Auf den Spuren Zarathustras: Der Einfluß Nietzsches auf die bürgerliche deutsche Philosophie [Reprint 2021 ed.] 9783112478127


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Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Einleitung
Teil I. Was sich hinter der „Umwertung aller Werte" verbirgt
Kapitel 1. Der Nihilismus als Bote des Untergangs der kapitalistischen Zivilisation
Kapitel 2. Der „Versuch einer Umwertung aller Werte" und die Aufgaben der „neuen" Philosophie
Kapitel 3. Wovon die Mythen sprechen
Kapitel 4. Der Entwurf der „großen Politik"
Teil II. Vom „Zarathustra" zum „Mythus des XX. Jahrhunderts"
Kapitel 5. Die „akademische" Lebensphilosophie
Kapitel 6. Schicksal, Seele, Geist
Kapitel 7. Der Wille zur Macht als „Wille zur Totalen Mobilmachung"
Kapitel 8. Die Philosophie Nietzsches und der Faschismus
Teil III. Die neue Wiederkunft Zarathustras
Vorwort
Kapitel 9. Die „Entnazifizierung" Nietzsches
Kapitel 10. „Große Politik" und politische Philosophie
Kapitel 11. „Abschied von der bisherigen Geschichte"
Kapitel 12. „Natürlicher Humanismus"
Kapitel 13. Der phänomenologische Ansatz
Teil IV. Die „Holzwege" des Existentialismus
Vorwort
Kapitel 14. Nietzsche entgegen
Kapitel 15. Nihilismus : Geschichte und Gegenwart
Kapitel 16. Kann der Mensch „sich selbst überwinden"?
Schlußbemerkung
Anmerkungen
Literaturverzeichnis
Personenverzeichnis
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Auf den Spuren Zarathustras: Der Einfluß Nietzsches auf die bürgerliche deutsche Philosophie [Reprint 2021 ed.]
 9783112478127

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S. F. Oduev

Auf den Spuren Zarathustras

S. F. Oduev

Auf den Spuren Zarathustras

Der Einfluß Nietzsches auf die bürgerliche deutsche Philosophie

AKADEMIE-VERLAG • BERLIN 1977

Russischer Originaltitel: C. . OayeB T p o n a M H 3apaTycTpbi: B n u a H H e H H u m e a H C T B a Ha HeMeuKyio 6ypHcya3Hyro HJioco4>wo M3iiaTeiibCTB0 „Mbicjib", M o c K B a 1971

Übersetzer: Günter Rieske, Leipzig Herausgeber der deutschen Ausgabe: Hans-Martin Gerlach, Leipzig Günter Rieske, Leipzig

Erschienen im Akademie-Verlag, 108 Berlin, Leipziger Str. 3—4 © Akademie-Verlag Berlin 1977 Lizenznummer: 202 • 100/284/77 Gesamtherstellung: VEB Druckerei „Thomas Müntzer", 582 Bad Langensalza Einbandgestaltung: Nina Striewski Bestellnummer: 7524979 (6275) • LSV 0115 Printed in G D R DDR 22— M

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

7

Einleitung

13

Teil I Was sich hinter der „Umwertung aller Werte" verbirgt Kap. 1 Der Nihilismus als Bote des Untergangs der kapitalistischen Zivilisation

31 . .

37

Kap. 2 Der „Versuch einer Umwertung aller Werte" und die Aufgaben der „neuen Philosophie"

51

Kap. 3 Wovon die Mythen sprechen

71

Kap. 4 Der Entwurf der „großen Politik"

91

Teil II Vom „Zarathustra" zum „Mythus des XX. Jahrhunderts"

109

Kap. 5 Die „akademische" Lebensphilosophie W. Dilthey, G. Simmel, M. Scheler

116

Kap. 6 Schicksal, Seele, Geist O. Spengler, L. Klages . . .

144

Kap. 7 Der Wille zur Macht als „Wille zur Totalen Mobilmachung" E.Jünger Kap. 8 Die Philosophie Nietzsches und der Faschismus A. Baeumler, A. Rosenberg

. 172 198

Teil III Die neue Wiederkunft Zarathustras

223

Kap. 9 Die „Entnazifizierung" Nietzsches

231

Kap. 10 „Große Politik" und politische Philosophie

251

Kap. ¡1 „Abschied von der bisherigen Geschichte" A. Weber

274

Kap. 12 „Natürlicher Humanismus" Karl Löwith

291

5

Kap. 13 Der phänomenologische Ansatz E.Fink

307

Teil IV Die „Holzwege" des Existentialismus

325

Kap. 14 Nietzsche entgegen K. Jaspers

332

Kap. 15 Nihilismus: Geschichte und Gegenwart M.Heidegger

370

Kap. 16 Kann der Mensch „sich selbst überwinden"? O. F. Bollnow

403

Schlußbemerkung

427

Anmerkungen

432

Literaturverzeichnis

437

Personenverzeichnis

450

6

Vorwort zur Ausgabe in deutscher Sprache

Die Erfahrungen, die die fortschrittlichen Kräfte in den Klassenauseinandersetzungen mit dem Imperialismus seit Jahrzehnten gemacht haben und die in den theoretischen Leistungen der internationalen kommunistischen und Arbeiterparteien eine konsequent wissenschaftliche und parteiliche Verallgemeinerung erfuhren, zeigen uns heute, daß es immer mehr gelingt, den Imperialismus dazu zu zwingen, auf die weltweite Entspannungspolitik der sozialistischen Staaten und aller friedliebenden, progressiven Kräfte einzugehen. Das von den sozialistischen Ländern zur Maxime ihrer Politik gemachte Prinzip der friedlichen Koexistenz setzt sich durch den Klassenkampf der drei revolutionären Hauptströmungen immer stärker durch. Das bedeutet jedoch nicht, daß sich das Klassenwesen der internationalen Monopolbourgeoisie gewandelt hätte. Die systemimmanente Aggressivität des Imperialismus entspringt dessen ökonomischen Grundlagen; der Imperialismus besitzt daher heute ein ebenso aggressives Wesen wie in seiner Herausbildungsphase. In der Gegenwart verlagert sich die Aggressivität des Imperialismus immer mehr auf das ideologisch-weltanschauliche Gebiet. Das geistige Leben unserer Epoche ist gekennzeichnet durch eine sich ständig verschärfende Auseinandersetzung zwischen den Ideen des MarxismusLeninismus und allen Spielarten des bürgerlichen Denkens. Das Spektrum der bürgerlichen Ideologie im Kampf gegen den MarxismusLeninismus wird in der Gegenwart immer breiter; es reicht von revisionistischen Theorien bis hin zu neokonservativen und neofaschistischen Kampfideologien, von „gemäßigten" und „verfeinerten" Formen des Antikommunismus bis hin zu dessen grob militanten Varianten, vom „Humanen Sozialismus" bis hin zur offenen Propagierung der Barbarei. Letzteres findet seinen Ausdruck nicht nur in der „Hitler-Nostalgie" oder anderen Reminiszenzen an den Faschismus der 20er und 30er Jahre, sondern auch in den gegenwärtigen politischen Aktivitäten neofaschistischer Elemente nicht nur in Italien: faschistische Diktaturen und rechts7

reaktionäre Putsche haben die Form, nicht aber ihr Wesen geändert. Es ist nicht verwunderlich, daß diese imperialistischen Kreise ihre „geistige Traditionslinie" immer wieder an der Philosophie Friedrich Nietzsches ausrichten — Nietzsches Philosophie des „Willens zur Macht" war die erste ideologische Reflexion dessen, was auf der Grundlage des Übergangs des Kapitalismus der freien Konkurrenz in das monopolistische Stadium als gesamtgesellschaftliche Realität innerhalb der bürgerlichen Ordnung immer deutlicher Gestalt annahm. Die Philosophie Nietzsches, zu Lebzeiten des Philosophen noch kaum beachtet, erlebte bald eine ungeheure Breitenwirkung, und obwohl sie nach der Zerschlagung des Faschismus zunächst als stark kompromittiert galt, hat sie einen angestammten Platz im ideologischen Arsenal der Bourgeoisie, die sich dieser Waffe in vielfältiger Weise in den theoretischen Auseinandersetzungen unserer Zeit bedient. Der sowjetische Philosoph S. F. Oduev hat in der vorliegenden umfangreichen Arbeit das verdienstvolle Unternehmen in Angriff genommen, Werdegang und Wirkung des Nietzscheschen Denkens einer wissenschaftlichen Analyse und einer prinzipiellen Kritik vom Standpunkt der marxistisch-leninistischen Philosophie aus zu unterziehen. Oduevs Konzeption des Herangehens an den Nietzscheanismus ist auf zwei Schwerpunkte gerichtet. Einmal geht es ihm darum, das philosophische Denken Friedrich Nietzsches selbst einer marxistischen Analyse und Kritik zu unterziehen. Das ist ein durchgehendes Anliegen aller vier Teilabschnitte des Buches, auch wenn sich Oduev nur im ersten Abschnitt speziell mit den Grundpositionen des Nietzscheschen Denkens beschäftigt. Hier wird dem Leser in kritisch-analytischer Weise sowohl ein Aufriß der Ansichten Nietzsches gegeben als auch gezeigt, wie diese in die sozialökonomischen, politischen und ideologischen Verhältnisse des sich entwickelnden imperialistischen Deutschland vor der Jahrhundertwende eingebettet sind. Zum anderen verfolgt Oduev als marxistisch-leninistischer Philosophiehistoriker die „Spuren" Zarathustra-Nietzsches in der Ideologie des imperialistischen Deutschland bzw. nach 1945 in der in der B R D vorherrschenden Ideologie. Diese Spuren zeichnen sich bereits in der „akademischen" Lebensphilosophie ab, wenn auch zunächst verwischt und überlagert von anderen theoretischen Problemen. Die Philosophieprofessoren Dilthey, Simmel und Scheler gehen in jedem Fall ihren eigenen Weg bei der Entwicklung der bürgerlichen Lebensphilosophie. Sie kommen aber nicht umhin, mit einem „Lebensbegriff' zu arbeiten, der in seiner Irrationalität weitgehend mit dem Nietzsches übereinstimmt, weil ihre gemeinsame 8

gesellschaftliche Voraussetzung die wachsende Entfremdung des Menschen vom Mitmenschen, von der Gesellschaft und der Natur ist, die das Leben in seinen sozialen und individuellen Dimensionen im Imperialismus immer fremder, unverständlicher werden läßt. Simmel und später Scheler beginnen dann zunehmend, die Philosophie Nietzsches mit ihren eigenen Anschauungen zu verbinden. Mehr und mehr werden die „Spuren" Zarathustra-Nietzsches zu ausgefahrenen Gleisen; auf ihnen bewegen sich philosophisch-literarische Konservative vom Schlage Spenglers, der den „Untergang des Abendlandes" verkündet, Klages', der im Geist den Widersacher der Seele sieht, und Jüngers, der mit dem Willen zur „Totalen Mobilmachung" Nietzsches „Willen zur Macht" an die geistige Welt der agressiv-militärischen Kreise des deutschen Monopolkapitals anpaßte und den Weg des Nietzscheanismus in die faschistische Barbarei ideologisch ebnete. Rosenbergs „Mythus des 20. Jahrhunderts" ist sicher eine Vulgarisierung auch Nietzscheschen Gedankengutes, und sicher stimmt Nietzsches geistiger Aristokratismus äußerlich nicht mit der bornierten Blut-undBoden-Ideologie des Nazismus überein, aber auch die dem Zusammenbruch des faschistischen Reiches folgende „Entnazifizierungs"-Phase der Nietzscheschen Philosophie konnte nicht vergessen machen, daß hier bei aller Verschiedenheit der Erscheinungsformen eine Wesensgleichheit mit der Philosophie des „Übermenschen" vorliegt. Auch bürgerliche Ideologen, die sowohl Nietzsche als auch der aggressiven Ideologie des deutschen Imperialismus insgesamt kritisch gegenüberstehen, werden durch klassenspezifische Erkenntnisschranken gehindert, die Klassenbasis zu sehen, die diese Ideologie mit Notwendigkeit hervorbringt: das mit zunehmender Krisenhaftigkeit immer agressiver reagierende Monopolkapital, dessen Hauptstoßrichtung zu allen Zeiten die fortschrittliche Arbeiterbewegung und der SozialismusKommunismus, zunächst als wissenschaftlich begründetes Ideal, dann als gesellschaftliche Realität, war und ist. Da jedoch die bürgerliche Gesellschaft nach 1945 zunächst nicht in den alten Bahnen imperialistischer Ideologieproduktion fortfahren konnte, schien auch der Nietzscheanismus eine Zeitlang nicht mehr eine solche exponierte Rolle im bürgerlichen Denken zu spielen. Oduev analysiert jedoch in instruktiver Weise, wie die Nietzschesche Philosophie nach ihrer „Entnazifizierung" nicht nur wieder voll in das spätbürgerliche Geistesleben der B R D eingegliedert wurde, sondern auch aus der Katastrophe heraus für ganze Bevölkerungsschichten neue „Lebensideale" zu setzen vermochte. Das war allerdings nur möglich, 9

indem sich diese Philosophie im Prisma anderer Weltanschauungen brach, die dem Nietzscheanismus z. T. unter dem Anschein „rein" theoretischen Interesses, z. T. direkt unter dem Gesichtspunkt seiner Nutzbarmachung für aktuelle Situationen einen festen Platz als Text im Kontext der Ideologie des westdeutschen Monopolkapitals einräumen und unter den neuen Bedingungen weiter entwickeln. Oduev verfolgt diesen Prozeß der Neubesinnung der Bourgeoisie auf „ihren Zarathustra" an ausgewählten Beispielen der philosophischen Entwicklung in der BRD. Bekannte westdeutsche Philosophen, wie A. Weber, K. Löwith, E. Fink, K. Jaspers, M. Heidegger, O. F. Bollnow, und ihre Lehren werden hinsichtlich ihres Beitrages zur Fortentwicklung der Nietzscheschen Traditionslinie unter den Bedingungen der dritten Etappe der allgemeinen Krise des Imperialismus einer kritischen Analyse unterzogen. Oduev hebt hervor, daß es bei aller Verschiedenheit der philosophisch-theoretischen Ausgangspunkte und Schlußfolgerungen dieser spätbürgerlichen Ideologen ein verbindendes Element gibt — den Antikommunismus; über den der Nietzscheanismus auch heute eine Weiterentwicklung und ständige Neubelebung erfahrt. Die Bedeutsamkeit der Arbeit Oduevs besteht insbesondere darin, daß sie nicht nur eine philosophiehistorische Abhandlung über Nietzsches Philosophie und deren Wirkungsweise bis in die Gegenwart darstellt, sondern daß er über diesen Rahmen hinaus den Gesamtzusammenhang zwischen einer Hauptlinie der bürgerlichen Weltanschauung und den politisch-sozialen Prozessen der Entwicklung des deutschen Imperialismus seit dem Ende des vorigen Jahrhunderts darlegt. Das ist um so bedeutsamer, als in der deutschen Geschichte das von Nietzsche selbst proklamierte Bündnis zwischen (seiner) Philosophie und (der) Politik unter imperialistischen Herrschaftsbedingungen die Welt zweimal in furchtbare Katastrophen gestürzt hat. Oduev demonstriert, wie es sich mit marxistischer Parteilichkeit mit einer Etappe des bürgerlichen deutschen Geisteslebens offensiv auseinanderzusetzen gilt. Die ältere Generation hat die praktischen und politischen Auswirkungen der Theorie vom „Übermenschen" in ihren barbarischen Konsequenzen während der Zeit des Faschismus kennengelernt. Die heutige Generation stößt in der Auseinandersetzung mit der bürgerlichen Ideologie, insbesondere mit anarchistischen und „neomarxistischen" Theorien der Entfremdung, der „Kulturkritik" und der Décadence, mit modernistischen Kunstauffassungen und den vielerlei „Revolutionslehren" häufig auf originär Nietzschesches Gedankengut, ohne sich dessen bewußt zu sein. So verbergen sich u. a. sowohl in den linksanarchistischen Revolutions10

theorien eines H. Marcuse, die Ende der 60er Jahre stark auf ultralinke studentische Radikale wirkten, als auch in den „Emanzipations"vorstellungen der revisionistischen Zagreber Praxisgruppe Grundpositionen der Nietzscheschen Philosophie. Mit Verweisen auf eine vorgebliche „Enge" und ökonomische „Einseitigkeit" der Marxschen Theorie vom Klassenkampf wird der Weg geebnet, um Nietzsches subjektivistisch aufgeblähte Kulturkritik, seine Kritik am liberalen Bürgertum und seiner Spießermoral als einen entscheidenden Beitrag für die Emanzipation „des" Menschen aus den Banden „der Kultur und Moral" darzustellen. Der Nietzschesche Nihilismus und seine Auffassung von Kultur und Dekadenz feierten in den verschiedenartigen Vorstellungen ultralinker „Kulturrevolutionäre" eine Wiedergeburt. Oduev hat sich in seinem Buch vorwiegend der spätbürgerlich-liberalen und konservativ-reaktionären Entwicklungslinie des Nietzscheanismus zugewandt. Es ist ihm hervorragend gelungen, den grundsätzlichen Bezug dieser Ideologie und der geschichtlichen Entwicklung des deutschen Imperialismus in den politischen Hauptetappen darzustellen; von dieser Position aus ist es möglich, die Auseinandersetzung mit den Wirkungen des Nietzscheanismus auf die imperialistische Ideologie unserer Tage weiterzuführen. Oduevs Buch kommt so einem dringenden Bedürfnis entgegen; denn in unserer Republik ist seit Jahrzehnten keine größere Veröffentlichung zu diesem wichtigen ideologischen Problem erschienen. Wir haben bei der Vorbereitung der Ausgabe in deutscher Sprache von vornherein darauf verzichtet, möglichst wortgetreu aus dem Russischen zu übersetzen. Das ergab sich zunächst daraus, daß Oduev bei der Vorbereitung der zweiten russischen und einer französischen Ausgabe z. T. beträchtliche Veränderungen vorgenommen hat, die er uns freundlicherweise sofort mitgeteilt hat, womit die Notwendigkeit wegfiel, die Übersetzung dem russischen Original vergleichbar zu machen. Entscheidender war jedoch die Überlegung, daß es mehr darauf ankommt, den Sinn getreu wiederzugeben. Cervantes läßt seinen Don Quijote sagen: „Dessenungeachtet scheint es mir, daß das Übersetzen aus einer Sprache in die andere . . . sich so verhält, als wenn man die flamländischen Tapeten auf der unrechten Seite sieht; denn obgleich sich die Figuren zeigen, so sind sie doch voller Fäden, die sie entstellen, und sie zeigen sich nicht in der Schönheit und Vollkommenheit". Da Oduev fast ausschließlich deutschsprachige Literatur verarbeitet hat, wäre eine wortwörtliche Übersetzung bei der Wiedergabe der einzelnen philosophischen Ansichten darauf hinausgelaufen, diesen Effekt zu verdoppeln, es hätte — um im Bilde zu bleiben — bedeutet, nach dem Muster einer von hin11

ten betrachteten gewebten Tapete eine zweite herzustellen und von hinten zu betrachten. Es wurde jedoch alle erforderliche Sorgfalt aufgewendet, um Inhalt und Stil der Argumentation Oduevs originalgetreu zu erhalten. Wir glauben, daß der Erkenntniswert und der Reiz des vorliegenden Buches nicht zuletzt auch in dem originellen Herangehen Oduevs an dieses Thema bestehen. Die Herausgeber möchten es nicht versäumen, S. F. Oduev herzlich zu danken für sein Entgegenkommen und die Hilfe, die er bei der Überwindung der angedeuteten Schwierigkeiten und der Gestaltung der deutschsprachigen Ausgabe erwiesen hat. Halle, Juni 1974

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Hans-Martin Gerlach Günter Rieske

Einleitung

Im Jahre 1883 erschien in Leipzig ein Buch mit dem Neugier erweckenden Titel „Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen". Sein Verfasser — der ehemalige Professor an der Baseler Universität Friedrich Wilhelm Nietzsche — war auf literarischem Gebiet schon kein Neuling mehr. Zu dieser Zeit hatte er bereits nicht wenige philosophische Arbeiten und einige dichterische Werke veröffentlicht, aber diese waren fast gänzlich unbemerkt geblieben. Auch die neue Arbeit brachte ihm, entgegen seinen eigenen Erwartungen, keinen Ruhm; es wurden kaum 60 Exemplare davon verkauft. „Also sprach Zarathustra" ist ein symbolisches Poem, in dem jede Metapher und jede Wendung mit einem auf prophetische Offenbarungen prätendierenden philosophischen Untertext erfüllt ist. In den Reden Zarathustras spricht der Autor mit kunstvollem, dichterischem Pathos und apostolischer Unfehlbarkeit sein theoretisches Credo aus, er zieht ein Fazit des bisherigen philosophischen Denkens und zeichnet die Perspektiven künftigen Philosophierens. Er hält seine Schöpfung für die größte Errungenschaft irdischer Weisheit, für die Inkarnation der „wahren" Philosophie — der dionysischen Philosophie der „höchsten T a t " ; bis dahin war unbekannt, was Größe und Wahrheit sind; in der Person Zarathustras ist der Welt der erste Prophet und Verkünder von Größe und Wahrheit erschienen. Nietzsche hatte vorausgesagt, daß irgendwann einmal eigene Lehrstühle zur Interpretation seines „Zarathustra" errichtet werden. Diese „Prophezeiung" erfüllte sich auf eine unerwartete Art und Weise. Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde der „Zarathustra" in Deutschland das möglicherweise bekannteste philosophische Werk. Die Auflagenziffern stiegen, die Popularität wuchs. In den Jahren des ersten, vor allem aber des zweiten Weltkrieges waren Taschenausgaben dieses Buches fast in jedem Soldatentornister zu finden. Die SA- und SS-Leute nannten sich bei ihren Ausschreitungen im eigenen Land und bei ihren 13

Raubzügen in den okkupierten Gebieten mit hochmütigem Stolz Söhne Zarathustras. Zarathustra wurde zum Symbol des Nietzscheanismus, zur Parole, die den Zugang zu den Geheimnissen dieser Philosophie eröffnet, welche bis heute einen gewaltigen Einfluß auf das bürgerliche Denken ausübt. Die Vertreter vieler bürgerlicher philosophischer Schulen, ganz gleich, woher ihre genealogische Linie abzuleiten ist, gerieten nicht selten auf die verschlungenen theoretischen Pfade, auf denen der Zarathustra Nietzsches gegangen war. In der bürgerlichen philosophiehistorischen Literatur wird der Name Nietzsche hin und wieder in eine Reihe mit dem Namen Hegels gestellt. Derartige Parallelen sind mehr als riskant, aber sie werden dennoch gezogen. Wir wollen einige von ihnen anführen. „Nietzsche", schreibt E. Fink, „ist eine der großen Schicksalsfiguren der abendländischen Geistesgeschichte, ein Mensch des Verhängnisses, der zu letzten Entscheidungen zwingt, ein furchtbares Fragezeichen am Weg, den bislang der europäische Mensch ging, bestimmt durch das Erbe der Antike und zweitausend Jahre Christentum. Nietzsche: das ist der Verdacht, daß dieser Weg ein Irrweg war, daß sich der Mensch verlaufen habe, daß eine Umkehr notwendig sei . . . Hegel und Nietzsche ist gemeinsam das historische Bewußtsein, das auf die ganze abendländische Vergangenheit zurückdeutet und sie prüfend wägt. . . Hegel leistet die ungeheure Arbeit des Begriffs, indem er alle Wandlungen des menschlichen Seinsverständnisses nachdenkt und integriert, alle gegenteiligen Motive der Geschichte der Metaphysik in der höheren Einheit seines Systems vereint — und so diese metaphysische Geschichte zu einem Abschluß bringt. Für Nietzsche ist die gleiche Geschichte nur die Geschichte des längsten Irrtums — eine Geschichte, die er bekämpft in einer maßlosen Leidenschaft, in einer von Spannung bebenden Polemik, die verdächtigt, unterstellt, in einem tobenden Haß und bitteren Hohn, geistreich und zugleich mit allen hinterhältigen Tücken dieses Pamphletisten. „Seine Philosophie ist vielleicht noch immer unverstanden und harrt wesentlicher Deutungen". 1 „Hegel und Nietzsche sind die beiden Enden, zwischen denen sich das eigentliche Geschehen der Geschichte des deutschen Geistes im 19. Jahrhundert bewegt", schreibt K. Löwith. „In Wirklichkeit hat aber Hegels Werk durch seine Schüler eine kaum zu überschätzende Wirkung auf das geistige und politische Leben gehabt, während sich die zahllosen I FINK, E., Nietzsches Philosophie, Stuttgart I960, S. 7, 9.

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Einflüsse, die seit 1890 von Nietzsche ausgingen, erst in unserer Zeit zu einer deutschen Ideologie verdichteten." 2 Hegel ist also die historische Vergangenheit des abendländischen philosophischen Denkens, seine glänzendste Seite. Nietzsche dagegen dessen heutiger Tag und dessen Zukunft; der Einfluß Hegels ist bereits vorbei, Nietzsches Einfluß ist erst dabei, sich zu entfalten. In dem Zeitraum zwischen Hegel und Nietzsche konnte sich der „deutsche Geist" nicht mit seiner ganzen „Macht" offenbaren, und erst seit Nietzsche datiert die neue Wendung in seinem majestätischen Dahinschreiten. Derartige Schlußfolgerungen sind nicht nur für Nietzsche-Epigonen charakteristisch, sondern auch für einen bestimmten Teil deutscher Professoren, zu denen auch Fink und Löwith gehören, die auf ein eigenes Wort in der Philosophie prätendieren. Vergleiche dieser Art können indessen auch als indirekte Bestätigung für den Niveauverfall des philosophischen Denkens und für die Veränderungen seiner weltanschaulichen Funktionen dienen. Aus ihnen folgt, daß der Nietzscheanismus, als Ganzes genommen, erstens die logische Vollendung jener Entwicklungslinie des philosophischen Denkens ist, die von den Höhen der Vernunft und des Rationalismus, die es bei seiner Aufwärtsentwicklung erreicht hat, hinunter führt in die finsteren Tiefen des Irrationalismus und der Mythenschöpfung, und zweitens bedeutet er den Bruch mit den klassischen philosophischen Traditionen, den Aufruf zu ihrer Umwertung (denn die gesamte vorherige Philosophie wird als „Geschichte des längsten Irrtums" aufgefaßt, die es zu bekämpfen gilt), den Beginn einer neuen Etappe. Zarathustra kommt mit Adler und Schlange in die Welt. Aber sein Adler kann sich nicht mehr zu den früheren Höhen aufschwingen; Zarathustras Reden beeindrucken durch verführerische Schlangenweisheit, nicht aber durch den geistigen Höhenflug eines Adlers. Der Nietzscheanismus entstand in den 70er und 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts, in der Übergangsperiode, als sich die ersten Anzeichen der Krise der kapitalistischen Produktionsweise zeigten und sich die Keime des künftigen Monopolkapitalismus durchzusetzen begannen. Nietzsche war einer der ersten bürgerlichen Theoretiker, der mit scharfem Klasseninstinkt fühlte, daß die Gesellschaft, in der er lebt, ihre geistige „Gesundheit", ihre Kultur von einer verborgenen Krankheit angefressen wird, daß die von ihr verkündeten Ideale, all das, was sie für die „höchsten Werte" hält, entwertet, daß ihre Grund2

LÖWITH, K.., Von Hegel zu Nietzsche, Stuttgart 1958, S. 7.

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pfeiler erschüttert werden. Er sah den „drohenden Aufstand der Massen", die wachsende Wucht der Befreiungsbewegung der Werktätigen, deren Kulmination die Pariser Kommune war, er erriet, woher die Hauptgefahr für die „natürliche Lebensordnung" kommt. Außerdem war er der Meinung, daß die liberale Bourgeoisie unfähig ist, den beginnenden Zerfall der Gesellschaft abzuwenden und die schädlichen, dekadenten Tendenzen in der geistigen Sphäre — in Philosophie, Kunst und Literatur — aufzuhalten. Alle seine Hoffnungen für die Zukunft verknüpfte er mit romantischen Illusionen über eine neue, aus dem Schoß des Alten hervorgehenden Kraft, die imstande ist, der Entwicklung eine neue Wendung zu geben, eine Kraft, die er als die der „neuen Herren der Erde" begrüßte. Es gelang ihm, viele entscheidende Probleme vorauszusehen, denen sich die theoretische und weltanschauliche Tätigkeit der „neuen" Philosophen unterzuordnen hat, und Forderungen zu formulieren, vor denen sie unter den veränderten Bedingungen stehen. Nietzsche hatte nicht die geringste Ahnung von den objektiven Ursachen und den Triebkräften der vor seinen Augen vor sich gehenden Prozesse, und er konnte sie selbstverständlich nur illusorisch reflektieren, indem er die ökonomischen und Klassenkonflikte als das Aufeinanderprallen von ideellen, ästhetischen und religiösen Prinzipien darstellte, und auch dies nur in der Form allgemeiner, in Mythen ausgedrückter Abstraktheit. Deshalb wuchert es in seiner Philosophie, wie F. Mehring mit Recht hervorhebt, von Paradoxen und unbewiesenen Widersprüchen grenzt sie manchmal an ein verzweifeltes Delirium des Geistes, aber objektiv ist sie „eine Verherrlichung des großen Kapitalismus, und als solche hat sie ein großes Publikum gefunden" 3 . Wenn wir diese Bemerkung Franz Mehrings angeführt haben, so wollen wir damit durchaus nicht sagen, daß Nietzsche ein oberflächlicher Denker sei, ein Dilettant, der nicht über eine elementare Kultur des philosophischen Denkens verfüge. Zwar war er seiner Verstandesveranlagung nach eher ein Künstlerphilosoph und kein Analytiker oder Systematiker, der der Wahrheit logische, wissenschaftliche Beweisstrenge verleiht. Aber er hat eigentlich auch gar nicht danach gestrebt; strenge Wissenschaftlichkeit widerstrebte seiner Methode des Philosophierens, die bewußt auf dem Subjektivismus gründet; das Paradoxe und Aphoristische dienen ihm als Ausdrucksmittel seiner Gedanken ebenso wie die Logik dem analytischen Denken. Übrigens verstand er 3 MEHRING, F., Über Nietzsche, in: Gesamte Schriften, Bd. 13, Berlin 1961, S. 182.

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es auch, sich der Logik zu bedienen: er verfügte über eine recht hohe Abstraktionsfähigkeit, wenn man diese in der Fertigkeit sehen will, den Übergang von' den Gegebenheiten des Lebens zu abstrakten Ideen zu vollziehen, die lebendige Wirklichkeit zu mythologisieren (es wäre ein Fehler, die Nietzscheschen Mythen nur als Abkehr von der Wirklichkeit zu verstehen und nicht als Resultat ihrer „Ableitung" aus der Interpretation realer gesellschaftlicher Zusammenhänge auf der Grundlage des „Philosophierens aus dem Leben selbst"). Nicht nur Klassen-, sondern auch philosophisches „Feingefühl" halfen ihm, aus dem Strom der Lebenserscheinungen jene Seinsphänomene herauszuschälen, die zu seiner Zeit nur als Tendenzen vorhanden waren, sich aber nach vielen Jahren als allgemeine Symptome des Krisenzustandes geltend machten. Der Subjektivismus, die Absage an wissenschaftliche Formen des Denkens führen dazu, daß sich für ihn die Abstraktion im Mythos vollendet. Andererseits jedoch sind Mythen eine sehr dehnbare Form, um geistige, ethische und soziale Probleme aufzuwerfen und zu lösen, so daß sie für eine veränderte Situation leicht zu adaptieren sind; folglich erhalten Fragestellung und Problemlösung in ihnen eine gewisse Zeitlosigkeit, und der Philosoph selbst wird zum „Seher" erhoben. Selbst einige der Fieberideen, die er „prophetisch" für die Zukunft ausgesprochen hatte, fanden ihre Erfüllung im Vorgehen der Monopolbourgeoisie, in Theorie und Praxis des Faschismus. Später dann, in den Nachkriegsjahren, versuchten die Verteidiger des Propheten, diese Ideen seinem „genialen Eigensinn" zuzuschreiben. Der Nietzscheanismus im engeren Sinne des Wortes als philosophische Strömung wird nur durch einen einzigen Philosophen — Nietzsche selbst — repräsentiert. Seine prominentesten Nachfolger zogen es vor, Gründer „eigener" Schulen zu werden, und die zahlreichen Epigonen und Kommentatoren fügten kein einziges Wort zu ihm hinzu; sie bereiteten seine Lehre nur nach dem Geschmack des gebildeten Konsumenten auf und ebneten ihr den Weg in die Hirne und Herzen der bürgerlichen Intelligenz. Der Nietzscheanismus geht, wie man weiß, in den allgemeinen (uferlos breiten) Strom des philosophischen Lebens ein, aber er löst sich nicht in ihm auf, wie auch einige andere Strömungen, die sich in offener Front gegen die offiziellen philosophischen Universitätsdoktrinen befinden. Weil er keine offizielle Doktrin ist, hat sich der Nietzscheanismus den Ruf einer unabhängigen kritischen Philosophie bewahrt, die erhaben ist über das Getümmel theoretischer, ideologischer und politischer Zwistigkeiten. In Anbetracht seiner Außenseiterstellung wenden 2

Oduev

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sich Vertreter konkurrierender Richtungen oft an Nietzsche als Schiedsrichter und nehmen gern seine Vermittlung an. Das wichtigste und entscheidende aber, womit sich die bis heute nicht nachlassende Aufmerksamkeit an seinem Schaffen und an seiner Person erklärt, wodurch sein Platz und seine Rolle unter den bürgerlichen Philosophen unseres Jahrhunderts bestimmt wird, besteht darin, daß man in ihm den „großen Frager" sieht, der es verstand, die Grundprobleme zu „erraten", an denen die Armee der theoretischen Waffenträger der Bourgeoisie bis heute arbeitet. Wenn die Bestimmung der Philosophie als Gewissen ihrer Epoche nicht nur eine Metapher und geflügelte Spruchweisheit ist, dann kann man, ohne sich an der Wahrheit zu versündigen, sagen, daß der Nietzscheanismus — in einer Übergangsphase der Entwicklung des Kapitalismus als ideelle Widerspiegelung der fortschreitenden Krise der bürgerlichen Kultur und des Geistes entstanden — wirklich das Gewissen, das kranke Gewissen dieser Übergangsphase ist. Im theoretischen Bewußtsein Nietzsches ist diese Krise zum ersten Mal mit einer solchen Schärfe erfaßt und widergespiegelt (selbstverständlich in der illusorischen und entfremdeten Form, in der sie einem Ideologen erscheinen mußte, der innerhalb des historisch und klassenmäßig begrenzten Horizonts des bürgerlichen Denkens verblieb); er nahm sie geistig mit krankhafter Unmittelbarkeit als persönliche Tragödie auf. Deshalb wendet sich die bürgerliche deutsche Philosophie jedesmal, wenn die Krisenerscheinungen augenfälliger sind und die Form einer ökonomischen, politischen und geistigen Krise annehmen, dem philosophischen Erbe Nietzsches als einer „Oase in der Wüste des Lebens" zu und versucht, diese Erscheinungen mit den Augen ihres talentvollen Vorläufers zu betrachten und zu bewerten. So war es zu Beginn unseres Jahrhunderts, in den Jahren des ersten Weltkrieges, als in Deutschland die erste Wiederkunft Zarathustras verkündet wurde. So war es in den 30er Jahren, als Zarathustra wieder zur Erde herabstieg, diesmal mit dem Hakenkreuz am Ärmel. Das geschah auch vor einigen Jahren, als er seine erneute Wiederkunft auf den Ruinen des faschistischen Reiches feierte. Der unruhige Geist Zarathustras hat zwar nie die wolkigen Sphären der Philosophie verlassen, aber der Erdenwandel des Propheten selbst wurde immer nur in den dramatischsten Momenten der deutschen Geschichte verkündet. Das bürgerliche Denken wendet sich in Krisensituationen immer wieder zu Nietzsche zurück, wobei es ihn — den Begleitumständen nach zu urteilen — jedesmal „auf neue Weise" liest. Aber er bleibt seinem Wesen 18

nach stets derselbe, nur die Maske ändert sich. Seine Mythen und Aphorismen zeichnen sich durch eine solche Scheindialektik aus, daß in ihnen stets die Möglichkeit verborgen ist, sie entsprechend den ideologischen Bedürfnissen des Augenblicks zu gruppieren und zu deuten und gleichzeitig die Stetigkeit der richtig erfaßten, beständigen, „ewigen" Klasseninteressen der Monopolbourgeoisie zu wahren. Jede Wiederkunft Zarathustras kündigt eine „Umwertung der Werte" an. Vor dem ersten Weltkrieg waren die „höchsten Werte" die Ideen der deutschen Gemeinschaft, des Reiches als Symbol der Macht und Unbesiegbarkeit der Nation, das „Vaterland", der „Lebensraum" usw. Der Faschismus erhob die Ideen von Blut und Rasse, des Tausendjährigen Reiches, von Pflicht und Ehre usw. zu den „höchsten Werten". Nach dem zweiten Weltkrieg geht so etwas wie eine „Negation der Negation" vor sich: in den Vordergrund gelangen die „Ideale der abendländischen Welt", der christlichen Zivilisation — Demokratie, Freiheit, atlantische Gemeinschaft usw. Aber wie sich auch die Werte ändern, ihre Umwertung bedeutet nur einen Dekorationswechsel vor dem nächsten Akt des historischen Dramas, dessen Hauptakteur der „deutsche Geist" in seinen verschiedenen Verkörperungen ist — der Geist des Willens zur Macht, der Herrschaft, der Eroberung und der Revanche. Und für alle diese Verkörperungen finden die handelnden Personen des Dramas die erforderlichen Masken in der Mythologie Nietzsches. Das ist der Grund, weshalb der zu Lebzeiten unbekannte Autor des „Zarathustra" bei den unterschiedlichsten Veränderungen der geistigen und politischen Situation im bürgerlichen Deutschland einer der populärsten Denker geblieben ist, dem alle Ehrerbietung erwiesen wird. Und je tiefer die bürgerliche Philosophie in die weltanschauliche Krise gerät, „desto üppiger wird" — nach einer Bemerkung von E. Fink — „der Nietzsche-Kult. Nietzsche wird zur legendarischen Gestalt verklärt, wird zum Symbol stilisiert." 4 Man wird selten einen bürgerlichen Theoretiker finden, der nicht seine Begeisterung über ihn ausgedrückt hätte, der nicht das Haupt vor seinem „Scharfsinn" gebeugt hätte usw. Das trifft auch auf Vertreter solcher philosophischer Richtungen zu, die in ihren theoretischen und gnoseologischen Voraussetzungen dem Nietzscheanismus diametral entgegengesetzt sind, auf Philosophen, die seine ausschließlich auf Lebenserscheinungen basierende Methode des Philosophierens und seine weltanschaulichen Exzesse nicht teilen konnten, daneben aber seine weltan4

2*

FINK, E., Nietzsches Philosophie, a. a. O., S. 9.

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schauliche und ideologische Aufladung, den von ihm erklärten Feldzug gegen Rationalismus und wissenschaftliche Erkenntnis begrüßten. „Das ist zwar nicht selbst schon Wissenschaft", schrieb Heinrich Rickert, „aber wissenschaftlich bedeutsam, weil es auf die Grenzen des wissenschaftlichen Denkens hinweist. Deshalb kann jeder, der die Begriffe mit der Wirklichkeit des Lebens verwechselt, auch philosophisch von Nietzsche viel lernen . . . Was für unsere Generation und für unsere Ohren verständlich zu sagen war, hat Nietzsche schön und eindringlich zum Ausdruck gebracht." 5 Durch weltanschauliche und ideologische Motive ist vor allem auch die Nachkriegs-„Renaissance" des Nietzscheanismus stimuliert. K. Jaspers schreibt über Nietzsche als „philosophischen Erzieher": „Der letzte Philosoph, der dieses fast im ganzen Umfang des Seinsmöglichen, an den Ursprüngen und Grenzen des Menschen . . . bewirken konnte, ist Nietzsche . . . Durch den geschichtlichen Augenblick der abendländischen Weltwende ist auch die Weise bestimmt, wie Nietzsche Erzieher sein kann." 6 Nietzsche wendet sich mit seiner Philosophie an Auserwählte, an die „Wenigen". Deshalb fehlt ihr auch die übliche, auf die Beeinflussung der Massen bedachte soziale Demagogie. Mehr noch, er prunkt betont mit seinem aristokratischen Haß gegen den „Pöbel", das Volk, mit seinem „majestätischen Zynismus". Daraus folgt jedoch nicht, daß der Nietzscheanismus ohne Maskierung auskommt. Im Gegenteil, der Schöpfer des „Zarathustra" ist ein Meister des Maskierens, ein Virtuose des „labyrinthischen" Denkstils. Selbst das Kokettieren mit nacktem Zynismus und Paradoxen ist eine Methode der (vielleicht unbewußten) Demagogie, mit deren Hilfe er versucht, die objektive Weltanschauung und den Begriff der Wahrheit zu diskreditieren, moralische Normen und Kritewurden, lächerlich zu machen. Er sieht seine Aufgabe darin, die Intelligenz von der Befreiungsbewegung zu lösen, sie aus dem Einfluß des Sozialismus auf der einen Seite und des philosophischen Pessimismus andererseits herauszureißen und zur Triebkraft und. zum Träger einer offensiven, aggressiven Ideologie zu machen. Nietzsche imponiert der Intelligenz vor allem durch seine Problematik (Kulturphilosophie und Ethik), die sich an diese soziale Schicht wendet. Die Kritik der 5 6

RICKERT, H., Die Philosophie des Lebens, Tübingen 1922, S. 179. JASPERS, K., Nietzsche. Einführung in das Verständnis seines Philosophierens, Berlin 1950, S. 4 5 3 - 4 5 4 .

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Kultur und der Moralpsychologie als vorwiegende Gegenstände seiner theoretischen Bemühungen verschaffen ihm in den Augen bürgerlicher Intellektueller die Autorität eines „objektiven" Denkers, der völlig im Nachdenken über geistige Werte aufgeht. Man darf aber nicht vergessen, daß sich die indirekte Apologetik des Kapitalismus, die nur im Ergebnis einer wissenschaftlichen Analyse, nicht aber durch emotionale Empfindungen entlarvt werden kann, hier entfaltet unter der Flagge einer Kritik an wirklichen Fehlern, Widersprüchen und Paradoxien der bürgerlichen Gesellschaft, auf welche der „kritisch denkende" Intellektuelle Tag für Tag und Stunde für Stunde stößt und die häufig Gegenstand seiner eigenen polemischen Attacken werden. In den Werken Nietzsches gibt es viele tiefgründige Beobachtungen und treffende Bemerkungen, die aufreizend klingen und emotional überzeugend sind. Er hielt sich für einen „freien Geist", für einen „Geistesaristokraten", der in seinen Urteilen unabhängig ist, und er konnte es sich gestatten, mehr zu sagen und offener zu sprechen als ein beliebiger Staatstheoretiker, der „ad coram publico" spricht und schreibt. Er konnte sich über einige Vorurteile seiner Klasse erheben und verlachte sie mit unverfälschtem Sarkasmus und feiner Kritik. Die „Umwertung der Werte" ging einher mit der Form nach heftigen Angriffen gegen die damaligen deutschen Zustände, die Schlaffheit und Unentschlossenheit der deutschen Bourgeoisie, die „Krämeratmosphäre" der Epoche, den bürgerlichen Parlamentarismus und das gebildete Philistertum, die offizielle Kirche und die christliche Moral usw. Dabei verließ ihn zwar oft das Maßgefühl, aber auch das geriet ihm zum Nutzen: einem „Rebellen von N a t u r " müssen Extreme und Exzesse eigen sein. Die Intelligenz, beunruhigt durch den fortschreitenden Niedergang der bürgerlichen Kultur und den Zerfall der bürgerlichen Sittlichkeit, in Unkenntnis der ökonomischen Ursachen dieses Niedergangs und Zerfalls, fern vom Volk und ihm fremd, sah in Nietzsche ihren geistigen Anführer und übernahm Methode und Struktur seines Denkens. Ihr schmeichelte der Appell an den „freien Geist", mit dem sie geneigt war, sich zu identifizieren, seine Verachtung des „Pöbels", der Werktätigen, die angeblich die Weltkultur bedrohen. Nietzsche wirkt auf die bürgerliche Intelligenz nicht nur durch seine philosophische Problematik, sondern auch durch die literarische Manier zu schreiben. Er ist ein Dichter, ein Künstler, der über die unbezweifelbare Gabe verfügt, seine Gedanken in ein poetisches Gewand zu hüllen. Der Subjektivismus der Bewertungen tritt niemals schmucklos auf, er wird in einer grellen emotionalen Färbung angeboten und 21

klingt oft wie eine heimliche Beichte, wie eine lyrische Offenbarung. Der Triumph des Bösen erscheint bei ihm im leuchtenden Gewand, mit aller Gewähltheit formaler Dogmatik, majestätisch und erschreckend schön. Seine liebste Form ist der Aphorismus, in dem der Gedanke nicht in einem vollständigen, geordneten Syllogismus dargelegt wird, sondern logische Glieder ausgelassen werden und sich der Gedanke kapriziös und schwunghaft entwickelt. Dem Leser wird weitgehend die Möglichkeit gelassen, sich den Text nach eigenem Ermessen auszudeuten. Oft stellt Nietzsche absichtlich keine Zusammenhänge her, er spielt mit der dialektischen Natur der Widersprüche, um die Illusion von Wahrhaftigkeit und Überzeugungskraft zu erwecken. Die Ersetzung logischer Kategorien durch verschwommene Metaphern, durch eine poetische Symbolik hat auch eine Hilfsfunktion. Nietzsches Mystik liefert eine Sammelideologie für die reaktionärsten Bestrebungen und verleiht ihnen eine nicht nachlassende Wirkung bei beliebigen Änderungen' der konkreten Situation, dabei erhält die freie Interpretation durch die Besonderheiten des Stils das Übergewicht gegenüber dem stabilen Inhalt der Doktrin; sie wird dadurch adaptierbar und elastisch, was bei philosophischen Konzeptionen, in denen der Gedankenzusammenhang in logisch-systematischer 'Form dargelegt ist, prinzipiell ausgeschlossen ist. Darüber hinaus ist Nietzsche psychologisch berechnend. Da er Denker und Dichter zugleich war, verstand er es, tief in die Psychologie des Bildungsbürgers, des bürgerlichen Intellektuellen einzudringen, er war sozusagen ein guter Herzensführer, ein „Menschen-Fischfänger". In den westlichen Ländern entwaffnete Nietzsches große Popularität einen großen Teil der bürgerlichen Intelligenz geistig und verführte sie, trübte ihr Bewußtsein, demoralisierte sie vor dem Angriff des Faschismus und bereitete den Übergang ins Lager der faschistischen Reaktion vor. Menschen, die im ideologischen und politischen Klassenkampf ungenügend gestählt sind, lassen sich leicht durch einen vorgetäuschten Radikalismus hinreißen. An der Philosophie Nietzsches frappiert sie gewöhnlich das Paradoxe und die Schärfe der Wertungen, der vorgetäuschte Aufruhr und der Verneinungsgeist. Es hat den Anschein, als würde sie ihnen die Augen für einige abstoßende Seiten der bourgeoisen Wirklichkeit öffnen, in ihnen ein Gefühl des Protestes und der Empörung über die liberale Bigotterie und den Pseudodemokratismus der bürgerlichen Gesellschaft wecken. Es sind Fälle bekannt, wo der Nietzscheanismus in einem gewissen Maß den ersten Anstoß zu einem Auftreten gegen 22

die politische und moralische Heuchelei der liberalen Bourgeoisie gab. Das brachte und bringt manchmal noch heute illusorische Vorstellungen hervor, als sei es möglich, seine „kritischen Züge" im Kampf gegen den bürgerlichen Liberalismus, gegen Spießertum, Heuchelei und andere Mißstände der kapitalistischen Ordnung auszunutzen. In den letzten Jahren machte sich deutlich das Bestreben einiger sogenannter schöpferischer Marxisten bemerkbar, den Nietzscheanismus an den Marxismus anzunähern, den Marxismus für das Eindringen Nietzschescher Ideen zu „öffnen". Im November 1968 fand in Belgrad ein spezielles Symposium „Marx und Nietzsche" statt, dessen Aufgabe sich letzten Endes darauf reduzierte, den Nietzscheanismus vor den „gefährlichen Fallen des verhärteten Diamat zu retten", ihn von der falschen Interpretation (der „Diamat-Interpretation") zu „reinigen", Nietzsche „authentisch" zu zeigen als „echten Apologeten der menschlichen Freiheit" usw. 7 Äußerst charakteristisch sind in dieser Hinsicht auch die Arbeiten von D. Grlic. Es stellt sich heraus, daß der Schöpfer des „Zarathustra" „alle seine titanische K r a f t " darauf richtet, „alle Werte der heuchlerischen Kultur, die amoralische Moral, stereotype Ansichten, die Götter und Idole der selbstbewußten und selbstzufriedenen Bourgeoisie" kurz und klein zu schlagen. Und dies selbstverständlich im Namen der Ankunft eines „neuen Menschen" und der „höchsten Höhen menschlicher Erkenntnis". 8 Der Autor bemüht sich, zu beweisen, daß Marx und Nietzsche einen gemeinsamen Ausgangspunkt der philosophischen Konstruktion gehabt hätten — die prophetische Weltsicht, und daß die historischen Folgen ihrer Lehren, ungeachtet ihrer Unterschiede, „in den Grundbestrebungen ihres Weges einander sehr nahe" seien; er zieht eine Parallele zwischen dem Übermenschen und dem kommunistischen Ideal der harmonisch entwickelten Persönlichkeit und dergleichen mehr. 9 Bestrebungen ähnlicher Art sind auch in einigen anderen Ländern zu beobachten. Hin und wieder schlüpfen sie auch bei uns durch, nicht als Tendenz, aber als Episode. Selbstverständlich ist an dem Prinzip des „Neudurchdenkens" nichts Schlechtes, wenn damit eine Vertiefung der marxistischen Analyse dieses äußerst komplizierten, man kann sagen einmaligen 7 BASTA, P„ Marksisti i Nice, in: „Gledesta", Beograd 1969, Nr. 11, S. 1 5 5 6 - 1 5 5 7 . GRLIC, D., L'antiestetisme de Friedrich Nietzsche, in: „Praxis", Zagreb 1966, Nr. 3,

S

S. 338. 9 GRLIC, D „ K o j e Nice, Beograd 1969, S. 13, 15, 131.

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philosophiehistorischen Phänomens gemeint ist. Aber verbirgt sich hinter diesem „Neudurchdenken" nicht der Wunsch, die Philosophie der „Umwertung aller Werte" in einzelnen Aspekten zu rehabilitieren? In den Vordergrund wird dabei die Frage gerückt: Warum war Nietzsche eine Zeitlang der Abgott vieler fortschrittlicher Denker, wie Henrik Ibsen, Albert Schweitzer und Thomas Mann? Die Frage ist richtig gestellt. Die Antwort darauf lautet: „Der deutsche Philosoph war durchaus kein .konservativer' Denker. Im Gegenteil, er ist scharf über die Plattheit des bürgerlichen Lebens und die ihm zugrunde liegenden Vorurteile hergefallen . . . Nietzsche schreibt von der Entwertung der traditionellen höchsten Werte, vom Verlust der Menschenwürde vor seinen eigenen Augen . . . er weist die Philosophie des globalen Pessimismus zurück . . . Er verurteilt den Objektivismus und das Gelehrtentum der herrschenden Kultur . . . Nietzsche verurteilt die Kluft zwischen Erkenntnis und den Erfordernissen des praktischen Handelns und wendet sich dem Menschen, dem Subjekt, der Persönlichkeit zu. War diese Kritik der Gesellschaft, der Moral und der Wissenschaft des 19. Jahrhunderts gerecht? Sie war es in vielem sogar sehr, und eben das zog viele fortschrittliche Geister an Nietzsche an." 1 0 Aus diesem Zitat geht hervor, daß Nietzsches Philosophie nicht die ideologische Funktion erfüllte, die kapitalistische Ausbeuterordnung zu „konservieren", daß er ein scharfer Ankläger der bürgerlichen Kultur, der bürgerlichen Moral, der bürgerlichen Rationalität und des Objektivismus usw. war; daß er seine Stimme zur Verteidigung des Menschen, des Subjekts, der Persönlichkeit erhob, die der Kapitalismus verkrüppelt, daß er für die Vereinigung von Wissenschaft und Praxis eintrat . . . Daraus entstehen neue Fragen. Warum werden als Grundkriterium solcher Einschätzungen die Bekenntnisse literarischer Autoritäten genommen und nicht eine allseitige philosophiehistorische Erforschung der Ansichten des Denkers selbst? Albert Schweitzer war bekanntlich ein tief gläubiger Mensch, ein christlicher Missionar. Müßte nicht deshalb auch unser Verhältnis zum Christentum neu überdacht werden, um so mehr, da ihm doch zu Anfang bestimmte abstrakte humanistische Ideale zugrunde lagen? Oder müßte man nicht, wenn man an die Untersuchung herangeht, von der Voraussetzung ausgehen, daß die Neigung Thomas Manns oder Albert Schweitzers für die Schöpfungen 10

KON, J. S., Filosofskij idealizm i krizis b u r z u a z n o j istoriceskoj mysli, M o s k a u S. 194.

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1959,

Nietzsches, die sie im Verlaufe ihres Lebens auch nie völlig überwunden haben, ihre geistige und schöpferische Entwicklung kompliziert hat, was von marxistischen Literaturforschern jedenfalls in bezug auf Thomas Mann bewiesen wurde? Von hier kamen bei ihm die Neigung zum Irrationalen und Dämonischen bei der Darstellung der inneren Welt des Menschen, seine Leidenschaft für die Themen der Krankheit, des Verfalls und der Entartung, der geistige Aristokratismus, die Geringschätzung der „Menge", die Furcht vor revolutionären Massenerhebungen, in denen er keinerlei schöpferisches Element sah, nichts als das Wüten der Instinkte des Pöbels. Thomas Mann gestand sich selbst ein, „daß das Pathologische auch geistig mächtig anzieht" 1 1 . Lohnt es sich nicht, sich das Ziel zu stellen, herauszufinden, was wirklich Inhalt und Zielrichtung des Pathos und der Negation sind? Im Namen welcher „höchsten" Ideale geschieht die „Umwertung aller Werte, und was ist sie ihrem Klassenwesen nach? Was sind die objektiven Ergebnisse und Folgen auf weltanschaulichem und ideologischem Gebiet, unabhängig von den subjektiven Absichten des Denkers? Verträgt sich die „Philippika gegen den Intellekt" mit der humanistischen Tradition, oder war der Kampf gegen die wissenschaftliche Erkenntnis nicht mehr als eine „polemische Übertreibung", die auf die Loslösung des Denkens von der Wirklichkeit aufmerksam machen sollte? Hier drückt sich offensichtlich noch ein Drang nach „realen Problemen" aus, an denen es dem modernen bürgerlichen Denken angeblich mangelt. Und eine Philosophie, die nicht die realen Probleme, die großen Probleme des sozialen und geistigen Seins stellt, mit denen der Mensch als gesellschaftliches, denkendes und handelndes Wesen lebt, ist ein Nichts, eine Seifenblase, die mit dem ersten Windstoß der Zeit zerplatzt. Die Bedeutung Nietzsches als Denker ist gerade dadurch bestimmt, daß er als erster unter den bürgerlichen Philosophen die „Schicksalsfragen" der Dekadenz und des Nihilismus, des Zerfalls der bürgerlichen Kultur und der Krise der bürgerlichen Gesellschaft erriet und formulierte, Fragen, die sich dem Ideologen der Bourgeoisie als ewiges „Sein oder Nicht-Sein" darbieten, und er drückte sie in ungewöhnlich prägnanter, poetisch anziehender Form aus, die sich nicht selten auf das Niveau breiter Verallgemeinerungen erhob. Er stellte auch andere „reale Probleme". Die Losung der „Umwertung aller 11

MANN, TH., Vorwort zu einer Bildermappe, in: Gesamte Werke, Bd. 12, Berlin und Weimar 1965, S. 366.

