960), weisen auf einen hohen Bildungsgrad hin, der die Annahme, zum gezielten Blick in die Sterne sei eher als zufällige Begabung fixiertes und per Lektüre von Fachtexten erlernbares Spezialwissen nötig, unterstützt. Passend dazu verfügt er über eine Milgot bezwingende kunst (AvT, V. 6964), die auf Schrift beruht und Albedacus nicht nur als des Lesens, sondern auch des Schreibens mächtig ausweist (vgl. Kap. 1). 509 Er hat gelernt, im übertragenen Sinne zu lesen. So kann er aus Buchstaben- und Wortfolgen Sinn konstruieren, aus einer Beschreibung auf ein ihm aus Büchern bekanntes Phänomen schließen, aber auch aus Sternenkonstellationen lesen, was passieren wird. Er zeichnet sich dadurch aus, dass er hinter dem Sichtbaren eine erklärende Ursache, eine Bedeutung, vermutet, das Sichtbare wie für Savilôn beschrieben als Spur liest und dieser nachgeht.

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nahe – vor allem von der Rezeption gelehrter Schriften befeuert.510 Damit erzählen sie aus, was auch historische Diskurse über die Verfahren und Möglichkeiten der Sterndeutung annehmen.511 Beide Texte setzen für die Nutzung der universell visuell zugänglichen Sterne als transsphärische Instanz erlernbare Kenntnisse und kognitive Kompetenzen des abstrahierenden und interpretierenden Lesens und Denkens sowie ein initiatives Interesse voraus. Im ausführlicheren Entwurf dieser transsphärisch-medialen Möglichkeit im Reinfried unterliegt die transsphärische Aussagekraft der Sterne einer gewissen Systematik. Bestimmte Sterne sind, wie die Mutter Savilôns erklärt, zentral für die Vermittlung spezifischer Themen oder Informationen. Eine detailliertere oder weiterführende Information zu einer der transzendenten Sphäre bereits abgerungenen Information ist nur von demselben Stern zu erhoffen, der bereits die erste diesbezügliche Information angezeigt hat (vgl. RvB, V. 21370–21379).512 Der

510 Ebenso schließt weder der Reinfried noch der Apollonius durch das Auftreten anderer gebildeter Figuren, die keinen Einblick in die Transzendenz über die Sterne haben, die Rolle von Begabung und Bestimmung für den transsphärischen Umgang mit den Sternen aus. Albedacus ist der einzige der Gruppe mit der Fähigkeit, in den Sternen zu lesen; nur er sieht unterwegs in den Sternen Gefahr drohen (vgl. AvT, V.  4922f.); noch deutlicher scheint die Bedeutung einer gewissen Vorbestimmung zu hoher Einsicht trotz des Fingerzeigs auf Bildung in hohen Künsten im Reinfried. Savilôn unterrichtet seine Mutter von seinen Sichtungen (vgl. RvB, V. 21357), was darauf schließen lässt, dass sie nicht fähig ist, selbst aus den Sternen zu lesen – , obwohl sie die Vorgehensweisen kennt. Sie erklärt Savilôn sogar, wie er herausfinden kann, wie die Erfüllung der Prophezeiung unterbunden werden kann (vgl. RvB, V. 221370–21379). Ob eine übende Auseinandersetzung ausreichend ist, um die Sterne als transsphärische mediale Form zu nutzen, oder eine Begabung, eine Bestimmung zu dieser schließlich den Kern beider Figuren ausmachenden Tätigkeit hinzutreten muss, bleibt offen. 511 Grundlage der Akzeptanz astronomischer Verfahren im christlich-theologischen Horizont ist das Auftreten von Sternendeutern in der Bibel. Historische Schriften, die solche Verfahren erläutern, hat es gegeben, ihre Nützlichkeit war umstritten. Mit der Einnahme durch Toledo 1085 verbreiten sich die Werke Aristoteles’ im christlichen Europa. Mit ihnen ändere sich die Wahrnehmung der Himmelsbeobachtung. Zuvor dienten astronomische Kenntnisse vor allem der Berechnung des Osterfestes und der Exegese, nun zeigten sich auch prominente Geistliche wie Papst Silvester II. interessiert an griechischen und arabischen astronomischen Arbeiten (vgl. Zironi, Wartburgkrieg, S. 163). Diese Begeisterung jedoch rief sogleich kritische Stimmen hervor. Bernhard von Clairvaux und Wilhelm von Auvergne (s.  Kap.  6.2.1) argumentieren laut Zironi gegen jene Erkenntnisinteressen (vgl. hier S.  163 sowie S.  172). Inhaltlich existiert in der mittelalterlichen islamischen Kultur die Vorstellung, die Planeten wirkten am Menschenschicksal mit (vgl. hier S. 170). Auch die Ablesbarkeit des Willen Gottes durch die Bewegung der Gestirne entstammt jenem historischen Astronomie-Diskurs (vgl. hier S. 170). 512 Dass die Wiederkehr des Saturnsterns dreißig Jahre in Anspruch nimmt (vgl. RvB, V. 21383– 21387), ist offenbar naturkundliches Wissen der Zeit. In dem auf 1306 datierten Buch der Natur Konrads von Megenberg heißt es: Der ſtern iſt von ſeiner chraft chalt vnd truchen, vnd iſt ſein lieht

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Text bemüht sich nicht nur darum, den Prozess, der Savilôn zu seinem brisanten ,Wissen‘ führt, zu beschreiben, sondern entwickelt auch ein konsequentes System, nach dem die Sterne Informationen zur Verfügung stellen, während im Apollonius die Sterne als Quelle transzendenten ,Wissens‘ Erwähnung finden, ohne dass sich daraus ein bestimmtes Funktionssystem ergibt.513 Ein Motiv für den wiederholten Blick in die Sterne wird hingegen in beiden Texten entwickelt. Die Informationen, die die beiden Figuren aus den Sternen lesen,514 sind durch ihren prophetischen Charakter von verlockender Brisanz. Verfügbar werden Informationen über zukünftige Ereignisse;515 der Umfang, die Detailliertheit und Nähe zum Leben der Figuren gestaltet sich aber unterschiedlich und hat Auswirkungen darauf, wie die Figuren mit dem Enthüllten umgehen. Savilôn ist von Sternen und ihrem medialen Potenzial fasziniert und verbringt seine Nächte damit, ihre Konstellation und ihren Lauf zu erforschen. Dass er sich aus dem visuell Wahrgenommenen interpretierend geheimes ,Wissen‘ aneignen kann, motiviert ihn zu weiteren Beobachtungen (vgl. RvB, V. 21334–21343). Dabei

tunchel, vnd volbringet ſeinen lauff inſ dreiig jarn (Buch der Natur, Buch II.1, S. 84). Ebenso handelt es sich um historisches Wissen, dass der Saturnstern zauberische Eigenschaften hat (vgl. Zironi, Wartburgkrieg, S. 169). 513 Der Reinfried stellt an seiner Sternenseherfigur aus, was der Apollonius vielleicht voraussetzt, aber verschweigt, nämlich, wie sich dieser Zugang zu transzendenten Informationen vorzustellen ist. Während im Apollonius nur stichwortartig auf den Blick in die Sterne Bezug genommen wird, um zu begründen, wie es zu den Prophezeiungen des Albedacus kommt, thematisiert der Reinfried den Prozess, stellt die Faszination des Beobachtens und Interpretierens, die Savilôn treibt und Kernvoraussetzung für die Nutzung der Sterne als transsphärische mediale Form ist, in ihren Bestandteilen dar. Der Reinfried betont mit der Erwähnung des initial stark ausgeprägten Drangs des jungen Savilôn zu allen Künsten stärker, dass jener Zu­gang nicht nur an ein Interesse, eine aktive Zuwendung, sondern auch an Bildung und Erfahrung im geduldigen Beobachten der Sterne gebunden ist. 514 Die Einführungen der beiden Figuren legt nahe, dass sie fähig sind, den Sternen stets neue Informationen abzuringen. Allerdings stellen die Texte selbstverständlich nur Informationen dar, die für den erzählten Zusammenhang relevant sind. Wie umfangreich die Möglichkeit des Zugriffs ist und ob die Grenzen, die durch die Darstellung entstehen, deckungsgleich mit denen sind, die für die konzipierten Figuren gelten, lassen sie daher offen. 515 Die Annahme, es ließen sich aus den Sternen prophetische Informationen gewinnnen, scheint im Mittelalter diskutiert worden zu sein. Das zeigt sich in der Ablehnung der Möglichkeit prophetischer Schau durch den Blick in die Sterne, die auf das Konzept des freien Willens des Menschen ebenso wie die Fähigkeit Gottes, in den Lauf seiner eigenen Schöpfung einzugreifen verweist (vgl. Schmitz-Esser, Romedio: Astronomy. In: Handbook of Medieval Culture. Fundamental Aspects and Conditions of the European Middle Ages Vol. 1: Hrsg. von Albrecht Classen, Berlin 2015, S. 120–133, hier S. 120).

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werden ihm eines Tages ganz besondere Informationen zuteil, die ihn verwundern und verstören: nu sach der selbe jungelinc mit zeichen offenbâren daz nâ zwelf hundert jâren har ûf dise erden ein kint solte werden von einer megede geborn. von dem kinde solt verlorn werden jüdische diet, und möhte man daz sicher niet mit keiner sach erwenden. den künste rîch genenden dûht daz wunderlîche. (RvB, V. 21344–21355)

Savilôn schaut – so weiß das christlich vorgebildete Publikum – nicht weniger als das entscheidende heilsgeschichtliche Ereignis des weiteren Weltlaufs, die Geburt Jesus Christus’ durch die Jungfrau Maria. Tausendzweihundert Jahre vor dem Eintreten dieses Ereignisses klingt die doch recht vage Information, es werde ein Kind von einer Jungfrau geboren, das den Untergang des Judentums bedeute (vgl. RvB, V. 21350f.),516 für den Empfänger dieser Nachricht jedoch alles andere als verheißend. Da er mütterlicherseits jüdischer Abstammung ist,517 verleitet ihn die Information dazu, das Enthüllte zunächst seiner Mutter zu offenbaren. Diese nun widerspricht der in der Botschaft enthaltenen Aussage, das Prophezeite sei nicht – niet/mit keiner sach (RvB, V.  21353f.) – abzuwenden. Ganz im Gegenteil gebe es nichts, was sich nicht verhindern ließe (RvB, V. 21364f.). Unter dieser Prämisse stachelt sie ihren Sohn an,518 weiter in den Sternen zu forschen, um darin einen Hinweis zu finden, wie der vorhergesagte Untergang zu verhindern sei. Dem Wunsch seiner Mutter gemäß519 forscht Savilôn an jenem Stern weiter; nun nicht mehr aus dem Interesse, etwas über ihren Lauf oder aber die Zukunft zu erfahren, sondern mit der dezidierten Absicht, in diese Abläufe und Pläne einzugreifen. Er sucht nun gezielt nach spezifischen Inhalten und seine Intention liegt nicht mehr darin, mehr zu wissen oder aber darin, das verfügbar

516 Noch deutlicher wird dieser bereits zitierte Zusammenhang in RvB, V. 21419f. 517 [M]uoter sîn […] diu was ein jüdîn:/sîn vater was ein heiden (RvB, V. 21357–21359). 518 Seine Mutter ist betroffen von der ihr vermittelten Vorhersage (sie inneclîch erschrac, RvB, V. 21363), da sie befürchtet, daz zerstœret/dâ von würd ir geslehte (RvB, V. 21368f.). 519 Auch später heißt es über die Maßnahmen, die Savilôn ergreift, um die Erfüllung des Prophezeiten abzuwenden: ze lieb der muoter daz beschach (RvB, V. 21425).

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Gemachte mit anderen zu teilen, sondern richtet sich darauf, in die transzendente Ebene hineinzuwirken bzw. deren Plan zu manipulieren. Anders als die Propheten des Alten Testaments gibt Savilôn das ,Wissen‘ um ein bevorstehendes Wunder nicht der Öffentlichkeit weiter, fungiert also nicht als mediale Form zweiter Instanz, sondern gibt seine Offenbarungen nur einer Person preis, die ihn in persönlichem Interesse und unter Ausnutzen der intimen verwandtschaftlichen Bindung zu einem Agenten antichristlicher Interessen, der Unterbindung der Menschwerdung Gottes, macht.520 Dass seine Mutter dies für ein keiserlîchez dinc (RvB, V. 21381) hält, ist auch auf die Begrenztheit des Einblicks, auf die Perspektivgebung durch die Art und Weise der Vermittlung, zurückzuführen. Das wird besonders im Vergleich mit eben jenen Prophetenfiguren, die im Apollonius auftauchen (s. Kap. 6.2.2), deutlich. Sie könnten in einer ähnlichen Zeitdifferenz zur Geburt Jesu gelebt haben, sind ebenfalls jüdischen Glaubens und erfahren im Kern dasselbe, [e]s wird geporen ain kindelein/Zu Jerusalem von ainer magt (AvT, V. 14835f.). Ihnen aber offenbart sich nicht das Ende der Vorherrschaft des jüdischen Volkes durch das Kind, sondern die Erlösung der Menschheit, die Erneuerung eines letzten Bundes mit Gott durch das prophezeite Kind: Der sol der weld sunde tragen: […] Der wirt dan geben ain ee Und nach der kain ander me. An der ee muß di welt wesen, Wer an der sele wil genesen. Sein name wurt gehaissen alsuß: Von Nazareth Jhesus Christus. (AvT, V. 14838, 14842–14847)

Savilôn erfährt, so wie es der Text darstellt, nichts Derartiges; für ihn und besonders für seine Mutter wirkt die prophetische Information so wundersam wie bedrohlich. In der aus der Sternenschau gewonnenen Information wird das Umwenden des Vorhergesehenen (vgl. RvB, V. 21392) als Handlung bezeichnet, mit der er alle juden pfenden/an strengen sorgen sûren (RvB, V.  21393f.) könne. Auch diese Botschaft gibt die Interpretation der angekündigten Kindesgeburt als Gefahr für das jüdische Volk vor, spiegelt also die Perspektive wieder, die der der

520 Savilôn ist – so stellt auch Herweg fest – eigentlich zum Propheten prädestiniert, entscheidet sich jedoch, dem „göttlichen Plan durch Nigromantie in die Parade zu fahren“ (Herweg, Glücksspiel, S. 66).

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jüdischen Mutter entspricht521 und nicht einer heilsversprechenden Transzendenz, die den Erlöser ankündigt.522 Es wirkt fast so, als wollte die transzendente Instanz, die diese Pläne offenbart, alarmieren und dazu animieren, ihre Umsetzung zu verhindern.523 Etwas anders verhält sich Albedacus524 im Apollonius-Roman. Albedacus kann ebenso Voraussagen über Ereignisse in großer zeitlicher Distanz aus seiner Sternenschau generieren, so weitreichend wie im Falle Savilôns sind diese Distanzen jedoch nicht. Die Nutzbarkeit und Aussagekraft der Mediation über die Sterne ist schwankend und weniger berechenbar als im Reinfried konzipiert. Albedacus’ erste Prophezeiung, die Wiedervereinigung von Apollonius und Lucina (vgl. AvT, V.  4221f.), umspannt circa dreizehn Jahre,525 andere Informa‑ tionen erhält Albedacus in der Nacht vor dem Eintreffen des jeweiligen Ereignisses (vgl. AvT, V. 4921–4923, 6869–6871). Dementsprechend unterschiedlich ist die Konkretheit der Informationen. Meist – so wurde bereits in Kap. 6.2.2 gezeigt – bleiben die Aussagen recht allgemein, stets jedoch sind sie auf das Personal, die Figur Albedacus oder das mit ihm umgehende Reisekollektiv und dessen Anführer Apollonius bezogen. Heilsgeschichtliche Informationen spielen in diesem Sternenschau-Prozess keine Rolle. Ob die gewonnenen Einsichten den ,Suchanfragen‘, die Albedacus gen Himmel schickt, entsprechen, lässt der Apollonius anders als der Reinfried im Dunkeln, da er an keiner Stelle von Albedacus’ Informationssuche berichtet, sondern jeweils nur dessen Aufnahme oder aber Weitervermittlung darstellt. Albedacus’ Motivation, wiederholt den Blick gen Himmel zu richten, wird weniger als für die Parallelfigur im Reinfried entfaltet, fällt dafür aber allein auf die Figur Albedacus zurück, da dieser sich nicht mit einer anderen Person über das Geschaute austauscht und berät. Sein Antrieb wird lediglich

521 Die Fehlinterpretation gehört, so Herweg, zu dem Mix mittelalterlicher antijüdischer Klischees, die der Text aufnimmt und reproduziert (vgl. ebd. hier S. 67). 522 Zur Unbestimmtheit und Lückenhaftigkeit der verfügbar werdenden Informationen Strohschneider, Sternenschrift, S. 42, der deswegen für die Botschaft auch nicht den Begriff ,Sternenschrift‘ verwenden möchte. 523 Herweg bezeichnet die Vorgänge auf dem Magnetberg daher auch als eine „gewaltige metaphysische Wette der Kontingenz mit der Providenz, die hier imaginiert und ausspekuliert wird. Ihr Gegenstand ist nicht mehr und nicht weniger als das Heil der Welt“ (Herweg, Glücksspiel, S. 66). 524 Achnitz sieht auch in diesem einen Propheten, der Apollonius bereits beim ersten Treffen die spätere Konversion vorhersage (vgl. Achnitz, Babylon und Jerusalem, S. 281f.). Die Text­ passage selbst legt diesen Schluss allerdings nicht nahe. 525 Wenn man die Äußerungen zu Gott als Vorhersage der Konversion des Protagonisten deutet (Anm. 6/524), erweitert sich der Abstand auf vierzehn bis fünfzehn Jahre.

