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German Pages 260 [264] Year 1961
AUF DEM WEGE ZU E I N E R PHÄNOMENOLOGISCHEN
PSYCHOLOGIE
PHÄNOMENOLOGISCH-PSYCHOLOGISCHE FORSCHUNGEN
HERAUSGEGEBEN
VON
C. F. G R A U M A N N U N D J. L I N S C H O T E N
BAND 3
1961 W A L T E R
DE
G R U Y T E R
& CO.
/
B E R L I N
VORMALS G. J. GÖSCHEN'SCHE VERLAGSHANDLUNG - J. GUTTENTAG, VERLAGSBUCHHANDLUNG - GEORG REIMER - KARL J. TRÜBNER - VEIT & COMP.
JOHANNES
LINSCHÖTEN
AUF DEM WEGE ZU E I N E R PHÄNOMENOLOGISCHEN
PSYCHOLOGIE
DIE P S Y C H O L O G I E V O N W I L L I A M J A M E S
MIT 4 A B B I L D U N G E N
Ins D e u t s che von Franz
übertragen Mönks
1961 W A L T E R
DE
G R U Y T E R &
CO.
/
B E R L I N
VORMALS G. J. GÖSCHEN'SCHE VERLAGSHANDLUNG - J. GUTTENTAG, VERLAGSBUCHHANDLUNG - GEORG REIMER - KARL J. TRUBNER - VEIT & COMP.
T i m DER HOLLÄNDISCHEN AUSGABE OP WEG NAAR EEN fENOMENOLOGlSCHE PSYCHOLOGIE © UTRECHT: UITGEVERIJ ERVEN J. BULEVELD 1959
ARCHIV-NR. 34 9» 60/III PRINTED IN GERMANY SATZ UND DRUCK: THORMANN GOETSCH. BERLIN-NEUKÖLLN
INHALTSVERZEICHNIS Einleitung
1
I. B i o g r a p h i s c h e C h a r a k t e r i s t i k v o n W i l l i a m J a m e s .. II. W a s i s t n a c h J a m e s P s y c h o l o g i e ? 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.
1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12.
18 21 23 27 29 32 33 36 der
Der strömende Charakter des Erlebens Der persönliche Charakter des Erlebens Das Erleben verändert sich unaufhörlich Erleben und Lebensgesdiichte Das permanente Ding: Pikbube Die Empfindung nach Wundt Das Bewußtsein als „Behälter" bei John Locke Psychogenese und Assoziation Die Entwicklung der Empfindungstheorie bei Johannes Müller . . Das Empfinden nach H. Werner James' Gedanken über Empfinden und Wahrnehmen Die Integrität des Erlebnisstromes
IV. S p r a c h e , 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13.
18
Umschreibung . Gedanke und Gefühl als psychische Grunderscheinungen Bewußtseinselemente und Erlebnisintegrale Die Psychologie als „Naturwissenschaft" Neurophysiologie und Behaviorismus Biopsychologie Die innere Zwiespältigkeit von James' Psychologie Der implizite phänomenologische Gesichtspunkt
III. D e r S t r o m d e s E r l e b e n s u n d d i e T h e o r i e Empfindung
Erleben,
Wirklichkeit
Das Problem Die Verführung der Sprache als semantisdies Problem Psychologie als Metasprache Sprache als Benennung des Faktischen Faktizität als erlebte Faktizität Bergson über Zusammenleben und Wirklichkeit Naivität und Parteilichkeit Die Ohnmacht der Spradie Objektivierende Tendenz und subjektives Erleben Erleben drängt nach Formulierung Sprache formuliert das Ungeformte Erleben und Reflexion Sprache, Erleben, Wirklichkeit
5
38 38 40 41 44 45 49 50 53 54 57 63 69 71 71 71 74 75 77 79 80 83 86 88 91 97 99
VI
Inhaltsverzeichnis V. D i e K o n t i n u i t ä t d e s E r l e b e n s 1. Was bedeutet Kontinuität des Erlebens? 2. Ich erfahre mich selbst in einem kontinuierlichen Fortschreiten .. 3. Kontinuität bei abrupten Ubergängen 4. Brentano: Die Einheit des Bewußtseinsstromes 5. „It all goes back to . . . " 6. Substantive und transitive Erlebnisse 7. „Thought" und „Feeling" — „Akt" und „Erlebnis" 8. Das marginale Erleben 9. Das Erlebnisfeld 10. Die Kontexttheorie und ihre Verallgemeinerung 11. Die Allgemeinheit der Kontexterscheinung 12. Die Notwendigkeit der Thema-Feldorganisation 13. Das Thema-Feld-Verhältnis als Invariante 14. Nachtrag: Die Relevanz-These von Gurwitsch
101 101 102 104 105 108 109 110 115 119 121 122 123 127 129
VI. B e w u ß t s e i n u n d D i n g e 1. Die Zweideutigkeit der Formulierung James' 2. Das Identitätsgefühl 3. Identitätsgefühl ist noch keine Reflexion 4. „Konzeption": James' Ausdruck für Intentionalität 5. Empfinden und Wahrnehmen 6. Diskrimination und Assoziation 7. Reines Erleben und Sartres „Ekel" 8. Thema und Gegenstand des Erlebens 9. Denken vollzieht sich in Paraphrasen 10. Die Perspektivität des Erlebens 11. James' „Object of Thought" und Husserls „Noema" 12. Terminologie 13. Wirklichkeit und Täuschung 14. Das Erleben des Wirklichen 15. Der Zusammenhang der Erfahrungen 16. Wirklichkeitsordnungen, „Welten" 17. Beschreibung und Horizont 18. Die Lebenswelt als fundamentale Wirklichkeitordnung 19. Bewußtsein und Dinge
132 132 133 135 136 138 139 142 145 146 145 149 151 152 155 159 160 162 164 167
VII. A u f m e r k s a m k e i t u n d W a h l 1. Erlebnis und Interesse 2. Die Sinne als Filter 3. Aufmerksamkeit als willkürlicher Filter 4. Spontane Zuwendung oder autonome Organisation? 5. Bewußtsein und Leib
169 169 170 172 173 175
VIII. E r l e b e n u n d V e r h a l t e n 1. „Does consciousness exist?" 2. James' funktionaler Behaviorismus 3. Der radikale Behaviorismus 4. Ein merkwürdiges Ergebnis
176 176 178 180 184
Inhaltsverzeichnis 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12.
VII
James' Lehre des reinen Erlebens Der Leib als Ursprung der Wirklichkeit Der „objektive" und der „subjektive" Leib Das Prinzip der Komplementarität Erlebnis und Erscheinung „Physisch" und „psychisch" Meine Welt und unsere Welt Erleben und Verhalten
186 188 189 192 194 195 196 198
IX. L e i b , V e r h a l t e n u n d R e f l e x i o n 1. Die Spontaneität des Verhaltens 2. Gewohnheit. Die Plastizität des Nervensystems 3. Gewohnheit. Die Autonomie des Leibes 4. Kettenreaktionen. Die Automatentheorie 5. Homöostase: Der Organismus wahrt Nonnen 6. Regulierung auf höheren Ebenen 7. Wollen 8. Blondels Analyse der willkürlichen Bewegung 9. Emotion: Erlebnis körperlicher Reaktionen 10. Lotze und Horwicz 11. Emotion und Fühlen 12. Die Funktion des Erlebnisstromes 13. Ich selbst: Das Meine 14. Ich selbst: Das reine Ich 15. Das Erlebnis persönlicher Identität 16. Erleben und Zeit 17. Antizipation: Aneignung protentionaler Erlebnisse 18. Leibliches Bewußtsein 19. Leib, Verhalten und Reflexion
200 200 201 202 204 207 210 212 215 217 219 222 224 225 227 228 229 232 235 236
X. S c h l u ß b e t r a c h t u n g 1. Auf dem Wege zu einer phänomenologischen Psychologie 2. Natur und Vernunft Literaturverzeichnis Namenverzeichnis
241 241 243 246 252
EINLEITUNG Die Principles of Psychology von William James gelten als klassisches Werk. Es mag stimmen, daß nur einige der jüngeren Psychologen das Werk von Anfang bis Ende gelesen haben — nach Allport gilt das sogar für die amerikanischen Psychologen1 —, jene, die es lasen, bestätigen das Urteil John Deweys: was man auch auf Grund neuerer Entwicklungen und unserer differenzierten Kenntnis über seinen Inhalt denkt, das Werk selbst ist genau so klassisch wie Lockes Essay oder Humes Treatise2. Es ist ein originelles Werk. Wenn James das psychologische Wissen des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts zusammenfaßt, tut er das in einem völlig eigenen Stil und in einer ursprünglichen Betrachtungsweise, die beide die Zeitgebundenheit seiner konkreten Gegebenheiten weit überschreiten. Deshalb ist es erfreulich, daß nach 68 Jahren wiederum eine Neuauflage ans Tageslicht kam. Deshalb ist es auch ohne weiteres gerechtfertigt, die Ursprünglichkeit seiner Gedanken zu beleuchten. Es wäre allerdings ein unausführbares Unterfangen, wollte man den ganzen Reichtum der Beschreibungen und Einsichten, der in den 1400 Buchseiten der Principles angehäuft ist, systematisch ausarbeiten und darlegen. Das gilt umso mehr, als James durch die Erscheinungen, die er in seltener Lebendigkeit schildert, so beeindruckt war, daß er nie zu der Entwicklung eines methodisch streng bestimmten Systems kam. Übrigens widersetzten sich dem seine Art und seine Auffassungen. Systematik war in seinen Augen eine intellektualistische Zwangsjacke, ein kunstvolles, aber auch künstliches Fangnetz, in dem man vergeblich die wechselnden Erscheinungen festzuhalten versucht. Kein Wunder, daß er regelmäßig, wenn er ein Problem löst, mitten in einer Paradoxie landet, wie Allport sagt, aber in einer produktiven Paradoxie3. Denn wenn im Un-systematischen seines Denkens eine Schwäche liegt, ist diese ebensosehr ein Symptom für seine mächtige Position. Das kommt in den Worten zum Ausdruck, womit er Bergson, mit dem er nach 1902 korrespondierte, charakterisiert: „Daß er uns kein geschlossenes System gibt, wird in intellektualistischen Augen natürlich fatal für ihn sein. Er regt nur an und lädt ein; aber zunächst macht er das intellektualistische Veto zunichte, so daß wir nun mit der Wirklichkeit 1 G. W. Allport, The productive paradoxes of William James; Psychol. Reo. 1943 (50), S. 95. 2 J. Dewey, The Principles; Psydiol. Rev. 1943 (50), S. 121. 3 Allport, a. a. O., S. 97.
1 Linschoten
Einleitung
2
Schritt halten können, mit einem philosophischen Gewissen, das niemals vorher völlig unbelastet war" 4 . Es hätte auch umgekehrt sein können. Denn James hat in dem französischen Philosophen nicht nur einen Geistesverwandten gesehen, sondern in der Skizzierung Bergsons auch sich selbst dargestellt. Daher verwundert es uns auch nicht, wenn Bergson seinerseits schreibt, daß eine Zusammenfassung der Vorlesungen James' einen zentralen Gedanken in den Vordergrund rückt: die Notwendigkeit, die Begriffe, die simple Logik und schließlich die Arbeitsweise einer zu systematischen Philosophie, die die Ganzheit aller Dinge postuliert, zu überschreiten6. Nannte James nicht eines seiner Bücher: A pluralistic universeΡ Vielgestaltig und vielfältig sind auch die Grundlagen seiner Psychologie, die inneren Widersprüchen nicht ausweicht, wenn es darum geht, unmittelbares Erleben in Worte zu fassen und mit der naturwissenschaftlich orientierten Kenntnis der menschlichen Erscheinungen in Verbindung zu bringen. Diese Psychologie ist in der buchstäblichen Bedeutung des Wortes paradox: ungewöhnlich, einschreitend gegen das, was man (in der Psychologie) gewohnt ist. Es kommt ein Mann zu Wort, der sich durch seine umfangreiche Kenntnis psychologischer Systeme nicht festlegen ließ, sondern unaufhaltsam weitersuchte nach der geeignetsten Weise, das Eigene der Psychologie zum Ausdruck zu bringen. Mehr als einmal bringt ihn das in die Nähe einer phänomenologischen Psychologie. Gerade auf diesen Zusammenhang wird in dieser Arbeit der Nachdruck gelegt werden. In der eigenen Terminologie von James: seine Psychologie ist das Thema, das „topic" der folgenden Betrachtungen. Aber die Bearbeitung beschränkt sich nicht auf einen reinen Kommentar; als Kontext wurde die Phänomenologie gewählt. Dieser Kontext umreißt die Bedeutimg, in der James vor uns erscheinen wird. Daß dieses keine willkürliche Interpretation ist, daß die Psychologie von James den Weg zu einer phänomenologischen Psychologie öffnet (wenn auch dieser wiederholt unterbrochen wird), hoffen die folgenden Kapitel aufzuzeigen — nicht an, sondern in der von James entwickelten Theorie. In diesem Zusammenhange verdient unsere Aufmerksamkeit, daß Husserl, angeregt durch eine eigene Vorlesung über Psychologie6, in seinem 4
W. James, A pluralistic universe. New York, 1928, S. 256 f. Deutsche Ausgabe:
Das pluralistische Universum. Leipzig, 1914. 6 H. Bergson, £crits et paroles. Paris, 1957, S. 198. " James unterscheidet — wie es im VI. Kapitel ausführlich dargestellt wird — zwischen „topic of thought" und „object of thought". „Topic" ist die Thematisierung des Gegenstandes. Daher wurde dieser Ausdruck von James hier mit Thema wiedergegeben. Vgl. hierzu Gurwitsch, Bd. I dieser Reihe! (Anm. d. Ubers.)
Einleitung
3
Tagebuch sagt: „James' Psychologie, von der ich nur einiges und ganz weniges lesen konnte, gab einige Blitze. Ich sah, wie ein kühner und origineller Mann sich durch keine Tradition binden ließ und, was er schaute, wirklich festzuhalten und zu beschreiben suchte. Es war wohl dieser Einfluß nicht ohne Bedeutung für mich . . ." 7 . Später nennt er James den einzigen, der die Erscheinung des Horizonts bemerkte8. Auch gegenüber A. Metzger äußerte sich Husserl in Freiburg günstig über James. Zu Unrecht meint jedoch Metzger, daß James' Psychologismus und Empirismus Husserl behindern würden0. Darüber sprach Husserl sich ja eindeutig aus10. Sind es Verwandtschaften in Details? Erst eine gründlichere Untersuchung wird herausstellen können, welchen tatsächlichen Einfluß James auf die Denkentwicklung Husserls ausübte. Sie setzen wir uns nicht zum Ziel. Auch ohne Kenntnis der tatsächlichen Zusammenhänge ist unverkennbar, daß eine fundamentale Verwandtschaft zwischen beiden Denkern besteht. Darauf stieß der Verfasser 1952 zum erstenmal. Einige vorbereitende Studien hierüber blieben unveröffentlicht; sie wurden jetzt in dieses Werk aufgenommen, dem Vorlesungen von 1957—1958 zu Grunde liegen. Es war erfreulich, diese Verwandtschaft durch Mitteilungen und Hinweise bestätigt zu sehen, die Dr. W. Biemel und Dr. R. Boehm von den Husserl-Archiven in Köln und Löwen dem Verfasser gaben. Ihnen sei dafür an dieser Stelle gedankt. Auch Herrn Prof. Herman van Breda, Direktor des Husserl-Archivs in Löwen, ist der Verfasser besonderen Dank für die Einsicht in Husserls Exemplar der Principles schuldig. Die Randbemerkungen, die Husserls hierin machte, gaben einige Hinweise11. 6 Leider sind die Aufzeichnungen dieser Vorlesung, die Husserl 1891/92 als Privatdozent in Halle hielt, soweit das Husserl-Archiv in Löwen feststellen konnte, nicht erhalten geblieben. 7 E. Husserl, Persönliche Aufzeichnungen, hg. von W. Biemel, Philos. phenomenol. Res., 1956 (16), S. 295. 8 E. Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften. Den Haag, 1954, S. 267. B A. Metzger, William James and the crisis of philosophy. In: In Commemoration of William James. New York, 1942, S. 209. 10 E. Husserl, Logische Untersuchungen, Bd. II, Halle, 1901, S. 206. Anm. 2: wie wenig James' geniale Beobachtungen auf dem Gebiet der descriptiven Psychologie der Vorstellungserlebnisse zum Psychologismus zwingen, ersieht man aus der vorliegenden Schrift. Denn die Förderungen, die ich diesem ausgezeichneten Forscher in der descriptiven Analyse verdanke, haben meine Loslösung vom psychologistischen Standpunkte nur begünstigt". In der dritten Auflage (Bd. II/l), Halle, 1922, auf S. 208. 11 Randbemerkungen, aber vor allem kurze Stichworte oder Übersetzungen von Ausdrücken fanden wir insbesondere im I. Teil, Kapitel 4—9, 11, 12, 14—16; im II. Teil, Kapitel 17—22, 26. Es zeigte sich, daß in Husserls persönlicher Bibliothek die meisten anderen selbständigen Veröffendichungen von James vorhanden
1"
4
Einleitung
Welch enge Verwandtschaft zwischen James und Husserl besteht, zeigt sich auch in dem neuen Werk von Gurwitsch: Theorie du champ de la conscience12. Wiederholt nimmt Gurwitsch Betrachtungen von James als Ausgangspunkt für phänomenologische Analysen. Es war nicht zu vermeiden, daß bestimmte zentrale Themen, die dort behandelt werden, auch im vorliegenden Werk behandelt werden. Von ausführlichen Auseinandersetzungen mit dem Werk von Gurwitsch mußte der Verfasser absehen. An anderer Stelle geben wir James seinen Platz in der phänomenologischen Tradition, die seit dem Ursprung der Psychologie vorhanden ist, sich f ü r gewöhnlich verbarg und durch lautere Stimmen übertönt wurde 13 ; die folgenden Seiten handeln nicht über seine historische Stellung, sondern über die Grundgedanken, die in den Principles zum Ausdrude kamen.
waren. Bis auf die gekürzte Ausgabe der Psychologie zeigen sie keine Spuren des Studiums. Von den beiden Aufsätzen, die James Husserl zusandte, zeigt „The knowing of things together" solche Spuren wohl, „A world of pure experience" aber nicht. 12 Erscheint demnächst als Band I dieser Reihe. 13 J. Linschoten, Geschiedenis der psychologies erscheint in der dritten Auflage von M. J. Langeveld (ed.), Inleiding in de psychologie. Groningen, Wolters.
I. B I O G R A P H I S C H E C H A R A K T E R I S T I K VON W I L L I A M J A M E S William James wurde 1842 in New York geboren 1 . Er war Amerikaner, er fühlte sich sein ganzes Leben lang als solcher, wieviele Bande ihn audi an Europa knüpften: seine Familie war schottischer und irischer Abstammung. Der Schauplatz seiner frühen Lebensjahre wechselte oft. Er wohnte mit seinen Eltern in Newport, New York, Paris, London, Genf, Boulogne, Bonn. James studierte an einer Reihe von europäischen Universitäten, verfügte über eine umfangreiche Kenntnis europäischer Philosophien und besuchte im Laufe seines Lebens oft und gern die alte Welt. Sie hat ihm viel gegeben, was er dankbar annahm, nicht ohne es kritisch zu sichten. Denn James trat Europa mit einem Geist entgegen, der durch den jugendlichen Elan der Vereinigten Staaten geformt war. E r verstand es jedoch diesen Elan, der mehr europäisch gebildet war als er wußte, mit einem sicheren Gefühl auf seine Schwachheiten hin zu prüfen. Dadurch hat er in seiner Psychologie Europa und Amerika integrieren können; eine Leistung, die nach ihm niemand mehr fertigbrachte. Aber auch im engeren Kreis des elterlichen Hauses fand er Einflüsse, die für seinen Bildungsgang viel bedeuteten. Sein Vater, Henry James, dessen nachgelassenes Werk von seinem Sohne herausgegeben wurde, veröffentlichte religiöse Schriften, stark beeinflußt durch Swedenborg. Williams Arbeit über The varieties of religious experience, noch immer einmalig in ihrer Art, zeigte ihn als Sohn dieses Vaters. Sein Bruder Henry erwarb sich als Romanschreiber einen Ruf. Daß auch William auf diesem Gebiet Talent besaß, beweisen seine Werke, die man auch vom literarischen Standpunkt aus mit Vergnügen lesen kann. Ein Jahr widmete er sich der Malerei. E r malte nicht einmal schlecht, und er hegte sogar den Plan, sie zu seinem Beruf zu machen. Er ist auch Maler geworden, zwar nicht mit dem Pinsel, sondern mit Feder und Tinte. Religiöse und künstlerische Impulse flössen in seiner Lebensarbeit mit wissenschaftlichen zusammen. Wir beschränken uns hier auf eine kurze Skizzierung. Einen ausführlicheren Uberblick bieten folgende Werke: H. James (ed.), The letters of William James, 2 Tie. Boston, 1920. R. B. Perry, The thought and character of William James. Bd. I, Boston, 1935; Bd. II, Boston, 1936. Gekürzte Ausgabe in einem Teil unter demselben Titel, New York, 1954. R. B. Perry, In the spirit of William James, New Haven, 1938. Femer die kurze Biographie von C. Stumpf, William James nach seinen Briefen; Berlin, 1928. Sodann noch: A list of the published writings of William James; Psychol. Rev., 1911 (18), 157—165. 1
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Biographische Charakteristik von William James
Mit neunzehn Jahren immatrikulierte er sich an der Lawrence Scientific School (Harvard University), wo er Chemie und vergleichende Anatomie studierte. Später, 1864, wechselte er über zur Medizin an der medizinisdien Schule von Harvard. Ein Jahr später, 1865, angezogen vom Abenteuer, begleitete er den Biologen Louis Agassiz auf einer damals berühmten Expedition an den Amazonas. Während dieser Expedition, auf der er zum eigentlichen Zweck nicht viel beitrug, hat J a m e s doch wohl ein tieferes Interesse für biologische Fragen entwickelt. Wenn er später den Grundlagen der Evolutionslehre in seiner Psychologie einen Platz gibt, so hatte er auf dieser Reise Gelegenheit, mit den Einwänden gegen diese Theorie gründlich Bekanntschaft zu machen. Denn Agassiz, der in Harvard dozierte, war ein heftiger Gegner dieser Lehre. D i e große Entdeckung jedoch, die James a m Amazonas machte, war von anderer Art: er kam zu der Überzeugung, daß er Philosoph sein wollte. Als er nach seiner Rückkehr im Jahre 1867 nach E u r o p a fährt, um dort weiterzustudieren (einundeinhalbes Jahr in Deutschland: Dresden, Teplitz, Berlin), konzentriert er sich zwar auf Medizin und Physiologie, aber beginnt auch die großen Philosophen zu lesen. Zur selben Zeit nimmt auch sein Interesse für Psychologie allmählich Form an. So schreibt er 1868: „Ich habe nichts Interessantes gelesen, außer einigen Kapiteln Psychologie. In der letzten Zeit beschäftigte m a n sich hier ziemlich viel mit Sinnesphysiologie, zu der die Wahrnehmung gehört und also auch im gewissen Sinne die Psychologie. Ich arbeite in dieser Richtung weiter" 2 . U n d vorher, 1867: „ E s kommt mir so vor, als wenn für die Psychologie die Zeit angebrochen ist, eine Wissenschaft zu werden. E s werden bereits einige Abgrenzungen vorgenommen auf dem Gebiet, das zwischen den physischen Veränderungen in den Nerven und dem Auftreten von Bewußtseinserscheinungen liegt . . . und daraus könnte mehr hervorgehen. Ich fahre fort mit dem Studium des bereits Bekannten, und vielleicht werde ich gar in der L a g e sein, selbst ein wenig daran z u arbeiten" 3 . D a n n folgt ein Satz, der deutlich sehen läßt, wie früh es noch war, als James von den ersten Resultaten Kenntnis nahm: „Helmholtz and a man named Wundt at Heidelberg are working at it". Hermann υοη Helmholtz, nach Jahren von James charakterisiert als ein „fine looking old fellow, but with formidable powers of holding his tongue and answering you b y a friendly inclination of the h e a d " 4 , erlebte bereits seinen großen Ruhm. 1868 sprach James über ihn als „the greatest scientific genius extant" 5 . Aber der „ m a n named Wundt" ist noch ein Unbekannter.
2 3 4 6
Letters, I, S. 126 f. Letters, I, S. 118 f. Perry, Thought, II, S. 188. Vgl. Letters, I, S. 347. Peny, Thought, I, S. 283.
Biographische Charakteristik von William James
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E r , der der Vater der experimentellen Psychologie genannt werden wird und jahrelang der unbestrittene Großmeister der europäischen Psychologie war, steht zu der Zeit noch a m Beginn seiner L a u f b a h n . Dennoch war er, der zehn Jahre älter war als James, schon 1864 außerordentlicher Professor in Heidelberg. Die Psychologie füllt James dann immer mehr aus. E r gerät tief unter den Eindruck dieser neuen experimentellen Wissenschaft. In der Zeit u m 1860 erschienen einige sehr wichtige Werke, wie Fechners Elemente der Psychophysik (1860), Wundts Beiträge zur Theorie der Sinneswahrnehmung (1858—1862), womit der Beginn der physiologischen Psychologie i m engeren Sinne gekennzeichnet ist. Fünf Jahre später erscheint von Helmholtz das schnell berühmte, 1920 zum letzten Mal aufgelegte Handbuch der physiologischen Optik (1867). Inmitten dieser B e w e g i m g wächst James also heran, inmitten auch einer Begeisterung f ü r diese Psychologie. D e n n allgemein wurde sie als eine Verwirklichung dessen begrüßt, was voraufgehende Jahrhunderte höchstens programmatisch skizziert hatten. Hier entstand ein Fach, eine Wissenschaft, auf die sowohl die naturwissenschaftlich Orientierten, wie auch die Philosophen große Erwartungen setzten. Erwartungen, mitbestimmt durch den Wissenschaftsoptimismus, der in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts ständig an Kraft zunahm. Glanz und Glorie der Wissenschaften erreichten eine unbekannte Höhe, erfüllten die Öffentlichkeit mit Respekt u n d H o f f n u n g : „ . . . this Science was coming, a spirit of light and order, to the rescue of a world groaning and travailing in muddle for the want of it" 6 . Auch manche Abschnitte der Romane Dostojewskijs sprechen diese Erkenntnis deutlich aus. Aber klang die Erwartung einer nahen Vollendung der Wissenschaft nicht a u d i in den Worten von Helmholtz durch, als er sagte: „Ihr Geschäft wird vollendet sein, wenn einmal die Zurückleitung der Erscheinungen auf einfache K r ä f t e vollendet ist, und zugleich nachgewiesen werden kann, daß die gegebene die einzig mögliche Zurückleitung sei, welche die Erscheinungen z u l a s s e n " 7 ? Diese selbstsichere, messianische Wissenschaft bemächtigt sich nun tatkräftig, nämlich durch das Experiment, des inneren Menschen. So schrieb Taine: „ L a science approche enfin, et approche de l'homme; eile a depasse le monde visible et palpable des astres, des pierres, des plantes, oü, dedaigneusement, on la confinait; c'est ä l'äme qu'elle seprend, munie des instruments Η. G. Wells, The new Madiiavelli. Penguin books 1946, S. 30. Η. von Helmholtz, Uber die Erhaltung der Kraft. In: Wissenschaftliche Abhandlungen, I, Leipzig, 1882, S. 17. Wenn auch eine derartige Behauptung noch bewiesen werden muß, so gibt er doch schon auf Seite 15 eine nähere Bestimmung des Endziels: „Die Naturerscheinungen sollen zurückgeführt werden auf Bewegungen von Materien mit unveränderlichen Bewegungskräften, welche nur von den räumlichen Verhältnissen abhängig sind". 6
7
8
Biographische Charakteristik von William James
exacts et per^ants dont trois cent ans d'exp£rience ont prouve la justesse et mesure la portee" 8 . Ohne eine Einsicht in diesen Zeitgeist sind die tiefsten Probleme — und die Konflikte — mit denen uns die Psychologie James' konfrontiert, nicht zu verstehen. Einerseits wurde James durch diesen Geist beseelt; seine Psychologie trägt dessen Stempel. Aber andererseits hat James sich den Voraussetzungen entwunden, die er für die Psychologie als tödlich betrachtete: dem Mechanismus, der instrumentalen Zergliederung dessen, was nicht die Struktur von Sternen, Steinen und Pflanzen hat. Die Einseitigkeit und Eigenwilligkeit einer naturwissenschaftlichen Betrachtungsweise, die vorausgreifend, auch das noch Unbekannte mit dem bereits Bekannten, mit allem Bestehenden auf ein und dieselbe Art auf dieselben Prinzipien zurückführen zu können glaubt, hat er heftig bekämpft. Der Fortschritt der Wissenschaft ist so gewaltig, wird er später in einer Rede sagen, daß es kein Wunder ist, wenn die Verehrer der Wissenschaft ihren Kopf verlieren. „Sogar an dieser Universität (Harvard) habe ich mehr als einen Dozenten sagen hören, daß alle fundamentalen Wahrheiten bereits durch die Wissenschaft gefunden wurden, und daß die Zukunft nur noch die Details des Bildes anzufüllen braucht. Aber das geringste Nachdenken über den wirklichen Zustand genügt, um zu zeigen, wie barbarisch solche Auffassungen sind. Sie beweisen einen solchen Mangel an wissenschaftlichem Vorstellungsvermögen, daß es schwierig ist, einzusehen, wie jemand, der aktiv ein Teilgebiet der Wissenschaft fördert, einen solch groben Fehler begehen kann" 9 . Dennoch wird er selbst daran festhalten, daß die Psychologie eine „natural science" ist. Jedoch bevor wir hier von einer Inkonsequenz sprechen, werden wir zunächst untersuchen, ob dieser innere Konflikt nicht gerade die Grundlage für die Fruchtbarkeit von James' psychologischem Denken geformt hat. Aber so weit sind wir noch nicht. Während seines Studienaufenthaltes in Europa faßt James den Entschluß, Physiologie zu dozieren, um so seine Pläne im Hinblick auf die Psychologie zu verwirklichen. Ein merkwürdiger Plan? Nicht so fremdartig, wenn wir bedenken, daß die aufkommende experimentelle Psychologie zum großen Teil von Medizinern betrieben wurde und stark nach physiologischen Fragen ausgerichtet war. 8 H. Taine, Histoire de la littirature anglaise, Bd. IV, Paris, 1911", S. 388. Die Fortsetzung des zitierten Abschnittes lautet: "La pensee et son developpement, son rang, sa structure et ses attaches, ses profondes racines corporelles, sa vegetation infinie ä travers l'histoire, sa haute floraison au sommet des choses, voilä maintenant son objet, l'objet que depuis soixante ans eile entrevoit en Allemagne, et qui, sonde lentement, sürement, par les meines methodes que le monde physique, se transformera ä nos yeux comme le monde physique s'est transforme". 9 W. James, The will to believe. New York, 1897, S. 53. Deutsche Ausgabe: Der Wille zum Glauben. Stuttgart, 1899; übers, von Th. Lorentz.
Biographische Charakteristik von William James
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Wir sagten bereits, daß es im Geist der Zeit lag. Stanley Hall schrieb über den Bildungsgang von Wundt folgendes: „Während seiner Dozentenzeit beschäftigte er sich überaus intensiv mit den Problemen der Physiologie, deren moderne Entwicklung eine der größten Errungenschaften der deutschen Wissenschaft darstelltest sie es doch, der die Medizin ihre höhere Bedeutung überall in der Welt verdankt. In der Physiologie als Brennpunkt vereinigen sich viele andere Wissenschaften. In ihrem Studium hat man mit gutem Recht ein Mittel zur freien Erziehung und praktischen Zucht im Denken wie im Experimentieren gesehen. Die physiologische Wissenschaft ist jung genug, um immer noch vom Glänze ihrer Morgenröte verklärt zu sein. Sie beruht auf dem idealen Gedanken, die Physik, die exakteste aller Wissenschaften, und in jüngster Zeit auch die Chemie für die Erforschung der Funktionen lebender Gewebe und des menschlichen Körpers nutzbar zu machen . . . Der nächste unvermeidliche Schritt war nun, diese Methoden auch auf die Sinne und auf einfache Denkprozesse anzuwenden, daraus aber mußte sich eine physiologische Renaissance ergeben, von ähnlicher kultureller Bedeutung wie die Renaissance selbst"10. Man kann nicht sagen, daß die Bedeutung der Physiologie unterschätzt wurde. 1869, zurückgekehrt in sein Vaterland, erwirbt er sich an der Harvard University den akademischen Titel als Mediziner. Er übt danach keine Praxis aus. Seine Gesundheit, die er bereits in Europa durch wiederholte Kuren zu verbessern trachtete, läßt ihn nun völlig im Stich. Eine ernsthafte innere Krise wirft ihn auf sich selbst zurück. Das Gefühl der Fruchtlosigkeit des eigenen Daseins führte zu einem depressiven Zustand, in dem die Neigung zum Selbstmord mehr als einmal aufkam. Dreißig Jahre später beschrieb er eines seiner erschütterndsten Erlebnisse aus dieser Zeit in dem Kapitel „The sick soul" seiner „Varieties": „Als ich in dieser pessimistischen Stimmung war und so niedergeschlagen in die Zukunft sah, ging ich eines Abends im Zwielicht ins Ankleidezimmer, um mir etwas zu holen. Da überfiel midi plötzlich, ohne irgend ein voraufgegangenes Anzeichen, gerade als ob es aus dem Dunkel hervorkäme, ein furchtbares Entsetzen vor meinem eigenen Dasein. Zugleich stand vor meinem Geist das Bild eines Epileptikers, den ich in einem Asyl gesehen hatte, eines schwarzhaarigen Jünglings mit grünlicher Hautfarbe, der vollständig blödsinnig war und den ganzen Tag lang auf den Bänken oder vielmehr Brettern an der Wand zu sitzen pflegte, die Knie bis zum Kinn heraufgezogen und das grobe, graue Unterhemd, sein einziges Kleidungsstück, darüber gezogen, so daß seine ganze Gestalt davon 10 G. Stanley Hall, Die Begründer Schmidt). Leipzig, 1914, S. 196 f.
der modernen Psydiologie.
(Übers. R.
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Biographische Charakteristik von William James
umschlossen wurde. Er saß da wie eine in Stein gehauene ägyptische Katze odei wie eine peruanische Mumie, bewegte nur seine schwarzen Augen und machte durchaus nicht den Eindruck eines menschlichen Wesens. Dies Bild und meine Furcht verschmolzen mit einander; ich hatte das deutliche Gefühl: diese Gestalt zeigt dir deine eigene Zukunft. Alles, was ich bin und habe, kann mich nicht voi diesem Schicksal bewahren, wenn die Stunde für mich schlägt, wie sie für ihn geschlagen hat. Ich empfand solch Entsetzen vor ihm und die Überzeugung, daß meine Verschiedenheit von ihm nur eine augenblickliche sei, war so stark, daß der feste Boden unter mir zu wanken schien und ich zu einem Gebilde zitternder Furcht wurde. Von da ab war die Welt für mich eine andere geworden. Jeden Morgen erwachte ich mit entsetzlicher Furcht im Herzen und mit einem Gefühl der Unsicherheit, wie ich es früher nie gekannt hatte und seither nie wieder empfunden habe. Es war wie eine Offenbarung; und obgleich jene Empfindungen wieder aufhörten, habe ich doch seitdem stets Verständnis für die krankhaften Gefühle anderer gehabt. Nach und nach wurde es besser mit mir; aber monatelang war es mir unmöglich, allein ins Dunkle zu gehen. Überhaupt fürchtete ich das Alleinsein. Ich erinnere mich, wie ich mich darüber wunderte, daß andere Menschen leben konnten, und daß ich selber gelebt hatte, ohne den Abgrund von Unsicherheit unter der Oberfläche des Lebens zu bemerken. Meine Mutter zumal, eine sehr heitere Frau, die von keiner Gefahr zu wissen schien, war mir ein reines Rätsel; doch hütete ich mich natürlich wohl, sie durch Offenbarungen meines eigenen Gemütszustandes zu beunruhigen. Idi war immer der Ansicht, daß dieser Anfall eine religiöse Bedeutung hatte"11. Hängt das nicht mit dem zusammen, was er 1869 schreibt? „Ich fühle, daß wir durch und durch Natur sind, daß wir vollkommen determiniert sind, daß keine einzige Regung unseres Willens stattfindet, es sei denn, als Folge von Naturgesetzen. Und dennoch besitzen wir eine Verständigung mit der Vernunft. Wie soll man das verstehen? . . . Es ist nicht so, daß wir ganz und gar Natur sind außer einem Teil, der Vernunft, sondern alles ist Natur und alles ist zugleich Vernunft"12. Später werden wir in den Betrachtungen über den Willen diese Gedanken wiederfinden. Sie münden in eine ernste Unsicherheit über die Stellung und Grundordnung des Menschen. Auch hier wird ein ursprünglicher Konflikt sichtbar, der eine der Grundlagen bildet, auf denen die Principles errichtet wurden. Sie sind deshalb auch ein so irritierendes Werk — nicht nur in der Bedeutung von: ärgerlich, sondern auch vor allem in der von: aufreizend —, weil sie sich in ihrer scheinbar un-systematischen Systematik der Zweideutigkeit einer Betrach11 W. James, The varieties of religious experience (1902). New York, o. J., The modem library, S. 157 f. Vgl. Letters I. S. 145 ff. Deutsche Ausgabe: Die religiöse Erfahrung in ihrer Mannigfaltigkeit. Leipzig, 1907; übers, von G. Wobbermin. Diese Textstelle zitieren wir nach der deutschen Übersetzung von G. Wobbermin, S. 154 ff. 12 Letters, I, S. 152 f.
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tungsweise bedienen, die alles auf Naturgesetze zurückführt und zu gleicher Zeit, damit versdhränkt, die nicht ableitbare Eigenheit des Bewußtseins voraussetzen. Als die Krise überwunden ist, schreibt James 1870 in sein Tagebuch, daß er an das Widerstandsvermögen des Ich gegenüber der Welt glaubt: Leben muß auf Handeln, Verträglichkeit und Schaffen gebaut werden. Dann beginnt seine schöpferische Zeit. 1873 wird er zum „instructor" der Anatomie und Physiologie an derselben Harvard University ernannt, an der er sein weiteres Universitätsleben verbringen wird. Es ist seine Chance, über die Physiologie seine psychologischen Interessen ausreifen zu lassen, Studenten um sich zu versammeln, um gemeinsam mit ihnen eine neue Psychologie in Amerika aufzurichten. Eine neue Psychologie, die sich befreit von dem theologischen und philosophischen Kontext, womit ihre Fragen bis zu jener Zeit belastet waren. Roback hat in seiner Geschichte der amerikanischen Psychologie diese Verhältnisse gut dargestellt18. Als James 1876 „assistant professor" der Physiologie wird und einen Kursus für physiologische Psychologie einführt, wird er gleichzeitig Konkurrent eines Philosophieprofessors, der seit 1838 an der Harvard angestellt war, sich schon immer für psychologische Fragen interessierte und regelmäßig darüber Vorlesungen hielt. Es war James Walker, ein Mann mit großer Vorliebe für die schottische Schule der Assoziationspsychologie. Während seiner vierzigjährigen Professur tat er, was die Psychologie anbelangt, nicht viel anderes, als vor allem zwei große Werke der schottischen Schule zu kommentieren, die Werke von Dugald Stewart und Thomas Reid. Sie vertreten eine gemäßigte Assoziationslehre, die vornehmlich gegen Hume angeht. Gegenüber Humes Skeptizismus und konsequenter Wahrnehmungslehre verteidigt die schottische Schule das Recht des Common sense, der besagt, daß das Bild der Welt, wie es uns die Sinne verschaffen, zum großen Teil mit der Wirklichkeit übereinstimmt. Diese Auffassung ist auch James nicht fremd. Aber das psychologische Denken war inzwischen nicht in Schottland stehengeblieben. 1878 ist der jüngste der von Walker immer wieder besprochenen Schotten übrigens schon 50 Jahre tot! James, der dann eintritt, bringt aus Europa neue Assoziationstheorien mit: aus Frankreich Taine (De 1'intelligence, die definitive Bestätigung der Assoziationspsychologie in Frankreich), und aus England Spencer (Principles of psychology). Aber auch Hume und Stuart Mill zitiert er wiederholt und mit Nachdruck. Und dennoch! Wer seine eigenen Betrachtungen über die Assoziation liest, sieht ihn immer wieder Abstand nehmen von den Grundgedanken, die die Assoziationstheorie kennzeichnen. Begierig nahm 13
Α. A. Roback, History of American psychology, New York, 1952.
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James das psychologische Denken, das er um sich herum vorfand, auf — obwohl er nicht alles verdauen konnte. Fortwährend stürzt er sich auf das Neue mit der Hoffnung, daß es besser sein wird als das, was er selbst zu sagen hat. Immer wieder wird er gezwungen, das Neue zu bekämpfen, weil es nicht das ist, was er zu sagen hat — und so gut gesagt hat trotz des Zweifels am eigenen Vermögen. Bei Spencer werden wir einen Augenblick verweilen, weil er für ein Verständnis von James' Psychologie von Bedeutung ist14. Herbert Spencer trug die Evolutionslehre in die Psychologie hinein. Ebenso wie Charles Darwin schöpfte er aus Lyells Principles of Geology (1832) Anregungen. Aber statt dessen Widerlegung Lamarcks anzunehmen, machte er dessen Idee zur Grundlage einer eigenen Evolutionslehre: erworbene Eigenschaften können zu erblichen Veränderungen führen. 1852 gab er hierüber Veröffentlichungen heraus, sieben Jahre bevor Darwins Origin of species das Licht erblickte (das ihn für Darwins Einsichten gewann). Seine eigene Theorie, in seiner Psychologie verarbeitet, sagt u. a., daß Assoziationen zu erblichen Tendenzen führen können, zu Instinkten. Einen Instinkt, auf Grund dessen das Tier das Gute (das ist: das für das Tier Nützliche) ohne Überlegung tut, kraft seiner Organisation, denkt er sich auf diese Art entstanden aus der erblich gewordenen Erfahrung der Generationen. Diese Instinkte bilden dann die Gundlage des psychischen Lebens, auf das bei der höchsten Art im Tierreich, dem Menschen, das Denken aufgepfropft wird, um sich von hier aus weiter zu entwickeln. Die Tendenz ist deutlich. Um eine Psychologie aufzustellen, muß man mit der Biologie beginnen. Man muß die Eigenschaften und das Verhalten des Tieres studieren, diese auf ihren Ursprung zurückführen und dann sehen, wie sie sich in der neuen Art „Mensch" unter neuen Umständen entwickeln. So wird man in einer biologistischen Psychologie auch versuchen, die höchsten psychischen Erscheinungen wie Denken, menschliches Behalten, das Lernen und die Sprache, zurückzuführen auf tiefer gelegene, biologische Kategorien. Diese biologische Fundierung der Psychologie, auf Grund der Kontinuität zwischen Mensch und Tier, ist eines der Prinzipien, die James verteidigt. So hält er seine biologische und medizinische Ausbildung keineswegs für eine Behinderung, vielmehr für eine natürliche Vorbereitung auf die Ausübung der Psychologie. Und mit dieser Einstellung nimmt er seine Arbeit an der Harvard University auf. Er ist auch von der Notwendigkeit überzeugt, das Experiment als Quelle der Erkenntnis zu benutzen. So richtet er 1876, vielleicht sogar schon ein Jahr früher, ein Zimmer für experimentelle Untersuchungen ein. 1 4 Für die Bedeutung Spencers in der Denkentwicklung James' vgl.: Perry, Thought, I, S. 474 ff.
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Und das ist nun einmal die Ironie der Geschichte: dies geschah einige Jahre bevor Wundt 1879 offiziell das erste psychologische Laboratorium in Leipzig gründete. Viel an Einrichtung hatte das Laboratorium von James nicht. G. Stanley Hall, der die Ehre, was Amerika anbelangt, gerne für sich beansprucht hätte (er gründete 1881 an der John Hopkins University ein Laboratorium), beschrieb es, nicht ohne Ressentiment, als einen „tiny room under the stairway of Agassiz Museum... with a metronome, a device for whirling a frog, a horopter chart, and one or two bits of apparatus"1®. Das ändert nichts an der Tatsache, daß James der erste Amerikaner war, der physiologische Apparate für psychologische Experimente benutzte und deren Nutzen verteidigte: sie lieferten Tatsachen. Je mehr wir uns in der ersten Zeit von Theorien freihalten können, schreibt er, desto besser. Tatsachen haben wir nötig16. Dennoch besagt dieser Enthusiasmus nicht, daß James zu den großen Experimentatoren zählte. Im Gegenteil, unter seinem Namen ist nicht ein wichtiges Experiment registriert. Kleinere Untersuchungen wurden in den Principles verarbeitet. So im I. Teil, S. 666 ff., einige Versuche zur Ubungsübertragung (transfer) beim Einprägen; im II. Teil, S. 511 ff., Versuche zur Widerlegung der Theorie der Innervationsgefühle. Eine ausführlichere Untersuchung über Schwindelgefühl bei Taubstummen17 wird beifällig von Ernst Mach zitiert18. 1890 schrieb er seinem Freund Münsterberg: von Natur aus hasse ich experimentelle Untersuchungen; gegenwärtig ist das immer die Pflicht, die aufgeschoben wird. James hat sich nicht viel in seinem Labor (das sich 1891 zu einem wirklichen Laboratorium entwickelte), aufgehalten. Wohl hat er immer wieder auf die Wichtigkeit von Untersuchungen hingewiesen und seine Studenten damit vertraut gemacht. Im selben Jahr als Walker Abschied nahm, 1878, unterschrieb James den Vertrag für ein Handbuch der Psychologie, das er hoffte, in zwei Jahren vollenden zu können. Es wurden zwölf: die Principles erschienen 189019. Dieses Buch hat ihm viel Sorgen bereitet. Obgleich er seine Arbeit 1882 wegen einer Reise nach Europa unterbrach, auf der er mit Wundt, Hering, Mach, Marty und Stumpf zusammentraf, wurde er fortwährend von ihr in Anspruch genommen. Wenn etwas Gutes darin steht, so ist dies das Produkt vieler Arbeit, schrieb er: alles wurde vier bis fünf Mal von neuem geschrieben. Der frische und lebendige Stil läßt das nicht vermuten. Viele G. Stanley Hall, zitiert bei Robadc, History, S. 129. Auch bei Perry, II, S. 14; vgl. S. 6 ff. 15
16 17 18
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Thought,
Letters, I, S. 250.
W. James, The sense of dizziness in deaf-mutes; Amer. J. Otol. 1882 (4). Ε. Mach, Die Analyse der Empfindungen. Jena, 19065, S. 122.
Vgl. zur Entstehungsgeschichte der Principles: Perry, Thought, Bd. II.
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Kapitel erschienen gesondert. James setzte sie als Artikel in verschiedene, vor allem europäische Zeitschriften, die schon damals nicht in Amerika gelesen wurden. Das vollendete Werk trug ihm verdienten Ruhm ein, wenn er auch im eigenen Vaterland darauf warten mußte, daß es an seinem Ruf in Europa bemerkte, was für einen vorzüglichen Bürger es besaß20. Nicht ohne Stolz schreibt er 1896 an Münsterberg, daß er in einem Bericht, den eine Berliner Zeitung über den III. Internationalen Kongreß für Psychologie in München brachte, las: „Der psychologische Papst der alten Welt, Wundt, und der psychologische Papst der neuen Welt, James, glänzten beide durch Abwesenheit"21. Es sei ihm gegönnt! Aber das Buch befriedigte ihn nicht. Seine Briefe sprechen hierüber eine klare Sprache. So schreibt er, noch bevor es gedruckt ist, seinem Verleger, daß es zwei Dinge beweist: „1st, that there is no such thing as a science of psychology, and 2nd, that W. J. is an incapable"22. Was für ein Mut, dieses nach zwölf Jahren harter Arbeit zu sagen, wenn er auch, was den zweiten Punkt betrifft, unrecht hatte I Was für eine Offenheit, nachdem das ganze Werk nach dem Thema des „stream of consciousness" komponiert wurde, die simple Frage zu stellen: „Does consciousness exist?" So lautet der Titel eines Artikels, der 1904 erschien. James bekennt darin, daß er sich schon vor zwanzig Jahren (!) die Frage vorlegte, ob Bewußtsein besteht. Das ist einer der Gründe, weshalb man ihn als Wegbereiter des Behaviorismus sehen kann. Inzwischen wurde er im Jahre 1880 „assistant professor" der Philosophie, 1885 wurde er o. Professor. 1889 wurde sein Lehrauftrag geändert: James wird jetzt Professor der Psychologie, noch einer von den ersten, die diesen Titel jemals trugen. Aber in diesem kaleidoskopartigen Leben haben sich die Anordnungen vor ihrer Fixierung verändert. Nach 1890 verlegt er sein Interesse in zunehmendem Maße auf philosophische Fragen, die sich um Pluralismus und Pragmatismus gruppieren. Auf seine Einladung hin kommt 1892 Hugo Münsterberg, ein junger und vielversprechender Psychologe aus Freiburg, nach Harvard. Er bleibt drei Jahre, kehrt darauf nach Europa zurück, besinnt sich dort zwei Jahre und kommt dann endgültig nach Harvard, um Nachfolger von James zu werden, der aufs neue Professor für Philosophie wird. James widmet sich der Philosophie, wenn wir auch noch psychologische Veröffentlichungen zwischen den mehr philosophischen, die von seiner Hand stammen, erscheinen sehen. 1907 nimmt er Abschied. 20
G. Santayana, Character and opinion in the United States. New York, 1921,
S. 94. Vgl. Perry, Thought, II, S. 91 ff. Dort findet man auf S. 104 ff. eine Auslese der bösartigsten Kommentare der amerikanischen Kollegen von James. 21 22
Perry, Thought, II, S. 145. Letters, I, S.294.
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Ein ungewöhnlicher Mensch, eine außergewöhnliche Psychologie! Seine Principles fanden einen großen Widerhall. Bei einer Rundfrage gegen Ende des vorigen Jahrhunderts, kam James als der in der öffentlichen Meinung namhafteste Wissenschaftler der Vereinigten Staaten zum Vorschein. Der Gelehrte par exellence. Er jedoch verwirft sein Lebenswerk als unzureichend, wohl aus demselben Grunde, der ihn später zwingt zu sagen, daß es keine „neue Psychologie" gibt. Unter „neuer" Psychologie verstand man um 1900 die durch Wundt geprägte Psychologie, ob sie nun übereinstimmend oder abweichend von Wundts „Orthodoxie" betrieben wurde. Aber, sagt James in einer Ansprache vor Lehrern: „ . . . meinem bescheidenen Urteil nach gibt es keine ,neue Psychologie', die den Namen verdient. Es gibt nichts als die alte Psychologie, die zu Lockes Zeiten begann, plus ein wenig Him- und Sinnesphysiologie, Evolutionslehre und ein paar Verfeinerungen der Introspektion... Nur die Grundbegriffe der Psychologie sind für den Lehrer von wirklicher Bedeutung und diese sind, abgesehen von der genannten Evolutionslehre, alles andere als neu" 23 . Das war die Psychologie, die er selbst förderte. Wiewohl ausdrücklich herausgestellt wird, daß jeder Bewußtseinszustand ein Geschehen im zentralen Nervensystem voraussetzt und James im letzteren die Lösungen für seine Probleme sucht, schreibt er doch auch: „Manch einer scheint gegenwärtig zu denken, daß eine Schlußfolgerung sehr wissenschaftlich sein muß, wenn die Beweisgründe zu ihren Gunsten alle aus den Zuckungen von Froschschenkeln abgeleitet wurden — insbesondere, wenn die Frösche geköpft sind —, und daß andererseits eine Lehre, die in der Hauptsache gesichert wird durch die Gefühle menschlicher Wesen . . . blödsinnig und abergläubisch sein muß" 24 . Sind wir denn nicht gezwungen, dasjenige in James Denken für das Wesendichste zu halten, was in seinem Werk nicht expressis verbis formuliert wurde? Ist es gerechtfertigt, seine verborgene Intention in der Phänomenologie verwirklicht zu sehen? Dies wird in den folgenden Kapiteln wahrscheinlich gemacht werden müssen. Dabei darf dann nicht übersehen werden, daß viele sich auf James berufen haben, und daß auch ebensoviele ins Auge springende Verwandtschaften verneint haben. Dewey sieht in ihm einen Behavioristen der Intention nach20. Judd ist der Meinung, daß James' Theorie der Emotionen den Behaviorismus einleitet26. Aber Watson, der erstrangige Behaviorist, hat 23 W.James, Talks to teachers (1899). London, 1920, S. 7. Deutsche Ausgabe: Psychologie und Erziehung. Leipzig, 19082; übers, von F. Kiesow. 24 Perry, Thought, II, S. 30. 25 J. Dewey, The vanishing subject in the psychology of James; J. Phil. 1940 (37), 589—599. 28 Brief an Roback, bei Robadc zitiert, History, S. 224.
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kein gutes Wort dafür übrig: James verursachte einen Rückfall der Emotionspsychologie, von dem sie sich erst seit kurzem wiederaufzurichten beginnt27. Auch Kantor wirft ihm vor, im Despiritualisieren der Psychologie falsch gehandelt zu haben28. Die Verneinung des behavioristischen Einschlages bei James deckt sich auf jeden Fall gut mit dem Urteil des großen James-Kenners Perry, daß James, der sich selbst für einen „strengen Positivisten" hielt (!), heute zu den großen Gegnern des Positivismus gehören würde29. Haben nicht auch die Leipziger „Ganzheitspsychologen" ihn als einen bedeutenden Wegbereiter ihrer Gedanken gesehen30? Boring hält ihn für einen Phänomenologen31. Wenn James das alles gewußt hätte, er hätte sicherlich darüber gelacht. Sagte er nicht von sich selbst: „I am too unsystematic and loosel" 32 ? In der Präzision und Konsistenz eines Wundt witterte er „a terrible flavor of humbug" 33 . 1887 schreibt er an Stumpf über Wundt das Folgende: „Aber Sie müssen zugeben, daß, weil es Professoren auf der Welt geben muß, Wundt der preiswürdigste und nicht genug zu respektierende Typ dieser Art ist. Er ist kein Genie, er ist ein Professor, ein Wesen, dessen Pflicht es ist, alles zu wissen und eine eigene Meinung über alles das zu haben, was mit seinem Fach zusammenhängt"34. Ressentiment? Es wäre zu verstehen, wenn man sich Wundt gegenübergestellt sieht, der zwischen 1853 und 1921 im Durchschnitt täglich 2,2 Seiten veröffentlichte, wie Boring uns vorrechnet35. Aber der Ressentiments kann man James nicht verdächtigen. Alle Aspekte, auf die sich verschiedene Schulen beriefen, sind tatsächlich im Werk zu finden. Das hängt mit dem merkwürdigen Charakter seines Denkens zusammen; diese Art hat er selbst mit dem Begriff „offener Empirismus" oder auch „radikaler Empirismus" einfangen wollen. Dauernd beruft sich James auf die direkte Erfahrung, dauernd geht es ihm darum, Tatsachen festzustellen. Aber dieser Begriff der „Tatsache" hat bei ihm eine eigene BeJ. B. Watson, Behaviorism. New York, 1925, S. 108. J. R. Kantor, Jamesian psychology and the stream of psychological thought. In: In commemoration ..., S. 147. ™ R. B. Perry, James the psychologist; Psychol. Rev., 1943 (50), S. 124. 30 H. Volkelt, Grundbegriffe; Neue psydiol. Studien, 1934 (12), S. 9 ff. 31 Ε. G. Boring, Human nature vs. sensation: William James and the psychology of the present; Amer. J. Psychol., 1942 (55), 310—327. Vgl. die Anmerkung bei Allport, Paradoxes, S. 101: „Radical empiricism has never become integrated with modern psychology. It might have served as the foundations for an American school of phenomenology, but it did not. Instead, the examination of the intent and constitution of experience was left largely to Husserl and his associates in Germany .. 32 Perry, Thought, II, S. 96. 33 Perry, Thought, II, S. 55. 34 Letters, I, S. 263. 35 E. G. Boring, A history of experimental psychology. New York, 1929, S. 342. 27
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deutung. Tatsache ist das Gegebene selbst, nicht dasjenige, was man aus der Erfahrung entnimmt. James wünscht keine Tatsachen, die schon von vornherein durch eine Theorie in einen bestimmten Kontext gezwungen wurden. Sein offener Empirismus ist nichts anderes als ein Versuch, vorurteilslos und frei die Erscheinungen, die ihn interessieren, zu betrachten, sich dabei nicht an Theorien zu binden, nach Möglichkeit an gar keine Theorie, sondern sich durch das Konkrete in seiner Vielfältigkeit führen zu lassen. Angenehm und reibungslos verlief dieses Leben nicht. James, der Weltbürger, daheim in zwei Weltteilen, mit beiden geistigen Klimaten vertraut, erfuhr die eigene Weite und Offenheit oft als Zersplitterung. Es gehörte sich nicht, ein Kosmopolit zu sein, schreibt er 1894: die Seele wird desintegriert, wie Janet sagen würde. Ihre Teile bleiben auf verschiedenen Plätzen zurück, und das Ganze ist nirgendwo. Das eigene Land erscheint einem fremd. Das ist nicht gut und ich glaube darunter zu leiden30. Das Ganze ist nirgendwo: das charakterisiert den Inhalt seines Denkens und Lebens, nicht die Form. Die Form war eine Einheit, beschlossen in seiner Zeichnung der pragmatischen Haltung: auf Grund unversicherter Möglichkeiten zu leben, auf die man vertraut37. William James starb am 26. August 1910. Wenige Tage zuvor war er von seiner letzten Europareise zurückgekehrt. Daheim angekommen, ließ er sich in den Sessel fallen. „It's so good to get home", waren seine Worte.
Letters, I, S.347. W.James, Pragmatism (1907); London, 1943, S. 297 f. Deutsche Ausgabe: Der Pragmatismus. Leipzig, 1908; übers, von W. Jerusalem. 30
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Linsdioten
I I . WAS IST NACH J A M E S P S Y C H O L O G I E ? 1. U M S C H R E I B U N G Psychologie ist die Wissenschaft des psychischen Lebens, „the science of mental life". Mit diesen Worten beginnt James sein Hauptwerk [I, l] 1 . Der Psychologe beschäftigt sich mit den Bewußtseinserscheinungen: mit Gefühlen, Begierden, Erkenntnisgegenständen, Überlegungen, Entschlüssen usw.; mit diesen Erscheinungen und den Bedingungen, unter denen sie auftreten. Aber wie wissen wir, ob wir es mit solchen Erscheinungen zu tun haben? Wo es das eigene, persönliche Dasein betrifft, ist es leicht auszumachen. Introspektive Wahrnehmung, die Rüdewendung zum eigenen Erlebnis lehrt uns, daß es verschiedene Arten von Bewußtseinszuständen gibt. Freude ist etwas ganz anderes, ein völlig anderer Erlebnismodus als aufmerksames Zuhören oder als Begehren. Was andere betrifft, andere Menschen, andere Lebewesen, wie Tiere: über ihre Erlebnisse fehlt uns die direkte Erfahrung. Aber daß wir alle Erlebnisse irgendwelcher Art haben, ist unbezweifelbar. Das glauben wirl Und James betrachtet diesen Glauben als das fundamentalste Postulat der Psychologie [I, 185]. Es bedeutet, daß der Psychologe nicht bezweifeln will, daß andere etwas erleben. Er setzt voraus, daß das der Fall ist. Auf diese Voraussetzung gründet er seine wissenschaftliche Tätigkeit. Indem James diesen Standpunkt vertritt, nimmt er die Gültigkeit des gesunden Menschenverstandes, des Common sense, in diesem Punkte an. Viele andere Psychologen haben das nicht getan; sie haben sich große Mühe gegeben, Beweise zu finden, daß andere als 'ich' doch auch so erleben, wie ich erlebe, um sich dann im weiteren den Kopf darüber zu zerbrechen, wie dasjenige, was der andere erlebt, so wie er es erlebt, für midi zugänglich und erkennbar sein kann. Wir werden später sehen, wie wichtig es ist, daß James hier 'unkritisch' zu Werke geht. Und die Tiere? Für sie gilt, was auch für den Menschen gilt: die Verhaltensweisen sind Äußerungen psychischen Lebens, die eine Zielgeriditetheit zeigen und bei denen außerdem die Variabilität der Mittel nachweisbar ist, die zur Erreichung dieses Zieles verwendet werden [I, 8ff.]. Solche Verhaltensweisen sind nicht durch die Struktur des Orga1 Zahlen zwischen eckigen Klammem [ ] im Text verweisen auf Teil und Seite von The principles of psychology. 2 Bde., London, 1890.
Umschreibung
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nismus medianisch bestimmt, sondern verraten 'Geist', die Fähigkeit, durch Verfügungsgewalt über den Leib, ein Ziel zu erreichen2. „Romeo sucht Julia wie der Eisenspan den Magnet; und wenn keine Hindernisse im Wege stehen, geht er genauso geradlinig auf sie zu wie der Span auf den Magnet. Aber wenn zwischen ihnen eine Wand errichtet wird, verharren Romeo und Julia nicht dabei, ihre Gesichter wie Verrückte gegen die Wand zu drücken, wie sich Magnet und Span gegen eine Karte drücken. Romeo findet bald einen Umweg . . . " [I, 7]. Umwege suchen, das Ausprobieren verschiedener Mittel, um ein Ziel zu erreichen, verrät Einsicht, deutet auf Spontaneität der Stellungnahme hin. Hier nehmen wir einen Psychismus3 an. So ist denn die Psychologie die Wissenschaft über vergängliche und individuelle Psychismen [I, S. VI, 83, 199]. Sie gibt sich nicht ab mit einer substantiellen Seele oder einem substantiellen Geist, sondern mit wirklich und tatsächlich bestehenden, konkreten Psychismen. Wie jede Wissenschaft postuliert sie dabei naiverweise, daß es bestimmte Gegebenheiten wirklich gibt. Diese Gegebenheiten sind dann (1) Gedanken und Gefühle(2) die raumzeitliche Natur, mit der diese Gedanken und Gefühle koexistieren und von der sie (3) Kenntnis nehmen [I, S. VI]. Diese Gegebenheiten bestimmen den Blick des Psychologen auf die Wirklichkeit, sagt James. Sie entwerfen ein Bild der Wirklichkeit, das selbstverständlich für eine Diskussion faßbar ist. Aber nicht für eine psychologische Diskussion. Man kann sich die Frage stellen, ob dasjenige, was wir unter 'raumzeitlicher Natur' (der physischen Wirklichkeit) verstehen, auch tatsächlich besteht; und falls ja, ob es nun diese Wirklichkeit ist, die vermittels Gedanken und Gefühle, erkannt wird. Derartige metaphysische Fragen gehören jedoch nicht zur Psychologie, sondern zur Philosophie [I, S. VI; I, 185] 5 . 2
Vgl. A. Horwicz, Psychologische Analysen auf physiologischer Grundlage.
Bd. II/l. Halle, 1875, S. 7: „Wir haben oben den Punkt bezeichnet, an welchem das Denken in die seelische Entwicklung einsetzt, nämlich da, wo die Triebbewegung die anatomisch vorgezeichnete Reflexbahn verläßt und eine andere wählt". 3 James spricht von „mind", schließt aber ausdrücklich die substantivierenden Begriffe „Seele" und „Geist" aus. Wir verwenden deshalb den Aüsdruck „Psychismus". * Mit „Gedanke" und „Fühlen" übersetzen wir James' Ausdrücke „thought" und „feeling", die er in einem sehr weiten Sinne verwendet. 6 Zehn Jahre später schien James seine Meinung revidiert zu haben. Im Vorwort zur italienischen Ausgabe der Principles sagt er: „I confess that during the years that have elapsed since the publication of the book, I have become more and more convinced of the difficulty of treating psychology without introducing some true and suitable philosophical doctrine". Zitiert bei Perry, Thought, II, S. 75. 2·
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Was ist nach James Psychologie?
Womit hat es also die Psychologie zu tun? Ihr Studienmaterial umfaßt die vier nicht riickführbaren Klassen von Grundgegebenheiten [I, 184]: 1) den Psychologen selbst; 2) den Gedanken, den er untersucht, die psychische Erscheinung; 3) den Gegenstand der psychischen Erscheinung; 4) die „psychologist's reality", wohl zu unterscheiden von der physischen Wirklichkeit. Die Relation dieser vier, sagt James, ist folgende: (1) das ist der Psychologe, der glaubt, daß (2), (3) und (4), die zusammen seinen ganzen Gegenstand bilden, Realitäten sind. Er beschreibt diese Realitäten. Er untersucht ihre Beziehungen, ohne sich zu fragen, wie er überhaupt imstande ist, diese zu beschreiben. Von großer Wichtigkeit sind in diesem Schema die Punkte (1) und (4). Wenn James behauptet, daß zu den nicht riickführbaren Gegebenheiten der Psychologie der Psychologe selbst und die „psychologist's reality", die Wirklichkeit des Psychologen gehört, dann erklärt er, daß der Untersucher eine Rolle in der Konstitution des Prozesses, den er untersucht, erfüllt. Auf eine Art kommt das zum Ausdruck im „psychologist's fallacy", im Irrtum, der die Psychologie besonders bedroht. Dabei verwechselt nämlich der Untersucher seinen eigenen Standpunkt mit der Bewußtseinserscheinung. Diese Erscheinung und deren Gegenstand sind beide für den Psychologen Gegenstand. Aber die Bewußtseinserscheinung ist niemals Gegenstand für sich selbst. In sich selbst ist sie kein Gegenstand, wie der Psychologe sie von außen her sieht. Das Denken denkt etwas, einen Gegenstand, es denkt nicht sich selbst. Der Psychologe betrachtet das Denken (als Gegenstand) und den Gegenstand dieses Denkens [I, 196f.]. Zu oft zeigt sich der Irrtum, daß wir, wenn wir introspektiv beschreiben, das Bewußtsein entgleiten lassen und dasjenige beschreiben, wovon dieses Bewußtsein Bewußtsein ist — um dann im weiteren zu meinen, daß das Bewußtsein selbst die Struktur seines Gegenstandes hat [1,278]. Oder in einem anderen Fall setzen wir oft voraus, das im Gegebenen alles das vergegenwärtigt sein muß, was wir bezüglich dieses Gegebenen wissen. Also: Bewegung ist das sukzessive Einnehmen verschiedener Positionen (das wissen wir), deshalb muß Bewegung als Sukzession von Positionen gesehen werden [11,281], Aber das geht nicht auf. Man kann beispielsweise unter bestimmten Bedingungen Bewegung ohne Orts Veränderung wahrnehmen6. Handelte es sich gerade um Fehler, die der Psychologe vermeiden muß, so legt die Tatsache, daß James über eine „psychologist's reality" spricht, ® In meinem Artikel: Logische en phänomenologische analyse van de bewegingsverschijnselen; Tijdschr. Thilos., 1950 (12), 674 f. wurde dieser Fall näher beschrieben. „Psychologist's fallacy" wird dort als „logisches Vorurteil" umschrieben.
Gedanke und Gefühl als psychische Grunderscheinungen
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die Vermutung nahe, daß er es audi im allgemeinen als eine Unvermeidlichkeit sieht, daß die Dinge in dieser Wirklichkeit erst werden, was sie sind, durch den eigenartigen Standpunkt des Psychologen. James gibt hier keine weitere Erklärung. Wir werden später sehen, daß diese Interpretation auf der Hand liegt7. Die Psychologie transformiert die Wirklichkeit und beschränkt sich also nicht auf eine einfache Beschreibung dessen, „was da ist". Das wird schon deutlich aus der Art, wie sie in die chaotische Verschiedenheit und Zusammengesetztheit der Erlebnisse [1,1] Ordnung bringt; ζ. B. indem sie diese zurückführt auf allgemeine Ausdrücke wie Gedanken und Gefühle. 2. GEDANKE UND GEFÜHL ALS PSYCHISCHE GRUNDERSCHEINUNGEN Wir müssen über einen allgemeinen Ausdrude verfügen, mit dem wir alle Bewußtseinszustände als Bewußtseinszustände benennen können, frei von ihrer besonderen Qualität oder kognitiven Funktion [1,185]. Das hat natürlich nur dann Sinn, wenn es der Mühe wert ist, sie in ihrer Allgemeinheit zu behandeln; wenn Ärger, eine Geschmacksempfindung wie „süß", eine Erinnerung, ein Entschluß und was es sonst noch an Bewußtseinszuständen oder Erlebnissen gibt, etwas wesentlich Gemeinsames haben, wodurch sie als Sonderform einer gemeinsamen Grundform aufgefaßt werden können. Nun denn, diese Grundform ist die des Erlebens. In einem Erlebnis ist jemandem, der „ich" sagen kann, etwas bewußt, das er von sich selbst unterscheiden kann. Wenn James nun nach einem derartigen allgemeinen Ausdrude sucht, äußert er seine Unzufriedenheit über eine Reihe von Benennungen, die angewandt werden. „Geisteszustand", „Bewußtseinszustand", „Bewußtseinsmodifikation" sind lästige Wörter und haben außerdem den Nachteil, daß es sie nicht in Verbalform gibt. In dieser Bemerkung ist ein Grundgedanke enthalten, dessen Bedeutsamkeit wir für die Psychologie James' schwerlich überschätzen können: das Erleben muß nicht nur als Zustand oder nach seinem Inhalt beschrieben werden können, sondern vor allem als eine 7 Wir können der Interpretation von Gurwitsch nicht zustimmen, daß die •psychologist's reality „comprises first of all the extramental facts which in the case of perception stimulates a certain section of the nervous system and provokes nerve- and brain-processes to which then corresponds the mental state to be studied"; A. Gurwitsch, On the object of thought; Phil, phenomenol. Res., 1946/47 (7), S. 348. Die psychologist's reality enthält vor allem die Tatsache, daß der Psychologe audi auf diese Weise über das Erlebnis denken kann, mit anderen Worten die Tatsadie, daß er den psychologischen Gegenstand nicht so einfachhin antrifft, sondern konstituiert.
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Was ist nach James Psychologie?
Tätigkeit oder doch zumindest als ein fortfließender Strom. So werden wir ihn später über den Bewußtseinsstrom sprechen hören. Wenn wir den Ausdruck „feeling", Fühlen, nehmen, ist dieser Einwand aufgehoben. Denn dazu gehört das Verbum „fühlen" und solche abgeleitete Formen wie „gefühlsmäßig", „gefühlt", „Gefühlshaftigkeit". Leider ist das Wort jedoch schon in Gebrauch für mehrere Arten des Erlebens, nämlich für Emotionen (Freudengefühl) und für Empfindungen (tasten). Dadurch hat es Implikationen, die nicht immer gemeint sind, wenn es als allgemeiner Ausdruck gebraucht wird [1,186]. Descartes, auf den die Problematik der Psychologie zu einem bedeutenden Teil zurückgeht, faßte die Bewußtseinserscheinungen als cogitationes zusammen; ihren Gegenstand nannte er idea. Also in: ich sehe einen Vogel, und: ich denke an meinen Vater, sind Sehen und Denken cogitationes, „Vogel" und „mein Vater" Ideen. John Locke übernahm den Ausdruck idea. Darunter verstand er: „alles das, was der Gegenstand des Verstandes ist, wenn ein Mensch denkt"8. Seitdem war die Aufmerksamkeit der Psychologie vornehmlich auf diese „ideas" gerichtet, auf die „Inhalte" des Bewußtseins, während der Aspekt der cogitatio, in dem neben der Bewußtheit im allgemeinen auch eine gewisse Tätigkeit impliziert war, in den Hintergrund rückte. Nach Humes Meinung gebrauchte Locke den Ausdruck zu allgemein; „idea" ist nach ihm nur das Erlebnis, das wir von einem abwesenden Gegenstand haben; ist der Gegenstand des Erlebens anwesend, sinnlich gegeben, dann spricht man von impression. Hartley hat später diesen letzten Ausdruck durch sensation, Empfindung, ersetzt und so blieb es. „Sensation" und „idea", in der deutschen Wahrnehmungspsychologie Empfindung und Vorstellung, bilden die wichtigsten Bewußtseinsinhalte einer Psychologie, deren Interesse insbesondere der Erkenntnisfunktion galt (Wahrnehmen, Vorstellen, Denken). In dreifacher Hinsicht sind die genannten Ausdrücke also historisch belastet. Das müssen wir im Auge behalten, wenn wir James' Wahl eines allgemeinen Ausdruckes verstehen wollen. 1. In der Entwicklung der Begriffe „sensation" und „idea" ist der Tätigkeitscharakter des Erlebens verlorengegangen, 2. die Bedeutung von „Bewußtseinsinhalten" fortwährend verstärkt worden, um schließlich eine „Selbstverständlichkeit" zu werden. Das gilt auch dort, wo ein Autor wie John Stuart Mill den allgemeinen Ausdruck „feeling" für die Bewußtseinserscheinungen wählt: „Fühlen und Bewußtseinszustand sind gleichwertige Avisdrücke in der Sprache der Philosophie: alles ist ein Fühlen, dessen sich der Geist bewußt ist; alles das, was er 8
J. Locke, An essay concerning human understanding, Bk. I, Ch. I, § 8.
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fühlt.. ."9, — die Inhalte also. 3. Schließlich sind die Begriffe „sensation" und „idea" stark durch das erkenntnistheoretische Interesse von Philosophie und Psychologie beeinflußt. So sahen wir, daß audi noch James die Kenntnisnahme für das Wesentiichste hält in der Beziehung zwischen Gedanken und Gefühlen einerseits, der raumzeitlichen Natur andererseits. Vielleicht auf Grund einer Tradition? Denn aus seiner Wahl und dem Gebrauch von „feeling" als allgemeinem Ausdrude wird doch deutlich, daß er von einer einseitigen Orientierung am Erkennen Abstand nimmt. James weist selbst darauf hin, daß bestimmte Wörter bestimmte Bedeutungen wachrufen und dadurch eine Quelle von Irrtümern bilden können [1,194 ff.]. Wählt er dennoch das Wort „Fühlen", dann mißt er hiermit den Affektionen eine größere Rolle bei, als es in der klassischen Psychologie üblich war. Trotzdem hält James an der Überzeugung fest, daß „thought", also Denken und Gedanke, den besten allgemeinen Ausdruck bilden würde, wenn darin nicht die Empfindung so schwer faßbar wäre. Man kann nun einmal schwerlich von einem „thought of a toothache" sprechen, wenn man das aktuelle Schmerzgefühl meint. So entschließt er sich also, beide Ausdrücke, „thought" und „feeling", Gedanke und Fühlen, für die Bewußtseinserscheinungen im allgemeinen zu gebrauchen. Beide also in weiterem Sinne genommen und je nachdem, wie es in den Kontext paßt [1,186]. Wenn wir nun im folgenden den mehr auf der Hand liegenden Ausdruck „Erlebnis" in zunehmenden Maße verwenden werden, trotz der terminologischen Wahl, die James in den Principles trifft, greifen wir vor auf ein späteres Werk von James, in dem der Begriff „experience" mehr in den Vordergrund rückt. 3. BEWUSSTSEINSELEMENTE UND ERLEBNISINTEGRALE Die Eigenschaften und Beschaffenheit, die wir der Wirklichkeit zuerkennen, hängen ab von der Perspektive, in die wir die Wirklichkeit rücken. Die Wirklichkeit ist stumm; sie sagt nichts über sich selbst. Wir sprechen über sie10. Wir sind ebenso schöpferisch in unserem Erkennen wie in unserem Handeln, meint James. Lotze habe recht, wenn er unsere Beschreibungen Ausbreitungen der Wirklichkeit nennt u . So wird dann auch durch die Benennung psychischer Grunderscheinungen und durch den Bedeutungszusammenhang, den diese Benennung mit sich bringt, die psychische Wirklichkeit nicht einfachhin beschrieben, son9
J. S. Mill, A system of logic, Vol. I., London, 1862®, S. 54. James zitiert Mills Auffassungen in Principles, I, 187 Anm. 10 W. James, Pragmatism, S. 246. 11 Pragmatism, S. 256.
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dem ausgebreitet und geformt. Wir werden James' Auffassungen später bei der Besprechung des Verhältnisses von Sprache und Welt ausführlich erklären. Nun wollen wir untersuchen, wie diese Auffassungen zum Ausdruck kommen in James' Ablehnung der Lehre von den Bewußtseinselementen. Die gesamte historische Assoziationslehre leidet an einem gewaltigen Irrtum: die Auffassung, daß unsere Erlebnisse entstehen aus sich selbst zusammenfügenden, unveränderlich und unaufhaltsam zurückkehrenden, einfachen Bewußtseinselementen (simple ideas) [1,553]. Unsere Erlebnisse sind aber gewiß keine Komplexe im Sinne der Assoziationspsychologie. Sie können nicht zerlegt werden in begrenzte, dinghafte, elementare Inhalte. „Ich habe unsere vorübergehenden Gedanken als Integrale behandelt", sagt James [I, S. VI—VII]; als Erlebnisintegrale12. Daß James nicht immer an diesem Standpunkt konsequent festhält, tut nichts zur Sache. Die Annahme, daß unsere Erlebnisse eine zusammengesetzte Struktur besitzen und aus einfachen Bewußtseinszuständen aufgebaut sind, nennt er eine der dunkelsten und unbegreiflichsten Annahmen, zu der die Psychologie je kam [I, 145], Dennoch beherrschte diese Auffassung auch noch zu James' Zeiten das psychologische Denken. So sagt ζ. B. Wundt noch: „Da alle psychischen Erfahrungsinhalte von zusammengesetzter Beschaffenheit sind, so sind psychische Elemente im Sinne absolut einfacher und unzerlegbarer Bestandteile des psychischen Geschehens die Erzeugnisse einer Analyse und Abstraktion, die nur dadurch möglich wird, daß die Elemente tatsächlich in wechselnder Weise verbunden sind"13. Nehmen wir an—ein sehr alltägliches Geschehen—, daß wir eine Streichholzschachtel sehen. Woraus ist dieser Wahrnehmungsinhalt zusammengesetzt? An erster Stelle aus einer Anzahl Farbempfindungen. Ich sehe ein schwarzes Seitenstück, ich sehe ein blaues Stück Papier mit rot und gelb darauf. Das bedeutet, daß es ebensoviele elementare Empfindungen gegeben haben muß, die auf eine bestimmte Art verbunden sind. Eine der Verbindungen, der sie sich unterwarfen, ist beispielsweise eine räumliche Verbindimg. Sie sind ja in eine bestimmte Ordnung gefügt. Eine zweite Verbindung, der sie sich unterwerfen, liegt in der Gleichzeitigkeit ihres Erscheinens. Dieselben elementaren Empfindungen können allerdings auch in völlig anderen Verbindungen auftreten, beim Sehen von anderen 1 2 Vgl. Principles, I, 177, 503 und A pluralistic universe, S. 279 f. Vgl. audi bei Perry, Thought, II, S. 102, ein Abschnitt aus James' Antwort auf eine Kritik von Marillier, der in Rev. philos. 1892 (34) und 1893 (35) den assoziationistischen Standpunkt verteidigte: „I cannot, however, [see] why you should object to my formulation, for even if our thoughts are compounds of 'ideas', they are at least superficially and practically all that I say they are, namely, integral pulses of consciousness with respect to the multitude of facts of which they may take cognizance in a single passing moment of time". 1 3 W. Wundt, Grundriß der Psydiologie (1896). Leipzig, 1922 15 , S. 34.