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Werte" klingt „radikal", alarmierend. Aber zu welcher Rebellion ruft er auf, für die Verteidigung welcher Ideale sammelt er die aktivsten Kräfte der bürgerlichen Philosophie? Sollten wir uns nicht ihren Kolonnen anschließen, und sei es auch nur um der Lösung bestimmter taktischer Aufgaben willen? Die Besonderheiten des Nietzscheanismus ermöglichen zweierlei Arten des Herangehens. Die erste kann man als „emotional" charakterisieren. Nietzsche verbindet die Philosophie mit der Kunst, er benutzt meisterhaft die Ausdrucksweisen und die Mittel des künstlerischen Denkens. Er kleidet den Inhalt und den Fortgang der Gedanken in Formen, die vor allem emotional wirken. Die emotionale Reaktion ist oft nicht nur die erste, sondern auch die dominierende: der Gedanke hält sich bis zum Ende als inneres Erlebnis auf der emotionalen Ebene, verbleibt auf dieser ursprünglichen Verarbeitungsstufe im Bewußtsein und verharrt auf der Stufe der Vorstellung. Die emotionale Wirkung der philosophisch aufgeladenen, von der dialektischen Fähigkeit des Intellekts ungeprüften Metaphern erreicht nicht die Stufe eines bewußten kritischen Verhältnisses zu ihren weltanschaulichen Komponenten und zu der ideologischen Fracht, die sie mit sich führen. Für eine rein ästhetische Erfassung ist das vielleicht auch hinreichend, aber eine philosophisch-soziologische Analyse eines Werkes läßt sich bekanntlich nicht auf „ästhetische Begeisterung" reduzieren, sie muß sich über diese erheben, sie ausklammern, analytisch zerlegen und dann den Inhalt der philosophischen Anschauungen einer systematischen Betrachtung unterziehen; sie muß die Form, so ästhetisch gehaltvoll sie auch sein mag, in Korrelation zur Methode und zum Stil des philosophischen Denkens bringen und diese einer gnoseologischen Analyse (unter dem Gesichtspunkt der inneren Logik des Systems) und einer klassenmäßig-sozialen Analyse unterziehen. Bei einem solchen Herangehen zeigt sich Nietzsche von einer anderen Seite: nicht als philosophisch denkender Künstler, sondern als Philosoph, der mit einem außergewöhnlichen literarischen Talent begabt ist. Nur bei einer solchen Analyse werden die Haupt- und Nebenmotive seiner Philosophie deutlich, ihre Problematik, ihr positives und ihr negatives Programm, ihr Platz im Kampf der beiden Parteien in der Philosophie, der sowohl objektiv — durch die Erfordernisse der gesellschaftlichen Praxis und durch die Entwicklung der wissenschaftlichen Erkenntnis einer bestimmten Epoche — als auch subjektiv — durch die persönliche Begabung und die Neigungen des Philosophen, durch seine psychische Veranlagung und durch seinen Lebenslauf — bestimmt ist. 26

Nietzsche läßt sich, nimmt man ihn in einzelnen Aphorismen und Auszügen, höchst effektvoll präsentieren. „Frei" ausgewählt und kunstvoll arrangiert gestatten sie derartig verschiedene Interpretationsweisen, daß man aus ihnen, wie aus verzerrten Kopien, das Original nicht wiedererkennen kann, nach dem sie hergestellt wurden. Der als Ganzes, als Gesamtheit von Anschauungen analysierte Nietzscheanismus hat jedoch nirgends, niemals und niemandem den Weg zur revolutionären Aktion eröffnet. Im Gegenteil, aktive Anteilnahme am Kampf gegen den Kapitalismus auf der Seite der Arbeiterklasse kann nur über die Überwindung des Einflusses von Nietzsches Philosophie gehen (wenn dieser vorhanden war). Der zähe Schlamm des Nietzscheanismus saugt einen labilen, aus dem gewohnten Gleis geworfenen, vom Kapitalismus gebrochenen Menschen in sich auf und macht ihn letzten Endes zu einem Opfer der Reaktion. Die Wirkung Nietzsches auf das Geistesleben des deutschen Bürgertums war tiefer und unheilvoller als der Einfluß jedes anderen Philosophen. Darauf machte zum ersten Mal Franz Mehring aufmerksam. Bereits Ende des vorigen Jahrhunderts war der Nietzscheanismus von den Pangermanisten aufgegriffen und ausgenutzt worden, danach von der faschistischen Bewegung. Mit dem Machtantritt des Faschismus wurde er zu einem wichtigen Faktor nicht nur des geistigen, sondern auch des politischen Lebens im bürgerlichen Deutschland. „Nach dem schaurigen Erlebnis des Nazismus", sagte Otto Grotewohl, die tragischen Ergebnisse dieses Abschnittes der deutschen Geschichte charakterisierend, „erscheinen die Kernbegriffe seiner (Nietzsches — S. O.) Philosophie uns Überlebenden nicht mehr als rein geistige Begriffe, sondern wir müssen sie heute als soziale und politische Begriffe werten, die entsetzliche Wirkungen im Räume der Wirtschaft und Politik verursacht haben".12 An der Schwelle des Imperialismus brach die Bourgeoisie mit den progressiven Traditionen des bisherigen philosophischen Denkens. Die das Verfaulen des Kapitalismus begleitende Zersetzung des humanistischen Geisteserbes stellte an dessen Platz eine Philosophie, die anstatt der Fakten der Wirklichkeit subjektive Willkür, eine bewußte Verzerrung der Gesetzmäßigkeiten in der Natur und der menschlichen Geschichte setzt, weil sie keine anderen Mittel hat, um die Herrschaft einer Klasse zu rechtfertigen, welche gezwungen ist, gegen die historische 12

GROTEWOHL, O., Die geistige Situation der Gegenwart und der Marxismus, in: Deutsche Kulturpolitik, Dresden 1952, S. 3.

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Notwendigkeit zu handeln. Das ist nicht nur die „Tragödie" Nietzsches, das ist die Tragödie des modernen bürgerlichen Denkens, das den Imperialismus theoretisch konserviert. Für die letzten Generationen bürgerlicher Philosophen dient er als ein Leitbild bei der aktiven Verteidigung dieser „natürlichen" Seinsordnung, und deswegen wenden sie sich immer wieder ihm zu bei der Suche nach einer wirksamen „politischen Philosophie", die imstande ist, der Ideologie des Marxismus zu widerstehen und das „Vakuum an großen Ideen", in dem sich die kapitalistische Welt befindet, zu füllen. Der in diesem Sinne betrachtete Nietzscheanismus stellt eine breite weltanschauliche Plattform dar, auf der sich die Wege vieler neuerer bürgerlicher philosophischer Strömungen kreuzen: Die methodologischen Richtlinien, Formeln und Postulate des Systems der „Umwertung aller Werte" schaffen ein geeignetes Modell der indirekten Apologie des Kapitalismus. Einige davon sind schon fast zu philosophischer „ K l a s s i k " geworden. Def Name Nietzsches ist in die Geschichte der Philosophie eingegangen. Methode, Stil und Richtung seines Philosophierens fanden eine ausführliche Reflexion in den verschiedensten philosophischen Schulen, ideologischen und politischen Doktrinen des imperialistischen Deutschland und weit über dessen Grenzen hinaus. Die objektive Bedeutung des Systems der „Umwertung aller Werte" und seine sozial-politischen Implikationen sind in bedeutendem Maße von der Zeit geprüft. Das Ziel der vorliegenden Arbeit besteht vor allem darin, zu zeigen, wie sich die objektive Bedeutung. dieses Systems, gebrochen im Prisma verschiedener Interpretationen, darstellt, welche seiner Komponenten sich unter dem Gesichtspunkt der theoretischen und politischen Adaption auf die Bedingungen des historischen Augenblicks am effektivsten und wirksamsten erweisen. In dem Buch wird bewußt ein großer Kreis von Philosophen behandelt: dabei wird das Hauptaugenmerk nicht so sehr auf den Unterschied ihrer theoretischen und methodologischen Voraussetzungen vom Nietzscheanismus gelegt, als vielmehr auf die Nähe und Gemeinsamkeit der letzten Schlußfolgerungen in der weltanschaulichen und sozialen Sphäre. Der Autor will durchaus nicht alle in diesem Zusammenhang angeführten Theoretiker zu Anhängern oder Fortsetzern Nietzsches rechnen; die Aufgabe besteht darin, den Umfang seiner Wirkung auf das bürgerliche philosophische Denken zu zeigen, dessen allgemeine Richtung zu klären, nicht aber darin, die gesamte bürgerliche deutsche Philosophie künstlich in den Rahmen der „Umwertung aller Werte" mit den Mythen vom Willen zur Macht, von der ewigen Wiederkunft des Gleichen, vom Übermenschen usw. zu pressen. 28

Das Buch ist in Form von Skizzen gestaltet, welche thematisch zu Teilen verbunden sind. Im ersten Teil werden in summarischer Art die theoretischen Grundzüge des Nietzscheanismus dargelegt, seine ideologischen und politischen Tendenzen expliziert, in den drei folgenden Teilen wird der Versuch unternommen, auf philosophiegeschichtlicher Ebene seinen Einfluß auf einige philosophische Strömungen im bürgerlichen Deutschland vom Ende des 19. Jahrhunderts bis in unsere Tage zu verfolgen.

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Teil I

Was sich hinter der „Umwertung aller Werte" verbirgt

„Dunkel ist die Nacht, dunkel sind die Wege Zarathustras." Also sprach Zarathustra

Das Verfaulen des Kapitalismus geht einher mit der Krise der bürgerlichen Weltanschauung, mit dem Verfall der bürgerlichen Kultur. Den Inhalt dieser Krise bildet die Entwertung der „Werte", die Zersetzung des Systems der bürgerlichen Ideen, das Sinken ihres Prestiges und ihrer Anziehungskraft. Die Ideale der bürgerlichen Welt geraten in offenen Widerspruch zur weltverändernden revolutionären Praxis der Werktätigen, zu den objektiven Erfordernissen des gesellschaftlichen Fortschritts. Aus diesem Widerspruch erwächst die Notwendigkeit einer sich periodisch wiederholenden weltanschaulichen Umorientierung, einer „Umwertung" des ideologischen Arsenals, einer Umordnung der ideellen und geistigen Werte und deren Anpassung an die veränderten historischen Bedingungen. Im Grunde genommen ist der Prozeß der „Umwertung" stetig, aber er entfaltet sich besonders scharf in geschichtlichen Umbruchsituationen, wie das im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts der Fall war, als diese „Umwertung", wenn man ihre Endresultate untersucht, zum ersten Mal die Form einer ideologischen Mobilisierung annahm. Die Bourgeoisie versucht, ein dauerhaftes System von Ansichten zu entwickeln, welches nicht nur die Welt, die soziale Wirklichkeit erklärt, sondern auch zu einer geistigen Waffe für die Verteidigung der bürgerlichen Ordnung werden kann und die revolutionären Aktionen der Massen paralysiert, indem es deren Zukunftsvorstellungen an die Entwicklung des Kapitalismus knüpft. An der philosophischen Front geht eine merkliche „Belebung" vor sich, es wächst das Interesse an den großen weltanschaulichen Problemen, es verstärkt sich die Suche nach einer „neuen" Weltanschauung, nach einer aktiven politischen Philosophie, die imstande ist, dem Marxismus zu widerstehen. Das bürgerliche philosophische Denken verurteilt seinen eigenen weltanschaulichen „Kleinmut", aber der Weltanschauungshunger bleibt trotzdem ungestillt, er wird chronisch. Diese unablässige Suche allein ist schon ein Anzeichen für die unüberwindliche Krise des 3

Oduev

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theoretischen Denkens, welches sich heute innerhalb der Grenzen bewegt, die ihm gezogen sind von der Einsicht in den Verfall der bürgerlichen Gesellschaft und deren Kultur, aber auch in die eigene Ohnmacht, diesen Prozeß aufzuhalten, den Widerspruch zwischen der Wirklichkeit und den vorhandenen Formen bürgerlichen Bewußtseins zu lösen. Die gemeinsamen Ziele (der Kampf gegen die wissenschaftliche Weltanschauung, gegen Sozialismus und Demokratie und die Verschärfung dieses Kampfes) rufen eine Vielzahl von konkurrierenden philosophischen Strömungen ins Leben, wodurch sich der Eindruck eines prallen philosophischen Pulses ergibt; gleichzeitig führt diese Gemeinsamkeit der Ziele zu einer Nivellierung, indem sie allen Strömungen allgemeine Wesenszüge, die in den Klassenbedürfnissen der Bourgeoisie objektiviert sind, aufdrängt: Relativismus und Irrationalismus, Voluntarismus und demagogisch anklagendes Pathos, die zu Hauptkomponenten der weltanschaulichen Konterrevolution werden. (In Klammern merken wir an, daß diese „neuen" Tendenzen nicht das ganze philosophische Feld erfassen und dort nicht ungeteilt herrschen, aber sie erweitern allmählich ihren Einfluß und machen beharrlich den Anspruch auf die führende Rolle im geistigen Leben der bürgerlichen Gesellschaft geltend.) Das professionelle Niveau des Philosophierens geht merklich zurück. Der „Mut der Wahrheit", zu dem Hegel aufrief, wird formal nicht in Zweifel gezogen, aber der Mut zur Erkenntnis ist bereits gebrochen; die Wahrheit selbst wird nicht mehr als das Ergebnis wissenschaftlicher Forschung aufgefaßt, sondern als Entdeckung, die intuitiv im „Erleben" zu erreichen ist. Die Fähigkeit zu wissenschaftlicher Erkenntnis sinkt sogar in den Fällen, wo das philosophische System eine universelle Wissenschaftslehre zu sein beansprucht. Die „neuen" Philosophen verirren sich immer häufiger in einen orakelhaften Messiaston. Es tritt eine Epoche der philosophischen Dekadenz ein. Diese Wesenszüge der „neuen" Philosophie traten nie so deutlich zutage wie im Nietzscheanismus, wo sie sozusagen in „kondensierter" Form vorliegen, was Nietzsche auch in die Reihe der „philosophischen Erzieher" stellt, bei denen es die „historische Weltanschauung des Abendlandes" zu lernen gilt. Wenn man die Bedingungen für das Entstehen des Nietzscheanismus betrachtet, darf man einige nationale, „preußische" Besonderheiten der Entwicklung des deutschen Kapitalismus nicht vergessen, auf die W. I. Lenin hingewiesen hat: Ende des 19. Jahrhunderts bildete sich im Zentrum Europas das räuberische Deutsche Reich — ein militaristisch-despotischer Staat, der dem junkerlich-bürgerlichen Imperialismus unter34

geordnet war. Die deutsche Bourgeoisie stellt offen Anspruch auf „Lebensraum", sie tritt ein in den Kampf um die Vorherrschaft in Europa, in die Vorbereitung zu einem großen Krieg um die Neuaufteilung der bereits aufgeteilten Welt. Dabei waren ihre politischen und ideologischen Aktionen unentschlossen. Sie balancierte unsicher auf dem Seil der „Politik von Zuckerbrot und Peitsche" und neigte zum Nachgeben gegenüber dem Druck der demokratischen Kräfte. Es äußerte sich eine Nichtübereinstimmung zwischen ihren politischen Absichten und den realen Möglichkeiten ihrer Verwirklichung, zwischen der politischen und der geistigen Situation. Das Proletariat zeigte einen entschiedenen Widerstand gegen den expansionistischen außenpolitischen und den reaktionären innenpolitischen Kurs der herrschenden Klassen. Die Zwischenschichten — die in den Jahren des wirtschaftlichen Aufschwungs reich gewordene Bürgerschaft und die träumerische, von der irdischen Grundlage gelöste Intelligenz — wollten ihren Wohlstand und ihre Ruhe nicht riskieren, sie gaben sich entweder sentimentalen romantischen Vorurteilen oder abstrakten Idealen und einer melancholischen Resignation hin. Es beginnen Attacken auf die offizielle Politik, nicht nur von links, sondern immer öfter auch von rechts. Wenn die herrschende Oberschicht fortfährt, so unentschlossen, unbestimmt und nachgiebig zu handeln — wird Deutschland dann nicht von seiner großen Zukunft einfach überrumpelt? In der künstlerischen, dann auch in der philosophischen Literatur entfaltet sich eine heftige Kritik am bürgerlichen Liberalismus und Konformismus, an der spießigen Selbstzufriedenheit und Servilität, dem gebildeten Philistertum und der Beschaulichkeit der Intelligenz. Es galt, den militanten deutschen Geist aus dem Schlaf zu wecken, die in den Seelen der Spießer schlummernden aggressiven Instinkte in Aufruhr zu bringen. Nietzsche war (der Zeit und dem Rang nach) der erste unter den bürgerlichen Ideologen, der die Unbestimmtheit und Unentschlossenheit der liberalen Bourgeoisie anklagte, sich über die Gelassenheit der Spießer und der Intelligenz empörte. Sein Erscheinen wird mit dem Hahnenschrei verglichen, der Deutschland zu seinem „großen Tag" weckt. Nietzsche ist der Sohn seiner Zeit. Seine Philosophie, entstanden in der Periode der Herausbildung des Imperialismus, in den Jahren einer Beruhigung der Klassenkämpfe und einer scheinbaren Stabilisierung des europäischen Kapitalismus, trägt die Spuren dieser Epoche. Das Bewußtsein von der Allmacht der künftigen „Herren der Erde" gibt dieser Philosophie eine anmaßende Offenheit, eine betonte Aggressivität und einen 3*

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trügerischen Optimismus. Das Vorgefühl des Verfalls, der Zersetzung der bürgerlichen Gesellschaft drückt ihr den Stempel vieldeutiger Düsterheit und unbekümmerten Abenteurertums auf, welches jede Grausamkeit der historisch verurteilten Klasse rechtfertigt.

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Kapitel 1

Der Nihilismus als Bote des Untergangs der kapitalistischen Zivilisation

Als Ausgangspunkt theoretischer Erwägungen dient dem bürgerlichen Denker die vorhandene Wirklichkeit, aber sie erscheint seinem geistigen Blick in verzerrter, entfremdeter Form. Der Philosoph, selbst die abstrakte Erscheinung des entfremdeten Menschen, macht sich zum Maßstab der entfremdeten Welt, denn die bürgerlichen Verhältnisse unterscheiden sich in ihrer äußeren Erscheinung und folglich auch in den Begriffen, mit deren Hilfe der bürgerliche Theoretiker sich diese Verhältnisse klarzumachen sucht, grundlegend von ihrem inneren, wesentlichen Inhalt; bei jedem Schritt belauert ihn die Mystifikation, die durch die Verdinglichung, die unmittelbare Verquickung der verdinglichten Produktionsverhältnisse mit deren historisch-gesellschaftlicher Bestimmtheit bedingt ist: es ergibt sich, wie Karl Marx sagt, „die verzauberte, verkehrte und auf den Kopf gestellte Welt, wo Monsieur le Capital und Madame la Terre als soziale Charaktere und zugleich unmittelbar als bloße Dinge ihren Spuk treiben" 1 . Es ist daher auch nicht verwunderlich, daß ein bürgerlicher Denker, der es mit der entfremdeten Erscheinungsform gesellschaftlicher Zusammenhänge zu tun hat, in diesem oder jenem Maße ein Gefangener dieser illusionären, irrational verzerrten Formen bleibt, in denen sich ihm die bürgerliche Wirklichkeit darbietet, sofern er sich nicht vom bürgerlichen Standpunkt lösen kann. Nietzsche ist selbstverständlich keine Ausnahme : die inhaltliche Seite seiner Philosophie ist eine emotionale Reaktion, eine Beschreibung des in seinen ersten Anfängen erfaßten Verfaulungsprozesses der kapitalistischen Produktionsweise in der Periode ihres Übergangs in das neue, das imperialistische Stadium; die spontan — nicht als offizielles politisches Programm, sondern als Standpunkt eines bürgerlichen Intellektuellen, der an die Unerschütterlichkeit des i MARX, K., Das Kapital, Bd. 3, in: Marx-Engels-Werke (künftig zitiert: Bd. 25, Berlin 1970, S. 838.

MEW),

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Privateigentums und der Beziehungen von Herrschaft und Unterordnung glaubt und um das Schicksal dieser „natürlichen" Lebensordnung beunruhigt ist — geäußerte Klassenposition drückt sich einerseits in attackierenden Ausfallen gegen die sozialistische Arbeiterbewegung aus, die den Kapitalismus real bedroht, und andererseits in der Form einer scharfen Kritik an den politischen Aktionen der herrschenden Klasse, einer Kritik von rechts, die es für ihre Pflicht hält, deren Unfähigkeit zu entlarven, den beginnenden Zerfallsprozeß aufzuhalten, einer Kritik, die ein System von Gegenaktionen entwirft, welche den Einsturz der gewohnten Welt, ihren Fall ins Nichts aufhalten sollen. Dieses System von philosophisch begründeten, in allgemeiner metaphysischer Gestalt formulierten Maßnahmen und von praktischen Empfehlungen, die oft durch ihren Realismus verblüffen, ist eingehüllt in einen Schleier von Romantik, erfüllt von einem Rausch grober Macht und Gewalt, einer Poetisierung von Barbarei und entfesselten barbarischen Instinkten, die angeblich die Rückkehr zu „natürlichen Daseinsformen" garantieren. Die romantische Utopie, anfangs mißverstanden und abgelehnt, erwies sich nicht nur als eine emotional-ästhetische Vorwegnahme des kommenden Verfalls des Kapitalismus, sondern auch als in der Tendenz programmierte politische und moralische Praxis der imperialistischen Bourgeoisie (natürlich nicht in unmittelbarer, sondern in ideell entfremdeter, biologisch mystifizierter Form). Nietzsche war nicht der einzige Denker, der den Verfall der damaligen Gesellschaft empfand. Die Ideen, die den Inhalt seiner Philosophie bildeten, keimten im geistigen Klima dieser Zeit überall. Einige von ihnen wurden sowohl zu seiner Zeit als auch schon vor ihm ausgesprochen, insbesondere von A. Schopenhauer, unter dessen entscheidendem Einfluß sich die Weltanschauung des späteren Sängers vom Willen zur Macht formte, und von J. Burckhardt, einem Freund und Lehrer Nietzsches an der Baseler Universität. Das Vorgefühl dieses Verfalls widerspiegelt sich als Dekadenz der bürgerlichen Kultur, als Fall der bürgerlichen Moral oder als Krise des abendländischen Geistes in diesem oder jenem Maße und mit unterschiedlichen Folgen auch in der philosophischen Literatur einer Reihe anderer Länder: bei G. Le Bon in Frankreich, bei Ch. S. Peirce in den USA, bei V. Solovjov in Rußland usw. Wenden wir uns Burckhardt zu, einem Vertreter des Humanismus alter Schule. Seine Enttäuschung von der Gegenwart, sein Pessimismus hatten ihren Grund in dem Widerspruch zwischen bürgerlich-junkerlicher Wirklichkeit und seinen eigenen liberal-humanistischen Illusionen, in der Angst vor der Zukunft, deren Aussichten nicht nur durch den 38

„Aufstand der Massen" verdüstert, sondern auch durch die Politik des militaristisch-bürokratischen Staates, die darauf gerichtet war, die bürgerlich-demokratischen Freiheiten im Keime zu ersticken. Seine Position war bestimmt durch das subjektive Bestreben, die deutsche Kultur, die Kultur Goethes und Hegels, zu verteidigen, sowohl gegen ihre „Vermassung" als auch gegen jene „geistige Unfreiheit", jene Bürokratisierung, die ihr von seiten des Staates drohte. Das war eine Position der passiven Betrachtung, der Hoffnungslosigkeit, die sich auf eine abstrakte Verurteilung jeder Gewalt und Macht als Böses, das im Wesen des Daseins selbst liegt, beschränkte. „Und nun ist das Böse auf Erden", konstatiert Burckhardt düster, „allerdings ein Teil der großen weltgeschichtlichen Ökonomie: es ist die Gewalt, das Recht des Stärkeren über den Schwächeren, vorgebildet schon in demjenigen Kampf ums Dasein, welcher die ganze Natur, Tierwelt wie Pflanzenwelt, erfüllt, weitergeführt in der Menschheit durch Raub und Moral in den früheren Zeiten, durch Verdrängung resp. Vertilgung oder Knechtung schwächerer Rassen, schwächerer Völker, innerhalb derselben Rasse schwächerer Staatenbildungen, schwächerer gesellschaftlicher Schichten innerhalb desselben Staates und Volkes . . . Und nun waren diese unterlegenen Kräfte vielleicht edler und besser; allein die Sieger, obwohl nur von Herrschsucht getrieben, führen eine Zukunft herbei, von welcher sie selbst keine Ahnung haben." 2 Die Zukunft ist dunkel und unvorhersehbar; die historischen Perspektiven sind unterhöhlt, der Fortschritt, von dem die Menschen träumen, ist problematisch; die Menschheit wird von einem blinden Schicksal gelenkt. Burckhardt verharrt völlig in der Vergangenheit, in der passiven Betrachtung der Größe vergangener Epochen und ihrer Kultur. Entblößt und hilflos vor der Gegenwart, fürchtet er sich, den Schleier der Zeit zu lüften, der den morgigen Tag verhüllt. Die Kultur ist auch für Nietzsche der Hauptgegenstand der Besorgnis. Er zieht jedoch aus der Konstatierung ihres Verfalls, aus der Dekadenz andere Schlüsse als Burckhardt. Er handelt nicht als Betrachter, sondern als Kämpfer, berechnend und mit „tragischer Nüchternheit", unter Benutzung seiner ästhetischen Postulate zur Verteidigung und Propagierung seiner philosophischen und politischen Ansichten. Die Ursachen des Kulturverfalls liegen nach seiner Vorstellung vor allem und hauptsächlich im „plebejischen Geist" dieser Zeit, in der Demokratisierung der Kultur. Deshalb verwandelt sich seine Kritik der kulturellen Werte 2

Zitiert nach HEISE, W., Aufbruch in die Illusion, Berlin 1964, S. 142.

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in eine Kritik der demokratischen und humanistischen Tendenzen im kulturellen Erbe. Nietzsche tritt für eine „gesunde", aristokratische Kunst ein, für eine Kunst des „großen Stils", die nur Auserwählten, den „Herren der Erde" diènt und dem „Herdeninstinkt der Menge" keinerlei Zugeständnisse macht. Außer der Losung vom „Willen zur Macht" stellt er auch die vom „Willen zur Schönheit" auf. Aber dieser „Wille zur Schönheit" bedeutet keine unbedingte Verteidigung der Forderung ,,1'art pour l'art". Nietzsche ist der Philosoph des aktiven Handelns. Mit diesem Maß geht er auch an das künstlerische Schöpfertum heran. Er betrachtet die künstlerische Schöpfung als „Erfindung und Berichtigung der Welt", als „in höchstem Maße interessierte Berichtigung der Dinge", das heißt als Verfälschung der Wirklichkeit zu bestimmten Zwecken: Kunst ist Traum, Rausch, Gewalt, eine der Erscheinungsformen des Willens zur Macht. Er stellt den Schöpfern der bürgerlichen Kultur die Aufgabe, die Wissenschaft durch die Kunst zu bändigen und ruft sie damit zur Mystik auf, an der, wie er annimmt, von vornherein jedes Wissen zerbricht. 3 Nietzsches Verhältnis zur Dekadenz ist zwiespältig. Er selbst hielt sich gleichzeitig für einen décadent und für dessen Gegensatz. Es ist tatsächlich so. Da, wo er für eine „gesunde" Kunst eintritt, ist er ein Gegner der bürgerlichen Dekadenz, der dekadenten Verzerrungen im künstlerischen Schaffen; in den Fällen jedoch, wo er gegen den „kranken", demokratischen Geist seiner Epoche zu Felde zieht, möchte er eben diese „Krankheit" dafür ausnutzen, die „Gesundheit" jenes sozialen Organismus zu festigen, in welchem die aristokratische Kunst des „großen Stils" entsteht. Er ist tief und sichtlich auch aufrichtig beunruhigt von der Krise der bürgerlichen Kultur. Seine Reaktion zeichnet sich durch krankhafte Feinfühligkeit, Empfänglichkeit und Schärfe aus, sie erfaßt breite Bereiche und erregt die dekadenten Instinkte der Unzufriedenheit und der Auflehnung. Er sucht einen Ausweg, wobei er seinen Blick bald in die Vergangenheit, bald in die Zukunft richtet, um sich in der Gegenwart zu behaupten. Er besitzt ein scharfes künstlerisches Feingefühl ; er zeigt ein großes Interesse an den künstlerischen Realisten (an Goethe, Stendhal, Dostoevskij, Bizet usw.) und dennoch sieht er in der Dekadenz einen Damm gegen die bereits entstandene neue proletarische Kultur, die sich das Lebensrecht schon erkämpft hat. Die Dekadenz tritt hier als Form der Selbsterkenntnis der bürgerlichen Intelligenz, ihres Daseins und ihrer Funktionen in der kapitalistischen Gesellschaft auf. J NIETZSCHE, F., Das Philosophenbuch, Werke, Bd. X, S. 1 1 9 - 1 2 0 .

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Für die höchste Errungenschaft der Weltkultur hält Nietzsche die griechische Kunst der vorsokratischen oder — wie er sagt — der heroischen Epoche, die bekanntlich auf der Sklaverei erwachsen ist. Er romantisiert und modernisiert das sklavenhaltende Griechenland, wobei er dessen Kunst eine übermäßige Grausamkeit, Antihumanismus und einen Hang zu allem Chaotischen, Wilden, Zügellosen, Tragischen, Todesträchtigen zuschreibt. Auch in der Kunst anderer Völker ist er bestrebt, grausame und barbarische Instinkte hervorzuheben. Die Sklaverei, lehrt er, gehört zum Wesen der Kultur. Eine Gesellschaft, die sich auf den Glauben an das irdische Glück für alle gründet und die Notwendigkeit der Sklaverei verneint, ist zu wahrhaftem, künstlerischem Schöpfertum unfähig; sie kann nur eine „plebejische" Kultur hervorbringen. „Damit es einen breiten, tiefen und ergiebigen Erdboden für eine Kunstentwicklung gebe, muß die ungeheure Mehrzahl im Dienste einer Minderzahl, über das Maß ihrer individuellen Bedürftigkeit hinaus, der Lebensnot sklavisch unterworfen sein. Auf ihre Unkosten, durch ihre Mehrarbeit soll jene bevorzugte Klasse dem Existenzkampf entrückt werden, um eine neue Welt des Bedürfnisses zu erzeugen und zu befriedigen. Demgemäß müssen wir uns dazu verstehen, als grausam klingende Wahrheit hinzustellen, daß zum Wesen einer Kultur das Sklaventum gehöre . . . Das Elend der mühsam lebenden Menschen muß noch gesteigert werden, um einer geringen Anzahl olympischer Menschen die Produktion der Kunstwelt zu ermöglichen." 4 Der Gedanke, daß die griechische Kultur auf der Sklaverei gewachsen ist, ruft keine Einwände hervor: er ist die Konstatierung eines historischen Faktes. Aber hier ist es wichtig, etwas anderes hervorzuheben. Nietzsche beutet diese Tatsache aus, er zwingt die Geschichte, dem Zweck einer indirekten Apologetik der nahenden (imperialistischen) Barbarei zu dienen; die Meftschheit ist ohne Kultur undenkbar, die Kultur ist unmöglich ohne erzwungene Sklavenarbeit; um die Kultur vor der Entartung und die Menschheit vor dem Untergang zu retten, ist es nötig, erneut eine Sklavenhalterordnung zu errichten. „Und wenn es wahr sein sollte, daß die Griechen an ihrem Sklaventum zugrunde gegangen sind", ironisiert Nietzsche, „so ist das andere viel gewisser, daß wir an dem Mangel des Sklaventums zugrunde gehen werden". 5 Das ist der Schluß, zu dem Nietzsche gelangt, der von seinen Verehrern als „Kulturphilosoph ersten Ranges" 6 angepriesen wird, 4

NIETZSCHE, F., Homer und die dorische Philosophie, Werke, Bd. IX, S. 151.

S Ebenda, S. 153. « GERBER, H. E., Nietzsche und Goethe, Berlin 1953, S. 48.

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welcher es verstanden hat, mit seinem Kunstverständnis den allgemeinen Koeffizienten des Lebens zu erfassen. Den Geisteszustand der damaligen Epoche, ihre herrschenden Begriffe von den Werten des Daseins und der Kultur charakterisiert Nietzsche mit dem Wort „Nihilismus". Er stellt diese Erscheinung als das Wesen der Geschichte der nächsten zwei Jahrhunderte dar. „Unsere ganze europäische Cultur bewegt sich seit langem schon mit einer Tortur der Spannung, die von Jahrzehnt zu Jahrzehnt wächst, wie auf eine Katastrophe los: unruhig, gewaltsam, überstürzt: wie ein Strom, der ans Ende will, der sich nicht mehr besinnt, der Furcht davor hat, sich zu besinnen." 7 Symptome des Nihilismus waren in Europa in der Mitte des 19. Jahrhunderts zu bemerken, als sich die Illusionen der bürgerlichen Aufklärung zerschlagen hatten, bald nachdem die Konterrevolution der Jahre 1848—1849 die alten Ideale, die die junge Bourgeoisie verehrt hatte — Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit — vom Piedestal gestürzt hatte. Gegen Ende des Jahrhunderts wurden die Krisensymptome zu einer Tatsache, die auch einem oberflächlichen Beobachter zugänglich waren. Nietzsches Verdienst besteht darin, daß er als erster eine ausführliche Charakterisierung des europäischen Nihilismus gegeben hat, unter dessen Zeichen sich der moderne Kapitalismus entwickelt, daß er die Aufmerksamkeit der bürgerlichen Philosophie auf sein Auftreten richtete, indem er ihn zum Ausgangspunkt bei der Charakteristik seiner Epoche und seiner alarmierenden Überlegungen über Gegenwart und Zukunft machte. Der Nihilismus ist nach Nietzsches Definition eine Folge der verkehrten Auffassung der Daseinswerte. Er bedeutet, daß die Werte, die bisher für die höchsten gehalten wurden, entwertet werden, ihre Bedeutung verlieren; er ist die Überzeugung von der absoluten Unhaltbarkeit der Welt im Hinblick auf diese Werte. Es gibt kein Ziel, keinen Glauben, keine Wahrheit. Hinter den Werten oder hinter dem, was bisher Werte genannt wurde und noch so genannt wird, steht keinerlei Realität; jder Glaube, jede Anerkennung von irgend etwas als wahr, als real erweist sich als falsch, als illusorisch. Der Nihilismus ist ein Übergangszustand, in seiner extremen Form drückt er den Übergang zum Zerfall, zum Nichts aus. Eben diesen Zustand durchlebt Europa jetzt: „Nichts steht mit festen Füßen und hartem Glauben an sich: man lebt für morgen, denn das Übermorgen ist zweifelhaft. Es ist alles glatt und gefährlich ^ NIETZSCHE, F., Der Wille zur Macht, Werke, Bd. XV, S. 137.

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auf unserer Bahn, und dabei ist das Eis, das uns noch trägt, so dünn geworden: wir fühlen den warmen unheimlichen Athem des Thauwindes — wo wir gehen, da wird bald Niemand mehr gehen können!" 8 Obwohl Nietzsche ab und zu soziale Werte erwähnt, macht er nicht einmal den Versuch, sich die Frage nach den sozialen Wurzeln der Erscheinung, die er mit dem Begriff „Nihilismus" bestimmt, vorzulegen. Die sozialen Werte sind für ihn nur eine Art der „kosmischen" Werte, durch die alle Formen des Sozialen bedingt sind. Der Nihilismus ist kein Stadium, keine Periode in der Entwicklung dieser, d. h. der bürgerlichen Gesellschaft, keine Folge der Verdrehung ihrer Ideale und Hoffnungen ; nein — er ist ein bestimmter Zustand der kosmischen Ordnung, ein Abweichen von den Gesetzen des kosmischen Daseins, von den Wesensgesetzen des Lebens. Die wichtigste, die entscheidende Ursache allen Übels liegt in der biopsychischen Struktur des modernen Menschen, in seiner philosophischen Degenereszenz, in der Beschädigung seiner Psyche, in der Abschwächung der Lebensinstinkte. Der unter dem Gesichtspunkt der biologischen Evolution des Menschen als Gattung betrachtete Nihilismus ist eine Folge der physiologischen Dekadenz. Das menschliche Individuum hat als solches keinerlei selbständigen Wert; die menschlichen Werte realisieren sich als Gattungswerte in den höchsten Exemplaren der menschlichen Gattung und nur diese können auch in der Menschheit den Glauben an den Menschen stützen. Insofern sich die höhere Spezies und mit ihr die Instinkte der Erhöhung immer mehr auflösen und alle Versuche, diesen höheren Typ auszudenken („Romantik", Carlyles Heroenkult), notwendig fehlschlagen, wird die gegenwärtige Gesellschaft zur Herrschaft der Mittelmäßigkeit, der einfachen Menschen, der „Herde", der „Masse", die die „Bescheidenheit verlernt und ihre Bedürfnisse zu kosmischen und metaphysischen Werten aufbauscht" und damit die Ausnahmen tyrannisiert und das ganze Dasein vulgarisiert; dem Dasein werden Werte zugrunde gelegt, die gar keine sind — Glück für die Mehrheit, Wohlfahrt, Gerechtigkeit, Zweck, Wahrheit und andere „chimärische" Vorstellungen des „Herdenmenschen". Aber früher oder später wird sich der Reiz dieser Chimären zerstreuen wie Morgennebel. Hier begibt sich Nietzsche in das Gebiet der Psychologie und deutet den Nihilismus als psychologischen Zustand. Der Nihilismus — verkündet er des langen und breiten — wird eintreten müssen, erstens 8 Ebenda, S. 188.

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als Mutlosigkeit bei der Suche nach einem „Sinn" in allem Geschehen, als Bewußtsein der langen Vergeudung von Kraft, als Qual des „Umsonst", als Scham vor sich selbst, als habe man sich allzulange betrogen, als Enttäuschung über einen angeblichen Zweck des Werdens. Zweitens breitet sich der Nihilismus dann aus, wenn man in allem Geschehen und über allem Geschehen eine Ganzheit, eine Art Einheit, einen „Monismus" vorausgesetzt hat: der Mensch hat ein tiefes Zusammenhangsund Abhängigkeitsgefühl von einem ihm unendlich überlegenen Ganzen. „. . . aber siehe da, es gibt kein solches Allgemeines! Im Grunde hat der Mensch den Glauben an seinen Werth verloren, wenn durch ihn nicht ein unendlich werthvolles Ganzes wirkt: d. h. er hat ein solches Ganzes concipiert, um an seinen Werth glauben zu können." 9 Und drittens, wenn diese zwei Einsichten gegeben sind, „daß mit dem Werden nichts erzielt werden soll und daß unter allem Werden keine große Einheit waltet, in der der Einzelne völlig untertauchen darf wie in einem Element höchsten Werthes: so bleibt als Ausflucht übrig, diese ganze Welt des Werdens als Täuschung zu verurtheilen und eine Welt zu erfinden, welche jenseits derselben liegt, die wahre Welt. Sobald aber der Mensch dahinterkommt, wie nur aus psychologischen Bedürfnissen diese Welt gezimmert ist. . ., so entsteht die letzte Form des Nihilismus, welche den Unglauben an eine metaphysische Welt in sich schließt — welche den Glauben an eine wahre Welt sich verbietet." 10 Nunmehr wird klar, daß der Charakter des Daseins nicht wahr, sondern falsch ist, und daß man schlechterdings keinen Grund mehr hat, sich eine wahre Welt einzureden. Die Kategorien „Zweck", „Einheit", „Sein", mit denen wir der Welt einen Wert eingelegt haben, werden wieder von uns herausgezogen, und nun sieht die Welt wertlos aus. Mit Hilfe derartiger Sophismen, mit einer bewußten Vertauschung von Ursachen und Wirkungen schließt Nietzsche den logischen Kreis seiner Argumente. Er beginnt mit der Prämisse, daß die physiologische Entartung des Menschen als Gattung der Ausgangspunkt des Nihilismus ist, führt, ohne den listig gesponnenen Faden der Argumente abreißen zu lassen, die Kurve über den Punkt „psychologischer Zustand" bis zu dem Punkt, der in der Philosophie üblicherweise Erkenntnistheorie genannt wird, und schließt damit den Kreis. Indem er so die Kategorien „Zweck", „Einheit", „Dasein" entleert und die Wahrheit als illusionäre Vorstellung über die Werte diskreditiert hat, gewinnt er die Möglich« Ebenda, S. 149-150. 'o Ebenda, S. 150.

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keit, den Glauben an die Kategorien der Vernunft für die Ursache des Nihilismus zu erklären und an diesem Punkt einen neuen Kreis seines logischen Eiertanzes zu beginnen, um wieder und wieder zum „Schlußresultat" hinzuführen: alle Werte sind, psychologisch betrachtet, „Resultate bestimmter Perspektiven der Nützlichkeit zur Aufrechterhaltung und Steigerung menschlicher Herrschaftsgebilde: und nur fälschlich projicirt in das Wesen der Dinge. Es ist noch immer die hyperbolische Naivetät des Menschen, sich selbst als Sinn und Werthmass der Dinge anzusetzen." 11 Der Nihilismus ist eine besondere Form des Krisenbewußtseins der bürgerlichen Gesellschaft, ihres „Armutszustandes". Nietzsche sieht und erkennt, wie die „natürliche" Daseinsordnung verletzt wird. Ihm entgeht weder die Schärfe der Klassenantagonismen noch das Anwachsen des Klassenkampfes, noch die Verbreiterung der historischen Selbstbetätigung der Massen. Er versteht, daß all das die Existenz der Ordnung des Privateigentums und die soziale Rangordnung in Frage stellt, das Dasein perspektivlos und unter dem Gesichtspunkt der Verteidiger dieser Ordnung sinnlos macht. Nachdem er die Diagnose der Krankheit gestellt hat, möchte er ihre Ursachen aufdecken und den historischen Verlauf enthüllen. Das Hereinbrechen des Nihilismus bringt er vor allem mit der Erhebung der Massen, mit dem „Auftrieb der mittleren und untersten Stände" — des Bürgertums und des Proletariats in Verbindung. Auf den ersten Blick könnte es scheinen, als würde er die Distanz zwischen diesen Ständen nicht bemerken, aber schon in der französischen Revolution unterscheidet er zwei Flügel der gegen die Feudalaristokratie kämpfenden Kräfte, und später trennt er das Bürgertum, die Bourgeoisie noch entschiedener vom „Pöbel", von der „Herde", vom Proletariat, erhebt die Bourgeoisie zur kommandierenden Kraft über das Proletariat, sondert die „Arbeiterfrage" in ein besonderes Gebiet ab, wobei er sie mit dem Sozialismus in Verbindung bringt, allerdings nicht als soziales, sondern als philosophisches Problem, aus dem auch der Nihilismus hervorgeht. Nietzsche ist der Urheber des Mythos von der „Masse", der „Menge". Der Kapitalismus führt tatsächlich zu einer „Vermassung", zu einer Nivellierung der menschlichen Persönlichkeit. Die kapitalistische Arbeitsteilung verwandelt den Menschen in eine Funktion. Propaganda, Agitation, Reklame — kurz, alle Kommunikationsmittel wirken in 11

Ebenda, S. 151.

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einer Richtung: den Menschen in einen bestimmten Standard zu zwängen, aus ihm einen Stereotyp zu machen, der dem Mechanismus der kapitalistischen Ausbeutung unterworfen ist. Das Wesen der bürgerlichen Gesellschaftsverhältnisse besteht in ihrer Vergegenständlichung, und diese Vergegenständlichung hat die Entfremdung, die „Entmenschlichung" des Menschen zur Folge. Die Entfaltung seiner inneren Potenzen erscheint als universelle Verdinglichung, seine eigentliche Bestimmung wird Zwecken von völlig äußerlichem Charakter geopfert. Der Mensch, von den Philosophen, Moralisten und Künstlern des auftretenden Bürgertums als „Krone der Schöpfung", als „höchster Wert" gepriesen, wird soweit entwertet, daß er zum Tauschwert wird. Die Bourgeoisie hat „kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übriggelassen als das nackte Interesse, als die gefühllose ,bare Zahlung' . . . Die Bourgeoisie hat alle bisher ehrwürdigen und mit frommer Scheu betrachteten Tätigkeiten ihres Heiligenscheins entkleidet. Sie hat den Arzt, den Juristen, den Pfaffen, den Poeten, den Mann der Wissenschaft in ihre bezahlten Lohnarbeiter verwandelt." 12 Nietzsche hat diese Tendenz nicht nur erraten, sondern er schuf auf ihrer Grundlage eine philosophische Theorie, die zum Urmodell für viele moderne Konzeptionen der „Massengesellschaft" wurde. Vom Volk, von den Werktätigen spricht er stets mit herrischem Hochmut und mit Abscheu. Für ihn ist das Volk „Pöbel", „Herde", „Gesindel", „Marktfliegen" usw. Die Anhänger des Nietzscheanismus interpretieren eine derartige Terminologie als „poetische Allegorien", mit denen die für originelle Gedanken und poetische Metaphern gleichgültige „höhere Welt", die schreibende Menge der talentlosen Kritiker und Federfuchser, die Bildungsphilister oder auch die Spießer aller Schattierungen überhaupt gemeint sind, nicht seine „Jünger", seine „Brüder", das Volk. Nietzsche selbst möchte sich nicht auf eine zweideutige Position stellen: „Volk", „Pöbel", „Herde" usw. sind synonyme Wörter. Er hegt durchaus kein Bedauern oder Mitleid für die „Kleinen dieser Welt" wegen ihres Loses, nicht mit ihnen insgesamt, nicht mit dem einzelnen : für ihn ist das ein natürlicher Prozeß der „physiologischen Degeneration", der „moralischen und geistigen Erschöpfung". Im Gegenteil, es ist gerade ein Zeichen des herannahenden Nihilismus, daß diese „kleinen", „letzten" Menschen versuchen, den „höchsten Exemplaren" der menschlichen Gattung die Schuld für ihre „physiologische Ent12

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MARX, K./F. ENGELS, Das Manifest der Kommunistischen Partei, M E W , Bd. 4, Berlin 1972, S. 49.

artung" zuzuschieben, und sich gegen deren Herrschaft auflehnen. Die von unten, in der „Masse" entstehende nihilistische Bewegung ist nichts anderes als eine „lebensfeindliche Tendenz", als ressentiment der „Schlechtweggekommenen", die „unfähig sind, anders als auflösend, vergiftend, verkümmernd, blutaussaugend zu wirken", die getrieben werden vom „Instinkt des Todhasses gegen Alles, was steht, was groß dasteht, was Dauer hat, was dem Leben Zukunft verspricht". 13 Dieser „Kampf gegen den höchsten Typus" wird offen in Verbindung mit dem Sozialismus gebracht, der von seinem sozialen Klasseninhalt entleert wird: das Leben ist nur deshalb gefährdet, weil die „mächtigen und zukunftsträchtigen Instinkte" gebrandmarkt wurden und an deren Stelle die Instinkte der Rache und des Mitleids, des Gerechtigkeitsgefühls und der politische Kampf für gleiche Rechte, liberale Gutmütigkeit und demokratische Toleranz getreten sind. Der Nihilismus erfaßt auf diese Weise auch die höchsten Stände, es geht eine „Selbstzersetzung" der herrschenden Schicht vor sich: sie ist infiziert von der Mißachtung gegenüber „Natürlichkeit" und Machtstreben, vom Demokratismus, Liberalismus, Philanthropie, Sentimentalität, Nächstenliebe usw. Die aufständischen Massen, der Pöbel, die Sklaven, die nicht länger Sklaven sein wollen, rufen also den aristokratischen Haß Nietzsches hervor, die regierende Bourgeoisie, der der Wille zur Unterdrückung dieses Aufstandes fehlt, entfacht sein kritisches Pathos: sie ist vom Bewußtsein ihrer eigenen Rechtmäßigkeit verlassen, sie regiert, aber sie herrscht nicht, sie versteht sich nicht als triumphierende Aristokratie. Und er rechnet im Namen des Lebens selbst mit ihr ab. Der Nihilismus steht, wenn man Nietzsche glauben soll, in der Verkleidung als Wahrheit, als Güte und als Humanismus an der Schwelle. Er ist die „Zuchtlosigkeit des modernen Geistes unter allerhand moralischem Aufputz": Toleranz (für „Unfähigkeit zu Ja und Nein"); Objektivität ( = Mangel an Person, Mangel an Wille); Wahrheit im Gegensatz zu Fälscherei mit Lügnerei; Wissenschaftlichkeit; Humanismus usw.14 Der Kapitalismus hatte sich angekündigt als zukünftiger Triumph der Vernunft, der Wahrheit, des Guten, der Gerechtigkeit, der Freiheit, als Reich der Harmonie und Ordnung. Diese Begriffe waren für die höchsten Daseinswerte, für ewige, unvergängliche Ideale der MenschU NIETZSCHE, F., D e r Antichrist, Werke, Bd. VIII, S. 305. i-t NIETZSCHE, F., D e r Wille zur Macht, Werke, Bd. XV, S. 199.

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heit erklärt worden. Diese sentimentale Idee konnte nicht verwirklicht werden, aber sie konnte für eine gewisse Zeit zur Triebkraft des historischen Fortschritts werden. Kaum aber hatte die Bourgeoisie den Sieg errungen, als offensichtlich wurde, daß die von ihr verkündeten Ideale leere Deklamationen waren. Bereits das 19. Jahrhundert entthronte diese falschen Ideale. Nietzsche hält dies — die „Götzendämmerung" — für den Ausgangspunkt des Nihilismus. Das 19. Jahrhundert ist nach seiner Charakteristik „animalistischer, unterirdischer". Es hat weder vor der Vernunft noch vor dem „Herzen" Scheu und Hochachtung, es ist „tief überzeugt von der Herrschaft der Begierde", aber der Glaube an falsche Werte und Ideale hat seinen Willen gebrochen und seinen Geist verdunkelt. Man muß Nietzsche zugestehen, daß er sensibel für sein Jahrhundert und dessen Konflikte ist, auch wenn er ihre Ursachen nicht kennt. Die von der Bourgeoisie verkündete Freiheit, Aufhebung der Sklaverei, gleiche Rechte, Philanthropie, Friedensliebe, Gerechtigkeit, Wahrheit — „alle diese großen Werte", sagt er, „haben nur Werth im Kampf, als Standarte: nicht als Realitäten, sondern als Prunkworte für etwas ganz Anderes". 1 5 Die alten Werte sind entwertet, es ist die Zeit gekommen, sie umzuwerten. Es ist eine „Verdüsterung des Geistes" eingetreten, d. h. eine Weltanschauungskrise, die auch einen festen Bestandteil des Nihilismus bildet: „Eine Interpretation ging zugrunde : weil sie aber als die Interpretation galt, erscheint es, als ob es gar keinen Sinn im Dasein gäbe, als ob Alles umsonst sei". 16 Dieses „Umsonst" bestimmt den Charakter und die Tiefe dieser Etappen des Nihilismus. Aber auch diese Charakterisierung wird von ihm psychologisch geprägt: alle höchsten Werte, die über die Menschheit — jedenfalls über die „gezähmte" Menschheit — herrschen, können mit den „Werthen der Geschwächten, Geisteskranken und Neurastheniker" verglichen werden. 17 In dieser groben Fehlrechnung erschöpft sich der Optimismus der „Umwertung aller Werte", die Begeisterung für die Erarbeitung eines Programrties zur Überwindung des Nihilismus. Nietzsche unterscheidet zwei Typen des Nihilismus: einen passiven (müden) und einen aktiven (vollkommenen, extremen) Nihilismus. Der passive Nihilismus ist ein Zeichen von Schwäche, ein Niedergang und Rückgang des Geistes und des Willens: Geist und Wille sind derart geschwächt, daß das Streben nach Ruhe, nach Betrachtsamkeit, nach " Ebenda, S. 200. '« Ebenda, S. 182. " Ebenda, S. 173.

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Flucht vor der Wirklichkeit in den Vordergrund tritt, er tritt meist in religiöser oder moralischer Verkleidung auf (z. B. im Buddhismus, in der Philosophie Schopenhauers). Der aktive Nihilismus, zu dem Nietzsche aufruft, ist ein Zeichen von Stärke, von erhöhter Kraft des Willens und des Geistes. Die alten Werte, Ideale und Glaubensartikel haben aufgehört, den heutigen Bedingungen und den Erfordernissen von morgen zu entsprechen, die Kraft des Geistes und des Willens ist so angewachsen, daß sie, solange keine neue Umwertung vorgenommen wurde, die alten Werte den neuen Umständen unterwerfen, welche einen weiteren Aufschwung des Lebens und die Umbildung der Herrschaftsformen gewährleisten. „Der Nihilismus", warnt er, „ist nicht nur eine Betrachtsamkeit über das ,Umsonst!', und nicht nur der Glaube, daß Alles Werth ist, zu Grunde zu gehen: man legt Hand an, man richtet zu Grunde".18 Zugrunde gerichtet wird das, was sich selbst überholt hat, die alten Werte. Nihilismus bedeutet den Mut, anzuerkennen, was ist, und darüber hinauszugehen. Und so verhält er sich auch „gegen die ganze Vergangenheit" der Menschheit: er „läßt sie fallen". Die Erfahrungen der menschlichen Geschichte, die gesamte Praxis der Menschheit, die objektiven Gesetze der Dinge und Erscheinungen, die objektive Wahrheit und die Moralnormen — all das kann man „fallenlassen", wenn es um Gegenwart und Zukunft, um den „Triumph des Lebens", um die Erhöhung seiner Kraft und Gewalt geht. Dem Schicksal, dem Verhängnis entgegengehen, mit dem Verhängnis nur insoweit rechnen, als es „zum Schwachen sagt ,geh zu G r u n d e ! ' " — das ist unlogisch? Na und, sagt Nietzsche, „der Nihilist glaubt nicht an die Nöthigung, logisch zu sein". 19 Aus der Krise, aus dem Niedergang der bürgerlichen Gesellschaft versuchte er, einen voluntaristischen Aktivismus abzuleiten, jene Überspannung des „freien Willens" und der „schöpferischen Intuition", mit deren Hilfe die herrschende Klasse den „Durchbruch" in die Zukunft vollbringen kann. Als Radikalmittel des „Durchbruchs" wird die „große Politik" vorgeschlagen. Nietzsche hat selbstverständlich auch die Möglichkeit eines tragischen Ausgangs dieses „Durchbruchs" vorausgesehen, aber als Extremfall: Wenn es die herrschende Klasse aus irgendeinem Grund nicht versteht, das von ihm — Nietzsche — entworfene Programm aufzunehmen und praktisch umzusetzen. Das Programm ist bis heute nicht verwirklicht. Der „Durchbruch" ist nicht gelungen. Die Krankheit erwies sich als 18 Ebenda, S. 157/158. Ebenda, S. 158. 4

Oduev

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unheilbar. Die nihilistische Bewegung ist auf die Bahn der fatalen Notwendigkeit geraten. „Der Nihilismus", schreibt Martin Heidegger, „ist, in seinem Wesen gedacht, die Grundbewegung der Geschichte des Abendlandes. Sie zeigt einen solchen Tiefgang, daß ihre Entfaltung nur noch Weltkatastrophen zur Folge haben kann." 2 0 Der Denker, der als erster auf diese Bewegung hinwies, erwarb sich weltweite Berühmtheit, obwohl seine „Prophezeiungen" von der Überwindung des Nihilismus sich nicht erfüllten und nicht erfüllen konnten.

20 HEIDEGGER, M . , Holzwege, Frankfurt a. M.

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1957, S. 201.

Kapitel 2

Der „Versuch einer Umwertung aller Werte" und die Aufgaben der „neuen" Philosophie

Nietzsche hielt sich für einen „Revolutionär des Geistes", für „Dynamit", dazu berufen, die ganze bisherige „Metaphysik" zu sprengen und nicht einfach nur eine neue Philosophie zu schaffen, sondern ein Evangelium der Zukunft, in dem alles allgemeinverbindlich und unfehlbar ist; er hielt sich für einen „großen skeptischen Verstand", in dem sich die „Zerstörungsarbeit aller Jahrhunderte" konzentriert hat. Er erklärte sich für einen entschiedenen Gegner jeglichen Systems in der Philosophie; in jedem systematischen Philosophieren sah er einen „Mangel an Rechtschaffenheit". Dabei muß man drei Umstände beachten. Erstens ist die Ablehnung eines strengen Systems eine Folge seiner extrem relativistischen, irrationalistischen Position, die eine entsprechende Methode herausfordert: systematische Zusammenhänge und innere Logik der philosophischen Problematik werden hier durch die Methoden des unmittelbaren „Emlebens" und des intuitiv-künstlerischen Eindringens in den Gegenstand der Betrachtung ersetzt. Selbstverständlich kann die Lebensphilosophie auch in akademischem Rahmen dargelegt werden, was übrigens später von Dilthey auch getan wurde, aber dazu mußte in gewissem Grade die „Einheit" von Inhalt und Form geopfert werden. Zweitens bietet die essayistische, aphoristische Manier, die in statu nascendi beobachteten Probleme in ihrer noch nicht logischsystematisch durchdachten Tendenz darzulegen, dem Forscher die Chance, die wissenschaftlich-logische Beweisstrenge durch emotionale Überzeugungskraft zu ersetzen, und das besonders in der Kulturtheorie und der Ethik. Und drittens kann man nicht umhin, die persönliche Begabung des Philosophen und seine Neigung zum literarischen Genre zu berücksichtigen. In der programmatischen Absage vom System gibt es folglich nicht nur eine äußerlich zwingende Logik, sondern auch einen inneren Zusammenhang der einzelnen Glieder der philosophischen Konzeption, wenn auch kein eigenes System, so doch wenigstens eine Achse, um 4*

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die sich die ganze Problematik dreht. Diese Achse ist nicht aus der metaphysischen Substanz geschmiedet, sondern aus einer Legierung von weltanschaulichen und ideologischen Elementen. Der Dreh- und Angelpunkt dieses Systems ist die „Umwertung aller Werte". Unter Werten versteht Nietzsche vor allem moralische und kulturelle Werte. In diesen beiden Richtungen entwickelt er auch die Kritik (die „Umwertung") des ganzen bisherigen philosophischen Denkens. Dabei muß betont werden, daß von ihm alle Probleme der Kultur im ganzen, unter auch der wissenschaftlichen Erkenntnis und der Wahrheit, hauptsächlich auf der moralisch-politischen Ebene betrachtet werden. Der „Immoralist" Nietzsche ist in erster Linie ein Moralist, ein Moraltheoretiker. Und das ist kein Paradoxon. Die Kritik der christlichen Moral (der „Sklavenmoral") ist der Ausgangspunkt der „Umwertung"; die Einsetzung „neuer" moralischer Werte (der „Herrenmoral") ist ihr Endziel. In diesem Raum erstreckt sich seine ganze praktische Philosophie. Er konnte den Kapitalismus seiner Zeit nicht sozialökonomisch analysieren (um so mehr, wenn man seine naive Unkenntnis ökonomischer Fragen bedenkt). Er drückte den von ihm wahrgenommenen Umbruch von einem Stadium der kapitalistischen Entwicklung in ein neues mit den ihm zugänglichen Mitteln als Übergang von einer Form der moralischen Regulierung der menschlichen Verhältnisse zu einer neuen, den veränderten Bedingungen des sozialen Verkehrs besser entsprechenden Form aus. Auf diesem Gebiet erhält seine „Voraussicht" der Zukunft eine bessere Bestätigung als auf jedem anderen: sie findet ihre Verwirklichung in der moralischen Praxis der heutigen Bourgeoisie. Sich und den „freien Geistern" seinesgleichen attestiert Nietzsche das herausfordernde: „Wir sind Immoralisten". Die Mehrheit der bürgerlichen Forscher bestreitet diese Herausforderung. Im buchstäblichen Sinn des Wortes ist ein Immoralist ein Mensch, der jegliche Moral, alle moralischen Imperative ablehnt. Das kann man von Nietzsche nicht sagen. Von einer Immoralität des Nietzscheanismus kann man offenbar nur unter anderen Gesichtspunkten sprechen: erstens bringt er die in der bürgerlichen Gesellschaft herrschende Klasse nicht mit den allgemein anerkannten Normen der christlichen Moral in Verbindung, die er als moralischen Regulator für die „Mehrheit" versteht; zweitens erkennt er keinerlei objektive Kriterien an, weder für die moralischen Bewertungen noch für die Moral im allgemeinen, er geht an sie rein relativistisch und pragmatisch oder, um seine Terminologie zu benutzen, „unter dem Gesichtspunkt des Lebens der Gattung" heran. Unter Moral 52

versteht der Nietzscheanismus ein System von Wertschätzungen, welches seine Wurzeln in den „Lebensbedingungen eines Wesens" (einer Rasse, einer Klasse) hat. „Es giebt keine moralischen Phänomene, sondern nur eine moralische Interpretation dieser Phänomene." 2 1 Die moralische Bewertung ist stets nur eine Art von Interpretation, die außermoralischen Ursprungs ist, sie ist nur ein „ S y m p t o m bestimmter physiologischer Zustände" 2 2 , eine Zeichensprache, in der „sich Vorgänge des physiologischen Gedeihens oder Missrathens, ebenso das Bewußtsein von Erhaltungs- und Wachsthumsbedingungen verrathen" 23 . Die Moral ist „unmoralisch", sie ist ein Mittel zur Herrschaft oder der Arterhaltung, und als solches darf sie sich nur auf Kräfte und Instinkte außermoralischen Charakters stützen; die Entstehung der moralischen Werte „ist das Werk unmoralischer Affekte und Rücksichten" 24 . Nietzsches kritische Pfeile sind, wie es scheint, in erster Linie gegen die traditionelle christliche Moral gerichtet, die die an die Macht gekommene Bourgeoisie als Erbe übernommen hatte, gegen die extreme Heuchelei, auf der die Bourgeoisie ihre „sittliche Weltordnung" aufbaut. Er weiß recht gut, daß Gerechtigkeit, Güte, Mitleid, Nächstenliebe und die anderen in der christlichen Moral verankerten Postulate Bigotterie sind, die nötig ist, um die Massen in Zucht zu halten, daß die christliche Moral „gerade so, unmoralisch' ist wie jedwedes andre Ding auf Erden" 2 5 , daß der Sieg der christlichen Ideale des Christentums „durch dieselben unmoralischen' Mittel errungen wird wie jeder Sieg: Gewalt, Lüge, Verleumdung, Ungerechtigkeit" 26 . Die Priester dieser Moral verachtet er als „Verneiner, Verleumder, Vergifter des Lebens von Beruf'21. „Die .Tugend', die,Pflicht', das ,Gute an sich', das Gute mit dem Charakter der Unpersönlichkeit und Allgemeingültigkeit sind nur Hirngespinste, in denen sich der Niedergang, die letzte Entkräftung des Lebens . . . ausdrückt." 2 8 Das bürgerliche Moralbewußtsein, wie es sich im Utilitarismus widerspiegelt, nennt er „Krämerphilosophie". Nicht weniger scharf und „radikal" tritt er gegen das offizielle Christentum und die christliche Kirche auf. „Ich verurtheile das Christenthum, ich erhebe gegen die 21 22 23 24 25 26

NIETZSCHE, F., Der Wille zur Macht, Werke, Bd. XV, S. 335. Ebenda, S. 334. Ebenda, S. 3 3 4 - 3 3 5 . Ebenda, S. 339. Ebenda, S. 368. Ebenda, S. 367.

