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German Pages 292 [293] Year 2012
Auf der Suche nach den jüdischen Wurzeln
Apeliotes
Studien zur Kulturgeschichte und Theologie Herausgegeben von Rainer Kampling
Band 11
PETER LANG
Frankfurt am Main·Berlin·Bern·Bruxelles·New York·Oxford·Wien
Elisabeth Hackstein
Auf der Suche nach den jüdischen Wurzeln Zur Kritik „christlicher Sederfeiern“
PETER LANG
Internationaler Verlag der Wissenschaften
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Zugl.: Berlin, Freie Univ., Diss., 2011
D 188 ISSN 1862-801X ISBN 978-3-653-01485-3 (E-Book) DOI 10.3762/978-3-653-01485-3 ISBN 978-3-631-62202-5 (Print) © Peter Lang GmbH Internationaler Verlag der Wissenschaften Frankfurt am Main 2012 Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. www.peterlang.de
Inhalt Vorwort .................................................................................................................. 7 I. Einleitung .......................................................................................................... 9 1. Sederfeiern: Eine aktuelle Praxis ......................................................................................9 1.1 Der Kontext: Neuorientierungen nach der Schoa....................................................9 1.2 Untersuchungsgegenstand und Zielsetzungen .....................................................11 1.3 Vorklärungen ..............................................................................................................14
II. Theoretische Grundlagen ........................................................................... 19 1. Gedenken und Gedächtnis: Eine Einführung ..............................................................19 1.1 Gedenken und Gedächtnis im Judentum ...............................................................20 1.2 Pessach: „Zachor – Gedenke!“..................................................................................26 1.3 Abendmahl: „Dies tut zu meinem Gedächtnis!“ ...................................................34 2. „Ein Pessachmahl, wie Jesus feierte …“ .......................................................................38 2.1 Joachim Jeremias: Die Abendmahlsworte Jesu ......................................................39 2.2 In der Tradition von Joachim Jeremias ...................................................................43 3. Neue Erkenntnisse in der historischen Sederforschung .............................................48 3.1 Günter Stemberger: Pessachhaggada und Abendmahl ........................................49 3.2 Michael Hilton: „Wie es sich christelt, so jüdelt es sich“ ......................................52 3.3 Israel Yuval: „Zwei Völker in deinem Leib“ ..........................................................55 3.4 Clemens Leonhard: Die Ursprünge des Seder Pessach ........................................59 4. Zwischenergebnis I ..........................................................................................................64
III. Recherche: Ergebnisse und Auswertung ............................................... 67 1. Literaturrecherche: Christliche Sederfeiern ..................................................................67 1.1 Zur Entstehungszeit der Agape- und Sedermähler ..............................................67 1.2 Sederfeiern: Das Urteil in theologischen Veröffentlichungen .............................74 1.2.1 Stellungnahmen katholischer Theologen/innen .............................................75 1.2.2 Stellungnahmen evangelischer Theologen/innen...........................................78 1.2.3 Stellungnahmen aus dem Judentum ................................................................81 1.3 Sederfeiern und Judenmission .................................................................................83 2. „Seder feiern“ in der Evangelischen Kirche .................................................................89 2.1 Eine Untersuchung in Berliner Gemeinden ...........................................................91 2.2 Aufbau und Struktur der Feiern in Berliner Gemeinden .....................................95 2.2.1 Die Sederfeier in den Gemeinden .....................................................................98 2.2.2 Die Aufnahme einzelner Seder-Elemente ......................................................103 2.2.3 Zur Auswahl der Seder-Elemente ..................................................................105 2.2.4 Zur Technik der Kombination liturgischer Elemente ..................................105 2.3 Sederfeiern in Brandenburg (Land) .......................................................................107 3. Begründungen ................................................................................................................111
3.1 Begründungen für das Imitieren des Seder Pessach ...........................................111 3.2 Begründung der Aufnahme einzelner Seder-Elemente......................................114 3.3 „Mit dem Gründonnerstag neu umgehen …“ .....................................................118 3.4 Begründungen für die Ablehnung der Sederfeiern ............................................120 4. Sederfeiern in der Katholischen Kirche.......................................................................123 5. Sederfeiern in den Kirchen: Ein Vergleich ..................................................................133 6. Stellungnahmen aus den Bistümern und Landeskirchen ........................................137 6.1 Stellungnahmen aus evangelischen Landeskirchen............................................138 6.2 Stellungnahmen aus katholischen Bistümern ......................................................144 7. Zwischenergebnis II .......................................................................................................148
IV. Diskussion ................................................................................................. 151 1. Historische Wunschträume und Defizite ...................................................................151 1.1 Seder Pessach: Neuere Forschung und alte Positionen ......................................151 1.2 Zur Rezeption der neueren Sederforschung ........................................................161 1.2.1 Zur Rezeption in Bistümern und Landeskirchen .........................................161 1.2.2 Zur Rezeption durch Pfarrerinnen und Pfarrer ............................................169 1.2.3 Zur Rezeption in wissenschaftlichen Veröffentlichungen ..........................170 2. Theologische und liturgische Implikationen..............................................................180 2.1 Gedenken und Gedächtnis in Pessach und Abendmahl ....................................182 2.2 Konstruktionen und Begründungen .....................................................................189 2.2.1 „Feiern wie die Juden …“ ................................................................................190 2.2.2 Konstruktionen in der Evangelischen Kirche ...............................................194 2.2.3 Konstruktionen in der Katholischen Kirche ..................................................202 2.3 Ein Rückfall in alte Denkmuster ............................................................................210 2.3.1 Die Feiern in evangelischen Gemeinden .......................................................210 2.3.2 Die Feiern in katholischen Gemeinden ..........................................................216 2.3.3 Die unheilvolle Sicht der Substitutionstheologie .........................................217 2.4 „Das besondere Ereignis …“ ..................................................................................219 3. Christlich-jüdische Implikationen ...............................................................................230 3.1 Sederfeiern: „Eine Frucht des Dialogs …“ ............................................................231 3.2 „Zum Nacheifern reizen …“ ...................................................................................243 4. Zwischenergebnis III......................................................................................................256
V. Schlussfolgerungen ................................................................................... 259 1. Plädoyer für einen Verzicht auf Sederfeiern ..............................................................259 1.1 Israel in der christlichen Liturgie ...........................................................................260 1.2 Judentum und Christentum verbunden im Gedenken ......................................267 2. Schlussbetrachtung und Ausblick ...............................................................................271 2.1 Zusammenfassende Schlussbetrachtung ..............................................................271 2.2 Ausblick: Aufgaben für die kirchlich-liturgische Praxis ....................................273
Literaturverzeichnis ........................................................................................ 277
Vorwort
Sedermähler, die in christlichen Gemeinden von Pfarrer/innen, Katecheten/innen und Pfarrgemeinderäten sowie von Tagungsleitenden in christlichen Tagungshäusern gestaltet werden, sind in der Evangelischen und der Römisch-katholischen Kirche aktuelle Praxis. Begangen werden diese Feiern i. d. R. am Gründonnerstag, in Tagungshäusern auch an anderen Tagen der Karwoche. Verbunden wird mit diesen Feiern die Überzeugung, an das Abschiedsmahl Jesu mit der Stiftung des Herrenmahls anzuknüpfen. Die hiermit vorgelegte Arbeit wendet sich dieser Praxis zu, fragt nach der Relevanz dieser Feiern für die Kirchen, beleuchtet ihre liturgische Gestaltung, stellt die leitenden historischen Vorstellungen und die theologischen Inhalte vor und analysiert und bewertet sie. Zudem diskutiert die Arbeit die von Christen/innen gestalteten Sederfeiern im Kontext des christlich-jüdischen Dialogs, wie er sich in der Zeit nach der Schoa entwickelt hat. Damit will die Arbeit einen Beitrag leisten zur bewussteren Wahrnehmung und kritischen Diskussion dieser Praxis in den Kirchen, ihren christlich-jüdischen Arbeitsgemeinschaften und Studienstellen und in ihren Gemeinden. Diese Arbeit ist in den Jahren 2008 bis 2011 am Seminar für Katholische Theologie an der Freien Universität Berlin entstanden und wurde im Sommersemester 2011 unter dem Titel „Auf der Suche nach den jüdischen Wurzeln. Die Übernahme jüdischer Traditionen in christlichliturgische Feiern vor dem Hintergrund des christlich-jüdischen Gesprächs, untersucht am Beispiel christlicher Sederfeiern“ als Dissertation angenommen. Sie hat vielfach Unterstützung gefunden, für die ich herzlich danke. Mein ganz besonderer Dank gilt dem Betreuer und Erstgutachter dieser Arbeit, Professor Dr. Rainer Kampling. Die Teilnahme an seinen Vorlesungen und Seminaren während meines Studiums und am „Ernst-Ludwig-Ehrlich-Masterstudiengang. Geschichte, Theorie und Praxis der Jüdisch-Christlichen Beziehungen“ während meiner Promotionszeit hat mein Interesse an christlich-jüdischen Fragestellungen erweitert und verstärkt, und ich habe viel von ihm gelernt. Mein Dank gilt seinem kompetenten Rat und der konstruktiven und ermutigenden Begleitung, mit der er diese Arbeit gefördert hat. Mein herzlicher Dank gilt
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Auf der Suche nach den jüdischen Wurzeln
dem Zweitgutachter, Professor Dr. Clemens Leonhard, der vor allem bei den liturgiewissenschaftlichen Fragen mit kritischem Feedback und hilfreichen Ratschlägen meine Dissertation unterstützt hat. Genauso danke ich Professor Dr. Michael Bongardt und Professor Dr. Peter von der Osten-Sacken, die insbesondere in der Phase der Vorbereitung dieser Arbeit für Gespräche zur Verfügung standen. Und ich erinnere mich dankbar an Gespräche mit Iris Weiss und weiteren jüdischen Gesprächspartnern, die mir die jüdische Sicht dieser Feiern nahe brachten. Besonders zu danken habe ich den Pfarrer/innen, den Tagungsleiter/innen und Katecheten/innen, die freundlich, geduldig und entgegenkommend meine Fragen beantworteten und mir ihre Liturgiepläne zur Verfügung stellten. Ich hoffe auf ihr Verständnis, dass meine Analyse und Bewertung der von ihnen praktizierten Feiern ausgesprochen kritisch ausfällt und wünsche mir einen offenen Disput über diese Praxis – und über die Ergebnisse meiner Arbeit. Mein ganz besonderer Dank gilt meiner Schwester Dorothee, die geduldig Korrektur gelesen hat und durch kritische Fragen und wertvolle Hinweise diese Arbeit begleitet hat. Nicht vergessen sei ER, dessen Güte ewig währt (Psalm 106, 1), der mein Leben zu diesem Punkt geführt hat, an dem ich mich dieser Fragestellung widmen konnte, und der mir die Kraft für diese Arbeit gegeben hat. Elisabeth Hackstein
Hinweise: x Abkürzungen folgen dem Abkürzungsverzeichnis der TRE. x Einfügungen und Änderungen in Zitaten sind durch eckige Klammern [ ] kenntlich gemacht, erläuternde Einfügungen und Ergänzungen durch [E. H.] gekennzeichnet, Auslassungen durch […]. x Querverweise innerhalb dieser Arbeit sind durch Seitenangaben (S. XX) bzw. durch Hinweise auf Anmerkungen durch Anm. XX gekennzeichnet.
I. Einleitung 1. Sederfeiern: Eine aktuelle Praxis 1.1 Der Kontext: Neuorientierungen nach der Schoa Der Prozess der Aufarbeitung des Versagens der Kirchen während der Schoa hat bewirkt, dass sich die evangelische und die katholische Kirche zum Judentum bekannt und an einem erneuerten Verhältnis zu ihm gearbeitet haben. Nahezu zweitausend Jahre Judenverachtung und Judenfeindschaft, in denen das mitleidlose Schweigen zum grenzenlosen Leid der verfolgten jüdischen Geschwister begründet ist, sind einem nicht immer einfachen Dialogprozess gewichen. Die Kirchen haben ihre einzigartige Beziehung zum Judentum erkannt, die eine Weggemeinschaft zwischen dem zeitgenössischen Judentum und dem Christentum konstituiert und im christlich-jüdischen Dialog Realisierung findet.1 Die Bedeutung, die dem christlich-jüdischen Verhältnis beigemessen wird, kommt in zahllosen Publikationen, Erklärungen und Stellungnahmen religiöser und wissenschaftlicher Einrichtungen, der Kirchen sowie christlich-jüdischer Arbeitsgruppen und Einzelpersonen zum Ausdruck. Ein Blick in die Zusammenstellungen der kirchlichen Dokumente von Rendtorff/Henrix2 sowie von Henrix/Kraus3 belegen für die Jahre 1945 bis 2000 insgesamt 412 Dokumente, unter diesen 185 aus der römisch-katholischen Kirche und 186 aus der evangelischen Kirche. Viele der Erklärungen der Kirchen und ihrer Gremien bekennen theologische Fehlentwicklungen und betonen die bleibende Erwählung Israels. Sie zielen auf Umkehr und Erneuerung der christlich-jüdischen Beziehungen und auf eine sachgerechte Darstellung des Judentums in allen Bereichen kirchlicher Lehre. Diese Positionen wurden im Jahre 2009 in den Berliner Thesen vom Internationalen Rat der Christen und Juden als Vgl. Erich Zenger, Der von Gott nie gekündigte Bund mit seinem Volk Israel. Ansätze zu einer neuen christlichen Würdigung des Judentums, in: J. Cornelis de Vos; Folker Siegert (Hgg.), Interesse am Judentum. Die Franz-Delitzsch-Vorlesungen 1989-2008; Berlin 2008, 347-362, hier: 348. 2 Vgl. Rolf Rendtorff, Hans Hermann Henrix (Hgg.), Die Kirchen und das Judentum. Dokumente von 1945 bis 1985, Paderborn – München 1988. 3 Vgl. Hans Hermann Henrix, Wolfgang Kraus (Hgg.), Die Kirchen und das Judentum. Dokumente von 1986 bis 2000, Gütersloh – Paderborn 2001. 1
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Ausdruck eines Wandels der kirchlichen Institutionen und ihrer Lehren gewürdigt.4 Als „Ergebnis der von der Schoa verursachten Selbstprüfung und einer präzedenzlosen Zahl ernsthafter Dialoge zwischen Juden und Christen“5 wurden ausdrücklich die Bekenntnisse benannt, dass der Bund, den Gott mit seinem Volk Israel geschlossen hat und den das Judentum durch die Befolgung der Tora lebt, ungekündigt ist,6 dass die „Herabwürdigung des Judentums und jegliche Form von Antisemitismus […] Sünde gegen Gott“7 ist und dass zwischen Christentum und Judentum „eine fortdauernde gottgewollte Beziehung [besteht], die unter den Weltreligionen einzigartig ist“8. Als Folge dieses Prozesses bekennen Christen/innen eindeutiger und klarer, dass ihre Wurzeln im Judentum liegen und auch christliche Rituale und Feste hierin gegründet sind.9 Dieses Wissen führt bei so manchen christlichen Gemeinschaften zu dem Wunsch, die jüdischen Wurzeln christlicher Rituale und Feste zu erleben und in Feiern zu verdeutliVgl. Internationaler Rat der Juden und Christen, Berliner Thesen: Zeit zur Neu-Verpflichtung. Zur Schaffung eines neuen Verhältnisses zwischen Juden und Christen, Berlin 2009, 1, www.iccJ.org/de (Stand 05.08.2009). Im Juli 2009 veröffentlichte der Internationale Rat der Juden und Christen einen Aufruf an die christlichen und jüdischen Gemeinden in aller Welt, die „Zwölf Thesen von Berlin“. Ausgangspunkt war die Erinnerung an die Seelisberger Thesen, mit denen im Sommer 1945 eine multinationale Gruppe aus 65 Juden und Christen aus 19 Ländern in zehn Thesen ihre tiefe Trauer über die Schoa ausdrückten und verabredeten, die Beziehungen zwischen Jüdinnen/Juden und Christen/innen zu fördern. Die jüdischen Mitglieder des Internationalen Rates erkennen die „Bemühungen vieler christlicher Gemeinden im späten 20. Jahrhundert an […], ihre Einstellungen gegenüber Juden zu reformieren“ (Ebd. 6) und rufen die Jüdinnen und Juden sowie die jüdischen Gemeinden auf, „durch verstärkten intensiven Dialog mit Christen diese Reformen kennen[zu]lernen“ (Ebd. 6). Die Berliner Thesen verstehen sich als Weiterentwicklung bzw. „Verfeinerung“ der Seelisberger Thesen, in denen die Fortschritte des interreligiösen Dialogs aufgenommen sind. 5 Ebd. 26. 6 Vgl. ebd. 27. 7 Ebd. 27. 8 Ebd. 27. 9 Vgl. ebd. 27. Unter einer Vielzahl von Veröffentlichungen verweist z. B. das im Jahr 2000 hg. Gottesdienstbuch der Evangelischen Kirche in Deutschland (im Folgenden: EKD) nachdrücklich auf die Verwurzelung des christlichen Gottesdienstes im Judentum. In diesem wurde unter den Kriterien für das Verstehen und Gestalten von Gottesdiensten das Israelkriterium aufgenommen, das die jüdischen Wurzeln des christlichen Gottesdienstes betont, der „in den Anfängen vieles aus den Traditionen der jüdischen Hausgottesdienste und der Synagoge geschöpft“ hat. Kirchenleitung der Vereinigten evangelisch-lutherischen Kirchen Deutschlands (VelKD) und Rat der Kirchenkanzlei der Evangelischen Kirchen der Union (EKU) (Hgg.), Evangelisches Gottesdienstbuch. Agende für die EKU und für die VelKD, Taschenbuchausgabe, ³2003, 16f. 4
I. Einleitung
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chen. Da die synoptischen Evangelien die Abendmahlsberichte als Passahmahl am Abend vor der Kreuzigung Jesu überliefern, richtet sich der Blick christlicher Gemeinden besonders auf das Sedermahl10 in der Erwartung, mehr über die Entstehung und Einsetzung des Herrenmahls zu erfahren.11 Auskunft über solche Feiern geben u. a. Veröffentlichungen in theologischen Fachzeitschriften und das Internet. Die vorgelegte Arbeit greift die Feier des Sedermahls, wie sie heute in kirchlichen Gemeinden und Tagungshäusern sowie in privat organisierten Gemeinschaften gefeiert wird, auf und macht sie zum Gegenstand der Untersuchung. Dabei befragt sie die evangelische wie die katholische Kirche. Sie klärt Begründungen und Zielsetzungen der Pfarrer/innen, die Struktur und die Ausgestaltung der Ordnungen, denen sie folgen, und fragt nach der Relevanz dieser Feiern und ihrer theologischen Aussagen für die Kirchen.
1.2 Untersuchungsgegenstand und Zielsetzungen Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit ist die Feier des Seder Pessach in christlichen Gemeinden. Einzelne Veröffentlichungen geben Hinweise, dass diese Feiern höchst unterschiedlich ausgerichtet werden, der Untersuchungsgegenstand daher ein uneinheitlicher ist. Die im Internet eingestellten und zum Kopieren angebotenen Feiern sowie die verschiedenen Gottesdienstmaterialien zu entnehmenden Ordnungen zeigen höchst individuelle Ausprägungen: Feiern, die das jüdische Sedermahl imitieren, stehen neben solchen, die große Teile der Haggada kopieren und mit dem christlichen Abendmahl verbinden und solchen, die einen christlichen Abendmahlsgottesdienst feiern und in diesen unterschiedliche Elemente der Haggada aufnehmen. Zudem wird die Frage der Rele10 Interessenten/innen an Sederfeiern versorgt das Internet mit umfassenden Angeboten. Eine Vielzahl von Internetseiten bieten mit Hinweisen wie „Einkaufen wie in Israel“ Material für die Feiern an. Ordnungen für „christliche Sederabende“ werden von verschiedenen Gruppierungen angeboten, häufig von messianischen Juden und Judenmissionswerken, aber auch von Freikirchen (u. a. von baptistischen Gemeinden), verschiedenen Stadtmissionen und von Kirchengemeinden der verfassten evangelischen Landeskirchen. Auch einzelne katholische und evangelische Christen, die Sederfeiern befürworten, stellen im Internet von ihnen entwickelte Ordnungen ein und regen zum Nachfeiern an. 11 So die Aussage des liberalen Berliner Rabbiners Walter Rothschild in einem persönlichen Gespräch im Juni 2007. Vgl. auch Michael Hilton, The Christian effect on Jewish Life. „Wie es sich christelt, so jüdelt es sich“, CMS Press 1994; in deutscher Übersetzung: „Wie es sich christelt, so jüdelt es sich“. 2000 Jahre christlicher Einfluss auf das jüdische Leben, Berlin 2000, 51.
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vanz und Häufigkeit dieser Feiern von evangelischen bzw. von katholischen Kirchenleitenden unterschiedlich beantwortet. Während z. B. ein Schreiben von Bischof Friedhelm Hofmann und Weihbischof Helmut Bauer aus Würzburg die zunehmende Beliebtheit dieser Feiern konstatiert,12 sind nach Auskunft der Kirchenleitung der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz (EKBO)13 die Feiern zumindest in dieser Landeskirche nicht häufig, daher als Problem zu vernachlässigen. Befürworter/innen werben für diese Feiern u. a. im Internet und mit Broschüren, die Anleitungen zum Feiern des Seder Pessach und anderer jüdischer Feste enthalten. Jüdinnen und Juden sowie christliche Theologen/innen, die diesen Feiern kritisch gegenüber stehen, beobachten bisweilen eine Zunahme der Feiern.14 Dieser Ausgangslage Rechnung tragend will die Arbeit einen Beitrag zur Klärung der Relevanz des Sederfeierns bzw. der Aufnahme von Seder-Elementen in christliche gottesdienstliche Feiern leisten, sowohl bezüglich ihrer theologischen Aussagen wie auch der Häufigkeit solcher Feiern. Dabei geht die Arbeit von der Praxis in evangelischen Kirchengemeinden aus und stellt diese in den Mittelpunkt der Untersuchung.15 Sederfeiern in der römisch-katholischen Kirche werden vergleichend herangezogen. Insbesondere verfolgt die Arbeit die Klärung folgender Fragestellungen: x In einer systematisch-phänomenologischen Erhebung werden Pfarrer/innen aller evangelischen Kirchengemeinden in Berlin nach der Gestaltung der Gottesdienste am Gründonnerstag befragt. Sofern diese eine Sederfeier gestalten bzw. Elemente der Haggada in den 12 Vgl. u. a. Friedhelm Hofmann, Helmut Bauer, Nachgespielte Sederfeiern am Gründonnerstag, Bischöfliches Schreiben vom 18.01.2008 an alle Priester, Diakone und pastorale Mitarbeiter, -innen im Bistum Würzburg, in: Praxis Gottesdienst. Materialbrief der Liturgischen Institute Deutschlands, Österreichs und der Schweiz, Heft 2/2009, 3. 13 Im Folgenden wird diese Landeskirche mit der Abkürzung EKBO benannt. 14 Vgl. die Stellungnahmen aus Augsburg, Bamberg, Speyer und Würzburg, Kapitel III.4, S. 130f. 15 Dass die Arbeit die Feiern in evangelischen Kirchengemeinden in den Mittelpunkt stellt, ist der Tatsache geschuldet, dass die Verfasserin evangelische Christin ist und als Prädikantin in der EKBO im ehrenamtlichen Verkündigungsdienst eben dieser Kirche steht. Bestätigt wird diese Entscheidung durch eine Information des Berliner Rabbiners Walter Rothschild, nach der etwa drei Viertel der Sederfeiern im anglikanischen Raum von evangelischen Christen/innen begangen werden. Persönliches Gespräch mit Rabbiner Rothschild im Juni 2007.
I. Einleitung
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Gottesdienst aufnehmen, werden die Feiern in ihren unterschiedlichen strukturellen Abläufen, liturgischen Ordnungen und theologischen Aussagen erfasst. x Durch eine kritische Beleuchtung der eruierten Beispiele werden die historischen, theologischen und auf das Judentum bezogenen sowie weiteren Begründungen und Ziele, die die Pfarrer/innen mit diesen Feiern verbinden, herausgearbeitet. x Fragen möglicher Wirkungen dieser Praxis nach innen, z. B. auf die christliche Identität, werden diskutiert. Besonderes Augenmerk gilt jedoch möglichen Wirkungen der Sederfeiern auf das christlichjüdische Verhältnis. x Gefragt wird auch nach ggf. auftretenden Bedeutungsverlusten bzw. Bedeutungsverschiebungen jüdischer Rituale und Texte, bewirkt durch die Aufnahme von Elementen der Haggada in christliche gottesdienstliche Feiern oder die Kombination großer Teile der Sederliturgie mit der Abendmahlsliturgie. Ein komplexes und facettenreiches Thema wie das der Sederfeiern in christlichen Gemeinden verlangt auch nach Beschränkung. Folgende Grenzen werden gezogen: x In dieser Arbeit werden grundsätzlich nur solche Sederfeiern behandelt, die im Bereich der verfassten evangelischen Landeskirchen bzw. der Deutschen Bischofskonferenz stattfinden.16 Sederfeiern in Freikirchen, in evangelikalen Gruppen und in judenmissionarischen Vereinen werden erfasst, sofern kirchliche Gemeinden mit diesen kooperieren und gemeinsam mit ihnen feiern. x Der Bereich, in dem Sederfeiern systematisch und – so weit möglich – flächendeckend recherchiert werden, um die Frage der Häufigkeit anhand eines konkreten Beispiels zu beantworten, wird auf den Sprengel Berlin in der EKBO begrenzt. x Die Arbeit konzentriert sich auf solche Feiern, die in kirchlichen Gemeinden am Gründonnerstag und mit besonderen Gruppen – z. B. mit Konfirmanden/innen oder in katholischen Gemeinden zur 16 Von Christen/innen begangene Sederfeiern werden in der Literatur und im Internet u. a. aus dem gesamten deutschsprachigen Raum, den anglikanischen Ländern und den USA und Israel berichtet.
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Vorbereitung der Erstkommunion – stattfinden. Die Feier des Seder Pessach an anderer Stelle, z. B. im schulischen Unterricht, wird in dieser Arbeit nicht diskutiert. x Die Frage nach Begründungen und Zielsetzungen solcher Feiern richtet sich an Pfarrer/innen. Die Gründe der geladenen Gemeinde oder einzelner Personen für die Teilnahme werden nicht eruiert.