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Gegenständen. Wundt macht es sich nun u. a. in seiner Psychologie zur Aufgabe, nachzuforschen, welche elementaren Gegebenheiten, echte Bewußtseinselemente, man unterscheiden kann. In seinem großen Werk „Physiologische Psychologie"u widmete er den psychischen Elementen und ihren Eigenschaften 650 Seiten. Wundt unterscheidet zwei Arten von Elementen: die Elemente, die den objektiven Erfahrungsinhalt (dasjenige, was ich sehe, rieche, höre usw.) zusammenstellen, sind die Empfindungen (ζ. B. ein Ton, eine Wärme- oder Lichtempfindung); daneben gibt es noch die Elemente, die zu den subjektiven Aspekten des Erlebens beitragen: die einfachen Gefühle. Die Verbindung dieser Elemente zu „Vorstellungen" (ideas I) geschieht vermittels verschiedener Formen der Assoziation. Einer derartigen Auffassung, die sich das Psychische tatsächlich wie ein Mosaik vorstellt oder wie ein höchst komplizierte chemische Verbindung, in der sich buchstäblich Tausende und Abertausende Elemente jeden Augenblick zusammenfügen, um stets wechselnde Komplexe zu bilden, widersetzt sich James mit Gewalt. Wir können nichts Besseres tun, als einen längeren Abschnitt wiederzugeben: „Wir beginnen nun unsere Untersuchng des Psychismus von innen her. Die meisten Bücher beginnen mit den Empfindungen als den einfachsten psychischen Gegebenheiten und gehen dann synthetisch weiter, indem sie jede höhere Ebene aus der darunterliegenden konstruieren. Aber das bedeutet die Preisgabe der empirischen Untersuchungsmethode. Niemand hat je eine einfache Empfindung schlechthin gehabt. Bewußtsein ist seit unserer Geburt Bewußtsein einer übergroßen Vielfalt von Dingen und Relationen, und was wir einfache Empfindungen nennen, sind Resultanten differenzierender Aufmerksamkeit, oft zu einem sehr hohen Grad gesteigert. Es ist erstaunlich, was für ein Schaden in der Psychologie angerichtet wurde, indem man für den Anfang scheinbar unschuldige Voraussetzungen annahm, Voraussetzungen, die freilich einen Mangel zeigen. Die bösen Folgen kommen erst später zur Entwicklung und sind nicht wiedergutzumachen, da sie mit dem ganzen Werk verwoben sind. Die Ansicht, daß die Empfindungen als die einfachsten Gegebenheiten in der Psychologie auch zuerst behandelt werden müssen, ist eine dieser Voraussetzungen. Das einzige, was die Psychologie mit Recht von Anfang an postulieren darf, ist die Tatsache des Denkens (Erlebens) selbst" [1,224]. Wir müssen mit dem Gegebenen beginnen. Es ist unsere psychologische Pflicht, so genau wie nur möglich an der aktuellen Konstitution des Erlebens, das wir untersuchen, festzuhalten [1,276]. Was die Frage betrifft, um die es sich nun handelt, bedeutet das: von Erlebnisintegralen ausgehen. 14
W. Wundt, Grundzüge der physiologischen Psychologie (1874); 3 Bde., Leipzig, 1908/11«.
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Aber gibt uns James nun mehr als nur ein methodisches Argument? Er sagt: so dürfen wir nicht beginnen. Definitiv und unumwunden hat er jedoch die Lehre der Bewußtseinselemente in dem berühmten Kapitel über die „mind-stuff theory" verworfen [1,145 ff.]. Hier behandelt James u. a. Ficks Beweis der Summation realer, einfacher Bewußtseinselemente. Nach Fick sind das Kontaktgefühl (Berührungsgefühl) und das Wärmegefühl auf dieselben elementaren Einheiten zurückzuführen. Wir wissen durch Untersuchungen, vor allem im vorigen Jahrhundert, daß der Wärme- und der Tastsinn, die früher unter dem „Gefühl" zusammengefaßt wurden, in Wirklichkeit verschiedene Sinne sind. Man kann, wenn man einen Bereich der Haut absucht, mehrere Stellen finden, von denen die eine für einen Druck oder eine Berührung empfindlich ist und die andere für eine Temperatur. Fick war jedoch der Ansicht, daß letztlich doch nur eine einzige Art des Empfindens für beide Sensationen verantwortlich war: beide sind aus denselben Einheiten zusammengesetzt. Wärmegefühl würde auftreten, wenn die Intensitäten dieser Einheiten regelmäßig abgestuft sind und somit räumlich zwischen den Einheiten a und b nur eine andere Einheit liegt, deren Intensität ebenso zwischen der von α und b liegt. Eine Berührungsempfindung würde auftreten, wenn diese Bedingung nicht erfüllt ist. James führt hiergegen an, daß das hier eher „brain-facts" als „mind-facts" betrifft. Die verschiedenen Empfindungen sind nicht aus psychischen Einheiten zusammengesetzt, sondern jede von ihnen korreliert mit einem vollständigen Gehirnprozeß. Das wollen wir näher ins Auge fassen. Auf der Handfläche gibt es für die Berührimg empfindliche Punkte (Tastpunkte) mit einem jeweiligen Abstand von 0,1 mm. Es wird also eine völlig verschiedene Anzahl von Tastpunkten gereizt, wenn wir die Handfläche mit der Bleistiftspitze oder mit dem stumpfen Ende berühren. Daß ein Unterschied zwischen diesen Berührungen besteht, fühlen wir. Aber in beiden Fällen haben wir dennoch einen einzigen Eindruck. Geschieht das, weil viele „kleine Gefühle" zu einem „großen" Gefühl zusammengefügt werden? Nein, sagt James. Das Zentralnervensystem (ZNS) „übersetzt" die Reizzustände der je gesonderten Tastpunkte nicht Stück um Stück, sondern „übersetzt" alle zusammen in eine einzige Empfindimg. Wie sollte es auch anders sein? Wir nehmen Töne von 50 bis 20 000 Hertz wahr. Resultiert nun bei einem Ton von 20 000 Hertz aus jedem der 20 000 Impulse/Sek. ein gesondertes „Gefühlchen"? Und wie soll es mit der optischen Empfindung sein, wenn wir wissen, daß unsere Netzhaut Millionen kleine lichtempfindliche Organe hat? Eine Empfindung, ein Ton oder ein optischer Eindruck, korrespondiert ganz einfach und in seiner Ganzheit mit dem Gehirnprozeß, der aus den vielen Reizen resultiert. Wir können die Empfindung und die Wahrneh-
Die Psychologie als „Naturwissenschaft"
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mung bei der Vielheit der mehr oder weniger gesondert reagierenden Sinnesorgane nur verstehen, wenn wir annehmen, daß irgendwo eine Integration stattfindet. Aber das ist keine psychische Integration. Jegliche Integration findet unterhalb der Bewußtseinsschwelle statt [1,156], nämlich im ZNS. Ein Erlebnisintegral korrespondiert mit der gesamten Tätigkeit des ZNS, aber ist selbst nicht aus Stücken aufgebaut [1,177]. So sind die Probleme einfacher zu lösen als mit den Methoden der Elemententheorie [I, 175]. Die Lösung, die sie darbot, brachte Schwierigkeiten mit sich, die größer waren als die gelösten Probleme. Denn eines ist gewiß: Bewußtseinselemente können nie sich selbst summieren. Ihre Summe besteht ausschließlich für einen Zuschauer [I, 158]. Und gerade dieser Zuschauer ist es, die Seele, das Ich, das Bewußtsein, welcher in der Elementenpsychologie eine höchst zweifelhafte Stellung einnimmt. Nach dem Voraufgehenden halten wir drei Punkte in Gedanken fest. 1. James' Argumentation bindet ihn in seiner Psychologie an das Problem des Zusammenhanges von Bewußtsein und ZNS. 2. Gleichzeitig verteidigt er die Eigenheit und Unableitbarkeit der psychologischen Betrachtung. Erlebnisintegrale sind zwar an Prozesse im ZNS gekoppelt, aber niemals darauf zurückzuführen. 3. Eine etwas gründlichere Aufmerksamkeit müssen wir dem Problem des „Zuschauers" schenken. Alle „Kombinationen" von Elementen, die wir kennen, sind in Wirklichkeit Effekte, in einer anderen Entität, als sie selbst durch die sogenannten zu kombinierenden Einheiten bewirkt [1,158]. Auch Wasserstoff und Sauerstoff „kombinieren" sich selbst nicht zu Wasser: „Wasser" ist nichts anderes als die alten Atome H,H und Ο in einer neuen Position: H-O-H. Die „neuen Eigenschaften", die es im Hinblick auf Wasserstoff und Sauerstoff besitzt, sind nichts anderes als ihre kombinierten Effekte, die sie in dieser Position H-O-H auf ein äußeres Medium, wie ζ. B. auf ein Sinnesorgan, ausüben [1,159]. Diese Einsicht, zu der beispielsweise die Gestaltpsychologie mit ihrer an der Physik orientierten Einstellung niemals kam, impliziert ein methodologisches Primat des Bewußtseins und der Bewußtseinswissenschaften. Denn in letzter Instanz wirken sich alle Effekte und Effektkombinationen in veränderten Erlebnissen aus. Das Bewußtsein ist der ursprüngliche Zuschauer16. 4. DIE PSYCHOLOGIE ALS „NATURWISSENSCHAFT" Müssen wir James nicht für einen Bewußtseinspsychologen halten? Liegt das nicht auf der Hand, wenn er die Eigenheit einer psychologischen Be1 5 Deshalb zitiert James, I, 159, zustimmend die Aussage von Royce: „No summing up of parts can make an unity of a mass of discrete constituents, unless this unity exists for some other subject, not for the mass itself".
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trachtung, die vom Erleben ausgeht, so stark betont? Aber was kennzeichnet eigentlich eine Bewußtseinspsychologie? Um davon einen Eindruck zu gewinnen, werfen wir einen Blick in die „Inleiding tot de speciale Psychologie" von Heymans, der der erste niederländische Professor für Psychologie war und von 1890 bis 1927 in Groningen dozierte. Wir lesen dort, daß die psychologische Untersuchung sich auf „alles richtet, was wir unmittelbar in unserem Bewußtsein erleben (Gedanken, Erregungen, Begierden usw., natürlich auch die Empfindungen und Wahrnehmungen, die uns die unmittelbaren Gegebenheiten für unsere Erkenntnis der Außenwelt verschaffen)"16. Sie „sucht Gesetze, die sich aus dem Bewußtseinsleben eines jeden individuellen Menschen ans Licht bringen lassen"17. Eine derartige Definition ist von völlig bewußtseins-psychologischer Art. In diesem Sinne können wir James ganz gewiß nicht einen Bewußtseinspsychologen nennen. Wir haben gesehen, wie er die Psychologie unter den Naturwissenschaften klassifiziert. „Psychology is a natural science", d.h.: der Psychismus, den der Psychologe untersucht, gehört zu wohlunterschiedenen Individuen, die wirklich im physischen Raum in der Zeit bestehen. Dieser Psychismus ist für ihn ein Objekt in einer Welt von anderen Objekten [1,183] 18 . Und jeder Psychismus ist an einen Körper gebunden, durch den seine Äußerungen erscheinen [1,199]. Ja, dieser Körper ist von solcher Wichtigkeit, daß der Psychologe gezwungen ist, teils auch Neurophysiologe zu sein. Man kann sogar mit Sicherheit als allgemeines Gesetz aufrechterhalten, daß niemals eine psychische Veränderung auftritt, die nicht eine körperliche Veränderung in Begleitung oder im Gefolge hat [1,5]. Damit stellt James einen psydiophysischen Parallelismus auf, der mit einer Bewußtseinspsychologie nicht ganz unvereinbar ist. Auch bei Wundt finden wir ζ. B. diesen Standpunkt. Ein Gedanke ist ein Gedanke, gewiß, aber gleichzeitig findet im Gehirn ein bestimmter Prozeß statt. Die These lautet nun: immer, wenn ich einen Gedanken habe, ist im Gehirn ein Prozeß von einer bestimmten Art, und umgekehrt: immer, wenn ein solcher Prozeß im ZNS vorhanden ist, ist auch ein Gedanke da. Eine strenge Paralleltheorie sagt nun weiter nichts über die konkrete Relation zwischen den beiden Ebenen aus. Es befinden sich da einfach zwei Uhren, die beide im selben Augenblick aufgezogen werden und beide unabhängig voneinander oder in Relation (das bleibt unbestimmt), gleich laufen. Es ist einleuchtend, daß in einem solchen Fall eine Korrespondenz w
G. Heymans, Inleiding tot de speciale psychologie, dl. I., Haarlem, 19483,
S. 1. Die erste Auflage erschien 1929. 17
Heymans, Inleiding, S. 2.
Siehe auch W. James, A plea for psychology as a 'natural science'; Philos. Rev., 1892 (1). 18
Neurophysiologie und Behaviorismus
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von Augenblick zu Augenblick festgestellt werden kann. Aber James beschränkt sich nicht auf die Annahme einer Parallelität. Einmal spricht er die Hoffnung aus, daß der Leser sich nicht an der Tatsache stoßen möge, daß er das Psychische und das Physische miteinander vermische, und im gleichen Atemzug spricht er über Reflexe, Hemisphären und Erinnerungen, als ob das gleichwertige Dinge und Faktoren in einer Kausalkette wären. „Ich habe das absichtlich getan", sagt er, „das tägliche Leben tut es auch so" [24], Identifiziert er das Physische mit dem Psychischen? Nein, man darf aber wohl annehmen, daß Erlebniszustände durch Gehirnzustände bestimmt werden [1,14]. Der Kortex ist das Organ des Bewußtseins [1,66]. Alle Nervenzentren haben als oberste Funktion: „intelligent" zu handeln. Sie fühlen, ziehen das eine Ding dem anderen vor und haben „Absichten" [1,79]. Bei der Behandlung der Frage, ob Vorstellungen periphär oder zentral entstehen, sagt er: „Nie entsteht bei mir ein Gefühl in der Haut, wie intensiv ich es mir auch vorstelle, bis daß eine tatsächliche Veränderung in der Hautbeschaffenheit selbst aufgetreten ist" [II, 69]. Die Relation zwischen Erlebnis und Gehim gibt es, wenn sie auch von unvergleichlicher und besonders undurchsichtiger Art ist [1,216]. Man kann sie für gleich halten. Ζ. B. im Hinblick auf die Erkenntnisprozesse hält der Psychologe an einem eingewurzelten Dualismus fest. Das bloße Dasein eines Dinges außerhalb des Gehirns ist noch kein ausreichender Grund für dessen Erkennen; es muß das Gehirn noch auf die eine oder andere Art affizieren. Dann aber kommt Erkenntnis zustande durch eine neue Konstruktion, die ganz und gar im Psychismus stattfindet [1,218f.]. So wird uns James' theoretische Position nicht deutlich. Er selbst hat die relevanten Fragen an die Philosophie verwiesen, zum Teil wohl deshalb, weil er dafür keine Lösung wußte. Dadurch muß auch seine Stellungnahme zweideutig bleiben. Bewußtseinspsychologe ist er auf jeden Fall nicht. So viel ist uns deutlich geworden, daß seine Konzeption der Psychologie als „natural science" das vollständig ausschließt. Was sein Standpunkt hinsichtlich des psychologischen Problems auch ist: in seiner Psychologie beruft er sich öfter — wie wir noch wiederholt sehen werden — auf physiologische Prozesse zur Erklärung von Erlebniserscheinungen, als daß er Gesetze „aus dem Bewußtseinsleben ans Licht bringt". 5. NEUROPHYSIOLOGIE UND BEHAVIORISMUS James neigt eher zu einem Behaviorismus. Mehr als Neigen ist es allerdings nicht. Der Behaviorismus im eigentlichen Sinne kommt erst nach James zur Entwicklung. Es ist auch offensichtlich, daß er einer neueren Definition nicht entspricht, nach der ein Behaviorist folgendermaßen aussieht: „A scientist who investigates the behavior of animals objectively
Was ist nach James Psychologie?
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and who attemps to relate his observations together in a theoretical system that does not include concepts borrowed from introspection and mental philosophy."19 Betrachten wir einmal James' Interpretation der Wundt'schen Wahlversudie mit Hilfe der Reaktionszeitmethode [1,88 ff.]20. Diese Wahlversuche sind eine Erfindung des Niederländers F. C. Donders. Wenn man jemandem ein einfaches Reizwort mit dem Auftrag gibt, es so schnell wie nur möglich zu wiederholen, so ist für diese Reaktion eine bestimmte Zeit nötig. Nimmt man statt eines fünf einfache Reizwörter (ka, ke, ki, ko, ku), und muß die Versuchsperson wieder das vorgesagte Wort wiederholen, ohne zu wissen, welches der fünf es sein wird, dann wird die Reaktionszeit viel länger, nämlich statt 197 jetzt 285 Millisekunden (im Durchschnitt). Mit anderen Worten, eine kompliziertere Reaktion erfordert mehr Zeit, Wundt erblickte hierin eine Möglichkeit, die Zeitdauer höherer psychischer Prozesse zu messen. Denn der zweite Versuch unterscheidet sich vom ersten darin, daß die Versuchsperson jetzt nicht nur allein hinhorchen muß, ob etwas gesagt wird, sondern sie muß nun auch nach dem lauschen, was gesagt wird und darauf ihre Reaktion abstimmen. Sie muß also unterscheiden und wählen. Man kann nun folgende Voraussetzung machen, daß die Verlängerung der Reaktionszeit eine Folge der Zwischenschaltung eines Unterscheidungs- und Wahlprozesses zwischen Reiz und Reaktion ist. Wundt sagt nun: wir brauchen demnach nichts anderes zu tun, als von der komplizierten Reaktionszeit die einfache Reaktionszeit zu subtrahieren. Also: 285 —197 = 88 mm/sec. ist die Zeit, die für Unterscheidung und Wahl nötig ist. In der Analyse dieser Erscheinungen unterscheidet James fünf Phasen [1,88]. (1) In der ersten Phase sendet der gereizte Sinn ein Signal an das ZNS, das (2) in der zweiten Phase das ZNS erreicht. (3) Die dritte Phase besteht darin, daß das angelangte sensorische Signal im ZNS in ein motorisches Signal umgesetzt wird. (4) In der vierten Phase wird dieses motorische Signal zur Peripherie zurückgeleitet, zu Muskeln (und evtl. Drüsen), die die Reaktion ausführen. (5) In der fünften Phase findet dann schließlich die Reaktion statt. Wundt lehrt, daß die dritte Phase für unser Problem die wichtigste ist. Dann findet ja die Umbildung des sensiblen Reizes in einen motorischen 19
W. S. Verplandc, A glossary of some terms used in the objective science of behavior; Psychol. Rev. Suppl., 1957 (64), No. 6, Part 2, S. 6. 20 Vgl. Wundt, Grundzüge, 1. Aufl. (lBd.; Leipzig, 1874), S.728f.; 2. Aufl. 2 Bde.; Leipzig 1880), Bd. II, S.221f. In der 3. Aufl. (2 Bde.; Leipzig 1887), Bd. II, S. 266, nimmt er seine Erklärungen über die untenstehend beschriebenen „psychophysischen Prozesse" zurück und spricht von Gehimreflexen auf Grund der Übung. Vgl. noch die letzte 6. Aufl. (3 Bde.; Leipzig, 1908—1911), Bd. III, S. 446 fi.
Νeurophysiologie und Behaviorismus
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Auftrag statt. In der dritten Phase muß demnach eine Perzeption stattfinden. Das Signal muß nicht nur in das ZNS gelangen, es muß auch im Bewußtsein etwas bemerkt werden, das mit der Funktion des ZNS gekoppelt ist. Der Reiz muß zur Perzeption gelangen. Die dritte Phase ist also neben der sensorisch-motorischen Umwandlung audi durch eine psychophysisdie Transformation gekennzeichnet. Um die Versuchsperson in die Lage des Reagierens zu versetzen, muß außerdem der Reiz nicht nur bemerkt werden, sondern auch erkannt und identifiziert werden, d. h. es muß Apperzeption stattfinden. Auf Grund der Apperzeption kann dann eine spezifische Reaktion gewählt und der entsprechende Auftrag gegeben werden. Dieser Auftrag kommt im motorischen Signal zum Ausdruck. Durch Addition und Subtraktion verschiedenartiger Reaktionszeiten meint Wundt, die Zeitdauer dieser psychophysischen Prozesse zu messen. Nach James nun ist diese Aufeinanderfolge von Perzeption, Apperzeption und bewußtem Willen zum Reagieren keineswegs in unserem Bewußtsein gegeben. „Es ist ein Prozeß von zentraler Reizung und Entladung, mit dem zweifellos irgendein Fühlen gepaart geht, aber was für ein Fühlen, das können wir nicht sagen." „Das Fühlen in Phase 3 ist sicherlich keine deutliche Wahrnehmung. Es kann nichts anderes sein als eine Empfindung einer reflektorischen Entladung. Kurz gesagt: die Reaktion, deren Zeit gemessen wird, ist ein reiner und einfacher Reflex und kein psydiisdier Akt" [1,90]. Tatsächlich, der Athlet, der zum Beginn des Sdinellaufs an der Startlinie steht und sich „bereit" auf das Signal einstellt, um loszuschießen, sobald der Startschuß fällt, ist bereits in dem Augenblick fort, in dem er den Schuß hört. Es ist gar keine Rede davon, daß er den Schuß zunächst perzipieren muß, sodann apperzipieren und dann den Entschluß fassen muß zu laufen. Wenn ich ihn frage, was er erlebt, dann ist es vielmehr so, als wenn durch sein Bereitsein der Start „maschinell" verlaufe. Ein Reflex, sagt James; wenn dieser auch einen voraufgehenden psychischen Prozeß (Einstellung) als Bedingung hat. Nun denn, obwohl James es eine irreale Abstraktion nennt, gibt er dennoch zu, daß „es von einem radikalen physischen Gesichtspunkt aus leicht ist, die Kette der Geschehnisse in Zellen und Fasern als abgeschlossen in sich selbst zu denken, und daß man in diesem Falle keine Meldung von ,ideas' zu machen braucht" [1,24]. Dieser Geschlossenheit der physiologischen Kette werden wir später wieder begegnen als einem der Hauptargumente für die behavioristische Betrachtungsweise. James ist in den Principles durch seine schwankende Haltung bereits auf halbem Wege. Wiederholt und mit einer gewissen Vorliebe wird er neurophysiologische Schemata verwenden. In der Psychologie führt das, wird es konsequent angewandt, wenn nicht „zum Teufel", so doch zum Behaviorismus.
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Was ist nach James Psychologie? 6. BIOPSYCHOLOGIE
Ich werde mir die Freiheit nehmen, so viele Ausflüge in die Neurophysiologie zu machen, wie mir nützlich zu sein scheint, sagt James; und das gleiche gilt für den Bereich der Zoologie. Denn wir dürfen nicht vergessen, daß zwischen Tier und Mensch eine Kontinuität besteht. Sie sind durch die Evolution verbunden, und so gelten bestimmte Prinzipien in gleichem Maße für die Psychologie des Menschen und des Tieres. Wenige Formulierungen sind so nützlich für die Psychologie wie der — übrigens noch ziemlich undeutliche — Ausspruch Spencers, daß leibliches und psychisches Leben wesentlich übereinstimmen als Anpassung innerer, bzw. innerlicher, an äußere Verhaltensweisen21 [1,6]. Das Bewußtsein ist dem Menschen gegeben, damit es ihm helfe, sich in der Welt anzupassen22. Es ist abhängig vom Gehirn, das dem Verhalten dient23. Aus allen Gehirnprozessen muß letztlich irgendeine Form leiblicher Tätigkeit resultieren [11,372]. Das Gehirn entwickelt sich wie jedes andere Organ vom Vorfahren auf den Abkömmling [1,79], und die Evolutionstheorie leistet gute Arbeit, indem sie das Psychische auf reflektorische Tätigkeiten zurückführt24. Psychologie ist so gesehen eine Biopsychologie, eine Lehre der lebenden Wesen, insbesondere mit Bezug auf die Art, wie sie sich dem Milieu anpassen; ganz besonders mit Bezug auf die Art, mit der diese Anpassung vermittels des Bewußtseins geschieht. In den Vereinigten Staaten spricht man in diesem Zusammenhang von funktionaler Psychologie, die vielleicht am besten durch eine frühe Aussage Deweys charakterisiert wird: „Die Idee des Milieus ist unentbehrlich für die Idee des Organismus und mit dem Begreifen des Milieus wird es unmöglich, das psychische Leben als etwas Individuelles und Isoliertes zu betrachten, das sich in einem Vakuum entwickelt"2*. Angell definiert den Funktionalismus als die Psychologie der psychischen Tätigkeiten (mental operations), im Gegensatz zum Strukturalismus, als Psychologie der Bewußtseinselemente, oder auch als Lehre über den Nutzen (the utilities) des Bewußtseins, das zwischen dem Milieu und den Bedürfnissen des Organismus vermittelt28. Kein Wunder, daß James zu den Wegbereitern dieser Richtung gezählt wird. Deutlich sieht er jedoch, daß eine Psychologie, die im Erlebnis ihren Ausgangspunkt sucht und dem Bewußtsein eine gewisse Eigenständigkeit Der Text spricht von „adjustment of inner to outer relations". Talks to teachers, S. 25. 23 Talks to teachers. S. 26. 2 1 The sentiment of rationality (1879). In: The wiU to believe, S. 84. Auch in Principles, II, S. 313. 25 J, Dewey, The New Psychology; Andover Rev., 1884 (2). Zitiert bei Roback a. a. O., S. 213. 28 J. R. Angell, The province of functional psychology; Psychol. Rev., 1907 (14). 21 22
Die innere Zwiespältigkeit von James' Psychologie
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zuerkennt, hier in bestimmte Schwierigkeiten zu geraten droht. Ja, es scheint sich ein „Abgrund" aufzutun zwischen der Welt des Inneren und der Welt des Umgebenden, der harten und tastbaren physischen Wirklichkeit. „Wir müssen deshalb aufrichtig auf jede mögliche Art versuchen, das Erscheinen des Bewußtseins so zu verstehen, daß es sich nicht als ein Vorstoß von etwas Neuem ins Universum darbietet, das es vorher nicht gab" [1,148]. Das Postulat der Kontinuität hat sich freilich als zu fruchtbar erwiesen, um es ungenutzt zu lassen. 7. DIE INNERE ZWIESPÄLTIGKEIT VON JAMES' PSYCHOLOGIE In unserem ersten Kapitel kam schon zum Ausdruck, daß die Psychologie von James durch eine starke innere Zwiespältigkeit gekennzeichnet wird. Das wird in den folgenden Kapiteln noch mehr als einmal zum Vorschein kommen. Wir können uns jetzt kurz fassen und uns auf dasjenige beschränken, was von wesentlicher Bedeutung ist, um zu sehen, was James in seiner Psychologie im Auge hat, und was dort an verdeckter Thematik vorhanden ist, dabei das Ziel wie er es explizit aufstellt außer acht lassend. Fassen wir das Voraufgehende in einige Punkte zusammen. Das Bewußtsein gibt es. Die Psychologie ist die Lehre dieses Bewußtseins, die in Relation zu dem Psychologen steht, der diese Lehre entwirft und der nicht anders kann, als den Bedeutungscharakter des Bewußtseins anzuerkennen. Es nimmt Kenntnis von der Außenwelt, von den Dingen, und es hat also insofern selbst keinen Dingcharakter. Es ist vielmehr eine be-zeichnendeTätigkeit, ein Strom von einander durchdringenden „Teilen". Das gestattet die Interpretation des Bewußtseins als Prozeß. Aber diese Deutung wird unmöglich, wenn wir lesen: „Wenn wir die Tatsache des Erlebens postulieren, dann glaube ich, daß wir dessen effektive Wirkung ebensosehr postulieren müssen" [II, 571]. Soweit wir die Besonderheiten des Bewußtseins kennen, verweisen sie auf dessen Wirksamkeit [I, 138]. Es wird sogar von einer kausalen Wirksamkeit gesprochen [I, 142], Das Bewußtsein ist also kein Epiphänomen, sondern ein Faktor im Verhalten. Es ist allerdings dennoch an das ZNS gebunden, dessen Prozesse mit Erlebnissen korrespondieren, ja, die Erlebnisse determinieren. Und dieses ZNS ist ein den Gesetzmäßigkeiten der Evolution unterworfenes Organ, so daß die Bewußtseinslehre in einer Biopsychologie beheimatet ist. Trotzdem fordert die Unableitbarkeit von Erlebnisintegralen eine mit dieser Unableitbarkeit übereinstimmende, eigenständige und eigenartige Beschreibung und Analyse der Erlebniserscheinungen. Aber dann ist der Gedanke, daß Erlebnisintegrale mit Gehirnprozessen korrespondieren und durch sie determiniert werden, wohl eine sehr dunkle Annahme. Ladd sagte in einer Kritik der Principles offen, was er darüber 3 Linschoten
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Was ist nadi James Psychologie?
dachte: die Übereinstimmung, die James zwischen psychischen Prozessen und Gehirnprozessen annimmt, liegt nicht ohne weiteres auf der Hand. Es wird eine Ubereinstimmung angenommen, von der wir nichts wissen21. Es geht um das noch immer aktuelle und ungelöste Problem der Bedeutung28. „Meaning has no immediate physical correlate in the brain", folgerte McDougall kurz und bündig 29 . Eine dunkle Annahme wirft kein Licht auf ein undurchsichtiges Problem, und das veranlaßte uns, auch den „modernen" Begriff des psychophysischen Isomorphismus als Erklärungsprinzip untauglich zu nennen 30 . James funktionalistische Betrachtungen über das Bewußtsein bezwecken offensichtlich, die Einheit des Organismus zu verteidigen. Man beweise, daß das Bewußtsein eine biologische Funktion hat, und der psychophysische Dualismus ist entkräftet — wenn auch die Stellungnahme des Psychologen hinsichtlich der Erkennungsprozesse eine zutiefst dualistische bleiben muß [I, 218]. Kantor hat freilich völlig recht: „Schließt der Nachdruck, der auf organische Prozesse, auf das Gehirn, Muskeln, Eingeweide und auf das Milieu gelegt wird, das Psychische aus? Schau auf die Geschichte des psychologischen Denkens! Stützt das nicht die Auffassimg, daß die Betonung biologischer Faktoren gerade dazu beigetragen hat, den Dualismus zu verstärken?" 31 James hat nicht gewählt. Es ist auch klar, warum nicht.Wir werden hier mit dem Problem des Unterschiedes zwischen Deskription und genetischer Erklärung konfrontiert. Die Beschreibung des Erlebnisstromes ist eine Untersuchung des Erlebens „von innen her" [1,224]. Die genetische Erklärung stellt sich dagegen auf den Standpunkt: „Alles läßt sich zurückführen auf" das, was „von innen her" nicht evident ist und auch nicht evident zu machen ist: wie die Veränderungen in den Gehirnprozessen nie völlig diskontinuierlich sind, so müssen auch die aufeinanderfolgenden Erlebnisse allmählich ineinander übergehen [1,243]. Am deutlichsten noch kommt dieser Gegensatz zum Ausdruck, wenn James zwischen den beiden Arten, in der die Erlebnisse untersucht werden können, unterscheidet: „the way of analysis", und „the way of history". Die erste fragt: worin besteht ein Erlebnis? Was ist seine innere Art? Aus was für einem „mind-stuff" ist es zusammen27
G. T. Ladd, Psychology — a so—called „natural science"; Thilos. Rev., 1892 (1), S. 37. 28 Vgl. F. H. Allport, Theories of perception and the concept of structure. New York, 1955. Kapitel 19 handelt über „the unsolved problem of meaning". 29 W. McDougall, Body and mind; London, 19205, S. 311. 30 J. Linschoten, Strukturanalyse der binokularen Tiefenwahrnehmung. Groningen, 1956, S. 472 ff. 31 J. R. Kantor, Jamesian psychology etc., S. 149.
Die innere Zwiespältigkeit von James' Psychologie
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gesetzt? — Die zweite: was sind die Bedingungen, unter denen es auftritt, und was seine Relationen mit anderen Fakten [II, 283] ? Die zweite, die genetische Betrachtungsweise, könnte sich natürlich auf das Erschließen funktionaler Zusammenhänge beschränken, ohne nach ursächlichen zu fragen32. James beschränkt sich jedoch nicht auf eine solche wechselseitige Zuordnung von Gehirnprozessen und Erlebnissen, sondern versucht, die letzten aus den ersten abzuleiten, ohne freilich den deskriptiven Gesichtspunkt aufzugeben oder für zweitrangig zu halten. Wenn man zugibt, daß das Werk von James noch immer zu den lesbarsten psychologischen Werken gehört, dann findet das seinen Grund gerade in seiner Beschreibung psychologischer Erscheinungen und in seiner Idee, daß man in der Psychologie nur dann zu einem adäquaten Ganzen von zusammenhängenden Urteilen kommen kann, wenn man so ehrlich wie möglich versucht, wiederzugeben, wie die Dinge erlebt werden. Handelte es sich allerdings nur um letzteres, dann müßte man Romane schreiben. Es handelt sich auch darum, in diesem Beschriebenen Ordnungen zu finden, zu sehen, wie aus dem einen das andere hervorgeht; und das nicht nur im Sinne des psychologischen Verstehens („Verstehen . . . wie Seelisches aus Seelischem hervorgeht"®3), sondern es handelt sich auch darum, nachzuforschen, wie das Psychische seinem eigenen inneren Sinn nach verstanden werden muß. Denn das ist es, was die Deskription in der Psychologie letztlich will: Erleben und Verhalten ihrem Wesen nach zu beschreiben. Deskription und genetische Erklärung können einander ergänzen, anfüllen. Aber wie? Sie sind vereinbar, darüber sind sich die beschreibenden und die erklärenden Psychologen einig. Aber unter welchem Gesichtspunkt sind sie zu vereinigen? Unter dem Gesichtspunkt der Deskription oder unter dem Gesichtspunkt der Erklärung? Mit anderen Worten: wem geben wir die Priorität? Den Verhältnissen, wie sie tatsächlich sind, d. h.: wie wir sie in einer Erklärung konstruiert haben, oder der Realität, wie wir diese erleben? Die klassische Tendenz geht dahin, den sogenannten tatsächlichen Verhältnissen den Vorrang zu geben, d. h. den papierenen Konstruktionen der Theoretiker. Diese Tendenz übernahm James, jedenfalls theoretisch. James war davon überzeugt, daß das Deskriptive seinen Wert hat, aber der Erklärung untergeordnet ist. Gleichzeitig nimmt er jedoch in seiner Darlegung praktisch den gegensätzlichen Standpunkt ein. Die Fruchtbarkeit seiner Psychologie entspringt zu einem bedeutenden Teil diesem Konflikt; denn er gewährleistet die Offenheit, die ihn implizit bis in die Phänomenologie führt.
3·
32
Vgl. meine Stukturanalyse,
33
K. Jaspers, Allgemeine
S. 16 ff.
Psychopathologie;
Berlin, 1948 5 , S. 250.
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Was ist nadi James Psychologie?
8. DER IMPLIZITE PHÄNOMENOLOGISCHE GESICHTSPUNKT „Die Psychologie", sagt Gurwitsch in einer Darlegung, die von James stammen könnte, „ist eine positive Wissenschaft, die wie andere positive Wissenschaften einen bestimmten Wirklichkeitsbereich als Untersuchungsfeld wählt. Im Rahmen der Psychologie wird das Bewußtsein als ein Teil der Wirklichkeit verstanden, als ein Gebiet der Welt, inmitten anderer Gebiete und mit anderen Gebieten verbunden. In ihrer Erkundung und Erklärung des Bewußtseins bildet die Psychologie ein Verlängerungsstück der physischen und biologischen Wissenschaften, auf denen sie teilweise aufruht" 3 4 . James teilt diesen Standpunkt voll und ganz, auch wenn er zugibt, daß seine Psychologie kein geschlossenes System besitzt, sondern auf dem Versuch ruht, einen modus vivendi zu liefern, in dem sich die verschiedensten Schulen auf der gemeinsamen Grundlage der Tatsachen finden können 35 . Aber was sind die „Tatsachen"? Tatsache ist etwas, was man antrifft und für einen realen Wahrnehmungsgegenstand hält. Eine Tatsache ist eine Komponente der Wirklichkeit. James kann sich hiermit einverstanden erklären und die Darlegung dennoch relativieren. Denn die Wirklichkeit, in der wir „Tatsachen" primär und ursprünglich antreffen, ist eine Erlebniswirklichkeit. Ordnung von Tatsachen und ein Weiterbauen darauf enthält bereits eine Kenntnis der Erlebniswirklichkeit. Die Psychologie, so muß man sagen, setzt in gewissem Sinne sich selbst voraus. Um zu verhüten, daß man nun zunächst alle hier verborgenen Probleme lösen müßte, bedient sich der Psychologe eines Vorurteils. Er weist diese Probleme der Philosophie zu. Damit sind sie nicht gelöst. Und es wird sich zeigen, daß der Psychologe auch nicht davon befreit ist. Ganz gewiß nicht, wenn er, wie James, davon ausgeht, daß seine Wissenschaft großenteils auf dem Erleben basieren muß. Tut er das nicht, dann bleibt es trotzdem wahr, daß Erfahrungstatsachen erfahrene Tatsachen sind. Und damit scheint die Frage nach dem Erleben von der größten Wichtigkeit zu sein. Bei allen praktischen Gründen, die die Psychologie dazu zwingen, bestimmte allgemeine Fragen außer Betracht zu lassen, wird sie darauf doch 34
A. Gurwitsch, Theorie du champ de la conscience. Brüssel, 1957, S. 131. Vgl. E. Husserl, Ideen zu einer Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Band I (1913), Den Haag, 1952, S. 4 f. Abschnitte aus Ideen I werden nach der Paginierung der ursprünglichen Ausgabe zitiert, die in der Ausgabe von 1952 am Rande angegeben ist. Siehe femer Ideen, Bd. III. Den Haag, 1952, S. 40. 35 So schrieb er ins englische Original über sein Vorwort zur italienischen Ausgabe seines Werkes Principii di psicologia. Milano, 1901: „In sum, then, my effort has been to offer in a 'natural science' of the mind a modus vivendi in which the most various schools may meet harmoniously on the common basis of fact". Zitiert bei Perry, Thought, II, S. 54.
Der implizite phänomenologische Gesichtspunkt
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wohl zumindest implizit eine Antwort bereit haben müssen. Was James betrifft, so zeigt diese Anwort eine so große Verwandtschaft mit der Phänomenologie, daß man ohne Bedenken von einem impliziten phänomenologischen Gesichtspunkt sprechen kann. Hieraus muß dann folgen, daß das seine Psychologie implizit zu einer phänomenologischen Psychologie stempelt, indem es die Bedeutung von James' psychologischen Darstellungen im engeren Sinne mitbestimmt. Es hat keinen Sinn, darauf zu bestehen. Die folgenden Kapitel werden es beweisen müssen, und wir werden versuchen, im letzten Kapitel zu einer Schlußfolgerung zu kommen.
I I I . D E R STROM D E S UND DIE THEORIE DER
ERLEBENS EMPFINDUNG
1. DER STRÖMENDE CHARAKTER DES ERLEBENS Die erste Gegebenheit für den Psychologen ist die, daß das Erleben fortschreitet, „thinking of some sort goes on" [I, 224]. Richtiger ist es, zu sagen, daß es weiterfließt; das Erleben hat den Charakter eines Stromes. In dieser Form erfährt es sich selbst, nicht als etwas, das in Stücke zerlegt wurde. Wörter wie „chain" oder „train" sind eine falsche Bezeichnung, „Fluß" und „Strom" geeignetere Metaphern [I, 239]. Es handelt sich hier um den Grundbegriff der Psychologie James', nämlich um den der Kontinuität und Integrität des Bewußtseinsstromes. Wenn James diesen Begriff einführt, so ist das bestimmt keine Mode. Zu jener Zeit herrscht die Assoziationstheorie, die das Bewußtsein als eine Aufeinanderfolge loser Inhalte ohne innere Einheit sieht. Die Diskontinuität der aufeinanderfolgenden Bewußtseinsinhalte wurde auch stark durch die Ausdrücke suggeriert, die gebräuchlich waren. Schon Hobbes sprach von „trains of thought", Locke von einem „habitual train", und diese Andeutungen blieben in Gebrauch1. Nun ist eine Kette oder ein „Zug" (!) immer eine Serie aufeinanderfolgender Einheiten, die zwar gekoppelt sind, aber ihre Selbständigkeit bewahren und auch wieder aus dem Zusammenhang herausgelöst werden können. So sehen wir, daß Hume, wenn er vom „course of our thinking" spricht, doch an die Aufeinanderfolge selbständiger ideas denkt2; und Bain, der den von James übernommenen Ausdruck „stream of thought" verwendet, sagt unmißverständlich: „The stream of thought is not a continuous current, but a series of distinct ideas"3. Bei James wird das also anders. Für ihn ist die Kontinuität, das Strömende im Bewußtsein ein viel wichtigeres Kennzeichen. Zum erstenmal schreibt er 18844 darüber, sechs Jahre vor dem Erscheinen der Principles, worin er diesen Artikel verarbeitete. Das ist fünf Jahre vor dem Erscheinen des „Essai sur les donnees immediates de la conscience" von Henri Bergson. Manches Kapitel der Principles zeigt eine große Übereinstimmung mit Gedanken von Bergson. 1
Vgl. Hobbes, Leviathan, Ch. III; Locke, Essay, Bk. II, Ch. 33, § 6. D. Hume, A treatise cm human nature. London, 1909. Bd. I, S. 319 ff. 3 A. Bain, The emotions and the will. London, 1859, S. 29. 4 W. James, On some omissions of introspective psychology; Mind, 1884 (9). Perry spricht von „James's most important insight" und datiert dessen erste Entwicklung auf das Jahr 1882; Perry, Thought, II, S. 77. 2
Der strömende Charakter des Erlebens
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Zentrale Gedanken und sogar hervorstediende Details der Darlegungen James' finden wir in einem anderen Zusammenhang bei Bergson wieder. James hat jedoch erst später von Bergsons Werk Kenntnis genommen, und zwar voller Zufriedenheit. „Durch die Lektüre seines Werkes wurde ich kühn", wird er sagen6. Bergson berichtet seinerseits, daß er nur James' Artikel „The feeling of effort" kannte®, als er sein „Essai" schrieb. Bei der Besprechung der Beziehung zwischen Sprache und Wirklichkeit werden uns einige Ubereinstimmungen klar werden. Einen zum Greifen naheliegenden Einfluß auf die Entwicklung des Begriffs „Erlebnisstrom" bei James finden wir woanders, nämlich bei Brentano. James bezeichnete dessen Kapitel über die Einheit des Bewußtseins als sehr gut [I, 240 Anm.]. Dort finden wir die Einheit des Ich durch seine Geschichte hindurch, verglichen mit der Einheit eines Stromes, in dem die eine Welle auf die andere folgt7. Die Art und Weise, wie James selbst später die Einheit des Ich in der zeitlichen Abfolge darlegt, zeigt eine so große Ubereinstimmung mit der Entwicklung bei Brentano, daß man hier wohl eine direkte Beeinflussung annehmen muß. Von daher ist es auch verständlich, warum sich Husserl von James' Psychologie angezogen fühlte: auch seine eigenen Auffassungen über den Bewußtseinsstrom waren durch die von Brentano inspiriert8. So sind wir schon gleich bei einer Quelle der Ubereinstimmung zwischen James' Psychologie und der Phänomenologie. Ist es deshalb nicht wahr, was Terry sagt, daß „James's doctrine of the stream of thought was essentially his own"9? Die Hinweise sind zu deutlich, A pluralistic universe, S. 214. Bergson in einem Brief vom 6. 1. 1903 an James. In Scrits et paroles, S. 192. Vgl. W. James, The feeling of effort, Anniv. Mem. Boston Soc. nat. Hist. 1880. Teile auch in Scribners Mag. 1880. Der Artikel wurde in dem Kapitel verarbeitet: „Will", Principles, II, 486 ff. Bergson nahm von der französischen Übersetzung Kenntnis: L e sentiment de l'effort; Critique philos. 1880 (2). Vgl. H. Bergson. Essai sur les donnies immidiates de la conscience (1889). Paris, 1946 53 , S. 16 ff. Perry hat in Thought, II, S. 599 ff. die Zeugnisse beider Denker zusammengesetzt, aus denen hervorgeht, daß sie ihre Grundauffassungen unabhängig voneinander entwickelt haben. 7 F. Brentano, Psychologie vom empirischen Standpunkte. Leipzig, 1874, S. 221. Vgl. dann auch: A. Horwicz, Psychologische Analysen auf physiologischer Grundlage. Bd. II/2, Magdeburg, 1878, S. 2. 8 Vgl. E. Husserl, Ideen, I, vor allem S. 61, 69, 85, 163 ff., 168, 245 ff. nach der auf dem Band angegebenen Paginierung der ersten Auflage. 9 Perry, Thought, II, S. 78. Perry bespricht weder die Auffassungen von Brentano und Horwicz noch die von Husserl im Zusammenhang mit James' Theorien. Es ist unbegreiflich angesichts der großen Übereinstimmung und der Zitate von James. Es ist um so unverständlicher, weil nach Perry James' Erlebnislehre (experientialism) und sein radikaler Empirismus philosophische Anwendungen seiner Lehre über den Erlebnisstrom sind. Perry, Thought, II, S. 77 Anm. 5
6
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Der Strom des Erlebens und die Theorie der Empfindung
als daß man eine Beeinflussung leugnen kann. Zwar darf man annehmen, daß James sie sich so zu eigen gemacht hat, daß er sie nicht mehr als Einflüsse erkannte. E r zeigt sich ja immer bereit, mit Namen und Vornamen die Quellen anzugeben, aus denen er Anregungen schöpfte. Aber folgen wir nun zunächst James' Analyse des „stream of thought" oder, wie er es auch nennt, des „stream of consciousness" 10 . Bewußtseinszustände befinden sich in einer stetigen Aufeinanderfolge. Es gibt keine Unterbrechung. Wir können nun mal nicht sagen: „it thinks", wie wir sagen: „Es regnet"; wenn das möglich wäre, so wäre das die einfachste Art, festzustellen, daß das Erleben fortschreitet. Wie schreitet es fort? Fünf Kennzeichen springen unmittelbar ins Auge: 1) jedes Erlebnis neigt dazu, Teil eines persönlichen Bewußtseins zu werden; 2) in diesem Bewußtsein verändert sich das Erleben fortwährend; 3) jedes persönliche Bewußtsein erfährt sich selbst als ununterbrochenen Strom; 4) das Bewußtsein scheint immer auf Objekte bezogen zu sein, die unabhängig von diesem Bewußtsein bestehen; 5) das Bewußtsein wählt. 2. D E R PERSÖNLICHE CHARAKTER DES E R L E B E N S Jedes Erlebnis tendiert danach, integrierender Bestandteil eines persönlichen Bewußtseins zu sein. James sagt: in diesem Hörsaal befinden sich viele Bewußtseinszustände, viele „thoughts". Sie sind nicht alle unabhängig von allen anderen, aber sie gehören auch nicht alle zusammen. Ich kann unterscheiden zwischen meinem Erlebnis und dem von Hans, Peter, Karl usw. Die auf diese Art klassifizierten Bewußtseinszustände gehören untereinander wohl zusammen. Sie durchdringen einander, sie bilden eine Kontinuität. Jeder Psychismus hat seine eigenen Bewußtseinszustände, die nicht direkt in den Blidc eines anderen gelangen. Ich kann nicht sehen, was in einem anderen vor sich geht. Eine elementare psychologische Gegebenheit ist dann auch „mein" Bewußtsein, die Tatsache, daß jeder Bewußtseinszustand einen Eigentümer oder besser: einen Ich-Pol hat. Vielleicht gibt es freistehende Erlebnisse, die keinem gehören; aber es hat keinen Sinn, darüber zu reden, weil uns jegliche Erfahrung über ein derartig unpersön1 0 W. James, Psychologie. Leipzig, 1909, S. 150 fi. Dieses Werk mit dem amerikanischen Originaltitel: Psychology, Briefer course, ist eine gekürzte Ausgabe der Principles. Es kam vor allem, wie das Vorwort sagt, unter der Mithilfe von Schere und Leimtopf zustande. Eigenartigerweise fiel der Schere auch eines der fünf in den Principles genannten Merkmale des Erlebnisstromes zum Opfer. Vgl. über Erlebnisstrom auch: Talks to teachers, S. 15 ff.
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Das Erleben verändert sich unaufhörlich liches E r l e b n i s fehlt. In der Erfahrung
sind die Erlebnisse
persongebunden.
Erlebnisse werden durdi ein Selbst zu einer Einheit verbunden. Sie gehören zu irgendeiner Person, sie stellen einen Teil von jemandem dar. Wenn man das nicht als eine Erfahrungsgegebenheit hinnehmen will, dann ist keine Psychologie möglich. In diesem ersten Abschnitt des Kapitels werden wir deutlich an die Traditionen der Bewußtseinspsychologie und an den großen Ahnvater Descartes erinnert, für den das „cogito sum", die ursprüngliche Selbsterfahrung des eigenen Daseins, den Ausgangspunkt bildet, hinter den das Denken nicht weiter zurückgehen kann. So sagt auch James: die Persongebundenheit der Erlebnisse ist eine grundlegende und ursprüngliche psychologische Gegebenheit [I, 225f.]. Man muß also so fragen: was ist denn dieses Ich oder dieses Selbst, durch das Erlebnisse persongebunden sind? Die Bedeutung ist uns auf jeden Fall bekannt — solange niemand um eine Definition bittet. Weil es sich vorläufig nur darum handelt, festzustellen, daß Erlebnisse persongebunden sind, kann die Frage nach dem Wie und Wodurch aufgeschoben werden. Diese Frage stellt James in einem folgenden Kapitel "The Consciousness of Self", worauf wir im IX. Kapitel eingehen. A b e r w a s b e d e u t e t es, w e n n James
sagt, daß das Erlebnis die
Tendenz
hat, zu einem integrierten persönlichen Ganzen zu gehören? Das hängt mit den Erscheinungen der multiplen Persönlichkeit zusammen, einer Erscheinung, d i e g e r a d e z u James'
Zeiten ausführlich v o n Janet
untersucht
wurde. Es scheint, sagt James in einem Kommentar über diese Untersuchungen, daß sich von unserem eigentlichen Selbst ein sekundäres abspalten und mehr oder weniger selbständig bestehen kann. Aber auch dann gilt, daß die abgespaltenen Erlebnisse nach Persongebundenheit tendieren. Die Abspaltung führt zu einer doppelten Organisation. Das sekundäre Selbst hat dann ein eigenes Gedächtnis, eigene Gewohnheiten, ein eigenes Identitätsgefühl. Wie auch immer die multiple Persönlichkeit erklärt werden muß, die Erscheinungen tasten nicht das Grundmerkmal der Persongebundenheit an. 3. DAS ERLEBEN VERÄNDERT SICH UNAUFHÖRLICH Daß sich das Erleben unaufhörlich verändert, heißt nicht, daß kein einziges Erlebnis ohne Dauer ist. Fortwährende Veränderung besagt hier, daß kein einziges Erlebnis je so wiederkehrt, wie es früher war. Aber auch die Hypothese, daß identische Erlebniselemente aus der Vergangenheit in neue Erlebnisse wieder eingehen, ist eine unsinnige Hypothese. Hier bezieht James aufs neue Stellung gegen den englischen Empirismus.
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Der Strom des Erlebens und die Theorie der Empfindung
In der Assoziationspsydiologie dachte man, daß sich die dauernd wechselnden Erlebnisse aus denselben Elementen zusammensetzen, die Lockes Nachfolger schließlich mit den Empfindungen identifizierten. Aber es gibt keinen einzigen Beweis, sagt James, daß jemals dieselbe Empfindung zweimal auftritt; was wir zweimal oder öfter erfahren, das ist dasselbe Objekt, dasselbe Ding. Ich höre ζ. B. den gleichen Ton, ich sehe die gleiche Qualität grün, ich habe die gleiche Art Schmerzen wie gestern, ich erkenne die Schmerzen wieder als Zahnschmerzen, aber es ist nicht identisch dieselbe Empfindung wie die gestrige. Die Realitäten, sowohl konkrete wie abstrakte, physische wie geistige, von denen wir glauben, daß sie ein beständiges und dauerhaftes Dasein haben, sie sind es, die unentwegt in unser Bewußtsein zurückkehren [I, 231]. Diese Beständigkeit der Objekte verführt uns zu der Voraussetzung, daß unsere Erlebnisse dieser Objekte auch beständig dieselben bleiben11. Sie sind jedoch allzeit verschieden. Die gesamte Geschichte der Empfindung ist nur ein Kommentar zu unserer Unfähigkeit, über zwei Empfindungen zu entscheiden, ob sie gleich oder ungleich sind. Aber dann hören wir auch nicht den absoluten Ton, haben wir keine absolute Farbempfindung: wir nehmen Verhältnisse wahr. Ich nehme einen Ton im Verhältnis zu anderen Tönen wahr. Ich nehme eine Farbe im Verhältnis zu ihrem Kontext wahr. Das augenbliddich Gegebene spricht mich stets an in seiner Beziehung zu allem anderen, das jetzt gegeben ist. Dieser Gedankengang von James führt unmittelbar zur Konstanztheorie, die wir erst viel später in der Gestaltpsychologie zur Entwiddung kommen sehen12. Es gibt einen fortwährend sich verändernden Totalstatus meines Bewußtseins, aber durch ihn hindurch bemerke ich fortwährend gleiche Dinge. Wenn ich morgens mit schlechter Laune aufwache, weil der Wecker mich ruft, dann nehme ich den Wecker in einer mir unwillkommenen Situation wahr. Er ist mein Quälgeist. Dennoch sieht er nicht anders aus als zu jenem Zeitpunkt, als ich ihn aufzog und davon ausging, daß er ein mir wohlgesinntes und zuverlässiges Ding wäre. Die Wahrnehmung eines Dinges ändert sich fortwährend: mit meiner Laune, mit dem Zustand der Müdigkeit oder der Frische, mit dem Alter, mit allen Erfahrungen, die sich von Augenblick zu Augenblick meiner Geschichte beifügen. Aber all diese Veränderlichkeit schließt nicht aus, daß ich durch sie hindurch identische Objekte anstrebe. 1 1 Vgl. in Pluralistic universe, S. 395 ff. die ergänzenden Betrachtungen über „the notion of reality as changing". 1 2 Vgl. Β. J. Kouwer und J. Linschoten, Inleiding tot de psychologie, Assen, 1958 4 , S. 57 ff. für einen zusammenfassenden Überblick. Gründlich und unübertroffen: W . Metzger, Psychologie, Darmstadt, 1954 2 .
Das Erleben verändert sich unaufhörlich
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Damit stellt James die Frage nadi der Identität der Dinge, mit denen wir umgehen, eine Frage, auf die wir noch näher eingehen müssen. Die fortwährende Veränderung des Erlebens wird verständlich, wenn wir auf dasjenige schauen, was im ZNS geschieht. Die Theorie, die da sagt, daß identische Empfindungen zurückkehren können, macht die Voraussetzung, daß auch das ZNS sich selbst unentwegt gleich bleibt [I, 234], Aber das ist unmöglich. Das Gehirn wird durch jeden ankommenden Reiz beeinflußt und folglich verändert. Es modifiziert fortwährend seine Mikrostruktur. Es verändert sich nicht nur die Organisation, sondern auch der Stoff selbst, aus dem sich das Gehirn zusammensetzt; es muß sich durch den Stoffwechsel fortwährend verändern. Wenn die Assoziationstheorie damit übereinstimmt, daß jede Veränderung im Gehirn eine Veränderung im Erleben ergibt, so sagt sie sich damit schon selbst, daß die sogenannten elementaren Bewußtseinserscheinungen keine Konstanz besitzen können. Denn eine elementare und spezifische Empfindung, die ich jetzt habe, kann in dieser Konkretheit nie mehr wiederkehren. Beim nächsten Mal entsteht sie in einem veränderten Gehirn und wird infolgedessen auch selbst anders sein. Was für einen Sinn hat also eine Lehre der Bewußtseinselemente? Nie ist unser Geisteszustand derselbe, der er früher war. Dasselbe Ding erscheint, gewiß. Von Tag zu Tag nehme ich denselben Bleistift wahr, dieselben Fahrzeuge, dieselben Menschen um mich herum. Aber dasjenige, in dem diese Dinge mir gegeben sind, das Erlebnis, das „thought", das ist jedesmal anders, obgleich es sich auf dieselben Dinge bezieht. Das Erleben betrifft jedesmal das Ding in einem bestimmten Kontext, ein Ding in dieser oder jener Relation. Denselben Bleistift nehme ich nun im Hörsaal und heute nachmittag hinter meinem Schreibtisch in einem völlig anderen Kontext wahr, mit einem völlig anderen Zustand des Gehirns. Und doch sehe ich dasselbe: die Identität des Dinges ist eine primäre Gegebenheit. Falls das nicht so wäre, würden wir uns in dem verirren, was James an anderer Stelle "one unanalyzed bloom of confusion" [I, 496] nennt, ein Kaleidoskop von Eindrücken und Gefühlen, die dauernd variieren. Nein, das Erlebnis im allgemeinen, die Wahrnehmung, bezieht sich auf Dinge, die sich selbst gleich bleiben, obgleich sich die Erscheinungen, durch die wir sie wahrnehmen, verändern. Nicht nur die Theorie des Selbst, sondern auch die Theorie des Dinges wird also von James vorausgesetzt. Das Ding ist das Konstante in der Geschichte der Erlebnisse. Die Erfahrung formt uns von Augenblick zu Augenblick um. Unsere geistige Reaktion auf ein willkürlich gegebenes Ding ist in Wirklichkeit eine Resultante unserer Erfahrung der ganzen Welt, von der Geburt an bis zu dem Augenblick, in dem ich dieses Ding wahrnehme [I, 234], Und die Erfahrung der Welt ist Erfahrung der Dinge.
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Der Strom des Erlebens und die Theorie der Empfindung
4. ERLEBEN UND LEBENSGESCHICHTE Aber das Ding ist keine unveränderlich stabile Einheit. Die Erfahrung konfrontiert uns von Anfang an mit konkretisierten Dingen, die in lockerer Form mit der übrigen Welt, die sie in Zeit und Raum umschließt, verbunden sind; Dinge, die potentiell in Teile und Elemente teilbar sind, in die wir sie auflösen und aus denen wir sie wieder aufbauen [I, 487]. Offensichtlich meint dann James mit „den Dingen" doch keine selbständigen, unabhängig von uns bestehenden Entitäten, die wir durch die sich verändernden Erlebnisse hindurch entdecken. Eher ist das Ding ein Korrelat der Erlebnisgeschichte selbst. Denn die Erfahrung (der Dinge) verändert uns und damit verändert sich die Erfahrung der Dinge. Wer „über Erfahrung verfügt", hat eine Geschichte hinter sich, die ihn lehrte, anders zu sehen, zu denken und zu erleben. Der Durchschnittsmensch sieht Gras, der Spezialist sieht Gräser. Es ist wohl schon jedem einmal im Vorübergehen aufgefallen, daß man grobes und feines Gras unterscheiden kann. Aber erst dann, wenn man daran geht, seinen Garten umzugraben und Gras zu säen, entdeckt man, daß es Grasarten gibt, die keineswegs wie „Gras" aussehen. „Gras" differenziert sich in „Gräser". Gab es diese Mehrzahl denn früher nicht? Nein, jedenfalls nicht in meiner Erfahrung. Und daß sie nicht „innerlich" verbleibt, sondern sich an den Dingen vollzieht, geht daraus hervor, daß sichtbar wird, was unsichtbar war. Sobald wir durch den konkreten Umgang mit einer bestimmten Klasse von Dingen Erfahrung sammeln, differenziert sich unser Blick, differenziert sich unser Unterscheidungsvermögen für verschiedene Arten innerhalb dieser Klasse. Das ist es, was James meint, wenn er sagt: Die Erfahrung verändert uns jeden Augenblick. Unsere Wahrnehmung ist in jedem Augenblick eine Resultante unserer ganzen Lebensgeschichte. Und das beschränkt sich nicht auf die Faktizität der Dinge. Sie verändern auch ihren Sinn. Ja, man darf sagen, daß die sich verändernde Faktizität innerhalb des sich verändernden Sinnes entsteht. Ein Kunstmaler, mit dem ich durch die Straßen gehe, sieht die Häuser und die charakteristischen Winkel der Stadt ganz anders als ich. Dieser Unterschied des Sehens bestimmt einen Unterschied der Faktizität. Wenn er ζ. B. sagt: „Schau doch mall Das Bild dieses malerischen Häuschens müßte man festhalten können", und ich: „Es ist wirklich an der Zeit, daß man diese Hütte einmal niederreißt und dort ein anderes Gebäude aufrichtet" —, sehen wir verschiedene Tatsachen, weil dieselben „Gegebenheiten" im Licht eines anderen Sinnes erscheinen1*.
1 3 Vgl. J. H. van den Berg, Het Gesprek. In: J. H. van den Berg und J. Linschoten, Persoon en wereld, Utrecht, 1953, S. 14S.
Das permanente Ding: Pikbube
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So setzt James eine Theorie der Lebensgeschichte voraus. Er gibt sie nicht. Vielmehr versucht er, eine Erklärung in Eigenschaften der Nervenprozesse zu finden. Jeder Gehirnzustand wird teilweise durch frühere Stoffwechselprozesse bestimmt, die ihrerseits durch die Gehirntätigkeiten beeinflußt werden. Verändere ich die Vergangenheit, so muß auch der heutige Gehimzustand anders sein. Aber dann liegen alle früheren in diesem heutigen eingeschlossen. Jeder aktuelle Status des Gehirns ist ein Bericht, in dem das Auge der Allwissenheit die gesamte voraufgehende Geschichte dieses Gehirnbesitzers lesen könnte [1,234], Wenn man nun gewillt ist, anzunehmen, daß der Allwissende aus jedem aktuellen Zustand meines Gehirns meine ganze Lebensgeschichte ablesen kann, dann hilft seine Kenntnis mir freilich noch nicht, während übrigens der Gedanke, daß eine Geschichte aus dem heutigen Stand eines Prozesses wieder herauszulesen wäre, nicht besonders einsichtig ist. Natürlich ist es richtig, daß jeder ankommende Reiz, jede zentrale Tätigkeit, den Gehirnzustand verändert, aber daß da etwas verändert ist, wird nicht aufgeschrieben. Das Gehirn ist kein Kataster, in dem man Chroniken darüber führt, wie es früher war. Wer die Geschichte eines Menschen, einer Stadt oder eines Staates aufspüren will, der ist immer auf Berichte angewiesen. Soll man annehmen, daß das Gehirn seine eigene Anamnese fortwährend festhält? Nehmen wir das einmal an und behaupten, daß im Gehirn ein Sekretär wohnt, der Protokoll führt. Das bedeutete dann, daß alle früheren Eindrücke in ihrer ursprünglichen Form erhalten blieben. Gerade diese These ist es, gegen die wir James Stellung beziehen sahen. Auch physisch durchdacht stimmt es nicht, daß die Vergangenheit aus dem heutigen Zustand ablesbar ist. Wir haben eine mit wenig Wasser gefüllte Kanne; die Kanne hat dann wenig Erfahrung. Nun gießt jemand etwas Wasser hinzu. Verrät mir nun noch der neue Zustand der Kanne etwas vom vorherigen? Nein, es sei denn, daß jemand beim ersten Wasserstand einen Strich gezogen hätte. Es gibt aber keinen Sekretär im Gehirn, der derartige Striche zieht. James gerät hier in die Nähe einer Gehimmythologie, die ein hartnäckiges Leben führt 14 . James' Theorie des Dinges setzt eine Betrachtung der Lebensgeschidite voraus, die er nicht explizit gibt. Stattdessen finden wir ein Gehirnmodell. 5. DAS PERMANENTE DING: PIKBUBE James wollte das Gehirn im Geiste seiner Zeit als Modell der Psyche betrachten. Geschehnisse im Gehirn bilden die Grundlage für psychische Geschehnisse. 14
Vgl. E. Straus, Der Archimedische Punkt, vor allem S. 485 ff.
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Der Strom des Erlebens und die Theorie der Empfindung
Kein einziger Gehimzustand wiederholt sich jemals. Dasselbe muß dann für Erlebnisse gelten. Deshalb ist das Modell nützlich. Es macht Theorien wie die von Locke und Herbert unannehmbar [1,236]. Es kann seinen Nutzen haben, das psychische Geschehen atomistisch zu formulieren und so zu tun, als ob sich das Bewußtseinsleben aus kleinen Teilen, aus Bewußtseinselementen, zusammensetze. Das ist leicht denkbar. Man kann sich ohne weiteres vorstellen, daß kleine Teilchen zusammen etwas Großes ergeben. Aber es hat audi seine Nachteile. Man gerät in die größten Schwierigkeiten, sobald man die Einheit des Bewußtseins oder die Nicht-Zusammengesetztheit einer Wahrnehmung verstehen will. Und das sind direkte Erfahrungsgegebenheiten. Von diesen direkten Gegebenheiten müßte der Psychologe doch auf irgendeine Art und Weise bleibenden Gebrauch machen. Er muß ihnen allerdings, wenn er Locfce und Herbart folgt, zugunsten einer konstruierten psychischen Vielheit mißtrauen. Eine derartige Elementenpsychologie ist der Ansicht, daß Vorstellungen bestehen und bestehen bleiben, daß man sie gleichsam in einem Behälter aufhebt. Ich habe jemand gesehen und mit ihm Bekanntsdiaft gemacht. Ich habe ihn angeschaut, seine Stimme gehört und seine Eigenheiten beobachtet, und von diesem Ganzen habe ich eine Vorstellung bekommen und mir davon ein Bild gemacht15. Der Eindruck hinterläßt einen Abdruck. Dieser Abdruck wird in ein Album geklebt: in das Gedächtnis. Eines Tages stelle ich mir die Frage: wie hieß er noch mal? Dann schlage ich das Album auf und finde dort das unveränderte Bild. Von solcher Art ist der Gedankengang, stark konkretisiert, der in der Elementenpsychologie herrscht. Die Schwierigkeiten treten auf, wenn ich erklären will, wie es kommt, daß mein Erlebnis nicht diskontinuierlich ist, nicht aus einer Menge von Bildern besteht, die in einer Sammlung nebeneinander liegen; oder wenn ich eine Umstrukturierung der Vorstellungen verstehen will. Wenn ich die Vorstellung eines Zentauren bilde, muß ich dann annehmen, daß zwei Bilder aus meinem Album zerschnitten und wieder aneinandergeklebt werden? Es ist klar, daß mein Modell nicht völlig adäquat ist. Es ist etwas viel verlangt, in psychische Bilder zu schneiden. Hier werden den Vorstellungen Eigenschaften zugeschrieben, die nur reale Bilder haben. Kein einziger „Abdruck" hat den Charakter eines Bildes. Deshalb sagt James: eine permanent bestehende Vorstellung, die periodisch auf die Bühne eines Bewußtseins tritt, ist ein ebenso mythologisches Wesen wie Pikbube [1,236]. Dieses Beispiel ist sehr treffend. Allein, es sagt völlig 1 6 Es ist tatsächlich von Nutzen, Denkmodelle so plastisch wie möglich zu machen. Das ist gerade der Vorteil eines Modells. Aber gleichzeitig veranschaulicht dieser Vorgang deutlich die Gefahr eines jeden Modells: daß man nämlich das Modell für die Wirklichkeit hält und über letztere nicht mehr redet.
Das permanente Ding: Pikbube
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anderes aus, als James meinte. Denn wenn wir einer Sache sicher sind, dann dieser, daß Pikbube existiert, sogar genauso real wie die Dinge. Pikbube ist ein Ding. Ich erkenne ihn überall wieder, in allen verschiedenen Ausführungen des Kartenspiels. Wenn jemand etwas sagt, in dem Pikbube eine Rolle spielt, dann stelle ich mir selbst niemals die Frage, was gemeint ist. Pikbube ist realer als viele andere Sachen. Uber sein Dasein bestehen weniger Zweifel als über das von „Vermögen" oder „Vorstellungen", „Bewußtsein" oder „Innerlichkeit". Es wäre dann auch sehr gut möglich, daß James' Argument gegen die Assoziationspsychologie, nämlich das identische Ding, das in dem sich andauernd verändernden Erleben erscheint, ein Pikbube zu sein scheint. Was bedeutet es, daß ich, durch alle Veränderung hindurch, dasselbe wahrnehme? Wie kommt es, daß ein Freund, den ich 15 Jahre nicht mehr gesehen habe und dem ich jetzt begegne, mir nicht fremd ist, obgleich ein Vergleich der Fotos von jetzt und einst zeigt, daß sich mehr an ihm verändert hat als gleich geblieben ist? Rührt das nicht daher, weil seine Identität von derselben Art ist wie die des Pikbuben? Das Wiedererkennungsproblem des Identischen, dessen, was bei aller Veränderung der Erscheinung es selbst bleibt, ist ein wichtiges Problem. Auch praktisch. Stellen wir uns vor, daß eine Fabrik den Portier abschaffen will, weil sie Portiers nicht für zuverlässig hält. An seine Stelle tritt eine Maschine, ein automatischer Portier, der nur den Menschen die Tür öffnet, die er „kennt". Wonach muß er sich richten? Da kommt Herr Müller. Aber er trägt heute einen anderen Anzug als gestern. Vielleicht hat er sich die Haare schneiden lassen, vielleicht trägt er eine andere Brille. Er kommt heute, aber er kommt noch nach 10 Jahren, wenn er grauhaarig ist. Wie soll ich mir einen automatischen Portier vorstellen, der durch diese Veränderlichkeit hindurch die Identität des Herrn Müller festhält? Das ist ein Problem erster Ordnung. Die Kybernetiker können dieses Problem noch nicht lösen. Sie sagen damit, daß der menschliche Portier, der jetzt noch da steht, etwas in einer Ordnung leistet, das (noch?) nicht in der Wirkordnung des Maschinellen liegt. Aber wenn man fragt: was leistet er, dann ist nur diese Antwort möglich: er erkennt Pikbube wieder. Mit einer Elementenmythologie ist leicht umzugehen, und sie liegt auf Grund von Spracheigentümlichkeiten auf der Hand. Wir sind nun einmal nicht primär an Bewußtseinszuständen interessiert, sondern an den Dingen, die durch sie hindurch erscheinen. Es ist schwierig, Mitteilung darüber zu machen, welche Empfindungen man hat, wenn man einen Gegenstand, ζ. B. einen Bleistift, abtastet. Ich kann es nicht abstreiten, daß ich einen Bleistift abtaste, daß es ein Ding ist, daß dasjenige, was ich fühle, am Gegenstand selbst haftet. Dennoch ist es nachweisbar, daß die Empfindung nirgendwo anders stattfinden kann als an meiner Haut, ja,
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Der Strom des Erlebens und die Theorie der Empfindung
daß icii „eigentlich" nur meine eigene Haut fühle. Aber im alltäglichen Leben interessieren wir uns nicht dafür. Dann fragen wir nicht, wo die Empfindungen ihren Sitz haben, sondern was sie bedeuten. Sie bedeuten Dinge, die Dinge, mit denen wir umgehen, die einen eigenen Namen tragen. Ich spreche über die Dinge wie über diskontinuierliche Größen. Meine Worte zeigen die gleiche Diskontinuität wie die Dinge. Lenkt man von diesem alltäglichen Verhalten her das Denken zur Psychologie zurück, so liegt eine Elementenmythologie auf der Hand. Wie ich einen Stuhl als gesondertes Ding besitze, so habe ich ein Wort „Stuhl" als gesondertes Wort, so gibt es dann wahrscheinlich auch eine gesonderte Vorstellung „Stuhl". Dann habe ich eine Reihe von drei aufeinander abbildbarer Objekte. Wenn ich jemanden völlig naiv beschreiben lasse, welche „Bewußtseinserscheinungen" bei ihm während des Wahrnehmens auftreten, dann nennt er spontan Dinge und ihre Eigenschaften. Niemand sagt z.B.: „Ich fühle hart", „ich fühle weich"; man sagt: „Ich fühle Holz, einen Tisch, einen Korken, Schmirgelpapier" usw. Die Empfindungen des Rauhen, der Glätte, der Elastizität, der Härte, der Weichheit, des Widerstandes beschreibt man primär nie. Nach der Meinung von James ist die klassische Psychologie einfach in eine Fallgrube gestürzt. Sie hat nicht sehen wollen, daß die Substantivierung des Psychischen in Elemente, in Vorstellungen und Empfindungen eine Interpretation war, die man der Erscheinungsweise der Außenwelt entnahm: „Wenn sich das Ding aus Teilen zusammensetzt, dann setzen wir voraus, daß das Erlebnis des Dinges zusammengefügt sein muß aus den Erlebnissen der Teile. Wenn ein Teil des Dinges früher in demselben Ding oder in anderen Dingen enthalten war, nun, dann müssen wir genau dieselbe „idea" haben, die wir bei vorherigen Gegebenheiten hatten. Wenn das Ding einfach ist, dann ist das Erlebnis einfach. Wenn es aus vielen Teilen besteht, dann ist für sein Erleben eine Vielfalt von Erlebnissen erforderlich. Wenn es eine Aufeinanderfolge ist, kann es nur in einer Aufeinanderfolge von Erlebnissen erkannt werden. Ist es dauerhaft, dann ist das Erlebnis dauerhaft. Und so weiter — ad libitum" [1,236]. Es ist eine Verführung durch die Sprache, und man glaube nicht, daß die Psychologie ihr niemals erlegen istl James Mill war der Meinung, daß die Vorstellung eines Heeres „precisely the ideas of an indefinite number of men formed into one idea" ist16. Wer dieses eine Beispiel für zu weit hergeholt hält, der lese die jüngeren Betrachtungen Wundts über die intensiven Vorstellungen 17 . 16
J. Mill, Analysis of the phenomena of the human mind. (1829). Ed. J. S. Mill, London, 1869, Bd. I, S. 264. 17 Wundt, Grundriß, S. 110 ff.
Die Empfindung nach Wundt
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Wir werden gut daran tun, die von James verworfene Lehre der zusammensetzenden Bewußtseinsteile ein wenig näher ins Auge zu fassen. Dabei können wir von den Auffassungen Wundts ausgehen, die weiter oben18 schon angeführt wurden. 6. DIE EMPFINDUNG NACH WUNDT Wundt betrachtet die Empfindung als einen der elementaren Bestandteile des Bewußtseins. Als zweite Art unterschied er die Gefühle. Nun kann man die Empfindungen, auf die wir uns hier beschränken, näher untersuchen19. Man kann sich ζ. B. die Frage stellen, ob es so etwas gibt wie eine reine Empfindung. Ja, sagt Wundt, es ist sinnvoll, darüber zu sprechen. Diese reine Empfindimg setzt jedoch eine doppelte Abstraktion voraus. Zuerst denken wir uns die Empfindung als elementaren (also nicht weiter rückführbaren) Bestandteil der Wahrnehmung, deren konstituierendes Moment diese Empfindung ist. Durch das Denken löse ich also das Blau als Farbempfindung aus der Wahrnehmung einer Streichholzschachtel heraus und sage: ich habe es nur mit dem Blau zu tun, das in der Wahrnehmung dieser Streichholzschachtel eine konstituierende Rolle spielt. Dasselbe Blau kann auch Bestandteil einer ganz anderen Wahrnehmung sein. Es kann nicht auf noch einfachere Komponenten zurückgeführt werden: es ist eine elementare Farbempfindung. An zweiter Stelle muß ich die Gefühle abstrahieren, die die Empfindung begleiten. Ich löse midi also von meiner unmittelbaren ästhetischen Anerkennung des Blauen; schön oder unschön, warm oder kalt, das Blau interessiert mich jetzt ausschließlich als elementarer sinnlicher Eindruck. Dieser elementare Eindruck zeigt eine unmittelbare Verwandtschaft mit anderen Eindrücken wie gelb, rot usw. Ich fasse sie zusammen als Farbempfindungen. Auf die gleiche Weise komme ich zu anderen Klassen und Arten elementarer Empfindungen, wie Tast-, Schall-, Geruchs- und Geschmacksempfindungen. Das sind alles Empfindungen, weil ihnen das sinnliche Moment gemeinsam ist. Sie haben nicht nur alle dieselbe sinnliche Evidenz, sondern treten auch unter ein und derselben, allgemein formulierbaren Bedingung auf: Sie treten nur dann auf, wenn der Organismus gereizt wird. Die Qualität der Empfindung ist abhängig von quantitativ bestimmbaren Eigenschaften des Reizes. Verändern wir die Wellenlänge des ins Auge fallenden Lichtes, dann verändert sich der wahrgenommene Farbton. Verändern wir die Wellenlänge eines Tones, dann ändert sich die wahrgenommene Tonhöhe. 18 19
Siehe weiter oben S. 24, 25. Vgl. Wundt, Grundriß, S.45ff.; Grundzüge, Bd. I (6. Aufl.), S. 398 ff.