27 NIETZSCHE, F., D e r A n t i c h r i s t , a. a. O . , S. 229.

28 Ebenda, S. 226.

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christliche Kirche die furchtbarste alle Anklagen, die je ein Ankläger in den Mund genommen hat. Sie ist mir die höchste aller denkbaren Corruptionen . . . Die christliche Kirche Hess Nichts mit ihrer Verderbnis unberührt, sie hat aus jedem Werth einen Unwerth, aus jeder Wahrheit eine Lüge, aus jeder Rechtschaffenheit eine Seelen-Niedertracht gemacht.'^ Eine solche Kritik in den Werken dieses bürgerlichen Denkers ruft den Eindruck eines „Donnerschlages" hervor. Sie frappiert buchstäblich mit der Schärfe und Kühnheit der Urteile, mit der Treffsicherheit und Genauigkeit der Charakterisierungen. Man könnte sie natürlich auch „akzeptieren" (und sie wird tatsächlich nicht selten für „bare Münze" genommen), wenn man nur ihre negative Seite nimmt, wenn man, ohne ihr Ziel zu beachten, an sie herangeht. Bei einer sorgfältigen und allseitigen Analyse dieses kritischen Pathos ist es jedoch nicht schwer, zu dem Schluß zu gelangen, daß Nietzsche vor allem gegen die ethischen Prinzipien der Aufklärung und deren moralischen Humanismus zu Felde zieht, daß er gegen jene Normen der „elementaren Sittlichkeit" auftritt, die Elemente der allgemein-menschlichen Moral bilden und die von den Volksmassen im Verlauf von Jahrhunderten im Kampf gegen soziale Unterdrückung und Ungerechtigkeit angesammelt wurden. Er möchte um jeden Preis das demokratische, moralische Ideal diskreditieren, welches die unterdrückten, arbeitenden Menschen in ihrem Kampf für eine gerechte Gesellschaftsordnung begeistert. Er fühlte instinktiv „mit den Nervenenden" seine Gefährlichkeit und faßte es als reale Bedrohung auf, und das derart krankhaft, daß sogar die Forderung einer abstrakten Gerechtigkeit, wie sie sich in den Mosaischen Gesetzen findet, bei ihm wütende Erregung hervorruft. Er befürchtet, daß das Bekenntnis zu „Güte", „Nächstenliebe" usw. dazu führt, daß der Wille der herrschenden Klasse - geschwächt wird, daß sie unter den neuen Bedingungen verwirrt wird und von moralischen „Vorurteilen" befangen bleibt und daher nicht genügend Härte bei der Durchsetzung der „Forderungen des Lebens" zeigt. Die Theoretiker der Bourgeoisie haben bis heute nicht mit dem Versuch aufgehört, die Werktätigen mit dem Geschwätz von der Einheit der Interessen von Ausbeutern und Ausgebeuteten zu verführen. Nietzsche jedoch will keine solche offensichtlich falsche Position einnehmen. Er verwischt den Unterschied zwischen den sozialen Hauptgruppen der Gesellschaft, zwischen Sklaven und Herren (um seine Terminologie zu » Ebenda, S. 312.

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verwenden) nicht. Diesen sozialen Schichten entsprechen zwei einander entgegengesetzte Moralen: „Sklavenmoral" und „Herrenmoral". Es gibt keine einheitliche Moral da, wo die Menschen in Klassen oder Kasten gespalten sind, und kann es nicht geben. Er sieht seine Aufgabe darin, den „höchsten" Moraltypus — die „Herrenmoral" — „kosmisch" zu begründen, deren Ausgangsprinzip er folgendermaßen formuliert: der Mensch hat nur gegenüber seinesgleichen Verpflichtungen; gegenüber Wesen niederen Ranges, gegenüber allem ihm Fremden kann er vorgehen, wie es ihm gutdünkt. Die Sklavenmoral muß das Los derjenigen bleiben, die sie betrifft. Auf der Suche nach einem Muster der Moralbewertungen, denen die „neuen Herren der Erde" folgen sollen, wendet er sich zurück in die Vergangenheit, in die Zeit des Trojanischen Krieges und der Großen Völkerwanderung. Ein solches Muster sind für ihn einerseits die alten griechischen Helden, die — nach seinen Worten — „einen Zug von Grausamkeit, von tigerartiger Vernichtungslust" an sich haben, andererseits die Barbaren arischer Herkunft, „die prachtvolle, nach Beute und Sieg lüstern schweifende blonde Bestie".30 Nietzsche sieht demnach seine Mission in der Schaffung von „moralischen Werten" für eine neue, zukünftige Aristokratie, deren Wille und Degen über sie hinaus, „nach ihren Kindern zu" reichen sollen. Anstelle der von ihm abgelehnten Ethik als Wissenschaft will er ein System von moralischen Bewertungen schaffen, das er „Physiologie oder Psychologie des neuen Egoismus" zu nennen vorschlägt. Objektiv ist dieses System eine Idealisierung des Klassenegoismus der parasitären Bourgeoisie, die im Interesse der Erhaltung und Stabilisierung ihrer Herrschaft im Menschen niedrige, barbarische Instinkte entfacht und sie für den Kampf gegen ihren Hauptfeind, das Proletariat und seine Bündnispartner, mobilisiert. Nietzsche macht gar keinen Hehl daraus, daß er unter Egoismus den unverrückbaren Glauben versteht, daß Wesen, wie „wir sind", andere Wesen von Natur Untertan sein müssen und sich ihm zu opfern haben. „Die vornehme Seele nimmt diesen Thatbestand ihres Egoismus ohne jedes Fragezeichen hin, . . . wie etwas, das im Urgesetz der Dinge begründet sein mag." 31 Nietzsches Interpretation der moralischen Werte nimmt theoretisch die wirkliche Entwicklung vorweg: viele seiner Moralpostulate fanden in der „Moral"Doktrin des Faschismus ihre Realisierung und haben ihre Wirksamkeit als bürgerliches Moralbewußtsein unseres Jahrhunderts behalten (nur 30 NIEZTSCHE, F., Jenseits von Gut und Böse, Werke, Bd. VII, S. 322. 31 Ebenda, S. 2 5 1 - 2 5 2 .

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mit dem Unterschied selbstverständlich, daß die „Herrenmoral" eine Idealisierung der „üblen Seiten" des Kapitalismus ist, während die modernen Moralapologeten alles Üble an ihm verschleiern). Nietzsches Kritik am „Moralismus" ist durchaus kein instinktiver, unbewußter Aufruhr gegen die bürgerliche Moral, kein kühner und spontaner Appell an die „Gesellschaft". Aus Anlaß der „Umwertung" attackiert Nietzsche auch die christliche Religion. Er weiß, daß das Christentum den Menschen schwächt, ihn krank und willenlos macht, daß der Gläubige nicht sich selbst angehört, daß er wenig zu aktivem Handeln fähig ist. In dieser Funktion muß es auch erhalten bleiben. Es darf aber niemals vergessen werden, daß es auch den Willen der herrschenden Aristokratie paralysiert, wenn sie sich von seiner schmeichlerischen Predigt beeinflussen läßt. Nietzsche kann sich nicht damit abfinden, daß das Christentum zum Humanismus aufruft, daß es den absoluten Wert des Menschen, die Gleichheit der Menschen vor Gott verkündet und den illusionären Traum des unterdrückten Menschen von Freiheit und Glück ausdrückt, daß es in der Vergangenheit vielen sozialen Bewegungen, die gegen das „triumphierende Leben" gerichtet waren, als Deckmantel diente. Er zieht gegen diese „plebejischen", „demokratischen", oft nur erlogenen Tendenzen im Christentum zu Felde. „Der ,erste Christ' — ich fürchte auch der .letzte Christ', den ich vielleicht noch erleben werde — ist Rebell gegen alles Privilegierte aus unterstem Instinkte — er lebt, er kämpft immer für .gleiche Rechte'!"32 Die Moralideologie ist das Gebiet der Philosophie Nietzsches, das die bürgerlichen Kommentatoren am stärksten anzieht. Die Mehrheit von ihnen umgeht, während sie sich für die „neuen Werte-Tafeln" begeistert, sorgfältig die wahren Ursachen für Nietzsches Angriffe gegen die „europäische Moral", um das Wesen dieser „Tafeln" zu verschleiern und damit die Möglichkeit zu gewinnen, sie für die ideale Moral, die die geistigen Kräfte des Menschen vom Joch des „moralischen Dogmatismus" befreit, und Nietzsche selbst für den Vorkämpfer einer solchen „natürlichen" Ordnung des Daseins auszugeben, in der „die freien Geister sich zusammenfinden werden". 33 Die „abendländische Welt" bewegt sich angeblich auf die Verwirklichung dieses Ideals zu. Es finden sich jedoch nicht wenige Interpreten (vorwiegend aus den Kreisen der kleinbürgerlichen Intelligenz), ?2 NIETZSCHE, F . , D e r A n t i c h r i s t , a . a . O . , S. 2 8 0 . 35

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Vgl. ROSTEUTSCHER, I., Die Wiederkunft des Dionysos, Bern 1947. S. 159.

die die Kritik der „Moraldogmen" als Zeichen des guten Tons betrachten. Auch das ist verständlich. Das Kleinbürgertum, verwirrt durch seine unsichere und schwankende Lage im Kapitalismus, sucht in den moralischen Werten Nietzsches eine Begründung für seinen instinktiven Protest gegen die ökonomischen und ideologischen Folgen des Kapitalismus, deren Ursachen es nicht verstehen kann. Die philosophische Position Nietzsches, insbesondere seine scharfe Kritik an der christlichen Moral, wird häufig in Verbindung gebracht mit einer antikapitalistischen Romantik, in der der leidenschaftliche Protest der Seele eines Wahrheitssuchers gegen die moralische Bigotterie und Heuchelei der Bourgeoisie, der Philister durchbricht. Ohne Zweifel unterlag er in seiner Jugend romantischen Einflüssen. Das widerspiegelt sich deutlich in den Jugendwerken, vor allem in den dichterischen. Ein Anflug von Romantik ist auch in den späten philosophischen Werken zu spüren. Das ist selbstverständlich nicht nur der Einfluß der Ideen Schopenhauers, Wagners, Schillers, Hölderlins und so weiter. Es gibt daneben auch objektive Gründe: Das Unvermögen, die Epochen nach sozial-ökonomischen Kennzeichen zu unterscheiden und das Netz von historischen Ursachen und Folgen zu entwirren, führt, wenn die Wirklichkeit nicht bedingungslos akzeptiert wird, unvermeidlich zu einer romantischen Idealisierung der Vergangenheit, in der man ein Analogon der ideell und gedanklich vorausgesehenen Zukunft sucht. Die Ablehnung der kapitalistischen Ordnung inspirierte die Romantiker dazu, das Mittelalter oder die Antike als Gegengewicht zum Kapitalismus zu idealisieren. Bei Nietzsche jedoch wird der Kapitalismus niemals den früheren Epochen gegenübergestellt. Bei einer sorgfaltigen Analyse stellt man fest, daß die kapitalistische Produktionsweise, die auf dem Antagonismus von Arbeit und Kapital basiert, niemals einer emotionalen Kritik unterzogen wurde (und eine wissenschaftliche Kritik schloß sich für ihn sowieso aus), obwohl er gegen die kapitalistische Arbeitsteilung in dem Maße auftrat, in der sie nach seiner Ansicht negativ auf die Entwicklung der Kultur und der moralischen Bewertungen einwirkte: einerseits verwandelt sie den Künstler in einen Lohnarbeiter, unterjocht die Freiheit des Schöpfertums, andererseits verwischt sie den „natürlichen" Unterschied zwischen der schöpferischen Elite und der unschöpferischen Masse, zwischen den Herren des Lebens und den Sklaven, stumpft den Ranginstinkt ab, vertuscht die soziale Hierarchie. Eine solche Kritik rührt die Grundpfeiler des Kapitalismus nicht an. Nietzsche befreit sich im Laufe seiner schöpferischen Entwicklung vom kontemplativen Romantismus. Er bricht mit den Götzen seiner 57

Jugend — mit Schopenhauer, weil dessen Wille aufhört, sich selbst zu wollen und die Moral sich auf den Instinkt des Mitleids reduziert; mit Wagner, weil dessen romantischer Glaube sich in ein „Verlangen zum Nichts" wandelt; er verurteilt die „romantische Attitüde des modernen Menschen" in der Person Byrons, Hugos und George Sands, seine„edle Entrüstung", neue „Parteinahme für die Unterdrückten und Schlechtweggekommenen". 34 Er wendet sich zur Vergangenheit zurück, um die Zukunft zu verteidigen, seine romantischen Utopien haben die Funktion einer indirekten Apologie des Kapitalismus in Form einer Kritik von rechts. Selbstverständlich könnte man versuchen, seine Idealisierung der griechischen Kriegshelden, der alten eroberungslüsternen Wikinger, der barbarischen „blonden Bestien" der Romantik zugute zu halten, wenn man die Augen vor dem Rausch von grober Gewalt, Grausamkeit, Krieg, Versklavung usw. verschließt, was sich beim besten Willen nicht unter den Begriff einer poetischen Hyperbel bringen läßt. Nietzsche war ein tiefer und leidenschaftlicher Gegner der philosophischen Gleichgültigkeit, der spießigen Selbstzufriedenheit, der groben Ruhmsucht, der bürgerlichen Philanthropie usw. Sein entlarvender Eifer war nicht „harmlos": Es war nötig, die Mittelschichten der bürgerlichen Gesellschaft zu aktivieren, ihre Gelassenheit mit stürmischen Aufrufen zum „Lebenskampf zu stören und sie für die Verteidigung der Privilegien des Privateigentums zu mobilisieren, indem man mit genauer psychologischer Kenntnis auf ihre Privateigentumsinstinkte einwirkt. Er rechnet damit, daß die empfindlichste Seite der Bürgerseele die Angst ist, Angst um ihren Wohlstand, ihre Privilegien, Angst vor dem Energieandrang von unten, vor der revolutionären Empörung der Massen, vor der Demokratie, vor dem Sozialismus. Der Bürger, der Philister ist ohne Zweifel Moralist, wenn der „Nächste" gemeint ist, aber insgeheim und für sich zieht er eine Position jenseits von Gut und Böse vor, man muß nur den Grund seiner Seele in Aufruhr bringen. Die Drohung des Untergangs ist imstande, in ihm Ausbrüche einer übermenschlichen Willensanspannung auszulösen und ihn zum Mut der Verzweiflung zu treiben. Es ist kein Zufall, daß Nietzsche zum Idol der deutschen bürgerlichen Mittelschichten wurde. Und nicht nur der deutschen. Das hat Gorki seinerzeit erfaßt: „Man hätte die trunkene Freude der Philister sehen müssen, als Nietzsche anfing, laut von seinem Haß auf die Demokratie zu sprechen! Es schien ihnen, als sei nun endlich ein Herkules erschienen, er säubert den Augiasstall der Philisterseele von der grauen BegriffsNIETZSCHE, F., Der Wille zur Macht, a. a. O., S. 191.

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Verwirrung, er befreit sie aus dem kleinlichen und buntscheckigen Netz der Rührseligkeit . . . Es mag sein, daß Nietzsche ein Genie war, aber er konnte keine Wunder vollbringen, er konnte kein neues, heißes Blut in die abgenutzten Adern gießen, und er konnte nicht mit dem Feuer seiner Seele die kleinen Krämer in Geistesaristokraten umbrennen." 3 5 Diese Aufgabe gelang jedoch dem Faschismus in vieler Hinsicht, allerdings hat er das deutsche Bürgertum nicht mit dem „Feuer der Seele" „umgebrannt", sondern mit dem Rauch der Demagogie und der Massenpsychose, unter anderen historischen Umständen und in einer anderen Richtung: Er verführte es nicht mit der Perspektive auf Aristokratismus des Geistes, sondern mit der Versprechung, es als „neue Herren der Erde" über die anderen Völker zu erheben, was, nebenbei bemerkt, dem Geist des Nietzscheanismus nicht widerspricht. Viel wird über Nietzsches Atheismus geredet und geschrieben. Es ist nicht zu bestreiten, daß Nietzsche ein Atheist in dem Sinne ist, daß er an keinen Gott glaubt und ihn nicht in die Ideologie, in die Politik und die moralische Praxis der herrschenden sozialen Schicht verwickelt. Sein Atheismus hat jedoch nicht die geringste naturwissenschaftliche Begründung, er ist lediglich eine der möglichen Interpretationen der Welt, eine „zweckmäßige Fälschung", hinter der sich, milde ausgedrückt, der antidemokratische Inhalt dieser Interpretation verbirgt. [1]* Die frühere Philosophie und Ethik deutete die Welt als Schöpfung Gottes, als göttliche Vorsehung, als göttliche, vernünftige Einrichtung (Nietzsche setzt ein Gleichheitszeichen zwischen die Begriffe „Gott" und „Vernunft"). Diese Deutung hat sich als falsch erwiesen, und die Menschen brachten Gott um. Dennoch lehnt er weder den christlichen Gott noch die christliche Moral ab: Seine „Umwertung" hat die Aufgabe, deren Platz und Rolle in der Struktur von Herrschaft und Unterordnung, in der „natürlichen" Lebensordnung zu bestimmen. Er stellt diese Aufgabe nicht zur Schau, aber er verbirgt sie auch nicht: „Wir sind Atheisten und Immoralisten, aber wir unterstützen zunächst die Religion und Moralen des Herden-Instinktes: mit ihnen nämlich wird eine Art Mensch vorbereitet, die einmal in unsere Hände fallen muss, die nach unserer Hand begehren muss" 3 6 . Er konstatiert, daß Gott tot ist, weil 35

GOR'KIJ, M., Zametki o mescanstve. Sobranie socinenij, Bd. 23, Moskva 1953, S. 344. (Dieser Artikel ist in der deutschsprachigen Gorki-Gesamtausgabe nur teilweise übersetzt, die zitierte Stelle ist dort nicht mit abgedruckt. G. R.) 3« NIETZSCHE, F., Der Wille zur Macht, a. a. O., S. 236. * Die in eckige Klammern [ ] gesetzten Zahlen beziehen sich auf die vom Autor und von den Herausgebern zusätzlich gegebenen Anmerkungen. Vgl. Seite 430ff.

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die Handlungsweise des von ihm erdachten Menschen (infolge seiner unter dem zerstörerischen Einfluß der christlichen Moral entstandenen physiologischen Degeneration) nicht mehr harmonisiert mit dem idealen, göttlichen Wesen dieser „höchsten Schöpfung", wie es die bisherige Philosophie dargestellt hat, und die „neuen Herren der Erde", von denen er träumt, benötigen keine göttliche Sanktionierung: sie werden „frei" leben, gelenkt vom eigenen Egoismus. Der Atheismus Nietzsches gründet sich demnach hauptsächlich, wenn nicht sogar ausschließlich, auf die Ethik, auf die Physiologie und Psychologie der Moral, die bei ihm sowohl die Erkenntnistheorie als auch die Philosophiegeschichte und die Sozialphilosophie ersetzt. Er benutzt die Kritik des Christentums als Mittel zur Befreiung der sich herausbildenden Aristokratie von den allgemeinverbindlichen Moralnormen und zur Erziehung der neuen Herrschergeneration in einer neuen Religion, in seiner eigenen Lehre. Nietzsche hält sich für den einzigen „Jünger des Philosophen Dionysos". Mit diesem Anspruch will er sagen, daß seine Philosophie nicht vom Leben zu trennen ist und mit ihren Wurzeln in den spontanen Ursprung des Lebens reicht, daß er an den realen, lebendigen Leib glaubt, daß dieser Grundsatz der Leitfaden seines „labyrinthischen" Denkens ist. Der Leib, sagt er, „ist das viel reichere Phänomen, welches deutlichere Beobachtung zuläßt. Der Glaube an den Leib ist besser festgestellt als der Glaube an den Geist." 3 7 Es wäre ein Fehler, in dieser Deklaration nur eine Falle, einen „Angelhaken" für Einfältige zu sehen: Nietzsche war offensichtlich überzeugt davon, daß es ihm gelungen ist, eine neue, realistische Lebensanschauung zu „entdecken", deren Urzelle der sich aus biologischen Bedürfnissen und nach den Gesetzen des Lebens selbst entwickelnde Leib ist, und damit Materialismus und Idealismus überwunden zu haben. Das Wesentliche ist jedoch nicht, was der „Entdecker" über sein System denkt, sondern die inhaltliche Seite der Methode, die letzten Endes die Struktur der Philosophie determiniert. Der Biologismus, auf dem die Schlüssigkeit der neuen Lebensauffassung beruht, ist die Grundlage seiner gesamten philosophischen Theorie, angefangen bei der Ethik und bis hin zur „großen Politik". Die von biologischen Gesetzmäßigkeiten (selbst wenn sie tief und richtig verstanden werden, woran es gerade bei Nietzsche fehlt) ausgehende Restauration der Wirklichkeit in all ihrer Formenvielfalt kann noch nicht davon überzeugen, daß wir es hier mit so etwas wie "

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NIETZSCHE, F . , D e r W i l l e z u r M a c h t , W e r k e , B d . X V I , S. 44.

philosophischem Materialismus oder „Übermaterialismus" zu tun haben. Um so mehr, als sofort sichtbar wird, daß der Leib in diesem Falle ein autonom funktionierender Komplex ist; er braucht weder Geist noch Intellekt; Nietzsche nimmt von Anfang an einen antirationalistischen Ballast auf sich; er tritt als Gegner des rationalen intellektuellen Handelns und der „Wahrheit der Vernunft und des Daseins" auf. Der Leib ist das vollkommenste Phänomen des Willens zur Macht, in ihm zeigt er sich am ausgeprägtesten. Der Leib lebt, empfindet, erlebt, „denkt" entsprechend dem Instinkt des Willens zur Macht; er ist die Verkörperung des Lebens. Die Seele ist ein Teil des Leibes, der Geist ist sein Antipode. Das Leben erkennt sich nur als „unschuldig", solange der Geist nicht darüber richtet. Der Leib, das Leben sind Subjekt und Objekt zugleich. Es gibt nur den Leib, spricht Zarathustra, und nichts weiter: „Der Leib ist eine grosse Vernunft, eine Vielheit mit einem Sinne, ein Krieg und ein Frieden, eine Heerde und ein H i r t . . . er sagt nicht Ich, aber er thut Ich". Der Leib ist das Selbst: „es sucht auch mit den Augen der Sinne, es horcht auch mit den Augen des Geistes". In ihm ist mehr Vernunft als in der besten philosophischen Weisheit. „Das schaffende Selbst schuf sich Achten und Verachten, es schuf sich Lust und Weh. Der schaffende Leib schuf sich den Geist als eine Hand seines Willens." 38 Der Hymnus an den Leib ist ein Aufstand gegen die Vernunft. In diesem Hymnus liegt der ganze Sinn von Nietzsches Philosophie. Nietzsche verwirft das cartesianische „cogito, ergo sum" und setzt dafür seine neue Formel „vivo, ergo cogito". Auf diese Formel könnte man in Kürze den ganzen Inhalt der „Revolution" reduzieren, die der „große skeptische Verstand" in der Erkenntnistheorie durchgeführt hat. Aus diesem Hymnus folgt auch, daß die Erkenntnistheorie aus der Sphäre der „biologischen Bedürfnisse" umsiedelt in das Gebiet sozialer Beziehungen, denn der Leib als Verkörperung des Lebens ist „ein Krieg und ein Frieden", „eine Herde und ein Hirt", d. h. ein sozialer Organismus, in dem ein unaufhörlicher Kampf, die Feindschaft gegensätzlicher Kräfte, das Aufeinanderprallen von Klassen vor sich geht. Er ersetzt bewußt die Kategorie „Wahrheit" durch die Begriffe „Krieg" und „Frieden", „Herde" und „Hirt" usw., womit er die Erkenntnistheorie den weltanschaulichen Komponenten des Systems unterstellt. Für ihn gibt es, nach einem Ausdruck von K. Löwith, „nichts verbotenes

38 NIETZSCHE, F., Also sprach Zarathustra, Werke, Bd. VI, S. 4 6 - 4 8 .

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mehr" 39 . Er weist alles von der Schwelle, was den Aufgaben der „neuen" Philosophie nicht entspricht, er kehrt die ganze Geschichte des philosophischen Denkens um, wobei er aus ihren Schätzen sorgsam all das auswählt, was er braucht für den Kampf um den Triumph des Lebens, des „gesunden" Leibes oder, um es klarer auszudrücken, für den Kampf gegen den Sozialismus, der theoretisch auf dem Materialismus, dem Rationalismus und der Dialektik begründet ist. Sein Verhältnis zur Rationalität drückt Nietzsche mit nihilistischer Offenheit aus. Der Glaube an die Macht der Vernunft, sagt er, ist der größte Irrtum. Die Vernunft selbst kam auf unvernünftigem Wege, durch Zufall in die Welt. Alle Mängel der bisherigen Philosophie wurzeln in der „unsinnigen Überschätzung des Bewußtseins".40 „Das Bewußtsein, in zweiter Rolle, fast indifferent, überflüssig, bestimmt vielleicht zu verschwinden und einem vollkommenen Automatismus Platz zu machen."41 Das Bewußtsein bringt der Menschheit unabschätzbares Unglück, denn „die Erkenntnis tödtet das Handeln, zum Handeln gehört das Umschleiertsein durch die Illusion"42. Nietzsche spricht der Vernunft das Recht auf souveräne Existenz ab und stellt den Leib, das Leben, den Instinkt und die Intuition über sie. Das ist selbstverständlich mehr als eine Kritik an der bürgerlichen Rationalität oder eine bloße polemische Übertreibung, das ist ein anklagendes Verdikt für den menschlichen Intellekt und seine Fähigkeit, die Welt zu verstehen, zu erkennen und auf vernünftiger Grundlage umzugestalten. Wir haben nicht die Absicht, Nietzsches Reaktion auf die Rationalität und den Rationalismus lediglich auf weltanschauliche Motivierungen zu reduzieren, obwohl diese letzten Endes bestimmend für die ganze „Umwertung aller Werte" sind. Nietzsche sah in den rationalistischen Konzeptionen einige Schwächen und wunde Punkte, an denen er nicht vorübergehen konnte; böse und scharfsinnig verlachte er den vulgären erkenntnistheoretischen Optimismus, die Kluft zwischen Denken und Handeln usw., aber das ist nichtsdestoweniger nur ein Kampf an der Flanke und nicht die Hauptrichtung der Attacke. Die bürgerliche Philosophie hat, angefangen mit Schopenhauer und Kierkegaard, immer häufiger und immer lautstärker den Rationalismus einer öffentlichen Exekution überantwortet, und zwar, erstens, in dem 39

LÖWITH, K., Von Hegel zu Nietzsche, a. a. O., S. 196. NIETZSCHE, F., Der Wille zur Macht, Werke, Bd. XVI, S. 39. «> Ebenda, S. 35. 42 NIETZSCHE, F., Die Geburt der Tragödie, a. a. O., S. 56. 40

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Maße, wie der Kapitalismus sich immer tiefer in unlösbare Widersprüche verstrickte, seine Unvernunft und seine Nichtübereinstimmung mit den Idealen der Vernunft bewies und sich dem bürgerlichen Theoretiker als Spiel spontaner und unbegreiflicher irrationaler Kräfte darstellte. Zweitens hat der bürgerliche Rationalismus der Erprobung in der Erfahrung nicht standgehalten: Das gewohnte Weltbild wurde zerstört, es wurden immer neue Bereiche der anorganischen und der organischen Natur, des menschlichen Lebens und der menschlichen Psyche usw. entdeckt, es wurden bisher ungeahnte geheime Tiefen des Unterbewußtseins entdeckt, in die der Intellekt noch nicht eingedrungen ist - - mit einem Wort, vor der Erkenntnis traten Probleme auf, die durch bloße Berufung auf die allmächtige ratio nicht zu lösen sind. Das Versenken der bürgerlichen Philosophie in die unterbewußten, spontanen, unbegreiflichen, dämonischen Sphären des Daseins ist ein Hauptmerkmal ihrer Dekadenz. Diese vollständige Umkehr zum Irrationalismus fällt in das letzte Drittel des vorigen Jahrhunderts, d. h. gerade in die Zeit, als die ersten ernsten Krisensymptome sowohl in der Entwicklung des Kapitalismus als auch in der Entwicklung der wissenschaftlichen Erkenntnis auftauchten. Der Nietzscheanismus ist das Banner dieser Umkehr. Nietzsche handelt wie die biblische Schlange: er verführt durch Kritik. Er verweist einerseits darauf, daß der Rationalismus zur „reinen" Rationalität, zur Merkantilität entartet ist, daß die Methode des utilitaristischen Rationalismus den Fortschritt der Wissenschaft in Fesseln legt, die Wissenschaft besiegt. Andererseits bemerkt er, daß der vom empirischen Dasein abgetrennte Rationalismus kaum zur Selbstkritik fähig ist: wenn die Vernunft immer Recht hat, ist sie folglich untauglich für die Selbstüberprüfung der von ihr entdeckten Wahrheiten, und die kaum entstandene Wahrheit erstarrt zu einem gewöhnlichen D o g m a ; die Vernunft, der Geist überhaupt können kein Kriterium für die Wahrheit sein, da sie selbst abgeleitet, sekundäre Bildungen sind, während die rationalistischen Lehren sie in der Person des Subjekts, des denkenden Ichs als ursprüngliche Substanz, als „Ursache allen Handelns" voraussetzen. A l l das ist richtig. Aber Nietzsche umgeht eine inhaltliche Kritik der Prinzipien des klassischen Rationalismus und reduziert sie schrittweise auf solche rein negative Charakterisierungen der formallogischen Schlüsse, daß daraus folgt, daß die Funktionen des Denkens nicht mehr sein können als „Einordnen des neuen Materials in die alten Schemata" 4 3 , «

NIETZSCHE, F., Der Wille zur Macht, Werke, Bd. X V I , S . 20.

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in den Zwang sprachlicher Formen, daß die Vernunft nur die Vollmacht besitzt, dem Denken „logische Ausdrucksmittel" zu geben, aber nicht die, Wahrheiten zu erkennen, daß Erkennen soviel heißt wie mit dem Vorangehenden zu verbinden und daß das „Denken, wie es die Erkenntnistheoretiker ansetzen", überhaupt nicht vorkommt: „das ist eine ganz willkürliche Fiction, erreicht durch Heraushebung eines Elementes aus dem Process und Subtraction aller übrigen, eine künstliche Zurechtmachung zum Zwecke der Verständigung" 44 . Zusammen mit dem Denken wird dann auch die Wissenschaft als eine bequeme Zuflucht der Durchschnittsmenschen, denen das Handeln zuwider ist, verworfen. Zum wichtigsten Gegenbegriff der Vernunft macht Nietzsche das Leben, den realen Leib, die er dabei allerdings ihrer materiellen Zusammenhänge entblößt. Was ist Leben? Leben ist Wille zur Macht. Es beginnt ein poetisches Spiel mit Bildern, Metaphern, Vergleichen, und das Leben verwandelt sich bald in eine launige Geliebte, bald in ein Medusenhaupt, bald in die Energie des Atoms, bald in die Seele des Kosmos usw. Es ist vielseitig und unfaßbar. Es lebt, es erhebt sich und enthüllt sich nur sich selbst. Man könnte auch die Hinwendung zur Intuition, zum „intuitiven Eindringen" in die Tiefen des Lebens verstehen, wenn es sich dabei um eine Überwindung der Einseitigkeit des Rationalismus, um eine Erweiterung der Grenzen der Erkenntnis, um die Entsprechung von Sinnlichem und Rationalem, um die formalisierbaren und nichtformalisierbaren Momente in der Erkenntnis, um eine Klärung der Zuverlässigkeit unseres Wissens oder um die Ausarbeitung einer Psychologie des wissenschaftlichen Denkens usw. handeln würde, und nicht um eine fundamentale Entgegensetzung von Intuition und Vernunft, um die Behauptung der ausschließlichen Überlegenheit der Intuition über alle anderen Formen der Erfassung der realen Wirklichkeit. Nietzsche führt seine Genealogie direkt auf Heraklit zurück, von dem er insbesondere die Lehre vom Werden übernimmt. Er deutet den großen Weisen von Ephesos willkürlich aus, löst seine Dialektik in den Schopenhauerschen Irrationalismus auf und benutzt das Heraklitische Werden, um jede Objektivität zu zerstören, das Dasein zu einer reinen Funktion herabzusetzen und das Werden selbst zu mythologisieren. Das Dasein, die Wirklichkeit stellen eine Illusion, eine Erfindung der Philosophen dar. Wir wissen nichts von ihrer Existenz und können nichts wissen. Ebenda, S. 7.

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„Die Welt der ,Phänomene' ist die zurechtgemachte Welt, die wir als real empfinden . . . Der Gegensatz dieser Phänomenalwelt ist nicht die wahre Welt, sondern die formlos-umformulierbare Welt des Sensationen-Chaos." 45 Die „Dingheit" wird nur nach dem Modus des Subjekts geschaffen und dann in das Durcheinander der Sinneseindrücke hineingelegt. Das Subjekt selbst ist aber letzten Endes nur ein Schöpfungsprodukt, eine Fiktion. Das heißt, wenn der Glaube an das handelnde Subjekt wegfallt, dann ist auch der Glaube an die wirkenden Dinge, an die Atome, die Wechselwirkung, an Ursachen, Folgen, Notwendigkeit und andere Gesetzmäßigkeiten, in denen gewöhnlich der Zusammenhang zwischen den als Dingen bezeichneten Phänomenen ausgedrückt wird, beseitigt. Es fällt das „Ding an sich" weg, da es seinem Wesen nach eine Konzeption des nicht existierenden, erdachten Subjekts an sich ist. Der Gegensatz von „Ding an sich" und Erscheinung hat keinerlei Begründung, der Begriff „Erscheinung" fällt weg. „Geben wir den Begriff ,Subjekt' und ,Objekt' auf, dann auch den Begriff ,Substanz' — und folglich auch dessen verschiedene Modifikationen, z. B. ,Materie', ,Geist' und andere hypothetische Wesen,,Ewigkeit und Unveränderlichkeit des Stoffs' usw. Wir sind die Stofflichkeit los." 46 Alle philosophischen Begriffe und Kategorien werden zu „psychologischen Absurditäten" erklärt. Es versteht sich, daß uns hier nicht nur und nicht so sehr die Kritik des erkenntnistheoretischen Formalismus als vielmehr die weitere Orientierung interessieren kann: die „Enthüllung" des gnoseologischen „Geschwätzes" dient als Vorwand, um die „alten Begriffe der Wahrheit" zu diskreditieren, um die Grenze zwischen Wahrheit und Irrtum zu verwischen, die objektive Wahrheit zu leugnen und an die Stelle der Erkenntnistheorie einen psychologisch begründeten Subjektivismus und eine voluntaristische Mystik zu setzen. Nietzsche sieht die Philosophie als „Gartenkunst" an, deren Hauptreiz „die Täuschung der Augen" ist, und die Philosophen als Unterhalter, die die Welt „mit allerlei wunderbaren und möglichen Beleuchtungen vorführen". 4 7 Er schafft den Prototyp einer „aristokratischen Metaphysik", die die Erkenntnis nur als „schöpferische Annahme", als „Wille zum Schaffen" anerkennt. Erkennen heißt hoffen. „Auch im Erkennen", lockt Zarathustra, „fühle ich nur meines Willens Zeuge- und Werde-Lust; und wenn Unschuld Ebd., S. 31. • Ebd., S. 259. Ebd., S. 133.

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Fülle und Freiheit steht noch bevor . . ., wenn der Mutterboden des Volkes als der Träger einer neuen Rasse erscheint." Der bevorstehende Wettkampf „gilt der Entdeckung einer neuen und unbekannten Welt — einer Entdeckung, vernichtender und an Folgen reicher als die Entdeckung Amerikas. Nicht anders als mit Ergriffenheit kann man den Menschen betrachten, wie er inmitten chaotischer Zonen an der Stählung der Waffen und Herzen beschäftigt ist und wie er auf den Ausweg des Glücks zu verzichten weiß." 125 Jünger erwies sich als ein nicht besonders guter Prophet. Das, wovon er träumte, begann in weniger als einem Jahr. Die soziale Demagogie des Faschismus war an die breiten, mit dem Kapitalismus unzufriedenen Massen gerichtet. Es war deshalb kein Zufall, daß die faschistische Bewegung bei der Durchsetzung ihres Kurses auf die Machtergreifung auch an die Arbeiterklasse, die aktivste und entscheidende revolutionäre Kraft unserer Zeit, appellierte und versuchte, deren antikapitalistische Tendenz für die eigenen Ziele auszunutzen. Der Jüngersche Mythos vom Arbeiter ist demzufolge durchaus nicht etwas theoretisch Einmaliges. Versuche dieser Art hat es auch vor ihm gegeben. Aber er hat im Unterschied zu den vorangegangenen, philosophisch laienhaft ausgeführten Machwerken sein Werk in ein entsprechendes metaphysisches Gewand gehüllt, wie es sich für seinen, Jüngers, philosophischen Rang geziemte. Es war, kann man sagen, die Arbeit eines Meisters, mit einem gewählten Darlegungsstil und sorgfaltigen metaphysischen Verzierungen. Dennoch müssen wir unsere Aufmerksamkeit auch anderen Werken auf diesem Gebiet zuwenden, weil sie unser Thema betreffen und weil sie in gewissem Maße (das dürfte nach Jünger schon nicht mehr paradox erscheinen) zu der gleichen Quelle führen — zum Nietzscheanismus. Das eigentliche Paradox besteht in der Fehlrechnung Nietzsches, einer Fehlrechnung, die nach dem Sieg der proletarischen Revolution in Rußland nach den revolutionären Erhebungen des Proletariats und der proletarischen Solidaritätsbewegung für die Verteidigung des Sowjetlandes offenkundig wurde. Nietzsche konnte sich die potentielle revolutionäre Energie der Arbeiterklasse und deren Willen zur Befreiung von der Macht des Kapitals in seinem ganzen Ausmaß und seiner schöpferischen Macht nicht vorstellen. Es waren keine leichten Zeiten für die Bourgeoisie gekommen: sie sah sich gezwungen, an ihren eigenen Totengräber zu appellieren, nur um ihre eigene Herrschaft zu erhalten. Das wurde zu >25 Ebd., S. 322. Jüngers Buch „Der Arbeiter, Herrschaft und Gestalt" erschien 1932.

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dieser Zeit zur taktischen Linie, die der Reformismus zu realisieren hatte. Aber es gab und gibt auch den Nationalsozialismus, um die Menschen, die Arbeiter zu verführen. Die Theoretiker der „konservativen Revolution", aus der die faschistische Bewegung erwuchs, wirkten in eben dieser Richtung. Sie erklärten sich für die Erben der Novemberrevolution, die bekanntlich sowohl ihren Triebkräften als auch ihrem Inhalt nach eine proletarische Revolution war. Für ihren philosophischen Mentor hielten diese „Revolutionäre" Nietzsche. Der bekannteste von ihnen war offenbar Artur Moeller van den Bruck. Moeller van den Bruck ist der Verfasser des im faschistischen Deutschland sehr populären Buches „Das Dritte Reich". 1 2 6 Einige Überlegungen aus diesem „Werk" werden wir hier anführen müssen. Moeller erklärt die Revolution für die „ureigenste Angelegenheit einer Nation.. 127 . Die Revolution macht eine Nation zu dem, was sie sein soll, sie bestimmt die Richtungsbahn und das Geschick der Nation. Alle zivilisierten Völker machen früher oder später eine politische Revolution durch, aber die Deutschen haben in ihrer Geschichte noch keine politische Revolution gehabt. Die Novemberrevolution, mit der sich die Hoffnung auf eine nationale Auferstehung verband, hatte nicht zum Erfolg geführt, und deswegen muß sie weitergehen, bis das politische Dasein der Deutschen eine nationale Gestalt hat. 128 Dem Wesen der Sache nach beginnt diese Revolution erst. Man kann eine Revolution bekämpfen, solange es noch Zeit ist, aber sobald sie einmal Tatsache ist, muß man von ihr als einer neuen Gegebenheit ausgehen. 129 Aber sie muß in den politischen Voraussetzungen sichergestellt sein, sie muß eine politisierte Nation hinter sich haben. 130 [7] Dazu werden selbstverständlich alle kritischen Gefühle heftig angegriffen, nicht nur das liberal-humanistische Pathos der Weimarer Republik, sondern das der ganzen vorangegangenen Epoche wird kritisch zurechtgewiesen. All das wild verworfen als Ideengerümpel, welches keinen Platz im geistigen Inhalt unserer Zeit hat. Und — so merkwürdig das sein mag — diese Attacke auf die früheren Werte wird unternommen im Zeichen der Verteidigung des . . . Proletariats. Es beginnt eine psychologische Er-

12
MOELLER VAN DEN B R U C K ,

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S. S. S. S.

1. 2. 27. 21.

A., Das Dritte Reich, Hamburg 1932.

pressung: Kritik der einen Seite und Kokettieren mit der anderen Seite — dies sind die wirksamsten Methoden der Demagogie. Moeller weiß, daß in unserer Epoche keine Revolution (auch keine „konservative") ohne Teilnahme der Arbeiterklasse möglich ist; ohne sie gibt es weder eine moderne Nation noch jene erhoffte „nationale Einheit", auf die sich die Spekulationen des Nationalsozialismus gründen. Und Moeller fällt drohend über jene Politiker her, die versuchten, einen Keil zwischen Nation und das Proletariat zu treiben; er brandmarkt sie als Erzreaktionäre. Der Reaktionär, schreibt er, „weiß nicht, daß in dem Freiheitskampfe dem nicht minder (als die Weimarer Republik — G. R.) gehaßten Proletariate sogar vorbestimmt ist, dieses Mal voranzugehen, ihn zu seinem Teile als einen sozialen Kampf zu führen und dadurch, daß es ihn gleichzeitig national führt, die Irrtümer des neunten November zu sühnen. Er weiß vor allem nicht, daß dieser Freiheitskrieg, den das Proletariat als der unterdrückteste Teil einer unterdrückten Nation führt, ein Kampf der Weltanschauungen ist, ein Bürgerkrieg', den wir nicht gegen uns selbst, sondern gegen die Weltbourgeoisie führen, der wir geopfert werden sollen, und daß wir, wenn wir diesen Endkampf gewinnen, uns aus ihm das Reich wieder gewinnen werden: ein Reich, das nicht dasjenige des reaktionären Menschen ist — aber dafür Unser Aller Reich." 1 3 ' Dieses Reich ist das Endziel der „konservativen" Revolution, die — wie Moeller selbst erklärt — „den Gedanken an die Nation über jeden andern Gedanken, auch den monarchischen" stellt. 132 Eine solche Wende im „revolutionären" Denken spricht für sich selbst. Sie bedeutet die Umkehr zu jenem Stil des politischen Philosophierens, von dem bereits Nietzsche inspiriert war: die Verteidigung eines reaktionären Ideals durch eine Kritik der kapitalistischen Wirklichkeit von rechts. Und auch die Ideale selbst sind ähnlich und verwandt: die Errichtung eines autoritativen Staates. Zwar hat Nietzsche nicht vom „Dritten Reich" geträumt, aber dieses „Dritte Reich" ist nichts anderes als ein erneutes römisches Reich, diesmal als Weltreich der deutschen „Herrenrasse". „Der Gedanke des ewigen Friedens ist freilich der Gedanke des dritten Reiches." 133 Unter diesem Gesichtspunkt denkt er „an das Deutschland aller Zeiten, an das Deutschland einer ewigen Gegen-

i " Ebd., S. 185. i w Ebd., S. 175. 133 Ebd., S. 241. 13 Oduev

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wart" 1 3 4 . Das konservative Denken versteht die Welt wie Nietzsche als ewige Wiederkunft des Gleichen: „Das Unveränderliche ist die Voraussetzung aller Veränderungen, und ewig fällt, was sich auch verändern möge, nach Ablauf seiner Zeit wieder in das Unveränderliche zurück" 1 3 5 . „Über allen zeitlichen Veränderungen ist eine überzeitliche Unveränderlichkeit, die jene einschließt, wie der Raum die Zeit einschließt." 136 Und daher ist auch die Idee der konservativen Revolution nur aus dem Räume zu verstehen: „Der Raum ist übergeordnet. Die Zeit setzt den Raum voraus . . . Der Raum ist selbstherrlich. Er ist göttlich. Die Zeit dagegen ist abhängig. Sie ist irdisch, sie ist menschlich, sie ist nur allzumenschlich." Und so ist konservatives Denken Denken im Räume, genauer, „Denken im politischen Räume" 1 3 7 , und die konservative Partei „ist die Partei der Kontinuität deutscher Geschichte" 138 , ihre Aufgabe ist es, diese Kontinuität zu wahren, und sie „will das dritte Reich" 139 . Konservatives „Revolutionärtum" 1 4 0 „lebt im Bewußtsein der Ewigkeit, die alle Zeitlichkeit umschließt". Im Gegensatz zum Reaktionär weiß der konservative Mensch, daß die geschichtliche Welt, in der wir leben, eine gesetzmäßige Welt ist, die sich immer wieder herstellt. 141 Die „konservative Revolution" schritt voran und bereitete unter der Losung der „Umwertung aller Werte" den Boden für den Nationalsozialismus vor. Aber auch hierin war mehr Demagogie als Sinn. Es war eine Spekulation auf die Mode, ein Aufruf an die Jugend. Die Forderung der Umwertung geht nicht über das von Nietzsche entworfene Schema hinaus: Angriffe auf die „Tyrannei" der Vernunft, auf die humanistischen and aufklärerischen Traditionen der progressiven Philosophie, auf den bürgerlichen Liberalismus, auf den Parlamentarismus, auf die Demokratie und schließlich auf den Sozialismus in seiner wissenschaftlichen, marxistischen Auffassung. Wissenschaftliches Denken, Humanismus und Liberalismus werden völlig negiert: sie zerstören die Kultur und die gesunden Instinkte des Lebens. Demokratie und Sozialismus werden nur in ihrer „deutschen", preußi134

Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., '38 Ebd., '39 Ebd., "> » 9

Ebd., S. 190. EMGE, C. A., Über des bleibende Erbe Nietzsches, Wiesbaden 1955, S. 229. GERBER, H. E., Nietzsche und Goethe, a. a. O., S. 1 3 8 - 1 3 9 . ROSTEUTSCHER, I., Die Wiederkunft des Dionysos, Bern 1947, S. 26—28, 153.

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Eine solche Apologie ist keine Ausnahme. Geistesprodukte dieser Art sind im Stile der fundamentalen Arbeiten von Jaspers, Löwith, Kaufmann und anderer gehalten, für die Nietzsche fest in der Tradition des abendländischen Denkens und in einer Reihe mit den großen Philosophen Europas steht; in den Arbeiten der letzteren ist lediglich das Tendenziöse besser verborgen und die Zielstellung nicht so offen zur Schau gestellt. Zu dem gleichen Ergebnis kann man jedoch auch auf anderem Wege kommen, indem man das schwer zu durchdringende Hindernis aus Traditionen und Abhängigkeiten umgeht — man muß es nur verstehen, die philosophischen Ansichten, ihre Quellen und Entstehungsbedingungen aus der Persönlichkeit des Denkers selbst herzuleiten, aus seinem Charakter und seiner psychischen Veranlagung, aus den Besonderheiten seines persönlichen Schicksals usw. Selbstverständlich prägen die Persönlichkeit eines Denkers, seine Begabung und seine Lebensbedingungen das Werk, den Stil und die Manier der Darstellung, die Wahl der Probleme und Argumente, deren Verarbeitung und die Art, sie vorzubringen: und je ausgeprägter die Persönlichkeit ist, desto origineller und eigentümlicher ist auch die Prägung, an der der Meister zu erkennen ist. In diesem Sinne ist Nietzsche ein gutes Beispiel: Dichter, Psychologe, Philosoph, ausgestattet mit dem scharfen Klassengefühl eines überzeugten Aristokraten und mit einer krankhaften Empfindsamkeit — es scheint, als habe das Schicksal selbst ihn dazu auserwählt, an seinem Beispiel die herrschenden Klassen Deutschlands vor der drohenden Gefahr zu retten, so unmittelbar und deutlich erlebte er an sich selbst die Widersprüche der damaligen deutschen Wirklichkeit, ständig besessen von dem Bestreben, davor zu fliehen, daß er Deutscher ist. Aber an seinem Beispiel ist ebenso deutlich zu sehen, daß die Geschichte auch nicht von Denkern dieses Typus zu überlisten ist. Seine Philosophie war bei weitem keine Überwindung, sondern nur die Widerspiegelung der damaligen Wirklichkeit und ihres Krisenzustandes. Man kann Nietzsche ebensowenig wie jeden anderen Philosophen nur „aus sich heraus" verstehen und bewerten. Versuche dieser Art werden jedoch fortgesetzt. Wir verweisen auf das voluminöse Buch H. A. Reyburns und H. E. Hinderks' „Friedrich Nietzsche. Ein Menschenleben und seine Philosophie". 10 Grundvoraussetzung ist für sie die These, daß jede philosophische Idee, ebenso wie auch ein System insgesamt, Ausdruck der Persönlichkeit des Philosophen ist. In diesem 10

REYBURN, H . A . , HINDERKS. H . E.. F r i e d r i c h N i e t z s c h e . K e m p e n 1946.

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Fall bedeutet dies: alle Werke Nietzsches sind auf der Grundlage persönlichen Erlebens gewachsen und Ausdruck eines Leitmotivs, das ihn sein ganzes Leben lang unablässig begleitete — das Thema der physischen Gesundheit und geistigen Macht des Menschen, die Konzeption der Überwindung der Schwäche durch die Stärke. Daraus erwuchs auch die Lehre vom Willen zur Macht, der er universellen Charakter zulegt und die für jede Erkenntnis und jedes Dasein gilt. In Wirklichkeit drückt der Wille zur Macht nichts anderes aus als die Begeisterung, mit der ein kranker und schwacher Mensch auf solche ihm fehlenden Eigenschaften reagierte, nichts anderes als den Wunschtraum eines Kranken, der zu ständiger Selbstkontrolle und strenger Ökonomie seiner physischen und psychischen Kräfte gezwungen war. Das Bestreben, die Frage nach dem Zusammenhang der Philosophie Nietzsches mit den Problemen seiner Zeit zu unterdrücken, veranlaßt Reyburn und Hinderks, wesentliche Seiten seines Schaffens zu übergehen, und zwar gerade die Gesichtspunkte, die den Zugang zu den politischen Ansichten des Philosophen eröffnen oder irgendwie seine Klassenposition betreffen: sein Verhältnis zu den Volksmassen, zur Demokratie, zum Sozialismus usw. Sie kommen selbstverständlich nicht umhin, zu konstatieren, daß Nietzsche gegen den „Plebs", die „Herde", gegen Demokratie und Sozialismus auftrat, daß er keine Sympathie für die „niederen Klassen" hegte, aber auch dafür geben sie eine rein psychologische Begründung: Nietzsche war ein Feind der Nivellierung, der Mittelmäßigkeit, der „heroisch-romantische Charakter" veranlaßte ihn, sein Ideal in mutigen, herausragenden, übermenschlichen Naturen zu suchen . . . Er selbst war ein „sentimentaler", „gütiger", „mitleidiger" Mensch, und alle Extreme seiner Philosophie sind die psychische Reaktion auf die Besonderheiten der eigenen Natur. Es ist eine Seltenheit, daß vom Fließband der Nietzsche-LiteraturProduktion Werke auf den Büchermarkt geworfen werden, in denen die Quellen des philosophischen Schaffens Nietzsches, seine philosophischen Grundideen einer skrupellosen medizinisch-physiologischen Analyse, vorwiegend unter dem Aspekt seiner Krankheit, unterzogen werden. Es wäre nicht nötig, solchen „Untersuchungen" ernsthafte Bedeutung beizumessen, wenn deren Autoren damit nicht Absichten verfolgten, auf die oben bereits hingewiesen wurde — den Nietzscheanismus aus dem allgemeinen Strom des Philosophierens herauszulösen, aus dem der Faschismus das „Lebenswasser" für die „theoretische" Begründung seiner ideologischen und politischen Erfordernisse schöpfte. In diese Reihe ge237

hört z. B. die Arbeit von W. Lange-Eichbaum „Nietzsche. Krankheit und Wirkung". In der philosophischen und der Fachliteratur wird der Wahnsinn Nietzsches gewöhnlich mit der Überanstrengung seiner Geisteskräfte, mit dem Erschrecken vor den eigenen Entdeckungen, mit seinen Zweifeln am „Tode G o t t e s " und dergleichen erklärt. Lange-Eichbaum tritt — nicht ohne G r u n d — gegen solche Erklärungen auf und zeigt, gestützt auf die Krankheitsgeschichte, d a ß sein Wahnsinn das Endstadium der progressiven Paralyse eines Syphilitikers war, was in der Regel aus Furcht, die Bedeutung des Philosophen zu schmälern, verschwiegen oder vertuscht wurde. Der A u t o r zählt sich selbst zu denjenigen NietzscheVerehrern, denen keine Illusionen, sondern die Wahrheit über ihr Idol nötig ist. Das Hauptaugenmerk wird in dieser Schrift dem „Willen zur M a c h t " , der Klärung der „biologischen" Entstehungsquellen dieses Buches gewidmet. Aus der Analyse folgt dann, d a ß primitive Instinkte und Affekte das Werk inspiriert und in G a n g gesetzt haben, als er von der schrecklichen Krankheit bereits paralysiert war, als der Übergang zur manifesten Paralyse sich bereits anzubahnen begann. Obwohl einige Elemente dieser Konzeption bereits in früheren Arbeiten festzustellen sind (es ist unmöglich, das nicht anzuerkennen), verfolgt Lange-Eichbaum konsequent den offensichtlich vorgefaßten Gedanken, d a ß die Metaphysik des Willens zur Macht durchaus nicht die Achse ist, um die sich das theoretische Denken ihres Schöpfers dreht, sondern das Resultat der paralytischen Remission, die von 1884 bis 1887 datiert. Gerade in dieser Periode schafft der Philosoph seine Hauptwerke (wenn man „Also sprach Zarathustra" nicht berücksichtigt), die ihm den Weg in die europäische Geistesgeschichte ebneten. So betrachtet, war die Krankheit für Nietzsche kein Unglück, sondern eine Wohltat, denn solange die Paralyse unter dem Bilde einer milden H y p o m a n i e verlief, hatte sie euphorisierende Wirkung. „Bei Nietzsche hat also das Schicksal ausgerechnet die günstigsten Bedingungen ausgewählt, u m ihn trotz der Paralyse, gerade durch die Paralyse noch zu hohen Leistungen gelangen zu lassen. Zu dem Teig, aus dem Nietzsche geknetet war, gab die Paralyse die Hefe hinzu . . .". „Die Lues hat ihn von seinem 20. Lebensjahr an nie wieder verlassen. Sie war seine treue Begleiterin in den qual- und schmerzensreichen 15 Jahren von 1865 bis 1880 . . . D a n n führte sie ihn, verkleidet als seine Muse, acht reiche Jahre voll von Schaffensrausch die Leiter zum R u h m e hinauf, nach dem ihn so sehr gedürstet hatte, und krönte ihn mit dem goldenen Dornenreif des Genius. Aber mit tückischer Grausamkeit verwehrte 238

sie ihm den Genuß dieses Gipfelrausches und stieß ihn von der Höhe hinab in einen schauervollen Abgrund des geistigen Todes, den sein Leib noch 12 Jahre überlebte. Kaum ist ein Schicksal je grauenhafter gewesen", ruft Lange-Eichbaum aus. ,,In Wirklichkeit war es keine Parze und keine Muse, die neben ihm durchs ganze Leben schritt, sondern nur der Schatten einer armseligen, geistlosen Bordell-Hure, die ihn aus ihrem Füllhorn mit Schwärmen von Spirochäten überschüttete. Aus dieser Saat aber blühten gerade unsterbliche Werke empor, "ii Auch die anderen Ideen von Nietzsches Philosophie werden aus der Entwicklung der Krankheit hergeleitet, insbesondere die Idee vom Übermenschen. Die Idee selbst, bemerkt Lange-Eichbaum, enthält nichts Neues, „sondern entspricht ungefähr den gegenwärtigen Verhältnissen, wie sie auf Erden zu sein pflegen", d. h., sie ist die ideologische Widerspiegelung der bürgerlichen Verhältnisse von Herrschaft und Unterordnung, denen Nietzsche ganz einfach einen ideal-überhöhten, romantischen Charakter verlieh. Wenn man, schreibt Lange-Eichbaum, die Schilderung von der Schaffung des Übermenschen im Nachlaß Nietzsches liest, wird man „wohl ohne weiteres das völlig Verfehlte, ja ausgesprochen Geisteskranke . . . tief herausfühlen . . . Eine derartige Zweiteilung der Menschheit in zwei Schichten, die durch eine Schicht von Lüge, Verstellung, Verschlagenheit und Tarnung voneinander getrennt sind, und wie sie beinahe an die Parteiverhältnisse im letzten Jahrzehnt in Deutschland [11] erinnert, ist eigentlich völlig wirklichkeitsfremd und auf die Dauer, wie sich ja auch in Deutschland gezeigt hat, keinesfalls geeignet, sich am Leben zu erhalten. Derlei ist nur phantastische Gedankenspielerei eines paralytischen Hirns.' 4 2 Der Streit um Platz und Bedeutung des Willens zur Macht im Nietzscheanismus wird schon seit langem geführt. Zum erstenmal entbrannte er nach der Publikation des literarischen Nachlasses unter der allgemeinen Überschrift „Der Wille zur Macht, Versuch einer Umwertung aller Werte". Einer der Freunde Nietzsches, Franz Overbeck, stellte den Versuch, diese Veröffentlichung als das Hauptwerk seines Freundes auszugeben, aus dem Grunde in Zweifel, weil diese Ideen in dessen Schaffen durchaus nicht den zentralen Platz einnahmen und wejl die Methode, deren sich die Herausgeber bedient hatten — gelinde gesagt — 11 LANGE-EICHBAUM, W., Nietzsche. Krankheit und Wirkung, Hamburg 1948, S. 37 29 42-44,48.