1.3 Vorklärungen Da in der Literatur und im Internet die Bezeichnungen für das Feiern des Sedermahls in christlichen Gemeinden uneinheitlich sind, stellt sich zu Beginn dieser Arbeit die Aufgabe, eine angemessene sprachliche Regelung für das Phänomen der sogen. christlichen Sederfeiern zu finden. Oftmals wird davon gesprochen, dass christliche Gemeinden oder Gruppen „das Pessach-Mahl, das Seder-Mahl feiern“17, ohne dass im Einzelfall deutlich wird, ob die Feiern – frei gestaltet oder eng angelehnt – einer heute gebräuchlichen Ausgabe der Haggada folgen, ob in einem christlichen Gottesdienst nur einzelne Elemente der Haggada aufgegriffen werden und ob die Sederfeier mit einer Abendmahlsfeier verbunden wird oder nicht. Heinz setzt z. B. die Begriffe „Pessachfeier“ und „Sederabend“ in Paranthese, wenn christliche Gemeinden in Anlehnung an die Haggada eine Sederfeier gestalten, oder er spricht von einer „christlichen Pessachfeier“.18 Der im Internet unter dem Kürzel MiJu Publizierende spricht von „Pessach-Seder in Kirchengemeinden“ bzw. von „Christen, die Seder feiern“.19 Himmelbauer gebraucht schlicht den Begriff „Sederfeier“, unabhängig davon, ob christliche oder jüdische Gemeinschaften feiern.20 Und in wissenschaftlichen Veröffentlichungen gibt allenfalls die Universitätszugehörigkeit des jeweiligen Verfasser/der Verfasserin einen Hinweis, ob die diskutierten Feiern von Gemeinden oder Gruppen in der evangelischen oder der katholischen Kirche begangen werden. Ansgar Koschel, Als Christen jüdische Feste feiern? Fragen an eine fragwürdige Praxis, in: Hirschberg Heft 5, 2003, 247-249, hier: 247. 18 Vgl. Hanspeter Heinz, Religiöser Raub? Wege und Irrwege christlich-jüdischer Gemeinschaft, in: Herder Korrespondenz 57 (2003), 82-87, hier: 83. 19 Vgl. MiJu, Wenn Christen Pessach feiern …, o. J., www.judentum.net/dialog/seder.htm (Stand: 20.08.2008). 20 Vgl. Markus Himmelbauer, Seder-Fiction, vom 02.05.2005, www.christenundjuden.org/de (Stand: 05.02.2010). 17
I. Einleitung
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Stellen Pfarrer/innen oder andere Veranstalter/innen solcher Feiern diese ins Internet oder in Materialien zur Gottesdienstgestaltung ein, werden sie je nach Intention des Veranstaltenden als „Abendmahlsgottesdienst am Gründonnerstag mit Elementen einer Pessachfeier“21, als „Kleiner Ritus für ein christliches Seder-Mahl am Abend des Gründonnerstag. Agape nach dem Abendmahlsgottesdienst“22 oder als „Abendmahlsgottesdienst mit Seder-Gebeten“23 überschrieben. Auch hier wird oft nicht deutlich, ob ein Sedermahl imitiert wird, ob dieses mit einem christlichen Abendmahl verbunden wird, ob die in den Gottesdienst aufgenommenen Seder-Elemente als jüdische Tradition vorgestellt und gewürdigt oder christlich gedeutet bzw. als Teile des christlichen Gottesdienstes mitgefeiert werden. Wird in diesem Zusammenhang von „Pessachfeier“ gesprochen, ist zudem nicht das sieben Tage währende Pessachfest gemeint, sondern allein die Feier des Sederabends. Somit ist oft unklar, was sich hinter der Aussage „der Pfarrer, die Pfarrerin, die Gemeinde feiert Seder“ verbirgt. Daher wird am Anfang dieser Arbeit folgende klärende Feststellung getroffen: Eine christliche Feier, auch wenn sie in Form und Inhalt weitgehend der Haggada folgt, kann m. E. niemals ein jüdisches Pessach bzw. Seder Pessach sein. Christen/innen feiern und beten ihrem Selbstverständnis entsprechend nach-österlich, sie fügen daher dem Seder etwas hinzu, was ihnen „eigen ist, die Auferstehung Jesu und seine Erhöhung zum Kyrios“24. Dieses gilt insbesondere, wenn in Erinnerung an das Abschiedsmahl Jesu die Feier des Seder mit dem christlichen Abendmahl verbunden wird.25 Daher werden zur Sprachregelung in dieser Arbeit folgende Festlegungen und Unterscheidungen getroffen: 21 Rainer Hauke, Abendmahlsgottesdienst am Gründonnerstag mit Elementen einer Pessachfeier, www.rainerhauke.de/pessachfeier.html (Stand 11.03.2010). 22 Wolfgang Parmentier, Kleiner Ritus für ein christliches Seder-Mahl am Abend des Gründonnerstags. Agape nach dem Abendmahlsgottesdienst, www.parmentier.de/steuer/seder.htm (Stand: 17.03.2010). 23 Helga Trösken, Gründonnerstag: Abendmahlsgottesdienst mit Seder-Gebeten, in: Zeitschrift für Gottesdienst und Predigt, 5 (1987), 26-28. 24 Koschel, Als Christen jüdische Feste feiern, 247f. 25 Der Verfasserin ist bewusst, dass hiermit eine Vorentscheidung getroffen wird, die davon ausgeht, dass Jüdinnen/Juden das Sedermahl anders halten als Christen/innen, die diese Feier übernehmen. Diese Vorentscheidung ist der Tatsache geschuldet, dass Christen/innen und christliche Gemeinden, auch wenn sie beim Sedermahl strikt dem Ablauf der Haggada folgen, im Glaubens- und Erfahrungshorizont ihrer christlichen Identität feiern, die untrennbar an den Messias Christus Jesus gebunden ist. Auch wenn das Judesein des Jesus
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x Wird von Seder bzw. Seder Pessach gesprochen, ist grundsätzlich die Feier gemeint, die die jüdische Glaubensgemeinschaft am 14. Nisan begeht. x „Sederfeier“ hingegen bezeichnet in dieser Arbeit die Feier am Gründonnerstag, die in einer christlichen Gemeinde oder Gruppe begangen wird und die in ihrer liturgischen Gestaltung im Wesentlichen einer heute gebräuchlichen Ausgabe der Haggada folgt. x Wird die Sederfeier mit dem Abendmahl verbunden oder auf andere Weise explizit auf Christus Jesus bezogen, wird von einer christlichen bzw. verchristlichten26 Sederfeier gesprochen. x Christliche (Abendmahls-)Gottesdienste am Gründonnerstag, in die einzelne oder mehrere Elemente des Seder aufgenommen werden, werden von den unter 2. bzw. 3. genannten Sederfeiern unterschieden und als Gottesdienste mit Elementen des Seder bzw. der Haggada bezeichnet. Die Frage einer Sprachregelung stellt sich auch bei der Bibel des Judentums, dem Alten Testament der Christenheit. In verschiedenen kirchlichen Verlautbarungen und in Veröffentlichungen in theologischen Fachzeitschriften kommt die Befürchtung zum Ausdruck, dass die Bezeichnung Altes Testament „Missverständnisse mittransportiert, für Juden diskriminierend klingt“27 und als ein Hinweis verstanden werden kann, dass „Alt“ gleichgesetzt wird mit „veraltete, überholte Offenbarung Gottes“28. Auf der Suche nach einer angemessenen Bezeichnung für das Alte Testament entschied sich z. B. Zenger für „Erstes Testament“, da diese Bezeichnung die traditionelle Abwertung vermeide, den von Nazareth, wie Henrix betont, ein Grunddatum christlicher Theologie ist, ist der Glaube an den Messias Jesus bleibend trennend. Vgl. Hans Hermann Henrix, Gottes Ja zu Israel. Ökumenische Studien christlicher Theologie. Studien zu Kirche und Israel, Bd. 23, Berlin – Aachen 2005, 11. 26 Während die Begrifflichkeit „christliche Sederfeier“ in dieser Arbeit gebraucht wird, um deutlich zu machen, dass Christen/innen eine jüdische Feier begehen, verweist die ebenfalls gebrauchte Bezeichnung „verchristlichte Sederfeier“ m. E. klarer darauf, dass die jüdische Feier des Seder christlich gedeutet, ihr ein christlicher Stempel aufgedrückt wird. 27 Erich Zenger, Das Erste Testament, Düsseldorf ²2004, 144. Zenger verweist am Beispiel Alter/Neuer Bund auf verräterische Schriftweisen christlicher Theologen, die mit ‚alt’ in Kleinschreibung und ‚Neu’ in Großschreibung das Klischee des Vergangenen, Überholten untermauern. Vgl. ebd. 91f. 28 Jakob J. Petuchowski, Art. Bibel, in: Ders., Clemens Thoma (Hgg.), Lexikon der jüdischchristlichen Begegnung, Freiburg – Basel – Wien 1989, 47-52, hier: 48.
I. Einleitung
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historischen Sachverhalt richtig wiedergebe, theologisch korrekt den ewigen Bund Gottes mit Israel bezeuge und als „Erstes Testament“ auf ein „Zweites Testament“ hinweise, das ohne das erste nicht sein könne.29 Allerdings erkennt er an: „Dass die beiden Teile der christlichen Bibel sich in Kontinuität und Diskontinuität zueinander verhalten und dass das ‚Neue’ Testament das der Kirche in Jesus Christus geschenkte ‚Neue’ bezeugt, wird durch die Bezeichnung ‚Altes Testament’ festgehalten. Und so lange ‚alt’ im Sinne von Ancienität und Ursprung seine positiven Konnotationen behält, kann man die Bezeichnung gewiss recht verstehen. Und wenn man sich bewusst macht, dass dieses eine spezifisch christliche Bezeichnung ist, die daran erinnert, dass es das Neue Testament nicht ohne das Alte Testament gibt, kann man sie als legitimen Appell an die fundamentale Wahrheit hören, dass die christliche Bibel aus zwei Teilen besteht, deren Differenz nicht voreilig aufgehoben werden darf.“30
Auch in den „Thesen zur Erneuerung des Verhältnisses von Christen und Juden“ der Landessynode der Evangelischen Kirche im Rheinland von 1980 wird das Unbehagen an der oft missbräuchlich verwendeten und dadurch missverständlichen Bezeichnung „Altes Testament“ deutlich.31 Die Synode favorisiert den Begriff „Bibel“ und unterscheidet zwischen der Bibel der Christenheit, die Altes Testament und Neues Testament umfasst, und der Hebräischen Bibel des Judentums: „Für das Empfinden der Juden und unbestreitbar auch nach der Ansicht vieler Christen bedeutet diese Kennzeichnung der gemeinsamen ‚Schrift’ als ‚alt’ eine Abwertung. Weil diese ‚Schrift’ aber Bestandteil der christlichen Bibel ist, darf die Bezeichnung ‚Neues Testament’ keine Abwertung eines ‚Alten Testaments’ bedeuten, sondern kann allenfalls eine Beschreibung der zeitlichen Abfolge und des Zusammenhangs der beiden Sammlungen im Sinne von fortgehender Verheißung, Erfüllung und neuer Bekräftigung der Verheißung sein. […]
Vgl. Zenger, Erste Testament, 152-154. Ebd. 147f. 31 Vgl. Synode der Evangelischen Kirche im Rheinland, Synodalbeschluss „Zur Erneuerung des Verhältnisses von Christen und Juden“ vom 11.01.1980, in: Rolf Rendtorff, Hans Hermann Henrix (Hgg.), Die Kirchen und das Judentum. Dokumente von 1945-1985, E.III.29., Paderborn – München ²1989, 593-596, hier: 595. 29 30
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Auf der Suche nach den jüdischen Wurzeln Da die Bezeichnung ‚Bibel’ jüdisch geläufig ist, empfiehlt sich zur Unterscheidung von der auch das Neue Testament umfassenden christlichen Bibel für das Alte Testament die Bezeichnung ‚Hebräische Bibel’.“32
Eine Lösung der Frage nach einer angemessenen Bezeichnung des Alten Testaments, die nicht die Möglichkeit von Missverständnissen oder bewussten Fehlinterpretationen beinhaltet, wird in der Literatur somit nicht geboten. „Alt“ kann abwertend als veraltet, als überholt gedeutet werden. Die Bezeichnung „Erstes“ bzw. „Zweites Testament“, assoziiert mit der Bedeutung „letztwillige Verfügung“, kann ebenfalls als aufgehobenes, geändertes oder gar verworfenes Testament interpretiert werden. In dieser Arbeit wird für die christliche Bibel die traditionelle Unterscheidung „Altes/Neues Testament“ beibehalten. Sie schließt sich damit aus Gründen der Klarheit und Verständlichkeit dem in der Literatur und in den Kirchen überwiegenden Sprachgebrauch an, allerdings nicht ohne zu bekräftigen, dass „Alt“ nicht als veraltet, überholt oder verjährt verstanden werden darf, sondern mit Respekt an das ältere Testament mit bleibendem Wert und Gültigkeit gedacht wird. Durch die Großschreibung von „Alt“ bzw. „Neu“ in Bezug auf die Testamente soll diese Bedeutungszuschreibung verstärkt werden. Geht es um die Bibel des Judentums, wird in dieser Arbeit von Hebräischer Bibel bzw. von Jüdischer Bibel oder schlicht von der Bibel des Judentums gesprochen. Bei Zitaten wird abweichend von dieser Festlegung die Bezeichnung der jeweiligen Autoren/innen und deren Schreibweise von „Alt/Neu“ in Bezug auf die Testamente übernommen und entsprechend gekennzeichnet.
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Ebd. 595.
II. Theoretische Grundlagen 1. Gedenken und Gedächtnis: Eine Einführung Das Verb sachar33, das Gedenken34 in all seinen Formen umfasst, kommt in der Hebräischen Bibel 169mal vor. Es kann „gedenken, sagen, nennen, anrufen, schwören, melden, oder auch: Sünde bekennen“35 bedeuten und beschreibt eine lebendige, korrespondierende Beziehung zwischen dem Bundesgott und dem antwortenden Gedenken des Volkes Israel.36 Die Bedeutung des Gedenkens für das jüdische Volk auch heute
33 In Fachveröffentlichungen wird das Verb in der deutschen Schreibweise unterschiedlich wiedergegeben. Während z. B. Yosef H. Yerushalmi (Zachor: Erinnere Dich! Jüdische Geschichte und jüdisches Gedächtnis, Berlin 1988) die Schreibweise zachar wählt, findet sich bei Albert Friedlander (Zachor – Gedenke! in: Evangelische Theologie 48 (1988), 378-388) die hier gewählte Form sachar. 34 Wahle differenziert zwischen erinnern und gedenken: „In der deutschen Sprache impliziert der Ausdruck ‚gedenken’ bereits eine Überschreitung bloßen Sich-Erinnerns. Es deutet auf ein vergangenes Geschehen oder Ereignis hin, welches eine Bedeutung für die Gegenwart besitzt und darin auf unterschiedliche Weise fortwirkt. Insbesondere impliziert es ein Handlungsmoment, worin jedoch auch immer schon der Versuch begründet liegt, die Bedeutung des Gedenkenden für die Gegenwart und die Zukunft zu überwinden.“ Stephan Wahle, Gottes-Gedenken. Untersuchungen zum anamnetischen Gehalt christlicher und jüdischer Liturgie, Innsbruck – Wien 2006, 68. Auch Haarmann argumentiert, dass es für das Verb sachar im Deutschen keine „einfache, gradlinige Entsprechung“ gebe. Ihm stehe ein ganzes Wortfeld gegenüber. Sachar umfasse inhaltlich wesentlich mehr, als durch die deutsche Übersetzung mit „erinnern“ oder „denken an“ ausgesagt werden könne. Da das von Christus gestiftete Gedenken beim letzten Mahl in der alttestamentlichen-jüdischen Tradition stehe, sei die Anamnesis-Weisung Jesu vom hebräischen sachar her zu verstehen. Da der Begriff „gedenken“ weniger festgelegt sei wie z. B. „erinnern“, eigne er sich besser für die Wiedergabe von sachar. Vgl. Michael Haarmann, „Dies tut zu meinem Gedenken“. Gedenken beim Passa- und Abendmahl. Ein Beitrag zur Theologie des Abendmahls im Rahmen des jüdischchristlichen Dialogs, Neukirchen 2004, 31-33. 62f. Andere Autoren wie z.B. Yerushalmi und Neumann sprechen von Erinnern auch in dem Sinn des die Zeiten überschreitenden (jüdischen) Gedenkens vergangener Ereignisse. Vgl. Yerushalmi, Zachor; ebenso: Moritz Neumann, Shabbat Shalom. Streifzüge durch die jüdische Welt, Würzburg 2005, 45-50. In der hier vorgelegten Arbeit wird in Anlehnung an Wahle et al. der Begriff „Gedenken“ sowohl für das jüdische Gedenken insbesondere an Pessach wie das christliche Gedenken bei der Abendmahlsfeier verwandt, da dieser Begriff, wie zu recht betont wird, weit mehr als „Erinnern“ umfasst. 35 Friedlander, Zachor, 378. 36 Vgl. Haarmann, Gedenken, 65.
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unterstreicht Friedlander mit der Feststellung, dass man durch das ganze Jahr der Juden gehen müsse, um dem Wort sachar gerecht zu werden.37 Im Griechischen wird das Wort „Gedenken“ wiedergegeben durch das Wortfeld um das Substantiv anamnesis. Nach Vorgrimler beruht Gedenken „auf jener allgemein menschlichen Erfahrung, dass einmalige Ereignisse u[nd] Erlebnisse, die von entscheidender Bedeutung waren u[nd] noch sind, immer neu ‚realisiert’ werden können“38. Dieses gilt in besonderer Weise für die zentralen, christliche bzw. jüdische Identität stiftenden Ereignisse, das Herrenmahl bzw. den Exodus. Der Imperativ „Zachor: Erinnere Dich!“ gehört nach Yerushalmi zu den Wesensmerkmalen des jüdischen Glaubens und des jüdischen Geschichtsverständnisses.39 Das Gedenken der Heilstaten Gottes findet in besonderer Weise Ausdruck an Pessach, an dem Israel sich des Exodus „als entscheidendes u[nd] bis heute gültiges Heilsereignis“40 erinnert. Ebenso ist die biblisch überlieferte Stiftung des Herrenmahls als „Besiegelung des Bundes Gottes mit der Menschheit in Tod u[nd] Erhöhung Jesu“41 mit dem Auftrag des Gedenkens verknüpft: „Dies tut zu meinem Gedächtnis!“ (1. Kor 11, 23-26).
1.1 Gedenken und Gedächtnis im Judentum Yosef Hayim Yerushalmi stellt Israel als Volk der Erinnerung vor. Das Erinnern sei lebensnotwendig und Überlebensstrategie für das jüdische Volk. „Wer verstehen will, wie ein Volk überleben konnte, welches während des größten Teils seiner Existenz über die ganze Welt verstreut war, kann aus der bislang kaum erforschten und erst noch zu schreibenden Geschichte des Gedächtnisses dieses Volkes vermutlich Wichtiges lernen.“42
Gedenken als stabilisierende Kraft jüdischer Religion zieht sich laut Yerushalmi wie ein roter Faden durch die jüdische Tradition und das geVgl. Friedlander, Zachor, 379. Herbert Vorgrimler, Art. Anamnese, in: Ders., Neues Theologisches Wörterbuch, Freiburg 2000, 38. 39 Vgl. Yerushalmi, Zachor; ebenso: Astrid Greve, Erinnern lernen. Didaktische Entdeckungen in der jüdischen Kultur des Erinnerns, Neukirchen-Vluyn 1999. 40 Vorgrimler, Anamnese, 38. 41 Ebd. 38. 42 Yerushalmi, Zachor, 17. 37 38
II. Theoretische Grundlagen
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samte religiöse Leben.43 Israel sei verpflichtet, sich in allen Generationen und an allen Orten seiner Geschichte zu erinnern, doch müssten nicht alle Ereignisse vor dem Vergessen bewahrt werden. Gedächtnis und Gedenken seien selektiv, sie fragten nach dem transzendenten Sinn vergangener Ereignisse, so beschreibt Yerushalmi das jüdische Geschichtsverständnis.44 Wichtig seien die göttlichen Eingriffe in die Geschichte mit ihren positiven und negativen Reaktionen der Menschen darauf, die Offenbarungen Gottes und die Bundesgeschichte Gottes mit seinem Volk. Dieses gelte doppelt, da Israel Gott nur aufgrund seiner Taten in der Geschichte kenne, durch die er sich offenbare.45 Festgeschrieben ist die Pflicht des Gedenkens in der Mischna (mPes X5), nach der in jedem einzelnen Geschlecht jedermann verpflichtet ist, sich selbst anzusehen, als ob er aus Ägypten ausgezogen wäre.46 Wie diese Pflicht heute verstanden wird, brachte im Januar 1996 der damalige israelische Staatspräsident Ezer Weizman dem Deutschen Bundestag eindrücklich nahe. Weizman sagte: „[…] Das Schicksal hat es so gewollt, dass ich und die Angehörigen meiner Generation in einer Zeit geboren wurden, in der Juden in ihr Land zurückkehrten und es neu aufbauen konnten. Ich bin nun nicht mehr ein Jude, der in der Welt umherwandert, der von Staat zu Staat ziehende Emigrant, der von Exil zu Exil getriebene Flüchtling. Doch jeder einzelne Jude in jeder Generation muss sich selbst so verstehen, als ob er dort gewesen wäre – dort bei den Generationen, den Stätten und Ereignissen, die lange vor seiner Zeit liegen. […] 200 Generationen sind seit den historischen Anfängen meines Volkes vergangen und sie erscheinen mir wie wenige Tage. Erst 200 Generationen sind vergangen, seit ein Mensch namens Avraham aufstand, um sein Land und seine Heimat zu verlassen und in ein Land zu ziehen, das heute mein Land ist. Erst 200 Generationen sind seit dem Zeitpunkt vergangen, als Avraham die Machpela Höhle in der Stadt Hebron kaufte, bis zu den schweren Konflikten, die sich dort in meiner Generation abspielen. Erst 150 Generationen sind seit der Feuersäule des Auszugs aus Ägypten bis zu den Rauchsäulen der Shoah vergangen. Und ich, geboren aus den Nachkommen Avrahams im Land Avrahams, war überall mit dabei. Ich war ein Sklave in Ägypten und em-
Vgl. Neumann, Shabbat, 45. Vgl. Yerushalmi, Zachor, 19f. 45 Vgl. ebd. 23. 46 Vgl. Die Mischna. Ins Deutsche übertragen, mit einer Einleitung und Anmerkungen versehen von Dietrich Correns, Wiesbaden 2005, 206. 43 44
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Auf der Suche nach den jüdischen Wurzeln pfing die Thora am Berg Sinai, und zusammen mit Jeoshua und Elijahu überschritt ich den Jordan. Mit König David zog ich in Jerusalem ein, und mit Zedekiah wurde ich von dort ins Exil geführt. Ich habe Jerushalayim an den Wassern von Babylon nicht vergessen, und als der Herr uns nach Zion heimführte, war ich unter den Trauernden, die Jerushalayims Mauern errichteten. Ich habe gegen die Römer gekämpft und bin aus Spanien vertrieben worden. Ich wurde auf den Scheiterhaufen in Magenza, in Mainz, geschleppt und habe die Thora im Jemen studiert. Ich habe meine Familie in Kischinev verloren und bin in Treblinka verbrannt worden. Ich habe im Aufstand des Warschauer Ghettos gekämpft und bin nach Eretz Israel gegangen, in mein Land, in dem ich geboren wurde, aus dem ich komme und in das ich zurückkehren werde. Flüchtig bin ich, wenn ich den Spuren meiner Väter folge. Wie ich sie dort und in jenen Tagen begleite, so begleiten mich meine Väter und stehen hier und heute neben mir. Eine Gefolgschaft von Propheten und Bauern, Königen und Rabbinern, Wissenschaftlern und Soldaten, Handwerkern und Schülern. […] Von uns wird verlangt, durch die Kraft der Erinnerung an jedem Tag und jedem Ereignis unserer Vergangenheit teilzunehmen, so wird auch von uns verlangt, uns durch die Kraft der Hoffnung auf jeden Tag unserer Zukunft vorzubereiten. […] Unruhig und flüchtig bin ich. Mit dem Rucksack der Erinnerungen auf meinen Schultern und dem Stab der Hoffnung in meinen Händen trete ich auf die Kreuzung der Zeitläufe am Ende des 20. Jahrhunderts. Wohl weiß ich, woher ich komme und voller Hoffnung und Besorgnis möchte ich wissen, wohin ich gehe. Wir sind ein Volk der Erinnerung und des Gebets. Wir sind ein Volk der Worte und der Hoffnung. Wir haben keine Reiche geschaffen, keine Schlösser und Paläste gebaut. Nur Worte haben wir aneinander gefügt. Wir haben Schichten von Ideen aufeinander gelegt, Häuser und Erinnerungen errichtet und Türme der Sehnsucht geträumt. Möge Jerushalayim wieder erbaut werden, möge Frieden schnell zu unseren Zeiten gestiftet und bereitet werden – Amen.“47
Erinnern und Gedenken sind demnach eine Lebenshaltung auch des gegenwärtig lebenden Judentums. Wie die Rede Weizmans belegt, hat sich die Geschichte derart in das jüdische Bewusstsein und die jüdische Identität eingegraben, dass das Gedenken zum alltäglichen Leben gehört.48 Im Gedenken verschränken sich die Zeiten. Vergangene Ereignisse werden in der Erinnerung zu Begebenheiten der Gegenwart, Vorausgegangene und Geschehenes dem Vergessen entrissen und es entsteht eine 47 Ezer Weizman, Rede vor dem Bundestag am 16. Januar 1996, www.zwst-hadracha.de (Stand 14.09.2010). 48 Vgl. Wahle, Gottes-Gedenken, 77f.
II. Theoretische Grundlagen
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Kontinuität im Glauben und in der Erfahrung.49 Denn Gottes Taten weisen über die Zeit hinaus, in der sie stattgefunden haben und werden in der Gegenwart jeweils neu aktuell und gegenwärtig.50 In der korrespondierenden Beziehung des Gedenkens begegnet Israel immer wieder seinem Gott. So wie Gott in der Vergangenheit Israel in Not und Bedrängnis beigestanden und sein erwähltes Volk aus der Sklaverei geführt hat, so wird sein helfendes Einschreiten von Israel für die Gegenwart und die Zukunft erfleht. Haarmann präzisiert: Die Verschränkung der Zeiten geschieht nicht durch das Gedenken selbst. Das die Zeiten Verbindende geht diesem als dessen Grundlage voraus. „Die Verbindung wird nicht durch das Gedenken Israels geschaffen, sondern gründet im Kommen des einen Gottes zu den verschiedenen Zeiten, in seinem Bund mit Israel, in seiner Treue zu seinen Zusagen und damit in seinem verheißenen Kommen zu Israel von Generation zu Generation.“51
Sinn und Ziel des Gedenkens im Judentum ist die Weitergabe der zur Lebensgrundlage gehörenden Vergangenheit von Generation zu Generation.52 Indem sich in jeder Generation der Mensch so betrachtet, als habe er die Ereignisse der jüdischen Geschichte selbst erlebt, wird „eine innere Beziehung zwischen den Generationen hergestellt, nachfolgende Generationen in diese einst begonnene und immer noch fortdauernde Geschichte Gottes mit seinem Volk Israel hineingenommen“53. In der gemeinsamen Erinnerung an den Exodus und an Gottes rettendes Handeln wird das jüdische Volk „zum Wir, zur an der Schwelle der Befreiung stehenden hoffenden und glaubenden Einheit“54. Auch in der Jetztzeit gehört für das Judentum „die Anamnese zu den zentralen Vollzügen der Religion“55. Indem zeitgenössische Jüdinnen und Juden den Sabbat heiligen, gedenken sie der Erschaffung der Welt. Vgl. Rainer Kampling, „Groß erzeigt sich ER über der Mark Jisraels“. Zur Gegenwart und Vergegenwärtigung Israels in der christlichen Liturgie, in: Walter Homolka (Hg.), Liturgie als Theologie. Das Gebet als Zentrum im jüdischen Denken, Berlin 2005, 154-162, hier: 157. 50 Vgl. Haarmann, Gedenken, 74f. 51 Ebd. 103; Hervorhebung durch denselben. 52 Vgl. Yerushalmi, Zachor, 56f; ebenso: Haarmann, Gedenken, 146. 53 Haarmann, Gedenken, 146. 54 Gerhard Bodendorfer, Ent-Schuldigung statt Schuldbekenntnis. Eine Stellungnahme zum vatikanischen Dokument „Wir erinnern: Nachdenken über die Shoah“, 1998, ww.jcrelations.net/de (Stand: 25.09.2010). 55 Heinz-Josef Fabry, Art. Anamnese III. Biblisch, in: LThK Bd. 1, 1993, 590. 49
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Rosch haSchana wird als „Tag des Gedächtnisses“ begangen, als dem „ersten Tag der zehn Bußtage, in denen das Erinnern im Menschen seinen deutlichsten Ausdruck erhält“56. Und an Pessach sagt der Vater zum Sohn: „Ich, ich wurde befreit. Gott tat dies für mich, als ich in Ägypten war.“57 Das jüdische Gedenken beschränkt sich nicht auf die Erinnerung biblischer Ereignisse, es umfasst, wenn auch nicht jedes einzelne Ereignis, so doch die ganze jüdische Geschichte. So wie Weizman das Gedenken bis in die jüngste Vergangenheit aufweitet, so wurden bereits im Mittelalter und werden auch heute besondere Ereignisse wie auch traumatisierende Erfahrungen in der Geschichte des jüdischen Volkes vor dem Vergessen bewahrt, indem sie in Erinnerungsrituale wie den Seder aufgenommen werden. Von der Osten-Sacken zitiert ein eindrückliches Beispiel, die aus dem Mittelalter überlieferte „Darmstädter Haggada“.58 In ihr ordnet eine mittelalterliche jüdische Gemeinde im 12. Jh. ihr Erleben in den Fluss des Erzählens und Deutens ein. Der Verfasser der Haggada überliefert das Bekenntnis: „‚Und dies ist es, was für unsere Väter festen Bestand hat und für uns. Denn nicht einer allein [Pharao] ist gegen uns aufgestanden, um uns zu vernichten, sondern in jeder Generation stehen sie [die feindlichen Völker] gegen uns auf, um uns zu vernichten. Doch der Heilige, gelobt sei er, rettet uns aus ihrer Hand.’“59
Gottes Bündnistreue und Beistand in jeder Generation betonend, hat er den folgenden Kommentar eingefügt: „‚Denn sie (unsere Feinde) erheben Beschuldigungen gegen uns zu jeder Zeit, wie die Begebenheit darthut (sic), die hier in Metzburg sich ereignet hat. Da fiel nämlich eine Christenfrau in eine Grube (Cisterne, Brunnen), die sich auf öffentlichem Platze, wo Juden wohnten, befand, im Monat Adar, im Jahre 4948 (der Weltaera = 1198 u. Zeitrechnung). Und da haben sie die unwahre Beschuldigung gegen uns erhoben, sprechend: Ihr habt sie in die Grube gestürzt, aber der Heilige, gelobt sei er! rettete uns, und Friedlander, Zachor, 378. Ebd. 380. 58 Vgl. Peter von der Osten-Sacken, ‚Das Volk der Geschichte’. Jüdische Existenz einst und jetzt im Spiegel der Passahaggada, in: Ders., Theologische Perspektiven im christlich-jüdischen Gespräch, Ganderkesee 1999, 15-27, hier: 18f. 59 Ebd. 19. 56 57
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sie thaten uns nichts. Deßhalb (sic) haben wir Gott zu loben jedes Jahr dafür, daß er uns dieses Wunder gethan hat. Darum habe ich die Sache niedergeschrieben, um das Wunder den künftigen Geschlechtern kund zu thun. Wir verlassen uns auf Gott, daß er unsern Streit für uns streiten und uns aus ihren Händen retten werde.’“60
Der Passus verarbeitet die Erfahrung von Gefährdung und Errettung in der Jetztzeit, indem er die Gegenwart von der Vergangenheit her erhellt, kommentiert von der Osten-Sacken. Wie schon in der Vergangenheit handelt Gott an seinem auserwählten Volk. Zudem wird Gottes Bündnistreue bestätigt, da sie sich in der Jetztzeit wiederholt.61 Da viele Jüdinnen und Juden es als bedeutsames und unverzichtbares Anliegen erachten, die Schoa unauslöschlich in das jüdische Gedächtnis einzuschreiben, hat sie in besonderer Weise einen Platz in der Kultur des Gedenkens gefunden. Der orthodoxe Rabbiner Irving Greenberg lässt zu den vier fragenden Kindern in der Pessachnacht ein fünftes treten, das nicht fragen kann, da es die Konzentrationslager nicht überlebt hat; das Erinnern geschieht schweigend, weil die Worte fehlen.62 Auch gesellschaftliche und politische Entwicklungen jüngerer Zeit haben ihren Platz in Erinnerungsritualen. So werden beim Seder Gebete für das Land Israel und für die Jüdinnen und Juden in osteuropäischen Staaten und den ehem. GUS-Ländern aufgenommen.63 Als ein neues Ritual, das in den letzten zwanzig Jahren in amerikanischen feministischen Kreisen Eingang gefunden hat, beschreibt Susannah Heschel die „Orange auf dem Sederteller“, ein von ihr initiiertes Ritual, das Solidarität mit Homosexuellen und Randgruppen in der jüdischen Gemeinschaft einfordert. Die Frucht auf dem Sederteller solle deutlich machen, dass die Integration der Randgruppen für alle Jüdinnen und Juden Früchte bringe, so Heschel im April 2007 in der Jüdischen Zeitung.64
60 Text nach: M. Mannheimer, Aus der Pesach-Haggada, in: Zeitsch. f. Gesch. d. Juden in Deutschland 2, 1888, 381f; Zitat und Literaturangabe nach von der Osten-Sacken, Das Volk der Geschichte, 19. 61 Vgl. von der Osten-Sacken, Das Volk der Geschichte, 21. 62 Vgl. Bodendorfer, Ent-Schuldigung, 2. 63 Vgl. Louis Jacobs, Art. Passover. The Seder, in: Encyclopaedia Judaica, Jerusalem, Israel 1971, 166-169, hier: 168f. 64 Vgl. Jüdische Zeitung, „Wie eine Orange auf dem Sederteller …“. Susannah Heschels feministischer Zugang zu Pessach, April 2007, www.j-zeit.de/archiv (Stand 14.09.2010).