4 Lmsdioten
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Der Strom des Erlebens und die Theorie der Empfindung
Wir definieren demnach die Empfindung in einer zweiten Bedeutung als die elementare Bewußtseinserscheinung, die an eine elementare Einwirkung auf ein Sinnesorgan gebunden ist und mit ihr variiert. Wir bleiben also nicht bei der Empfindung als einem durch Abstraktion erhaltenen Moment der Wahrnehmung stehen (Empfindungj), sondern entwickeln eine neue Bedeutung. Unsere neue Definition besagt, daß Empfindung eine Funktion der Sinnesreizung ist (Empfindung2). Auch hierbei bleibt es nicht. Wundt betrachtete sie als Elemente der Bewußtseinserscheinungen. Unsere letzte Definition nahm Bezug auf die Entstehung der Empfindungen, nicht auf ihre Rolle beim Zustandekommen von zusammengesetzten Bewußtseinserscheinungen. Empfindungen werden dann im weiteren Bewußtseinsinftöiie (Empfindung3). Um das, was dieser Begriff einschließt, zu verstehen, wenden wir uns am besten der Lehre John Lockes zu. 7. DAS BEWUSSTSEIN ALS „BEHÄLTER" B E I JOHN LOCKE Der Ausdruck „idea", sagt Locke, bezeichnet alles das, was Gegenstand des Verstandes ist, wenn ein Mensch denkt20. Ebenso wie bei James bedeutet „Denken" hier: Erleben oder Bewußtsein im allgemeinen. Nun hat das Bewußtsein einen Gegenstand: wir denken etwas, nehmen etwas wahr, stellen uns etwas vor. Aber „Gegenstand" kann hier in zweifacher Bedeutung aufgefaßt werden. Der Gegenstand, von dem die Rede ist, wenn ich mir einen Elefanten vorstelle, kann sein: der Elefant selbst, oder audi: mein geistiges Bild jenes Elefanten. Locke meint mit „idea" den Gegenstand in der letzten Bedeutung. „Idea" bedeutet: alles das, was der Geist in sich selbst wahrnimmt, was unmittelbar Gegenstand des Wahrnehmens, des Denkens oder des Verstandes ist21. Eine idea ist demnach eine Vorstellung, ein Begriff, ein Erkenntnisbild, mit dessen Hilfe der Geist die bestehenden Dinge erkennt. Da nämlich von den Dingen, die der Geist betrachtet, keines von allen (außer dem Geist selbst) dem Verstand gegeben ist, ist es notwendig, daß dem Geist etwas anderes, als ein Zeichen oder eine Vorstellung dessen, was er betrachtet, gegeben ist, und das sind die „ideas"22. In dieser Repräsenta2 0 „the word idea... serves best to stand for whatsoever is the object of the understanding when a man thinks"; Essay, Bk. I, Ch. I, § 8. 2 1 „Whatsoever the mind perceives in itself, or is the immediate object of perception, thought, or understanding, that I call idea"·, Essay, Bk. II, Ch. VIII,
§8.
2 2 „for since the things the mind contemplates are none of them, besides itself, present to the understanding, it is necessary that something else, as a sign or representation of a thing it considers, should be present to it: and these are
ideas"; Essay, Bk. IV, Ch. XXI, § 4.
Das Bewußtsein als „Behälter" bei John Lodce
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tionstheorie des Erkennens birgt sich der kartesianische Dualismus von Geist und Stoff: der Geist erkennt das ihm wesensfremde Stoffliche nur vermittels geistiger Repräsentationen des Stofflichen23. Alle Dinge, die uns bewußt sind, gibt es also zweimal: einmal in ihrem stofflichen Dasein, ein anderes Mal als Repräsentation, Vorstellung, „idea". Wir werden später sehen, wie sich James und die Behavioristen dieser Verdoppelung der Welt widersetzen; eine Verdoppelung, die für die Entwicklung der Psychologie von durchschlaggebcnder Bedeutung war. Die Psychologie stellte sich mit Locke die Frage, was diese „ideas" an sich sind und wie sie entstehen. Nun denn, sie sind Inhalte des Bewußtseins. Man wird mir ohne viel Einwand zugeben, sagt Locke, daß es „ideas" im Geiste des Menschen gibt; jeder ist sich dessen bewußt 24 . Meinte Locke das inhaltlich·? Descartes tat das auf jeden Fall nicht. Über Lockes eigentliche Auffassung bestehen Zweifel. Aber wir wollen uns nicht in eine derartige Debatte mischen. Es duldet auf jeden Fall keinen Zweifel, daß bestimmte Aussagen Lockes, ob er sie wörtlich meinte oder nicht, für die Entwicklung des psychologischen Denkens maßgebend waren. Sie führten zur Lehre der Bewußtseinsinhalte. Am Anfang des Lebens ist das Bewußtsein mit einem unbeschriebenen Blatt zu vergleichen, es sind noch keine „ideas" vorhanden. Wie gelangen sie ins Bewußtsein? „Die Sinne lassen die ersten ideas herein und möblieren das noch leere Gehäuse, und während der Geist ganz allmählich mit einigen von ihnen vertraut wird, werden sie im Gedächtnis aufgehoben und mit Namen versehen" 25 . Das ist die „true history of the first beginnings of human knowledge"2e. Äußere und innere Empfindung bilden die einzigen Zugänge der Erkenntnis zum Verstand. „Nur sie sind, soweit ich feststellen kann, die Fenster, durch die Licht in dieses dunkle Zimmer eingelassen wird. Denn es will mir scheinen, daß der Verstand nicht ohne Übereinstimmung mit einem völlig vom Licht abgeschlossenen Innenzimmer ist, das nur eine kleine Öffnung besitzt, um äußerlich sichtbare Ähnlichkeiten oder ideas der Dinge draußen hereinzulassen" 27 . Auch unserer eigener Sprachgebrauch verwendet solche körperlichen Vergleiche für Verstandestätigkeiten. Etwas begreifen, etwas fassen, etwas erfassen, Lernstoff in sich aufnehmen — das alles weist auf Tätigkeiten der Hand, die einen Gegenstand nimmt und umschließt. Für gewöhnlich 23
Siehe bei Berkeley, Three dialogues between Hylas and Philonous (1713), den letzten Teil des ersten Dialoges für eine interessante und aufschlußreiche Diskussion in diesem Punkt. 24 Essay, Bk. I, Ch. I, § 8. 25 Essay, Bk. I, Ch. II, § 15. 26 Essay, Bk. II, Ch. XI, § 15. 27 Essay, Bk. II, Ch. XI, § 17. 4·
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Der Strom des Erlebens und die Theorie der Empfindung
meinen wir diese Ausdrücke nicht wörtlich. Die Beschreibung Lockes hat aber als Denkmodell Eingang in die Psychologie gefunden. Wenn die Relation von „idea" und Ding auch die von Zeichen und Bedeutung blieb, das Verhältnis von Bewußtsein — „idea" wurde das von Gefäß und Inhalt. Die Bewußtseinsinhalte teilt Locke ihrem Ursprung nach in zwei Gruppen auf: sensations und reflections. Die letzten finden ihren Ursprung in der Reflexion des Geistes, während er mit den sensations beschäftigt ist; die reflections lassen wir hier im weiteren außerhalb der Betrachtung. Die ursprünglichste Quelle der „ideas" ist das Empfinden. Die Sinnesorgane senden mehrere unterschiedliche Dingwahrnehmungen zum Bewußtsein, je nach der Art, wie das Ding auf das Sinnesorgan einwirkt. So gelangen wir zu den „ideas" von gelb, weiß, heiß, kalt, weich, hart, bitter, süß, die wir sensible Qualitäten nennen28. Damit haben wir eine dritte Bestimmung der Empfindung: Empfindung s ist der elementare Bewußtseinsinhalt, der infolge der Reizung eines Sinnesorgans entsteht. Ein elementarer Bewußtseinsinhalt ist etwas anderes, etwas Spezifischeres als nur eine bloße Bewußtseinsersc&einung. Unter „Bewußtseinserscheinung" kann auch eine Modifikation des Bewußtseins selbst verstanden werden, ein Bewußtseinszusiand. Jetzt wird die Empfindung aber zu einem Baustein für Bewußtseinserscheinungen. Und damit gelangten wir schon wieder zur vierten Spezifikation des Empfindungsbegriffes. Hören wir noch einmal Locke. Die Qualitäten in der Außenwelt, die unsere Sinnesorgane reizen, die Farben, die Formen, die Gerüche, die Klänge, sind in den Dingen selbst so vereinigt und vermischt, daß zwischen ihnen keine Trennung besteht; das Ding selbst ist kein Aggregat von Qualitäten. Dennoch ist es deutlich, daß die Vorstellungen, die die Dinge in meinem Bewußtsein hervorbringen, einfache, nicht—zusammengesetzte Empfindungen sind29. Die Sinnesorgane sind gleichsam Filter, jeder von ihnen läßt nur bestimmte Qualitäten durch. Das Auge ist empfindlich für Licht, Farbe und Form, das Ohr für Schall, der Geruchssinn für Gerüche usw. Die Sinnesorgane lösen die Einheit der Dinge auf, jedes von ihnen hat seinen eigenen Code elementarer Signale, die zum Bewußtsein leiten. Im Bewußtsein müssen alle diese elementaren, verschiedenartigen Informationseinheiten aufs neue zusammengefügt werden. So ist die Empfindung 4 nicht nur ein elementarer Bewußtseinsinhalt, sondern auch ein elementarer Baustein, aus dem alle zusammengesetzten Bewußtseinsinhalte aufgebaut werden müssen. 28 29
Essay, Bk. II, Ch. I, § 3. Essay, Bk. II, Ch. II, § 1.
Psyciiogenese und Assoziation
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8. PSYCHOGENESE U N D ASSOZIATION Der englische Empirismus kann jedenfalls vom Kinde sagen, daß es vorurteilsfrei zur Welt kommt; sein Bewußtsein ist ein unbeschriebenes Blatt. Die Empfindungen sind es, die darauf die ersten Buchstaben schreiben. Buchstaben, keine Wörter oder Sätze. Denn die Empfindung, diese psychogenetisch älteste Bewußtseinserscheinung, bekommt erst in Zusammenhang mit anderen Empfindungen Bedeutung. Die analytische Introspektion, Lockes „piain historical method", führt zu diesem typisch genetischen Problem der Wahrnehmung. „It is a history-book . . . of what passes in a man's own mind", sagte Sterne30 über Lockes Essay. Wie lernt ein Kind seine Mutter kennen? Dadurch, daß mehrere Empfindungen zu einem einzigen Erfahrungsbild zusammenschmelzen, aufgebaut aus Farben und Gerüchen, räumlichen Empfindungen, Geräuschen, Tastempfindungen usw. Das Mutterbild ist eines der ersten zustandekommenden psychischen Mosaike. Was hier in Wirklichkeit geschah, ist eine Identifikation der logischen und der psychogenetischen Ordnung. Natürlich kann man an einem Ding alle Momente unterscheiden, die wir bereits nannten. Es hat eine gewisse Größe, Schwere, Farbe, Form usw. Es ist durchaus gerechtfertigt, diese Momente zu unterscheiden. Der Psychogenetiker im Stil Lockes sagt nun: jedes durch Abstraktion erhaltene sinnliche Dingmoment, das sich von anderen derartigen Momenten unterscheidet, ist in der psychogenetischen Ordnung ein nicht weiter rückführbarer u n d ursprünglicher Baustein der Bewußtseinserscheinungen (Empfindung 5 ). Das ist nur möglich, wenn man eine dinghafte Auffassung über diese logischen Dingmomente hat, wenn man sagt: die Rotheit ist nicht nur eine Eigenschaft an den Dingen, sondern ist auch als Vorstellung etwas Selbständiges. Das ist allerdings nur möglich, wenn man die Bewußtseinserscheinungen tatsächlich substantiviert. Als Antwort auf die Frage, wie und warum sich denn die Bewußtseinselemente zu Komplexen, zu Erlebnissen verbinden, entstand die Assoziationstheorie: „Wenn beliebige seelische Gebilde einmal gleichzeitig oder in naher Aufeinanderfolge das Bewußtsein erfüllt haben, so ruft hinterher die Wiederkehr einiger Glieder des früheren Erlebnisses Vorstellungen auch der übrigen Glieder hervor, ohne daß f ü r sie die ursprünglichen Ursachen gegeben zu sein brauchen" 31 . Zunächst diente diese Theorie nur der Erklärung sukzessiver Assoziationserscheinungen: weshalb uns eins nach dem anderen einfällt. Hierüber 3U
L. Sterne, Tristram Shandy, Vol. I„ London, 1900, S. 76. H. Ebbinghaus, Grundzüge der Psychologie, Bd. I (von K. Bühler bearbeitet). Leipzig, 19194, S. 678. Siehe ferner meine Antrittsvorlesung: „A gentle force". Groningen, 1957. 31
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Der Strom des Erlebens und die Theorie der Empfindung
sind schon bei Aristoteles Hinweise zu finden. Der Empirismus führte allerdings auch den Begriff der synchronen Assoziation ein, mit der die Wahrnehmung der Dinge oder simultaner Erlebniskomplexe im allgemeinen erklärt wird. W e n n ich einen bestimmten Komplex von Empfindungen gleichzeitig in der Anschauung habe, eine Anzahl von Farben, eine Anzahl räumlicher Gegebenheiten, dann nehme ich eine Streichholzschachtel wahr, weil ich immer wieder dieselben Elemente in diesem Komplex wiedersah u n d ich gelernt habe, ihn als Ganzes mit einem Wort zu benennen 32 . Wahrnehmen ist also das gleichzeitige Bewußthaben einer Anzahl von Empfindungen, die uns über die Sinnesorgane erreichen. Dieser nach innen gelangende Komplex von Empfindungen wird im Bewußtsein mit den Spuren von früheren Empfindungskomplexen konfrontiert, die im Gedächtnis ihren Niedersdilag fanden. Wenn nun dasjenige, was von innen her kommt, zu demjenigen, was von außen her kommt, paßt, wird ein Ding wiedererkannt. Es ist wohl einleuchtend, daß eine derartige Bewußtseinstheorie nicht von einem Erlebnissfrom sprechen kann, sondern von einem „train of thought" sprechen muß. Wir sahen, daß James hiermit hat brechen wollen. Sein Hauptargument ist die Einheit des Erlebens, das nichts von einem mosaikhaften Aufbau an sich hat. Aber das Gegenargument der Assoziationslehre liegt im aussiebenden, dissoziierenden Charakter der Sinnestätigkeit. Wollen wir also James' Theorie recht verstehen, müssen wir zunächst noch verfolgen, wie sidi die Assoziationslehre in der Sinnesphysiologie auswirkte. 9. D I E E N T W I C K L U N G D E R E M P F I N D U N G S T H E O R I E BEI JOHANNES M Ü L L E R Die Entwicklung der Theorie der Empfindung, wie wir sie bei Locke verfolgten, erscheint bisher als eine rein psychologische oder philosophische Angelegenheit. Aber in ständig stärkerem Maße wurde der Nachdruck auf die Funktion der Sinnesorgane gelegt; und so nimmt das Interesse für physiologische Fragen zu. Das kommt schon in Lockes „Kleine Exkursion in die Naturphilosophie" zum Ausdrude, wie er das adite Kapitel des zweiten Buches seines Essay selbst nannte. Die „ideas" sind Repräsentanten von Dingen und Dingmomenten. Sie kommen durch die Wirkung der Sinnesorgane (jedenfalls die „sensations") zustande. Aber man kann nicht ohne weiteres sagen, daß das Sinnesorgan eine Abbildung der Dinge liefert. Dinge vermögen durch die Sinnesorgane 32 Vgl. G. Berkeley, A treatise concerning the principles of human knowledge (1710), Part I, § 1: „Thus, for example, a certain colour, taste, smell, figure, and consistence having been observed to go together, are accounted one distinct thing, signified by the name apple."
Die Entwicklung der Empfindungstheorie bei Johannes Müller
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„ideas" im Geist hervorzubringen. Diese Vermögen nennt Locke die Qualitäten der Dinge. So besitzt ein Schneeball das Vermögen, in unserem Bewußtsein die „ideas" weiß, kalt und rund hervorzubringen. Und diese Vermögen, wie sie im Schneeball bestehen, sind Qualitäten33. Sie lassen sich in zwei Gruppen aufteilen: primäre und sekundäre Qualitäten. Primäre Qualitäten sind wesentlich mit dem Sein der Dinge verbunden: Substantialität (solidity), Ausdehnung, Form, Bewegungszustand, Anzahl. Uber die „ideas" der primären Qualitäten lehrt Locke nun, daß sie jenen Qualitäten gleichen: sie sind also (mehr oder weniger zuverlässige) Abbildungen. Sekundäre Qualitäten sind in Wirklichkeit keine Dingbeschaffenheiten, sondern Vermögen, durch ihre primären Qualitäten Empfindungen zu wecken: Farben, Töne usw. Diese Empfindungen geben demnach wohl Auskunft über die Dinge, aber sie geben keine Abbildung von ihnen wieder. Die Dinge selbst sind farblos, tonlos usw. Die primären sind reale, die sekundären sind abgeleitete oder sensible Qualitäten. Sie bestehen im Bewußtsein, nicht in den Dingen. Locke stellte dieses Problem eigentlich in den Rahmen einer Erkenntnistheorie, die die Gültigkeit unseres Erkennens zu ergründen sucht. Er geht davon aus, daß beide, der Geist und die stoffliche Welt, wirklich bestehen, und fragt, inwieweit der Geist das ihm wesensfremde Stoffliche so erkennt, wie es ist. Es ist darüberhinaus ein ontologisches Problem: besteht die stoffliche Welt der Dinge überhaupt? Hierauf antwortete Berkeley verneinend. Esse est perdpi lautete seine berühmt gewordene Aussage: Sein ist Wahrgenommenwerden34. Das Ding und die Empfindung des Dinges sind identisch. Audi die primären Qualitäten besitzen kein unabhängiges Dasein. Es gibt keine andere Substanz als den Geist. Die idealistische Ontologie Berkeleys interessiert uns hier nicht. Von Wichtigkeit ist für uns die Tatsache, daß nun alle Qualitäten zu subjektiven Erscheinungen, zu Bewußtseinserscheinungen erklärt wurden. Das kann auch auf einer anderen ontologischen Basis geschehen. Man kann von der stofflichen Wirklichkeit ausgehen und trotzdem die Subjektivität aller Empfindungen proklamieren. So geschah es im vorigen Jahrhundert durch Johannes Müller, dessen radikale Konzeption das physiologische Gegenstück zu Berkeleys Lehre bildet. Sie kam zum erstenmal in seinem Werk „Zur vergleichenden Physiologie des Gesichtssinnes des Menschen und der Thiere" aus dem Jahre 1826 zum Ausdruck. Wir folgen hier den zehn Lehrsätzen seiner Fassung der Theorie 33 34
Locke, Essay, Bk. II, Ch. VIII, § 8. Berkeley, Treatise, Pt. I, § 6.
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Der Strom des Erlebens und die Theorie der Empfindung
der spezifischen Sinnesenergie, wie er sie später in gereifterer Form niedergelegt hat 35 , und die wir kurz zusammenfassen. I. Jede Empfindung, die durch äußere Ursachen auftreten kann, kann auch durch innere Ursachen auftreten. So können wir mit geschlossenen Augen doch gelegentlich Lichterscheinungen sehen. II. Dieselbe innere Ursache hat in verschiedenen Sinnesorganen verschiedenartige Empfindungen zur Folge. Blutstauung verursacht im Auge Lichterscheinungen, im Ohr Sausen. III. Dieselbe äußere Ursache ruft in den verschiedenen Sinnesorganen verschiedenartige Empfindungen hervor: derselbe Schlag, der „schallend" das Ohr trifft, hat am Auge eine ganz andere Wirkung: wir sehen Sterne. Dann folgt die wichtige Schlußfolgerung: V. Die Sinnesempfindung ist nicht die Übertragung einer Qualität oder eines Zustandes eines äußeren Dinges ins Bewußtsein, sondern ist die Übertragung einer Qualität oder eines Zustandes eines sensorischen Nervs ins Bewußtsein, hervorgerufen durch eine äußere Ursache. Und diese Qualitäten sind, in den verschiedenen sensorischen Nerven verschieden, die Sinnesenergien. VIII. Die sensorischen Nerven nehmen an erster Stelle nur ihren eigenen Zustand wahr. Geschehnisse und Zustände in der Außenwelt werden also nicht unmittelbar, sondern mittelbar wahrgenommen, nämlich insofern die Empfindung als Anzeichen jener Geschehnisse oder Zustände fungiert. Nur durch die Erfahrung kann das Bewußtsein diese Anzeichen verstehen lernen. Aber es gibt überhaupt keine Garantie, daß das Bild, welches das Bewußtsein von den Dingen und der Welt entwarf, auf Grund der Empfindungen mit dem wirklichen Sein der Dinge und der Welt übereinstimmt. In der Empfindung nimmt das Bewußtsein nichts anderes wahr, als die Veränderungen in unserem, eigenen Nervensystem. Der gesamte reiche sinnliche Inhalt der uns umgebenden Welt ist eine subjektive Vorstellung. So verstehen wir auch die enge Verbindung, die im vorigen Jahrhunderl zwischen Physiologie und Psychologie entstand. Müller wies hier den Weg, als er sagte: „Dem Verfasser ist die Seele nur eine besondere Form des Lebens unter den mannigfachen Lebensformen, welche Gegenstand der physiologischen Untersuchung sind, er hegt daher die Überzeugung, daß 35
J. Müller, Handbuch der Physiologie des Menschen, Bd. II/2. Koblenz, 1838. Die Theorie ist in den „nothwendigen Vorbegriffen" zur Sinnesphysiologie zu finden, S. 249—275. In Wirklichkeit war Charles Bell schon früher mit der Theorie hervorgetreten in Idea of a new anatomy of the brain. Diese Arbeit erschien 1811 in einer Privatausgabe von 100 Exemplaren. Die Theorie war jedoch, wie auch wir nachweisen, seit langem vorbereitet und wurde in expliziter Form erst durdi Müller verbreitet. Sie muß also weiterhin seinen Namen tragen. Siehe für deren Geschichte R. Weinmann, Die Lehre von den spezifischen Sinnesenergien; Hamburg, 1895.
Das Empfinden nach H. Werner
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die physiologische Untersuchung in ihren letzten Resultaten selbst psychologisch sein müsse"36. In dieser physiologischen Psychologie leistet dann das Assoziationsprinzip gute Dienste. Die Lehre der sich assoziierenden Bewußtseinsinhalte gehört übrigens zu den unausgesprochenen Voraussetzungen Müllers. 10. DAS E M P F I N D E N N A C H H. W E R N E R Die klassische Wahmehmungslehre wird vom Gedanken beherrscht, daß wir nun mal verschiedene Sinnesorgane haben, und daß deshalb erst hinterher ein geschlossenes Bild eines Dinges durch Assoziation entstehen kann. Wenn ich ein Stüde Käse, auf das ich blicke, aufhebe, daran rieche und davon koste, dann habe ich schon vier Sinnesorgane, die am Gesamteindrudc des Käses mitwirken. Doch vollzieht sich das erst hinterher. Ich muß doch eigens tasten, jeweils kosten, riechen und sehen. Man muß sich demnach wohl vorstellen, daß das Ganze, die Vorstellung eines leckeren Stückes Käse, eine Resultante der Zusammenarbeit verschiedener Sinnesorgane ist. Auf die Frage: was war früher da, die Empfindimg oder die Wahrnehmung (eines Stückes Käse)? antwortet der Empirismus: zuerst waren die jeweiligen Empfindungen da. Aber jetzt können wir diese Frage etwas abändern. Wenn wir daran gehen, die Relation zwischen Empfinden und Wahrnehmen zu untersuchen, was ist dann für uns Erwachsene das zuerst Gegebene? Und die Antwort darauf muß lauten: das Wahrnehmen, nicht das Empfinden, die Dinge, nicht die Eindrücke, Ganzheiten, nicht ihre Elemente. Im Erleben haben wir es immer mit Ganzheiten zu tun, nie mit unzusammenhängenden Empfindungen. Wir können noch einen Schritt weiter gehen. Angenommen, daß die ersten Erlebnisse des kleinen Kindes einfacher sind als unsere, weniger differenziert; angenommen, daß das Baby in der Wiege keine Wahrnehmungen hat, sondern Empfindungen, dann sind das doch Erlebnisse. Dann muß auch das Empfinden ein Bewußtsein von Ganzheiten, von Gestalten sein, und dann gibt es in der Psychogenese keinen Platz für Lockes Bewußtseinselemente. Sie sind Abstraktionen, logische Konstruktionen, aber niemals Erlebniswirklichkeit. Eine Rekonstruktion der Entwicklung des Erlebens kann die Empfindungen im Sinne Lockes nicht als Ausgangspunkt nehmen. Deshalb weist Werner jede mechanistische und summative Betrachtungsweise des Psychischen ab37. Für Werner geht in der Entwicklung das Zitiert bei Κ. E. Rothschuh, Geschichte der Physiologie, Berlin, 1953, S. 115. Vgl. beim Folgenden: H. Werner, Einführung in die Entwicklungspsychologie, München, 19533; oder die englische Bearbeitung: Comparative psychology of mental development, New York, 19572. Im Zusammenhang mit dem hier behan38
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Der Strom des Erlebens und die Theorie der Empfindung
komplexe Ganze dem „Gesonderten", das Diffuse dem „Gegliederten" und Zentrierten voraus. Das, was im Erlebnis zuerst erscheint, hat den Charakter eines Komplexes, einer ursprünglichen Einheit, in der Sinnesdaten und Akte noch undifferenziert bestehen. Töne und Farben, als mehr oder weniger selbständige Erlebnisinhalte, sind dann noch nicht herauskristallisiert, sondern aufgeschlossen in einem „Gesamterlebnis". Für Werner ist also nicht die Summation von Elementen zu Aggregaten das Grundmerkmal der Psychogenese, sondern die zunehmende Gliederung und Strukturierung von Erlebnisganzen. Dann bekommt der Begriff „Empfindung" selbstverständlich eine andere Bedeutung. Für Werner ist die Empfindung keine elementare Perzeption der jeweiligen Sinnesorgane, sondern ein diffuser Erlebniszustand, in dem der Leib als Ganzes auf das Ganze seiner Eindrücke und Affektionen widertönt. Hier kann nicht unterschieden werden, was gehört, was gesehen, geschmeckt und gerochen wird. Diese globale und pathische Erlebnisweise gibt im Laufe der Entwicklung dem differenzierenden, gnostischen Erleben immer mehr Raum oder besser: das letzte entwickelt sich aus dem ersten. Für den westlichen Erwachsenen ist eine gnostische Erlebnisweise die normale geworden. Dennoch ist für ihn das Pathische nicht ausgeschlossen. Das gefühlsbetontere Erleben wird nur in unserem Denken und Handeln und von den gnostischen Begriffen her für weniger wertvoll gehalten. Es verlangt daher, daß wir uns von unserer habituellen gnostischen Einstellung lösen, um echt empfindend erleben zu können. Je mehr wir uns nun diesem Empfinden in einer experimentellen Situation nähern, je mehr wir auch sinnliche Eindrücke einander näher bringen, desto weniger differenziert wird der Unterschied von Ton und Farbe usw. Schließlich ist dann der Unterschied von Ton und Farbe nur noch der Unterschied zwischen verschiedenen Akzenten. Man würde nicht mehr sagen können, ob man sieht oder hört. Es ist ein Erlebnis des Ergriffenseins. Wenn man in einem Zustand passiver Hingabe, völlig pathischen Miterlebens, nach Tönen lauscht, dann bleibt letztlich nichts anderes übrig als „das Erlebnis körperlicher Empfindungszuständlichkeit". Um das zu erreichen, muß die Vp. allerdings eine Haltung einnehmen, die sich völlig von der unterscheidet, die der klassische Wahrnehmungspsychologe fordert; er verlangt eine genaue gnostische Beobachtung. Hier dagegen muß man gerade entspannen, die Augen schließen, sich dem hingeben, was den Körper durchdringt. Es zeigt sich dann ζ. B., daß es bei den tiefen Tönen äußerst schwierig ist, zu sagen, ob man sie nun hört oder fühlt, denn sie dröhnen in der Person. Es zeigt sich, daß die Farben einen del ten Problem vor allem: Untersuchungen über Empfindung und Empfinden; Z. Fsydiol., 1930 (114), 152—166.
Das Empfinden nach H. Werner
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Charakter erhalten, durch den sie mit den Tönen sehr wohl übereinstimmen, während für unser normales Wachbewußtsein, für unser Gerichtet- und Gefaßt-bei-den-Dingen-Sein, Ton und Farbe in unvergleichliche Kategorien auseinanderfallen. Wir legen uns dann die Frage vor, wie sie einer vertauschen könnte. Wie könnte jemals einer auf den Gedanken kommen, daß er etwas, was er hört, sieht oder umgekehrt? Das ist offenbar erst dann möglich, wenn die gnostische Gerichtetheit, die Gefaßtheit, ins Pathische zurückgenommen wird. Dieser kurze Überblick über Werners Theorie reicht aus, um uns ein allgemeines theoretisches Problem sehen zu lassen, über das wir bereits wiederholt redeten. Die Assoziationstheorie leidet an dem „psychologist's fallacy", sagte James. Und außerdem: die psychischen Erscheinungen liegen nicht einfach, so wie Dinge, zum Greifen nahe; wie sie sich darbieten, hängt (jedenfalls in einem bestimmten Maße) von dem Standpunkt ab, den wir einnehmen. E s gibt eine „psychologist's reality", eine „Wirklichkeit" der psychischen Erscheinungen als Funktion der theoretischen Stellungnahme des Psychologen selbst. Das allgemeine Problem ist: wie kann der Psychologe feststellen, ob seine Stellungnahme richtig ist und nicht zu einem „fallacy" führt? Das diesbezügliche Kriterium muß offenbar dem Erlebnis selbst entnommen werden. Dann ist die deskriptive Orientierung für die Psychologie entscheidend. Damit sind allerdings die Schwierigkeiten noch keineswegs beseitigt. Werners Theorie hat offensichtlich diese deskriptive Orientierung. E s ist das Erlebnis, dem er seine Kriterien entnimmt. Aber „deskriptiv" heißt nicht, daß das Erlebte, so wie es erlebt wird, auch adäquat zu beschreiben ist. Das ist auf eine einfache Art mit einer Scheibe von Plateau darzustellen. Die Scheibe Plateaus ist eine runde, weiße Scheibe, auf der eine schwarze Linie vom Mittelpunkt zum Umriß eine Spirale bildet. Läßt man die Scheibe mit gemäßigtem Tempo rotieren, dann sieht man — abhängig von der Drehrichtung — ein fortwährendes Schrumpfen und Anschwellen. Man hat dann ζ. B. die Empfindung einer Expansion, der Scheibenraum wird sichtbar größer — aber nimmt nicht an Umfang zu. Das Paradoxe des Erlebnisses läßt sich nicht adäquat beschreiben. So sagt Werner auch, daß die Empfindung im allgemeinen eigentlich unbeschreibbar ist. Jeder diesbezügliche Versuch ist dann auch gleichzeitig eine Verfälschung, und man kann also keine einzige Beschreibung ganz akzeptieren. Die Beschreibung hat einen andeutenden, hinweisenden Wert. Dieses Problem wird uns noch näher beschäftigen. Aber da ist auch noch ein anderes Problem. Was gibt uns das Recht, aus einer Deskription eine genetische Theorie zu machen, wie Werner das tut? E s duldet keinen Zweifel, daß für das kleine Kind die Strukturen anders sind als für uns, daß das Kind die Dinge nicht so sieht, wie wir sie sehen. Aber sind wir
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deshalb zur Annahme gezwungen, daß die Wahrnehmung beim kleinen Kind jenen Globalcharakter hätte, in der keine Sinnesmodalität von einer anderen unterschieden wird, in der keine geordneten Gestalten und Strukturen vorhanden sind? Dann muß man sich nämlich die Frage stellen, wie diese Struktur jemals da hineingelangt. Das einzige, was man dann antworten kann, ist, daß die Strukturierung doch irgendwo vorgegeben ist und wäre es nur in der Struktur des Körpers selbst, in der Tatsache, daß es fünf Sinnesorgane gibt, die diese „Gliederung" besorgen. Mit anderen Worten: die Deskription bietet gar keine Garantie, daß die Psychogenese so verläuft, wie man auf Grund der Deskription vermutet. Wenn Werner sagt, daß im letzten Stadium des Tonerlebnisses nur das Erlebnis einer körperlichen Zuständlichkeit übrigbleibt, dann hat er recht. Aber das ist ein letztes Stadium. Nämlich das letzte Stadium in einer spezifisch experimentellen Situation, in der wir unser Bestes tun, um eine pathische Hingabe zu erreichen. Was wir dann erleben, ist deshalb noch nicht das psychogenetisch erste Stadium unseres Wahrnehmens. Es ist, ebensogut wie die Empfindung von Locke oder Wundt, Resultat einer Haltung, eines Verhältnisses; ich setze mich deswegen hin, um das zu erreichen. Es ist ein Resultat, kein ursprünglicher Zustand; es gibt jedenfalls keinen zwingenden Grund, das zu behaupten. Vielleicht ist es trotzdem wahr; aber die Deskription liefert keinen Beweis. Wir wollen nicht vergessen, daß auch die Empfindung Wundts oder Lockes, der elementare, scharf zugespitzte Eindruck einer einzigen Qualität, in experimentellen Situationen anzugehen ist. Dort nämlich, wo man die gnostische Haltung bis ins Extreme durchführt. Wenn ich ein Objekt, das ich vor mir habe, immobilisiere und mich selbst auch immobilisiere, ein Auge schließe und mir die Frage stelle: was sehe ich nun eigentlich?, dann muß ich antworten: eine perspektivische Form, mehr nicht. Ich sehe überhaupt kein Ding. Ich sehe eine Fläche, die Papier heißt, aber ich weiß nicht, ob es das auch ist. Ich kann die Farbe nennen, es ist weiß, „eigentlich" ein wenig grau. Es hat eine bestimmte Form. Man würde sagen, daß es rechteckig wäre, aber was ich sehe, ist „eigentlich" gar nicht rechteckig usw. Wer dieses kritische Verhältnis zum Wahrgenommenen durchzuhalten versteht, der nähert sich Eindrücken, die mit den Empfindungen der klassischen Wahrnehmungspsychologie übereinstimmen. Das kann seinen Nutzen haben, ζ. B. für denjenigen, der zeichnend oder malend den Eindruck, den eine Szene bietet, reproduzieren will. In unserer täglichen Wahrnehmung herrscht Farbkonstanz. Ein Buch, das halb in der Sonne, halb im Schatten liegt, zeigt uns nicht zwei Farben, wiewohl die beschattete und die unbeschattete Hälfte des Buches verschiedenartig reflektieren. Aber wer seinen Blick fixiert, der sieht, daß diese Farbkonstanz, ebenso wie Größen- und Formkonstanz, schließlich zerfallen. Nur dann ist er in der Lage, die Formen
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und Farben genau so nachzuzeichnen, wie sie sich perspektivisch darbieten. Derjenige, der sich nachher die Zeichnung anschaut, sieht wieder nicht, was der Zeichner gesehen hat, sondern sieht darin wieder die konstante, unperspektivierte Welt der Dinge. Man muß ein gemaltes Porträt schon aus ziemlicher Nähe und mit einem künstlerisch nicht wohlwollenden Blidc betrachten, um zu sehen, wie der Maler den Glanz in den Augen zustande brachte. „Eigentlich" glänzt es gar nicht, es ist ein Fleckchen weiße Farbe, das als „Glanz" fungiert. So unterscheiden sich die Haltungen Wundts und Werners im Hinblick auf das Wahrgenommene darin, daß der erste darauf achtet, was er „eigentlich" sieht, und der zweite pathisch den Eindrücken gegenüber offensteht. Merkwürdiges ProblemI Wer sich fragt, was er „eigentlich" sieht, beantwortet die Frage durch ««eigentliches Sehen, durch eine Beobachtungsart, die er im täglichen Leben nie anwendet. Vor mir auf dem Tisch steht eine Schachtel. Was sehe ich? Eine perspektivische Form, eine Anzahl von Formen, eine Zusammenstellung von Formen, von denen keine rechteckig ist. Eine Rüdeseite sehe ich eigentlich nicht. Vielleicht hat sie keine. Vielleicht hat die Schachtel auch keinen Boden. Wie ich an dieser perspektivischen Form wiedererkenne, was ich meine, wenn ich sage, daß die Schachtel rechteckig ist, eine symmetrische Anordnung von dreimal zwei gleichen Flächen, die einen Innenraum umschließen, wird nun zu einem Problem für mich. Wer sagt mir, daß die Dinge, die sich von mir entfernen, nicht kleiner werden? Ich kann wohl einen anderen danach fragen, aber der andere kann sich ebensosehr täuschen wie ich. Das ist ein Verhältnis zu den Dingen, das uns in eine sehr schwierige Situation bringen kann. W e r sich einmal auf diesen Standpunkt stellt, findet das konstante Ding nicht mehr wieder. Man kann wohl eine Lösung konstruieren. Man kann sagen: natürlich, die Schachtel hat eine rechteckige Form. Es ist ein rechteckiger Würfel, und das weiß ich, weil ich die Schachtel unter verschiedenen Blickwinkeln gesehen habe. Ja, alles gut und wohl, aber jedesmal sah ich die Schachtel in einer perspektivischen Form, nie in jener Ganzheit, in der ich mir die Schachtel vorstelle, wie sie ist. Aber, wird man sagen, seitdem die Wahrnehmungslehre von Locke und Wundt Triumphe feierte, hat uns doch die Gestaltpsychologie auf die Konstanzphänomene aufmerksam gemacht38. Gewiß, aber wir dürfen nie vergessen, daß Formkonstanz in erster Linie ein Wort ist und mehr nicht, und daß ein zweiter Schritt die Erklärung fordert, nicht nur, wie die Formkonstanz arbeitet, sondern auch, worin die Erscheinung ihren Ursprung findet39. 38 Der beste Überblick ist bei K. Koffka, Principles of gestalt psychology, zu finden. London, 1935, S. 211 ff.
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Der klassische Wahrnehmungspsychologe, der sich auf einem E m p f a n g langweilte, tat das folgende. E r schaute auf eine T a s s e und sagte für sich: wie eigenartig. So betrachtet sieht die Oberkante ja gar nicht rund aus, im Gegenteil, sie sieht ellipsenförmig aus. Wie verhält sich d a s ? Ich will mal ein Auge schließen. J a , dann sehe ich schon viel besser. Diese ironisierende Beschreibung verdeutlicht dennoch seine Haltung. Sobald er sich mit einer Erscheinung konfrontiert sieht, nimmt er unmittelbar eine Ruhestellung ein. E r immobilisiert sich und reduziert die Wahrnehmungsgegebenheiten auf ein statisches Minimum. Ζ. B.: mit zwei Augen sehen, das ist doch keine reine Wahrnehmung, sagt er. Ich will es zuerst einmal mit einem A u g e versuchen. D a s ist die einfachste Verfahrensweise. D a n n rüdct er die T a s s e in eine bestimmte Stellung, richtet seinen Blick darauf und kann nun endlos dabei verweilen, die Tasse anzustarren. Nie wird er mehr sehen als die elliptische Form. Also, sagt er dann, die tägliche Wahrnehmung kann auf eine Reihe derartiger statischer Stellungen und Eindrücke zurückgeführt werden, ja, ist „in Wirklichkeit" nichts anderes als das; so wie ein Film „in Wirklichkeit" nichts anderes ist als ein langer Streifen statischer Bilder, die sukzessiv, 24/sec, dargeboten werden. Wenn wir das nun mit der Haltung konfrontieren, die wir im täglichen Leben beim Wahrnehmen einer merkwürdigen Form einnehmen, dann sehen wir, daß letztere mit der ersten einen Gegensatz bildet. Nehmen wir als Beispiel eine moderne Plastik in einem Museum. Wir machen einen Rundgang und sagen zueinander: „Schau dir das doch einmal an, was ist das n u n ? " W a s tut m a n ? Sicherlich nicht sofort stehenbleiben, ein A u g e zudecken und in einer unbeweglichen Haltung den einzigen Aspekt des Dinges betrachten. D a s selbstverständliche, übliche Verhalten ist, daß man um die Plastik herumgeht, sie in die H a n d nimmt (wenn das die Direktion erlaubt), sich selbst und das Ding bewegt und so die Variabilität der Aspekte und Perspektiven wahrnimmt. Nur unter dieser Bedingung erscheint in der perspektivischen F o r m das Ding selbst. Formkonstanz, Größenkonstanz nehmen ab, sobald sich der Wahrnehmende nicht mehr aktiv, sondern passiv aufnehmend verhält. Unabhängig voneinander haben die amerikanische und die phänomenologische Psychologie starken Nachdruck gelegt auf die Aktivität, das Handeln, das Verhalten als konstituierendes Moment des Erlebens. Bewußtseinspsychologie behandelt den Menschen als Zuschauer. D a s gilt sowohl für die klassische Empfindungslehre, die wir besprochen haben, als auch für Werner. War die erste auf der Person als Beobachter basiert, so geht Werners Empfindungslehre von der Person als einem passiven, pathisch sich 39 Vgl. hierüber und beim Folgenden meinen Artikel: Anthropologische Fragen zur Raumproblematik; Stud, generale, 1958 (11), S. 86 ff.
James' Gedanken über Empfinden und Wahrnehmen
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öffnenden Resonator aus. Bei James finden wir zwar beide Ausgangspunkte wieder; in der Entwicklung seiner Psychologie werden sie jedoch in zunehmendem Maße durch das Prinzip der „action" verdrängt: für James wird das Erlebnis in letzter Instanz erst klar, wenn es vom Verhalten her betrachtet wird. 11. JAMES' GEDANKEN ÜBER E M P F I N D E N UND W A H R N E H M E N Empfindungen im Sinne Lackes und der Assoziationspsychologie sind nadi der Auffassung von James Abstraktionen, die die Realität des Psychischen nicht decken. Das könnte auch nicht der Fall sein, hörten wir ihn sagen; nicht nur der Erlebnisstrom ist in einer fortwährenden Veränderung begriffen, auch die stoffliche Beschaffenheit des Gehirns schließt vollständig aus, daß es Bewußtseinselemente gibt, die in dauerhafter Identität das Leben hindurch in immer neuen Verbindungen auftreten können. Gerade die enge historische Verbundenheit der Empfindungslehre und der Assoziationstheorie veranlaßte James, wenig auf das Problem der Empfindung einzugehen — obgleich dieses Problem keineswegs ausschließlich in diesem Zusammenhang behandelt zu werden braucht, und es auch außerhalb des Rahmens der Assoziationstheorie ein wesentliches Problem in der Psychologie darstellt. Boring ist der Ansicht, daß James es unbeachtet ließ, wo immer er es konnte, während sich doch die gesamte „new psychology" darauf konzentrierte 40 . „Innerhalb von einigen Jahren entstand in Deutschland das, was man eine mikroskopische Psychologie nennen könnte, ausgeübt mit Hilfe experimenteller Methoden, die natürlich jeden Augenblick introspektive Daten verlangt, deren Ungewißheit aber dadurch eliminiert, daß sie auf breiter Ebene arbeitet und statistische Mittel verwendet. Diese Methode erfordert Geduld bis zum äußersten und hätte kaum in einem Lande entstehen können, dessen Einwohner sich langweilen könnten. Solche Deutschen wie Weher, Fechner, Vierordt und Wundt können sich offensichtlich nicht langweilen . . . " So urteilt James, während er dann im selben Atemzug sagt, daß die Empfindung, von diesen Männern so geduldig untersucht, zu den wichtigsten Themen der experimentellen Psychologie gehört [I, 192 f.]. „Fechner selbst war tatsächlich ein deutscher Gelehrter vom Idealtyp, zugleich einfach und schlau, ein Mystiker und ein Experimentator, ruhig und verwegen, ebenso Tatsachen wie seinen Theorien hingegeben. Aber es wäre schrecklich, wenn selbst ein so guter alter Mann wie er unsere Wissenschaft für immer mit seinen geduldigen Grillen belasten könnte und in einer Welt, die voll ist mit nahrhaften Gegenständen für die Aufmerksamkeit, alle zukünftigen Studenten zwingen könnte, sich durch die Schwierigkeiten nicht
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E. G. Boring, Human nature, etc. S. 310.
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nur seiner eigenen Werke, sondern auch der noch trockeneren, die zur Widerlegung der seinen geschrieben wurden, hindurchzuackem" [I, 549]. Es ist klar, daß er einen Ekel an dieser Literatur hatte, die er dann auch, wie er sagte, nicht einmal in einer Fußnote aufführen will. Daher hat James auch eine Auseinandersetzung mit der Theorie Müllers bewußt vermieden. Gekannt hat er diese Theorie bestimmt 41 . Der Name J. Müller kommt laut Index nur zweimal in den Principles vor42, aber in keinem der beiden Fälle im Zusammenhang mit der Theorie der spezifischen Sinnesenergien. Von den vierzehn Schülern Müllers, die von Rothschuh aufgeführt werden, zitiert James nur drei43. In einer kurzen Darlegung der „specific energies" wird Müller nicht genannt44. Wohl schenkt James der Projektionstheorie der räumlichen Empfindungen Aufmerksamkeit. Schon seit Berkeley sich mit dem Sehen beschäftigte, fand der Gedanke Beifall, daß mit dem Auge nicht direkt dreidimensionaler Raum wahrgenommen werden kann, weil die Netzhaut nur zwei Dimensionen hat. Wenn wir trotzdem Raum „sehen", muß das dadurch kommen, daß die flachen optischen Eindrücke mit Tasteindrücken assoziiert werden. Das „optische" Bild des Raumes ist dann seinem Wesen nach eine nach außen projizierte Vorstellung. In Müllers Theorie erhält diese Theorie einen festeren Boden. Optische Wahrnehmung ist für ihn das Bewußtwerden des Reizzustandes der (zweidimensionalen) Netzhaut45, wie im allgemeinen eine Empfindung nichts anderes ist als das Bewußtwerden eines Reizzustandes der sensiblen Organe. Damit ist die Empfindung innerhalb des Körpers lokalisiert. Und so sagt auch sein Lehrsatz I X : Es liegt nicht in der Art der Nerven selbst, den Inhalt ihrer Empfindungen nach außen zu projizieren: die durch Erfahrung bestätigte Vorstellung, die unsere Empfindungen begleitet, ist die Ursache dieser Projektion46. Seitdem ist die Projektionslehre aufs engste mit der Theorie Müllers verbunden. 4 1 Vgl. Principles, II, 33 Anm. sein Zitat aus Helmholtz, Tonempfindungen I: „Sensations are what we call the impression on our senses, in so far as they come to our consciousness as states of our own body; especially of our nervous apparatus." 4 2 Nämlich in Teil II, S. 68 und 640. Die erste Stelle wird im Index fälschlicherweise als I, 68 aufgeführt. 4 5 Κ. E. Rothsdiuh, Geschichte der Physiologie, S. 124: Bidder, Bischoff, du Bois Reymond, E. Brücke, J. L. R. Claparede, E. Haeckel, Helmholtz, Henle, Reichert, Remark, Schultze, Schwann, von Vierordt, Virchow. Von diesen wird laut Index Helmholtz 25mal zitiert, Henle und Vierordt je 3mal. Außer dem Zitat von Helmholtz in Anm. 41 steht nur ein von Vierordt zitierter Abschnitt in entferntem Zusammenhang mit dem wesentlichen Inhalt von Müllers Theorie (Principles, II, 154). 4 4 W . James, Psychologie, S. 10 f. 45 J. Müller, Zur vergleichenden Physiologie des Gesichtssinnes des Mensdien und der Thiere, Leipzig, 1826, S. 55.
James' Gedanken über Empfinden und Wahrnehmen
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Nicht so für James. Auf den fünf Seiten, die er der Projektionstheorie widmet, finden wir keinen Hinweis auf Müller [II, 31—35]. Aber wir wollen die Frage nach James' persönlicher Vorliebe und persönlichem Widerwillen nun ruhen lassen und den Inhalt seiner Kritik betrachten. Es beruht auf einer Verwirrung, sagt James, zu meinen, daß die Empfindung innerhalb des Körpers lokalisiert ist. Wer so denkt, verwechselt den physischen Zustand sensibler Organe mit einer psychischen Gegebenheit. Aber vom Bewußtsein kann nicht im eigentlichen Sinne gesagt werden, daß es einen räumlichen Ort hat. Es hat dynamische Beziehungen zum Gehirn, aber kognitive Relationen mit allen möglichen Dingen [11,34], Kognitiv bin ich im Orion anwesend jedesmal, wenn ich dieses Sternbild sehe, aber dynamisch bin ich dort nicht anwesend, und ich bemerke da also keine Veränderungen [1,214]. „Es duldet keinen Zweifel, daß ein gerade in Boston geborenes Kind, das eine Empfindung der Kerzenflamme, die das Schlafzimmer erleuchtet, oder der Stecknadel am Windeltuch hat, keines dieser Objekte als auf 72° westlicher Länge und 41° nördlicher Breite gelegen erfährt. Es erlebt sie nicht als im zweiten Stockwerk des Hauses befindlich. Es erfährt sie sogar nicht auf die eine oder andere Art als links oder rechts von den anderen Empfindungen, die es vielleicht zur gleichen Zeit von anderen Objekten im Zimmer hat. Kurz und gut, es weiß nichts über ihre räumlichen Relationen mit einem anderen Ding auf der Welt. Die Flamme füllt ihren eigenen Platz aus, der Schmerz erfüllt seinen eigenen Platz; aber noch werden diese Plätze weder identifiziert mit, noch unterschieden von welch anderen Plätzen auch immer. Das stellt sich später ein. Denn die so zuerst sinnlich erkannten Plätze sind Elemente der Raumwelt des Kindes, die ihm das ganze Leben hindurch erhalten bleiben; und mit der Hilfe des Gedächtnisses und späterer Erfahrung lernt es eine beträchtliche Menge bezüglich jener Plätze, die es zuerst nicht kannte. Aber bis zum Ende bleiben gewisse Stellen dieser Welt für das Kind als die Stellen bestimmt, wo die Empfindungen waren; und seine einzig mögliche Antwort auf die Frage, wo etwas ist, wird sein: „dort" zu sagen und die eine oder andere Empfindung zu nennen, wie die erste, die den Flecken angeben wird. Raum bedeutet nur das Aggregat all unserer möglichen Empfindungen. Es gibt keinen Duplikat-Raum, der aliunde erkannt oder durch ein „epoch-making achievement"47 hervorgebracht wird und in den unsere Empfindungen, ursprünglich unräumlich, ausgesetzt werden. Sie führen Raum und alle seine Plätze unserem Verstand zu und leiten ihn nicht daraus ab. Müller, Handbuch, etc., S. 268. James wiederholt hier den Ausdruck, den er von Ladd zitierte aus dessen Physiological psychology. Siehe das Zitat in Principles, II, S. 31. 48
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Linschoten
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„Mit seinem Körper meint das Kind dann später ganz einfach jene Stelle, wo der Schmerz der Nadel und viele andere artgleiche Empfindungen erlebt wurden oder werden. Es ist ebenso richtig, zu sagen, daß es den Schmerz in seinem Körper lokalisiert, wie zu sagen, daß es seinen Körper in diesem Schmerz lokalisiert. Beides ist wahr: der Schmerz ist ein Teil von dem, was es mit dem Wort Körper meint. Ebenso meint das Kind mit Außenwelt nichts anderes als die Stelle, wo die Flamme der Kerze und viele andere artgleiche Empfindungen erlebt werden. Es lokalisiert die Kerze um nichts mehr in der Außenwelt, als es die Außenwelt in der Kerze lokalisiert. Nochmals, es tut beides; denn die Kerze ist ein Teil von dem, was es mit .Außenwelt' meint" [II, 34 f.]. Körper, Raum und Empfindung hält James für unlöslich verbunden. Empfindung ist die (primitive) Weise, in der der Körper und der Raum erlebt werden. Für James ist die Empfindung keine Repräsentation, sondern Präsentation, ein ursprüngliches Erleben der Dinge und Qualitäten in ihrer Bedeutung. Erfahrung verbindet die Empfindungen zu größeren Ganzheiten, aber das darf nicht im Sinne der Assoziationstheorie verstanden werden. Denn schon die erste Empfindung, die ein Kind hat, ist für das Kind das Universum [II, 8]. Und obgleich unsere Empfindungen sich selbst nicht analysieren können und nicht über sich selbst reden können, verhält es sich doch so, daß sie bei ihrem ersten Auftreten, so gut wie bei jedem folgenden Mal, einen Begriff von all den Qualitäten geben, die wir letztlich daraus abstrahieren und begrifflich festlegen in Worten wie Objektivität, Exteriorität und Ausdehnung. Subjektivität und Innerlichkeit sind Begriffe, die zweifellos zuletzt durch den menschlichen Geist erworben werden [11,43]. In der Empfindung erscheint die Wirklichkeit, die Wirklichkeit selbst, kein Duplikat. Und so verwirft James radikal die Theorie der repräsentativen Erkenntnis, die für den englischen Empirismus grundlegend war [1,196 f.]. Hier haben wir eine der konsistenten, alles durchziehenden Konzeptionen, die sein Denken bleibend beherrscht haben. Wir werden erst später in der Lage sein, das volle Gewicht der Auffassung James' auf ihren Wert hin zu schätzen. Aber auch James' Empfindungsbegriff betrifft eine Abstraktion, eine Erscheinung, die streng genommen höchstens einmal stattfinden kann. Danach ist die Rede von Wahrnehmung. Stellen wir das Inventar auf. Wir unterscheiden im Empfindungsbegriff folgende Momente. Eine Empfindung ist 1. ein durch Abstraktion gewonnenes Moment einer Wahrnehmung und zwar 2. die elementare Bewußtseinserscheinung, gekoppelt an und variierend mit einer elementaren Einwirkung auf ein Sinnesorgan; 3. diese Erscheinung wird als ein Bewußtseinsinhalt verstanden, der 4. als Baustein in der Konstruktion von zusam-
James' Gedanken über Empfinden und Wahrnehmen
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mengesetzten Bewußtseinsinhalten fungiert, und 5. der in seiner elementaren Struktur die genetisch älteste Bewußtseinserscheinung ist. James verwirft ausdrücklich die Momente 3. und 4. und damit die assoziationistisch-elementaristische Betrachtungsweise. Die übrigen Momente nimmt er an, wenn auch nicht in der oben definierten Bedeutimg: 1. eine reine Empfindung ist eine Abstraktion [11,3]; 2. die Empfindung ist die unmittelbar resultierende Bewußtseinserscheinung, wenn nervöse Impulse aus einem Sinnesorgan ins Gehirn eintreten48, und 5. „sensations are first things in the way of consciousness" [II, 6]. Nehmen wir eine nähere Erklärung der Unterschiede vor. Empfindung und Wahrnehmung sind Namen für verschiedenartige kognitive Funktionen, nicht für verschiedene Arten psychischer Tatbestände. Beide Funktionen verschaffen Erkenntnis der Wirklichkeit. Je mehr dieses „Erkennen" dem Erlebnis von Qualitäten wie „heiß", „rot", „Schmerz", die ohne Relation zu anderen Dingen erfahren werden, näherkommt, desto mehr nähert sich das Erleben dem „reinen Empfinden". Je mehr Relationen am Objekt erfahren werden, je nachdem es mehr klassifiziert, lokalisiert, gemessen und verglichen wird, desto mehr nähert sich das Erleben dem, was wir Wahrnehmen nennen [II, 1]. Analytisch gesprochen ist der Unterschied zwischen Empfinden und Wahrnehmen bei James ausschließlich die extreme Unkompliziertheit der Empfindung. Woher kommt dieser Unterschied? Mit dem Unterschied zwischen Einfachheit und Kompliziertheit korreliert die Menge Gehirnzellen, die bei einem bestimmten Erlebnis angesprochen werden. Empfinden und Wahrnehmen einerseits unterscheiden sich vom Denken (im engeren Sinne) andererseits darin, daß im ersten Falle nervöse Impulse, die aus den Sinnesorganen kommen, eine Rolle im Gehirnprozeß spielen. Bei der Wahrnehmung wecken jene Nervenströme große Mengen assoziativer Prozesse, durch die die „Empfindung", das ist das Objekt, das erfahren wird, in allen möglichen Relationen wahrgenommen wird. Diese reproduktiven Prozesse in der Hirnrinde, Erinnerungsspuren, die durch aktuelle Empfindungen geweckt werden, unterscheiden die Wahrnehmung von der Empfindung. Der deskriptive Unterschied zwischen Empfindung und Wahrnehmung findet seinen Grund in der Abstufung der komplizierten Gehirnprozesse. Für jemand, der wie James stark von der Physiologie ausgeht, ist die Theorie von Johannes Müller nun eine logische Konsequenz. James entgeht dem nur durch die Erklärung, daß er im betreffenden Kapitel bloß allgemeine Fragen hinsichtlich des Empfindens behandeln wird und die 48
5·
James, Psychologie, S. 12.
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Der Strom des Erlebens und die Theorie der Empfindung
besonderen, individuellen Empfindungen anderen einschlägigen Werken überläßt. Reden wir Erwaclisenen über unsere „Empfindungen", dann meinen wir entweder bestimmte Objekte, nämlich einfache Qualitäten — oder Attribute der Dinge wie hart, heiß, schmerzhaft oder die Erlebnisse, in denen die Bekanntheit mit diesen Objekten nicht oder kaum mit einem Wissen hinsichtlich ihrer Relationen mit anderen Dingen verbunden ist Da wir aber nur über Dinge denken oder reden, die wir schon immer kennen, sind wir wohl gezwungen, ein Erlebnis zu postulieren, durch das wir zuerst einen Begriff von den nackten, unmittelbaren Gegebenheiten bekamen, mit deren Hilfe wir verschiedenartige Dinge unterscheiden können. Dieses Erlebnis ist das Empfinden. Und diese Empfindungen sind die ersten Erlebnisweisen. Eine reine Empfindung kann nur in den ersten Lebenstagen stattfinden, weil das Neugeborene (das unbeschriebene Blatt) noch nicht über Möglichkeiten zu assoziativer Relation in der Hirnrinde verfügt. Das Kind kann nichts anderes als Empfindungen haben, denn es sind keine Spuren vorhanden, mit denen die Empfindungen zusammenarbeiten könnten. Es besteht nichts, aus dem eine Perzeption, eine Wahrnehmung entstehen könnte. Aber es können dann auch nur in den ersten Lebenstagen „reine" Empfindungen auftreten. Und dann sicherlich nicht als Inhalte des Bewußtseins. Empfindung ist ein Erleben, nämlich das primitive Erleben der Welt und der Dinge selbst. Unser frühestes Erlebnis ist fast ausschließlich ein Erleben eines Dies und eines Das [II, 3], die freilich voller Bedeutung sind. Die erste Empfindung, die ein Kind hat, ist das Universum für das Kind. Man kann sogar sagen, daß seine Welt ganz und gar aus diesem ersten Keim entsteht durch Erweiterung und Differenzierung dieses Kernerlebens, das implizit alles umschließt, was das Kind weiterhin jemals erfahren kann. Diskrimination, Verbalisierung und Abstraktion werden bald selbst alle „Kategorien des Verstandes" ausräumen: Objektivität, Einheit, Substantialität, Kausalität, sie liegen alle in der ersten Empfindung beschlossen und begriffen [II, 8]. Das Empfinden ist bereits Welterleben, es ist die Wirklichkeit selbst, so wie sie anfängt zu erscheinen. Empfinden ist eine Weise, in der ein Ich die Welt erkennt. Empfindung ist nicht ein (quasi-)selbständiges Mittelding zwischen Ich und Welt. Gehen wir zu weit, wenn wir voraussetzen, daß James schon im Empfinden einen Erkenntnisa/ci sieht? Sicher ist, daß er diesen Ausdrude nie im Sinne einer Aktpsychologie gebraucht49. Aber schließt sein Standpunkt das nicht ein? Der Psychologe, sagt er, ist zu4 9 Vgl. Principles, I, 689: of .images reproduced' and .claiming to represent', and ,put together by a unifying actus', I have been silent, because sudi expressions . . . signify nothing."
Die Integrität des Erlebnisstromes
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tiefst ein Dualist: er setzt einen „mind knowing and a thing known" voraus, und sie sind beide nicht voneinander abzuleiten [1,218]. Erkennen ist für ihn eine äußerste Relation, die anerkannt werden muß, erklärt oder nicht erklärt, gerade als Unterschied oder Übereinkunft, die niemand zu erklären versucht [1,216], Dieses Erkennen nun, sei es wahrnehmend, sei es denkend, ist für James keineswegs ein passives Beeindrudctwerden. Für ihn ist der Geist kein Blatt, das automatisch beschrieben wird, kein lichtempfindlicher Film, der fotomechanisch Eindrücke festlegt. Der Erlebnisstrom ist eine Sukzession von Erlebnissen, zu denen auch das Empfinden als eine Erlebnisweise, als ein „way of consciousness" gehört. In diesem Gedankengang ist der Aktcharakter wenigstens implizit enthalten. Für die Tatsache, daß James nicht zu einer expliziten Akttheorie gelangt, gibt es wenigstens einen guten Grund: seine Faszination über das, was sich im Gehirn abspielt. Ein Ding, das wahrgenommen wird, muß das eine oder andere Signal abgeben, welches das Gehirn erreicht und dort etwas tut [1,218]. Warum denn sollten wir nicht alle Rätsel, mit denen uns die Psychologie konfrontiert, zu einem großen Mysterium zusammentragen, zu dem Mysterium, daß Gehirnprozesse zum Erkennen Anlaß geben [1,689] ? Aber eine „Aktivität" der Hirnrinde ist nun mal eine Passivität im Hinblick auf die Person, etwas, das geschieht, das da ist. Empfindungen können dann in letzter Instanz für James keine Akte sein, weil sie ihre Grundlage in Körperprozessen finden. Der deskriptive Ausgangspunkt, der bei James so reiche Frucht trägt, wird immer wieder durch seine Himmythologie überdeckt. 12. DIE INTEGRITÄT DES ERLEBNISSTROMES Das Erleben hat strömenden Charakter und Einheitscharakter. Es kann nicht die Rede davon sein, daß man sich das Bewußtsein wie ein Aggregat von „little rounded and finished off . . . separate entities" vorstellen kann [1,499]. Es besitzt Integrität nach Inhalt, Form und Dauer. So lautet die Schlußfolgerung, zu der James vom psychologischen Standpunkt aus gelangt. Aber wenn man meint, daß es auf der physiologischen Ebene eine Diskontinuität gibt, daß es getrennte, voneinander isolierte Empfindungsprozesse gibt, dann sehen wir ihn dieses ebenso bestreiten. Auch der Gehimprozeß ist kein in sich selbst abgeschlossener, identisch wiederholbarer Prozeß, sondern die sich unaufhörlich verändernde Resultante ankommender Reize. Diese Reize kann man unterscheiden, wie man auch im Erleben Dinge, Qualitäten und Geschehnisse unterscheiden kann. Aber was man unterscheiden kann, ist deshalb noch nicht ursprünglich geschieden. Im Gegenteil, um etwas von etwas anderem unterscheiden zu können, müssen beide
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Dinge in einer Erlebniseinheit enthalten sein. Es ist daher nicht angängig, wenn ζ. B. Stumpf an James tadelt, daß nach ihm Gesichtswahrnehmungen ursprünglich vollständig einfach, ungegliedert, undifferenziert sein müßten80. Ihre Einheit liegt für James nicht darin, daß Farben und Formen, Räume und Abstände völlig ineinander zerfließen sollen. Ihre Einheit wird als Erlebnisintegrität festgelegt. Es ist eine Wahrnehmung, in der ich eine unbestimmte Anzahl von Dingen zugleich sehe. Und wenn James auch dazu neigte, die Einfachheit des Erlebnisses auf den Inhalt auszudehnen, dann hat er das dennoch späterhin, lange bevor Stumpf seine Studie veröffentlichte, korrigiert: Erlebnisfelder können aus einfacheren „Teilen" aufgebaut sein, obgleich das nicht der allgemeine Fall ist81. Erlebnisfelder sind dem Inhalt nach selbst immer komplex62. Dennoch sind Erlebnisse integrale Erscheinungen, wenn audi keine stabilen Integrale. Und James konstatiert mit Zufriedenheit, daß audi Wundt zu dieser Auffassung gelangt, wenn er ζ. B. sagt, daß er unter einer Vorstellung etwas versteht, das in nicht geringerem Maße wechselnd und vergänglich ist als ein Gefühl oder ein Willensakt, und daß deshalb die klassische Assoziationslehre nicht länger haltbar ist53. James sieht dann bequemlichkeitshalber über das hinweg, was Wundt hierauf folgen läßt, daß nämlich die Assoziationstheorie „durch die Annahme von Verbindungsprozessen zwischen den Empfindungselementen ersetzt werden müsse" 5 4 ... d. h.: durch eine Assoziationstheorie! Diese Lehre hat nun mal eine größere Lebenskraft, als James dachte. Im letzten konnte er sich selbst nicht davon frei machen. Es bleibt freilich sein Verdienst, unerschütterlich verteidigt zu haben, daß die Beschreibung des Erlebens nicht auf diese Theorie rekurrieren kann und darf. Wie kommt man denn zu dem Gedanken, daß das Bewußtsein aus gesonderten Elementen aufgebaut ist? Durch einen naiven Sprachgebrauch, sagt James, der Erlebnisse und den Namen des erlebten Dinges als Dinge durchgehen läßt. Es liegt also auf der Hand, die Sprache näher ins Auge zu fassen, um durch die Diskontinuität der Uber-setzungen hindurch, die Integrität und Kontinuität des Erlebens wiederzufinden. Es genügt nicht, die Schuld auf die Sprache abzuwälzen. Man muß sich vielmehr die Frage stellen, warum die Sprache das integre Erleben so leicht und so selbstverständlich als Diskontinuität versteht.
50 81
e2 53 54
C. Stumpf, Erscheinungen und psychische Funktionen, Berlin, 1907, S. 16 f.
W. James, The knowing of things together; Psychol Rev., 1895 (2), S. 119 f.
Talks to teachers, S. 17. Talks to teachers, S. 20 f.
W. Wundt, Uber psychische Causalität und das Princip des psychologischen
Parallesismus; Philos. Stud., (Wundt) 1894 (10), S. 123.
IV. S P R A C H E , E R L E B E N ,
WIRKLICHKEIT
1. DAS PROBLEM Mehr als einmal haben wir gesehen, daß die Funktion der Sprache im psychologischen Denken für James einen wichtigen Gegenstand bildete. Einerseits erkannte er eine Verführung durch die Sprache, eine drohende Verführung, die darin besteht, daß der Psychologe die in Worten enthaltenen psychischen Wirklichkeiten so wie sie verbalisiert sind für die Wirklichkeiten selbst hält. Andererseits sahen wir, daß James die Sprache als ein schöpferisches Moment in der Konstitution der Wirklichkeit selbst betrachtet, der Wirklichkeit im allgemeinen. So entsteht eine eigenartige Problematik. Die wortlose Wirklichkeit zu Worte kommen lassen, indem man sie in Worte faßt — auf das Risiko hin, sie so zu „verfälschen" — ist eine Sache. Sodann die Bemerkung zu machen, daß Verbalisierung die Wirklichkeit selbst bereichert und ausdehnt, ja, daß diese — buchstäblich — erst durch die Verbalisierung benannt und als Wirklichkeit erkannt werden kann, ist ein zweites. Denn das macht die Frage nach der „Verfälschung" durch die Verbalisierung besonders dringlich. Aber es gibt noch ein drittes. Verbalisierung ist dem Menschen eigen und hängt mit seinem Erleben, mit seiner erlebten Wirklichkeit zusammen. Menschliche Wirklichkeit ist nicht nur eine verbalisierte Wirklichkeit, es ist eine Wirklichkeit von „sprechenden" und bedeutenden Dingen, es ist eine Welt durch den bedeutungsvollen Zusammenhang. James behandelt diese Fragen nicht systematisch, sondern fragmentarisch. Wir werden versuchen, sie in einen Zusammenhang zu bringen: Wie sind Sprache, Erleben und Wirklichkeit für James aufeinander zugeordnet? 2. DIE VERFÜHRUNG DER SPRACHE ALS SEMANTISCHES PROBLEM Es ist doch eine natürliche Annahme, daß ein Ding, durch ein Wort angedeutet, auch durch eine einzige Bewußtseinserscheinung erkannt wird — so sagt James in Frageform [1,236]. Aber er fragt es, um „nein" darauf antworten zu können. Hier bemerken wir den irreführenden Einfluß der Sprache. Wenn wir unsere Bewußtseinserscheinungen beschreiben, dann tun wir das in der Regel dadurch, daß wir die Objekte nennen, auf die sich unsere Bewußtseinserscheinungen beziehen. Und wir nehmen dabei zu Unrecht an, daß die Bewußtseinserscheinung so ist, wie das Objekt ist
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Sprache, Erleben, Wirklichkeit
[1,194f.], Ist das Ding rund, dann muß dessen Wahrnehmung rund sein. Ist das Ding teilbar, dann muß die Wahrnehmung des Dinges teilbar sein. Das kommt daher, weil wir der Verführung der Sprache anheimfallen. Wir entwickeln dann eine Mythologie, die ihren Grund in der Organisation, in der Struktur der Spradie findet. Die Sprache ist nicht von und auch nicht für Psychologen „gemacht", sondern von und für Menschen, die in der Regel nur ein Interesse an den Dingen haben, die sie umgeben [1,236]. Und sie haben nicht nur diese praktische Einstellung, sie vergaßen auch die ursprüngliche schöpferische Kraft der Sprache. Sprachklänge und Schriftzeichen werden in der Regel vom Hörer und Leser in uneigentlicher Weise verstanden, d.h.: sie werden passiv verstanden, weil sie uns in einem Umkreis der Vertrautheit zugesprochen werden. Die Bedeutung wird als eine selbstverständliche, vorgegebene und „natürliche" Bedeutung aufgefaßt. Die ursprüngliche Leistung, die in Wort und Zeichen beschlossen liegt, wird dann nicht aktiv wiedervollzogen. Sie hat sich niedergeschlagen, ist zu einem Sediment geworden. So lehrt Husserl, und er läßt darauf folgen: „Es ist leicht zu bemerken, daß im menschlichen Leben das ursprünglich anschauliche Erkennen und Denken und anschauungsgebundene Aussagen, das in Aktivitäten auf dem Grunde der sinnlichen Erfahrung seine ursprünglich evidenten Gebilde schafft, sehr schnell und in wachsendem Maße der Verführung der Spradie verfällt, eben der Verführung zu einem teils mit ,sedimentierten' Sinnen operierenden, teils von Assoziationen bestimmten Reden und Lesen anheimfällt"1. Uber eben dieses doppelte Problem handelt James. Unsere „Bewußtseinserscheinungen", dasjenige, was sich „in unserem Innern" befindet, ist kein Ding. Es hat keine Dingstruktur. Die Bewußtseinserscheinungen gehören zu einer Person; sie sind, in fortwährender Veränderung, in einen kontinuierlichen Strom aufgenommen. Sie beziehen sich auf Dinge und sind gerade deshalb keine Dinge. Zwischen diesem und jenem Wirklichkeitsding bestehen zahllose äußerliche Relationen. Zwischen einem Erlebnis und einem Ding besteht eine innere Relation, nämlich jene, daß das Ding durch das Erlebnis erkannt wird. James antizipiert hier den Begriff der intentionalen Relation. Es mag stimmen, daß sich James, der diesen Begriff jedenfalls in seiner ersten Form gekannt hat, so wie er bei Brentano vorkommt2, unfreundlich darüber geäußert hat 3 ; selbst dann ist 1 E. Husserl, Die Frage nach dem Ursprung der Geometrie als intentionalhistorisdies Problem; Rev. int. Phil. 1939 (1), S. 212 f. 2 Vgl. Brentano, Psychologie, S. 115 ff. 3 W. James, the knowing of things together; Psychol. Rev. 1895 (2), vor allem S. 108: „the scholastic philosophy, which is only common sense grown pedantic, would explain it as a peculiar kind of existence, called intentional inexistence .. In dem Sonderdrude dieses Artikels, den James Husserl sdiidcte und der gegen-
Die Verführung der Sprache als semantisches Problem
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es keineswegs unvernünftig, anzunehmen, daß er im Grunde selbst diesen Begriff suchte. Wir kommen noch darauf zurück4. Für James ist das Erlebnis, die „Bewußtseinserscheinung", von vollständig anderer Art als die Dinge. Von anderer Art, aber nicht auf die Weise Descartes'. Die Seele hält er für einen überflüssigen Begriff, jedenfalls für den Psychologen [1,350]. Und über den „actus purus of Thought, Intellect, or Reason, all written with capitals and considered to mean something unutterably superior to any fact of sensibility whatever", kann er sidi nur ironisch äußern [1,245]. Wir lassen es dabei bewenden, diese vier Dinge zu konstatieren: James ist der Ansicht, daß das Erlebnis anders ist als die Dinge; das Erlebnis ist freilich kein Modus einer geistigen Substanz; wenn wir das Erlebnis durch die Bennenung der erlebten Dinge beschreiben, dann verfälschen wir es; dennoch verführt uns die Sprache dazu, das zu tun. Die ganzen Principles hindurch ist das gegenseitige Verhältnis von Erlebnis, Wort und Ding ein zentrales Problem. Mit Recht. James legt den Finger auf ein Grundproblem der Psychologie. Wir können vom semantischen Grundproblem sprechen. Semantik ist die Lehre der Beziehungen zwischen Zeichen und Bezeichnetem; in unserem Falle über die Beziehung zwischen Wort und Ding. Es ist klar, daß man für ein beliebiges Ding jedes beliebige Wort gebrauchen kann, wenn nur dieser Gebrauch in einer Definition festgelegt wird und sich das Wort in einem syntaktischen System handhaben läßt. Eine Wortreihe, die von semantischen und syntaktischen Regeln beherrscht wird, nennen wir eine Sprache. Wir benötigen nicht nur im täglichen Leben eine Sprache, sondern auch in den Wissenschaften, und wir müssen „wissenschaftliche Sprache", obgleich sie materialiter dieselbe wie die alltägliche sein kann, formaliter wohl von ihr unterscheiden. Ζ. B. der Satz: „Es herrschte eine große Spannung", bedeutet in diesen beiden Sprachen etwas ganz anderes. In einer wissenschaftlichen Sprache wird eine strenge Semantik gefordert, strenger als in der Alltagssprache. Die Bedeutung eines Wortes muß eindeutig festgelegt sein und in möglichst einfacher Weise erklärbar sein. Das letzte ist vor allem dann leicht, wenn man das Wort mit dem Zeigefinger „erklären" kann: (das ist ein) Stuhl, (das ist) rund, (das ist) gehen, (das ist ein) Voltmeter. Die semantische Relation ist hier durch ein Hinweisen deutlich zu machen. Daß man damit nicht auskommt, ist klar. Meistens reicht es nun einmal nicht aus, zu wissen, daß das ein Voltmeter ist, wärtig im Husserl-Archiv in Löwen ist, sind diese Sätze verständlicherweise unterstrichen. 4 S. u., S. 113, 136 und 141.