12 Ebd., S. 61,63.

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einer ernsthaften wissenschaftlichen Kritik nicht standhalten würde. Es kam zu einem gerichtlichen Prozeß, aber die Partei Overbecks wurde durch Vorlage entsprechender Briefe des Philosophen an seine Verwandten desavouiert, und der „gute Name" der Herausgeber blieb, so schien es, gewahrt. Von Zeit zu Zeit mußte auf diesen Streit zurückgekommen werden. In den 50er Jahren entbrannte er mit neuer Kraft. Diesmal trat Karl Schlechta als sein Initiator auf, ein Mann, der viele Jahre seines Lebens mit der Erforschung des Nietzsche-Archivs verbracht hatte. Seine Enthüllungen, veröffentlicht als Einleitung zum dritten Band von Nietzsches Werken, waren eine echte Sensation und lesen sich so spannend wie ein Kriminalroman. 1959 veröffentlichte er ein Buch „Der Fall Nietzsche", in welchem er seine Polemik mit seinen Opponenten zusammenfaßt [12], Das Wesen der Schlechtaschen Enthüllungen besteht darin, daß er „dokumentarisch" beweist, daß der literarische Nachlaß des Philosophen in „Fälscherhände" gefallen ist. Erster und wichtigster Fälscher dieses Nachlasses war Elisabeth Förster-Nietzsche, die mit entschlossener Lüge, Torheit und skrupellosem Geltungsbedürfnis das Archiv ihres Bruders verwaltete. In dieser „Höhle der alten Löwin" waren auch „die übrigen großen Raubtiere der Zeit hochwillkommene Gäste". „Nun ist es freilich nicht schwer, Raubtiere zu erkennen und sich vor ihnen nach Kräften in acht zu nehmen; auch Wölfe im Schafskleid verraten sich schnell; am gefährlichsten ist bei uns der Esel, der sich mit List in eine künstliche Löwenhaut schmiegt: die Neigung zum höheren Schwindel ist beinahe eine nationale Krankheit." 1 3 Nietzsches Nachlaßschriften, meint Schlechta, tragen nichts zum Verständnis seiner Philosophie bei: „Nietzsche hat sich völlig eindeutig, völlig unmißverständlich in den von ihm selbst veröffentlichten oder von ihm für die Veröffentlichung eindeutig bestimmten Werken ausgesprochen. In bezug auf eine echte Verständnismöglichkeit bleibt nichts Wesentliches zu wünschen übrig", im Gegenteil — „der Nachlaß vergröbert . . . — nicht von ungefähr hat er die Nietzsche-Enthusiasten immer so sehr angezogen". 14 Die „verhängnisvolle Nietzsche-Legende" gründet sich aber gerade auf diesen Nachlaß, „genauer gesagt: auf die unverantwortliche Kompilation der Nachlaß-Masse . . . ,Der Wille zur Macht' ist kein Werk Nietzsches. Dieses .Hauptwerk' ist das Machwerk einsichtsloser Heraus" SCHLECHTA, K „ Der Fall Nietzsche, M ü n c h e n 1959, S. 10. >4 Ebd., S. 11, 14.

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geber." 15 „Daß der Nachlaß überhaupt so ,schluderhaft' schnell und darum so kritiklos ediert wurde, lag daran, daß man immer wieder Geld, sehr viel Geld brauchte — für das, was Nietzsches Schwester von Anfang an Repräsentation' nannte. Und jeder neue Nachlaßband brachte Geld ein . . . ,Der Wille zur Macht' im besonderen verdankt seinen Ursprung nicht nur einem Mißverständnis, sondern der kompletten Ahnungslosigkeit der Frau Förster in bezug auf das Werk, das Denken ihres Bruders. Sie vermißte ein systematisches Hauptwerk, sie brauchte ein solches, — und da sie keines fand, so erfand sie eines. Da sie aber der Durchführung dieser Erfindung unfähig war, so verschaffte sie sich die dazu notwendigen Hilfsdienste von Seiten des Erzjüngers und Urapostels Peter Gast. Dieser Mann hat all diesen Ambitionen, sehr oft wieder besseres Wissen, zur Realisation verholfen." 16 Allen Widerständen und Einsprüchen stellte Nietzsches Schwester etwa dreißig Briefe entgegen, in denen ihr von Nietzsche ein volles und — wie Schlechta meint — „unbegreifliches" Vertrauen ausgesprochen wurde. Diese Briefe sind gefälscht, und zwar so, daß wohl die Texte von ihm sind, aber die Briefe an andere Adressaten gerichtet waren, sie wurden nach Bedarf „zurechtgeschnitten", die Originale vernichtet und in den Entwürfen durch „Rasuren", „wohlverteilte Tintenkleckse" und „Kokeleien" die prekären Stellen eliminiert. 17 Schlechta, leistete eine mühsame Kleinarbeit bei der philosophischen und philosophiehistorischen Textanalyse, um zu zeigen, daß bei der Zusammenstellung des „Willens zur Macht" als von Nietzsche selbst geplantem Hauptwerk tatsächlich Unredlichkeit und direkte Fälschung gewaltet haben, und das ist ihm in bedeutendem Maße auch gelungen. Aber die detaillierte Erforschung des Handschriften-Archivs ist selbst für den Autor nicht das entscheidende Argument; sie hat eher den Charakter eines Indizienbeweises. Er geht von dem Vorsatz aus, um jeden Preis zu bestätigen, daß der „Wille zur Macht" in keiner Weise „als ein ,Werk' Nietzsches zu betrachten ist". „Schon der Gedanke an ein Hauptwerk — im systematischen Sinne — stellt ein Mißverständnis in bezug auf Nietzsches Denkweise, auf Nietzsches philosophischen Stil dar. Seit Menschliches, Allzumenschliches war und blieb Nietzsche immer Aphoristiker. Der Aphorismus ist die seinem Denken allein adäquate Form." 1 8 In Nietzsches Philoso'5 Ebd., Ebd., " Ebd., i» Ebd., 16 Oducv

S. S. S. S.

11. 73-74. 75. 72.

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phie, die Schlechta seit „Menschliches, Allzumenschliches" datiert, womit die „Unzeitgemäßen Betrachtungen", die er 1886 nicht wieder auflegen ließ, und die „Geburt der Tragödie", die er mit einem neuen Vorwort versah, ausgeschlossen werden, ist keinerlei „System" anzutreffen, obwohl sie natürlich ein Ganzes bildet, in dem „jeder Teil nur wie die Variation ein und desselben trostlosen Grundthemas anmutet". 1 9 Dieses Grundthema hat mit dem „Willen zur Macht" nichts zu tun, eher wäre es als „Wille zum Nichts" zu bezeichnen, d. h. als Lehre vom Nihilismus. Er war der erste, der den Nihilismus bestimmte und „den Nihilismus will". Für die „Zubereitung der nihilistischen Ausgangsbasis" bediente er sich zweier Methoden: der Methode der zeitgenössischen Naturwissenschaft und der Methode der zeitgenössischen Historie. „Die extreme Historie und die,extreme' Physik sind für ihn die Hebel, um die bisherige Welt aus den Angeln zu heben. Sie sind es für ihn, weil sie ihrer Anlage nach sinnfrei sein müssen und nur darum wertzerstörend sein können."20 Schlechtas Interpretation der Philosophie Nietzsches ist weder originell noch überzeugend ; in ihrem historischen Teil bleibt sie, ungeachtet der genauen Text- und Tatsachenkenntnis, zu sehr formal, die zusammenfassende Bewertung ist künstlich und tendenziös. Selbst wenn man zugesteht, daß der „Wille zur Macht" als verallgemeinertes Werk nur eine Kompilation von Entwürfen, Skizzen und Arbeitsvarianten ist, die nicht für den Druck bestimmt waren, so bleibt doch bestehen, daß Nietzsche, erstens, ein Werk unter dem Titel „Der Wille zur Macht" neben anderen Werken geplant hat. 21 Zweitens ist unbestreitbar, daß sich diese Idee auch in allen anderen Arbeiten deutlich ausspricht, die ganz frühen vielleicht ausgenommen, in denen es diese Formel noch nicht gibt, und daß sie die zentrale Idee der gesamten dritten Periode, die mit dem „Zarathustra" beginnt, darstellt; man braucht sie nicht zu erschließen, sie liegt klar zutage. Schlechta selbst bestreitet letzten Endes weder die Echtheit dieser Materialien (er bringt keine Tatsache an, die die Kompilatoren beschuldigt, gefälschte, nicht in den Handschriften enthaltene Aphorismen aufgenommen zu haben) noch die Schlußfolgerung, daß die unter diesem Titel herausgegebenen Materialien nichts prinzipiell Neues zu dem hinzufügen, was der Philo-

i» Ebd., S. 17. Ebd., S. 91,92. 2i Ebd., S. 109.

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soph in den Publikationen zu Lebzeiten gesagt hat 22 , er lehnt lediglich das Ansinnen der Herausgeber ab, die Ansichten Nietzsches in systematischer Form darzulegen. Schlechta hat, wie er und viele Kritiker meinen, eine „weitverbreitete, aber ebenso primitive Legende" zerstört, eine Legende, die „längst restlos hätte zerstört sein müssen, wenn das deutsche Bildungsbewußtsein nicht seit langem schon eine so ausgesprochene Neigung für geistige Legenden aufwiese". 23 Der heutigen Generation jedoch muß der „wahre" Nietzsche gezeigt werden: „Die ,neonormale' Jugend ist der problematischen Geister dieser Art müde", zudem ist Nietzsche in der öffentlichen Meinung durch den Faschismus kompromittiert. Aber in diesem Punkt läßt Schlechta keine Unklarheiten über seinen Standpunkt aufkommen : „Daß Nietzsche dafür mitverantwortlich gemacht wird, liegt wiederum primär daran, daß die ehrgeizbesessene Schwester im ersten, ihr opportun erscheinenden Augenblick die Flagge des Bruders über den Anfängen des tausendjährigen Reiches hochgezogen hat — ermutigt durch simplifizierende Ausgaben und Darstellungen. Hitler hatte keine Ahnung von Nietzsche: für ihn war er einer, der auch am Anfang verkannt worden ist." 24 Nietzsches Philosophie ist nach wie vor aktuell: „Wenn wir endlich begreifen und lernen wollten, dann könnte uns seine denkerische Leistung zur Warnung und Rettung werden" 2 5 . Dazu mußte selbstverständlich die alte Nietzsche-Legende zerstört werden. „Wo aber ein schemenhaftes Bild von Nietzsche im öffentlichen Bewußtsein noch existiert, ist es bestimmt von der terrible simplification der Schwester." 26 So einfach ist das. Man kann ohne Übertreibung sagen, daß die Mehrheit der Autoren, die in den ersten 10 bis 15 Jahren nach dem Krieg über Nietzsche schrieb, in gewisser Weise, speziell oder nebenbei, das in diesen Jahren aktuelle Thema „Nietzscheanismus und Faschismus" berührte, und nur einige wenige umgehen es, da sie es für eine eines „wahrhaft großen Philosophen", wie Nietzsche es war, unwürdige Beschäftigung halten, gegen „tendenziös-populäre (d. h. faschistische und profaschistische) Literatur" zu polemisieren, die ihn für einen „Verkünder des Willens zur Macht" ausgibt und aus den „tiefsten und höchsten Daseinsbereichen", denen er gänzlich angehört, herausführt auf „die Ebene der 22 Ebd., Ebd., 2" Ebd., 25 Ebd., 26 Ebd.,

16'

S. S. S. S. S.

13, 14, 89. 87. 76. 97. 76.

243

politischen Betrachtung". Aber selbst da, wo diese Frage nicht direkt gestellt wird, kann man dennoch eine indirekte Antwort auf sie finden. In solchen Fällen wird Nietzsche gewaltsam in die abendländischen Traditionen gezwängt, er wird „liberalisiert" oder „christianisiert", seine schreienden Extreme werden zurückgedrängt, damit sie in diese Traditionen passen; da jedoch, wo dieses „Zurückdrängen" nicht gelingt, geht man zu der erprobten Methode „einerseits — andererseits" über, wobei die „negativen" Seiten auf alle mögliche Art und Weise verdunkelt und die „positiven" Seiten hervorgehoben werden, es wird nicht die weltanschauliche, sondern die anthropologische, die „allgemein menschliche" Bedeutung seiner grundlegenden Postulate und Formeln betont. Ein solches Interpretationsverfahren ist für viele katholische Autoren charakteristisch. Die theoretischen Ansichten Nietzsches sind leicht zu modifizieren. Beispielsweise ist bekannt, daß seine negative Kritik der christlichen Moral Mittel und Bedingung für die Errichtung „neuer Wertetafeln" ist. Wenn man jedoch den Akzent vollständig auf die negative Seite setzt, ist es nachher nicht sehr schwer, zu beweisen, daß er einige in der bürgerlichen Gesellschaft herrschende moralische Werte nicht deswegen angreift, weil sie von den Prinzipien des Christentums ausgehen, sondern deswegen, weil sie von ihm abgehen: da er die wahrhaft humanistische Natur der christlichen Moral nicht verstand, dehnte er die in der Praxis vorhandenen Verzerrungen ihrer Prinzipien auf das gesamte Christentum aus; hinter der Anklage, die er gegen das Christentum erhebt, verbirgt sich in Wirklichkeit seine Erregung über den Moralverfall als Folge des verlorenen Glaubens an Gott, sie war ein Kassandra-Ruf, ein Aufschrei seiner kranken Seele. Ein derart umgestülpter Nietzscheanismus ist, wenn auch nicht ohne Einschränkungen, für den Neothomismus durchaus akzeptabel; das Pathos dieser Philosophie wird als identisch mit der „Sache und der Lehre Christi" erklärt. Die Reaktion protestantischer Kommentatoren bewegt sich im Grunde auf derselben Bahn. Sie scheuen sich in der Regel nicht davor, das Problem „Nietzscheanismus und Nationalismus" zu behandeln, sie umgehen diesen Zusammenhang nicht, aber sind bemüht, für ihn mildernde Umstände zu finden. Auch sie führen die Ursprünge dieser Philosophie zurück auf die „Krise der religiös-geistigen Situation", auf den „Ausbruch" antireligiöser Ideen (der gewöhnlich seit der Epoche der Aufklärung datiert wird), und das wiederum war ein Anzeichen für den Verfall der abendländischen Kultur, für die Entwertung deren „höchster" Werte. Einerseits hat sich Nietzsche, der nicht hinter den

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Erfordernissen seiner Zeit zurückbleiben wollte und genau sah, wie gefahrlich die Krise der abendländischen Kultur herannaht und sich der Nihilismus verbreitet, zu einem Anhänger des Atheismus und Nihilismus erklärt, weil er das Wesen des Christentums nicht verstand, andererseits ist in ihm niemals das Verlangen nach Gott verstummt und fühlte er ständig Schrecken vor ihm. Diese zweite Position wird als Aufruf zu „christlichem Fühlen" charakterisiert; die offen ausgedrückte Empfindung atheistischer Angst vor der göttlichen Vorsehung wird somit zur Tugend und der Philosoph und Antichrist steht vor den Menschen als Geißel Gottes, als drohende Mahnung einer möglichen Katastrophe. Die „echte" Größe des Denkers bildet unter diesem Gesichtspunkt selbstverständlich diese zweite Seite seiner philosophischen Ansichten; sie ist eine Parallele jenes Erlösungskampfes, den Luther führte. Eine Verbindung mit der Ideologie des Faschismus ist hingegen nur möglich über die erstere Seite, die eine entartete Abzweigung von dieser Richtung darstellt. So wird Nietzsches Philosophie bei Fritz Buri dargestellt, der eine „Geistesverwandtschaft" und „tiefste Gemeinsamkeit" zwischen Luther und Nietzsche behauptet. „Schon der Ausgangspunkt ihres Suchens liegt bei beiden in der in religiösen Dimensionen erlebten Frage nach dem Sinn des Daseins. Und so überrascht es nicht, wenn sich bei aller Verschiedenheit auch auf den von beiden zur Verwirklichung des Sinnes ihres Daseins eingeschlagenen Wegen typische Parallelen ergeben." Beide, Luther wie Nietzsche, geraten in die „Katastrophe einer abgründigen Verzweiflung am Sinn des Daseins", aber „beide überwinden die Krise und finden den Zugang zu wirklicher und wahrhaftiger Erlösung" 2 7 , Luther in seiner Kreuzestheologie, Nietzsche in der „ewigen Wiederkunft". Buri bemüht sich zu zeigen, daß es unbegründet ist, wegen Nietzsches Antichristentum und der Folgen, die es im Nationalsozialismus gezeigt hat, „gegen eine Inbeziehungsetzung seiner Lehre von der ewigen Wiederkunft mit Luthers Kreuzestheologie ganz allein skeptisch (zu) sein", ja daß „Nietzsche nicht soviel Unheil hätte anrichten können, wenn bei seiner Interpretation die Zusammengehörigkeit von Kreuz und Ring (der ewigen Wiederkunft — G. R.), wie wir sie hier vertreten, in Betracht gezogen worden wäre". 28 Und so „könnte das der unerwartete, große Dienst sein, den Nietzsche uns heute zu leisten vermag, daß er uns nämlich mit seiner antichristB U R I , F., Kreuz und Ring, Bern 1952, S. 9, 11. 2» Ebd., S. 15. -7

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liehen Lehre von der ewigen Wiederkunft zum existentiellen Ursprung der reformatorischen Rechtfertigungslehre in der Kreuzestheologie des jungen Luther und damit zu ihrer ex corde zu erfassenden Wahrheit zurückführt — ein Dienst, der von den Nachfahren eines Pastorengeschlechts und einem Manne, der selber eine Zeitlang Theologie studiert hatte, übrigens nicht nur zu überraschen braucht. In einem solchen Verständnis von Kreuz und Ring würde sich dann Zarathustras priesterliches Versprechen erfüllen, daß er den Stätten dieses Gottes wieder sein Herz zuwenden wolle. Und dies könnte zu einer schicksalhaften Wende in der Geschichte des abendländischen Geistes werden." 29 Wenn Buri protestantischen Kommentatoren vorwirft, den politischen Aspekt bei der Betrachtung des Problems zu übertreiben, hat er wahrscheinlich Untersuchungen solcher Art im Auge wie das Buch von Otto Flake „Nietzsche. Rückblick auf eine Philosophie", in dem apodiktisch behauptet wird, daß der Denker, dessen Schaffen hier untersucht wird, vor allem politischen Einfluß nehmen wollte. „Man wird sich gewöhnen müssen", schreibt Flake, „stärker als bisher in Nietzsche einen preußischen und protestantisch gebundenen Menschen zu sehen. Preußen schonend, suchte er andererseits kein Bündnis mit ihm . . . Warum behandelte Nietzsche das Preußische als Tabu? Nachdem er die Loslösung von der Gesellschaft begonnen hatte, übte er ja keine Rücksicht mehr, hielt das Benennen für Pflicht, hierin wenigstens ganz Geist, ganz Mann. Ein Instinkt sagte ihm, schon als er noch in den Anfängen der Kampfansagen stand, daß die preußische Haltung aus dem Spiel bleiben müsse, weil er sie brauchen könne, weil er selbst nie pazifistisch denken werde, weil ihn das dämonischste der Worte lockte: Krieg." 3 0 Flake hebt die Klassentendenz der Philosophie Nietzsches hervor: „Er ist ein Klassenphilosoph, der im Interesse einer Gruppe, einer Schicht, eines Standes, einer Rasse d e n k t . . . Im besten Fall war er das, was er nicht wahrhaben wollte, ein Idealist — ein Vertreter der gefährlichen Gattung, die das Heil in der Wahl einer bestimmten Idee erblickt . . . der Ideologe Nietzsche schwört auf den Rausch, auf die Macht, auf die blonde Bestie, auf die ursprüngliche Natur, ließ den Raubtierinstinkt im Menschen." 3 1 Es ist nicht nötig, den Autor zu einem offenen Eingeständnis zu zwingen, von welcher Schicht, von welcher

,0

Ebd., S. 121. FLAKE, O., Nietzsche. Rückblick auf eine Philosophie, Baden-Baden 1947, S. 69—70. Ebd., S. 184.

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Klasse hier die Rede ist, das wird aus seinen Überlegungen deutlich. Er erkennt, daß die „Umwertung aller Werte" nicht so sehr das Christentum erfaßt als vielmehr die Ideologie insgesamt, einschließlich des Christentums. Zum Kampf gegen das Christentum inspirierte den Philosophen die aristokratische Feindseligkeit gegen die demokratischen Bewegungen seiner Zeit, da er nach Ansicht Flakes nicht umhin konnte, den realen Zusammenhang zu sehen, der zwischen der heutigen Demokratie und den wesentlichen Forderungen wahrhaften Christentums besteht. „Die Hauptimpulse der Schriften der Schlußperiode klingen alle schon im Zarathustra deutlich auf: der Antidemokratismus; der Immoralismus; die Floskel, die mit jenseits von . . . beginnt; das elastische Raubtier mit dem tänzerischen Schritt und sogar dem Lachen im Gesicht; das Dekadenzmotiv; die Wiederkehr des Gleichen und die Scheinlösung durch die Umwertung der Werte. Die blonde Bestie fehlt im Zarathustra; die Peitsche, mit der sie zu den Frauen und Sklaven geht, ist schon da." 3 2 Flake ist sich dessen völlig bewußt, daß der Faschismus eine gesetzmäßige Folge der neueren deutschen Geschichte ist und daß man das, was in Deutschland geschehen ist, nur verstehen kann, wenn man von der Entstehung und Entwicklung des alldeutschen Gedankens ausgeht: „Der Nationalsozialismus ist seine Spätform, seine restlose, systematische Verwirklichung. Im außenpolitischen Programm der Hitlerbewegung steht nichts, was nicht schon in den früheren Schriften der Alldeutschen zu finden wäre." 3 3 Der Nietzscheanismus und der Alldeutsche Verband haben das gleiche Quellgebiet: die deutschen Zustände, die deutsche Geisteslage. Sie entwickelten sich unabhängig voneinander, in der nationalsozialistischen Bewegung kam es zu einer Synthese, an der auch Nietzsche Verantwortung trägt. Flake stellt die Frage: „Man kann sich wundern, daß Nietzsche nicht wenigstens auf den Gedanken kam, ihn (Zarathustra — S. O.) zum Erzieher, Mentor, Unterweiser eines jungen Fürsten zu machen. Angenommen, er hätte es getan, was wäre dabei herausgekommen? Jünglingsschulung im Geiste Machiavellis oder eine nationalsozialistische Ordensburg. Der Zwang, auf die Praxis einzugehen, hätte sofort den springenden Punkt ausgelöst: die Herde ist da, um die Beute der Raubtiere zu werden — der hochgemuten und reuelosen, der lachenden und tanzenden Herren." 3 4 „Die vornehme Haltung des gar nicht blutrünstigen Nietzsche spielt 32 Ebd., S. 110. » Ebd., S. 179-180. M Ebd., S. 91.

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keine Rolle; auf die Wirkung, die Anwendung kommt es an. Zarathustra liefert Tiefsinn und Faustrechtsphilosophie: in der Praxis Fällt der Tiefsinn immer fort." 3 5 Darauf folgt die anklagende Schlußfolgerung: „Es kann kein Zweifel darüber bestehen, daß Nietzsche für die Greuel der Hitlerzeit mitverantwortlich ist. Gewiß, nicht er hat die blonde Bestie in die schwarze Uniform der Sturmstaffeln gesteckt; aber die Lehrgänge in den Parteischulen beriefen sich auf ihn . . . Mussolini hat Nietzsche einen Kult gewidmet und Hitler die Lehre Nietzsches in die Tat umgesetzt: Nietzsche wurde der Philosoph des Faschismus, zum mindesten aber sein Kirchenvater." 36 „Sein Übermensch ist nur Surrogat, Götze, Schemen. Füllt man ihn mit Blut, steht der Tyrann auf der Bühne", man kann ihn sich eigentlich nicht anders denken als die Wiederkehr des Vormenschen. 37 Nietzsches Philosophie führt nicht vorwärts, sie „entspricht dem elften Jahrhundert, dem fünften, dem ersten oder ist noch weiter rückwärts zu Hause. Wohin sie im zwanzigsten führt, haben wir benommen erlebt." 38 Hierzu braucht es keinen Kommentar, es ist nur der Mut eines protestantischen Autors zu bewundern, der die Augen nicht vor den Tatsachen verschließt, so bitter sie auch sein mögen. Flake ist selbstverständlich kein Einzelgänger. So ist zum Beispiel auf die Arbeit Friedrich Glums „Philosophen im Spiegel und Zerrspiegel" zu verweisen, die speziell einer Betrachtung der Philosophie Fichtes, Hegels, Lockes, Rousseaus und anderer großer Denker unter dem Gesichtspunkt, wie der Nationalsozialismus ihr theoretisches Erbe ausgebeutet, ihre Aussagen verzerrt und verfälscht hat, gewidmet ist. Der Autor leitet seine Analyse mit der allgemeinen Feststellung ein, daß von den großen deutschen Philosophen „zweifellos Friedrich Nietzsche den stärksten Einfluß auf den Nationalsozialismus ausgeübt" 3 9 hat und legt dann eine Kette von überzeugenden Beweisen vor, die er allerdings oft mit den traditionellen Einschränkungen versieht. Es ist nur dann möglich, das Wesen des Nazismus zu verstehen, wenn man den Nietzscheanismus als Ganzes versteht und nicht nur einzelne seiner Postulate, die noch dazu subjektiv ausgelegt sind. Glum hebt den „männlichen Charakter der Nietzscheschen Philosophie", ihren „tap" Ebd., S. 108. *« Ebd., S. 131. " Ebd., S. 183. Ebd., S. 186. 39

GLUM, F., Philosophen im Spiegel und Zerrspiegel. Deutschlands Weg in den Nationalismus und Nationalsozialismus, Münchcn 1954, S. 134.

248

feren Pessimismus" und ihre Aggressivität hervor: Nietzsche sucht die treibenden Kräfte der Natur und des Lebens im Willen zur Macht, der zu allem Lebenden in eine solche Beziehung gesetzt wird, daß dieser seinen Träger von allen moralischen Vorschriften und Verpflichtungen entbindet. Mit dieser „verwegenen Männlichkeit", mit der Propaganda des Willens zur Macht und zur Eroberung, der Züchtung einer neuen „Herrenrasse", der neuen Zucht und Lebensordnung, mit Hoffnungen auf die große historische Mission Deutschlands brachte der Nationalsozialismus die deutsche Jugend auf seine Seite. Der Nationalsozialismus, schließt Glum, erzog die junge Generation im Sinne des Nietzscheschen Ideals unter „dem politischen Ziel von der Zusammenfassung aller Deutschen oder der germanischen Völker in einem Reich, von der Beherrschung der Slawen und der ,neuen Ordnung Europas', auf das sich dieses Imperium erstrecken sollte. Eine Neuordnung Europas hatte ja auch Nietzsche vorgeschwebt." 40 Eine aktive Bekräftigung des erwähnten Zusammenhanges ist auch an der äußersten rechten Flanke der politischen Nachkriegskräfte von seiten offen profaschistisch und revanchistisch orientierter Theoretiker zu beobachten. In deren Erzeugnissen wird Nietzsche als markantester Vertreter des radikalen abendländischen Denkens dargestellt, der den Weg zur Erneuerung der modernen, im „Sumpf der Zivilisation" versunkenen Menschheit gewiesen hat, und der Faschismus als ein praktischer Versuch, sie aus der Sackgasse, in der sie sich befand, herauszuführen. Eine anschauliche Illustration sind die „Untersuchungen" des bekannten nazistischen „Theoretikers" Herrmann Rauschning, der Hitler auf der ersten Etappe seiner Karriere begleitet hat. Für das Wesentliche an Nietzsches Philosophie hält er die Lehre vom Nihilismus — „das letzte, äußerste Endergebnis einer folgerichtigen geistigen Entfaltung der abendländischen Kultur in der Richtung, die sie seit der Renaissance genommen hat, jener großen Bewegung der Emanzipation des Menschen von den spirituellen und sozialen Autoritäten, die sein Leben bis zum Hochmittelalter regelten". Der Nihilismus, wie ihn Nietzsche verkündete, ist es, „der der geistigen Lage in unserer Zeit der großen Katastrophen ihr eigentümliches Gepräge gibt". Es gibt ihm gegenüber „nur eine angemessene Haltung, nämlich den Nihilismus als unser Schicksal zu bejahen . . . Der Nihilismus ist unentrinnbares Schicksal . . ." Man kann Nietzsches „Prophetie und Diagnose des Nihilismus" jedoch nicht von seinem „revolutionären "0 Ebd., S. 162.

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Kampf für die Beschleunigung der künftigen Katastrophe trennen". Der Nihilismus „stellt die Aufgabe seiner eigenen Überwindung. Er ist der Wendepunkt in der revolutionären Geschichte der Menschheit", und der Nietzscheanismus ist „philosophisch begründeter Revolutionarismus". 41 Die Ideen Nietzsches sind, bezeugt Rauschning, vom Nationalsozialismus adäquat und frei von aller Einseitigkeit übernommen worden: „Hitler ist der Vollender der Revolution des Nihilismus", die mit Rousseau einsetzte und von Nietzsche fortgeführt wurde. Hitler „ist der direkte und letzte Erbe Rousseaus in der Anschauung, daß die Zivilisation der Sündenfall der Menschheit ist, und im Ziel, den Menschen von der Bürde einer auf falschen Werten und Wahrheiten beruhenden Zivilisation zu befreien, ihn wieder zu einem gesund und sicher in seinen Trieben lebenden Naturwesen zu machen. Nur ist das von der sentimentalen, unechten spirituellen Einkleidung befreit . . . Man verschließt sich der Größe des Versuches und der Tragweite des Geschehens, wenn man den Nationalsozialismus lediglich als einen ins Gigantische und politisch gesteigerten Gangsterismus Chicagoer Provenienz auffaßt. Es ist vielmehr der ernsthaft, der mit unerhörter Folgerichtigkeit und Willensmacht unternommene Versuch, eine Zivilisation zu gründen, die dem Menschen seine natürlichen Werte bewahrt, eine Zivilisation, die vor der Dekadenz gefeit ist, an der bisher alle Kulturen der Geschichte zugrunde gingen." Hinter dem Faschismus stand die „Magie des Extrems", die Magie, „die die Revolution des Nihilismus weitertreibt bis in ein äußerstes Ende", schließt Rauschning. 42 Alle Versuche, die Philosophie Nietzsches von der Ideologie des Faschismus zu trennen, sind objektiv darauf gerichtet, die ehemalige Popularität des Nietzscheanismus wieder herzustellen, indem man ihn unter dem Aushängeschild eines „natürlichen Humanismus", einer Kulturphilosophie usw. erneuert. Dessen bedient sich ohne Zweifel auch der Neofaschismus, um Einfluß auf breite Schichten des Bildungsbürgertums und besonders auf die Jugend zu gewinnen.

41

«

RAUSCHNING, H., Masken und Metamorphosen des Nihilismus, Frankfurt/M./Wien 1954, S. 14, 17. Ebd., S. 1 7 4 - 1 7 5 .

250

Kapitel

10

„Große Politik" und politische Philosophie

Was wäre, wenn die „Entnazifizierung" des Nietzscheanismus tatsächlich gelungen wäre? Das Ergebnis dessen könnte man, ein PuschkinWort paraphrasierend, etwa so ausdrücken: „Schöpfertum und Untat sind unvereinbar ganz." Denn der Faschismus — das ist Politik, die Politik eines Häufchens von Verbrechern, die mit Betrug und Demagogie die Staatsmacht an sich gerissen hatten, die „wahre" Philosophie aber steht immer außerhalb der Politik, sie schwebt gleichsam über ihr, sie nimmt keinen Anteil an der kurzlebigen Hast des Daseins, sie ist außerzeitlich. Dies gilt um so mehr für die Philosophie des Einsiedlers von Sils-Maria, der es wie kein anderer vermochte, in seinem Schaffen sich selbst, seine eigenen Qualen und Widersprüche auszudrücken und zu enthüllen. Und wenn Nietzsche hin und wieder für die Herrschaft der Deutschen unter den europäischen Völkern eintrat, dann konnte bei ihm nur von ihrer intellektuellen und kulturellen, nicht aber politischen Herrschaft die Rede sein. Nietzsche-Zarathustra ist ein „Versucher", ein Wanderer, „der verschiedene Wege versucht und begeht, um zur Wahrheit zu kommen". Er ist ein „Experimentator", seine Philosophie ist „Experimentalphilosophie", die „kleine harte Körner der Wahrheit" sucht und findet; er ist ein Sämann, der diese Körner ausstreut, damit sie aufgehen und irgendwann einmal für die Ernte reifen. 43 Wie aber soll man sich in diesem Falle zur „großen Politik" verhalten, zu der Nietzsche als Gegensatz zu dem kleinlichen provinziellen Politisieren der damaligen deutschen Bourgeoisie und im Widerspruch zu den politischen Zielen des „Eisernen Kanzlers" aufrief, zu jener „großen Politik", 43

LÖWITH, K., Nietzsches P h i l o s o p h i e der ewigen W i e d e r k e h r des G l e i c h e n , S t u t t g a r t 1956, S. 1 5 - 1 6 .

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die Deutschland eine „große Zukunft", einen Ausbruch aus den nationalen Grenzen mit Aktionen von Weltmaßstab und welthistorischer Bedeutung verhieß; zu jener „großen Politik", die mit solcher Tragweite und solch unermeßlichen Ansprüchen für die „neuen Herren der Erde" entworfen worden war? Hier kommen dem Interpreten wieder einmal Nietzsches poetische Virtuosität und dynamische Irrationalität der Sprache, sein Subjektivismus und das Paradoxe seiner Werturteile, der theatralische Glanz und der aphoristische Charakter seines Stils, durch die sich die Grenzen zwischen der inhaltlichen Bedeutung der Worte und dem koketten Spiel der Metaphern verwischen, die Doppelsinnigkeit und Unschärfe der Begriffe, mit denen der DichterPhilosoph zelebriert, zu Hilfe. Man muß nur den Willen zur Interpretation haben. In der Tat, wenn man die „große Politik" lediglich als eine poetische Metapher oder als eine scharfsinnige Mystifikation betrachtet, dann kann man die Frage nach der politischen Motivation der Philosophie Nietzsches umgehen oder fallenlassen. Dann reduziert sich die Interpretation auf die Erläuterung einiger direkter Aussagen Nietzsches mit explizit politischem Charakter oder auf die Erklärung, sie trügen keinen systematischen, sondern untergeordneten Charakter. So verfahren denn auch viele Autoren, die sich das Ziel gestellt haben, die „Umwertung aller Werte" zu entpolitisieren. Wir wollen uns noch einmal H. Gerber zuwenden, der es als seine Aufgabe ansieht, das Verhältnis Nietzsches zur deutschen politischen Tradition zu klären, zu dem, was er mit dem Terminus „Deutschtum" in einem größeren historischen Querschnitt bestimmt, und der einige Mißverständnisse aufhellen möchte, die mit Nietzsches Bewertung als politischem Denker in Zusammenhang stehen. Gerber möchte Nietzsche von der Anschuldigung des Nationalismus freisprechen, ohne daß er dabei verschweigt, daß dieser in seiner Jugend den Inspirator dieser Politik, Bismarck, begeistert begrüßte. Ja, Nietzsche war beseelt vom Sieg der preußischen Waffen über Österreich im Krieg von 1866, er begeisterte sich an der Tätigkeit des „Eisernen Kanzlers". Doch entgegen diesen — wie es scheint, doch unbestreitbaren — Tatsachen, die sich in den Briefen des Philologiestudenten und freiwilligen Krankenpflegers an Freunde und Verwandte ausdrücken, behauptet Gerber, daß Nietzsche niemals deutsch-national gesinnt gewesen sei. Es war eine weitgehend emotional bedingte „deutschpatriotische Haltung", eigentlich nur „Liebe zu seiner engeren Heimat", und nichts mehr. „Wer wäre nicht stolz, in dieser Zeit ein Preusse zu 252

sein", soll der Student Nietzsche damals geäußert haben. 4 4 Der Nationalismus ist ein politisches Phänomen, und für einen Deutschen ist er der Dreh- und Angelpunkt des politischen Weltverständnisses. Der „antipolitische Deutsche" (wie sich Nietzsche selbst genannt hat) ist demnach also vor allem ein Mensch ohne nationalistische Vorurteile. Gerber gesteht selbstverständlich ein, daß sein „ M a n d a n t " seine Urteile in einem engen Zusammenhang mit der Politik ausdrückte, aber er soll sich prinzipiell den politischen Scharmützeln in seiner provinziellen Heimat ferngehalten haben. Nietzsche befaßt sich „in keiner seiner Schriften ungeteilt mit Grundfragen der Politik" 4 - 5 . Als Beweis hierfür nimmt Gerber das Problem des Staates. Es stimmt, Nietzsche untersucht dieses Problem hauptsächlich im Zusammenhang mit Fragen der Kultur. Aber hieraus wird sofort der Schluß gezogen, daß er nicht politisch an den Staat heranging, sondern sich auf platonische Weise einen „Idealstaat" erdachte, ein „Gefüge menschlicher Gestaltungskraft . . . mit dem einzigen Zweck, den Boden zu schaffen, auf welchem der Genius wachsen k a n n " , und daß er die „herrschende Staatstendenz" haßte, die das „Gleichmachen unter den Menschen" anstrebte (welche „herrschende", d. h. bürgerliche „Staatstendenz" derartige Ziele verfolgt, bleibt ein Geheimnis). Politik und Kultur sind Antagonisten, und deswegen ist Nietzsche gegen die „jede große Kultur hemmende und vernichtende Politik des neugegründeten deutschen Reiches", Kultur ist für ihn die „Einheit des Stils in den Lebensäußerungen eines Volkes", und nur unter diesem Aspekt kann man von „großer Politik" sprechen. 4 6 Nietzsche war, Gerbers Behauptungen zufolge, der erste, der sah, daß das deutsche Volk vom richtigen Kurs abgewichen ist. Für ihn sind die Deutschen nicht ein politisch, sondern ein moralisch orientiertes Volk, seine großen Aufgaben sind Philosophie und Kunst und nicht die Politik. Aber die deutsche Gegenwart, konnte diese Aufgaben nicht mehr erfüllen. Sie konnte das deswegen nicht, weil „sich die vielberufene deutsche Geistigkeit schon längst in eine offizielle, uniformierte und reglementierte Pseudo-Kultur verflüchtigt hatte". Die dem deutschen Wesen tief eingewurzelte, verhängnisvolle Spaltung zwischen geistigem und politischem Leben war schon immer da; man denke nur an die überwiegend abseitige Haltung der deutschen Klassik gegenüber der aktuellen deutschen Wirklichkeit, an den viel genannten Gegensatz zwischen GERBER, H. E., Nietzsche und Goethe, Bern 1953, S. 129. Ebd., S. 130. "6 Ebd., S. 1 3 0 - 1 3 1 , 132, 1 3 4 - 1 3 5 .

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„Weimar" und „Potsdam" und weiter zurück. 47 Seitdem Deutschland zu politisieren begonnen habe, sei ihm die geistige Führerschaft über Europa endgültig verloren gegangen, meint Nietzsche, und er entdeckte auch die Wurzeln dieser Erscheinung: die herrschende Schicht des deutschen Bürgertums dieser Epoche war infiziert mit Liberalismus und Nationalismus. „Der Philosoph des Willens zur Macht bekämpfte also denjenigen, der Deutschland zur politischen Macht geführt hatte (Bismarck — G. R.), weil er den Nationalismus als Machtmittel gebrauchte und weil jeder Nationalismus die geistigen Kräfte eines Volkes bindet, anstatt sie freizumachen." 48 Aber Nietzsche „revoltierte" nicht nur gegen den die Seele des Volkes zersetzenden Nationalismus. Gerber weiß zu berichten, daß Nietzsche „gegen eine Epoche revoltierte, welche auf .Bildung und Besitz' ruhte". „Im modernen Geschäfts- und Industrieleben sah er den Feind der Andacht und Kontemplation, wo dem Menschen Zeit und Muße für die Sorge um die eigene Seele, für das Selbstwerden verwehrt sei . . . Als politischer Ausdruck dieser Erwerbs- und Geschäftsgesinnung galt ihm die Demokratie. Er bekämpfte deshalb das ,Reich' Bismarcks nicht nur als eine nationale, sondern auch als eine, wenigstens dem Scheine nach, demokratische Institution. Demokraten und Krämer waren für ihn gelegentlich ein und dasselbe, nämlich ein Menschentyp des Durchschnitts, gerade recht als ,Kulturdünger' für die Hervorbringung des Übermenschen oder Tyrannen, aber ohne eigenes Lebensrecht." Nietzsche war ein Revolutionär des Geistes, der forderte, „alles Deutsche durch ein Überdeutsches zu überwinden", in dem sich das echte deutsche Wesen in ferner Zukunft verwirklicht. „Diese Selbstverwirklichung kann aber nur geleistet werden, wenn der Deutsche über sich hinauswächst, indem er zugleich Deutscher und Weltbürger wird." 4 9 Man kann diesen Versuch, die „große Politik" auf eine derart merkwürdige Weise — durch die Entpolitisierung der philosophischen Doktrin und ihre Reduzierung auf das Problem der Kultur — zu retten, schwerlich als gelungen bezeichnen. Eine Verteidigung des Nietzscheanismus gegenüber der Politik verwandelt sich durch die Logik einer solchen Verteidigung selbst in ein politisches Pasquill auf die Kultur, auf die Demokratie, auf Humanismus und menschliche Freiheit, um deretwillen Gerber in den Kampf zieht. Das Bestreben, Ebd., S. 133. 48 Ebd., S. 134, 136. 49 Ebd., S. 137-138, 140, 141.

254

die natürliche Verbindung von Politik und Philosophie zu zerreißen, ist in diesem Falle entweder ein Anzeichen für politische Naivität oder ein taktischer Schachzug. Das Interesse an Nietzsche entbrannte immer aus weltanschaulichen, politischen Motiven. Um ihn herum ist die Glut der politischen Leidenschaften niemals erkaltet. Es ist so, wie C. A. Emge es ausdrückt, daß nämlich das Werk Nietzsches „ein großartiges Anschauungswerk für Staatsmänner, insbesondere für Kultusminister" geworden ist. 50 Und es muß zugestanden werden, daß die Staatsmänner, d. h. die professionellen Politiker, einschließlich der Kultusminister (und, was oft dasselbe ist, der Propagandaminister), das politische Credo des Nietzscheanismus nicht ohne Erfolg verwendet haben. Das gilt in gleichem Maße auch für die Nachkriegszeit. Die politische Philosophie Nietzsches hat nicht nur indirekte, sondern auch unmittelbare Anwendung bei der theoretischen Begründung und bei der praktischen Ausarbeitung der Entwicklungsperspektiven Westdeutschlands gefunden. Politisch aktive Philosophen und philosophierende Politiker durchblätterten die Werke Nietzsches, um den Nachkriegskurs am Kompaß der „großen Politik" zu überprüfen, insgeheim und offen. Betrachten wir, wie W. Weymann-Weyhe die „große Politik" und ihre theoretischen Parameter sieht. Nach ihm ist das „erste Ziel der Großert Politik" das „starke Individuum, der Übermensch und Herr der Erde, der die Menschheit als Ganzes unter seine Gewalt zwingt". Die „große Politik" „ist der Existenzraum dieses Menschen" und Nietzsche hatte, als er diese Idee aufstellte, nicht nur Deutschland im Sinn, sondern mit ihr „soll die Welt umgestürzt werden". Das starke Individuum der „großen Politik" wird „gezüchtet" aus der „Dekadenz Europas". „Das große, herrische und mächtige Individuum ist der letzte Sinn oder Unsinn des verfallenden Abendlandes . . . Die nivellierende geistige und politische Konstitution des XIX. Jahrhunderts wird die großen Barbaren des XX. Jahrhunderts ins Dasein rufen." 5 1 Die Aufmerksamkeit des Politikers, des „starken Individuums" ist „ganz auf seine politische Aufgabe gerichtet". Seine erste Aufgabe ist „die Kalkulation mit den gegebenen Möglichkeiten", er hat „den Gesamtanblick des europäischen Menschen stets lebendig vor Augen 50

EMGE, C., Über das bleibende Erbe Nietzsches, Wiesbaden 1955, S. 228. 5' WEYMANN-WEYHE,W., Die Entscheidung des Menschen, Nietzsche als geschichtliche Wirklichkeit, Freiburg 1948, S. 187-188.

255

zu haben, der sich Nietzsche darstellt als ,sehr arbeitsam, im Grunde sehr bescheiden, bis zum Exzeß neugierig, vielfach verzärtelt, willensschwach' und der als Ganzes ein kosmopolitisches Affekt- und Intelligenzenchaos' ist". Nietzsche gibt — so Weymann-Weyhe — den „guten Rat", Zustände zu schaffen, die eine Nötigung sind, entweder unterzugehen oder sich durchzusetzen. Er zitiert Nietzsche: „Eine herrschaftliche Rasse kann nur aus furchtbaren und gewaltsamen Anfangen emporwachsen". Aber der Herrenmensch muß „immer ein wachsames Auge haben auf alle gerade vom Herdentier und seiner Schwäche her drohenden Gefahren". 5 2 Mit der „großen Politik" stellt Nietzsche „einen Grundpfeiler der menschlichen Gesellschaft, die Ehe und Familie" von Grund auf in Frage. Jede „große Politik" wird „konsequent entweder zur völligen Auflösung der Ehe drängen oder doch das Leben der Familie so weitgehend begrenzen und durch Verfassung und Erziehung von außen und von innen her fragwürdig machen, daß dieses erste natürliche Bollwerk des Menschentums ihr kein Hindernis mehr bedeuten kann". 5 3 Weymann-Weyhe sieht Nietzsches Ziel darin, „das böse Chaotische des deutschen Wesens zu entfesseln und zu befreien von jeglicher Form und Gebundenheit. Dann ist es formlose Gewalt, großartig zerstörend." 5 4 Dieses „deutsche Wesen" soll sich gegen die Demokratie richten, die „die Seite des intelligenten Herdentieres" vertritt, und gegen den Sozialismus, der ihm „dämonisch bedrohlich von der Wurzel des Menschlichen her" erscheint, den er als „Tyrannei der Dümmsten und geistige Sklaverei" betrachtet. 55 Und schließlich feiern in der „großen Politik" auch Gerechtigkeit und Wahrheit ihren Triumph. Gerechtigkeit ist nicht mehr „Heuchelei", keine „neue Stufe der Ungerechtigkeit", in der das „niedere Herdentier sein Rache-Recht gegen alles Höhere und Ursprüngliche fordert und findet", sondern sie wird wieder das, was sie ursprünglich war — „die höchste Tugend des Willens zur Macht". 5 6 Wir haben hier ein Muster an Epigonentum, an sklavischer Übernahme Nietzschescher Ideen und an Nachahmung seiner stilistischen Manier vor uns. Wir haben es lediglich deswegen angeführt, weil der Autor die Gedanken zur „großen Politik" in maximaler Annäherung 52 53 5i 55 56

Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

256

S. S. S. S. S.

188. 189. 114. 7, 190. 154.

an die Quelle reproduziert, weil er nicht nur ihre Rolle und ihren Platz im System des Nietzscheanismus enthüllt, sondern auch die politische Übereinstimmung dieses ganzen theoretischen Denkens mit den weltanschaulichen und ideologischen Bedürfnissen einer bestimmten Klasse der bürgerlichen Gesellschaft in größerem Maße als andere, akademische Systeme transparent macht. Der Autor selbst ist von einer solchen allgemeinen Schlußfolgerung selbstverständlich weit entfernt; er leitet die „große Politik" aus der biopsychischen Natur des Menschen ab, aus der Situation, in die der Mensch gedrängt ist. Die „große Politik" ist der unveränderliche Hintergrund, vor dem sich das Schauspiel der Nietzscheschen Philosophie des Lebens abspielt. Man kann diesen Hintergrund vertuschen und dämpfen, aber nicht beseitigen: ohne ihn verliert das dramatische Geheimnis dieser Philosophie viel von seiner Attraktivität und Aktualität. Das haben nicht nur A. Baeumler und seine Gesinnungsgenossen begriffen, die die „große Politik" auf dem Niveau des Dritten Reiches adaptierten. Sie ist auch in unserer Zeit der Gegenstand spezieller Untersuchungen; ihr wird in den Arbeiten von Philosophen (B. Noll, E. Schwarz u. a.), Staatsmännern und philosophierenden Publizisten (W. Ehrlich, W. Schlamm u. a.), Soziologen und Psychologen (H. Schoeck, Ph. Lersch usw.) große Aufmerksamkeit gewidmet. Nach Noll war Nietzsche ein Philosoph, der die Lebensprobleme, die heute Wirklichkeitsbedeutung gewonnen haben, „zu seiner Zeit bereits im seherischen Vorwissen als die für die Zukunft der Menschheit entscheidenden erkannt hatte". 5 7 Damit will Noll offenbar sagen, daß Nietzsche als Denker angeblich in einer Reihe mit den größten Giganten des philosophischen und politischen Denkens steht und deren Sache auf praktisch-politischer Ebene fortsetzt, denn er, Nietzsche, versteht theoretische Tätigkeit als eine Sphäre des praktisch-politischen Handelns: „Nietzsche spricht vom Philosophen und meint doch niemanden anders als den philosophischen Politiker". 58 Noll richtet seine Aufmerksamkeit vorwiegend auf zwei Probleme des „modernen Lebens": Was ist der Übermensch, und wie ist die Einigung Europas im Zusammenhang mit dem „seherischen Vorwissen" einer „Erdregierung", eines „Weltstaates" zu denken? 59 57

NOLL, B., Zeitalter d e r Feste. Nietzsches Idee einer W e l t k u l t u r d e r Z u k u n f t , B o n n 1947,

S. FV-V.

58 NOLL, B., P h i l o s o p h i e u n d Politik, B o n n 1953, S. 14. s» NOLL, B., Zeitalter d e r Feste, a. a. 0 . , S. 67. 17 Oducv

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Was ist der Übermensch? Der Übermensch, erläutert Noll, ist ein „Verklärer des Daseins", und dies in einem „doppeldeutigen zirkelhaften Sinne": durch sein eigenes und bloßes Sein verklärt er das Dasein, die Menschenwelt im ganzen als ihre höchstmögliche „Aufgipfelung", umgekehrt wird „als Folge und Ausstrahlung seines Seins" die Menschenwelt durch ihn und sein Wirken „verklärt". 6 0 Im großen und ganzen hat Noll die Eigenschaften des Übermenschen ganz richtig erfaßt, aber er beschreibt sie absichtlich unklar und undeutlich, um die Möglichkeit zu bekommen, ihnen eine andere, von der Nietzscheschen verschiedene Deutung zu geben, um ihn irgendwie zu veredeln, zu vergeistigen und dieses Symbol sozusagen zu „vermenschlichen", zu personifizieren. Unter dem Übermenschen, versichert Noll, ist „von Nietzsche nie etwas anderes als ein großer politischer Mensch verstanden worden" 6 1 , der sich um das Wohl der Menschen sorgt. Zeitweilig werden die Grenzen des Begriffs so weit gezogen, daß er nicht nur große Politiker und Staatsmänner, nicht einmal nur jenen „auserwählten" Teil der denkenden Wesen, der Elite genannt wird, umfaßt, sondern auch die Masse der einfachen Menschen (als potentielle Übermenschen sozusagen). Die Grundbestimmung des Übermenschen ist es (nach Noll), Gutes zu schaffen, den Boden für den Sieg des Guten auf dem ganzen Planeten vorzubereiten und das Reich der Gerechtigkeit, ein „Zeitalter der Feste" zu errichten. Die gesuchte Bestimmung ist gefunden, und zwar bei Nietzsche, der verkündet hatte: „Die Menschheit wird sich im kommenden Jahrhundert vielleicht schon viel mehr Kraft durch die Beherrschung der Natur erworben haben, als sie verbrauchen kann, und dann wird etwas vom Luxushaften unter die Menschen kommen, von dem wir uns jetzt keine Vorstellung machen können . . . Zeitalter der Feste"62. Da aber die „breiten Volksmassen" nach Ansicht Nolls „viel stärker von der Begehrlichkeit ihrer Triebe" bewegt werden und daher „von sich aus nicht oder kaum in der Lage sind", die Politik zu „steuern" 6 3 , muß der politische Führer diese Funktion übernehmen. Die Aufgabe, das „Zeitalter der Feste" Wirklichkeit werden zu lassen, ist deswegen den „großen Schaffenden, den Machtmenschen von höchster Lebensweisheit, für die er (Nietzsche — G. R.) das Wort Übermensch neu geprägt hat", übertragen. Noll dreht die Nietzschesche Perspektive um, er ist bereit, jedem eine Eintrittskarte für diese zu61 FI2

Ebd., S. 25. NOLL, B„ Philosophie und Politik, a. a. O., S. 14. NOLL. B„ Zeitalter der Feste, a. a. O., S. 68. NOLL, B., Philosophie und Politik, a. a. O., S. 44 —45.

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künftigen Festtage zu geben, allerdings unter einer Bedingung: sie müssen sich voll und ganz diesen „Machtmenschen von höchster Lebensweisheit" anvertrauen, die das Vermächtnis Nietzsches vom Übermenschen erfüllen. Die Menschheit hat dieses ersehnte „Zeitalter der Feste" noch nicht erreicht, weil sie von den führenden Staatsmännern auf den falschen Weg geleitet wurde, die dieses Vermächtnis nicht verständen und annahmen oder — wenn sie es annahmen — es zur Karikatur entstellten. Sie zogen nicht in Betracht, d a ß es für eine „Wohlstandshebung im ganzmenschheitlichen Sinne, bei der die moderne Machtstellung des Menschen über die Naturkräfte voll aktiviert werden soll", unumgänglich ist, „eine politische Erdregierung zu schaffen". 6 4 Ihnen fehlte der „seherische Vorblick" Nietzsches, der nötig ist, um „das immer schneller rollende Rad des modernen Lebens in einer Bahn halten zu können". 6 5 Dieses „Erdproblem" möchte Noll mit einem „System von konstruktiver Erdregierung" lösen, aber dieses illusionäre Programm für die Regelung der Weltprobleme ist bei Noll wieder mit der „alldeutschen Idee" verknüpft: eine „findige und kluge Politik" m u ß darauf hinarbeiten, Europa zu einigen und eine „neue O r d n u n g " zu etablieren, bei der „Europa sein neues Lebensgesetz findet". Und er kann sich hierbei auf Nietzsche berufen: „Deutschlands politische Sendung hat Nietzsche in der kurzen Formel zusammengefaßt, ,die Völker wieder zu binden' ", 6 6 Es versteht sich ganz von selbst, daß es dabei im kapitalistischen System verbleiben muß. Zwar gestattet sich Noll ab und zu einige Angriffe gegen die „freie Wirtschaft", gegen das Element der Konkurrenz, tritt er für eine regulierende Rolle des Staates bei einigen Fragen der Produktion und des Konsums ein, um die „wirtschaftlichen Macht- und Besitzverhältnisse" den Interessen der Bevölkerung unterzuordnen; aber er kann nicht gut anders, wenn er der „Bevölkerung" eine „größtmögliche Wohlstandshebung", ein „Zeitalter der Feste" verspricht. 67 Auf politischem Gebiet sind zwei- und mehrseitige Abkommen und Bündnisse der „freien" Staaten die erste Stufe zur Einigung Europas und später zur „Erdregierung". Deutschland sollte nach Möglichkeit ökonomisch und politisch von den Vereinigten Staaten unabhängig bleiben und sich an das Prinzip der „gleichberechtigten Partner«4 «

NOLL, B., Zeitalter der Feste, a. a. Ebd., S. 38.

O., S. 90—91.

«6 Ebd., S. 114. 67 Ebd., S. 93 ff.