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angedeutet, ist allerdings brisant. Apollonius gegenüber gibt er schon bei ihrer ersten Begegnung zu verstehen: Ich waiß das auch harte wol Das ich mein leben lassen soll Pey dir von deinen schulden. (AvT, V. 4230–4232)

Auf Grundlage dieser Offenbarung ließe sich vermuten, dass Albedacus’ Interesse an den Sternen ihren Ursprung in der Erforschung des eigenen Horoskops findet, und der Sternenseher erst auf die Entdeckung der verbundenen Schicksale hin die Suche ausgeweitet hat. So legt der Text, wenn auch nur subtil, nahe, dass es bei Albedacus’ Bestrebungen stets darum geht, mehr über die Umstände seines vorbestimmten Todes zu erfahren und möglicherweise das Ein­treten der Vor­sehung zu verhindern. Die Erforschung der eigenen Zukunft und die Hoffnung auf zusätzliche Informationen oder gar die Möglichkeit einer Änderung des vor(her)gesehenen Schicksalverlaufs stellt der Text also auch hier – wenn auch dezenter – als ausschlaggebende Motivation der wiederholten Sternenschau dar. Der fragende wird zum herausfordernden Blick. Dass Albedacus ähnliche wie Savilôn versucht, das ihm offenbar Gewordene zu manipulieren, ist anfangs weniger deutlich. Allein sein Verhalten kann als Versuch, dem vorbestimmten frühzeitigen Tod durch Apollonius zu entgehen, interpretiert werden. Zunächst jedoch scheint es so, als sei er seinem Schicksal ergeben. Albedacus weiß, dass ihm der Tod durch Apollonius bestimmt ist, dennoch sucht er ihn auf Befehl der Göttinnen auf (vgl. AvT, V. 4193–4201), unterstützt diesen, möchte ihn ze hulden [kommen lassen],/Wann es mag anders nit gewesen (AvT, V. 4233f.). Das wirkt nicht wie eine Strategie, seinem Schicksal zu entfliehen, sondern wie ein Sich-Fügen angesichts der Einsicht in das Unumgängliche. Als Albedacus aber verspricht, mit und für Apollonius zu sterben, wird die Aussage des Sternensehers ambivalent. ’Ich muß sterben und genesen Mit dir, Tyrus, werder man. Dar umb ich dich gesucht han.’ (AvT, V. 4263–4265)

Was in erster Linie wie ein Treueversprechen anmutet, das zu der zuvor formulierten Schicksalsergebenheit und professionellen Devotion gegenüber seinen göttlichen Aufträgen passt, lässt auch eine andere Interpretation zu. Wenn Albedacus Apollonius in der Annahme aufsucht, er werde mit ihm verderben oder bestehen, und er sich nicht dieser Annahme zum Trotz, sondern ihretwegen zu ihm begibt – und das suggeriert der kausale Anschluss [d]ar umb ich dich gesucht han (AvT,

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V. 4265) – dann ließe sich die vorherige Behauptung, er werde von deinen [Apollonius’] schulden (AvT, V. 4232) sein Leben verlieren, anders als die Vorhersage einer vorsätzlichen Tötung lesen. Diese Lesart unterstellt der Figur die Deutung, er werde in einer durch Apollonius erzeugten Gefahrensituation auf dessen Abenteuerfahrten sterben. Die angesprochene schulden Apollonius’ bestünde dann nicht in der Tötung durch die eigene Hand, sondern in unglücklichen Handlungen, die Apollonius an einen seiner Tiefpunkte führen und – quasi als ,Kollateralschaden‘ – Albedacus das Leben kosten. Albedacus gibt nichts Näheres über die Umstände seines Todes durch Apollonius preis und scheint nicht mehr zu wissen als das, was er vermittelt. So deutet der Text an, dass Albedacus nur mit Gewissheit von der Verknüpfung ihrer beider Leben weiß und auch für ihn die Details der Interpretation unterliegen. Die späteren Vorhersagen, die Apollonius und seine Mannschaft in Notsituationen retten, lassen es zumindest möglich erscheinen, dass Albedacus im Sinne der erläuterten Deutung trotz der selbst proklamierten Unbedingtheit des Prophezeiten in der Unterstützung Apollonius’ eine Möglichkeit wittert, seinen Tod hinauszuzögern, wenn nicht abzuwenden.526 Scheint diese Interpretation etwas konstruiert, so passen doch die späteren Aussagen und Handlungen der Figur recht gut zu der Vermutung, die Figur treibe die Hoffnung, durch den begabten Blick in die Sterne günstig auf ihr Schicksal einwirken zu können. Die Angst des Sternsehers, er möge bald sterben, wird mehrmals explizit in Zusammenhang mit weiteren Vorhersagen erwähnt. So sagt er zukünftige Turbulenzen auf der Schiffsreise mit dem Verweis [o]der ir kompt in solche not/Das wir alle ligen dot (AvT, V.  4925f.) voraus und dringt darauf, das Schiff gut zu rüsten, was sich im anschließend aufziehenden Sturm für die gesamte Gruppe, Albedacus eingeschlossen, als überlebenswichtig erweist. Eine ähnliche Maßnahme bei der Abreise vom Turnier des Jechonias wird ebenso auf die prophetisch begründete Angst Albedacus’ zurückgeführt: Appolonio gedacht ward Wider an die haym fardt. Di scheff wuren wol berait: Kost vil dar ein gelait, Das ich sprache zware Ein vollen zu ainem jare. Das riet der alte weyssage. Er hett jamerliche klage, Er laid kumer und not,

526 Dabei ist Albedacus anscheinend auch unwissend darüber, wann ihm der Tod durch Apollonius droht. Wie bei so vielen seiner Vorhersagen kann Albedacus nur darstellen, dass etwas passieren wird, nicht wann (s. Kap. 6.2.2).

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Er vorchte er lag dot. Da mitte schuff der greyse Das michel mer speyse In das scheff ward gelan, Da man sust hette gethan. (AvT, V. 6427–6440)

Albedacus wird erneut in Sorge um seine Gesundheit auf der Reise gezeigt – erneut zu Recht. Und wieder ist es der auf seinen Aussagen beruhende Rat, der später die Mannschaft und damit auch bzw. so, wie der Text es darstellt, vor allem Albedacus vor dem Tod bewahrt. Denn es heißt: Albedacus hette sich ernert: (Da di speyse was gezert, Di roß assen si dar zu) (AvT, V. 6835–6837)

Das Gewicht legt die Darstellung auf den Sternenseher, der vor der Abfahrt um sein Leben fürchtet und nun Dank seines Eingreifens nicht verhungern muss.527 Die beschriebenen Fälle zeigen Albedacus engagiert für das Wohlergehen Apollonius’, lassen dabei aber auch den Eigennutz, der damit verbunden ist und der auf die anfangs offenbarte Verknüpfung der Leben zurückweist, nicht unerwähnt. Albedacus deutet die ihm jeweils kurzfristig verfügbar werdenden bevorstehenden Gefahrensituationen für das Kollektiv als drohende Gefahr für sich, für seinen Tod mit bzw. durch Apollonius und versucht, mit seinen Handlungsanweisungen nicht nur Apollonius, sondern auch sich selbst zu schützen. Ist diese Hoffnung in den besprochenen Szenen noch unterschwellig, so kommt sie doch zumindest in der letzten Szene, die von Albedacus erzählt, deutlich zum Vorschein. In der angesprochenen Episode sieht Albedacus in der Nacht in den Sternen, dass im groß ungemach/Des tages solte wider faren: (AvT, V. 6870f.). Er kann daher in die Freude der nach einjähriger Gefangenschaft im Lebermeer euphorisch der grünen Insel zustrebenden Mannschaft (sie hatte sich dort unfreiwillig von ihrem Anführer Apollonius getrennt) nicht einstimmen, sondern verbringt die Zeit allaine (AvT, V.  6875) mit jamerleiche[r] klage (AvT, V. 6876). Grund seiner Verzweiflung ist die Assoziation des unabwendbaren ungemach[s] (s. o.) mit dem fast dreitausend Verse zuvor thematisierten Tod

527 Erst als die Figuren bereits aus ihrer misslichen Lage befreit sind und Apollonius ihnen von seiner wunderhaften Wurzel zu essen geben kann, wird auch in Bezug auf die gesamte Be‑ satzung das Ausmaß der Nahrungsknappheit erwähnt: Si waren mager und kranck,/Wan dy speyse und das getranck/Was in klain gnug gegeben,/Das sy kawm mochten leben (AvT, V. 6919– 6922).

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durch Apollonius, die sich wohl nicht nur Albedacus aufdrängt. Als er nun Apollonius’ Erzählungen lauscht und in dem König der Inseltiere und Lebensretter Apollonius’ (vgl. AvT, V. 6939–6952) das Wundertier Milgot erkennt (s. Kap. 5.3.1), ist an den wiedergegebenen Gedanken sowie an der Darstellung seiner Reaktion deutlich abzulesen, dass sich in seiner Wahrnehmung nun scheinbar die ultimative Möglichkeit zur Abwendung seines soeben noch unabwendbar scheinenden Schicksals auftut. In unmittelbarer Reaktion auf die Entdeckung erwägt er: Hiette ich des tyeres hertzen/So verchte ich kainen smertzen (AvT, V. 6959f.), woraufhin sich eine hoffnungsvolle Möglichkeit in seinem Kopf festsetzt und sich seine Stimmung wandelt. Angesichts dieser Entdeckung und der schließlich erfolgreichen Überwältigung des Tieres (s. u.) ward Albedacus gar fro (AvT, V. 6969). Das verweist zurück auf seinen vorherigen Kummer und zeigt, dass Albedacus glaubt, sich diesem durch den Besitz des tierischen Herzens entziehen zu können. Diese Hoffnung wirkt angesichts des zweimaligen erfolgreichen Einschreitens des Sternensehers528 und der Verheißung, die mit Milgot verknüpft ist, nicht unbegründet. Gegenüber Apollonius erklärt er später, der Verzehr des Herzens führe zu hundertjähriger schmerzfreier Jugend und unvergleichlicher Stärke.529 Stimmt das, so kann er tatsächlich hoffen, nun seine ständige Angst im Umgang mit Apollonius fallen lassen zu dürfen. Der von Albedacus gefürchtete Tod könnte durch den Verzehr des Herzens zumindest in näherer Zukunft nicht eintreten, das vorhergesagte Schicksal hätte sich durch sein weltliches und transzendentes ,Wissen‘ abwenden lassen. Damit handelt er – so ließe sich argumentieren – wider besseres Wissen, da der Vorhersage über das bevorstehende Ungemach die Formulierung [d]a chunde er sich nicht vor pewaren (AvT, V. 6872) angefügt ist.530

528 S.  o. In der Vagheit, in der Albedacus selbst über das bevorstehende Schicksal Bescheid weiß, könnten sich die jeweiligen Ratschläge und ihre Relevanz für das Wohlergehen der Besatzung für Albedacus als erfolgreiches Entgegenwirken deuten lassen. 529 Wiltu hundert jar leben,/Jungk an allen smertzen?/So iss des tyeres hertzen/Also groß als ain halbes ay./Es hatt tugent manigerlai:/Du wirdest starck und gesundt/Und wolgemut zu aller stundt (AvT, V. 7012–7018). Albedacus wiederholt in seinem Versuch, Apollonius auf seine Seite zu ziehen (vgl. AvT, V. 7030–7034), jene Wirkungen. 530 Dieser Nachsatz ist nicht eindeutig als Bestandteil der Sternenoffenbarung gekennzeichnet und kann auch als proleptischer Kommentar der Erzählinstanz verstanden werden.

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Die Heimlichkeit, mit der Albedacus sein Vorhaben verfolgt,531 zeugt davon, dass er sich dieser Transgression bewusst ist.532 Savilôn wird zielstrebiger, fokussierter und auch fachmännischer im Umgang mit der medialen Form und im Bemühen um Änderung des Schicksals­laufs gezeigt, die Zugriffsmöglichkeiten scheinen – so zeigt der wiederholte Umgang mit der medialen Form – im Reinfried allerdings auch anders als im Apollonius konzipiert zu sein. Savilôn interessiert sich nur für eine Information, die die Möglichkeit des Einschreitens und Verhinderns des Vorhergesagten betrifft, weiß dank seiner Mutter, wie die mediale Form zu verwenden ist, um die gewünschten Informationen zu erlangen, und kann diese nach dreißig Jahren den Sternen abringen. Albedacus hingegen blickt immer wieder in die Sterne, um jegliche bevorstehende Gefahr zu antizipieren und dann auf eigene Faust – in seinem Fall durch Entwicklung von Vorsichtsmaßnahmen – zu entschärfen.533 Nach einer gezielten Information in den Sternen zu suchen, wie Savilôn es tut, scheint im Apollonius nicht möglich. Die Informationen, die die Figuren über die Sterne bezüglich bevorstehender Ereignisse gewinnen, sind jeweils vage, lückenhaft und suggestiv. Dieser Lückenhaftigkeit ist es zumindest in Teilen zuzuschreiben, dass Albedacus und Savilôn der Hoffnung verfallen, die vorgesehenen Ereignisse beeinflussen zu können. In beiden Texten entsteht bei einer Lektüre der Sternenbotschaften der Eindruck, die transzendente Instanzen wolten die Figuren zur Rebellion reizen. Korrespondierend dazu lässt sich für Savilôn aus der transsphärischen medialen Form selbst die Möglichkeit, die Pläne zu durchkreuzen, gewinnen. Durch die in der Darstellung des vorgeschlagenen Vorgehens auftauchenden Einschübe als im der

531 Seine Angst teilt er nicht mit, seine Suche nach dem Tier findet [h]aymlich (AvT, V. 6962) statt, und die Idee, das Herz zu teilen (vgl. AvT, V. 7010–7034), bringt er erst vor, als ihm Apollonius, der ihm gefolgt ist, entrüstet gegenübersteht. 532 Darüber hinaus müsste er in Anbetracht der Tatsache, dass er Apollonius das Herz erst anbietet, als dieser ihn zur Rede stellt, davon ausgehen, dass er zunächst vorhatte, alleine von dem Verzehr zu profitieren und den vorhergesagten Tod durch Apollonius sogar unmöglich zu machen. In jedem Falle deutet sich für Albedacus mit dem Auftauchen Milgots die Chance an, das Vorhergesagte auszuhebeln. 533 Es ist durch die fehlende Darstellung der Mediation oder eines Bemühens um Mediation nicht auszuschließen, dass die transzendente Sphäre im Textentwurf nicht den Zugriff vollständig lenkt und die Sterne nur das, was er sieht, preisgeben lässt.

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sterne seite (RvB, V. 21395) bzw. nâ des selben sternen schîn (RvB, V. 21423) bindet der Text Savilôns Handlungen gegen den Heilsplan an den Saturnstern zurück. Der Stern oder die mit ihm assoziierte Gottheit534 suggeriert entgegen der eigenen ursprünglichen Aussage, die Ereignisse könnten, wenn nicht verhindert, dann zumindest aufgeschoben werden (vgl. RvB, V.  21394–21431). Die Sterne geben Savilôn „eine umfassende Ordnung der Welt so zu erkennen, daß Zukünftiges nicht bloß astrologisch wißbar, sondern faktisch verfügbar zu werden scheint.“535 Dass die Figuren mit den Einblicken in die transzendenten Pläne überfordert, ihre Reaktionen falsch sind, stellen die Texte nicht allein über den Ausgang der Episoden, sondern auch über Vergleichsfiguren aus. Mit ihrem Vorgehen verhalten sich Savilôn und Albedacus nämlich gleichermaßen anders als andere Figuren mit prophetischen Einsichten. Elias und Henoch im Apollonius bspw. verhehlen nicht, dass die Isolation, die mit ihrem Sonderstatus verbunden ist, ihnen nicht sonderlich angenehm ist. Ob ihrer Möglichkeit, auf unverfügbare Inhalte zuzugreifen, ist es ihnen verwehrt, am Weltgeschehen zu partizipieren. So wissen sie um die Ereignisse des Heilsplans und kennen ihre Aufgabe sowie den sukzessiven Ablauf der Weltgeschichte, sind jedoch so weit der Welt entrückt, dass sie nicht bemerken, wann sich Prophezeiungen erfüllen. Sie bedauern ihre isolierte Lage, bezeichnen ihr Dasein als ellende536 (AvT, V. 14868), freuen sich, dass dieser Zustand nun offenbar bald ein Ende findet (vgl. AvT, V. 14866–14868, 14871–14873)

534 In der physikalisch-astrologischen Auseinandersetzung des christlichen Mittelalters mit den heidnischen Göttern verkörpern diese laut Schnell die Macht der Sterne und Planeten. Seit dem fünften Jahrhundert v. Chr. seien bestimmte Götter als Himmelskörper bezeichnet worden (vgl. Schnell, Causa amoris, S.  370). So ließe sich der Stern, mit dem Savilôn in Verbindung tritt, als heidnische göttliche Instanz verstehen (was die Kooperation der Transzendenz mit dem antichristlichen Agenten plausibilisieren würde). S. die Vorstellung, dass der Gott Apollo die Planeten (genannt wird explizit der Saturnstern) und die Sonne unter seiner Gewalt hat, in Reinbot von Durne: Der heilige Georg. Hrsg. von Carl von Kraus, Heidelberg 1907 (Kritische Ausgaben Altdeutscher Texte 1), V. 4498–4520. 535 Strohschneider, Sternenschrift, S. 42. 536 Die Formulierung ist ambig. Es ist erstens nicht deutlich, ob hier ,Elend‘ oder ,Fremde‘/ ,Isolation‘ gemeint ist, zweitens kann das wir (AvT, V. 14866), dem mit der Aussage Apollonius’ die Erlösung in Aussicht gestellt ist, auch die Menschheit und mit dem ellende (AvT, V. 14868 ) das irdische Leben gemeint sein.