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sondern man wird auch darlegen können müssen, was es ist, wie es arbeitet usw. Wir geben dann eine Umschreibung, d.h.: um eine Wortbedeutung zu definieren, gebraudien wir andere Worte, ζ. B. „ein Voltmeter ist ein Meßapparat". Das hat nur einen Sinn, wenn die Bedeutung eines „Meßapparates" klar ist, ζ. B.: „Apparat, um eine Größe zu bestimmen." Und diese Umschreibung stellt wieder neue Forderungen. Sobald man an eine Umschreibung geht, verwendet man eine Syntax von Ausdrücken, die selbst wieder einer Definition bedürfen. Es ist nun das Ideal einer wissenschaftlichen Sprache, daß alle Umschreibungen so viel wie nur möglich auf Hinweise zurückgeführt werden können. Damit sagt man nichts anderes, als daß eine Wissenschaft ihre Sprache auf hinweisbare Erscheinungen gründen will, auf Erscheinungen, die — buchstäblich — keiner Erklärung bedürfen, auf Erscheinungen, die so „auf der Hand" liegen, daß man tatsächlich mit Hinweisen auskommt; auf wahrnehmbare Erscheinungen also, die wir sehen, hören, berühren, schmecken oder riechen können. Zur vorläufigen Orientierung, um die es uns hier geht, reicht das aus. Es ist ja wohl klar, daß die Psychologie, insofern sie sich mit Erlebnissen beschäftigt, in einer beständigen Verlegenheit sein muß. Das einzige, was sie durch Hinweise definieren kann, sind ja gerade die „Inhalte" des Erlebens und dann noch insbesondere die des Wahrnehmens. So liegt also eine Inhaltspsychologie auf der Hand, während eine Aktpsychologie oder eine Erlebnispsychologie dagegen mit großen Schwierigkeiten zu kämpfen hat. Die „Dinge", über die sie handelt, sind ja nicht ohne weiteres aufzuweisen — weil es keine Dinge, Beschaffenheiten oder Eigenschaften der Dinge sind. Seele, Geist, Verstand, Fühlen, Freude, Erlebnis, sie werden erst dann verbal verwendbar, wenn sie (wörtlich) übersetzt sind. Die Erscheinungen bekommen hier erst durch die Umschreibung mit Worten eine gewisse Konsistenz, eine Abgerundetheit, die sie in ihrer natürlichen Form nicht besitzen. Die Psychologie spricht über Dinge, die selbst schon verbalisierte Dinge sind. Sie ist damit eine Sprache zweiter Ordnung und sieht sich immer wieder vor die Aufgabe gestellt, das verbalisierte Erlebnis, das sie untersuchen will, zunächst auf das direkte Erlebnis zurückzuführen. 3. PSYCHOLOGIE ALS METASPRACHE Das Sprechen über ein syntaktisches oder semantisches System impliziert den Gebrauch einer Sprache „höherer Ordnung", einer Metasprache. „Der Mann geht nach Hause", ist ein Satz im Deutschen, einer Sprache erster Ordnung. Der vorige Satz selbst, in dem etwas über „der Mann geht nach Hause" gesagt wird, ist ein Satz in einer Metasprache. So ist die Sprache einer Grammatik, die uns die Regeln des Deutschen lehrt, eine Metasprache. Dabei bedenken wir, daß eine Sprache nicht ein für allemal
Sprache als Benennung des Faktischen
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eine Metaspradie ist, sondern nur als solche fungiert, wenn wir über eine (andere) Sprache reden. Also: eine Metasprache ist eine Sprache, deren Ausdrücke durch semantische Regeln mit „Objekten" verbunden sind, die selbst wieder Ausdrücke in einer anderen Sprache sind und demnach durch ihre eigenen semantischen Regeln an ihre eigenen Objekte gebunden sind. Wir können dann das Problem, das James aufdeckt, in diesen Ausdrücken formulieren. Psychologie spricht über Erscheinungen und ist insofern eine (wissenschaftliche) Sprache. Die Erscheinungen, über die sie spricht, sind jedoch selbst schon in der Sprache enthaltene Erscheinungen, die so, wie sie in der Sprache enthalten sind, keineswegs zu bestehen brauchen. Die These, die James verteidigt, ist, daß die psychischen Erscheinungen tatsächlich nicht so bestehen, wie sie in der Sprache genannt werden, weil sich die Sprache nach den Dingen richtet. Dann läuft der Psychologe Gefahr, über die Erscheinungen, um die es ihm gehen muß, hinwegzusehen und über eine rein fiktive Wirklichkeit zu sprechen. So geschah es mit den Vorstellungen und anderen Inhalten in der Assoziationspsychologie. Und man könnte es im Hinblick auf moderne, stark substantivierende Richtungen wie die Psychoanalyse, wiederholen. Dort werden verbale Konstruktionen gehandhabt, die die psychische Wirklichkeit in ein Modell umformen, wodurch das Original verfälscht wird. Ein Modell, das mit psychischen „Dingen" arbeitet und mit „Kräften", die sie aufeinander ausüben. Es wäre gewiß der Mühe wert, einmal zu untersuchen, inwieweit verschiedene psychologische Systeme in ihren Modellen aufgingen und nur noch die Möglichkeiten ihres Modells studieren; Möglichkeiten, die sie selbst hineingelegt haben und die nicht mehr in direktem Zusammenhang mit den ursprünglichen Erscheinungen stehen. Aber es handelt sich jetzt nicht darum, die Unzulänglichkeit bestimmter psychologischer Systeme zu untersuchen. James suggeriert ja, viel allgemeiner, daß Psychologie mit Notwendigkeit eine Metasprache ist, weil die Erscheinungen des Erlebnisstromes (jedenfalls zu einem gewissen Teil) nicht verbalisierbar sind und trotzdem erst verbalisiert werden, bevor sie im weiteren über die Erscheinungen der zweiten Ordnung spricht. Damit wird eine Psychologie, die vom direkten Erlebnis ausgehen will, schon sofort in ihren Grundlagen angetastet. Es ist ja nicht nur die Frage, ob bestimmte Erscheinungen falsch formuliert wurden, sondern auch, ob sie überhaupt formulierbar sind. 4. SPRACHE ALS BENENNUNG DES FAKTISCHEN Aber wenn die Erlebnisse nicht oder nicht ganz verbalisierbar sind, so sind es für James die Dinge offenbar wohl. Die Dinge darf ich benennen. Die Dinge sind so, wie sie benannt werden, diskrete Einheiten mit einem
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abgeschlossenen Gepräge. Sie rechtfertigen auch die Sprache. Mehr als das: sie verweisen uns auf den Ursprung der Sprache. Hier denkt James ziemlich positivistisch. So sieht es jedenfalls aus. Beginnen wir einmal mit der Nachforschung, was von einer positivistischen Einstellung aus über Ursprung und Funktion der Sprache für „selbstverständlich" gehalten wird. Es gibt eine Welt, die Welt, in der wir uns aufhalten, die wir sehen, in der wir uns als Individuum oder als Art entwickelten. Die Welt bestand schon lange, bevor es Menschen oder Tiere gab, bevor es überhaupt irgendein Leben auf diesem Planeten gab. Die Welt ist eine Faktizität. Zu dieser Faktizität gehört in der Geschichte auch die Sprache. Es gehen Tiere hervor, die Laute von sich geben, und schließlich erscheint der Mensch, der Laute von einer besonderen Art hervorbringt, nämlich Sprachlaute mit einer abstrakten Bedeutung. Aber auch das ist eine Faktizität. Wenn ein höher entwickeltes Wesen vom Mars käme, um hier die Menschen zu studieren, dann könnte es nach Hause schreiben, daß es eine Klasse von Wesen angetroffen habe, die Sprache verwenden. Die Sprache ist also mit dem Menschen gekommen. Das Tier, das schon vor dem Menschen da war, reagiert auch auf Bedeutungen. Wir sehen ja, daß bestimmte Geschehnisse Veränderungen im Verhalten hervorrufen. Wenn ein Küken Futter suchend herumläuft, und es erscheint über dem Tier ein Adler, dann dreht sich das Küken laut piepend um und flüchtet zur Mutter. Wie man dieses Verhalten auch erklären muß, eines ist sicher, daß nämlich ein bestimmtes, spezifisches Geschehen eine spezifische Veränderung im Verhalten zur Folge hat. Man darf auch sagen, daß das auslösende Geschehen im Leben des Kükens Bedeutung hat, Bedeutung für das Verhalten. Das Verhalten ist auf diese Bedeutungen abgestimmt. Ob das Tier nun selbst darüber Bescheid weiß, können wir außerhalb der Betrachtimg lassen. Einmal soweit gekommen, hören wir uns noch einen Abschnitt aus dem Werk von Pos an: „Als hochentwickelte Vertebraten anfingen, aufrecht zu gehen, hat sich der Kehlkopf zu einem Organ verfeinert, das den ausströmenden Atem zu Sprachklängen moduliert. Damit war eine neue Abzweigimg im Leben der Bedeutungen zustande gekommen: von nun an konnten Laute die Stelle dessen einnehmen, was bisher Objekt sprachloser Erinnerung, Reaktion und sprachlosen Wiedererkennens gewesen war. Es war viel gewonnen, wenngleich auch die Gefahren nicht gering waren. Viel später sollten Sprachkundige kommen, die die Sprache objektivierten und mit Zeichen festlegten. Und Philosophen sollten lehren, daß Sprache und Worte im Hinblick auf die Wirklichkeit primär sind, ja, daß sie die schweigende Welt ins Leben rufen. Sind das nicht offensichtlich die Illusionen
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jener, die sich durch die Meinung fangen lassen, daß es nur Bedeutung gäbe, wenn es eine Sprache gibt?"5 Die Sprache ist eine Faktizität und muß hinterher aus der Faktizität der Welt und der Faktizität eines Menschen verstanden werden, der Sprachlaute produziert und damit auch etwas anfängt. Er benutzt sie, um etwas handhabbar zu machen, ohne dabei seine Hände zu gebrauchen. Er tut das, indem er dem Sprachlaut eine Bedeutung unterlegt. Er gibt den Dingen einen Namen, so daß er auf eine neue Weise damit umgehen kann. In ihrer Abwesenheit kann er sie handhaben. Er kann nun seinen Sklaven oder seine Frau bitten: bring mir mal das Beil. Er braucht also nicht mehr darum zu gehen. Er kann die Dinge bezeichnen, darauf weisen, mit Hilfe von Zeichen. Hiermit entsteht also keine neue Dimension in der Welt. Alles bleibt beim alten, nur ist es jetzt möglich, dasjenige, was da ist, auf eine leichtere Weise zu handhaben. So ungefähr finden wir es auch wohl bei James. Das Wort ist auf das Ding bezogen und zwar deshalb, weil der Mensch, der dieses Wort gemacht hat, ein Interesse an den Dingen hat [II, 356 ff.]. James schließt sich darin Stuart Mill an, nach welchem Namen einen Glauben mit Bezug auf ein Ding ausdrücken. Wörter sind Namen der Dinge selbst6. In der Sprache wird das Faktische genannt. Das, was wir in der Welt antreffen oder hervorbringen, wird mit einem Namen versehen, so daß fortan der Name das Ding repräsentieren kann. 5. FAKTIZITÄT ALS ERLEBTE FAKTIZITÄT Aber wie sollte sich James hieran halten können? Ist doch die Faktizität, die einen Namen erhält, eine erlebte Faktizität. Das Gegebene wird als Gegebenes erfahren und verweist demnach doch auf das Erlebnis. Nein, mehr als das. Wir werden noch sehen, daß für James auch das Faktische Erlebnis ist. Zwar ein substantives Erlebnis, aber Erlebnis. Die Dinge, wie sie unmittelbar gegeben sind, sind nicht mit absolut vom Menschen unabhängigen Objekten zu verwechseln. Objektivität, Exteriorität und Ausdehnung nannte er Qualitäten der erlebten Dinge. James' Quasi-Positivismus weist uns wieder auf das Erleben zurück. Wenn Stuart Mill die Wörter Namen der Dinge selbst nennt, dann setzt er damit einen Punkt hinter eine Auffassung, die lange im Empirismus herrschte, die wir schon bei Hobbes finden, wenn dieser sagt: „Ein Name ist ein willkürlich gewähltes Wort, um als Kennzeichen zu dienen, durch das in unserem Geist eine Idee geweckt wird, die einer früher gehabten Idee 5
H. J. Pos, Betekenis als taalkundig en als wijsgerig fenomeen. In: (verspreide geschriften, dl. I). Assen, 1957, S. 185.
en cultuur 8
J. S. Mill, Logic, I, S. 24.
Tool, mens,
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ähnlich ist und anderen bei der Mitteilung ein Zeichen für die Idee sein kann, die der Sprecher vorher im Geist oder nicht im Geist hatte." 7 In diesem Gedankengang verweist das Wort also nicht auf ein Wort außerhalb von uns, sondern auf eine Bewußtseinserscheinung in uns, nicht auf das Objekt, sondern auf den „thought". Das Wort ist offensichtlich Ausdrude von etwas, das sich im Geist abspielt. So lesen wir auch bei Locke: „Wörter sind als sinnliche Zeichen für .ideas' gemeint, und die ,ideas' für die sie stehen, bilden ihre eigentliche und unmittelbare Bedeutung... Aber obgleich Wörter, so wie sie von Menschen gebraucht werden, eigentlich und unmittelbar nichts anderes bedeuten können als die .ideas' im Geist des Sprechers, geben sie ihnen in ihren Gedanken doch eine geheime Beziehung zu zwei anderen Dingen. Erstens setzen sie voraus, daß ihre Wörter auch Zeichen sind für die ,ideas' im Geist anderer Menschen, mit denen sie sich unterhalten. Zweitens, weil Mensdien es nicht gerne haben, wenn man denkt, daß sie nur über ihre eigenen Vorstellungen reden, sondern über Dinge, wie sie wirklich sind, deshalb gehen sie oft von der Voraussetzung aus, daß ihre Wörter auch für die Realität der Dinge stehen." 8 So müssen wir nun zwei Standpunkte miteinander versöhnen. Einerseits den von Pos und Stuart Mill, die als zwei Beispiele einer weitverzweigten Denkweise angeführt wurden: Wörter bezeichnen (wirkliche) Dinge; sie entnehmen den Dingen ihre Bedeutung. Andererseits den von Hobbes und Locke·. Wörter deuten Bewußtseinserscheinungen an; sie entnehmen dem Erlebnis ihre Bedeutimg. Aber das Erlebnis ist doch Erlebnis der Dinge? Ohne jeglichen Zweifel werden Dinge erlebt, aber nicht alles, was erlebt wird ist ein Ding im Sinne von Pos und Stuart MilU Bezieht man das Erlebnis in die Relation von Wort und Ding mit ein, dann muß man anerkennen, daß das eine Relation von Wörtern zu erlebten Dingen ist. Unsere Alltagssprache redet nicht von einer Wirklichkeit, die losgelöst und unabhängig von jeglicher menschlichen Schau ist, sondern von der bedeutungsvollen Welt-für-uns, von der erlebten Welt. Und sie ist erfüllt von menschlicher Subjektivität. Auch das ist die Meinung James'; Die Welt ist wirklich formbar, sie wartet darauf, daß wir die letzte Hand anlegen9. So stellt James selbst uns vor diese Ausdehnung der ursprünglichen Problematik. Wir müssen uns also die Frage vorlegen, inwiefern die Welt, so wie sie erlebt wird, nicht durch das Erlebnis selbst „mitproduziert" wurde, durch ein Erlebnis, das sich u. a. des Wortes bedient, um diese Welt zu produzieren. In diesem Falle sind Sprache und Wörter vielleicht doch nicht primär hinsichtlich der Wirklichkeit, aber dennoch wichtiger als Pos meinte. 7 8 9
Zitiert bei J. S. Mill, Logic, I, S. 23. Lodce, Essay, Bk. III, Ch. II, §§ 1—5. Pragmatism, S. 257.
Bergson über Zusammenleben und Wirklichkeit
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Durch das Wort erklären wir uns und anderen, gemeinsam mit anderen, unsere Erlebnisse, binden sie in Dinge, Gestalten und Formen, öffnen unsere Welt als das in unserem Erlebnis tatsächlich Gegebene. Hat James uns nicht selbst auf den pragmatischen Charakter der Sprache hingewiesen? Derselbe Sprachcharakter, der in der Psychologie zur „Verfälschung" führt, hat im nodi nicht psychologisierenden Leben offenbar eine sinnvolle Funktion. 6. BERGSON ÜBER ZUSAMMENLEBEN UND WIRKLICHKEIT In diesem Punkte besteht zwischen James und Bergson eine fundamentale Ubereinstimmung. Das Tier, sagt Bergson10, stellt sich wahrscheinlich nicht wie wir eine Außenwelt vor, die sich von ihm selbst unterscheidet und die für alle bewußten Wesen dieselbe wäre, wie wir uns das vorstellen. Ich habe eine Welt um mich herum, und ich bin, ohne nachzudenken, dessen sicher, daß ich die Welt mit anderen Menschen gemeinsam habe. Warum ist das so? Die Neigung, auf Grund deren wir uns das Dasein der Dinge außerhalb von uns vorstellen, ist dieselbe Neigung, die uns dazu treibt, in Gemeinschaft mit anderen zu leben und mit anderen zu reden. In dem Maße wie nun das soziale Leben vollkommener verwirklicht wird, in dem Maße wird auch die Objektivierung unserer Bewußtseinserscheinungen als Erscheinungen in einer Außenwelt akzentuiert. Bewußtseinserscheinungen transformieren sich allmählich zu Objekten oder Dingen; sie lösen sich nicht nur voneinander, sondern auch von uns. Und das Mittel, wodurch diese Objektivierung der Subjektivität vollzogen wird, ist die Sprache. Es ist die Sprache, die die Möglichkeit schafft, das unmittelbar Erlebte, die „donnees immediates de la conscience" zu Dingen zu objektivieren, die für uns alle gemeinsam ein selbständiges Dasein haben. Aber Sprache bedeutet hier nicht nur das Aussagen des Erlebten, Sprache bedeutet hier vor allem: zusammen aussagen, zusammen reden. Sprache ist dann nicht nur eine Folge des menschlichen Zusammenlebens, sondern bildet die Grundlage dieses Zusammenlebens mit, insofern in und durch die Sprache das gemeinschaftliche Milieu, in dem wir zusammen leben, die Lebenswelt Gestalt bekommt. Bergson verteidigt also die These, die im Zitat von Pos abgelehnt wurde. Es ist die These, daß Sprache und Wort primär sind hinsichtlich der Wirklichkeit, jedenfalls hinsichtlich der Wirklichkeit, die die unsere ist, in der wir leben vor jeglicher begrifflichen Konstruktion einer völlig selbständigen physischen Wirklichkeit. Nein, sagt Pos, zuerst gibt es eine Faktizität; in dieser Faktizität entsteht ein Mensch; der Mensch bildet Laute 10
Bergson, Essai, S. 103.
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und verwendet die Laute, um mit ihnen Dinge anzudeuten. Und das ist aufs neue eine Faktizität. Wenn Laute Dinge bezeichnen, dann deshalb, weil es die Dinge gibt. Nein, sagt Bergson seinerseits, die Dinge, die es „schon gibt", sind die Dinge, so wie sie von den miteinander redenden Menschen gesehen werden. Daß sie diese so sehen, kommt dadurch, daß sie sprechende Menschen sind. Es sind zwei Standpunkte, die vielleicht nicht völlig gegeneinander, aber doch zumindest nebeneinander stehen. Das Wort übersetzt nur, was schon vorgegeben ist; das ist der eine Standpunkt. Der andere sagt: das Wort hat vorher, als gemeinschaftliches Wort, diese Faktizität erst gestiftet. Wenn wir uns die Frage stellen, welchen der beiden Standpunkte James sich zu eigen machte, so zeigt sich, daß er beide wählt. Einerseits wählt er mit Pos die Position der „natural science", aber andererseits ist der Gedankengang Bergsons auch in grundlegender Weise der von James. Und zwar so grundlegend, daß er nur auf dessen Basis seine Einsichten über das „wirkliche Ding" entwickelt. Diese Einsichten tragen zu einem großen Teil seine psychologische Systematik11. 7. NAIVITÄT UND PARTEILICHKEIT Die Frage, die wir uns jetzt vorlegen müssen, lautet, ob der Eindruck, den wir selbst im alltäglichen Leben über unser Verhältnis zur Welt haben, richtig ist. Inzwischen wissen wir auch, daß unsere alltäglichen Auffassungen über unser Verhältnis zur Welt in mancher Hinsicht häufig nicht mit dem übereinstimmen, was die Wissenschaften uns darüber sagen. Wir wissen, daß in der Wahrnehmung sehr viel gegeben ist, das so, wie es gegeben ist, in der „Wirklichkeit" nicht besteht. Nicht nur die sekundären Qualitäten, auch Akzentuierungen in Situationen, die Art und Weise, in der die Bedeutungen der Dinge in der Wahrnehmung zu uns sprechen, sind nicht ohne weiteres dieser Wirklichkeit als einer in sich bestehenden Wirklichkeit zuzuschreiben. Wir wissen andererseits auch, daß die Motivierung unseres Handelns nicht immer eine „objektive" und „rationale" ist, daß wir uns im Gegenteil vielmehr nach Vorurteilen und ungeprüften Meinungen richten, daß wir so auf eine Situation reagieren, wie wir sie von unserem eigenen und aktuellen Gesichtspunkt aus sehen. In unserem naiven Blick auf die Welt steckt eine Parteilichkeit. Parteilich bedeutet dann nicht: mit Wissen und Willen von einem fest gewählten Standpunkt aus handeln, sondern: Partei-Sein in dem, was geschieht, einbezogen sein in das, was geschieht. Ist es nicht kennzeichnend für das, was wir eine imparteiliche, sachliche und objektive Haltung nennen, daß wir uns dabei in gewissem Sinne abseits halten, indem wir Abstand nehmen? Und sagen wir nicht 11
S. u. VI. Kapitel.
Naivität und Parteilichkeit
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gerade vom Abseitsstehenden, daß er kein Gefühl für die situierte menschliche Wirklichkeit hat? Dennoch erwarten wir gerade von ihm das ruhige und besonnene Urteil. Aber sowohl die naive Parteilichkeit wie der besonnene Abstand sind im täglichen Leben innerhalb einer breiteren Naivität aufgehoben, einer natürlichen Parteilichkeit. Wir sind nicht nur je gesondert, sondern auch gemeinsam Partei. Die Wirklichkeit, über die wir im Alltagsleben reden, ist unsere gemeinsame Wirklichkeit. Wenn ich jemandem sage, daß er irreal denkt, daß er phantasiert, dann verweise ich nicht auf eine Wirklichkeit, die in eich selbst von metaphysischer oder physischer Art ist, sondern auf die alltägliche, gemeinsame, menschliche Wirklichkeit. Letzten Endes ist es so, daß wir die Diagnose „Halluzination" nur stellen können, weil wir, die wir uns selbst für gesund halten, nicht dasjenige sehen, was der Patient sieht. Vielleicht ist wirklich etwas da, wenn der Patient etwas sieht, was für uns nicht besteht. Wirklich ist es auf jeden Fall für ihn, insofern er in seinem Verhalten damit zu rechnen hat, wenn es auch nicht in unserer gemeinsamen Welt da ist. Sagen wir von einem, daß er halluziniert, dann sprechen wir damit unsere gemeinsame Parteilichkeit der Menschen untereinander aus, in der wir eine gemeinsame Idee und Vorstellung der Welt wahren, die per se nicht mit dem übereinzustimmen braucht, was wir uns als absolute Wirklichkeit denken können. Objektivität, ein oft gehörtes Wort, bedeutet in erster Instanz nichts anderes, als daß wir nicht alle miteinander daneben tappen wollen; oder umgekehrt: dasjenige, über das wir uns einig sind und das für alle gilt, nennen wir objektiv. In dem oben zitierten Abschnitt von Bergson wurde gesagt, daß gerade die Gemeinsamkeit diese Parteilichkeit fundiert. Es ist unser gemeinschaftliches Interesse, das uns dazu zwingt, eine gemeinschaftliche Welt, eine objektive Welt zu bewohnen. Man kann auch sagen: das uns dazu zwingt, die gemeinschaftliche Naivität zu wahren. Naivität will nichts anderes besagen, als was es im normalen Leben auch bedeutet: die Dinge so nehmen, wie sie sich in der ersten, unkritischen Erfahrung darbieten. Naivität heißt: das Übliche, das Gewohnte wie das Selbstverständliche behandeln, wie das „Natürliche", das „ist wie es ist". Wenn wir sagen, daß die Welt aus Dingen besteht, mit denen wir umgehen können, dann ist das eine Naivität. Es gehört auch zur Naivität, zu sagen: „Es gibt Dinge; diese Dinge erhalten einen Namen; die Sprache ist eine Leistung; die Sprache ermöglicht es, ein Ding, das nicht da ist, doch im Griff zu haben, aber das Ding muß es vorher dann auch geben." Natürlich, man stelle sich vor, daß jedweder, der spräche, mit diesem Sprechen neue Dinge schüfe... Und auch wenn wir denken oder dichten, gehen Gedanken und Bilder den Worten voraus, die das zum Ausdruck bringen12. 6 Linsdioten
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Phänomenologie beginnt dort, wo diese gemeinschaftliche Parteilichkeit, die Naivität, die Husserl „natürliche Einstellung" nannte, durchbrochen wird. Sie beginnt als eine „Einklammerung" der Selbstverständlichkeiten. Sie beginnt als eine Krise, Urteil und Unterscheidung, vollzogen in einer Reflexion, ein Zurückbiegen über die eigene Parteilichkeit. Später werden wir über diese Parteilichkeit als einem „doxischen Vertrauen" sprechen, der immer notwendige „Glaube" an die Wirklichkeit der Dinge, in deren Mitte wir leben. Dazu gehört für uns auch, daß wir eine „Innerlichkeit" haben, und daß wir über diese Innerlichkeit wie über einen Innenraum reden. Solange wir all das tun und dabei im Auge behalten, daß das eine Weise des Redens ist, braucht es kein Mißverständnis zu geben. Das wird anders, wenn nun die Wissenschaft des Erlebens die doxische Sprache dogmatisch bestätigt, wenn auch das kritische Denken den Habitus der Alltäglichkeit als selbstverständliche Wirklichkeit übernimmt. Das ist es, was James am Psychologen tadelt. Durch den Psychologen, sagt er, wird das innere Geschehen zu Unrecht zum Ding gemacht. Oder richtiger: der Psychologe erhält zum eigenen Schaden den naiven Sprachgebrauch aufrecht. Im täglichen Leben hat das noch eine gewisse Rechtmäßigkeit. „Es steht mir etwas im Wege, es sitzt mir etwas quer", sagen wir ζ. B. Derartige Aussagen beschreiben Quasi-Dinge. Bei einigem Nachdenken finden wir uns wohl bereit, zuzugeben, daß das „Quersitzende" kein Stock ist, der einen Weg versperrt. Aber in dem Augenblick, da wir es sagten, vergegenwärtigten wir uns das nicht, wir sagten es aus Gewohnheit und stellten uns auch nicht die Frage, was der eigentliche und ursprüngliche Sinn dieser Aussage ist hinsichtlich der eigenen Art des Erlebnisses, die ausgedrückt wird mit: „Es sitzt mir etwas quer." Der Ausdrude ist eine erstarrte Sinngebung, ein Sediment und hat in seiner Sedimentation doxischen Wert erhalten: es sitzt nicht nur etwas quer, es sitzt etwas quer; wir haben nicht nur einen Brocken im Halse, sondern selbst einen Brocken; die Wut steigt in mir auf, Zorn übermannt mich; unwiderstehlich drängte sich mir der Gedanke a u f . . . Von dieser doxischen Selbstverständlichkeit ist es nur ein Schritt zur dogmatischen Selbstverständlichkeit, mit der eine Inhaltspsychologie den Raum des Bewußtseins mit Formen und Gestalten gefüllt sieht, mit Dingen, die einander nachfolgen, verdrängen, sich verbinden usw. Die Gefühle, Gedanken, Erinnerungen, Vorstellungen, Empfindungen entstehen. Die Gefahr, die die Psychologie bedroht, ist diese Dogmatisierung der doxischen Selbstverständlichkeiten. „Jede Stunde des menschlichen Lebens könnte zur 1 2 Daß sich auch in dieser Aussage ein naives Vorurteil verborgen hält, werden wir noch sehen.
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Gemäldeausstellung beitragen; und dieses ist der einzige Nachteil, den man bei diesem deskriptiven Eifer konstatieren kann — wo wird er endigen? Müssen wir ewig nach verbalen Entwürfen dessen lauschen, was wir bereits konkret in uns selbst wissen?"13 Müssen wir dann nicht von einer Ohnmacht der Sprache reden, wenn sie ein Erlebnis zum Ausdruck bringen will? Wir wollen, wenn wir diese Frage aufs neue stellen, recht verstehen, um was es sich handelt. Daß das tägliche Leben das Erlebnis aus praktischen Gründen „verfälscht", ist nun mal so. Es ist nun mal eine der Weisen, auf die eine gemeinschaftliche Welt zustande kommt. So also James und Bergson. Aber, fügen sie hinzu, es bleibt eine Verfälschung und zwar eine, die der Psychologe in seinem Studium des Erlebens nicht mitmachen darf. 8. DIE OHNMACHT DER SPRACHE Die Sprache gibt Form, wo Form nicht adäquat ist; die Sprache legt dem inneren Geschehen eine Struktur und eine Form auf, die es in sich selbst nicht hat. In diesem Punkte sind sich James und Bergson völlig einig. Folgen wir Bergsonu. Wahrnehmungen, Empfindungen, Emotionen und Gedanken haben zweierlei Ansicht: einmal klarumschrieben, genau, aber unpersönlich; ein anderes Mal verworren, unendlich beweglich und unausdrückbar, weil die Sprache sich ihrer nicht bemächtigen kann, ohne ihre Beweglichkeit zu fixieren, noch sie ihrer alltäglichen Form anpassen kann, ohne daß sie zu etwas Gemeinschaftlichem verfällt. Aber das soziale Leben hat nun mal für uns mehr Bedeutung als das eigene innere Leben. Darum neigen wir instinktiv dazu, unseren Eindrücken die Festigkeit zu geben, die sie geeignet macht, in der Sprache ausgedrückt zu werden. Aber deshalb verwechseln wir auch das Fühlen selbst, das sich in fortwährendem Werden befindet, mit seinem äußeren und dauerhaften Objekt, und verwechseln wir es vor allem mit dem Wort, das dieses Objekt benennt. Erlebnisse erscheinen mir als Dinge, sobald ich sie isoliere und benenne, und es gibt doch in der Menschenseele nichts als Bewegung und Fortschritt, als Veränderung. Wenn ich nicht bemerke, daß sich jede Empfindung, die sich wiederholt, auch verändert, dann kommt das daher, weil ich die Empfindung durch das Objekt erfasse, durch das Wort, das dieses Objekt übersetzt. Darin ist Bergson also gleicher Meinung mit James, der den Erlebnisstrom als „one unanalysed bloom of confusion" beschreibt [1,496]. Aber die Menschheit insgesamt ist sich größtenteils darüber einig, was bemerkt 13
14
6'
A pluralistic universe, S. 375.
Bergson, Essai, S. 96 ff.
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und benannt werden soll und was nicht [1,289]. Es ist aber sinnlos, den Strom selbst zu verbalisieren. Vergeblich versuchen wir, in Begriffen und Wörtern zu beschreiben, was zur gleichen Zeit Begriffe wie Wörter überschreitet. Die Rückwendung zum Leben kann nicht durch Sprechen erfolgen15. Die Sprache ist ohnmächtig. Wenn ich jemanden bitte, zu beschreiben, was nun genau in ihm vorgeht, dann schweigt er. Er muß sagen: jetzt kann ich nichts mehr fassen oder: wie soll ich das sagen? Alles läuft durcheinander. In den Untersuchungen der Würzburger Schule hat man eine ganze Reihe von Denkerlebnissen entdeckt oder wiederentdeckt, auf jeden Fall beschrieben, die diesen merkwürdig ambivalenten Charakter von Mobilität und NichtFixiertsein besitzen16. Bühler spricht ζ. B. von „Zwischenerlebnisbeziehungen". Das sind Hintergedanken, buchstäblich Hintergedanken und nicht im moralischen Sinne. Ζ. B. das Wissen, daß man einen Gedanken schon früher hatte; das Spüren, daß ein Satz falsch aufgebaut ist. Es sind Gedanken, die wir haben, wenn wir etwas aussagen oder sogar nicht aussagen, aber die die Bedeutung des Gesprochenen wesentlich mitbestimmen. Es sind ζ. B. auch Gedanken, die sich beim Anhören des Gedankenganges eines anderen für uns dazwischenfügen — aber diese Redensart ist schon falsch. Denn es ist nicht ein Gedanke, der sich zu einem Gedanken fügt, es ist ein plötzliches Durchsetztsein von einem Bedeutungskomplex mit einem Relationsfühlen in affektiver Verhüllung. Messer spricht in einem etwas vergleichbaren Sinne von einem „ Sphärenbewußtsein", das ausgesprochene Gedanken umgibt. Ach hat die „Bewußtheit" eingeführt, die ebenfalls nicht leicht zu definieren ist. Man könnte sagen: ein implizites Bedeutungsbewußtsein. Man vernimmt etwas, jemand entfaltet einen Gedankengang und man sagt: „Ja, da steckt was hinter." Aber was? Versuche es einmal aufzuschreiben! Dann merken wir, wie schwierig das ist. Wie leer sind im allgemeinen Nachschriften. Dasjenige, was man gehört hat, steht nicht mehr darin. Es ist entschlüpft. Es lag in der ganzen Darlegung, vielleicht in einer einzigen Formulierung, in einer Intonation. Eine Zeitlang später sieht man, daß alles das, was festgelegt werden mußte, verschwunden ist. Für die Psychologie ist das eine große Schwierigkeit. Sie würde ja gerne mehr wissen über jene Erlebnisweisen. Aber selbst wenn sie darüber ein umfangreicheres Wissen erlangen kann, sieht sie sich mit der Schwierigkeit konfrontiert, das auszudrücken. Es betrifft insbesondere die Erscheinungen, wie- Gefühle, die nicht an Objekte gebunden sind, sondern an Situationen und persönliche Relationen. Sie sind wohl aufzuteilen in Gruppen: Freude, Kummer, Zwang usw. Aber welcher Kummer? Der Kummer 15 10
A pluralistic universe, S. 290. Vgl. Ubersicht und Kommentar bei A. Burloud, La pensSe, Paris, 1927.
Die Ohnmacht der Sprache
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dessen, der die Hunderttausend nicht gewann, einer Mutter, die ihr Kind verloren hat, eines kleinen Kindes, das sein Bonbon verliert? Stück für Stück haben wir es mit Erlebnissen zu tun, die einen gemeinsamen Grundton haben, sonst würden wir sie nicht alle Kummer nennen, die aber deshalb als Erlebnisse noch nicht ohne weiteres vergleichbar sind. Vergleicht man das, was die Mutter erfährt, mit dem, was ein Kind erfährt, wenn sein Bonbon weggenommen wird, dann besteht zwischen ihnen nicht so sehr viel Übereinstimmung, außer einer allgemeinen Tönung. Diese Tönung nennen wir Kummer. Wir können natürlich darüber reden, darauf hinweisen. Wir können sagen: schau, Hans hat Kummer, er weint. Aber wenn es sich darum handelt, diese Erlebnisse zu beschreiben und auszudrücken, dann sagen wir jedesmal aufs neue, daß uns die Worte fehlen, daß wir sprachlos vor Freude oder vor Kummer sind. Was bedeutet das? Bedeutet das, daß wir so von einem Gefühl angefüllt sind, daß wir kein Wort mehr über die Lippen bringen können? Zum Teil ist es wohl so. Aber die Sprachlosigkeit bedeutet auch die Eineicht, daß es kein Wort gibt, welches das nennt. Deshalb muß man auch immer einem anderen sagen: „Du verstehst nicht, was ich fühle." Dann sagt der andere: „Ich verstehe dich sehr gut, du hast Kummer." Es ist beides wahr. Einerseits ist das, was ich meine, das Erlebnis selbst, nicht auszudrücken, nicht im Wort erschöpfbar. Andererseits ist die Bedeutung dieses Erlebnisses in unserer Relation von Mensch zu Mensch vollständig durch die Mitteilung ausgeschöpft „ich habe Kummer". Hat die Sprache doch etwas zu tun mit dem streng Individuellen, mit dem persönlichen Erlebnis? Man kann diese Frage nicht nur hinsichtlich der Gefühle stellen; man kann sich auch die Frage stellen, ob jemals etwas durch ein Wort ausgeschöpft wird in seiner konkreten Bedeutung, in seinem vollen Erlebnisgehalt. Es handelt sich dann um das streng Individuelle, über das der Dichter Kloos sprach, als er sagte, nach dem allerindividuellsten Ausdruck einer allerindividuellsten Emotion zu suchen. Aber das Wort ist sozial, allgemein, schematisch. Es nimmt nicht das Besondere und Individuelle in sich auf. Stirner sagte es so: „Man sagt von Gott: ,Namen nennen dich nicht.' Das gilt von mir: kein Begriff drückt mich aus, nichts, was man als mein Wesen angibt, erschöpft mich; es sind nur Namen."17 Es gilt nicht nur für Stirner, es gilt für jedes Individuum, für jedes beliebige Ding. Der gesamte reiche Inhalt des Erlebens ist unausdrückbar. Rilke gibt in seiner neunten Elegie derselben, allen bekannten Erfahrung folgenden Ausdruck: „.. .Ach, in den andern Bezug, wehe, was nimmt man hinüber? Nicht das Anschaun, das hier langsam erlernte, und kein hier Ereignetes. Keins. 17
M. Stirner, Der Einzige und sein Eigentum, Berlin, 1924, S. 357.
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Also die Schmerzen. Also vor allem das Schwersein, also der Liebe lange Erfahrung — also lauter Unsägliches." Daß diese Ohnmacht der Sprache, das Unsagbare auszusagen, sich nicht auf das Gebiet des Konkret-Individuellen, der flitzenden Zwischengedanken oder der verfließenden Gefühle beschränkt, sondern viel allgemeiner ist und damit zusammenhängt, daß die Sprache die Einheit unterteilt und aufbricht, legt Fink bei seinem Versuch dar, die Philosophie des Parmenides von innen her zugänglich zu machen. „Was einen Namen hat, ist schon besondert, ist vereinzelt, ist abgestückt aus dem Ganzen, tritt in einer abgegrenzten Besonderheit hervor. Namenhaft-sein und Vereinzelt-sein entspricht sich. Das Eine, Ganze und Heile, das keine Zerstückung und Zerreißung an sich hat, ist das schlechthin Namenlose und Unsägliche — und wenn es dennoch ausgesprochen werden soll, so doch nur durch Namen hindurch, die die Festigkeit und Härte einer stehenden Bestimmtheit verlieren . . ," 18 . Offenbar müssen wir tatsächlich von einer Ohnmacht der Sprache reden, wo das Erlebnis zum Ausdruck gebracht wird. Ein jedes Erlebnis hat den strömenden, persönlichen und veränderlichen Charakter, den James ihm zuschrieb. Ein jedes Erlebnis hat auch jenen integralen Charakter, der ihm Anlaß war, die Assoziationstheorie abzuweisen. Was wir bisher im Sprachbereich fanden, bildet eine Bestätigung der Sehweise von James. 9. OBJEKTIVIERENDE TENDENZ UND SUBJEKTIVES E R L E B E N Es gibt keine Konjunktion oder Präposition und kaum irgendeinen Nebensatz, irgendeine syntaktische Form oder Stimmsenkung in der menschlichen Sprache, die nicht die eine oder andere Schattierung einer Beziehung ausdrückt, die wir zwischen den größeren Objekten unseres Bewußtseins erleben. So James [1,245], Und er fährt fort: Wenn wir objektiv reden, dann handelt es sich um die realen Relationen der Dinge außerhalb uns. Wenn wir subjektiv reden, dann folgt der Strom des Erlebens den Schattierungen der Bedeutungszusammenhänge, die immer von unendlicher Anzahl sind. Keine einzige Sprache ist imstande, allen Schattierungen gerecht zu werden: „We ought to say a feeling of and, a feeling of i f , a feeling of but, and a feeling of by, quite as readily as we say a feeling of blue or a feeling of cold." Tatsächlich, „vielleicht": „es kann frieren, es kann tauen" spricht die Unsicherheit nicht als Erlebnis aus, sondern deutet sie an, weist auf das Erlebnis noch fließender Unbestimmtheit hin, die aus der Feststellung: „50°/oige Möglichkeit" vollständig verschwunden ist. 18 E.Fink, Zur ontologischen Frühgeschichte von Raum—Zeit—Bewegung; Den Haag, 1957, S. 68 f.
Objektivierende Tendenz und subjektives Erleben
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Sprache zeigt eine objektivierende Tendenz und reicht deshalb nicht aus, wenn es sich darum handelt, das Erleben in seiner Subjektivität auszudrücken. Wie auch sollte man das unablässig verändernde, verfließende innere Geschehen in Sprache fassen können? Aber ist das Innere auch so verfließend, wie es suggeriert wird? Hier geht Bergson weiter als James. Hier begegnen wir dann unserem eigenen Schatten, sagt Bergson19. Wir meinen, unser Fühlen analysiert zu haben, und in Wirklichkeit haben wir es durch nebeneinander geordnete, bewegungslose Zustände ersetzt, die man in Worte übersetzen kann. Wenn nun ein kühner Romanschreiber den so leicht gewebten Schleier unseres konventionellen Ichs zerreißt und unter der scheinbaren Logik die tiefere Absurdität sehen läßt, unter dem Nebeneinander einfacher Zustände eine unendliche Durchdringung tausend verschiedener Eindrücke, die schon in dem Augenblick, da man sie nennt, nicht mehr bestehen, dann loben wir ihn, weil er uns besser kennt, als wir uns selbst kennen. Es gibt solche furchtlosen Dichter, wie Bergson meint: ein Proust, ein Amiel, ein Dostojewskij, die uns über die logische Struktur des Verhaltens hinaus einen Blick auf die irrationalen, verfließenden, kaum zu bezeichnenden Motivationen gewähren. Man kann auch an jemanden denken, der eine solche furchtlose Betrachtungsart zu einer systematischen Konzeption entwickelte: Sigmund Freud. Für ihn ist das geordnete Leben des Geistes ein verhüllender Oberbau, der das sich darunter vollziehende, wirkliche Geschehen zudeckt. Wer sich an der Oberfläche der Erlebens hält, kann auch nur eine oberflächliche Lotung durchführen. Erst eine Tiefenpsychologie dringt Vinter die Oberfläche vor, wo das Wasser mit Fischen bevölkert ist und sogar mit Ungeheuern, die das klare Geisteslicht nicht vertragen. Sehen wir uns einmal so einen Abschnitt bei Amiel an, in dem er die eigentliche Art des inneren Geschehens selbst auszusagen versucht. „Je me sens cameleon, caleidoscope, protee, muable et polarisable de toutes les fagons, fluide, virtuel, par consequent latent, meme dans mes manifestations, absent meme dans ma representation. J'assiste, pour ainsi dire, au tourbillon moleculaire qu'on appelle la vie individuelle; j'ai perception et conscience de cette metamorphose constante, de cette mue irresistible de l'existence qui se fait en moi; je sens fuir, se renouveler, se modifier toutes les parcelles de mon etre, toutes les gouttes de mon fleuve, tous les rayonnements de ma force unique 20 ." Gibt es überhaupt etwas in diesem inneren Wirbel, das Form hat? Gibt es überhaupt etwas in der erstarrten Form, die das Erleben im Denken erhält, das noch an die ursprüngliche Flüssigkeit erinnert? 19 20
Bergson, Essai, S. 99 f. H. F. Amiel, Fragments d'un journal intime. Vol. I. Geneve, 1919 13 , S. 245 f.
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Nach Bergsons Ansicht muß auch eine Andeutung wie die von Amiel noch völlig unzureichend sein. Auch der Schriftsteller gebraucht ja Wörter. Er läßt uns vielleicht durch seine Satzwendungen etwas vermuten, er lädt uns zu einer Reflexion ein, indem er in Ausdruck und Wortwahl etwas von der Gegensätzlichkeit inneren Geschehens festhält. Aber es bleiben Wörter. Auch die Beschreibung des Irrationalen muß infolge der fundamentalen Unzulänglichkeit des Wortes Mängel aufweisen. Sind diese Erlebnisse denn zutiefst der Wirklichkeit der Dinge und Wörter so fremd? Bringt dieser Schluß uns nicht in Schwierigkeiten, die viel größer sind als jene Schwierigkeiten, die dazu führten? Von dem Gedanken, daß das Psychische eigentlich nicht ausgedrückt werden kann, ist es nur ein Schritt zu einem Spiritualismus, der den Geist als einen Gast sieht, der in einer ihm wesensfremden Welt zu Besuch ist; oder zu einem Irrationalismus, der vom „Geist als Widersacher der Seele"21 spricht. So weit geht James sicherlich nicht. Obsdion das Erleben so, wie es in sich selbst ist, nicht verbalisierbar ist, ist das Wort nicht ohne weiteres eine Verfälschung. Wenn das Wort da ist, dann hat es eine Funktion. Es ist gerade deshalb da, weil das Erleben selbst keine Wortstruktur besitzt, sondern in der Gemeinschaft, in der die Menschen leben, verbalisiert werden muß. Das Wort ist das Zeichen dieser Gemeinschaft und macht somit in gewissem Sinne den Menschen zum Menschen. Und man kann James' Spradiwertung noch mehr zuspitzen, wenn er hier auch zögert: Das menschliche Erleben selbst ist durch dasjenige mitcharakterisiert, was sich in der Verbalisierung vollzieht. Audh die Sprache ist konstitutiv für das Erleben. 10. ERLEBEN DRÄNGT NACH FORMULIERUNG Wir dürfen nicht sofort verallgemeinern, jedoch wohl vorläufig feststellen, daß James der Sprache, jedenfalls in manchen Fällen, eine konstitutive Funktion im Erleben zuspricht. So kennzeichnet er z.B. die Realität, die das innerlich Erlebte durch das Wort erhalten kann: „Die Meinimg, von vielen so kräftig verteidigt, daß die Sprache für das Denken wesentlich ist, scheint insofern Wahrheit zu enthalten, als alle unsere inneren Bilder dazu neigen, sich an etwas Wahrnehmbares zu heften, um dadurch an Leiblichkeit und Leben zu gewinnen. Wörter dienen dieser Absicht, ebenso Gebärden, Steine, Stäbchen, Kreidezeichen, alles kann dienen. Sobald eines von diesen Dingen die Vorstellung repräsentiert, scheint sie realer zu sein" [11,305]. Wir denken daran, daß, wenn man zu einem Entschluß kommen will und den inneren Motivkampf im Zögern erfährt, man dann am ehesten dadurch einen Ausweg findet, daß man formuliert, was nun was ist, was man eigentlich 21
So lautet der Titel des Hauptwerkes von Ludwig Klages.
Erleben drängt nadi Formulierung
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will, und wäre es lediglich, um an der Formulierung zu sehen, daß man das, was man formuliert, eigentlich nicht will. Erlebte Bedeutungen, wie unscharf auch umrissen, wie ineinander zerfließend, haben offenbar doch eine Form nötig und haben dann am liebsten ein Substrat, durch das sie materialisiert werden. Das Erleben kann nach Formulierung drängen. James selbst verwendet hier Ausdrücke wie Leiblichkeit und Leben und bringt dadurch implizite zum Ausdruck, daß eine Bedeutung erst durch irgendeine Verkörperung besteht, dadurch, daß sie in etwas Anschaulichem Gestalt erhält. Was eine „reine" Bedeutung oder ein „reines" Erlebnis ist, ist nicht recht vorstellbar. Auch das Fühlen, von dem ich sage, daß ich es nicht ausdrücken kann, ist als Fühlen auf eine Situation bezogen. Vielleicht haben wir in der Geschichte das Psychische, die Erlebniswelt, zu sehr als eine immanente Sphäre aufgefaßt, als etwas, das in sich selbst und innerhalb des Menschen besteht. Vielleicht ist es uns zu sehr aus den Augen entschwunden, daß alles, was der Mensch erfährt, auf Objekte, auf die Welt bezogen ist. So gesehen verwundert es uns weniger, daß das Innere etwas benötigt, um sich zu materialisieren. Ein reines Erlebnis ist, wie „rein" auch, Erlebnis von etwas, ist in diesem Sinne „Beseelung" eines Substrates. Bedeutungen bestehen nicht unabhängig von ihrer Verkörperving als reine geistige Entitäten. In einer seiner späteren Schriften entwickelte Husserl einen Blick auf die sogenannten „idealen Gegenstände", der uns hier ein wenig weiterhelfen kann22. Der Mathematiker arbeitet mit abstrakten „Dingen" wie dem Dreieck, der Zahl 4 usw. Man kann sich über diese „Dinge", diese „Allgemeingegenstände", die Frage vorlegen, was sie sind; aber es interessiert uns hier vor allem die Frage, wie sie bestehen bleiben. Und das geschieht offensichtlich durch ihre Inkorporation in Schrift und Zeichen. Einmal wurden sie „ausgedacht". In der Anschauung konkreter Dreiecke und im Denken darüber ist man zu dem Dreieck gekommen. Über dieses „allgemeine Dreieck" kann man Aussagen machen, die für alle konkreten, wirklichen Dreiecke gültig sind. Aber besteht auch ein solcher „Allgemeingegenstand", den ich aus der Erfahrung herauslöse und in der Anschauimg eines konkreten Dreieckes als dessen Wesen bloßlege? Sicher hat er einen bestimmten Seinssinn als etwas Allgemeines, über das ich etwas aussagen kann. Aber ich hege nicht die Annahme, daß das Dreieck irgendwo als ein mathematischer Geist umherschwebt, der ein eigenes, unabhängiges Dasein hat. Wenn es „besteht" und bestehen bleibt, dann geschieht das durch das Zeichen, das es festlegt. Dadurch wird es in Zeit und Raum gestellt, ist es wiederzufinden, auch wenn ein Euklid nicht mit uns darüber reden kann.
22
Husserl, Ursprung der Geometrie, S. 210 ff.
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Husserl sagt: „Es ist die wichtige Funktion der Schrift, die ständige Objektwiertheit der idealen Sinngebilde zu ermöglichen in der eigentümlichen Form der Virtualität. Schriftlich dokumentiert ist der ideale Gegenstand virtuell ,in der Welt', jederzeit aktuell erzeugbar." Ist dieser Gedankengang nicht zu wiederholen hinsichtlich des Beispieles, das James uns soeben gab? Das innerlich Erlebte erhält durch das Wort seine Realität, wird durch dieses Wort objektiviert und damit (jedenfalls in bestimmtem Maße) für andere zugänglich. Mein Erlebnis bekommt dadurch ein Dasein, daß ich Mitteilung davon mache (oder davon machen kann). Es wird jetzt ja ausgedrückt, materialisiert im „Stoff" des Sprachlautes. Es muß dazu geformt sein, auch wenn es nicht ausgesprochen wird, wenn ich es in Wirklichkeit nicht aussage, was ich erlebe, sondern es einfach erlebe. Unser Erleben kann auf diese Art, wiewohl unausgesprochen, die Aussagbarkeit antizipieren und dadurch eine innere Struktur und Gliederung erhalten, die nach James dem „reinen Erleben" nicht zukommt. Oder doch? Wir scheitern an einer der Zweideutigkeiten in seiner Systematik, wofür James keine Lösung gegeben hat. Die Sprache ist ein System von Zeichen, sagt er, die sich von den bezeichneten Dingen unterscheiden, aber imstande sind, diese hervorzurufen [11,356]. Das Wort „Apfel" hat nichts mit der Frucht zu tun, die wir vom Baum pflücken, kann aber dennoch den Apfel vergegenwärtigen. Nun sagt er auch: der Mensch hat die bewußte Neigung, alles mit einem Zeichen zu versehen, also allem einen Namen zu geben. Mit diesem „alles" meint er: „alles, was es wirklich gibt." Nicht wahr, die Welt besteht doch? Und war doch schon fix und fertig, als die Menschen mit ihrer Neigung zum Namengeben auf der Bildfläche erschienen? Dennoch, um das zu können, um alles mit einem Zeichen versehen zu können, ist es notwendig, daß der Zeichenbegriff als solcher entsteht [11,357], Aber „das Zeichen als solches" besteht selbst nicht. Es ist eine Allgemeinheit, die ich in concreto nicht antreffe, wie Äpfel, Birnen, Stühle, Menschen. Dadurch, daß jemand seine Augen öffnete und sagte: he, ein Apfel, ein Fußball, der Mond, ein Käse, sie sind alle rund, entstand die Rundheit für ihn. Die Rundheit besteht nicht als ein selbständiges Ding in der Welt, sondern ist ein Merkmal, das ich an den Dingen entdecke und durch das Wort fixiere. Lehrt James selbst uns nicht, daß die sogenannten „simple ideas" nicht aus sich selbst übereinstimmende „ideas" hervorrufen? Das Erlebnis einer bestimmten Blauschattierung läßt uns nicht an eine andere Blauschattierung denken, es sei denn, daß wir diese oder jene Absicht im Schilde führen, wie das Benennen dieser Farbe [1,579]. Was einmal an dem einen Ding bemerkt wird und dann wieder an einem anderen Ding (wie ζ. B. die Rundheit), das heben wir aus beiden Dingen heraus, es wird zum Gegenstand abstrakter Betrachtung [1,506]. Aber das ist doch nur dann möglich, wenn man die Dinge so sieht, wenn die Mög-
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lichkeit zur Abstraktion in der Struktur der Dinge für uns Menschen sichtbar ist. Wenn wir die Dinge also schon in einer Verbalisierbarkeit erleben. Ubereinstimmungen sind nicht bestehende und vorgegebene, einfachhin benannte Dinge, sondern Erfassungsweisen, mit denen wir das Konkrete ordnen. So darf man nicht nur sagen, daß wir die Welt vermittels der Sprache, durch die Sprache hindurch sehen23, sondern sogar, daß wir die Sprache in der Welt sehen — jedenfalls die Nennbarkeit. Und gerade in dieser Nennbarkeit der Dinge und ihrer Eigenschaften, die das menschliche Erlebnis kennzeichnet, drückt sich etwas Wesentliches unseres Erlebens aus. Dann ist also die Verbalisierung keine Verfälschung des Erlebens, sondern die Aussage des Erlebten in seiner erlebten Aussagbarkeit. Hätte James nicht den Worten Gusdorfs zugestimmt? Sie sagen ja, was James selbst auch meinte: der Name erzeugt das Ding, nur der Name erreicht das Ding über die Inkonsistenz der Erscheinungen hinaus24. Aber nicht deshalb, weil das Wort selbst diese magische Wirkung hat. Es über-setzt das, was (für uns) da ist: menschliche Wirklichkeit. Ist nun diese Wirklichkeit nicht erlebte Wirklichkeit? Darüber gibt es bei James nur selten ein Mißverständnis. Ist denn nicht alles, was „im Innern" geschieht, eigentlich Erleben der Wirklichkeit? Von der Immanenz des Psychischen ist James abgegangen. Das „innere Geschehen" befindet sich keineswegs „in mir". Wenn es nicht verbalisierbar ist, bedeutet das, daß die Wirklichkeit, die wir erleben, nicht immer verbalisierbar ist. Dann aber beruht die Ohnmacht der Sprache, die auf Dinge zielt, nicht auf der Opposition von innerer und äußerer Welt, sondern auf der Struktur der erlebten Wirklichkeit. Und nun war sich James mit Bergson darin einig, daß gerade durch die Sprache die gemeinsam erlebte Wirklichkeit zustande kommt. Die Sprache konkretisiert die zerfließende Wirklichkeit des ersten Erlebens zu fixierten, handhabbaren Dingen. Damit wird doch nichts anderes gesagt, als daß das Erleben nach Formulierung drängt? 11. SPRACHE FORMULIERT DAS UNGEFORMTE Wenn das Erleben nach Formulierung drängt, dann bedeutet das, daß es schon auf Verbalisierung angelegt ist — wenn auch vielleicht nicht alles zum Wort gelangen können wird. Wir wollen einmal nachforschen, ob die konstitutive Funktion der Sprache jetzt deutlicher wird. Betrachten wir ζ. B. die Beschreibung, die James über den Versuch gibt, einen vergessenen Namen in die Erinnerung zurückzurufen. „Nehmen wir an, daß wir versuchen, uns an einen vergessenen Namen zu erinnern. Der Zustand unseres Bewußtseins ist eigenartig. Ein Hiatus steckt darin; aber keiner wirkt ohne 23 24
E. Straus, Vom Sinn der Sinne; Berlin, 1935, S. 34. G. Gusdorf, La parole;
Paris, 1953, S. 35.
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weiteres. Es ist ein Hiatus, der auf intensive Weise wirksam ist. Eine Art Schemen des Namens steckt darin, der uns in eine bestimmte Richtung einweist, der uns ab und zu mit dem Gefühl prickelt, ganz in der Nähe zu sein und uns dann zurücksinken läßt ohne das verlangte Wort. Wenn uns falsche Namen suggeriert werden, so werden sie von diesem merkwürdig bestimmten Hiatus sofort abgewiesen. Sie passen nicht in seine Form. Und der Hiatus des einen Wortes fühlt sich nicht so an wie der Hiatus eines anderen Wortes — wie inhaltslos beide auch notwendig zu sein scheinen, wenn sie als Hiatus umschrieben werden. Wenn ich vergeblich versuche, mir den Namen Spalding ins Gedächtnis zurückzurufen, ist mein Bewußtsein weit von dem entfernt, was es ist, wenn ich vergeblich versuche, mich an den Namen Bowles zu erinnern" [1,251] 25 . Aber, James argumentiert dann gegen sich selbst: Wie können die beiden Bewußtseinszustände verschiedenartig sein, wenn gerade die Inhalte nicht gegeben sind, durch die sie sich unterscheiden? Alles, was gegeben ist, solange wir vergeblich forschen, ist die bloße Anstrengung selbst. Diese scheint freilich verschiedenartig zu sein, wenn ich nach diesem oder jenem Wort suche, aber das kommt doch daher, daß ich hinterher den Hiatus des noch nicht gefundenen Wortes für bestimmt halte. Das klingt komplizierter als es ist. Ich suche ζ. B. den Namen Spalding und kann ihn zunächst nicht finden, aber schließlich finde ich ihn dann doch. Dann sage ich: ich habe doch immer vermutet, daß er so ähnlich sein mußte. Beschränken wir uns jedoch auf die Gedächtnisanstrengung selbst zu dem Zeitpunkt, da wir etwas Entfallenes suchen, dann sind wir nicht imstande, irgendeinen Punkt anzudeuten, in dem sich diese Anstrengung von der Anstrengung beim Suchen nach einem anderen Wort unterscheidet. Aber das bedeutet, daß unser psychologisches Vokabular völlig unzureichend ist, weshalb solche ausgesprochenen Unterschiede im „Hiatgefühl" nicht einmal angedeutet werden können. „But namelessness ist compatible with existence", Dinge, die keinen Namen haben, können trotzdem bestehen. Es gibt nun mal zahllose Erlebnisse von „Hiatus" und Gegliedertheit, von denen kein einziges einen eigenen Namen hat und die dennoch alle verschiedenartig sind. Für gewöhnlich nehmen wir an, daß sie alle auf die Gegliedertheit des Bewußtseins zurückgehen und demnach gleich sind. Aber „the feeling of an absence" unterscheidet sich entschieden von „the absence of feeling". Das Gefühl, daß etwas nicht da ist, das da sein müßte, ist ein sehr intensives Gefühl [1,252], Im beschriebenen Falle ist es deutlich ein Wortgefühl, das Gefühl, daß nur ein bestimmtes Wort diesen merkwürdigen Zustand des Hiatus-Erlebnisses lösen kann. Vgl. über dieses „Hiatusfühlen" auch Principles, I, S. 584 f. und 589. Auf der letztgenannten Seite zeigt sich, daß James dieses prägnante Bild seinem Freund Hodgson entlehnte. 145
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James selbst macht uns in diesem Beispiel darauf aufmerksam, daß das Erleben eine Formulierung suchen kann; es strebt nach einer Form, und erst dann, wenn es sie erreicht hat, ist es „komplett". Vergleichen wir das mit einigen Gedanken Freuds. In seiner Theorie über das Unbewußte hat Freud dem Zusammenhang von Unbewußtem und Wort Aufmerksamkeit geschenkt. In einem seiner früheren Werke unterscheidet er die bewußte Vorstellung, als eine Sachvorstellung mit Inbegriff der dazugehörigen Wortvorstellung, von der unbewußten Vorstellung, der Sachvorstellung allein28. Eine Vorstellung, die bewußt ist, über die ich also ein Wissen habe, ist immer die Vorstellung von etwas, von einem Objekt mit dem daran gebundenen Wort, das es benennt. Im Gedankengang Freuds sind unbewußte Vorstellungen, die ich nicht nennen kann und über die ich nichts weiß, dieselben Sachvorstellungen, aber ohne die dazugehörenden Wortvorstellungen. Das Bewußte ist für Freud das Gebiet der Person, das die Relationen mit der Außenwelt unterhält, über sich Bescheid weiß, wählt, entscheidet usw. Die unbewußte Sphäre, per definitionem dasjenige, über das ich nichts weiß, ist das, was darunter verborgen bleibt, das Gebiet, wo man auf die eigentlich treibenden Kräfte des Verhaltens stößt. Es sind Kräfte, die selbst nicht im Bewußtsein erscheinen, aber dort durch bestimmte Vorstellungen vergegenwärtigt werden können. Das Unbewußte ist die Wildnis der Person; das Bewußte ist das darin freigemachte kleine Stück Kulturland. Die wilden Tiere, die in der Wildnis wohnen, können nicht ohne weiteres zum zivilisierten Kulturland zugelassen werden. So etwa verläuft die Freudsche Mythologie. Eine Mythologie, die Freud mit großer Zähigkeit ausgearbeitet hat. Kein Wunder, daß James über seine Gedanken sagt: „Sie werden zweifellos auf die menschliche Art Licht werfen; aber ich muß sagen, Freud hat auf midi persönlich den Eindruck eines Mannes gemacht, der von ,idees fixes' besessen ist27." Wenn die wilden Tiere des Unbewußten an der Grenze des Kulturlandes erscheinen, dann werden sie von einer Grenzwache abgewehrt und zurückgeschickt. Diese Grenzwache heißt Zensur. Das ist die Instanz, die verdrängt und die verhütet, daß unbewußte Inhalte zum Bewußtsein durchdringen. Wie geht das vor sich? Freud sagt: dadurch, daß die Zensur einer Sachvorstellung, die aus dem Unbewußten zum Bewußtsein versucht durdizudringen, die Übersetzung in Worte verweigert. Wir halten den Gedanken fest, daß der Übergang von unbewußt nach bewußt von Freud als die Formulierung des Ungeformten charakterisiert wird. Hier springt deutlich die Verwandtschaft mit James' Gedankengang ins Auge. 28
S. Freud, Das Unbewußte. In: Gesammelte Werke, Bd. X. London, 1946, S. 300. 27
Letters, II, 328.
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An anderer Stelle berichtet Freud über seine Behandlung einer jungen Frau28. Darin kommt folgender Abschnitt vor. Freud sagt zu seiner Patientin: Sie fürchten, daß man etwas von Ihrer Hoffnung merken wird, und Sie fürchten, daß man Sie deshalb auslachen wird. „Ja, ich glaube, daß es so ist." (Ihre Hoffnung ist, daß sie mit ihrem Chef wird heiraten können.) „Wenn Sie aber wußten, daß Sie den Direktor lieben, warum haben Sie es mir nicht gesagt? — Ich wußte es ja nicht oder besser, ich wollte es nicht wissen, wollte es mir aus dem Kopf schlagen, nie mehr daran denken, ich glaube, es ist mir auch in der letzten Zeit gelungen." In einer Fußnote sagt Freud: „Eine andere und bessere Schilderung des eigentümlichen Zustandes, in dem man etwas weiß und gleichzeitig nicht weiß, konnte ich nie erzielen." Etwas wissen, ohne es zu wissen; wissen, daß man etwas nicht weiß, weil man es nicht wissen will, aber es dennoch auch nicht so zur Verfügung zu haben, daß man es aussprechen könnte. Ist das nun Wissen oder Nichtwissen, bewußt oder unbewußt? In der Behandlung holt diese Frau das hervor, was jahrelang verborgen blieb — auch ihr selbst. Hinterher, wenn es formuliert ist, weiß sie, daß sie es immer gewußt hat, aber doch auch wieder nicht so, daß es aussagbar war. In einer Formulierimg von Lacan: „Das Unbewußte ist der Teil des konkreten Gespräches zwischen Menschen, der der Person nicht zur Verfügung steht, um die Kontinuität seines bewußten Gespräches wiederherzustellen29." Es geht uns hier nicht um eine allgemeine Theorie des Unbewußten, sondern um die Sprache. In diesem Zusammenhang können wir die „Unbewußtheit" dessen, was man nicht sagen kann, was verdrängt oder wiedergesucht wurde, in zwei Bedeutungen verstehen. 1. Das „verdrängte Unbewußte" ist das Unformulierbare, das ich nicht in Worte umsetzen kann, weil ich mich davon abwende. Das Bild der Grenzwache ist schließlich nur ein Bild. Freud ist selbst der Meinung, daß die Verdrängung eine kontinuierliche Aktivität ist, nicht ein einmaliges Wegschieben dessen, was wir los sein wollen30. Verdrängen ist nun offensichtlich nach Freud: im Zustand der Umformulierbarkeit halten, was aus sich selbst nach Formulierung drängt. Das Unformulierbare drängt nach Formuliertsein, nach Form im Gespräch, in der Relation und dem Umgang mit anderen. Wenn dieses „Verdrängte" mein Verhalten beeinflußt, ohne daß ich es weiß, und der andere die Diskrepanz zwischen meinem ausgesprochenen S. Freud, Studien über Hysterie. Gesammelte Werke, Bd. I. London, 1952, S. 175. 2 9 J. Lacan, Fonction et diamp de la parole et du langage en psydianalyse. In: La psydianalyse, 1. Paris, 1956, S. 104. 3 0 S. Freud, Die Verdrängung. In: Gesammelte Werke, Bd. X. London, 1946, S. 253.
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Wissen meines Handelns und der (mir verborgenen) Bedeutung meines Handelns bemerkt, sagt er, daß ich etwas verdränge. Es bleibt unformulierbar, solange es einerseits nach Verbalisierung drängt, aber ich mich andererseits dessen enthalte. 2. Das „vergessene Unbewußte" ist das Unformulierte, das nicht verbalisiert wird, weil es inaktuell ist. Ich kann nicht alles, was ich weiß, erlebe und erlebt habe, zugleich aktuell und präsent haben. Wenn es auch beispielsweise nur die Multiplikationsreihen wären, die meine gesamte Kenntnis ausmachten, dann schon wäre es nicht möglich, sie alle gleichzeitig präsent zu haben. Nein, sie werden „in meinem Gedächtnis aufbewahrt". Im Prinzip stehen sie zur Verfügung und zwar so, daß sie, sobald sie benötigt werden, aufs neue formuliert werden können. Manchmal geht dabei etwas schief, ζ. B. durch Interferenz. Ich suche einen Namen; (die Form) Exner drängt sich mir auf, aber ich weiß, daß er es nicht ist — es muß, so entdecke ich, „Flechsig" sein. Die Verwandtschaft der Formen führt zur Interferenz; es kann sein, daß nichts zur Form gelangt, und ich nur den von James beschriebenen „Hiatus" erlebe. Ich versuche eine Bedeutung, die zerfließt, festzulegen, zu fixieren, erstarren zu lassen. Ich weiß es wohl, aber ich kann es nicht sagen, noch nicht. Ich versuche an etwas zurückzudenken, das mir einmal einer gegeben hat und von dem ich nicht mehr weiß, was es war. Das kann eine peinliche Angelegenheit sein. Wie finde ich das Objekt wieder? Ich finde es am Wort wieder, im Wort, jedenfalls in einer verbalisierbaren Form. Die Benennung von Objekten erfolgt nicht nach dem Wiedererkennen, sagt Merleau-Ponty, sondern die Benennung des Objektes ist das Wiedererkennen selbst. Ich kann nichts wiedererkennen, es sei denn, daß ich es nenne, wenn nicht laut, so doch innerlich; in einer Wortform erkenne ich die Dinge wieder. Das Wort übersetzt dann auch nicht etwas, was von vornherein vollständig als ein psychischer Brocken, als ein Bild in uns anwesend ist. Das Wort übersetzt nicht einen Gedanken, der fix und fertig in mir ist, sondern das Wort vollzieht den Gedanken31. Aber schon ein halbes Jahrhundert bevor Merleau-Ponty diesem Problem eine brillante Erörterung widmete, stoßen wir auf die gleichen Gedanken bei James. Haben wir uns jemals die Frage vorgelegt, von welcher Art psychischer Gegebenheit die Intention ist, etwas zu sagen, bevor es gesagt wird? Es ist eine ganz bestimmte Intention, von allen anderen Intentionen unterschieden, also ein völlig verschiedenartiger Bewußtseinszustand. Aber wieviel davon besteht aus klarumschriebenen sensorischen Vorstellungen, seien es Wort- oder Dingvorstellungen? Kaum etwas! Wenn die Wörter kommen, werden sie durch die Intention begrüßt und als richtig angenommen oder als falsch verworfen. Diese Intention hat also eine sehr positive 31
M. Merleau-Ponty, Phenomenologie de la perception. Paris, 1945, S. 207.
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Sprache, Erleben, Wirklichkeit
Bestimmtheit, aber was können wir darüber sagen, ohne die Wörter zu gebraudien, die erst später kommen? Die Intention, dies-und-jenes-zu-sagen, ist der einzige Name, den wir dem geben können [1,253]. Ich weiß, was ich sagen will, aber ich weiß es nicht in Worten. In dem Augenblick, da ich etwas sage, habe ich nichts Inhaltliches, nichts Formuliertes präsent. Erst wenn ich zögere, sagt James, kommen Wörter und Dinge in meinen Geist; aber im selben Augenblick ist die Intention verschwunden, weiß idi nicht mehr, was ich sagen soll. Zweifellos kann ich von den Wörtern, die ich kenne, ein visuelles oder ein akustisches Bild hervorrufen, sie innerlich sehen oder hören. Ebensogut kann ich davon eine „motorische Vorstellung" bilden. Aber in dieser Form besitze ich sie nicht. Ich brauche mir das Wort nicht vorzustellen, um es zu erkennen und auszusprechen. Es genügt, daß ich die „essence articulaire et sonore" zu meiner Verfügung habe als eine der Weisen, wie ich meinen Leib gebrauchen kann32. Diese Betrachtungen verschaffen uns eine andere Sicht auf die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Erlebnis und Sprache. Was sollen wir noch vom Standpunkt James' und Bergsons halten, den wir früher ausführlich darlegten? Sie behaupteten ja, daß Theorien und Wörter das Erlebte verfälschen. Bis zu einem gewissen Grade haben wir selbst diese Gedanken verteidigt. Aber wir haben auch gesehen, daß unser Erleben nach Worten drängt und erst durch diese Wörter mitteilbar und für uns selbst kenntlich wird. Man kann natürlich darauf bestehen, daß die tiefsten Gefühle und Eindrücke so persönlich sind, daß ihnen keine Wörter gerecht werden. Das reine Erleben, sagen wir dann, entschlüpft allen Worten. Es ist die sprachlose Welt einer „pure experience". Aber, hat Straus bereits gesagt, „wir erreichen die sprachlose Welt nicht vollständig und nur in einer Abkehr von der eigentlichen Menschenwelt"33. Ist der Strom des Erlebens denn nur ein veränderliches, fließendes, formloses oder wässeriges Bewußtsein? Nein, hat uns James schon gesagt, der Strom ist strukturiert und differenziert. Aber differenziert bedeutet: in Organe aufgeteilt, in Stücke, wenn sie auch nicht mit scharfen Linien und Brücken aneinander grenzen. Und darin liegt das Prinzip der Verbalisierbarkeit. Mehr noch: Verbalisierung ist die Art und Weise, wie Formen im Erleben entstehen und festgelegt werden. Sonst könnten wir nicht einmal sagen: ich bin gut gelaunt oder: ich bin niedergeschlagen. Denn reines Wasser hat keine Teile oder Aufgliederungen. Hören wir noch einmal James zu. „Ein unmittelbares Erlebnis, weder benannt noch klassifiziert, ist nur ein Das, welches wir erfahren, ein Ding, 32 33
Merleau-Ponty, Phenomenologie, S. 210. Straus, Vom Sinn der Sinne, S. 123.
Erleben und Reflexion
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das fragt: ,Was bin ich?' Wenn wir es benennen und klassifizieren, sagen wir zum ersten mal, was es ist, und alle diese Washeiten sind abstrakte Namen und Begriffe84." Wir benennen also das Individuelle nicht und doch wird es erst dieses Ding durch die Benennimg, die es unter einem allgemeinen Begriff erfaßt. Und das „Das" verlangt danach. Wir erleben es doch als ein „Das", das nach einer Benennung verlangt, die seiner Individualität, Konkretheit und Einmaligkeit nicht gerecht wird, sondern es zu einer Allgemeinheit erhebt und damit zur Objektivität, Denn „allgemein" bedeutet hier gewiß nicht nur „abstrakt", sondern auch: mitteilbar und also für andere zugänglich. Und diese Abstraktion ist in der Anschauung gegeben, nicht die Möglichkeit zur Abstraktion, sondern die Abstraktion selbst. Eigenschaften, Übereinstimmungen, partielle Identitäten, die wir „durch Abstraktion freimachen", werden zuerst gesehen35. Anders formuliert: das menschliche Erleben hat bereits reflexive Struktur. 12. ERLEBEN UND REFLEXION „Jeder Begriff steht für eine besondere Art von Dingen, und weil Dinge ein für allemal in Arten geschaffen zu sein scheinen, beginnt eine viel wirksamere Behandlungsweise eines gegebenen Erlebnisses, sobald wir dessen verschiedene Teile klassifiziert haben3®." Und so muß man doch auch wieder sagen, daß die Formulierung und die Theorie des Erlebens, die für James einerseits die reine Eigenart des Erlebens verfälschen, andererseits das Erleben so festlegen, so formulieren, daß es mitteilbar und wissenschaftlich verwendbar wird. Es ist die im reinen Erleben schon vorgegebene Reflexion, die das möglich macht. Nehmen wir das von James selbst aufgestellte Problem, nämlich den Versuch, einen vergessenen Namen wiederzufinden. Ich bin ihn los, aber ich weiß, daß ich ihn weiß, und weiß, daß ich ihn los bin. Ich weiß, daß ich viel vergesse, obschon ich nicht weiß, was alles. Selbst wenn das Erleben durch fortwährende Veränderung und Verflüchtigung gekennzeichnet ist, ist es dennoch insofern in sich selbst strukturiert, als meine zurückgreifende Reflexion zumindest darüber sagen kann, daß es sich verändert und entgleitet. Darin besteht die unüberbrückbare Kluft zwischen Mensch und Tier, wie Nietzsche es in seiner Geschichte von dem Menschen, der an das Tier 34
A pluralistic universe, S. 217. Vgl. Fink, Zur ontologtschen Frühgeschichte, S.5: „Sprache ist wesentlich die Eröffnetheit des Seins, ist die Weise, wie dieses sich uns zustellt, sich uns gesellt. Die Sprache, in der wir wohnen, ist die ursprüngliche ,Ontologie'. Der LOGOS ist immer LOGOS des ON." 38 A pluralistic universe, S. 217. 35
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Linschoten
Sprache, Erleben, Wirklichkeit
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Fragen richtet, ausdrückt. „Der Mensch fragt wohl einmal das Tier, warum redest du mir nicht von deinem Glück und siehst midi nur an? Das Tier will auch antworten und sagen: ,das kommt daher, daß ich immer gleich vergesse, was ich sagen wollte', da vergaß es auch schon diese Antwort und schwieg: so daß der Mensch sich darob verwunderte 37 ." Wir Menschen freilich wissen, daß wir vergessen, oder wir wissen wenigstens, daß wir Dinge vergessen haben, ohne zu wissen welche. Es gibt einen reflexiven Rückgriff auf unser Wissen, Erkennen und Erleben. Diese Reflexion versetzt uns auch in die Lage, zu übertreiben und dann zu sagen, daß das ungeformte und unformulierbare Erleben das eigentliche Erleben ist. Wer jedoch diese Theorie verkündigt, macht das mit Worten und tut seiner eigenen Theorie Unrecht. Dann täte er besser daran, zu schweigen und keine Worte mehr zu gebrauchen. Nicht das Unsagbare, das Unausdrückbare, sondern das Gesagte, das Gesprochene, das Besprechbare, das Nennbare, das ist unsere Wirklichkeit. Und auch das Unsagbare ist, wenn wir es unsagbar nennen, verstanden und definiert in seiner Relation zur Sagbarkeit, nicht umgekehrt. So können wir sagen, daß die Sprache transformiert. Mehr noch, daß die Sprache den veränderlichen Erlebnisstrom zu ausgeprägten, prägnanten, gegliederten Gestalten formiert. Menschliche Realität ist eine ausgesprochene Realität. Der Psychologe, ebenso derjenige, der eine andere Wissenschaft betreibt, spricht dieses Ausgeprägte noch einmal aus mit einem eigenen Akzent, einem eigenen Idiom und einer eigenen Grammatik. Das meinte James auch, als er von der „psychologist's reality" sprach. Der Psychologe ist ein Berichterstatter mit seinem eigenen, besonderen Blick auf die Dinge. Ich darf sogar sagen: mit seinen eigenen besonderen Dingen. So wie sie für ihn aussehen, sieht ein anderer sie nicht. Er erzeugt sogar Situationen, Begriffe und Gestalten, die in der alltäglichen Wirklichkeit keine Rolle spielen, es sei denn, daß sie der Psychologe hier einführt: Intelligenz, Komplex, Mutterbindung usw. verdanken ihr Dasein dem Psychologen, der mit dieser Verbalisierung konzipierte, was ihm im menschlichen Verhalten auffiel, und der ihm dadurch eine Struktur, ja sogar eine fast greifbare Festigkeit verlieh, vor der der „Laie" manchmal zurückschreckt. Menschliches Erleben ist schon auf Sprache hin angelegt. Das bedeutet nicht, daß das Erleben schon von Anfang an eine rationale, reflexive Struktur besitzt. Dagegen hat sich lames mit Recht gewehrt. Es bedeutet aber, daß der reflexive Rückgriff auf das Erlebte darin eine ausreichende Struktur erkennt, um es der Reflexion zugänglich zu halten. 37
Zitiert von F. J. J. Buytendijk, Wege zum Verständnis der Tiere; Zürich, o. J., S. 253 f.
Sprache, Erleben, Wirklichkeit
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13. SPRACHE, ERLEBEN, WIRKLICHKEIT Sprache ist nicht nur der Gebrauch bereitliegender Wörter, die Stüde für Stück einsinnig auf Erscheinungen in der Wirklichkeit verweisen. Die Wirklichkeit ist nicht schon vor aller Sprache fertig und unveränderlich gegeben. Die Wirklichkeit, die durch die Sprache ausgesagt wird, ist eine menschliche Wirklichkeit, eine erlebte Wirklichkeit, in der die Sprache bereits wirksam war. Die Sprache ist ein Mittel, durch das in dieser Wirklichkeit Kategorien der Dinge, Ubereinstimmungen und Bedeutungen sichtbar werden. So will es uns jetzt dünken, daß die Relation zwischen Sprache, Erleben und Wirklichkeit viel inniger ist, als es uns zunächst schien. Aber es war dann auch naiv, zu meinen, daß die Sprache wiederholt, was in der Wirklichkeit bereits vorhanden ist. Es war ebenso naiv, zu meinen, daß das Erleben eigentlich und wesentlich ein Strom eines streng inneren, unverbalisierbaren Geschehens ist. Erleben ist Erleben von etwas, und dieses „etwas" ist primär dasjenige, was uns angeht und uns betrifft. Es ist ebensowenig wie Sprache oder Wirklichkeit eine streng individuelle Angelegenheit, die dann auch noch einmal, mehr oder weniger mit dem, was andere erleben, in Übereinstimmung gebracht wird. Unser Leben ist primär ein leibliches Leben, unsere Wirklichkeit ist primär eine leibliche Lebenswelt, unsere Sprache ist allererst eine hierauf abgestimmte Kommunikation. Nur von diesem Gesichtspunkt aus lassen sich die Fragen, die in diesem Kapitel behandelt wurden, in fundamentalem Zusammenhang übersehen. Wir sind noch nicht an diesen Gesichtspunkt herangekommen, außer oder insofern er implizit in James' biologischer Orientierung anwesend war und in der Auffassung, daß Sprache etwas zu tun hat mit der gemeinsamen Grundstruktur eines jeden Lebens von uns. Es ist auch besser, hierauf nicht näher einzugehen, sondern damit zuwarten, bis wir die Bedeutung der Leiblichkeit in James' Psychologie näher ergründet haben. Erst dann kann auch die Bedeutung der Reflexion besser eingeschätzt werden. Und es ist gerade die Reflexion, die zu einem bestimmten, aber auf jeden Fall wichtigen Teil, zu der These von der Ohnmacht der Sprache führen mußte. Es ist ja die Reflexion, die auf das Erleben zurückgreifend, dieses als einen ursprünglichen, aus dem Innern aufwallenden Strom sieht, der qua Struktur und Herkunft vollständig anders sein soll als die Wirklichkeit. Gleichzeitig ist die Wirklichkeit, die erlebte Wirklichkeit, der substantive Kem des Erlebens. Und wenn die Wirklichkeit verbalisierbar ist, dann bedeutet das, daß das Erleben nicht so wortfremd sein kann, wie es zu sein schien. Dann muß schon das Erleben selbst, in seiner eigenen Struktur, die τ
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Spradie, Erleben, Wirklichkeit
Sprache nicht nur möglich machen, sondern selbst hervorrufen. So kamen wir zu der Einsicht, daß Erleben nach Formulierung drängt. Und was sagt man damit anderes, als daß eine Uber-Setzung der Wirklichkeit stattfindet? Bei dem Versuch, Sprache, Erleben und Wirklichkeit in ihrer gegenseitigen Abhängigkeit zu verstehen, verweist das eine stets auf das andere. Und so kann man auch nicht ohne weiteres behaupten, daß die Spradie das Erleben verfälscht. Die Spradie ist insofern „ohnmächtig", als in ihr die erlebte Wirklichkeit nicht ganz redupliziert wird. Aber das bezweckt die Sprache auch nicht. Die Sprache ist primär Aussage von Erlebnis kernen. Und die Verteilung des Erlebten nach Kern und Peripherie, nach dem Substantiven und dem Transitiven, ist primär schon in der erlebten Wirklidikeit vorhanden. Wir sahen bereits im III. Kapitel, daß die Integrität des Erlebnisses keine völlige Homogenität impliziert. Im Gegenteil, die Kontinuität und Integrität des Erlebens setzen eine gewisse innere Struktur, eine Differenzierung des Erlebten voraus. Diesem Sachverhalt müssen wir jetzt eine größere Aufmerksamkeit widmen.