17'

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schaft" halten, denn es hat neben dem Streben zur Einigung der Welt noch ein besonderes, eigenes Ziel — die Integration Europas, die ohne Führung der Deutschen undenkbar ist. Die Notwendigkeit einer „Annäherung" an die U S A erwies sich jedoch als etwas stärker, als Noll anfänglich annahm. In den 50er Jahren trat er bereits für eine „realistische Politik der Stärke" ein und betrachtete die „europäische Integration" als „eines der großen Mittel" im K a m p f gegen den „kommunistischen Block".68 Im „Zeitalter der Feste" vermeidet Noll direkte Angriffe auf die Arbeiterklasse und deren sozialistische Ideale. Aber die Zeiten ändern sich, und die Logik der Umstände zwingt ihn zu einer genaueren Bestimmung seiner Klassenposition; sein Ton wird rauher. Zunächst wird, bei größtmöglicher Annäherung an Nietzsche, der Begriff „ L e b e n " um vieles „rauher". Leben — das ist ein ständiger und niemals nachlassender K a m p f auf instinktiver, triebhafter Grundlage! „Allen Trieben aber eignet der Charakter der aggressiven Begehrlichkeit. D a nun alle Lebewesen mit einer ihnen zugehörigen Triebanlage ausgestattet sein müssen, führt diese ihre Triebdisposition zu einem K a m p f aller gegen alle." Auch der „Machttrieb mit seinen politischen und kriegerischen Folgen" wird „ a u f die gleiche Wurzel" zurückgeführt. Leben besteht somit wesentlich „im K a m p f um den Anteil an der möglichen Beute im erreichbaren Lebensraum". Dann wird der „Raubtiercharakter der menschlichen N a t u r " ausdrücklich festgestellt, aus der sich die „wirksamen trieb- und tierhaften Hintergründe der politischen Willensbildung" ergeben. 6 9 In diesem K a m p f liegt die Hoffnung auf einer „geistigen Elite" von Übermenschen, deren „nüchterne Realpolitik" darauf gerichtet sein muß, „die Kräfte im politischen K a m p f auszuschalten und auch zu vernichten, die ihrem Typus und ihren Zielsetzungen nach traditionell die kriegerisch-aggressivsten sind". Dazu müssen „politisch auf der Hut seiende Staatsmänner zum präventierenden Mittel, z. B. des Bürgerkrieges, greifen und auch dazu bereit sein, um die gefährlichen Menschen an der Macht zu verhindern". D a s führt auch zu der Notwendigkeit, den Begriff des „Asozialen" weiter zu fassen: asozial sind „die Elemente, die sich nicht in eine bestehende Rechtsordnung einfügen", unter ihn „sind all die Menschentypen zu subsumieren, die auf eine politische Veränderung der bestehenden Weltverhältnisse mittels 68 NOLL, P h i l o s o p h i e und P o l i t i k , a . a . O . , S . 59. Ebd., S. 268, 269. »2 Ebd., S. 296, 298, 299.

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es auch „entdecken", ohne Nietzsche gelesen zu haben, aber er hat die Autorität der Tradition, ohne die in Westdeutschland eine Doktrin der bürgerlichen politischen Philosophie, die auf breite Anerkennung hofft, schwerlich auskommt.

18

Oduev

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Kapitel II

„Abschied von der bisherigen Geschichte" A . Weber

Alfred Webers Buch „Abschied von der bisherigen Geschichte", von dem in diesem Kapitel hauptsächlich die Rede sein wird, war ein bedeutendes Ereignis im Geistesleben Westdeutschlands. Der bekannte Soziologe und Kulturhistoriker, der Gegner des Faschismus A. Weber legte in diesem Werk mit unverstellter Erregung die Ergebnisse seines Grübelns über das Schicksal des deutschen Volkes nieder. Wird das deutsche Volk, "fragt er besorgt, wird dieses ordnungsliebende und tapfere, reich begabte, aber „heute so völlig sich selbst entfremdete Volk begreifen, was eigentlich mit ihm geschehen ist"? Äußerlich werden die Deutschen bald „die furchtbare Logik der Gesamtvorgänge" begreifen, wenn sie erst „die wahren Tatsachen erfahren haben werden, die ihnen weithin bisher vorenthalten oder verzerrt dargeboten wurden". Aber wird das deutsche Volk als „geistiger K ö r p e r " die richtigen Schlußfolgerungen ziehen, wird es die „seelische Größe" haben, mit sich selbst abzurechnen? Weber nimmt Abschied von der bisherigen historischen Entwicklungsperiode, in der Westeuropa die entscheidende Rolle in der Weltgeschichte innehatte und die Weltgeschichte sich darstellte als fortwährende Rivalität großer und kleiner Staaten. „Wir stehen mit der Katastrophe, die wir (die Europäer, besonders die Deutschen) durchlebt haben und noch durchleben, für jeden, der etwas Blick hat, deutlich am Ende der bisherigen Art der Geschichte, der Geschichte nämlich, die wesentlich vom Abendland her bestimmt war." 9 3 Die historischen Potenzen der westeuropäischen Völker versiegen, ihre Größe und Bedeutung liegt in der Vergangenheit, sie verlieren die Fähigkeit zur selbständigen geschichtlichen Aktion; die Zentren der Weltgeschichte verlagern sich; es werden wenige Machtkolosse 93

WEDER, S., Abschied von der bisherigen Geschichte. Überwindung des Nihilismus?, Bern 1946, S. 11.

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entstehen, die aber eine gemeinsame ideelle Basis akzeptieren und die ihre Grundsätze vorbehaltlos und guten Willens einhalten müssen, wenn nicht ein dritter Weltkrieg ausbrechen soll. Es muß ein neuer Typ Mensch erzogen werden, der diese geistig-seelische, also kulturelle Welt verkörpert. Diese Mahnung kann man in erster Linie auf Deutschland beziehen. Für den Wendepunkt in der historischen Entwicklung Westeuropas hält Weber die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts, die er als die „Zeit der beginnenden Zersetzung" charakterisiert. 94 Diesen Prozeß bringt Weber in Zusammenhang damit, daß „die Masse ein ganz anderes Gewicht" erlangt, daß die breiten Schichten des Volkes und die spontanen, eruptiven Kräfte, die in ihrem Schoß herangereift waren, in die Arena der geschichtlichen Aktion traten. Die in Bewegung geratenen Massen prägten das Jahrhundert: der ruhige und gemäßigte Lauf der Zeit wurde abgelöst von der „knatternden Kette" der politischen Revolutionen. Stürmisch folgten revolutionäre Umwälzungen in der Industrie, der Wissenschaft und dem Handel aufeinander. Die Menschenzahl wuchs schnell an, was wiederum den Fortschritt in Wissenschaft und Technik stimulierte und zu einer Verstärkung der imperialistischen Tendenzen in der Politik der europäischen Staaten führte. Es bildete sich ein enger Zusammenhang zwischen dem „explosiv gewordenen Kapitalismus" und dem „gleichfalls explosiv gewordenen Militarismus". Es entstanden neue Transport- und Verkehrsmittel, die eine schnelle Fortbewegung des Menschen um die ganze Erde möglich machten. Die Erde wurde eng und unwohnlich. Noch größere Auswirkungen hatte der Aufschwung der Massen auf sozialem, geistigem und moralischem Gebiet. Die mit der Französischen Revolution beginnende Bewegung zur Freiheit, die nicht nur Abschaffung der Privilegien forderte, sondern mit der Forderung gleicher Rechte zur Demokratie hinführte, konnte zum Egalitarismus oder auch Anarchismus umgewendet werden. Die alten patriarchalischen Rechtsverhältnisse lösten sich auf. Die Spaltung zwischen den verschiedenen Schichten und sozialen Gruppen vertiefte sich (d. h. mit anderen Worten, der Klassenkampf zwischen der Bourgeoisie und dem Proletariat verschärfte sich), die geistige und moralische Einheit der Nation zerfiel. Der Marxismus mit seiner Lehre von der Unversöhnlichkeit der Klassen vertiefte diese Spaltung noch weiter, Politik und Macht entfernten sich allmählich vom Intellekt, vom Geist und wurden »4 Ebd., S. 21. 18*

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rational und moralisch unkontrollierbar. Die Rolle des Staates verstärkte sich um ein Vielfaches; er verwandelte sich in eine selbstherrliche, entfremdete Kraft, die die schöpferische, persönliche Initiative des Menschen unterdrückt. Der Prozeß der Nivellierung hat bedrohliche Ausmaße angenommen. Es nahen die Zeiten der Herrschaft einer unpersönlichen Masse, der Mittelmäßigkeit. Die westeuropäische Gesellschaft ist von innen heraus unterminiert; sie ist reif für die Katastrophe. Die erste Ankündigung der drohenden Katastrophe war der erste Weltkrieg. Der zweite Weltkrieg führte dicht an die Linie, hinter der der Fall ins Nichts beginnt. Weber bleiben die objektiven Gesetzmäßigkeiten und die Triebkräfte der historischen Entwicklung unbekannt und folglich auch die tatsächlichen sozial-ökonomischen Ursachen der revolutionären Erhebungen der Volksmassen im 19. Jahrhundert und der revolutionären Umwälzungen, die im 20. Jahrhundert vor sich gingen und eine neue Epoche der Weltgeschichte eröffneten — die Epoche des Zusammenbruchs der bürgerlichen Zivilisation mit ihren Idealen und Werten, was sich für das geistige Auge eines bürgerlichen Theoretikers selbstverständlich als Katastrophe darstellt. Es ist Weber nicht gelungen, über den begrenzten Horizont der bürgerlichen Weltanschauung hinaus zu gelangen. Er will und er kann auch nicht die Morgenröte der wirklichen Geschichte begrüßen, die im Oktober 1917 über unserem Planeten aufging; er nimmt schmerzlich Abschied vom gestrigen Tag, von der bisherigen Geschichte, die in Wirklichkeit nur die Vorgeschichte der Menschheit war. Er glaubt, daß die vorige historische Epoche bereits vorbei ist, die neue sich jedoch noch nicht behauptet hat, und er ruft dazu auf, ihren Sieg zu verhindern, solange es noch nicht zu spät ist, indem das Abendland seine frühere kulturell-geistige Macht wiedergewinnt. 95 Da Weber das wahre Wesen der sozialen Konflikte nicht erfassen kann, ist er genötigt, es in sekundären Faktoren zu suchen, die im Vordergrund des historischen Seins auftreten. Seine Sozialphilosophie versucht den Lauf der Geschichte zu verstehen, ausgehend lediglich vom Wachsen und Werden der Kultur, vom Zustand des historisch vorhandenen Bewußtseins, welches geistig-politisch bedingt ist und vernünftigen menschlichen Instinkten entspricht. Die überschaubare europäische Geschichte ist, nach der Weberschen Konzeption, die Geschichte des sogenannten „dritten Menschen".[13] » Ebd., S. 100-111. 276

Diese historische Epoche teilt sich in zwei Perioden. Die erste („statische") umfaßt die fünftausend Jahre von 4000 v. u. Z. bis zur Jahrtausendwende. Die zweite („dynamische") reicht bis 1900. In der ersten Periode verläuft die Geschichte langsam und gemäßigt, und die „Universalgeschichte" ist geographisch auf Eurasien beschränkt. In dieser Periode ist der Fluß der Geschichte nur einmal „übergetreten", etwa von 750—430 v. u. Z., während der Zeit der Entfaltung und Blüte der griechischen Antike („von Homer bis zum Einbruch dessophistischen Nihilismus"), als die griechische Kultur ihren Höhepunkt erreichte. In der zweiten Periode wachsen der Rhythmus und das Ausmaß der geschichtlichen Aktion schnell an, besonders in den letzten 3 0 0 - 4 0 0 Jahren. [14] Das 19. Jahrhundert, das Jahrhundert des Umbruchs und des beginnenden Zerfalls der abendländischen Kultur, „ist in dem, was wir zu überwinden und was wir zu verwenden haben, nur als das Resultat von 800 Jahren zu begreifen, die ihm seit der Zeit, wo das Abendland zu sich selber kam, vorangegangen sind". In diesen 800 Jahren, in denen das Abendland zur Führung in der Geschichte heranwuchs, entwickelten sich in ihm zugleich auch die Keime seiner Selbstauflösung. In dieser Zeit entfaltete sich „das Wesenhafte und Besondere der abendländischen Entwicklung" aus einer „ungeheuer komplizierten, im Grunde paradoxen Anfangssituation oder festgefügter theologischer und philosophischer Dogmatik zur geistigen Freiheit" — der Durchbruch „in undogmatisches wesenhaftes menschliches Sein". 96 Aber das 19. Jahrhundert hat, die Dynamik der letzten Jahrhunderte fortsetzend, seinen Zeitgenossen die andere, die Schattenseite zugewandt. Die für das 19. Jahrhundert charakteristische stürmische Entwicklung der Industrie, der Technik, der Kommunikationsmittel, des Militarismus — all das stellt die Frage nach dem Sinn des geschichtlichen Daseins völlig anders. Der Mensch beginnt wieder, sich selbst zu verlieren; er verliert seine eigene Individualität, er wird nivelliert, er geht in der Masse unter, er löst sich auf im „gesellschaftlichen Ganzen", er wird zum Spielball einer blinden Technik und einer zielgerichteten Massenmanipulation. Es kündigt sich eine neue historische Epoche an — die Epoche des „vierten Menschen", des dressierten Menschen der Zukunft, der seine Existenz selbst jeden Sinnes entblößt. Weber entwirft ein düsteres und deprimierendes Bild. Er glaubt nicht an die Objektivität des Geschichtsprozesses, aber er möchte Realist bleiben, Ebd., S. 2 3 - 2 4 .

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er steckt den Kopf nicht in den Sand und wiegt sich nicht in naiven Wunschträumen von einer wundersamen Heilung dör Krankheit des Jahrhunderts. Er will nur anregen, das zu tun, was aus der „geistigseelischen Sicht" von heute diktiert wird, und entwirft ein Aktionsprogramm, welches jedoch — da er • keinen objektiven Verlauf der Geschichte anerkennt — immer illusorisch bleibt. Um die abendländische Kultur mit ihren „großen Werten" vor der nahenden Katastrophe zu retten, muß der schöpferische Mensch (dabei versteht sich von selbst, daß nicht jeder Kulturschöpfer ist, sondern nur die „großen", hervorrägenden Vertreter des Menschengeschlechts) gerettet und vor der Vermassung und Nivellierung bewahrt werden. Zwar wird „die Masse ein ganz anderes Gewicht besitzen" als das bisher der Fall war, und es wird überall eine „neue Durchschnittsmenschenart" entstehen, aber die Zukunft wird keineswegs „ohne führende Schichten oder eine beständige Auslese zur Führung, eine Elite auskommen können". Das „Gepräge" dieser „Durchschnittsmenschenart" wird entscheidend davon abhängen, ob es dem abendländischen Menschen gelingt, jene „transzendenten Tiefen" zu ergreifen, „aus denen heraus der neue Mensch künftig einmal existiert". Diese transzendenten Tiefen, die „aus den aufgerissenen Abgründen des furchtbaren Übergangs, den wir erleben, vor unseren Blicken sich erstmals wieder in Umrissen" erschließen lassen, kann Weber selbst, wie er bekennt, nur „fragmentarisch" andeuten, und'zwar deshalb, weil sie „metalogisch" und „nicht in irgendeine Systematik einpreßbar" sind. Ihre Behandlung „will nicht ein Vademecum, sondern gewissermaßen eine Einspritzung sein, die eigenes Erfahren zur Durchforschung treibt, seine Hebung ins Bewußtsein und sein Durchdenken erleichtert". 97 Hier nun richtet Weber seinen Blick auf Nietzsche, der in seinen Werken unübertroffene „Einspritzungen" dieser Art gegeben hat, auf jenen Denker „von kolossalen Dimensionen", der „zum Umwälzer aller Werte sich berufen fühlte" und „über eine einzigartige Ausdrucksfahigkeit hohen geistigen Niveaus verfügte". Das Gesamtphänomen Nietzsche ist „so umfaßlich und so zerklüftet . . . wie kaum das einer anderen geistigen Größe". Nietzsche ist der „schicksalgeschwängertste aller geistigen Schicksalsträger", die „persönlichste aller philosophischen Persönlichkeiten". Mit ihm trat das 19. Jahrhundert, in ein Zeitalter, in dem die Bildungsschicht, besonders in Europa, mit Ebd., S. 22, 23.

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„geistig gebrochenem Rückgrat, ohne Mark und eigenen Willen sich im wesentlichen auf reflektierende Betrachtung zurückzog, ein geistiger Wille, der eben zu dieser Bildungsschicht sprach und zu sprechen verstand.'^ Aber eine solche begeisterte Würdigung des „Phänomens" Nietzsche macht Weber nicht blind. Sowie er an die Wirklichkeit herangeht und versucht, ihr die Nietzscheschen Formeln aufzuerlegen, dämpft er seine Wertschätzung: die humanistische Grundposition, auf der seine Sozialtheorie beruht, gibt ihm nicht das Recht, die extremen Züge der Philosophie Nietzsches und ihren krassen Ahumanismus zu verschweigen. Wenn Weber feststellt, daß die Frühwerke dieses Denkers durchdrungen sind von einer „Kritik am chaotisch historisierenden bürgerlichen Bildungsmischmasch", und diese Kritik völlig teilt, läßt er doch die Gelegenheit nicht verstreichen, darauf hinzuweisen, daß Nietzsche an die Frage der Bildung wie an das Problem der Kultur insgesamt von einem aristokratischen Standpunkt aus heranging und dabei befangen war in der „Angst vor der zivilisatorischen Domestikation, vor der Pöbeldemokratie". Weber imponiert weder der „Ekel" Zarathustras vor den einfachen Menschen, noch teilt er Nietzsches Haß gegen Demokratie und Humanismus, er verurteilt das „Pathos der Distanz", welches „die Kluft zwischen den herrschenden vornehmen und den geführten und beherrschten ,Herdentiermenschen' nicht verkleinert, sondern vergrößert", die „allzu billige Charakterisierung des Sozialismus und der Demokratie", die Verherrlichung der Gewalt, den Machiavellismus, den Biologismus, die Versuche, den Feudalabsolutismus und die Sklaverei zu rehabilitieren und einige andere „Extreme" des Nietzscheanismus. Aber er verurteilt nur die Extreme, nicht aber das ganze System der „Umwertung aller Werte". Für ihn ist Nietzsche kein Gegner, sondern ein Geistesgenosse, mehr noch, ein Mentor und Prophet, der die Grundkrankheit seiner Zeit erfaßt und die richtige Diagnose gestellt hat : Nihilismus. Mag er die Symptome dieser schrecklichen Krankheit auch oft grob, mit „männlicher" Schonungslosigkeit und manchmal sogar zynisch ausgesprochen haben, so sind sie doch im ganzen erstaunlich genau bestimmt. . . Mag er den Krankheitsverlauf auch häufig mit bedauerlichen Irrtümern beschrieben haben, die Diagnose ist unbestreitbar . . . Mag auch die Voraussage der Zukunft in Details fehlerhaft sein, er hat nach der dumpfen Nacht des 19. Jahrhunderts das Herannahen des „großen Mittags" vorausgesehen . . . «ä Ebd., S. 137, 138.

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Wir wollen, ohne auf alle Schattierungen der unstreitig vorhandenen Unterschiede einzugehen, vor allem die prinzipielle Gemeinsamkeit der Weberschen Konzeption des Geschichtsprozesses und seiner Triebkräfte mit dem Schema Nietzsches hervorheben. Beide gehen von der Voraussetzung aus, daß das Abendland seine historische Größe bereits hinter sich hat und daß die gegenwärtige Epoche (wenigstens für das Abendland) eine Epoche des Verfalls, des Untergangs, der Dekadenz ist. Weber ist mit der von Nietzsche ausgesprochenen Diagnose des europäischen Geistes im großen und ganzen völlig einverstanden, sowohl mit den aufgezeigten (geistigen, ideologischen und sozialen) Ursachen, die diese Krankheit hervorgerufen haben, als auch mit dem vorgeschlagenen Rezept für die Heilung dieser verschleppten Krankheit. Zwar stimmen sie bei der Bestimmung des historischen Moments, der den Beginn der Krise darstellt, nicht überein: Nietzsche legt diesen Zeitpunkt in das Ende des 17. und den Anfang des 18. Jahrhunderts und sogar noch weiter zurück in die ganze Epoche der frühen Aufklärung, die seiner Ansicht nach schon viele Symptome der Dekadenz in sich trägt, während die Französische Revolution schon deren üppige Blüte bedeutet; Weber dagegen legt den Beginn der Krise in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts, in die Zeit der proletarischen Revolution. Aber so wesentlich dieser Unterschied auch sein mag, in beiden Fällen haben wir es mit ein und derselben Form der ideellen Reflexion der sozialen Wirklichkeit zu tun, mit der Widerspiegelung eines bestimmten — wenn auch sehr umfangreichen — Zeitraumes, und zwar der Periode, in der der geschichtsgestaltende Aufschwung breiter, revolutionär aktiver Massen immer spürbarer wird. Dies widerspiegelt sich in einer spezifischen psychologischen Form : in der „Angst vor der zivilisatorischen Domestikation", vor den revolutionärdemokratischen Aktionen des „Pöbels", der unteren Volksschichten. Und wenn Weber (unter sozialem Gesichtspunkt) Nietzsches „Ekel" vor den einfachen Menschen nicht völlig teilt, so bemüht er sich doch, diesen „Ekel" psychologisch zu rechtfertigen, und zwar mit dem Verweis darauf, daß Nietzsche nicht zu denen gehörte, die „kühl im Schatten sitzen und in allem nur Zuschauer sein wollen", sondern daß er seine Aufgabe darin sah, die Gefahr einer „Entartung" der geistigen Elite zu betonen und den Horizont der Zukunft zu erschließen. Sein Werk ist ein „Appell an Wollen, an Mut und Flug nach der Höhe, nach einem neuen Menschen". 9 9 w Ebd., S. 144.

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Das Hauptverdienst Nietzsches sieht Weber darin, daß er die „dionysische Daseinssicht" wiederentdeckt hat: sein Schaffen war „von der Sorge um das absichtliche Verschwindenlassen der dunklen, der Leid-Seite des dionysisch doppelseitig verstandenen Lebens bestimmt". 1 0 0 Diese „dionysische Botschaft" war „an sich gegenüber der bürgerlichen Daseinssicht des zweiten Drittels des neunzehnten Jahrhunderts eine sehr notwendige Rehabilitierung der verlorengegangenen Tiefe der Lebenserfassung und Lebensbejahung als eines Zweiseitigen, unentrinnbar Hellen und Dunkeln". 1 0 1 Um dem Menschen alle Tiefen und Geheimnisse seines Daseins zu entdecken, um ihn vorwärts zu bringen, muß er einfacher und „natürlicher" werden: „Ein Verdienst (Nietzsches — G. R.) war es weiter, offen die Natürlichkeit des Daseins zu verlangen, zugleich mit der Forderung strenger geistiger Zucht" 1 0 2 . Weber faßt den Nietzscheanismus, als würde er dessen soziale Grundlagen nicht bemerken, unter rein geistigem, intellektuell-sittlichem Aspekt auf und charakterisiert ihn als „Resultat der europäischen geistigen Auflösung des neunzehnten Jahrhunderts". Er sieht seine Anziehungskraft vor allem in der „Tiefe der Nietzeschen Weltsicht". Im „Rahmen einer Zeitanalyse und einer wahrhaft einseitigen Zeitkritik" ist Nietzsche eine „großartige Prophetie" gelungen. 103 Daraus ergibt sich sein leidenschaftlicher Protest gegen seine eigene Epoche mit ihren sentimentalen Illusionen vom allgemeinen Glück und Wohlergehen. „Die ungeheure Flachheit der bürgerlichen Bildungswelt der Zeit, mit der er ja beinahe einsam rang und sich auseinandersetzte, war es, daß sie die dunklen, in unserer Terminologie die dunkeldämonischen Seiten des Daseins nicht bemerkte, nicht bemerken wollte." Für die „realistisch gewordene Zeit der achtziger Jahre", schreibt Weber weiter, war es richtig, wenn Nietzsche ihr zurief, „sie wolle nicht wissen und nicht wahrhaben, daß Leiden essentiell zum Leben gehört, daß der Werdeprozeß des Lebendigen immer zugleich Leiden und Zerstörung darstellt. Dies gesehen und mit stärkster Wucht seinem oberflächlichen Zeitalter immer wieder ins Gesicht gesagt zu haben, ist wohl Nietzsches unsterbliches Verdienst." Diese „Tiefensicht des Daseins, die zu Dantes, zu Michelangelos und Shakespeares Zeiten i"" Ebd., S. 158. 'Ol Ebd., S. 160. '"2 Ebd., S. 185. >M Ebd., S. 172.

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da war", ist seit dem 18. Jahrhundert „enthusiastisch verdeckt" worden und ging „im umwälzenden Fortschrittswirbel des neunzehnten Jahrhunderts fast ganz verloren". 104 Die offene und tapfere Verkündigung der These, daß „Leiden essentiell zum Leben gehört", nennt Weber ein „unsterbliches Verdienst". Aber Nietzsche war hier kein Pionier. Bereits Schopenhauer hatte das deutlich ausgedrückt, er war wohl der erste bürgerliche Denker, der die Schattenseiten der bürgerlichen Gesellschaft klar erblickte. Schopenhauer jedoch blieb auf halbem Wege stehen und verbarg sich hinter dem schützenden Schild des Pessimismus : er rief zur Flucht aus der düsteren Wirklichkeit und zur Versenkung in die Betrachtung des eigenen Ich auf. Nietzsche ging einen entscheidenden Schritt weiter: er sagte „ja" zu den dunklen, dämonischen Seiten des Kapitalismus (was „die Tapferkeit verlangte, das deutlich zu erkennen und dabei nicht kleinlich zu verzagen" 105 , wie Weber meint); er begriff sie nicht nur als „natürlichen" und ewigen Zustand des menschlichen Daseins, sondern begründete sie „kosmisch" als Notwendigkeit der weiteren Erhaltung und Steigerung des Lebens, womit er ein Muster an indirekter Apologie der kapitalistischen Ausbeutung schuf. Weber übernimmt dieses Muster offensichtlich voll und ganz, denn er benutzt, wenn er davon spricht, Adjektive nur im Superlativ. Aber es geht selbstverständlich nicht so sehr um die Adjektive. Er teilt in bedeutendem Maße auch die Ausgangsthese des Nietzscheanismus, wonach das Leben Ausbeutung, Aneignung, Wille zur Macht ist. Er erklärt nicht ohne Umschweife, daß „Leiden und Entsetzliches zum Leben als Leben gehört, als Unentrinnbares" 1 0 6 . Allerdings hält er Nietzsches „naturalistisch-relativistische Weltinterpretation", nach der das ganze Dasein ein „Ringen der Punktationen des Willens zur Macht" ist, für eine „erschreckend entseelte Weltsicht". 107 Obwohl Nietzsche versucht, mit dem allein existierenden Werden den „naturwissenschaftlichen Mechanismus, Determinismus und Kausalismus" zu ersetzen, ist gerade diese Seite des Nietzscheanismus zeitbedingt. Die „Form des Streits von Kraft- oder Machtquanten" ist der Naturwissenschaft entlehnt und „schlechthin unmöglich". Sie reicht auch nicht aus, um die ganze Lehre Nietzsches zu erschließen. 108 KM 105 10» 107 los

Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

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S. S. S. S. S.

184-185. 185. 185. 166. 187.

Nach Webers Konzeption gehören „Leiden und Entsetzliches" notwendig zum menschlichen Leben, sie drücken die „dunkel-dämonischen" Seiten des Daseins aus. Diese „dunkel-dämonischen" Seiten des Daseins traten am deutlichsten und spürbarsten im Faschismus zutage. Selbstverständlich ist Weber nicht geneigt, die sozialen Bedingungen, die zum Entstehen und zum Sieg des Nationalsozialismus in Deutschland und einer Reihe anderer Länder geführt hatten, zu analysieren. Bei diesen Ursachen „handelt es sich um die seelisch-geistige Welt, die in diese Vorgänge eingeschlossen oder in ihnen aufgebrochen ist". Die Herrschaft des Faschismus war für ihn „das Hervorbrechen gewiß psychologisch stimulierbarer, gewiß unter besonderen Bedingungen geweckter, aber aus größeren als psychologisch auslotbaren Tiefen kommender Kräfte", es war eine „plötzliche Verfinsterung" oder der „Flügelschlag dunkel dämonischer Mächte: es gibt keinen anderen Ausdruck, um ihre überpersönliche und zugleich transzendente Art zu bezeichnen". Plötzlich brachen „elementare primitive Roheitsmächte" hervor, die „lange Zeit zurückgedrängt und durch Erziehung zugedeckt" gewesen waren und die man als „Verbindungsglied mit dem Raubtier in unserer aller Untergrund" ansehen muß. 1 0 9 Es ist, als hätte Nietzsche eine derartige Situation vorausgesehen. Heute wissen wir, „wie dieser Nietzsche (des Willens zur Macht — G . R . ) gewirkt hat", er hat dadurch „weltgeschichtliche Bedeutung bekommen". 1 1 0 Auch hier kann Weber Nietzsche keine „extremistische Verzerrung" des wirklichen Bildes vorwerfen. Nietzsches geistige Macht hat die „Gefahr der seelischen und geistigen Vermittelmäßigung" weitgehend gebannt, und damit ist auch „die Tiefe des Daseins wiederum erfaßt", aber dafür mußte alles bezahlt werden, was, „obgleich es wertvoll und menschlich grundlegend war, unter den Hammerschlägen seines Schreibeifers zertrümmert wurde". 1 1 1 Vor allem zerbrach die „aktive Menschlichkeit, die das Christentum in die Welt gebracht hatte" 1 1 2 . Nietzsche hatte bekanntlich das Leben bestimmt als „Aneignung, Verletzung, Überwältigung des Fremden und Schwächeren, Unterdrückung, Härte, Ausbeutung". Deshalb fühlt sich Weber, wenn er die „Natürlichkeit des Daseins" hervorhebt und die Ausbeutung als deren untrennbares Attribut durchaus nicht ausklammert, dennoch Ebd., S. 212,214. 11» Ebd., S. 183. " i Ebd., S. 1 8 6 - 1 8 7 . H2 Ebd., S. 162.

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aus seinen bürgerlich-demokratischen, abstrakt-humanistischen Idealen heraus verpflichtet, die Aufmerksamkeit mehr auf die „helleren" Seiten des Daseins zu konzentrieren: „Diese unmittelbare Transzendenz und die gesamte sich uns aufdrängende Hintergrundsschicht des Daseins hat . . . als ihr zweites Angesicht — ohne daß ein persönlicher Gott damit in die hier betrachtete Tiefenschicht herbeizitiert zu werden braucht — göttliche Seiten". Aber wie man sieht, sind diese „göttlichen Seiten" des Daseins bei Weber sekundär, sie sind nur das „zweite Angesicht" dieses Januskopfes. Diese Sphäre ist zudem nicht „in einer widerspruchslosen Einheitlichkeit" erfahrbar, und diese Erfahrung ist auch ohne logische Widersprüche nicht zu wiederholen. Sie ist irrational und unbegreiflich, und Weber selbst kann von ihr nichts Wesentliches aussagen. „Denn sie ist metalogisch." 113 Das Individuum ist nach der Weberschen Konzeption „vielschichtig nach dem Gesamt der Anlagemächte, die in ihm inkarniert sind". Der Mensch hat „dominante und rezessive solche Mächte in sich", und diese können in ihrer Herrschaft wechseln und sie tun es auch. Da die „Anlagemächte" „Inkarnationen überpersönlicher, objektiver, seelisch-geistiger oder biologisch-elementarer Gewalten" sind, kann dieser Herrschaftswechsel „gleichsam epidemisch von außen durch Hereinbrechen solcher objektiven Mächte als Daseinsdominanten geschehen." Er kann aber auch „durch Erziehung und Art der Lebensbetätigung von innen her vollzogen werden". Als Beispiel dafür führt er die deutsche Wirklichkeit der letzten Jahre an: „Das, was wir als die entsetzlichen, unseren allerletzten Zeitabschnitt (d. h. die Zeit des Faschismus — S. O.) beherrschenden Charakterwandlungen des deutschen Durchschnittstyps durch hereingebrochene dunkeldämonische Mächte bezeichnet haben, kam von außen. Rezessiv gewesene Anlagemächte wurden dominant und haben verwandelnd und grausig entstellend große Teile des deutschen Volkes ergriffen. — Vor einem zweiten Hereinbrechen müssen wir uns schützen, und zugleich müssen wir Anlagemächte, die in dem deutschen Durchschnittstyp schon beinahe abgestorben waren, wieder lebendig und dominant machen." 114 Diesmal aber muß das, nach Webers Ansicht, aus der inneren Haltung des deutschen Geistes kommen, aus Selbstverwaltung, persönlichem Auftrieb und Erziehung. Vor allem durch Erziehung in der Schule oder durch das Leben muß eine „Menschenumwandlüng" erreicht werden, durch die die „dunkel-dämo"3 Ebd., S. 216. Ebd., S. 224-225.

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nischen" Anlagemächte in den Hintergrund gedrängt und die „göttlichen Seiten" charakterbestimmend werden. Eine solche Konzeption ist eine entscheidende Basis für die Irrationalisierung des gesellschaftlichen Geschichtsprozesses und für soziale Mythenschöpfung, insbesondere für die Mystifizierung der wirklichen, sozial-ökonomischen und politischen Wurzeln des Faschismus. Es gibt hier keinen Hinweis darauf, daß der Nationalsozialismus eine Ausgeburt der bürgerlichen deutschen Wirklichkeit ist, daß er in den Potenzen des modernen Monopolkapitalismus wurzelt. Für Weber hat der Kapitalismus damit nicht das Geringste zu tun. Der Faschismus ist der Sieg oder, wenn man will, die Entfesselung geheimnisvoller und unerklärlicher Kräfte, unter deren Macht das Volk in jenen dramatischen Momenten der Geschichte fällt, wo die „dunkel-dämonischen" Seiten das Übergewicht über die „göttlichen" gewinnen. Mit Hilfe einer solchen theoretischen Konstruktion kann man, ob Weber das will oder nicht, alle Gebrechen des Kapitalismus, alle Verbrechen des Faschismus rechtfertigen, nicht nur die der Vergangenheit, sondern auch zukünftige: denn wenn in irgendeinem historischen Umbruchsmoment die dunklen Kräfte des Lebens, die schlummernden Instinkte des Menschen-Raubtiers wieder dominant werden, ist dagegen selbstverständlich nichts zu machen. Nietzsche und Weber gehen einen großen Teil des Weges, der zum Menschen, genauer gesagt, zum Ideal des Menschen und zum sozialen Ideal überhaupt führt, gemeinsam. Ihr Ausgangspunkt ist der gleiche: der moderne Mensch verflacht, entartet, es geht eine „Vermittelmäßigung" des Menschentyps vor sich; der heutige Mensch ist etwas, das überwunden werden muß. Selbstverständlich wählt Weber bewußt abgeschwächte und gedämpfte Formulierungen, einerseits, um den verwirrend gewundenen Weg Nietzsches zum Übermenschen etwas zu begradigen, andererseits, um sein eigenes Ideal darzulegen, welches nicht immer und nicht in allem Nietzsche wiederholt, auch wenn es dessen Autorität bedarf. Weber spricht — wenigstens subjektiv — keinem Menschen, und sei es auch ein „gewöhnlicher Vertreter der Masse", ein „Massemensch", das Recht ab, seine Persönlichkeit zu behaupten. Im Gegenteil, er setzt dieses Recht als immanent voraus und glaubt, ein richtig verstandenes Nietzschesches Ideal orientiert das Individuum in diese Richtung. Ihn interessiert in diesem Zusammenhang weniger die Idee vom Übermenschen, als vielmehr die Lehre vom „vornehmen Menschen", wie er Nietzsche vorschwebte. Weber allerdings hält es für „vermessen", sich „höhere" und „vornehmere" Men285

sehen vorzustellen, als „das Schicksal uns bisher in der Geschichte geschenkt hat". Er nennt einige „Abendländer": Dante, Michelangelo, Shakespeare, Rembrandt, Goethe, die „ein Maß von innerer Spannung, von Verbindung widerstrebender Kräfte, von Selbstdisziplin, von Stärke und Steigerung des Lebens und Leidens" erreicht hatten, daß Nietzsches „Programmschilderungen" dagegen verblassen. 115 Er lehnt die auf „Zucht als eigener Willenssteigerung und Selbsterhöhung" und auf „Züchtung als womöglich bewußter Fortpflanzung und Steigerung ihres Resultates" beruhende Konzeption der „Vornehmheit" ab. 1 1 6 Es wäre die „Rehabilitierung eines ancien régime in offener Weise oder in versteckter". 117 Er sieht, daß dieses „soziale Aufbauprogramm" nicht nur antidemokratisch und aristokratisch ist, sondern daß es auch „in eigentümlicher Weise mit Hypokrisie und Machiavellismus untermischt ist, in dem nicht bloß die Arbeiter, sondern auch alles .Mittlere' bloß Material ist". 118 Weber ist eher für ein „dynamisch gefärbtes Verhältnis zwischen Masse und Auslese, wie es heute, allein noch möglich ist, . . . das predigt heute nicht nur die Realistik. Es ist auch der einzige Weg sowohl zu einer geistig-seelischen Hebung der Massen wie zu einer haltbaren Höhe der Elite." 119 Es ist aber unbestreitbar, daß Nietzsches Postulat des vorurteilslosen „vornehmen Menschen" ganz wesentlich mitgewirkt hat an der „seelischen und geistigen Horizonterweiterung", an der „Niveauhebung" und der „natürlichen Gesundung". Nietzsches Predigt von der „Natürlichkeit des Daseins, zugleich mit der Forderung strenger geistiger Zucht" hat mitgeholfen, „an die Stelle eines bebrillt-verhockten, eines nervös in der Bildungsschicht stark gefährdeten Geschlechts" eine neue Generation zu setzen, die „in Luft und kontrollierter Bejahung der natürlichen Triebe" aufgewachsen ist, einen „Überschuß an Gesundheit besitzt" und deren geistige Qualität unter dem Einfluß Nietzsches „durch das Aufgeben jedes leeren, übersteigerten Phrasentums bestimmt war". 1 2 0 Es ist, als hätte Weber nicht bemerkt, daß gerade der Faschismus bestrebt war, die junge Generation im Geiste der Predigt Zarathustras zu erziehen. Aber ihn macht die unverhüllte „Massenphobie" Nietzsches "5 116 in us Ii» 12«

Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

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S. S. S. S. S. S.

195. 149. 194. 175. 194. 186.

bestürzt, die er allerdings rechtfertigen oder wenigstens mildern möchte mit dem Hinweis, daß sie nicht soziologisch und politisch begründet ist, sondern psychologisch, nämlich durch die „Abstoßung gegen die Mediokrität", durch das Ringen um „seelische und geistige Tiefe und Höhe". Nietzsche selbst hat — behauptet Weber — mit den Massen und ihrem eigentlichen Wesen kaum irgendeine Berührung gehabt, er schöpfte seine Vorstellungen aus der ihn umgebenden Bildungsschicht. Durch die „Abstoßung und Absonderung" von dieser Schicht, die er „in das gänzlich andersgeartete Massendasein und seine Problematik" projiziert, kommt er zu seinem Ideal der „Vornehmheit", für das er immer wieder das „Pathos der Distanz" fordert, zu einer stets von neuem wiederholten Forderung nach einer möglichst weiten „Kluft", „die die von ihm als Starke gedachten Oberen von den mit dem Titel ,Herde' bedachten Massen trennen soll". Und „hier ist auch der gefahrlichste Punkt und das gefährlichste Quiproquo seines gesamten leidenschaftlichen Wollens, hier der Punkt, wo auch die Frage der Sinnhaftigkeit seiner Idee des Übermenschen auftaucht". Denn „eben der verhängnisvollste Irrtum, der verhängnisvollste Fehlgang" Nietzsches war es, diese Massen nur als „Transmissionsmaterial", als etwas seelisch und geistig Gleichgültiges in seine Konzeption gestellt zu haben. In Wirklichkeit ist die Masse „ein dynamischer und also auch ein objektiver und aktiv zu bewertender" Faktor in jedem Geschichts- und Kulturprozeß. 121 Nach Weber ist die Aktivität der Massen jedoch vermittelt durch die schöpferische Tätigkeit der Elite. Die Geschichte zeigt angeblich, daß sich der „Durchschnittstyp" der Menschen eines Volkes, eines Zeitalters „aus der seelischen und geistigen Formung seiner Auslese durch Ausstrahlung derselben auf die Massen gebildet hat . . . Die Auslese schafft das seelisch-geistige Fluidum und . . . die Masse bildet den allgemeinen Durchschnittstyp daraus." Es gibt daher „gerade vom Standpunkt irgendeiner Auslese" aus in unserem Zeitalter des „heraufquellenden Masseneinflusses" nichts Gefahrlicheres, als „der Elite Pathos der Distanz und Kluftaufreißung zu predigen. Das heißt in solcher Zeit Predigt des Selbstmords einer solchen Elite. Sie wird dann von der sozialen Dynamik früher oder später genau so in die Luft gesprengt werden, wie es der ehemaligen privilegierten Aristokratie, der legitimistischen Monarchie und allem, was drum und dran hing, seit dem Ende des achtzehnten Jahrhunderts geschehen ist." Die „Realistik" '2! Ebd., S. 193, 194.

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predigt heute „eine neue Synthese zwischen Masse und frei aus ihr hervorgehender Elite". 122 Der Einfluß der Masse wird immer stärker: „Man wird ein Phantast, wenn man das übersieht". Weber möchte Phantasterei vermeiden, er bevorzugt große und kleine Reformen der bestehenden bürgerlichen Gesellschaft, und er arbeitet sein soziales Programm unter Berücksichtigung des „heraufquellenden Masseneinflusses" aus. Eine sozialistische Umgestaltung der Eigentumsverhältnisse lehnt er selbstverständlich ab, aber er tritt für eine planmäßige Entwicklung der Wirtschaft ein, die allen Arbeit, Existenz und Wohlstand sichert. Er bemüht sich, zu beweisen: „Weder der taylorisierte und fordisierte amerikanische Arbeiter ist trotz aller gegenteiligen Vorstellungen entpersönlicht, noch der englische. Beide sind trotz weitestgehender Verapparatung selbsturteilende, sogar sehr eifersüchtige Wächter des Gebrauchs ihrer selbstbestimmenden Freiheit, das heißt in unserer Sprache, Wächter ihres transzendent fundierten Menschentums." 1 2 3 Die Verhältnisse von Herrschaft und Unterordnung sind ein natürliches Gesetz des Daseins. Keine Gesellschaft kommt ohne eine leitende Schicht, eine Elite, eine „Auslese" aus. Deutschland muß sich nach der Zerschlagung des Faschismus eine neue Elite, eine neue Auslese schaffen, die ausgestattet ist mit praktischen Kenntnissen, einem weiten „Gegenwarts- und auch Geschichtshorizont", vor allem aber muß sie wissen, „daß des Lebens höchster Wert der Mensch und seine Entfaltung ist und daß solche Entfaltung tiefer gefaßt auch für das Alltägliche und den Alltags- und Durchschnittsmenschen nur geschehen kann aus der Erfassung eines Transzendentalhintergrunds des menschlichen und des allgemein lebendigen Daseins", d. h., die Herrschaftsverhältnisse müssen „vermenschlicht", der Kapitalismus „humanisiert" werden. 124 Webers Konzeption schließt jedes klassenmäßige Herangehen an den Nietzscheanismus aus. Für ihn ist der Prophet des Übermenschen lediglich der Gegner „seines Zeitalters und der Menschen seiner, der bürgerlichen Zeit des neunzehnten Jahrhunderts", obwohl Nietzsche selbst seine Gegnerschaft gegen eine historisch bestimmte Klasse, gegen das Proletariat, offen erklärt hat und keinen Hehl aus seinem Haß auf dessen im Sozialismus ausgedrückten sozialen Ideale machte. Wenn Nietzsche auf die historisch bedingten Forderungen dieser 122 Ebd., S. 193-194. '2' Ebd., S. 227. 124 Ebd., S. 231.

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Klasse zu sprechen kommt, enthebt er sich der Notwendigkeit, die „soziale Frage" zu analysieren, indem er sie für eine Folge der Dekadenz erklärt. Weber geht von der anderen Seite an das Problem heran: für ihn ist die soziale Frage eine „Folge der schrankenlosen Entfesselung des Erwerbstriebes" 125 . Daraus ergeben sich die Unterschiede und scheinbaren Gegensätze ihrer Lösungsmethoden. Nietzsche fordert die extremsten diktatorischen Maßnahmen, um die Arbeiterbewegung zu zügeln. Weber hingegen fordert eine Beschränkung des „Erwerbstriebes". Er appelliert an die Menschlichkeit der neuen Elite, der „Auslese", und versucht so, die „Rücksichtslosigkeit" und den „brutalen Extremismus" Nietzsches zu „überwinden" durch die illusorische Konzeption einer „humanen" bürgerlichen Gesellschaft, in der eine „geistig hochstehende Elite", eine auf das Praktische, das Politische und auf ganz andere reale Leitungsfunktionen ausgerichtete Auslese die führende Rolle besitzt. 126 Die kapitalistische Gesellschaft besitzt seiner Ansicht nach unerschöpfliche Entwicklungskräfte, und die eigentliche Gefahr liegt in der Bürokratisierung der staatlichen, wirtschaftlichen und geistigen Führung. Webers Lösung der sozialen Frage sieht Mitbestimmung der Arbeiter und Angestellten, ihre Gleichberechtigung in den Führungsgremien der Unternehmen, d. h. die Verwandlung der „Wirtschaftsuntertanen" in „Wirtschaftsbürger" vor, er fordert auch „Entflechtungen der Monopolverbindungen", „freie Sozialisierung" und „vermenschlichende Tendenzen" durch Wegräumen „menschenunwürdiger Abhängigkeit". 127 Die idyllische soziale Harmonie des Weberschen Sozialprogramms ist, wie man sieht, eine der geläufigen Utopien, das Problem der Überwindung des Nihilismus bleibt ungelöst. Der Utopie liegt eine theoretisch verzerrte Widerspiegelung einiger Wesenszüge des Verfaulens der kapitalistischen Produktionsweise zugrunde, sie ist eine liberale bürgerliche Reaktion auf die weitere Verschärfung der allgemeinen Krise des Kapitalismus nach dem zweiten Weltkrieg. In Worten fordert sie auf zur Klassenharmonie und zu einem Kräftegleichgewicht in der Welt, in der Tat jedoch tritt sie nicht nur dafür ein, den Sozialismus aufzuhalten, sondern auch dafür, ihn von den bereits erkämpften 125

Ebd., S. 110. '26 Ebd., S. 230. 127 WEBER, S., Der dritte oder der vierte Mensch. Vom Sinn des geschichtlichen Daseins, München 1953, S. 9 2 - 9 3 . 19

Oducv

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Positionen wieder zu verdrängen. Weber fürchtet vor allem einen möglichen Sieg des Volkes, der Werktätigen oder, in seiner Terminologie, des „vierten Menschen". Deswegen muß Europa seine ganze „kulturellgeistige Macht" aufbieten, denn im Kampf gegen den vom Kommunismus repräsentierten „vierten Menschentyp" wird es „in der Verteidigung der menschlichen Existenz des um Freiheit und Menschlichkeit integrierten Typs des Abendlandes in Wahrheit praktisch nun ganz allein auf dem Plan stehen".128

128 Ebd., S. 7 9 - 8 0 .

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Kapitel 12

„Natürlicher Humanismus" Karl Löwith

Der beliebteste Modebegriff der zeitgenössischen bürgerlichen Philosophie ist der Begriff „Humanismus". Heutzutage sind fast alle zu „Humanisten" geworden. Man betrachtet den Entwicklungsgang des europäischen Geistes, die Geschichte des philosophischen Denkens Europas (und der Welt) durch die Brille des „Humanismus". Auch Nietzsche wird davon nicht ausgeschlossen. Seine Philosophie wird nicht selten als ein bisher unverstandener und unentdeckter Neohumanismus aufgefrischt und propagiert. Das ist eine mehr als riskante Behauptung: sie durch objektive Forschung zu beweisen ist unmöglich. Er selbst hat jede Erscheinungsform von Humanismus und Humanität offen verhöhnt, er erklärte sie zu Anzeichen des Philistertums und der christlichen Entstellung des Lebens. Es handelt sich jedoch nicht um die Worte, sondern um das Wesen der „Umwertung aller Werte", die dem Imperativ des triumphierenden Willens zur Macht untergeordnet ist. Nichtsdestoweniger wird Nietzsche in den Rang eines Humanisten, mehr noch, in den Rang eines „echten Humanisten" erhoben, der eine neue Form des Humanismus errichtet hat, der frei ist von heuchlerischer Menschenliebe und moralischer Bigotterie, eines Humanismus der wahren Natur des Menschen, der den Bedürfnissen der gegenwärtigen Epoche, der Epoche des „allgemeinen Verfalls" entspricht. Was stellt dieser „natürliche Humanismus" aus der Sicht seiner heutigen Anhänger dar, nicht aus der Sicht der vielen profillosen Epigonen, sondern von Philosophen, die über Originalität des theoretischen Denkens verfügen, auch wenn sie in einem gewissen Maße ihre „humanistischen" Anschauungen auf der Autorität Nietzsches begründen. Wir wollen die Konzeption von Karl Löwith betrachten, wobei wir die vielen verstreuten Bemerkungen zu diesem Problem, die sich in seinen Nietzsche und anderen Denkern gewidmeten philosophiehistorischen Arbeiten finden, mit den systematisch dargelegten Ansichten seiner speziellen Forschungen zusammenfassen. Diese 19*

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„eigene" Konzeption ist zwar, um die Wahrheit zu sagen, nicht sehr originell, aber auf der von uns betrachteten Ebene durchaus nicht uninteressant. Löwith geht offen ahistorisch vor, er steht fest auf dem Standpunkt, daß die Natur des Menschen ewig und unveränderlich ist. Er spricht von der „ N a t u r " des Menschen und nicht vom „Wesen des Menschseins", obwohl sich die beiden Begriffe im philosophischen Sprachgebrauch meistens vermischen: „Die Natur als solche läßt sich durch kein ,Wesen' ersetzen". Dabei setzt er voraus, „daß diese Natur im 20. Jahrhundert oder im kommenden ,Atomzeitalter' keine wesentlich andere sein kann als im 5. Jahrhundert vor Christus oder im alten Ägypten. Wenn es eine dem Menschen eigentümliche Natur überhaupt gibt, dann kann sie in vergangenen Zeiten nicht wesentlich anders gewesen sein, als sie heute ist und auch künftig sein wird." 1 2 9 Die eigentliche Frage ist die, worin die Natur des Menschen besteht. Scheler hatte den Menschen als ein Lebewesen bestimmt, welches „transzendiert" — zu Gott oder dem Übermenschen. Nach Scheler fallt der entscheidende Unterschied überhaupt nicht zwischen Mensch und Tier, sondern zwischen den Menschen selbst; nämlich dadurch, ob sie Gott suchen und anerkennen oder nicht suchen und leugnen. Der Unterschied zwischen solchen Menschen, die Gott suchen, und solchen, die ihn nicht suchen, ist unendlich größer als der zwischen Mensch und Tier. Dagegen wendet Löwith ein: „Aber: woher weiß man denn, ob und wie Gott und das Sein, durch die sich das Menschenwesen ursprünglich bestimmen soll, überhaupt sind? Daß der Mensch und die Welt sind, sehen und wissen wir; ob beide dem Schöpferwillen eines unsichtbaren Gottes entspringen, läßt sich nicht einsehen; man muß es glauben." 130 Der Mensch ist vor allem ein Naturgeschöpf. Dagegen wäre nichts einzuwenden, wenn dies bei Löwith, erstens, nicht auch „letzten Endes" bedeutete (wie das aus seinen umfangreichen, aber nicht immer völlig klaren Überlegungen hervorgeht), und wenn er, zweitens, geneigt wäre, wissenschaftliche Vorstellungen über die Natur zu akzeptieren. „Um aber von der Natur des Menschen sprechen zu können", meint er, „muß man zum mindesten eine Ahnung von der Natur überhaupt und als solcher haben". Dazu kann man jedoch nicht die Begriffe der LÖWITH, K., Gesammelte A b h a n d l u n g e n zur Kritik der geschichtlichen Stuttgart i960, S. 184. I"' Ebd., S. 182, 183.

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Existenz,

modernen Physik übernehmen, weil — so behauptet er mit Bezugnahme auf W. Heisenberg — diese gar nicht den Anspruch erhebt, der Natur selbst zu begegnen. Er nimmt an, „daß auch die wahrhaft angemessenen und also natürlichen Aussagen über die Natur älter sein werden als die mathematische Physik der Neuzeit und daß sie in alter und neuer Zeit mit ein und derselben Natur übereinstimmen". Allerdings sind wir „weit davon entfernt, die Frage nach der natura naturans und der natura rerum, diese erste und letzte Frage jeder natürlich denkenden Philosophie beantworten zu können". Die letzte große philosophische Aussage über die Natur findet sich bei Nietzsche, der im letzten Aphorismus des „Willens zur Macht" beschreibt, was die Welt für ihn ist: ein unerschaffenes, absolut selbständiges Spiel von ewig in sich selbst flutenden Kräften, ohne Anfang und Ende, ein immer gleicher Wandel des sich selber Hervorbringens und in sich selber Zurückgehens, ohne Ziel, ohne Willen, eine ursprüngliche Selbsterhaltung und Selbstbewährung des lebendigen Seins. „Die Welt der Natur", summiert Löwith, „ist immer sie selbst". Auch die „Sonderstellung" des Menschen im physischen Kosmos ist dadurch bestimmt, daß ihn die Natur hervorgebracht hat und daß er selbst von der Welt ist. 131 Während aber Tiere und Pflanzen durch die Zugehörigkeit zu einer Gattung völlig bestimmt sind, scheint die „Menschlichkeit des Menschen" keine „natürliche Bestimmtheit" zu sein. Sie ist eher eine „Bestimmung, deren Herkunft, Tragweite und Ausdehnung ihm nicht von Natur aus gegeben, sondern Aufgabe und Problem ist". Der Mensch hat die „Formel seines Lebens" nicht: „Er sucht sie, er versucht es mit ihr, er experimentiert; er ist, mit Nietzsche gesagt, ein unfestgestelltes Tier, das über sich hinaus will und hinter sich selber zurückbleibt, ein,Mangelmensch', wenn man sein Wesen vom Tier oder auch von Gott her bestimmt. In diesem Mangel liegt das Positive des Menschseins . . . Die Nähe des Menschen zum tierischen Lebewesen, ineins mit seiner Entferntheit von ihm, macht den Menschen schon biologisch zu einem Rätsel, das sich nicht einfach, nach der einen Seite des allgemeinen Lebens oder nach der anderen Seite der je eigenen Existenz, simplifizieren und auflösen läßt. Er ist ein Naturwesen und zugleich zur Humanität bestimmt." 1 3 2 Herder schrieb seinerzeit die „Briefe zur Beförderung der Humanität". In der Neuzeit hat Heidegger einen „Brief über den HumaEbd., S. 187. i « Ebd..S. 188 -189.

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nismus" verfaßt. Heideggers „Brief ist jedoch nicht auf eine „Beförderung" der Humanität gerichtet, meint Löwith, sondern „bezweckt ihre Absetzung". Nach Heidegger ist Humanität „nichts Ursprüngliches, sondern das späte Ergebnis eines geschichtlichen Wandels, eine spätantike, römische Auslegung, die in der Renaissance neu belebt wurde", und der Versuch, dem verbrauchten Wort „Humanismus" seinen Sinn wiederzugeben, sei „unnötig", denn „jeder Humanismus sei durch die Metaphysik bedingt, die von Piaton bis zu Nietzsche vergessen habe, was das Sein ist. Der Mensch ist nicht human, sondern ein notwendig gewalttätiges Dasein im Verhältnis zur Übermacht des Seins, das ihn überwältigt." 133 Herder dagegen verstand, nach Löwiths Darstellung, Humanität noch als „menschengeschichtliche Aufgabe", als „Kunst unseres Geschlechts", als etwas, „wozu sich das Naturwesen Mensch heraufbilden muß, um nicht zur Brutalität herabzusinken", d. h., er versteht sie als eine kunstvolle Kultivierung des Menschengeschlechts, aber ihre Grundlage ist und bleibt die Naturbeschaffenheit des Menschen, die ihrerseits in einer sie umfassenden Naturgeschichte gründet. Der Schwerpunkt von Herders Humanitätsidee liegt in der „Fähigkeit zur Sprache und Schrift, zu vernünftiger Gesittung und Religion". Neben dem naturphilosophischen Hintergrund hat Herders Idee von der Humanität ihre Herkunft in der Spätantike, vor allem in den Schriften Ciceros. Bereits im 15. Jahrhundert wurde diese Idee wieder aufgenommen und in zahlreichen Traktaten „Über die Würde des Menschen" neu belebt. Löwith sieht im Wort humanitas eine Sinnverwandtschaft mit „urbanitas", welches im römischen Sprachgebrauch bedeutete, daß ein Mensch nicht grob und gewalttätig, sondern gesittet und maßhaltend, gebildet, leicht beweglich, anmutig und höflich ist, Eigenschaften, die heute noch im Begriff des gentleman ausgedrückt sind. Der durchgebildete, humane Mensch ist im engeren und weiteren Sinn „gebildet". Eine solche Auffassung ist auch in der Idee des Menschen bei Aristoteles und Konfuzius, im mittelalterlichen Ideal der Ritterlichkeit, im gentiluomo der Renaissance, bei Montaigne und Pascal enthalten. Es ist unschwer zu sehen, daß Löwith bei der Beschreibung der Humanismusidee solche Aspekte hervorhebt und betont, die zwar von den erwähnten Denkern neben anderen tatsächlich hervorgehoben wurden, die es ihm aber gestatten, der Humanität eine aristokratische Schattierung zu geben, so daß sie sich in eine Spezifik weniger Auserwählter verwandelt. Die Idee der 133 Ebd., S. 180.