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und zeigen sich enttäuscht darüber, den Erlöser Jesus wegen ihrer Isolation nicht erlebt zu haben.537 Sie können nichts mit ihrem Wissen verändern oder bewirken, sondern müssen geduldig auf ihren Einsatz warten. So zeigt sich, dass der Zugriff zwar ein Privileg ist, jedoch auch Isolation, Weltentfremdung und Passivität und dementsprechend Enttäuschung und Überdruss nach sich zieht.538 Doch diese Figuren fügen sich diesem Schicksal. Auch Adams Erben wissen in der im Reinfried vorgetragenen Version der biblischen Ereignisse nur, dass das Menschengeschlecht ausgelöscht werden soll (vgl. RvB, V. 19752–19755), doch unternehmen nichts gegen diesen Plan, sondern sorgen vielmehr dafür, dass nachkommende Generationen noch auf ihr ,Wissen‘ zurückgreifen können (s. Kap. 5.3.1). Savilôn und Albedacus geben sich als interessante Ausnahmefälle mit einer solchen passiven Betrachterrolle nicht zufrieden und fordern auf Grundlage der der transzendenten Sphäre abgerungenen Informationen die offenbarten Pläne heraus. Es scheint, als motiviere der Einblick, den sie über die Sterne gewinnen, sie dazu, sich nicht als Agenten des enthüllten Plans einzusetzen oder diesen hinzunehmen, sondern stattdessen gerade gegen diesen zu agieren. Die Szenen halten vor Augen, dass der prophetische Blick auch unangenehme Informationen freigeben kann, die dazu verführen, sich nicht dem Plan zu fügen. Interessanterweise ähneln sich die beiden Figuren schließlich auch in der Art und Weise ihrer Manipulationsbemühungen. Beide Sternenseher setzen nämlich auf unterschiedliche Weise das geschriebene Wort ein, um das Prophezeite zu verändern und ein vorausgesagtes Ereignis abzuwenden.539

537 Es sei ihnen ain groß slage (AvT, V. 14878), dass sie den Herren, den sie anbeten nun niemals haben anblicken können. Sie sind sich ihrer privilegierten Stellung zwar bewusst (vgl. AvT, V.  14882f.), geben aber zu, in ihrer Abgeschiedenheit das Wesentliche zu verpassen (vgl. AvT, V. 14883). 538 Auch Ydrogant verweigert sich einem Kampf nur, weil er weiß, dass die rechte Zeit für die Auseinandersetzung und seine Niederlage noch nicht gekommen ist, während Serpanta bereits beim Anblick der Waffen, die Apollonius trägt, ihren Tod akzeptiert und Rache fordert (s. Kap. 6.2.2). Sie beide wissen, was ihnen bevorsteht, scheinen sich dem Vorhergesehenen je‑ doch nicht erwehren zu wollen. 539 Woher Albedacus seine kunst (AvT, V.  6964) kennen soll, lässt der Text unerwähnt, Sa‑ vilôn jedoch weiß – so wurde bereits angedeutet – durch den Stern, den er weiter beobachtet und befragt, von der auratischen Kraft von Schrift, die gegen die transzendenten Pläne zu Felde geführt wird.

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Da Albedacus sich einen Vorteil von der Verspeisung des Herzens Milgots verspricht, sucht er das Tier zu lähmen und zu schlachten. Dazu schreibt er einen prieff (AvT, V. 6970)540 und bindet diesen dem Tier um den Hals, woraufhin Milgot seiner Kraft beraubt und bewegungsunfähig zu Boden fällt (vgl. AvT, V. 6971–6979, s. Kap. 1).541 Das Schriftstück vermag über den physischen Kontakt das Tier zu lähmen, die darauf applizierte Schrift besitzt eine magische Kraft, die unabhängig von einer kommunikativen Funktion Einfluss auf die Welt hat. Auch Savilôn vertraut bei seinem Versuch542 auf die auratische Kraft der Schrift. Die Sterne selbst raten ihm: er solte von figûren, als im der sterne seite, mit wârlîchem geleite ein kleinez brievel schrîben, ob er eht wolt vertrîben die sache, als ir hânt gehôrt. er solte dâ zuo schrîben wort diu ouch wol dâ zuo hôrten. den brief an allen orten solt er geschriben schaffen mit hôhen paragraffen:

540 Der Text spricht zwar von prief (AvT, V. 6970) / brieff (AvT, V. 7045), eine Übersetzung als ,Brief‘ bietet sich aber nicht an, da die Schriftstücke mit ihren magischen Funktionen keiner personenbezogenen Botschaft – Grundbedeutung eines ,Briefes‘ – dienen (vgl. Wand-Witt­kowski, Briefe, S. 36f.). 541 Die Verbindung zwischen dem Schriftstück und der Bewegungsunfähigkeit macht der Text eindeutig. Das Umhängen wird über ein [d]a mit (AvT, V. 6973) mit der Einbuße der Beherrschung über den eigenen Körper gleichgesetzt. Der Verlust der Kontrolle wiederum wird auf das Vorgehen des Zauberers zurückgeführt: Das det des greysen maisterschafft (AvT, V. 6974). Als Apollonius entrüstet fragt, wie dieses Tier zur Bewegungsunfähigkeit fixiert werden konnte, antwortet Albedacus ihm: Herre, das ist dise geschrifft,/Di uberwindet alle gift (AvT, V. 7023f.); in der Wiedergabe des vermeintlich über den Blick an Apollonius vermittelten Hilferufs (s.  Kap.  1) wird der umgebundene Brief als todes pandt (AvT, V. 7043) bezeichnet. Um Milgot zu befreien, löst Apollonius es von dessen Hals (vgl. AvT, V. 7044f.). 542 So nicht nur im Reinfried: Auch in der Wartburgkrieg-Episode kommt der Text auf die Vorgeschichte der Vergil-Handlung zu sprechen. Vgl. dazu die Inhaltsangabe der WartburgkriegPassage bei Kellner/Strohschneider, Geltung des Sanges, S.  163. Das Schriftstück, das im Reinfried zentral für die heilsgeschichtliche Anbindung der Episode ist, kommt im WartburgText allerdings gar nicht vor und wird im Meisterlied nur nebenbei und ohne spezifische Bedeutung erwähnt (s. dazu die Abdrucke der relevanten Textpassagen bei Siebert, Vergils Fahrt, S. 199–215).

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 Der Austausch mit höheren Wesen und die Ränder des Erfahrbaren – Sphäre

von der kraft diu sache wol möhte werden swache. (RvB, V. 21394–21406)

Die Schriftzeichen vermögen die Geburt des Heilands zu unterbinden. Bedingung dafür ist allerdings, dass das Schriftstück gerade nicht gelesen, die Botschaft nicht verkündet wird, denn nur solange der Brief verborgen bleibe – so erwähnt der Text wiederholt – könne das vorgesehene Ereignis nicht eintreten.543 Schrift verändert den Lauf der Welt, solange sie existent ist, aber unentdeckt bleibt.544 Dementsprechend versucht Savilôn, die Bannschrift so weit aus der Welt zu entfernen, wie es ihm möglich ist, ohne sie vom Erdboden zu tilgen (vgl. RvB, V.  21482–21453): Er beschließt, zum Magnetberg aufzubrechen, diesen in ein „menschenfeindliches Artefakt“545 zu verwandeln und darin – unter anderem

543 Kurz nach der bereits zitierten Passage heißt es weiter: der brief werden sol geleit/dar dâ in niemen funde,/wan sicher als die stunde/so er was verborgen/dorfte niemen sorgen/ das daz kint iht kæme (RvB, V. 21414–21419). Auch der Umkehrschluss, das Eintreten des Ereignisses im Moment der Lektüre, findet eigens Erwähnung: an dem sternen er ouch sach,/swel zît, zwelen stunden/ îdaz brievel wirt funden,/sô vervâhet für die trift/daz brievelî noch ouch diu schrift/ gên der selben sache (RvB, V. 21426–21431). Diese auratische Deutung von Schriftlichkeit in diesem Erzählzusammenhang wurde bereits für den Codex des Zabulon von Kellner und Strohschneider beschrieben (vgl. Kellner/Strohschneider, Geltung des Sanges, S. 164). Den auratischen Charakter, den sie zum Ausgangspunkt der These, über Zabulons Buch und den Rätselwettstreit werde im Wartburgkrieg die Eigengeltung laikaler Kunst erprobt, weitergeführt und stabilisiert, nutzen, stütze die Tatsache, dass der Ursprung der Schrift auf magische Praktiken zurückgeführt würde und ihr Inhalt vollkommen verborgen bleibe (vgl. hier S. 166f.). 544 Auch Savilôns Gebrauch von Schrift ist damit auratischer Natur. Für Strohschneider beruht die Funktionsweise auf einer Analogie. Ist das Briefchen mit der Formel abwesend, bleibt auch Jesus abwesend. Die Inkarnation selbst würde so im Brief eingekapselt, versteckt und somit auch verhindert (vgl. Strohschneider, Sternenschrift, S. 44). Da bei magischen Objekten meist die Medialität darin besteht, das Abwesende präsent zu machen, „könnte aber die Ankunft des Heilands nach Savilons Wissen allein dann durch das Verstecken der Schrift verhindert werden, wenn in dieser der göttliche Logos oder seine Inkarnation selbst – in uns freilich nicht nachvollziehbarer Weise – anwesend sind. Die Grapheme des brievelin setzen also die saturnische Prophezeiung und diese wiederum das Prophezeite seinerseits ,real‘ gegenwärtig. Allein so vermöchte die Schrift dem Geschehnis der Inkarnation entgegenzuwirken“ (hier S. 43). Dass hier Schriftträger und Schrift, Skriptualität und Textualität ineinander fallen, ist bei ihm Beispiel für übersprungene Textualität (vgl. hier S. 44). 545 Herweg, Glücksspiel, S. 67. Es erinnere an technische Phantasmorgien jüngerer Zeit, stellt er fest und verweist auf die Monsterapparaturen, der sich in Tolkiens Lord of the Rings die ,böse‘ Seite bedient (vgl. hier S. 68).

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mithilfe einer weiteren magischen Schrift546 – den Brief in seinem Körper547 zu verstecken. Als er selbst dem Ableben nahe ist, versucht er, auch über seinen Tod hinaus, das Auffinden des Zettels unwahrscheinlich zu machen (vgl. RvB, V. 21508–21511). Damit wiegt er sich in dem Glauben, alle nötigen Vorkehrungen getroffen zu haben: sîn sin enkeinen zwîfel hât das iemer mensche kæme dar und dannen næme diu buoch den tiuvel und daz glas. (RvB, V. 21538–21541)

„[A]stronomers asked for the place of men in God’s ,Heilsgeschichte‘“.548 Savilôn glaubt – in noch stärkerem Ausmaß als Albedacus –, dass Menschen durch intensive Forschung die Rolle eines Mitspielers einnehmen können. Aufgrund der aufgeführten Parallelen zwischen den Figuren dürfte es kaum überraschen, dass beide ähnlich erfolglos sind. Savilôn unterliegt – so betont die Erzählinstanz nachdrücklich – mit seiner Einschätzung einem Irrglauben:

546 Im Rahmen der geschilderten Bemühungen, den Brief versteckt zu halten, versucht Savilôn seinen Körper, der das wichtige Schriftstück beherbergt, über ein normales Lebensalter hinaus physisch zu erhalten und zu schützen. Das koexistente Weiterbestehen von Körper und Geist scheint, so wird im weiteren Verlauf des Textes deutlich, Voraussetzung für die Wirkung der Zauber Savilôns zu sein (auch die magischen Abwehrmechanismen verlieren ihre Kraft, als der Zauberer erschlagen wird; vgl. RvB, V. 21688f.). Er verwendet ein schwarzmagisches Buch, das seinen Geist beheimatet (vgl. RvB, V. 21470–21473), um sich in einem Schwebezustand zwischen Tod und Leben zu erhalten (vgl. RvB, V. 21496–21499, 21478–21483). Wie im Fall des Zettels, den Albedacus Milgot umhängt, ist die Wirkung des Buches nicht an die Bedeutung der Schriftzeichen gebunden, sondern an den physischen Kontakt mit ihnen. So lange der besteht, sô moht er niht geletzet/werden an dem lebende (RvB, V. 21476f.). Der Schwebezustand ist an die Berührung mit dem Zauberbuch gebunden; ohne dieses Buch scheint sein Körper nicht mehr funktionstüchtig zu sein. Er baut eine Apparatur auf, die ihn in dem Fall, dass das Buch unter den Füßen weggezogen wird, erschlägt (vgl. RvB, V. 21484–21494), denn mit dem Buch sei auch sein Geist dahin (vgl. RvB, V. 21495). So kommt es dann auch letztlich (vgl. RvB, V. 21682–21685). Das Buch spielt als magisches Objekt, dessen Funktionsweise auf dem – so Strohschneider – kontagiösen Muster der Berührung beruht (vgl. Strohschneider, Sternenschrift, S. 45), eine Rolle. 547 Savilôn verwahrt die mächtige Schrift in seinem Ohr (vgl. RvB, V. 21508–21511). Im Meisterlied ist es die Nase, in die das Schriftstück geschoben wird (vgl. den Abdruck bei Siebert, Vergils Fahrt, S. 214), während in der Wartburgkrieg-Passage das Schriftstück keine Rolle spielt, sondern allein die schwarzmagischen Bücher thematisiert werden (vgl. den Abdruck hier S. 199–212). 548 Schmitz-Esser, Astronomy, hier S. 133.

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der künste rîche tôre wânde got betwingen an sô hôhen dingen diu man mit keinen sachen mohte wendic machen, sô eht kan diu reht zît. der got der allen dingen gît frist und narunge, dem aller menschen zunge lop mit hôher wirde giht, der alle sacher ûzer niht ordenlîch geschaffet hât, in des hant ez allez stât ân anevanc und endes drum, der konde sicherlîchen um alliu dinc betrachten wol in der zît sô ez wesen sol. (RvB, V. 21512–21528)

Erneut zeigt der Reinfried ein ausgeprägteres Interesse, die Vorgänge um die Sternenschau und die daraufhin unternommenen Maßnahmen des Sternen­sehers zu erklären und einzuordnen. Ohne Umschweife verbalisiert die Erzähl­instanz den Irrtum des gebildeten, aber dennoch törichten, da nicht in die Unumgänglichkeit des transzendent Vorhergesehenen vertrauenden Savilôn, dessen Bannschrift schließlich durch Vergil gefunden wird.549 Albedacus’ Vorhaben, sein Überleben zu sichern und die Prophezeiung für seinen Vorteil zu nutzen, schlägt unkom-

549 Der Zauberbann wird gebrochen, es kommt zur Geburt des prophezeiten Kindes. Die hier präsentierte Version Vergils stellt eine „originelle[] erzählerische[] Synthese verschiedenartiger, mittelalterlicher Vergilvorstellungen“ (Neudeck, Continuum historale, S.  171, Anm.  12) dar. Der Mythos der Beseitigung eines magischen Inkarnationshindernisses durch Vergil ist auf die mittelalterliche Allegorese der 4. Ekloge zurückzuführen, in der Vergil einem Propheten Christi gleichkommt (vgl. Herweg, Glücksspiel, S. 70; Strohschneider, Sternenschrift, S. 40; für weiterführende Literatur s.  die bei demselben in Anm.  17 aufgeführte Sekundärliteratur; vgl. ebenso Dôpp, Siegmar: Vergil. In: Lexikon für Theologie und Kirche. begründet von Michael Buchberger Bd. 10: Thomaschristen–Žytomyr, 3. völlig neu bearb. Aufl., Freiburg i. Br. 2006, Sp. 663, Sp. 663). Außerdem gilt er seit dem zwölften Jahrhundert als seltsamer Zauberer und Wundersmann (vgl. Belkin, Johanna: Das mechanische Menschenbild in der Floredichtung Konrad Flecks. In: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 100/4 (1971), S. 325– 346, hier S. 333; Dôpp, Vergil, hier Sp. 663. Zum Auftauchen Vergils in mittelalterlicher Literatur s. Kern, Vergilius vgl. für eine Auflistung weiterführender Literatur zu Vergil als Zauberer Strohschneider, Sternenschrift, S. 39, Anm. 15). Mit seinem Eingreifen nimmt hier Vergil, wie Kerth und Lienert bemerken, eine größere Rolle ein als in der Ekloge: „er ist vielmehr unmittelbar handelndes Werkzeug Gottes in der Heilsgeschichte; durch seine Interven­tion macht

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mentiert fehl. Trotz eines eloquenten Versuchs Albedacus’, sein Gegenüber zur Kooperation zu überreden, ergreift Apollonius Milgots Partei (s. Kap. 1), nimmt diesem das Schriftstück vom Hals, woraufhin die Tiere, über die Milgot herrscht, den Sternenseher anfallen und mit sich in den Wald und damit – wie der Text deutlich macht – in den Tod führen (vgl. AvT, V. 7046–7055). Vergils Eingreifen scheint den in den Sternen unterstellten Zusammenhang von Bannschrift, Lektüre und Bann zunächst zu bestätigen.550 Das Ende des Sa­vilônschen Versuchs lässt sich gleichermaßen als Relativierung der magischen Kraft und Wirkungsweise der Schrift interpretieren; eher aber widerlegt es wie im Falle Albedacus’ die grundlegende Annahme, Savilôn habe überhaupt eine Chance, einzugreifen. Denn der Schwarzmagier hatte bereits zu Beginn erkannt, dass die Geburt des Kindes in zwölfhundert Jahren eintreten werde (vgl. RvB, V.  21346). Der Zaubertext wird dann gerade rechtzeitig nach zwelf hunderât jâr (RvB, V.  21543) gefunden, sodass das Kind wie ursprünglich vorausgesagt auf die Welt kommt und nicht eindeutig wird, ob die der Schrift unterstellte Kraft ihr überhaupt wirklich innewohnt. Die Quelle beider Aussagen – der Geburt des Kindes in zwölfhundert Jahren sowie des Analogieverhältnisses von Brief und Geburt551 – sind die Sterne, sodass mit der Bewahrheitung der einen auch die andere Autorität gewinnen müsste. Zusammenbringen lassen sie sich nur, wenn man auch der medialen Form der Sterne unterstellt, nicht alles vollständig dem immanenten Beobachter preiszugeben. Denn die Abhängigkeit vom Moment

Vergil – ohne um die Folgen seines Handelns zu wissen – die Geburt Christi gleichsam möglich“ (Kerth/Lienert, Sabilon-Erzählung, S. 435; vgl. auch Neudeck, Continuum historale, S. 172). 550 Beide Schriften sind trotz des Scheiterns ihrer Urheber wirkungsvoll. Die Schrift des Albedacus besitzt die ihr zugeschriebene Kraft (s. Anm. 6/541); in noch größerem Ausmaß wird Schrift im Reinfried – so legt ein erster Blick nahe – ein ungeheures Potenzial eingeräumt. Die auratische Wirkungsmacht des für die Zabulon-Vergil-Erzählung im Reinfried (s. Anm. 5/3) einmaligen „Gefüges von Schriften und Texten“ (Strohschneider, Sternenschrift, S.  41, s.  dort auch Anm. 19) bestätigt sich, als Vergil eher zufälligerweise die Schrift liest. Denn Vergil manipuliert nicht die Schrift und liest den Text nicht, er entdeckt sie und bricht damit den Zauberbann. Betont wird der direkte Zusammenhang von Schrift, Bann, Lesevorgang und dem Bannbruch, indem der Moment des Lesens mit dem Moment der Erfüllung der vermeintlich bislang unterbundenen Geschehnisse zusammenfällt: nu sâhen sî den alten/daz wunderkleine brievelîn/ligen in dem ôrîen sîn:/daz wart von in dan genon./mit disem funde und da von/des brieves kraft vil balde brach/dô man die karakter sach/und ouch der figûren schrift/diz was eben in der trift,/dô diz vant Virgilîus,/daz ouch Octavîânus/ze Rôme lepte keiserlich/und diu reine minnenclîch/Marîa muoter magt gebar/got mensch ûf die erden har (RvB, V. 21666–21680). Das Inkarnationshindernis liegt nicht in der Schrift selbst, sondern in ihrem Verborgensein (vgl. Strohschneider, Sternenschrift, S. 42; s. auch Röcke, Lektüren, S. 299). Genau genommen liegt es in der verborgenen Existenz in der Welt. 551 S. Anm. 6/550.