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Zudem dienen Erinnerungsfeiern, und hier ist an erster Stelle Seder Pessach zu nennen, den heutigen jüdischen Gemeinden auch der Integration von Jüdinnen/Juden, die ihrer Religion entfremdet sind.65 „Indem nämlich im Kreis der Familie, von Freunden oder – beim großen Gemeindeseder – im Kreis von hundert oder mehr Anwesenden die ganze Geschichte des Leidens in der ägyptischen Sklaverei und die Geschichte des Auszugs aus der Gefangenschaft gemeinsam gelesen und nachvollzogen werden, erfahren auch jene diesen wichtigen Teil der eigenen Geschichte, die ansonsten den religiösen Traditionen wenig zugetan sind, oder jene, die – wie unsere Zuwanderer aus der einstigen Sowjetunion – von diesen Traditionen durch die äußeren Umstände ihres Lebensumfelds bislang weitgehend ferngehalten wurden.“66
Wenn zeitgenössische Jüdinnen und Juden an Pessach der Befreiung aus der ägyptischen Sklaverei gedenken, so Neumann, steht die Knechtschaft in Ägypten für sie als Synonym für Rechtlosigkeit und Unfreiheit und ihre Gedanken reisen nach Syrien und in den Iran, wo „jüdische Familien […] sich nach Freiheit sehnen und in der täglichen Angst leben, als vermeintlich ‚zionistische Agenten‘ verfolgt zu werden“67 und in all die Länder, in denen die jüdische Religion nicht frei ausgeübt werden darf. Und weiter: Wenn sie heute von der Wüstenwanderung erzählen, denken sie an die unzähligen Menschen, die ihrer jüdischen Existenz willen ihre Heimat verlassen und nach Israel, in die USA oder auch nach Deutschland auswandern mussten. Denn in Freiheit leben heißt für Jüdinnen und Juden auch Erinnerung an Unfreiheit in längst vergangener und derzeitiger Geschichte. 68
1.2 Pessach: „Zachor – Gedenke!“ Am 15. Nisan69 feiern Jüdinnen und Juden in aller Welt Pessach, das zentrale Erinnerungsfest an den Auszug aus der ägyptischen Sklaverei, ein von Gott gesetztes Fest, ein Fest von dem und für den Herrn (Ex 12, 14). Das im zweiten Buch Mose überlieferte Exodusgeschehen besitzt Vgl. Neumann, Shabbat, 47. Ebd. 47. 67 Ebd. 48. 68 Vgl. ebd. 49f. 69 Der Nisan ist der erste Monat des jüdischen Jahres und entspricht in christlicher Zeitrechnung den Monaten März/April. 65 66
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zentrale Bedeutung in der hebräischen Bibel. Um dieses angeordnet sind die „Urgeschichte, [die] Erzelternerzählungen sowie die Überlieferungen aus der Zeit der Wüstenwanderung Israels bis hin zum verheißenen Land“70. De Vries hält fest: „Es gibt kaum eine Feier, ein Gebot, weder einen Brauch noch eine Sitte, die nicht irgendwie mit dem Auszug zusammenhängen oder von seinem Geist und Inhalt erfüllt sind.“71
Pessach, das erste in der Bibel genannte Fest, ist tief verwurzelt im jüdischen Leben und in der jüdischen Geschichte. Die biblische Überlieferung beschreibt das ägyptische (Ur-)Pessach als von Gott gestiftet, das die Israeliten beim Vorübergehen der zehnten Plage in ihren Häusern feierten. Das Buch Exodus berichtet, dass die Israeliten auf Gottes Geheiß hin die Türen ihrer Häuser mit dem Blut geschlachteter Lämmer kennzeichneten und diese geröstet aßen, gegürtet, die Schuhe an den Füßen und den Stab in der Hand, „als die, die hinwegeilen“ (Ex 12, 11b). Den Berichten zufolge eröffnete dieses Mahl den Auszug aus Ägypten als Befreiungstat Gottes, die die Namensoffenbarung, das Herausführen aus der Knechtschaft, den Bundesschluss am Sinai und den Weg in das verheißene Land umschloss. Gott offenbarte sich seinem Volk als ein konkret Handelnder und in die Geschichte Israels Einbrechender.72 In der Errettung Israels aus dem Sklavenhaus Ägypten führte Gott sein Volk zur Freiheit, einer „Freiheit von Gott und auf Gott hin“73. Auch in der Jetztzeit gedenkt das Judentum dieses zentralen Ereignisses seiner Geschichte.74 Auch heute bedeutet der im Alten Testament bezeugte Exodus für gläubige Jüdinnen und Juden „das Urdatum für den Bund Gottes mit dem Volk Israel und damit das Urdatum für die Exis-
Haarmann, Gedenken, 87. Simon Ph. De Vries, Jüdische Riten und Symbole, Wiesbaden 7. Aufl. 1994, 129. 72 Vgl. Wahle, Gottes-Gedenken, 377-379. 73 Rainer Kampling, Am Tisch des Himmels – Opfer und Opfermahl, in: Michael Friedlander, Cilly Kugelmann (Hgg.), Koscher & Co.. Über Essen und Religion, hg. im Auftrag des Jüdischen Museums Berlin, Berlin 2009, 159-173, hier: 166. 74 Da die Begegnung zwischen Gott und Mensch auf der Ebene der Geschichte stattfindet, gründen die zentralen biblischen Feste „auf geschichtlichen Ereignissen: Pesach gedenkt des Auszugs aus Ägypten, das Wochenfest Shavuot der Offenbarung am Sinai, das Laubhüttenfest Sukkot der Wüstenwanderung“. Wahle, Gottes-Gedenken, 78f. 70 71
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tenz des Volkes überhaupt“75. Bereits in Ägypten entwickelte Israel „all jene Eigenschaften, die man gemeinhin als Charakteristika einer Nation ansieht. […]: die gemeinsame Herkunft, die gemeinsame Geschichte, das Gefühl der Zusammengehörigkeit, den Wunsch zur Wahrung eigener Sitten und Gebräuche“76. Allerdings fehlte ihnen Freiheit und Land, das sie als Gemeinschaft besiedeln konnten, und eine Gesetzgebung, unter der sie sich versammeln konnten. Indem Israel diese drei Gaben von Gott im Exodus erhielt, vollendete sich seine Herausbildung als Volk, „zu dessen körperlicher Freiheit nun die geistige Freiheit getreten war“77. Am Vorabend des Pessachfestes gedenken Jüdinnen und Juden der Befreiung Israels im Exodus und seiner Volkwerdung mit der Feier des Sedermahls.78 Seine Tischliturgie rezitiert in ihrem Verlauf die Haggada, den traditionellen Text zum Eingang des Pessachfestes, der seit dem 10. Jh. in handschriftlichen Quellen belegt ist.79 Der derzeitige Stand der historischen und liturgiewissenschaftlichen Forschung über die Ursprünge und den Entwicklungsverlauf des Sederabends, der durch Brüche, thematische Umorientierungen und Rückgriffe auf das ägyptische Pessach gekennzeichnet ist, und über die Datierung der Haggada, wird in den folgenden Kapiteln insbesondere anhand der Forschungsarbeiten von Stemberger80, Yuval81 und Leonhard82 diskutiert. An dieser Stelle wird das Gedenken der biblisch erinnerten Befreiungstat Gottes als zentraler Inhalt des Sedermahls und der während des Mahls rezitierten Haggada angesprochen. Greve, Erinnern, 16. Neumann, Shabbat, 45. 77 Ebd. 45. 78 Seder bedeutet Ordnung. „Aber sein erweiterter Begriff beinhaltet den gesamten häuslichen Ehrendienst während der ersten beiden Passahabende. Im engeren Sinne bezeichnet Seder die Schüssel, die mitten auf dem Tisch mit allen Beilagen steht, den beredten Zeichen, die an die Geschichte des Auszugs erinnern.“ De Vries, Jüdische Riten, 129. 79 Vgl. Clemens Leonhard, Die älteste Haggada. Übersetzung der Pesachhaggada nach dem palästinensischen Ritus und Vorschläge zu ihrem Ursprung und ihrer Bedeutung für die Geschichte der christlichen Liturgie, in: Archiv für Liturgiewissenschaft 45 (2004), 201-231, hier: 202. 228. Leonhard betont zwar, dass die Haggada vom Seder als der Liturgie um das Festmahl am 14. Nisan zu trennen ist, hält jedoch fest, dass seit dem Hochmittelalter Sederliturgie und Haggada nahezu deckungsgleich sind. Vgl. ebd. 203. 80 Vgl. Kapitel II.3.1, S. 49-52. 81 Vgl. Kapitel II.3.2, S. 52-55. 82 Vgl. Kapitel II.3.3, S. 55-59. 75 76
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So wie in der Tora Israel geboten wird, sich in jeder Generation Gottes Heilshandelns im Exodus zu vergegenwärtigen (Ex 12, 14) und den Nachfolgenden hiervon zu berichten (Ex 13, 8), so soll sich heute jeder Jude mit der Generation des Exodus identifizieren. In der Feier des Seder treten die je gegenwärtig feiernden Jüdinnen und Juden ein in eine Kommunikation mit früheren und späteren Generationen, die „in dem Bewusstsein leben, trotz aller Versklavungen und Verfolgungen niemandes Knechte zu sein und damit allein dem Gott dienen, der sie aus Ägypten herausgeführt hat“83. Im Gedenken an Gottes Handeln in der Geschichte wachsen die Generationen zu einer Erinnerungsgemeinschaft zusammen, die heute erlebt: „Wir lebten als Sklaven in Ägypten. Wir wurden befreit. Unsere Erinnerung besteht aus Riten und Symbolen, sie lebt in der Liturgie und sie steckt in unserem Körper. Wir leben im Bund.“84
Indem Jüdinnen und Juden sich heute ihrer vergangenen Geschichte erinnern, erfahren sie Sinngebung und Hoffnung für die Gegenwart und für die Zukunft. Denn das Judentum gedenkt des Gottes, der seit Urzeiten Israel gedenkt und ihm hilft. Daher kann er auch heute um Hilfe in heillosen Zeiten angerufen werden und das Gedenken wird zu einer Kraftquelle für die Zukunft.85 „Heilsgeschichte wird Heilszukunft.“86 Gedenktagen kommt die Rolle zu, Erinnerung ästhetisch und feierlich zu manifestieren.87 Wenn Jüdinnen und Juden am Vorabend des 15. Nisan in ihren Gemeinschaften bzw. Familien Seder Pessach feiern, gedenken sie der biblisch bezeugten Errettung aus der ägyptischen Sklaverei mit einem feierlichen Mahl. An diesem Eröffnungsabend entfaltet „Pessach, das große Freiheitsfest, […] seine kraftvolle Erinnerungsarbeit“88. Hier werden die Jüdinnen und Juden existentiell in das Erinnerte 83 Martin Cunz, Das ist das Brot der Armut, das unsere Väter in Ägypten gegessen haben …, in: Lamed 1 (1998), 4-7, hier: 5. 84 Friedlander, Zachor, 381. 85 Vgl. Reinhard Meßner, Die Kirche an der Wende. Vorüberlegungen zu einer Theologie der eucharistischen Anamnese, in: Silvia Hell, Die Glaubwürdigkeit christlicher Kirchen. Auf dem Weg ins 3. Jahrtausend, Innsbruck – Wien 2000, 209-238, hier: 214f. 86 Ernst Ludwig Ehrlich, Aus der Geschichte Zukunft gestalten, in: Freiburger Rundbrief, 15 (2008), 86-94, hier: 89. 87 Vgl. Wahle, Gottes-Gedenken, 77f. 88 Neumann, Shabbat, 47f.
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hinein gezogen und reihen sich ein in die lange Befreiungsgeschichte Israels. Mit Rezitieren und Singen, Essen und Trinken, Fragen und Gesten, so Friedlander, geschieht der Übergang von der Knechtschaft zur Freiheit in jeder Generation neu:89 „An diesem Übergang, mit diesen Worten und Gesten, erkennen sich Juden, werden zu dem, was sie sind: ein ‚Wir’, ein Volk. An diesem Übergang erkennen sie Gott und werden sie von Gott erkannt, der den Übergang offen hält.“90
Der Sederabend, so wie er heute von Jüdinnen und Juden in aller Welt begangen wird, ist in seiner über Jahrhunderte gewachsenen Gestalt streng geregelt und folgt dem standardisierten Ablauf der Haggada. Er zeichnet sich durch eine Vielzahl von Zeichen, Texten und symbolischen Verhaltensweisen aus, die an die ägyptische Sklaverei und den Auszug aus Ägypten erinnern. Mit den rituellen Speisen werden überlieferte Ereignisse während des Sklavendaseins in Ägypten bzw. während des Exodus gedeutet, unter ihnen die biblisch berichteten. Demnach erinnert das seit dem Verlust des Tempels nicht mehr verzehrte Lamm91 an das Vorübergehen der zehnten Plage, das ungesäuerte Brot steht für den eiligen Aufbruch und die Bitterkräuter für die Bitterkeit des Lebens in der Sklaverei.92 Das Salzwasser symbolisiert die bitteren Tränen, die in der Vgl. Friedlander, Zachor, 382. Ebd. 382. 91 Nach Leonhard wurde zunächst an manchen Orten geröstetes (nicht gekochtes) Fleisch oder sogar ein ganzes gebratenes Lamm in die Mahlfeier integriert. „Die Rabbinen lehnten diese Praxis zunehmend ab, weil sie die Gefahr in sich birgt, dass das Fleisch als rituell geschlachtet betrachtet werden könnte.“ Clemens Leonhard, Die Erzählung Ex 12 als Festlegende für das Pesachfest am Jerusalemer Tempel, in: Martin Ebner (Hg.), Das Fest jenseits des Alltags, Neukirchen-Vluyn 2004, 233-260, hier: 236. 92 Bereits die Mischna (mPes X5) enthält die von Rabban Gamaliel eingeforderte Pflicht: „Jeder, der nicht drei Ereignisse des Passa bespricht, hat sich seiner Pflicht nicht entledigt. Welche sind das [.] Passalamm (Ex 12, 26f), ungesäuertes Brot (Ex 13, 6-8) und Bitterkraut (Ex 12, 8)“ (Die Mischna, 206). Diese Verpflichtung, ergänzt durch die entsprechenden Erläuterungen der drei Pessachsymbole, enthalten bereits die ältesten belegten Handschriften der Haggada. Vgl. Leonhard, Älteste Haggada, 214f. Nach Yuval verlangte Rabban Gamaliel damit ein Bekenntnis zum jüdischen Verständnis des Festes, das von jedem Einzelnen zu sprechen ist, womit die christliche Deutung, d. h. Jesus als Pessachlamm, ausgeschlossen wurde. Vgl. Israel J. Yuval, Zwei Völker in deinem Leib. Gegenseitige Wahrnehmung von Juden und Christen, Göttingen 2007, 87. Somit erinnern diese Deutungen nicht nur an den biblisch bezeugten Exodus, sondern dienen auch der Abgrenzung gegen christliche Deutungen des Pessach. 89 90
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Sklaverei vergossen wurden.93 Und Charosset94, eine Mischung aus Nüssen, Äpfeln und Wein, erinnert laut der heute vorherrschenden Deutung an den Lehm, mit denen die Israeliten Ziegel brennen mussten.95 Diese Deutung wird bereits im Talmud überliefert, jedoch ergänzt durch weitere. So soll das Fruchtmus auch an die Apfelbäume erinnern, unter denen die Israelitinnen „aus Furcht vor den ägyptischen Verfolgern (cf. Ex. 1,16ff.) in den Wäldern“96 niedergekommen sind, und die Gewürze im Charosset an das Stroh in den Ziegeln.97 Auf dem Sedertisch finden sich zudem Speisen, die den Blick zurück zu der Zeit des Zweiten Tempels lenken und die gezeigt, jedoch nicht gegessen werden. Ein Knochen erinnert an die Zeit, als an Pessach Lämmer geopfert wurden und ein geröstetes Ei erinnert an die Opfer, die im Tempel dargebracht wurden.98 Das Mahl wird durch das Trinken von vier Bechern Wein99 gegliedert 93 Neben den drei in weiße Tücher eingeschlagenen Mazzot, die nach Trepp die drei Gruppen (Priester, Leviten und Volk) Israels symbolisieren, die gemeinsam befreit wurden, und dem Salzwasser, schmückt ein Sederteller den Sedertisch. Dieser zeigt in sechs Vertiefungen Bitterkraut und weitere, in der Bibel nicht überlieferte, symbolische Speisen. Dabei handelt es sich um: Karpas (Gemüse: Sellerie, Petersilie oder Radieschen), Chaseret (Meerrettich), Charosset (Fruchtmus aus Nüssen, Wein und Äpfeln), Sroa (Knochen vom Lamm), Bejza (gekochtes bzw. geröstetes Ei mit Schale). Vgl. Leo Trepp, Der jüdische Gottesdienst. Gestalt und Entwicklung, Stuttgart – Berlin – Köln 1992, 162f. 94 Das Fruchtmus findet bereits in der Mischna (mPes X, 5) Erwähnung, jedoch mit dem Hinweis, dass Fruchtmus als Speise für den Seder kein Gebot darstellt und ohne diesem eine symbolische Deutung zuzusprechen. Zudem sprechen Mischna und Talmud von Essig (Baneth). Vgl. Die Mischna, 205; ebenso: Der babylonische Talmud. Mit Einschluss der vollständigen Mischna, übersetzt von Lazarus Goldschmidt, Bd. 2 Pesachim, 341-747, hier: 726. 95 Vgl. u. a. Yuval, Zwei Völker, 248-254; Trepp, Der Jüdische Gottesdienst, 162; De Vries, Jüdische Riten, 134. Nach Yuval wird roter Wein verwandt, der für das Blut steht, das die Israeliten bei der Fronarbeit vergossen haben. 96 Der babylonische Talmud, 726. 97 Vgl. ebd. 726. 98 Trepp, Der jüdische Gottesdienst, 163. 99 An Sabbat und den Feiertagen werden traditionell zwei Becher Wein getrunken, einen zu Beginn der Mahlzeit nach dem Kiddush, dem Lobpreis für den Schöpfer der Welt, der den Sabbat bzw. den jeweiligen Feiertag geschenkt hat. An Pessach werden vier Becher Wein getrunken, da das Fest der Befreiung ein besonders fröhliches sein soll. Die am weitesten verbreitete Erklärung nennt die vier Hinweise auf Befreiung und Erlösung in Ex 6, 6f als Grund für die Vierzahl: „Darum sage den Israeliten: Ich bin der HERR und [1] will euch wegführen von den Lasten, die euch die Ägypter auflegen, und [2] will euch erretten von eurem Frondienst und [3] will euch erlösen mit ausgestrecktem Arm und durch große Gerichte; [4] ich will euch annehmen zu meinem Volk und will euer Gott sein, …“. Jacobs, The Seder, 167. In einer anderen Erklärung wird die Vierzahl von den vier Stamm-Müttern Israels Sara, Riwka, Lea, Rachel abgeleitet. Vgl. Wahle, Gottes-Gedenken, 370.
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und von vier Fragen der Kinder an den Hausvater bzw. den Sederleitenden begleitet, die das besondere der Pessachnacht und die Bedeutung für die aktuell Feiernden erfragen. „Gedenken geschieht durch Erzählen.“100 Die Antworten erzählen die Geschichte des Sklavendaseins und des Exodus sowie die damit verbundenen Heilstaten Gottes in jeder Generation neu, wobei sich „der Erzähler derart existentiell mit dem Erzählen identifiziert, als ob zwischen den Generationen kein großer Zeitraum vorläge“101. Gedenken verstärkende Funktion haben auch mimetische Darstellungen wie die angelehnte Haltung beim Essen und Trinken, „die zwar das Exodusgeschehen nicht inszenieren oder nachspielen wollen, aber doch über anamnetische Formen der Erinnerung hinausgehen“102. Sie verweisen ebenfalls auf die von Gott geschenkte Freiheit, das Generalthema des Pessach.103 In „Der jüdische Gottesdienst“ beschreibt Trepp den Verlauf des rituellen Mahles durch Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, wie er von der Seder feiernden jüdischen Erinnerungsgemeinschaft am Abend des 14. Nisan befolgt wird, und wie ihn auch christliche Gemeinschaften feiern, die nach einer heute gängigen Ausgabe der Haggada das Sedermahl halten. Eingeleitet wird das Mahl mit dem Kiddusch, der wie an jedem anderen Festtag gesungen wird und der Gott als Spender des Weins, als Stifter des Festtags und Geber des Brotes lobpreist. Damit bekennt sich das Judentum auch heute dazu, dass Pessach eine Gabe Gottes ist, ein Fest von dem und für den Herrn. Daran folgend und ganz in der jüdischen Kultur des Gedenkens stehend, führt der weitere Ablauf „von der Vergangenheit durch die Gegenwart in die Zukunft“104. Vergangenheit: Mit dem Text „Dies ist das armselige Brot, das unsere Vorfahren im Lande Ägypten aßen …“ wendet sich die feiernde Gemeinschaft dem auf die Vergangenheit bezogenen Teil des Seder zu.105 Er beginnt mit dem Füllen des zweiten Bechers und beinhaltet x die vier Fragen der Söhne, x die Antworten mit der ausführlichen Erzählung des Exodus, 100 101 102 103 104 105
Wahle, Gottes-Gedenken, 367. Ebd. 369. Ebd. 367. Vgl. ebd. 367. Trepp, Der jüdische Gottesdienst, 163. Vgl. ebd. 163.