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Humanität in diesem aristokratischen Sinne der Antike und der Renaissance (das unterscheidet Löwith nicht) ist nicht lebendig geblieben. Das liegt nach Löwith einerseits daran, „daß sie der allgemein um sich greifenden Vermassung, Vergröberung und Verallgemeinerung aller menschlichen Beziehungen zum Opfer fiel". Andererseits ging sie aber an einer „inneren Schwäche" zugrunde. Der Verfall der Humanität wurde unvermeidlich, als der Mensch in der Aufklärung begann, „das Maß seiner Menschlichkeit aus sich selbst zu entnehmen, wobei er sich von allem entfernt und entblößt hat, was ihn noch tragen und begründen könnte". Der ursprüngliche Begriff des Menschen bedeutet in der Antike (bei Plato) und in der christlichen Theologie einen Bezug zu Gott, zum Göttlichen. Eine letzte Ausprägung dieser christlich platonischen Bestimmung des Menschen vom Göttlichen her ist Hegels Begriff des Menschen als „Geist". Für den Schwund und Verlust der Humanität ist nicht nur die jüngste Phase des europäischen Nihilismus verantwortlich zu machen. Er beginnt bereits bei Herder und Goethe, die aus dem Glauben an das „Reinmenschliche" (Nietzsche hätte gesagt: das „Menschliche, Allzumenschliche" — S. O.) lebten. 134 Da der Begriff der Menschen und der Humanität in einer ursprünglichen Verbindung mit dem Christentum stand, wird die Menschlichkeit fragwürdig, sobald der christliche Gehalt aus ihr schwindet. Anfang des 19. Jahrhunderts hatten Feuerbach, Rüge und Marx geglaubt, das Christentum durch Humanität zu ersetzen, aber das hatte zur Folge, daß man schließlich auch der Humanität mißtraute (Stirner, Kierkegaard, Nietzsche). Eine weitere Folge dessen, daß die vom Christentum emanzipierte Menschlichkeit fragwürdig wurde, ist die „Dehumanisierung" des Menschen. Ihr eigentlicher Urheber ist, schreibt Löwith, Feuerbach. 135 Wie man sieht, versucht Löwith, die Schuld an der Dehumanisierung der menschlichen Beziehungen, an der Zerstörung der Humanität, die der Natur des Kapitalismus immanent sind, Feuerbach und der Philosophie des Marxismus zuzuschreiben. Für Feuerbach ist der Anfang der wahren Philosophie nicht mehr Gott oder das Absolute, sondern der endliche, sterbliche Mensch. Aber diese von Feuerbach proklamierte Tendenz auf den Menschen „als Menschen" besagt nur, daß „der zum Prinzip der Philosophie erhobene Mensch über sich keine Instanz mehr hat, von der her er sich bestimmen könnte." Der Mensch wird notwendig relativ auf den Menschen. Die nächsten 13" Ebd., S. 189-191. 135 LÖWITH, K., Von Hegel zu Nietzsche, Stuttgart 1958, S. 333.

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Schritte in der von Feuerbach eingeschlagenen Richtung hat Marx getan. 136 Löwith bestreitet nicht, daß sich Marx die edle Aufgabe gestellt hat, „den Menschen zum Menschen zu machen". Bei diesem Plan zur Wiedergewinnung des „wahren Menschen" identifiziert sich Marx mit dem „realen Humanismus" Feuerbachs. Aber Marx versteht den Menschen nur als einen „von Grund aus sich selbst entfremdeten Warenproduzenten". Nach Löwiths Interpretation schreibt Marx dem Menschen wie der Ware einen „fragwürdigen Doppelcharakter" von „Wertform und Naturalform" zu. Marx' Kritik des bürgerlichen Menschen erfolgt demzufolge „als Kritik seiner Gesellschaft und Wirtschaft, ohne damit ihren grundsätzlich anthropologischen Sinn zu verlieren". Marx wendet sich an das Proletariat und erhofft sich von ihm eine Aufhebung der Entfremdung „in der Allgemeinheit des allen gemeinsamen Wesens, eines Gemeinwesens mit Gemeinbesitz und Gemeinwirtschaft. Die wahre .Demokratie' in der Idee von Marx ist die zur Kosmopolis vollendete Polis, eine Gemeinschaft der Freien, deren Individuum kein Bourgeois, sondern ein zoon politikon ist." „Fragt man sich aber", wendet Löwith ein, „was denn nun diesen Menschen zum Menschen macht, so zeigt sich auch hier kein neuer humaner Gehalt, sondern nur eine radikale Durchführung des Prinzips der bürgerlichen Gesellschaft. Es ist die Produktion rein als solche, wenngleich in antikapitalistischer Art, die den Menschen gemeinhin zum Menschen macht, wenn sein allgemeines Wesen nur noch darin besteht, daß er ein ,Subjekt der Bedürfnisse' ist." Nachdem sich Löwith die Gedanken von Marx so zurechtgelegt hat, nimmt es nicht wunder, wenn es ihm folgerichtig erscheint, daß sich Stirner gegen diese „bürgerlichproletarische Welt" gewendet hat, um den „sich noch immer wesenhaft vorkommenden Menschen" durch sein „blankes Ich" zu ersetzen. 137 Stirner und Kierkegaard sind die ersten Künder des Nihilismus. Beide gehen vom einzelnen Menschen aus, beide glauben nicht mehr an das Menschsein der gegenwärtigen Menschheit und an das Christsein in der gegenwärtigen Christenheit. Kierkegaard versuchte das Problem zu lösen, ohne den Boden des Christentums zu verlassen. Er versuchte, wieder den Anfang zurückzuholen, als hätte es die 1800 Jahre Christenheit gar nicht gegeben, um so wieder zurückzukehren >'« Ebd., S. 335. i " Ebd., S. 336, 337. 339 -340.

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zum ursprünglichen Christentum. Kierkegaards christlicher wie humaner Grundbegriff ist der „Einzelne", und seine Kritik der Gegenwart gilt „ebensosehr der von Feuerbach, Rüge und Marx zum Prinzip erhobenen ,Menschheit' wie der von Gott emanzipierten ,Christenheit'. Sein Einzelner ist ein, Korrektiv' gegen die sozialdemokratische Menschheit und die liberal-gebildete Christenheit", schreibt Löwith. 138 Die Weltbewegung zielt auf eine unterschiedslose Nivellierung, und demgegenüber bedarf es einer Hervorhebung des Einzelnen. Im Gegensatz zu Stirner aber versucht Kierkegaard nicht, damit auch das „Allgemein-Menschliche" loszuwerden. „Stirner will", schreibt Löwith, „grundsätzlich zeigen, daß die Erhebung des Menschen zum höchsten Wesen auch nur eine letzte Verkleidung des christlichen Glaubens an ein Gottmenschentum ist". Stirners „Einziger" hat nicht mehr die Aufgabe, das AllgemeinMenschliche zu realisieren, sondern nur sich selbst zu genügen. „Feuerbach, Bauer und Marx", faßt Löwith die Haltung Stirners zusammen, „haben den Menschen herstellen wollen und den wirklichen ignoriert — denn wirklich ist nur der einzelne Mensch, wie er leibt und lebt, hier und jetzt, als dieser und jener. Sie alle glaubten noch wie die Pfaffen der Französischen Revolution an die Wahrheit des Menschen und handelten daher nach dem Grundsatz, den Menschen die Köpfe abzuschneiden, um dem Menschen als solchen zu dienen. Der Geist, von dem diese Kritiker des Geistes besessen sind, ist zwar kein absoluter und kein heiliger mehr, sondern der Geist der Humanität, aber diese höchst allgemeine Humanität ist vom wirklichen Ich so verschieden wie die allgemeine Idee von der einzelnen, nichtigen Existenz, die ich selbst bin." 1 3 9 Dieses „nihilistische Ich" muß, so meint Löwith, den Vertretern des allgemeinen Menschen als ein „Un-Mensch" erscheinen. Dieses Ich lebt weder im bürgerlichen Staat noch in der kommunistischen Gesellschaft — es lebt im „Verein" der Egoisten. Dieses „Ich" ist „das nichtige Ende der christlichen Humanität". Mit Marx, Stirner und Kierkegaard „reißt die an Hegel geknüpfte Kette von radikalen Versuchen zur Neubestimmung des Menschen ab". Die radikale Bewegung des Geistes versandet, und dem entsprach nach 1850 die politische Reaktion, in der Schopenhauer zur Wirkung Ebd., S. 342. u» Ebd., S. 341.

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kam. Erst Nietzsche hat wieder die Frage gestellt: Was ist das „unfestgestellte" Wesen „Mensch" ?i40 Nietzsche ist nach Löwith „der Erste und Einzige . . ., der die überlieferte Idee vom Menschen, seine .Humanität' bis an die äußerste Grenze in Frage stellt, ohne sie preiszugeben". Nietzsche hat den Menschen stets in bezug auf das Tier gedacht, nicht, um die Frage nach dem Wesen des Menschen zoologisch einzuschränken, sondern weil er das Verhältnis des „Bruchstückes" Mensch zum Ganzen des Seienden klären wollte. Der Mensch hat mit dem Tier den „Gesamtcharakter des Lebens" gemeinsam. Er hat — neben vielen anderen „tierischen" Eigenschaften, die Löwith nach Nietzsche zitiert — auch die, ein „unfestgestelltes" Tier zu sein. Einstmals war der Mensch durch den Glauben an eine oberste göttliche Autorität „festgestellt", welche ihm sagte, was er ist, und ihm befahl, was er sein soll. Aber „Gott ist tot", die Autorität, die bisher die Menschennatur überhöht und bestimmt hat, ist weggefallen. Damit verliert der Mensch seine Stellung zwischen Gott und Tier. Er steht nun, seinem eigenen Willen überlassen, vor der Möglichkeit des Aufstiegs zum Übermenschen oder des Absinkens zum Herdentiermenschen. Die gegenwärtige Menschheit tendiert zum Herdenmenschen. Demgegenüber will Nietzsche-Zarathustra eine „Überwindung" des Menschen durch den Übermenschen. Dabei ist ein „Ausbruch des Tierischen im Menschen" — findet Löwith — „immer noch besser als eine Erstarrung in der Technisierung, weil im Tierischen eine ursprüngliche Natur und eine vitale Kraft zum Vorschein kommen". Bereits in seinen Frühschriften zeigt Nietzsche „das Leidenschaftliche, Wilde, Grausame und Gewalttätige der Griechen Homers, deren vielgerühmte Humanität so gar nicht zu unserer modernen Vorstellung paßt". Das zeigt, „mit welcher Bestimmtheit und Schärfe Nietzsche die Hinfälligkeit der modernen Humanität erkannt und darum versucht hat, die wirkliche Humanität des Menschen wieder aus seiner Natur zu begründen". Es ist nicht seine Schuld, sondern historisch bedingt, daß er dabei „auf die Formel vom ,Willen zur Macht' verfiel". 141 Im Protest gegen diese „Humanität eines verweltlichten Christentums", welche das „Maß des Menschen" versetzt, entwickelt Nietzsche (nach Ansicht Löwiths) seine Kritik des modernen Menschen. Er fordert eine „Überwindung des Menschen", die das „Ganze der i"0 Ebd., S. 3 4 4 - 3 4 5 . M LÖWITH, K., Gesammelte Abhandlungen zur Kritik der geschichtlichen Existenz, a. a. O., S. 193, 194, 195.

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christlichen Humanität" annulliert. Diese Überwindung des Menschen ist der Übermensch. Der Übermensch ist die Antwort auf den Notschrei des „häßlichsten" Menschen, welcher der Mörder Gottes ist, und der „höheren" Menschen, deren „höheres Menschentum" darin besteht, daß sie sich noch verachten können, während der „letzte Mensch, der humanitäre Gegenwartsmensch" nicht mehr verachten kann und eben darum verächtlich ist.142 Warum muß der Mensch überwunden werden? Die Antwort auf diese Frage — sagt Löwith — ergibt sich „aus dem traditionellen Zusammenhang von Christentum und Humanität". „Das einzige Ich von Stirner, das sich selbst aus dem Nichts erschafft, und der Übermensch Nietzsches, der sich zur Überwindung des ziellos gewordenen Daseins der Menschen den Hammer der Wiederkunftslehre schafft, — das sind die beiden äußersten Konsequenzen aus der Problematik der christlichen Humanität." 143 Und weiter wird erklärt: Der innere Zusammenhang von Christentum und Humanität spricht sich bei Nietzsche darin aus, daß der Übermensch auftritt, als Gott tot ist. Mit dem Tod Gottes verliert der Mensch seine traditionelle Stellung als ein zwischen Gottsein und Tiersein gestelltes Wesen. Der Tod Gottes verlangt vom „sich selber wollenden Menschen", dem kein Gott sagt, was er soll, zugleich mit dem „Loswerden Gottes" auch eine Überwindung des Menschen. Der moderne Mensch ist auf sich gestellt, sein Dasein ist „wie das des Seiltänzers aus der Vorrede Zarathustras" wesentlich Gefahr; die Gefähr ist sein „ B e r u f ; alles andere wie „Glück, Vernunft, Tugend, Gerechtigkeit, Bildung, Mitleiden — der ganze Inbegriff der überlieferten Humanität ist nicht mehr verbindlich für Nietzsches Neubestimmung des Menschen". 144 Nietzsche hat, faßt Löwith zusammen, ein neues Bild des Menschen zu errichten gesucht, indem er die christliche Humanität bekämpfte und auf die Antike zurückgriff. „Weil es aber unmöglich ist, die geschichtliche Auswirkung des Christentums zunichte zu machen, bleibt — gerade aufgrund von Nietzsches Kritik der Humanität — die Frage, die er gestellt hat, bestehen." Es gibt kein Maß des Menschen mehr. Das „exzentrische Maß des Christentums" hat den griechischen Kosmos zerstört, aber es scheint seinerseits einer neuen „Maßregelung und Uniformierung der Menschen" zu weichen. Sowohl die humanitäre „Menschlichkeit" >42 LÖWITH, K.., Von Hegel zu Nietzsche, a. a. O., S. 345. Ebd., S. 3 4 5 - 3 4 6 . 14" Ebd., S. 346.

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als auch die sich heroisch dünkende Intoleranz verkennen die wahre Natur des Menschen: „Humanität (ist) kein ,Vorurteil', das man ablegen könnte, sondern zur Natur des Menschen gehörig". 145 Löwiths Argumentation ist ziemlich einfach. Wie bereits erwähnt, vernachlässigt er die sozial-historischen Faktoren vollständig oder ordnet ihnen eine zweitrangige Bedeutung zu. Der Mensch, argumentiert er, wird auf natürliche Weise gezeugt und geboren (auch wenn er mit allen Mitteln der medizinischen Technik in einer Klinik zur Welt kommt); er muß auf natürliche Weise sterben (auch wenn er sich selbst das Leben nimmt); es treibt ihn auf natürliche Weise zum anderen Geschlecht (auch wenn er die Zeugung künstlich verhindern kann) oder zu einem andern desselben Geschlechts; er ißt, verdaut, er atmet und schläft, er wacht und denkt, auch das geschieht von Natur aus. Gleichzeitig sind diese allernatürliche Phänomenen des menschlichen Lebens in besonderer Weise vermenschlicht. Zwar muß sich der Mensch wie ein Tier ernähren, um am Leben zu bleiben, aber er ißt zubereitete Nahrung. Die Befriedigung des Hungers ist beim Menschen vermittelt durch Akte des vorstellenden Denkens, er kann zwischen die Begierde und deren Befriedigung seinen Willen einschalten. Er muß, um menschlich leben zu können, die Natur durch Arbeit, d. h. durch destruktive Aneignung kultivieren und somit denaturieren. Dieses Künstliche, die techne, wird ihm zur „zweiten Natur". Dennoch bleibt der Mensch ein natürliches, ein biologisches Wesen: „Die Natur wäre .aber keine Natur, wenn sie sich hintergehen ließe, und kein vernünftiger Mensch kann bestreiten, daß er als ein Lebe-Wesen zur Welt kommt, das sich von Natur aus bewegt, nach Nahrung verlangt, heranwächst, altert, erkrankt und schließlich stirbt". 1 4 6 „Natürlich" am Menschen ist die Gabe der Rede, des Fragens und des Schweigens, und sogar der Selbstmord gehört zu den „eingeborenen Möglichkeiten der menschlichen Natur" und kennzeichnet diese in ausgezeichneter Weise. Allerdings ist die „Freiheit zum Tode" eine spezifisch menschliche Möglichkeit, welche ein äußerstes Maß an Abstandnahme, Vergegenständlichung und Entfernung voraussetzt. 147 Natürlich ist schließlich auch die Fähigkeit des Menschen zu transzendieren: „Fraglich ist nicht, ob der Mensch alles ihm von Natur i « Ebd., S. 347. • 4 6 LÖWITH, K., Gesammelte Abhandlungen zur Kritik der geschichtlichen Existenz, a . a . O . , S. 196, 197, 198. Ebd., S. 203.

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aus Gegebene überschreitet, denn das tut er schon immer, indem er darüber hinaus fragt, wohl aber, worauflnrt er sich übersteigt" 148 . Heute jedoch klingt das Wort „natürlich" falsch, weil es verflacht ist und den Beiklang des Gleichmäßigen und Harmlosen, des Friedlichen und nicht Übertriebenen hat. „Die Natur ist aber nicht nur natürlich, wenn sie wachsen und gedeihen läßt, sondern ebensosehr, wepn sie zerstört, die Erde erbeben, das Meer tosen und Vulkane ausbrechen läßt. Desgleichen gehören die heftigsten Leidenschaften des Menschen nicht minder zu seiner Natur wie die regelmäßige Atmung, der Schlaf und das stille Wachstum." 1 ^ Die von Löwith propagierte Naturkonzeption setzt die Kritik der historischen Vernunft fort, die die Lebensphilosophie begonnen hatte. Eigentlich gibt es keine Weltgeschichte: „Der die Welt mit der Geschichte vereinigende Ausdruck ,Weltgeschichte' ist selber schon das Ergebnis eines die Welt historisierenden und sie vermenschlichenden Denkens." Erst die Neuzeit hat diese Idee hervorgebracht. Auch die Frage nach dem Sinn der Geschichte ist selber schon eine historisch bedingte Fragestellung. Sie ist spezifisch jüdisch und christlich bedingt. Das Alte wie das Neue Testament sind erfüllt von einem Glauben an ein zielvolles Heilsgeschehen. Davon zehrt auch die moderne Geschichtsphilosophie. „Die christliche Zuversicht ist dem modernen Geschichtsdenken abhanden gekommen, aber die Sicht auf die Zukunft als solche ist herrschend geblieben. Sie durchdringt alles europäische Denken und alle Sorge um unsere Geschichte, um ihr Wozu und Wohin." Daraus ergibt sich für Löwith, daß der Marxismus nur eine moderne Heilslehre unter vielen anderen ist: „Erreichbar sind Ziele durch Fortschritt, sei es durch Vollendung des sich selbst begreifenden Geistes (Hegel), sei es zur wissenschaftlichen Positivität (Comte), sei es zur klassenlosen Gesellschaft (Marx), sei es als bewußtes Wollen zum Ende (Spengler) oder schließlich als Fortschritt zu einer universalen Religion als dem schöpferischen Ausweg aus einer untergehenden Zivilisation (Toynbee)". 150 Die Kritik des historischen Bewußtseins, die Abkehr von der Geschichte und von den Resultaten der gesellschaftlich-historischen Praxis ist bekanntlich eine Reaktion auf den unabänderlichen, feindlich und unverständlich erscheinenden Geschichtsprozeß, wenn dieser vom Standpunkt einer bestimmten sozialen Ordnung aus betrachtet wird, einer l4S

E b d . , S. 2 0 4 . E b d . . S. 2 0 7 .

15» LÖWITH, K . . Z u r K r i t i k d e r c h r i s t l i c h e n Ü b e r l i e f e r u n g . S t u t t g a r t 1 9 6 6 , S. 3 9 , 4 0 , 4 1 .

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Ordnung, die ihre Situation zur allgemeinen Norm erhebt und ihre eigene Unfähigkeit, diese Situation wissenschaftlich zu begreifen und zu verändern, für eine Tugend ausgibt. Die Flucht aus dem irdischen Jammertal bestätigt nur das Beklagenswerte und Unsichere der eigenen Lage. Für Löwith ist die Erfahrung der Geschichte nur „ein möglicher Anlaß und Anstoß, sich Umfassenderem und Verläßlicherem zuzuwenden, als es das Auf und Ab der wechselnden Geschicke der Geschichte ist". 151 Ungeachtet aller guten Absichten, nimmt diese Flucht aus der Realität bei ihm die Züge einer philosophiehistorischen Spekulation, bisweilen auch die einer sozialen Demagogie an. Er versucht offen, die Ergebnisse des progressiven bürgerlichen Denkens von Descartes bis Hegel herabzuwürdigen, wenn er auf dessen christlich-theologische Voraussetzungen und Implikationen hinweist. Ihn verläßt das Gefühl der Differenzierung, wenn er behauptet: „Die nachchristliche Philosophie ist religiös eine einzige Zweideutigkeit: sie denkt auf dem Boden der christlichen Überlieferung, aber so, daß sie den christlichen Glauben begründen will" 152 . Er kritisiert die Theologie, ohne den Kampf zwischen wissenschaftlicher und spekulativer Philosophie zu berücksichtigen und bezieht auch den dialektischen Materialismus in den Kreis seiner kritischen Analyse ein, wobei er ihn auf den Kopf stellt. In einigen Fällen könnte die Argumentation Löwiths bei der Kritik des historischen Idealismus wissenschaftlich-materialistisch scheinen, zum Beispiel da, wo er gegenüber den idealistischen Spekulationen junghegelianischer Prägung den objektiven Charakter der Naturordnung betont. Aber der philosophisch-weltanschauliche und idealistische Gehalt seiner Kritik wird sofort sichtbar, wenn er zur Betrachtung der Theorie des Geschichtsprozesses, besonders ihrer dialektisch-materialistischen Interpretation, übergeht. Die Geschichte wird in seiner Konzeption quasi von der Natur absorbiert. Die Anerkennung des Menschen als Subjekt des geschichtlichen Handelns, als aktiver Seite der zielgerichteten Umgestaltung der Welt der menschlichen Verhältnisse wird in jeder Form als Theologie und Heilsgeschichte abgelehnt. Er stellt der revolutionären, historisch-gesellschaftlichen Praxis die Natur entgegen, die in ein Quasisubjekt der Geschichte verwandelt wird. Natürlich kommt Löwith nicht umhin, den Fortschritt in Wissenschaft, Technik und Kultur anzuerkennen. Aber wie weit dieser isi Ebd., S. 224. 152 Ebd., S. 51.

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Fortschritt auch gehen mag, er ändert die Lage des Menschen nicht. „Der Tod ist die absolute Grenze", denn der „Tod ist die absolute Grenze alles sterblichen Wesens". Er zitiert Lucrez: „So müht sich das Menschengeschlecht umsonst immerfort ab und verzehrt in den nichtigen Sorgen sein Leben". Diesen Ausspruch bezeichnet er als die „klassische Ansicht vom Fortschritt". Sie ist der Fortschrittsidee aller nachchristlichen Geschichtsphilosophen direkt entgegengesetzt, dehn diese zielen auf Erfüllung und Vollendung oder — wie es Schlegel formuliert hat — darauf, „das Reich Gottes zu realisieren". Diese christliche Zuversicht auf eine künftige Erlösung ist bis heute festzustellen, auch wenn von Augustins procursus zum Gottesreich bis zu Hegels „Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit" und Marx' Erwartung eines irdischen Reichs der Freiheit eine fortschreitende Verweltlichung der Theologie der Geschichte vor sich gegangen ist. „Wer aber das Geschehen der Geschichte von vornherein in der Perspektive der Zukunft und eines auf sie gerichteten Fortschritts oder auch eines progressiven Verfalls sieht, der wird in dem, was bisher geschah, nur vorbereitende Vorstufen einer noch nicht an ihr Ziel gelangten Vorgeschichte erblicken."^ Grundlage des Fortschritts ist nach Löwith demnach der christlich motivierte, säkularisierte Wunsch nach einer besseren Zukunft, die jedoch unerkennbar ist. Die fortschrittliche Entwicklung ist verhängnisvoll, und das Verhängnis liegt gerade in dem, was diese Entwicklung scheinbar rechtfertigt: in ihrem ungeheuren Erfolg. „Eine unheimliche Koinzidenz von Fatalismus und Fortschrittswille kennzeichnet jetzt alles Denken über den Fortgang der Geschichte. Der Fortschritt ist nun über uns verhängt, er ist zum Verhängnis geworden." „Die Frage ist: gibt es für uns noch eine Instanz, die den an sich maßlosen Fortschritt begrenzen könnte, oder ist es unaufhaltsam, daß der Mensch alles machen wird, was er machen kann?" Der Mensch von heute ist sowohl befreit als auch gefesselt durch sein Können. Daß die Befreiung fesseln kann, hatte der Fortschrittsoptimismus des 18. und 19. Jahrhunderts nicht vorausgesehen. „Er selbst, der Fortschritt, schreitet nun unaufhaltsam fort, wir können ihn nicht mehr aufhalten und umkehren", was ein merkwürdiges Licht auf die These Hegels wirft, daß die Geschichte eine Geschichte der fortschreitenden Freiheit sein soll. Als Ausweg aus diesem „Dilemma des Fortschritts" hat Löwith selbst nichts anderes vorzuschla•53 Ebd., S. 142-143.

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gen, als daß „wir unser gesamtes Verhältnis zur Welt, und damit zur Zeit, von Grund aus revidieren". 154 Bei einer solchen Interpretation wird die Natur nicht nur als Demiurg ihrer selbst betrachtet, sondern sie verwandelt sich in ein Subjekt, welches sich ständig selbst wiedererschafft, und der Mensch wird zu ihrem Objekt, zu einem Produkt ihrer Selbstentwicklung. Zweifellos ist der Gedanke von der Selbstentwicklung der Natur als Antithese zum Mythos von der gottgeschaffenen Welt eine große Errungenschaft der materialistischen Philosophie; wenn jedoch aus diesem Gedanken willkürlich beliebige Schlußfolgerungen gezogen und zu einer Waffe gegen die materialistische Geschichtsauffassung gemacht werden, wie es Löwith macht, so ist das bestenfalls eine bedauerliche Verirrung. Er selbst ist sich offenbar der Verwundbarkeit einer solchen Position deutlich bewußt, und deswegen muß er, wenn er auf den Marxismus.zu sprechen kommt, sein Gewissen mit einigen Klitterungen belasten: er möchte die marxistische Philosophie als einen „materialistischen Idealismus" ausgeben, für den die „erste und ursprüngliche Natur . . . etwas Äußeres und Zufälliges" ist. 155 Löwith bemüht sich zu beweisen, daß die Tätigkeit des Menschen, der vollständig Naturwesen ist, keinen historischen Sinn und Zweck hat. Nicht der Mensch tritt auf und verändert die Natur und sich selbst in Übereinstimmung mit den in ihr feststellbaren objektiven Gesetzmäßigkeiten, sondern die Natur formt, nachdem sie einmal den Menschen unter einer Reihe anderer natürlicher Wesen hervorgebracht hat, die Welt seiner Bedürfnisse und die Sphäre seiner historischen Tätigkeit. Die Geschichte bewegt sich auf kein Ziel zu, und die Frage nach ihrem Sinn „ist letzten Endes eschatologisch bedingt".'56 Die Löwithsche Konzeption von der Natur und vom Menschen ist ein Musterbeispiel für die Krise des von der Lebensphilosophie und vor allem vom Nietzscheanismus geprägten bürgerlichen Geschichtsbewußtseins. Selbstverständlich gibt es in ihr kein „mutiges J a " zum dionysischen Kosmos und keine verwegenen Herausforderungen an einige Seiten der bürgerlichen Wirklichkeit. Es ist die theoretische Position der unbedingten apologetischen Akzeptierung der kapitalistischen Wirklichkeit als der „ewigen" und „natürlichen" sozialen Ordnung; es ist eine Konzeption des konservativen Konformismus, des stoischen Abfin'5" Ebd., S. 152, 153-154. 155 Ebd., S. 210. '5« Ebd., S. 40.

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dens mit dem vorhandenen Dasein, dem immer wieder das Attribut der „Unschuld" beigelegt wird, die sich aus dem unaufhörlichen Strom des Werdens und der ewigen Wiederkehr des Gleichen ergibt. Es ist kein Zufall, daß Löwith als ein eifriger Bewunderer und Verfechter dieser Idee Nietzsches auftritt. Mit seiner neuen Lehre von der ewigen Wiederkehr des Gleichen hat Nietzsche, nach der Meinung Löwiths, eine griechische Ansicht der Welt wiederholt, die ihm als klassischen Philologen bekannt war. Aber bei Nietzsche hat sich diese uralte Idee verhängnisvoll modernisiert: „Er sang mit gebrochener Stimme seinen neuen Hymnus auf die Unschuld des Daseins — auf dem Grunde einer christlichen Erfahrung . . . Er war so durch und durch christlich und antichristlich, protestierend und protestantisch, wollend und modern, daß ihn nur eine Frage vorantrieb: die nach der Zukunft und der Wille, sie zu schaffen." Die ewige Wiederkehr des Gleichen ist griechisch, aber die Orientierung auf die Zukunft und auch der „Wille zur Macht" sind ungriechisch, denn dieser zielt als ein Wille zu etwas auf die Zukunft. Wenn für die Griechen „die ewige Wiederkehr von Hervorgang und Rückgang den beständigen Wandel in Natur und Geschichte" erklärt, so fordert für Nietzsche die ewige Wiederkehr einen Standort „jenseits von Mensch und Zeit". Wenn die Griechen „Furcht und Ehrfurcht vor dem F a t u m " empfanden, macht Nietzsche „die übermenschliche Anstrengung, es zu wollen und zu lieben und sich mit ihm zu identifizieren". 157 „Die griechische ,Theorie' der ewigen Wiederkehr wurde ihm zu einem praktischen Postulat, das ihm als ,Hammer' diente, um den Menschen die Idee einer absoluten Verantwortung einzuhämmern und das Gefühl jener Verantwortung zu ersetzen, welches lediglich war, solange man noch in der Gegenwart Gottes lebte." Worin besteht dieses „Gefühl der Verantwortung"? Wie sich zeigt, besteht es in der „Erlösung" des Willens von und durch sich selbst, darin, daß der Wille lernt, „auch ,rückwärts zu wollen', das heißt er muß auch das Ungewollte und Nichtzuwollende willig auf sich nehmen". 158 Es ist nicht schwierig zu bemerken, daß die Idee der ewigen Wiederkehr in der Art, wie sie Löwith interpretiert, nichts anderes darstellt als einen modernen theoretischen Ersatz des Konformismus.

157 Löwith, K., Gesammelte Abhandlungen zur Kritik der geschichtlichen Existenz, a . a . O . , S. 138. 's« Ebd., S. 139. 20

Oduev

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Kapitel 13

Der phänomenologische Ansatz E. Fink

Unter den neuesten Strömungen der deutschen Philosophie sind die vielleicht populärsten, nicht nur vom Äußeren, von der Form, sondern auch von den Aufgaben her, die sie sich stellen, der Nietzscheanismus und die Phänomenologie innerhalb der Grenzen und mit den Zügen, die ihr Begründer festgelegt hat. Bekanntlich hat E. Husserl die transzendentale Phänomenologie als eine „strenge" philosophische Wissenschaft konstituiert, als ein rationalistisches logisch-erkenntnistheoretisches System, das beansprucht, eine allgemeine methodologische Grundlegung für die seiner Meinung nach in Positivismus und Objektivismus versinkende Wissenschaft zu sein, als eine Art von „Wissenschaftslehre", deren Ziel in der Erforschung der wissenschaftlichen Erkenntnis als solcher besteht. Die Hauptfunktionen der Philosophie sah er darin, das Wesen von „Ding", „Vorgang", „Ursache", „Wirkung", „Raum", „Zeit" usw. zur Klarheit zu bringen. Im Unterschied zur Wissenschaft, die Theorien zur systematischen Erledigung ihrer Probleme errichtet, muß der Philosoph nach Ansicht Husserls danach fragen, was das Wesen der Theorie ist, was Theorie überhaupt möglich macht usw. „Erst die philosophische Forschung ergänzt die wissenschaftlichen Leistungen des Naturforschers und Mathematikers so, daß sich reine und echte theoretische Erkenntnis vollendet." 159 Husserl betrachtete sich als einen Vertreter der „reinen" akademischen philosophischen Schule, die von den Sorgen des Alltagslebens weit entfernt ist und überzeitlichen und unpersönlichen Charakter trägt. Ihre Schlußfolgerungen haben die Bedeutung ewiger, absoluter Wahrheiten und hängen weder von gesellschaftlichen noch von persönlichen Verhältnissen ab. Husserl lehnt die sogenannte weltanschauliche Philosophie nicht ab, aber er legte ihr weit geringeren Wert bei, denn die Weltanschauung beruht nicht auf wissenschaftlicher Erkenntnis, 159 HUSSERL, E., Logische Untersuchungen, Bd. 1.1, 1.2, und 2, Halle 1913-1921, S. 254. 20*

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sondern ist lediglich eine Idee, eine inhaltliche Vorstellung über den Sinn des Lebens, sie gibt Hinweise zur Orientierung in Lebenssituationen. Die Vorstellung vom Sinn und Ziel des Lebens und noch mehr die Lebenssituationen selbst unterliegen den Launen der Zeit und sind von den Beziehungen zwischen Personen determiniert. Folglich ist jede weltanschauliche Philosophie vergänglich und versperrt den wirklichen Weg zur Wahrheit. Unter diesem Aspekt sind Nietzsche und Husserl Antipoden. Nietzsche gesteht dem philosophischen Denken keinerlei Ansprüche auf Wissenschaftlichkeit zu, mehr noch, er sieht darin das Grundübel aller bisherigen Wissenschaft von der Weisheit. Er sprengt das Fundament wissenschaftlicher Argumente, er wirft die logischen Krücken weg und errichtet das Gebäude seiner Philosophie auf der „lebendigen" Grundlage des Lebens. Philosophie ist für ihn dekorative „Gartenkunst", die Kunst des Wertens, der zielgerichteten Interpretation und Falsifikation der Welt. Es gibt, wie es scheint, keinerlei Gemeinsamkeit. Dennoch sind Berührungspunkte zwischen ihnen nicht nur hypothetisch, sondern tatsächlich vorhanden, man kann sie finden und bestimmen. Es ist nicht einmal nötig, sie um jeden Preis ausfindig zu machen (obwohl, wie wir bemerken möchten, ihre Feststellung auch für marxistische Forscher keine geringe philosophiehistorische Bedeutung haben könnte, beispielsweise für eine vollständige Klärung der allgemeinen Gesetzmäßigkeiten der Entwicklung des bürgerlichen philosophischen Denkens unserer Zeit), es genügt, die Werke jener Autoren zur Hand zu nahmen, die aus ihrer genetischen Beziehung zur transzendentalen Phänomenologie kein Geheimnis machen und über Nietzsche schreiben. Der erste bürgerliche deutsche Philosoph, der Verbindungsglieder zwischen Nietzsche und Husserl bemerkte, war M. Heidegger, in dessen philosophischen Anschauungen, angefangen bei „Sein und Zeit", einige Postulate der Philosophie Nietzsches mit einigen Grundprinzipien der Phänomenologie zu einem neuen System verschmolzen. Paradox erscheint daran zunächst, daß der Schüler Husserls, der sich selbst zu einem Nachfolger und Fortsetzer der Ideen seines Lehrers erklärte, die Postulate der Phänomenologie mit Erfolg für eine konsequente Kritik der wissenschaftlichen Erkenntnis und der wissenschaftlichen Philosophie einsetzte. Husserl protestierte zornig gegen die Schlußfolgerungen seines ehemaligen Assistenten, da er in ihnen nicht nur ein Nichtverstehen, sondern eine direkte Verfälschung seiner Lehre sah. 308

Dennoch fand die Heideggersche Deutung der Phänomenologie später breite Anerkennung. Worum geht es? Bei einer näheren Analyse stellt sich heraus, daß das Paradoxon in der logisch-methodologischen Struktur der Husserlschen Phänomenologie selbst, in der Inkonsequenz und Widersprüchlichkeit dieses Systems begründet ist. Husserl ließ sich bei der Schaffung seines Systems von dem Vorhaben leiten, eine Kritik seiner Epoche, die in eine tiefe Krise geraten war, zu geben. Die Wurzeln der Krisensituation, von der die westliche Welt erfaßt worden war, sah der Begründer der phänomenologischen Schule in der Krise der wissenschaftlichen Erkenntnis ; hieraus ergab sich auch das Grundpostulat seiner Lehre — das Programm einer „radikalen Erneuerung der Wissenschaft" und der Versuch, dem menschlichen Dasein auf der Grundlage der transzendentalen Phänomenologie eine „neue Orientierung" zu geben. Schon deswegen war er gezwungen, die Grenze zwischen „wissenschaftlicher" und „weltanschaulicher" Philosophie zu überschreiten und sich auf fremdes Territorium zu begeben, wo damals vorwiegend die Lebensphilosophie herrschte. Da Husserl die immanenten Krisenerscheinungen seiner Zeit nicht verstand, konnte er folglich in seiner Wissenschaftslehre auch nicht das ganze Wesen dieser Krise der wissenschaftlichen Erkenntnis erfassen; seine Kritik der Wissenschaft geht nur in eine Richtung — er wirft ihr vor, daß sie ihre Bedeutsamkeit für die Lebensorientierung des Menschen verloren habe, weil sie die Frage nach dem Sinn oder der Sinnlosigkeit der menschlichen Existenz aus ihrer Sphäre ausgeschlossen habe. Dieser wichtige an die damalige Wissenschaft im allgemeinen und an die Geisteswissenschaften insbesondere gerichtete Vorwurf ist selbstverständlich begründet, und Husserl war nicht der erste, der das festgestellt hat. Aber er verwandelt dies in die Hauptursache für den Sündenfall seiner Epoche. Der Enthusiasmus seiner Kritik am „naturalistischen Objektivismus" geht so weit, daß sie sich in eine Kritik der Wissenschaft selbst, des Rationalismus und der wissenschaftlichen Philosophie verwandelt. Die Philosophie muß, um ihre Funktion gegenüber den Einzelwissenschaften erfüllen zu können, seiner Meinung nach den Objektivismus und Positivismus entschlossen überwinden, indem sie eine radikale Umkehr vom Objekt zum Subjekt vollzieht. Dies unternahm er in seinen eigenen philosophischen Untersuchungen in einigen aufeinanderfolgenden Stadien: zunächst als Umkehr von den faktisch-realen Objekten zu subjektiv-physischen Prozessen, ohne jedoch aus ihnen reale UrsacheWirkung-Beziehungen auszuschließen, dann als Umkehr vom „objektivierten", durch den Ursache-Wirkung-Zusammenhang bedingten Ob309

jekt zu den „Ideen", zu ideellen gegenständlichen Bedeutungen und schließlich über diese und mit Hilfe dieser zum „transzendental-intentionalen Leben des Bewußtseins", welches der grundlegende Faktor des Daseins ist. Nach Husserls Gesamteinschätzung konnte die Philosophie bis heute ihrer Grundfunktion, der Funktion einer Orientierung für das menschliche Leben, nicht gerecht werden, weil sie entweder in einen naiven „objektiven" Rationalismus verfiel und die Grenzen der Erkenntnis übermäßig einengte, indem sie sie auf eine ihrer besonderen Erscheinungsformen, die wissenschaftliche Erkenntnis, reduzierte, oder aber dadurch, daß sie nicht weniger naiv an die objektive, vom Menschen unabhängige Existenz der Außenwelt glaubte, d. h. einfacher gesagt, deswegen, weil sie rationalistischen oder materialistischen Traditionen folgte. Der zentrale Punkt der neuen Lebensorientierung, wie sie die Phänomenologie verspricht, ist das Problem der freien schöpferischen Aktivität. Die gesamte bisherige Philosophie ging nach Ansicht des phänomenologischen Denkens lediglich von der äußeren Erfahrung aus und orientierte den Menschen in seiner Tätigkeit auf ein gewisses ideales, vollendetes und statisches Muster, auf eine schon in gewisser Weise konstruierte Welt, die als Maß des Daseins galt. Die Bewegung der Weltgeschichte stellte sich ihr als eine Annäherung an dieses Muster dar, als eine Übereinstimmung mit ihm, welche von universellen, objektiven Gesetzmäßigkeiten der äußeren Welt determiniert ist. Der Mensch erwies sich nur als ein Glied in der Kette der Ursache-Wirkung-Zusammenhänge der Welt und seine Freiheit als eine Illusion, eine Fiktion. Der Mensch wird nur dann frei, wenn er sich und seine Tätigkeit von der Determinierung durch äußere Bedingungen „befreit" und sich von den „ewigen" objektiven Gesetzen, von der konstruierten Welt als Muster für die Nachahmung (aber nicht für „freies" Handeln) emanzipiert. Zwar ist die menschliche Freiheit, da die Entscheidungen des Menschen die ihn umgebende Welt betreffen und er auf diese Welt „ausgerichtet" ist, in jedem konkreten Fall keine absolute und grundlose, aber sie ist immer die Freiheit des Anders-Handelns. Die Aktivität des Menschen ist frei: er kann so handeln, aber er kann auch anders vorgehen. Es gibt keinen Rahmen, der die Freiheit und die menschliche Aktivität überhaupt begrenzt, es gibt nur einen Rahmen für eine bestimmte Situation. Hier, in dieser von der Phänomenologie ausgearbeiteten Theorie der freien Aktivität, ist deutlich der Gebirgswind des Zarathustraschen Voluntarismus oder auch des „schöpferischen Triebes" anderer Varianten der Lebensphilosophie zu spüren. 310

Husserl hat einmal gesagt, die wirklich konsequenten Bergsonianer seinen die Phänomenologen. 160 Dieses Eingeständnid ist kein lapsus lingüae keine zufallig hingeworfene Phrase, sondern Ausdruck der Verwandtschaft der Grundvoraussetzungen der Phänomenologie und der Prinzipien des Bergsonianismus, und nicht nur des Bergsonianismus, wenn man die Frage weiter betrachtet und dabei die phänomenologische Konzeption der „Lebenswelt", die nach Husserl Grundlage jeder objektiven Erkenntnis und Voraussetzung jedes experimentellen und praktischen Handelns ist, die Betonung der Rolle der „unmittelbaren Evidenz" und des unreflektierten Glaubens an die Erkenntnis, die scharfe Abgrenzung der Lebensprozesse von den physikalischen Prozessen, der Geisteswissenschaften von den Naturwissenschaften, die Zerstörung des Monismus der wissenschaftlichen Erkenntnis usw. berücksichtigt. Selbstverständlich darf dabei nicht übersehen werden, daß die Phänomenologie mit ihrer Problematik in gewissem Maße einen Gegensatz zur Lebensphilosophie und einen Versuch darstellt, deren Begrenztheit zu überwinden: diese konnte sich nicht von den „Vorurteilen" des naturalistischen Objektivismus befreien und propagierte ihren psychologisch fundierten Irrationalismus zu aufdringlich. [15] Die heutigen Anhänger der Phänomenologie ziehen es vor, die prinzipiellen Unterschiede nicht zu akzentuieren, die die von ihnen vertretene Richtung von der Existenzphilosophie und besonders ihrer existentialistischen Variante trennen, in der diese beiden Strömungen sich untereinander vereinen und eine neue bilden, die sich existentielle Phänomenologie (oder „Fundamentalontologie") nennt. Nicht besonders betont wird dieser Aspekt auch in bezug auf den Nietzscheanismus, der — sobald bei phänomenologischen Forschern die Rede auf seine Interpretation kommt — entweder auf die Ebene der Phänomenologie erhoben wird oder, umgekehrt, diese in seiner Strömung auflöst. Offenbar kann sich die Phänomenologie in unserer Zeit, einer Zeit der erhöhten weltanschaulichen Aktivität der Philosophie, nicht ausschließlich auf die akademische Autorität ihres Begründers stützen, der versucht hatte, ein streng wissenschaftliches System zu schaffen; sie möchte aus den Universitätshörsälen heraustreten und sofort, am Ausgang, begegnet sie dem Nietzscheanismus. Als ein Musterbeispiel des phänomenologischen Herangehens an

160

KAKABADZE, Z. M., Problema ekzisteneial'nogo krizsa i transcental'naja tenomenologija Edmunda Gusserlja, Tbilissi 1966, S. 138.

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den Nietzscheanismus gilt in Westeuropa das Buch von E. Fink „Nietzsches Philosophie". Es stellt eine tendenziöse Untersuchung dar, in welcher vortreffliche Materialkenntnis und meisterhafte Formbeherrschung einem vorher festgelegten Ziel untergeordnet werden, und zwar dem Ziel, die ontologischen Anschauungen Nietzsches zu explizieren, indem seine Aussagen über Psychologie, Kulturphilosophie, Anthropologie usw. einer Analyse unterzogen werden. Unter diesem Gesichtspunkt werden die schöpferische Entwicklung dieses Denkers und seine menschliche Biographie, Aufstieg, Höhepunkt und Untergang seines Talentes betrachtet. Ist Nietzsche nicht nur ein umgekehrter Metaphysiker oder eröffnet seine Philosophie eine neue ursprüngliche Seinserfahrung? Das ist das Leitmotiv der Untersuchung, in der die Fragestellung auch schon die Antwort enthält. Fink versucht, die philosophische Symbolik des „Zarathustra" in seine ontologisch-phänomenologische Sprache zu übersetzen, und er führt diese Übersetzung taktvoll und sogar mit einer für die Anhänger seiner Schule unerwarteten Kunstfertigkeit aus. Die Methode an sich ist nicht neu — man nimmt von Nietzsche das, was man braucht oder was einem gefallt, und bedient sich dabei der Vieldeutigkeit und Widersprüchlichkeit seiner Anschauungen. Im Ergebnis dieser „Übersetzung" wird das philosophische System Nietzsches ontologisiert und bildet eine künstliche Brücke, über die die klassische deutsche Philosophie übergeht in die Gegenwart — in Phänomenologie und Existentialismus. Nietzsche ist „eine der großen Schicksalsfiguren der abendländischen Geistesgeschichte", einer Geschichte, die er als „Geschichte des längsten Irrtums" bekämpft. Dabei kämpft Nietzsche nicht mit den Mitteln der begrifflichen Destruktion, sondern er verwirft den Begriff und bekämpft den Rationalismus als „gedankliche Vergewaltigung der Wirklichkeit". Er führt seinen Kampf auf breiter Front und setzt alle Mittel ein, über die er verfügt. Daß dieser Kampf die Form einer umfassenden Kulturkritik hat, verdeckt nach Fink die tiefe Tatsache, „daß es bei Nietzsche wesentlich nur um eine philosophische Auseinandersetzung mit der abendländischen Metaphysik geht". Tatsächlich unterwirft Nietzsche die ganze Kulturvergangenheit seiner vernichtenden Kritik, aber „der Philosoph Nietzsche ist durch den Kulturkritiker, den geheimnisvollen Auguren, den sprachgewaltigen Propheten verdeckt und verstellt. Masken verdecken das Wesen." Fink will hinter diese Maske schauen, er sucht Nietzsches Philosophie; diese ist „verborgen in seinen Schriften, verborgen in der Pracht seiner Sprache, in der Verführungsgewalt seines Stils, in der Isoliertheit seiner Aphorismen und verborgen 312

hinter der faszinierenden, den Blick immer wieder auf sich ziehenden Persönlichkeit". 161 Nach Fink kehrt Nietzsche zurück zu Heraklit, sein Kampf beginnt gegen die bei Piaton und den Eleaten ausgehende metaphysische Tradition. So geht nach zweieinhalb Jahrtausenden eine Wiederholung Heraklits vor sich, mit dem ungeheuren Anspruch, die lange Gedankenarbeit der Zeit zwischen Heraklit und Nietzsche wegwischen zu können, der Menschheit einen neuen und doch uralten Weg zu weisen, der im Widerspruch zur ganzen Tradition steht. Allerdings verachtet Nietzsche die Metaphysik und bekämpft sie nicht deswegen, weil er die ontologische Frage der Metaphysik unzureichend findet und sie überwinden will, sondern er sieht sie „moralisch", er nimm.t sie „als einen Lebensvorgang, in dem Werte zur Herrschaft kommen, die das Leben verkümmern, niederhalten, schwächen". Er sieht die Metaphysik in der „Optik des Lebens". Zum Beispiel sieht er in der Unterscheidung von Erscheinung und Ding an sich ein „Ausdrucksphänomen eines sinkenden Lebensgefühls", welches sich im Sinnfälligen nicht mehr heimisch fühlt und daher die „Hinterwelt" eines „Jenseits" der Erscheinungen erfindet. Nietzsche, schlußfolgert Fink, stellt die „Seinsfrage" gar nicht: „Die Seinsfrage wird überdeckt von der Wertfrage". 1 6 2 Fink will das, was für Nietzsche „eine selbst nicht mehr reflektierte Grundentscheidung war", in seiner Auslegung „zu einer ausdrücklichen Frage" machen. Nietzsche siedelt seine Problematik „auf dem undurchsichtigen Grunde des Wertphänomens" an, sie wird nur verständlich, wenn „die Interpretation des Seins als ,Wert' durchgeklärt wird". 1 6 3 Fink hat ohne Zweifel recht, wenn er behauptet, daß man die Philosophie Nietzsches nicht nach einzelnen Werken oder nach Perioden in seinem Denken betrachten sollte, sondern nach seinen Grundmotiven, obwohl er selbst jedes bedeutende Werk einzeln analysiert. Aber das ist kein Widerspruch: er betrachtet das Werk Nietzsches chronologisch und sucht und findet dabei bestimmte Züge und Grundmotive, vor allem natürlich diejenigen, die Fink zu seiner Untersuchung veranlaßt haben. Bereits in der „Geburt der Tragödie" spricht er ein zentrales Motiv seiner Philosophie erstmals aus. Er formuliert es in einer ästhetischen Kategorie: „Im Phänomen des Tragischen erblickt er die wahre Natur der E„ Nietzsches Philosophie, a. a. O., S. 79, 13. Ebd., S. 13, 14, 15. '"• Ebd.,S. 118—119. 397

mit dem Sein selbst nichts ist", definiert Heidegger. Und er meint, Nietzsches Metaphysik, die eine vollständige Umwertung aller bisherigen Werte denkt, vollendet damit die Entwertung der bisherigen obersten Werte ; sie vollendet damit den Gang der bisherigen Geschichte des Nihilismus, sie ist „eigentlicher Nihilismus". Daraus folgt, daß „Nietzsches Nihilismus nicht nur den Nihilismus nicht überwindet, sondern ihn auch nie überwinden kann". Denn gerade in dem, worin und wodurch Nietzsche den Nihilismus zu überwinden meint, in der Setzung neuer Werte aus dem Willen zur Macht, kündigt sich erst der eigentliche Nihilismus an: daß es mit dem Sein selbst, das jetzt zum Wert geworden ist, nichts ist. Nietzsches Metaphysik „ist demnach keine Überwindung des Nihilismus. Sie ist die letzte Verstrickung in den Nihilismus." 117 Der zweite Grund: Das „seins-geschichtliche Wesen" des Nihilismus, schreibt Heidegger, zeigt nicht die Züge, die man gewöhnlich mit dem Namen „Nihilismus" in Verbindung bringt (das Herabsetzende und Zerstörende, den Niedergang und Verfall). Das Wesen des Nihilismus „enthält nichts Negatives von der Art des Destruktiven, das in menschlicher Gesinnung seinen Sitz hat und in menschlicher Handlung sich umtreibt", es ist „überhaupt nicht die Sache des Menschen, sondern die Sache des Seins selbst", und nur dadurch erst wird es zur Sache des Wesens des Menschen und zugleich einer Sache des Menschen. Wenn jenes Negative nicht zum Wesen des Nihilismus gehört, soll damit nicht „die Wirklichkeit der destruktiven Erscheinungen" übersehen, geleugnet oder für gleichgültig erklärt werden. Heidegger bemüht sich zu zeigen, daß diese „Herrschaft des Destruktiven" aus dem „Uneigentlichen des Nihilismus" entstammt, jenes „Uneigentliche" hat aber gleichzeitig auch das „Nichtfragen und Nichtfragen-können nach dem Wesen des Nihilismus" zur Folge. Man kommt dem Wesen des Nihilismus näher, wenn man ihn als etwas Positives auffaßt, aber man erreicht es auch damit nicht. „Denn das Positive teilt sich mit seinem Gegensatz in denselben Bezirk. Aufstieg gegen Verfall, Aufgang gegen Niedergang, Erhebung gegen Herabsetzung, Aufbau gegen Zerstörung spielen sich als Gegenerscheinungen im Bereich des Seienden ab. Das Wesen des Nihilismus aber geht das Sein selbst an." 1 1 8 Die Frage nach der „Wesenseinheit des Nihilismus" (d. h. die Frage H E I D E G G E R , M„ Nietzsche, Bd. 11, a. a. O., S. 336, 337, 338, 340. ii« Ebd., S. 362—364. IN

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nach der Einheit von Positivem und Negativem im Wesen des Nihilismus) läßt sich, meint Heidegger, „nicht unmittelbar beantworten". Er begnügt sich daher „mit der Einsicht, daß im Wesen des Nihilismus Unterschiedliches waltet, welches Unterschiedliche das Sein selbst angeht". Diese Einsicht in das Unterschiedliche im Wesen des Nihilismus wirft ein neues Licht auf das Vorhaben, den Nihilismus zu überwinden. Was heißt Überwindung? Überwinden, antwortet Heidegger, „bedeutet: etwas unter sich bringen und das so unter-sich-Gelassene zugleich hinter sich bringen als dasjenige, was fortan keine bestimmende Macht mehr haben soll". Den Nihilismus überwinden zu wollen, der jetzt in seinem Wesen als „Sache des Seins selbst" gedacht wird, hieße, „daß der Mensch von sich aus gegen das Sein selbst in seinem Ausbleiben anginge. Doch wer oder was wäre je vermögend genug, gegen das Sein selbst, in welcher Hinsicht und Absicht auch immer, anzugehen und es unter die Botmäßigkeit des Menschen zu bringen?" Das Sein ist nicht zu überwinden, und schon der Versuch dazu „fiele auf das Vorhaben zurück, das Wesen des Menschen aus der Angel zu heben". Das Vorhaben einer Überwindung des Nihilismus wird hinfällig, „wenn damit gemeint ist, daß der Mensch von sich aus je diese Geschichte unter sich bringe und in sein bloßes Wollen zwinge. Eine Überwindung des Nihilismus ist auch in dem Sinne irrig, daß menschliches Denken gegen das Ausbleiben des Seins anginge." Das „Ausbleiben des Seins in seiner Unverborgenheit" ist das „Eigentliche" des Nihilismus, zugleich aber ist es die „Wesensmöglichkeit des Menschen". „Das Sein selbst entzieht sich, aber als dieser Entzug ist das Sein gerade der Bezug, der das Wesen des Menschen als die Unterkunft seiner (des Seins) Ankunft beansprucht." Das Denken muß dem „Ausbleiben des Seins" entgegendenken, zunächst damit, daß es das Sein und sein Ausbleiben anerkennt, dann aber dadurch, daß es „den entscheidenden Schritt zurück vollzieht", zurück „in den Bereich, der vom Sein selbst schon längst dem Denken gelassen ist, gelassen in der allerdings verhüllten Gestalt des Wesens des Menschen". 1 1 9 Im Wesen des Menschen drückt sich das Sein aus oder, wie Heidegger es formuliert, das Sein hat sich „dem Wesen des Menschen zugesprochen", hat sich ihm „vor- und eingesprochen". Die Metaphysik kann das Geheimnis des Seins nicht lösen: „Doch das Sein — Was ist das Sein? Es ist Es selbst.

11» Ebd., S. 365, 366, 3 6 7 - 3 6 8 .

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Dies zu erfahren und zu sagen, muß das künftige Denken lernen." 120 Im Verlaufe der Geschichte des menschlichen Denkens entsteht der „Anschein, als habe der Mensch, freigeworden zu seiner Menschlichkeit, die Ordnung des Weltalls frei in sein Vermögen und Verfügen genommen" 1 2 1 . Darin sieht Heidegger einen tragischen Irrtum der Vernunft. Das Sein bleibt ihm verborgen, nur das Seiende ist unverborgen. Mit dem „uneigentlichen Nihilismus" aber wird das Seiende „nichts", es wird entwertet. „An die Stelle der geschwundenen Autorität Gottes tritt die Autorität des Gewissens und der Vernunft. Gegen diese erhebt sich der soziale Instinkt. Die Weltflucht ins Übersinnliche wird ersetzt durch den historischen Fortschritt. Das jenseitige Ziel einer ewigen Seligkeit wandelt sich um in das irdische Glück der Meisten. Die Pflege der Kultur der Religion wird abgelöst durch die Begeisterung für das Schaffen einer Kultur oder für die Ausbreitung der Zivilisation. Das Schöpferische, vormals das Eigene des biblischen Gottes, wird zur Auszeichnung des menschlichen Tuns. Dessen Schaffen geht zuletzt in das Geschäft über." 1 2 2 Nietzsche hatte den Glauben daran, daß das Nichts abwendbar ist, nicht verloren, er glaubte, daß nach der langen Nacht des Nihilismus eine neue „Morgenröte" leuchten wird, daß ein „Jahrhundert der Feiertage" kommt. Heidegger, der das „Eigentliche" des Nihilismus erkannt hat, kann diesen Glauben seines Vorfahren nicht teilen: die Prophezeiungen erfüllen sich nicht. Nun hat, wie er selbst glaubt, Heidegger das Wort, denn ihm ist es nach seiner Überzeugung als erstem gelungen, sich aus der Klammer des metaphysischen Denkens zu befreien; in seinen philosophischen Offenbarungen dringt zum ersten Male die Stimme des Seins durch. Aber das Sein ist, wie der Übermensch, „wortkarg", es „bleibt" aus. Aber es kann zu jedem beliebigen Zeitpunkt in die wirkliche, alltägliche Geschichte der Menschheit einbrechen. Historische Ereignisse, politische Bewegungen, Völker und Staaten erfahren sich zufällig als Sein. Das Sein kann auch zum Los einer einzelnen Persönlichkeit werden und sie zu einem bestimmten Tun veranlassen. Natürlich kann man den Einbruch des Seins in die soziale Wirklichkeit auch auf erkenntnistheoretischer Ebene, als Erscheinungsweise der geistigen Tätigkeit beschreiben, aber sein Wesen bleibt immer politisch-sozial und seine Beschreibung eine subjektiv-klassenmäßige. So war es bei Nietzsche, 120

HEIDEGGER, M., Piatons Lehre von der Wahrheit, a. a. O., S. 76. 121 HEIDEGGER, M., Nietzsche, Bd. II, a. a. 0 . , S. 395. 122 HEIDEGGER, M., Holzwege, a. a. O., S. 203.