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der Geburt mit dem Bruch des Schriftbannes bewahrheitet sich ebenso wie die vorhergesagte Zeitperspektive. So erweist sich Savilôn als Figur, die infolge ihrer Einsicht den Heilsplan zu durchkreuzen versucht, ihn aber genau durch jenes Handeln, das ihn gefährden soll, erfüllt und bestätigt. Genau dieselbe Funktion kommt im Apollonius der Figur des Albedacus zu. Auch wenn nicht Apollonius Albedacus tötet, scheint die Entscheidung, die Apollonius mit dem Loslösen des Schriftstücks vom Hals des Tieres trifft, gerade jene Handlung zu sein, die wie vorhergesagt den Tod des verzweifelt um Änderung seiner Geschicke bemühten Albedacus bewirkt, da erst nach der Befreiung die anderen Tiere auf den Plan treten (vgl. AvT, V. 7044–7050) und zu Hilfe eilen. Dass Milgot nicht bereits tot und Albedacus im Besitz des Herzens ist, beruht darauf, dass Apollonius dem Mann heimlich nachgeht, er ihn zur Rede stellt und sich gegen Albedacus’ Angebot, das Herz zu teilen, entscheidet (vgl. AvT, V. 6986–7045). Dieses Verhalten wiederum fordert der Sternenseher gerade mit seinem Versuch, sich mithilfe des ihm Offenbarten seines Schicksals zu erwehren, heraus. Auch diese Szenenfolge zeigt, wie jegliche Bemühungen fehlschlagen und gerade die Erfüllung des Prophezeiten bewirken. Beide Figuren sind im medialen Diskurs der Texte Beispiele für die sprichwörtliche und traditionsbehaftete552 Verführungskraft, aber auch das Belastungspotential des normalerweise immanentem Blick entzogenen ,Wissens‘ und ein Negativbeispiel für den falschen Umgang mit diesem.553 Die Ereignisse, an denen sich die Bemühungen der Figuren entwickeln, sind unterschiedlich; die Frage, welcher Versuch schwerwiegender ist, lässt sich kaum beantworten und ist nicht unbedingt weiterführend; augenfällig ist, dass in beiden Fällen einerseits die Vermessenheit der Figuren deutlich zutage tritt, andererseits aber auch jeweils ein narrativer Aufwand betrieben wird, um das Vorgehen zu rechtfertigen und nach-

552 Bereits die erste biblische Szene, in der Menschen einen Zugang zu einem transzendenten, ihnen aber dezidiert verbotenen ,Wissen‘ suchen, illustriert nicht nur die Anfälligkeit der Men‑ schen, der Versuchung nachzugeben, sondern auch den Zorn der transzendenten Mächte, den diese Versuche der Wissensaneignung nach sich ziehen (vgl. 1. Moses 2,1–23). 553 Achnitz konstatiert, diese Szene im Reinfried gestalte, wie curiositas zu superbia führe (vgl. Achnitz, Babylon und Jerusalem, S. 187). Das Streben nach der Bedeutung der visuellen Eindrü­ cke am Sternenhimmel selbst wird jedoch noch nicht durch den Text oder seine Erzählinstanz kritisiert bzw. eindeutig als curiositas inszeniert. Erst der Umgang mit dem geschauten ,Wissen‘ – das Verschweigen und das Bestreben, den vorgesehenen Plan zu verändern – wird Savilôn explizit zur Last gelegt. Die Binnenerzählung des Magnetbergbuches kann daher durchaus als Mahnung – wenn auch nicht unbedingt für den Protagonisten in seinem Erkundungsbestreben – gelesen werden.

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vollziehbar zu motivieren. Diese Beispiele des fehlgeleiteten Umgangs mit transsphärischen medialen Formen funktionieren nur, wenn das Agieren der Sternenseher nachvollziehbar ist und die Versuche der Rebellion plausibel erscheinen. Die betrachteten Passagen haben gezeigt, dass sich beide Texte darum bemühen, die Figuren, die gegen transzendente Pläne handeln, nicht einfarbig zu zeichnen. Savilôn mag zwar, wie Strohschneider feststellt, das dämonische Instrument eines Anti-Propheten [sein], welcher mit dem Versteck der magischen Schrift inmitten der eisernen Ordnung, deren Ort und Symbol eben der Magnetberg ist, die Erfüllung der ihm offenbarten messianischen Prophezeiung gerade verhindern will554

Dennoch erhält seine Figur keinen einheitlich negativen Anstrich. Der ursprüngliche Drang zur Astronomie der zunächst positiv eingeführten Figur (vgl. RvB, V.  21315–21325) wird ausdrücklich entschuldigt,555 sein Handeln mehrmals als Dienst für seine Mutter ausgewiesen (vgl. RvB, V.  21362–21381, 21425)556 und sein Glaube an die Abwendbarkeit durch die Sternbotschaften plausibilisiert. Albedacus nutzt seine Fähigkeit zwar selbstbezogen, um seine eigene Haut zu retten, im Gegensatz zu Savilôn verwendet er seine Kenntnisse aber auch im Sinne der Gemeinschaft, macht sie einer etwas breiteren Öffentlichkeit zugänglich und bewahrt diese damit vor ernsthaften Gefahren. Er nimmt so zumindest anfangs seine Mittlerfunktion, die – so zeigen die Beispiele des Tholemeus sowie

554 Strohschneider, Sternenschrift, S.  41. Weiter heißt es: „Er sucht nicht die Vermittlung von Immanenz und Transzendenz […], sondern im Gegenteil deren Unterbindung, was selbstverständlich scheitern muß: Heilsgeschichte ist unverfügbar, und daß Savilon sie zu stoppen versucht, zeigt allein seine Heilsferne.“ Außer seiner Mutter scheint er niemandem darüber Aufschluss zu geben, was er eigentlich in den Sternen erfährt. Vergil erhält später nur die Auskunft, er befinde sich auf dem Magnetberg, wo er die Himmelssphäre beobachtend zu verstehen und darauf ihren weiteren Verlauf bis zum Ende vorauszusagen versuche (vgl. RvB, V. 21588–21594). Er übernimmt die ihm ermöglichte Rolle als Mittlerinstanz nicht und rebelliert – so ließe sich mit Strohschneider spekulieren – schon damit gegen göttliches Gebot. 555 Die Erzählinstanz berichtet wie bereits beschrieben, die Praktiken Savilôns gehörten nun zu den verbotenen schwarzmagischen Künsten. Damals sei allerdings nichts Verwerfliches an seinem Vorgehen gewesen (vgl. RvB, V.  21331–21333). Damit referiert der Reinfried auf die kritischen Stimmen, die sich im Hochmittelalter gegenüber der ab dem elften Jahrhundert nach Europa gelangenden astronomischen Kenntnisse und Praktiken entwickeln. Zironi gibt einen kleinen Überblick über die historischen Wahrnehmungen der Astronomie (vgl. Anm. 6/511). 556 Auf diese Entlastungsstrategie weist auch Meyer hin (vgl. Meyer, Briefe, S. 30). Es ließe sich im Vergleich zu Albedacus’ Handeln sogar als selbstlos beschreiben, da er große Mühen auf sich nimmt, um ein noch über tausend Jahre entfernt liegendes Ereignis, das laut Vorhersage einem ganzen Volk schaden wird, abzuwenden.

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von Elias und Henoch – die Prophetie (und die Sternenschau) zu legitimieren vermag,557 wahr, während Savilôn diese gar nicht erst annimmt. Die Texte unterstellen den Sternen, welche nur unter einem ganz spezifischen Blickwinkel zu medialen Formen transzendenter Informationen werden, jeweils ein verführerisches Potenzial, wie es den Zuschreibungen der historischen astronomischen Werke aus dem antiken griechischen und arabischen Raum, die ab dem elften Jahrhundert auch im christlichen Europa rezipiert werden, entspricht.558 Sie nehmen jedoch eine astronomie-kritische Haltung an, wie sie Augustinus, Bernhard von Clairvaux oder Wilhelm von Auvergne zum Ausdruck bringen559 – ohne dass dadurch astronomisches Interesse im Mittelalter zurückgedrängt würde.560 Beide Figuren können durch ihren exzeptionellen Zugriff auf transzendentes, prophetisches ,Wissen‘ nicht ihrer Determination durch jene Sphären entkommen. Sie können gar nicht anders, als im Sinne des Prophezeiten zu wirken.561 Das liegt auch daran, dass die Sterne im Falle des Albedacus vage, unvollständige und damit aus Albedacus’ Perspektive wenig hilfreiche Informationen zur Verfügung stellen, die ihn gerade so viel wissen lassen, dass er in seiner immer wieder befeuerten Hoffnung die Botschaft, er könne seinen Tod nicht umgehen, überhört und umso eifriger dem vorausgesagten Unglück entgegenläuft. Im Falle Savilôns

557 Den Sohn des Apollonius erwähnt der Text nur mit einem Satz. Dieser wird trotz seiner Sternenseherprofession ungebrochen positiv gezeichnet. Über die Kinder, die die drei Gäste Apollonius, Printzel und Palmer mit ihren neuen Frauen in Crisa Diomena, Flora und Plantia zeugen, lässt die Erzählinstanz vorausblickend wissen: Di kint warden ächtpere (AvT, V. 13493). Weiter heißt es über Tholomeus: Ain hoher stern sehäre/Von astronomia weyse,/Man hat in noch in preyse:/Er hatt pucher geschriben/Von hoher kunst: ist uns beliben (AvT, V. 13494–13498). Er erwirbt sich durch die Sternenschau sogar Ruhm. Denn er versteht seine Fähigkeit als Aufgabe, das Geschaute festzuhalten und weiter zu vermitteln. Das Zusammenrücken dieser Tätigkeit mit aktiv verfolgter Wissensvermittlung impliziert, dass er mit dem Zweck, Kenntnisse zur Weitervermittlung zu gewinnen, in die Sterne schaut. Er geht wie anfangs auch Albedacus in der Mittlerfunktion auf, und legitimiert durch die Weitergabe des ,Wissens‘ sein Vorgehen. 558 Vgl. Zironi, Wartburgkrieg, S. 163–170. 559 Als theologische Autorität warnt vor allem Augustinus vor der Zukunftserforschung auf Grundlage der Astrologie (vgl. Speckenbach, Kontexte, S.  301 sowie Zironi, Wartburgkrieg, S. 167; s. dort auch die jeweiligen Verweise). Bernhard zufolge ist das Verständnis Gottes ohnehin nicht möglich, sodass eine Untersuchung, die sich auf ein solches Verständnis richtet, bereits Ausdruck von curiositas und superbia ist (vgl. hier S. 164). 560 Zu Bedeutung und Popularität astronomischer Forschung im Mittelalter vgl. SchmitzEsser, Astronomy, insbes. S. 120f. 561 In seinem Vergleich der Zaubererfiguren des Reinfried von Braunschweig mit Saruman (Savilôn) und Gandalf (Vergil) aus Tolkiens Lord of the Rings hält Herweg als den entscheidenden Unterschied die feststehende Providenz im mittelalterlichen Versroman fest (vgl. Herweg, Glücksspiel, S. 68).

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hingegen widersprechen sich die Informationen, die für den Sternenseher aus seiner medialen Form zu generieren sind. Mit derselben Bestimmtheit machen sie Savilôn sowohl kund, das angekündigte Ereignis sei unumgänglich, als auch, es sei durch eine Bannschrift verhinderbar.562 Was genau stimmt, wird selbst für die RezipientInnen nicht aufgelöst.563 Am Ende stellen beide Szenen die Allmacht der Transzendenz, ihre Pläne durchzusetzen und den Einblick in die transzendente Sphäre allein zu bestimmen und zu begrenzen, aus. Transsphärische Mediation spielt in beiden Beispielen eine elementare Rolle, indem das Vorhergesagte sich gegen die Versuche, persönliches Schicksal oder Heilsgeschichte zu manipulieren, durchsetzt und trotz des bereits lange zuvor bekannten Ausgangs in seiner konkreten Umsetzung, in der Fügung, in der es sich schließlich bewahrheitet, zu überraschen weiß. Versucht man diese Passagen für die Transzendenzentwürfe der Texte sprechen zu machen, so intensivieren sie den Eindruck der Unfassbarkeit, indem sie vor Augen stellen, wie mysteriös und verschlungen die Wege der Transzendenz sind. Der vorbestimmte Ausgang ist unumgänglich und mag doch anders zur Realisation kommen als auf Grund des verfügbar Gemachten angenommen.564

562 So stellt auch Meyer fest, dass Savilôn aus den Sternen selbst erfährt, was er zu tun hat (vgl. Meyer, Briefe, S. 28). Strohschneider erläutert die hier aufscheinende Diskrepanz: Theologisch sei klar, dass es keinen Einfluss auf den göttlichen Heilsplan geben kann, narratologisch werde jedoch genau diese Möglichkeit nahegelegt. Die theologische Position werde durch die Erzählung nicht infrage gestellt, sie stelle jedoch die These des möglichen Eingriffs unabgestimmt neben jene, sodass es zu diskursiven Paradoxien komme (vgl. Strohschneider, Sternenschrift, S. 41). Dementsprechend bleibt uneindeutig, ob die der Schrift in dem Verfahren zugeschriebene Macht tatsächlich gegen das Wirken Gottes wirkungslos ist (so Röcke, Lektüren, S.  300f.; s. Anm. 6/550) oder die unterstellte Macht durch den Handlungsverlauf selbst infrage gestellt wird. 563 Die Texte greifen damit die im Hochmittelalter diskutierte Frage um die Wirkmacht der Gestirne und der Verfügbarkeit der Providenz auf (vgl. Herweg, Glücksspiel, S. 71f., der die Frage nach der Vorbestimmtheit, der Aussagekraft von Planetenkonstellationen und auch der Schuldhaftigkeit der sich gegen den geplanten Lauf einsetzenden Menschen als „vielerörtertes Sujet“ [hier S. 71] der Theologen, Chronisten und Enzyklopäden um 1300 darstellt). Auch im Reinfried ist diese Meinung zumindest einmal andeutungsweise zu lesen, wenn es um die Existenz von Monsterwesen geht (vgl. RvB, V. 19854–19879). 564 Daher stellt der Text den Verlauf der Weltgeschichte nicht, wie Ebenbauer und laut Herweg „[a]uch Teile der jüngeren Deutungsgeschichte“ (Herweg, Glücksspiel, S. 70, auf welche Forschungsbeiträge sich Herweg genau bezieht, gibt er nicht an) in Bezug auf den Reinfried von Braunschweig behaupten, als Zufall oder Glück dar (vgl. Ebenbauer, Spekulieren, S.  155). Die Episode ist daher auch keine „recht kühne Spekulation des ,Reinfried‘-Autors (oder seiner Quelle), nachgerade […] [ein] Phantasiespiel über Heilsgeschichte“. Wie auch Herweg bemerkt, geht es vielmehr gerade um eine Demonstration der Allmacht der Transzendenz. Widerstand gegen

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Da diese Struktur nicht nur transzendenten Plänen, sondern offensichtlich auch poetischen Strukturen entspricht, die in der mittelalterlichen Literatur besonders dominant sind,565 lassen sich die Szenen überdies als Aussagen über das Funktionieren literarischen Erzählens und die gewünschte Rezeptionshaltung werten. Die Erzählinstanz hat, so müsste man übertragen, den Überblick über die Gesamthandlung sowie einen Plan für den Fortlauf, in dem jede Handlung eine wichtige Funktion trägt. Sie kann den RezipientInnen, die sich um ein Verständnis der erst im übertragenen Lesen des oberflächlich Wahrnehmbaren bemühen, kurze Einblicke in das Bevorstehende oder den Ausgang gewähren; das jedoch bedeutet nicht, dass bereits klar ist, wie es zu diesem Ergebnis kommt, und dass dieser Ausgang nicht dennoch überraschend ist.

6.4 Zwischenfazit Der Reinfried von Braunschweig und der Apollonius von Tyrland halten eine kommunikative Interaktion zwischen den immanenten Figuren und den transzendenten Instanzen in ihrer Textwelt für möglich. Während den Figuren nur die Möglichkeit offen steht, sich im Gebet mitzuteilen, gibt es für die transzendente Sphäre unterschiedlich Arten der Offenbarung, welche unterschiedliche Kompetenzen von den möglichen Empfängern voraussetzen. Sind die Schicksalsänderungen nach den Gebeten nicht immer einwandfrei als tatkräftige Entgegnungen transzendenter Instanzen auf die vorgebrachten Bitten zu identifizieren, so generieren Mittlerfiguren eindeutige und akustisch ganz problemlos aufzunehmende Botschaften, die jedoch in ihrer Vagheit für die Figuren nicht immer hilfreich bei konkreten Entscheidungsfindungsprozessen sind und denen aufgrund der Ähnlichkeit transsphärischer Boten mit anderen Figuren nur mit einer religiösen Grundeinstellung überhaupt das nötige Gewicht beigemessen wird. Bestimmte Gegenstände vermögen hingegen im Apollonius recht eindeutige Aussagen über das Wesen eines Menschen oder aber über seine Zukunft vor Augen zu stellen, ihre Urteile sind aber gerade innerhalb eines bestimmten Landstriches weniger zuverlässig als die Eindeutigkeit ihrer optischen Signale suggeriert. Während die Sterne in beiden Texten das nur von wenigen, astronomisch gebildeten Menschen

die Providenz zeige der Text nicht nur als superbia, sondern auch als unsinnig und nutzlos (vgl. Herweg, Glücksspiel, S. 70f.). 565 Vgl. dazu ausführlich Lugowski, Clemens: Die Form der Individualität im Roman. Mit ei­ner Einleitung von Heinz Schlaffer, Frankfurt a.  M. 1976 (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 151) sowie Martínez, Formaler Mythos.