V. D I E K O N T I N U I T Ä T
DES
ERLEBENS
1. WAS B E D E U T E T K O N T I N U I T Ä T D E S
ERLEBENS?
„Kontinuierlich" kann ich nur als Beschaffenheit dessen umschreiben, was ohne Bruch, ohne Riß oder ohne Aufteilung ist, sagt James [I, 237]. Wenn das Bewußtsein kein Aggregat von Inhalten ist, dann ist es Einheit. Das schließt nicht aus, daß man Teile an ihm unterscheiden kann. Man kann sie allerdings nicht scheiden, ohne sie so wesentlich zu verändern, daß etwas anderes als das Teil in seiner Ursprünglichkeit entsteht. Denn schon der „kleinste" Bewußtseinszustand „overflows its own definition" 1 . Der Erlebnisstrom zeigt Kontinuität. Wir müssen recht verstehen, was hiermit gemeint wird. Denn man kann sich doch wohl einen Bruch im Bewußtsein vorstellen. Zwei Dinge sind hier möglich, jedenfalls denkbar. Ich könnte mir vorstellen, daß es eine völlige Unterbrechung des Bewußtseins gibt, während welcher das Bewußtsein erlischt, wie das Licht erlischt, wenn ich am Schalter drehe. Ich könnte mir zweitens vorstellen, daß im Bewußtsein solche abrupten qualitativen und inhaltlichen Veränderungen stattfinden, daß das voraufgehende Segment überhaupt keine Verbindung mehr mit dem nachfolgenden hat. James erklärt uns nun die folgenden beiden Thesen. (1) Angenommen, daß es eine völlige Unterbrechung gäbe, dann fühlt sich das Bewußtsein nach der Unterbrechung doch noch mit dem vorherigen Bewußtsein zusammengehörig als ein anderer Teil desselben Ichs. (2) Von Augenblick zu Augenblick auftretende qualitative Veränderungen des Erlebens sind niemals völlig abrupt. Daß das Erlebnis kontinuierlich verläuft, würde dann keineswegs ausschließen, daß es in Wirklichkeit Brüche geben kann. Wir fühlen sie aber nicht. Aber James verteidigt die Kontinuität auch noch in einer anderen Hinsicht. Das Erlebnis zeigt ganz gewiß auch eine innere Gliederung in dem Sinne, daß wir zwischen einem Zentrum und einer Peripherie unterscheiden können. Mein augenblickliches Bewußtseinsfeld besteht aus einem Zentrum, das von einem Hof* (margin) umgeben ist, der unmerklich in ein A pluralistic universe, S. 286. " Der James'sche Terminus „margin" wird im deutschen Text abweichend von früheren Ubersetzungen mit Hof statt mit Rand wiedergegeben. Das Motiv für diese abweichende Übertragung ist in den konnotativen Bedeutungen der beiden Begriffe zu suchen, indem Rand mehr eine absetzende, trennende Funktion impliziert, während Hof eben den Übergänge mitmeinenden „Bezirk"1
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Die Kontinuität des Erlebens
Unterbewußtsein übergeht. Die Ausdrücke sind willkürlich. Es wurden drei gebraucht, aber es hätten auch dreihundert sein können: „for the fact is all shades and no boundaries" 2 . Dennoch muß man von einer Struktur sprechen, von einer anderen Organisation des Bewußtseinsfeldes im Zentrum und in der Peripherie. Wir haben hier also noch eine These, die übrigens von den dreien cüe wichtigste ist. Auch in den Principles wird sie ausführlich behandelt. Wir werden sie jetzt in der dort gegebenen Reihenfolge untersuchen. 2. ICH ERFAHRE MICH SELBST IN EINEM KONTINUIERLICHEN FORTSCHREITEN Sind wir jemals völlig unbewußt? Die Erfahrung lehrt, daß Bewußtseinsunterbrechungen doch eine ziemlich oft vorkommende Erscheinung sind, wie ζ. B. Schlaf, Ohnmacht, Koma, epileptische Zustände, die einen Großteil dessen in Beschlag nehmen, was wir trotzdem als die Geschichte eines einzelnen Menschen betrachten [I, 199 ff.]. Wenn der Schlaf auch keine so eindeutige Bewußtseinsunterbrechung ist, dann ist das für ein Koma, für eine Narkose, für die Bewußtlosigkeit, die einem heftigen Schlag auf den Kopf folgt, doch wohl der Fall: Ich bin während einer bestimmten Zeit „weg". Ist es nicht sogar möglich, daß derartige Interruptionen fortwährend stattfinden, ohne daß wir das auch nur vermuten? Es ist nicht ausgeschlossen. Aber eines ist sicher, nach so einer Unterbrechung schließt der Anfang des „neuen" Bewußtseins brav am Ende des „alten" an. Bei einer Narkose ζ. B. passen die beiden Enden glatt aneinander. Merken wir eigentlich, daß wir „weg" waren? Ganz bestimmt nicht das „Wegsein" selbst. Wir erwachen mit dem unangenehmen Geschmack, den Äther hinterläßt, wir erinnern uns an die beängstigende Erfahrung des Dahinschwindens und diese beiden schließen sich aneinander. Was sich dazwischen ereignete, ist verschwunden. Es gibt andere Zustände, in denen wir wohl das Gefühl haben, noch etwas von der Unterbrechung zu „wissen". Wer mit geschlossenen Augen in seinem Sessel ertappt wurde, sagt: ich schlief nicht, ich war höchstens ein wenig weg. Und es geschieht höchst selten, daß man nach dem Schlafen überhaupt keinen Eindruck mehr von der verflossenen Zeit hat. Aber ob man nun von der „leeren Zeit" irgendwelche Eindrücke hat oder nicht, all diese Fälle stellen uns vor die Frage, ob nicht das Bewußtsein in Wirklichkeit vielleicht fortwährend diskontinuierlich ist und sich demnach nur kontinuierlich anfühlt. Wer kann darauf eine Antwort geben? oder „Umfeld"-Charakter nahebringt, den James ausdrücken möchte. In adjektivischen Wendungen wird marginal beibehalten. (Anm. d. Ubers.) 2 A pluralistic universe, S. 288.
Idi erfahre mich selbst in einem kontinuierlichen Fortschreiten
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Descartes war der Ansicht, daß das Denken das Wesen der Seele ausmache, und daß infolgedessen nie derartige Unterbrechungen stattfinden könnten, ohne daß die Seele verschwände. Descartes' Geist kann nicht schlafen, ohne sein Dasein zu verlieren. Aber kein normal Sterblicher hat das jemals als ein bedrängendes Problem gefühlt. Wer keine Theorie a priori hat, wie Descartes, darf ruhig zugeben, daß Geist wie Körper ab und zu schlafen. Locke machte sich bereits über Descartes und seine Schüler lustig, als er bemerkte: es kommt mir so vor, als wenn jedes schläfrige Nickerdien diese Lehre in ihren Grundlagen erschüttert 3 . Aber was hat das damit zu tun, ob in Wirklichkeit Unterbrechungen vorkommen? Wenn das Bewußtsein nichts darüber weiß, kann es sie nicht als Unterbrechungen erfahren. Es gibt wohl einen Unterschied zwischen „unfelt gaps" und „feit gaps" [I, 238 ff.]. Bei Narkose und tiefer Bewußtlosigkeit fühlt sich das Bewußtsein ununterbrochen. Es sind einfach ein paar Stunden meines Lebens dahin. Nach dem Schlafen freilich wissen wir nicht nur, daß wir geschlafen haben, sondern wir fühlen, daß wir geschlafen haben. Daß während des Schlafes der Erlebnisstrom, sei es auf herabgesetztem Niveau, weitergeht, zeigt sich neben den zahllosen Erscheinungen, die eine Relation zum Interessierenden in der Außenwelt beweisen, audi darin, daß wir die verflossene Zeit bis zu einer gewissen Grenze beurteilen können. Aber was ist nun genauer das gemeinsame Ganze, zu dem beide gehören: das Bewußtsein vor dem Einschlafen und das Bewußtsein nach dem Erwachen? Das ist nach James das Ich. Müssen Peter und Paul, wenn sie in einem Bett schlafen und gleichzeitig wach werden, suchen, wer wer ist? Der Gedanke ist absurd; man schläft als Peter ein und erwacht als Peter. Der Schlaf kann das Ich nicht aufspalten [I, 239]. Einschlafen wird von uns nicht als ein „Aufhören mit" erfahren, als ein Unterbrechen unserer Geschichte, sondern als ein sich Zurücknehmen mit der Gewißheit, daß wir wieder aufwachen werden 4 . Ich erfahre meinen Schlaf hinterher wohl als eine leere Zeit, aber dennoch als eine Zeit, die wesentlich zu meiner Lebensgeschichte gehört. Ich werde nicht geschlafen. Ich schlafe, ich erwache. Die Kontinuität ist uns gegeben. Das Einschlaferlebnis würde ganz anders sein, wenn es von Tag zu Tag die Erfahrung eines Enischlafens wäre, eines Sterbens, eines Einschlafens mit dem Risiko, niemals mehr aufzuwachen. So ist es nicht. Wir vertrauen uns mit dem sicheren Gefühl dem Schlaf an, morgen den Faden wieder aufnehmen zu können, wo wir ihn heute liegen lassen. Um diesen Faden geht es. Wenn James von einer „community of self" spricht, die durch den Schlaf nicht unterbrochen wird [I, 239], dann 3 4
Lodce, Essay, Bk. II, Ch. I, § 13. Vgl. mein: Über das Einschlafen; Psydtol. Beitr., 1955/6 (2), 70—97; 266—298.
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Die Kontinuität des Erlebens
weckt dieses Bild leicht die Suggestion, daß er ein substantielles Ich annimmt. Wir werden später sehen, daß er das auch hier ganz gewiß nicht meint®. Deshalb drückt er sich besser aus, wenn er später von einer „coconscious transition" spricht: „Was ich schlechthin erlebe, wenn ein späteres Moment meines Erlebens einem früheren folgt, ist, daß sie, obgleich es zwei Momente sind, kontinuierlich ineinander übergehen", und dabei ist dieser Ubergang selbst eines der unmittelbar erlebten Dinge®. Der Strom des Erlebens ist durch eine erfahrene Kontinuität gekennzeichnet. Warum das so sein muß, werden wir später sehen 7 . 3. KONTINUITÄT BEI ABRUPTEN ÜBERGÄNGEN In jedem Empfindungszuwachs, bei jedem Versuch, etwas ins Gedächtnis zurückzurufen, in jeder fortschreitenden Befriedigung ist die Aufeinanderfolge von Leere und Erfüllung, die aufeinander bezogen sind, für die Erscheinung wesentlich 8 . Die erfahrene Einheit überspannt die Gegensätze. Aber stellen sich denn nie plötzliche Veränderungen im Erleben ein, die das Kennzeichen einer Diskontinuität besitzen? Auf den ersten Blick scheint die Regelmäßigkeitshypothese im Gegensatz zu unserer alltäglichen Erfahrung zu stehen, wie ζ. B. bei einer Explosion, die mich vor Schrecken lähmen kann, bei der alles das, womit ich beschäftigt war, plötzlich wegfällt, und ich etwas später, wenn ich über den Schock hinweg bin, Mühe habe, wiederzufinden, wo ich stehen geblieben war. Gerade der Schrecken trägt das Kennzeichen abrupter Veränderung. Wenn das Schreckenerregende vorher angekündigt worden wäre, gäbe es keinen Schrecken. Wir brauchen übrigens nicht nur an solche explosiven Ereignisse zu denken. Das plötzliche Auftreten von etwas Neuem ist eine ebenso abrupte Erfahrung [I, 239 ff.]. Allgemein: das Unerwartete, das, was man nicht vorhersehen kann, gibt uns das Gefühl von Diskontinuität und Abruptheit in unserem Erleben. Dasjenige, was augenblicklich Aufmerksamkeit verlangt oder sogar erzwingt; eine sich bewegende Neonreklame oder ein Gedanke, der mir einfällt — es wird als ein Bruch erfahren. Aber wir wollen uns nicht des so fatalen „psychologist's fallacy" schuldig machen! Wir müssen ja einen Unterschied zwischen den Erlebnissen und den Dingen machen, sagt James. Das Diskrete, Diskontinuierliche steckt gerade in den Dingen, in der äußeren Veränderung. Es ist nicht imstande, den Erlebnisstrom selbst zu unterbrechen. Der Ubergang von der Stille zum Donnerschlag ist genausowenig ein Bruch im Erlebnis wie der Knoten im Bambusstengel ein Bruch im Holz 5 β 7 8
S. u., S. 227, 232. A world of pure experience; in: Essays in radical empiricism, S. 47 ff. Vgl. S. 231. A pluralistic universe, S. 283.
Brentano: Die Einheit des Bewußtseinsstromes
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ist. Es gibt einen Bruch in der Situation, in der ich mich befinde, aber in der Erlebnisform ist gegliederte Kontinuität. Wir wollen versuchen, uns das zu verdeutlichen. Bis in das Erlebnis des Donnerschlages, der plötzlich aus heiterem Himmel hereinbricht, setzt sich das Erlebnis der voraufgehenden Stille fort. Denn, was wir hören, ist kein purer Donnerschlag, sondern der Donner-derdie-Stille-unterbricht-und-dazu-kontrastiert [1,240]. Nur weil die Stille noch nachklingt, ist der Donner so eindrucksvoll. Erleben ist eine überbrückende Einheit von Aktualität, Retention und Pretention. Stellen wir uns ein Wesen vor, bei dem das Jetzt des Erlebnisses mit dem streng aktuellen physischen Zeitaugenblick zusammenfallen würde. Bei einem derartigen Wesen könnte von einem Gedächtnis gar keine Rede sein, denn dasjenige, was jetzt geschieht, hat für dieses Wesen überhaupt keine Beziehung mehr zu dem, was sich soeben ereignete. Erst, wenn unser Erlebnis-Jetzt eine gewisse Stärke hat, eine Retention da ist, und dasjenige, was gleich geschieht, schon antizipiert wird, ist Erinnerung möglich. Aber mehr als das. Nur unter dieser Bedingung ist auch das Selbstbewußtsein möglich. Dieses überbrückende Erlebnis ist auch eine elementare Gegebenheit. Es war schon die Rede davon bei der „co-conscious transition". Aber auch die Principles sagen es deutlich: Unser Erleben des aktuell Gegebenen ist immer mit vergangenen und zukünftigen, mit nahen und entfernten Phasen des Erlebnisstromes durchsetzt [I, 606]. Wenn sich um uns plötzlich etwas verändert, bemerken wir die Plötzlichkeit gerade in dessen Erlebnis. Und das heißt, daß das Plötzliche den Strom nicht unterbricht, sondern darin aufgenommen wurde. 4. BRENTANO: DIE EINHEIT DES BEWUSSTSEINSSTROMES Bei seinem Beispiel von Donner-und-Blitz bittet James den Leser in einer Fußnote, das, was er sagt, mit dem zu vergleichen, was Brentano auf S. 219 f. seiner Psychologie sagt. „Altogether this chapter of Brentano's on the Unity of Consciousness is as good as anything with which I am acquainted", sagt er dann [I, 240 Anm.]. Und so ist dieses Kapitel (wenn James es auch nicht sagt) die Grundlage, auf der James seine Theorie des Erlebnisstromes, seine Theorie des Ich und der Zeitwahrnehmung aufbaute. Auch nach den heftigsten plötzlichen Veränderungen zeigt sich eine Verwandtschaft zwischen den früheren und späteren Teilen des Bewußtseins, lehrt Brentano. Die Einheit bleibt stets gewährleistet®. Die Frage, die sich Brentano in seinem Kapitel über die Einheit des Bewußtseins stellt, ist eine Frage, die wir bereits von verschiedenen Seiten betrachtet haben: die Frage nach dem gegenseitigen Verhältnis der soge9
Brentano, Psychologie, S. 219.
Die Kontinuität des Erlebens
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nannten Bewußtseinsinhalte. Haben wir es bei komplizierteren Bewußtseinszuständen mit einem Kollektivum von Dingen zu tun oder gehört bei den einfachsten so gut wie bei den kompliziertesten Zuständen das Ganze der psychischen Erscheinungen zu einem einzigen Ding?10 Ein Kollektivum ist eine Ansammlung von zusammengestellten Gegenständen, die keine reale Einheit bilden. So bilden ζ. B. zwanzig Kühe auf der Weide eine solche Ansammlung. Ich kann der Ansammlung als solcher einen Namen geben und von einer Herde reden. Es ist aber klar, daß die Kühe selbst unterschiedliche, voneinander unabhängig handelnde Individuen bleiben. Stellt man sich nun das Bewußtsein als eine Kuhherde vor, alle möglichen Empfindungen, Erinnerungen, Vorstellungen, die nebeneinander auf der Bewußtseinswiese grasen, dann muß man erklären, wie es kommt, daß der eine Bewußtseinsinhalt mit dem anderen Relationen der Verbundenheit zeigen kann. Wir hören ζ. B. einen Ton, wir sehen eine Farbe. Wir können Ton und Farbe, so heterogen sie auch sind, dennoch vergleichen, wenn auch nur dadurch, daß wir den Unterschied feststellen. Aber was für ein psychischer Inhalt ist nun dieser Unterschied selbst? Sehe ich den Unterschied als Eigenschaft der Farbe? Falls ja, wie weiß ich, daß er auf den Ton bezogen ist? Oder höre ich es am Ton? Was hat er dann mit der Farbe zu tun? Oder ist es eine Eigenschaft, die beiden Inhalten, Ton und Farbe, getrennt zukommt? Wie kommt es denn, daß ich sage: das ist der Unterschied? Oder muß ich sagen: das Bewußtsein des Unterschiedes zwischen Farbe und Ton ist ein dritter Bewußtseinsinhalt? Dann habe ich also statt zwei Inhalten jetzt drei, aber eine innere Relation ist immer noch nicht da. Wie sollen wir das lösen? Brentano sagt: „Nur wenn in ein und derselben Realität Ton und Farbe gemeinsam vorgestellt sind, ist es denkbar, daß beide miteinander verglichen werden11." Und wörtlich sagt auch James: „it is obvious that if things are to be thought in relation, they must be thought together, and in one something, be that something ego, psychosis, state of consciousness, or whatever you please. If not thought with each other, things are not thought in relation at all" [I, 277]. Aber falls sie in Relation erlebt werden, dann geschieht das „from the outset in a unity, in a single pulse of subjectivity" [I, 278]. Wer eine Melodie hört, bemerkt, wenn er darauf achtet, daß er, während er den einen Ton gegenwärtig hat, den anderen als „vorbei" auch noch bewußt hat12. Das ist genau die Argumentation, die auch von James konstruiert wurde: Dasjenige, was als „vorbei" erlebt wird, muß, um als „vorbei" erlebt zu werden, mit dem Gegenwärtigen erlebt werden [I, 629]. 10 11 12
Brentano, Psychologie, S.206. Brentano, Psydiologie, S.209. Brentano, Psydiologie, S. 210.
Brentano: Die Einheit des Bewußtseinsstromes
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Wenn das Erlebnis nun von derArtABCDEFG ist, dann wird das folgende von der Art BCDEFGH sein und das darauffolgende CDEFGHI — „the lingerings of the past dropping successively away, and the incomings of the future making up the loss" [I, 606]. Ich könnte keine Melodie hören, wenn ich außer den jeweiligen Tönen nicht auch den Zusammenhang, den Ubergang von Ton a zu Ton b präsent hätte. Wer bemerkt, daß er hört und sieht, bemerkt audi, daß er beides zugleich tut. Falls sich Sehen und Hören auf verschiedene Inhalte beziehen, wenn also das Wort „Sehen" bedeutet, daß in meinem Bewußtsein Gesichtsempfindungen vorhanden sind, und „Hören", daß im Bewußtsein Gehörsempfindungen anwesend sind, worauf bezieht sich dann die Gleichzeitigkeitserfahrung? Auf der anderen Seite können wir doch auch nicht sagen, daß alle psychischen Tätigkeiten, die im selben Augenblick statt' finden, auch miteinander identisch sind. Dann könnte ich sie wieder nicht unterscheiden. Gleichzeitige psychische Tätigkeiten nennt Brentano deshalb divisiva, Teile oder Gliederungen der einen psychischen Wirklichkeit13. Die Einheit des Bewußtseins, wie die „innere Wahrnehmung" uns diese kennen lehrt, besteht darin, daß alle gleichzeitig auftretenden psychischen Erscheinungen, mögen sie auch noch so verschiedenartig sein wie Sehen und Hören, Vorstellen, Urteilen und Entschließen, Lieben und Hassen, Begehren und Ausweichen usw., als Teilerscheinungen (divisiva) zu einer einzigen realen Einheit gehören14. Das ist etwas anderes, als wenn man sagen würde, daß das Bewußtsein ein einziges, ungegliedertes Ganzes ist. Jedoch die Zielsetzungen von James und Brentano decken sich nicht. Sie sind sich darin einig, daß das Bewußtsein eine gegliederte Einheit ist. Der Systematiker Brentano interessiert sich vor allem für die Art dieser Einheit. James sucht vom Einheitsbegriff aus nach einer Bekämpfung der Assoziationstheorie und nach Mitteln, um doch die Vielfältigkeit, die innere Variiertheit, die sich unentwegt verändernden Nuancen des Erlebens deskriptiv zu erfassen. „Im Pulsschlag des inneren Lebens, der sich jetzt in jedem von uns vollzieht, ist ein wenig Vergangenheit gegenwärtig, ein wenig Zukunft, ein verschwommenes Verständnis unseres eigenen Leibes, voneinander, der erhabenen Dinge, über die wir zu sprechen versuchen, der Geographie und der Richtung der Geschichte, von Wahrheit und Irrtum, von gut und bös, und von wer weiß wieviel mehr. Ihr Pulsschlag des inneren Lebens, der, wie verschwommen und unterbewußt auch, alle diese Dinge fühlt, ist mit den Dingen verbunden 15 ." 13 11 15
Brentano, Psychologie, S. 211. Brentano, Psychologie, S. 214. A pluralistic universe, S. 286.
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Die Kontinuität des Erlebens 5. „IT ALL GOES BACK TO . .
Jedes Erlebnis enthält eine ungeheure Vielfalt von Eindrücken und Erinnerungen, aufgehoben in einem weit verzweigten Zusammenhang von Bedeutungen, der sidi für gewöhnlich nur ganz allmählich verändert. Neurophysiologische Befunde können uns Einsicht in die Frage verschaffen, warum das so ist. Es verschwindet ja kein Gehirnzustand sofort. Wenn sich ein neuer Zustand entwickelt, klingt der alte noch nach und modifiziert den neuen. „It all goes back to what we said a few pages ago . . . As the total neurosis changes, so does the total psychosis change" [I, 243]. Und wie die Prozesse im ZNS nie völlig diskontinuierlich sind, sondern ineinander übergehen, so ist das Erlebnisganze nie völlig ciskontinuierlich von einem Augenblick zum anderen. Das ist ganz James. Er hält seine deskriptiven Ergebnisse erst für sicher, wenn er sie in physiologischen Ausdrücken verantworten kann. Und so liefert er uns gleich eine „Ableitung" seiner Lehre der substantiven und transitiven Teile des Erlebnisstromes aus den Hirnprozessen — während es in Wirklichkeit um eine Ubersetzung in umgekehrter Richtung geht. Aber folgen wir James! Die Hirnzustände (abc) und (bed) folgen einander so, daß bei der Veränderung die Kontinuität und der innere Zusammenhang der Erlebnisse erhalten bleibt. Aber damit haben wir noch kein Wort über die Schnelligkeit der Aufeinanderfolge gesagt. Die Veränderung kann schnell oder langsam vor sich gehen. Nehmen wir einmal an, daß die Veränderungen langsam verlaufen. Eine Pflanze wächst nach unseren Begriffen langsam. Ich sehe eine Pflanze nicht wachsen. Dafür geht es zu träge. Stellen wir uns nun einen Hirnprozeß vor, der sich langsam verändert. Ist das nicht die Bedingung, unter der wir ein Objekt erleben, das uns unveränderlich zu sein scheint? Wenn die Hirnprozesse dagegen schnell verlaufen, ist das nicht die Grundlage für unser Erleben von Ubergängen, Relationen, Veränderungen und gleichzeitig die Grundlage für ihre Unformulierbarkeit? Der Erlebnisstrom ist mit dem Leben eines Vogels zu vergleichen: Fliegen und Niedergehen wechseln einander ab. Die Ruhezeiten sind mit sinnlichen Vorstellungen gefüllt, die man lange Zeit geistig lebendig halten kann, die eine große Stabilität besitzen. Die Flugzeiten dagegen werden durch Beziehungsgefühle in Beschlag genommen, zum größten Teil Beziehungen zwischen den stabilen Objekten der Ruhezeiten. Aber vielleicht können wir besser von substantiven und transitiven Teilen des Erlebnisstromes reden [I, 243],
Substantive und transitive Erlebnisse
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6. SUBSTANTIVE UND TRANSITIVE E R L E B N I S S E James will also auf Grund seiner physiologischen Betrachtungen über die Schnelligkeit des Verlaufs von Gehirnprozessen zwei Erlebnisarten unterscheiden. Daß es sich hierbei nicht um tatsächliche Klassen handeln kann in dem Sinne, daß Substantivität und Transitivität absolute und stufenlose Beschaffenheiten wären, liegt auf der Hand. Denken wir im Stile James' weiter, dann müssen wir ja sagen, daß die Veränderungsschnelligkeit der Prozesse zwischen einem bestimmten Maximum und Minimum variieren kann. In Wirklichkeit sind dann alle Erlebnisse transitiv — freilich mehr oder weniger18. Es ginge also eher um einen polaren Gegensatz innerhalb einer Dimension, deren Extreme idealtypisch charakterisiert werden. Nun handelt es sich im Leben um die substantiven Teile — oder wir wollen lieber sagen, abweichend von James' Sprachgebrauch, aber übereinstimmend mit seinen Absichten: um die substantiven Erlebnisse. Die transitiven Erlebnisse haben eine leitende Funktion, sie führen uns vom einen substantiven Erlebnis zum anderen, sie vergegenwärtigen dort den beweglichen, den dynamischen Charakter des Erlebens, wo zum substantiven Erlebnis eine gewisse Fixierung, ein statisches Gepräge gehört. Die transitiven Erlebnisse lassen sich introspektiv nur schwierig fassen. Sobald man anhält, um sie ins Auge zu fassen, und man sie also fixiert, verlieren sie ihre Transitivität, werden sie objekthaft, substantiv — falls sie nicht vollends entgleiten. Zu diesen transitiven Erscheinungen gehören nun gerade die Gefühle, die „feelings" von „if", „and", alle „feelings of relation". Es kann uns also nicht mehr verwundern, daß sie keinen Namen haben, daß wir sie nicht wie die Dinge einfach mit einem einzigen Ausdruck benennen können; denn sie haben ein anderes Dasein als die Dinge. Sie bestehen ausschließlich als Ubergang, Relation, Hinweis auf Zusammenhänge; als Sinnes- und Beziehungs-„Gedanken", als Intuitionen, die sich jeglicher Formulierung entziehen. Wenn wir sie alle mit einem Namen versehen, werden sie mit Hilfe der substantiven Erlebnisse, zu denen sie führen, benannt. Dann sprechen wir von einem Gedanken über etwas, über dieses oder jenes Objekt; denn der Erlebnisstrom ist ein gerichteter Strom. Er zielt irgendwohin und schätzt das Ziel, das Substantive, höher als das Transitive, das Bewegliche, das ja ein Mittel ist, um zum Substantiven zu gelangen. l e Vgl. den kurzen Kommentar Bergsons in einem Brief vom 6. 1. 1903, Berits et paroles, S. 192 f.: j'avais ete conduit, par une analyse de l'idee de temps . . . ä une certaine conception de la vie psychologique qui est tout ä fait conciliable avec celle de votre psychologie (sauf toutefois que je vois dans les resting-places elles-memes, des places of flight auxquelles le regard fixe de la conscience conf^re une immobilite apparente)".
Die Kontinuität des Erlebens
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Denken wir einen Augenblick zurück an die Probleme, die im voraufgehenden Kapitel zur Sprache kamen, dann muß es uns doch auffallen, daß James zu sich selbst in Widerspruch geriet, als er mit sehr viel Nachdruck jegliche Verbalisierung als unzureichend von der Hand wies. Dabei vermied er, es so auszudrücken, als ob alle Erlebnisse allererst durch die Transitivität gekennzeichnet wären. Jetzt hören wir aber, daß „the main end of our thinking is at all times the attainment of some other substantive part than the one from which we have just been dislodged" [1,243]. Daß damit auch die Verbalisierung in ein vollkommen anderes Licht gerückt wird, teilt James nicht mit. Wir werden jetzt nicht näher darauf eingehen, weil wir später noch einen Versuch wagen werden, die hier liegende, aber auch in anderen Problemen fortwirkende fundamentale Doppeldeutigkeit von James' Denken zu analysieren17. — Es gibt noch einen anderen Punkt, der im Zusammenhang mit der Unterscheidung von substantiven und transitiven Erlebnissen unsere Aufmerksamkeit verlangt. 7. „THOUGHT" UND „FEELING" — „AKT" UND „ERLEBNIS" Im Erleben geht es um die substantiven Teile. Die transitiven Teile führen uns dabei von dem einen substantiven Erlebnis zum anderen. Es liegt auf der Hand, zu glauben, daß James hierbei dem Wahrnehmen, Vorstellen, Erinnern und Denken eine gewisse Überlegenheit gegenüber den Gefühlen zuerkennt. Denn obgleich er den Unterschied zwischen substantiven und transitiven Teilen als einen allgemeinen Unterschied innerhalb eines jeglichen Erlebens einführt, liegt es, auch schon durch seine eigene Terminologie, auf der Hand, das substantive Erleben als das erkennende, das transitive Erleben als das fühlende aufzufassen. Oder muß man es umkehren? Ist das erkennende Erleben erkennend, insofern es substantiv ist, das fühlende fühlend, insofern es transitiv ist? Dann handelt es sich aber nicht nur um einen polaren Gegensatz, bestimmt durch eine Idealisierung der Verlaufsschnelligkeit, sondern um einen Wesensunterschied, einen Unterschied a priori in der Gerichtetheit. Daß es sich tatsächlich hierum handelt, hat James selbst nicht bemerkt, infolge seiner unglücklichen „Ableitung" aus der Schnelligkeit der Hirnprozesse. Kann man andererseits jedoch daran festhalten, daß er einen Wesensunterschied gemeint hat? Das muß dann doch wenigstens implizit in seinen Darlegungen enthalten sein. Unserer Meinung nach ist das auch tatsächlich der Fall. Um zu einem Schluß zu kommen, betrachten wir noch einmal den Unterschied zwischen „thought" und „feeling", wie er von James angewandt wird. Er verwendet beide Ausdrücke für die Bewußtseinserscheinungen im allgemeinen, und zwar „to the convenience of the context" [I, 185]. 17
Siehe unten, S. 132.
„Thought" und „Feeling" — „Akt" und „Erlebnis"
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Den Unterschied, der durch den Gebrauch von zwei Ausdrücken dargestellt wird, müssen wir dann ebenso aus diesem Kontext hervorholen. Offenbar hält James den im Empirismus klassischen Gegensatz von „impression" (bzw. „sensation") und „idea" für von grundlegender Bedeutung. „Zahnschmerzen", die aktuelle Erfahrung, kann man nicht ausdrücken als „thought of a toothache" [I. 186], dafür ist dieses Erlebnis offensichtlich zu direkt, zu leiblich, zu viel ein Ergriffensein, während „thought": „suggests the omnipresence of cognition (or reference to an object other than the mental state itself), which we shall soon see to be of the mental life's essence" [I, 186]; „the essence of feeling" dagegen „is to be felt" [I, 163]. „Thought" steht für das Erlebnis, insofern es kognitiv ist, auf ein Objekt bezogen [I, 271 ff.], „feelings" sind näher zu bestimmen als „feelings of relation"18 [I, 244ff.], „feelings of tendency" [I, 249ff.]; d.h.: „feeling" ist das Nicht-Substantivierbare, Nicht-Formulierbare, „gefühlsmäßiges" oder „intuitives" Erleben von Bedeutungshinweisen, von Zusammenhängen zwischen Inhalten, von Gerichtetheiten und Richtungen im Erleben, die, ebenso wie die Erregungen, das Merkmal dessen haben, „was mich überkommt", „was mir einfällt", „was ich nur so weiß (vermute)", dessen, was phänomenal außerhalb meiner Tätigkeit, außerhalb meines Willens und meiner Anspannung gegeben ist und mich auf eine nicht wiederholbare Weise anspricht. So war beim vergessenen Namen die Rede von einem „feeling of an absence" [I, 252], und so kann man von einem „feeling of rationality" sprechen, wenn etwas Sinnvolles in einen Kontext paßt oder nicht paßt [I, 262], So sicher wie es Relationen zwischen den wirklichen Dingen gibt, so sicher gibt es „feelings", „to which these relations are known" [I, 245; I, 258 Anm.]. Nicht nur die Bezogenheit des Erlebnisses auf klar umschriebene Objekte heißt also „knowing", sondern auch die Bezogenheit auf Sinnzusammenhänge und Richtungen, auf alles das, was uns sofort „erregt". Aber dann gibt es auch zwei Arten von „knowledge", zwei Erfahrungs- und Erlebnisweisen. Man kann sie unterscheiden als Bekannt-sein-mit (knowledge of acquaintance) und Kenntnis-über (knowledge-about), „and the words feeling and thought give voice to the antithesis" ([I, 222], „Ich bin mit vielen Menschen und Dingen bekannt, über die ich sehr wenig weiß . . . Ich kenne die Farbe Blau, wenn ich sie sehe, den Geschmack einer Birne, wenn ich sie schmecke; ich kenne einen Zoll, wenn ich meinen Finger über diese Strecke bewege, eine Sekunde, wenn ich sie vorübergehen fühle, Konzentration, wenn ich sie aufbringe; ich kenne einen Unterschied zwischen zwei Dingen, wenn ich ihn bemerke, aber über die innere Art 18 Daß James auch einmal von „thoughts of relations" (I, 243) redet, betrachten wir dann als eine Inkonsequenz.
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dieser Dinge oder über das, was sie zu dem macht, was sie sind, kann ich gar nichts sagen. Die Bekanntheit mit diesen Dingen kann ich keinem mitteilen, der sie nicht selbst schon kennt. Ich kann sie nicht beschreiben, einen Blinden nicht vermuten lassen, wie blau aussieht, einem Kinde keinen Syllogismus definieren, einem Philosophen nicht präzise deutlich machen, in welcher Hinsicht Abstand genau ist, was er ist und worin er sich von anderen Relationsformen unterscheidet. Ich kann höchstens zu meinen Freunden sagen: geht zu einer bestimmten Stelle, handelt auf eine bestimmte Art, und wahrscheinlich werden diese Dinge erscheinen. Alle elementaren Gegebenheiten (natures) der Welt, die abstraktesten Kategorien, die einfachen Qualitäten von Stoff und Geist und die Relationsarten, die dazwischen bestehen, werden entweder überhaupt nicht erkannt oder auf diese stumme Art von Bekannt-sein-mit ohne Wissen-über. Es ist wahr, daß Wesen, die imstande sind zu sprechen, irgendwelche Kenntnis über alle Dinge besitzen. Dinge können wenigstens klassifiziert werden, und der Augenblick ihres Erscheinens kann genannt werden. Aber im allgemeinen gilt: je weniger wir ein Ding analysieren und je weniger wir von seinen Relationen wahrnehmen, desto weniger wissen wir über das Ding und desto mehr ist unsere Vertrautheit damit vom Typ des Bekannt-sein-mit" [1,221]. Wir werden jetzt außer Betracht lassen, daß James, obgleich er hier Bekannt-sein-mit und Wissen-über mit „feeling" bzw. „thought" gleichstellt, es später umgekehrt tut. Dann heißt es, daß Kenntnis-über eine Dingkenntnis eines Dinges-in-seinen-Relationen ist, Relationen, von denen wir zum größten Teil Ahnung haben „in the penumbral nascent way of a .fringe' of unarticulated affinities about it" [I, 259], d.h.: durdi „feeling". Nun gut, er widerspricht sich halt, und das ist bei James' wenig systematischem Vorgehen kaum verwunderlich. Wir ziehen die erste Interpretation vor, weil James mit Wissen-über doch wohl deutlich meint, daß die Relationen des Dinges zu anderen Dingen explizit erkannt werden und nicht in einem „penumbral nascent way". James hat im Gegensatzpaar „feeling" und „thought" zu viele Gegensätze unterbringen wollen, die nicht alle vom gleichen Niveau sind oder auf einen Nenner zurückgeführt werden können. Wir wollen einmal die wichtigsten Gegensätze, wie sie aus dem Vorausgehenden hervorgehen, ordnungsgemäß klassifizieren. Wir erhalten dann das folgende Schema: Α) B)
„FEELING" transitiv marginal Relationen Bedeutung Sinn Richtung
„THOUGHT" Substantiv zentral Objekt
„Thought" und „Feeling" — „Akt" und „Erlebnis" gefühlsmäßig unnennbar irreflexiv Vertrautheit D) ursprünglich Empfindung intuitiv „impression" E) vage konfus F) implizit C)
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rational verbalisierbar (prä)reflexiv Wissen abgeleitet Denken diskursiv „idea" präzis clair et distinct explizit
Bei diesem Schema sei nur das Folgende angemerkt: die Gegensätze unter Ε durchkreuzen die anderen Kategorien. Das Transitive und das Substantive können ja auf je eigene Weise vage und klar umschrieben sein. Es gibt deutliche „gefühlsmäßige" oder „intuitive" Sinngedanken und vage Vermutungen ebenso wie klare und konfuse Begriffe. Beide haben ihre eigene Weise der Klarheit und können auf eigene Weise zur Klarheit gebracht werden: ein „feeling", indem es als das geschehen wird, was es ist, ein „thought", indem er explizit und möglichst genau formuliert wird. Erst wenn man das „feeling" im allgemeinen vom prägnanten „thought" aus beurteilt (Descartes!), erscheinen diese beiden in der Relation von konfus gegenüber klar und bestimmt. James' Antirationalismus bringt ihn eher dazu, den fixierten „thought" vom fließenden „feeling" aus zu beurteilen, um dann „thought" zu disqualifizieren als das Inadäquate, als das die Wirklichkeit ( = „feeling"!) Verfälschende19. Nach dem vorausgegangenen Kapitel werden wir über diese Bevorzugung nichts mehr sagen. Suchen wir nun den allgemeinsten Nenner aus diesem Schema herauszuschälen (der dann freilich nicht allen aufgeführten Gegensätzen ganz gerecht wird), dann stimmt er überein mit Husserls (ebensowenig völlig klaren) Unterscheidung zwischen Erlebnis und Akt. „Unter Erlebnisse im weitesten Sinne verstehen wir alles und jedes im Erlebnisstrom Vorfindliche; also nicht nur die intentionalen Erlebnisse, die aktuellen und potentiellen cogitationes, dieselben in ihrer Konkretion genommen; sondern was irgend an reellen Momenten in diesem Strom und seinen konkreten Teilen vorfindlich ist20." Erlebnisse sind für Husserl ζ. B. auch die Empfindungsdaten (Kategorie D); das Weiß ist ζ. B. von einem Stück Papier, das zwar Träger einer Intentionalität ist, aber selbst nicht Bewußtsein-von-etwas(-Anderem) ist: es 1 9 Vgl. A pluralistic universe, S. 19: „Think of German books on religionsphilosophie, with the heart's battles translated into conceptual jargon . . . " . 2 0 Husserl, Ideen, I, S. 65.
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Lin schoten
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ist ein einfach Gegebenes. Über „intentionales Erlebnis" spricht er dagegen, wenn das Erlebnis „Bewußtsein von etwas" ist („reference to an object other than the mental state itself" kennzeichnet „thought"; I, 186). Wir wollen einen Augenblick Husserls „Empfindungen" und James' „impressions" außerhalb der Betrachtung lassen; dann gilt für James' „thoughts" und „feelings", daß sie „intentionale Erlebnisse" sind. James schreibt ja auch den „feelings" eine kognitive Funktion zu: „feelings of relation", „feelings of tendency". Aber innerhalb dieses allgemeinen Intentionalitätsgepräges, das „feeling" und „thought" gemeinsam haben (noch immer von den Empfindungen abgesehen) macht James doch noch einen Unterschied zwischen diesen beiden. Husserl macht den gleichen Unterschied zwischen „intentionalen Erlebnissen" im allgemeinen und deren besonderer Form, die „Akt" oder „cogitatio" heißt21. „Akte" sind die intentionalen Erlebnisse, bei denen die Rede ist von „herausfassendes Achten auf die Bewußtseinsobjekte"; Akte werden vollzogen22 (vgl. Kategorie C). Sie sind also doch besondere Momente im Erlebnisstrom. James charakterisiert sie durch die Reflexivität und Substantivität. Zwischen „feeling" bzw. „Erlebnis" einerseits und „thought" bzw. „Akt" andererseits besteht ein wesentlicher Unterschied; aber dann in dem Sinne, daß „thought" eine besondere Art in der Klasse „feeling" bildet. Ihre Wesensverwandtschaft wird James später dazu führen, die Zweiteilung fallen zu lassen und im allgemeinen von „experience" (Erlebnis oder Erfahrung) zu sprechen. Wir sagten schon: James wollte zu viele Gegensätze in einem Doppelterminus zusammenfassen. Bevor die Principles erschienen, hatte er sich bereits deutlich über das Verhältnis zwischen „thought" und „feeling" geäußert: „The contrast is really between two aspects, in which all mental facts without exception may be taken; their structural aspect, as being subjective, and their functional aspect, as being cognitions. In the former aspect, the highest as well as the lowest is a feeling, a peculiarly tinged segment of the stream. This tingeing is its sensitive body, the wie ihm zu Muthe ist, the way it feels whilst passing. In the latter aspect, the lowest mental fact as well as the highest may grasp some bit of truth as its content, even though that truth were as relationless a matter as a bare unlocalized and undated quality of pain. From the cognitive point of view, all mental facts are intellections. From the subjective point of view, all are feelings"23 (vgl. Kategorie C). Diese Unterscheidung zwischen einem (Selbst-)Erlebnis21 Daß in Logische Untersuchungen „Akt" und „intentionales Erlebnis" nodi synonym sind, lassen wir außerhalb der Betrachtung. 22
23
Husserl, Ideen, I, S. 63.
On some omissions, etc., S. 18 f. Auch als Fußnote in Principles, I, 478.
Das marginale Erleben
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aspekt und einem intentionalen Aspekt läßt sich sehr gut mit der Interpretation, die wir soeben gaben, vereinigen. Allerdings nicht mit anderen Teilen von James' eigener Theorie. Nun müßte ja ein Erlebnis gleichzeitig transitiv und substantiv sein in verschiedener Hinsicht. Wie verträgt sich das mit der Verlaufsschnelligkeit der Gehirnprozesse, die entweder schnell oder langsam ist? Hiermit sind gewiß nicht alle Probleme gelöst, die James' Terminologie aufwirft. Aber um so mehr wird uns deutlich, daß es dieselben Probleme sind, mit denen auch Husserl kämpfte. Und die — sei es auch schematische — Ordnung, die wir aufstellten, wird sich für das Folgende als wichtig erweisen. 8. DAS MARGINALE ERLEBEN Transitive Erlebnisse gruppieren sich immer um die substantiven. Sie bilden eine Art psychischen Obertons, eine Franse, in der Relationen und Dinge schattenhaft erscheinen. Immer ist im Erlebnis der Hof (margin) vager Erlebnisse, der freilich auf das Substantive bezogen ist. In diesen Fransen liegen die Relationen des Objektes unseres Denkens mit zahllosen anderen Objekten [I, 258f.]. Ich sehe einen Gegenstand. Ich erkenne ihn wieder. Wenn mich jemand fragt, was es ist, dann antworte ich: eine Uhr. Sie dient dazu, die Zeit zu messen und sie arbeitet so und so. Aber sah ich das alles an der Uhr? Sicherlich nicht explizit. Diese Kenntnis klang wohl im Hintergrund meines Wahrnehmungserlebens mit, und wenn mich jemand fragt: was ist das?, dann hole ich dieses Wissen aus dem Hof (margin) hervor und mache es explizit. Für gewöhnlich kann ich freilich nicht alles aus diesem Schattengebiet ins klare Licht des begrifflichen Denkens bringen. Vieles bleibt schattenhaft, unartikuliert und implizit. Aber deshalb ist es keine Nebensache. Der Ausdruck „Franse" soll uns nicht zu der Annahme verleiten, daß es sich um ein Anhängsel ohne Bedeutung handelt. Die Franse ist nicht so etwas wie der Bart einer Auster, sondern ist ein Teil des erfahrenen Objektes; substantive Qualitäten und Dinge erscheinen in einer Franse von Relationen [I, 258 Anm.], die den Bereich des marginalen Erlebens bilden. Und das spielt eine wesentliche Rolle hinsichtlich des Fokus, desjenigen, in dem das Erlebnis zentriert ist. James verdeutlicht das insbesondere am Denken und an der Sprache. Wenn ich nachdenke, dann habe ich das, was James ein „topic" nennt (einen Gegenstand; wir werden von Thema sprechen). Ich denke über irgendwas nach und das nicht nur im statischen Sinne. Mein Denken handelt nicht nur über abgerundete Substantive wie „mein Hund" oder „der pythagoreische Lehrsatz", es geht auch irgendwohin. Ich bewege mich auf den 8*
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Die Kontinuität des Erlebens
einen oder anderen Schluß zu, auch wenn er für mich in diesem Augenblick noch vollkommen unsichtbar ist. Wenn ich denke, stehen alle marginalen Bilder und Gefühle, die in mir auftauchen, in einer bestimmten Relation zum Thema. Ich siebe sie auch mit Bezug auf dieses Thema. Ich sage vielleicht in einem bestimmten Augenblick zu mir selbst: He, wie komme ich bloß darauf? Dann habe ich das (marginale) Gefühl, daß das marginale Geschehen mich von meinem Thema wegführt, daß ich also nicht ganz „mit meinen Gedanken dabei bin". Mit anderen Worten: ich reagiere auf die fransenhaften, schattenhaften Erscheinungen, die sich dauernd in meinem Erlebnis in den Vordergrund schieben. Daraus entsteht das Gefühl, „warm" oder „kalt" zu sein", näher heranzurücken oder sich weiter davon zu entfernen. Wenn ich das Gefühl habe, „warm" zu sein, bedeutet das noch keineswegs, daß ich weiß, warum, ich fast so weit bin. Auch das kann ausschließlich in der marginalen Sphäre bleiben: jetzt bin ich bald so weit, noch einen Augenblick und ich habe es. Dieses marginale Geschehen ist auch dann Glied im Denkprozeß, wenn es nicht explizit wird. Ich weiß längst nicht immer, wie ich zu meinen Schlüssen komme. Oft, wenn ich denke und dann zu einem bestimmten Schluß gekommen bin, der vom Marginalen aus für mich das Gefühl einer Evidenz hervorbringt, und dann sage: ja, es muß so sein, kann ich dennoch hinterher unmöglich sagen, wie ich zu diesem Schluß kam. Im natürlichen Verhalten hat der Denkprozeß selbst auch keine Bedeutung für uns. Es geht um das Substantive, um den Schluß [I. 260]. Es sind auch diese „resting-places", die wir festhalten. Deshalb enttäuscht eine fesselnde Darlegung notwendigerweise, wenn ich meine Aufzeichnungen wieder lese. Sie enthalten nur das Substantive, die Schlußfolgerungen. Der Hof (margin), der sich für mich beim Anhören um die Konklusion legte, ist verschwunden. Man legt sich dann wohl mal die Frage vor: wie ist es möglich, daß ich es damals so schön fand? Vielleicht war ich gut gelaunt? Aber das bedeutet u. a., daß der Redner es verstand, um das Feste seiner Argumentation herum mir einen Bereich von Höfen (margins) aufzudecken, durch den ich Verbindungen sah, Obertöne hörte, die beim Versuch, sie zu explizieren, sich verflüchtigen. Daher ist es auch verständlich, weshalb für viele solche Fächer wie Logik und Mathematik im Erlebnis so steril sind. Es kommt daher, weil sie dem marginalen Erleben in ihrem offiziellen Denken nur einen kleinen Platz einräumen, weil sie jeden Schritt als einen klaren und substantiven Schritt festzulegen trachten.
* Mit dieser Übersetzung schließen wir uns eng an den holl. Text an. Für den deutschen Leser wird die Textstelle verständlicher, wenn er an das bei uns bekannte Suchspiel denkt, bei dem „warm" und „kalt" Nähe bzw. Ferne bezeichnen. (Anm. d. Übers.)
Das marginale Erleben
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Jede Überlegung, die bei Α beginnt und bei Ζ endigt, führt zum Behalten von Α und Ζ als substantielle Teile. Alles, was dazwischen lag, verflüchtigt sich. Die Pfade, auf denen man von Α nach Ζ gelangen kann, verschwinden aus unserem Bewußtsein.
In Fig. 1 sind fünf Wege von Α nach Ζ eingezeichnet. Jemand, der seine Überlegungen von Α aus aufnimmt, braucht nicht notwendigerweise dem geraden Weg zu folgen, um zum Endpunkt Ζ zu gelangen, sondern kann auf allerlei gewundenen Pfaden und Umwegen, dann und wann eine völlig andere Richtung nehmend, auf die verschiedenste Art nach Ζ gelangen. Stellen wir uns vor, daß die fünf Pfade bildliche Darstellungen der Denkprozesse von fünf verschiedenen Menschen sind, die alle von Α ausgingen und nach Ζ gelangen. James' These lautet dann, daß alle fünf dasselbe denken; mit anderen Worten: hinsichtlich der Schlußfolgerung Ζ ist der Unterschied dieser Pfade irrelevant. Der Denkkünstler, der Logiker, könnte sagen, daß derjenige am besten gedacht hat, der den möglichst kürzesten Weg genommen hat. Er hat sich ja viel Mühe erspart, er hatte den geraden Weg dauernd vor Augen und hatte folglich die größte Chance, zu wissen, was er tat und hatte auch die geringste Chance, zu entgleisen. Die anderen gelangen freilich auch hin. Unternimmt man es, den Denkvorgang logisch zu erklären, dann verliert man dasjenige, was in dem Denkvorgang, auch im geradlinigen, das eigentlich Treibende, Führende und Ansprechende war. Man führt dann eine Formalisierung des Denkens ein, die im Denkvollzug selbst nicht anwesend war. Der Mensch, der in Syllogismen denkt, muß noch geboren werden. Der Hof (margin) spielt als Kontext auch eine wesentliche Rolle beim Verstehen [I, 262 ff.], wie übrigens die Erscheinving des bedeutungsvollen Gepräges des ausgedrückten Denkens im allgemeinen aufs engste mit dem marginalen Erleben verbunden ist [I, 472]. Wer die Absicht hat, französisch zu reden, dem fliegen die französischen Wörter zu, manchmal zu seinem eigenen Erstaunen. Sie steigen auf aus dem Hof (margin) seines Erlebens, das dann auf „Französisch" abgestimmt ist. Das Erlernen einer Fremdsprache
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Die Kontinuität des Erlebens
(und der eigenen!) besteht zum größten Teil aus der Aneignung jenes Hofes (margin). Vom selben Hof aus verstehe ich auch die fremden Wörter, oft ohne imstande zu sein, sie adäquat in die vertrauteren der eigenen Sprache zu übersetzen. Aber gerade weil das Marginale das Implizite, das Unscharfe und Komplexe vergegenwärtigt, kann es mich audi irreführen. Ein klassischer Spaß (holländischer; d. Ubers.) ist die Frage: was muß ich nun sagen „ce färbe est jaune" oder „cette färbe est jaune"? Darauf entfacht sich dann leicht eine ganze Diskussion, bei der man Gefahr läuft, nicht zu bemerken, daß es „la couleur" sein muß. Wenn ich das deutsche Wort „Farbe" in einen französischen Kontext füge, besteht für mich begründete Aussicht, daß man nicht entdeckt, daß dieses Wort „fremd" ist — wenn dieses Wort zumindest nicht allzu sehr aus der Struktur des Französischen herausfällt. Die marginale Wahrnehmung, daß alle Worte, die wir in einem bestimmten Augenblick in einem bestimmten Zusammenhang hören oder lesen, zur selben Sprache oder zu einem speziellen Wortschatz gehören, ist nach James „practically equivalent to an admission that what we hear is sense" [I, 262], Es ist gerade der marginale Kontext, der den jeweils gesonderten Worten den Charakter des Sinnvollen verleiht [I, 281]. Das kann erst durchbrochen werden, wenn jemand ein ungebräuchliches Wort in dieses Vokabularium einfügt. Wer eine feierliche Ansprache hält, der läuft zweifellos Gefahr, daß seine Zuhörer nichts anderes hören als die Gefühlsatmosphäre, die wachgerufen wird, bis zu dem Augenblick, da er in seiner feierlichen Sprache ein plattes Wort verwendet. Dann sitzt jeder aufrecht, denn dieses Wort hört man. Warum? Weil es nicht in diesen Hof (margin) paßt. — Ein Druckfehler kann ein Wort so verändern, daß es aus dem Kontext herausfällt. Es kann auch das Wort so wenig verändern, daß ich nicht einmal bemerke, daß ein Druckfehler in meinem Text steht. Um den Worten ihren Sinn zu nehmen, muß ich im Hof (margin) etwas geschehen lassen, nicht in den Worten selbst. Umgekehrt können Sätze, die substantiv betrachtet sinnlos sind, uns als sinnvoll anmuten, wenn sie den dazu erforderlichen marginalen Kontext wachrufen. Manchmal ist es sogar völlig unmöglich, beim ersten Anhören herauszufinden, ob jemand Sinn oder Unsinn redet. James zitiert einen Abschnitt, der wie folgt lautet: „The flow of the efferent fluids of all these vessels from their outlets at the terminal loop of each culminate link on the surface of the nuclear organism is continuous as their respective atmospheric fruitage up to the altitudinal limit of their expansibility, whence, when atmosphered by like but coalescing essences from higher altitudes, — those sensibly expressed as the essential qualities of external forms, — they descend, and become assimilated by the afferente of the nuclear organism" [I, 263]. Das ist ein beliebiger Abschnitt aus einem ernst gemeinten Buch:
Das Erlebnisfeld
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„Substantialism or Philosophy of knowledge", das 1879 erschien. James, der übrigens nicht gerne persönlich wird, sagt: „There are every year works published whose contents show them to be by real lunatics". Er nimmt dieses Urteil jedoch sofort wieder zurück, wenn er sich die Frage vorlegt, ob es nicht möglich wäre, daß diese Wortkombinationen doch einen Sinn hatten für den Verfasser. Der Leser, der darin etwas Sinnvolles sehen will, muß zunächst die Höfe (margins) kennen24. In jeder wissenschaftlichen Kunstsprache wird eine eigene Thematik geformt, die auch eigene Höfe (margins) hat. Erst wenn ich mir diese zu eigen gemacht habe, wird ein Abschnitt in dieser Kunstsprache für midi verständlich. Das ist ja gerade das Problem für das Erlernen eines bestimmten Rahmens wissenschaftlichen Denkens; es hilft mir nichts, wenn ich alle Fachausdrücke auswendig lerne; für alles muß ich in den Kontext, in den Hof (margin) eindringen. Für das Verstehen der Dichtkunst oder welch anderer Kunstgattimg auch gilt das gleiche. So ist das marginale Erleben keine Nebenerscheinung, sondern ein konstituierender Teil des Erlebens als Ganzes. Ja, in bestimmter Hinsicht ist das Marginale entscheidender, wichtiger als das zentrale Erleben. Beide müssen in ihrer Relation zueinander untersucht werden. 9. DAS ERLEBNISFELD Seit einigen Jahrhunderten sucht das westliche Denken die Wirklichkeit auf eine Weise explizit zu machen, die die menschliche Erlebniswirklichkeit ganz und gar verkennt. Das ist James' Auffassung. Unsere Tradition sagt, daß es die klaren, scharf umschriebenen Vorstellungen, Gedanken und Begriffe sind, die das wissenschaftliche Denken bestimmen müssen. James, das philosophische Denken unserer Tage vorwegnehmend, sucht vielmehr einen Standpunkt, der das Spiel von Licht und Schatten respektiert. Nur auf diese Art glaubt er das Erleben zu finden. Denn wer nur dasjenige für das Wirkliche hält, was sich in der Klarheit abspielt, irrt sich. Unser James hat übrigens eine unverblümte Abneigung gegen eine geschwollene Sprache. Das zeigt sich schön aus seiner Kommentierung des folgenden Abschnittes von Spencer: „Evolution is an integration of matter and concomitant dissipation of motion; during which the matter passes from an indefinite, incoherent homogeneity to a definite coherent heterogeneity; and during which the retained motion undergoes a parallel transformation". Das, sagte James, könnte man wie folgt übersetzen: „Evolution is a change from a no-howish, untalkabout-able, allalikeness to a somehowish and in general talkaboutable not-all-alikeness by continuous stidc-togetherations and something-elsifications". Zitiert von H. James, Remarks on the occasion of the centenary of William James. In: In Commemoration, S. 4. 21
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Die Kontinuität des Erlebens
Bewußtsein beschränkt sidi nicht auf das, was wir „wissen". Es kann nicht nur durch seinen Fokus definiert werden; es nimmt ein Feld ein. Wir haben Erlebnisfelder, und in concreto sind sie immer von einer komplexen Struktur. Sie umfassen Empfindungen unseres Leibes und der Dinge, die uns umgeben, Erinnerungen an frühere Erfahrungen und Gedanken an entferntere Dinge, Gefühle der Befriedigung und des Unbefriedigtseins, Sehnsucht und Abneigung und andere emotionale Momente zusammen mit Willensanspannungen in jeder Art von Permutation und Kombination25. Alle diese Momente sind im Erlebnisfeld um einen Kern herum gruppiert, den wir das Thema nannten. Und diese Organisation wechselt dauernd, manchmal schnell, manchmal langsamer. Zuweilen unterliegt das Thema nur einer geringen Veränderimg, während sich der Hof (margin) schnell verändert. Manchmal wechseln Thema und Hof ihren Ort. Zuweilen verändert sich das Feld plötzlich. Eine klar umrissene Beschreibung kann daher nur selten gegeben werden28. James stellt das Erlebnisfeld als etwas dar, das theoretisch mit dem identifiziert werden kann, was eine phänomenologische Psychologie unter Situation versteht. „Wenn wir nachdenken", so schrieb ich früher, „dann steht das Problem, das mich beschäftigt, zentral; es wird jedoch umringt durch einen Horizont von ,Assoziationen', Sinnzusammenhängen mit anderen Problemen, die in unserem Nachdenken mitklingen." Und: „Während wir nachdenken, gehen wir nicht ganz im Denken auf; wir hören auch die Geräusche um uns herum, die uns jeweils mit einer bestimmten Bedeutung ansprechen. Die tickende Uhr verweist auf unsere Tageseinteilung, die Stimme im Flur bedeutet ein mögliches Angesprochenwerden. Wir sehen alles mögliche um uns herum: die Zigaretten, die bereit liegen, um geraucht zu werden, die Tinte, die darauf wartet, daß sie benötigt wird und zahllose andere Dinge im Modus der Inaktualität. Wir sitzen auf einem Stuhl, der auf dem Fußboden steht, der stark genug ist und nicht einsinken wird, so wenig, wie die Decke über unserem Kopf einstürzen wird; das wissen wir implizit und vertrauen darauf, daß diese Sicherheiten fortbestehen werden. Das alles ist als Hintergrund anwesend. In der Denksituation ist ja der Gedanke das Zentrum unseres Tätigkeitsbereiches, das Denken der Akt, der die Situation spezifiziert und strukturiert. Wir sind mit unserer .Aufmerksamkeit' beim Problem, weil wir das auswählen. Aber nichts hindert uns daran, das Problem beiseite zu schieben, eine Zigarette anzuzünden und zu rauchen — und also unsere Situation abzuändern. Das bedeutet dann, daß sich gleichzeitig — korrelativ — die Landschaft verändert. Das 26 28
Talks to teachers, S. 17. Talks to teachers, S. 19.
Die Kontexttheorie und ihre Verallgemeinerung
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Buch und die Zigarette, die im Kontext des Nachdenkens schon anwesend waren, werden jetzt zum Zentrum unseres Feldes27." Gehen wir noch einen Schritt weiter und umschreiben wir eine Situation als die Totalität der personalen Welt, perspektivisch durch eine spezifische Intentionalität strukturiert, dann kann man, bei aller Verwandtschaft die Frage stellen, ob James das akzeptiert hätte. Andererseits darf man behaupten, daß es in seinen Erörterungen über das Erlebnisfeld enthalten ist. Das wird uns um so deutlicher werden, wenn wir von James ausgehend nachforschen, inwieweit seine Betrachtungen verallgemeinert werden können. 10. DIE KONTEXTTHEORIE UND IHRE VERALLGEMEINERUNG Fassen wir den Aufbau der Theorie von James kurz zusammen. Er führte die transitiven Erlebnisse ein als eine die mehr substantiven Erlebnisse umgebende Franse. Eine Besinnung auf deren Bedeutung führte dazu, von einem Hof (margin) zu sprechen, von einem Bereich marginalen Erlebens, der sich um das Zentrum des Erlebnisfeldes herum ausdehnt, aber zusammen mit diesem Zentrum das totale Feld ausmacht. Das Marginale bildet den Kontext des Themas, und es hat für dieses Thema konstitutive Bedeutung. So sahen wir es an Beispielen erklärt, vor allem im Bereich verbalen Verstehens. Diese Kontexttheorie besagt das Folgende: Über die konkrete Bedeutung eines Wortes, bzw. eines Satzes, entscheidet nicht nur die eigene logische Bedeutung dieses Wortes oder Satzes, sondern ebensosehr das Feld, in dem dieses Wort oder dieser Satz erscheint. Wir verallgemeinern nun diese Kontexttheorie in drei Thesen: 1. Im allgemeinen entscheidet über die konkrete Bedeutimg einer Erscheinung nicht nur die eigene thematische Bedeutung dieser Erscheinung, sondern ebensosehr das Feld, in dem sie erscheint. Was James für Wort und Satz behauptete, wird jetzt also allgemein behauptet. 2. Eine Erscheinung kann sich nur in einem Feld zeigen. 3. Das Verhältnis von Thema und Feld ist formal invariant hinsichtlich all seiner konkreten Transformationen. Anders ausgedrückt: das Verhältnis von Thema und Feld an sich genommen, ist für jedweden Bereich, wo wir über Thema/Feld sprechen können, immer dasselbe. Wir müßten diese drei Thesen Stüde für Stück beweisen, um diese Verallgemeinerung zu verifizieren. Das würde aber den Rahmen unserer Darlegung sprengen und zu viel Raum fordern. Wir werden uns mit einigen Andeutungen begnügen. An erster Stelle untersuchen wir, ob die Kontexttheorie auch außerhalb des Sprachbereiches einen Ort finden kann. An zweiter Stelle wollen wir über die Notwendigkeit einer Thema-Feld27
Nachwort in Persocm en wereld, S. 248.
Die Kontinuität des Erlebens
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Verteilung nachdenken, ob also die Prätention, daß diese Struktur überall wiederzufinden ist, in sich selbst zu rechtfertigen ist. An dritter Stelle widmen wir noch dem Verhältnis Thema—Feld als Invariante einige Anmerkungen. 11. DIE ALLGEMEINHEIT DER KONTEXTERSCHEINUNG Beim heutigen Stand der Dinge in der Psychologie ist es, genau besehen, überflüssig, die Allgemeinheit der Kontexterscheinung noch zu beweisen. Es war vor allem die Gestaltpsychologie, die sich in diesem Punkte Verdienste erwarb, indem sie deren Universalität bewies. Dieselbe menschliche Gestalt, mit verschiedenen Hintergründen in Verbindung gebracht, zeigt ganz andere Ausdrudeszüge und läßt uns immer andere Absichten vermuten. In der Wahmehmungslehre ist das Verhältnis von Figur und Hintergrund einer der fundamentalen Lehrsätze, die die Wahmehmungslehre bestimmen. Die Figur könnten wir in einem Wahrnehmungsfeld das Thema nennen, wie der Hintergrund das Feld ist. Uber diesen Sachverhalt werden wir weiter unten noch nähere Ergebnisse ins Auge fassen. Wir können uns jetzt damit begnügen, anzumerken, daß wir hier in der Tat ein vergleichbares, sogar strukturell identisches Verhältnis haben, auf das sich die Kontextthese von James ohne weiteres anwenden läßt. Dasselbe gilt für die anderen Modalitäten des Wahrnehmens und ebenso für die anderen psychischen Funktionen wie Denken, Erinnern, Fühlen usw. In unseren Betrachtungen haben wir Thema und Feld auch schon auf einem ganz anderen Gebiet kennengelernt, nämlich in der Psychoanalyse. Der Gegensatz von bewußt und unbewußt ist kein anderer als der zwischen dem Thematischen und seinem Feld. Das Bewußte ist dasjenige, was ich präsent habe, was ich als Motivierung für mein Verhalten anführen kann. Aber wenn ich glaube, daß ich etwas tue auf Grund der Überlegung, die ich nenne, ist es nicht gewiß, daß das auch der wirkliche Grund ist, sagt die Tiefenpsychologie. Der wirkliche Grund könnte unbewußt sein und vom Unbewußten aus das bewußte Verhalten beeinflussen. Wenn das so ist, dann kann man das Verhältnis zwischen bewußt und unbewußt identifizieren mit dem zwischen Thema und Feld: der Sinn bewußter Erscheinungen ist nicht nur in dem enthalten, was davon „bewußt", d.h.: aussagbar ist, sondern ebensosehr im marginalen Feld, das als solches nicht „bewußt", d.h.: nicht aussagbar ist. Wir wissen, wie dieses Prinzip gegenwärtig in Reklame-Feldzügen auf Grund der „Motivforschung" angewandt wird. Der Verkauf von Produkten kann durch Reklamemittel gesteigert werden, die auf marginale Erlebnisse einwirken. Das Produkt zieht dann, ohne daß wir wissen warum28. 28
Vance Packard, Die geheimen Verführer, Düsseldorf, 1958.
Die Notwendigkeit der Thema-Feldorganisation
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Immer wieder finden wir übereinstimmende Erscheinungen. James' Kontexttheorie hat allgemeine Gültigkeit. 12. DIE NOTWENDIGKEIT DER THEMA-FELDORGANISATION Wir schränken unsere Betrachtungen auch hier ein und weisen auf einen Bereich, in dem viele Untersuchungen durchgeführt wurden: auf das Figur-Hintergrund-Verhältnis in der optischen Wahrnehmung. Wir können hier von einer experimentell verifizierbaren These ausgehen: jede Figur hat ein Feld. Diese These ist nicht umkehrbar in: kein Feld ist ohne Figur, denn wir wissen, daß es Felder ohne Figur gibt, wie das homogene „Ganzfeld"29. Ein „Ganzfeld" ist eine optisch homogene Umgebung, in dem sich also kein einziger Teil von irgendeinem anderen Teil unterscheidet. Der Wahrnehmende sieht somit keine Fläche oder Oberfläche, sondern eine nebelhafte, wolkenhafte Substanz von einer bestimmten Stärke. Der Oberflächencharakter tritt in einem nicht-figurierten Feld nicht auf. Ruft man in diesem „Ganzfeld" eine geringe Differenzierung hervor, ζ. B. eine kleine Figur, die eine Inhomogenität ins Feld trägt, dann verändert sich auch die gesamte phänomenale Struktur des „Ganzfeldes", es wird Oberfläche, abhängig von der Anwesenheit dieser Figur. Beweist nun ein derartiger Versuch nicht gerade, daß eine Figur — ein Thema — eine völlig vom Feld unabhängige Größe ist? Wir brachten ja eine (bereits bestehende) Figur in das (bereits bestehende) „Ganzfeld" und sahen, daß sich dann die phänomenale Struktur des Feldes verändert. Aber das „Einfügen" einer (ohne ihren Hintergrund gedachten) Figur war eine Redensart30. So kommt es uns vor, wenn wir die experimentelle Situation beschreiben. Zwar kommt uns die Figur als etwas Selbständiges vor, das transponierbar ist, das vom einen Feld zum anderen versetzt werden kann, weil es seine eigene geschlossene Form hat, aber es ist nicht realisierbar, eine Figur in der Wahrnehmung anders als in einem Feld, anders als gegen einen Hintergrund zu haben. Gerade als Figur, als Vordergrund, als Thema ist sie wahrnehmbar, weil sie sich gegen einen Bereich abzeichnet, der keinen figuralen Charakter hat, der im Gegensatz zur Organisiertheit, zur Gegliedertheit der Figur eine unorganisierte homogene Struktur besitzt. Wenn ich eine Figur von dem einen Feld in das andere übertrage, dann bedeutet das nur eine Quasi-Unabhängigkeit der Figur. Eine Figur ist immer eine Differenzierung innerhalb eines Feldes. Das kann mit Hilfe der von Kopfermann entwickelten Begriffe „Grenzfunktion" und „Zusammengefaßtheit" 31 erklärt werden. Figuren entstehen, Siehe meine Strukturanalyse, S. 21 ff. Audi hier handelt es sich um eine trügerische Substantivierung, um eine Verführung der Sprache. 29
30
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Die Kontinuität des Erlebens
wenn in einem Feld Grenzlinien auftreten. Nun ist es so, daß eine Grenzlinie an sidi nicht mehr tut, als ein Gebiet in zwei Gebiete aufzuteilen. Eine Grenzlinie gibt die Stelle an, wo A in Β übergeht oder Β in A, wo Figur in Hintergrund übergeht oder umgekehrt. Nun hat uns die Gestaltpsychologie gelehrt, daß eine Kontur phänomenal immer zur Figur und nicht zum Grund gehört. Aber die Kontur selbst tut als Grenzlinie nichts anderes als aufteilen, und wenn die Kontur nur eine gerade Linie ist, die die Grenze zwischen zwei Gebieten markiert, können wir auch nicht sagen, was Figur und was Hintergrund ist. So sind wir auch nicht imstande, zu sagen, welches von den beiden gleichen Gebieten in Fig. 2 a Figur und welches Hintergrund ist. Das ist die einfachste umkehrbare Zeichnung, über die wir verfügen. In dem Augenblick, in dem die linke Fläche in meiner Wahrnehmung als Figur fungiert, sehe ich die rechte Fläche als ein Feld, das unter dem linken weitergeht. Warum? Weil dann die Grenzlinie als Kontur zur linken Fläche gehört und demnach die rechte nicht begrenzt; oder auch umgekehrt: die rechte Fläche ist Figur, dann geht die linke unter der rechten weiter.
Fig. 2 Wollen wir diese umkehrbare Zeichnung eindeutiger machen, dann darf die Kontur nicht nur eine Grenzfunktion haben, sondern muß auch eine solche Struktur besitzen, daß eine „Zusammengefaßtheit" entsteht. Die Kontur muß dann nicht nur zwei Gebiete scheiden, sondern eines umschreiben wie in Fig. 2 b. Die linke und die rechte Fläche sind dort qua Oberfläche gleich groß. Die gemeinsame Grenzlinie ist jedoch um das linke Feld herum gebogen und scheidet nun nicht allein zwei Gebiete, sondern scheidet auch ein Innen und ein Außen. Wir sehen deshalb vornehmlich die linke Fläche als Figur. So entsteht mit der zusammenfassenden, umschreibenden, ilmschließenden Struktur der Kontin: der Gegensatz von Figur und Hintergrund, von Thema und Feld. Innen ist das Thema, außen ist das Feld. Die Einseitigkeit der Grenzfunktion, die Tatsache, daß 31
H. Kopfermann, Psychologische Untersuchungen über die Wirkung zweidimensionaler Darstellungen körperlicher Gebilde; Psychol. Forsch., 1930 (13). Ferner: W. Metzger, Gesetze des Sehens; Frankfurt a. Μ., 19532, vor allem Kap. 3, 4, 5, 12, 13. Siehe auch meine Strukturanalyse, §§ 87, 96, 98, 104, 180.
Die Notwendigkeit der Thema-Feldorganisation
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Konturen in der Wahrnehmung zur Figur und nicht zum Feld gehören, ist also von der Geschlossenheit der Kontur abhängig, nicht — und das ist ein wesentlicher Punkt — von ihrem Grenzsein schlechthin. Wer jetzt den Einwand macht, daß die gebogene Linie in Fig. 2 b dodi auch einen Teil der geschlossenen Umgrenzung des rechten Feldes ausmache, hat recht. So ist diese Figur auch nicht eindeutig. Aber die gebogene Linie erweckt eher den Eindruck, das linke Gebiet zu begrenzen als das rechte. Und das hängt offenbar damit zusammen, daß sie sich nach links über sich selbst zurückbiegt, daß sie sich um das linke Gebiet schmiegt. In Fig. 2 c ist eine eindeutige Verteilung von Figur und Grund, von Innen und Außen, von Thema und Feld dargestellt. Eine derartige sog. Jordan-Kurve, d.h. eine geschlossene Kurve, die sich selbst nirgendwo schneidet, differenziert die weiße Papierfläche in zwei Bereiche. Rechnen wir die Kontur zum Innenbereich, dann hat jeder Punkt in diesem Bereich, außer den Konturpunkten, eine Umgebung angrenzender Punkte, die ganz innerhalb des Bereiches liegt. Für die Kontur gilt das nicht, und dort finden dann auch die Wechselwirkungen mit den umgebenden Gebieten statt. In psychoanalytischen Ausdrücken: die Kontur ist hier die Zensur, die bewußt von unbewußt scheidet. Und weil das Außenliegende per definitionem (durch die Grenzlinie!) anders ist als das Innenliegende, hat es, so dünkt es uns, mit dem Innenliegenden nichts zu tun. Aber es ist deutlich, daß das „Außen" ebensosehr einbezogen ist in die Form der Kontur wie das „Innen". Wer sich die Mühe macht, die allgemeine Bedeutung der Jordan-Kurve als Denkmodell in allen möglichen psychologischen Problemen wiederzufinden, bemerkt, wie fundamental dasjenige ist, um das es uns hier geht: die Relation von Thema und Feld32. Audi ein Thema im allgemeinen Sinne hat eine solche Geschlossenheit in sich selbst. Wie in der Wahrnehmung gilt, daß wir die Kontur der Figur und nidit dem Feld zuschreiben, so gilt im allgemeinen, daß wir die Grenzen den Themen und nicht dem Feld zuschreiben. Das Außenliegende ist das, was — anscheinend — nichts damit zu tun hat. Deshalb erhält ein solches Thema eine Quasi-Selbständigkeit hinsichtlich des Feldes, in dem es sich befindet. Hier sehen wir die Gründe, weshalb es überhaupt möglich war, daß es eine inhaltliche Elementenpsychologie gegeben hat. Denn, wie sehr man audi eine solch veralterte Auffassimg bekämpft, wir dürfen nie vergessen, daß die Entwicklung dieser Auffassung auf diesem oder jenem Boden möglidi war. Es ist eine interessante Aufgabe, nachzuforschen, wie man zu der Ansicht kam, zu meinen, daß ζ. B. eine „Erinne32 Vgl. auch die Anwendung bei K. Lewin, Principles of topological psychology; New York, 1936.
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Die Kontinuität des Erlebens
rung" eine geschlossene Entität wäre, die irgendwo in der Psyche aufgehoben sei. Offenbar deshalb, weil derjenige, der diese Theorie aufstellte, den Unterschied zwischen Grenzfunktion und der Grenzform nicht verstanden hatte. Gewiß, wenn ich mich deutlich an etwas erinnere, dann erscheint vor meinem „Geistesauge" eine Situation mit einer gewissen Abgerundetheit und Geschlossenheit, aber doch nicht wie ein Foto, das ein für allemal unveränderlich festliegt. Die Schärfe, die Konturierung erhält meine Erinnerung erst jetzt in der Funktion meines aktuellen Erlebnisfeldes. Wenn der Inhaltspsychologe hierauf sagen würde, daß die Feldhypothese nicht in der Erfahrung gegründet sei, dann können wir selbst umgekehrt gegen ihn anführen, daß seine Auffassung überhaupt nicht möglich wäre, wenn es das Thema-Feld-Verhältnis nicht gäbe. Hier zeigt sich die Verführung der Sprache als die Verführung der Kontur. Keine Figur und kein Thema besitzt Selbständigkeit ohne eine Begrenzung hinsichtlich eines Feldes, in dem sie sich als das Figurierte, als das klar Umschriebene vom Nicht-Umschriebenen, als das Geschlossene vom Offenen, als das Ausgesprochene vom Unausgesprochenen vinterscheiden. Anders gesagt: die Figur (das Thema) ist Ausdrude der Gegliedertheit eines Feldes. In dem Augenblick, in dem diese Gliederung da ist, habe ich einen polaren Gegensatz zwischen dem gegliederten Teil und dem übrigen homogenen Teil, dem Hof (margin). Es ist hier nicht die Rede von einem absoluten Gegensatz. Zwischen Figur und Feld besteht ein hierarchisches Verhältnis. Sie sind beiderseitig kontinuierlich, wenn auch der Ubergang mehr oder weniger scharf sein kann. Konturen können verschwommen, unscharf sein; sie können so verbreitert werden, daß sie keine scharfe Grenze mehr bilden, sondern Zwischengebiete, Randgebiete. Wir sahen, daß James eigentlich jede scharfe Konturierung am liebsten ablehnen würde und daher von „all shades and no boundaries"33 sprach. Seine Übertreibung weist uns auf jeden Fall auf die Kontinuität von Feld und Thema hin. Es ist deshalb auch besser, sie nicht als völlig andersartige Kategorien zu betrachten, sondern als die Resultate polarer Tendenzen, die einander implizieren. Mithin erkennen wir im Feld zwei Entwicklungsrichtungen. Eine, die auf eine größere Selbständigkeit der Teile im betreffenden Feld hinzielt und eine, die auf eine geringere Gliederung, auf eine geringere Differenzierung, auf einen geringeren Figurcharakter zustrebt. Sie setzen einander voraus. Konturen sind Stellen, wo sich Feldenergie anhäuft. Je konzentrierter diese Energie ist, desto schärfer wird der Gegensatz zwischen 33
A pluralistic universe, S. 288.