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x das Dayyenu, die Aufzählung der Wohltaten Gottes an Israel während des Exodus, x die Erklärung von Rabban Gamaliel zur Pflicht, die drei PessachSymbole zu nennen und der Erläuterung der Symbole.106 Das Hineinführen in die Gegenwart beginnt mit dem Bekenntnis zur Pflicht des Gedenkens in jedem Zeitalter und in jeder Generation. Die ersten zwei Hallelpsalmen (Ps 113 und 114) werden rezitiert. Den die Vergangenheit beschreibenden Teil schließt eine Beracha ab, in der die Seder feiernde Gemeinschaft Gott für die Erlösung der Väter aus Ägypten preist und dann den Blick von der Vergangenheit in die Gegenwart richtet, indem sie für das Fest dankt, das sie selbst an dem jeweiligen Abend feiert. Der der Vergangenheit zugewandte Teil endet mit dem Trinken des zweiten Bechers, der angelehnt geleert wird.107 Gegenwart: Der die Gegenwart umfassende Teil beginnt mit dem Waschen der Hände. Danach wird der Segen über das Brot gesprochen, das mit Maror und Charosset gegessen wird. Den symbolischen Speisen folgt ein festliches Mahl. Am Ende der Mahlzeit wird der Afikoman an die ganze Tischgemeinschaft verteilt. Der auf die Gegenwart bezogene Teil des Seder endet mit dem Trinken des dritten Bechers, ebenfalls in angelehnter Haltung.108 Zukunft: In dem der Zukunft zugewandten Teil des Seder wird der Becher für Elia bereitgestellt und die Tür für ihn geöffnet. Die HallelPsalmen (Ps 115 – 118) werden gesprochen, Psalm 136109 als Wechselgesang gesungen. Der Seder endet mit dem Trinken des vierten Bechers und Schlussgesängen.110 Gerahmt wird der Sederabend von eschatologisch geprägten Elementen. Mit den Worten „Dieses Jahr hier, künftiges Jahr im Lande Israel; dieses Jahr Knechte, künftiges Jahr Freie“ im Einleitungsteil und mit dem Bereitstellen des Bechers für Elia und dem Öffnen der Tür am Vgl. ebd. 165-167. Vgl. ebd. 167. 108 Vgl. ebd. 167-169. 109 Psalm 136 wird auch das große Hallel genannt, da sich in ihm die Aussage findet: „der Speise gibt allem Fleisch“. Er hat 26 Verse, nach jüdischem Verständnis entspricht die Verszahl der Anzahl an Generationen, die vor der Offenbarung der Tora gelebt haben. Auch wenn diese 26 Generationen nicht wie ihre Nachkommen die Tora befolgt haben, so gibt ihnen Gott doch ihren Lebensunterhalt als Ausdruck seiner Gnade“. Ebd. 169. 110 Vgl. ebd. 169-171. 106 107
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Schluss der Feier wird ein weiter Bogen vom überlieferten ägyptischen Pessach in der Vergangenheit zur endgültigen Befreiung in der Zukunft gespannt. Damit beginnt und endet die Pessachnacht mit messianischer Erwartung.111
1.3 Abendmahl: „Dies tut zu meinem Gedächtnis!“ Vorbemerkung: Das letzte Mahl Jesu, verbunden mit der Einsetzung des Herrenmahls, ist in den synoptischen Evangelien (Mt 26, 17-30; Mk 14, 22-25; Lk 22, 7-23) überliefert, die dieses in zeitlicher Nähe zu Pessach schildern. Wer sich heute hierzu äußert, steht vor Deutungen, die sich in nahezu zweitausend Jahren theologischer und kirchlicher Diskussion durchgesetzt haben. Der historische Kern ist verschüttet, verlässliche Aussagen über den eigentlichen Ablauf dieses Mahls lassen die überlieferten Berichte nicht zu. Eine Annäherung an die Ereignisse in Jerusalem am Abend des letzten Mahls Jesu kann daher nur theologisch erfolgen. Am Gründonnerstag112, dem Vorabend des Todes Jesu, „erinnert sich die Christenheit daran, dass sie […] als eine Mahl- und Tischgemeinschaft in die Geschichte eingetreten ist“113. Der Gottesdienst an diesem Abend eröffnet das triduum paschale, die drei österlichen Tage vom Leiden, vom Tod und von der Auferstehung Jesu Christi und wird zum Gedenken der Stiftung des Herrenmahls begangen.114 Die Abendmahlsberichte in den Evangelien weisen Unterschiede auf, da Markus, Matthäus und Lukas je eigene theologische Akzente set-
Vgl. ebd. 171f. Der Name leitet sich vermutlich von dem mittelhochdeutschen Verb gronan (greinen) ab und erinnert an die öffentlichen Büßer, die Weinenden, die an diesem Tag wieder in die kirchliche Gemeinschaft aufgenommen wurden und die dann das Ostermahl mitfeiern durften. Vgl. Rupert Berger, Art. Gründonnerstag, in: Ders., Pastoralliturgisches Handlexikon, Freiburg – Basel – Wien ³2005, 186-188, hier: 186f. Die katholische Kirche bezeichnet diesen Tag zumeist als „Hohen Donnerstag“, die evangelische Kirche spricht vom „Tag der Einsetzung des Heiligen Abendmahls“. 113 Kirchenleitung, Gottesdienstbuch, 698. 114 In der evangelischen Kirche wird zum Gedenken des Abschiedsmahls Jesu als Ort der Stiftung des Herrenmahls vom „Abendmahl“ bzw. vom „heiligen Abendmahl“ gesprochen. In der katholischen Kirche ist „Eucharistie“ der bevorzugte Begriff und meint Danksagung. Der Begriff soll die Grundstruktur des christlichen Gottesdienstes als Antwort auf Gottes Dienst an den Menschen zur Geltung bringen. Während der Begriff Eucharistie von den Reformatoren nicht übernommen wurde, wird der Begriff Herrenmahl ökumenisch sowohl von der evangelischen wie der katholischen Kirche verwandt. 111 112
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zen.115 Übereinstimmend überliefern sie jedoch, dass Jesus am Abend vor seinem Tod mit seinen Jüngern ein gemeinsames Mahl hielt, zu dem Brot und Wein gehörten und das in zeitlicher Nähe zu Pessach stand. Den Berichten zufolge segnete und brach Jesus das Brot. Mit diesem „symbolische[n] Akt des Brotbrechens mit dem Segensspruch über dem Brot, indem das Brot als Gabe des Schöpfers anerkannt und so aus der Hand des Schöpfers empfangen wird“116, stellte er sich ganz in die jüdische Mahltradition.117 Das Austeilen des Brotes und das Trinken des Bechers Wein nach dem Mahl verband Jesus – den Berichten folgend – mit deutenden Worten, die auf seinen Leib und sein Blut weisen.118 Das Herrenmahl wird von den Synoptikern als die Stiftung eines Neuen Bundes proklamiert. Wer an ihm teilnimmt, gedenkt des Heilshandelns Gottes in Jesus Christus und realisiert damit seine Zugehörigkeit zu denen, die dank der Selbsthingabe Jesu in das Bundesgeschehen aufgenommen wurden.119 Verknüpft ist das Thema „Bund“ in allen Zeugnissen mit dem Becherwort. Zudem wird von Matthäus explizit die Bundesaussage mit der Sündenvergebung verbunden, wodurch er diese in „die Kontinuität zur prophetischen Tradition“ 120 (so Jer 31-34) stellt.121 115 Vgl. Rat der EKD (Hg.), Das Abendmahl. Eine Orientierungshilfe zu Verständnis und Praxis des Abendmahls in der evangelischen Kirche, Gütersloh 4. Aufl. 2005, 19. 116 Reinhard Meßner, Einführung in die Liturgiewissenschaft, Paderborn 2001, 154. 117 Vgl. ebd. 153f. 118 Mt 26, 26-28; Mk 14, 22-24; Lk 19-20. 119 Vgl. Jürgen Roloff, Anamnese und Wiederholung im Abendmahl, in: Yorick Spiegel (Hg.), Erinnern – Wiederholen – Durcharbeiten. Zur Sozialpsychologie des Gottesdienstes, Stuttgart et al. 1972, 107-130, hier: 121. 120 Walter Kirchschläger, „Bund“ in der Herrenmahlstradition, in: Herbert Frankemölle (Hg.), Der ungekündigte Bund? Antworten des Neuen Testaments, Freiburg – Basel – Wien 1998, 117-134, hier: 117. 121 Die Frage, ob das Bundesmotiv auf Jesu ureigene Verkündigung zurückgeht, ist von der gegenwärtigen Forschung nicht abschließend beantwortet. Kirchschläger (Bund, 117-134) stellt die unterschiedlichen Positionen gegenüber. So hält Joachim Jeremias (Die Abendmahlsworte Jesu, Göttingen 4. durchges. Auflage 1967, 187-188) das Bundesmotiv für das ureigene Wort Jesu. Für ihn kann das Bundesmotiv auch inhaltlich nicht bestritten werden, da Pascha mit der Bundesthematik verknüpft sei. Andere Theologen wie Bernd Kollmann (Ursprung und Gestalten der frühchristlichen Mahlfeier, Göttingen 1990, 240-241) und Hans Jürgen Klauk (Herrenmahl und hellenistischer Kult (NTA NF 15), Münster 1982, 312-314) berufen sich u. a. auf das Fehlen des Bundesmotivs in der Verkündigung Jesu außerhalb der synoptischen Abendmahlstradition. Dieses spricht nach Friedrich Lang (Abendmahl und Bundesgedanke im Neuen Testament, in: Evangelische Theologie 35 (1975), 528f) dafür, dass die Herrenmahlstradition sehr bald nach Ostern mit dem Motiv des Bundes verknüpft wurde. Bei einer späteren Verknüpfung mit der synoptischen Tradition müsste das Bundesmotiv auch an anderen Stellen
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Die Christenheit vollzieht die Christusanamnese zentral in der Feier des Herrenmahls. Nach biblischem Zeugnis stellen die Einsetzungsworte „das herausragende Schriftzitat“122 dar, mit dem der Auftrag des Gedenkens von Jesus selbst erteilt wurde. Die Aufforderung „Dies tut zu meinem Gedächtnis“ folgt in der von Paulus berichteten Überlieferung zum Abendmahl sowohl dem Brot- wie dem Becherwort. Von den synoptischen Evangelisten überliefert auch Lukas wie Paulus den Auftrag des Gedenkens nach dem Brotwort. Damit steht es an zentraler Stelle zwischen Brot- und Becherwort und bezieht sich auf das ganze Mahl.123 Auch wenn der Aufruf zum Gedenken bei Matthäus und Markus nicht berichtet wird, so ist er aus Haarmanns Sicht implizit enthalten.124 Seine Begründung: Das Abschiedsmahl hat Jesus nach dem Zeugnis der Evangelien in zeitlicher Nähe zu Pessach gefeiert. Damit hat er sich mit seinen Jüngern in die Befreiungstradition des jüdischen Volkes hineingestellt, „die an jedem Pessach erinnert bzw. durch den Gott Israels vergegenwärtigt wird“125. Und so wie „die ganze Passa-Feier als ein Gedenken gefeiert [wird]“126, so wird die ganze Abendmahlsfeier als ein Gedenken begangen. Denn „das Gedenken geschieht hier wie da nicht nur durch einzelne Elemente der Feier, wie z. B. das Brotbrechen, sondern durch die Feier insgesamt“127. Die Feier des Herrenmahls ist der Identität stiftende Ritus der Christenheit. In seinem Mittelpunkt steht das biblisch überlieferte Urgescheanklingen. Kirchschläger hingegen ordnet die Verbindung von Bundesmotiv und Herrenmahlstradition eher als nachösterlich ein und plädiert dafür, das Bundesmotiv „als eine der nachösterlichen Deutkategorien […] zu begreifen, die in der Kraft des österlichen Geistes für die Bewältigung des Geschehens von Tod und Auferstehung Jesu herangezogen wurden“. Kirchschläger, Bund, 124. Dadurch wurde die Geschichte Gottes mit Israel auf den Auferstandenen bezogen, weiter geschrieben und aktualisiert. 122 Wahle, Gottes-Gedenken, 337. 123 Vgl. Kirchschläger, Bund, 124f. 124 Vgl. Haarmann, Gedenken, 269f. Diese Auffassung vertritt auch Wahle. Er begründet das Fehlen des Anamnesis-Befehls bei Matthäus und Markus jedoch mit der „jüdischen Selbstverständlichkeit, Gottes Heilstaten an Jesus Christus fortwährend eingedenk zu sein, so dass es nicht unbedingt eines expliziten Kultbefehls durch Jesus Christus bedurfte“. Wahle, Gottes-Gedenken, 89f. 125 Bertold Klappert, Gedenken, Ertrag und Auftrag des Rheinischen Synodalbeschlusses von 1980, in: Siegfried Kreuzer, Frank Überschaer (Hgg.), Gemeinsame Bibel – Gemeinsame Sendung. „25 Jahre Rheinischer Synodalbeschluss zur Erneuerung des Verhältnisses von Christen und Juden“, Neukirchen Vlyun 2006, 236-255, hier: 239. 126 Haarmann, Gedenken, 269. 127 Ebd. 269.
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hen, das die christliche Gemeinschaft begründet hat, trägt und erhält und das in der jeweiligen Feier gegenwärtig wird.128 In der Feier erfüllt die christliche Gemeinde in institutioneller und ritueller Form den Auftrag des Gedenkens.129 Sie weiß den Auferstandenen mitten unter sich und gegenwärtig handelnd.130 Dabei erfährt die Gemeinde in ihrer Glaubensüberzeugung eine zweifache Form der Gegenwärtigkeit: die „‚Nähe des auferweckten Gekreuzigten in unserem Leben’ (personale Präsenz) sowie seines Heilswerkes (aktuale Präsenz)“131. Nach evangelischem Verständnis ist die ganze Abendmahlsfeier mit all ihren Elementen, den Gebetshandlungen mit Lob- und Dankgebeten und Gesängen sowie dem ritualisierten Mahl eine Feier des Gedenkens. Die Einsetzungsworte, ein von Martin Luther in der Deutschen Messe formulierter Mischtext aus den vier biblischen Texten, deklarieren die Mahlfeier als Abendmahl des sich vergegenwärtigenden Christus.132 In der katholischen Kirche wird das eucharistische Hochgebet seit dem Vaticanum II ausdrücklich als anamnetisches Geschehen verstanden, „welches die analoge Beziehung zur historisch-jüdischen Kultur des
128 Vgl. Peter von der Osten-Sacken, Passafest und Osterfeier. Zusammenhänge, Analogien, Spezifika, in: Rainer Bookhagen et al (Hgg.), „Vor Ort“. Praktische Theologie in der Erprobung. Festschrift für Peter C. Bloth, Boverden 1991, 113-145, hier: 129. 129 Zu betonen ist, dass die christliche Gemeinde nicht nur in der Feier der Eucharistie bzw. des Abendmahls den Auftrag: „Dies tut zu meinem Gedächtnis“ erfüllt. Auch der an Sonnund Feiertagen gefeierte Wortgottesdienst ist anamnetischer Gottesdienst. Er dient „der anamnetischen Vergegenwärtigung des in der Lesung erzählten [...] Geschehens“, der Vergegenwärtigung des stiftenden Ursprungs der versammelten Kirche. Vgl. Meßner, Kirche an der Wende, 222. 231f. 130 Vgl. Rupert Berger, Art. Eucharistie, in: Ders., Pastoralliturgisches Handlexikon, Freiburg – Basel – Wien ³2005, 132; ebenso: Ders., Art. Gegenwart (Christi), in: Ders., Pastoralliturgisches Handlexikon, Freiburg – Basel – Wien ³2005, 167f, hier: 167. 131 Wahle, Gottes-Gedenken, 42. 132 Vgl. Haarmann, Gedenken, 303f. Bei Paulus finden sich die vermutlich ältesten der überlieferten Abendmahlstexte. Für ihn „und die ihm vorliegende Tradition steht im Mittelpunkt des Mahls die Verkündigung des heilbringenden Todes Jesu und die reale Gemeinschaft mit dem lebendigen Herrn in Brot und Wein“. Rat der EKD, Abendmahl, 17. In seinem Schreiben an die Gemeinde in Korinth setzt er sich mit Missständen und unsozialem Verhalten auseinander und gibt an die Gemeinde weiter, was er vom Herrn empfangen hat: „Der Herr Jesus, in der Nacht, da er verraten ward, nahm er das Brot, dankte und brach es und sprach: Das ist mein Leib, der für euch gegeben wird; dies tut zu meinem Gedächtnis. Desgleichen nahm er auch den Kelch nach dem Mahl und sprach: Dieser Kelch ist der neue Bund in meinem Blut; dies tut, sooft ihr daraus trinkt, zu meinem Gedächtnis.“( 1. Kor 11, 23-25).
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Gedenkens wieder hervorhebt und christlich akzentuiert“133. Es umfasst als Grundelemente die Verherrlichung des Namens Gottes und das Lob des Schöpfers, die anamnetische Proklamation von Gottes Heilshandeln in Jesus Christus und die Epiklese als Bitte um die Epiphanie des Geistes.134 Die liturgische Vergegenwärtigung wird in der katholischen Kirche am Gründonnerstag besonders hervorgehoben, indem in der Messe den Einsetzungsworten eine explizite Angabe zur Zeitstruktur eingefügt wird: „ – und das ist heute – “. Mit diesem Hodie-Motiv wird ausgesagt, dass heute, im Moment der gegenwärtigen eucharistischen Versammlung, Jesus das Leiden auf sich nimmt, und betont, was für alle Eucharistie- und Abendmahlsfeiern gilt:135 Die Zeiten des in der Vergangenheit liegenden Ur-Ereignisses und der gegenwärtigen Gedächtnisfeier in einem zukünftigen, eschatologischen Horizont verschränken sich als „eine Initiative Gottes und seines Heilswillens, die Treue zu seiner Bundesverheißung voraus[setzt]“136.
2. „Ein Pessachmahl, wie Jesus feierte …“ Die in den neutestamentlichen Schriften bezeugten Abendmahlsberichte begründen den Zusammenhang von Pessachmahl und Abendmahl. Paulus berichtet die Einsetzungsworte im ersten Brief an die Korinther137, sagt jedoch an dieser Stelle wenig über den Kontext aus, in dem Jesus das Abendmahl eingesetzt hat. Auf das Leiden und Sterben Jesu verweisen nur die Worte „in der Nacht, da er verraten ward“. Im fünften Kapitel des Korintherbriefes wird der Zusammenhang von Pessach mit Jesu Passion und Tod hergestellt: „Denn auch wir haben ein Passalamm, das ist Christus, der geopfert ist.“138 Auch von den vier Evangelisten wird diese Verbindung geknüpft. Nach den Synoptikern wird das Herrenmahl am Abend des 14. Nisan eingesetzt. Zudem beginnen Matthäus und Markus ihre Berichte mit der Frage der Jünger an den Herrn, an welchem Ort sie ihm das Passalamm bereiten sollen. Lukas berichtet von einem entsprechenden Auftrag Jesu
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Wahle, Gottes-Gedenken, 328f. Vgl. Meßner, Liturgiewissenschaft, 199f. Vgl. Wahle, Gottes-Gedenken, 355. Ebd. 357. 1. Kor 11, 23-25, vgl. Anm. 132. 1. Kor 5, 7.
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an Petrus und Johannes. Der Evangelist Johannes (13, 1) hingegen berichtet: „Vor dem Passafest aber erkannte Jesus, dass seine Stunde gekommen war […].“ Nach dieser Chronologie starb Jesus am Kreuz, während die Pessachlämmer geschlachtet wurden, also am Rüsttag für das Pessachfest und damit am 14. des Monats Nisan.
2.1 Joachim Jeremias: Die Abendmahlsworte Jesu In der exegetischen Arbeit „Die Abendmahlsworte Jesu“ geht Joachim Jeremias der Frage nach, ob Jesu letztes Mahl historisch betrachtet ein Pessachmahl war und bejaht dieses.139 Er beruft sich auf die synoptischen Evangelien, die „der Ansicht [sind], daß Jesu letztes Mahl […] in der Nacht zwischen dem 14. und 15. Nisan stattfand“140. Als Gemeinsamkeit aller vier Evangelien stellt er fest: „Sämtliche vier Evangelien sind sich darin einig, daß Jesu Todestag ein Freitag war (Mk. 15,42; Mt. 27,62; Lk. 23,54; Joh. 19,31.42). Da z. Z. Jesu der Tag von Sonnenuntergang zu Sonnenuntergang gerechnet wurde, umschließt der Freitag (Gründonnerstag 18 Uhr bis Karfreitag 18 Uhr) das gesamte Passionsgeschehen im engeren Sinne: Jesu letztes Mahl, Gethsemane, Verhaftung und Verurteilung, Kreuzigung und Begräbnis (Mk. 14,17 – 15,47; Mt. 26,20 – 27,61; Lk. 22,14 – 23,56a; Joh. 13,2 – 19,42); auch darin sind sich sämtliche Evangelien einig.“141
Jeremias beruft sich bei der Beantwortung der Frage auf neues Material, das aus seiner Sicht dafür spricht, dass das Letzte Abendmahl – „nicht nur die Rahmenstücke des Berichtes [betreffend], sondern ebenso seine Substanz“142 – ein Pessachmahl gewesen sei, und das bis zu seiner Zeit keine ausreichende Beachtung gefunden habe.143 Dieses neue Material Vgl. Jeremias, Abendmahlsworte, 9. Ebd. 10. Der Evangelist Johannes beschreibt das Abschiedsmahl Jesu ohne die Einsetzung des Abendmahls (Jh 13, 1–35). Es endet mit dem Liebesgebot und diesem folgen die Abschiedsreden Jesu. Jeremias verweist an anderer Stelle auf Jh 6, 51, dem „eine selbständige Fassung des Deutewortes Jesu zum Brot“ zu entnehmen ist. Das Schweigen des Johannes-Evangeliums zur Einsetzung des Abendmahls erklärt Jeremias damit, dass dieser bewusst den Abendmahlsbericht übergeht, da er den Wortlaut der Deuteworte nicht der Öffentlichkeit preisgeben wollte. Als Begründung führt er Esoterik im „Spätjudentum“ (sic) sowie den Schutz der Abendmahlsworte vor Profanisierung an. Vgl. ebd. 101-126 141 Ebd. 9f. 142 Ebd. 55. 143 Vgl. ebd. 35f. 139 140
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fasst er in 14 „Beobachtungen“ zusammen, die auf den Berichten der Evangelien zum Abendmahl aufbauen und mit Zitaten verschiedener Rabbinen, der Paulus-Briefe sowie mit Hinweisen aus der Mischna (mPes X) ergänzt werden. Zu diesen Beobachtungen zählen: x In den Tagen des Pessachfestes waren Jerusalem und der Tempel mit Wallfahrern überfüllt, sodass „die seit der josianischen Kultusreform geübte Praxis […], daß sämtliche Festteilnehmer das Passaopfer in den Tempelvorhöfen aßen“144, aufgegeben und in Privathäuser verlegt wurde.145 Schlachtort und Mahlort wurden getrennt. Allerdings blieb die Vorschrift, dass das Passalamm innerhalb von Jerusalem gegessen werden musste.146 x Nach Markus (14, 17f) und Matthäus (26, 20) war Jesus bei seinem Abschiedsmahl von seinen zwölf Jüngern umgeben. Diese Zahl entspreche der Teilnehmerzahl eines Pessachmahls, an dem mindestens zehn Personen teilnehmen sollten, um das Lamm ganz zu verzehren.147 x Die Evangelien berichten übereinstimmend, dass Jesus mit seinen Jüngern beim Abschiedsmahl zu Tisch gelegen habe. Bei einem Pessachmahl, nicht aber bei gewöhnlichen Mahlzeiten, war das Liegen bei Tisch rituelle Pflicht als Symbol der Freiheit.148 x Aus dem Vergleich von Wein und Blut in den Einsetzungsworten geht nach Jeremias „eindeutig“ hervor, dass beim Abschiedsmahl Jesu Rotwein getrunken wurde.149 x Der von Matthäus (26, 30) und Markus (14, 26) berichtete Lobgesang, mit dem das Abschiedsmahl Jesu beschlossen wurde, belegt nach Jeremias, dass das Hallel gesungen wurde.150 Das ausschlaggebende Argument, das das letzte Mahl Jesu als Pessachmahl ausweist, ist, so Jeremias, dass Jesus zu Brot und Wein Deuteworte Ebd. 37. Jeremias beziffert die Zahl der Wallfahrer auf 85.000 bis 125.000. Bei geschätzten 25.000 bis 30.000 Einwohnern sei mit weit über 100.000 Festfeiernden zu rechnen. Vgl. ebd. 36. 146 Vgl. ebd. 37. 147 Vgl. ebd. 40ff. 148 Vgl. ebd. 42f. 149 Vgl. ebd. 47. 150 Vgl. ebd. 49. 144 145
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spricht.151 Er verweist auf die symbolische Bedeutung der Mazze und der vier Becher Wein beim Pessachmahl, die im Jerusalemer Talmud allegorisch ausgedeutet werden.152 Jeremias folgert: „[…] der geschilderte Ritus der Deutung der Besonderheiten des Passamahles ist der Anlaß gewesen für die Deutung, die Jesus Brot und Wein bei seiner letzten Mahlzeit gegeben hat. Das heißt: Strukturell schließt Jesus seine Worte an den Ritus der Passadeutung an. Nur hier ist das Reden in Deuteworten rituell präformiert.“153
Jeremias setzt sich mit elf Erwägungen auseinander, mit denen zu seiner Zeit angezweifelt wurde, dass Jesu Abschiedsmahl ein Pessachmahl gewesen sei, und die aus seiner Sicht alle entkräftet werden können. Zu diesen Einwendungen zählt das Faktum, dass die Abendmahlstexte keinen Hinweis auf ungesäuertes Brot und auf Bitterkräuter geben und der Passaritus selbst keine Erwähnung findet.154 Jeremias erklärt dieses mit der „Lösung des Einsetzungsberichtes aus der Situation“155, was ihn faktisch zu einer kultischen Formel mache, die nur „die für die urkirchliche Mahlfeier konstitutiven Momente nennt“156. Das Weglassen der Pessachbezüge in der Überlieferung zugunsten einer liturgischen Formulierung, die lediglich die fortlaufenden Riten erwähnt, machen die Einsetzungsworte „zeitlos und bringt die überzeitliche Gültigkeit zum Ausdruck“157. Die von den synoptischen Evangelien abweichende Chronologie des johanneischen Evangeliums ist für Jeremias der Haupteinwand gegen die Darstellung des Abschiedsmahls Jesu als Pessachmahl. Die Geschichte vom Verrat und der Gang in den Garten Gethsemane belege jedoch, dass es sich um dasselbe Mahl handele, das auch von den Synoptikern beschrieben wurde. Die unterschiedlichen Chronologien beruhten daher auf einer „Früherdatierung des Passionsereignisses um 24
Vgl. ebd. 20. Der vierfache Ausdruck der Erlösung (Ex 6, 6f) lautet, so Jeremias: „Befreiung, Errettung, Erlösung, Annahme“. Ebd. 53, Anm. 2. 153 Ebd. 54f. 154 Vgl. ebd. 56ff. 155 Ebd. 108. 156 Ebd. 61. 157 Ebd. 108. 151 152
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Stunden“158 durch Johannes, wodurch Jesu Kreuzigung zeitlich mit der Schlachtung der Passalämmer zusammenfällt. Damit sieht es Jeremias als erwiesen an, dass das Letzte Abendmahl Jesu159 historisch betrachtet ein Pessachmahl war. Dem Ritus des Mahls schreibt er Bausteine zu, die in wesentlichen Punkten der Haggada entsprechen: x Die Vorspeisen x Die vier Becher Wein x Die symbolische Deutung der Speisen (Pessachlamm, Maror und Mazze)160 x Die Fragen des Sohnes x Die Antwort des Hausvaters mit der Exodusgeschichte.161 Zur Stützung seiner Beweisführung gibt Jeremias an, dass der Genuss von Pessachlamm, Mazze und Maror bereits in Ex 12, 8 beschrieben ist, dass in neutestamentlicher Zeit bereits Fruchtmus gegessen wurde und dass liturgische Fragen des Pessachmahls wie z. B. die Reihenfolge des Festtags- und Bechersegens bereits von den Schammaiten und Hilleliten diskutiert wurden.162 Bei der Einordnung der Einsetzungsworte Jesu in den Ablauf des Mahls sieht Jeremias es als gesichert an, dass Jesus die Tischgebete zur Anfügung seiner Deuteworte genutzt hat, und dass das Brotwort163 im Anschluss an die Vorspeisen vor dem Hauptmahl gesprochen wurde, da zur Vorspeise beim Pessachmahl kein Brot gegessen Ebd. 76. Die Mahlzeiten Jesu bilden eine lange Kette tagtäglicher Ereignisse, aus der sich das neutestamentlich überlieferte Abschiedsmahl Jesu als Pessachmahl heraushebt und ihm eine besondere theologische Bedeutung gibt, so Jeremias. Hier wird „die erlangte Freiheit gefeiert.“ Ebd. 197. Die Pessachfeier ist Rückblick auf die Verschonung der israelitischen Erstgeburten und die Befreiung aus der Sklaverei und eschatologischer Ausblick auf kommende Erlösung. Jeremias stellt fest: „In der Passanacht kommt der Messias!“ Ebd. 198. 160 Jeremias geht davon aus, dass die Deutung der Pessach-Elemente, die mit dem Satz beginnt: „Rabban Gamaliel lehrte: Wer an Pessach nicht folgende drei Dinge erwähnt, der hat sich seiner Pflicht nicht entledigt. Diese sind: Pessachopfer, Mazze und Marror“ von Rabban Gamaliel I. stammt, „weil die Deutung des Pessachlammes den Opfervollzug und damit den Bestand des Tempels voraussetzt“. Ebd. 50, Anm. 4. 161 Vgl. ebd. 50f. 162 Vgl. ebd. 80f. 163 Das Brotwort wird eingeleitet mit den Verben „nehmen, danken, brechen“ und beschreibt nach Jeremias die Handlung Jesu mit Worten, „die wir aus der rabbinischen Literatur als Termini technici des Tischgebetes vor Tisch kennen“. Ebd. 103. 158 159
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wurde, und dass das Kelchwort das Hauptmahl abschloss. 164 Das Fehlen der Pessachriten in den Evangelien beurteilt Jeremias als einen dem Abendmahl zeitlich nachgeordneten Prozess durch die „liturgische Verwendung der Einsetzungsberichte beim Herrenmahl“165.
2.2 In der Tradition von Joachim Jeremias Das umfangreiche Werk von Joachim Jeremias wird auch heute noch in neueren und neuen Veröffentlichungen zum Thema „Abendmahl“ herangezogen. Dieses gilt besonders, wenn die Verbindung von Abendmahl und Pessachmahl herausgestellt werden soll.166 Zu diesen Veröffentlichungen zählt die bereits zitierte Arbeit von Haarmann „Dies tut zu meinem Gedenken“167, die sich als Beitrag zur Theologie des Abendmahls im christlich-jüdischen Kontext versteht. Bei der Beurteilung der Frage, ob das Letzte Abendmahl ein Pessachmahl war und wie es ausgestaltet war, stützt sich Haarmann maßgeblich auf die Forschungsarbeit von Jeremias „Die Abendmahlsworte Jesu“, die er als „grundlegendes Werk, das die Beziehung von Abendmahl und Passamahl auch inhaltlich fruchtbar macht“168, würdigt. Aus Haarmanns Sicht ist die Frage nach einer Zusammengehörigkeit von Abendmahl und Pessachmahl „in der aktuellen ökumenischen und kirchlichen Abendmahlsdiskussion überwiegend nicht im Blick“169. Da Jesus Jude war, sei jedoch „zu einem wirklichen Verstehen des Abendmahls […] auch der Dialog mit dem Judentum erforderlich“170, so 164 Die einleitenden Worte zum Kelch beschreiben, so Jeremias, „den Ritus des Dankgebets nach Tisch“. Ebd. 104. 165 Ebd. 102. 166 Verwiesen sei u. a. auf folgende neuere Veröffentlichungen: Hartmut Thyen, Das Johannes-Evangelium, in: Handbuch zum Neuen Testament, Tübingen 2005; Hans Bernhard Meyer SJ, Eucharistie. Geschichte, Theologie, Pastoral, in: Ders. (Hg.), Handbuch der Liturgiewissenschaft Band 4, Regensburg 1989; Klappert, Gedenken, Ertrag, 236-255. 167 Haarmann, Gedenken, 2004. Zum Titel seiner Arbeit wählte Haarmann somit einen zentralen Satz der neutestamentlichen Abendmahlsüberlieferung, den Anamnesisbefehl aus 1. Kor 11, 24f parr. Lk 22, 19. Entstanden ist diese Arbeit im Fachbereich Systematische Theologie an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal bei Bertold Klappert. Vgl. ebd. 5. 168 Ebd. 14, Anm. 14. Die Veröffentlichung der Arbeit von Haarmann wurde von der Evangelischen Kirche im Rheinland finanziell gefördert. Insbesondere bei Pfarrer/innen dieser Landeskirche, die sich dem christlich-jüdischen Dialog verpflichtet fühlen, gilt die Arbeit als grundlegend für die aktuelle Diskussion der Theologie des Abendmahls. Siehe auch Kapitel IV.1.2.3, S. 170-176. 169 Ebd. 17. 170 Ebd. 14f.