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dessen Wille zur Macht sich dem Sein in einem solchen Grade näherte, daß selbst Heidegger oft keine wesentlichen Unterscheidungen zwischen dem Willen zur Macht und dem Sein, zwischen Metaphysik und Sozialphilosophie machen kann. Die „Fundamentalontologie" stellt keine Ausnahme dar. Sie ruft zur politischen Aktion, zum Kampf, zur gewaltsamen Errichtung einer sozialen Rangordnung auf. In seiner Interpretation bestätigt sich die Geschichte im „Gewalt-tätigen als dem Schaffenden", in dem „Ins-Werk-setzen" bestätigt sich „werkhaft das Überwältigende, das Sein". Der „Gewalttätige" kennt nicht Güte und Begütigung, keine Beschwichtigung und Beruhigung; „im Wollen des Unerhörten wirft er alle Hilfe weg. Der Untergang ist ihm das tiefste und weiteste Ja zum Überwältigenden", zum Sein. 123 Ein großer Denker, der darauf prätendiert, seine eigene philosophische Tätigkeit zu einer auffallenden Erscheinung im geistigen Leben seines Volkes zu machen, bedarf keiner Entschuldigung, um so mehr, wenn er selbst es nicht für nötig hält, eine früher ausgesprochene Konzeption „umzuwerten". Wir glauben daher das Recht zu haben, daran zu erinnern, bei welchem Umschwung der neuesten Geschichte Heidegger zum letzten Male die prophetische Stimme des Seins hörte (solche prophetischen Stimmen zeichnen sich übrigens nicht durch besondere Klarheit des Sinnes und der Aussprache aus): wie er selbst bezeugt, in den 30er Jahren des 20. Jahrhundert. Im Mai 1933 begrüßte er in einer Rede, die er anläßlich der Übernahme des Rektorats der Universität Freiburg hielt, den Sieg des Nationalsozialismus in Deutschland und rief die Studentenschaft dazu auf, die nazistische „Revolution" rückhaltlos zu unterstützen. Auch später begeisterte er sich an der „inneren Wahrheit und Größe dieser Bewegung" 124 . Daß Heidegger den Willen zur Macht hin und wieder in die Sprache des Seins überträgt, verweist auf den untrennbaren Zusammenhang seiner philosophischen „Forschungen" mit den politischen Kämpfen und der politischen Erbitterung des Tages und bekräftigt die Schlußfolgerung Löwiths, daß Heideggers Philosophie „eine politisch gewordene Existenzphilosophie des Umbruchs und Aufbruchs" 1 2 5 ist. Davon spricht auch das extrem mißtrauische Verhältnis zur Vernunft und zum wissenschaftlichen Denken, sein Irrationalismus, den er als Methode der weltanschaulichen Wirkung benutzt. Zwar hält sich 121

HEIDEGGER, M . , E i n f ü h r u n g in die Metaphysik, a. a. O., S. 124, 125. Ebd., S. 152. 12? LÖWITH, K., Heidegger. D e n k e r in dürftiger Zeit, F r a n k f u r t , M. 1953, S. 50.

12"

26

Oduev

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Heidegger selbst nicht für einen Irrationalisten, er möchte sich davon abgrenzen und wirft dem Irrationalismus vor, er rede nur „schielend", während der Rationalismus blind sei und glaube, von diesem Defekt frei zu sein. Jedoch die „Fundamentalontologie" trägt aktiv dazu bei, die Vernunft und das wissenschaftliche Denken herabzusetzen. Die Vernunft erbringt nach den Regeln der „Fundamentalontologie" keinerlei für das Leben nützliche Weisheit, sie löst keinerlei Welträtsel, sie gibt dem Handeln keinerlei wirksame Kraft; das „wahre" Denken beginnt da, wo man erkennt, daß die Vernunft der Widersacher des Denkens ist. Vernunft und Logik gehen im Strom der Fragezeichen verloren; der Mensch hört auf, ein vernünftiges, schaffendes, sozial konstituiertes Wesen zu sein, ist nicht Herr und Schöpfer seines Daseins, sondern ein Spielzeug in den Händen des Schicksals. Das wissenschaftliche Denken, in den Dienst der revolutionären Tätigkeit des Menschen gestellt, ruft bei dem Freiburger Weisen eine instinktive Antipathie hervor. Heidegger irrt nicht von der „Hauptrichtung" ab, die Nietzsche geahnt und erraten hat. Zwar führt ihn die „Fundamentalontologie" häufig auf „Holzwege", aber immer wieder trifft er auf die Spuren Zarathustras.

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Kapitel 16

Kann der Mensch „sich selbst überwinden"? O. F. Bollnow

Das Problem des Menschen ist der Dreh- und Angelpunkt, um den sich der Existentialismus bewegt. Was ist der Mensch? Wie ist er in seinem Wesen beschaffen? Je mehr die Philosophen existentialistischer Richtung (und auch anderer Strömungen der modernen bürgerlichen Philosophie) darüber schreiben, desto weniger Klarheit gibt es bei der Beantwortung dieser „ewigen" Frage: Der Mensch in seinem wirklichen, gesellschaftlich-historischen Wesen bleibt für sie eine rätselhafte, unbekannte Größe, ein ungelöstes Geheimnis. Was ist er in seinen Vermittlungen mit sich selbst und seiner Geschichte, mit der sozialen und natürlichen Welt? Woher kommt er und wohin geht er? Welches große Ziel trägt er in sich, oder entbehrt seine Existenz jeden Sinns? Ist er ein sich auflehnender Prometheus oder ein resignierender Sisyphos, ein kühner Ikarus oder ein umhergetriebener Ahasverus? Solche Fragen bleiben für den Existentialismus ohne Antwort. Er verdeutlicht sich das Problem dadurch, daß er Fragezeichen setzt; er errichtet einen Wald von Fragezeichen, hinter denen sich der Erkenntnisgegenstand selbst verliert. Es taucht der Zweifel auf, ob die Adepten dieser philosophischen Schule überhaupt wissen wollen, was der wirkliche, tätige, kämpfende und siegende, lebendige Mensch ist, der forschend in das Wesen der Dinge und den gesetzmäßigen Verlauf der Prozesse eindringt, der die Welt und sich selbst erkennt und umgestaltet. Offensichtlich nicht. Jaspers sagt aus diesem Anlaß: „Existenzphilosophie würde sogleich verloren sein, wenn sie wieder zu wissen glaubt, was der Mensch ist"126. Ist das ein Eingeständnis der Unhaltbarkeit der eigenen Ansprüche oder ein Ausdruck der prinzipiellen Unmöglichkeit, ins Innerste des menschlichen Wesens zu schauen? Es ist sowohl das eine wie auch das andere: ersteres als Ergebnis der fruchtlosen Bemühungen, letzteres als eigenes vorausgesetztes methodologisches und erkenntnistheoretisches Postulat. 126

26'

JASPERS, K., Die geistige Situation der Zeit, a. a. O., S. 163.

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Die Philosophie hat es, wenn es um die kapitalistische Gesellschaftsformation geht, mit dem verdinglichten, entfremdeten Menschen als Erkenntnisgegenstand zu tun. Der Kapitalismus entstellt die menschliche Natur, verzerrt das menschliche Wesen, indem er den Menschen in eine Sache, eine Funktion, ein Anhängsel der Maschine verwandelt. „Mit der Verwertung der Sachwelt nimmt die Entwertung der Menschenwelt in direktem Verhältnis zu. Die Arbeit produziert nicht nur Waren; sie produziert sich selbst und den Arbeiter als eine Ware, und zwar in dem Verhältnis, in welchem sie überhaupt Waren produziert." 1 2 7 Es ist dem Existentialismus nicht gegeben, dem Menschen den Schleier der Entfremdung zu nehmen, und er zeigt dazu auch keinerlei Neigung, er nimmt den Menschen in seiner Entfremdung als allgemeinen und einzigen Maßstab. Unter den Bedingungen des modernen Kapitalismus erhält die Entfremdung totalen Charakter. Sie erfaßt nicht nur den Menschen im Bereich der Arbeit, den Lohnarbeiter; in ihren Machtbereich gerät nun auch die im Dienst der Monopole oder des bürgerlichen Staates stehende Intelligenz, die sich für den besten Teil der Menschheit, für deren intellektuelle Elite hält, sie erfaßt auch die herrschende Klasse, die früher zumindest über den Anschein einer menschlichen Existenz verfügte. Nunmehr fallt dieser Schein, und sie beginnt ihre Entfremdung zu spüren, die sich immer schärfer in der Ohnmacht der herrschenden Schicht, des Staates und der anderen Einrichtungen des Zwanges und der sozialen Regulierung vor dem Automatismus des gesellschaftlichen und des Produktionsprozesses, vor dem gesetzmäßigen Gang der Geschichte geltend macht, besonders in jenen Momenten, wenn sich die Wogen der revolutionären Empörung der unterdrückten Massen im eigenen Land erheben. Auf philosophischer Ebene drückt sich die „Selbstentfremdung" der herrschenden Klasse, ihre Ohnmacht, den objektiven Gang der historischen Entwicklung aufzuhalten und die Zeit zurückzudrehen, darin aus, daß die Theoretiker einerseits der Technik das Vorrecht einer selbständigen, automatischen Wirkung und eines unabwendbaren Dämonismus zuerkennen, andererseits dem revolutionären Auftreten der Werktätigen, dem „Aufstand der Massen" die Bedeutung einer fremden, äußeren Kraft beilegen, die den „normalen", gewohnten Gang der Ereignisse und die Grundlagen der menschlichen Existenz bedroht. So verwandelt sich die Geschichte in eine 121 MARX, K... Ökonomisch-philosophische Manuskripte, in: MEW, Erg.-Bd. 1. Teil, Berlin 1968, S. 511.

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fatalistisch vorherbestimmte, irrationale Handlung, und im Kopfe eines Theoretikers entsteht aus dieser Geschichtsbetrachtung ein Bild allgemeiner Zerstörung, ein Bild der Nivellierung und des Verfalls der menschlichen Individualität, der Degeneration des Menschen, der das Opfer unbegreiflicher Kräfte und Umstände geworden ist. Die Verkünder des Existentialismus treten meist im Namen der Intelligenz auf. Voraussetzung ihrer Untersuchungen ist jedoch nicht der wirkliche Angehörige der Intelligenz und nicht das wirkliche Individuum, sondern der Mensch „überhaupt", der abstrakt gedachte und abstrakt entstandene Mensch, der Mensch als „ontologische Realität" oder als „anthropologisches Dasein". Nach einer treffenden Einschätzung von Marx und Engels abstrahiert der bürgerliche Theoretiker (in diesem Falle Max Stirner — G. R.) bei einer solchen Abkehr von der Wirklichkeit „ganz konsequent von den historischen Epochen, von der Nationalität, Klasse etc., oder, was dasselbe ist, er bläht das herrschende Bewußtsein der ihm am nächsten stehenden Klasse seiner unmittelbaren Umgebung zum normalen Bewußtsein ,eines Menschenlebens' auf' 1 2 8 . Das Denken eines bürgerlichen Intellektuellen verwirrt sich in den unlösbaren Widersprüchen seines sozialen Daseins. In „kritischem" Selbstbetrug macht er für sich das ausschließliche Recht geltend, eine Persönlichkeit, eine Individualität zu sein und auf die Darunterstehenden, als die Masse, etwas Amorphes, Träges und in seiner unpersönlichen Macht Schreckliches, herabzusehen. Die existentielle Betrachtungsweise kann jedoch nicht nur das „wirkliche Dasein der Masse", sondern auch die „schöpferische" Existenz der Intelligenz, ihre Lage, ihre Rolle und ihre Aufgaben in der bürgerlichen Gesellschaft, nicht erfassen. Denn auch hier geht sie rückwärts heran: vom entfremdeten Individuum zum Menschen als solchem, von ihm zur Natur und Gesellschaft. In diesem Falle bleibt vom Menschen lediglich eine unbekannte, von keinem Inhalt erfüllte „Eigentlichkeit"; sein Wesen wird entweder im „Erleben seiner eigenen Existenz" vereinzelt oder auf die Ebene des „nicht festgestellten Tieres" herabgesetzt; ihm droht entweder die Gefahr, sich in der „Uneigentlichkeit", im „ M a n " aufzulösen oder von der Transzendenz ausgeschlossen zu werden und ins Nichts zu versinken. Der Mensch verliert seine Vergangenheit, kennt seine Gegenwart nicht und büßt seine Perspektive ein. Er entartet, degeneriert, er muß überwunden werden, d. h., ihm muß sein echtes, gegenwärtig aber 128 MARX/ENGELS, Die deutsche Ideologie, in: M E W , Bd. 3, Berlin 1962, S. 112.

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entfremdetes Wesen zurückgegeben werden, er muß vom Seienden zur Existenz zurückkehren. Das existentielle Denken reflektiert die vorhandene bürgerliche Praxis, es ist eine Reaktion darauf, eine manchmal kritische, öfter jedoch pseudokritische und letzten Endes konformistische Reaktion, weil diese Reaktion auf die kapitalistische Wirklichkeit ihren Ausdruck in passiven Emotionen (Angst, Verlorenheit, Sorge) findet, in einer emotionellen und passiven Weltauffassung bei völligem Verlust der Perspektive: Der Existentialismus in seiner chrestomatischen Form gibt keine Antwort auf die Frage, wie es weitergehen soll. Er nahm die düstere Prophezeiung Nietzsches vom Untergang der „Kleinen", der Massenmenschen wie ein Evangelium auf. Was auch über die göttliche Bestimmung oder andere Möglichkeiten des Menschen geschrieben werden mag, er ist verurteilt zu einem kläglichen Dahinvegetieren in der „Masse", in der Mittelmäßigkeit. Selbstverständlich ist es ihm nicht untersagt, „sich selbst zu überwinden" in einem Akt „freier Selbststeigerung" in die Transzendenz oder im „Dasein zum Tode". Wer sich aber von diesen existentialistischen Idolen nicht verführen läßt, verdient weder Liebe noch Achtung; ihn kann man nur verachten und bestenfalls sein Los bedauern. Die Anmaßung des bürgerlichen Intellektuellen läßt es nicht zu, sich den Antrieben der Humanität oder des Altruismus hinzugeben, sie findet jedoch leicht Befriedigung in einer billigen Philanthropie. Ihm sind die wirklichen Bedürfnisse und Interessen des Volkes fremd (wenn sie aber zu seinen eigenen Bedürfnissen und Interessen werden, dann verläßt er die Seite der herrschenden Klasse und geht ins Lager ihrer Gegner über). Die Losgelöstheit vom Volk ist einer der Charakterzüge, die die Lage der bürgerlichen Intelligenz in der imperialistischen Epoche bestimmen, einschließlich der Vertreter der bürgerlichen Intelligenz, die aus dem Volk hervorgegangen sind. Für letztere wird die Empfindung dieser Losgelöstheit nicht selten zu einem quälenden, dramatischen Erlebnis ihres ganzen Lebens. Die Tragödie eines solchen bürgerlichen Intellektuellen, eines begabten Einzelgängers, ist in Thomas Manns Roman „Doktor Faustus" dargestellt. Thomas Mann, ein Künstler mit einem großen und schweren Schicksal, der es, aus bürgerlichem Milieu kommend, verstand, sich aus dieser muffigen dekadenten Atmosphäre loszureißen und die Barriere, die einen bürgerlichen Künstler vom Volk trennt, zu überwinden, der vom Verfall der bürgerlichen Kultur und der Krise des bürgerlichen Bewußtseins tief beunruhigt war, zieht in diesem Werk gleichsam das Fazit seiner Überlegungen zu diesem Thema, die er 406

bereits in seiner Jugend mit „Tonio Kröger" begonnen hatte, und verläßt die Illusionen und Neigungen seiner Jugend. In der Gestalt und in der Lebensbeschreibung des Tonsetzers Adrian Leverkühn reproduziert Thomas Mann viele Momente aus der Biographie Nietzsches, bestimmte Züge seines Charakters und seiner Philosophie. Er zeigt tiefes Mitgefühl für die Leiden seines Helden, er hört nicht auf, ihn zu lieben, aber er bleibt erbarmungslos realistisch bei der allgemeinen Bewertung der ideellen Tendenz und der schöpferischen Leistung des Komponisten und seines tragischen Endes. Die Schlußfolgerungen des Autors sind eine Anklage an den deutschen Imperialismus, der das Land und das Volk, seine Intelligenz und seine Kultur in den Zustand tiefer geistiger und seelischer Lethargie gebracht und schließlich in die schreckliche Katastrophe gestürzt hat. Die Tragödie Adrian Leverkühns kann man als typisch für einen bürgerlichen Intellektuellen (einen Künstler oder einen Denker) unserer Zeit ansehen. Er hat seine ländliche Gradsinnigkeit, seine Anständigkeit und Beharrlichkeit noch nicht völlig verloren, aber er ist hoffnungslos gebrochen; er ist vom Volke losgerissen und empfindet die Impulse, die von dieser Schöpferquelle ausgehen, nicht mehr; ihm ist der demokratische Geist des einfachen Volkes, seine Menschenliebe und Herzlichkeit zuwider. Seine entrüsteten Angriffe auf eine Kunst, die an den Idealen der Menschlichkeit und des Humanismus festhält, erinnern an Nietzsche. Leverkühn gelangt zu der Ansicht, daß das „Gute und Edle", das, „was man das Menschliche nennt, obwohl es gut ist und edel", nicht sein soll. „Um was die Menschen gekämpft, wofür sie Zwingburgen gestürmt und was die Erfüllten jubelnd verkündigt haben, das soll nicht sein. Es wird zurückgenommen. Ich will es zurücknehmen." 1 2 9 Auch die bürgerliche Pseudokultur lehnt Adrian Leverkühn ab und fordert eine Rückkehr in barbarische Zeiten: „Unsere Stufe ist die der Gesittung — ein sehr lebenswerter Zustand ohne Zweifel, aber keinem Zweifel unterliegt es auch wohl, daß wir sehr viel barbarischer werden müßten, um der Kultur wieder fähig zu sein" 130 . Die Nietzschesche Philosophie des „Durchbruchs" führt ihn in die Klauen des Teufels, der die Forderungen der imperialistischen Bourgeoisie an die Kunst verkörpert. So und nur so ist die erschütternde Allegorie jenes Alptraums 129 MANN, TH„ Doktor Faustus, in: Ges. Werke, Bd. 6, Berlin und Weimar 1965, S. 647.

Ebd., S. 83.

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zu deuten, in dem dem Helden des Romans ein moderner Teufel erscheint, der sich als ein Meister der „Aufschwünge" ausgibt, der die gebremste schöpferische Energie entfesselt. Für seine Ware — „Aufschwünge" und „Erleuchtungen", „Erfahrungen von Enthobenheit und Entfesselung, von Freiheit, Sicherheit, Leichtigkeit, Macht- und Tjiumphgefühl", die „Schauer der Selbstverehrung, ja, des köstlichen Grauens vor sich selbst, unter denen er sich wie ein begnadetes Mundstück, wie ein göttliches Untier erscheint" — fordert der Teufel wie ehedem den Verzicht auf die Seele, d. h. auf jene echte Inspiration, die der Künstler erlangt, indem er sich in den Grund des Volkes versenkt und mit dessen Lebenspuls verschmilzt. „Der Künstler", so flüstert der Versucher dem Adrian Leverkühn ein, „ist der Bruder des Verbrechers und des Verrückten. Meinst du, daß je ein irgend belustigendes Werk zustandegekommen, ohne daß sein Macher sich dabei auf das Dasein des Verbrechers und des Tollen verstehen lernte? . . . Wir lassen die Lahm- und Schüchternheit, die keuschen Skrupel und Zweifel zum Teufel gehn . . . Nicht genug, daß du die lähmenden Schwierigkeiten der Zeit durchbrechen wirst, — die Zeit selber, die Kulturepoche, will sagen, die Epoche der Kultur und ihres Kultus wirst du durchbrechen und dich der Barbarei erdreisten, die's zweimal ist, weil sie nach der Humanität, nach der erdenklichsten Wurzelbehandlung und bürgerlichen Verfeinerung kommt . . . Das ist die geheime Lust und Sicherheit der Höllen, daß sie nicht denunzierbar, daß sie vor der Sprache geborgen ist, . . . obgleich es einem gleich zur Begrüßung in bündig nachdrücklichster Form eröffnet wird, daß ,hier alles aufhört', jedes Erbarmen, jede Gnade, jede Schonung, jede letzte Spur von Rücksicht . . . Und nun will ich dir sagen, daß genau Köpfe von deiner Art die Population der Hölle bilden. Es ist nicht so leicht, in die Hölle zu kommen; wir litten längst Raummangel, wenn Hinz und Kunz hineinkämen. Aber dein theologischer Typ, so ein abgefeimter Erzvogel, der auf die Spekulation spekuliert, weil er das Spekulieren schon von Vaters Seite im Blut hat, — das müßte mit Kräutern zugehen, wenn der nicht des Teufels wär." 1 3 1 Leverkühn gibt der Versuchung nach und kommt um. Der Teufel des Imperialismus zieht nicht nur die Menge der käuflichen Propagandisten in seine Netze, sondern er fangt damit auch viele ehrliche und talentierte Künstler, Denker und Wissenschaftler, die ihm dienen, zuweilen ohne sich ihrer Ergebenheit gegenüber diesem Dämon u i Ebd., S. 313, 322, 331, 3 3 3 - 3 3 4 , 337.

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des Bösen bewußt zu werden, der sich in Gestalt des Faschismus bereits einmal in seiner schamlosen Scheußlichkeit vor der Menschheit gezeigt hat. In diesem Licht betrachtet Thomas Mann auch das Schaffen Nietzsches — eines „edlen Geistes", eines „Hamletschicksals, das Ehrfurcht einflößt und Erbarmen". Das Verhältnis des reifen Thomas Mann zu der Neigung seiner Jugend ist zwiespältig: Einerseits versteht er, daß Nietzsche „als sensibelstes Ausdrucks- und Registrierinstrument mit seinem Machtphilosophem den heraufsteigenden Imperialismus vorempfunden und die faschistische Epoche des Abendlandes, in der wir leben und trotz dem militärischen Sieg über den Faschismus noch lange leben werden, als zitternde Nadel angekündigt" hat. „Alles, was er in letzter Überreiztheit gegen Moral, Humanität, Mitleid, Christentum und für die schöne Ruchlosigkeit, den Krieg, das Böse gesagt hat, war leider geeignet, in der Schund-Ideologie des Faschismus seinen Platz zu finden, und Verirrungen wie seine ,Moral für Ärzte' mit der Vorschrift der Krankentötung und Kastrierung der Minderwertigen, seine Einprägung von der Notwendigkeit der Sklaverei, dazu manche seiner rassehygienischen Auslese-, Züchtungs-, Ehevorschriften sind tatsächlich, wenn auch vielleicht ohne wissentliche Bezugnahme auf ihn, in die Theorie und Praxis des Nationalsozialismus übergegangen." Andererseits möchte er die Verantwortung Nietzsches für diese Verbrechen mildern, indem er darauf hinweist, daß Nietzsche vom Wesen des Imperialismus „in Wahrheit nichts verstanden hat", daß er „das Bündnis von Industrialismus und Militarismus, ihre politische Einheit, in welcher der Imperialismus besteht", überhaupt nicht gesehen hat, daß diese „Ausflüge ins Weltpolitische" eigentlich unternommen worden sind „von einem Geist, dem es im Grunde nur um die Aufgabe der Kultur zu tun ist". 132 Jugendneigungen vergehen nicht spurlos, und es darf daher nicht vergessen werden, daß die begeisterte Vorliebe der Jugend, bewahrt bis in die reifen Jahre, nicht immer der Maßstab für eine richtige Bewertung ist. Die Zukunft der Menschheit (diese Nietzschesche Hypostase haben Jaspers und Heidegger übernommen) liegt in der Zucht und Züchtung „höherer" Individuen. Dieses „höhere" Individuum ist jedoch nicht nur Gegenstand des existentiellen Willens zur Zukunft, nicht nur ein vorgegebenes Ideal des Menschen, sondern auch das Subjekt des soMANN, TH., N i e t z s c h e s P h i l o s o p h i e im Lichte unserer Erfahrungen, in: G e s . Werke, Bd. 10, Berlin und W e i m a r 1965, S. 663, 664, 667.

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zialen Handelns, auf dessen Schultern die erhaltende und gesetzgebende Funktion liegt, den wachsenden Druck der Massen aufzuhalten. Der Existentialismus beschränkt sich jedoch nicht auf Appelle an die „höheren Individuen", seine Adepten richten sich mit ihrer Propaganda an ^breite Schichten (besonders mit Hilfe der Kunst) und versuchen, auf den „Menschen der Masse" einzuwirken, der, wie'sich herausstellt, das Objekt ihrer zielgerichteten Manipulation ist. Sie sind sich deshalb natürlich auch bewußt, daß sie das bereits gewonnene Vertrauen zu ihrer Philosophie wieder verlieren können, wenn diese wie bisher nur Fragen stellt und sich allein auf die Tragik und Perspektivlosigkeit der menschlichen Existenz stützt, ohne den Menschen, auf die sie einwirken will, einen Ausweg aus dem Labyrinth der entfremdeten Welt zu zeigen. Kann der Mensch seine Entfremdung, seine Angst vor dem Dasein überwinden? Kann er, in seiner praktischen Tätigkeit und seinem Kampf von der Existenzphilosophie geleitet, dem Menschen das vom Kapitalismus entfremdete Wesen zurückgeben, von dessen Verlust die Philosophen existentialistischer Richtung so viel reden und schreiben? Und noch eine Frage taucht hier auf, die seit Mitte der 50er Jahre große Aktualität gewonnen hat — die Frage einer „Erneuerung", einer Reform des Existentialismus selbst, einer „Ergänzung" seiner traditionellen Problematik und einer Veränderung der verwirrten Struktur seiner Grundkategorien. Einer der ersten Reformatoren war Gabriel Marcel, der einmal erklärte, daß die Zeit einer auf der Angst begründeten existentialistischen Philosophie bereits vorbei sei und daß zu befürchten sei, eine solche Philosophie könne in die Sackgasse führen. Nach seiner Ansicht ist diese philosophische Strömung nur durch Überlegungen über Hoffnung und Freude zu einer Erneuerung fähig. 133 Solche „Reformatoren" des Existentialismus gab und gibt es noch mehrere. Zu ihnen gehört z. B. F. Heinemann, seit langem Verbreiter und Kommentator der existentialistischen „Klassik", der nach dem zweiten Weltkrieg für seine Überwindung des Existentialismus eintritt, indem ein „Sinn in der zerbrochenen Welt", eine „Seele in der seelenlosen Welt" gesucht wird. 134 Zu ihnen gehört auch Otto Friedrich Bollnow, ein Vertreter der jüngeren Existentialisten-Generation, der versucht, einen „neuen Zugang zum Dasein" zu finden, indem er solche traditio133

134

Vgl. OJZERMAN, T. U., Cennoe issledovanije svejcarskogo marksista. Predislovie k knige T. Svarca „Ot Sopengauera k Chejdeggeru", Moskau 1964, S. 340—341. BOGOMOLOV, A. S., Nemeckaja burzuaznaja filosofija posle 1865 goda, Moskau 1969, S. 395.

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nellen und klassischen Begriffe der Existentialisten wie „Angst", „Sorge", „Schutzlosigkeit", „Verlorenheit", „Grenzsituation" usw. durch neue, „positive" Begriffe „ergänzt", die seiner Ansicht nach den Blick in die Zukunft freimachen, d. h. durch Kategorien wie „Geborgenheit", „Maß", „Hoffnung", „Haus" usw. Dieses Suchen spricht für sich selbst: der Existentialismus macht eine gewisse Krise durch und sucht den Ausweg aus ihr entweder in einer „Bereicherung" des Existentialismus durch einen religiösen Anthropologismus (F. Heinemann) oder in einer gewissen Rückkehr zur Lebensphilosophie (O. F. Bollnow). Hier interessiert uns die Konzeption Bollnows, die die negative Einseitigkeit des traditionellen Existentialismus „überwindet" und in den 50er und 60er Jahren einen besonderen Typ existentiellen Denkens entwickelte, der durch eine Rückkehr zum irrationalen (und, wie üblich, völlig willkürlich interpretierten) Optimismus der frühen Lebensphilosophie nicht nur danach trachtet, die Traditionen zu „erneuern", sondern auch das damalige westdeutsche „Wirtschaftswunder" theoretisch zu begründen, das dem westdeutschen Spießer im Gefühl materiellen Wohlstandes und geistiger Selbstzufriedenheit damals eine Zukunftsperspektive vorspiegelte. Bollnow bricht nicht mit den Grundvoraussetzungen der Existenzphilosophie, er ist bestrebt, sich möglichst dicht an Heidegger zu halten. Die Situation des heutigen Menschen wird durch das Bewußtsein einer „totalen Ungeborgenheit" gekennzeichnet; der Mensch ist heimatlos geworden, ein Gefühl hoffnungsloser Verlorenheit und geistiger Unorientiertheit hat ihn ergriffen. Darum wird unser Zeitalter geradezu als Zeitalter der Angst bezeichnet. Aus dieser geistigen Situation heraus erwächst der Existentialismus, der ihr auch den adäquaten Ausdruck gibt: „Je faszinierter wir in das unheimliche Dunkel dieser Abgründe (des menschlichen Daseins — S. O.) starren, um so unwiderstehlicher werden wir in sie hineingezogen". Der Mensch ist entwurzelt, und Aufgabe der Philosophie ist es, die Gründe für diese tiefgreifende Entwurzelung des Menschen zu erkennen und ein Rezept für ihre Überwindung zu gewinnen. Die Hauptursache für seine Situation ist im Menschen selbst verborgen. Bollnow begreift die „Verlorenheit des heutigen Menschen als die Folge der modernen irrationalen Bewegung, als die Folge der Selbstpreisgabe des Menschen" an das, was er „die irrationalen Mächte in ihm" nennt. Der Existentialismus ist nur in diesem Zusammenhang zu begreifen, „nämlich als die letzte, ins kritische Stadium eingetretene Phase dieser irrationalen Bewegung". Die Lösung der gegenwärtigen Krise schließt darum notwendig die Auseinanderset411

zung mit dem modernen Irrationalismus ein. Hier liegt der entscheidende Angelpunkt in der gegenwärtigen Bemühung um die Situation des Menschen. Die Stellung der Vernunft im menschlichen Leben, insbesondere ihr Verhältnis zu den irrationalen Seiten muß neu bestimmt werden. 135 Die Frage wird auf traditionell existentialistische Weise gestellt, in ihrem abschließenden, zusammenfassenden Teil jedoch machen sich Ansprüche auf einen neuen „Durchbruch" zum Urgrund des menschlichen Daseins und Wesens geltend. Wir wollen verfolgen, wie diese Ansprüche realisiert werden. Die Situation des heutigen Menschen (sie wird für alle Länder — kapitalistische, sozialistische, Entwicklungsländer usw. — als völlig eindeutig vorausgesetzt, da das Wesen des Individuums nach unveränderlichen anthropologischen Merkmalen bestimmt wird, das in Abhängigkeit von den Bedingungen diese oder jene seiner Eigenschaften und Möglichkeiten entfaltet) geht also aus der modernen irrationalen Bewegung hervor. Wie konnte das geschehen? Die bisherige Philosophie hat doch jahrhundertelang den Menschen als das animal rationale betrachtet, das mit Hilfe der Vernunft sein Leben in eigener Verantwortung in die Hand zu nehmen und zugleich die umgebende Natur seinen Zwecken zu unterwerfen vermochte. Zwar gab es schon immer irrationale Bewegungen, vor allem in der Mystik und im Pietismus, aber das blieben Randerscheinungen. Das änderte sich jedoch radikal mit dem Einsatz der modernen irrationalistischen Bewegung, die in Deutschland mit dem Sturm und Drang einsetzte, sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts in der Romantik ausbreitete und in der Philosophie eines Nietzsche oder Dilthey wieder auferstand und seit der Jahrhundertwende immer weitere Kreise erfaßte. Der gemeinsame Zug war ein Enthusiasmus des Lebens, der die Begründung durch die Vernunft als etwas Kleinliches und Verächtliches erscheinen läßt. Der einzelne fühlt sich zunächst in dem umfassenden Ganzen sicher und geborgen. Aber dieser Enthusiasmus zerbrach an den härteren Erfahrungen des Lebens; das wurde für das allgemeine Bewußtsein in den großen geschichtlichen Katastrophen der letzten Jahrzehnte offenbar. Die Blindheit der Leidenschaft wurde wieder ganz unmittelbar als dämonische und zerstörerische Macht am Leben erfahren. „Abgründe der Gemeinheit taten sich in den so lange verherrlichten Untergründen der Seele auf, und von der als schöpferisch bewunderten Unergründlichkeit des Lebens blieb nur eine unheimlich 135

BOLLNOW, O. F., Maß und Vermessenheit des Menschen, Göttingen 1962, S. 9, 10.

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drohende, nicht zu durchschauende und zu beherrschende Welt." 1 3 6 Alles Elend und aller Schrecken der kapitalistischen Ausbeutung, die vernichtenden Weltkriege, die beispiellose Verhöhnung der menschlichen Persönlichkeit und des Gewissens, der Faschismus als die unheilvollste Ausgeburt der Monopole, die Millionen von Menschenleben verschlungen hat — all das wird mit einem Federstrich, mit einer Bewegung des existentiellen Denkens in ein schicksalhaftes Zusammentreffen der Umstände, in ein elementares Spiel rebellischer Instinkte verwandelt, in dem der Mensch plötzlich völlig die Kontrolle über die dunklen, dämonischen Kräfte seiner Seele und seines Leibes verlor. Das Verfahren ist nicht originell, aber es kommt Bollnow auch persönlich zustatten: als er in den 30er Jahren den Pfad der Philosophie betrat, hat er diese ungezügelte Elementargewalt mehr als nur einmal begrüßt. Mit dem Verlust jeglichen Glaubens an die Kraft der Vernunft fühlte sich der Mensch nun vollends ausgeliefert an das gegen ihn andrängende Chaos. „Auf den Enthusiasmus des Lebens folgte notwendig die Verzweiflung der Existenz." 137 Um das Übel an der Wurzel zu packen, ist es nötig, der Vernunft ihre Funktion im Leben des Menschen und der Menschheit wiederzugeben. Und Bollnow macht sich an diese Arbeit, wobei er weit zurückgeht und mit den Zeiten der deutschen Aufklärung beginnt. Die irrationale Bewegung war aber nicht nur eine Art „Sündenfall der menschlichen Vernunft", sondern sie hat eine „ungeheure Ausweitung unserer Welt" geleistet. Sie hat das Verständnis des Menschen um die Erkenntnis bereichert, „daß der Umkreis des bewußten Lebens nur als ein kleiner Teilbereich eingegliedert ist in ein umfassenderes seelisches Leben", daß das Leben „irrationale und unbewußte Untergründe" hat. Aber dieses Irrationale gibt es auch außerhalb des Menschen. Diese unterteilt Bollnow wieder in das „bloß passiv Irrationale" und das „aktiv Irrationale", das das eigentlich „Dämonische" darstellt und sich „tätig und zerstörerisch der Herrschaft der Vernunft entgegenstellt". Es bestimmt die „Dämonie in der Geschichte", jene „triebhaften Untergründe, die sich in den kollektiven Mächten des Völkerlebens und den von ihnen getragenen Gestalten auswirken und die, wie uns ein grausamer Anschauungsunterricht gelehrt hat, als wilde Fluten über die Dämme hinwegbrechen und alle aufbauenden menschlichen Ordnungen vernichten". 138 Aus dieser Unterteilung des Irrationalen zieht Bollnow •36 Ebd., S. 13. 137 Ebd., S. 14. 138 Ebd., S. 16, 17.

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wichtige soziale Schlußfolgerungen: 1. Es ist „vor einer nüchternen Erkenntnis" nicht aufrechtzuerhalten, von einer „dämonischen Natur zu sprechen, die dem Herrschaftswillen menschlicher Technik mit einer Lust am Zerstören entgegenwirkt". 2. Die wichtigste Gefahr für die Menschheit ist im Menschen selbst verborgen, in den revolutionären Potenzen der Massen. Wir leben heute im Angesicht einer ernst zu nehmenden Bedrohung, „daß alle menschliche Kultur durch Vernunft und Leidenschaft, eben durch die Mächte des Irrationalen, endgültig ausgetilgt wird" (wobei er natürlich annimmt, daß alle Kultur in der abendländischen bürgerlichen Lebens- und Denkweise verkörpert ist). „Der positivistische Glaube aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, daß man durch die Erkenntnis historischer Gesetze die menschlich-geschichtliche Welt in derselben Weise beherrschen könnte, wie es bei der Natur durch die Einsicht in die Naturgesetze schon lange möglich gewesen ist, mutet uns heute nur noch wie ein kindlicher Traum an gegenüber einer sehr viel beängstigender über uns hereingebrochenen Welt." 1 3 9 Diese Rückkehr zu einem Diltheyschen Dualismus der Erkenntnis soll eine Doppelfunktion erfüllen: den vom Existentialismus geschürten apokalyptischen Schrecken vor der modernen Technik überwinden und die marxistische Lehre von der Möglichkeit und der historischen Notwendigkeit einer vernünftigen, sozialistischen Umgestaltung des Daseins erschüttern. Bollnow läßt der Vernunft einen Zugang zum menschlichen Dasein innerhalb der Grenzen, die in der Dilthey-Simmelschen Linie der Lebensphilosophie abgesteckt worden sind. Es kann nicht davon die Rede sein, „die ganze Welt in einer endgültigen vernünftigen Ordnung" durchzugestalten (dieser Optimismus ist für immer verloren), sondern nur davon, die Vernunft in den für die imperialistische Praxis möglichen Grenzen zuzulassen und nicht „resigniert die Hände in den Schoß zu legen". Die Grenzen jedoch sind äußerst eng gezogen, man kann sie vergleichen mit dem „Umkreis eines Laternenscheins inmitten eines Ozeans von Dunkelheiten" oder mit einer Insel „inmitten einer großen drohenden und chaotischen Welt". Die Vernunft besitzt diese „inselhafte Ordnung nie als einen sicheren und bleibenden Bestand", sie bleibt ständig bedroht und kann „nur im beständigen Widerstand gegen den Andrang der chaotischen Mächte behauptet werden". 1 4 0 Der Mensch unserer Zeit, klagt Bollnow, ist um seine Obdach ge139 Ebd., S. 17. 14(1 Ebd., S. 18.

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bracht, er ist der „unbehauste Mensch". Das bedeutet, wird weiter erläutert, daß er keine Stelle mehr hat, wo er sich „zu Hause", wo er sich „geborgen" fühlen kann. Das betrifft nicht nur die, die „ein bitteres Schicksal von ihrem angestammten Boden vertrieben h a t " (vor allem, möchten wir hinzufügen, die Masse der auf der Suche nach Lohn und Broterwerb umherziehenden Proletarier, der ruinierten Bauern und Handwerker), sondern auch die, die scheinbar unberührt im alten Ort wohnen geblieben sind. Der Kapitalismus verurteilt den Menschen tatsächlich zu ständiger Ruhelosigkeit und Preisgegebenheit, er schrumpft ihn zum bloßen „Nullpunkt" zusammen, aber Bollnow gibt dem Menschen selbst dafür die ganze Verantwortung, für den sich nur noch zwei Möglichkeiten abzeichnen: wo ihm ein Rest von Kraft verblieben ist, da wird er zum Abenteurer, der ohne Bindung an eine bestimmte Sache „das zweifelhafte Glück des Augenblickes" genießt; wo aber den Menschen die letzte Kraft verläßt, da bleibt nur noch „der Flüchtling, der nirgends mehr beheimatete, ewig nur gehetzte Mensch in seiner nackten Angst". 1 4 1 Dennoch kann der Mensch „aus eigener Kraft zur Überwindung seines gegenwärtigen Unbehaustseins beitragen", seine Geborgenheit wiederfinden. Was ist dafür notwendig? Wenn der Mensch in dieser Welt einen neuen Halt gewinnen will, so ist das nur möglich, „wenn er sich an einem bestimmten Punkt in ihr niederläßt, sich mit aller Zähigkeit an ihm festkrallt und von ihm aus dann seinen Bereich der Ordnung gestaltet". Nur so gewinnt er seine Ruhe und seinen Frieden, seine Heimat, seine Familie, sein HausM2 So wird der Existentialismus um eine neue Kategorie bereichert, die Kategorie des „Hauses", dem eine geheimnisvolle anthropologische und ontologische Bedeutung beigelegt wird.[23] Die neue Kategorie wird zum Schlüssel für das Verständnis des Wesens des Menschen, das „Grundphänomen menschlicher Weltgestaltung". Eine fruchtbare Möglichkeit, das Wesen des Menschen zu bestimmen, liegt „im Hausbau". Denn das Haus ist die Form, in der der Mensch durch schützende Mauern und ein begrenzendes Dach einen eigenen Raum als seinen Wohnraum von der feindlichen Außenwelt absondert. So entsteht die Scheidung zwischen den beiden Bereichen, die die „für das menschliche Leben grundlegende ist": „draußen" bleibt das Chaos und die bedrohliche Welt, „drinnen" findet der Mensch seine Ruhe und seinen Frieden, hier kann er wieder „zu sich selber" kommen; die innere iti Ebd., S. 19-20. 1« Ebd., S. 20.

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Gesundheit des Menschen hängt von dem richtigen Gleichgewicht zwischen diesen beiden Seiten, dem „Haus" und der „Welt" ab. 1 4 3 Die Illusion, eine „neue" Entdeckung gemacht zu haben, beflügelt Bollnow; im Begriff „Haus" hat er den Punkt gefunden, von dem aus er die ganze existentialistische Welt der Angst und der Verlorenheit aus den Angeln heben und die Einseitigkeit der Existenzphilosophie überwinden kann. Es dürfte ihm jedoch eigentlich nicht entgangen sein, daß die „Geborgenheit des Hauses" die Oberflächenerscheinung der existentiellen „Eigentlichkeit" ist, in die das Individuum vordringen kann, wenn es ihm gelingt, sich aus der schrecklichen „Uneigentlichkeit" des „ M a n " zu lösen. Unzweifelhaft ist eins: das „Haus" erweitert die Möglichkeiten eines Anschlusses an die Existenz und damit erweitert dieser Begriff auch die soziale Basis des Existentialismus selbst: von nun an ist jedem, der im übertragenen Sinne sein „Haus" hat und in seinen „Wänden" Ruhe findet, jedem ordentlichen „Bürger", der den traditionellen Existentialismus keiner Aufmerksamkeit würdigt, Geborgenheit garantiert. Ausgangspunkt des existentiellen Philosophierens ist die Eigentlichkeit der kritisch denkenden Persönlichkeit, des bürgerlichen Intellektuellen, der seine Einsamkeit, seine Verwirrung, seine Feindseligkeit gegenüber dem Gesellschaftlichen, das ihn überallhin verfolgt, zu einer metaphysischen (oder ontologischen) Position erhebt und von dieser Position aus im Namen der ganzen Menschheit spricht. Bollnow benutzt die emotionalen Reaktionen des deutschen Spießers in der Periode der Stabilisierung des westdeutschen Kapitalismus als Ausgangspunkt, und bei den weiteren Versuchen, jenseits des Existentialismus einen Ausgang zu finden, hält er sich ebenfalls an diese Orientierung. Gleichzeitig bemüht er sich, einige eigene Korrektive in die Dynamik der Lebensphilosophie hineinzutragen, welche „immer zur Verherrlichung des Kampfes und des Krieges geneigt" hat. Diese Neigung zeigt sich schon „beim ersten der Lebensphilosophen", bei Heraklit, dann wird Nietzsche genannt, der in einer „tief im Wesen des Irrationalismus begründeten Weise den Krieg als das große lebenssteigernde Prinzip verherrlicht hat" und für den nur der Krieger der wahre Mensch sei. Der existentialistische Kritiker tritt durchaus nicht rundweg gegen „lebenssteigernde Prinzipien" auf, er findet, ein „solcher Heroismus hat immer etwas Berauschendes und hängt eng mit dem allgemeinen irrationalen Lebensgefühl zusammen"; er tritt jedoch gegen einen MißHJ Ebd., S. 21.

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brauch dieser Prinzipien ein, womit er die Theoretiker des Faschismus meint, die sie in ihrer primitiven Form genommen und damit ihren tieferen Inhalt diskreditiert haben. Bollnow hält es für zweckmäßig, den Begriff des Krieges durch den allgemeineren des Kampfes zu ersetzen, der „unentrinnbar mit der Lage des Menschen in seiner Welt verbunden ist". Jaspers hatte den Kampf unter die Grenzsituationen eingereiht, Bollnow jedoch findet das bedenklich, denn es verführt dazu, „das Böse zu früh als unentrinnbar hinzunehmen". Bollnow ist gegen Extreme; er erkennt die Gefährlichkeit des Lebens, aber er ist nicht bereit, Nietzsche zu folgen, der das Gefahrlichleben in der Aufforderung ausdrückte: „Baut eure Städte an den Vesuv!". (Das Risiko einer ordentlichen bürgerlichen Existenz ist ohnehin groß genug.) Der Existentialismus, der darauf folgte, mochte vielleicht in seiner Angst erzittern und vor diesem Aufruf erschrocken zurückfliehen — eben dadurch, daß er die Angst als unentrinnbares Schicksal hinnimmt, bleibt er grundsätzlich auf demselben Boden. 144 Die letztere Bemerkung erscheint akzeptierbar, aber sie hat eine zu sehr eingeschränkte Bedeutung — sie dient dazu, den „Willen zur Ordnung und zur Sicherheit" zu begründen. 145 Die Vernunft erhält, soweit sie sich dem für treue Untertanen gebotenen „Willen zur Ordnung und zur Sicherheit" einfügt, aus Bollnows Händen „Bürger"-Rechte (im Doppelsinn des Wortes „bürglich"), sie erhält die Aufgabe, dem „bedrängenden Chaos unkontrollierbarer Mächte einen Bereich der Ordnung und des Friedens abzugewinnen". Indem es der Mensch unternimmt, sein Haus zu bauen und darin seine Wohnung zu gestalten, gewinnt er einen Halt in der Welt und ist nicht mehr der „ewig getriebene Flüchtling". Dabei kann die Vernunft nicht dazu dienen, die ganze Welt nach ihren Plänen einzurichten, die ganze Welt zu ihrem Haus zu machen (wie der naive Rationalismus der Aufklärung annahm), sondern nur dazu, „dem weiteren Bereich des Unbeherrschbaren den engeren Bereich des Beherrschbaren, dem Bedrohlichen die schützende Welt des Hauses abzuringen". „Die anthropologische Funktion des Hauses", schriebt Bollnow, „konnte darum erst dort zum Problem werden, wo die Welt in ihrer Unwohnlichkeit, in ihrer Unheimlichkeit und Bedrohlichkeit entdeckt wurde . . . Der Weg zum Verständnis des Hauses mußte darum notwendig über die existentialistische Erfahrung vom Unbehaustsein des Menschen führen." i"4 Ebd., S. 2 2 - 2 4 . >•>5 Ebd., S. 25. >«« Ebd., S. 26, 27. 27

Oduev

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Das Problem des Hauses hängt demnach aufs engste mit dem Verhältnis zwischen Rationalismus und Idealismus zusammen und ist insofern „zentral für die Auseinandersetzung des gegenwärtigen Menschen"; hier werden Bollnows Meinungsverschiedenheiten mit dem doktrinären Existentialismus sichtbar. Bollnow ist die klassische Einteilung der intellektuellen Fähigkeiten des Menschen in Verstand und Vernunft nicht fremd. Der Verstand ist für ihn die Kunst des „begrifflichen Durchkonstruierens", der technischen Bewältigung der dem Menschen im Leben gestellten Aufgaben. Insofern hat er auch zugleich etwas „Subalternes" an sich, er kann selbst keine Ziele geben, sondern kann in den Dienst beliebiger Ziele treten. „Der Verstand als solcher ist weder gut noch böse, sondern nur ein dienendes Werkzeug". Er kann auch in den Dienst einer verbrecherischen Leidenschaft treten, Fanatismus ist eine solche „durchrationalisierte Leidenschaft". Die Vernunft hat die Funktion, „Spannungen zu beseitigen und eine Möglichkeit reibungslosen Zusammenlebens zu schaffen", sie ist das „Prinzip des Maßes", ihr Wesen ist „Mäßigung". „Und hatten wir den handwerklichen Verstand benötigt zum Bauen des Hauses, so brauchen wir die Hilfe der Vernunft in der Verträglichkeit des gemeinsamen Miteinander-wohnens." Die Vernunft ist nicht ein besonderes Seelenvermögen neben anderen, sie ist auch nicht das oberste Vermögen, sondern sie fällt mit dem Wesen des Menschen selber zusammen. „In diesem Sinne heißt Herrschaft der Vernunft die Humanisierung des Lebens durch die Bändigung der irrationalen Mächte." 1 4 7 Nachdem er so die Vernunft als ein regulierendes Prinzip im menschlichen Zusammenleben behauptet hat, geht Bollnow daran, eine neue Kategorie, ein neues Existential zu begründen, das unter der Bezeichnung „ M a ß " in den philosophischen Gebrauch eingeführt wird. Er betrachtet das Maß auf der psychologischen Daseinsebene als eine der entscheidenden Kategorien für die innerlich bewußtgemachte Regulierung der zwischenmenschlichen (gesellschaftlichen) Beziehungen mit dem Ziel, das Gleichgewicht der unter den Bedingungen des Kapitalismus kämpfenden Klassen zu erhalten. Dabei wird die den Kapitalismus treibende, unersättliche Gier der Ausbeutung, Bereicherung und Herrschaft als eine unabtrennbare Eigenschaft des menschlichen Wesens ausgegeben. Es ist nicht uninteressant, daß als Beispiel für diese „Ungenügsamkeit", diese „Vermessenheit", zu der der. Mensch angeblich von Natur aus neigt, das Schicksal des Ikarus angeführt wird, der sich 147 Ebd., S. 31,32. 418

fliegend über die Erde erheben wollte und abstürzte, als er der Sonne zu nahe kam, eine Tat, deren Kühnheit bis heute mutige Menschen begeistert und den vorsichtigen Spießerverstand erschreckt. Die Aufgabe, das Maß, das ihm von Natur aus fehlt, aus eigener Kraft zu verwirklichen, erhebt Bollnow zur wichtigsten Aufgabe des modernen Menschen, es kommt darauf an, „mäßigend das Ungestüm des sich selber verzehrenden Dranges einzudämmen und die Mitte zu finden, in der er allein sein wahres Wesen verwirklichen kann. Diese Aufgabe ist es, in der sich allein seine Menschlichkeit vollendet". Dieser Traum von der „goldenen Mitte" (d. h. vom sozialen Gleichgewicht und von vorsichtiger kleinbürgerlicher Vernünftigkeit) stimmt Bollnow romantisch, er bedauert, daß die Zeiten, die „sich des Maßes bewußt waren" und zu denen er das klassische Griechentum, das hohe Mittelalter, die italienische Renaissance, die französische Kunst des frühen 17. Jahrhunderts und die Welt der großen deutschen Dichtung um 1800 rechnet, unwiederbringlich verloren sind. Die Geschichte der Menschheit war immer ein Kampf des Maßes mit der Maßlosigkeit, aber Bollnow ist sich sicher, „daß das Prinzip des Maßes noch niemals so verkannt und die Maßlosigkeit noch nie zu einer so unbeschränkten Herrschaft gekommen ist wie in unserer Gegenwart". 1 4 8 Dieser Zustand ist das Ergebnis der modernen irrationalen Bewegung, die „von den prometheischen Anfangen des jungen Goethe über die Schwärmereien der Romantik und die verführerischen Ideale Nietzsches bis zur Alltagswirklichkeit der Gegenwart unserer Tage" geführt hat. Die Konzeption der „Überwindung des Existentialismus" fordert Opfer, und sowohl Prometheus, Symbol des unauslöschlichen Feuers der Vernunft, als auch Goethe, der sich in seiner Jugend zum prometheischen Element der Kunst bekannt hat, werden dieser Konzeption auch sofort geopfert. Bei Nietzsche drückt sich nach Bollnow das für unsere Zeit so charakteristische Prinzip der Maßlosigkeit und folglich der „Verrat des modernen Menschen an seiner Menschlichkeit" besonders deutlich aus. Die „Verachtung des Maßes", die „Unendlichkeit des Strebens" werden damit zur eigentlichen Wesensbestimmung des Menschen. Nietzsche hat damit jedoch nur ausgesprochen, was „den modernen Menschen in einer entscheidenden Hinsicht kennzeichnet: Das rechte Verhältnis zum Maß ist ihm verlorengegangen, und an seine Stelle ist unter dem trügerischen Deckmantel des Unendlichkeitsstrebens eine alles zerstörende Maßlosigkeit getreten". "»8

E b d . , S. 34.

"»»

E b d . , S. 36.

27*

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Von hier aus beginnt eine Attacke gegen die Unersättlichkeit des modernen Menschen: „Ob es nun der Fernsehapparat ist, das eigene Auto oder die Ferienreise nach Mallorca: in allem strebt der Mensch über seine vernünftigen Grenzen hinaus" 1 5 0 . Kaum ist das eine Ziel erreicht, so treibt das neue Bedürfnis den Menschen zu neuer Anstrengung weiter. In der technischen Welt jagt eine Erfindung die andere, und „die Entwicklung des technischen Fortschritts droht sich in immer schnellerem Tempo zu überstürzen". Bollnow benutzt als Maß seiner philosophischen Überlegungen den Mythos von der Vermassung des Individuums, dessen metaphysischer Prototyp der verwirrte Philister als Hauptobjekt der Manipulation durch die bürgerliche Propaganda und Reklame ist, und er verwirrt ihn noch mehr durch die Drohung, daß sich der Mensch unter dem Einfluß der Maßlosigkeit im allerwörtlichsten Sinne selbst vernichten wird. 1 5 1 Daraus leitet er Maximen der Lebensweisheit ab, die gegen eine nihilistische Abwertung der Vernunft gerichtet sind: die höchste Aufgabe des Menschen ist es, „das richtige Verhältnis zwischen der Vernunft und den irrationalen Kräften des Lebens zu gewinnen", „Leidenschaft ohne Vernunft reißt den Menschen in blinder Vermessenheit mit sich fort" usw. in dieser Art. Die Vernunft wird nur im Maße ihres Alltagsgebrauches anerkannt. Darin besteht eigentlich auch das Maß der menschlichen Verhältnisse, es bestimmt sich in jedem einzelnen Falle mit Hilfe der Alltagsvernunft. Die Bewertung des Maßes ist stets relativ und von den Besonderheiten der Situation bedingt. Das Maß als Kategorie der Vernunft und die Vernunft als Prinzip des Maßes — das sind nur verschiedene Ausdrucksformen desselben philiströsen Konformismus. Bollnow kann es auch nicht lassen, den Leser mit „alarmierenden Bedenken" über die Dämonie von Wissenschaft und Technik zu langweilen, denen die gesamte Last der Verantwortung für die Enthumanisierung der menschlichen Verhältnisse im Kapitalismus, d. h. für die kapitalistische Ausbeutung, für die Arbeitsteilung, die den Arbeiter körperlich und geistig verkrüppelt, für den Verfall der bürgerlichen Kultur und des bürgerlichen Bewußtseins, für Erfolgs- und Bereicherungsgier usw. auferlegt wird. Was er vorschlägt, erinnert an das Nietzschesche Rezept, „die Wissenschaft durch die Kunst zu bändigen". Seine Kritik scheint hin und wieder zutreffend zu sein, aber sie ist niemals konstruktiv. Seine iso Ebd., S. 36. 151 Ebd., S. 36, 37. 420

weitläufigen Überlegungen sind ohne besonderes Interesse für die Forschung, sie können jedoch gut als Illustration einer sogenannten TechnikPhilosophie dienen, wie sie in den Werken von Kulturphilosophen, Anthropologen aller Schattierungen, Industrie-Soziologen usw. im Überfluß anzutreffen ist. Wir möchten allerdings einen gewissen relativen technischen Optimismus hervorheben, der in deren Werken immer deutlicher spürbar zu werden beginnt. Bollnow läßt dem Menschen eine gewisse Hoffnung, wenn er sich nur an vernünftige praktische Ratschläge hält. Das menschliche Individuum befindet sich ständig in der Spannung zweier Pole: auf der einen Seite die aus seiner Kontrolle geratene „Selbstbewegung" der Technik mit ihrer Forderung nach rationalem Denken, die die menschliche Seele verarmt und in ihr keinen Platz mehr für das Gefühl läßt, und auf der anderen Seite die Herrschaft der Masse, die „als solche schon immer gedankenlos und grausam (ist), wenn sie ihrem Masseninstinkt gehorcht". 152 Die massenbildenden Kräfte, die Herrschaft der Masse wachsen heute durch die Mittel der modernen Massenbeeiriflussung in riesigem Ausmaß, sie lösen Herdeninstinkte aus und schaffen seelische Mittelmäßigkeit. In dieser Situation muß der Mensch die Energie in sich finden, die „Ausbildung seiner Selbständigkeit gegenüber allen unmittelbar kollektiven Mächten" in einem „frei in sich selber ruhenden, gegenüber den Masseneinflüssen unabhängigen Menschen" zu entfalten. Gegenüber der „Meinungsmache" durch die Manipulation hat der einzelne Mensch die Aufgabe, „in sich Kräfte zu entwickeln, die ihn befähigen, dieser unablässigen Beeinflussung standzuhalten und seine eigene Auffassung zu behaupten". Das erfordert „die Ausbildung seiner freien Vernunft, insbesondere seiner Urteilsfähigkeit, die es ihm erlaubt, der Masse gegenüber Abstand zu gewinnen", es muß eine „einfache Sittlichkeit", eine „einfache Menschlichkeit" entwickelt werden. „Wo in diesem Sinne der lebendige Mensch mehr zählt als alle abstrakten Theorien und hohen Ideale, wo der Mensch das Wilde in sich zähmt und in stiller Selbstverständlichkeit bereit ist für seine Mitmenschen, wo das Einfache wieder geschieht: da ist Menschlichkeit, da ist letzte Vollendung des Menschen." Es ist, wie man sieht, höchst einfach, unter den gegebenen (kapitalistischen) sozialen Bedingungen die „letzte Vollendung des Menschen" zu erreichen: der Mensch muß nur den Glauben an sich selbst und die Hoffnung zurückgewinnen, er braucht Vertrauen zum anderen und zu den tiefen Impulsen des Daseins, und er muß das '52 Ebd., S. 98. 421

rechte Maß zwischen Vernunft und Gefühl finden. Selbstverständlich wird den „neuen" Kategorien auch ein ihrer Wichtigkeit entsprechender theoretischer Klang beigegeben, er weist ausdrücklich darauf hin, daß es sich nicht bloß um „psychologisch zu verstehende Zuständigkeiten der menschlichen Seele" handelt, sondern um „Möglichkeiten einer wirklichen metaphysischen Erfahrung, die das Sein in einer Weise aufschließen, wie es auf keine andre Weise sonst möglich wäre". 1 5 3 Im weiteren wird jedoch klar, daß sich diese „metaphysische Erfahrung" aus den emotionalen Erlebnissen des Menschen konstituiert, nicht aber aus den inneren. Impulsen seines Wesens, denn das in den Tiefen der Seele verborgene menschliche Wesen ist — wenn man Bollnow glauben will — unerkennbar. Deshalb soll sich die Menschenkenntnis nicht auf den „Kern" des Menschen richten, um ihn zu analysieren, sondern auf den Bereich der alltäglichen menschlichen Beziehungen. Was kann Bollnow der schon erwähnten Bestimmung des Menschen, nach der dieser das Wesen ist, welches sich ein Haus baut, noch hinzufügen? Nichts Eigenes, aber er hält es für nötig, noch einmal auf einen Nietzsche-Aphorismus zurückzukommen: der Mensch ist als „nie zu vollendendes Imperfectum" an die Kette der Vergangenheit gebunden, d. h., er hat im Unterschied zum Tier die Fähigkeit, das Vergangene in seinem Gedächtnis zu bewahren (neben der Fähigkeit zu vergessen). Bollnow bevorzugt ein richtiges Gleichgewicht zwischen dem Erinnern und dem Vergessen, auf dem die Fähigkeit zum schöpferischen Handeln beruht. Dieses Gleichgewicht drückt er in dem Begriff des „Nachholens" aus und gibt ihm einen metaphysischen Sinn. Unter „Nachholen" versteht er nicht, daß eine früher begonnene Arbeit fortgeführt und abgeschlossen wird, sondern „Nachholen" ist das „Sichzurück-versetzen in die Vergangenheit", die Rückkehr zu einem Ausgangspunkt, die er symbolisch in der Metapher der „Schleife" ausdrückt. Aus dieser „Zeitschleife" ergibt sich die „verschlungene Struktur der menschlichen Zeitverfassung", sie erklärt den Sinn des menschlichen Daseins: „Diese Möglichkeit des Nachholens scheint eine spezifisch menschliche Möglichkeit zu sein. Das Tier, wie es Nietzsche zu Beginn der Zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung schildert, hat diese Möglichkeit (noch) nicht." Der Mensch versetzt sich ausdrücklich in die Vergangenheit zurück, um von ihrem Standpunkt aus eine frühere Aufgabe neu in Angriff zu nehmen. Diese Auffassung deckt sich mit dem alten christlichen Menschenverständnis, „daß der Mensch zu'53 BOLLNOW, O. F., Neue Geborgenheit, Stuttgart/Köln 1955, S. 147.