Das Thema-Feld-Verhältnis als Invariante
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thematischem Zentrum und homogener Peripherie; je geringer die Konzentration ist, desto mehr fließen Thema und Feld ineinander über. Lassen uns diese Überlegungen nicht an terminologische und inhaltliche Entwicklungen in der Psychologie nach James denken? Wir denken ζ. B. an die Ausdrücke „Abhebung" und „Einbettimg" bei Stern. Jedes Erlebnis tendiert nach einer „Abhebung" aus dem Ganzen oder nach einer „Einbettung" in das Ganze. In Wirklichkeit sind immer beide Tendenzen wirksam. So steht die Gestalt am äußersten Pol der „Abgehobenheit", aber gleichzeitig steht dann der Hintergrund, das Feld, im Zeichen der „Einbettung" 34 . Aber auch Werners Gegensatz zwischen dem diffusen, ungegliederten, pathischen Erleben und dem differenzierten, gegliederten, gnostischen Erleben meint im Grunde denselben Gegensatz. Wir haben weiter oben Werners Empfindungstheorie betrachtet und erkennen nun darin denselben grundlegenden Gedankengang wieder. Der Mensch beginnt auf dieser Welt mit einem ziemlich undifferenzierten, ungegliederten Feld. Nicht so, daß darin wirklich alles zu einem Mischmasch zusammengestampft wäre. Schließlich können wir in einer homogenen Umgebimg einer Wassermasse auch noch Wellen unterscheiden. Aber im ursprünglichen Erleben ist von deutlichen Konturen noch nicht die Rede. Die Entwicklung vollzieht sich dann in der Richtung einer größeren „Gliederung". In der Theorie Werners kommt dasselbe zu Wort, was wir schon bei James antrafen, und das wir hier verallgemeinern: der grundlegende Unterschied von Thema und Feld. Und dann können wir folgern: Thema und Feld sind kontinuierlich, das Thema ist Thematisierung eines Feldes und innerhalb dieses Feldes, oder besser: Thematisierung ist das Abgrenzen des Wesentlichen im Hinblick auf das Nebensächliche im Erlebnisfeld. Die Differenzierung eines Themas innerhalb des Feldes ist eine notwendig allgemeine Organisationsform des Erlebnisfeldes. 13. DAS THEMA-FELD-VERHÄLTNIS ALS INVARIANTE Aus dem Voraufgehenden folgt schon, daß das Thema-Feld-Verhältnis invariant ist. In allen Bereichen, aber auch auf allen Erlebnisstufen haben wir es mit einem Kern und einer Umgebimg zu tun, mit einem Thema und einem Feld. Es ist dasselbe Verhältnis, weil sich immer zeigt, daß das entscheidende Moment für den Unterschied zwischen Thema und Feld in der Grenzfunktion der Kontur liegt. Wenn wir jetzt behaupten, daß das formale Verhältnis Thema-Feld invariant ist, dann ist damit gemeint, daß die Thema-Feld-Organisation ein konstituierend-formales Moment in jedem Erlebnis ist, ganz gleich, wie es inhaltlich bestimmt ist und von welchem reflexivem Grad es auch ist. Jede reflexive Modifikation eines Erlebnisses 34
W. Stern, Allgemeine Psychologie; Den Haag, 19502, S. 103.
Die Kontinuität des Erlebens
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wird dann aufs neue diese Organisation zeigen. In der Wahrnehmung erscheint der Gegenstand innerhalb seines Wahmehmungsfeldes. Versuche ich mich später dieser Wahrnehmung zu erinnern, dann betrifft meine Erinnerung Gegenstand und Feld. Nenne ich dieses zusammen den „Erinnerungsgegenstand", dann hat das aufs neue sein Erinnerungsfeld. Stelle ich mir nun vor, daß ich mich daran erinnere, dann betrifft meine Vorstellung den Erinnerungsgegenstand und das Erinnerungsfeld. Nenne ich diese zusammen den „Vorstellungsgegenstand", dann hat das wiederum sein Vorstellungsfeld. Hier können wir von einer iterativen Thema-Feld-Organisation sprechen; wir können auch von einer implikativen Thema-Feld-Organisation sprechen: der Wahrnehmungsgegenstand hat sein Wahrnehmungsfeld. Wahrnehmen ist das Haben eines Gegenstandes in einem Feld. Aber nun hat das Wahrnehmen selbst thematischen Charakter innerhalb des Erlebnisfeldes; es ist in meinem Erleben „außer" dem Wahrnehmen, das ich jetzt vornehme, auch noch das, was ich dabei denke, die Stimmung, in der ich wahrnehme usw. Ich habe dann aufs neue eine Thema-Feld-Organisation. So fungiert in jedem Akt das Ganze der Erlebnismöglichkeiten, meiner Erfahrung, marginal mit. Aber dann hat das Erleben im allgemeinen notwendig den Charakter von: Thematisieren innerhalb eines Feldes, und es hat nicht nur seine innere Kontinuität, sondern auch dadurch, daß meine Erfahrung mitklingt, seine dauernde Kontinuität, eine Geschlossenheit durch die wechselnden Erlebnisse hindurch. Diese These haben wir James bereits verteidigen sehen, und wir werden später noch sehen, daß seine diesbezügliche Rechtfertigung, die er selbst nicht mehr in direktem Zusammenhang mit der Thema-Feld-Organisation sieht, implizit auch von ihm selbst darauf zurückgeführt wird35. So ist diese Organisation tatsächlich eine Invariante, und das ermöglicht es, zu allgemeinen Aussagen zu kommen wie die, welche Gurwitsch, weiterbauend auf James, formulierte: Welcher Gegenstand auch als Thema fungiert, er zeigt sich innerhalb einer bestimmten Daseinsordnung und als Glied dieser Ordnung. Das Erlebnis eines Gegenstandes ist eine Konfrontation mit jener Ordnung 38 . Das ist eine Aussage, die der Mühe des Uberdenkens wert ist. Wenn ich einen Stuhl sehe, dann sehe ich nicht nur dieses konkrete Ding, ich sehe ebenso einen Repräsentanten der Dingkategorie, ein besonderes Mitglied der Dingordnung: etwas, auf das man sich setzen kann und das bestimmte Eigenschaften selbstverständlich hat. Er wird nicht zusammenbrechen, wenn ich mich darauf setze; denn er wurde hergestellt, um einen Menschen tragen zu können. Führe ich mir das jemals 35
Siehe unten, S. 229 ff. A. Gurwitsch, Theorie du champ de la conscience, S. 301. (Die deutsche Ausgabe dieses Werkes erscheint in Kürze im Rahmen der „Phänomenologisch-psychologischen Forschungen"; Anm. d. Hsg.) 38
Nachtrag: Die Relevanz-These von Gurwitsdi
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vor Augen? Nein, nur wenn ich Grund habe, zu denken, daß mir jemand einen Streich spielen will und ζ. B. die Stuhlbeine durchgesägt haben könnte. Der Stuhl verweist implizit auch auf den Hersteller, auf die menschliche Gemeinschaft, auf eine Kulturperiode, ja, auf das Ganze menschlichen Erlebens und Handelns. Der Stuhl umschließt eine ganze Welt. Darin liegt der letzte Sinn der These James' über die Kontinuität des Erlebens. 14. NACHTRAG: DIE RELEVANZ-THESE VON GURWITSCH In den voraufgehenden Betrachtungen machten wir einen Unterschied zwischen Thema und Feld oder Hof (margin) und behaupteten, daß das Marginale für das Thema konstitutive Bedeutung hat. Es ist klar, daß hier nähere Differenzierungen möglich und sogar nötig sind, wenn man sich tiefer auf Struktur und Zusammenhang des Erlebnisfeldes besinnt. Nicht jedweder Rand (marge) hat gleiche Bedeutung für das Thema. Wenn man sagt, daß das Erlebnisfeld nach Analogie des Gesichtsfeldes in Zentrum und Peripherie strukturiert ist, dann bedeutet das auch, daß marginale Gegebenheiten mehr oder weniger vom Thema entfernt sind (obgleich es hier keinen räumlichen Abstand betrifft), daß sie „Abstufungen" der „Deutlichkeit" usw. zeigen. Gurwitsdi hat hier eine Unterscheidung eingeführt, die unsere Aufmerksamkeit verlangt. Es betrifft eine nähere Differenzierung von Thema, Kontext und Hof (margin)37. Wenn wir uns mit einem wissenschaftlichen Problem beschäftigen, sagt er, haben wir, außer einem Bewußtsein vom Thema, an erster Stelle noch ein mehr oder weniger klares Bewußtsein vom Kontext, in dem das Problem seinen Platz hat, und an zweiter Stelle ein mehr oder weniger undeutliches Bewußtsein von unserer aktuellen Umgebung, vom Zimmer, in dem wir uns befinden, von den Dingen darin, von der Tageszeit usw. Das erste heißt bei ihm Kontext, das zweite Hof (marge). Das zum Kontext Gehörende ist das, was zum Thema in einer Relation der Relevanz steht. Es ist eine innere Relation, auf Materialinhalten gegründet. Kontextuelle Gegebenheiten haben etwas mit dem Thema zu tun, sie stehen damit in Zusammenhang. Der Kontext umfaßt alle die mit dem Thema ko-präsenten Gegebenheiten, die durch ihren materiellen Gehalt damit in Zusammenhang stehen. Andere Gegebenheiten, ausschließlich ko-präsent mit dem Thema, aber ohne inneren Zusammenhang, sind marginale Gegebenheiten. Wenn uns das wissenschaftliche Problem beschäftigt, so ist es im Hinblick auf unser Thema völlig irrelevant, ob wir diese Umgebung, in der wir uns jetzt befinden, oder eine andere wahrnehmen. So ist der Kontext definiert als 37
Gurwitsdi, Theorie, S. 269 ff.
9 Linschoten
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Die Kontinuität des Erlebens
ein „domaine de relevance"38, der Hof (marge) als ein „domaine de contingence"89. Wie sinnvoll die Beziehungen von Relevanz und Irrelevanz audi sein mögen, uns dünkt, daß Gurwitsch zu scharf unterscheidet. Ja, auch innerhalb des Kontextes (in seiner Definition) treten Grade der Relevanz hervor, und es ist nicht einzusehen, weshalb es nicht allmählichen Übergang und Kontinuität zwischen relevanten und irrelevanten Gegebenheiten geben sollte. Dann wird die Unterscheidimg zu einer logisdien Unterscheidung, die man auf Grund materieller Verwandtschaften der „Inhalte" im Hinblick auf bestimmte Erlebnisfelder hinterher machen kann; sie betrifft nicht die Struktur des Erlebnisfeldes als solches und ist nicht von derselben Ordnung wie die von uns — in der Nachfolge James' — gemachte Unterscheidung zwischen Thema (topic) und Hof (margin). Hiermit wird keineswegs in Abrede gestellt, daß es sich hier um eine sinnvolle nähere Bestimmung der Art und Weise handelt, wie sich innerhalb des Erlebnisfeldes Zusammenhänge ergeben. Aber der Psychologe hegt Bedenken, wenn die Relevanz an Hand von (klipp und klar bewußten?) materiellen Verwandtschaften festgestellt werden muß. Die Psychoanalyse geht z.B. zurecht von der Voraussetzimg aus, daß es einen Zusammenhang der Relevanz geben kann zwischen materiell sehr wenig verwandten Gegebenheiten innerhalb des Erlebnisfeldes. Es ist nicht immer möglich, den Relevanzgrad marginaler Gegebenheiten zu beurteilen. Das zeigt sich auch wohl, wenn Gurwitsch das Maß der Entfernung innerhalb des Kontextes näher ins Auge faßt: „In der Regel prävaliert die Unbestimmtheit in den .entfernten' Bereichen des thematischen Feldes. Ein gegebenes Thema verweist nicht nur auf ,angrenzende' Bereiche des thematischen Feldes..., sondern auch auf .entfernte' Zonen, die ziemlich wenig direkte Beziehung zum Thema haben, und darüber hinaus auf Gegebenheiten, die sich ungenügend voneinander unterscheiden, in einer ungegliederten Masse aufgehen40." Daß die ungegliederte Masse zum Thema Beziehung hat, kann man postulieren, nicht beweisen. Daß sie nicht allmählich in das Irrelevante übergeht, kann man nicht mehr postulieren. Im Gegenteil, falls Erlebnisfelder ihren Horizont und letztlich alle ihre fundamentale Bezogenheit auf eine Lebenswelt haben, dann muß auch das Entfernteste, das Irrelevanteste, als etwas betrachtet werden, das eine gewisse Relevanz hinsichtlich des aktuellen Themas hat. Relevanz und Irrelevanz sind also keine Gegensätze, keine „Bereiche", die sich im Hinblick aufeinander wie „innen" und 38 39 40
Gurwitsch, Thiorie, S. 270. Gurwitsch, Thdorie, S.332. Gurwitsch, Thiorie, S. 299.
Nachtrag: Die Relevanz-These von Gurwitsdi
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„außen" verhalten, sondern extreme Grade der Relevanz. Die Relevanz entsteht mit einer Thematisierung als eine Polarisation eines Erlebnisfeldes. Relevanz ist die Weise, wie Thematisierung nodi im Hof (margin) fortwirkt oder umgekehrt: das Thema ist der Teil des Feldes, wo die Relevanz eine bestimmte Stärke erreicht. Das wurde mit anderen Ausdrücken im Voraufgehenden bereits erörtert. Wir werden uns also nicht weiter an die Unterscheidung von Kontext und Hof (marge) im Sinne Gurwitschs halten.
VI. B E W U S S T S E I N UND D I N G E 1. DIE ZWEIDEUTIGKEIT DER FORMULIERUNG JAMES' Das menschliche Erleben scheint sich mit Dingen zu befassen, die unabhängig vom Bewußtsein bestehen; Erleben ist kognitiv, es besitzt Erkenntnisfunktion [I, 271], Das ist für James das vierte Kennzeichen des Erlebnisstromes. Wir haben bereits wiederholt gesehen, wie wichtig die Theorie des Dinges in der Psychologie James' ist. Es ist nun an der Zeit, zu versuchen, dieser Theorie zu folgen. Zu versuchen, denn hiermit betreten wir ein Gebiet so großer Zweideutigkeiten, daß es wohl kaum möglich sein dürfte, eine klare Vorstellung über James' Auffassungen zu erhalten. Vielleicht liegt darin auch der Grund, daß er selbst in seinem „Briefer course" dieses vierte Kennzeichen nicht mehr gesondert behandelte. Aber damit sind die Probleme nicht gelöst. Wir wissen, daß James den Psychologen unverblümt dazu verpflichtete, hinsichtlich der Erkenntnisfragen und ihrer Randgebiete einen dualistischen Standpunkt einzunehmen: der Psychologe setzt zwei Elemente voraus, den erkennenden Psychismus und das erkannte Ding, von denen das eine nicht auf das andere zurückgeführt werden kann [1,218]. Das ist eine notwendige Annahme, weil der Psychologe die philosophischen Erkenntnisfragen von sich weisen muß und mit diesem Dualismus auf jeden Fall beim üblichen Denken des Durchschnittsmenschen anschließt. Aber hatte Titdiener so voll und ganz unrecht, als er die Principles nicht so sehr eine Psychologie, als vielmehr ein Werk über die Erkenntnisprinzipien nannte, das von einem psychologistischen Standpunkt aus geschrieben war?1 Ein Werk also, in dem über das Grundproblem keine Rechenschaft gegeben wird? Wir wollen damit beginnen, die Schwierigkeiten zu inventarisieren. Die Aussage, die weiter oben zitiert wurde, lautet im Englischen wie folgt: „Human thought appears to deal with objects independent of itself; that is, it is cognitive, or possesses the function of knowing" [I, 271]. Wir übersetzen „thought" hier mit „Erleben"; vielleicht wäre es besser, jetzt von „Bewußtsein" zu sprechen. Oder müssen wir in diesem Kontext enger übersetzen: Denken? Hier rächt sich die wenig prägnante Anwendung des Ausdrucks „thought". An zweiter Stelle spricht James von Objekten, die unabhängig vom Bewußtsein bzw. Denken zu sein scheinen. Wenn wir nun etwas voraus1 Ε. B. Titdiener, Functional psychology and the psychology of act: I; Amer. J. Psychol., 1921 (32), S. 535 Anm.
Das Identitätsgefühl
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eilen und verfolgen, was James im weiteren behandelt, dann sehen wir, daß er das Ding für eine Realität hält, für etwas, das von vielen Personen auf dieselbe Art und Weise wahrgenommen wird und darin seine Unabhängigkeit vom Wahrnehmenden demonstriert. Die These scheint somit zu besagen, daß unser Bewußtsein oder Denken auf Dinge bezogen ist, die unabhängig vom Denken schon da sind. Aber wenn James zu dem Abschnitt vorrückt, der für ihn die Essenz des Paragraphen darstellt, dann spricht er über etwas völlig anderes, nämlich über das Objekt des Bewußtseins (bzw. des Denkens); d. h.: über dasjenige, was gedacht wird. Und wii; werden sehen, daß das keineswegs eine Dingstruktur hat, auch nicht nach James. Somit wissen wir also nicht, was James mit seinen „objects" genau meinte. Denn wenn auch die Dinge als etwas Unabhängiges erscheinen, so ist das Objekt des Denkens ganz gewiß nicht unabhängig vom Denken selbst. Und damit ist auch die Aussage, daß das Bewußtsein „possesses the function of knowing", inhaltlich ziemlich unbestimmt geworden. Wir werden also eine Interpretation zu geben suchen, die James möglichst wenig Unrecht tut. Daß wir dabei auf den Resultaten der vorigen Kapitel weiterbauen, ist selbstverständlich. 2. DAS IDENTITÄTSGEFÜHL Der Idealismus identifiziert das Denken und die Dinge, sagt James. Die Dinge sind, indem sie gedacht werden. Der Geist ist, indem er Dinge denkt [I, 271], Dieser Standpunkt ist auf jeden Fall für den „practical mind" nicht verwendbar, und der Psychologe hat einen solchen „practical mind". Wir müssen vom Wirklichen, von unabhängig voneinander bestehenden Menschen und Psychismen ausgehen. Deshalb müssen wir auch glauben, daß unsere Bewußtseinsobjekte ein doppeltes Dasein haben. Sie sind nicht nur für mein Bewußtsein da, sondern sie bestehen auch in der Außenwelt und für das Bewußtsein zahlloser anderer Menschen. Ich kann ja mit meinem Nachbarn über den Aschenbecher reden, und das bedeutet, daß er für uns beide besteht. Dasjenige, was für uns beide da ist, für uns und für viele andere, ist in seinem Dasein unabhängig von uns. Es ist für uns alle dasselbe und also es selbst. Und gerade darin birgt sich die Grundlage für unseren Glauben an sein unabhängiges Dasein. Es hat seine eigene Identität [I, 272] 2 . Aber wenn etwas durch seine Identität als selbständig und unabhängig erkannt wird, setzt das voraus, daß wir selbst durch die Veränderlichkeit des Erlebnisstromes hindurch das Identische entdecken können, daß wir ein 2 Siehe audi W. James, The thing and its relations; in: A pluralistic universe, S. 358.
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Bewußtsein und Dinge
Gefühl der Identität haben (sense of sameness). James spricht hier von einem „principle of constancy in the mind's meanings". Ich bin jederzeit imstande und bin mir auch immer dessen bewußt, daß ich dazu imstande bin, an dasselbe zu denken, an etwas, an das ich schon früher gedacht habe. Das bedeutet, daß „dasselbe" eine ursprüngliche Gegebenheit ist. Wenn ich einen Vergleich und einen Unterschied zwischen verschiedenen Dingen treffe, dann muß die Basis dieses Vergleichens ein „sense of sameness" sein, ein Identitätsgefühl, ein Gefühl für Übereinstimmungen. Dieses „sense of sameness" ist das Rüdegrat unseres Bewußtseins [I, 459]. Aber ist dieses „Gefühl" (dieser Sinn) dann nicht auch die Basis für die Identität des Dinges selbst? James ging von wirklich seienden Dingen aus, die von vielen Menschen wahrgenommen werden. Das ist eine philosophische Stellungnahme, sagt er später, und wir müssen Psychologen bleiben [I, 459 f.]. Und somit fällt für uns die Frage weg, ob irgendeine wirkliche Identität in den Dingen selbst besteht, ob unser Identitätserlebnis in der Wirklichkeit eine Grundlage hat oder nicht. Es mag sein, wie es will, wir würden nie eine Identität bemerken, wenn wir kein Gefühl (keinen Sinn) für Identität hätten. Das ist der wichtige Punkt, von dem die psychologische Analyse auszugehen hat: daß in unserem Erleben Konstanzkerne enthalten sind. Wir wählen „the point of view of the mind's structure alone" [I, 459]. Das Identitätsgefühl bildet, psychologisch gesprochen, die Erlebnisgrundlage (identischer) Dinge. Durch dieses Gefühl entstehen Strukturkerne im weiterfließenden Erlebnisstrom. „Die ersten Räume, Zeiten, Dinge, Qualitäten, die das Kind erfährt, erscheinen dem Bewußtsein wahrscheinlich als einfache Seiende, weder immanent, noch transzendent." Wie das Kind sie erfährt, so sind sie nicht in und außer seinem Bewußtsein. Das Kind erlebt sie ganz einfach als Dieses oder Das, das noch keinen Namen trägt. „Aber später erhärtet es für sich selbst den Begriff der Wirklichkeiten, verflossene und entfernte ebensogut wie gegenwärtige, die von keinem einzigen einfachen Gedanken besessen oder hervorgebracht werden, sondern die alle Menschen betrachten und erkennen können" [I, 272]. Diese Probleme stellt sich das Kind nicht. Das Kind sieht was, aber es sieht nicht, daß es sieht. Erst später sieht es, daß es sieht, und daß andere Menschen dasselbe sehen. Dann entwickelt das Kind eine Meinung über das unabhängige Ding. Es gelangt dahin, weil es andere Erlebnisse als die momentanen erfährt und wiederholt die Bewußtseinsobjekte als gleich beurteilt. Wenn das explizit verliefe, so daß das Kind wüßte, was da geschieht, müßte man sich vorstellen, daß ein Kind in einem bestimmten Augenblick (das kann nach einer Woche oder nach drei Jahren sein) die Idee bekommt: das habe ich früher schon gesehen! In dem Augenblick, in dem es durch dieses „sense of sameness" eine Identifikation vollzieht, muß der Begriff
Identitätsgefühl ist nodi keine Reflexion
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von etwas entstehen, das durdi den Wechsel der Eindrücke hindurch es selbst bleibt und demnach offensichtlich unabhängig von den Eindrücken ist. 3. IDENTITÄTSGEFÜHL IST NOCH KEINE REFLEXION Aber geschieht diese Identifikation so explizit wie ein rationaler Prozeß? Wenn sich der menschliche Psychismus seiner eigenen Funktionen bewußt wird, entwickelt er sich zu seinem eigenen Psychologen; er erkennt nicht nur die Dinge, die im Erlebnisfeld erscheinen, er weiß, daß er sie erkennt. Er entwickelt eine Reflexivität, die beim Erwachsenen habituell wird [I, 272 f.]. Ich begnüge mich nicht damit zu sehen, sondern entwickle ein Bewußtsein vom Sehen. Solange das Sehen nicht auf die eine oder andere Weise vom Hören oder Fühlen unterschieden wird, kann ich nicht sagen, daß ich sehe. Das Kind kann es von sich selbst noch nicht sagen, solange es diese Unterscheidimg noch nicht getroffen hat und demnach auch nicht sich selbst vom anderen, dem Wahrgenommenen, unterscheiden kann. Aber diese Reflexivität, dieses Wissen des Wissens, ist für die Wahrnehmung der Dinge nicht notwendig. Im Gegenteil, die Dingwahrnehmung und damit die Identifikation durch das „sense of sameness", geht der Entwicklung des Selbstbewußtseins vorauf [I, 273]. Das Bewußtsein kann, aber muß nicht zwischen sich selbst und dem Objekt, das es wahrnimmt, unterscheiden. Ein Mensch kann in einer Wahrnehmung aufgehen, ohne das Selbstbewußtsein zu vollziehen. Das reine Erleben, das noch vor der Reflektion liegt, erkennt schon Strukturkeme, ohne daß von einem Wissenüber die Rede ist. James charakterisiert dieses reine Erleben (pure experience) wie folgt: „Reines Erleben habe ich den unmittelbaren Strom des Lebens genannt, der das Material für unsere spätere Reflexion mit ihren begrifflichen Kategorien beschafft. Nur von Neugeborenen oder von Menschen im Halb-Koma durch Schlaf, betäubende Stoffe, Krankheiten oder Schläge auf den Kopf können wir annehmen, daß sie ein reines Erleben im buchstäblichen Sinne eines Das haben, das noch nicht irgendwie bestimmt was ist, obwohl es dazu bereit ist, zu mancherlei Arten von Washeiten zu werden; ein Erleben, mit Einheit und Vielfalt erfüllt, aber in Bezügen, die nicht zum Vorschein kommen; ein Erleben, das sich fortwährend verändert, aber so wechselhaft, daß die Phasen einander durchdringen, und daß keine Punkte des Unterschiedes oder der Übereinkunft gefaßt werden können. Reines Erleben in diesem Zustand ist nur eine andere Bezeichnung für ,feeling' oder Empfinden. Aber sobald diese Flut von Eindrücken aufsteigt, neigt sie auch dazu, in sich selbst einen unterschiedlichen Nachdruck vorzunehmen; und diese auffallenden Teile werden identifiziert, fixiert und abstrahiert, so daß das fließende Erlebnis nun
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Bewußtsein und Dinge
gleichsam mit Adjektiven und Substantiven, mit Präpositionen und Konjunktionen durchschossen wird 3 ." Die Artikulation des Erlebnisstromes gehört zu den vorreflexiven Beschaffenheiten des Erlebens. Identitätsgefühl (-sinn) ist noch keine Reflexion und setzt noch keine Reflexion voraus. Aber anders als Bergson, dessen Einfluß hier deutlich zu bemerken ist, hält James an der Konstitution von Dingerlebnissen oder jedenfalls von Strukturkernen im reinen Erlebnisstrom fest4. Die „Reinheit" des Erlebens ist ein relativer Ausdruck, der zusammenhängt mit der Menge nicht-verbalisierter Empfindungen 5 . Auch für die nicht-verbalisierte Empfindung gilt also, daß sie Strukturkerne in sich enthält. Das ist eine Schlußfolgerung, zu der wir schon früher kamen®. Ja, mehr als das: auf dieser Ebene ist schon die Rede von Identifikation, Fixation und Abstraktion, wie wir es soeben im angeführten Zitat vernahmen. Und das stimmt ganz und gar mit der Weise überein, wie in den Principles die Begriffsbildung behandelt wird: wie ein vor-reflexives Geschehen, das in der Reflexion hinterher noch einmal ausgesprochen wird. Aber dann tun wir besser daran, James' Ausdrude „conception" nicht mit „Begriffsbildung" zu übersetzen. Wir wollen von Konzeption sprechen. 4. „KONZEPTION": JAMES' AUSDRUCK FÜR INTENTIONALITÄT Konzeption ist also die Funktion, durch die wir einen numerisch unterschiedenen und permanent möglichen Gegenstand (subject of discourse) identifizieren. Dieser Ausdruck bezieht sich, streng genommen, weder auf den Bewußtseinszustand, noch auf dasjenige, worauf dieser verweist, sondern auf die Relation dieser beiden. Konzeption ist die Funktion eines Bewußtseinszustandes, der genau das besondere Ding meint [I, 461], Konzeption, so könnten wir sagen, ist die Bezogenheit des Erlebnisses auf etwas: „Konzeption" ist hier James' Ausdruck für Intentionalität! Irgendeine Gegebenheit, es sei ein Ding, ein Geschehen oder eine Qualität, ist genügend „konzipiert", um es identifizieren zu können, wenn es auf irgendeine Art ausgesondert, differenziert, so markiert ist, daß sie sich von anderen Dingen unterscheidet [I, 462], Ein Polyp würde Konzeption haben, wenn das Erlebnis „Hallo! Schon wieder Dingsda!" jemals seinen Geist durchzuckte [I, 463]. Wenn also das Tier etwas als etwas (Wiedererkennbares) erlebte, wenn sein Bewußtsein ein Bewußtsein-von . . . wäre. Offenbar ist es dieses konzipierende Bewußtsein, das im Strom der Erlebnisse zur Formation der „Dinge" gelangt. Und wir müssen „Ding" hier 3 4 6
6
The thing and its relations; A pluralistic universe, S. 348. Vgl. Anm. 16 weiter oben, S. 109. A pluralistic universe, S. 348.
Vgl. weiter oben S. 95 ff.
„Konzeption": James' Ausdrude für Intentionalität
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nicht im Sinne eines „konkreten und individuellen, wirklich seienden Dinges" verstehen. Denn wenn auch das psychische Leben auf „practical realities" abgestimmt ist, wenn auch alle abstrakten Begriffe in Wahrnehmungen konvertierbar sein müssen7, so sind für James dennoch „rundes Viereck" und „Schwarz-weiß-Ding" klar umschriebene Konzeptionen; was die Konzeption anbelangt, so ist es ein bloßer Zufall, daß diese Begriffe kein Korrelat in der Welt des Wahrnehmbaren haben [I, 463], Und darin liegt der von James nie benutzte Zugang zu einer phänomenologischen Lehre der eidetischen Anschauung. Man wird James sicherlich nicht ganz gerecht, wenn man ausschließlich auf den von ihm so stark verteidigten Pragmatismus hinweist. Seine Praxis ist überzeugender als die Lehre. Nach dem Voraufgehenden müssen wir im Gedächtnis festhalten, daß solche Leistungen wie Abstraktion und Identifikation, die wir gewöhnlich für rationale, reflexive Tätigkeiten halten, sich für James schon im VorReflexiven abspielen. Und wir denken dabei an eine seiner Aussagen: Das Denken hat es ausschließlich mit Oberflächen zu tun. Es kann die Dichtheit der Wirklichkeit nennen, aber es kann deren Tiefe nicht ausloten; und diese Unzulänglichkeit ist wesentlich und dauerhaft, ist nicht von zeitlicher Art8. Die Wirklichkeit ist reicher als wir denken. In dem für die Vernunft oft so undurchsichtigen Gebiet des vor-reflexiven Erlebens spielt sich schon viel von dem ab, was wir für so typisch menschlich und also „rational" halten. Aber damit ist die Frage nicht beantwortet, wie James es sich denn vorstellt, daß im reinen Erleben, das auch genetisch das älteste ist, das Dingerlebnis zustande kommt. Daß sich dabei eine Schwierigkeit abzeichnet, ist auch ihm klar. Wir können ausschließlich über die Relationen der Objekte denken oder reden, die wir schon kennen. Wir können mit anderen Worten nicht hinter die Erfahrung zurückgehen [II, 3 ff.]. Ich kann mir wohl die Frage vorlegen, was ein Menschenkind erfahren hat, bevor es etwas erfuhr, aber es ist eine unsinnige Frage. In dem Augenblick, in dem es etwas erfährt, erfährt es etwas, ein Ding, ein Geschehen, eine Qualität — Gegebenheiten also, die bereits identifiziert und damit wiedererkennbar geworden sind. Man kann nicht dahinter zurückgehen. Man kann nicht erklären, wie man von Nicht-Bewußtsein zu Bewußtsein gelangt. Dazwischen besteht kein Ubergang. Ebensowenig kann man beschreiben, wie man zur Konzeption gelangt, wenn man noch keine Konzeption hat. Ja, man muß das vorkonzeptionale Erleben schlechterdings konstruieren. Wir sind also gezwungen, eine Erlebnisform zu postulieren, durch die wir einen ersten 7 Perry, Thought, I, S. 457: „An idea is an idea, effectively and not merely nominally, when and in so far as it is convertible, directly or indirectly, actually or hypothetically, into perceptual experience." 8 A pluralistic universe, S. 250.
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Begriff vom bloßen, unmittelbar Gegebenen erhalten. Diese Erlebnisform, diese einfachste Erlebnisfunktion, nennen wir Empfinden [II, 3]. 5. EMPFINDEN UND WAHRNEHMEN Wir kommen hier noch einmal auf den früher ausführlich behandelten Unterschied von Empfinden und Wahrnehmen zurück. Durch die Probleme, die wir seitdem vor Augen gehabt haben, ist es uns nun wohl deutlich, daß James den Ausdruck „Empfinden" doppeldeutig verwendet, nämlich einmal für die tatsächliche Aufnahme von Information durch die Sinne und ein anderes Mal für das soeben postulierte, idealtypisch primitivste Erlebnisniveau. Gewiß, Aufnahme von Information findet andauernd statt, aber ein reines, empfindungsmäßiges Erleben ist, außer vielleicht in der frühesten Kindheit, nicht zu verwirklichen. Unser frühestes Erleben ist fast ausschließlich ein Empfinden. Die erste Empfindimg des Kindes deckt sich mit dem Universum [II, 8]. Im Gegensatz zu diesem Empfinden steht das Wahrnehmen, das Erleben der Dinge, die vor den Sinnen anwesend sind. Beim Wahrnehmen eines Aschenbechers z.B. ist er als Ding sichtbar, wenn er vor meinen Sinnesorganen steht; lasse ich den Aschenbecher fallen, so ist er hörbar, fühlbar, schmeckbar, riechbar usw. Etwas, das auf diese Weise gegeben ist, wird wahrgenommen. Hätte ich jemals nur Licht- oder Schalleindrücke, dann würde ich Empfindungen haben. Faktisch ist das für den Erwachsenen unmöglich, aber wir können so tun, als ob sich bei ihm der erste (postulierte) Zustand des Erlebens noch immer ereignet. Auch der Erwachsene hat dann nach dieser theoretischen Konstruktion noch andauernd Empfindungen, obgleich es faktisch nicht mehr so ist. Integrieren sich diese primitiven Eindrücke, bedeuten sie für mich etwas, das da ist, dann spreche ich von einer Wahrnehmung. Die Wahrnehmung unterscheidet sich also vom Empfinden durch das Erleben weiterer Tatsachen, assoziiert mit dem Objekt der Wahrnehmung [II, 76 ff.]. Wenn ich sage: ich sehe einen Aschenbecher, dann sage ich nicht bloß: ich habe einen optischen Eindruck. Ich sehe einen Aschenbecher, den ich aufheben kann, den ich zertrümmern kann, in dem ich Asche ablagern kann. Ich habe ihn in diesem Kontext von Assoziationen. Wenn ich „Aschenbecher" sage, nenne ich im Prinzip das Ganze meiner Erfahrung. Das ist Wahrnehmen: ein integriertes Ganzes sehen, das zu all unseren Erfahrungsmomenten hin offensteht und Horizont-Struktur h a t Daher kommt es, daß der Psychologe, der Empfindungen deskriptiv untersuchen will, damit beginnt, daß er die Vp. immobilisiert. Er läßt die Vp. still sitzen, deckt ein Auge zu und sagt: „Das andere Auge müssen Sie auch noch still halten, ich verstopfe Ihnen die Ohren, Sie dürfen an gar nichts denken, und schauen Sie jetzt einmal un-
Diskrimination und Assoziation
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ablässig auf das unbewegliche Ding; was sehen Sie jetzt?" Er trachtet dann, den reinen, bloßen Eindrudcscharakter in einer Haltung wiederzufinden, die die Horizont-Struktur maximal reduziert. Die Vp. kann dann jedoch ihren normalen Wortschatz nicht mehr adäquat gebrauchen und sagt ζ. B.: „das erinnert mich an . . . " oder: „das sieht so aus wie . . . " . Damit steht das Gesehene aber schon wieder in einem Verweisungszusammenhang, ist wieder nach dem Ganzen der Erfahrung hin offen. Das meint James, wenn er sagt, daß jede Wahrnehmung eine erworbene Wahrnehmimg ist [II, 78], Und wir folgern daraus, daß dann jede Dingwahrnehmung eine erworbene Wahrnehmung ist. Aber auf welche Weise erworben? James zitiert zustimmend eine Definition von Sully, in der „Wahrnehmen" als der Prozeß umschrieben wird, durch den der Psychismus „einen sinnlichen Eindruck mit hinzukommenden oder begleitenden, aufs neue aufgeweckten Empfindungen anfüllt, wobei das gesamte Aggregat von aktuellen und aufs neue geweckten Empfindungen verdichtet oder .integriert' wird in der Form eines Wahrnehmungsbildes (.percept'), d.h. eine scheinbar unmittelbare Anschauung oder Erkenntnis eines Objektes, jetzt anwesend auf einer bestimmten Stelle oder in einem bestimmten räumlichen Bereich" [11,79]. Diese Integration dürfen wir uns nun nicht als eine Zusammensetzung aus voneinander unabhängigen Bewußtseinsinhalten vorstellen. Wir haben gesehen, welche Lösung James hier wählt. Die Integration vollzieht sich nicht auf dem Erlebnisniveau, sondern sie vollzieht sich tiefer, als eine Integration von Gehirnprozessen. Erst mit diesem integrierten Hirnprozeß korreliert das Erlebnis des Wahrnehmungsdinges als ein erfahrenes, in einem Zusammenhang stehendes Ganzes. Aber die Integration vollzieht sich nicht völlig automatisch und auch wiederum nicht ausschließlich auf der physiologischen Ebene. Die Integration beruht auf Assoziation [II, 76] und darin spielt das Erlebnis von Eindrücken, die bewußte (sei es vor-reflexive) Identifikation, eine wichtige Rolle. Anders gesagt: für das Entstehen eines Konzeptes ist ein aktiver Erlebnisprozeß nötig. 6. DISKRIMINATION UND ASSOZIATION Die „Dinge", die wir wahrnehmen, wie Bäume, Menschen, Häuser, Mikroskope, aus denen die wirkliche Welt aufgebaut zu sein scheint, sind in Wirklichkeit nichts anderes als Ansammlungen von Qualitäten, die durch gleichzeitige Reizung so verschmolzen sind, daß in dem Augenblick, in dem eines von ihnen durch aktuelle Reizung entsteht, es als Zeichen fungiert, durch das die verbundenen Qualitäten in der Vorstellung wachgerufen werden [I, 555]. Es ist die uralte Lehre der synchronen Assoziation, die
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James hier wiedererstehen läßt. Aber sie übt ihre Einwirkung nicht auf ursprünglich isolierte Eindrücke aus. Denn diese gibt es nicht. Im Gegenteil, James hält es für eine unwiderlegliche Tatsache, daß jede beliebige Anzahl von Eindrücken, herstammend von jeder beliebigen Anzahl von Sinnen, zu einem einzigen ungeteilten Objekt verschmilzt, wenn der Psychismus diese Eindrücke noch nicht getrennt wahrgenommen hat [I, 488]. Ganzheiten von komplexem Ursprung gehen im Erlebnis ihrer Differenzierung in umschriebene Elemente voraus; Differenzierung nach Sinneswerkzeugen oder auch nach Beschaffenheiten, die Eindrücke gemeinsam haben. Die Diskrimination spielt mit anderen Worten eine ebenso wichtige Rolle in der psychischen Entwicklung wie die Assoziation. Unsere ursprünglichen sensorischen Ganzheiten werden einerseits unterteilt durch diskriminierende Aufmerksamkeit und andererseits mit anderen Ganzheiten vereinigt. Im Erlebnis sind also von Anfang an konkretisierte Objekte gegeben, auf eine ungenaue Weise mit der übrigen Welt verbunden, die sie in Raum und Zeit umschließt. Wir lösen also Objekte auf in ihre Teile und vereinigen sie aufs neue [I, 487], Das Prinzip von Unterscheidung und Differenzierung muß demnach schon im ursprünglich Erfahrenen anwesend sein. Dinge müssen verschiedenartig sein, sei es in Zeit, Raum oder Qualität. Niemand kann verhüten, daß er einen schwarzen Streifen von seinem weißen Untergrund unterscheidet [I, 494]. Femer wird das Unterscheiden dadurch erleichtert, daß Dinge sukzessiv erscheinen [I, 495 f.]. Das simultan Gegebene verschmilzt ja gerne! Somit wird es nun verständlich, wenn James, der einerseits behauptete, daß „Dinge" durch Assoziation entstehen, andererseits heftig verteidigt, daß Assoziation immer eine Assoziation zwischen Dingen ist und nicht zwischen „ideas" [I, 554]. Er entwirft hierfür ein physiologisches Modell, das wir nun im weiteren unbeachtet lassen9. Was wir weiter oben „Strukturkerne" nannten, heißt bei James also schon „Ding". Mit Recht sagten wir folglich auch, daß Erlebnis immer Erlebnis von Dingen ist. Allein, James lehrt uns, daß Ding (Α, Ρ, X) und Ding (P, Μ, V, L, F) aufgelöst und zu anderen Dingen integriert werden (Ρ, X, M) 8 Daß James in seiner Theorie der Gehimtätigkeit äußerst modern ist, darf zu seinen großen Verdiensten gezählt werden. Ζ. B. der folgende feldtheoretisdie Abschnitt ist audi heute „up to date": „The amount of activity at any given point in the brain-cortex is the sum of the tendencies of all other points to discharge into it, such tendencies being proportionate (1) to the number of times the excitement of each other point may have accompanied that of the point in question; (2) to the intensity of sudi excitements; and (3) to the absence of any rival point functionally disconnected with the first point, into which the discharges might be diverted" (I, 567). Hier liegt die physiologische Theorie der Assoziation von James aufgeschlossen.
Diskrimination und Assoziation
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und (V, F, A, L) usw. Während der Entwicklung dauert das Umstrukturieren an. Assoziation durch Übereinstimmung erfüllt dabei eine bedeutsame Rolle, und hierbei kann nicht von einem Automatismus gesprochen werden. Die eine Farbe Blau läßt uns nicht an eine andere Blauschattierung denken, es sei denn, daß wir eine Absicht haben, die dazu auffordert; so, wenn es darum geht, dieser besonderen Farbe einen Namen zu geben. Daß das Gleiche aus sich selbst das Gleiche hervorruft, ist einfach nicht wahr [1,579]. Das ist eine der wohlfeilen Voraussetzungen der Assoziationstheorie. Von einer Übereinstimmung zwischen zwei Dingen kann übrigens erst dann die Rede sein, wenn sie verglichen werden können und sie beide also schon vorhanden sind. Die Übereinstimmung kann infolgedessen das Ding nicht produzieren [I, 591]. Wir sind gezwungen anzunehmen, daß einfache Artunterschiede eine unableitbare Form der Relation sind [I, 493]. Sie fallen uns schlechthin auf. Wir können wohl die Bedingungen untersuchen, unter denen das geschieht, aber die Tatsache selbst bleibt eine unerklärbare, d. h. unableitbare, ursprüngliche Gegebenheit [I, 494]. Aber um Dinge zu unterscheiden, müssen sie in irgendeiner Hinsicht kommensurabel sein. Dieselben Dinge, die gewöhnlich zur Wahrnehmung eines Unterschiedes Veranlassung geben, führen auch zur Wahrnehmung einer Übereinstimmung. Das Abwägen von Dingen betrifft sowohl Übereinstimmung, wie auch Unterscheidung [I, 528]. James legt ausführlich dar, daß wir es hier mit einer ursprünglich menschlichen Eigenschaft zu tun haben. Das Tier überlegt nicht wie wir. Wir können das aus der beim Menschen höher entwickelten Assoziation durch Übereinstimmung verstehen [II, 345]. Und dieser Unterschied macht andere charakteristische Unterschiede zwischen Mensch und Tier deutlich, wie ζ. B. Sprachgebrauch, der Assoziation durch Übereinstimmung, Diskrimination und Identifikation voraussetzt. Ohne das kann man ja nicht mit Zeichen umgehen [II, 356f.]. Aber das bedeutet, wie wir bereits früher erörterten, daß das Prinzip der Sprache im ursprünglich menschlichen Erleben schon angelegt ist. Die Substantivierung, die Konzeption im Sinne James', die Geriditetheit auf das Ding — sie kennzeichnen den Menschen. Ein reines Erlebnis, in dem das Transitive vor dem Substantiven den Vorrang hat, ist dann tatsächlich unmenschlich; es ist eine idealtypische Konstruktion, die nur dazu dienen kann, sehen zu lassen, wie wesentlich gerade die Substantivierung oder wir wollen lieber sagen: die Thematisierung das menschliche Erleben charakterisiert. So müssen wir also zu dem Schluß kommen, daß das Ding eine ursprüngliche Gegebenheit ist, die aufs engste mit der Intentionalität zusammenhängt. Es ist wahr, daß James das nicht mit diesen Worten sagt. Aber
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tun wir, wenn wir es sagen, etwas anderes als thematisieren? Dürfen wir nicht sagen, daß der Intentionalitätsbegriff, der bei James nicht thematisch geworden ist, in seinem gesamten System ein operativer Begriff war? 7. REINES ERLEBEN UND SARTRES „EKEL" Nachdem wir James im Kapitel über die Sprache ein so nachdrückliches Plädoyer für die Ursprünglichkeit und Unverbal isierbarkeit des eigentlichen und „echten", reinen Erlebens halten hörten, wird es damit jetzt wohl eine befremdliche Sache! Zwischen reinem Erleben und Empfinden besteht nach James doch eine so große Ubereinstimmung, daß man sie bequemlichkeitshalber gleichsetzen darf. Wie man versuchen kann, sich diesem Empfinden zu nähern, haben wir gesehen: durch Aufbrechen des Kontextes im Wahrnehmen. James selbst gibt hierfür sprechende Beispiele. Wer auf der Erde liegt und auf den Mund eines anderen schaut, der hinter ihm steht und redet, der sieht, daß die Unterlippe des Sprechers von einer außerordentlichen und unnatürlichen Beweglichkeit belebt ist. Sie nimmt nun ja die räumliche Stelle der Oberlippe ein, und diese Kontextveränderung führt zu den befremdensten Erlebnissen. Wer von uns hat als Kind nie mit Erstaunen nadi so einem umgekehrten Kopf geschaut (eines Familienmitgliedes, das krank im Bett lag) und das „gruselige" Erlebnis des Mundes in der spitzen Stirn, der Nase oberhalb der Augen und des merkwürdigen rundlichen, mundlosen Kinnes darunter gehabt? Der Leser, so sagt James, möge einmal über eine längere Zeit hin ein einziges isoliert gedrucktes Wort auf dieser Seite betrachten und es oft genug wiederholen: er wird sich sehr bald die Frage vorlegen, ob das wohl das Wort sein kann, das er sein ganzes Leben hindurch mit dieser Bedeutung gebraucht hat. Es starrt ihn seelenlos mit einem gläsernen Auge an [II, 81]. Untersuchungen haben das bestätigt. Bei einer passiven Haltung geht die Bedeutung eines einsilbigen Wortes, das drei Mal/sec wiederholt wird, in drei bis dreieinhalb Sekunden verloren. Beim Anstarren eines getippten Wortes ereignet sich dasselbe; das Wort wird leer, sinnlos, eine sprachlose und zufällige Figur10. Es wird durch diese Betrachtungsart auf seine empfindungsmäßige Nacktheit zurückgeführt [II, 81]. Es verweist auf nichts. Ist die Verwandtschaft mit Sartres Beschreibung des Ekels-vor-dem-Sein zufällig? Die markanteste Beschreibung dieses Ekels gibt Sartre, nachdem er beschrieben hat, wie die Hauptperson seines Romans, Roquentin, in einem Park saß und auf die Wurzel eines Baumes starrte. l u E. Severance & Μ. F. Washbum, The loss of associative power in words after long fixation; Amer. J. Psychol., 1907 (18), Μ. F. Bassett & C. J. Warne, On lapse of verbal meaning with repetition; Amer. J. Psychol., 1919 (30). V. J. Don & H. P. Weld, Lapse of meaning with visualfixation;Amer. J. Psychol., 1924 (35).
Reines Erleben und Sartres „Ekel"
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sie war der Teig der Dinge, diese Wurzel war eingeknetet in Existenz. Vielmehr war all das — die Wurzel, die Gatter, die Bank, der schüttere Rasen — versunken; die Verschiedenartigkeit der Dinge, ihre Individualität waren nur ein äußerer Anschein, ein Firnis. Dieser Firnis war zerschmolzen, was blieb, waren monströse, weiche Massen, ungeordnet, nackt, von einer erschreckenden und obszönen Nacktheit 11 ." Die Dinge verlieren ihre Individualität. Es bleibt nichts übrig als Massen, monströs und weich, ineinander zerfließend. Sie werden ihres Sinnes entkleidet und verlieren, nackt, ihre feste, zuverlässige Struktur. „Das Wort Absurdität' gerät mir unter die Feder; eben noch, im Park, habe ich es nicht gefunden, aber ich hatte es audi nicht gesucht. Ich dachte ohne Worte — über die Dinge, mit den Dingen. Die Absurdität war nicht eine in meinem Kopf entsprungene Idee, audi keine Einflüsterimg — sie war die lange tote Schlange zu meinen Füßen, diese Schlange aus Holz. Schlange oder Tatze oder Wurzel oder Geierklaue, ganz gleidi 12 ." Das Wort „Absurdität" fliegt mir erst in dem Augenblick zu, in dem idi die Erfahrung beschreibe. Eigentlidi ist das unmöglich, weil ich im Erlebnis selbst ohne Worte dadite, weil ich also überhaupt nicht dachte, sondern über die Dinge, mit den Dingen „dachte". Das ist ein Versudi, um die Direktheit und Nidit-Reflexivität doch in Worten auszudrücken, das Absurde zu nennen, durch den Rückverweis auf die tote Schlange zu meinen Füßen, die hölzerne Schlange, Wurzel, Klaue oder was immer es war. Was tut das schon zur Sache, was das ist? „In bezug auf gar nidits war diese Wurzel nicht absurd. Ach, wie soll ich es in Worten ausdrücken! Absurd: in bezug auf die Steine, auf die gelben Grasbüschel, auf den getrockneten Schlamm, auf den Baum, auf den Himmel, auf die grünen Bänke. Absurd, unweigerlich 13 ." Dasjenige, was in der Fülle seiner eigenen Wirklichkeit anwesend ist, an sich ist, das ist in seiner Unverbundenheit absurd. Das „Ding", das zu nichts in Beziehimg steht und folglich in Relation zu allem absurd ist, ist es jetzt auch in Relation zu sich selbst. Die Absurdität ist offenbar Erfahrung in einem zerstückten Kontext. Das unverbundene „Ding" ist ein träge fließendes, ekelhaftes ö l : „Ich konnte mir gut und gem immer wieder sagen: ,Das ist eine Wurzel' — es zog nicht mehr. Ich sah sehr wohl, daß man nicht von seiner Funktion als Wurzel, als Saugarm dazu übergehen konnte: zu dieser harten, kompakten Seehundshaut, zu diesem öligen, schwieligen eigensinnigen Aspekt. Die Funktion erklärte gar nichts: sie ließ einen im großen ganzen verstehen, was eine Wurzel, nicht aber, was gerade 11 12 13
J. P. Sartre, Der Ekel; Hamburg, 1952s, S. 154. Der Ekel, S. 156. Der Ekel, S. 156.
Bewußtsein und Dinge
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diese Wurzel war. Diese Wurzel in ihrer Farbe, ihrer Form, ihrer erstarrten Bewegung — überstieg jede Erklärung14." Wir haben bereits früher gesehen, daß das eine Wort auf das andere verweist. Aber das Ganze von Wörtern verweist für Roquentin nicht mehr auf die Dinge und sicherlich nicht auf dieses Unformulierbare: Wörter reden darüber hinweg, es befindet sich ja „au-dessous de toute explication". Und zwar im doppelten Sinne. Das reine Erlebnis kann nidit verbalisiert werden und man kann nicht weiter zurück; in seiner Beschreibung ist man schon zu weit gegangen. Das Sinnlose läßt sich nicht ausspredien. Oder verbirgt selbst das etwas vom Sinn in sich? „Ich stand auf und ging. Als ich an das Gatter kam, blickte ich rückwärts. Da lächelte mir der Garten zu. Ich lehnte mich an das Tor und sah lange zurück. Das Lächeln der Bäume, der Gruppe Lorbeerbäume, das wollte etwas besagen: dies war das wirkliche Geheimnis der Existenz. Ich erinnere mich, daß ich bereits am Sonntag vor drei Wochen jenen mit-wissenden Ausdruck auf den Dingen wahrgenommen hatte. Galt er mir? Ärgerlich empfand ich, daß ich auf gar keine Weise begreifen konnte. Und doch war es da, in der Erwartung, es glich einem Blick. Es war da, auf dem Stamm des Kastanienbaumes . . . es war der Kastanienbaum. Die Dinge, man hätte meinen können: Gedanken, die auf halbem Wege stehen geblieben waren, die sich vergaßen, die vergaßen, was sie hatten denken wollen, und die dann so verblieben waren, schwankend, mit einem eigenartigen kleinen Sinn, der über sie hinausging. Dieser kleine Sinn brachte mich auf: ich konnte ihn nicht verstehen, auch wenn ich sieben Jahre an dieses Tor gelehnt stünde. Ich hatte alles über die Existenz erfahren, was ich wissen konnte15." Woher dieses Lächeln, dieses Geheimnis, dieses „dröle de petit sens"? Ist es wirklich unmöglich das pure, eines jeden Sinnes entblößte, simple Sein zu erfahren? Immer bleibt der entrinnende Hinweis, das Lächeln der Dinge. Selbst wenn sie in den Strom zurückgeflossen sind. Selbst wenn Farbe, Form und Bewegung dem Ding entrinnt, herausströmt, halb gerinnt und selbst fast ein Ding wird16. Selbst in der empfindungsmäßigen Nacktheit meldet sich Intentionalität und findet noch Thematisierung statt. In dieser Problematik findet James' eigene Erörterung ihre (verborgene) Kontinuität. In den Principles geht er ohne deutlich sichtbaren Zusammenhang von der Besprechung des Dinges zur Besprechung des Erlebnisgegenstandes über, zu dem, was erlebt wird. Aber wir sind jetzt in der Lage, den Zusammenhang zu sehen. 14 15 16
Der Ekel, S. 156, 157. Der Ekel, S. 163. Der Ekel, S. 157.
Thema und Gegenstand des Erlebens
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8. THEMA UND GEGENSTAND DES ERLEBENS Fortwährend gebraudien wir das Wort „Objekt", aber was bedeutet es eigentlich? Was soll dieses Wort in der Psychologie bedeuten: James stellt sich diese Frage [I, 275 ff.] und macht dann einen Unterschied zwischen „topic" und „object", zwischen Thema und Gegenstand des Denkens. Im täglichen Sprachgebrauch wird Objekt ohne Hinweis auf den Erkenntnisakt verwendet, als ein Ausdruck für das individuelle, bestehende Ding. Wenn idi ζ. B. sage: „1492 entdeckte Kolumbus Amerika", und ich würde jemanden fragen, was nun mein Objekt ist, dann würde er wahrscheinlich antworten: „Kolumbus" oder „Amerika" oder vielleicht: „die Entdeckung Amerikas". Man nennt nun mal immer einen substantiven Kern des Erlebens. Aber das ist nun gerade nicht der Gegenstand, das Objekt; es ist ein „topic", ein Thema: dasjenige, worum es geht. Mir geht es um Kolumbus. Er ist mein Thema. In einem anderen Zusammenhang ist vielleicht Amerika oder seine Entdeckung oder das Jahr 1492 das Thema. Das Objekt, der Gegenstand meines Denkens ist jedoch nidit mehr oder weniger als der gesamte Inhalt des Denkens. Um beim Beispiel zu bleiben, der Gegenstand meines Bewußtseins ist nicht mehr oder weniger als: „Kolumbus-entdeckte-1492-Amerika" in seiner vollen Ganzheit genommen. Zu diesem Gegenstand gehört alles, was dabei in seinem ursprünglichen Kreis marginaler Relationen an Erlebnis anwesend ist, der wie ein Horizont den Kern umgibt. Denken wir dann weiter über Kolumbus, ζ. B. „er war ein kühner Geist", dann meint der Psychologe, daß Kolumbus noch immer der Gegenstand ist Nachdem ich seine Entdeckung Amerikas genannt habe, sage ich ja von demselben Mann, daß er kühn war. Sicher ist es wahr, daß Kolumbus noch immer das Thema ist. Das Denken betrifft Kolumbus. Aber der Gegenstand unseres zweiten Gedankens, jetzt in dem Augenblick, da ich ihn denke, istwieder nicht mehr oder weniger als das Ganze: „er-war-ein-kühner-Geist". Der Gegenstand jeglichen Denkens ist nicht mehr oder weniger ah alles, was das Denken denkt, genauso, wie das Denken es denkt. Wie kompliziert die Sache audi sein mag, und wie symbolisch die Denkweise auch sein mag [I, 276]. In strengem Sinne kann ich diesen Gedanken in seiner Ganzheit, den Denkgegenstand, nicht erschöpfend beschreiben. Nennen kann ich nur das Thema, den thematischen Kern. Wir dürfen uns nicht durch den Satz, der den Gegenstand ausdrückt, betrügen lassen. Um so mehr nicht, als wir nun einmal Wörter als eine den Gegenstand betreffende Mitteilung verstehen wollen, und ein Satz, hinterher betrachtet, aus elementaren „Denkbildern" zusammengesetzt zu sein scheint. Der Gegenstand ist ein ungeteiltes, wenn auch gegliedertes Ganzes, wie wir vom V. Kapitel § 4 her wissen. Denken wir ζ. B.: „Das-Kartenspiel-liegt-auf10 Linsdioten
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dem-Tisch", dann müssen im Denken Zeitteile unterschieden werden. Der Gegenstand braucht kein simultanes Ganzes zu sein. Ich habe oft nicht alles gleichzeitig präsent. Das Denken verläuft in Zeitteilen. Aber wenn ich versuche, diese Zeitteile voneinander zu lösen, voneinander zu unterscheiden, dann kann ich doch keinen einzigen finden, der so kurz ist, daß darin nicht mehr auf die eine oder andere Art der ganze Gegenstand gegenwärtig wäre [I, 279]. In jedem Teil liegt das Ganze beschlossen, sei es auch in der Weise, wie dieser Teil das Ganze denkt. Wir denken audi nicht in Worten, eigentlich kaum in Sätzen. Wir bringen wohl in Sätzen und Worten die fortschreitende Gegliedertheit des sich entwickelnden Denkens zum Ausdrude. Die Aussage des Denkens, wie es sich vollzieht, ist immer Paraphrase. 9. DENKEN VOLLZIEHT SICH IN PARAPHRASEN Um etwas zu verdeutlichen, paraphrasieren wir, wörtlich: sprechen wir drum herum — nicht, um der Sache auszuweichen, sondern gerade, um sie deutlich zu machen. Das nochmalige Wiederholen eines Satzes in einer etwas anderen Form, die Aufstockung auf einem Thema, macht den Denkgegenstand für den Hörer oder Leser deutlicher. Themen kann man einfach nennen. Wenn ich paraphrasiere, will ich einem anderen dazu verhelfen, meine Denkentwicklung mitzumachen, zu erfahren, was ich denke. Bei der Beschreibung einer Situation oder eines Dinges ist es nicht anders. Wir versuchen damit, etwas wachzurufen und gegenwärtig zu machen. Das bloße Nennen liefert freilich auch hier das Thema, nicht aber den Gegenstand. „Vor einiger Zeit hielt ich mich in der und der Landschaft auf, und dort sah ich einen schönen Baum." Das ist eine Beschreibung, die, weil sie sich mit dem Nennen dessen, was mir auffiel, begnügt, weiter niemand interessiert. Diese beiden Arten der Beschreibung kennen wir alle aus der Erfahrung. Erkundigen wir uns voll Anteilnahme, „wie es beim Zahnarzt war", dann wird der andere sagen, „daß der Zahnarzt ihn hereinließ, zu bohren anfing, und daß die Behandlung eine Viertelstunde dauerte". Wen man den Mann fragt, ob es weh tat, lautet die Antwort: „ein wenig". Fertig, aus! Das ist eine nennende Beschreibimg. Wer paraphrasiert und also den Gegenstand seines Erlebens deutlich veranschaulichen will, der hebt ζ. B. so an: „Was ist das doch für eine Sphäre! Man kommt herein, setzt sich in den glitzernden Stuhl und bekommt schon sofort so ein beklemmendes Gefühl. Ziemlich unbeholfen liegt man im Stuhl und man fühlt sich dem Diener der Technik ausgeliefert" — usw. Oder betrachten wir die Beschreibung einer Wahrnehmung. Ich sehe einen Baum, eine Uhr, einen Menschen oder was auch; ich sehe ein Ding, das fährt, einen Vogel, der fliegt, und meine in der Regel, meine Wahr-
Die Perspektivität des Erlebens
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nehmung damit völlig adäquat beschrieben zu haben, indem ich das Thema der Wahrnehmung nenne. Eine gründliche Wahrnehmungsanalyse erfordert jedoch eine Beschreibung des Gegenstandes. Wir sehen dann, daß dasjenige, was ich als Thema bezeichne, oft gar nicht so gegeben ist, wie es in der Bezeichnung gemeint ist. Ich nenne und meine dann das vollkommene, ein für allemal in sich selbst bestehende Ding, ζ. B. ein Buch. Aber es ist eine alte Frage, ob ich, wenn ich ein Buch liegen sehe, auch sagen darf, daß ich ein Buch liegen sehe. Denn was sehe ich? Die Titelseite und einen Rücken mit goldener Aufschrift. Darf ich nun sagen, daß das ein Buch ist? Ich habe vor mir eine Schachtel stehen. Ich kann dieses Ding nicht zugleich von allen Seiten betrachten. Auch kann ich mir keine einzige Situation vorstellen, in der ich das wohl vermöchte. Ich könnte mir höchstens eine gläserne Schachtel anfertigen, durch die ich hindurchsehen kann. Aber auch meine gläserne Schachtel kann ich nur von einer Seite zur selben Zeit sehen. Eine vollständige Simultaneität aller Aspekte ist unmöglich. Trotzdem sage ich, daß ich eine Schachtel sehe und meine das vollständige Ding von rechteckiger Form, einen Würfel, den man öffnen kann usw. Audi die Wahrnehmung vollzieht sich in Paraphrasen. Auch die Wahrnehmung hat ihr Thema und ihren Gegenstand. Im Gegenstand thematisiere ich das Thema, das mir nie anders als perspektivisch erscheinen kann. 10. DIE PERSPEKTIVITÄT DES ERLEBENS Merleau-Ponty, der sich mit diesen Fragen ausführlich beschäftigte, sagt ι „Voir, c'est entrer dans un univers d'etres qui se montrent, et ils ne se montreraient pas s'ils ne pouvaient etre caches les uns derriere les autres ou derriere moi 17 ." Unser Verhältnis zu den Dingen kommt in dem zum Ausdruck, was ein Kind tut, wenn es im Laufstall „Kuck-Kuck" spielt. E s hält die Hand vor den Augen und schaut eben darüber hinweg. Es zeigt und verbirgt sich; so wie sich die Dinge in unserem Umgang mit ihnen zeigen und verbergen: sie halten immer mit Aspekten hinter dem Berg, sie erscheinen nie so wie sie in ihrer Vollständigkeit sind, sondern erscheinen perspektiviert. Denn Sehen ist immer ein Sehen vom einen oder anderen Gesichtspunkt aus. Aber das Ding, das Thema, ist eine Thematisierung meines Wahrnehmungsgegenstandes. Wir müssen zu verstehen suchen, wie das Sehen, das immer von einem Gesichtspunkt aus stattfindet, dennoch nicht in seiner Perspektivität gefangen ist18. Das Schachbrett, das zwischen mir und meinem Partner steht, ist für mich und für ihn dasselbe Brett, wiewohl es klar ist, daß ich alle Teile genau von der entgegengesetzten Seite sehe. Obgleich der Gegenstand unserer Wahrnehmung verschieden ist, ist 17 18
ιο·
Merleau-Ponty, Phenorrwnologie, S. 82. Merleau-Ponty, Phenomenologie, S. 81.
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das Thema dasselbe. Ich kann sehen, wie ein Ding für jemanden, der sich an einer anderen Stelle befindet, anders aussieht, obschon es mir so, wie er es jetzt sieht, nicht gegeben ist. Beruht das auf einer Erfahrung? Nicht in dem Sinne, daß ich das „wirkliche Ding" je in meiner Erfahrung angetroffen hätte. Von einem Kubus kann ich nie mehr als drei Seiten zugleich sehen. Sagt man nun, daß ich aus einer Reihe ineinander übergehender sinnlicher Wahrnehmungen das Gesamtbild des Kubus mit Vorder- und Rückseite, mit den beiden Seitenstücken, mit Ober- und Unterstück erworben habe, dann ist das nicht richtig. Denn jede dieser ineinander übergehenden sinnlichen Wahrnehmungen ist selbst perspektiviert. Die Form des in sich selbst kubischen Kubus, bei dem alle Flächen gleich groß sind, der nur rechte Winkel hat und bei dem alle Kanten gleich lang sind, kann ich auf keine einzige Weise wahrnehmen. Wie komme ich denn dazu? Von Anfang an habe ich in den Perspektiven mehr gesehen als nur diese zufällige perspektivische Form. Ich habe, um mit James zu sprechen, eine Konzeption des Kubus. Ich kann eine solche haben, weil die perspektivischen Formen über ihre Zufälligkeit hinausweisen. Die perspektivische Form ist die Erscheinungsweise des Dinges, ist das Ding selbst, so wie ich es in dieser Form (mit ihrem Kontext) thematisiere. Es gibt keinen Grund, diese beiden auseinanderzulegen und zu sagen, daß das eine, die Form, Zeichen für das andere ist, das Ding. Ich brauche nicht von der Form auf das Ding zu schließen, das Ding ist in der Form gegeben. Im einen Aspekt ist das andere enthalten. Aber nur insofern, als die perspektivische Form in einem Kontext erscheint. Dadurch kann sie über ihre Eingeengtheit hinausweisen. Dadurch ist in der zufalligen perspektivischen Form die Kontinuität möglicher Formen sichtbar. Wenn wir dann sagen, daß wir in den zufälligen Formen, im Gegenstand des Wahrnehmens, die Dinge, die Objekte fassen, dann gilt das, weil sie in einem Verweisungszusammenhang erscheinen. Greifen wir nun auf die Terminologie zuriidc, die wir früher eingeführt haben und setzen „topic" mit „Thema" gleich, dann sehen wir wiederum, wie eng Thema und Feld zusammenhängen: das Thema des Wahrnehmens ist dasjenige, was als Verdichtung des Feldes thematisch wird. Das Thema begrenzt sich, schließt sich, sondert sich innerhalb des Feldes ab. Daß wir unsere Beispiele der Wahrnehmung entnahmen, war nicht unbedingt notwendig. Die Perspektivität offenbart sich in allen Formen des Erlebens. Das Wort will nichts anderes sagen, als daß das Erleben personbezogen ist, daß sich das im Erlebnis Erscheinende vom Standpunkt der Person aus so abzeichnet, aber zugleich durch die Kontextuiertheit auf die Einheit des Dinges hin durchsichtig ist, das durch Retention und Pretention der wechselnden Perspektiven hindurch als dasselbe thematisiert wird. Und das geschieht prä-reflexiv. Es ist keine rationale Aktivität, keine wohlbewußte Konstruktion, die hier zu Worte kommt, wenn auch die Beschrei-
James' „Object of thought" und Husserls „Noema"
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bungsart das nahezulegen scheint. Aber damit werden wir uns noch im IX. Kapitel eingehend beschäftigen. 11. JAMES' „OBJECT O F T H O U G H T " U N D H U S S E R L S
„NOEMA"
Denken wir noch einmal an die Definition von James zurück: der Gegenstand jeglichen Denkens ist alles das, was das Denken denkt, genauso, wie es das denkt. Das Voraufgehende führte uns zu der Einsicht, daß wir „Denken" hier nicht in der engeren Bedeutung zu verstehen brauchen. James' Umschreibung hat für alles Erleben Gültigkeit. Nun zeigt sich in diesem Punkt wieder eine grundlegende Ubereinstimmung zwischen James und Husserl, auf die auch Gurwitsch hingewiesen hat19. Bereits in Logische Untersuchungen finden wir einen Unterschied, der getroffen wird zwischen dem „Gegenstand, so wie er intendiert ist" und dem „Gegenstand, welcher intendiert ist" 20 . Es liegt auf der Hand, diese Unterscheidung mit der von James zwischen „object" und „topic" gleichzusetzen. Aus dem Kontext geht allerdings hervor, daß Husserl hier mehr an die Tatsache denkt, daß dasselbe Ding auf verschiedene Weise intendiert werden kann: wahrnehmend, vorstellend, erinnernd usw. W i r könnten demnach eher an James' These denken: „it makes little or no difference in what sort of mindstuff, in what quality of imagery, . . . thinking goes on", solange wir dasselbe denken [I, 269]. Aber Husserl spricht in diesem Zusammenhang auch von „dem reellen Bestand des Aktes selbst äußerliche (wirkliche oder mögliche) Erkenntniszusammenhänge": wenn ich mir den deutschen Kaiser vorstelle, ist es im Hinblick auf den intendierten „Gegenstand" (das Thema) irrelevant, wenn ich mich dabei erinnere, wessen Sohn er war. So liegt James' Unterscheidung hierin doch wohl angedeutet. Der Zweifel wird gänzlich durch Husserls Betrachtungen in seinen Ideen21 aus dem W e g e geräumt. Der Gegenstand des Aktes heißt hier Noema. Das Noema des Urteilens, d. h. das konkrete Urteilserlebnis, ist das „Geurteilte als solches"; aber das ist nichts anderes als das, was wir in der Regel einfach das Urteil nennen. W i l l man verstehen, worum es sich handelt, dann muß man nun das Geurteilte und das Beurteilte nicht miteinander verwechseln. Die „.Gegenstände worüber', insbesondere die Subjektgegenstände, sind die beurteilten. Das aus ihnen geformte Ganze, das gesamte geurteilte Was und zudem genau so genommen, mit der Charakterisierung, in der Gegebenheitsweise, in der es im Erlebnis ,Bewußtes' ist, 19
21
Gurwitsch, Theorie du champ de la conscience, S. 152 ff. Logische Untersuchungen, II/l, S. 400. Ideen, I, S. 194.
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Bewußtsein und Dinge
bildet das volle noematische Korrelat, den (weitest verstandenen) ,Sinn' des Urteilserlebnisses". Nun denn, der Gegenstand, das volle noematische Korrelat der Aussagen von James und Husserl ist sicherlich identisch. Sogar die Kennzeichnungen „genau so genommen (wie) es im Erlebnis ,Bewußtes' ist" und „exactly as the thought thinks it" sind gleichlautend. Eine der Zweideutigkeiten bei James war, daß man nicht recht herausfinden kann, ob er mit „thought" in diesem Zusammenhang „Bewußtsein" meint oder eingeengter: „Denken". Wir haben seine Theorie auf das gesamte Gebiet der Bewußtseinserscheinungen angewandt. Bei Husserl ist diese Allgemeinheit deutlich beabsichtigt. Dort wird ζ. B. das Noema des Wahrgenommenen als „das Wahrgenommene als solches" umschrieben und das wird verglichen mit dem Noema des Erinnerns, des Urteilens usw.22. Für den Psychologen ist die noematische Deskription von der größten Bedeutung. Wenn ich jemanden nach seinem „Wahrgenommenen als solchem" frage, nennt er wahrscheinlich das Ding, das er sieht. Die noematische Deskription verlangt jedoch eine Beschreibimg des gesamten Wahrnehmungsfeldes, des vollen Noemas. Jede psychologische Untersuchungsmethode macht hiervon mehr oder weniger explizit Gebrauch. So sind wir ζ. B. bei einem Rorschachtest noch nicht mit den Deutungen zufrieden, die der Proband formulierte. In der Befragungsphase versuchen wir herauszubekommen, wie er zu seiner Deutung kam, weil es uns nicht nur um die Themen geht, sondern vor allem auch um die Gegenstände seines Erlebens. Oft interessiert das Marginale den Psychologen sogar viel mehr als das Thematische. Aber auf jeden Fall geht es ihm darum, das Erlebte in seiner erlebten Form herauszubekommen. Gerade das charakterisiert ja die Person mit ihrer Perspektivität; das zeichnet ihre Situation. Es mag nun stimmen, daß die noematische Deskription eines beliebigen Erlebnisses eine offene, unendliche Aufgabe ist, weil sich die Beschreibung des Erlebnisfeldes notwendig in die Unbestimmtheit des Marginalen verlieren muß und infolgedessen unentwegt wieder aufgenommen werden muß. Dasjenige, was diese Deskription bezweckt, ist doch nicht weniger als so adäquat wie möglich auszudrücken, was im Erlebnis mit absoluter und unantastbarer Sicherheit gegeben ist. Das Noema hat eine Wahrheit in sich selbst, die durch nichts angetastet wird. Dieser Gedanke ist viel älter als die Phänomenologie und viel älter als James. In der dritten Meditation Descartes' kann man ζ. B. folgendes lesen: „Was nun die Vorstellungen anbetrifft, so können sie, wenn man sie nur an sich betrachtet und sie nidit auf irgend etwas anderes bezieht, nicht eigentlich falsch sein; denn ob mir meine Einbildung nun eine Ziege oder eine Chimäre vorstellt — so ist es 22
Ideen, I, S. 182.
Terminologie
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doch ebenso wahr, daß ich mir die eine, wie daß ich mir die andere bildlich vorstelle23." Was immer das Noema auch ist, als solches ist es etwas Gegebenes und hat es seinen eigenen Wirklichkeits-und Wahrheitscharakter. Und so finden wir einige Jahrhunderte später bei Husserl als methodisches Grundprinzip: „ . . . daß jede originär gebende Anschauung eine Rechtsquelle der Erkenntnis sei, daß alles, was sich uns in der ,Intuition originär (sozusagen in seiner leibhaften Wirklichkeit) darbietet, einfach hinzunehmen sei, als was es sich gibt, aber auch nur in den Schränken, in denen es sich gibt, kann uns keine erdenkliche Theorie irre machen24." Es gibt ebenso eine Wirklichkeit von mythischen Dingen wie von Stühlen und Tischen. Ich kann doch sagen, wie ein Engel (in meinem Erlebnis, wenn ich so etwas erlebe) aussieht. Ob es nun Engel gibt, das geht midi nichts an. Aber habe ich davon eine Vorstellung, dann bildet sie eine Erkenntnisquelle, und zwar rechtmäßiger und psychologisch wichtiger Erkenntnis. Gewiß, ich kann dem keine Erkenntnis betreffs der Bedingungen entnehmen, unter denen eine solche Vorstellung auftritt. Aber eine Analyse dieser Bedingungen setzt die Vorstellung selbst voraus und, will sie sinnvoll sein, auch deren noematische Deskription. Wir sprechen noch immer im Sinne James'. Was ein Erlebnis ist und zu was es entwickelt werden kann oder worauf ich es zurückführen kann, sind zwei Dinge, nicht eins [I, 279]. Und so ist es unsere psychologische Pflicht, „to cling as closely as possible to the actual constitution of the thought we are studying" [I, 277], Husserl denkt nicht anders darüber2*. Beide Denker sind der Ansicht, daß die deskriptive Orientierung in der Psychologie nicht vernachlässigt werden darf und kann. 12. TERMINOLOGIE Für eine bessere Ubersicht fassen wir nun noch einmal die Bedeutungen zusammen, in denen verschiedene Ausdrücke verwandt werden. 2 3 R. Descartes, Meditationes de prima philosophia, Hamburg, 1959, S. 65. Vgl. bei James I, 187, die Diskussion über die Introspektion und den dort zitierten Abschnitt von Brentano, Psychologie, S. 181 f. 24 Ideen, I, S. 43 f. Husserl nennt es das „Prinzip aller Prinzipien". In meinem „Nachwort" in Persoon en wereld, S. 252, übernahm ich für die phänomenologische Psychologie dieses erkenntnistheoretische Prinzip der Phänomenologie. Auch unsere Betrachtungen über James führen uns dahin. Über das Nachwort schrieb Delfgaauw eine Kritik, in der (1) bezweifelt wird, „ob man dies das Grundprinzip der Phänomenologie nennen darf", und (2) behauptet wird, daß dieses Prinzip auf jeden Fall die spätere Entwicklung der Phänomenologie nicht deckt. Die Antwort auf den zweiten Punkt muß lauten, daß also die spätere Entwicklung keine Phänomenologie mehr wäre; und auf den ersten: dies „kann uns keine erdenkliche Theorie irre machen". Vgl. B. Delfgaauw, Verantwoording der phaenomenologische Psychologie; Nederl. Tijdsdir. Psydiol, 1954 (9), S. 82. 2 5 Vgl. Ideen, I, S. 183.
Bewußtsein und Dinge
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James unterschied zwischen „topic" und „object" des Erlebens — wir sprachen von Thema und Gegenstand. Es ist „dasjenige, worum es geht" bzw. das „aktuelle Erlebnisganze". Sie stehen nicht gegenüber oder nebeneinander: „topic" oder Thema betrachten wir als eine Thematisierung des Objektes oder des Gegenstandes. Das Thema als solches ist ein Teil des Gegenstandes: das Thema ist der thematisierte Teil des Gegenstandes. Das aktuelle Erlebnisganze haben wir auch, im Anschluß an Husserl, Noema genannt. Das Thema ist dann eine Differenzierung innerhalb des Noemas. Der nicht thematisierte Teil heißt bei James Hof (margin) oder Kontext So kann man von einem thematischen und einem marginalen Erlebnis sprechen. In der Beschreibung des Erlebens gibt es somit verschiedene Orientierungsmöglichkeiten. Eine noematische Deskription trachtet „to cling as closely as possible to the actual constitution of thought"; auf die Frage, was „das Wahrgenommene als solches" ist, „erhalten (wir) die Antwort in reiner Hingabe an das wesensmäßig Gegebene"26. Es ist auch eine thematische Deskription möglich, die insbesondere mehr das Thema, den noematischen Kern als „gegenständlichen Sinn" beschreibt. Im Hinblick darauf tritt dann der übrige, der „restierende" Teil des Noemas als Hof (margin) hervor. Jede thematische Deskription stützt sich auf diesen Hof, entdeckt den Kontext als einen Bereich, der den Sinn des Themas konstituiert. Anders ausgedrückt: der Hof (margin) tritt in der thematischen Deskription als Horizont des Themas hervor. James war, sagt Husserl, soweit ihm bekannt war, der erste, der dieser Erscheinung des Horizonts Aufmerksamkeit widmete27. Er beschrieb die Erscheinung nicht nur, auch der Ausdruck selbst ist bei James zu finden. Ein gesprochener Satz ist von Fransen umgeben, tönt in einem Kranz vager Relationen, die wie ein Horizont die Bedeutung umgeben [I, 276]. Husserl gebraucht das Wort in derselben Bedeutung28. Nur in der Anwendimg ist er großzügiger, wenn sich zeigt, „daß in Horizonten weitere impliziert sind und schließlich jedwedes als weltlich Gegebene den Welthorizont mit sich führt und nur dadurch als weltlich bewußt wird"28. Wir werden noch sehen, wie die hiermit angedeutete Problematik auch bei James auftritt. 13. WIRKLICHKEIT UND TÄUSCHUNG Die von James aufgestellte Forderung, so eng wie möglich bei der aktuellen Konstitution des Erlebens anzuschließen, enthält mehr als nur das 28 37
28
Ideen, I, S. 183.