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Haarmann. Durch eine verstärkte Diskussion des Abendmahls im jüdischen Kontext erhofft er sich, dass der „Blick auf die Wurzeln im Judentum und der Dialog mit dem Judentum heute […] für das christliche Gespräch neue Horizonte [eröffnet] und […] die festgefahrenen Positionen der christlichen Konfessionen und ihren Dialog in der Abendmahlsfrage auf heilsame Weise zu relativieren [vermag]“171. In seiner Arbeit geht Haarmann von einem „– im Wortsinn – grundlegenden Zusammenhang von Abendmahl und Passa“172 aus. Sein Ausgangspunkt ist der biblische Befund, die Abendmahlsberichte der synoptischen Evangelisten und des Paulus (1. Kor 5, 7), die den Zusammenhang zwischen Abendmahl und Pessachmahl vorgeben.173 Das alttestamentlich gegründete Gedenken des Pessach beschreibt Haarmann als eine lebendige, wechselseitige Beziehung zwischen Gott und Israel, Ausdruck der Bundestreue Gottes, „helfende Zuwendung zum Menschen, die für diesen lebensrettend bzw. lebenserhaltend ist“174. Zur Erinnerung an dieses helfende Handeln an Israel hat Gott das Pessachfest gestiftet, das Israel antwortend im Gedenken begeht.175 Indem Israel Pessach feiert und des Exodus gedenkt, vergewissert es sich seiner Herkunft und seiner Verwurzelung in der Bundesgeschichte und erlebt die Gegenwart als Teil dieser Geschichte.176 Im Gedenken wird die Geschichte Israels in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als Heilsgeschichte wahrgenommen und bekannt, die „im Kommen des einen Gottes zu den verschiedenen Zeiten, in seinem Bund mit Israel, in seiner Treue zu seinen Zusagen und damit in seinem verheißenen Kommen zu Israel von Generation zu Generation“177 gegründet ist. Wie das Gedenken an Pessach erweist sich auch das Gedenken im Abendmahl als lebendiges Beziehungsgeschehen. Die das Abendmahl feiernde Gemeinde kommt zum Gedenken an Christus Jesus und in sei-
Ebd. 35. Ebd. 40; Hervorhebung durch denselben. 173 Haarmann sieht auch Bezüge des Johannes-Evangeliums zu Pessach und begründet: Sowohl die Überlieferung der Fußwaschung (Jh 13, 1-20) als auch die Reden, in der sich Jesus als „Brot des Lebens“ bezeichnet (Jh 6, 4. 13, 1), berichten ausdrücklich von einem Geschehen, dass im Kontext des Pessachfestes steht. Vgl. ebd. 41-43. 174 Ebd. 64. 175 Vgl. ebd. 67. 176 Vgl. ebd. 276. 177 Ebd. 103; Hervorhebung durch denselben. 171 172
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nem Namen zusammen.178 Jedoch ist nicht das Gedenken der gläubigen Gemeinschaft Voraussetzung der Gegenwart Christi, vielmehr ist die Gegenwart Christi „oder präziser: der Christus praesens die unableitbare Voraussetzung des Gedenkens beim Abendmahl“179. Wie beim Gedenken Israels, bei dem „der ganze Passatag, die ganze Passa-Feier als ein Gedenken gefeiert [wird]“180, ist für die christliche Gemeinschaft die ganze Mahlhandlung Gedenken. Haarmann unterstreicht, dass das die ganze Feier durchdringende und umfassende Gedenken zeige, dass Jesus ganz in der anamnetischen Tradition des Judentums steht, wie es an Pessach seinen Ausdruck findet. Da „Jesus das Abendmahl mit den Zwölfen während des Passamahls und als Passamahl“181 feierte, habe er das Beziehungs- und Bundesgeschehen des Pessach auch dem Gedenken des Abendmahls zugrunde gelegt.182 Dabei sei das Gedenken des Exodus nicht ersetzt, „sondern durch den Christus Jesus um eine neue Dimension erweitert worden“183. Wenn die christliche Gemeinde das Abendmahl zu seinem Gedenken feiert, vergewissere sie sich, dass sie durch das in der Vergangenheit ergangene Wort Jesu Christi hinein genommen wurde in die Bundesgeschichte Gottes mit seinem Volk Israel und dass auch ihr in der Gegenwart die Verheißungen gelten. Die Frage, ob das Abschiedsmahl Jesu mit der Einsetzung des Herrenmahls auch historisch betrachtet ein Pessachmahl war, beantwortet Haarmann mit einem eindeutigen Ja und stützt sich hierbei insbesondere auf Jeremias.184 Indem er sich auf die Chronologie der Synoptiker beruft, benennt er als sein „Hauptargument“: Vgl. ebd. 271. Ebd. 302; Hervorhebung durch denselben. 180 Ebd. 269; Hervorhebung durch denselben. 181 Ebd. 272. 182 Vgl. ebd. 272. 183 Ebd. 272; Hervorhebung durch denselben. 184 Neben Jeremias, Abendmahlsworte, beruft sich Haarmann auf: Peter Stuhlmacher, Biblische Theologie des neuen Testaments Bd. 1, 2. durchges. Aufl. Göttingen 1997 und Bd. 2, Göttingen 1999; Ders., Das neutestamentliche Zeugnis vom Herrenmahl, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 84 (1987), 1-35; Otto Betz, Das Mahl des Herrn bei Paulus, in: Ders. (Hg.), Jesus, Der Herr der Kirche (WUNT 52), Tübingen 1990; Rainer Stuhlmann, Das Mahl des Herrn im Neuen Testament, in: Johannes Brosseder, Hans-Georg Link (Hgg.), Eucharistische Gastfreundschaft. Ein Plädoyer evangelischer und katholischer Theologen, Neukirchen-Vluyn 1999, 74-88. Haarmann benennt zudem mit Leo Baeck (Judentum, Christentum und Islam, in: Ders., Nach der Schoa – Warum sind die Juden in der Welt? Schriften aus der Nachkriegszeit, hg. von Albert H. Friedlander und Bertold Klappert, Gütersloh 2002, 472-489) 178 179
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Auf der Suche nach den jüdischen Wurzeln „Aus heutiger Sicht lässt sich kein Grund denken, der sie dazu bewogen haben könnte, die Überlieferung vom Abendmahl nachträglich (!) mit dem Passa in Verbindung zu bringen.“185
Die Chronologie des Johannes versteht er als „theologische Interpretation der synoptischen Tradition“186, die an Paulus (1. Kor 5, 7) anknüpft. Zudem sieht Haarmann – ebenfalls unter Berufung auf Jeremias – in dem Gebrauch von Deuteworten einen Beleg für den Zusammenhang von Abendmahl und Pessachmahl. Allerdings schränkt er ein: Von der Antwort auf die historische Frage dürfe nicht abhängig gemacht werden, ob christliche Theologie sich mit dem Passamahl als konstitutivem Rahmen des Abendmahls auseinander setzen müsse,187 denn: „Der inhaltliche Zusammenhang von Abendmahl und Passamahl ist uns durch das biblische Zeugnis vorgegeben, in erster Linie durch das Zeugnis der Synoptiker, aber auch durch das johanneische und das paulinische Zeugnis. Vom Gesichtspunkt einer biblischen Theologie her bedarf es deshalb keiner weiteren ‚Be-Gründung’ des Zusammenhanges von Abendmahl und Passamahl. Alle historischen Rekonstruktionsversuche können insofern nur Bemühungen sein, diesem biblisch vorgegebenen Zusammenhang ‚nach-zu-denken’.“188
Haarmann sieht es als gegeben an, dass es z. Zt. Jesu und damit z. Zt. des Zweiten Tempels bereits eine häusliche Mahlfeier gab, die Teil des Wallfahrtsfestes war und die durch eine – mündlich überlieferte – Haggada strukturiert und inhaltlich gefüllt war. Die Feier des Pessach beschreibt Haarmann wie folgt: Nachdem die Jüdinnen und Juden mit ihren Familien nach Jerusalem gepilgert waren, wurde im Tempel das vorgeschriebene Lamm geopfert. Anschließend „wurde im Kreis der Familie das Passamahl gefeiert, an dessen Ausrichtung und Gestaltung alle gemeinsam beteiligt sind. Auch den Kindern
und Schalom Ben-Chorin (Narrative Theologie des Judentums anhand der PessachHaggada. Jerusalemer Vorlesungen von Schalom Ben-Chorin, Tübingen 1985, 8f. 45) zwei jüdische Stimmen, die für einen Zusammenhang von Abendmahl und Sedermahl sprechen. Vgl. ebd. 45f. 185 Ebd. 52f. 186 Ebd. 53; Hervorhebung durch denselben. 187 Vgl. ebd. 44. 188 Ebd. 60.
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kommt eine wichtige Rolle zu: Sie stellen ihre Fragen zu den Besonderheiten des Passamahls und bekommen daraufhin von den Älteren die Geschichte von Gottes großen Taten beim Exodus erzählt.“ 189
Haarmann ist bewusst, dass für die angenommene Zeit der mündlichen Überlieferung vor der Niederschrift in der Mischna eine Rekonstruktion der Haggada „besonders für die frühe Zeit aufgrund der wenigen Quellen nur hypothetisch“190 ist. Er geht jedoch davon aus, dass die Mischna den Aufbau eines Sedermahls wiedergibt und diese bereits z. Zt. Jesu für die häusliche Feier mündlich tradiert wurde. Als Elemente setzt er die Fragen zu den Speisen und Besonderheiten der Pessachnacht, die Antworten und das Hallel voraus.191 Für die Folgezeit nach der Zerstörung des Tempels geht Haarmann davon aus, dass die Exoduserzählung zunehmend ins Zentrum der Feier gerückt sei und der Schwerpunkt sich bis zum Beginn des 3. Jh. von der gemeinsamen Mahlzeit zum gemeinsamen Gespräch verschoben habe.192 Haarmann beobachtet auch strukturelle Gemeinsamkeiten zwischen der Abendmahlsfeier und dem Pessachmahl. Als Beispiel zitiert er die Mischna (m Pes X4), die den Antworten des Vaters auf die Fragen der Söhne vorgibt: „Er beginnt mit dem Schändlichen und endet mit dem Lobenswerten.“193 Die Exodusgeschichte wird als Befreiungs- und Hoffnungsgeschichte erzählt, da sie mit Unterdrückung und Erniedrigung der Israeliten im Sklavendasein in Ägypten beginnt und mit dem Auszug in die Freiheit endet. Dieser Struktur folgt auch die Passionsgeschichte Jesu, da sie mit dem Tod am Kreuz beginnt und mit der Auferstehung endet. Haarmann resümiert: Der Haggada und der Passionsund Ostergeschichte ist gemeinsam, dass sie das befreiende Handeln Gottes verkündigen und einmünden in das Lob Gottes durch die Gemeinde.194 Gemeinsam ist der Pessachfeier und dem Abendmahl auch, dass Gedenken und Verkündigen zusammen gehören und einander bedingen, argumentiert Haarmann. „In Entsprechung zu und in Fortsetzung der 189 190 191 192 193 194
Ebd. 327. Ebd. 106. Vgl. ebd. 106. Vgl. ebd. 106ff. Die Mischna, 205; Hervorhebung durch E. H.. Vgl. Haarmann, Gedenken, 334f.
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Erzählung vom Exodus beim Passamahl als der grundlegenden Befreiungstat Gottes an seinem Volk Israel“195 habe die christliche Urgemeinde in der Feier des Abendmahls der Geschichte Jesu Christi gedacht, sie erzählt und verkündigt, wie sie sich in seiner Passion und Auferweckung von den Toten „zugespitzt und verdichtet hat“196: „Hat der Gott Israels im Exodus sein Volk Israel von der Sklaverei befreit, so hat er auch in der Geschichte seines Christus Jesus den Sieg über den Tod errungen.“197
Diese erzählende Verkündigung der Geschichte Jesu Christi, die „keinesfalls distanziert-betrachtend, sondern aus der Perspektive eines Beteiligten, der sich selbst in die von ihm bezeugte Geschichte Gottes mit seinem Volk Israel hineingestellt sieht“198, bezeichnet Haarmann als „die christliche Abendmahls-Haggada, erfolgt als Ergänzung und Erweiterung der Passa-Haggada, der Verkündigung der Exodus-Geschichte beim Passamahl“199. Durch zunehmende christliche Entfernung vom Pessachmahl sei die erzählende Verkündigung in den Hintergrund getreten. Dieses habe den Abendmahlsfeiern Lebendigkeit genommen.200 Der ursprüngliche Reichtum der Abendmahlsfeiern könnte jedoch erneut zum Tragen kommen, „wenn sie jeweils mit der Abendmahls-Haggada, mit einer erzählenden Verkündigung verbunden wären“201.
3. Neue Erkenntnisse in der historischen Sederforschung In den letzten zwei Jahrzehnten wurden verschiedene liturgiewissenschaftliche Arbeiten veröffentlicht, die die Entstehung des Sedermahls und die den Ablauf dieser Feier ordnende und inhaltlich füllende Haggada im Licht neuer Erkenntnisse beleuchten. Sie bewerten die vorhandene Quellenlage neu und gehen u. a. der Frage nach, welche gesicherten Aussagen über das Pessachmahl z. Zt. des Zweiten Tempels und über die Entstehung des Seder getroffen werden können. Dabei be195 196 197 198 199 200 201
Ebd. 336. Ebd. 335. Ebd. 335. Ebd. 333. Ebd. 336; Hervorhebung durch denselben. Vgl. ebd. 335ff. Ebd. 338.
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stimmt auch die Frage nach einem als historisch angenommenen – oder in Frage gestellten – Zusammenhang zwischen dem Pessachmahl bzw. dem Sedermahl und dem Abendmahl die Untersuchungen bzw. Veröffentlichungen.
3.1 Günter Stemberger: Pessachhaggada und Abendmahl In der Veröffentlichung „Pesachhaggada und Abendmahlsberichte des Neuen Testaments“202 greift Günter Stemberger den in der exegetischen Forschung vertretenen Zusammenhang von Pessach bzw. Seder Pessach und Abendmahl auf und fragt nach gesicherten Quellen zum Ablauf des Pessachmahls vor der Zerstörung des Tempels. Dabei geht er vom Text der Haggada selbst aus und setzt zeitlich im Mittelalter an, aus dem die ältesten Textzeugen stammen.203 Anhand verschiedener Elemente der Haggada verfolgt er ihre Entstehung und fragt nach gesicherten Erkenntnissen, die ihre Verbindung mit dem Abendmahl rechtfertigen. x Stemberger spricht u. a. den aramäisch verfassten Text „Dies ist das Brot der Armut …“204 an, der auf die Deuteworte bezogen wird, die von Jesus beim Abschiedsmahl über das Brot gesprochen wurden. In der neutestamentlichen Forschung wird die aramäische Sprache als Zeichen von hohem Alter gedeutet. Nach Stemberger ist dieser Textabschnitt u. a. bei Maimonides (12. Jh.) belegt, fehlt aber bei älteren Textzeugen.205 Noch aus dem frühen Mittelalter gebe es Quel-
202 Günter Stemberger, Pesachhaggada und Abendmahlsberichte des Neuen Testaments, in: Kairos 29 (1987), 147-158. 203 Vgl. ebd. 148. Stemberger verweist auf Fragmente aus der Geniza in Kairo, deren Einzeldatierung allerdings problematisch sei, sowie auf das Responsum des Rab Amram Gaon aus dem 9. Jh. und auf einen Text des Maimonides aus dem 12. Jh.. 204 „Dies ist das Brot der Armut, das unsere Väter im Land Ägypten gegessen haben. Jeder, der hungrig ist, komme und esse, jeder, der bedürftig ist, komme und halte Pesach. Dieses Jahr hier, das kommende Jahr im Lande Israel; dieses Jahr als Knechte, das kommende Jahr als Freie.“ Der Textabschnitt aus der Haggada wird nach dem Brechen der mittleren Mazze bei der Präsentation des Sedertellers gesprochen. 205 Stemberger verweist u. a. auf den Text der Dropsie-Universität in Philadelphia, nachgewiesen in: E. D. Goldschmidt, The Passover Haggadah. Its Sources and History (hebr.), Jerusalem 1960, 75-84, und auf die von I. Abrahams untersuchten Fragmente 2 und 12 der Pessach Haggada, nachgewiesen in: Ders., Some Egyptian Fragments of the Passover Haggada, JQR 10 (1898), 41-51.
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len, „welche die Aufforderung zur Teilnahme am Mahl enthalten, die Deuteformel nicht aufweisen“206. Stemberger folgert: „Die aramäische Sprache ist nicht automatisch ein Zeichen des hohen Alters, sondern kann umgekehrt auch auf gaonäische Zeit verweisen. Damit fehlt jeglicher Beweis, dass Deuteworte zum frühesten Bestand der Pesachhaggada gehören. Damit ist aber auch das Verständnis der Deuteworte Jesu im Abendmahlsbericht auf diesem Hintergrund nicht zu rechtfertigen.“207
x Stemberger beleuchtet die vier Fragen, die die Söhne während des Sedermahls stellen und zeichnet ihre wechselvolle Entwicklung nach. Eine Reihe von drei Fragen war bereits in der Mischna enthalten, in der Reihenfolge: „Warum taucht man ein, warum isst man nur ungesäuertes Brot und warum isst man nur gebratenes Fleisch […]“208. Bei der Weiterentwicklung der Haggada wurde die Reihenfolge umgestellt. Die Frage nach dem ungesäuerten Brot rückte an die erste Stelle, die Frage nach dem gebratenen Fleisch wurde durch die Frage nach den Bitterkräutern ersetzt und schließlich die Anzahl auf vier Fragen ausgeweitet. Stemberger schließt aus der Textgeschichte der Fragen, dass diese aus der rabbinischen Tradition in die Haggada eingeflossen und Ausdruck eines für die Rabbinen typischen Schrift- und Toraverständnisses seien.209 x Entscheidend für die Datierung der drei pflichtgemäß zu erwähnenden Pessachsymbole – Pessach (Lamm), Mazze und Maror – ist die Frage, ob sie von Rabban Gamaliel I.210 oder dessen Sohn, Rabban Gamaliel II.211 stammen. Stemberger geht davon aus, dass dieStemberger, Pesachhaggada, 149. Ebd. 149. 208 Ebd. 149f. 209 Vgl. ebd. 149-151. 210 Rabban Gamaliel ben Simeon I. war ein Enkel des Hillel, der im 2. Drittel des 1. Jh. im Geist des Hillel wirkte. Er amtierte auch als Oberhaupt des Obersten Gerichts. Vgl. Redaktion, Art. Gam(a)liel ben Simeon I., in: Julius H. Schoeps (Hg.), Neues Lexikon des Judentums, München 1992, 160f. 211 Rabban Gamaliel II., Sohn des Rabban Gamaliel I., lebte zur Zeit der Zerstörung des Tempels und des Verlustes der jüdischen Souveränität. In den Jahren ca. 80 – 115 wirkte er als Patriarch des Lehrhauses in Jabne. Er galt als inoffizieller Repräsentant der Juden bei der römischen Obrigkeit und als Integrationsfigur, die unter schwierigen Bedingungen um die jüdische Einheit kämpfte. Er war bestrebt, die Vielfalt der rabbinischen Toraauslegung auf 206 207
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ser Brauch Rabban Gamaliel II. zuzuschreiben ist, der Ende des 1. bis Anfang des 2. Jh. d. Zt. wirkte, also nach der Zerstörung des Zweiten Tempels.212 x Markus (14, 26) überliefert: „Und als sie den Lobgesang gesungen hatten, gingen sie hinaus zum Ölberg.“ Dieses wird oft als Beweis gedeutet, dass bei Jesu Abschiedsmahl wie an Pessach das Hallel (Ps 113 – 118) rezitiert und – wie in der Haggada vorgegeben – mit den Dankpsalmen (Ps 115 – 118) das Mahl beendet wurde.213 Da es keinerlei Quellen gibt, die nachweisen, seit wann und zu welchem Anlass das Hallel auch außerhalb des Tempels gesungen wurde, beurteilt Stemberger die Behauptung, Jesus habe das Hallel gesungen, als nicht belegt.214 Stemberger stellt fest, dass es keine Schilderung des Seder Pessach gibt, die älter ist als der Mischnatext. Zwar gebe es aus dem Exil dürftige Informationen über ein festliches Mahl mit Osterlamm und ungesäuertem Brot, begleitet von Gebeten und Gesängen. Den Schluss, dass Jesus beim Abschiedsmahl Seder feierte, ließen diese Berichte nicht zu, da es keine Hinweise auf ein geprägtes Brauchtum oder eine Haggada gebe. Da es also keine Quellen über den Ablauf des Pessachmahls vor 70 d. Zt. oder dabei verwendete Texte gibt, folgert Stemberger, dass eine allgemeine Feier des Seder „erst nach der bleibenden Zerstörung des Tempels“215 angenommen werden kann. „Somit ist deutlich: Pes X oder die Pesachhaggada können nicht als Hintergrund für das Verständnis der Abendmahlsberichte verwendet werden. […] Dieser Schluss soll nicht davon abhalten, jüdisch-theologische Vorstellungen im Zusammenhang mit Pesach für die gedankliche und atmosphärische Kennzeichnung der neutestamentlichen Texte zu vereine einheitliche Praxis zu bringen und gewann Bedeutung durch religionsgesetzliche Festlegungen. Seine Lehrtätigkeit und Amtsführung stellte wichtige Weichen zur halachischen Entwicklung im Hinblick auf die spätere Mischna. Vgl. Nico Oswald, Art. Gamliel (Gamaliel) II., in: TRE 12 (1984), 23-25; ebenso: Redaktion, Art. Gam(a)liel II., in: Julius H. Schoeps (Hg.), Neues Lexikon des Judentums, München 1992, 161f. 212 Vgl. Stemberger, Pesachhaggada, 153f. Mit dieser Feststellung widerspricht Stemberger u. a. Jeremias, der die Aufforderung, an Pessach drei Dinge zu erwähnen, Rabban Gamaliel I. zuschreibt und um 30 d. Zt. datiert. Vgl. Jeremias, Abendmahlsworte, 50. 213 Vgl. Jeremias, Abendmahlsworte, 49. 214 Vgl. Stemberger, Pesachhaggada, 154f. 215 Ebd. 157.