Zwischenfazit 

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nutzbar zu machende Potential besitzen, prophetische Informationen zu enthüllen, drängen sich – ebenfalls in beiden Texten – Figuren mit geradezu konträrer Zeichnung Bilder mit göttlicher Botschaft auf, deren Bedeutungen nur mithilfe eines Deuters zugänglich sind. Die Kontrolle gibt die transzendente Sphäre dabei nie aus der Hand. Auch wenn es in bestimmten Fällen notwendig scheint, dass der/die potentielle EmpfängerIn sich bildet und sich darum bemüht, über bestimmte Pfade Informationen aus dem Bereich des Unverfügbaren zu erlangen, so wird doch immer wieder nahegelegt, dass Prädestination die zentrale Voraussetzung ist, um an transzendente Informationen zu gelangen. Nur deshalb kann der Protagonist des Apollonius, der sich generell selten an intersphärischem Kontakt und kaum an der Enthüllung transzendenter Informationen interessiert zeigt, dennoch so häufig mit medialen Formen mit transsphärischem Potenzial interagieren. In der einzigen Passage, in der er sich dezidiert um Offenbarungen bemüht, scheitert er. Das Bild, das sich für die Figuren aus ihren intersphärischen Kontakten mit transzendenten Instanzen über deren Verfahren ergibt, ist widersprüchlich. Sie reagieren auf Ansprache im Gebet entweder durch Sendung eines Mittlers (Reinfried) oder durch Schicksalswendungen (Reinfried, Apollonius), die Entgegnungen zeugen wie auch die Offenbarungen von einer planenden, autoritären Instanz, die nur bestimmte Zusammenhänge und vage Voraussagen preiszugeben bereit ist, und den immanenten Figuren einen gewissen Spielraum zu gewähren scheint, wie und wann genau bestimmte Pläne in Erfüllung gehen. Bei den vielfältigen Szenen im Reinfried und im Apollonius, die ihre Haupt- und Nebenfiguren in transsphärischen Situationen zeigen, kommt es jeweils nicht zu einer Aufweichung der Grenze zwischen Transzendenz und Immanenz, einem Niederreißen der Grenzen zwischen Gott und Mensch, wie Ernst Cassirer es für die mittelalterlichen Vorstellungen, die die Mystik hervorbringt, beschreibt,566 sondern sie markieren diese, indem deutlich wird, dass der Kontakt temporär, von der transzendenten Sphäre allein zugelassen und klar abgesteckt ist. In den Plan selbst kann nicht eingegriffen werden, immer wieder aber legen die Botschaften nahe, die Figuren könnten mitbestimmen und müssten sogar bestimmte Schlüsselentscheidungen treffen. So ist es kein Wunder, dass sich Figuren auch dazu verführen lassen, die Einblicke in die transzendente Sphäre nutzen zu wollen, um bevorstehendes persönliches Unglück abzuwenden. An ihnen wird jedoch umso deutlicher, dass der immanente Aktionsrahmen eingeschränkt ist. Profitabel scheinen die dargestellten Prozesse vor allem für die Narration. Gerade im Apollonius scheint das narrative Potenzial vorrangiger Grund der Inte-

566 Vgl. Lentes, Gebetsbuch, S. 15.

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 Der Austausch mit höheren Wesen und die Ränder des Erfahrbaren – Sphäre

gration transsphärischer Passagen zu sein. Denn die Figuren profitieren selten von den Enthüllungen und nehmen diese meist gar nicht als solche wahr. Gebete übernehmen ähnlich wie Briefeinlagen die Funktion, den Figureninnenraum darzustellen, sorgen für Empathie mit den leidenden, bedrängten Figuren, für unterhaltsame Einblicke in die erotischen Gedankengänge junger Ritter und zeigen – so im Reinfried – den Missmut eines ,Heiden‘ über seine nichtsnutzigen Götter. Sie motivieren Handlungsumschwünge als göttliches Eingreifen und vermitteln bzw. aktualisieren religiöses ‚Wissen‘. Mittlerfiguren geben eine vage Auskunft darüber, was die Figuren erwartet und helfen ebenso wie andere prophetische Phänomene wie bspw. Träume oder der sigestain, eine Spannung auf den Fortlauf der Geschichte zu erzeugen, die sich vor allem an der Frage, ob und – in erster Linie – wie das Vorhergesagte eintritt, entzündet. Bei den Träumen liegt ein gesteigerter Reiz darin, bildliche Hinweise zu geben, die auf bestimmte Erzähltraditionen zurückgehen und zunächst eine eigenständige Ausdeutung und den eigenständigen Aufbau einer Erwartungshaltung zulassen. Die Evidenzphänomene gewähren einen neu perspektivierten Blick auf die Figuren, rücken Wertvorstellungen und den exzeptionellen Status des Protagonisten in den Fokus der Passagen. Die Offenbarungen der Sterne treiben die Spannung zwischen transzendentem Plan und immanenter Einflussmöglichkeit auf die Spitze, als transsphärische Form sind sie aber eher erklärender Ausgangspunkt der Möglichkeit eines jeweils neben der Haupterzählung stehenden transgressiven Verhaltens wie es Albedacus und Savilôn an den Tag legen. Mehr als die unter ‚Fernkommunikation‘ und ,Transmission‘ verhandelten Prozesse scheinen sich die Erzählungen von transsphärischen Vorgängen zu eignen, um poetologische Aussagen und Reflexionen in die Erzählung zu inte­ grieren. Dadurch, dass innerhalb der Geschichte mit Verfahren, die auch in der literarischen Vermittlung zum Tragen kommen, Ebenen überschritten werden, deren Verbindungen untereinander gewisse Parallelen zu dem Verhältnis von Erzählinstanz, RezipientIn und intradiegetischem Geschehen aufweisen, lassen sich die Passagen, die von transsphärischen Vorgängen erzählen, als Erläuterung des eigenen Vorgehens und Kommentare zu den Voraussetzungen, Möglichkeiten und Grenzen einer Lektüre lesen. Indem Literatur außerdem eine mediale Form darstellt, die sich audio-visueller Darstellungsformen bedient, lassen sich vor allem die zuletzt thematisierten Passagen ebenso als Anspruch von Literatur, höhere Wahrheiten zu vermitteln, anschaulich und erlebbar zu machen, jedoch nie ganz zu offenbaren, lesen. Im Umgang der Figuren mit transsphärischen medialen Formen und durch die Präsentationsweise werden Kompetenzen einer ‚richtigen‘, höhere Bedeutung erschließenden Lesart von (Text-)Phänomenen deutlich. Notwendig scheint eine religiöse Vorbildung und eine Vertrautheit mit bildlich-symbolischer Darstellungsweise; außerdem bedarf es einerseits einer

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gewissen Selbständigkeit und eines Forschungsinteresses, andererseits aber auch eines Vertrauens in Auslegungen und in das Vorbestimmte sowie der Einsicht, niemals unvermittelt zu einer ‚Wahrheit‘, einem ,Sinn‘ vordringen zu können.

7 Kaleidoskope des Medialen: Ergebnisse der Auseinandersetzung mit erzählten medialen Prozessen im Reinfried von Braunschweig und im Apollonius von Tyrland Ausgangspunkt der vorliegenden Arbeit war die Beobachtung, dass mediale Vorgänge in den Versromanen Reinfried von Braunschweig und Apollonius von Tyrland in diverser Ausformung eine große Textpräsenz entfalten. Anschließend an diese Feststellung hatte sie sich zum Ziel gesetzt, die Darstellung medialer Vorgänge in diesen beiden sich besonders nahestehenden ,Liebes- und Abenteuer­romanen‘ (Kap.  2) zu untersuchen, um in einer vergleichenden Perspektive erstens die mediendiskursiven Fragestellungen, die die Texte aufnehmen, zusammenzuführen, zweitens den medial fokussierten Blick als Schlüssel zu benachbarten Diskursen nutzbar zu machen, und drittens die narrativen Funktionen, die das Erzählen von medialen Vorgängen erfüllen kann, he­raus­zuarbeiten. Außerdem sollte die Untersuchung einen spezifischen Umgang mit Medialität als mögliche gattungshafte Dominante für die Textsorte ‚Liebes- und Abenteuerroman‘ oder als weiteres verknüpfendes Element der zwei ins Zentrum gestellten Texte reflektieren. Auf Grundlage des mediologischen Ansatzes, der sich in der theoretischen und begrifflichen Arbeit als besonders geeignet für die differenzierte Beschreibung der vielfältigen Textphänomene erwies, wurde ein Verständnis von Informationsverarbeitungsprozessen entwickelt, das die zentrale Instanz dieser Vorgänge – die mediale Form – durch ihr Potenzial, wahrnehmbar und zugänglich zu machen, definiert (Kap.  3.1). Diese funktionale Definition lässt es zu, unterschiedliche Prozesse als mediale Vorgänge, verschiedene Subjekte und Objekte der Textwelt als mediale Formen zu bezeichnen. Die mediologische Unterscheidung von ,Kommunikation‘ und ,Transmission‘ wurde als strukturelle Basis der Kategorisierung der Phänomene nach den zentralen Hindernissen des Informationsflusses über Raum oder aber Zeit genutzt. Mit dem Begriff ‚trans­sphä­ri­scher Kontakt‘ wurde den beiden Begriffen ein dritter zur Seite gestellt, der all jene Prozesse bezeichnet, in denen verborgen liegende, der transzendenten Sphäre entstammende Informationen für die immanenten Figuren (zeitweise und teilweise) verfügbar werden. Die Überschneidungen der entwickelten Vorstellungen zu Stellung und Einfluss der vermittelnden Instanz mit den Annahmen der mittelalterlichen Christologie-Lehre ließen die Anwendung der den modernen Theorien entspringenden Begrifflichkeiten auf ,vormoderne‘ Kontexte zulässig erscheinen (Kap.  3.2.1). Mediale Formen haben einen erheblichen, nicht per se negativ zu https://doi.org/10.1515/9783110628913-007

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wertenden Einfluss auf die über sie verfügbar gemachten Inhalte und auf das Kommunikationssystem einer Gesellschaft; medialen Prozessen und ihrer literarische Darstellung kommt eine große Aussagekraft bezüglich der von medialen Strategien tangierten Themen zu. Die Auseinandersetzung mit der medialen Einordnung des Mittelalters (Kap.  3.2.2) und mit den jeweiligen konkreten vermittlungstheoretischen Überlegungen (Kap. 4.1, 5.1, 6.1) stellte heraus, dass auch im Mittelalter über eine Vielzahl medialer Techniken verfügt und praxisorientiert über die Möglichkeiten und Grenzen medialer Überwindung verschiedener Hindernisse bei der Teilung, Mobilmachung, Festigung und Verfügbarmachung von Informationen nachgedacht und diskutiert wurde. Die dargestellten Mediationsprozesse wurden dem funktionalen Medienbegriff entsprechend nach den drei zentralen Hindernissen – Raum (Kap. 4) – Zeit (Kap. 5) – Sphäre (Kap. 6) – geordnet und innerhalb dieses Rahmens nach Textbefund und Schwerpunkt jeweils unterschiedlich gruppiert. Bei Fernkommunikation bot sich die grundsätzliche Unterteilung in konventionelle, belebte und unbelebte Formen und diese Formen überbietende Phänomene an. Transmissionsprozesse wurden nach den zwei beobachtbaren Grundtechniken – der wiederholten körperabhängigen Präsenzmachung und der endgültigen Ablösung von menschlichen Körpern und Auslagerung auf stabilere Ersatzkörper – geordnet. Die transsphärischen Vorgänge ließen sich nach Nutzung des akustischen und optischen bzw. quasi-optischen Mitteilungskanals einteilen. Die vergleichende Lektüre der Passagen, die Figuren mit ähnlichen Herausforderungen bei ihrem Umgang mit Informationen zeigen, hat die unterschiedlichen medialen Aspekte, für die die Texte eine Sensibilität zeigen, und die expliziten und impliziten medientheoretischen Aussagen zusammengetragen und die narrativen Funktionen eines Erzählens medialer Prozesse herausgearbeitet. So vielzählig wie die medialen Phänomene in den Texten sind auch die Beobachtungen, die sich aus den Textanalysen ergeben. Wie bereits die die Über­kapitel abschließenden, hier nicht im Einzelnen zu wiederholenden Bemerkungen (s. Kap. 4.5, 5.4, 6.4) zeigen, sind die in den Blick genommenen Passagen Nachweise einer intensiven und diversen Beschäftigung der Texte mit Medialität, vor allem aber Beweise der vielfältigen narrativen Funktionalisierbarkeit von erzählter Medialität. Beide Texte sind Kaleidoskope medialer Prozesse, die die Potenziale medialen Wirkens von unterschiedlichen Seiten beleuchten, reflektieren und für verschiedene Texteffekte einsetzen. Beide Texte stellen klassische fernkommunikative Mittlerinstanzen als effektiv und problemlos funktionierende Möglichkeit dar, über räumliche (und damit z. T. auch soziale) Distanzen hinweg zu kommunizieren. In den durchweg positiv verlaufenden Vorgängen werden die Stärken der jeweiligen medialen Formen – Handlungs- und Interaktionsfähigkeit als sowohl eigenständige als auch als stell-

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vertretende Person bei Boten (Kap. 4.2) und rhetorische Präzision und Authentizität bei Briefen (Kap. 4.3) – sichtbar. Die Konventionalität dieser Formen der Fernkommunikation macht es möglich, die Funktionen der beteiligten Instanzen auch für Prozesse zu nutzen, in denen es nicht eigentlich um die Überbrückung räumlicher Distanzen geht, sondern um die künstliche Schaffung einer Distanz. Die verführerische Idee einer einseitigen ,Direkt-Liveschaltung‘ hingegen erweist sich zwar als faszinierend, aber auch als destruktiv oder zumindest wenig hilfreich für die sozialen Bindungen, die über diese Form gepflegt werden sollen (Kap. 4.4). In der Auseinandersetzung mit den Techniken der Aufbereitung von Informationen für die Bewahrung über zeitliche Distanzen tritt vor allem die enge Verknüpfung der Transmissionsfunktion mit der Kommunikationsfunk­tion hervor. Einige Bewahrungstechniken bauen darauf, dass Maßnahmen wie Körpermodifikation nach außen kommunizieren und so die gewünschten Erinnerungsanstöße generieren; andere Formen haben im Erzählverlauf vornehmlich kommunikative Funktion, welche aber auf dem Versprechen der Informa­tionsverstetigung beruht. Teilweise ist die vorrangige Funktion kaum auszumachen. Der Erfolg der Strategien ist nur in den Fällen, in denen sowohl Aufbereitung als auch spätere Rezeption geschildert werden, wirklich bewertbar; das Überwinden zeitlicher Distanzen mittels Körperzeichen (Kap.  5.2.1), Erzählungen, Rätseln, Liedern (Kap. 5.2.2), Texten (Kap. 5.3.1) Gravuren, Plastiken und multimedialen Kunstwerken (Kap. 5.3.2, 5.3.3) scheint aber ebenso wenig wie das Überwinden räumlicher Distanzen eine große Herausforderung darzustellen. Die narrativen, bildlichen und symbolischen Aufbereitungen, welche die nachträgliche Interpretation, (Um-)Deutung, Komprimierung und Auserzählung von Ereignissen und Identitätsentwürfen im Rahmen dieser Prozesse anschaulich machen, präsentieren sich als sicher und aussagekräftig. Schwierigkeiten ergeben sich nicht unbedingt aus der Reduktion der Informationen bei der Aufarbeitung oder bei der spezifischen Formatgebung, sondern allgemein durch den Verlust der Kontrolle ab einem bestimmten Grad der Ablösung vom Urheber und durch das menschliche Streben nach eigener Erfahrung. Transsphärische Interaktion ist in beiden Texten nicht auf den christlichen Bereich beschränkt, wird jedoch deutlich aus einer christlich gefärbten Perspektive erzählt. Den immanent verhafteten Figuren bleibt nur die Möglichkeit, Botschaften, mehr oder weniger gestaltet, im Gebet an eine, mehr oder weniger eindeutig reagierende transzendente Instanz zu richten (Kap. 6.2.1); transzendente Instanzen äußern sich dem transsphärisch Sensiblen über unterschiedliche Kanäle. Verborgene Informationen offenbaren sich in den Sternen (Kap.  6.3.3), in den Aussagen von Mittlern (Kap. 6.2.2), im Verhalten von Tieren und Gegenständen (6.3.1) oder durch Traumbilder (Kap. 6.3.2). Auch die Überwindung der

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Sphärengrenze bedient sich damit jedoch nur akustischer und visueller Kanäle von Kommunikation. Olfaktorische, taktile oder gustatorische Vermittlung wird in keinem Fall beschrieben. Die dargestellten Mediationsprozesse bewegen sich insofern im Rahmen der der literarischen Darstellung besonders zugänglichen Techniken. Darstellenswert scheint in allen analysierten Textpassagen vor allem, wer unter welchen Umständen was versteht und welche Einblicke die Transzendenz überhaupt gewährt. Funktionierende Interaktion und auch ein Erfolg im Sinne einer Herstellung von Kontakt oder gar der Erfüllung der jeweiligen Wünsche der immanenten Figuren ist mehr als in den anderen Fällen von spezifischen Kompetenzen der immanenten Kommunikationsteilnehmer abhängig. Wenn auch Prädestination eine Rolle beim Zustandekommen des Kontakts zu spielen scheint, so ist das Verständnis an eine (christlich-)religiöse Weltsicht gebunden. Die Texte stellen die Vielfalt der medialen Möglichkeiten, die Wirkmächtigkeit bestimmter Strategien dar. Dabei fokussieren sie gleichermaßen auf die Stärken der jeweiligen medialen Formen, die es stets schaffen, die räumlichen, zeitlichen oder sphärischen Distanzen zu überbrücken und Informationen über die Herausforderungen hinaus verfügbar zu machen. Eine besondere Dominanz mündlicher, körper- und präsenzbetonter Formen ließ sich nicht feststellen. Dort, wo die Mittlerinstanzen belebt sind, wird der besondere Vorteil dieser Form der Vermittlung hervorgehoben, schriftliche Ver- und Übermittlung scheint aber ebenso wichtig, konventionalisiert und aussagekräftig zu sein. Die dargestellten medialen Formen erweisen sich als funktionstüchtig, der Umgang mit ihnen weist die Figuren meist als kompetent und geschult oder in anderer Hinsicht vorbildlich aus, nur selten erwachsen Irritationen aus fehlenden Kompetenzen im Umgang mit medialen Formen. Dennoch werden die Schwierigkeiten, die sich der Vermittlung stellen, nicht nivelliert. Sie sind in den selten auftauchenden Irritationen, aber vor allem in den besonderen Bemühungen um adäquate Vermittlung, um Teilhabe und in den sichtbar werdenden Verkürzungen und Umakzentuierungen in der medialen Aufbereitung von Informationen zu erkennen. Fernkommunikation und Transmission, erst recht transsphärische Interaktion, werden nicht trivialisiert, vielmehr wird betont, welche Leistungen die Formgebungen zu vollbringen vermögen, bzw. welches Potential dem sinnlich Zugänglichen innewohnt, wenn man es – wie auch thematisiert wird – richtig zu lesen weiß. Zudem entwickeln die Texte auch angesichts funktionierender Kommunikationssysteme Phantasmen, die die aktuellen Möglichkeiten übersteigen und gleichzeitig die Frage aufwerfen, wie wünschenswert solche Ausweitungen des medial Möglichen sind. Über die Inhalte der untersuchten medialen Formgebungen sprechen die Texte auch andere Themenbereiche an. So erweist sich der Blick auf erzählte