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meist nicht so ist, wie er sein soll, daß er insofern in einem Widerspruch lebt zwischen seinem inneren Wesen und seinem faktischen Zustand und daß ihm daher eine innere Umkehr aufgegeben ist, um zu seinem eigentlichen Wesen zurückzukehren". 1 5 4 „Nachholen" ist kein einfaches „Einholen" oder „Aufholen": Wenn ein Wanderer einen anderen Wanderer, der vor ihm auf derselben Straße geht, durch Beschleunigung seiner Schritte einzuholen versucht, entsteht zwar schon eine „Spannung zwischen Sein und Sollen", aber „wir haben noch keine eigentliche „Schleife" in dem zuvor eingeführten Sinn, d. h., man versetzt sich nicht in einen früheren Zeitpunkt zurück, um an diesem neu zu beginnen". Eigentliches „Nachholen" ergibt sich im „Wiederholen" (Wiederholen eines Konzertes, Wiederholen einer Lektion usw.). Ein solches „Wiederholen" ist „im existentiellen Bereich" möglich als die „Form der existentiellen Aneignung der Vergangenheit". Wiederholen heißt also: „die verschwundene Vergangenheit neu heraufzuholen, das einmal Gewesene und der Vergangenheit Anheimgefallene erneut zu realisieren, wobei es (als eine getreue Kopie) genau so wiederholt wird, wie es einmal gewesen ist". „Nachholen" ist nun das Wiederholen von etwas Versäumtem, der Mensch holt nach, wobei er „beim ersten Male keinen oder keinen hinreichenden Erfolg gehabt hat". Hieran erkennt man deutlich den „Schleifencharakter" der Zeit: „Der Mensch versetzt sich innerlich in einen früheren Zeitpunkt zurück, um das damals Mißlungene erneut zu versuchen. So kann der Mensch in mehreren Ansätzen sein Ziel zu erreichen versuchen, und vielleicht gehört diese Möglichkeit des wiederholten Ansatzes ganz tief zum Wesen des menschlichen Lebens." 155 Bollnows Argumentation ist äußerst verworren und unklar, aber sie wird in dem Maße klarer, wie er sich dem „anthropologischen Ergebnis" nähert. Allmählich zeichnet sich ab, daß er die Heideggersche Zeitkonzeption überwinden möchte, welche den Menschen auf das Kommende, auf die Gefahren, Schrecken und Ängste der unbekannten Zukunft orientiert. Bollnow legt eine vereinfachte und an den nicht sehr wählerischen Geschmack des Spießerpublikums angepaßte Umsetzung der Nietzscheschen Idee von der ewigen Wiederkunft des Gleichen vor, ohne die Quelle zu nennen. Es besteht kein Grund, die Zukunft zu fürchten, denn immer ist „ein Zurücktreten in der Zeit zu einem früheren Zeitpunkt, eine ,Schleife' im früher besprochenen Sinn" möglich. 154

BOLLNOW, O. F., Maß und Vermessenheit des Menschen, a. a. O., S. 208, 220, 221, 222, 2 2 5 - 2 2 6 . 155 Ebd., S. 227, 228, 229—230.

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Allerdings wäre es „zu einfach, wenn man nur von einem einmaligen Wiederaufnahmevorgang sprechen würde. Auch das schon Wiederaufgenommene kann erneut aufgenommen werden, und so haben wir im Leben eine Stufenfolge immer erneuter Rückwendungen und Wiederaufnahmen des Abgebrochenen und Unvollendeten. Dies ist aber alles andere als eine Unvollkommenheit, denn nur in diesem ,Iterationsverfahren' kommt das Leben zu sich selber, erst in einer Kette wiederholter Selbstinterpretationen. Das gilt vom Leben des einzelnen Menschen wie auch von der Geschichte im ganzen." 156 Die psychologisch-soziale Bedeutung dieser Konzeption reduziert sich auf eine spießbürgerliche Variante des „heroischen Pessimismus", in dem sich die Lebensphilosöphie vollendete. Darin besteht auch der verborgene Sinn des „neuen Seinsvertrauens", der „neuen Geborgenheit", die ihr zaghaftes Ja zum Leben spricht. Das ist selbstverständlich kein dionysisches Pathos der Lebensbehauptung, in dem sich ein Element des Rebellischen geltend macht, sondern eine stille und bescheidene Akzeptierung des Daseins, wie es ist und wie es gestern war, eines Daseins mit seinen Gegebenheiten, mit seinen großen Widersprüchen und Konflikten, aber auch mit seine kleinen Freuden und Vergnügungen, mit denen die Monopolbourgeoisie hin und wieder den ordentlichen Philister auszeichnet. Bollnow stellt fest, „daß ein solches Seinsvertrauen die notwendige Vorbedingung für alles menschliche Leben ist" 157 . Die bürgerliche Existenzweise kann ohne dieses nicht mit einer historischen Perspektive rechnen. Die von Bollnow als Ersatz für die bekannten traditionellen Existentiale konstruierten neuen Kategorien — wir haben nur zwei von ihnen, das „Haus" und das „Maß", betrachtet in der Annahme, daß dies hinreicht zu zeigen, in welche Richtung diese „Überwindung des Existentialismus" zielt — berühren dessen theoretische, methodologische oder weltanschauliche Grundlagen nicht, die „Erneuerung" betrifft nur das kategoriale Arsenal und modernisiert es entsprechend den veränderten Bedingungen. In diesen Versuchen widerspiegeln sich auch einige neue Momente in der Entwicklung des (und vor allem des westdeutschen) Kapitalismus in den 50er und 60er Jahren, der damals eine gewisse Stabilisierungsphase durchlebte, in der die allgemeine Krise auf ökonomischem und politischem Gebiet in nicht so nackter Form erschien. 156 Ebd., S. 237. '57 BOLLNOW, O. F., Neue Geborgenheit, a. a. O., S. 20.

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Das erzeugte bei diesem bürgerlichen Ideologen die Illusion eines beständigem sozialen Gleichgewichts und einer Sicherheit, es flößte Hoffnung und Vertrauen in das gegebene Dasein ein; gleichzeitig bleibt jedoch das alarmierende Gefühl, aber es äußert sich nicht als besinnungslose Angst, sondern als Wunsch, ein vernünftiges Maß an sozialer Regulation zu finden, die wenigsten den Status quo garantiert. Es hat den Anschein, als sei die „Grenzsituation" vorbei und als sei die gerade erlebte Krise eine „Ausnahmesituation", eine „Unterbrechung im normalen Fluß des Lebens" gewesen. Zwar können sich solche „Ausnahmesituationen" öfter ereignen, aber in den Zeiten dazwischen verläuft das Leben „in ruhiger Stetigkeit", ohne daß dabei eine Entscheidung im prägnanten Sinne erforderlich wäre. Der Reformator des Existentialismus ist bereit, den „klassischen" Begriff der Grenzsituation zu opfern, denn „die Forderung nach einer ständigen Entschlossenheit ist. . . eine falsche und sehr verhängnisvolle Heroisierung und gerade in ihr liegt dann eine der wichtigsten Quellen für die . . . existentielle Verkrampfung" 1 5 8 . Er erkennt seine Verpflichtung, diese „existentielle Verkrampfung" zu lösen. Die neuen Kategorien Bollnows bringen das zentrale Problem des Existentialismus — das Problem des Menschen — um kein Jota der Lösung näher. In ihnen werden die philosophischen Erörterungen über das Schicksal der Persönlichkeit in der bürgerlichen Gesellschaft ersetzt durch ein leeres emotionales „Getrost-sein", durch platte Lebensweisheiten und durch belehrende Predigten für den westdeutschen Spießer. Dieses Philosophieren am Rande des vom Existentialismus eingeschlagenen Weges drückt deutlicher als der orthodoxe Existentialismus das bürgerliche Bewußtsein in der Phase relativer Stabilisierung des kapitalistischen Systems aus. Eine „Überwindung des Menschen durch sich selbst", gedacht als Aufhebung der Entfremdung, gelingt Bollnow nicht. Sie gelang nicht in der Steigerung der Persönlichkeit zum „Übermenschen", von der einige romantische Anhänger Nietzsches träumten, sie gelang nicht mit Hilfe der „höheren Menschen", auf die die nüchtern denkenden Nietzsche-Anhänger rechneten, und sie gelang auch diesmal mit Hilfe der Erziehung „ordentlicher Deutscher" im Geiste eines „vernünftigen" Maßes, des „Selbstvertrauens" und „Getrost-seins" im Hinblick auf die relative Stabilisierung der westdeutschen Wirtschaftsverhältnisse zur Zeit des sogenannten „Wirtschaftswunders" nicht. Das Problem des Menschen findet in all seiner Vielseitigkeit und '58 Ebd., S. 43. 425

Tiefe, in all seinen Vermittlungen und wesentlichen Aspekten erst im Marxismus wissenschaftliche und methodologische Prinzipien und praktische Wege der Verwirklichung. Der Marxismus verbindet die Lösung dieses Problems in erster Linie mit der revolutionären Umgestaltung der kapitalistischen Gesellschaft auf den Grundsätzen des Kommunismus. Er hat das Geheimnis der Entfremdung des menschlichen Wesens in der entfremdeten Arbeit enthüllt, die wiederum vom Mechanismus der kapitalistischen Warenproduktion bedingt ist, welche auf der Entfremdung des unmittelbaren Produzenten von den Produktionsmitteln beruht. Mit dem Sturz des Kapitalismus werden auch die Ursachen beseitigt, die die Entfremdung der Arbeit und damit die Entfremdung des menschlichen Wesens hervorbringen. Deshalb ist die positive Aufhebung des Privateigentums die positive Aufhebung aller Entfremdung, also die Rückkehr des Menschen „in sein menschliches, d h. gesellschaftliches Dasein" 1 5 9 . Die Entfremdung verschwindet vollständig im Kommunismus, den Marx als „vollendeten Humanismus" charakterisiert: „Der Kommunismus als positive Aufhebung des Privateigentums als menschlicher Selbstentfremdung und darum als wirkliche Aneignung des menschlichen Wesens durch und für den Menschen; darum als vollständige, bewußt und innerhalb des ganzen Reichtums der bisherigen Entwicklung gewordne Rückkehr des Menschen für sich als eines gesellschaftlichen, d. h. menschlichen Menschen. Dieser Kommunismus ist als vollendeter Naturalismus = Humanismus, als vollendeter Humanismus = Naturalismus, er ist die wahrhafte Auflösung des Widerstreites zwischen dem Menschen mit der Natur und mit dem Menschen, die wahre Auflösung des Streits zwischen Existenz und Wesen, zwischen Vergegenständlichung und Selbständigkeit, zwischen Freiheit und Notwendigkeit, zwischen Individuum und Gattung. Er ist das aufgelöste Rätsel der Geschichte und weiß sich als diese Lösung." 1 6 0 Die praktische Erfahrung bei der historischen Umgestaltung der sozial-ökonomischen Struktur der Gesellschaft, des Charakters und des Wesens der Arbeit, des geistigen und moralischen Lebens in den sozialistischen Ländern bestätigen diese theoretische Voraussicht des Marxismus völlig.

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MARX, K.., Ökonomisch-philosophische Manuskripte, a. a. O., S. 537. i«« Ebd., S. 536.

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Schlußbemerkung

Nietzsche nimmt in der bürgerlichen deutschen Philosophie einen besonderen Platz ein: ihm gelang es, jene grundlegenden Probleme und Tendenzen, die für die Besonderheiten ihrer Entwicklung kennzeichnend sind, im Keime zu „erraten" und zu bestimmen und auch die methodologischen Postulate des „Philosophierens" festzulegen, von denen in umfassendem Maße Rolle und Bedeutung des philosophischen Denkens in der modernen bürgerlichen Welt definiert werden. Die Krise der kapitalistischen Produktionsweise wird vom Verfall der bürgerlichen Kultur, von der Dekadenz des bürgerlichen Bewußtseins begleitet. Der Nietzscheanismus ist wahrscheinlich die markanteste Erscheinungsform dieser sich permanent vertiefenden Krise des bürgerlichen Geistes, er ist die ideologische Widerspiegelung und Konstatierung seiner Ohnmacht und Unfähigkeit, den Prozeß der geistigen Degeneration, des moralischen und intellektuellen Zerfalls der kapitalistischen Gesellschaft aufzuhalten. Die Perspektivlosigkeit und die Verwirrung vor dem morgigen Tag bringen unvermeidlich Relativismus und Skeptizismus in der Wissenschaft, Dekadenz und Formalismus in der Kunst hervor und schaffen die Bedingungen für das Entstehen und die Verbreitung einer Philosophie, die an die Stelle einer wissenschaftlichen Analyse der Wirklichkeit „Chiffren eines perfektionierten Illusionismus" setzt 161 , die die Wahrheit in ein „System prinzipieller Fälschungen" verwandelt, Dialektik durch Sophistik, Kultur durch Barbarei ersetzt und statt einer Theorie der Gesellschaft eine voluntaristische Mystik hervorbringt. Dazu wird das bürgerliche philosophische Denken vom objektiven Gang der Ereignisse, von der Logik der Geschichte selbst gezwungen. Diese Tragödie des bürgerlichen Bewußtseins fand ihre Verkörperung, ihre historische Maske im „freien Geiste" Zarathustras. Nietzsche SANDVOSS, E., Sokrates und Nietzsche, Leiden 1966, S. 131.

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zerschlägt mit einem Schlage seines Hammers die Kette der philosophischen Erbfolge: er betrachtet die ganze bisherige Philosophie als Geschichte des längsten Irrtums, die es zu bekämpfen gilt. Mit ihm beginnt in der bürgerlichen Philosophie jene „Tradition der Verleugnung der Tradition", die dann von Ortega y Gasset zu einer „Gesetzmäßigkeit" in der Entwicklung des philosophischen Denkens erhoben wurde, jene Tradition des Bruches mit dem gesamten progressiven Erbe der Vergangenheit von Demokrit und Piaton bis hin zu Hegel und Feuerbach. Die philosophische Forschung wird losgerissen von jener wissenschaftlichen Grundlage, die ihre progressiven Ergebnisse genährt hat und die die Philosophie wiederum mit ihrer theoretischen Analyse befruchtet hat. Selbstverständlich flieht die Philosophie durch diese „Selbstentfremdung" von der Wissenschaft nicht vor der Wirklichkeit, aber sie möchte diese erklären, ohne zur Vermittlung des auf wissenschaftlichem Wege gewonnenen Wissens zu greifen; damit verwandelt sie sich in ein Mittel der „interessierten" Interpretation der Welt, der Natur und der gesellschaftlichen Verhältnisse, und die von ihr entdeckte Wahrheit wird zu einem „System prinzipieller Fälschungen"; in diesem subjektivistisch-voluntaristischen Akt versucht sie, einen Ausweg aus der Sackgasse zu finden. Diese Tendenz, die ihren Anfang bei Schopenhauer und Kierkegaard nimmt und sich bei Nietzsche zur Hauptrichtung der „Umwertung" der theoretischen Werte entfaltet, wird dominierend für die gesamte Lebensphilosophie und wird, wie wir zu zeigen versuchten, vom Existentialismus und vielen anderen philosophischen Schulen des bürgerlichen Deutschland geteilt. Die Abwertung der Vernunft und des systematischen theoretischen Denkens, die Diskreditierung objektiver wissenschaftlicher Erkenntnis wird hier kompensiert von einem weltanschaulichen Aktivismus, der Nietzsche und seine Nachfolger nicht nur bei ihrem nihilistischen Pathos der Negation und in ihrer pseudoradikalen Kritik des gegebenen Daseins inspirierte, sondern auch bei dem positiven Programm, in dem zum ersten Male die „große Politik" des Imperialismus antizipiert wurde. Der Nietzscheanismus ist eine besondere Art von weltanschaulicher Parole der bürgerlichen deutschen Philosophie unseres Jahrhunderts, eine Richtschnur der weltanschaulichen Militanz, an der sich die nachfolgenden Generationen bürgerlicher Philosophen orientieren, angefangen bei den Liberalen neokantianischer Prägung und den oppositionellen Intellektuellen bis hin zur ideologischen Reaktion pangermanischer, halbfaschistischer und offen faschistischer Gestalt. Vor allem durch weltanschauliche und ideologische Motive 428

wurde auch die Nachkriegs-„Renaissance" des Nietzscheanismus hervorgerufen. Die Theoretiker der modernen Bourgeoisie werden vom Nietzscheanismus vor allem durch dessen antidemokratische, antisozialistische und antihumanistische Tendenz angezogen. Er wird zwar oft als ein gewisser Neohumanismus reproduziert und angepriesen, aber eine philosophische Doktrin, die theoretisch und politisch gegen Demokratie und Sozialismus gerichtet ist, kann nur vom Standpunkt eines bürgerlichen Ideologen, der den Kapitalismus als das „natürliche" Dasein der Menschheit versteht, als Humanismus gekennzeichnet werden. Die Mystik Nietzsches liefert ein theoretisches Modell für die indirekte Apologetik der kapitalistischen Weltordnung und der imperialistischen Versklavung. Die theoretischen Verteidiger des Kapitalismus, die dem Modell des Verkünders des Willens zur Macht, des Übermenschen und der ewigen Wiederkunft folgen, können sich nicht zu einem solchen „großartigen" Zynismus entschließen, wie ihn sich der „große Versucher" gestattete; sie maskieren ihre Apologie mit falschen Bekenntnissen zu den „Idealen der abendländischen Welt", zu den ewigen allgemein-menschlichen Werten der Kultur usw., aber dahinter verbirgt sich der gleiche Haß auf die Demokratie und den Sozialismus, auf die humanistischen Ideale und Bestrebungen der Werktätigen. Anders kann es auch gar nicht sein. Denn in einer Gesellschaft, in der sich die menschliche Würde in einen Tauschwert verwandelt, in der der Mensch entfremdet und entpersönlicht ist, in einer solchen Gesellschaft, in deren Dienst die bürgerlichen Theoretiker stehen, verlieren die Beziehungen zwischen den Menschen ihren menschlichen Charakter. Der Kapitalismus ist schon längst zur Barbarei entartet, er hat sich von den humanistischen Ideen seiner ersten Ideologen losgesagt, weil diese Ideen unverträglich sind mit der Herrschaft des Kapitals, das sich nicht scheut, die Würde des einzelnen Menschen und die Freiheit ganzer Völker, die Bürgerrechte und Millionen von Menschenleben zu opfern, um diese unmenschliche, auf Ausbeutung, Willkür und Verhöhnung der menschlichen Persönlichkeit beruhende Welt zu erhalten. Der unter der Decke einer Philosophie des Lebens, unter der Maske der Objektivität und eines pseudorevolutionären Charakters wirkende, poetisch durchtränkte und gespannte, raffiniert über alle Mittel der emotionalen Beeinflussung verfügende Nietzscheanismus appelliert an die verborgenen Instinkte des vom Kapitalismus gebrochenen Menschen, er entfacht in ihm alles Böse, Barbarische und Wilde, zersetzt seinen Verstand und seine Seele und 429

bringt sein Gewissen zum Schweigen. Einen besonders starken Einfluß übt er auf die Mittelschichten aus, auf die bürgerliche Intelligenz, das Kleinbürgertum und die Jugend. Verwirrt von der Entwertung der „ewigen" Werte und Ideale der westlichen Welt, von der Dekadenz der bürgerlichen Kultur, von der Bedrohung durch Technik und „Rationalisierung", verzweifelt an ihrer schwankenden Lage in der bürgerlichen Gesellschaft suchen diese Schichten im Nietzscheanismus die Möglichkeit eines „Ausbruchs" aus dem herannahenden Nichts. Die nihilistische Philosophie der „Umwertung aller Werte" zieht mit ihrem vorgeblichen Radikalismus auch jene an, die tatsächlich mit dem Kapitalismus unzufrieden sind, jedoch die Ursache der Nöte und Schrecken der kapitalistischen Ordnung nicht kennen. Der Nietzscheanismus als eine Philosophie des extremen egozentrischen Subjektivismus, die an die Stelle der Tatsachen der Geschichte, der Wirtschaft, der Politik und der gesellschaftliche Verhältnisse eine mythische Symbolik und eine Poesie blinder Willkür setzt, eröffnet dem zwischen Verzweiflung und Inaktivität schwankenden bürgerlichen Individuum einen scheinbaren Ausweg, der jenseits von Gut und Böse liegt, in einer sinnlosen Überspannung des Willens, um eine gespenstische „Freiheit des Geistes" zu erlangen, welche die „einmalige Individualität" über die „Herdenmenschen" erhebt und sie unter die „Auserwählten" einreiht, denen alles erlaubt ist. Diese Besonderheiten der Philosophie Nietzsches hat die deutsche Reaktion erfolgreich ausgenutzt, besonders der Faschismus, der es verstand, seinem verderblichen Einfluß breite Schichten des deutschen Bürgertums und der bürgerlichen Intelligenz und über diese auch einen bedeutenden Teil der gesunden Kräfte der Nation zu unterwerfen, die Masse der Deutschen mit einer Romantik des Sieges und des Hasses auf andere Völker zu verführen und ihr Denken und Tun in den schrecklichen Mechanismus des Krieges einzubeziehen. Das fesselt auch die Aufmerksamkeit der heutigen Ideologen der reaktionären Bourgeoisie am Niet-zscheanismus. Der Nietzscheanismus stellt ein anschauliches Beispiel einer politisch wirksamen Philosophie dar. Nicht nur der allgemeine Geist, sondern fast jeder seiner Aphorismen ist durchtränkt mit jener militanten bourgeoisen Parteilichkeit, die keine Versöhnung mit ihren geistigen Gegnern kannt. Jede Zeile, das ganze kritische Pathos der „Umwertung aller Werte", scheinbar auch gegen einige Seiten der kapitalistischen Wirklichkeit gerichtet, dienen letzten Endes den Aufgaben des Kampfes gegen die Befreiungsbewegung unserer Zeit, gegen die wissenschaftliche Weltanschauung, unter deren Banner sich diese Bewegung ent430

faltet und ihre welthistorischen Erfolge erringt. Die „Umwertung aller Werte" bestätigt die Unerschütterlichkeit der Schlußfolgerung des Marxismus-Leninismus: „Die neueste Philosophie ist genauso parteilich wie die vor zweitausend Jahren" 1 6 2 . Der Nietzscheanismus ist ein realer und gefährlicher Gegner, den die marxistischen Philosophen bekämpfen müssen und dessen Kraft und Spezifik der Einwirkung auf die Hirne und Herzen der Menschen sie nicht vergessen dürfen. Der Marxismus hat niemals irgendwelche Ansprüche auf das Nietzschesche „Erbe" erhoben. Jeder Versuch, den Marxismus mit dem Nietzscheanismus zu „verschmelzen" oder den Marxismus für diese geistige Strömung zu „öffnen", hat mit der kritisch-revolutionären Methode unserer Philosophie nichts gemein. Im Gegenteil, es ist nötig, dem neuen Andrang der heutigen Apologeten des Nietzscheanismus die theoretisch und emotional wirksame Propagierung der marxistisch-leninistischen Ideen entgegenzustellen, die in sich organisch die objektive wissenschaftliche Analyse der realen Wirklichkeit und der Gesetzmäßigkeit ihrer Entwicklung mit jenem hohen und wahrhaften Humanismus verbinden, dessen Träger die fortschrittlichste und revolutionär aktivste, mit einer fortschrittlichen und die Welt auf kommunistischer Grundlage umgestaltenden Theorie ausgerüstete Klasse ist.

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LENIN, W . I., Materialismus und Empiriokritizismus, in: Werke, Bd. 14, Berlin 1973, S. 363.

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Anmerkungen des Autors und der Herausgeber

[1] Um Nietzsches „Atheismus" völlig zu verstehen, ist es u. E. unumgänglich, auf dessen Beziehungen zu den machtpolitischen Auseinandersetzungen im damaligen Deutschland zu verweisen. Bekanntlich rief Bismarcks „kleindeutsche" Variante der Reichseinigung den Widerspruch der süddeutschen Staaten hervor, in denen die katholische Kirche Machtpositionen besaß. Das löste den „ K u l t u r k a m p f Bismarcks gegen die katholische Kirche in Preußen aus. Nietzsches politische Philosophie nimmt stets direkt oder mittelbar Bezug auf Bismarcks Politik. Er bewundert Bismarck wegen dessen Entschlossenheit, mit der er durch die Einigung Deutschlands von oben einer demokratischen Einigung von unten zuvorkommt; er lehnt jedoch „Bismarcks Kleindeutschland" scharf ab. Man muß also in Nietzsches Angriffen auf Christentum und Kirche auch den Versuch sehen, Bismarcks „ K u l t u r k a m p f zu unterstützen. (H.-M. G., G. R.) [2] Nietzsche lehnt nicht nur den Sozialdarwinismus ab, sondern — entgegen weitverbreiteten Ansichten — auch den Darwinismus als naturwissenschaftliche Lehre. Er ersetzte den Kampf ums Dasein als wissenschaftliche Erklärung der Entstehung der Arten durch ein irrationales Prinzip des „Willens zur Macht und des Kampfes um Macht", das sich damit auch in ein teleologisches Prinzip der Naturerklärung verwandelt. Im Gegensatz zu Darwin sieht er in Anpassung und natürlicher Auslese keine Mittel, die zur Steigerung der Lebensfähigkeit der Arten führen, sondern die Ursache für die physiologische Degenereszenz und damit auch für die Herausbildung der Masse: „Was mich beim Überblick über die grossen Schicksale am meisten überrascht, ist, immer das Gegentheil vor Augen zu sehn von Dem, was heute Darwin mit seiner Schule sieht oder sehen will: die Selektion zu Gunsten der Stärkeren, Besserweggekommenen, den Fortschritt der Gattung. Gerade das Gegentheil greift sich mit Händen: das Durchstreichen der Glücksfälle, die Unnützlichkeit der höher gerathenen Typen, das unvermeidliche Herr-werden der mittleren, selbst der unter mittleren Typen." Selbstverständlich ist hierbei nicht zu übersehen, daß Nietzsche dennoch Darwinistisches Gedankengut übernimmt und vulgarisiert und daß seine Lehre (besonders „Zucht und Züchtung") ohne dies nicht denkbar ist. (H.-M. G., G. R.) [3] „Ich rede hier nicht vom Wörtchen ,von' und dem Gothaischen Kalender: Einschaltung für Esel", schreibt Nietzsche. (H.-H. G., G. R.) [4] Es ist kaum möglich, das Verhältnis Thomas Manns zu Nietzsche in wenigen Sätzen erschöpfend darzustellen. Wichtig scheint jedoch die Feststellung, daß dieses Verhältnis für Thomas Mann ein Leben lang eine Art von „Haßliebe" war, die ihn ver-

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anlaßte, sich sowohl mit dem von Nietzsche aufgedeckten bürgerlichen Kulturverfall auseinanderzusetzen, als auch dazu, Nietzsche selbst als Exponenten eben dieses Verfalls zu verstehen und um Distanz zu ihm zu ringen : „Zuletzt gehört der Ästhetizismus, in dessen Zeichen die freien Geister sich gegen die Bürger-Moral wandten, selbst dem bürgerlichen Zeitalter an, und diese überschreiten heißt, herauszutreten aus einer ästhetischen Epoche in eine moralische und soziale. Eine ästhetische Weltanschauung ist schlechterdings unfähig, den Problemen gerecht zu werden, deren Lösung uns obliegt — so sehr Nietzsches Genie dazu beigetragen hat, die neue Atmosphäre zu schaffen." (H.-M. G., G . R . ) [5] Seit Spengler datiert im bürgerlichen Denken die scharfe Entgegensetzung von Kultur und Zivilisation: Zivilisation ist das „Greisenalter einer Kultur". [6] Jünger vertauscht hier die Begriffe „Staat" und „Gesellschaft" und stellt den Angriff auf den bürgerlichen Staat als Angriff auf die Gesellschaft überhaupt dar. (H.-M. G., G. R.) [7] Moeller van den Bruck ist wie andere Anhänger der Theorie der „konservativen Revolution" zwar Vorläufer und Wegbereiter des deutschen Faschismus, seine Ansichten sind jedoch nicht mit der Ideologie des Faschismus identisch. Das wird besonders an der Wertung der Novemberrevolution deutlich, die Moeller als eine nationale versteht, während die Nationalsozialisten die Novemberrevolution als das Werk der „Novemberlinge" verleumdeten. [8] Jünger schreibt über die Ergebnisse des zweiten Weltkrieges im Futurum, weil die Arbeit „Der Friede" bereits 1941 konzipiert wurde. Sie wurde nach dem Krieg überarbeitet und veröffentlicht. (H.-M. G., G . R.) [9] Mereskovskij, Dimitrij Sergeevic (1865—1941); russischer reaktionärer Schriftsteller, Vertreter der Décadence. Trat in den 80er Jahren mit von Mystik und Pessimismus durchdrungenen Gedichten auf. In den historischen Romanen M's erhielten die historischen Ereignisse eine verzerrte religiös-mystische Deutung. W. I. Lenin, G. W. Plechanow, M. Gorkij erteilten M. eine scharfe Abfuhr. Nach 1917 ist M . Weißemigrant; erbitterter Feind der Sowjetmacht. (H.-M. G., G . R . ) [10] Zu wissenschaftlichem Denken hingegen sind nach Rosenberg nicht alle Rassen fähig: „Alles, was wir heute ganz abstrakt Wissenschaft nennen, ist ein Ergebnis der germanischen Schöpferkraft,. . . nicht nur eine ,Idee an sich', auf die jeder Mongole, Syrier und Afrikaner auch verfallen müßte, sondern ganz im Gegenteil : dieser (in anderer Form im nordischen Hellas aufgetauchte) Gedanke sah sich durch Jahrtausende hindurch der wütefiden Gegnerschaft der vielen fremden Rassen und ihrer Weltanschauungen ausgesetzt." [11] Lange-Eichenbaums Buch erschien 1947. (H.-M. G., G . R.) [12] Die von E. Förster-Nietzsche ( t 1935) und Peter Gast ( t 1918) begangene Nietzsche — Fälschung wurde insbesondere 1933 politisch höchst brisant, da auf diesem Boden eine eindeutige Einordnung des spätbürgerlichen Nietzscheanismus unmittelbar und direkt in die faschistische Ideologie leicht möglich war. Schlechtas philologische Arbeiten über Jahrzehnte im Nietzsche-Archiv geben darüber klare Auskunft. Nachzulesen in: Nietzsche, Werke Bd. 3, München 1956 S. 1397—1405 (Schlechta — Ausgabe). (H.-M. G., G . R . ) 28

Oduev

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[13] Der „erste" Mensch ist nach Weber der vor etwa 500000 Jahren entstandene Urmensch. Der „dritte" Mensch ist somatisch und psychisch bereits in dem vor 60000 oder 20000 Jahren entstandenen Aurignac- oder Cromagnon-Menschen ausgebildet, während die Masse der heute noch fortbestehenden „Primitiven" von Weber der Einfachheit halber der „zweite" Mensch genannt wird, da sie die Reste eines zwischen dem ersten und dem dritten liegenden Menschentyps darstellt, der aber keine „Geschichte" hat. Auch die eigentliche Geschichte des „dritten" Menschen beginnt erst etwa 4000—3600 v. Chr. (S. O.) [14] In „Der dritte oder vierte Mensch" gibt Weber eine etwas andere Periodisierung: die erste Periode dauert etwa bis 1500/1600, die zweite umfaßt nur noch etwa 400 Jahre. Hier ist kein Widerspruch zu suchen, es ist eher eine Präzisierung des vorigen Schemas. (S. O.) [15] Eine kritische Analyse der Phänomenologie wird in den Artikeln und Arbeiten von N. V. MotroSilova und Kakabadze gegeben. (S. O.) [16] Treffend ist die soziale und geistige Situation, in der sich die Existenzphilosophie in den 20er und 30er Jahren herausgebildet hat, dargestellt in: G. Mende: Studien über die Existenzphilosophie. Berlin 1965. Weiterhin vgl. H.-M. Gerlach: Existenzphilosophie und Politik. Berlin 1974. (H.-M. G., G. R.) [17] Eine nähere Beschäftigung mit dem Problem des Inhalts und der Funktion der bürgerlichen „Existenzphilosophie heute" findet man bei H.-M. Gerlach: Die Stellung der Existenzphi) >sophie in den ideologischen Klassenauseinandersetzungen zwischen Sozialismus und Kapitalismus in der Gegenwart. In: Philosophen-Kongreß der D D R 1970, Teil V, Leninsche Prinzipien der Auseinandersetzung mit der bürgerlichen und revisionistischen Ideologie. Berlin 1970. (H.-M. G., G. R.) [18] In dieser Jaspersschen Interpretation der Stellung Nietzsches zum Staat drückt sich u. E. die existentialistische Verballhornung deutlich aus. Jaspers versuche, das Moment von Ablehnung und gleichzeitiger Bejahung des Staates bei Nietzsche zurückzuführen auf den von ihm so prononciert vertretenen Gegensatz von Volk als Kulturträger und „Masse" als Nivellierung der „Selbständigkeit" und „Größe". Nietzsche selbst hat einen solchen Gegensatz zwischen „Volk" und „Masse" nicht angenommen. Seine Trennung basiert vielmehr auf der politischen Funktion des Staates. Sofern der Staat als „Demokratie" des „Pöbels" gegen die „starken" Individuen auftritt, gleichviel in welcher Form, wird er von Nietzsche abgelehnt, als Machtinstrument der letzteren aber akzeptiert, ja sogar gefordert. (H.-M. G., G. R.) [19] Oduev bezieht sich hier eindeutig auf den klaren Antikommunismus, den Jaspers der Entwicklung des realen Sozialismus im 20. Jahrhundert entgegenbringt. Trotz allen Wandels im Jaspersschen Denken der 60er Jahre bleiben für ihn die sozialistischen Staaten die „totalitären". Gleichzeitig kann Jaspers aber nicht über den wachsenden Einfluß des sozialistischen Lagers und seiner Ideen im Weltmaßstab nach 1945 hinwegsehen. Für den spätbürgerlich-liberalen Philosophen Jaspers galt es deshalb, den Sozialismusbegriff umzufunktionieren. Auch hier steht er in der Traditionslinie seines politischen Lehrmeisters Max Weber. Dabei wird der Zusammenhang zwischen Sozialismus und Klassenkampf, die Aus-

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einandersetzung zwischen Kapital und Arbeit um die Herbeiführung der sozialistischen Ordnung aufgegeben und Sozialismus auf verwaschene bürgerlich-liberale und reformistische Forderungen reduziert. Über dieses antikommunistische „Sozialmodell" wird in der Endkonsequenz mit philosophischen Mitteln zum Kampf gegen den real existierenden Sozialismus aufgerufen. (H.-M. G., G. R.) [20] Es handelt sich hier um M. Heideggers Buch „Nietzsche" (2 Bde., Pfullingen 1961). (H.-M. G., G. R . ) [21] Dieses Verfahren im Heideggerschen Herangehen an andere Philosophen und deren Werk trifft übrigens nicht nur für Nietzsche zu, sondern findet z. B. auch seinen Ausdruck in Martin Heideggers eigenwilliger Interpretation der Philosophie der Vorsokratiker, Piatons, Hölderlins, Hegels etc. Seine phänomenologisch-hermeneutische Methode lief darauf hinaus, nicht mehr in den Werken der Philosophiegeschichte einen objektiven, wissenschaftlich begründeten Inhalt herauszuarbeiten, sondern die zu behandelnden Probleme der Philosophen der Vergangenheit so an die existentialistisch-subjektive Daseinsanalyse heranzuführen, daß der Nachweis einer Traditionslinie hin zum Heideggerschen Ansatzpunkt unmittelbar gegeben schien. Philosophiegeschichte und ihre Problemstellungen werden somit unmittelbar im Rahmen der Heideggerschen Interpretation auf seinen philosophischen Standort gezogen und ihm einverleibt. Eine wissenschaftliche Analyse derselben wird als „uneigentlich" abgelehnt. (H.-M. G., G . R . ) [22] Der Begriff der Metaphysik leitet sich ab aus dem griechischen „meta ta physika" — „nach der Physik", und baut auf den der „Physik" nachgeordneten philosophischen Schriften des Aristoteles auf. Diese beschäftigten sich mit den ersten philosophischen Fragen, die über den Erfahrungshorizont der Naturwissenschaften hinausgingen. Martin Heidegger setzt bei dem von Aristoteles ausgehenden Metaphysikverständnis an, welches er als „Grundzug" des abendländischen Denkens bis in die Gegenwart hinein versteht. Ihm sei wesenseigen, daß es die sogenannte „ontologische Differenz" — d. h. die Teilung in Seiendes und Sein — vergessen habe, obwohl die Erfahrung dieser Differenz schon bei Piaton und bis hin zur Gegenwart vorhanden gewesen sei, da sonst bei keinem dieser „metaphysischen" Philosophen ein Unterschied zwischen vergänglichem Seienden (den Einzeldingen) und dem Sein (dem Allgemeinen in philosophischer Hinsicht) gemacht worden wäre. Der Fehler aller Philosophie bisher (einschließlich der Nietzscheschen Philosophie des „Willens zur M a c h t " ) bestünde darin, daß die Differenz überspielt wurde, Sein im Seienden sich verloren habe, der Sinn von Sein verschüttet wurde. Heideggers Schaffen nach „Sein und Zeit" galt philosophisch der Auffindung dieser Wahrheit, des „Sinns von Sein". Für die Praxis des täglichen Lebens bedeutet dieses philosophisch-abstrakte Begriffsspiel der Differenz von Sein und Seiendem, daß Heidegger auf seiner Position des irrationalen existential-ontologischen Denkens die gegenwärtige Entwicklung von Wissenschaft und Technik als Konsequenz der philosophischen Metaphysik verantwortlich macht für die Entfremdung des Menschen von seiner gesellschaftlichen und natürlichen Umwelt, für den Mangel an Lebens(„Seins"-)sinn. Der Mensch verfällt der Welt der Apparate, in ihrer wissenschaftlichen Analyse kann er keinen höheren Wert für sein Menschsein finden. 28'

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Diese Seinsvergessenheit, die im Prinzip Menschenfeindlichkeit ist, sei der Wesenszug der modernen Technik und aus ihr heraus gilt es, eine „Umkehr" zu vollziehen. (Vgl. M . Heidegger: Die Technik und die Kehre. Pfullingen 1961.) Heideggers Angriff auf die Metaphysik erhält so in der Endkonsequenz einen mystischen Zug, der auch seine „Kehre" von der Position eines extrem subjektivistischen Existentialismus zu einer objektivistischen „Sinn-von-Sein-Philosophie" begründet. In der praktischen ideologischen Auseinandersetzung mit Heideggers Philosophie muß über den philosophie-spezifischen Aspekt hinaus der spätbürgerliche Antiscientismus seiner Lehre begriffen werden als klassenmäßiges Unvermögen, die sozialen Voraussetzungen der Entfremdung des Menschen und der sich in der kapitalistischen Ordnung realisierenden wissenschaftlich-technischen Revolution mit all ihren Antagonismen erkennen zu können. Heideggers Verkennung dieses Zusammenhanges zwischen wissenschaftlich-technischer Revolution und Entfremdung des Menschen und sein Verantwortlichmachen der Technik und Wissenschaft für die Entfremdung des Menschen führen in der Endkonsequenz zu einer konservativ-romantischen Kritik an der wissenschaftlichtechnischen Revolution. (H.-M. G., G . R . ) [23] Die Kategorie des „Hauses" bei Bollnow ergibt sich aus seiner kritischen Distanz zur offensichtlich in ihrem Extrem unhaltbaren Positionen des Subjektivismus und Pessimismus der ursprünglichen Existenzphilosophie. Ein Ausdruck der sinnvollen Ordnung ist das „Haus" als Schutz gegen „chaotische" Bedrängung, als Ordnungsprinzip in einem Gemeinwesen. Bollnow entspricht mit dieser Kategorie zur Zeit des westdeutschen „Wirtschaftswunders" durchaus dem kleinbürgerlichen Ideal eines Besitzstrebens als auch der allseitigen Sicherung dieses Besitzes durch die bürgerliche Gesellschaft. Die Krisensituation der menschlichen Existenz soll sich aufheben in der Pseudogeborgenheit einer illusionären Welt der Ordnung. Der Ausgangspunkt für diese Konzeption ist allerdings nicht originär bei Bollnow zu suchen. Er findet sich bei Heidegger selbst, der mit seiner „Kehre" diesen Prozeß theoretisch einleitete. Die praktische Grundlage dafür war allerdings in der komplizierten sozialökonomischen und politischen Entwicklung des Imperialismus in den 50er und 60er Jahren zu suchen. Das Problem des „Hauses" bzw. „Behaust-seins" wirft Heidegger schon in seinem Vortrag vom 5. 8. 1951 im Rahmen des „Darmstädter Gesprächs I I " über „Mensch und R a u m " unter dem Titel „Bauen, Wohnen, Denken" auf. Dieser Vortrag ist abgedruckt in M. Heidegger: Vorträge und Aufsätze, Pfullingen 1954. (H.-M. G., G. R.)

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Nietzsche, F . Werke. Bd. I. Die Geburt der Tragödie. Unzeitgemäße Betrachtungen: 1. David Strauss, der Bekenner und der Schriftsteller 2. Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben 3. Schopenhauer als Erzieher 4. Richard Wagner in Bayreuth Nietzsche, F. Werke. Bd. I I : Menschliches, Allzumenschliches. Bd. I. Nietzsche, F. Werke. Bd. I I I : Menschliches, Allzumenschliches. Bd. I I : Vermischte Meinungen und Sprüche Der Wanderer und sein Schatten Nietzsche, F. Werke. Bd. IV: Morgenröthe Nietzsche, F. Werke. Bd. V : Die fröhliche Wissenschaft Lieder des Prinzen Vogelfrei Nietzsche, F. Werke. Bd. V I : Also sprach Zarathustra Nietzsche, F. Werke. Bd. V I I : Jenseits von Gut und Böse Zur Genealogie der Moral Nietzsche, F. Werke. Bd. V I I I : Der Fall Wagner Götzendämmerung Nietzsche contra Wagner Der Antichrist Nietzsche, F. Werke. Bd. I X : Homer und die classische Philologie Nachträge und Vorarbeiten zur Geburt der Tragödie (Teile hiervon sind als „Der griechische Staat" herausgegeben worden. — H. — M . G . — G . R.). Empedokles Homer als Wettkämpfer Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten Bayreuther Horizont-Betrachtungen Das Verhältnis der Schopenhauerischen Philosophie zu einer deutschen Cultur

445

Nietzsche, F. Werke. Bd. X : Das Philosophenbuch (insbes.: Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen; Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne) Entwürfe aus der Zeit der „Unzeitgemäßen" Nietzsche, F. Werke. Bd. X I : Unveröffentlichtes aus der Zeit des Menschlichen, Allzumenschlichen und der Morgenröthe Nietzsche, F. Werke. Bd. XII: Unveröffentlichtes aus der Zeit der Fröhlichen Wissenschaft und des Zarathustra Nietzsche, F. Werke. Bd. XIII: Unveröffentlichtes aus der Umwertungszeit Nietzsche, F. Werke. Bd. XIV: Unveröffentlichtes aus der Umwertungszeit Nietzsche, F. Werke. Bd. XV: Ecce homo Der Wille zur Macht. Erstes und Zweites Buch Nietzsche, F. Werke. Bd. XVI: Der Wille zur Macht. Drittes und Viertes Buch Noll, B. Zeitalter der Feste. Nietzsches Idee einer Weltkultur der Zukunft. Bonn 1947. Noll, B. Philosophie und Politik. Bonn 1953. Oduev, S. F. Reakcionnaja suscnost' nicseanstva. Moskva 1959. Oduev, S. F. Social'noe mifotvorcestvo Fridricha Niese. — V sb. „Iz istorii filosofii" I. Moskva 1957. Oduev, S. F. Sovremennye propagandisty nicseastva. — „Voprosy filosofii" I. 1959. Oduev, S. F. Fasizm i nicseanstvo. — „Filosofskie nauki" 3. 1970. Ojzermann, T. J. Cennoe issledovanije svejearskogo marksista. Predislovie k knige T. Svarca „Ot Sopengauera k Chejdeggeru". Moskva 1964. Pfeil, H. Überwindung des Massenmenschen durch echte Philosophie. Graz/Wien/Köln 1956. Piaton Politeia. Bamberg/Wiesbaden 1959.

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449

Personenverzeichnis

Algermissen K. 437 Aristoteles 1 5 2 , 2 9 4 , 3 7 3 , 4 3 5 Asmus, V. F. 200,437 Augustin(us) Aurelius 197, 303, 327 Baeumler, Alfred 198f„ 2 0 4 - 2 1 0 , 257, 437 Basta, P. 23,437 Bauer, Bruno 297 Bauer, F. 201 ff., 437 Becher, Johannes R. 437 Beethoven, Ludwig van 155 Benn, Gottfried 233 Bcntham, Jeremias 437 Bergson, Henri 147,311 Bernadiner, A. 437 Bismarck, Otto von 100, 199, 209f., 252, 254,432 Bizet, Georges 40 Bogomolov, A. S. 346, 437 Bollnow, Otto Friedrich 10, 121 f., 226, 329, 403, 410f. 4 1 4 - 4 2 5 , 437 Borgia, Cesare 114,163 Bredel, Willi 175 Brüning, W. 121,438 Bruno, Giordano 327 Burckhard, Jacob 38 f. Buri, Fritz 245 f.. 438 Byron, George Nöel Gordon 58 Capelle, Wilhelm 438 Carlyle, Thomas 43, 263 Cervantes Saavedra, Miguel de 11 Chamberlain, Houston Stewart 232 Churchill, Winston 261 Cicero, Marcus Tullius 294 Comte, Auguste 301,327

450

Dante, Alighieri 281, 286, 357 Darwin, Charles Robert 148, 432 Demokrit 426 Descartes, René (Cartesius) 61, 302 Dilthey, Wilhelm 8, 51, 116-127, 138, 147, 154, 226, 327, 356, 412, 414, 437 f. Diogenes (von Sinope) 337 Dostoevskij, Fjodor Michailivic 40 Dühring, Eugen 73,438 Ehrlich, Walter 257, 2 6 1 - 2 6 5 , 438 Emge, Carl A. 235, 255, 438 Empedokles 443 Engels, Friedrich 46, 73, 405, 438, 444 Feuchtwanger, Lion 113 Feuerbach, Ludwig 295ff., 428, 444 Fichte, Johann Gottlieb 134, 199, 204, 248 Fink, E. 10, 14f., 19, 307, 3 1 2 - 3 1 7 , 319f., 322f., 322f., 439 Flake, Otto 246ff., 335,439 Förster-Nietzsche, Elisabeth 240f., 433, 439 Fuchs, Emil 439 Gajdenko, P. P. 439 Galevi, D. 439 Gast, Peter (Pseudonym für Heinrich Köselitz) 241.433 George, Stefan 113, 165, 233 Gerber, H. E. 41, 235, 252ff., 439 Gerlach, Hans-Martin' 12,434 Gides, André 233 f. Gillner, H. 439 Glaser, Hermann 202 f., 439 Glum, Friedrich 248f„ 335, 439

Gobineau, Joseph Arthur, Graf 232, 263 Goethe, Johann Wolfgang 391T., 118, 147, 211, 226, 235, 253,286, 295, 356f., 419, 439,441 Göring, Hermann 170 Gorki, Maxim (Gor'kij, M.) 58f„ 433, 439 Grimm, Jakob 366 Grlic, D. 23, 439 Grotewohl, Otto 27, 439 Hammacher, Emil 112 Hartmann, Eduard von 439 Hauptmann, Gerhart 113,233 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 14f., 34, 39, 62, 78, 118, 122, 147, 167, 178, 199, 204, 226, 233, 248, 295, 297, 301 ff., 327, 333, 381, 428, 435, 439, 443 f. Heidegger, Martin 10, 50, 197, 210, 226,293f., 308 f., 329,380-402,409ff., 423, 435, 438, 440, 443, 446 Heinemann, F. 330, 4IOf., 440 Heinze, K. 199,440 Heise, Wolfgang 39,440 Heisenberg, Werner 293 Heller, E. 440 Heraklit 64,313,321,416 Herder, Johann Gottfried 293 ff. Hessen I. 440 Hinderks, H. E. 236f., 447 Hinsch. J. 440 Hitler, Adolf 7, 202, 206, 211, 217f., 231 ff., 243, 248 ff., 369, 440 Hobbes, Thomas 440 Hochgesang, Michael 71, 440 Hölderlin, Friedrich 57, 226, 435 Homer 41, 96, 277, 298, 357, 445 Hume, David 120 Husserl, Edmund 139, 3 0 7 - 3 1 1 , 318, 321,327, 370, 389.440 Ibsen, Henrik 24 Ionesco, Eugen 202 Jakovlev, M. V. 441 Jaspers, Karl 10, 20, 107, 236, 3 3 2 335, 3 3 7 - 3 6 9 , 403, 409, 417, 434, 441

Jung, Carl G . 112 Jung, E. 441 Jünger, Ernst 9, 143, 172-191, 195ff, 233f., 433,441 f. Kakabadze, Z. M. 311,434 Kant, Immanuel 118, 120, 134, 199, 204, 211, 226, 319, 327, 337, 354, 442 Kaufmann, Fritz 236 Kerkhoff, M. Heinrich 115, 233ff„ 442 Keyserling, Hermann 112 Kierkegaard, Sören 62,295 ff., 327,337, 428,443 Klages, Ludwig 9,143f., 165-172,211, 226, 327,442 Kleist, Heinrich von 385 Kon, I. S. 24 Konfuzius 294 Krick, E. 204 Lagarde, Paul Anton de 211 Lange-Eichbaum, W. 238 f., 433, 442 Lawrow, P. L. 439 Le Bon, Gustave 38, 442 Leese, K. 442 Leibniz, Gottfried Wilhelm 199, 204 Lejtejzen, M. V. 442 Lenin, Wladimir Iljitsch 34, 76, 434, 442 f. Lersch, Philipp 257,443 Lessing, Theodor 112 Linke, Paul F. 120,443 Litt. Theodor 138 Locke, John 120,248 Löwith, Karl 10, 14f., 61 f., 236, 251, 2 9 1 - 3 0 5 , 347,401,443 Lucrez (Titus Lucretius Carus) 303 Lukàcs, Georg 443 Luther, Martin 95, 158, 211, 245 f. Machiavelli, Niccolò 247, 279, 286 Malraux, André (Pseudonym für André Berger) 233 Mann, Heinrich 113, 443 Mann, Thomas 24f„ 95, 113f., 156, 176, 233, 406f., 409, 432, 443f. Marcel, Gabriel 410 Marcuse, Herbert 11

451

Marx, Karl 11, 23, 46, 295 fi., 301, 303, 389, 404f„ 426, 437f„ 442, 444 Mehring, Franz 16,27,70,444 Mende, Georg 434 Mereshkovskij, Dimitrij Sergeevic 211, 433 Michelangelo Buonarotti 281, 286 Mittasch, A. 444 Moeller van den Bruck, Arthur 192f., 195, 433,444 Montaigne, Michel Eyquemde 294 Motrosilova, N. V. 434, 444 Musil, Robert 233 Mussolini, Benito 248 Neurohr, I. 444 Nicolas, M. P. 198,446 Nietzsche, Friedrich Wilhelm 8, 10, 13 - 2 9 , 34f., 3 7 - 7 0 , 7 2 - 8 3 , 8 5 - 1 0 7 , 1 1 1 - 1 1 7 , 119-123, 125, 127, 129, 1 3 1 - 1 3 4 , 136, 138-141, 143, 145. 147f„ 153-160, 162-165, 168-171, 173, 180, 183, 185, 187, 1 8 9 - 1 9 4 , 197fT., 2 0 3 - 2 1 2 , 214, 2 1 7 - 2 2 1 , 226, 228-261, 263-267, 269-273, 2 7 8 283,285-289,291,293ff., 298f„ 3 0 4 308, 3 1 1 - 3 2 3 , 3 2 7 - 3 3 0 , 3 3 2 - 3 6 4 , 367, 3 6 9 - 3 7 9 , 3 8 1 - 3 8 8 , 3 9 0 - 398, 400, 402, 406f„ 409, 412, 416f., 419f„ 422, 425, 4 2 7 - 4 3 5 , 4 3 7 - 4 4 9 Noll, B. 2 5 7 - 2 6 1 , 2 6 8 , 4 4 6 Oduev, S. F. 8 - 1 2 , 4 3 4 , 4 4 6 Ojzerman, T. I. 410,446 Ortega y Gasset, José 428 Overbeck, Franz 239 f., 444 Parmenides 321 Pascal, Blaise 294 Peirce, Charles Sanders 38 Pfeil H. 446 Platon 295, 313, 321, 370, 400, 428, 435,440,447 Plechanov, Georgij Valentinovic 432, 447 Plessner, Helmut 138 Plotin 327 Rauschning, Herrmann Remarque, Erich Maria

452

249 f., 447 175

Rembrandt, Harmensz van Rijn 286 Reyburn, H. A. 236 f., 447 Rickert, Heinrich 20, 120, 447 Riehl, Aloys 112 Rieske, Günter 12 Rilke, Rainer Maria 226, 233 Rintelen, F. J. von 447 Rosenberg, Alfred 9, 198, 204, 211 f., 214-220.433.447 Rossmann, K. 352f.,441 Rosteutscher, I. 56,235,447 Rousseau, Jean-Jacques 96, 325, 248, 250,447 Ruge, Arnold 295,297 Salin, E. 447 Sand, George (Pseudonym der Amandine Lucile Aurore Dupin) 58 Sandvoss, E. 427,447 Sartre, Jean-Paul 389 Scheler, Max 8 f „ 116. 138-143, 292, 327,447 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 327 Schiller, Friedrich 57,235 Schlamm, William S. 257, 2 6 8 - 2 7 2 , 447 Schlechta, Karl 140,240-243,433,447 Schlegel, Friedrich von 303 Schoeck, H. 257 Scholz, H. 447 Schopenhauer, Arthur 38, 49, 57f„ 62, 64, 66, 77, 80, 132f„ 147f„ 197, 211, 226, 232, 282, 297, 327, 337, 410, 428, 445 - 4 4 8 Schwarz, E. 257, 2 6 5 - 2 6 8 , 447 f. Schwarz, Th. 410,446,448 Schweitzer, Albert 24 Shakespeare, William 281,286,357 Shaw, George Bernard 233 Simmel, Georg 8f., 116f., 119, 1 2 7 138,414,448 Sokrates 314,379,427 Solovjov, V. 38 Solov'ev, E. Ju. 448 Sorge, 444 Spengler, Oswald 9 , 1 4 3 - 1 6 4 , 1 6 9 , 1 7 2 , 181, 187, 212, 226, 233f„ 301, 327, 433,443,448

Spinoza, Baruch de 327 Spranger, Eduard 138 Steinbüchel, Th. 448 Stendhal (Pseudonym für Henri Beyle) 40 Stirner, Max 86, 88, 295ff., 299, 337, 405,448 Strauß, David Friedrich 445 Topitsch, Ernst 448 Toynbee, Arnold Joseph 301 Trumpler, Hans 232,448

Vaihinger, Hans 112 Voltaire, Francois Marie Arouet

235

Wagner, Richard 57f., 445 Weber, Alfred 10, 2 7 4 - 2 9 0 , 448 f. Weber, Max 327, 434 Weymann-Weyht, W. 255f., 268, 449 Wolff, P. 449 Ziegler, Theobald 112,449 Zutaberg, U. 2 3 2 , 4 4 9 Zweig, Arnold 175 113,449 Zweig, Stefan

453