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Auf der Suche nach den jüdischen Wurzeln wenden. In Bezug auf eine konkrete Pesachliturgie sollte man aber viel vorsichtiger sein, als dies gewöhnlich der Fall ist.“216
3.2 Michael Hilton: „Wie es sich christelt, so jüdelt es sich“ In seinem Buch „Wie es sich christelt, so jüdelt es sich“217 beschreibt der englische Rabbiner Michael Hilton die vielfältigen christlichen Einflüsse auf jüdische Rituale und auf die jüdische Liturgie, und widerspricht einem Zusammenhang von Sedermahl und Abendmahl vehement. Als Entstehungszeit für das in den Familien gefeierte Mahl am Pessachabend setzt Hilton die Zeit nach 70 an, als mit der Zerstörung des Zweiten Tempels „und dem damit verbundenen Verlust der priesterlichen Rituale und der Tieropfer“218 das Hauptritual des Pessachfestes unmöglich geworden war. Die häusliche Feier des Seder ersetzte das Tempelopfer: „Der Zeitpunkt für das Sedermahl gründet sich auf den Zeitpunkt für das Tempelopfer. Ungesäuertes Brot und bittere Kräuter sind nun nicht mehr nebensächlich, sondern sie wurden zum Hauptkennzeichen des Festes. Die Fragen der Kinder stehen nun am Anfang eines intellektuellen Austauschs. Die Lobpsalmen, das sogenannte Hallel, die man früher im Tempel sang, fanden Eingang in die häusliche Feier. Eine lange Ausführung über einen Bibeltext aus dem Buch Deuteronomium rückte ins Zentrum der Feier. Das Verständnis über Erlösung wurde ausgeweitet. Es geht nicht nur um die Erlösung von der Sklaverei der Vergangenheit, sondern auch von der Sklaverei der Gegenwart: ‚Dieses Jahr als Sklavinnen und Sklaven, und nächstes Jahr als freie Menschen.’ Schließlich war die Einführung eines festen Formulars von Lobsprüchen ein wichtiges Element. Für jene, die keinen Tempel mehr hatten, wurde der Lobspruch zur Vergewisserung, dass religiöse Handlungen eine Erfahrung des Göttlichen ermöglichten.“219
Im 1. Jh. d. Zt. entstanden zwei Mahlfeiern des Gedenkens, Abendmahl und Sedermahl, verbunden durch die gemeinsame Erfahrung eines VerEbd. 157. Hilton, Wie es sich christelt, 2000. 218 Ebd. 49. 219 Ebd. 49f. Hierbei beruft sich Hilton auf die Arbeit von Baruch M. Bokser, The Origins of The Seder. The Passover Rite and Early Rabbinic Judaism, Berkeley 1984, und entwickelt seinen Ansatz weiter. 216 217
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lustes. So wie die Juden die Zerstörung ihres zentralen Heiligtums verarbeiten mussten, hatten die ersten Christen/innen den Tod Jesu zu bewältigen. Beide Gemeinschaften gingen den Weg eines Erinnerungsmahls und beide wiesen Speisen symbolische Bedeutung zu. Rückschlüsse auf die Entstehung des Abendmahls ermöglicht das Sedermahl nicht, betont Hilton. Denn nicht alles Jüdische sei grundsätzlich älter als christliche Traditionen. In der Verbindung von Pessachmahl und Abendmahl in den Evangelien sieht Hilton eine spätere Hinzufügung zur theologischen Deutung des Todes Jesu.220 Zum Beleg verweist er auf den ersten Brief des Paulus an die Korinther, der weder einen Hinweis auf Pessach noch auf eine Sedermahlzeit oder auf Speisen neben Brot und Wein enthält.221 Hilton selbst folgt der Chronologie des Evangelisten Johannes, nach der Jesus am Rüsttag des Pessach starb.222 Dass erste Ansätze des Seder bereits in der Zeit des Tempels liegen, hält Hilton für möglich, als Feier „in jenen Familien, die nicht nach Jerusalem reisen konnten, und deshalb begannen, das Hallel zuhause zu rezitieren“223. Doch erst in den Jahren nach 70 d. Zt., „als das tatsächliche Pessachlamm nicht mehr gegessen werden konnte, entstand das Bedürfnis, es durch Symbole zu ersetzen“224. Daher können vielen Elementen des Seder Pessach Entstehungsdaten zugewiesen werden, die „seinen tatsächlichen Ursprung im späten 1. und 2. Jh. der christlichen Zeitrechnung“225 nachweisen, teilweise auch später. Als Elemente, die erst in die Haggada Eingang fanden, nachdem die Mischna um 200 redigiert worden war, benennt Hilton u. a.: x Beim Text: „Dies ist das Brot des Elends …“ geht es „nicht nur um biblische Vergangenheit, sondern um die Schwierigkeiten des geVgl. ebd. 46. Die Entstehungszeit des Markus-Evangeliums als ältesten der Evangelien liegt um 70 d. Zt.. 221 1. Kor 11, 23f: „Denn ich habe von dem Herrn empfangen, was ich euch weitergegeben habe: Der Herr Jesus, in der Nacht, da er verraten ward, nahm er das Brot, dankte und brach es und sprach: Das ist mein Leib, der für euch gegeben wird; das tut zu meinem Gedächtnis. Desgleichen nahm er auch den Kelch nach dem Mahl und sprach: Dieser Kelch ist der neue Bund in meinem Blut; das tut, sooft ihr daraus trinkt, zu meinem Gedächtnis.“ 222 Vgl. Hilton, Wie es sich christelt, 49. 223 Ebd. 54. 224 Ebd. 54. 225 Ebd. 64. 220
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genwärtigen Lebens“226, so Hilton. Der Text, der noch nicht in der Mischna enthalten ist, habe während einer Zeit des Exils und der Verfolgung in die Haggada Aufnahme gefunden und drücke die Hoffnung aus, dass Gott seinem Volk helfe, wie er ihm einst in Ägypten geholfen habe.227 x Die Fragen der Söhne sind noch nicht normiert. In der Mischna heißt es lediglich: „Und dann fragt der Sohn seinen Vater. Aber wenn [noch] kein Verständnis bei dem Sohn [vorhanden ist], belehrt ihn sein Vater.“ Die im Folgenden genannten Fragen entsprechen nicht den heute rezitierten.228 x Den Grund für einen generellen Verzicht auf das Essen des gerösteten Lamms nach 70 d. Zt. sieht Hilton nicht nur darin, dass „die Mehrheit der Rabbinen […] die Fortsetzung des Lamm-Rituals ohne den Tempel nicht [erlaubte]“229. Da das Lamm bereits im 2. Jh. in der christlichen Tradition an Bedeutung gewann, habe das Judentum auch aus diesem Grund auf den Verzehr von Lammfleisch verzichtet.230 Demnach ist der Verlust des Lamms beim Sedermahl auch das Resultat einer konkurrierenden Auseinandersetzung mit dem Christentum. 231 Hilton folgert, dass in christlichen Gemeinden gefeierte Sederfeiern eine historisch nicht mögliche Rekonstruktion des Letzten Abendmahls seien. „Die Berichte der Evangelien über das ‚Abendmahl’ und die rabbinische Beschreibung des Seder sind zwei unterschiedliche, völlig unvereinbare Ansätze verschiedener Gemeinden, um mit einem Verlust fertig zu werden – mit dem Verlust von Jesus, dem Verlust des Tempels, dem Verlust Jerusalems.“232
Ebd. 55. Vgl. ebd. 55. Einen genauen Zeitpunkt, wann der Text in die Haggada aufgenommen wurde, nennt Hilton nicht. 228 Vgl. ebd. 52. 229 Ebd. 52. 230 Hilton verweist darauf, dass „durch die falsche Herleitung von dem griechischen Verb pas-cho, das ‚leiden’ bedeutet, […] in der kirchlichen Tradition die Bedeutung ‚leidendes Lamm’ anstelle von ‚Pessach Lamm’ [erhielt].“ Ebd. 56; Hervorhebung durch denselben. 231 Vgl. ebd. 55. 232 Ebd. 50. 226 227
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Für ihn steht fest, dass christliche Gemeinden in die Irre gehen, wenn sie glauben, dass sie mit der Feier des Seder etwas über die christlichen Wurzeln des Abendmahls erfahren. Im Gegenteil: „Auch wenn man aus der heutigen Sederfeier nicht auf die Ursprünge des Christentums schließen kann, so erfährt man doch umgekehrt einiges aus den Evangelien über die Ursprünge des Seder.“233
In den von christlichen Gemeinden gefeierten Sederfeiern sieht er die Gefahr eines weiteren Trennungsgrundes erwachsen. Denn: „Der echte Dialog verlangt, dass wir zu verstehen versuchen, wie jede Gemeinschaft mit der Tradition ihrer eigenen Texte lebt. Er verlangt nicht, dass wir die Texte eines anderen Glaubens in unsere eigene Tradition einpassen.“234
Den christlichen Einfluss auf die Entstehung des Seder schätzt Hilton insgesamt als deutlich gegeben ein: „Nirgends wird die rivalisierende Glaubensgemeinschaft am Sedertisch erwähnt, doch das gesamte Ritual hätte sich vollkommen anders entwickelt, wäre Pessach von der Kirche nicht mit dem letzten Mahl Jesu mit seinen Jüngern in Verbindung gebracht worden.“235
3.3 Israel Yuval: „Zwei Völker in deinem Leib“ Israel J. Yuval stellt in seiner Arbeit „Zwei Völker in deinem Leib“236 die Frage nach der gegenseitigen Wahrnehmung und Bezugnahme von Judentum und Christentum aufeinander, nach „Dis- und Missinformation bei der Herausbildung der Eigen- und Fremddefinition“237. Die biblische Erzählung von Jakob und Esau, die mit späteren Konfrontationen belastet ist, zieht sich als roter Faden durch seine Arbeit. Esau, der Ältere, soll Jakob, dem Jüngeren, dienen.238 Christentum und Judentum stritten in Ebd. 51. Ebd. 51. 235 Ebd. 64. 236 Yuval, Zwei Völker, 2007. 237 Ebd. 15. 238 „Isaak aber bat den Herrn für seine Frau, denn sie war unfruchtbar. Und der Herr ließ sich erbitten, und Rebekka, seine Frau, ward schwanger. Und die Kinder stießen sich miteinander in ihrem Leib. Da sprach sie: Wenn mir es so gehen soll, warum bin ich schwanger 233 234
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der Vergangenheit darum, wer Jakob und wer Esau, wer der Erwählte und wer der Verworfene sei.239 In dieser Auseinandersetzung entstand die jeweilige Eigen- und Fremddefinition im gegenseitigen Ringen, „spiegelt sich die allmähliche Konsolidierung des Selbstverständnisses und damit auch die Definition des Anderen, des Verfolgers und Widersachers“240. An den Anfang seiner Arbeit stellt Yuval die Frage: Wer beeinflusste wen? Er bezieht sich auf das mittelalterliche Europa und antwortet mit einer Grundvoraussetzung: „Wo immer Ähnlichkeiten zwischen Judentum und Christentum zu beobachten sind, dürfte es sich um christlichen Einfluss auf das Judentum handeln und nicht umgekehrt, es sei denn, die jüdischen Wurzeln des betreffenden Phänomens liegen nachweislich früher als die christlichen.“241
Die Kultur der Minderheit neigt dazu, sich Elemente der Mehrheitskultur anzueignen, begründet Yuval seine Thesen. Daher habe die jüdische Gemeinschaft, die im christlichen Europa lebte, Werte, Körpersprache, Rituale und Festzeiten von der christlichen Umwelt aufgenommen. Christentum und Judentum entstanden in gegenseitiger Abgrenzung. „Jude sein bedeutete im tiefsten Sinne die Etablierung einer religiösen Alternative zum Christentum, und umgekehrt. Oder um mit Jakob Katz zu sprechen: Damit die eine Religion Wahrheit sein konnte, musste die andere Lüge sein.“242
Wer dauerhaft im Schatten einer dominanten Religion lebt, ist dem Einfluss der Mehrheitskultur permanent ausgesetzt. Dieses führt zwangsläufig dazu, dass die Trennwände zwischen den Religionen in beide Richtungen durchlässig werden.243 Die Auseinandersetzungen zwischen Judentum und Christentum beschreibt Yuval als beidseitig Einfluss neh-
geworden? Und sie ging hin, den Herrn zu befragen. Und der Herr sprach zu ihr: Zwei Völker sind in deinem Leibe; und ein Volk wird dem anderen überlegen sein, und der Ältere wird dem Jüngeren dienen.“ 1. Mose 25, 21-23. 239 Vgl. Yuval, Zwei Völker, 30. 240 Ebd. 15. 241 Ebd. 35. 242 Ebd. 39. 243 Vgl. ebd. 35f.
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mende und prägende Kraft, wobei die Einflussnahme des Christentums auf das Judentum bis „an die Grundfeste der religiösen Existenz“244 rührte. In der Konsequenz erfordere dieses eine grundlegende Revision der Entstehungsmodelle von Christentum und Judentum. Yuval spricht von Schwesterreligionen, denn beide haben dieselben Wurzeln, beide haben in derselben Periode und unter denselben Bedingungen von Unterdrückung und Zerstörung Gestalt angenommen und sind Tochterreligionen der auf den Tempel ausgerichteten jüdischen Religion.245 Yuval plädiert für eine grundlegende Revision des Mutter-TochterModells, die den Blick dafür schärfe, dass bei Übereinstimmungen nicht grundsätzlich die jüdische Tradition die ältere sei. Dieses gelte auch für die Datierung der Haggada und ihrer einzelnen Elemente. Nach seiner Beurteilung ist diese das Ergebnis eines überwiegend polemischen christlich-jüdischen Dialogs, der nach dem Verlust der zentralen jüdischen Kultstätte und der Vertreibung der Jüdinnen/Juden aus Jerusalem der Identitätsbestimmung nach innen und der Abgrenzung nach außen diente.246 Z. B. reflektieren verschiedene Komponenten der Haggada einen bewussten Versuch, die jüdische Interpretation von Pessach gegen die christliche Alternative, das Osterfest, zu behaupten.247 Mit der Forderung, sich an Pessach zum Pessach-Opfer, zu Mazze und Bitterkraut zu bekennen, verlangte Rabban Gamaliel „von jedem einzelnen ein Bekenntnis zum jüdischen Verständnis des Festes, womit die anderslautende christliche Deutung ausgeschlossen wird“248. Das richtige Verständnis der Festsymbole diente als Abgrenzung gegen Judenchristen und als Beleg zur Zugehörigkeit zur richtigen Religion. Das Lesen der Haggada wurde somit zu einem Versprechen der Treue gegenüber der jüdischen Religion, so Yuval. 249 Ebd. 37. Yuval benennt Beispiele für den Einfluss des Christentums auf heilige Texte des Judentums. So beruhe das rabbinische Verbot, die mündliche Lehre schriftlich zu fixieren, auf der Sorge, durch die Verschriftlichung könnte die Lehre aus dem innerjüdischen Kontext gelöst und universalisiert werden, so wie es der Hebräischen Bibel durch die Kanonisierung der Septuaginta im christlichen Bereich widerfahren ist. Vgl. ebd. 38. 245 Vgl. ebd. 40; ebenso: Ders., Easter and Passover as early Jewish-Christian Dialogue, in: Paul F. Bradshaw, Lawrence A. Hoffman (Eds.), Passover and Easter. Origin and History to Modern Times, Notre Dame Indiana 1999, 98-124, hier: 103f. 246 Vgl. ebd. 99. 247 Vgl. ebd. 99. 248 Ebd. 87. 249 Vgl. ebd. 87. 244
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Die Entstehung der Haggada rekonstruiert Yuval wie folgt: Die Pessachfeier bestand z. Zt. des Zweiten Tempels aus zwei Teilen, dem Opfermahl und der Rezitation der Hallel-Psalmen (Ps. 113 – 118). Die erste Generation nach der Zerstörung des Tempels bis zum Anfang des 2. Jh. verzehrte an Pessach ein Ziegenböckchen, wobei die ganze Nacht bis zum Hahnenschrei die Opfervorschriften memoriert und ausgelegt wurden, wie die Tosefta vorschreibt.250 In der Folgezeit nahmen die Rabbinen vom Festopfer Abstand und konzentrierten sich auf die Exodus-Erzählung, wie die Mischna (mPes X) andeutet. Von dieser Ausgangslage aus entwickelte sich eine Familienfeier, in der die Mitteilung des Überlieferten an die Kinder in den Mittelpunkt rückte. Zeitgleich entwickelte die Christenheit ein christologisches Verständnis des Exodus (Ex 12). Damit waren die christlichen Feiern (Ostern und Abendmahl) und der jüdische Seder Pessach deutlich von einander abgegrenzt. Das Judentum erzählte von der Befreiung aus der Sklaverei Ägyptens, die Christenheit vom Erlösungsgeschehen in Jerusalem.251 Seine These, dass das Christentum prägenden Einfluss auf jüdische Traditionen genommen hat, untermauert Yuval u. a. mit zwei Beispielen. Die sog. Improperien, die „Heilandsklagen“ aus der katholischen Karfreitagsmesse und das Gebet Dayyenu aus der Haggada zeigen bis in die heute gültige Fassung hinein unverkennbare Ähnlichkeiten. Die Improperien beklagen die Undankbarkeit des Volkes Gottes, indem sie im Einzelnen die Wohltaten Gottes bei der Rettung aus der ägyptischen Sklaverei auflisten und fragen: „Was hätte ich dir mehr tun sollen und tat es nicht?“252 Der älteste Nachweis der Improperien stammt aus der Osterpredigt des Meliton von Sardes aus dem 2. Jh.. In dem als liturgischem Gesang vorgetragenen Dankgebet Dayyenu werden die Wohltaten, die Gott dem Volk Israel während des Exodus erwiesen hat, im einVgl. ebd. 100; ebenso: Ders, Easter, 113f. Vgl. ebd. 100. 252 Schott, Anselm OSB, Das Messbuch der heiligen Kirche. Der große Wochenschott Teil 1. Advent bis 13. Woche im Kirchenjahr. Originaltexte der authentischen deutschen Ausgabe des Messbuchs und des Lektionars. Mit Einführungen hg. von den Benediktinern der Erzabtei Beuron, Freiburg – Basel – Wien 1975, 202-205. Die Improperien aus der Osterpredigt klagen: „Undankbares Israel, […]. Wie hoch veranschlagst du die zehn Plagen? Wie hoch veranschlagst du die nächtliche (Feuer-) Säule und die Wolke bei Tag und den Durchzug durch das rote Meer? Wie hoch veranschlagst du die Mannagabe vom Himmel und die Wassergabe aus dem Felsen und die Gesetzgebung am Horeb und die Erbschaft des Landes und die Gaben daselbst?“ Ebd. 250 251
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zelnen aufgezählt und mit dem Ruf „dayyenu, das hätte uns genügt“ beantwortet. Der früheste Nachweis des Dayyenu stammt aus dem 10. Jh..253 Yuval geht zwar davon aus, dass das Dayyenu vor dem 10. Jh. entstanden ist, merkt aber kritisch an, dass ein jüdischer Text, dessen erster uns bekannter Beleg aus dem 10. Jh. stammt, nicht als Quelle für einen christlichen Text aus dem 2. Jh. angesetzt werden kann. Daher geht er davon aus, dass das Dayyenu als Reaktion auf christliche Vorwürfe entstanden ist. Die Improperien als der ältere Text warfen dem jüdischen Volk Undankbarkeit vor. Im Dayyenu erwiesen sie sich als dankbares Volk und widerlegten den Vorwurf.254 Auch der Text „Dies ist das Brot des Elends …“ steht nach Yuval für ein dialogisches Verhältnis zwischen Juden und Christen. Dass diese Eröffnungsformel aus der Haggada schon z. Zt. Jesu existierte und Vorbild für die Einsetzungsworte war, hält er für unwahrscheinlich, da der Text weder in der Tosefta noch in der Mischna überliefert ist. Daher geht er auch hier von dem christlichen Text als dem älteren aus, der den jüdischen geprägt hat.255 Yuval ruft in seinen Arbeiten zu großer Vorsicht bei der Übernahme zeitlicher Einordnungen auf und fragt in jedem Einzelfall nach Quellen und Nachweisen für angenommene Datierungen. Diese seien oft geprägt von theologischen oder historischen Vorentscheidungen, z. B. von der Substitutionstheorie und/oder dem Mutter-Tochter-Modell. Solche Modelle setzen voraus, dass das frühe Christentum stets der nehmende und das Judentum grundsätzlich der gebende Teil war. Dieses verschließe den Blick für parallele Entwicklungen, gegenseitige Einflussnahmen und Gemeinsamkeiten auf den jeweiligen Wegen.256
3.4 Clemens Leonhard: Die Ursprünge des Seder Pessach „Die Pesachhaggada gehört zu den bedeutendsten Texten des Judentums. Ihr überzeitlicher Stil, ihre Anknüpfung an alte Traditionen und ihre hohe
Vgl. Yuval, Zwei Völker, 83. Der älteste Beleg stammt nach Yuval aus der Pessach-Haggada des Rav Saadja Gaon aus der 1. Hälfte des 10. Jh., wo das Dayyenu unter den Zusätzen steht, also kein fester Bestandteil der Haggada ist. 254 Vgl. ebd. 84f. 255 Vgl. ebd. 85f. 256 Vgl. ebd. 81-90; ebenso: Ders., Easter, 103. 253
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Auf der Suche nach den jüdischen Wurzeln Bedeutung in der Liturgie scheinen für ihren Ursprung in historisch kaum erreichbaren Tiefen der biblischen Geschichte zu sprechen.“257
Mit diesen Worten spricht der Liturgiewissenschaftler Clemens Leonhard Veröffentlichungen an, die die zentralen Elemente der Haggada bereits im 3. Jh. v. d. Zt. als vorhanden einstufen.258 Texte der jüdischen Liturgie und damit auch die Haggada seien schwer zu datieren, ein Faktum, das häufig als Beleg für ein hohes Alter gewertet werde mit der Folge, dass sie als Grundlage christlicher Texte angesehen werden.259 Eine exaktere Datierung wäre für die christliche Liturgie von Interesse und hätte wichtige Konsequenzen für das Verständnis gegenseitiger christlich-jüdischer Einflüsse. 260 Leonhard trägt Quellen und Sachverhalte zusammen, die eine frühe Datierung des Seder Pessach in die Zeit des 1. Jh. bzw. in die Zeit vor Christus in Frage stellen. So sei es erstaunlich, dass die Beschreibung des Seder Pessach in der Mischna außer den ungesäuerten Broten und Bitterkräutern keine rituellen Elemente des ägyptischen Pessach enthält. Weder werden hastiges Essen noch Wanderkleidung oder der Stock in den Händen der Teilnehmenden, die das Ur-Pessach charakterisieren, erwähnt. Bei dieser ältesten Form des Seder in der Mischna besitzt also die Erzählung des ägyptischen Pessach (Ex 12) weder als Text noch als Vorlage für den Ablauf des Pessachmahls Bedeutung. Des Weiteren stellt Leonhard fest, dass der Talmud nicht nur eine zunehmende Ritualisierung belege, wie es das Pessachmahl mittels der Haggada erfahren hat. Texte des babylonischen Talmud, die im frühen 4. Jh. anzusiedeln sind, versuchen, durch das Provozieren spontaner Fragen eine Standardisierung auszubremsen.261 Mit der Vorgabe, dass Leonhard, Älteste Haggada, 201. Vgl. ebd. 201 und Anm. 2. Leonhard verweist auf Finkelstein, der in der Haggada Spuren einer politischen Auseinandersetzung aus der Seleukidenzeit sah. Vgl. Louis Finkelstein, The Oldest Midrash: Pre-Rabbinic Ideals and Teaching in the Passover Haggada, in: HThR 31 (1938), 291-317 (zitiert nach Leonhard, ebd.). 259 Vgl. ebd. 201. 260 Vgl. ebd. 201f. 261 Spontane Fragen werden in den von Leonhard benannten Texten des Talmud (bPes 115b und bPes116a nach der Handschrift München 95; in: Ders., Die Ursprünge der Liturgie des jüdischen Pesach und das christliche Osterfest, in: Albert Gerhards, Hans Hermann Henrix (Hgg.), Dialog oder Monolog? Zur liturgischen Beziehung zwischen Judentum und Christentum, Freiburg 2004, 150-166, Anm. 9 und 10) durch ungewöhnliche und für die Teilnehmenden überraschende Aktionen provoziert. Im ersten Text werden unberührte Speisen 257 258
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der Vater den Sohn gemäß seiner Einsicht belehren soll,262 sage die Mischna (mPes X4) selbst, „dass es nicht die Intention der Redaktoren der Mischna war, einen festen Ritus vorzuschreiben“263. Leonhard schließt daraus, dass es noch zu Beginn des 4. Jh. „ein standardisiertes und als solches weit verbreitetes Pesachritual nicht gab“264. Der Annahme einer bereits z. Zt. Jesu entfalteten Sederliturgie bzw. einer zumindest in zentralen Bausteinen vorhandenen Haggada stellt Leonhard ein vierstufiges Entwicklungsmodell gegenüber. Stufe 1: Durch die Zerstörung des Zweiten Tempels verlor Israel die Möglichkeit, Opfer darzubringen und rituell zu schlachten. Daher lehnten es die Rabbinen ab, weiterhin geröstetes Lamm beim Pessachmahl zu verzehren.265 Die Tosefta (tPes 10, 12)266, die ein älteres Stadium der Sederfeier als die Mischna bewahrt, berichtet, dass an die Stelle der Tempelliturgie zunächst das Studium der Pessachgesetze trat. Sie legt fest, dass ein Mensch verpflichtet ist, „sich die gesamte Nacht bis zum Hahnenschrei mit den Gesetzen des Pessach zu beschäftigen – sogar mit seinem Sohn – sogar er allein – sogar mit seinem Schüler“267. Mit diesen Worten verlangt sie, durch die geistige Beschäftigung mit der Opferliturgie die biblische Verpflichtung zu erfüllen.268 Das Gespräch mit dem Sohn ist hier noch nicht die Regel, vielmehr ein Sonderfall („– sogar mit seinem Sohn –“) neben dem Gespräch mit dem Schüler oder auch dem Studium ohne Diskussion mit anderen.269 Auf eine Fortsetzung des Pessachmahls wurde bewusst verzichtet, da dieses als Bestandteil der (nicht mehr möglichen) Tempelliturgie verstanden wurde.270 Stufe 2: Die Mischna, die sich zunehmend als Norm des Seder durchsetzt, empfiehlt die Befassung mit dem Exodus durch noch nicht stanweggetragen, im letzteren ein Sklave in das Tischgespräch einbezogen. Die Antwort des Sklaven veranlasst den Sederleitenden, den Text „Einst waren wir Sklaven …“ zu sprechen. Vgl. ebd. 156f. 262 Die Mischna gibt vor: „Wenn der Sohn keine Einsicht hat, belehrt ihn sein Vater: […].“ Die Mischna, 205; Hervorhebung durch E. H. 263 Leonhard, Ursprünge der Liturgie, 158. 264 Ebd. 161. 265 Vgl. Ders., Festlegende, 236. 266 Zitiert nach ebd. 237, Anm. 9. 267 tPes 10, 11, zitiert nach ebd. 160; ebenso: Ders., Ursprünge der Liturgie, 165. 160f. 268 Vgl. Ders., „Eine Hypothese feiern?“ Zur Problematik von „christlichen“ Sedermahl-Feiern am Gründonnerstag, in: Gottesdienst 37 (2003), 20-21, hier: 31. 269 Vgl. Ders., Ursprünge der Liturgie, 160. 270 Vgl. Ders., Festlegende, 236.
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dardisierte Fragen des Sohnes und der Lesung „Mein Vater war ein umherirrender Aramäer …“ (Dtn 26, 5) statt des Studiums der Opfergesetze. Das Kapitel mPes X stand jedoch in einem anderen Verhältnis zur tatsächlich gefeierten Liturgie als eine Haggada aus dem 14. Jh.. Während im Hochmittelalter die Liturgie des Seder fast deckungsgleich mit der Haggada war, die gefeierten Riten waren relativ umfassend abgebildet, schreibt die Mischna keinen festen Ritus vor.271 Biblischen Flair erhielt die Feier durch das stilisierte Tischgespräch als Dialog zwischen Vater und Sohn und durch die Speisen, die in Ex 12 erwähnt werden. Eine mimetische Inszenierung des ägyptischen Pessach wurde jedoch vermieden.272 Dabei steht das Ur-Pessach nach Leonhard „weder in ritueller Kontinuität zum Seder, noch [hat] der Text von Ex 12 als solcher auf dessen Gestaltung gewirkt“273. Darüber hinaus sehen weder Mischna noch Tosefta den Text Ex 12, 2ff als Lesetext zum 15. Nisan vor.274 Während die Tosefta über das Studium der Opfergesetze zur Diskussion in der Pessachnacht spricht, bestimmt die Mischna, Ex 12 drei Sabbate vor Pessach in der Synagoge zu lesen, also zu Beginn des Nisan. Für den Seder wird Dtn 26, 5ff als Text erwähnt: „Mein Vater war ein heimatloser Aramäer …“. Erst im babylonischen Talmud wird auf eine synagogale Lesung aus Ex 12 hingewiesen. Leonhard sieht den Grund für den Übergang von der Diskussion der Festgesetze zur Diskussion des Exodus im Interesse der Diaspora am ägyptischen Pessach.275 Für den Seder heißt dieses: Alle für Ex 12 typischen Elemente, die im Seder aufgenommen sind, sind innovative Rückgriffe auf den Bibeltext und keine Zeugen einer liturgischen Kontinuität.276 Stufe 3: Auch wenn „die Mischna zunehmend formal und inhaltlich die Riten und Texte des Mahles prägt“277, bestehen im 4. Jh. beide Zugänge zur Gestaltung der Pessachnacht neben einander. Das Ritual lässt noch Spontaneität in der Gestaltung Raum.278 Dabei gibt die Mischna 271 Vgl. Ders., Älteste Haggada, 203; ebenso: Ders., The Jewish Pesach and the Origins of the Christian Easter. Questions in Current Research, Berlin 2006, 102-104. 272 Vgl. Ders., Ursprünge der Liturgie, 165. 273 Ebd. 155. 274 Vgl. Ders., Festlegende, 237. 275 Vgl. ebd. 237f. 276 Vgl. Ders., Ursprünge der Liturgie, 155. 277 Ebd. 165. 278 Vgl. ebd. 165f. Leonhard hält weitere Formen für möglich, was die ergänzend eingeschobene Frage: „(neben anderen?)“ verdeutliche.
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Zeugnis einer Entwicklung, die jünger ist und sekundär zu dem in der Tosefta eingeforderten Studium der Opfergesetze das Studium des Exodus in der Pessachnacht zum Thema bestimmt. Für beide Zugänge gilt übereinstimmend, wie Leonhard hervorhebt, dass ihre Anfänge in der Zeit nach der Zerstörung des Zweiten Tempels liegen.279 Die jüdischen Liturgien bewahren somit nicht die Praxis der Zeit Jesu, sondern haben „eine lange und durch Reformen und Rückgriffe auf Texte geprägte Geschichte hinter sich“280. Stufe 4: Die Entwicklung der Haggada beginnt zum Ende der talmudischen Periode frühestens im 5. Jh., das Erzählen des Exodus wird im Mittelalter zum Grundprinzip des Seder.281 „Struktur und Inhalt der heute gebräuchlichen Pessach-Haggada stehen also in der Tradition der Mischna“282, stellt Leonhard fest. Eine Datierung der Anfänge der Haggada283 wird dadurch möglich, denn ihre ältesten Teile verarbeiten die Mischna, sie inszenieren nicht nur die Mischna, sie setzen sie auch als Text voraus und rezitieren sie.284 So ist die Verpflichtung „Rabban Gamaliel sagt: Jeder, der nicht diese drei Worte an Pesach gesagt hat, hat seine Pflicht nicht erfüllt …“ als Rezitation in allen Riten erhalten. Mit diesem Entwicklungsmodell widerspricht Leonhard Positionen, die davon ausgehen, dass die Mischna den Seder Pessach z. Zt. Jesu oder auch früher widerspiegelt. Ebenso sei „die Existenz der Haggada als autoritativer und halbwegs verbreiteter Text […] in der Zeit von Mischna und Talmud nicht wahrscheinlich“285. Beschreibungen des Seder mussten bis zum 5. Jh. ohne die Haggada auskommen, und erst mit ihr wurde die Feier des Seder Pessach standardisiert. Die frühe Entwicklung widerspricht „teilweise der Intention des Mischnatraktates“286, der
Vgl. ebd. 165. Ders., Hypothese, 21. 281 Vgl. Ders., Ursprünge der Liturgie, 166; ebenso: Ders., Jewish Pesach, 78f. 282 Ders., Hypothese, 21. 283 Die Entstehung und Entwicklung der Haggada, deren Text erst ab dem 10. Jh. handschriftlich belegt ist, diskutiert Leonhard insbesondere anhand der Rezension der palästinensischen Haggada. Diese erlaubt aufgrund von in der Geniza der Kairoer Ben EzraSynagoge gefundenen Manuskripte „eine Beschreibung der Textentwicklung der Haggada auf der Grundlage konkreter Handschriften“. Ders., Älteste Haggada, 202. 284 Vgl. Ders., Ursprünge der Liturgie, 166. 285 Ders., Älteste Haggada, 203. 286 Ebd. 224. 279 280
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standardisierte Formulierungen ablehnt. Auch deshalb nimmt Leonhard einen großen zeitlichen Abstand zwischen Mischna und Haggada an.287 Leonhard betont, dass weder am Ursprung der Eucharistie noch am Ursprung des christlichen Osterfestes ein Vorläufer der Haggada steht. Daher sei es ein Anachronismus, zu glauben, man könne sich durch die Feier des Seder Pessach dem Geschehen beim Letzten Abendmahl geistlich oder rituell nähern.288 Christlichen Gemeinden, die Sederfeiern gestalten, um die gemeinsamen Wurzeln von Christentum und Judentum kennen zu lernen, gibt Leonhard zu bedenken: Nur wenn die Feier der Pessachnacht nach der Ordnung der Haggada von Jesus und den ersten Christen/innen selbstverständlicher Gebrauch war, kann „die Haggada gleichsam ein Christen und Juden gemeinsamer Text“289 sein. „Wenn die Haggada noch nicht existierte, sind Schlüsse aus jenem Repertoire Anachronismen.“290
4. Zwischenergebnis I So wie das Judentum an Pessach durch den Auftrag „Zachor – Gedenke!“ zur Vergegenwärtigung seines Ur-Ereignisses aufgerufen ist, so verpflichtet auch der Anamnesisbefehl des Abendmahls „Dies tut zu meinem Gedächtnis!“ die Christenheit zum Gedenken des christlichen Ur-Ereignisses. Damit leben sowohl Juden/Jüdinnen wie auch Christen/innen als Gemeinschaften im Gedenken an Gottes machtvolles Handeln in der Geschichte, das Sinngebung und Hoffnung für die Gegenwart und die Zukunft schenkt. Nach dem Zeugnis der synoptischen Evangelien war das Letzte Abendmahl Jesu ein Pessachmahl. Die detailarmen Schilderungen des Mahls benennen als Speisen das Pessachlamm sowie Brot und Wein, über die Deuteworte gesprochen werden. In der exegetischen Tradition wurde und wird teilweise auch heute davon ausgegangen, dass die Berichte der Evangelisten bezeugen, dass das letzte Mahl Jesu historisch belegt ein Pessachmahl war, das in den wesentlichen Bausteinen der Haggada folgte und das in den symbolischen Deutungen der Speisen VorVgl. ebd. 224. Vgl. Ders., Pesachfeiern in christlichen Gruppen. Anfragen an Praxis und Theorie des Osterfestes, in: Heiliger Dienst, 54 (2000), 287-297, hier: 290. 289 Ders., Älteste Haggada, 202. 290 Ebd. 202. 287 288
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bild für das Herrenmahl war (Jeremias). Neuere Forschungen u. a. von Stemberger, Yuval und Leonhard widersprechen diesen Annahmen. Da nach derzeitigem Forschungsstand die Anfänge der Haggada in die talmudische Zeit zu datieren sind, also frühestens vier Jahrhunderte nach dem Abschiedsmahl des historischen Jesus, können sich christliche Gemeinden dem Geschehen im Abendmahlssaal mit Sederfeiern weder geistlich noch rituell nähern (Leonhard).