Husserl, Krisis, S. 269.
Vgl. Ideen, I, S.48ff., 80, 99, 129, 164 ff.
Wirklichkeit und Täuschung
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Prinzip der noematischen Deskription. Darin steckt eine Kritik mancher theoretischer Konstruktionen und außerdem ist darin eine Auffassung über das Wirklichkeitserlebnis aufgeschlossen. Was die Kritik anbelangt, so wäre es keine geringe Aufgabe, alle Fälle zu beschreiben, in denen die Psychologie zu absurden Konstruktionen kam. Damit fangen wir erst gar nicht an. Ein einziges Beispiel möge genügen. Wie viele haben doch daran festgehalten, daß wir, weil unsere Netzhaut zweidimensional ist, keine räumliche Tiefe sehen können und sie infolgedessen auch nicht sehen, trotz der Evidenz des Erlebnisses! Aber keine einzige Beweisführung kann darlegen, daß ein Erlebnis, das in Wirklichkeit auftritt, nicht da ist [II, 221 Anm.]. Auch James selbst vergißt hin und wieder seinen eigenen Auftrag. So z.B. wenn er, in Ubereinstimmimg mit gängigen Auffassungen, die Täuschimg als eine Erscheinung umschreibt, die aus einer Diskrepanz zwischen Wahrnehmen und Wissen resultiert [II, 86]. Wer einen Stock ins Wasser hineinsteckt, der sieht, daß an der Berührungsfläche von Luft und Wasser am Stock ein „Bruch" erscheint. Das ist eine Täuschung. Wir wissen, daß der Stock gerade ist, aber wir sehen ihn krumm. Es ist also von Täuschung die Rede, von einer Diskrepanz zwischen Wahrnehmen und Wissen. Wenn wir uns nun die Frage vorlegen, wie wir denn wissen, daß der Stock gerade ist, beginnen die Schwierigkeiten. Das Wissen ruht ja auf dem Boden anderer sinnlicher Wahrnehmungen, ζ. B. des Betastens mit der Hand — und nichts gibt mir noch die Garantie, daß das Abtasten eines Stockes, aus dem ich die Schlußfolgerung ziehe, daß er gerade ist, in Wirklichkeit nicht auch eine Täuschung ist. Dieses Problem lassen wir nun einen Augenblick ruhen und wenden uns der als „Größenkonstanz" bekannten Erscheinung zu. Wenn ich meine Hand direkt vor meine Augen halte, sehe ich sie nicht größer, als wenn ich sie einen halben Meter von mir entfernt halte. Aber ein Foto dieser beiden Situationen läßt sehen, daß eine Kamera und also das Auge, alle linearen Größen bei Verdopplung des Abstandes halbiert. Derjenige, der Anhänger der soeben gegebenen Definition ist, wird demnach unzweifelhaft die Größenkonstanz als eine Täuschung betrachten. Ich weiß ja, daß meine Hand „kleiner" sein muß bei einem Abstand, als wenn sie nahebei ist. Trotzdem sehe ich ihre Größe konstant. Das ist also wieder eine Diskrepanz zwischen Wahrnehmung und Wissen. Aber hier redet der Psychologe nie von „Täuschung". Die Definition, die auf der Diskrepanz aufbaut, ist eine Definition ad hoc, die nur dann zum Vorschein geholt wird, wenn es gelegen ist. Es ist eine Definition, die das eigentliche psychologische Kriterium 29
Krisis, S. 267. Vgl. die Studie von H. Kuhn, The phenomenological concept
of „horizon". In: Μ. Farber (ed.), Historical essays in memory of Ε. Husserl; Cam-
bridge (Mass.) 1940, S. 106—123.
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Bewußtsein und Dinge
für die Unterscheidung von Wirklichkeit und Täuschung nicht umschreibt. Wirklichkeit und Täuschung als Erlebnisse müssen an Hand innewohnender Merkmale eben dieser Erlebnisse selbst unterschieden werden30. Wenn die „actual Constitution" keinen diesbezüglichen Unterschied aufweist, hat der Unterschied keinen psychologischen Sinn. Täuschungen sind keine Erfindungen der Psychologen; es gibt eine Wahrnehmung, die wir direkt als Täuschung erfahren. Wie schwierig es ist, sich dabei an das zu halten, was gegeben ist, zeigt sich immer wieder aufs neue. Wenn ich über einen Weg dahergehe und in der Ferne einen flachen Stein liegen sehe, der in Wirklichkeit ein von der Sonne beschienener Flecken ist, dann ist hier doch von einem Wirklichkeitserlebnis die Rede. Ich sehe den Stein, weil mein gesamtes Wahrnehmungsfeld und mein motorisches Feld diesem Lichtflecken die Bedeutung eines Steines auf dem Wege gibt31. Der gesamte Kontext führt darauf zu. Ich bereite mich schon darauf vor, bald den Stein unter meinen Füßen zu fühlen. Ich richte meinen Schritt schon nach dem Ding, das ich in der Ferne sehe. Wenn ich nun näher komme, sehe ich, daß es kein Stein ist, sondern ein Flecken Sonnenlicht. Die Täuschung ist aufgehoben, bevor ich Gelegenheit hatte, sie mit meinem Fuß zu kontrollieren. Dieser Übergang hat sich ganz in der Sphäre des Sichtbaren abgespielt. Eigentlich war keine Täuschung vorhanden. Der Stein auf dem Weg war ein Bild, das in die Situation paßte, wie die konstante Größe meiner Hand in mein Körperschema paßt. Weg, Ferne, Intensitätsunterschied des Lichtes mit der Umgebung und Form, ließen mich in diesem Kontext einen Stein sehen. Das ist Wirklichkeitswahrnehmung, unabhängig von der Frage, ob diese Realität eine logische Analyse übersteht. Es wird so wahrgenommen. Der Logiker, der analysiert, was Realität eigentlich ist, macht von diesem primären Wirklichkeitserlebnis Gebrauch. Wenn ich mich nähere, dann kann es einen Augenblick geben, in dem ich den Stein als etwas Trügerisches wahrnehme: das ist kein gewöhnlicher Stein, es ist etwas anderes, das sich so darbietet. In diesem Augenblick kann ich von einer Täuschung sprechen, von einem Wahmehmungsding, das in seiner Konstitution, in der Art und Weise, wie es sich mir darbietet, sich als etwas zeigt, das nicht so ist wie die anderen Dinge um mich herum; es betrügt mich. Dann fange ich an zu zweifeln und stelle mir die Frage, was es nun eigentlich ist. Dann ändert sich in Übereinstimmung mit der neuen Situation plötzlich mein Erleben: es ist überhaupt kein Ding, es ist ein Flecken Sonnenlicht. Ich habe aufs neue Realität gefunden. Solange mir der Gegenstand etwas Trügerisches zu sein scheint, eine Täuschung, will ich mit meinem Fuß darauf treten, es betasten, in der Hand wägen. Das ist 30 31
Merleau-Ponty, Phenomenologie, Merleau-Ponty, Ph0nom0nologie,
S. 340. S. 343.
Das Erleben des Wirklichen
155
-der wirkliche Grund für jede Definition der Täuschung, die sich auf die Tastwahrnehmung beruft. Unsere unverwüstliche Neigung, das Trügerische in die Hand zu nehmen, näher zu untersuchen, setzt voraus, daß das Ding, so wie es erscheint, diese Kontrolle verlangt. Es handelt sich nicht darum, ob es in der Sphäre des Urteils wahr oder falsch ist, sondern darum, ob es als Wirkliches oder als Trügerisches gegeben ist. Die Täuschung ist nicht eine Diskrepanz zwischen Wahrnehmen und Wissen, sondern ein Widerspruch im Wahrnehmen selbst, der zu einer Diskrepanz mit dem Wissen führen kann. Nur ist dieses „Wissen" dann nicht das wissenschaftliche, rational gesäuberte Wissen, das in unserem alltäglichen Erleben der Wirklichkeit überhaupt nicht fungiert. Es ist das Wissen des Vertrauten, wie ich es kennengelernt habe, so daß es selbstverständlich geworden ist. Deshalb ist das „Brechen" eines Stockes im Wasser für mich eine Täuschung; es durchbricht den Zusammenhang von Vertrautheiten, in denen ich mich bewege. Die konstante Größe meiner Hand durchbricht diesen Zusammenhang nicht und ist daher keine Täuschung. Würde ich jedoch die Täuschung am wissenschaftlichen Wissen über die Dinge definieren wollen, dann müßte man alle Wahrnehmung Täuschung nennen. Denn das wissenschaftliche Wissen lehrt uns, daß alles anders „ist", als wir es wahrnehmen. Und so richtet sich unsere Wahrnehmung einzelner Dinge nach dem Kontext und nach der Wahrscheinlichkeit, die in unserer Vertrautheit mit dem Kontext und mit der menschlichen Welt im allgemeinen, ihre Grundlage findet. „Perception is of definite and probable things", sagt James [II, 82]. Das Erlebnis des Wirklichen und des Scheins als etwas innerhalb dieser Wirklichkeit, ist in einem „Glauben", in einem doxischen Vertrauen fundiert. 14. DAS ERLEBEN DES WIRKLICHEN Jeder kennt den Unterschied zwischen dem Vorstellen von etwas und dem Glauben, daß es besteht. Damit beginnt James seine Untersuchung über das Erleben des Wirklichen [II, 283 ff.]. Es gibt keinen einzigen Einwand dagegen, daß ich mir tagträumend mein altes Pferd, das im Stall steht, als ein beflügeltes Tier vorstelle, das sich plötzlich in die Luft erhebt und dort ausgelassen herumfliegt. Ich kann mir das sogar sehr lebhaft vorstellen [II, 289], Aber ich glaube nicht, daß es wirklich mein altes Pferd ist, das im Stall steht. Ich glaube nicht, daß es diesen Pegasus wirklich gibt. Es besteht ein Unterschied zwischen dem Vorgestellten und demjenigen, was ich mit einem doxischen Vertrauen in seiner Wirklichkeit erlebe. Man könnte das erste als das Fundament des zweiten betrachten. Es gibt Vorstellungen von geflügelten Pferden, bei denen ich nicht an die Re-
156
Bewußtsein und Dinge
alität der Pferde glaube; andererseits gibt es ein Wahrnehmungsbild eines Pferdes, das ich audi Vorstellung nennen kann, bei dem ich allerdings wohl an die Wirklichkeit des Vorgestellten glaube. Muß ich folglich sagen: es gibt eine Vorstellung, die Realitätswert erhält, wenn ich die Realität des vorgestellten Dinges bejahe? Aber ob ich nun der Meinung bin, daß die Dinge ihren Wirklichkeitscharakter aus eigener Kraft besitzen oder auf Grund dessen, daß ich ihn ihnen zuerkenne — der deskriptive Unterschied zwischen Vorstellungen wirklicher Dinge und Vorstellungen fingierter Dinge bleibt bestehen. An die ersten „glaube" ich, an die letzten nicht. Ich kann mir nach Belieben einen Mann vorstellen, den es nicht gibt. Ich kann ihm jede beliebige Augenfarbe geben. Aber wenn ich mir meinen Vater vorstelle, dann sind seine Augen blau. Die Wirklichkeit zwingt mich dazu. Dadurch ist die Vorstellung als Vorstellung von etwas Wirklichem gekennzeichnet. Die Wirklichkeit ist so und nicht anders. Diese Sicherheit ist es, die James „belief" nennt. Da wir dieses Wort in diesem Fall mit „Glauben" nicht richtig übersetzen, wählen wir den Ausdruck „doxa". Wir können demnach zwischen fiktiven und doxischen Vorstellungen unterscheiden. Rein als Vorstellung genommen, als allgemeine Erlebnisweise, sind allerdings beide, doxische und fiktive Vorstellung, gleich wirklich. Und in dieser Abstraktion genommen bildet das Vorgestellte im allgemeinen doch wieder einen Gegensatz zum Realen. Denn eine doxische Vorstellung ist zwar eine Vorstellung des Realen, aber trotzdem nicht mehr als Vorstellung des Realen, nicht das Reale selbst32. Auch das Vorgestellte „ist", aber dieses Sein ist Sein einer anderen Ordnung, als das Sein des Wirklichen, das, wie wir dann sagen, „wirklich da ist". Dieser Unterschied wird uns durch das „sense of reality" klar — obgleich hier „Sinn" nicht wörtlich verstanden werden muß. Denn „Wirklichkeit" ist keine Qualität des Wahrgenommenen im selben Sinne wie „rot" oder „rund" oder „nahe" Qualitäten sind. Ebensowenig ist der Wirklichkeitscharakter etwas, das ursprünglich durch das rationale Urteil erkannt wird. Es geht ja gerade um das doxische Vertrauen, über das ich wohl hinterher auch ein Urteil geben kann, aber das doch als Vertrauen, als vorreflexive Sicherheit, im Erlebnis selbst schon anwesend ist. Dieses doxische Vertrauen ist nun nach James etwas, das seiner inneren Art nach am meisten mit den Emotionen eine Verwandtschaft zeigt [II, 283]. Es ist eher ein Fühlen als eine Wahrnehmung oder ein Urteil. Und so sehen wir, daß James' Gedankengang hier eine vollständige Ubereinstimmung mit dem aufweist, was von einer phänomenologischen Psychologie her über die Täuschung gesagt wurde. Es ist ein Fühlen, das uns sagt: das ist, die Dinge sind wirklich. 3 2 Wir dürfen hierbei nidit aus dem Auge verlieren, daß „real" hier bedeutet: als Wirklichkeit erlebt.
Das Erleben des Wirklichen
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Bisher hat uns James noch keine befriedigende Umschreibung vom „Wirklichkeitscharakter" gegeben. Bevor wir hier einen Tadel einfügen, müssen wir wohl zügeben, daß eine Umschreibung gar nicht so leicht zu geben ist. Genauso schwer wie es dem Philosophen fällt, eindeutig zu sagen, was er mit „Sein" meint — weil er immer von Sein Gebrauch machen muß, um zu sagen, was er damit meint — genauso schwer fällt es James, zu sagen, was nun „doxisches Vertrauen" genau bedeutet. Statt nach einer bündigen Definition zu fragen, folgen wir also besser seinen Paraphrasen. Es gibt mehrere Sicherheitsgrade, von einem Voraussetzen bis zur höchsten Evidenz. Das sind alles doxische Formen. Es gibt ein unumwundenes „ja, so ist es und nicht anders" und ein „ja, so könnte es sein". Das sind Wirklichkeitsgrade im Phänomenalen, die richtunggebend sind für unser Verhalten, für Zögern oder zielbewußte Sicherheit. So kann man auf den Gedanken kommen, daß das doxische Vertrauen etwas mit einem „consent", einem Zustimmen zu tun hat. Man kann eigentlich nicht sagen, daß es das ist, denn es verhält sich ja nicht so, daß ich der Wirklichkeit zustimme und daß es deshalb Wirklichkeit ist. Nicht dadurch, daß ich sage: „Ja, das ist wohl ein Aschenbecher", erhält das Ding Wirklichkeitscharakter. Und dennoch: „Zustimmung wird von jedem als eine Äußerung unserer aktiven Art verstanden. Zustimmung wird natürlicherweise durch solche Ausdrücke wie .Bereitschaft' oder .Zuwendung unserer Einstellung' angedeutet" [II, 283]. Und worauf sie sich richtet, das ist das Reale [II, 295]. James gibt sich hier einige Mühe, doch noch zu einer Umschreibung zu gelangen. Er beruft sich dabei auf Stuart Mill und auf Brentano, die sich ebensowenig wie James da herausfanden. Was ist der Unterschied zwischen dem Denken einer Realität und einer bloßen Vorstellung von etwas, fragt Mill. Wir alle wissen, daß der Unterschied fundamental ist und daß sich niemand von uns hintergehen läßt. Dennoch kann man nicht mehr darüber sagen, als daß der Unterschied gerade im „belief" liegt, dem Kernpunkt unserer geistigen Funktionen. James macht nun die Bemerkung, daß, als Mill dieses sagt, seine Folgerung offensichtlich lautet, daß „belief", das „sense of reality, feels like itself — that is about as much as we can say" [II, 286], Oder kommen wir im Anschluß an Brentano weiter? Jeder Gegenstand, sagt Brentano, ist in doppelter Weise bewußt, als Bewußtseinserscheinung und als Gegenstand eines neuen Aktes, ζ. B. eines Begehrens. Etwas ist gegeben, und ich richte mich in einer besonderen Weise darauf33. James setzt hier ein: erstens erlebe ich den Gegenstand als solchen, zweitens kann ich die Frage stellen: ist er auch etwas Wirkliches; und wenn ich darauf mit „ja" antworte, dann habe ich offenbar ein „belief". Es wäre naiv, anzunehmen, daß dieser Gegenstand selbst und das, was 33
Brentano, Psydiologie, S. 266 f.
Bewußtsein und Dinge
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James mit „belief" meint, übereinandergelegt werden. Wir müssen uns hier vor einer Verwechslung der logischen und der psychologischen Ordnung hüten. Psychologisch geht es nicht darum, zunächst etwas zu erleben und es dann im weiteren als Wirklichkeit zu bestätigen. Es kann ebensowenig trotz der Formulierung, die das nahelegt, von einem Urteil die Rede sein. Das Ganze spielt sich im Erlebnis schon vor jeglicher Reflexion ab. So muß man wohl sagen, daß das doxische Vertrauen eine undefinierbare Gegebenheit ist, eine Grundlage, auf der doxische Modifikationen möglich werden. Fürs erste sagt James das noch nicht. Die psychologischen Gegensätze von „belief" sind Zweifel und Untersuchung, nicht „disbelief". Sie treten bei James als Erscheinung derselben Ordnung auf. Wir werden später sehen, daß er diesen Standpunkt nicht aufrechterhält, und wir sprechen daher schon jetzt von doxischen Modalitäten im Sinne Husserls. Husserl führt die doxischen Modalitäten ein als Charakteristik der Akte34. So gehört zum Wahrnehmen z.B. eine doxische Sicherheit: „so ist es"; wir finden dann korrelativ im Noema den Wirklichkeitscharakter des Wahrgenommenen. Dasselbe zeigt sich bei den Erinnerungen, Vorstellungen und Gedanken, die zum Wahrgenommenen oder Wahrnehmbaren Beziehung haben; es sind „seinssetzende", thetisdie Akte. Aber die Sicherheit, das doxische Vertrauen, das damit gepaart geht, kann zum Zweifel, zur Vermutung, zur Frage, zur Unsicherheit werden — mit dem korrelativ im Noema Seinsmodalitäten von „möglich", „wahrscheinlich", „bezweifelbar", „zweifelhaft" usw. erscheinen. So ζ. B. wenn das im doxischen Vertrauen als dies und das, als so und so Wahrgenommene ein trügerisches Gepräge erhält. In einer derartigen Reihe muß das doxische Vertrauen als eine unmodalisierte Urform, als eine Urdoxa betrachtet werden, die anderen Formen als doxische Modalitäten, als Modifikationen der Urdoxa. In Erfahrung und Urteil umschreibt Husserl die Urdoxa dann näher als Weltbewußtsein, als die universale Grundlage des Vertrauens an die „selbstverständlich" vorgegebene Welt, die in jedem Handeln und ebensogut in jeder kognitiven Stellungnahme vorausgesetzt wird. Erfasse ich in meinem Wahrnehmungsfeld, ζ. B. wenn ich auf ein Buch auf dem Tisch schaue, irgendeinen Gegenstand, dann erfasse ich etwas, das für mich da ist, etwas, das schon vorher für mich bestand, schon dort war, in meinem Zimmer, auch wenn ich noch nicht darauf gerichtet war; wie dieses Zimmer selbst „schon da war" als eine seiende Teilstruktur in dem vertrauten Ganzen, das ich Welt nenne®5. Zweifle ich, frage ich, dann tue ich das doch innerhalb dieses urdoxischen Ganzen. Die Urdoxa ist Basis und Horizont aller doxischen 84 35
Husserl, Ideen, I, S. 214 fi. E. Husserl, Erfahrung
auch: Krisis, S. 105 fi.
und Urteil; Hamburg, 1948, S. 25 und passim. Vgl.,
Der Zusammenhang der Erfahrungen
159
Modifikationen. Es mutet nicht gezwungen an, James' Gedanken in diesem Sinne zu interpretieren. Für ihn ist Wirklichkeitserlebnis, wie für Husserl, eine Grunderscheinung des Erlebens, das nicht auf eine nodi fundamentalere Struktur zurückgeführt werden kann. 15. DER ZUSAMMENHANG DER ERFAHRUNGEN Aber wenn man auch das Wirklichkeitserlebnis auf nichts anderes zurückführen kann, so bedeutet das nach der Ansicht von James noch nicht, daß man keine näheren Fragen darüber stellen kann. So ist ζ. B. die Frage, unter welchen Bedingungen wir etwas für real halten, eine sinnvolle. James führt hier ein Gedankenexperiment durch. Man stelle sich einen erwachsenen Menschen mit einem erwachsenen Geist vor, aber dennoch „tabula rasa", ohne jegliche Erfahrung. Nehmen wir an, dieser imaginäre Mann bekäme den Eindruck einer brennenden Kerze. Nehmen wir weiter an, daß dieser Eindruck rein subjektiv wäre und daß in Wirklichkeit keine Kerze bestünde. Erlebt dieser Mann seinen Eindruck als eine Wirklichkeit? Glaubt er, daß die Kerze da ist? Aber muß ich diese Frage nicht gerade umkehren, fragt James? Was hätte es für einen Sinn, an der Realität der Kerze zu zweifeln? Sehen muß hier, wo noch keine Erfahrung ist, mit „belief" zusammenfallen, mit der Hinnahme der Kerze als Realität. Darf man dann nicht allgemein sagen: jedes Objekt, jedes Erlebnis, dem nicht durch andere widersprochen wird, oder das im Widerspruch zu anderen Erscheinungen steht, wird ipso facto als Realität gesetzt? [II, 288]. Es ist meine Erfahrung, die mich bestimmte Dinge als unwirklich verwerfen läßt, während ich andere Dinge gerade auf Grund dieser Erfahrung für Wirklichkeit halte. Besitze ich noch gar keine Erfahrung, so muß die allererste Erfahrung in sich selbst für mich Wirklichkeitscharakter haben, weil ich keinen Anlaß zum Zweifeln habe. Dann hängt also der Wirklichkeitscharakter der Dinge zusammen mit den Relationen dieser Dinge zu anderen Dingen in der Erlebniswelt, die, wie wir früher sahen, immer als eine Außenwelt erscheint36. Denken wir zurück an die Täuschung, von der weiter oben die Rede war. Ich verkenne die Wirklichkeit des gebrochenen Stockes im Wasser, weil sich das nicht mit anderen Erfahrungen deckt, z.B. mit der Tatsache, daß der Stock, wenn ich ihn aus dem Wasser ziehe, wieder ganz ist. Warum nehme ich nicht an, daß der Stock jedesmal im Wasser bricht? Es ist der Zusammenhang meiner Erfahrungen und meines allgemeinen Vertrauens auf die Weltwirklichkeit, die mir hier die „Entscheidung" zuspielen. Alles, was im Geist aufsteigt, halten wir für wahr, bis wir bemerken, daß es zum Zusammenhang der Erfahrung im Widerspruch steht. 36
Vgl. weiter oben, S. 65.
Bewußtsein und Dinge
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„Eine Traumkerze hat es gegeben, ganz gewiß; aber sie hatte nicht dasselbe Dasein (Dasein an sich nämlich oder extra meutern meam), das die Kerzen haben, wenn wir sie in wachem Zustand wahrnehmen. Ein Traumpferd hat Flügel; aber weder Pferd noch Flügel stimmen überein mit irgendwelchen Pferden oder Flügeln, die wir in Erinnerung haben. Daß wir in einem beliebigen Augenblick imstande sind, an dasselbe Ding zu denken, an das, was wir zu einem früheren Zeitpunkt dachten, ist das Grundgesetz unserer geistigen Konstitution37. Aber wenn wir nun auf eine derart andere Weise daran denken, daß das unvereinbar ist mit unseren anderen Denkweisen über das gleiche, dann müssen wir wählen, welche Weise wir verwenden wollen; denn wir erreichen keinen Fortschritt mit sidi gleichzeitig ausschließenden Denkweisen. Der ganze Unterschied von wirklich und unwirklich, die gesamte Psychologie des Vertrauens, Mißtrauens und Zweifels findet so eine Grundlage in zwei psychischen Gegebenheiten — erstens, daß wir dahin gelangen, über dasselbe auf verschiedene Weise zu denken; und zweitens, daß wir, wenn wir das getan haben, wählen können, welcher Denkweise wir zustimmen und von welcher wir absehen werden" [II, 290]. Das letzte klingt ein wenig einfach. Als ob man eine völlig freie Wahl hätte, was als Wirklichkeit angenommen wird. Wenn James das sagt, so deswegen, weil ihn die verschiedenen Wirklidikeitsordnungen ergriffen hatten. 16. WIRKLICHKEITSORDNUNGEN, „WELTEN" Die Dinge, von denen wir absehen, die nicht in den Zusammenhang der Erfahrungen passen, betrachten wir in der Regel nicht als Wirklichkeiten. Sie werden wie Nutzlosigkeiten, wie Nichtigkeiten behandelt. Der Philosoph jedoch erkennt auch den Einbildungsdingen eine gewisse Wirklichkeit zu, nämlich die ihnen zukommende eigene Einbildungswirklichkeit [II, 291], Wer das Erlebnis in möglichst einfachen Ausdrücken beschreiben will und dabei möglichst wenig Annahmen machen will, muß wenigstens ein Dreifaches voraussetzen, sagt James später38. 1. Sich entwickelnde Erlebnisfelder, die eine gewisse wechselseitige Kontinuität besitzen; 2. es darf nichts postuliert werden, was nicht auf die eine oder andere Weise in diesen Feldern erlebnismäßig gegeben ist, weder ein reines Ich, noch eine materielle Substanz; 3. alle für gewöhnlich vorausgesetzten Felder sind unvollkommen und verweisen auf ein Komplement, das außerhalb ihres Inhaltes liegt. Schließlich haben wir eine Vielfalt von Feldern, die einander mehr 3*
Vgl. weiter oben, S. 133. In einem psychologischen Lehrgang 1895/96. Zitiert bei Perry, II, S. 365. 38
Thought,
Wirklichkeitsordnungen, „Welten"
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oder weniger ausschließen, aber dennoch in einem wechselseitigen Zusammenhang stehen. Hier geht es um den dritten Punkt. Er umschließt ja auch einen Zusammenhang zwischen Wirklichkeit und Einbildung und somit eine gewisse Ordnung, in der sie einen Zusammenhang haben. Sieht James nun nur verschiedenartige, koexistente und gleichwertige Erlebnisbereiche oder sieht er sie in einer hierarchischen Ordnung, gegebenenfalls Fundierungsordnung? Wir sprachen früher von Thema, Feld und Horizont und sahen, daß der letzte Ausdruck, obgleich James ihn nur selten verwandte, für ihn doch etwas Wesentliches darstellt. Wir können nun die soeben gestellte Frage auf folgende Weise neu formulieren. Haben James' koexistente Erlebnisfelder einen gemeinsamen Horizont? Verweisen die getrennten Erlebnisfelder auf einen fundamentalen, alle Felder umschließenden Zusammenhang? Wir stoßen hier auf eines der von James ungelösten Probleme. Zwei Antworten kann man seinem Werk entnehmen. Eine findet ihren Ausdruck in dem Titel „A pluralistic universe", die andere werden wir jetzt näher untersuchen. Es gibt mehr als nur die beiden Welten der Wirklichkeit und der Einbildung. Der Philosoph strebt nicht nur danach, jedem Denkgegenstand den richtigen Platz in dieser oder jener Welt zuzuteilen, sondern versucht auch, ihre wechselseitigen Relationen innerhalb des Ganzen der ganzen Welt, die ist, zu bestimmen [II, 291]. Die verschiedenen Welten oder Wirklichkeitsordnungen sind folglich Subuniversa, ungeachtet der Unverbundenheit, die ihnen im Alltagsleben zuerkannt wird. Aber welches sind nun die Welten? Die folgenden sind die nach James wichtigsten [II, 291 ff.]. 1. Die sinnliche, die normale Alltagswelt, in der die Dinge allerhand Qualitäten haben, die sie nun einmal besitzen: Wärme, Farbe, Klang, Leben, Schwere, Elektrizität. 2. Die Welt der Naturwissenschaft. Dasjenige, über das die Wissenschaft spricht, besteht in der Form, in der sie darüber spricht, in der sinnlichen Welt nicht, aber umgekehrt auch nicht. Wer mit einem wissenschaftlichen Begriff umgeht, verweist auf ein anderes SubUniversum als der Durchschnittsmensch. 3. Ein drittes Sub-Universum ist das idealer Relationen und abstrakter Wahrheiten, zum Ausdruck gebracht in logischen, mathematischen, metaphysischen, ethischen und ästhetischen Urteilen. 4. Die Welt der Gruppenidole, der Meinungen und Vorurteile, die für eine bestimmte (kulturelle) Gruppe kennzeichnend sind, Meinungen, die für eine Gruppe selbstverständlich gelten und für eine andere mit einer ebenso großen Selbstverständlichkeit nicht. 5. Ubernatürliche Welten des Himmels und der Hölle, der Mythologien, der Ilias usw. 6. Die Welten der persönlichen Auffassungen, von denen es ebensoviele gibt, wie da Menschen 11 Linsdioten
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sind. 7. Die Welten des Wahnsinns und der Geisteskrankheit, unzählbar viele. James war nicht der Ansicht, daß seine Aufzählung vollständig war. Im Gegenteil. Ihm geht es um die wichtigsten Welten und um die Erklärung ihrer Bedeutung. Hinsichtlich des letzteren sind nun zwei Punkte zu nennen. Jeder Erlebnisgegenstand bekommt seinen Platz in einer derartigen Ordnung zugewiesen. Jede Ordnimg erhält in sich selbst eine konsistente Struktur. Wenn für das geflügelte Pferd in der Alltagswelt kein Platz ist, wenn es dort keine Wirklichkeit hat, dann ist eine andere Welt, die der Mythen bereit, es aufzunehmen. In jener Welt hat das geflügelte Pferd dann seine eigene Wirklichkeit. In jener Welt ist es „seiend" in einem Zusammenhang, der eine eigene Gesetzmäßigkeit hat; Gesetzmäßigkeiten, die nicht immer von solchen anderer Wirklichkeitsordnungen abzuleiten sind. Und so muß man dann sagen, daß Aussagen über verschiedene Welten auch von verschiedenen Gesichtspunkten aus gemacht werden; ihr Horizont ist ein verschiedenartiger. Aber das bedeutet, daß man „Realität" nicht ohne weiteres beschreiben kann. Was man beschreibt, ist mit abhängig vom Horizont, in dem man es sieht. 17. BESCHREIBUNG UND HORIZONT Es ist aufschlußreich, die Bedeutung des Horizonts an zwei Beispielen wissenschaftlichen Denkens zu erklären. Sein Buch „Grundzüge der Lehre vom Lichtsinn" beginnt der große Sinnesphysiologe Hering mit einer Beschreibung dessen, was man sieht, wenn man die Augen öffnet. In einem später erschienenen Buch gibt der französische Philosoph Nogue, völlig unabhängig von Hering, gleichfalls eine kurze Beschreibung vom „naiven", geöffneten Auge her. Es ist interessant, diese beiden Abschnitte nebeneinander zu legen. Wie leicht beschreibt man nur das, was man sehen „will" — wie wir uns dann ausdrücken. Hering sagt das Folgende: „Wenn wir im beleuchteten Räume die Augen aufschlagen, sehen wir vor uns eine Mannigfaltigkeit räumlich ausgedehnter Gebilde, die sich durch die Verschiedenheit ihrer Farbe voneinander abgrenzen oder abheben, wobei das Wort Farbe im weitesten Sinne genommen und auch Schwarz, Grau, Weiß, überhaupt jedes Dunkel und jedes Hell darunter verstanden ist. Die Farben sind es, welche die Umrisse jener Gebilde ausfüllen, sie sind der Stoff, aus dem das unserem Auge Erscheinende sich vor uns aufbaut; unsere Sehwelt besteht lediglich aus verschieden gestalteten Farben, und die Dinge, so wie wir sie sehen, d. h. die Sehdinge, sind nichts anderes als Farben verschiedener Art und Form 39 ." 39
E. Hering, Grundzüge der Lehre vom Lichtsinn; Berlin, 19252, S. 1.
Beschreibung und Horizont
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Wir haben es gehört. Wir schließen die Augen und öffnen sie nun nochmals mit Nogue: „Si nous ouvrons les yeux sur le monde, celui-ci nous apparait comme un milieu vide au centre duquel nous sommes plac6s et que ferment une multiplicite d'objets situ6s en des lieux differents. Suivant la disposition du d£cor environnant, ce milieu est dit plus ou moins resserre, plus ou moins spacieux, il offre de la place, il est libre, ou bien il est occupe, encombre de choses ou d'etres qui prennent de cette place et n'en laissent disponible qu'une portion restreinte ... Ce milieu, ce vide, ou nous sommes et que viennent peupler tous les objets sensibles, tel est ce que l'on nomine le plus communement espace40." „Die Augen aufschlagen" und „ouvrir les yeux" ist doch wohl dasselbe. Und trotzdem, wie verschiedenartig sieht das Sichtbare bei Hering und bei Nogui aus! Hering sieht unmittelbar „Sehdinge", die man vom wirklichen Ding unterscheiden muß. Die „Sehdinge" bei Hering sind rein visuelle Gegebenheiten, dasjenige, was man nun „wirklich und ausschließlich mit dem Auge wahrnimmt". Man kann sie nicht betasten, hören, riechen oder schmecken. Wirkliche Dinge, mit denen man umgehen kann, die sieht Hering nicht. Er hält sie offenbar nicht für gegeben. Nogue sieht allerdings genauso unmittelbar eine Welt der Dinge, die sowohl sichtbar, als auch hörbar sind. Sie können gehandhabt werden. Das allererste, was ihm auffällt, ist die Räumlichkeit des Raumes, das „milieu vide", in das man hinein kann. Ich befinde mich in einem Abstand von etwas anderem. Ich muß mich bewegen, um es zu erreichen. Es ist Platz oder es ist kein Platz in diesem Raum. Er ist voll oder leer. Es sind Dinge, die mir im Wege stehen oder die mir einen Durchgang freigeben. In dieser Welt ist eine Tiefe, die in Herings Beschreibung gänzlich fehlt und auch nicht mehr leicht darin wieder einkehrt. Während die Sichtbarkeit bei Hering die Sichtbarkeit einer „Sehwelt" ist, einer am Auge erscheinenden Welt, ist die Sichtbarkeit bei Nogui die der Dinge selbst, keine „Erscheinungen", sondern sichtbare Objektivität. Hering schreibt dann auch eine „Lehre vom Lichtsinn". Er arbeitet auf eine Physiologie hin und er sieht die Welt schon mit den Augen des Physiologen. — Nogue kann — wie er selbst sagt — nicht davon loskommen, die Leere des Raumes, die bei ihm zentral steht, in Beziehung zur Beweglichkeit des Wahrnehmenden zu sehen, der als bedürftiges Wesen in diesem Raum das Abwesende sucht. Aber wie ist nun das Verhältnis? Beschreibt Hering das, was er sieht, weil er auf die Physiologie hin arbeitet? Tut Nogui es, weil er ein biologisches Vorurteil hat? Oder sehen sie es so? Beide können behaupten, daß sie „vorurteilsfreie" Deskriptionen über das geliefert haben, was sich 4Ü
11·
J. Nogue, L'activit0 primitive du mot; Paris, 1936, S. 123 f.
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darbietet, wenn man die Augen öffnet. Es ist doch klar, daß wir tatsächlich ursprünglich und primär nichts anderes sehen als geformte Farben. Das übrige muß auf irgendeine Art hinzukommen. Aber es ist ebenso klar, daß wir uns vom Ursprung an in einem Raum befinden, durch den wir hindurch können und durch den wir auf der Jagd nach Beute hindurch müssen. Aber wenn man sagt: er sieht es so und folglich ist es so, muß man dem beifügen, daß jede Sehweise nur innerhalb eines bestimmten Horizontes ihre Geltung hat. Sehen ist thematisieren; aber dann thematisieren innerhalb eines Feldes, innerhalb einer Wirklichkeitsordnung. Die Beschreibungen Herings und Nogues sind keine Beschreibungen von Dingen, wie sie dort abgerundet in sich selbst sind, sondern von Dingen in ihrem Horizont. Es ist der Horizont, der den Sinn bestimmt, als Sinn innerhalb einer gewissen Wirklichkeitsordnung. Und die Frage, die wir bereits früher stellten, lautet: inwiefern diese Horizonte selbst und die Welten, die sie umschließen, aufeinander zugeordnet sind. 18. DIE LEBENSWELT ALS FUNDAMENTALE WIRKLICHKEITSORDNUNG Bei James schienen die verschiedenen Welten nur in einem ziemlich losen wechselseitigen Zusammenhang zu stehen. Es ist dagegen eine der fundamentalen Thesen Husserls, daß es keine nebeneinander und lose voneinander seienden Horizonte gibt, sondern daß sie sich differenzieren aus und basiert sind auf einem letzten oder besser, einem ersten allgemeinen Horizont, dem der „Lebenswelt", der Welt, in der alles Menschliche ursprünglich seinen Sinn hat. Sie ist der Grund, der von allen geteilt wird, die „Mensch" genannt werden, der Grund, der eine Verständigung zwischen den verschiedensten Rassen und Völkern möglich macht. Die Selbstverständlichkeit, daß für ein Volk, dem ich nie begegnet bin, das Harte hart ist, das Schwere schwer, daß ein Schlag weh tut, verweist auf eine gemeinsame Welt der Erfahrungen und Erfahrungszusammenhänge. Es ist diese Welt, „in der wir immer schon leben, und die den Boden für alle Erkenntnisleistung abgibt lind für alle wissenschaftliche Bestimmimg41". Uns Menschen der gegenwärtigen Zeit erscheint diese Welt bereits durchsetzt zu sein mit den Niederschlägen von Jahrhunderten wissenschaftlichen Denkens. So meinte auch James, daß theoretische Einsichten den Anschein selbst der Wirklichkeit verändert haben. Es besteht um so mehr Grund, mit Husserl 41 Erfahrung und Urteil, S. 38. Vgl. audi Α. Schütz, On multiple realities; Phil, phenomenol. Res., 1945 (5); Common-sense and scientific interpretation of human action; Phil, phenomenol. Res*, 1953 (14); Symbol, reality and society, in: L. Byrson (ed.), Symbols and society; New York, 1955. Schütz entwickelt hier, besser als wir es vermögen, die Verwandtschaft zwischen James und Husserl in dem Punkt der Lebenswelt.
Die Lebenswelt als fundamentale Wirklichkeitsordnung
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nach der vor-prädikativen Ursprünglichkeit der Lebenswelt zurückzutragen, wo derartige Einflüsse noch nicht angetroffen werden. Naturgemäß ist das eine Aufgabe, die praktisch niemals vollendet wird — ebensowenig wie James' entsprechende Rückfrage nach dem reinen Erlebnis. Das bedeutet, daß die Aufgabe, gerade durch die Unabgesdalossenheit, unablässig aktuell bleibt. Merleau-Pontys Phänomenologie ist davon ein Ausfluß, genauso wie es vorher Haerings Rückfrage nach den Grundlagen des wissenschaftlichen Denkens in der alltäglichen Erfahrung war42, und wie es ebenfalls vor ihnen die Versuche von James waren, der die Wirklichkeitsordnungen selbst ordnen wollte. Er vollführt das auf zwei Weisen. Erstens, indem er feststellt, daß jeder Mensch einer Welt vor allen anderen den Vorrang gibt und diese dann die Welt der „practical realities" nennt [II, 293], Sie bildet dann das Bezugssystem, an dem sich die anderen Welten orientieren. Ist man hier völlig frei in seiner Wahl? Nach James, recht besehen, wohl. Alles das, was unser Interesse aktiviert, halten wir für das Reale [II, 295]. So wäre die „Wahl" durch Interesse bestimmt, und so gibt der eine der sinnlichen Welt den Vorzug, ein andierer gibt der wissenschaftlichen Wirklichkeit seinen Vorzug usw. [II, 294]. „Wirklichkeit" ist dann einfach von unserem emotionalen und aktiven Leben abhängig [II, 295J43. Genau besehen ist die Willkür freilich eingeengt: wir entgehen nämlich nicht der Urwirklichkeit des Empfindens [II, 299]. Halten wir in Gedanken fest, daß James eine sensualistische Empfindungslehre abgelehnt hat, daß er, wie wir sahen, Empfindung schon auf Dinge bezogen sieht, dann dürfen wir davon absehen, daß er in seiner Besprechung dieser Urwirklichkeit auf Hume zurückfällt. „Sensible objects are thus either our realities or the teSts of our realities" [II, 301]. Das ist nichts anderes als ein Primat der „Lebenswelt"! Auch für Husserl kennzeichnet die Urdoxa die Wahrnehmungswirklichkeit an erster Stelle. Auf diese Welt sind alle anderen zugeordnet. Das wird durch die zweite Weise bestätigt, auf die James zu einer Ordnung gelangt. Es ist, sagt er, „unsere eigene Wirklichkeit, das Fühlen unseres eigenen Lebens, das wir in jedem Augenblick besitzen, das die äußerste Orientierung für unser doxisches Vertrauen bildet" [II, 297]. Aber was ist diese eigene Wirklichkeit anderes als unsere Leiblichkeit? Vergessen wir nicht, daß „Leben" und „Leib" zusammenhängen, dann sehen wir, daß die Lebenswelt die Welt ist, die Wirklichkeitsordnung, in der wir durch den Leib leben. Jeder Horizont ist rüdebezogen auf den urdoxischen Horizont, der mit der Leiblichkeit als „Lebenswelt" gegeben ist. Ist die Rede von Wirklichkeit, dann umschreibt sie die Wirklichkeit. „Alle Dinge, die in einer innigen vi 43
Th. L. Haering, Philosophie der Naturwissenschaft; München, 1923. Vgl. Pragmatism, S. 264 fl.; Will to believe, S. 117 f.
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oder fortwährenden Verbindung mit meinem Leben stehen, sind Dinge, deren Wirklichkeit ich nicht zu bezweifeln vermag" [II, 298]. Alles, was das wissenschaftliche Denken erklärt, beschreibt und analysiert, ist auf diese Wirklichkeit rückbezogen. Eine wirklichere Wirklichkeit gibt es für uns nicht. Wie häufig man jemandem auf der Schule und auch später klarmacht, daß sich die Sonne „in Wirklichkeit" nicht um die Erde dreht, so sehen wir sie dennoch jeden Morgen aufgehen. Ein jeder muß auf die Verhältnisse in dieser Lebenswirklichkeit zurückgreifen, wenn er dartun will, warum und in welcher Hinsicht man es sich auch anders vorstellen kann. In der Wirklichkeit, sagt er, macht die Erde eine Drehung um ihre eigene Achse. Das muß er mir an Hand von Dingen aus meiner natürlichen Alltagswelt auseinandersetzen. Zunächst muß ich die Erde mit einem Ball vergleichen und den Ball zwischen meinen Fingern drehen lassen, bevor ich begreife, was der Kosmologe mit seiner Erddrehung meint. Dann ist es mir auch ersichtlich, daß die Erklärung, die er für den Lauf der Sonne gibt, in seinem System logisch ist. Aber niemals vermag ich zu sehen, daß die Sonne still steht. Die erste Wirklichkeit, die alles wissenschaftliche Denken fundiert, ist die der Lebenswelt. So gibt es einen Wirklichkeitscharakter dessen, was wir Ding nennen, einen originalen, ursprünglichen Inhalt des Dingbegriffs, der niemals, durch welche naturwissenschaftliche Erklärungsweise auch, beeinträchtigt wird. Sieht man James' Widerstand gegen die Assoziationstheorie und seine Vorliebe für die Deskription des Erlebens in diesem Licht, so sind sie besser einzuordnen. Man muß dann ja sagen, daß es sinnlos ist, die phänomenale Welt genetisch aus den Ergebnissen einer Analyse derselben Welt entstehen lassen zu wollen. Dasjenige, was die Grundlage für jede Analyse bildet, kann nicht selbst auf etwas zurückgeführt werden, was erst in der Analyse konstruiert wird. Die Empfindungslehre ist eine Art und Weise, wie man das Phänomenale beschreiben kann. Die Meinimg, daß die Empfindungen zuerst da waren und das Phänomenale daraus aufgebaut wurde, ist unsinnig. Denn man kann wohl vom phänomenalen Ding zu einem Empfindungsbegriff gelangen, nicht aber umgekehrt. Dann ist es audi nicht verwunderlich, daß die Umschreibung von „Wirklichkeit" auf solche Schwierigkeiten stieß. Jede Umschreibung setzt ja die Wirklichkeit der Lebenswelt selbst voraus und kann nur an ihr erklärt werden. Wir hörten James sagen, daß das doxische Vertrauen, das Vertrauen auf die selbstverständliche Wirklichkeit der Lebenswelt, eigentlich als ein Fühlen betrachtet werden muß. Nehmen wir seine Theorie der Emotionen vorweg, die wir weiter unten behandeln, dann dürfen wir sagen: das doxische Vertrauen ist die Weise, wie wir durch den Leib an der Lebenswelt teilnehmen und diese Teilnahme erleben. Sagt James, daß die fundamentalste Wirklichkeit die Welt der „practical realities" ist, dann sagt er
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dasselbe. „Practical" verweist ja auf die Handlung, auf die Tätigkeit, auf den Leib. Hier erscheint das große Thema der „action", der Leiblichkeit in der Psychologie von James. Dieses Thema ist — obwohl er es nur spärlich ausarbeitete — letztlich für seine Psychologie entscheidend. Wir nennen dasjenige real, mit dem wir leiblich umgehen, dasjenige, dem wir uns auch zuwenden wollen; und man muß noch hinzufügen: dem wir uns auch wohl zuwenden müssen; denn es hat keinen Sinn, zu leugnen, daß unsere eigene Realität, das Fühlen unseres eigenen Lebens und Daseins mit der Erfahrung der Leiblichkeit zusammenfällt. Somit kommen wir zu einer Schlußfolgerung, die wir aus dem Voraufgehenden ziehen dürfen: daß die Lebenswelt, die konkrete, reale Welt unseres täglichen Erlebens und Erfahrens vor allen anderen den Vorrang hat. Wenn jemand sagt, Glas ist kein Glas, sondern etwas anderes, dann geht er von der alltäglichen Wirklichkeit aus, um darüber etwas zu sagen. Das Gesagte kann man dann annehmen oder auch nicht. Aber um darüber einig oder uneinig zu sein, muß man vom hantierbaren, in dieser körperlichen Welt gegebenen Ding ausgehen. Wenn jemand sagt: es gibt keinen Stoff, denn Stoff ist vornehmlich leerer Raum zwischen den Atomen — dann muß er, um sein Objekt darzutun, doch ein Stück dieses „nicht bestehenden" Stoffes nehmen und sagen: „Sehen Sie mal, was ich Ihnen hier zeige, gibt es nicht." Primär bleibt das das Gegebene, weil unser Dasein ein leibliches Dasein ist, nicht das eines reinen Geistes, der Scheinbares und Erscheinungen betrachtet, sondern leibliches Dasein eines verwundbaren, an Raum und Zeit gebundenen Menschen. 19. BEWUSSTSEIN UND DINGE Das Bewußtsein ist auf Dinge gerichtet. So begannen wir mit James die Erörterung dieses Kapitels. Aber was ist das „Ding"? Nicht etwas, das unabhängig von uns schon besteht und dann in der Wahrnehmung schlichtweg registriert wird. „Dinge" erfassen wir mit unserem Identitätsgefühl, das im andauernd sich verändernden Erlebnisstrom „dasselbe" konzipiert. Denken wir zurück an das IV. Kapitel, dann muß gesagt werden, daß das sich entwickelnde Individuum hierzu innerhalb des Rahmens einer Gemeinschaft gelangen kann, die ihm den Weg weist und die Zeuge seiner traditionellen „Konzeptionen" in der Sprache ist. Es ist die Sprache, die uns eine Ontologie überliefert. Eine abgelagerte Ontologie, eine Erklärimg der Welt, in der die Dinge festgelegt sind; ein Fixativ, das das ursprüngliche Verfließen und Verändern des Erlebnisstromes zum Stillstand hat kommen lassen. Zuerst schien das eine Verfälschung zu sein. Aber die Fixierung, die in der Sprache einen Niederschlag findet, gehört selbst zu den Merkmalen des Er-
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Bewußtsein und Dinge
lebens. Das „unanalysed bloom" des Empfindens ist eine hypothetische Grenze. Von Anfang an konkretisiert das Erleben Dinge, ist es sinnvoll, insofern es eine Geriditetheit zeigt. Vor aller Reflexion tritt schon Artikulation im Erlebnisstrom auf, vollziehen sidi Ordnungen und Differenzierungen, erscheinen Zusammenhänge, durch die das eine auf das andere verweist. Das schien auch in dem von Sartre beschriebenen „Ekel" noch so zu sein: die Konzeption des völlig Sinnlosen ist materialiter unmöglich, sie ist bereits eine Sinngebung. So ist die substantive Tendenz des Erlebens ein Grundmerkmal. Im vorigen Kapitel sahen wir diese Tendenz in der Thematisierung zum Ausdrude kommen, die nicht nur im Erlebnisfeld Themen abgrenzt, sondern das gesamte Feld, auch den Hof (margin) polarisiert, so daß es in bezug auf das Thema Relevanz zeigt. Um zu sehen, was hierbei geschieht (sofern das erklärbar ist), haben wir mit James versucht, das Erlebnisfeld als Gegenstand des Erlebens so adäquat wie möglich zu verstehen. Ebenso haben wir die Notwendigkeit eingesehen, noematische Deskriptionen zum Ausgangspunkt für Thematisierungsanalysen zu verwenden. Diese Problematik mündet in die des Wirklichkeitserlebens. Wirklichkeitsordnungen schienen selbst einer fundamentalen Ordnung, der der Lebenswelt zugeordnet zu sein. Dort sind Sinngebimg und Thematisierung in einer bestimmten Richtung schon vorgeordnet durch die unausweichliche Wirklichkeit des Leibes. Leibliche Wirklichkeit ist Urwirklichkeit. Daher fällt es schwer, Thematisierungen hier als Tätigkeiten zu verstehen; sie sind schon vorgegeben in Bewegen und Wahrnehmen, in der „paramount reality of sensation", in der das Gegebene, in seiner Bezogenheit auf den Leib, in Dingstrukturen erscheint. Wenn das Bewußtsein auf Dinge gerichtet ist, wenn es, richtiger formuliert, ursprünglich als Urdoxa, Erlebnis-von-Dingen ist, dann bedeutet das, daß Intentionalität in der Leiblichkeit fundiert ist. Aber dann findet die Lehre der Erlebnisse notwendig ihr Fundament in der Theorie des Leibes. Daß auch James zu dieser Schlußfolgerung kommt, werden wir, insofern es nicht schon deutlich geworden ist, in den folgenden Kapiteln sehen.
VII. AUFMERKSAMKEIT UND WAHL 1. ERLEBNIS UND INTERESSE In Ubereinstimmung mit seiner These, daß man von einem Psychismus reden muß, wenn zielgerichtete Verhaltensweisen vorhanden sind, die variabel sind hinsichtlich der Mittel, die zur Erreichung des Ziels angewandt werden, setzt James eine Spontaneität des Verhaltens voraus. Der Mensch wählt seine Mittel und zum Teil audi seine Ziele. Er interessiert sich für das eine und läßt das andere unbeachtet. Die verschiedenen Welten, von denen im voraufgehenden Kapitel die Rede war, besitzen Realität, solange sidi ihnen der Mensch zuwendet; fehlt seine Aufmerksamkeit, verfällt die Wirklichkeit [II, 293]. Daß jeder seine eigene Art der Zuwendung hat, tut hierbei nichts zur Sache. Worum es geht, ist: daß im Erlebnis ausgewählt wird. Die Erscheinungsformen aufmerksamer Zuwendung und klarbewußten Wollens sind davon Sonderformen. Sie verraten eine Parteilichkeit, ein Interesse. Für James ist dies das fünfte große Merkmal des Erlebnisstromes, daß er immer mehr Interesse zeigt für den einen Teil seines Gegenstandes als für den anderen, daß er annimmt und abweist und somit wählt [I, 284]. Nicht alles, was in diesem Augenblick zu mir durchdringen könnte, dringt auch zu mir durch. Nicht alles, was in diesem Augenblick meine Sinne reizt, wird auch von mir wahrgenommen. Das bedeutet, daß der Erlebnisstrom wählt. Dieses Wählen ist ein Strukturieren. Obschon es James nicht so darstellt, scheint es für ihn doch mit dem Abstecken thematischer Grenzen, mit dem Differenzieren des Themas innerhalb des Erlebnisfeldes, zusammenzufallen. Das ist eine Tätigkeit. Es kann ζ. B. sein, daß ich lausche und an dem vorübergehe, was ich gleichzeitig „sehe". Es kann sein, daß ich innerhalb einer Sinnesmodalität thematisiere, wenn ich ζ. B. versuche, aus einer Doppelmelodie die eine und die andere sukzessiv herauszuhören. Man spielt zwei Melodien, die melodisch so gut zueinander passen, daß sie sich zu einem Ganzen vereinigen. Dieses Ganze versucht man dann lauschend in zwei melodische Linien aufzugliedern, bis man auf einmal eine der beiden Melodien wiedererkennt und die andere überhaupt nicht hört. Um die eine Melodie prägnant zu hören, muß die andere zu einem Hintergrundgeschehen zerfallen. Dann läßt man die erste zurückfallen und thematisiert die andere. Und hierbei wird die erste dann unhörbar; so unhörbar, daß man, wenn man ihren Namen nicht behalten hat, sie aufs neue thematisieren muß, um wieder zu wissen, welche es war.
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Aufmerksamkeit und Wahl
So vollzieht der Erlebnisstrom fortwährend Strukturierungen, die sich sicherlich nicht auf den Bereich beschränken, den man gewöhnlich zur „Aufmerksamkeit" zählt. James betrachtet auch Gestalterscheinungen als Ausdrude einer akzentuierenden Tätigkeit. Wenn ein Metronom mit gleichen Zwischenpausen tickt, so ist es fast unmöglich, ein vollständiges, homogenes Regelmaß zu hören. Wir gruppieren und machen einen SU- oder 4A-Takt daraus. Die Schläge werden in größere Einheiten strukturiert und diese in vielleicht noch größere Einheiten. Wenn man nachts hört, daß die Turmuhr träge ihre zwölf Schläge von sich gibt, dann zählt man die Schläge zu dritt oder zu viert. Aber idi zähle sie nicht nur zu dritt oder zu viert, sondern ich höre sie zu dritt oder zu viert. Und uns dünkt es dann auch, daß die Zeit zwischen dem dritten und dem vierten Schlag etwas länger ist, als die Zeit zwischen dem zweiten und dem dritten: jede Dreier- (oder Vierer-)Einheit trennt sich auch phänomenal in der Zeit vom Folgenden. Die Allgemeinheit der Unterscheidungen, dieses und jenes, hier und dort, jetzt und dann ist der Ausdrude unserer fortwährend selektiven Strukturierung oder unseres selektiven Interesses. „Helmholtz sagt, daß wir nur jene Empfindungen bemerken, die für uns Zeichen von Dingen sind. Aber was sind Dinge? Nichts . ; . als besondere Gruppen sensibler Qualitäten, die uns zufällig praktisch oder ästhetisch interessieren, denen wir deshalb substantive Namen geben und die wir in diesen exklusiven Status der Unabhängigkeit und Werthaftigkeit erheben. Aber ein bestimmter Staubwirbel an einem windigen Tag ist in sich selbst, unabhängig von meinem Interesse, in genau demselben Maße ein individuelles Ding und verdient ebensosehr oder ebensowenig einen eigenen Namen, wie mein eigener Körper das verdient" [I, 285]. Es ist so, wie wir sagten: die Selektivität des Erlebnisstromes verrät Intentionalität; Selektion ist Thematisierung. Würden wir hier auf die früher besprochenen Auffassungen zurückgreifen, die James über „Konzeption" hat, dann würde sich die Geschlossenheit der phänomenologischen Systematik James' um so mehr zeigen. Der Mensch wählt nicht nur seine Welten, sondern audi seine Dinge. Und dieses Wählen ist ein Tun. Aber damit bietet sich ein Problem an. Ist dieses Tun nicht in Wirklichkeit ein Geschehen? Und ist Interesse dann vielleicht nicht sosehr eine gewählte Vorliebe, als vielmehr eine erzwungene Spezialisierung? Untersuchen wir diese Problematik. 2. DIE SINNE ALS FILTER ' Die Sinne selbst sind schon selektive Organe. Das Spektrum ζ. B., dem Auge sichtbar, ist nur ein Teil des vollständigen elektro-magnetischen Spektrums. Im Hinblick auf alles das, was ober- oder unterhalb des Infraroten oder Ultravioletten liegt, Röntgenwellen, Radiowellen, ist das optische Spek-
Die Sinne als Filter
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trum nur ein sehr geringer Unterteil. Das übrige haben wir außerhalb der Betrachtung gelassen, aber nicht aus eigener Wahl. Das Auge wirkt hier als Filter, es wählt aus und ordnet. Die Auswahl hätte auch anders sein können, als sie jetzt ist; aber sie ist so und nicht anders und muß vom Erlebnis als eine Gegebenheit hingenommen werden. Aus dem ununterscheidbaren Kontinuum von Wellenlängen, die alle den Organismus erreichen und die in sich selbst keine qualitativen Unterschiede oder Farbtöne besitzen, nimmt das Auge einige auf und transformiert sie zu Farben. So handeln alle Sinnesorgane und so bilden sie gemeinsam einen großen und verschiedenartigen Filter, der auf einen Teil der unendlichen physischen Verschiedenheiten reagiert und das übrige „außer acht läßt" [I, 284]. James zieht den Schluß noch nicht, aber wir können mit Sicherheit vorweg nehmen: diese Filtertätigkeit ist keine persönliche Tätigkeit. Hier ist ein Mechanismus am Werk, für den kein Mensch irgendwelche Verantwortung trägt. Er hat sich weder dafür, noch dagegen entschieden. Aber wenn James die Gruppierungserscheinungen noch als Resultate einer Tätigkeit sieht, so hat doch die Gestaltpsychologie uns später einer jeglichen Verantwortlichkeit auch diesbezüglich enthoben. Die Organisation der durch die Sinnesorgane gefilterten Gegebenheiten vollzieht sich nach bestimmten Regeln, die James noch nicht kannte, aber die uns die Gestaltpsychologie gelehrt hat. So ist die geschlossene Kontur für uns die Grenze eines innerhalb dieser Kontur eingeschlossenen Dinges, und die Kontur gehört nie zum Hintergrund, von dem sie das Ding abhebt. Aber schon wieder: nicht auf Grund unserer Wahl. Wenn wir keine Gestaltpsychologie betreiben, wissen wir nicht einmal, daß es geschieht, geschweige wie. Der Organismus „tut" es für uns. Und gilt das nicht auch für die nächstfolgende höhere Erscheinung, die James nennt, für die Konstanzerscheinung? „Der Psychismus selektiert aufs neue. Er wählt bestimmte Empfindungen aus, die das Ding am besten repräsentieren und betrachtet das übrige als scheinbare Formen, verursacht durch die augenblicklichen Bedingungen. So wird die Oberfläche meines Tisches viereckig genannt, nach nur einer einzigen von einer unendlichen Anzahl von Netzhautempfindungen, die sie verursacht, von der alle übrigen Empfindungen Empfindungen von zwei spitzen und zwei stumpfen Winkeln sind, aber diese nenne ich perspektivische Verzeichnungen und die vier rechten Winkel nenne ich die wirkliche Form des Tisches, und ich erhebe das Attribut Vieredcigkeit zu einem Wesensmerkmal des Tisches aus persönlichen ästhetischen Gründen" [I, 285]. Aber tue ich das? Oder sind auch diese Konstanzerscheinungen autonome Filtereffekte? Auch hier weiß ich ja nicht, daß und wie ich es tue. Und müssen wir hier nicht die Regel von Geulincx anwenden: ego non facto id, quod quomodo fiat nescio? Ich tue dasjenige nicht, von dem idi
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Aufmerksamkeit und Wahl
nicht weiß, wie es geschieht. Aber dann wird alles zweifelhaft, was in den voraufgegangenen Kapiteln hinsichtlich der Thematisierung gesagt wurde, insofern dabei stets die Tätigkeit einer Person vorausgesetzt wurde. 3. AUFMERKSAMKEIT ALS WILLKÜRLICHER FILTER James kommt zunächst zu einer anderen Schlußfolgerung. Die Wahrnehmung enthält eine zweifache Wahl. Von allen anwesenden Empfindungen wählen wir die aus, die der Bedeutung nach mit nicht anwesenden zusammenhängen (perspektivische und „wahre" Form); und die letzten betrachten wir als diejenigen, die ganz besonders die objektive Wirklichkeit vergegenwärtigen [I, 286], Was jemand erlebt, hängt von seinen Erfahrungen mit den Dingen ab; aber diese Erfahrung war selbst schon durch seine Aufmerksamkeit bestimmt. In gewissem Sinne bin ich meinen Eindrücken, meinem Milieu ausgeliefert, zunächst meinen Eltern, dann meinem Lehrer und schließlich der Gesellschaft. So werde ich geformt und geknetet, um schließlich der zu sein, der ich bin, nicht aus mir selbst, sondern gemacht von allen, die mich beeinflußt haben. Aber, sagt James, wenn das so ist, dann müssen wir doch damit rechnen, daß persönliche Erfahrung mit Hilfe der Selektion der Person selbst geformt wird, die zu einem gewissen Teil selbst entscheidet, was sie von den dargebotenen Eindrücken aufnimmt oder ablehnt. Es ist ihr Interesse, welches das bestimmt. Von wie vielen Kindern sagt man nicht, daß sie „nie gehorchen"! Aber wenn das Kind immerzu gehorchen würde, wie sollte es dann es selbst werden können? Es „horcht" auf und hört dasjenige, wofür es Interesse hat. Interesse bedeutet in diesem Zusammenhang nicht „dasjenige, was dem Kind nur angenehm ist", sondern: dasjenige, dem sich das Kind geöffnet hat. Wir sind zwar den Eindrücken, die einfach auf uns zukommen, ohne unser Zutun, ausgesetzt, aber die Ordnung dieser Eindrücke und somit ihre Bedeutung, das ist unser eigenes Werk. Deshalb hat es auch keinen Sinn, ein Programm für eine gute Erziehung in dem Sinne aufzustellen, daß jeder sich mal die Akropolis ansehen muß. Das ist in sich selbst noch keineswegs bildend. Vielleicht, daß jemand, der nicht die Gelegenheit hat, nach Griechenland zu reisen, mehr an den Abbildungen lernt, als jener, der in den Ruinen des Gebäudes selbst umhergeht. Es gibt Menschen, die in Paris nicht das Malerische sehen können, sondern nur feststellen, daß die sozialen Zustände weit hinter denen im geordneten Holland zurück sind. Erfahrung wird mittels einer persönlichen Auswahl gewonnen. Natürlich nicht einzig und allein dadurch. Ich kann nur etwas erfahren, wenn es etwas zu erfahren gibt. Aber Erfahren ist nicht eine passive Aufnahme von Eindrücken. Wenn es das wäre, könnten Erziehung und Bildung nie etwas anderes sein als Dressur.
Spontane Zuwendung oder autonome Organisation?
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James mißt der persönlichen Selektivität eine große Bedeutung bei. Sie ist auch aus dem Denken und Uberlegen zu ersehen. Ist sein gesamter Gedankengang hinsichtlich der Diskrimination nicht auf der Selektivität aufgebaut? „Alles Uberlegen hängt von der psychischen Fähigkeit ab, das Ganze der zu überlegenden Erscheinung in Teile zu zerlegen und daraus den besonderen Teil herauszuholen, der uns im gegebenen Falle zu einem Schluß verhelfen kann" [I, 287]. In der Kunst verhält es sich nicht anders. Der Künstler wählt aus, verwirft, fügt Teile zu einer Harmonie. Und noch höher, im Bereich der Ethik, wird die Wahl souverän. Und so sehen wir, „daß der Psychismus auf jeder Ebene ein Schauspiel gleichzeitiger Möglichkeiten bietet. Bewußtsein besteht im gegenseitigen Vergleich dieser Möglichkeiten, dem Auswählen von einigen und dem Unterdrücken der übrigen durch die stärkende und hemmende Wirksamkeit der Aufmerksamkeit" [I, 288], 4. SPONTANE ZUWENDUNG ODER AUTONOME ORGANISATION? Also nochmals: meine Erfahrung ist dasjenige, worauf sich meine Aufmerksamkeit richtet, weil es mich interessiert [I, 402]. Was ist diese Aufmerksamkeit? Jeder weiß es. Von Aufmerksamkeit sprechen wir, wenn der Psychismus einen von verschiedenen, gleichzeitig möglichen Gegenständen oder Gedankengängen, lebendig und klar vor sich hinstellt [I, 403 f.]. Eine nähere Betrachtung lehrt uns nun, daß wir es hier immer mit physiologischen Prozessen zu tun haben und zwar auf zwei Ebenen: 1. die der Abstimmung der Sinne und 2. die der vorausgreifenden Vorbereitung von höheren Nervenzentren im Hinblick auf interessierende Dinge. Überall, wo von Aufmerksamkeit gesprochen wird, darf man mit Sicherheit annehmen, daß beide Ebenen im Spiel sind [I, 434 ff.]. Und demnach muß die Frage gestellt werden, die schon früher bei uns auftauchte: handelt es sich bei der sogenannten willkürlichen Aufmerksamkeit doch um eine spontane Zuwendung? Oder handelt es sich um eine autonome Organisation, für die die Gehirnprozesse sorgen? Wir denken uns die Wahl und vor allem die Aufmerksamkeit als eine Kraft, sogar als etwas Spirituelles. Aber handelt es sich nicht vielmehr um eine Resultante der Gehirnprozesse, die sich in einem bestimmten Augenblick abspielen, determiniert durch die Gesamt-Tätigkeit des Gehirns? Ist es nicht immer das die Aufmerksamkeit anziehende Ding, das die Initiative besitzt? Wird Aufmerksamkeit nicht angezogen? Der gesamte Prozeß der unwillkürlichen Aufmerksamkeit ist erklärt, wenn wir zugeben, daß in einem bestimmten Augenblick etwas geschieht, das uns so interessiert, daß das Erlebnis von etwas, das damit verbunden ist, wachgerufen wird. Und zwar durch die eigenen assoziativen Verbindungen der Gehirnprozesse selbst, die unser
Aufmerksamkeit und Wahl
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Erlebnis dann fixieren. Diese Fixierung ist die Aufmerksamkeit und geht mit einem unbestimmten Tätigkeitsfühlen einher [I, 449 f.]. Wir können die Konzentration, das Heften der Aufmerksamkeit auf etwas, also erklären, indem wir annehmen, daß auf den richtigen Knopf gedrückt wurde und so die gewünschte Abstimmung des nervösen Apparates stattgefunden hat, der dann automatisch selektiert. Richtig besehen ist es nur die Anspannung zur Konzentration, nicht das Aufmerksamkeit-Haben, das uns zu der Annahme einer spontanen Kraft verführt. Wir meinen es besser zu vermögen, wenn wir es wollen. Aber jetzt wird nur Anspannung gefühlt, wenn ein Konflikt der Interessen besteht. Wenn die Vorstellungen Α und Ζ beide „Aufmerksamkeit verlangen", einander von der Bildfläche zu verdrängen suchen, und wir geben Α den Vorzug, dann haben wir immer in dem Augenblick das Gefühl einer Willensanspannung, wenn Ζ in den Vordergrund tritt. Das braucht allerdings nicht mehr zu bedeuten, als daß zwischen verschiedenen Gehimprozessen ein „Kampf" herrscht, bei dem der eine Prozeß den anderen hemmt. Und diese Hemmung könnte als das Fühlen einer Anspannung erlebt werden [I, 453]. Dann wären also Anspannung und Spontaneität nur Epiphänomene der Zuwendimg, Begleiterscheinungen ohne eigene Wirksamkeit. Sie drücken aus, daß etwas geschieht, aber verursachen selbst nichts Neues: „Attention may have to go, like many a faculty once deemed essential, like many a verbal phantom, like many an idol of the tribe. It may be an excrescence on Psychology. No need of it to drag ideas before consciousness of fix them, when we see how perfectly they drag and fix each other there" [I, 452]. Aber mit diesem Zweifel an der Spontaneität der Aufmerksamkeit hängt mehr zusammen. Denn muß man die Argumentation nicht auf alle Erscheinungen ausdehnen, in denen das Bewußtsein wirksam zu sein scheint? Aber eines ist doch auch wieder sicher: unser ganzes Fühlen der Wirklichkeit, alles das, was wir im menschlichen Leben als das eigentlich Menschliche betrachten, hängt ab von dem Fühlen, daß im Leben Dinge wirklich entschieden werden. Ob sie nun in Wirklichkeit entschieden werden oder nicht, menschliches Zusammenleben ist davon abhängig. „This appearance which makes life and history tingle with such a tragic zest, may not be an illusion" [I, 453]. Aber während James dieses niederschreibt, zweifelt er schon am Bewußtsein. Das erzählt er erst viel später in einem Artikel „Does consciousness exist?" (1904). Er sagt hier, daß er sich schon vor zwanzig Jahren (1884) die Frage vorlegte, ob das Bewußtsein wirklich besteht. Einen Artikel, der zwei Jahre später, 1886, erschien und der die These verteidigte, daß Bewußtsein nicht besteht1, hielt er für wichtig, obgleich er damals diese 1
P. Souriau, La conscience de soi; Rev. philos., 1886 (22), 449—472.
Bewußtsein und Leib
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These noch nidit übernehmen konnte [I, 305]. Vor sieben oder acht Jahren, sagt er 1904, habe ich zum ersten Mal meinen Studenten meinen Zweifel zu erkennen gegeben, ob das Bewußtsein besteht und versucht, ihnen dessen pragmatische Äquivalenz in der Wirklichkeit des Erlebnisses zu geben. In den Principles nimmt er das bereits vorweg, wenn auch in der Form, daß James dort noch die Argumentation den „Gegnern" zuschreibt: „The consciousness doesn't count, these reasoners say; it doesn't exist for science, it is nil; you mustn't think about it at all" [I, 454]. Aber James' eigene, an Lehrer gerichtete Erörterung über die Aufmerksamkeit2 ist schon einigermaßen in dieser Richtimg fortgeschritten. 5. BEWUSSTSEIN UND LEIB Wir haben uns dem Punkt genähert, wo James' Psychologie nur noch ein schwankendes Gleichgewicht zeigt. Einerseits auf der Beschreibung des Erlebens von innen her, andererseits auf der Hirnphysiologie gründend, geht es jetzt darum, zu sehen, wo der Schwerpunkt liegen muß. Das Problem klang in den voraufgehenden Kapiteln mehr oder weniger laut durch. Es wird jetzt unumgänglich. Wenn das Erleben für das leibliche Geschehen keine durchschlaggebende Bedeutung hat, ja, wenn die Wissenschaft des Erlebens ihre Argumente primär dem leiblichen Geschehen entnehmen muß, dann befindet sie sich in einer merkwürdigen Lage. Jede Beschreibung „von innen her" beschreibt dann ja „appearances" und mehr nicht. Wäre das wirklich James' endgültige Auffassung, dann verliefe die ganze Verwandtschaft mit der Phänomenologie ins Nichts. Man hat James schließlich nicht ohne Grund den Vorläufer oder sogar den Begründer des Behaviorismus genannt. Hier scheinen wir den Punkt erreicht zu haben, wo es sich sonnenklar zeigt. Das Bewußtsein wird zu einem Epiphänomen des leiblichen Geschehens reduziert. Nicht das Erlebnis, sondern das Verhalten bildet dann den Gegenstand der Psychologie.
2
Talks to teachers, S. 100 ff.
VIII. ERLEBEN UND VERHALTEN 1. „DOES CONSCIOUSNESS EXIST?" „Erlebnis" und „Ding" sind Namen für zwei Arten von Objekten, die sowohl im alltäglichen, wie im philosophischen Denken gegenübergestellt werden. Geist und Stoff, Seele und Körper werden immer als gleichwertige, aber vollkommen verschiedenartige Substanzen betrachtet. So nimmt James seine Betrachtungen über das Bewußtsein auf 1 . Aber Kant unterminierte die Seele und brachte das transzendentale Ego ins Spiel. Seitdem ist die bipolare Relation aus ihrem Gleichgewicht geraten. Das Bewußtsein wurde leer, eine „Bewußtheit" oder ein formales „Bewußtsein überhaupt". Und so meint James, das „Bewußtsein, einmal in diesen Zustand reinen Durchschimmerns aufgelöst, steht auf dem Punkt, ganz und gar zu verschwinden. Es ist der Name für eine Non-Entität und hat keinen Anspruch auf einen Platz unter den ersten Prinzipien. Jene, die sich noch daran festklammern, hängen an einem Echo, an einem unbestimmten Geräusch, das die verschwindende ,Seele' in der philosophischen Luft hinterläßt... Mir will es scheinen, daß die Stunde gekommen ist, es öffentlich und allgemein zu verwerfen" 2 . Gewiß, diese Ablehnung des Bewußtseins hat bei James nur eine begrenzte Bedeutung. Das Bewußtsein gibt es nicht, es gibt nicht etwas, das Bewußtsein heißen muß; wohl gibt es eine Funktion, der man den Namen geben kann. Wenn man richtig zuschaut, so stellt man fest, daß es keine Bewußtseins-Substanz gibt, die man der Substanz der Dinge gegenüberstellen kann. Es ist der kartesianische Dualismus, den James hier radikal und endgültig verwirft. Es gibt nur einen „primal stuff", eine einzige Materie, aus der Erlebnisse wie Dinge aufgebaut sind: „pure experience" ist dieser Grundstoff. Man soll jetzt nicht sagen, daß zwischen dem Wahrnehmungs- und dem Vorstellungsding ein fundamentaler Unterschied besteht. „Wenn ich jetzt an meinen Hut denke, den ich soeben in der Garderobe zurückließ, wo ist dann der Dualismus, die Diskontinuität des vorgestellten und des wirklichen Hutes? Mein Geist beschäftigt sich mit einem wirklichen abwesenden Hut. Ich halte praktisch damit Rechnung wie mit einer Wirklichkeit. Wenn er auf diesem Tisch läge, würde der Hut eine Bewegimg meiner Hand 1 W. James, Does „consciousness" exist? J. Phil., 1904 (1). Hier zitiert nad) der neuen Auflage in: Essays in radical empiricism; London, 1912, S. 1—38. 2 Essays, S. 2 f.
„Does consciouness exist?"
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bestimmen: ich würde ihn aufheben. Auf die gleiche Art lind Weise bestimmt der vorgestellte Hut bald die Richtung meiner Sdiritte. Ich gehe ihn holen. Die Vorstellung, die ich von ihm habe, bleibt bestehen, bis der Hut sinnlich anwesend ist und harmonisch darin übergeht3." Vorstellung und Hut haben denselben „Grundstoff". Der eine ist nicht Bewußtsein, der andere Stoff. Das Bewußtsein ist eine Fiktion, während Vorstellungen und Gedanken in concreto völlig real sind. So kann auch nicht die Rede davon sein, daß sich das Bewußtsein seiner selbst bewußt ist4. Aber steht das nicht in direktem Gegensatz zu den Voraussetzungen, die James fortwährend handhabte, als er den Erlebnisstrom beschrieb? Ist hier nicht eine Reorientierung in seinen Gedanken zu spüren? Das ist insofern nicht der Fall, als er die Verneinung des Bewußtseins als Selbständigkeit gerade auf der Beschreibung des Erlebnisstromes fundiert. Andere mögen ihre eigenen Auffassungen hierüber haben, sagt er, ich rede jetzt nur für mich selbst und dann bemerke ich, daß „der Erlebnisstrom (den ich ausdrücklich als eine Erscheinung anerkenne) nur ein unvorsichtiger Name für etwas ist, das, genau untersucht, insbesondere aus dem Fluß meines Atems zu bestehen scheint. Das ,ich denke', das nach Kant imstande sein muß, alle meine Objekte zu begleiten, ist das ,ich atme', das sie in Wirklichkeit begleitet. Außer dem Atmen gibt es andere inwendige Vorgänge . . . durch die die Aktiva des .Bewußtseins' zunehmen, insofern das für meine unmittelbare Wahrnehmimg zugänglich ist. Aber der Atem, der immer das Urbild des »Geistes' war, der Atem, der durch Stimmritze und Nasenlöcher nach außen tritt, ist, davon bin ich überzeugt, das wesentlich Gegebene, aus dem die Philosophen die Entität konstruiert haben, die ihnen als Bewußtsein bekannt ist" 8 . Diese Schlußfolgerung stand schon in den Principles: unser gesamtes Fühlen geistiger Tätigkeit oder was man für gewöhnlich als solches durchgehen läßt, ist in Wirklichkeit ein Fühlen leiblicher Tätigkeiten, deren genaue Art von den meisten Menschen übersehen wird [I, 301 f.]. Die Gedanken, die im Artikel von 1904 entwickelt werden, schließen somit sicherlich bei den Principles an. Wir sahen das Problem schon bei der Besprechung der Aufmerksamkeit aufsteigen. Wir werden es erneut antreffen, wenn wir James' Theorie der Emotionen und seiner Besprechung des Willens nähere Aufmerksamkeit schenken. Es ist also der Erlebnisstrom selbst, der James auf die Wirklichkeit des Leibes und die Unwirklichkeit — somit auch: Unwirksamkeit — des Bewußtseins verweist. Das führt selbstverständlich zu Schwierigkeiten, zu3 W . James, La notion de conscience; Arch. Psychol., 1905 (5). Zitiert nach der Neuauflage in: Essays in radical empiricism, S. 206—233; siehe S. 215 f. 4 Essays, S. 6. 5 Essays, S. 37.