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mediale Vorgänge tatsächlich als Schlüssel zu ganz verschiedenen Themen der Texte – bspw. Emotionen, Wissen, Identität, Erinnerungsbildung und Kulturformung, die Wahrnehmung des Unerreichbaren, der Transzendenz und des Weltgeschehens. Auch über einzelne Themen hinaus konnte die medientheoretisch geleitete Analyse Interessensschwerpunkte der beiden Texte hervorkehren. So wird im Bereich der Fernkommunikation deutlich, dass der Reinfried sich besonders für funktionierende und gestörte herrschaftliche und partnerschaftliche Verhältnisse interessiert und dabei besonders Treue, Verpflichtung und Ergebenheit in den Vordergrund rückt. Im Apollonius geht es hingegen nur im Ausnahmefall um partnerschaftliche Treue und stärker um Hilfe als Herrscher- und Helden­ tugend. Dieses Thema führt sich für den Apollonius bei den Transmissionsprozessen fort. Diese diskutieren vor allem, was Identität ausmacht, inwieweit sie selbst bestimmbar oder aber abhängig von der umgebenden Gemeinschaft ist. Während Apollonius seine Identität als trauernder Witwer durch ein Zeichen, das auf die ihn umgebende Gemeinschaft bezogen ist bzw. sich aus den gesellschaftlichen Konventionen speist, selbständig gestaltet, zeigen ihn alle von außen kommenden Zuschreibungen erneut als hilfsbereiten Helden. Selbst die Grab- und Ehrenmale, die (auch) anderen Figuren gewidmet sind, konzentrieren sich auf seine Persönlichkeit als Helden der jeweiligen, sich selbst als dankbar und errettet ausweisenden Gemeinschaft. Für alle Figuren erweisen sich Status und genealogische Anbindung als Kernpunkte der Identität. Der Reinfried interessiert sich weniger für die Selbst- und Fremdentwürfe seines Helden als für andere außergewöhnliche Lebensläufe, die von religiösen und heilsgeschichtlichen Zusammenhängen berichten. Außerdem beschäftigen sich die Texte anhand der Transmissionsprozesse jeweils damit, welche Ereignisse und welche Kenntnisse bewahrenswert, welche Errungenschaften und Entdeckungen markiert werden müssen. Während der Apollonius auch diesbezüglich heldenhafte Ereignisse der eigenen Hauptfigur fokussiert und somit eigene Textereignisse aufgreift, die quasi über den Rahmen der Erzählung hinaus bewahrt werden, sind es im Reinfried mit naturwissenschaftlichen Kenntnissen, Wissen über die Welt und heilsgeschichtlichen Zusammenhängen größtenteils außerhalb des Erzählgeschehens liegende Ereignisse, die über die Transmissionsmedien in die Erzählung hereingeholt werden. Die Prozesse der transsphärischen Interaktion thematisieren – wie kaum überraschen dürfte – vor allem die Entwürfe von Transzendenz und Gläubigem und fragen nach dem Funktionieren der erzählten Welt. Der Reinfried entwickelt diesbezüglich ein deutlicheres Bild der transzendenten Sphäre, in der der christliche Gott die Macht innehat und sich durch aufrichtige und den Regeln entsprechende Bitten ansprechen und zur Absprache bewegen lässt. Er ist bereit, vage Details über die Zukunft zu enthüllen, aber entscheidet auch, bestimmte Details

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auszusparen und vorzuenthalten, um so die Treue seiner An­hänger zu prüfen. Ob neben ihm angesprochene Götter existieren, welchen Status und welche Macht sie innehaben, bleibt uneindeutig. Auch die Frage nach der Möglichkeit der Figuren zu autonomen Entscheidungen und der eigenmächtigen Beeinflussung des Lebenslaufes bleibt offen. Sehr deutlich jedoch wird, dass größere Pläne der transzendenten Sphäre definitiv und unumstößlich Umsetzung finden und weder durch eine immanente Person, noch durch die diese anleitenden Instanzen zu stürzen sind. Beim Apollonius fällt das Bild weniger eindeutig aus. Unterschiedliche transzendente Wesen bevölkern den Weltentwurf, wobei nicht ganz deutlich ist, welche außer dem christlichen Gott wirklich welche Verfügungsgewalt besitzt und ob es sich dabei um eine andere Transzendenzebene oder einfach ausgelagerte Zuständigkeitsbereiche handelt, die der christliche Gott von ,heidnischen‘ Instanzen regieren lässt. Enthüllt werden auch hier vage Aussagen über die Zukunft; darüber hinaus werden Warnungen vor Tugendverfall, Tugendmaßstäbe und die diesbezügliche Wertung der Figuren sichtbar, wobei die Eindeutigkeit solcher Bewertungen (im paganen Bereich) infrage gestellt werden. Deutlich jedoch wird auch im Apollonius die Grenze zwischen Immanenz und Transzendenz gezogen. Die auch hier aufgeworfene Frage, inwiefern die einzelnen Entscheidungen der Figuren Auswirkungen auf den – offenbar vorgeplanten  – Lebenslauf haben, bleibt ebenso wie im Reinfried unbeantwortet; ihrem Schicksal bzw. ihrer Rolle im Heilsgeschehen vermögen die immanenten Figuren sich jedoch ganz offenbar nicht zu entziehen. Offenbart hat die Analyse auch das narrative Potenzial, das dem Erzählen medialer Vorgänge innewohnt. Die Texte nutzen Boten und Briefe, um eine große Textwelt mit faszinierenden Handlungsräumen zu entfalten, komplexe Handlungsgefüge zu ermöglichen, um Handlungen zu motivieren und Figuren zur Handlungsfortführung zu animieren. Briefe gewähren – ebenso wie Gebete – einen Blick ins Innere der Figuren; beide sind somit wichtiger Bestandteil der narrativen Figurenentfaltung und dienen als Empathiegeneratoren. Im Sonderfall vermögen sowohl Briefe als auch Boten, die Polyvalenz eines Ereignisses darzustellen, indem sie ein Geschehen aus einer anderen Perspektive schildern. Dieselbe Funktion erfüllen die hier unter die transsphärischen Phänomene gezählten Tugendprüfinstanzen und die quasi-transzendente Instanz der Göttin Venus. Sie kehren die fraglichen Aspekte der bereits präsentierten Heldentaten des Protagonisten hervor. Die anderen transsphärischen Interaktionen dienen vor allem der Erzeugung von ,Wie-Spannung‘, der Erklärung und Motivation von Handlungen und der Plausibilisierung von Handlungsumschwüngen. Auch biblische Erzählungen und theologische Fragen werden über diese Passagen integriert. Die Transmissionsvorgänge schließen im Apollonius häufig Episoden  –  oder Lebensläufe  –  ab und setzen ihnen einen Schlusspunkt, der die

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relevanten Punkte der vorangegangenen Handlung bzw. die Relevanz der betreffenden Figur kurz zusammenfasst. In anderen Fällen dient diese Komprimierung eines Ereignisses oder Zusammenhanges nicht dem endgültigen Abschluss, sondern der einfachen Wiederaufrufbarkeit über die mediale Form. Dann sind die text­interne und rezeptionsästhetische Wirkung der Erinnerungsaktivierung deckungsgleich. Der Reinfried nutzt auch diese Mittel unter anderem zur Präsentation religiöser, in diesem Falle legendarischer Inhalte. Außerdem bieten die Überlieferungsmedien dem Reinfried die Möglichkeit, eine Hintergrunderzählung in den Erzählrahmen hineinzuholen bzw. den Status quo mit einer gewissen Autorität zu erklären. Eine bereits angesprochene narrative Funktion lässt sich übergreifend als besonderes erzählerisches Potenzial von medialen Vorgängen festhalten. Der Großteil der behandelten Passagen wirkt maßgeblich an der Konstruktion von Figurenidentität(en) mit. Reinfried wird als Partner und Landesherr mit Erlöserfunktion gezeichnet, Yrkâne als hoffnungsvoll Liebende, vorbildlich Gläubige und rhetorisch versierte Mediennutzerin. Diomena wird als misstrauische Verlassene entworfen; Apollonius, der sich selbst als Trauernder inszeniert, wird als Held und Helfer, als ungläubiger und unvollkommener und doch auch unzweifelhaft Auserwählter konturiert. Die jeweiligen Kollektive konstituieren sich als Trauergemeinschaft beim Verlust einer Person oder als Festgemeinschaft nach der Errettung durch den Helden und verpflichten sich jenem Gegenüber, was wiederum auf die Figur Apollonius und seinen Heldenstatus zurückstrahlt. Die Bedeutung, die mediales Handeln also für individuelle und kollektive Identität hat, spiegelt sich in der Charakterisierungsfunktion, die erzählte mediale Prozesse in der Narration einnehmen. Immer wieder wurde auch die poetologische Aussagekraft der Passagen evident, die sich daraus ergibt, dass die Passagen, die Vermittlung und Übermittlung thematisieren, selbst Bestandteil einer Entität sind, die ver- und übermittelt. Über die Darstellungen reflektieren die Texte über die Art und Weise des richtigen Erzählens (Vermittelns) und des richtigen Lesens (Empfangens). So ist das Ringen der Figuren um authentischen Ausdruck ihrer Gefühle oder um die Einordnung eines transsphärischen Phänomens gleichzeitig ein Ringen der Texte um authentische Darstellung der sich der Darstellung versperrenden Vorgänge und damit Nachdenken über Möglichkeiten der Darstellung. Wird deutlich, dass in Ver- und Überlieferungsprozessen reduziert und komprimiert, ergänzt oder gar umgedeutet wird, so führt das vor Augen, dass auch die Art der Präsentation der erzählten Geschichte einen Beitrag für die Wahrnehmung des Inhalts leistet, nicht neutral ist, sondern eine Position bezieht. Können bestimmte Phänomene in ihrer Bedeutung und ihrem medialen Potenzial nur mit einer bestimmten Fähigkeit oder einem soliden Glauben verstanden werden, so gilt dasselbe für die Rezeption

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der Erzähltexte, die je nach Kenntnisstand ihrer RezipientInnen unterschiedliche Bedeutungspotenziale entfalten. So sind die Konfrontationen der Figuren mit Traumbildern nicht nur beispielhaft für den Mehrwert, der sich durch biblische oder literarische Vorkenntnisse ergibt, sondern auch allgemeiner beispielhaft für die Konfrontation der RezipientInnen mit literarischen, symbolischen oder allegorischen Darstellungsweisen, derer sich auch die Literatur bedient. Und so ist die Aufklärung über die Bedeutung der Bilder durch Dritte den Erklärungen über die Bedeutung des literarisch Präsentierten der Erzählinstanz gleichartig. Die Ausschnitthaftigkeit des von der Transzendenz gewährten Vor- und Überblicks ähnelt dem Vorgehen der über den Erzählverlauf verfügenden Instanz. In diesem Sinne setzen sich viele der betrachteten Passagen damit auseinander, wie etwas darstell- und vermittelbar ist, und unter welchen Bedingungen sich ihr Vermittlungs- bzw. Übermittlungspotenzial erschließt. Die transsphärischen Interaktionen erweisen sich diesbezüglich als besonders aussagekräftig, da in ihnen das Verhältnis von Ebenen thematisiert wird, das in der Verteilung von ,Wissen‘ und ,Ver­fügungsgewalt‘ dem von Verfasser und Geschichte, Erzählinstanz und RezipientIn ähnlich ist. Zur Frage nach diesem Verhältnis gehört neben der Frage nach der Konstruktion der Stellung der Erzählinstanz (welche sich in das erarbeitete Thema der Identitätskonstruktion durch erzählte Mediationsprozesse fügt) auch die Frage nach dem Anspruch von Literatur, welche durch die Passagen thematisiert wird, die die Bedeutung von Bildern, ihre Umsetzbarkeit in Sprache und Lehren, zum Vorschein bringen. Dort deutet sich an, dass Literatur fähig ist, im Erzählen immer auch mehr zu vermitteln als die Geschichte. Sie beansprucht, dem/der vorgebildeten LeserIn höhere Wahrheiten zugänglich zu machen, ihm/ ihr besondere Einblicke zu gewähren, Teilhabe zu verschaffen. Die offen gelassenen Deutungsspielräume weisen jedoch auch darauf hin, dass dieser Anspruch nicht absolut ist, sondern dass sich nicht nur die unvermittelte Erfahrung, sondern auch die restlose Erklärung der gezeichneten Bilder auch in Literatur und Literaturrezeption nicht realisieren lässt. Es gibt Bereiche des Lebens, die sich einer immanenten Verfügung endgültig entziehen und verschließen. Eine einstimmige Position entwickeln die Texte diesbezüglich nicht. Vielmehr werden diese Fragen nach der Vermittelbarkeit und der Zugänglichkeit immer wieder aus unterschiedlichen Perspektiven angesprochen. Die zu Beginn problematisierte Zusammenordnung der Texte steht nach der Untersuchung weiter infrage. Es lässt sich ein ähnlich starkes Interesse an Darstellungen medialer Prozesse, an mediendiskursiven Aussagen, narrativer Funktionalisierung medialer Vorgänge und poetologischer Reflexion im Rahmen erzählter Mediation beobachten. Bei Passagen wie den ganz am Ende betrachteten Erzählungen von den Sternensehern Albedacus und Savilôn (Kap.  6.3.3), aber auch bei beiläufig erwähnten Elementen, die beide Textwelten teilen, sind

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die Parallelen zwischen ihnen mitunter verblüffend. Insgesamt jedoch werden im Hinblick auf die Präsentation medialer Phänomene die Schwerpunkte jeweils anders gesetzt. Im Vergleich lässt sich festhalten, dass der Apollonius in noch größerer Vielfalt mediale Vorgänge in seiner Erzählung versammelt als der Reinfried. Alle Phänomene des Reinfried finden Entsprechungen im Apollonius; umgekehrt ist das nicht der Fall (4.4.1, 4.4.2, 5.2.1, 5.2.2, 5.3.3, 6.1.1, 6.3.1). So interessiert sich der Reinfried vor allem für konventionelle Vorgänge, während der Apollonius stärker an Experimenten interessiert scheint. Neben dem vor Ideen sprudelnden, äußerst hybriden und uneindeutigen Apollonius wirkt der Reinfried mitunter traditionsbewusst, geschlossen und zurückgenommen, die einzelnen Entwürfe des Reinfried jedoch erwecken gegenüber dem Apollonius den Eindruck sprachlich besonders raffinierter Detailversessenheit. So ist die bereits bei den in der Einleitung verwendeten Textpassagen beobachtbare erzählerische Diskrepanz zwischen dem kurz berichtenden Apollonius und dem breit entfaltenden Reinfried (s. Kap. 1) Abbild der in der Darstellung medialer Prozesse insgesamt zutage tretenden Erzählcharakteristika. Der Reinfried schildert die einzelnen Vorgänge ausführlicher, ist dabei sehr genau, versucht, ihnen auf den Grund zu gehen (sie zu ,durchgründen‘)1 und hebt auch mehrmals an, um einer adäquaten Vermittlung nahe zu kommen. Hier werden die Botenberichte, Brieftexte, Gebetsworte, verschrifteten Erzählungen, Grabentwürfe und intersphärischen Begegnungen ausführlich ausgestaltet und erläutert. Im Apollonius werden mehr Phänomene kürzer und teilweise nebenbei präsentiert, weswegen der interpretatorische Spielraum für ihre Bedeutung meist größer bleibt. Diese Darstellungstendenzen und die Eigenständigkeit der Texte, die sich zwar in vielerlei Hinsicht auf ähnliche Traditionen beziehen, aber im Hinblick auf den Untersuchungsfokus dieser Arbeit keine besonders enge Zusammengehörigkeit ausstrahlen, sind bei der weiteren Erschließung der Texte bzw. ihrer Erzählweise zu berücksichtigen. Für die einzelnen Texte bestätigt sich mit dem hier gewählten Blickwinkel der Eindruck ihrer jeweiligen ,Hybridität‘. Auch unter dem medialen Fokus lösen sich Widersprüche und Unklarheiten nicht auf; es bestätigt sich vielmehr – für den Apollonius mehr noch als für den Reinfried – der Eindruck von Sperrung gegen Vereindeutigung.2 Das liegt vor allem an den zuletzt begutachteten trans-

1 Der Begriff ,durchgründen‘ taucht im Reinfried prominent als Bestreben der Erzählinstanz oder auch der Figuren, einer Sache auf den Grund zu gehen bzw. sie vollständig zu durchdringen und zu erfassen, auf und bringt damit auch das Bestreben des Textes, präzise verständlich zu machen, auf den Punkt. Vgl. dazu bereits Baisch, „durchgründen“. 2 „Die Hybridität des Romans […] macht es nicht nur unmöglich, einen Gesamtsinn zu eruieren, sondern schon schwer, den Sinn einzelner Sequenzen zu bestimmen“, so Kiening, Apollonius,