III. Recherche: Ergebnisse und Auswertung 1. Literaturrecherche: Christliche Sederfeiern Christliche Sederfeiern werden in theologischen Veröffentlichungen und im Internet befürwortend und ablehnend diskutiert. Der Kontext, in dem christliche Sederfeiern entstanden sind, findet in der Literatur bisher kaum Beachtung.
1.1 Zur Entstehungszeit der Agape- und Sedermähler Der Zeitraum, in dem die Praxis der Sederfeiern in Kirchengemeinden innerhalb der verfassten evangelischen Landeskirchen in Deutschland bzw. in Pfarrgemeinden im Bereich der deutschen katholischen Bistümer begonnen hat, lässt sich annähernd mit den späten 70er bzw. den frühen 80er Jahren des 20. Jh. angeben. Die Literaturrecherche in Zeitschriften zur Gottesdienstgestaltung und persönliche Anfragen bei Pfarrer/innen und bei Teilnehmer/innen von Kirchentagen erbrachten einige wenige Belege für Anleitungen zu Sederfeiern bzw. zu Gottesdiensten mit Elementen des Seder Pessach in eben diesem Zeitraum. In den beginnenden 80er Jahren erstellte die Werkgruppe Gottesdienst im Erzbischöflichen Jugendamt München und Freising eine Anleitung für „Die Feier des Pascha-Mahles“291, die sich in ihrem Ablauf eng an die Haggada anlehnt. Das Materialienheft wurde bis zum Jahr 2002 versandt und stellt einleitend die Geschichte des Pessachmahls ent-
Erzbischöfliches Jugendamt München und Freising, Werkgruppe Gottesdienst (Hg.), Die Feier des Pascha-Mahles, Eigendruck im Selbstverlag o. J.. Der Hinweis auf den Vertrieb der Anleitung seit den frühen 80er Jahren erfolgte von einem Tagungshaus im Bistum Hildesheim, in dem nach den Angaben eines Tagungsleiters seit Beginn der 80er Jahre bis ca. 1998 nach dieser Anleitung gefeiert wurde. Vgl. Kapitel II.4, S. 131f und Anm. 503. Der Umgang des Erzbischöflichen Jugendamtes mit der Herausgabe dieses Materialienheftes, das bis zum Jahr 2002 vertrieben wurde, ist offen und selbstkritisch. Heute sieht das Erzbischöfliche Jugendamt, dass es die Praxis der Sederfeiern mit angestoßen hat, und fühlt sich verpflichtet, Materialien für alternative Feiern, z. B. einer Exodus-Feier, vorzulegen. Vgl. Erzbischöfliches Jugendamt München und Freising (Hg.), Exodus-Feier. Jugend feiert Aufbruch, Materialien. Impulse für die kirchliche Jugendarbeit in der Pfarrei Nr. 131, München 2004, 50. Zur Begründung der Ablehnung beruft es sich u. a. auf die Arbeiten von Michael Hilton, Israel J. Yuval und Gertrud Kellermann.
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sprechend des damaligen Forschungs- und Wissensstandes vor. Rückblickend begründet das Erzbischöfliche Jugendamt, das sich heute von der Imitation des Seder durch christliche Gemeinden distanziert, die Herausgabe der Anleitung in den 80er Jahren wie folgt: „Der Impuls hinter diesem Heft speist sich aus dem in den 70er Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts neu entdeckten ‚Juden Jesus’. Man versuchte, in bester Absicht, durch den Nachvollzug des vermeintlich so oder ähnlich von Jesus und seinen Jüngern beim letzten Abendmahl vollzogenen Sedermahles den Wurzeln der Eucharistie auf die Spur zu kommen und zu erspüren, wie dieses Abendmahl abgelaufen sein könnte.“292
Das älteste Beispiel aus dem Raum der EKD kann für das Jahr 1983 nachgewiesen werden. Eine Durchsicht der Fachzeitschriften in der Bibliothek des Amtes für kirchliche Dienste der EKBO in Berlin, die zur liturgischen und theologischen Gestaltung von Gottesdiensten anleiten, erbrachte als früheste Anleitung einer Feier für den Gründonnerstag mit Elementen des Seder Pessach einen Entwurf von Rudolf Weckerling in der Zeitschrift „GottesdienstPraxis“ aus eben diesem Jahr.293 Der Entwurf zeichnet sich dadurch aus, dass das Verbindende von Pessach und Ostern über gemeinsame befreiungstheologische Grundaussagen hergestellt wird und ein historisierendes Imitieren sowie Gleichsetzungen von jüdischen und christlichen Traditionen strikt vermieden werden. Weckerling versteht seinen Gottesdienstentwurf als Antwort darauf, dass die Zusammengehörigkeit zwischen Pessach und Ostern zu seiner Zeit meist nur historisierend Beachtung finde. Diese Feststellung deutet Erzbischöfliches Jugendamt, Exodus-Feier, 50. Vgl. Rudolf Weckerling, Gründonnerstag, in: Erhard Domay, Horst Nitschke (Hgg.), GottesdienstPraxis, 5. Perikopenreihe Band 2: Lätare bis 6. Sonntag nach Trinitatis, Gütersloh 1983, 26-31. Weckerling stellt die Christentum und Judentum gemeinsame Befreiungserfahrung ins Zentrum des Gottesdienstes. In der Ansprache verknüpft er unter Berufung auf den Evangelisten Markus die Befreiungsgeschichte des Volkes Israel mit der Befreiungsund Erlösungstat Jesu Christi. Dadurch seien alle Menschen, die sich zu Jesus halten, ganz gleich, aus welchem Volk sie berufen sind, mit der Befreiungsgeschichte Israels verbunden. Die Exodusgeschichte ist für Weckerling die Grundlage, über die Auszüge im eigenen Leben (Schule, Elternhaus, Beziehungen, Lebensphasen) nachzudenken. Abhängigkeiten von Wohlstand, von Scheinsicherheiten des Rüstungswahns und Lebensangst stehen für das Ägypten unserer Tage. Durch die theologische Verbindung mit dem Pessachmahl wird das Abendmahl zu einem Befreiungsmahl, betont Weckerling. Aus der gemeinsamen Erfahrung der Befreiung ergebe sich der gemeinsame Auftrag, für Gerechtigkeit, Menschenrechte, für das Leben und Überleben der Menschheit einzutreten. 292 293
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an, dass Sederfeiern bereits in den frühen 80er oder späten 70er Jahren in evangelischen Kirchengemeinden stattgefunden haben. Zudem wurden in dieser Zeit von christlich-jüdischen Arbeitskreisen auf Evangelischen Kirchentagen mittels eines Materialkoffers „Judentum“, Judentumskoffer genannt, für das Kennenlernen jüdischer Traditionen und kultischer Feiern geworben. Um den evangelischen Christen/innen die Verwurzelung christlicher Feste im Judentum nahe zu bringen, wurden Diaschauen über jüdisches Leben und jüdische Feste gezeigt und der Judentumskoffer für die Arbeit in Kirchengemeinden und für den schulischen Religionsunterricht angeboten. Dieser enthielt – wie auch die derzeit angebotenen Materialkoffer – jüdische Kultgegenstände, die auch eine Sederfeier ermöglichen. Auch das Agapemahl294, das am Gründonnerstag in vielen evangelischen Kirchengemeinden bzw. katholischen Pfarrgemeinden begangen wird, wird heute verschiedentlich als Sedermahl gestaltet oder nimmt Elemente der Haggada auf. Die Agapen, die Anfang der 60er Jahre des 20. Jh. wieder entdeckt wurden, knüpften an die Mahlfeiern der frühen Christenheit an, die als Sättigungsmahl mit liturgischer Gestaltung „Mahlzeiten in Verbindung mit dem Todesgedächtnis Christi, zum anderen als religiös bedeutsame Mahlfeiern in Fortsetzung der Tischgemeinschaft Jesu mit seinen Jüngern“295 waren. Sie wurden als Ausdruck der Gemeinschaft als neues Gottesvolk verstanden und werden heute in manchen Gemeinden als „Liebesmahl“296 bezeichnet. Vgl. u. a. Guido Fuchs, Agape-Feiern in Gemeinde, Gruppe und Familie. Hinführung und Anregungen, Regensburg 1997, 13-24. Fuchs erläutert: Erste Hinweise auf Agapefeiern als religiös geprägte Mahlfeiern, die der Gemeinschaft einer Gruppe dienten und sozial-karitative Züge trugen, finden sich um 100 d. Zt.. Der Begriff selbst wird erstmalig im Judasbrief (Jud 12) des Neuen Testaments genannt. Hier wird das Agapemahl – wie auch bei Ignatius von Antiochien (Anfang des 2. Jh.) – als ein mit der Eucharistie verbundenes Sättigungsmahl verstanden, das neben der Tauffeier die Mitte des Gemeindelebens darstellt. Daneben gab es, so Fuchs, nicht-sakramentale Mahlfeiern, die die Gastmähler Jesu weiterführen wollten. Das Agapemahl erhielt bereits in den Anfängen einen karitativen Charakter, diente der Armenpflege und der Versorgung Bedürftiger. Fuchs nimmt an, dass sich hinter der Bezeichnung „Agape“ keine konkrete Mahlgestalt verbarg, sondern diese im Sinne von Almosen verwandt wurde. 295 Wolf-Dieter Hauschild, Art. Agape I. In der alten Kirche, in: TRE Bd.1 (1997), 748-753, hier: 748. 296 Rainer Kampling, Pange, lingua, gloriosi Corporis mysterium, Sanguinisque pretiosi. Annäherung zum Thema Opfer und Opfermahl im Christentum, in: Michael Friedlander, Cilly Kugelmann, Koscher & Co. Über Essen und Religion, hg. im Auftrag des Jüdischen 294
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In den 80er Jahren fand ein verstärktes Experimentieren mit Agapen in evangelischen Gemeinden statt.297 Insbesondere in der Erinnerung an das Abschiedsmahl Jesu wurde in einer Feier ein Tischabendmahl298 mit einem Agapemahl verbunden und der wortgottesdienstliche Teil der Feier durch eine Sederfeier ersetzt bzw. mit Elementen aus der Haggada angereichert. In der katholischen Kirche ist es mancherorts üblich, nach der Messe am Gründonnerstag und getrennt von dieser ein Agapemahl zu halten, das als Sederfeier gestaltet sein kann. Die Agape in Verbindung mit einem Tischabendmahl hat in der katholischen Kirche keine Verbreitung gefunden.
Exkurs: Der Judentumskoffer Langjährige Teilnehmer/innen des Deutschen Evangelischen Kirchentages kennen aus eigener Anschauung den Material- bzw. Medienkoffer „Judentum“. Für diesen warben seit den frühen 80er Jahren bis in die 90er Jahre des 20. Jh. insbesondere christlich-jüdische Arbeitskreise in der evangelischen Kirche.299 Er enthielt bzw. enthält auch heute Gegenstände aus dem jüdischen Alltag und Kultgegenstände jüdischer Feste. Mit dem Material und mit Berichten über jüdisches Leben und mit Diaschauen sollte den Besuchern/innen der Kirchentage nahe gebracht werden, wie Juden ihre Religiosität leben. In den 90er Jahren wurde die Werbung für den Judentumskoffer eingestellt. Vertreter/innen des JuMuseums Berlin, Berlin 2009, 197-210, hier: 202. Kampling beschreibt das Agapemahl als „Liebesmahl der sich ihrer selbst vergewissernden Gemeinde. Die Speisen, die bei diesem Mahl verzehrt wurden, konnten auch als Opfer bezeichnet werden, da sie als gemeinsame Gabe Symbolwert für die Gruppe hatten.“ Ebd. 202. 297 Vgl. Guido Fuchs, Das ganz besondere Liebesmahl, 09.03.2008, www.kirchenbote.de (Stand: 10.03.2008). 298 Das Tischabendmahl ist eine Form des Gottesdienstes mit Abendmahl, das an besonderen kirchlichen Festtagen, oft am Gründonnerstag, aber auch im Zusammenhang von Tagungen und Freizeiten gefeiert wird, und das die Teilnehmenden um einen Tisch sitzend begehen. Es versteht sich als Anknüpfung an frühchristliche Traditionen. Zumeist findet es nicht im Kirchenraum sondern in einem Nebenraum, in einem Gemeinde- oder Tagungshaus statt. Der Gottesdienst verläuft in offener Form, folgt aber i. d. R. im Grundsatz dem Ablauf von Eröffnung und Anrufung, Verkündigung und Bekenntnis sowie dem Abendmahl und dem abschließenden Segen. Das Tischabendmahl wird insbesondere am Gründonnerstag häufig mit einem Sättigungsmahl verbunden, das der Abendmahlsfeier vorausgehen oder ihr folgen kann. Vgl. Kirchenleitung, Gottesdienstbuch, 159f. 299 Der angegebene Zeitraum wurde von einer Berliner Pfarrerin und einem ehemaligen badischen Schuldekan berichtet. Eine diesbezügliche Anfrage an das Büro des Deutschen Evangelischen Kirchentags in Fulda führte zu keinem Ergebnis.
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dentums hatten dieser Form der Präsentation jüdischer Kultgegenstände widersprochen und die Verletzung religiöser Gefühle geltend gemacht. Im Internet bieten auch heute eine Vielzahl von Mediotheken und Schuldekanaten solche Materialkoffer mit Anschauungsmaterial zu jüdischem kultischem Leben an. Ausführliche Inventarlisten geben den Inhalt wieder. Demnach umfasst das in den Koffern angebotene Material in jeweils unterschiedlicher Zusammensetzung u. a. Menora, Kippa, Gebetsriemen und Gebetsschal, Mesusa, Sabbatleuchter mit Kerzen, Torarolle mit Jad, Sederteller, Kiddusch-Becher, Haggada und Mazzot sowie ein Schofar.300 Das Arbeiten mit diesen Materialkoffern hat in einigen Landeskirchen eine lange Tradition. So gab das Religionspädagogische Amt in Mainz301 an, dass die Arbeit mit dem sog. Judentumskoffer auf eine Initiative des Arbeitskreises Kirche und Israel der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN) aus den frühen 80er Jahren zurückgehe, als Baustein für die religionspädagogische Arbeit an Schulen. Seine Anschaffung hängt nach Angaben des Religionspädagogischen Amtes mit der Entscheidung der Kirchensynode in Hessen und Nassau aus dem Jahr 1991 zusammen, ein Schuldbekenntnis gegenüber dem Judentum in den Grundartikel der Kirchenordnung aufzunehmen.302 Andere Medienstellen haben erst in den letzten Jahren nachgezogen. Die Dekanatsstelle der Evangelischen Landeskirche in Württemberg hat den Judentumskoffer erst im Oktober 2008 in ihr Angebot aufgenommen.303 Das Amt für Kirchliche Dienste in Berlin hat einen „Medienkoffer Judentum“ im Fe300 Anbieter des Judentumskoffers im Internet sind u. a.: Das Schuldekanat der evangelischen Kirchenbezirke Biberach und Ravensburg (www.schuldekan.evkirche-bc.de); die Gemeinschaftsstiftung für Kirche und Diakonie im evangelischen Kirchenkreis Recklinghausen (www.ernten-und-saeen.de); die Diözesanmedienstelle des Bistums Osnabrück (www.medienstelle-osnabrück.de); das Religionspädagogische Amt Giessen (www.rpa-giessen.de) und das Religionspädagogische Amt Mainz (www.rpa-mainz.de). (Stand: 22. Februar 2010) 301 Antwort per E-mail des Religionspädagogischen Amtes der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN) vom 02.03.2009 auf eine Anfrage vom 01.03.2009. 302 Die Kirchenordnung der EKHN wurde um folgendes Bekenntnis ergänzt: „Aus Blindheit und Schuld zur Umkehr gerufen bezeugt sie neu die bleibende Erwählung der Juden und Gottes Bund mit ihnen. Das Bekenntnis zu Jesus Christus schließt dieses Zeugnis ein.“ Evangelische Kirche in Hessen und Nassau, Kirchengesetz zur Änderung der Kirchenordnung (Auszug) vom 03.12.1991, in: Hans Hermann Henrix, Wolfgang Kraus (Hgg.), Die Kirchen und das Judentum. Dokumente von 1986-2000, Gütersloh 2001, 668f. 303 Antwort der Evangelischen Dekanatsämter Biberach und Ravensburg per E-mail vom 02.03.2009 auf eine Anfrage vom 25.02.2009.
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bruar 2009 erworben. Und die Diözesanmedienstelle des Bistums Osnabrück gab an, einen ersten Medienkoffer im Jahre 1999 angeschafft und 2009 ergänzt zu haben. Im Zeitraum von der Anschaffung im Jahr 1999 bis zur Ergänzung wurde er insgesamt 236mal ausgeliehen. Ein zweiter, in 2006 angeschaffter Medienkoffer wurde bis zum Februar 2009 bereits 82mal ausgeliehen.304 Einige Anbieter nehmen in den Judentumskoffer Informationen zu den einzelnen Gegenständen auf, aber auch Regeln für den Umgang mit den Kultgegenständen. So fordert die Medienstelle der Diözese Osnabrück die Nutzer/innen (i. d. R. Lehrer/innen) auf, darauf zu achten, die kultischen Gegenstände so vorzustellen, dass ein ggf. anwesender Vertreter/eine Vertreterin der jüdischen Religion den Umgang mit diesen nicht verletzend empfinde und seine Religion nicht herabsetzend behandelt erlebe. Vom Imitieren des Ritus des Sabbat oder des Seder Pessach wird abgeraten.305 Auch in den Medienkoffer des Amtes für Kirchliche Dienste in Berlin wurde Material zu Regeln im Umgang mit den Kultgegenständen aufgenommen.306 Andere Anbieter verweisen in Antwortschreiben darauf, dass der Judentumskoffer von Religionslehrern/innen sowie von Kirchengemeinden ausgeliehen werde. Anleitungen zum rechten Umgang und Informationen zum Material werden von daher nicht als erforderlich angesehen.307 Mit den Material- bzw. Medienkoffern verfolgen die anbietenden Ämter und Mediotheken das Ziel, vor allem Kindern und Jugendlichen im Religionsunterricht und Konfirmanden in Freizeiten das religiöse Leben des Judentums in anschaulicher Weise nahe zu bringen. Dieser Weg der Informationsvermittlung wird auch bei anderen Religionen beschritten. So bietet das Religionspädagogische Amt in Mainz einen „Medienkoffer Islam“ an, der nach den im Internet erhältlichen Informationen „unter Antwort der Diözesanmedienstelle des Bistums Osnabrück per E-mail vom 27.02.2009 auf eine Anfrage vom 25.02.2009. 305 Vgl. Diözesanmedienstelle des Bistums Osnabrück, Regeln für den Umgang mit religiösen Gegenständen, Begleitinformation zum Judentumskoffer, o. J., vom Amt per E-mail am 25.02.2009 zur Verfügung gestellt. 306 Vgl. Hans Maaß, Pessach im christlichen Religionsunterricht, in: Hans-Joachim Jaschke (Hg.), Gott, unser Vater. Wiederentdeckung der Verbundenheit der Kirche mit dem Judentum, in: Auf dem Weg zum Heiligen Jahr 2000, hg. im Auftrag der Deutschen Bischofskonferenz, Bd. 11, 1999, 147-149. 307 Antworten per E-mail des Religionspädagogischen Amtes Gießen vom 26.02.2009 und der Evangelischen Dekanatsämter Biberach und Ravensburg vom 02.03.2009. 304
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Mithilfe der islamischen Barbarossagemeinde“308 zusammengestellt wurde. Der Koffer enthält neben CD´s und Videos mit Informationen zu Glaubensgrundlagen, Religion und Gesellschaft im Islam und einer „Arbeitshilfe Fundamentalismus“ eine Gebetskette, einen Gebetsteppich, einen Koran sowie eine CD und eine Kassette mit dem Muezzinruf. Angeboten wird auch ein „Medienkoffer Orthodoxie“, der u. a. eine Ikone, eine Öllampe, ein Weihrauchgefäß und Weihrauchkörner, Gebetbuch und Gebetskranz enthält.309 Wer im Internet unter dem Stichwort „Judentumskoffer“ recherchiert, findet bei einigen Anbietern die Bezeichnung „Judenkoffer“. Dieser Begriff stammt aus der Zeit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft und bezeichnete das Gepäck, das Jüdinnen und Juden auf dem Weg ins Ausland abgenommen wurde bzw. das sie auf der Flucht zurücklassen mussten, und das in Deutschland von staatlichen Stellen gewinnbringend versteigert wurde. Das katholische Schulreferat in Bonn wirbt für das Ausleihen von Medienkoffern mit dem Hinweis: „Bereits fertig zusammengestellt sind zwei Koffer mit Materialien und Medien rund um das Thema Judentum (‚Judenkoffer’).“310 Die Butzbacher Zeitung veröffentlichte am 20. November 2007 den Bericht eines Geschichtsleistungskurses, der unter der Überschrift „Weidigschüler auf den Spuren jüdischen Lebens in Münzenberg“311 berichtete: „Nach der Schule fuhren wir nach Gambach, um im alten Rathaus die Sonderausstellung ‚Jüdisches Leben in Gambach’ zu besichtigen. […] Ausgestellt war neben anderen Exponaten auch der sogen. ‚Judenkoffer’ vom Religionspädagogischen Amt in Gießen, der Utensilien für religiöse Feierlichkeiten, wie zum Beispiel den Sabbat, enthielt.“312
Religionspädagogisches Amt für Rheinhessen, Newsletter Nr. 9, 24.11.2005, www.rpamainz.de (Stand: 22.02.2010). 309 Vgl. ebd. 310 Katholisches Schulreferat Bonn, Homepage, www.schulreferat-bonn.de (Stand: 21.09. 2009); Hervorhebung durch E. H.. 311 Butzbacher Zeitung, Weidigschüler auf den Spuren jüdischen Lebens in Münzenberg, vom 20.11.2007, www.weidigschule.de/buzneu/synamuen.htm (Stand: 22.02.2010). 312 Ebd. 308
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Und die Fachstelle für Religionspädagogik in Zürich313 hat eine Unterrichtsreihe zum Thema Judentum ins Internet eingestellt, deren Lektion drei das Thema „Wie Juden feiern …“ vorgibt. Um den Schülerinnen und Schülern Pessach nahe zu bringen wird empfohlen: „Gegenstände für das Pessachfest aus dem Judenkoffer präsentieren.“314
1.2 Sederfeiern: Das Urteil in theologischen Veröffentlichungen Veröffentlichungen, die sich explizit für das Nachfeiern des Seder Pessach bzw. die Aufnahme von Elementen der Haggada in die Liturgie des Gründonnerstags aussprechen oder diese Feiern rechtfertigen, finden sich in der Literatur fast ausnahmslos in Form von Anleitungen zu Sederfeiern für evangelische Kirchengemeinden. Aus vereinzelten Veröffentlichungen spricht Verständnis für diese Praxis oder sie wird ausdrücklich begrüßt.315 Befürworter/innen dieser Feiern veröffentlichen jedoch üblicherweise ihre liturgischen Entwürfe direkt als Anleitung zum Nachfeiern.316 Die Vorstellung, Pessach zu feiern wie es der Jude Jesus beim letzten Mahl feierte, ist oft das entscheidende Argument. Dabei werden i. d. R. die Begriffe Pessachmahl, Passamahl und Sedermahl für die Feier, die Jesus mit seinen Jüngern feierte, synonym gebraucht. Die Pfarrer/innen und Gemeinden, die Sederfeiern abhalten oder Seder-Elemente aufnehmen, sehen sich oft in Gemeinschaft mit dem Judentum. So leitet eine Pfarrerin den Entwurf eines „Abendmahlsgottesdienst mit Seder-Gebeten“317 mit den Worten ein: „In dieser Woche haben unsere jüdischen Mitbürger und die Juden in aller Welt den Sederabend des Passahfestes gefeiert. Nach jahrtausendealtem Ritus hörten sie dabei die Geschichte von der Befreiung der Israeliten, der Sklaven aus Ägypten. Die Befreiung aus Ägypten hat auch Jesus mit seinen Jüngern gefeiert, in der Nacht, da er verraten ward. […]“318
Fachstelle für Religionspädagogik, Lektionenreihe Judentum, Lektion 3: Thema und Ziel: Wie Juden feiern …, www.religionspädagogikzh.ch (Stand: 22.02.2010). 314 Ebd.; Hervorhebung durch E. H.. 315 Z. B. Hans-Joachim Thilo, Die therapeutische Funktion des Gottesdienstes, Kassel 1985. 316 Ordnungen für Pessachfeiern bzw. Gottesdienste mit Elementen einer Sederfeier finden sich u. a. in der Reihe „GottesdienstPraxis“ und in den Zeitschriften „Für den Gottesdienst“ und „Zeitschrift für Gottesdienst und Predigt“; ebenso: Die Sederfeiern im Internet. 317 Trösken, Gründonnerstag, 26-28. 318 Ebd. 26. 313
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Neuere Veröffentlichungen in theologischen Fachzeitschriften, in Kirchen- oder Bistumszeitungen bzw. Gemeindeblättern mit Entwürfen für Pessach- bzw. Sederfeiern für katholische Pfarrgemeinden liegen nicht vor. Sie sind jedoch im Internet als Ordnungen für ein Agapemahl, begangen als Sederfeier nach der Messe am Gründonnerstag, nachweisbar.319 Auch diese berufen sich auf den Zusammenhang zwischen Sedermahl und Herrenmahl als entscheidender Begründung für die Feier des Seder Pessach. Katholische Pfarrgemeinden, Tagungshäuser und häusliche Gemeinschaften, die Seder feiern, orientieren sich direkt an einer heute gebräuchlichen Haggada oder greifen auf Materialien zurück, die in den frühen 80er und 90er Jahren in der katholischen Kirche verbreitet wurden.320 In den letzten zehn Jahren wurden zunehmend Artikel in theologischen Fachzeitschriften, Bistums- und Kirchenzeitungen veröffentlicht, die sich explizit gegen das Sederfeiern in christlichen Gemeinden aussprechen. Die folgenden Beispiele stehen für eine Vielzahl von Stellungnahmen evangelischer und katholischer Theologen/innen sowie Liturgiewissenschaftler/innen, die Sederfeiern – mit oder ohne die Verbindung mit dem Abendmahl – kritisch und ablehnend beleuchten, ergänzt durch jüdische Stimmen.321 1.2.1 Stellungnahmen katholischer Theologen/innen Im Jahr 2003 fragte der katholische Pastoraltheologe Hanspeter Heinz unter der Überschrift „Religiöser Raub?“322 nach Wegen und Irrwegen christlich-jüdischer Gebetsgemeinschaften und sprach dabei auch die Pessachfeiern in christlichen Gemeinden an. Heinz stellt fest, dass gerade zur Osterzeit christliche Gemeinden immer häufiger Pessachfeiern gestalten, und sieht das Bemühen der Pfarrer, vor dem Hintergrund dieser Feiern „das Gedächtnis des letzten Abendmahls am Gründonnerstag
Vgl. Parmentier, Kleiner Ritus. Vgl. Erzbischöfliches Jugendamt, Feier des Pascha-Mahles; ebenso: Deutscher KatechetenVerein e. V., Das Passah-Mahl. Befreiung und Aufbruch – Erinnerung und Hoffnung, Materialbrief Gebet und Gottesdienst mit jungen Menschen, München 1/1991. Die Anleitung wird heute nicht mehr vertrieben. 321 Zu den Sederfeiern sind nur ablehnende Stimmen sowohl aus dem liberalen wie aus dem orthodoxen Judentum bekannt. Daher kann eine einheitliche Position vorausgesetzt werden. 322 Heinz, Religiöser Raub, 82-87. 319 320
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ganz anders [zu] verstehen und mit allen Sinnen mit[zu]vollziehen“323. Sederfeiern bezeichnet Heinz jedoch als „äußerst problematisch“ und kritisiert sie als einen schlimmen Missbrauch und als Ärgernis für die Juden und ihre christlichen Freunde.324 Zudem folge die Berufung auf die Gebetstradition Jesu einer anachronistischen Argumentation: „Denn wir leben nicht mehr in der Anfangszeit einer Symbiose der Jesusgemeinde mit anderen jüdischen Gruppen. Im Laufe der ersten Jahrhunderte hat sich das Christentum als selbständige Religion vom Judentum getrennt, und nach menschlichem Ermessen werden sie auf Dauer getrennte Religionsgemeinschaften bleiben, deren Gegensätze sich nicht mit einander vereinbaren lassen.“325
In demselben Jahr bezog Ansgar Koschel deutlich Position gegen das Feiern jüdischer Feste durch Christen/innen und stellte „Fragen an eine fragwürdige Praxis“326. Dabei richtete sich sein Blick besonders auf das Sedermahl. „Manchen dient es als Vorbereitung auf die feierliche (Erst-)Kommunion, denn – so meinen sie – so können sie möglichst naturgetreu das letzte Mahl Jesu mit den Seinen nachempfindbar bzw. anschaulich machen; zugleich könnten sie damit ihre eigene christliche Nähe zum Judentum ausdrücken.“327
Seine ablehnende Haltung begründet Koschel historisch und theologisch. Er verweist auf die Entstehungszeit der Texte der Haggada, die er im Wesentlichen ins 7. und 8. Jh. datiert, und gibt zu bedenken, dass nicht bekannt ist, „nach welcher Ordnung (‚Seder’) das Pessachmahl zur Zeit Jesu gefeiert wurde“328. Zudem gebe es „keine historische Kenntnis darüber, wie Jesus selbst sein letztes Mahl mit den Seinen feierte, ob es also ein Seder-Mahl war“329. Das Imitieren des Seder Pessach werde von Jüdinnen und Juden als enteignend empfunden, so Koschel, da Christen/innen die jüdischen Texte nach-österlich lesen, also beim Nachfeiern 323 324 325 326 327 328 329
Ebd. 83. Vgl. ebd. 84. Ebd. 84. Koschel, Jüdische Feste feiern, 247-249. Ebd. 247. Ebd. 248. Ebd. 248.