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sphärischen Phänomenen, die über das Funktionieren der Textwelt Aufschluss geben sollten, bei dem von unterschiedlichen transzendenten Instanzen bevölkerten Apollonius jedoch keine letztgültige Position ergeben. Der Text produziert kein System, mit dem sich alle Ereignisse einwandfrei sinnvoll erklären lassen. Vielmehr zeigt er das Gegen- und Ineinanderwirken verschiedener (literarischer) Prinzipien, die ein Bild von faszinierender Vielfalt und Unüberschaubarkeit hinterlassen. In gewissem Maße gilt dasselbe für den Reinfried, welcher aber eine etwas geschlossenere Textwelt zu präsentieren scheint und stärker damit beschäftigt ist, einzelne Phänomene detailliert zu erklären als bereits zur Darstellung des nächsten überzugehen. Die Unterschiede der Textweltentwürfe, der Breite des entfalteten medialen Spektrums und der Darstellungsweise hält dazu an, die Texte auch auf einer ,Skala der Hybridität‘ unterschiedlich zu verorten. Der Blick auf mediale Vorgänge konnte das narrative und das diskursive Potenzial erzählter medialer Vorgänge anhand der Einzelbeispiele näher beschreiben. Die Arbeit hat gezeigt, dass zwei einander ähnliche spätmittelalterliche Texte unterschiedlicher Texttraditionen vergleichbare, jeweils recht euphorische Positionen zu medialen Vorgängen vertreten, im Detail aber gerade über erzählte mediale Prozesse ein individuelles Profil entwickeln. Sie konnte darstellen, dass das Erzählen von medialer Transgression sich anbietet, um nicht allein eine Vielzahl von Themen anzusprechen und multiple narrative Funktionen zu übernehmen, sondern damit auch Vermittlungs- und Darstellungsprozesse zu reflektieren und damit poetologische Aussagen zu generieren. Das Vorgehen erscheint daher durchaus produktiv und anschlussfähig für ähnliche Untersuchungen anderer Texte oder Textgruppen. Auf Grundlage der Ergebnisse ließe sich dabei im Vorfeld eine noch stärkere Fokussierung auf bestimmte Verknüpfungen (z. B. nach Medialität und Identitätskonstruktion oder Medialität und Poetologie) vornehmen, um einzelne hier angerissene, aber prominent erscheinende Diskurslinien, die sich mit dem Medialitätsdiskurs schneiden, detailliert zu untersuchen. Hier wurde hingegen die Breite des Spektrums an Möglichkeiten, das der Blick auf mediale Vorgänge entwickelt, abgebildet. Die strikte Unterteilung der medialen Formen nach den drei Hindernissen und nach einzelnen Vermittlungs- und Übertragungstechniken hat sich insofern als fruchtbar erwiesen, als sie Passagen in Kontakt miteinander gebracht und Bezüge hergestellt hat, die in den herkömmlichen Lektüren der Texte verborgen geblieben sind. Gerade die narrative Multifunktionalität von Schriftstücken, seien es Fernkommunikationsoder Transmissionsmittel, sowie von Gebetseinlagen ließ sich in dieser Weise her-

S.  420 zum Apollonius. Eine ähnliche Absage an eine Gesamtinterpretation findet sich bei Schneider, Chiffren, S. 29.

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vorarbeiten; über die Verknüpfung der Sterne als transsphärisches Bezugsobjekt rücken die an sich durchaus unterschiedlichen Figuren Savilôn und Albedacus in spannungsvoller Weise nebeneinander. In Anbetracht des Ausgangsinteresses an den Strategien medialer Aufbereitung scheint das gewählte Vorgehen trotz der dadurch zum Teil in Kauf genommenen Zerstückelung multimedial geprägter Passagen zielführend – auch, weil es zu Zuordnungen zwingt, die zeigen, dass sich Funktionen und Verfahren überschneiden und ineinanderwirken. Als Hauptverdienst der Arbeit erscheint es, den Blick auf literarische mediale Prozesse mit Nachdruck als produktiv für die Erarbeitung medientheoretischer Aussagen und verschiedener weiterer Themenfelder erwiesen zu haben. Mediale Vorgänge spielen in so vielen Situationen eine Rolle, dass sich über die Betrachtung ihrer Imagination eine Vielzahl von Textinteressen hervorkehrt. Gleichzeitig offenbaren diese Textpassagen Darstellungsstrategien, medientheoretische und poetologische Reflexionen. Ob das für all jene Texte, die aufgrund ihrer Kombinationsleistung verschiedener literarischer Traditionen über einen besonderen Umfang und eine exzeptionelle Ereignisdichte verfügen, wie einige der ,Liebes- und Abenteuerromane‘, in besonderem Maße gilt, müsste an weiteren Texten und im Vergleich mit Texten anderer Textsorten und anderer Epochen weiter untersucht werden. Das hier nachgewiesene ausgeprägte Interesse des Reinfried von Braunschweig und des Apollonius von Tyrland jedenfalls umspielt variationsreich und ohne definitive und einstimmige Antworten die noch immer aktuellen Fragen danach, was, wie unter welchen Bedingungen und mit welchen Konsequenzen vermittelt werden kann, was zugänglich ist, wo die Grenzen des vermittelt Erfahrbaren oder überhaupt des Erfahrbaren liegen und welche Aussagekraft Literatur eigentlich besitzt. Sie zeigen, dass mediale Formen den Blick auf das Vermittelte prägen, das Verständnis von medialen Formen und das Vertrauen in die Authentizität des Vermittelten jedoch ebenso die Vorannahmen über jenen Blick bestimmt. Sie zeigen auch, wie die Rezeption literarischer Werke den Umgang mit unterschiedlichen medialen Strategien zu schulen vermag und damit immer noch in besonderem Maße fördert, was auch heutzutage mehr denn je von Menschen im Umgang mit der medial geprägten Umwelt gefordert wird: Medienkompetenz.

Gotha, Forschungsbibl., cod. chart. A 689

b

1420 (nach Besitzvermerk) oder 1465 (nach Schrift, Wasserzeichen Illustrationen)

Straßburg, März 1431 Bibliothèque vollendet Nationale et Universitaire, Ms. 2334 (olim All. 359; L germ. 359 2º)

a

Datierung

Standort

HS

bairisch

Besitzeintrag Peter von Pregkendorff zuo Pregkendorff und Hoff (1420), nach Giótha in der ersten Hälfte des 18. Jhs, Teilabschrift von Franz Goldhan (1832, Österreichische Nationalbibliothek in Wien, Cod. Vind. 12646), Teilabschrift von Johann Gustav Büsching (1809, Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz Ms. Germ. Quart. 369)

158 Bll, Seitengröße 289x210mm, eine Haupthand, möglicherweise 2 Bearbeiterhände, Kursivschrift des 15. Jhs., 128, nachträglich kolorierte Illustrationen

bairisch nahezu vollständig erhalten, urspr. wahrsch. 135 Bll, 131 erhalten (der fehlende Anfang ist auf Vorsatzblättern des 19. Jhs. in moderner Hand nach b nachgetragen) Seitenformat 274x206 mm, von verschiedenen Händen in Kursivschrift verfasst

unbekannt, Vorbesitzer Franz Goldhan, Abschrift 1832, Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. Vind. 12464, im Besitz von Theodor von Karajan, Karl Kesar (seit 1836) und Theodor Oswald Weigel (1864), ab dem 7.2.1873 durch die Straßburger Bibliothek beim Antiquariat Fidelis Butsch Sohn für 200 RT erworben

Sprache

Umfang

Provenienz

Tab. 1: Übersicht der Überlieferung des Apollonius von Tyrland des Heinrich von Neustadt

Anhang

https://doi.org/10.1515/9783110628913-008

Standort

Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. Vind. 2886

Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. Vind. 2879

Amorbach, Fürstlich Leiningensches Archiv, ohne Signatur

HS

c

d

e

Um 1400–1420

1461

nach schlecht lesbarer Schreibernotiz vermutl. 1467

Datierung

Unbekannt, im 20. Jahrhundert im Besitz von Dr. Theodor Brauch (1920– 1997)

Leimabklatsch zweier Seiten aus bairisch verlorener Handschrift (ursprüngl. Seitenformat 340x220mm), jüngere Kursivschrift aus einer Hand, 144 Verse (14450–14537, 15359–15414)

bairisch

240 Bll. nach moderner Foliierung, Seitenformat 282x208 mm, zwei Hände, Kursivschrift des 15. Jhs.

Hinweise auf Besitztum: Ferenberg VSL, Hans Fernberger (16. Jh.), Carl Ludwig Fernberger zu Egenberg (†1635), Windhaagsche Bibliothek (1651), Joachim Freyher von Windhag. Die Bibliothek des Joachim von Windhaag wurde 1786 von der Hofbibliothek erworben

bairischösterreichisch

121 Bll., sehr unvollst. und zerstört, Seitenformat 275x207mm, Kursivschrift des 15. Jhs. nach einer Hand, 109 teilweise kolorierte Federzeichnungen

nach schlecht lesbarer Schreibernotiz verfasst für eine Dame des in Bayern, Salzburg und Niederösterreich ansässigen Adelsgeschlechts von Uttendorf

Sprache

Umfang

Provenienz

2 | Fehler! Kein Text mit angegebener Formatvorlage im Dokument. Tab. 1: fortgeführt

670   Anhang

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Index Sachregister Adäquatio-Prinzip 227 Alterität 98, 106, 109, 471 Anagnorisis 336, 340, 343, 502 Anamnese 480, 489, 491 , 512 Antikenroman / antikisierender Roman 36, 41, 394–395 Apollonius-Rätsel 43, 310–311, 341, 345, 348–350, 355, 366, 368–371, 387–388, 399, 612, 660 Apollonius-Stoff 19–20, 348 ars dictaminis / ars dictandi 151–152, 183, 199, 220, 222, 246, 478 ars memorativa 297, 301, 312, 405 ars oratoria 478–479 Artusepik / Artusroman 37, 42, 394, 569 Auralität / Auratisches 107–109, 276, 396, 644–646, 649, Basismedien / Basismedium 82, 91, 474 Bekenntnisgebet 531 Benediktion 483 Bimedialität / bimedial 109 Bittgebet 481, 491, 497, 509 Briefeinlage 49, 128, 133, 148, 154–155, 197, 201, 203, 216–224, 226, 231, 258, 290, 377, 496, 656 captatio benevolentiae 153, 183, 250–251, 480, 482, 491, 505 Christologie 99, 100–101, 103–104, 467, 658 Chronotopos 39–41, 343 communicatio 100 conclusio 183, 479–480, 491 conscientia 460 cultural turn 43 curiositas 41, 47–48, 252, 552, 650, 652 descriptio 415, 424 dilatatio materiae 44, 415 discours 313, 324 Doppelwegschema / Doppelwegstruktur 28, 42, 44 Doxologie 483, 505 Einzelmedien 68, 82, 91, 474 Ekphrasis 396, 402, 432, 436, 444, 610 https://doi.org/10.1515/9783110628913-010

Emotionsexpression 249, 326, 332, 343, 572 Emotionskonzepte 224 Engramme 299, 304 Epigonalität / Epigonenwerke 26–27, 29, 51 Epitaph 403, 415, 417 Erinnerungskonzepte 315–323 Evidenz 51, 449, 565, 573, 577, 580, 583–584, 656 Exogramme 299, 304 exordium 479–480, 482, 505 Face-to-face-Kommunikation 66, 90, 115, 145, 150, 155, 181, 211, 223, 226, 263, 271, 306, 366, 438, 518 Fiktionalität 41, 43 finale Motivation 50 gattungshafte Dominante / gattungskons­ tituierende Dominante 38, 41, 52, 658 Gebetseinlagen 497, 506, 508, 667 Gedächtnisforschung 299, 304, 316 Gedächtnismetaphern 292, 295, 296, 300, 312, 322 Gesprächsersatzfunktion 196, 203, 205, 210, 216, 239, 247, 290, 409, 477 Gottesbild 101, 466, 471, 485 Gralroman 37, 41 Halslöserätsel 350, 370 Heldenepik 64, 109 Hilfsgesuch 123, 147, 157, 186, 217, 221, 232, 237–240, 243, 245, 252, 259, 261, 264–265, 287, 491 historisches Ereignislied 352–353, 355 Hybridität 34, 39–41, 51, 666–667 Identitätsbildung / Identitätsstifutng 66, 303, 305, 307, 321–323, 325, 329, 339, 343–344, 363, 366, 403 imaginatio 234, 297–298, 312 Informationsmanagement 9, 55, 66, 68, 73, 75, 77–78, 83, 92, 101, 109, 113, 310 Intermedialität 31, 396 Intertextualität 22, 27, 37–40, 134, 232, 284, 321, 364, 400 invocatio 479–480, 482, 491, 505

704 

 Index

Kanadische Schule 57 kognitive Schemata 73, 151, 311 kommunikatives Gedächtnis / memorie collective 299, 303–305, 308, 316, 400 kommunikative Gedächtnis 299, 304, 305, 308, 316, 318, 400 Konfessionsgebet 487 Kontexteffekte 73, 151, 187, 284, 311 Kreuzfahrerfeste Akkon 15 kulturelle Erinnerung 309, 321, 394, 443 Kulturelles Gedächtnis 23–24, 303–304, 316, 322, 403 Liebes- und Abenteuerroman / Minne- und Aventiureroman 9, 12, 15, 26–27, 34, 36–40, 42, 45–46, 51–52, 127, 154, 268, 564, 658, 668 Literalität 108 Löwensage 14, 23–25 Magnetbergepisode / Magnetbergsage 47, 49, 165–166, 293–294, 345–348, 377–384, 388–390, 407–408, 416–418, 626–637, 642–654 Massenkommunikation / massenkommunikativ 60, 82–83, 306, 402–403 Massenmedien 60, 81, 84, 94, 393, 402 Materialität 10, 55, 61–62, 64, 70, 82, 83–86, 88–92, 94, 95, 97, 113, 148–149, 204–205, 211, 236–237, 251, 290, 308, 310, 333, 351, 391, 419, 425, 437, 445, 446, 449, 569, 607 Medialität 7–9, 31, 52–53, 60, 62–64, 80, 84–85, 89–90, 100, 102, 105, 107–108, 114, 128, 154, 169, 218, 224, 290, 309, 330, 372, 402, 411, 416, 442, 444, 527, 646, 658, 659, 667 Medialitätsforschung 53, 80, 290 medial turn 94 Mediation 1, 5, 8, 10, 11, 55, 58, 62–63, 65, 69, 75, 78, 82, 84, 87–88, 91, 94–96, 100, 102–104, 106, 109–110, 112–113, 129, 171, 266, 279–281, 305–306, 455, 469, 470, 518, 530, 538, 543–544, 560, 562, 568, 586, 625, 631, 637, 642, 653, 659, 661 665 Mediationsmoment 78, 87, 103–104, 112–113 280, 631 Mediator/ Mediatrix 102, 146, 516, 527

Mediengenerativismus 58, 96 Mediengeschichte 6, 79, 106, 224 Medienkompetenz 73, 109, 243, 491, 581, 668 Medienmarginalisierung 94, 96–97 Medienwissenschaft 10, 54, 59–60, 62, 64, 79, 81, 83, 85, 90, 92 Mediologie 10, 58 62, 75–76, 78–79, 84–85, 94, 113 Memorabile 409 memoria 87, 296–298, 301, 303, 312, 316–317, 321, 323, 405, 425, 474, 476 memoria artifiosa 297 memoria naturalis 297 miles christianus 618 Minnebrieftradition / Minnebriefwechsel 150, 221, 224, 258 monologischer Stil 223, 228, 230, 238, 244, 253, 265, 483 Monomedialität 108 Multimedialität 143, 169–170, 289,, 309, 393–394, 411, 426, 437, 447, 523, 624, 660, 668 Mündlichkeit / Oralität / Orality 63–65, 106–109, 111, 154, 200 Mystik 64, 469, 476, 490, 531, 541, 589, 655 nachrichtentechnisches Kommunikationsmodell 10, 67–69, 71–72, 78, 87, 91, 102 nähesprachliche Kennzeichen 198–201, 203–204, 206–207, 209–210, 216, 269, 483 narratio 183, 396, 479–480, 487, 491, 505, 512 Neue Medien 95 Nilquellensage 450 oratio 476–477 ordo 44 Paradiesentwürfe 53–455, 532–536, 566 Paradigmengebet 487, 514 participatio 101 Performanz / Performativität 64, 85, 103, 111, 142–143, 169, 180–183, 201–202, 204, 208, 215, 226, 235, 244–245, 262–263, 267, 351–352, 356, 362, 365, 398, 414, 420, 431, 439, 493 Persuasion 238, 245–264, 479

Index  petitio 183, 479–480, 491, 505 Primär-, Sekundär- und Tertiärmedien 91, 99 Psychoanalyse 45, 316, 588, 590, 597–600 Push-, Pull-Medien 92 Rauschen 89–90, 170, 194, 562 salutatio 153, 183, 220, 231 Säulen des Herakles (Herculis Columnae) 375–377, 367, 408 Sender 68–71, 73–74, 76, 78–79, 82, 87, 90, 92, 96, 102–103, 112–113, 117, 125, 132–133, 135, 140, 142–143, 145, 147–149, 161, 171–172, 174, 181, 183, 186, 189–191, 193–194, 197, 201, 204, 206–207, 210, 217, 221, 223, 226–230, 233, 235, 237, 242–246, 252–255, 257–258, 262, 270, 282, 289, 324, 326, 388, 391, 398, 484, 490, 514, 545, 593 Schriftlichkeit / Skriptualität 49, 52, 63, 65, 91, 106–111, 150, 154, 196, 200, 224–225, 273, 367, 377, 385, 391–392, 442, 646 Soziales Gedächtnis 304, 321 spatial turn 115 Sphinxrätsel 350 superbia 650, 652, 654

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symbolisch generalisiertes Kommuni­ kationsmedien 42, 81, 151 technological turn 62 Text-Bild-Relationen 45, 64 Textualität 49, 52, 63, 99, 106, 154, 646 Translatio Imperii / Weltreichelehre 585, 600, 604 Traumtheorie 520, 584, 587–591, 596, 602 Tristanroman 37, 41–42 Tugendprüfung 275–276, 455, 459–460, 503–504, 569–570, 573–577, 580, 583, 663 Übermittlung 1, 5–6, 58, 68, 75–77, 82–83, 90, 96, 101–102, 108, 112, 117, 129, 179, 182, 194, 252, 305–306, 312–313, 323–324, 345, 351–352, 362, 366–367, 369, 373–374, 378, 385–387, 390–394, 407, 412, 424, 431, 436, 444, 447–448, 661, 664–665 Visio / Vision 1, 17, 32, 274, 420, 454, 468, 493, 520–522, 530–531, 551, 585, 589–590, 595, 598–599, 602–603 Volkslied 353–355, 362, 368 Wissenskonzepte 315–323