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etwas Christliches ergänzen, „die Auferstehung Jesu und seine Erhöhung zum Kyrios“330. Den Christen/innen, die mit diesen Sederfeiern ihre Verbundenheit mit dem Judentum zum Ausdruck bringen wollen und glauben, etwas Sinnvolles zu tun, rät Koschel, zu respektieren, dass Seder ein ganz besonderes Fest für die Juden ist und Imitationen ihre Gefühle verletzen. Christliche Gemeinschaften, die Seder kennen lernen wollen, empfiehlt er, die Feier in der Katechese und in Bildungsveranstaltungen durch einen Juden, eine Jüdin als Gastreferent/in erläutern zu lassen.331 Die Arbeitsgruppe „Christentum – Judentum“ der Ökumenischen Kommission im Bistum Speyer fragte ebenfalls im Jahr 2003: „Können Christen ‚jüdisch’ feiern?“332 Sie bezeichnete Sederfeiern in christlichen Gemeinden als „mehr als fragwürdig“, ohne den Feiernden eine gute Absicht abzusprechen. „Mit dieser Annäherung an das Judentum glaubte man in den letzten Jahren, den jüdischen Wurzeln der eigenen christlichen Tradition näher zu kommen und den Sinngehalt der im Abendmahlssaal von Jesus Christus gestifteten Eucharistiefeier besser verstehen zu können.“333
Trotzdem sei eine Sederfeier „‚Diebstahl’ an einer lebendigen jüdischen Praxis, die etwas Eigenständiges darstellt und nach eigenem Selbstverständnis nichts mit ‚der Sache Jesu’ zu tun hat und haben will“334. Die Arbeitsgruppe macht ihre ablehnende Haltung auch an der historischen Entwicklung des Seder fest, die „nach der Zerstörung des Tempels als Feier in der Synagoge und als häusliche Feier begangen [wurde]“335. „Der Sederabend am Pesachfest, wie er heute im Judentum gefeiert wird, ist also eine Reaktion auf die Katastrophen der Zerstörung des Tempels und der Vernichtung der politischen Selbstbestimmung der Juden. Es ist
Ebd. 248. Vgl. ebd. 248. 332 Arbeitsgruppe Christentum – Judentum der Ökumenischen Kommission im Bistum Speyer, Können Christen jüdisch feiern? Was Juden „Pesach“ bedeutet und warum es ihnen gehört, in: Der Pilger. Zeitung des Bistums Speyer 16 (2003), 5. 333 Ebd. 3. 334 Ebd. 3. 335 Ebd. 3. 330 331
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Auf der Suche nach den jüdischen Wurzeln eine eigenständige Antwort des Judentums auf die Frage von Heil in Gegenwart und Zukunft.“336
Um „auf legitime und hilfreiche Weise jüdisches Selbstverständnis und jüdische Tradition mit christlicher Überzeugung und Tradition in Kontakt“337 zu bringen, empfiehlt die Arbeitsgruppe: „Nicht ‚nach’-feiern, vielmehr erinnern und erklären, was Juden glauben und feiern, und welche Bedeutung dies für uns Christen hat, die wir durch Jesus Christus Anteil erhielten am Erbe der Verheißungen Gottes für sein Volk.“338
1.2.2 Stellungnahmen evangelischer Theologen/innen Die evangelische Vorsitzende der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit in Augsburg, Gertrud Kellermann, wandte sich im Jahr 2000 an Christen/innen, die „Seder feiern“, und fordert sie auf, vor sich selbst Rechenschaft abzulegen.339 Ihre Fragen lauten u. a.: x Wie beginnen christliche Gemeinden und Gruppen die Sederfeier? Wenn in der Haggada steht: „der uns durch seine Gebote geheiligt und uns befohlen hat, alles Gesäuerte wegzuräumen“, wie es den Juden gesagt ist, tun Christen/innen das auch? x Können Christen/innen mit dem Judentum den Satz nachvollziehen: „… der uns den Sabbat und die heiligen Festtage mit Freude und Wonne zu eigen gegeben“, obgleich sie weder den Sabbat noch jüdische Feste feiern? x Wenn es heißt: „… der uns aus allen Völkern erwählt hat, uns mehr heiligt als alle anderen Völker“, können Christen/innen das auf sich beziehen? x Wenn Jüdinnen und Juden bekennen: „Knechte waren wir in Ägypten. Da führte uns Gott heraus mit starker Hand“, können Christen/innen sich diesem Bekenntnis anschließen? x Und wenn Jüdinnen und Juden sprechen: „In jedem Zeitalter stand man wider uns auf, uns zu vernichten. Und der Heilige, gelobt sei Ebd. 4. Ebd. 4. 338 Ebd. 4. 339 Vgl. Gertrud Kellermann, Passah-Feiern in christlichen Gemeinden, in: Anzeiger für die Seelsorge 109/2000, 132. 336 337
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er, rettete uns aus ihrer Hand“, dann denken Juden an Auschwitz. Schleichen sich Christen/innen, die mitbeten, auf die Seite der Opfer?340 Kellermann gibt die Stellungnahme von Rabbiner Henry G. Brandt zu Sederfeiern in christlichen Gemeinden mit den Worten wieder: „Am Sederabend feierten die Juden ein nationales Fest, die Volkwerdung Israels aus den verschiedenen Stämmen. Es sei ein Fest für nichtreligiöse wie religiöse Juden. Wer jedoch nicht zum Volk Israel gehöre, könne nicht einfach paulinisch – mit dem Hinweis auf die Abrahamskindschaft dem Geiste nach – die Sederfeier begehen wie Juden, deren Ahnen tatsächlich – zumindest im Bewusstsein der Juden – die Patriarchen und die Exodusgemeinschaft seien.“341
Als Alternative zu den Sederfeiern empfiehlt Kellermann Pfarrern/innen und anderen Sederleitenden, jüdische Feste und Gebräuche und die dazugehörigen Objekte und Symbole in den christlichen Gemeinden zu erläutern. Allerdings dürfe „nie der Eindruck erweckt werden, die Gruppe würde damit selbst das Sedermahl feiern“342. Eine gute Absicht gesteht Wolfgang Raupach-Rudnick, Leiter der Arbeitsstelle Kirche und Judentum in der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers, den Christen/innen zu, die Sederfeiern gestalten.343 Allerdings sei es eine Illusion, durch Anleihen bei der heutigen jüdischen Pessachfeier dem historischen Mahl Jesu näher kommen zu wollen: „Wenn wir den Pessachseder, so wie er heute gefeiert wird, ganz oder teilweise in unsere christliche Liturgie einfügen, gehen wir nicht an die Wurzeln zurück, sondern eignen uns das Fest einer anderen Religion, das wie kein zweites für diese identitätsstiftend ist, an.“344
Vgl. ebd. 132. Ebd. 132. 342 Ebd. 132. 343 Vgl. Wolfgang Raupach-Rudnick, Abend-Mahl-Zeit. Jüdische Tradition im christlichen Gottesdienst. Pessach und Gründonnerstag, Arbeitsstelle Kirche und Judentum der Evangelischlutherischen Landeskirche Hannovers, Hannover 1997. 344 Ebd. 4. 340 341
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An der Praxis, am Gründonnerstag Seder Pessach ganz oder teilweise nachzufeiern, übt Raupach-Rudnick anhand konkreter Fragen Kritik. U. a. mahnt er mangelnde Rollenklarheit an und fragt beim Nachsprechen einzelner Elemente nach der Ernsthaftigkeit und der Sinnhaftigkeit der übernommenen Texte.345 Dieses gelte insbesondere dann, wenn sie dem christlichen Selbstverständnis zutiefst widersprechen, etwa wenn bei der Sederfeier die Tür für den wiederkommenden Elia als dem Vorläufer des Messias geöffnet wird.346 Eine Gefahr, die dem im christlich-jüdischen Dialog Erreichten entgegen steht, sieht Raupach-Rudnick darin, dass „heutiges Jüdisches in seiner Gegenwartsbedeutung“347 nicht ernst genommen wird, da „man es zu einem bloßen Schritt auf dem Weg der Entwicklung des Christentums reduziert“348. Obgleich die meisten Entwürfe für christliche Sederfeiern die Intention verfolgten, sich durch die Feiern jüdischem Leben und jüdischer Tradition zu nähern, erreichten sie das Gegenteil. „Denn diese Versuche können nach wie vor Jüdisches nicht als Subjekt wahrnehmen, das Christen etwas zu sagen hätte und von dem sie etwas zu erwarten hätten. Bestenfalls bleibt Jüdisches Objekt, über das geredet wird.“349
Da eine persönliche Begegnung mit dem Judentum nur als Ausnahmefall möglich ist, empfiehlt Raupach-Rudnick „eine narrative und symbolische Begegnung mit der anderen, der jüdischen Tradition und Gegenwart [zu] suchen und so an dieser [zu] partizipieren“350. Wichtig sei auch, die Chancen der eigenen Liturgie zu nutzen und „in der (christlichen) Abendmahlsliturgie den Bezug auf das biblische Israel und das
Ernsthaftigkeit vermisst Raupach-Rudnick z. B. beim Nachsprechen des Textes: „Dieses Jahr hier, künftiges Jahr in Jerusalem …“. Unter Bezugnahme auf Trösken (Gründonnerstag, 26f) fragt er, ob die Pfarrerin wirklich im nächsten Jahr in Jerusalem feiern will. Und Rollenklarheit vermisst er, wenn diese Pfarrerin in die Rolle einer jüdischen Frau schlüpft und schreibt: „Zu Beginn des Festes werden die Lichter entzündet. Ich tue es mit dem Lichtersegen, wie ihn die jüdische Frau [Evangelische Pastorin oder jüdische Frau?] jeden Freitagabend beim Entzünden der Sabbatlichter spricht“. Ebd. 4; Hervorhebung durch denselben. 346 Vgl. ebd. 5. 347 Ebd. 6. 348 Ebd. 6. 349 Ebd. 6. 350 Ebd. 8. 345
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gegenwärtige Judentum sichtbar zu machen“351. Das ist, betont Raupach-Rudnick, echter „Gottesdienst in Israels Gegenwart“352. Die Orientierungshilfe zur Behandlung des Pessach im christlichen Religionsunterricht353, erarbeitet von Hans Maaß und dem ErzieherAusschuss der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit spricht an, dass nicht nur von Jahr zu Jahr zunehmend christliche Gemeinden „Pessachfeiern“ veranstalten, sondern diese Praxis auch im Religionsunterricht um sich greift.354 Begründet werden die Feiern mit „erlebnis- und handlungsorientierten Konzepten“355. Statt mit Kindern imitierend eine Sederfeier zu halten, empfiehlt die Orientierungshilfe, den Kindern und Jugendlichen Pessach als Feier des zeitgenössischen Judentums mittels eines Video-Films, einer bebilderten Haggada, eines beschrifteten Sedertellers und durch verschiedene Deutungen des Festes durch berühmte Gelehrte früherer Zeit nahe zu bringen. Unter der Überschrift: „Was eine Klasse vermeiden sollte“ hält die Orientierungshilfe nachdrücklich fest: Der Respekt vor dem Glauben anderer verbietet es, ein Sedermahl zu imitieren, „(es wäre so, als ob eine muslimische Klasse eine Abendmahlsfeier ‚spielen’ würde)“356. Abschließend stellt sie fest: „Solche Rücksichtnahmen entsprechen religiösem Taktgefühl und dürfen nicht vordergründigen handlungsorientierten Unterrichts-Zielen geopfert werden, da sonst der Zweck der Beschäftigung mit dem Judentum verfehlt würde.“357
1.2.3 Stellungnahmen aus dem Judentum Das Imitieren des jüdischen Seder durch christliche Gemeinden stößt im Judentum grundsätzlich auf Ablehnung. In einer Stellungnahme zu der am 4. Februar 2009 veröffentlichten neuen Karfreitagsfürbitte „Für die
Ebd. 8. Ebd. 8. 353 Vgl. Maaß, Pessach im RU, 147-149. 354 Die Aussage, dass die Praxis der Sederfeiern im Religionsunterricht zunimmt, stammt aus dem Jahr 1997. Da von Jahr zu Jahr neue Materialkoffer „Judentum“ angeschafft werden, wie die Recherche im Internet bestätigt (Vgl. Exkurs: Der Judentumskoffer, S. 70-74) und damit Religionslehrer/innen die Möglichkeit eröffnet, „Seder zu feiern“, mag dieses als Hinweis gelten, dass die Aussage noch immer aktuell ist. 355 Ebd. 147. 356 Ebd. 147. 357 Ebd. 149. 351 352
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Juden“ sprach Günther B. Ginzel Sederfeiern an.358 Seine eindrücklichen Worte sprechen für sich: „Sicher, 2008 unterscheiden sich die Worte, die Aktionen, von den früheren Zeiten eines unbekümmerten Antijudaismus. Und vieles mag auf Gemeindeebene auch einer gewissen Naivität und Unkenntnis zuzuschreiben sein (warum eigentlich nach 50 Jahren aktivem Dialog?). Es wäre zudem falsch, hier Antisemitismus pur entdecken zu wollen. Doch eine der Grundlagen aller Judenfeindschaft bleibt oder wird bewusst oder unbewusst neu belebt: Die Überzeugung, das Judentum sei nicht auf der gleichen Höhe der Entwicklung angelangt wie die Kirche, dass Juden noch etwas fehle, die Synagoge defizitär sei: Pessach eben doch nur ein Vorspiel für Ostern. Die alte Enterbungstheologie ist in moderner Fassung wieder da: Wohl nie zuvor haben so viele christliche Kirchengemeinden am Gründonnerstag zum ‚jüdischen Seder’ eingeladen. Pfarrer verkünden selbstbewusst, dass ‚unser Osterfest mit einem traditionellen Sederabend’ beginnt. (Bitte entsprechend kleiden.) Juden sind bei diesen Pessachfeiern ebenso überflüssig wie die Frage, wann denn kalendarisch Pessach im Volke Israel gefeiert wird. Pessach ist halt dann, wenn Ostern beginnt. Und ebenso verstärkt sich die Tendenz der Abgrenzung. Es wird, so mein Eindruck, in diesem Kontext wieder mehr das christlich Neue betont. Israel wird, wenn auch unter bewusster Berufung auf die jüdische Wurzel, wie selbstverständlich auf die Rolle des Vorreiters, des Vorbereitenden, des Symbols für das, was zur Zeit Jesu war, reduziert. Die Vollendung aber bringe die Überwindung des Jüdischen, der Glaube an den Christus.“359
Und Mirjam Böckler kommentiert die Feiern des Pessach Seder durch Christen/innen mit den Worten: „Um das Gefühl zu verstehen, das Juden empfinden, wenn sie von Sederfeiern in Kirchen hören oder gar gebeten werden, daran teilzunehmen oder auch nur Tipps dazu zu geben, stellen Sie sich doch einmal vor: Am Tag vor Heiligabend würden Vertreter einer islamischen Gemeinde die Kirche am Ort anfragen, ihren Heiligabend doch bitte in der Moschee zu feiern. Da Jesus und Maria ja auch im Koran vorkämen und man deutsches Brauchtum gemeinsam teilte, könne man den heiligen Abend doch gemeinsam feiern. Die Gemeinde solle sich in der Moschee bescheren, die 358 Vgl. Günther B. Ginzel, Vorwärts, wir gehen zurück, in: Walter Homolka, Erich Zenger (Hgg.), „… damit sie Jesus Christus erkennen“. Die neue Karfreitagsfürbitte für die Juden, Freiburg i. Br. 2008, 36-46. 359 Ebd. 36f.
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Mitglieder der islamischen Gemeinde würden den Karpfen für das Essen zubereiten und auch den Weihnachtsbaum so schmücken, wie es das christliche Religionsgesetz vorschreibe. Einige Exemplare einer Liederordnung könnten auch besorgt werden. Auf diese Weise würden Muslime dann einmal genuin miterleben, wie ein christlicher ‚Heiligabend’ abläuft.“360
1.3 Sederfeiern und Judenmission In der Literatur finden sich Beispiele, dass konvertierte Christen/innen jüdischer Herkunft Liturgien erarbeiten und dafür werben, Seder Pessach mit dem christlichen Abendmahl zu verbinden und diese Feiern in christlichen Gemeinschaften zu begehen.361 Auch von evangelikalen Freikirchen, (juden-)missionarisch ausgerichteten Vereinen, messianischen Juden362 und Judenmissionswerken werden Pessach sowie andere 360 Anette Mirjam Böckler, Eine Nacht, anders als alle Nächte: Der Sederabend im Judentum. Eine Gedankenanregung anlässlich der Sederfeiern am Gründonnerstag in Kirchen, zitiert nach: Raupach-Rudnick, Abend-Mahl-Zeit, 1. 361 Vgl. Thilo, Therapeutische Funktion, im Anhang: „Eine christliche Sederfeier“, die von einem zum Christentum konvertierten Juden gestaltet wurde. Ebenso: Frank C. Senn, Should Christians Celebrate the Passover? In: Paul F. Bradshaw, Lawrence A. Hoffman (Eds.), Passover and Easter. The Symbolic Structuring of Sacred Seasons, Notre Dame Indiana 1999, 183205. Senn verweist auf die Konvertitin Barbara Balzac Thompson, die auf das besondere Interesse der Christen einging, in Erinnerung an das Letzte Abendmahl Jesu Seder Pessach zu feiern. 362 Die jüdische Position lautet, dass Judenchristen wie messianische Juden Christen sind. Denn: „Das Christentum ist in seinem Kern die Verneinung des Judentums, so wie das Judentum in seinem Wesen die Verneinung des Christentums ist.“ Rabbiner Chaim Rozwaski, Zur Judenmission, http://blog.jewish-dating.de/26-12-2006/rabbiner-dr-chaim-rozwaski-zurjudenmission (Stand: 08.05.2009). Die Bezeichnung „Judenchristen“ wird in dieser Arbeit nicht gebraucht. Es wird jedoch – im Wissen um den jüdischen Widerspruch und in Anpassung an den üblichen Sprachgebrauch – der Verständlichkeit willen von messianischen Juden gesprochen. Dieses folgt den Ausführungen von Stefanie Pfister (Messianische Juden in Deutschland. Eine historische und religionssoziologische Untersuchung, Berlin 2008, 131f), die feststellt, dass die Bezeichnung „messianische Juden“ in Deutschland die geläufigste Bezeichnung ist. Auch von den Mitgliedern der messianischen Bewegung selbst werde der Begriff als „adäquat“ bezeichnet und „als ‚In-vivo-Kode’ in Gesprächen, Zeitschriften, Gottesdiensten, Interviews benützt (Selbstbeobachtung des religiösen Systems)“ (Ebd. 131). Nach Pfister grenzt sich die Bezeichnung „deutlich von dem Begriff des ‚Judenchristen’ ab, der für die an Jesus glaubenden Juden der ersten Jahrhunderte galt, die trotz ihres Glaubens dem jüdischen Religionsgesetz treu blieben“ (Ebd. 131f). Dass sie in ihrer Studie Juden, die an Jesus als den Messias glauben, weiter als Juden bezeichnet, begründet sie u. a. damit, „dass ein von einer jüdischen Mutter geborener Jude nach dem jüdischen Religionsgesetz auch ein Jude bleibt, wenn er z. B. ‚sündigt’, indem er zu einer anderen Religion übertritt“ (Ebd. 132). Pfister verweist jedoch in ihrer Studie selbst darauf, dass Vertreter der jüdischen
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jüdische Feste als christliche Feiern gestaltet und mit der Aufforderung zum Nachfeiern veröffentlicht. Die Sederfeiern von freikirchlichen Gemeinschaften, Judenmissionswerken und messianischen Juden sind nicht Gegenstand dieser Arbeit. Sie finden nur insofern Erwähnung, als Gemeinden innerhalb der verfassten evangelischen Landeskirchen mit messianischen Juden bzw. mit Judenmissionswerken zusammenarbeiten und mit diesen gemeinsam Sederfeiern gestalten.363 Als Ansprechpartner für evangelische Gemeinden bietet sich u. a. das in Deutschland mit über vierzig Gemeinden aktive und international vernetzte Judenmissionswerk „Beit Sar Schalom“ (BSS)364 an, das in Berlin-Lichterfelde eine messianisch-jüdische Ausbildungsstätte für messianische Theologen/innen unterhält. BSS verfolgt das Ziel, Jüdinnen und Juden zu missionieren und messianische Gemeinden zu gründen. Dazu bieten sie Evangelisationsprogramme an, „um ‚die effektivsten Methoden der Verbreitung des Evangeliums unter Juden auf der Basis ihrer Geschichte und der Bibel zu erlernen’“365. In Berlin sucht BSS nicht nur die Zusammenarbeit mit evangelikal ausgerichteten Freikirchen sowie Vereinen und Gruppen, sondern wirbt um diese auch bei Gemeinden der evangelischen Landeskirche. Anknüpfungspunkt ist u. a. das Angebot gemeinsamer Sederfeiern. Dazu vertreibt BSS seit mehreren Jahren die DVD „Pessach-Seder – Jüdisch-messianisches Passahmahl“ mit dem Kommentar:
Gemeinde in Deutschland das messianische Judentum grundsätzlich ablehnen, da dieses jüdische Identität vortäusche, um Juden zur Konversion zum Christentum zu bewegen. Vgl. ebd. 131f. 363 Ein vergleichbares Beispiel aus der katholischen Kirche, bei dem Seder mit messianischen Juden gemeinsam gefeiert oder mit dem Ziel der Judenmission verbunden wird, kann im Rahmen dieser Arbeit nicht nachgewiesen werden. 364 Das Judenmissionswerk „Beit Sar Schalom e.V.“ (im Folgenden BSS genannt) wurde im Jahr 1996 als deutscher Zweig des internationalen Missionswerks „Chosen People Ministries“ (CPM) von dem ukrainischen messianischen Juden Wladimir Pikman gegründet. Im Jahr 2004 schloss sich BSS dem ebenfalls international arbeitenden Verband Chosen People Global Ministries an, in dem die einzelnen Werke unabhängig agieren. Vgl. Beit Sar Schalom, Evangeliumsdienst e. V., www.beitsarschalom.org/de (Stand: 10.03.2010). Im Jahr 2006 beschäftigte das Missionswerk BSS bereits 20 Mitarbeiter und hatte Missionare in folgende deutsche Städte entsandt: je zwei Missionare nach Berlin und München, je einen Missionar nach Düsseldorf, Aachen, Heidelberg, Würzburg, Bamberg, Osnabrück und Erfurt. Vgl. Pfister, Messianische Juden, 120f. 365 Beit Sar Sschalom, Evangeliumsdienst e. V., www.beitsarschalom.org/de (Stand: 10.03.2010).
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„Als messianische Juden feiern wir jährlich das Passahmahl, wie Jeschua (Jesus) dies auch getan hat. Gerade diese Passahordnung wurde durch Jesus erfüllt und liegt dem christlichen Abendmahl zugrunde. Um Ihnen zu helfen, das jüdisch-messianische Passahmahl zu erleben bzw. besser kennen zu lernen, haben wir die professionelle Videoaufnahme unseres Passahmahles, das vor zwei Jahren in Berlin auf Deutsch in Gegenwart von mehr als 500 Gästen gefeiert wurde, als DVD vorbereitet. Dabei erlebt man messianische Lobpreismusik und ein Passahmahl nach jüdischbiblischen Riten, zu dem Gottes Rettungsplan sowie die Wurzeln des daraus entstandenen christlichen Abendmahls erklärt werden.“366
Zu den evangelischen Gemeinschaften, die mit dem Ziel der Judenmission mit messianischen Juden und mit organisierten Judenmissionswerken zusammenarbeiten, zählt die Geistliche Gemeindeerneuerung (GGE), eine charismatische Bewegung innerhalb der verfassten evangelischen Landeskirchen. Sie ist als Erneuerungsbewegung ab den 60er Jahren entstanden und ist EKD-weit, jedoch stärker in den südlichen Landeskirchen aktiv. Personelle Unterstützung findet die GGE durch Kirchenmitglieder und durch Pfarrer/innen im aktiven kirchlichen Dienst der jeweiligen Landeskirche.367 Als charismatische Bewegung versteht sich die GGE als Teil eines weltweiten Aufbruchs, gekennzeichnet – so die Selbstdarstellung der GGE im Internet – durch die „Erfüllung mit dem Heiligen Geist“368, die missionarische Kraft verleiht und die Neubelebung von Charismen ermöglicht. Nach eigenen Angaben arbeitet sie mit allen Kirchen zusammen, besonders aber mit Freikirchen und Kommunitäten, die sich der missionarischen Arbeit verschrieben haben. Das Thema „Israel“ sieht die GGE in der evangelischen Kirche in Stellungnahmen vertreten, ansonsten aber vernachlässigt, wenn es gilt, den Israelbezug in den Gemeinden zu leben.369 Hinwendung zu Israel 366 Ders., E-mail-Informationsdienst vom März 2010, „Office – BSSE“