Personen- und Werkregister Abū Yahyā Zakariyā‘ ibn Muhammad al-Qazwīnī (Kazwînî) 450 Kosmographie (Die Wunder des Himmels und der Erde, Adscha‘ib almachluqat) 450 Adalbert von Samaria 152 Præcepta dictaminium 152 Aḥmad ibn Muḥammad ibn al-Faqih al-Hamadani (Ibn al-Faqîh) 450 Buch der Länder (Kitâb al-Buldân) 450 Al-Bagatti 627 Alberich von Montecassino 152 Breviarium de dictamine 152 Albrecht von Scharfenberg 49, 166 Jüngerer Titurel 49, 166 , 170, 274, 395, 432 Alkuin 56 Disputatio de rhetorica et de virtutibus 56 Ambrosius von Mailand 478 De institutione virginis 478 Anicius Manlius Severinus Boethius 301

Annolied 585 Antiochius IV 19 Aristoteles 79–80, 272, 297, 301, 312, 633 De Anima 79 De memoria et reminiscentia 301 Artemidoros 585 Artemon von Kassandreia 152 Augustinus von Hippo 47–48, 56, 177, 295–298, 373, 477, 501, 532, 585, 589–590, 652 Confessiones 47, 295–296 De doctrina christina 56 De genesi ad litteram 532, 589 Aurelius Prudentius Clemens 585, 590, 602 Baseler Alexander 543 Belle Hélène de Constantinople 474 Bene von Florenz 152 Benjamin von Tundela 274

706 

 Index

Benoît de Sainte-Maure Le Roman de Troie 396 Bernhard von Bologna 152 Bernhard von Clairvaux 149, 297, 467, 585, 633, 652 Bernhard von Meung 152 Bibel / Bibelpassagen 308, 372, 374, 434, 453–454, 466–468, 475–476, 483, 486, 488–489, 520, 522, 526, 530–534, 589–591, 596, 600, 602–611, 623–624, 633, 650 Boncompagno 152 Bruncvik 24 Caelius Firmianus Symphosius 350 Aenigmata 350 Cassian 585, 590 Chrétien de Troyens 288, 368, 396 Cligés 368 Erec et Enide 396 Lancelot 288 Christherre-Chronik 626 Claudius Ptolemäus 166, 628 Crane 36 Demantin 36 Der Pleier 219 Meleranz 219 Der Stricker 180 Daniel von dem Blühenden Tal 180 Deutscher Lucidarius 274 Die gute Frau 36, 369 Die schöne Magelone 40 Die Wunder Indiens von Buzurg ibn Schahrijar 166 Ebstorfer Weltkarte 274 Enea Silvio Piccolomini 225 De duobus amantibus 225 Filippo Neri 590 Flavius Magnus Aurelius Cassiodorus Senator 301, 467–469, 560 Expositio Psalmorum 467 Flores rhetorici 152 Francesco Petraca 149 Friedrich von Schwaben 16, 26, 36, 51 Gesta Romanorum 20–21 Götterweiger Trojanerkrieg 219, 626 Gottfried von Straßburg 33, 219, 316, 321, 594 Tristan 42, 219, 300, 316, 321, 327, 405, 594, 598, 601

Gottfried von Viterbo 21 Pantheon 21 Gotthold Ephraim Lessing 79, 434 Gregor der Große 467–468, 560, 562, 585 Ezechiel-Homilie 468, 562 Guido Faba 152 Guillaume de Lorris 598 Roman de la Rose 598 Gunther von Paris 479 De oratione, jejunio et eleemosyna 479 Habakuk 627 Hans Sachs 20, 23 Hartmann von Aue 22, 156, 166, 180, 305, 312, 316, 334, 396, 400 Erec 180, 300, 327, 396, 400 Gregorius 87, 316, 324, 327 Iwein 22, 156, 166, 300, 312, 327, 334 Heinrich der Löwe 23–25 Heinrich Göding 24 Schöne alte Histori von einem Fürsten und Herrn/Hertzogen zu Braunschweig und Lüneburg 24 Heinrich Steinhöwel 20–21, 426, 434, 439, 441, 556, 609 Apollonius 20–21, 426, 434, 439, 441, 556, 609 Heinrich I. von England 598 Heinrich von Freiberg 219 Tristan-Fortsetzung 219 Heinrich von Mügeln 626 Heinrich von München 626 Weltchronik 626 Heinrich von Veldeke 236, 288, 395, 415, 549, 628 Eneasroman 234, 236, 271–272, 274, 288, 395, 397, 420, 628 Hekataios von Milet 376 Herbot von Fritzlar Liet von Troye 369 Hero und Leander 224 Herzog Ernst 24, 45, 166 Historia Apollonii Regis Tyri 19–22, 29, 33, 45, 123,126, 310, 350–351, 397, 409, 413, 428, 439, 441, 612 Honorius Augustodunensis 274 Historien vnd Geschicht Camillus vnd Emilie 225 Hugo von Bologna 152

Index  Hugo von St. Viktor 56, 177, 585 De institutione novitiorum 56 Humbertus de Romanis 478 Ibrahim ben Wasif Schâh 450 Abriß der Wunder 450 Immram Brenainn (Reise von Bran, Febals Sohn) 450 Isidor von Sevilla 368, 402 Etymologiae 368, 402 Jacob Grimm 295, 590 Jacobus de Voragine 418 Legenda Aurea 418 Johannes Balbus von Genua 402 Catholicon 402 Johannes Hartlieb 598 Alexander 598 Johannes Scottus Eriugena 453 Periphyseon 453 Johannes von Salisbury 368 Policraticus 368 Johann von Konstanz 224 Minnelehre (der werden minnen lere) 224 Johann von Würzburg 171, 191, 219, 224–225 Wilhelm von Österreich 9, 26, 40–41, 49, 171, 191, 203, 219, 225 Kaiserin Faustina 420 Kaiser Maxintius 420 Katharina von Alexandrien 395, 418–424, 426 König Rother 598 Konrad Fleck 49, 396 Flore und Blanscheflur 9, 36, 49, 50, 51, 244, 395–397, 405, 420, 594 Konrad von Megenberg 377, 633 Das Buch der Natur 377, 633–634 Konrad von Stoffeln 219 Gauriel von Muntabel 219 Konrad von Würzburg 33, 49, 363, 379, 601 Engelhard 36, 601 Partonopier und Meliur 9, 36, 40, 51 Schwanenritter 49 Trojanerkrieg 369, 379 Kudrun 166 Lohengrin 376 Macrobius Amrosius Theodosius 589 Kommentar zum Somnium Scipionis 589 Magister Gaufredus 154 Mai und Beaflor 9, 45, 49, 51, 191, 195, 288

 707

Marcus Tullius Cicero 47, 152, 479 Marie de France 219 Maurice Halbwachs 299, 303–304, 306 Mechthild von Magdeburg 469 Das fließende Licht der Gottheit 469 Michel Foucault 329–330 Michel Wyssenhere 23 Von dem edelen hern von Bruneczwigk als er über mer fuore 23 Navigatio Sancti Brendani (St. Brandan) 166, 390, 454, 533 Nebukadnezars Traum 585, 616 Nibelungenlied 93, 594, 598, 601, 619 Niklas Luhmann 58, 81, 94, 96, 98, 449 Orendel 598 Origines Adamantius 478 De Oratione 478 Otte 180 Eraclius 180 Papst Damasus I 415 Papst Silvester II 633 Pfaffe Lamprecht 598 Alexanderroman 598 Pierre Bourdieu 329–330 Pindar 376 Platon 79, 272, 312, 318 Theätet 318 Plinius der Ältere 166, 432 Priester Johannes 275 Presbyter-Johannes-Brief 274 Prosalancelot 49, 191, 376, 396, 410, 598 Pseudo-Ambrosius 478 De sacramentis 478 Publius Ovidius Naso (Ovid) 203, 219, 231–232, 234, Ars amatoria 219 Heroides (Epistuale heroidum) 203, 231 Quintus Septimius Florens Tertullianus (Tertullian) 585, 590 Rabenschlacht 598 Rationes dictandi 152 Reinbot von Durne 643 Der heilige Georg 643 Richard von St. Viktor 585, 600 De eruditione interioris hominis 600 Rolandslied 598 Roman d’Eneas 219, 415, 549 Rota Veneris 220

708 

 Index

Rudolf von Ems 33, 49, 177, 180, 219, 258, 288, 492, 515, 542, 585, , 603, 609, 625 Alexander 585, 603, 609 Barlaam und Josaphat 180 Der guote Gêrhart 177, 492, 515, 523, 542 Weltchronik 288, 625 Willehalm von Orlens 40, 49, 51, 219, 235–236, 239, 258, 269 Rûmzlant von Sachsen 585, 609 Nebukadnezars Traum 585 Rupert von Deutz 602 Secretum Secretorum 194 Seifrit 180, 376, 566 Alexander 180, 376, 566 Sigmund Freud 588, 596–597 Stilfrid 24 Straßburger Alexander 47, 415, 454, 566 Thomasin von Zerklaere 177, 297, 301 Der Wälsche Gast 297, 301 Thomas von Aquin 56, 102, 297, 402, 460, 475, 489 Summa theologiae 475 Thüring von Ringoltingen 87 Melusine 77, 87, 442 Ulrich von Etzenbach 22, 180, 369, 454, 534, 543, 618 Alexander 22, 180, 369, 454, 534, 543 Wilhelm von Wenden 26, 36, 51, 618 Ulrich von Liechtenstein 49, 219, 362 Frauendienst 49, 56, 109, 219, 362 Ulrich von Türheim 180, 219 Rennewart 180 Tristan-Fortsetzung 219 Ulrich von Zazikhoven 156 Lanzelet 156, 274, 280

Venantius Honorius Clementianus Fortunatus (Venantius Fortunatus) 415 Vergil / Virgil (s. Figuren-Register) 4. Ekloge 648 Virginal 93, 128 Vorauer Alexander 20 Walter von Chatillon 396 Alexandreis 396 Wartburgkrieg / Wartburgkrieg-Tradition 293, 376, 389–390, 626, 645–647 Wernher der Gartenaere 396 Helmbrecht 396, 598, 601 Wiener Genesis 386 Wilhelm Grimm 295, 435, 590 Wilhelm von Auvergne 478–479, 633, 652 Rhetorica divina 479 Wilhelm von St. Thierry 467 Wirnt von Grafenberg 395 Wigalois 219, 369, 395 Wittenwiler 219 Ring 219 Wizlav von Rügen 585, 609 Nebukadnezars Traum 585 Wolfdietrich 22, 598 Wolfram von Eschenbach 22, 49, 134, 136, 156, 219, 230, 237, 275, 277–278, 283, 328, 330, 395 Parzival 22, 29, 49, 134, 136, 156, 219, 230, 237, 274, 276–277, 280–281, 283, 395, 397, 598 Titurel 49 Willehalm 316, 328, 330–331 Xenophon 453

Biblische und literarische Figuren Aaron 371, 486 Abacuk von Romaney 183–185 Abraham 468 Absolon von Pilant 260, 363 Achilles 233, 510 Achiron 302, 314, 359, 364, 546–547 Adam 373–374, 385–386, 390, 469, 534, 644

Albedacus 1, 2, 276, 355–356, 369–370, 473, 517–518, 523–525, 538–540, 547–551, 553, 557–563, 581, 625, 627–629, 631–634, 637–645, 647–652, 656, 665, 668 Alexander der Große 36, 274, 373, 453–455, 525, 534–535, 543, 566

Index  Altistrates 123, 144–146, 157, 190, 192–193, 266–267, 269, 280, 332 Amor 455 Anna 485–489 Antiochius 14, 19–20, 144, 294, 310, 325, 328–329, 348, 350, 370, 387, 399, 400, 427, 555, 607–610, 623 Apollo 510–511, 643 Arfaxat 460, 574 –576, 581–582 Artus 136, 287 Attonagoras 157 Bâruc 163, 168, 264, 288, 473, 508–514 Beaflor 195, 288 Blanscheflur 323 Briseida 233 Candor 276–281, 283, 455–458, 462, 464, 503, 575–579, 582 Ceres 510–511 Cerimonius 411 Chlarantz von Ägypten 505–506 Cirilla 124, 548, 559 Claramie 161 Cleopacras 125, 139–143, 147, 159, 171, 173, 190 Climodin 554 Cofilus 405, 497 Daniel 468, 522, 585, 593, 595, 602–604, 606, 611–612 David 468, 488 Diane 275, 502, 510, 538, 554 Dido 233, 395, 415, 628 Dietrich 601 Diomena 125–126, 138–143, 147, 170–171, 189–190, 206, 218, 221, 223–230, 245, 253, 276, 280–286, 302, 335, 339, 504, 506, 553, 565–567, 574, 576, 580–581, 628, 652, 664 Dionisiades 399, 405–406 Elanicus 294, 301, 313, 325 Elias 533–534, 543, 545, 554, 643, 652 Elisabeth 487–489 Elkana 486, 488 Eneas 36, 233, 255, 564 Enite 396

 709

Ercules von Epheso 173, 175 Erec 327, 396 Esau 468 Eva 469 Ezechiel 468, 562 Flata 157, 191, 548 Flora 652 Flordeleyse 128, 161 Fontânâgrîs 121, 131, 187–188, 201, 203–214, 216–217, 262 Gargana 314, 360, 364 Gawein 274, 283 Ginover 136, 313 Gock und Magock und Kolck 259, 262, 278, 337, 361, 363, 550 Göttin Venus 225, 285, 302 , 313, 338, 455–464, 473, 502–507, 510, 537–538, 549, 553, 575–578, 580–582, 627, 663 Graf Arnold 25 Graf Grandicor 360 Grissoppo 360 Hanna 486–489 Helena 233 Helmbrecht 396 Henoch 533–534, 543, 545, 554, 643, 652 Herr aus Ejulat 306, 345, 375, 377, 454–455, 536 Isaia 468 Iwein 327 Jakob 468 Jechonias 180, 278, 548, 639 Jesus von Nazareth 101–104, 467, 474–475, 477, 483, 486, 488, 535, 555–556, 609, 635, 644, 646 Johannes der Täufer 488 Joseph 595 Jovis 510, 512 Juno 457–458, 503, 506, 538, 549, 627 Jupiter 510–511, 538 Kaiser Ejectas 191, 358 Kolkan 302, 359, 461, 537, 547–548 König Baligan 364 König Balthasar 125, 128, 160, 176–177, 183–186, 190, 264, 287

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 Index

König Jerobam 128, 161 König Paldein von Warcilone 125, 132, 159, 170, 186, 191, 201, 217, 245, 258–265, 278, 287, 337, 358–359, 363, 523–525, 539, 548, 550, 557, 559, 627 König von Aschalôn 122, 157, 166, 287, 288, 372 König von Assyrien 372 König von Glorant 138, 159, 161, 172–177, 179, 186, 189–190 Lancelot 313, 323 Lavinia 151, 234, 255, 271–272 Lielfant 126, 134, 139, 159, 173–175, 177–179, 185 Ligurdis 306, 326, 336, 340, 345, 429–430, 498 Loth 468 Lucina 14, 22, 50, 123, 132, 144–145, 266–273, 283, 325–326, 331, 334, 336, 340, 343, 395, 397, 409–411, 417, 501–502, 522–523, 532, 538–539, 560, 637 Mabonagrin 400 Mahmet 510, 512–513 Mai 195, 288 Maria 477–478, 483, 488, 527–528, 584, 618, 635, 649 Marienerscheinung 457, 492, 518, 520, 523–524, 540, 551–552, 563, 589, 595 Mars 510–511 Medea 233 Milgot 1–2, 355, 500–501, 570–571, 627, 632, 641, 645, 647, 649–650 Moses 371, 418, 468–469 Nebukadnezar II. 328–329, 434, 522, 581, 584–586, 589, 592–593, 600–603, 605–606, 609–612, 616, 621, 623–624 Nemrott (Nimrod) 119, 225, 313–314, 337, 360, 364, 401, 524–525, 537, 547, 553–554 Neptûnus 510–511 Odysseus 233

Pallas (Göttin) 510, 512, 538, 549, 627 Pallas (Krieger) 395, 415, 420 Pallaß 173–175, 177–179, 183, 189 Palmer 278–280, 283–284, 464, 506, 576, 652 Palmina 125, 191–192, 225, 229–230, 284–285, 457–458, 463, 503, 506, 549, 567 Parzival 63, 102, 313, 597 Pelua 360 Penelopé 232–233 Perser 156–157, 166, 187, 274, 287–288, 300–302, 345, 348, 379, 382, 384, 416–417, 419, 423, 511 Philis 233 Piramort 302, 314, 461–462, 524 Plantia 652 Pliades 314, 524 Pluto 518, 537, 545, 547, 561 Prigamot 518, 547 Printzel 278–280, 283–284, 461, 504–506, 576, 579, 652 Prosperinâ 510 Prothasius 125, 192, 567 Salomon 379, 468, 625–626 Samuel 488, 530 Sâvilon 293, 345–347, 351, 369, 377–384, 388–390, 395, 407, 416, 418, 625–638, 642–653, 656, 668 Serpanta 276, 302, 395, 398–399, 406, 461, 518, 524–526, 537, 546–547, 552–554, 644 Silomant 360 Silvian von Nazareth 161 Sirene (RvB) 45, 300, 384, 552 Sirenenkönigin / Sirenen (AvT) 158, 302, 359, 361–362, 364, 395, 499 Spiegelsäule 118, 125, 273–281, 283–284, 286, 291, 340, 459, 559–560, 565 Strangwillo 399 Syrinus von Galacia 464, 505–506 Taliarcus 608

Index  Tarsia 14, 22, 50, 143, 157, 280, 306, 310, 326, 329, 334, 336, 340–342, 345, 349–350, 366, 370, 395, 397, 405–406, 411–414, 417, 428–430, 433, 435–437, 441–442, 473, 497–499, 507, 557, 572–573, 632 Tervîant 509–510 Thetis 510–511 Tholomeus 628–629, 652 Tristan 327, 396 Vergil / Virgel 166, 275, 293–294, 345–346, 348, 378–379, 381–384, 389–390, 415–416, 564, 626, 628, 630, 645, 648–649, 651–652

 711

Wilhalm von Chralan 575 Ydrogant 302, 395, 398–400, 461, 518, 524–526, 537–538, 546–547, 552–554, 644 Yrkâne 2–4, 12, 18, 25, 45, 49, 120–122, 128, 131–138, 141, 143, 145, 163–164, 174, 177–182, 185–186, 202, 204–209, 212–215, 218, 221, 223, 225, 230–246, 248–250, 252–258, 265, 270, 287, 300–301, 331, 472–473, 481–482, 484, 486–487, 489–495, 508–516, 527–528, 561, 584–586, 593–596, 612–613, 615–622, 624, 664 Zacharias 468, 486, 488