12
Linsdioten
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Erleben und Verhalten
mindest, wenn James später zu der Auffassung neigt (die er audi wieder verwirft), daß dasjenige, was im Erlebnis wirksam zu sein scheint, nicht das tatsächlich Wirksame ist6. Bildet diese Auffassung übrigens nicht die Grundlage für seine andauernde Reduktion der Erscheinungen auf die wirksamen, aber im Erlebnis nicht gegebenen Gehirnprozesse? James bietet für dieses Dilemma keine deutliche Lösung an. Es ist selbst die Frage, ob er sich jemals genügend klar gemacht hat, daß er die Grundlagen seiner Psychologie mit einem unauflösbaren Widerspruch belastet. Oder muß man sagen, daß er einer der wenigen ist, der diese Situation annimmt und nicht mit Konstruktionen zudeckt? Wenn James das Bewußtsein desavouiert, bedeutet das keine Verneinung des Erlebens. Im Gegenteil, es geschieht auf dem Boden des Erlebens, daß er nichts mehr vom Bewußtsein hören will. Das Erleben weist nicht über sich selbst hinaus auf ein transzendentales Subjekt oder auf eine substantielle Seele, das Erleben weist zurück auf den Leib. Die Wissenschaft des Erlebens wird zur Wissenschaft des Verhaltens. 2. JAMES' FUNKTIONALER BEHAVIORISMUS James' Analyse des Erlebnisstromes könnte dazu führen, ihn für einen Bewußtseinspsychologen zu halten, der sich für die Struktur des (isolierten) Erlebnisses interessiert. Das zweite Kapitel unterrichtete uns schon darüber, daß er das nicht sein wollte. Sein Interesse ging auf eine funktionale Psychologie aus, die das Bewußtsein als biologische Erscheinung auffaßt und die Rolle des Bewußtseins im Verhalten untersucht. Es erfüllt seine Rolle vornehmlich in der Anpassimg des Menschen an sein Milieu. Und so warnt er seine Leser noch einmal ausdriiddich: wenn wir uns mit den letzten Kapiteln in einen Urwald reiner innerer Prozesse begeben haben, dann dürfen wir nicht vergessen, daß das endgültige Resultat all dieser Prozesse irgendeine Form körperlicher Tätigkeit sein muß. Das Nervensystem ist, physiologisch betrachtet, nichts anderes als eine Maschine, die Reize in Reaktionen umsetzt, und der intellektuelle Teil unseres Daseins ist nur mit dem mittleren, „zentralen" Teil der Wirksamkeit dieser Maschine verbunden [II, 372]. Verstandesleistungen und die Erlebnisse im allgemeinen, werden folglich erst dann in ihrem natürlichen Zusammenhang gesehen, wenn wir uns klarmachen, daß sie eine Zwischenphase zwischen Reiz und Reaktion bilden. Dieser Zusammenhang zwischen Reiz und Reaktion ist es, der, viel mehr als das Erleben, die entscheidende Erscheinung ist: es gibt keinen sinnlichen Eindruck, der nicht unmittelbar oder mittelbar zu einer Tätigkeit 6
The experience of activity; Essays, S. 168.
James' funktionaler Behaviorismus
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führt — oder er muß durch einen stärkeren Eindrudc gehemmt werden7. So ist das Kapitel über die Bewegungen auf der Grundthese basiert, daß jedes Erlebnis eine Bewegung hervorbringt [II, 372]. Aber ist es denn auch das Erlebnis, das die Bewegung hervorbringt? Jedes Verhalten ist Reaktion auf die äußere Situation8. Jeder Aktionsstrom, der das Gehirn von der Haut, vom Auge oder vom Ohr her erreicht, verläßt das Gehirn wieder auf dem Weg zu Muskeln, Drüsen oder Eingeweiden9. Das gesamte Nervensystem ist nichts anderes als ein System von Verbindungen zwischen einem sensorischen Anfangs- und einem Endpunkt in einem Muskel oder einer Drüse [I, 108]. Aber dann ist die Verbindung vom Sinnesorgan zum Effektor ein autonomer Reaktionsbogen (vgl. I, 24). Diese Folgerung wird zu einer der Grundthesen des Behaviorismus. Wir werden gleich sehen, warum diese Folgerung es überflüssig macht, das Bewußtsein noch in die Verhaltenspsychologie einzubeziehen. Auch noch andere, hiermit im Zusammenhang stehende Punkte sind es, die James zum Wegbereiter des Behaviorismus machen. Im III. Kapitel § 7 sahen wir, daß James gegen die Repräsentationstheorie der Erkenntnis Stellung nahm. Seine späteren philosophischen Betrachtungen führen dieses Thema fort. Die Theorie der „pure experience" ist davon eine Konsequenz. Und so hören wir ihn dann nochmals sagen, daß das reine Erlebnis keine Verdopplung der Außenwelt in einer inneren Welt der Vorstellungen kennt. Ich sehe die Dinge selbst und direkt, und es sind dieselben Dinge, die idi mir vorstelle10. Und wenn solche Vorstellungen innere Prozesse zu sein scheinen, die nicht in einer Tätigkeit resultieren, so tuen wir gut daran, an das Beispiel des vorgestellten Hutes zu denken: es folgt wohl eine Reaktion, aber eine verzögerte. Jeder auftreffende Reiz führt, „if not to-day, then on some far future day"11 zu einem Verhalten. Audi diese kennzeichnende Lehre des Behaviorismus ist also bei James zu finden. Fügen wir hinzu, daß James zumindest skizzenhaft eine Theorie der bedingten Reflexe zur Erklärung der Lemeffekte aufstellte12, dann verstehen wir, weshalb er zu Recht Wegbereiter des Behaviorismus genannt wurde. 7
Will to believe, S. 113. Vgl. Talks to teadiers, S. 170 f. „a belief as funda-
mental as any in modern psychology is the belief at last attained that conscious processes of any sort, conscious processes merely as such, must pass over inta motion, open or concealed". 8 Will to believe, S. 114: „All action is thus re-action upon the outer world."
Talks to teadiers, S. 26. Essays, S. 11 f. 11 Talks to teadiers, S. 27. 12 Talks to teadiers, S. 38. 9
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Erleben und Verhalten
Daß er jedodi kein Behaviorist war, ja, daß der Behaviorismus zu James' Grundgedanken im Widerspruch steht, verstehen wir erst, wenn wir verfolgen, was diese Richtung aus den Thesen von James macht. 3. DER RADIKALE BEHAVIORISMUS Die bündige Formulierung, die Tilquin über die Grundgedanken des radikalen Behaviorismus gibt, schließt sich gut dem Resümee an, das wir soeben über die Auffassungen James' gaben. „Der Mensch ist und ist nichts anderes als ein Organismus (materialistischer Monismus), der sich seinem Milieu anpassen muß, um zu leben (biologischer Dualismus). Diese Anpassimg vollzieht sich durch die Verhaltensweisen, die reaktiv auf die Veränderungen im Milieu folgen (Adaptationsprinzip). Jeder Reiz lockt eine Reaktion hervor, jede Reaktion geht aus einer Reizung hervor (Prinzip des autonomen Reaktionsbogens)13." Dennoch bemerken wir schon einen Unterschied. Wenn der Behaviorismus jeden kartesianischen Dualismus ausschließt14, weil das nicht den Postulaten eines materialistischen Monismus15 entspricht, dann besteht hier ein wichtiger Unterschied zu dem Boden, auf dem James diesen Dualismus verwirft: das Zeugnis des Erlebens. James' Theorie der „pure experience" bewegt sich in einer Völlig anderen Richtung, die wohl sehr deutlich zum Behaviorismus im Widerspruch zu stehen scheint, wenn James notiert: „the constitution of reality which I am making for is of psychic type" 18 . Die Wirklichkeit ist für James erlebte Wirklichkeit. Und so trennen sich schon die Wege dort, wo sie scheinbar zusammenkommen. Der Behaviorismus verwirft das Bewußtsein mit einem grimmigen, materialistischen Ernst. „Mind is behavior, and nothing else", ruft Lashley aus" und spielt damit Watson in die Karten. Falls man schon zugibt, daß sich so etwas wie „Bewußtseinserscheinungen" zeigt, dann muß man doch sagen, daß sie für die Wissenschaft unbrauchbar sind. Die erste Forderung, die jede Wissenschaft stellen muß, lautet ja: die Gegebenheiten, auf die sie sich gründet, müssen verifizierbar und kontrollierbar sein. Introspektive Gegebenheiten sindnicht verifizierbar, sie gehören zum Subjekt, „in dem" sie auftreten. Es sind persönliche Gegebenheiten18. Wenn jemand sagt, daß es ihm weh tut, kann ich sein Fühlen nicht kontrollieren. Ich kann seine A. Tilquin, Le behaviorisme; Paris, 1950, S. 27. Tilquin, Behaviorisme, S. 45. 15 Tilquin, Behaviorisme, S. 29 ff. 18 Perry, Thought, II, S. 764. 17 K. S. Lashley, The behavioristic interpretation of consciousness; Psychol. Rev., 1923 (30), S. 240. 18 J. B. Watson, Psychology from the standpoint of α behaviorist; Philadelphia, 19242, S. 1. The ways of behaviorism; New York, 1928, S. 6 ff. 13
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Der radikale Behaviorismus
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Mitteilung höchstens als Hinweis verwenden, um zu untersuchen, ob sich in der lautlichen Äußerung, die er macht, bestimmte, klar umschriebene leibliche Erscheinungen zeigen. Die kann ich definieren und zwar so, daß ein anderer sie ebenso feststellen kann. Ein Sdimerz-, Freude- oder Angstgefühl ist jedoch als Gefühl nicht exakt beschreibbar. Das bedeutet zunächst noch nicht, daß „Gefühle" nicht bestehen. Der Behaviorismus beginnt als methodischer Behaviorismus. E s gibt freilich Bewußtseinserscheinungen, aber was haben wir davon? Was können wir damit in der Wissenschaft anfangen? Aber jener methodische Behaviorismus, der die Untersuchungen nicht auf introspektiven Gegebenheiten gründen will, führt mit innerer Notwendigkeit zu einem ontologischen Behaviorismus: das Bewußtsein ist nicht nur ohne Bedeutung für wissenschaftliche Untersuchungen, es besteht auch nicht. Sowenig wie die Chemie die Alchemie anerkennt, sowenig die Astronomie die Astrologie anerkennt, die Psychologie die Telepathie, sowenig anerkennt der Behaviorist Bewußtseinserscheinungen. Diese veralteten Begriffe verschwinden in der Entwicklung der Wissenschaft 18 . Der Behaviorist ist nie während seiner Untersuchung auf diese „geistigen Dinge" gestoßen 20 . Bewußtseinszustände, -inhalte oder -erscheinungen gibt es nicht. Es gibt ja keine Nervenprozesse, die im Gehirn endigen oder anfangen! Wenn ein Prozeß seinen Ursprung im ZNS zu haben scheint, muß doch die Energie, die dafür nötig ist, ursprünglich aus der Außenwelt gekommen und dem ZNS zugeführt worden sein. Das Energieerhaltungsgesetz besagt, daß keine neue Energie geschaffen wird. Wenn ich also meine, daß ich etwas tue, weil und indem ich als geistiges Wesen das „will", daß ich durch den unstofflichen Willen Muskeln in Bewegung setze und folglich Energie, die nicht da war, hervorbringe, dann sage ich etwas, das dem Energieerhaltungsgesetz widerspricht. Wir wollen einmal annehmen, sagt Watson, daß es eine visuelle Vorstellung gibt, die nicht durch etwas entsteht, das wirklich gesehen wird. Ist das dann ein Prozeß, der zentral entsteht? Das ist ausgeschlossen. Ein Bild, das in mir aufsteigt, wenn ich einen Tagtraum habe, kann seinen Ursprung nicht im Gehirn haben, das sich unter meinem Schädel birgt. Denn das Gehirn ist nichts anderes als eine Schaltzentrale, in der einströmende Energie in abströmende Energie transformiert wird, in der sensorische Reizströme in motorische umgesetzt werden. Die sogenannte visuelle Vorstellung ist nichts anderes als eine Fiktion. Alle Untersuchungen und Theorien der Introspektionspsychologen, die dem Vorstellen, dem Überlegen, der Begriffsbildung und dem Denken gewidmet sind, gehen aus einem grundlegenden Mißverständnis hervor. Sie beruhen auf den Illusionen, die das alltägliche 18 20
Watson, Psychology from the standpoint of a behaviorist, S. 348 ff. Watson, Psychology from the standpoint of a behaviorist, S. 2.
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Erleben und Verhalten
Denken beherrschen. Weil wir sagen, Vorstellungen zu haben, glauben wir auch, daß sie bestehen. Aber es gibt sie nicht. Es gibt höchstens einen ReizReaktionsbogen, der dieser sogenannten „Vorstellung" entspricht. Dieser von der sensiblen Peripherie zur motorischen Peripherie reichende Reaktionsbogen ist ein geschlossener Bogen, der objektiv gegeben ist21. Wahrscheinlich wendet man nun ein, daß bei vielen der höheren psychischen Erscheinungen diese Geschlossenheit des Reaktionsbogens ganz und gar nicht so evident ist. Es kann gut möglich sein, daß ich um halb elf in der Sonne sitze und es mir plötzlich einfällt, daß ich um zehn Uhr ein Kolleg hätte geben müssen. Wo findet diese Erinnerung ihren Ursprung, wenn sie von der Peripherie her gekommen sein muß? Wir werden dann annehmen müssen, daß es verzögerte Reaktionen gibt. Denken, sich erinnern, sind verzögerte Reaktionen. Wir betrachten das Lernen und das Gedächtnis vor allem im Hinblick auf die Vergangenheit. Behalten ζ. B. ist das Behalten eines Inhaltes oder einer Fähigkeit, die man sich früher erwarb. Eine derartige Definition ist auf die Vergangenheit abgestimmt. Soll man es nicht auch anders definieren können? Könnte man nicht sagen: „Gedächtnis" ist der zusammenfassende Name für alle Erscheinungen von kurzfristig oder langfristig verzögerten Reaktionen? Ich lerne einen Stoff, um ihn morgen aufzusagen. Wenn ich den Stoff behalte, so bedeutet das nichts anderes, als daß ich jetzt, während ich den Stoff lerne, meine Reaktionen bis zu einem späteren Zeitpunkt aufschiebe. Bei den sogenannten inneren Prozessen handelt es sich um verzögerte Reaktionen. Man wird untersuchen müssen, inwiefern eine im ZNS eintreffende Reizung Anlaß zu sich fortsetzenden Kreisprozessen sein kann, die nicht sofort zu motorischen Reaktionen führen. Man braucht dann für die später auftretenden Reaktionen nicht anzunehmen, daß sie durch „psychische Energie" in Gang gesetzt werden. Was kann „psychische Energie" sein? Sie hat entweder mit dem Stofflichen nichts zu tun, kann dann aber auch nicht auf den (Körper-)Stoff einwirken, oder sie ist die physische Energie und somit per definitionem keine „psychische". In beiden Fällen ist der Begriff für eine objektive Betrachtung des Verhaltens überflüssig und sogar schädlich, da er Verwirrung weckt. Aber ist denn so etwas wie das Denken nicht eine Tätigkeit, die gerade hervortritt, insofern man von leiblichen Reaktionen absieht? Haben wir hier nicht eine rein innere, geistige Tätigkeit? Wenn man einmal gesagt hat, daß die inneren Dinge, über die die introspektive Psychologie spricht, nicht bestehen, dann muß man natürlich radikal in seiner Formulierung bleiben. Was ist das Denken anders als ein 2 1 J. B. Watson, Behavior. An introduction to comparative psychology; New York, 1914, S. 17 ff.
Der radikale Behaviorisums
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implizites Verhalten, das sich vom expliziten Verhalten nur dadurch unterscheidet, daß es mit dem bloßen Auge nicht wahrnehmbar ist? Denken ist ein verbaler Stellvertreter für eine Handlung. Denken ist leises Sprechen, so, daß es für einen anderen nicht wahrnehmbar ist. Denken ist eine muskuläre Vorbereitving, bestehend aus schwachen Bewegungen des Kehlkopfes, die sich zwischen der Reizung und der expliziten Reaktion einschalten. Freilich geht es hier um eine Hypothese, aber dann doch um eine objektive"2. Übrigens, die gesprochene Sprache selbst hat schon diesen Charakter einer verzögerten Reaktion, eines Substituts. „Komm", sage ich, „wir wollen heute nachmittag einmal angeln gehen." Dann angle ich eigentlich schon. Aber weil ich noch nicht am Fischteich bin, angle ich jetzt nur mit dem Wort, um es bald wirklich zu tun. Wenn man auf diese Weise alle „inneren Prozesse" auf stoffliches Verhalten zurückführt, dann bedarf man des Begriffes „Bewußtsein" nicht mehr. Und zwar deshalb nicht, weil dieser Begriff gar keine Wirklichkeit deckt. Es gibt kein Bewußtsein. Niemand, sagt Watson, hat es doch jemals gesehen, angefaßt oder geschmeckt. Es kann nicht unter das Mikroskop gelegt werden. Nie kann bewiesen werden, daß es Verhaltensweisen bestimmt. Das ist der wesentliche Punkt. Der Behaviorist wird das Bewußtsein akzeptieren, sobald jemand dessen Dasein nachweist, so wie die anderen Wissenschaften das Dasein ihres Objektes nachweisen23. Dieser kurze Uberblick über einige Grundgedanken des radikalen Behaviorismus von Watson reicht für uns aus. James führte den Erlebnisstrom auf die körperliche Verrichtung zurück, die so auffallend kontinuierlich die Lebenserscheinungen begleitet und deren Namen im gesamten europäischen Denken, die Geschichte hindurch, für den Seelenbegriff bestimmend wurde: den Atem. Aber was er sagt, ist: Tätigkeit ist eigentlich und in Wirklichkeit leibliche Tätigkeit, obgleich sie als etwas Geistiges erlebt und aufgefaßt wird. Dieses Erlebnis selbst bleibt für ihn eine Wirklichkeit. Demgegenüber stellt der Behaviorismus die Behauptung auf, daß körperliche Verrichtungen physische Verrichtungen sind und infolgedessen voll und ganz unter den physischen Gesetzmäßigkeiten verstanden werden müssen. Diese erlauben nicht, daß physische Energie in psychische Erscheinungen umgesetzt wird oder umgekehrt. Es können somit keine Bewußtseinserscheinungen bestehen. Es gibt sie also nicht. 2 2 Watson, Behavior, S. 19 f. Daß diese Hypothese widerlegt wurde, tut nichts zur Sadie. Tatsächlich kann man die Stiimnorgane für das Aufsagen eines bekannten Textes gebrauchen, während man in der Zwischenzeit an etwas anderes denkt. Aber dann sucht der Behaviorist ein anderes körperliches Äquivalent für das Denken. Es handelt sich darum, die „inneren" Erscheinungen als körperliche Prozesse zu definieren. 2 3 Watson, The ways of behaviorism, S. 3 ff.
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Erleben und Verhalten 4. EIN MERKWÜRDIGES ERGEBNIS
Das Bewußtsein ist eine Fiktion. Die Überlegung, die zu dieser Feststellung führt, ist triftig und zwingend. Dennoch stehen einige Fragen aus. Ζ. B.: was ist eine FiktionΡ Wiederholt gebraucht Watson solche Ausdrücke wie „Fiktion", „Mißgriff", „Illusion", „Vorurteil". Was sind das für „Prozesse"? Ist das Denken und Überlegen eines Wissenschaftlers, der sagt: „Was ein anderer Wissenschaftler behauptet, ist eine Fiktion", auch ein Verhalten, das aus den Bewegungen der Atmungsorgane besteht? Der Mensch zeigt Verhaltensweisen, die einen biologisch festgelegten Nutzen haben. Wir essen, um leben zu bleiben. Wenn ich nun jemandem sage, daß ich hungrig bin und essen gehe, kann man diese Mitteilung, die verbale Reaktion, als einen vorläufigen Stellvertreter des Essens selbst betrachten. Diese Mitteilung ist Substitut für die Erfüllung eines biologischen Bedürfnisses. Wenn man die „inneren Prozesse" im allgemeinen auf verzögerte leibliche Reaktionen zurückführt, muß man auch am Ende dieses Aufschubs eine tatsächliche Reaktion nachweisen können. Wie verhält es sich in dieser Hinsicht mit der merkwürdigen Gruppe „rein reflexiver" Verhaltensweisen? Ich behaupte, daß die Behauptung des Herrn Jansen Unsinn ist. Was tue ich dann behavioristisch gesprochen? Welches biologisch nützliche Verhalten schiebe ich mit meiner Behauptimg auf, daß eine andere Behauptung Unsinn ist? Ist das Denken und Überlegen in der Wissenschaft auch ein Verhalten, das einen biologischen Sinn hat? Als Euklid seine Axiomata aufstellte und somit ein bestimmtes Verhalten aufschob, was hat er damals verzögert? Wenn er nun nicht gedacht hätte, sondern sogleich gehandelt hätte, was hätte er dann an Stelle des Aufschreibens dieser Axiomata getan? Was ist die Biologie der Mathematik? Allgemein formuliert: fällt das wissenschaftliche Denken unter die Verhaltensweisen im behavioristischen Sinne? Ist das Betreiben der Wissenschaft oder der Wissenschaftstheorie wieder Verhalten von der gleichen Art wie Essen, Gehen usw.? Falls ja, dann müssen wir sagen, daß es eine streng determinierte Atmung ist, verursacht durch logische Reize, Wahrheitsreize, ästhetische Reize usw. Wie erklärt der Behaviorismus den Ursprung der Wissenschaft? Warum hat überhaupt jemand angefangen, Wissenschaft zu betreiben? Es ist wahrhaftig leicht, von einem „Drang nach Erkenntnis" zu reden. Aber was ist dessen biologischer Sinn? Oder müssen wir mit James annehmen, daß es um zufällige Variationen in der menschlichen Erbmasse geht [II, 636 ff.]2*? 24
Vgl. Will to believe, S. 55: „Take science itself! Without an imperious inner demand on our part for ideal logical and mathematical harmonies, we should never have attained to proving that sudi harmonies lie hidden between all the
Ein merkwürdiges Ergebnis
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Wie man diese Fragen auch beantwortet, wir müssen ein Detail gut im Auge behalten. Das ist die Frage, ob das Betreiben von Wissenschaft nicht doch Reflexion und „Bewußtsein" voraussetzt, um sie auf etwas anderes zurückführen zu können. In diesem Punkt gibt Watson nach. DerBehaviorist hat, wie jeder andere, Bewußtsein; aber seine Wissenschaft kommt ohne „Bewußtsein" im psychologischen Sinne aus. Die „Beobachtung" des Bewußtseins ist ebensowenig Aufgabe des Psychologen wie des Naturwissenschaftlers. Für sie ist das Bewußtsein das Instrument, mit dem alle Wissenschaftler arbeiten. „We might call this the return to a non-reflective and naive use of consciousness"25. Merkwürdiges Ergebnis! Innerhalb der Psychologie wird das Dasein des Bewußtseins verneint. Aber wir haben doch das Bewußtsein als das ursprüngliche Instrument wissenschaftlichen Denkens nötig. Ob sich der Behaviorismus als ein methodischer oder als ein ontologischer Behaviorismus anbietet, er kann nicht umhin, das unter der Anerkennung dessen zu tun, was Watson „den naiven Gebrauch des Bewußtseins als Instrument" nennt. „Aber richtet man von dem Augenblick an, in dem man sich weigert, Partei zu ergreifen, nicht doch einen Dualismus auf? Watson würde hierauf antworten, daß im Blick wissenschaftlicher Erkenntnis die Welt einmalig ist: die Welt der Dinge gibt es nicht doppelt. Aber er würde ohne Umschweife anerkennen, daß dieser einmaligen Welt Subjekte gegenüberstehen, die sie erkennen. Und er würde hinzufügen, daß die Subjekte wissenschaftlich nur als Objekte erkannt werden können"29. Es darf keine doppelte Welt geben. Wie „selbstverständlich" ist die Auslegung unseres Verhältnisses zur Welt allerdings geworden! Da steht ein Tintenfaß auf dem Tisch. Es steht dort wirklich, und ich „habe" eine Wahrnehmung davon. Das ist die Verdopplung, gegen die sich der Behaviorismus ebenso wie James — und mit Recht — wehrt. Denn das verdoppelte Ding verlangt ein verdoppeltes Sein: das des Stoffes und das des Geistes. „Bewußtsein" ist freilich der Name für eine Funktion. „That function is knowing"27. In der Terminologie Watsons: das Subjekt ist immer „examining objects"28; von Bewußtsein ist die Rede, insofern uns Dinge gegeben sind. Die Beobachtimg des Bewußtseins ist eine sinnlose Aufgabe; es ist ebenso sinnlos wie das Sehen sehen zu wollen. chinks and interstices of the crude natural world. Hardly a law has been established in science, hardly a fact ascertained, which was not first sought after, often with sweat and blood, to gratify an inner need. Whence such needs come from we do not know: we find them in us, and biological psychology so far only classes them with Darwin's .accidental variations'". 2 5 Watson, Behavior, S. 27. 2 6 Tilquin, Behaviorisme, S. 79 f. 2 7 James, Essays, S. 4. 2 8 J. B. Watson, Psychology as the behaviorist views it; Psychol. Rev., 1913 (20), S. 174 Anm.
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Watson verkündigt nicht mehr oder weniger als die Intentionalität; Bewußtsein ist wesentlich und ausschließlich Bewußtsein-üon-(etwas). Die Allgemeinheit des Ausdrucks „Bewußtsein" sagt ausschließlich, daß es mehr Arten von „examining objects" gibt. Und in dieser Hinsicht ist Watsons Lehre doch ein wenig beschränkt. 5. JAMES' LEHRE DES REINEN ERLEBENS Der radikale Behaviorismus sucht den kartesianischen Dualismus durch einen materialistischen Monismus zu überwinden; die Lösung, die James sucht, scheint — wir sagen es mit aller Vorsicht — in die Richtung eines spiritualistischen Monismus zu gehen, wiewohl er sich als ein radikaler Empirismus ankündigt29. Jemand sitzt in einem Zimmer und liest ein Buch. Was er sieht, betrachtet er als Wirklichkeit; es ist anwesend. Eine Ansammlung von Dingen, abgetrennt in einer Welt von anderen Dingen. Was er wahrnimmt, sind diese Dinge selbst, die sich dort befinden. Befinden sie sich auch noch einmal in seinem Geist? Wenn sich ein Ding an zwei Stellen befindet, dann muß das auf dieselbe Weise sein, wie sich ein Punkt auf zwei Linien befinden kann: als Schnittpunkt. Wenn also das „reine Erleben" des Zimmers so ein Schnittpunkt wäre, ein Kreuzpunkt zweier Erlebnisgruppen, dann könnte man dieses Erlebnis gleichsam zweimal zählen, das eine Mal zu dieser Gruppe gehörend, das andere Mal zur anderen gehörend. Und man könnte sagen, daß das Erlebnis zweimal „da ist", während es, richtig besehen, nur ein einziges ist30. Das eine Erlebnis ist ein Teil verschiedener Kontexte, die unabhängig voneinander betrachtet werden können: die Geschichte des Zimmers bzw. die des Lesers. Es gibt also keinen Grund, die Dinge zu verdoppeln. Alles, was uns im Erlebnis gegeben ist, hat ein und denselben „primal stuff", nämlich das reine Erlebnis selbst31. Das Gegebene ist das Erlebnis; Erlebnis ist Gegebenheit. Deshalb ist es auch richtiger, von Gegebenheiten in der Mehrzahl zu reden. Auf die Frage, woraus ein bestimmtes Stück Erlebnis besteht, muß die Antwort lauten: „Es ist aus dem gemacht, aus genau dem, was erscheint, aus Raum, Intensität, Fläche, Bräune, Schwere oder was auch immer"32. Auch Begriffe, Erinnerungen, Einbildungen gehören James, A world of pure experience, in: Essays, S. 41. Does „consciousness" exist? In: Essays, S. 11 f. Vgl. für das Folgende „Antimetaphysisdie Vorbemerkungen" aus Madis Die Analyse der Empfindungen, das 1885 zum erstenmal erschien. James nahm Kenntnis von diesem Werk und hat dessen Einfluß erfahren. 31 Does „consciousness" exist? Essays, S. 4. 32 Does „consciousness" exist? Essays, S. 26 f. 29
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James' Lehre des reinen Erlebens
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hierzu. In dem einen Kontext gelten sie als Dinge, in dem anderen als Bewußtseinszustände33. Das Erlebnis hat eine innere Duplizität, deren Aufteilung in Bewußtsein und Inhalt nicht durch Subtraktion vor sich geht, sondern durch Addition, nämlich durch die Addition anderer Gruppen assoziierter Erlebnisse. Man muß wohl den Gegensatz zwischen Erkennendem und Erkanntem aufrechterhalten, aber nicht als einen absoluten und realen Gegensatz. Denn hier gilt genau dasselbe: ein Erlebnis, das in dem einen Kontext als Erkennender fungiert, tut es in einem anderen Zusammenhang als etwas, das erkannt wird. Erkennen ist eine Relation zwischen Erlebnissen, und diese Relation ist selbst ein Erlebnis34. Für den radikalen Empirismus sind die Relationen, die Erlebnisse verbinden, selbst erlebte Relationen, und jede erlebte Relation muß für genauso „real" gehalten werden wie andere, inhaltliche Erlebnisse35. Mit dieser kurzen Zusammenfassung der Lehre müssen wir es hier bewenden lassen. Zu welchen unauflöslichen Schwierigkeiten sie führen muß, ist ohne weiteres deutlich. Stellen wir ζ. B. bloß die Frage, wie James jetzt das Problem der Beziehungen zwischen Erlebnissen und Gehirnprozessen formulieren müßte38! Sein psychologischer Realismus einerseits, die Lehre des reinen Erlebens andererseits, finden, beide bis ins Extreme durchgeführt, gleichzeitig und nebeneinander einen Platz in seinem „System". Sie scheinen unversöhnbar zu sein. Das charakterisiert James. Wir werden keinen Versuch wagen, eine Synthese herzustellen — jedenfalls nicht im eigentlichen Sinne. Aber wir können ein wenig von dem Widerspruch verstehen, wenn wir uns klarmachen, daß James in allen seinen Theorien daran festhält: der Zugang zu den Erscheinungen liegt im Erlebnis, der Grund der Erscheinungen liegt im Leib. Der Kern des Erlebens ist der eigene Leib 37 . Deutlich zeigt sich sein Standpunkt in einem etwas längeren Abschnitt. „Die erlebte Welt (anders genannt das ,Bewußtseinsfeld') hat immer unseren Leib zum Zentrum, Zentrum des Sehens, Zentrum des Handelns, Zentrum des Interesses. Wo der Leib ist, da ist ,hier'; wenn der Körper handelt, dann ist »jetzt'; was der Leib berührt, ist .dieses'; alle anderen Dinge sind ,dort' und ,dann' und ,das'. Diese Worte für eine betonte Stellung enthalten eine Systematisierung der Dinge im Hinblick auf einen Brennpunkt der Tätigkeit und des Interesses, der im Körper liegt; und die Systematisierung ist jetzt so instinktiv 3 3 Does „consciousness" exist? Essays, S. 15. Vgl. auch den Artikel von 1895: The knowing of things together; Psychol. Rev. (2). 3 4 Does „consciousness" exist? Essays, S. 4, 9, 25. 3 5 A world of pure experience; Essays, S. 42. 36 Vgl. seine Aufzeichnungen, bei Perry, Thought, II, S. 368 f. 3 7 A world of pure experience; Essays, S. 65.
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(war sie es jemals nicht?), daß es für uns überhaupt kein entwickeltes oder aktives Erlebnis gibt, außer in der geordneten Form. Insofern .thoughts' und .feelings' aktiv sein können, findet ihre Tätigkeit in der Tätigkeit des Körpers einen Endpunkt und nur dadurch, daß sie zunächst dessen Tätigkeiten hervorrufen, können sie anfangen, die übrige Welt zu verändern. Der Leib ist das Sturmzentrum, der Ursprung der Koordinaten, der beständige Platz der Spannung im Ganzen der Erlebniskette. Alles dreht sich darum und wird von diesem Gesichtspunkt aus erlebt. Das Wort ,ich' ist also primär ein Positionalnomen, genau wie ,dieses' und ,hier"'38. 6. DER LEIB ALS URSPRUNG DER WIRKLICHKEIT James weist hin auf den Leib als Ursprung der Wirklichkeit. Aber „Ursprung" bedeutet hier zweierlei. 1. Der Leib ist Zentrum, Schnittpunkt der Koordinaten der Wirklichkeit. „Ich" ist ein Positionsnomen. Man kann das in einem begrenzten, räumlichen Sinn verstehen. Der Leib ist dann der Lokalisations-Nullpunkt, auf den alle erlebten räumlichen Bezüge zugeordnet sind. Aber man braucht sich nicht hierauf beschränken. Der Leib definiert audi das „Jetzt", er ist der zeitliche Ursprung, auf den Vergangenheit und Zukunft, in Retention und Protention, zugeordnet sind. Er ist ebenso „Ort der Handlung". Hätte James eine jetzt gebräuchliche Terminologie gekannt, dann hätte er auch sagen können: der Leib ist Situationskern. Seine Umschreibung weicht letztlich nicht sehr viel von dem ab, was Marcel sagt: „c'est par rapport ä lui (en tant qu'il est mon corps) que tout existant se d6finit et se situe"38. Der Leib ist Koordinatenschnittpunkt der erlebten Wirklichkeit; das ist die erste Bedeutung von „Ursprung". 2. Der Leib ist für James jedoch noch mehr als „Ursprung" in der ersten Bedeutung. Er ist mehr als Zentrum der Ordnimg und Tätigkeit, mehr als der Orientierungspunkt für eine Beschreibung der erlebten Wirklichkeit. Er bildet auch deren effektive Grundlage. Es sind die Strukturen und Funktionen des Leibes, durch die wir so erleben, wie wir erleben. Aber es ist insbesondere das sich im ZNS Abspielende, was diese Grundlage bildet. Das Erleben ist im gewissen Sinne eine übersetzte Widerspiegelung dessen, was sich dort abspielt. Übersetzt, weil wir die Prozesse, die sich im ZNS vollziehen, nicht als Prozesse erleben, sondern als ein direktes und spontanes Sein-bei-den-Dingen-selbst. Widerspiegelung, weil in diesem Sein-beiden-Dingen unsere Beziehimg zu der physischen Wirklichkeit nicht so erfahren wird, wie sie gedacht werden muß. Das Problem, in das sich James The experience of activity; Essays, S. 170 Anm. Audi: A pluralistic universe, S. 380 Anm. 38 G. Marcel, Etre et avoir; Paris, 1935, S. 10. Vgl. Merleau-Ponty, Phänomenologie, S. 402: „J'ai le monde comme individu inacheve ä travers mon corps comme puissance de ce monde". 88
Der „objektive" und der „subjektive" Leib
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verstrickte, ist das psycho-physische Problem. Man kann ihn deswegen nicht tadeln, denn welcher Psychologe seit Descartes verstrickte sich nicht darin? Was man an James tadeln könnte, ist, daß er es auf eine zu einfache und dadurch unlogische Weise zu lösen suchte. Die physische Wirklichkeit, die Anlaß zum Erlebnis gibt, ist ja selbst eine Konstruktion auf dem Boden der erlebten Wirklichkeit. Gehirnprozesse und Erlebnis folgen einander theoretisch nicht so gradlinig, wie es James vorkommt. Das phänomenale Gehirn ist selbst primär ein in der Erlebniswelt bloßgelegtes Gehirn, das als solches nicht die Welt fundieren kann. Und umgekehrt wird die physische Wirkung des Gehirns schlechthin nicht erlebt39". James' Lehre des Leibes zeigt daher eine doppeldeutige Struktur. Einerseits liefert er wichtige Beiträge zu einer Phänomenologie der Leiblichkeit, andererseits läßt er sie in physiologische Betrachtungen hineinfließen, die er mit seiner Phänomenologie vermischt. Das darf uns jedoch nicht blind dafür machen, daß er, gefangen oder nicht gefangen in dieser Doppeldeutigkeit, Leib und Verhalten einen so zentralen Platz zugesprochen hat. Die Theorie des Leibes bildet für James das Kernstück der Psychologie. Es ist das Zentrum der Erlebniswelt und bildet in der physischen Welt die Grundlage des Erlebens40. 7. DER „OBJEKTIVE" UND DER „SUBJEKTIVE" LEIB Die Theorie der „pure experience" umschließt auch einen Versuch, den phänomenalen und den wirklichen, physischen Leib auf einen Nenner zurückzuführen. Aus Bequemlichkeitsgründen werden wir vom subjektiven und objektiven Leib sprechen, weil diese Ausdrücke in diesem Zusammenhang kaum Mißverständnisse hervorrufen können. Wir sahen weiter oben, wie James den kartesianischen Dualismus von Geist und Stoff, Seele und Leib, vom einfachen, reinen Erlebnis in ver3 9 a Daß James sich auch selber der Doppeldeutigkeit seiner Auffassungen wohl bewußt war, zeigt sich in seiner folgenden schriftlichen Äußerung (vom 10. April 1898), veröffentlicht bei Perry, Thought, II, S. 369: „It obviously contradicts logic to say that a portion of a field is the cause (in the ordinary sense of that word) of the entire field itself, or rather such words seem quite devoid of any intelligible meaning. By what discriminations, then, might the matter be cleared up? Will the distinction between object in its sensational immediacy, and object qua remote terminus, help? . . . The brain thought-o/ is not entitatively the brain thought-twi/i. But if diverse entitatively, in what sense are they the same? The one thought-o/ potentially terminates in the one thought-unt/ι. It is as terminus that it causes the thought field of which entitatively it forms a portion . . . " . Vgl. die merkwürdige Ubereinstimmung mit Gedanken von Ε. Straus, Der Archimedische Punkt, in: Rencontre-Encounter-Begegnung. Utrecht, 1957, S. 477 ff. 4 0 Vgl. bei diesem Paragraphen: Husserl, Ideen, II, S. 158 f.: „Der Leib als Orientierungszentrum".
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schiedenen Kontexten ableiten will. „Thoughts and things are absolutely homogeneous as to their material, and . . . their opposition is only one of relation and of function" 41 . Nun beruht einer der gebräuchlichsten Einwände gegen diese Lehre darauf, daß unsere Erregungen doch als innere Erscheinungen gegeben sind, als Bewußtseinserscheinungen, die sich wesentlich von den räumlichen, stofflichen Dingen unterscheiden 42 . Aber die stofflichen Dinge „draußen" und die „inneren" Erscheinungen sind ja nur zwei Gruppen, in die wir Erlebnisse aufteilen, in Übereinstimmung mit der Art u n d Weise, wie sie unsere anderen Erlebnisse beeinflussen. Nehmen wir das Erlebnis „hart". In der „Außengruppe" ist das Harte stark, energisch und aggressiv; es zerdrückt Dinge, weil es undurchdringlich ist. Aber in der „Innengruppe", als „Empfindung" genommen, ist dasselbe Harte an gar keiner Stelle, es zerdrückt nichts und durchdringt ohne Schwierigkeit andere „Empfindungen" 43 . Betrachten wir die Gefühle, dann kann nachgewiesen werden, daß 1. die gebräuchliche Auffassung auf einer vorschnellen und unrichtigen Sciilußfolgerung beruht, daß im Gegenteil 2. der Doppelsinn der Gefühle redit gut die These illustriert, daß es sich um eine bloß einordnende Klassifikation handelt 44 . Für den ersten Punkt verweist James auf die Principles. Im folgenden Kapitel gehen wir noch ausführlich darauf ein und sehen uns nun den zweiten Punkt an. Ein Schmerzgefühl ζ. B. ist ein örtliches Gefühl. Wir können immer sowohl in objektivem, wie auch in subjektivem Sinne darüber sprechen. Wir können sagen, daß wir die Gefühle „Schmerz" haben, aber auch, daß eine bestimmte Stelle, ein bestimmter Körperteil weh tut. Und so sind all unsere Adjektive, die eine Wertung ausdrücken, doppelsinnig. Ist der Glanz eines Diamanten eine Qualität des Dinges selbst oder ist es ein Fühlen in unserem Geist? Die verschiedenartigen Befriedigungen, die uns ein Ding verschafft, können Stück für Stück als Affektion aufgefaßt werden; kombiniert nennen wir sie die Schönheit des Dinges selbst. Auch die jeweiligen Empfindungen besitzen schon diesen Doppelsinn. Wir können sagen, daß uns die Wärme angenehm berührt, aber auch, daß die Wärme angenehm ist. Wir gehen sogar so weit, von einem mühsamen Weg, einer schwindelnden Höhe, einem frischen Morgen oder einer unheimlichen Luft zu sprechen45. In unserem Umgang mit den Dingen sind wir vor allem auf diese werthaften Qualitäten 41
W. James, The place of affectional facts in a world of pure experiences J. Phil, 1905 (2). Neudrude in Essays, S. 137—154. Siehe S. 137. 42 The place of affectional facts; Essays, S. 138. 43 The place of affectional facts; Essays, S. 139. 44 The place of affectional facts; Essays, S. 141. 45 The place of affectional facts; Essays, S. 142 ff.
Der „objektive" und der „subjektive" Leib
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gerichtet; es ist das Gefährliche, das Schöne, das Einzigartige, das Nützliche, das uns zu den Dingen hinzieht46. Diese Qualitäten sind es, die uns in der „Affektion" leiblich ansprechen. Unser Leib ist durch diese Zweideutigkeit auch besonders gekennzeichnet. Manchmal behandle ich ihn ausschließlich wie einen Teil der Außenwelt. Manchmal allerdings betrachte ich ihn als „mein", ordne ich ihn dem „Selbst" zu, und dann gelten bestimmte örtliche Veränderungen in ihm als geistige Geschehnisse. Das Atmen ist mein „Denken", sinnliche Adaptationen bilden meine „Aufmerksamkeit", kinästhetische Veränderungen sind meine „Anspannungen", viscerale Störungen sind meine „Emotionen" 47 . Wären „Subjekt" und „Objekt" wirklich durch „the whole diameter of being" getrennt, hätten sie wirklich keine Attribute gemeinsam — warum ist es dann so schwierig, an einem gegebenen und bekannten stofflichen Ding zu unterscheiden, welcher Teil an ihm sinnlich wahrgenommen wird und welcher Teil „subjektiv hinzugefügt wird" 48 ? Im ursprünglichen, reinen Erlebnis hat der Unterschied „subjektiv" und „objektiv" keinen realen Sinn. Aber das muß dann auch im Hinblick auf den Leib gelten. Das einzig Besondere, was es darüber zu sagen gibt, ist, daß er fortwährend erlebt wird. Er bildet einen kontinuierlichen Kem von Empfindungen, während sich die umgebende Welt stufenweise, aber unentwegt verändert49. Er offenbart sich auch immer als derselbe; ich finde ihn immer schon gegeben mit allen anderen, wechselhafteren Erlebnissen. Als „subjektiver" Leib, als der „meine", ist er eine Erlebniswirklichkeit. Aber so gut wie ich meine anderen Erlebnisse nicht nur in der Vertrautheit der direkten Erfahrung habe, sondern sie auch mit anderen Erlebnissen in Zusammenhang bringen kann und so ein Wissen-über erwerben kann, so gut muß das für den eigenen Leib möglich sein. Aber bedeutet das nicht, konsequent durchdacht, daß der subjektive Leib zum objektiven Leib wird, indem ich ihn in einen anderen Kontext von Erlebnissen hineinziehe? Wie gesagt, nirgendwo gibt James diese Lehre explizit wieder. Aber sie folgt logisch aus dem Voraufgehenden. Subjektiver und objektiver Leib sind identisch. Es handelt sich um ein und dieselbe Erlebniswirklichkeit, aber in unterschiedlichem Zusammenhang. Auch der Leib ist so ein Schnittpunkt sich kreuzender Linien. Derselbe Leib, der im Kontext meines perspektivischen Erlebens mein Leib ist, der beständige Kern des „Selbst", ist im Kontext der wissenschaftlichen Erkenntnis ein (lebendiges) Ding. Die Zuordnung der Erlebnisse zu Gehirnprozessen geschieht dann nicht direkt, sondern indirekt. Die Brücke wird dann nicht durch einen dem Erlebnis 46 47 48 49
The place of affectional facts; Essays, S. 150. The place of affectional facts; Essays, S. 153. Does „consciousness" exist? Essays, S. 29. A world of pure experience; Essays, S. 65.
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und Gehirnprozeß gemeinsamen „Schnittpunkt" gebildet; die Koordination wird auf Grund der Identität des Leibes in den beiden Reihen postuliert. Und ausschließlich dort, wo sich die beiden Reihen im erlebten Leib kreuzen, da liegt die Identität des „Physischen" und des „Psychischen" — nirgendwo anders. Uns will es scheinen, daß eine derartige Formulierung der „psychophysischen Relation" im Geist der Betrachtungen James', mit allen Problemen, die dann noch eingeschlossen bleiben, schon bedeutend lebenskräftiger ist als ζ. B. die Isomorphiehypothese der Gestalttheorie. Letztere postuliert ja, daß es zwischen physischen Prozessen und Erlebnissen eine strukturelle Identität gibt, daß sie einander der Struktur nach decken. Und das ist, außer daß es eine unbeweisbare Hypothese ist, auch unannehmbar. Schon aus der auf James zurückgehenden Formulierung folgt, daß sie unwahrscheinlich ist. Kreuzende Linien divergieren außerhalb des Schnittpunktes; dieser Schnittpunkt ist der (erlebte) Leib. Jede Zuordnung von Punkten der einen Linie zu Punkten der anderen Linie bleibt willkürlich, weil sie nicht mehr zusammenfallen; mehr als das: die Divergenz ist hier Ausdruck für eine unableitbare Diskrepanz. 8. DAS PRINZIP DER KOMPLEMENTARITÄT Die Betrachtungen, die wir soeben vorlegten, gehen so selbstverständlich aus James' Auffassungen hervor, daß wir sie ihm rundweg zaaschreiben können. Sehen wir nun vom heutigen Stand des allgemeinen wissenschaftlichen Denkens aus auf die Lehre von James zurück, dann fällt uns auf, daß er in seiner Formulierung des Zusammenhanges zwischen dem „Physischen" und dem „Psychischen" das Prinzip der Komplementarität eingeführt hat. Dieses Prinzip, das Niels Bohr als erster formulierte, nachdem ihn seine Erfahrungen auf dem Gebiet der Atomtheorie dazu veranlaßten, enthält das Folgende60. Die Geschehnisse und Verhältnisse bei zwei verschiedenen Experimenten müssen unter bestimmten Bedingungen beschrieben werden mit Hilfe zwei verschiedener Modelle und Theorien, die je für eines dieser Experimente Gültigkeit besitzen, aber die einander zugleich ausschließen. Es handelt sich hierbei nicht um „vorläufige" Unvollkommenheiten wissenschaftlicher Theorien, sondern um ein Grundprinzip wissenschaftlichen Erkennens: wenn man ein und dieselbe Frage auf verschiedene Weise stellt, kann die Natur verschiedene Antworten geben. Diese Antworten sind dann komplementär. Der scheinbare Widerspruch drückt aus, daß nur beide AntN. Bohr, Das Quantenpostulat und die neuere Entwicklung der Atomistik; Naturwissenschaften, 1928 (16), 245 ff.; Wirkungsquantum und Naturbeschreibung; Naturwissenschaften, 1929 (17), 483 ff. Im zweiten Artikel schlägt Bohr einige Anwendungen des Prinzips auf psychologische Probleme vor, wofür die Psychologie bisher noch zu wenig Interesse zeigte. 60
Das Prinzip der Komplementarität
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Worten zusammen die vollkommene Antwort bilden; daß jede Antwort für sich nur innerhalb eines begrenzten Zusammenhanges Gültigkeit hat. So ist der klassische Streit zwischen der Wellentheorie und der Korpuskulartheorie des Lichtes ein derartiger Fall, von dem wir alle sicher schon mal gehört haben. Manchmal treten Lichterscheinungen in physikalischen Versuchen als Wellenerscheinungen mit allen deren Eigenschaften hervor, dann wieder scheint dasselbe Licht aus losen Licht-„Teilchen" oder Licht-,, Körperchen" zu bestehen. Diese verschiedenartigen, einander ausschließenden Erscheinungsformen wechseln einander allerdings nicht nur so zufällig oder willkürlich ab; sie zeigen einen Zusammenhang mit der Art der Experimente. Seit Bohr hiermit hervortrat, hat sich gezeigt, daß dieses Prinzip auf viele Bereiche wissenschaftlichen Denkens anwendbar ist, ja, daß man es auch auf das Verhältnis mancher Wissenschaften untereinander anwenden muß. So ist ζ. B. der Gedankengang jener, die lange Zeit meinten, daß die Wissenschaft der lebenden Organismen, die Biologie, letztlich auf die Chemie und Physik zurückgeführt werden könnte, im Lichte dieses Prinzips falsch. Denn die physischen und chemischen „Fragen", die man der getöteten Zelle stellt, können von dieser Zelle nie mehr so „beantwortet" werden, wie das die lebende Zelle kann. Biologische Erkenntnis des Organismus einerseits und physisch-chemische Erkenntnis andererseits sind komplementär. Diese beiden Erkenntnisformen können dieselben Fragen stellen nach dem Grund der Lebensvorzüge, aber sie stellen ihre Fragen in einem andersartigen Zusammenhang und bekommen andersartige Antworten. Nun denn, wir wollen nochmals James das Wort erteilen: „There is not thought-stuff different from thing-stuff, I said; but the same identical piece of ,pure experience' . . . can stand alternately for a ,fact of consciousness' and for a physical reality, according as it is taken in one context or in another" 51 . Mit anderen Worten: in Abhängigkeit vom Zusammenhang der Fragen, die wir dem Erlebnis stellen, antwortet dieses Erlebnis, daß es „subjektiv" oder „objektiv", „psychisch" oder „physisch" ist. Es gehört nicht aus sich selbst zu einer dieser beiden Reihen, sondern erst auf Grund einer bestimmten Fragestellung. Erscheinungen können in ihrem gegenseitigen Zusammenhang befragt werden oder in Zusammenhang mit der (erleben51 The place of affectional facts; Essays, S. 137 f. In dieser Lehre ist auch schon der Begriff der psychophysischen Neutralität von Stern vorweggenommen. Das geht deutlich aus der folgenden Bemerkung hervor: „By the adjective ,pure' prefixed to the word .experience', I mean to denote a form of being which is as yet neutral or ambiguous, and prior to the object and subject distinction. I mean to show that the attribution either of mental or physical being to an experience is due to nothing in the immediate stuff of which the experience is composed — for the same stuff will serve for either attribution — but rather to two contrasted groups of associates with either of which . . . our reflection . . . tends to connect it". Perry, Thought, II, S. 385.
13 Linsdioten
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den) Person. Diese beiden Befragungsformen sind, ebenso wie die resultierenden Antworten, komplementär. 9. ERLEBNIS UND ERSCHEINUNG Nun müssen wir einen Schritt weitergehen. Eine der Doppeldeutigkeiten, mit der James' Lehre der „pure experience" belastet ist, besteht darin, daß der Ausdrude „experience" undifferenziert gebraucht wird für Erlebnis und für das Erlebte. Wir haben auch gesehen, daß James diese beiden ausdrücklich identifizieren wollte. Andererseits gibt er sich in denselben Artikeln (in den Essays gesammelt) viel Mühe, die „function of knowing", die Bezogenheit des einen Erlebnisses auf das andere, zu umschreiben. James gerät in Schwierigkeiten, wenn er diese intentionale Relation aufs neue als Erlebnis auffaßt, und zwar als eines von derselben Ordnung, wie die in dieser Relation aufeinander bezogenen Erlebnisse. Wir werden auf die logischen Schwierigkeiten, die mit diesem Kunstgriff entstehen, nicht eingehen. Wir können sie beiseite schieben, weil die genannte Identifikation James' eigenem Prinzip der Komplementarität zuwiderläuft. Um eine Verwirrung zu vermeiden, heben wir den Ausdrude „Erlebnis" für die Relation einer „Person" zu einer Erscheinimg auf. So sagten wir es im II. Kapitel in Übereinstimmung mit den Principles und so haben wir den Ausdrude bis zu diesem Kapitel gebraucht: Im Erlebnis hat jemand, der „ich" sagen kann, etwas bewußt, das er von sich selbst unterscheiden kann. Das „Etwas", das erlebt wird, nennen wir „Erscheinung". Sagt man, daß diese „Erscheinung" auch Erlebnis ist, dann übersieht man, daß „Erlebnis" und „Erscheinung" zwar ihren Schnittpunkt im „Gegebenen" haben, aber im übrigen verschiedenen Kontexten angehören. Und so besteht, obgleich wir im und am Gegebenen selbst Erlebnis und Erscheinung nicht unterscheiden können, eine Diskrepanz zwischen diesen beiden, sobald wir das Gegebene entweder im Zusammenhang intentionaler Relationen oder im Zusammenhang raum-zeitlicher Bezüge der Erscheinungen untereinander betrachten. Hier hegt auch der Grund, weshalb James nicht zu einer Phänomenologie im strengen Sinne gelangen konnte: er identifiziert die intentionale Relation mit einer raum-zeidichen52 und hat nicht gesehen, daß jede Gegebenheit mit Notwendigkeit die Gegebenheit-für-jemanden voraussetzt. In diesem Punkt werden wir also James nicht folgen, sondern den implizit mehr phänomenologischen Gedankengang der Principles vorziehen. Stellen wir uns jedoch die Frage, weshalb James zu dieser Identifikation kam, dann reicht schon eine oberflächliche Kenntnisnahme der Essays vollauf 62 Essays, dort S. 55 ff.
S. 25: „Consciousness connotes a kind of external relation"; vgl.
.Physisch" und „psychisch"
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aus, um einzusehen, daß James hiermit den kartesianischen Dualismus antasten wollte. Was er in dieser Hinsicht erreicht hat, bleibt freilich unverändert bestehen, wenn man den Unterschied zwischen Erlebnis und Erscheinung wahrt. 10. „PHYSISCH" UND „PSYCHISCH" James' „world of pure experience", deren Ursprung der Leib bildet, ist nichts anderes als die Wirklichkeitsordnung, die im VI. Kapitel Lebenswelt genannt wurde83. Es ist die Welt des vorprädikativen oder vorreflexiven Erlebens, in der für Husserl die konstituierende Subjektivität und die konstituierende „Objektivität" noch nicht unterschieden werden können. Es ist jene Welt, in der Erlebnis und Erscheinung ihren Schnittpunkt im Gegebenen finden, das auf den Leib hin zugeordnet ist. Diese Welt ist das Gegebene, worauf jede wissenschaftliche Interpretation beruht und die ihr vorausgeht, die in jeder Aufteilung dieses Gegebenen in einen physischen und einen psychischen „Anteil" vorausgesetzt wird und deshalb selbst nicht wieder als eine Synthese „stofflicher" und „geistiger" Erscheinungen betrachtet werden kann. Der Unterschied zwischen „physisch" und „psychisch" entspringt im Gegenteil in der Reflexion auf diese Welt. Zunächst zeigt er sich als Unterschied auf Grund des Unterschieds von Fragen, die in verschiedenartigem Zusammenhang demselben Gegebenen gestellt werden. Bereits die vorwissenschaftliche Reflexion bezieht das Gegebene auf verschiedene Begriffshorizonte, auf die eines Zusammenhanges des Erlebnisses einerseits, auf die eines Zusammenhanges zwischen Erscheinungen andererseits. Das geschieht in der doxischen Gewißheit, daß diese Begriffshorizonte nicht aufeinander zurückgeführt werden können; ungeklärt und vorgegeben bleibt, daß sie sich im Gegebenen selbst kreuzen. Erst in einer dogmatischen Bestätigung eines kritischen Denkens, in der der Philosoph „Subjekt" und „Objekt" hypostasiert, einen absoluten Gegensatz konstruiert, erscheinen das Psychische und das Physische als unabhängige, parallele Größen. Sie werden zu „Substanzen", die keinen Zusammenhang mehr haben, ihn auch nicht mehr haben können, weil ihr Zusammenhang in der Konstruktion des Subjekt-Objekt Gegensatzes schon weggenommen wurde. Gerade dann tritt das Problem auf, wie man die eine Reihe mit der anderen in Zusammenhang bringen kann, wie sie „korrespondieren". Descartes, der in schärfster Form einen Gegensatz aufstellte, suchte den weggenommenen Zusammenhang durch das in 63 Wir haben früher nachgewiesen, daß man das so sagen darf (siehe oben S. 165), obschon sich James auch in diesem Punkt gelegentlich widerspricht. So sahen wir ja auf S. 83 f., daß James gelegentlich dazu neigt, „reines Erleben" mit „reinem Empfinden" gleichzusetzen. 13*
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seinem System unannehmbare Wunder der Wechselwirkung wiederherzustellen. Spätere, streng parallelistische Lösungen des psydiophysischen Problems reichen ebensowenig aus und zwar an erster Stelle deshalb nicht, weil sie als Interpretation der Lebenswelt evident unzureichend sind. Ein materialistischer oder spiritualistisdier Monismus leidet an dem gleichen Übel. Der behavioristische Monismus ζ. B. führt zu einer absurden Interpretation des Verhaltens und der Leiblichkeit. Er gibt keine Lösung für den Dualismus, weil er selbst dem Dualismus untersteht. Der Begriff der Stoffliciikeit und Leiblichkeit, den er anwendet, ist ja derselbe wie der von Descartes. Den Begriff des Geistes dann einfach wegzulassen, kann man keine Lösung nennen. In der Phänomenologie wird versucht, die Probleme auf die ursprüngliche Form, in der sie innerhalb der Lebenswelt auftauchen, zurückzuführen. Das muß u. a. eine Relativierung des psydiophysischen Problems zur Folge haben, die zu der Behauptung führt, daß hier nicht die Rede von einer Seinsproblematik ist, sondern von einer Erkenntnisproblematik. „Physisch" und „psychisch" sind Formen, in denen sich dasselbe Gegebene darbietet in den komplementären Fragestellungen nach den raum-zeitlichen und den intentionalen Relationen. Diese Fragestellung läßt sie auseinandertreten. Es sind die Fragestellungen, die nicht aufeinander zurückgeführt werden können. Sie kreuzen einander dort, wo dem Gegebenen die Frage gestellt wird. 11. MEINE W E L T UND UNSERE W E L T In der Rückfrage nach der Lebenswelt finden Erlebnis und Erscheinung ihre Identität im Gegebenen wieder, das auf den Leib hingeordnet ist, auf den „Ursprung" der Koordinaten der erlebten Wirklichkeit. Mein Leib ist der Ursprung eines Feldes, nicht der Lebenswelt in ihrer Ganzheit. Es ist eine vorzeitige Abstraktion, von einer Beschreibimg der eigenen Leiblichkeit aus nach einer Theorie durchzustoßen, die die eigene Leiblichkeit mit der Leiblichkeit identifiziert. In der Lebenswelt finde ich mich selbst als einen vieler Idb-Leiber innerhalb der gemeinsamen Welt. In der Lebenswelt ist eine Zuordnung der Dinge auf alle möglich oder wirklich anwesenden Ich-Leiber, wie ebensoviele Ursprünge, gegeben. Eine Zuordnung derselben Dinge auf verschiedene Leiber. Wer das übersieht, verstrickt sich bald bei weiteren Fragen in einer solipsistischen Problematik, der James zu entkommen wußte. Was ist dein Leib anderes als eine Wahrnehmung in meinem Erlebnisfeld? James stellt sich diese Frage, um sie sofort, auf Grund derselben Erlebniswirklichkeit, auf die richtigen Proportionen zurückzubringen. „In dem Wahrnehmungsteil meines Universums, den ich deinen Leib nenne, begegnen sich dein und mein Geist, und sie haben dieselben Grenzen. Dein Geist bewegt den Leib, und der meine sieht das. Meine Erlebnisse finden
Meine Welt und unsere Welt
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in dem Leib ihre harmonische, kognitive Erfüllung. Deine Emotionen und Willenstaten fließen hinein, wie Ursachen in ihre Folgen. „Aber der wahrgenommene (Leib) hängt mit all unseren anderen Stofflichkeiten zusammen. Sie sind vom selben Grundstoff, und wenn der Leib unser gemeinsamer Besitz ist, dann muß das auch für die anderen Dinge gelten. Deine Hand ζ. B. faßt das eine Ende eines Seiles, und meine Hand faßt das andere Ende. Wir ziehen daran. Können unsere Hände wechselseitige Objekte sein in diesem Erlebnis, ohne daß das Seil audi wechselseitig ist? Was für das Seil gilt, gilt für jedes andere wahrgenommene Ding. Deine Objekte sind immer und immer aufs neue dieselben wie die meinen . . . Praktisch geredet begegnen sich dein und mein Geist in einer Welt von Dingen, die sie gemeinschaftlich haben, die noch da wäre, wenn ein oder mehrere Geister vernichtet würden"54. Dein Leib, den du bewegst und von innen her fühlst, muß an derselben Stelle sein wie dein Leib, den ich sehe oder von außen her berühre. „Dort" bedeutet für mich, worauf ich meinen Finger halte. Wenn du die Berührung meines Fingers, so ich ihn auf deinen Leib lege, nicht „dort" fühlst in meinem Sinne, wo fühlst du ihn dann? Deine innere Leibbeseelung begegnet meinem Finger dort; dort ist es, wo du seinem Druck widerstehst oder zurückfährst oder den Finger mit deiner Hand entfernst®5. Nicht daß James hiermit die Gemeinsamkeit, die Intersubjektivität der Dinge und der Welt beweist — obschon er es so meint. Er weist auf sie hin, er zeigt die Vorgegebenheit der gemeinschaftlichen Lebenswelt, von der jeder vermeintliche Beweis ausgehen muß. Er geht von der Gegebenheit des alter ego aus, wie wir bereits im II. Kapitel § 1 ausführten. Nochmals, weicht sein Standpunkt dem Sinne nach so sehr weit ab von den Gedanken, die Merleau-Ponty in Worte faßt? „Le monde phenom6nologique, c'est, non pas de l'etre pur, mais le sens qui transparait a l'intersection de mes βχρέπβηοββ et ä l'intersection de mes exp6riences et de Celles d'autrui, par l'engrenage des unes sur les autres, il est done ins6parable de la subjectivite et de l'intersubjectivite qui font leur unit6 par la reprise de mes experiences passees dans mes experiences presentes, de l'experience d'autrui dans la mienne"56. Aber die Lebenswelt, das ist die auf den Leib, auf unsere Leiber, auf Ich-Leiber zugeordnete Wirklichkeit. Nennt man diese Welt die der Urdoxa, die fundamentale Wirklichkeitsordnung, dann hat man auch gesagt, daß die Lehre des Erlebens auf eine Lehre des Leibes, auf eine Verhaltenslehre hinausläuft. 64 55 56
A world of pure experience, Essays, S. 78 ff. A world of pure experience, Essays, S. 84 f. Merleau-Ponty, Ph0nomenologie, Avant-propos, S. XV.
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Erleben und Verhalten 12. E R L E B E N U N D V E R H A L T E N
James vereinigt, wie die Phänomenologie, einen extremen Subjektivismus mit einem extremen Objektivismus 57 . Berkeleys Aussage esse est percipi, über die wir im III. Kapitel § 9 sprachen, schon in den Principles implizit von James vertreten 58 , wird später explizit von ihm bestätigt. Esse ist sentiri hieß es allererst für die Bewußtseinszustände 59 ; sie sind, insofern sie gefühlt werden und sind, was gefühlt wird. Es gilt auch f ü r die Erfahrung der Tätigkeit. „The percipi in these originals of experience is the esse"90. Und schließlich gilt es von den Dingen. Das Physische hat keinen anderen Inhalt als das Psychische. Subjekt und Objekt fließen ineinander. Berkeley war es, der das zuerst bemerkte: „Esse est percipi. Unsere Empfindungen sind keine kleinen inneren Duplikate der Dinge, sie sind die Dinge selbst, insofern sie uns gegenwärtig sind" 61 . Dennoch kann bei James nicht die Rede von einer idealistischen Position sein. Ein begriffsmäßiges System, eine Theorie, muß, um f ü r wahr gehalten zu werden, wenigstens die Realität der sinnlichen Dinge annehmen, indem sie als Einwirkungen auf uns erklärt werden [II, 312]. D. h.: eine Theorie kann nicht umhin, die Wirklichkeit der Lebenswelt zur Grundlage zu nehmen, Wirklichkeit, wie sie primär erlebt wird. Die Wirklichkeit ist zugänglich f ü r wissenschaftliche Untersuchungen, f ü r ein systematisches Fragen nach und Aufspüren von Relationen, die selbst im unmittelbaren Erleben nicht gegeben sind. Die erlebte Wirklichkeit läßt sich als ein geordnetes, raum-zeitliches Ganzes raum-zeitlicher Prozesse verstehen, das formulierbaren Gesetzmäßigkeiten unterworfen ist. Diese Betrachtungsweise öffnet, durch die Reduktion des unmittelbar Erlebten auf raum-zeitliche Strukturen, einen neuen Blickpunkt, der zu einer Erkenntnis führt, die komplementär ist hinsichtlich der Erkenntnis, die die Analyse des unmittelbaren Erlebens übermittelt. Diese „Naturerkenntnis" ist nicht weniger gültig, aber auch nicht mehr gültig als die phäno67
Merleau-Ponty, Fhinomenologie, Avant-propos, S. XV. Vgl. z.B. II, 290 Anm.: „,The candle exists' is equivalent to ,The candle is over there'. And the ,over there' means real space, space related to other reals. The proposition amounts to saying: ,The candle is in the same space with other reals'. It affirms of the candle a very concrete predicate — namely, this relation to other particular concrete things. Their real existence, as we shall later see, resolves itself into their peculiar relation to ourselves. Existence is thus no substantive quality when we predicate it of any object; it is a relation, ultimately terminating in ourselves, and at the moment when it terminates, becoming a practical relation." 69 W. James, How two minds can know one thing; Essays, S. 127. 60 The experience of activity; Essays, S. 168. 61 La notion de conscience; Essays, S. 212. 58
Erleben und Verhalten
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menologisdie. Die Inhalte der beiden Erkenntnisreihen sind freilich nicht ohne weiteres aufeinander abzubilden. Sie konvergieren zur Erlebniswelt. Sie haben innerhalb ihres eigenen Rahmens ihre eigene Gültigkeit. Und so sehen wir James unumwunden die Gültigkeit naturwissenschaftlicher Erkenntnis neben der deskriptiven annehmen. Ja, er zögert nicht, Freiheit und Determination von Verhalten und Erleben gleichzeitig zu bejahen. Er stellt sich auf den Standpunkt, daß ich, wann immer ich mein Tun erfahre, auch wirklich etwas tue. Er stellt sich auch auf den Standpunkt, daß die Einwirkimg des „Psychischen" auf das „Physische" aus denselben Gründen unmöglich ist, wie sie von Heimholte schon angedeutet wurden®3. Wenn Subjektivismus und Objektivismus einander so implizieren, verdienen sie diesen Namen nicht mehr. Sie bedeuten bei James nicht mehr metaphysische Interpretationen dessen, was die Wirklichkeit letztlich ist; es sind Namen für verschiedene Erkenntniskontexte hinsichtlich derselben Dinge. In der Lebenswelt bestehen die Kontexte noch ungetrennt. Dort fallen Intentionalität und kausaler Zusammenhang zusammen. Dort scheint Erleben auch im Verhalten fundiert zu sein. Und deshalb müssen beide, deskriptive und erklärende Psychologie, in ihren divergierenden Kontexten, Verhalten und Leib zum zentralen Thema ihrer Untersuchung machen.
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H. von Heimholte, Uber das Ziel und die Fortschritte der Naturwissenschaft Vortrage und Reden, Bd. I, Braunschweig. 1884, S. 352: „Ist aber das Gesetz von der Erhaltung der Kraft auch für die lebenden Wesen giltig, so folgt daraus, daß die physikalischen und chemischen Kräfte der zum Aufbau ihres Körpers verwendeten Stoffe ohne Unterbrechung und ohne Willkür fortdauernd thätig sind, und daß ihre strenge Gesetzlichkeit in keinem Augenblicke durchbrochen wird. Die Physiologie mußte sidi also entschließen, mit einer unbedingten Gesetzlichkeit der Naturkräfte auch in der Erforschung der Lebensvorgänge zu rechnen."
IX. LEIB, VERHALTEN UND REFLEXION 1. D I E SPONTANEITÄT D E S VERHALTENS D a ß wir handeln, schaffen, beschäftigt sind u n d dabei die Dinge wirklich beeinflussen und verändern, ist eine unwiderlegbare Evidenz. Wir sind die Ursache zahlloser Geschehnisse; wir erfahren es so und dürfen daher sagen, daß es so ist 1 . „Ungeachtet welche Tätigkeiten es in dieser merkwürdigen Welt tatsächlich geben mag, es ist uns unmöglich, irgendeine Tätigkeit, die erlebt oder authentisch erkannt wird, anders zu verstehen als in der dramatischen Form von etwas, das mit Absicht Widerständen gegenüber ausharrt und siegt oder besiegt wird. Was ,ausharren' hier bedeutet, ist für jeden deutlich, der es erlebt h a t . . . Wenn sich hierhinter etwas anderes verbirgt, darf es nicht Tätigkeit genannt werden" 2 . Mit diesen Worten unterstreicht James nochmals die Rechtmäßigkeit einer Betrachtungsweise, die das Verhalten ernst nimmt, es als eine wirkliche Tätigkeit einer Person auffaßt. Man kann es auch als Epiphänomen „wirklicher", physischer Vorgänge betrachten, die sich unabhängig vom Erlebnis doch auch vollziehen. Aber diese „wirklichen" Vorgänge werden erst auf dem Boden des Verhaltens konstruiert und müssen daher anders genannt werden. Sie setzen das Verhalten voraus. Das besagt freilich nicht, d a ß das Erlebnis immer und ohne Ausnahme als Maßstab f ü r die Echtheit des erlebten Verhaltens gelten kann. In der Art u n d Weise, wie wir über unser Verhalten reden, können ja sehr wohl unrichtige Substantivierungen auftreten, so daß wir vom Willen, von der Emotion als möglicher Ursache des Verhaltens zu reden beginnen. Dann ist eine nähere Untersuchung angebracht. Vieles, was wir tun, und die Weise, wie wir es tun, bleibt ja dem eigenen direkten Erleben verborgen. Der Leib verfügt bereits über bestimmte Möglichkeiten, die in der Selbsterfahrung nie als solche bewußt werden. Es hat keinen Sinn, zu sagen, daß wir, wenn wir auszurutschen drohen, unser Gleichgewicht wiederherstellen, weil wir das „wollen"; es geschieht ja von selbst. Oder wir müssen dieses „Wollen" ein wenig anders umschreiben als es durchweg geschieht. Nur die Grundgegebenheit, d a ß unsere Tätigkeit wirklich eigene Tätigkeit ist, m u ß ohne weiteres hingenommen werden. Zu bestimmen bleibt dann, was „eigen" hier bedeutet. So wird das Grundthema dieses Kapitels im Verhältnis von Verhalten, Leib und Erleben des Verhaltens liegen. 1 2
The experience of activity; A pluralistic universe, S. 392. Essays, S. 185. The experience of activity; A pluralistic universe, S. 377 f. Essays, S. 167 f.
Gewohnheit. Die Plastizität des Nervensystems
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Die Selbsterfahrung lehrt, daß unser Tun ein spontanes Handeln ist, seinen Ursprung in uns selbst findet und keine zwanghaft hervorgelodcte Reaktion ist. Aber was bedeutet das? Auf jeden Fall, daß der Leib spontanes Verhalten möglich machen muß. 2. G E W O H N H E I T . D I E PLASTIZITÄT D E S N E R V E N S Y S T E M S James' Theorie der Gewohnheit mutet uns heutzutage primitiv an. Das ist kein Wunder; die Untersuchung der Gewohnheitsbildung nahm ja erst nach seinem Auftreten einen so gewaltigen Aufschwung. Wir werden deshalb die Details außerhalb der Betrachtung lassen und uns auf einige Grundgedanken beschränken, die von besonderer Bedeutung sind. Sie betreffen die Möglichkeit und die Funktion der Gewohnheit, die, wie James bemerkt, einen so großen Teil des Lebens beherrscht [I, 104ff.]. Die Möglichkeit zum Erwerb von Gewohnheiten muß aus der Plastizität des organischen Materials, des Leibes, verstanden werden, und zwar insbesondere aus der Plastizität des Teiles, der das Verhalten steuert: des Nervensystems. Kaufe ein Kleidungsstückl Noch sitzt es ungewohnt. Man trage es einige Zeit und es paßt sich der Körperform an. Die Dinge passen sich ihrem Gebrauch oder ihrer Umgebung an. So ist es mit allem. Schuhe muß man einlaufen, ein Auto muß man einfahren. Zu einem bestimmten Augenblick kann man sagen, daß die Materie eine Gewohnheit entwickelt hat. Ein Instrument, das einige Zeit in Gebrauch ist, richtet sich nach der Hand des Schaffenden und ist dann oft besser hantierbar als ein neues Instrument. Die besten Geigen sind nicht nur jene Geigen, die von großen Geigenbauern angefertigt wurden, sondern diejenigen, die von großen Violinspielem gespielt wurden, die demnach als Geige gute Gewohnheiten aus einer guten Erziehung übrigbehalten haben. Gewohnheit in diesem weiten Sinne setzt eine strukturierte Materie voraus, die Plastizität besitzt. Ein solcher Körper wird seine Integrität behalten, wenn starke Kräfte auf ihn ausgeübt werden. Er ist hierzu imstande, weil er diesen Kräften teilweise nachgibt, seine Form verändert und sich nur allmählich ändert, weil er selbst eine Gegenkraft ausübt. Plastizität bedeutet somit den Besitz einer Struktur, die schwach genug ist, sich Formveränderungen zu unterziehen, aber auch wiederum stark genug ist, nicht auf einmal nachzugeben. Jeder relativ stabile Gleichgewichtszustand in einer solchen allmählich umwandelbaren Struktur ist gekennzeichnet durch das, was wir eine neue Serie von Gewohnheiten nennen können. Organische Materie, vor allem das Nervengewebe, scheint eine außerordentliche Plastizität zu besitzen, was ihre innere Struktur betrifft. Und so dürfen wir unbedenklich sagen, daß die Gewohnheitserscheinungen bei
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Leib, Verhalten und Reflexion
Lebewesen eine Folge der Plastizität der organischen Materie sind [I, 105]. Das gilt für den ganzen Körper, insbesondere aber wohl für das Gehirn. Welche Kräfte sind es nun, die auf die Plastizität des Gehirns einwirken? Es sind vornehmlich die Aktionsströme, die es aus sensorischen Organen erreichen und die wieder einen Weg zur Peripherie hin suchen. Sie hinterlassen dabei Spuren in den Bahnen, die sie nehmen. Die Aktionsströme vermögen nichts anderes, als alte Bahnen tiefer auszuschleifen oder neue hervorzubringen. Zusammengefaßt: die Plastizität des Gehirns äußert sich darin, daß einmal entstandene, gut leitende Bahnen nicht leicht verschwinden [I, 107], Nennen wir eine solche Bahn ein Organ und den Aktionsstrom, der sie ausschleift oder formt, die Funktion, dann kann man mit der berühmten französischen Formel sagen: „la fonction fait l'organe" [I, 109]. Tatsächlich, sagt James, eine kurze Zusammenfassung der Lehre der Gewohnheiten liegt in der Aussage, daß sich unser Nervensystem nach der Art und Weise richtet, wie es gebraucht wird [1,112]. Der Mensch wird mit dem Bestreben geboren, mehr Dinge zu verrichten, als die, wofür er bei seiner Geburt fertige Einrichtungen hat [I, 113]. E r ist ein lernbegieriges Wesen. Er kann viele Gewohnheiten bilden, weil und insofern er über ein äußerst plastisches Nervensystem verfügt. 3. GEWOHNHEIT. DIE AUTONOMIE DES L E I B E S Die Plastizität des Nervensystems macht es möglich, daß neue, nicht angeborene Automatismen entstehen. Gewohnheitsbildung hat dann eine zweifache Wirkung, die uns die Funktion der Gewohnheit verdeutlicht. 1. Die Gewohnheit vereinfacht die Bewegungen, die nötig sind, um ein bestimmtes Ergebnis zu erzielen, sie macht die Bewegungen exakter und verringert die Ermüdung [I, 112]. Der Anfänger im Klavierspielen bewegt nicht nur seine Finger auf und nieder, sondern bewegt seine ganze Hand, den Unterarm und sogar seinen ganzen Körper. Erlernt freilich seine Reaktionen auf einige, bestimmte Organe einzuschränken. Lernen ist Organisieren durch Verfügen, sagte Buytendijk3. Das Verfügen findet seinen Ausdruck in der Gewohnheit. 2. Die Gewohnheit verringert die bewußte Aufmerksamkeit, mit der unsere Handlungen ausgeführt werden [I, 114]. Gewohnheitsbildung mündet in die Unbedachtheit des alltäglichen Handelns. Von den Dingen, die wir den ganzen Tag hindurch gewohnheitsmäßig tun, wissen wir nicht, wie wir sie tun und oft nicht einmal, daß wir sie tun. Nur wenige Menschen können auf Anhieb sagen, welchen Strumpf, Schuh oder welches Hosenbein sie zu3 F. J. J. Buytendijk, Allgemeine Theorie der menschlichen Haltung und Be· wegung; Berlin, 1956, S.278.
Gewohnheit. Die Autonomie des Leibes
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erst anziehen. Sie müssen sich den Verlauf dieser Gewohnheitshandlung dann zunächst vor Augen führen, und selbst das ist oft unzureichend — die Handlung muß ausgeführt werden. Und so können wir auch auf die Fragen, welche Hälfte der Doppeltür zuerst aufgeht oder nach welcher Seite sich eine Tür öffnet, nicht sofort Antwort geben; aber unsere Hand irrt sich nie [I, 115]. Niemand kann die Reihenfolge beschreiben, in der er täglich wiederkehrende, gekoppelte Gewohnheitshandlungen ausführt. Sogar wenn ich eine gewohnheitsmäßige Tätigkeit in ihrem Ablauf beschreiben will und das an Hand der Ausführung selbst vornehme und mich bei diesem Vorgang darauf einstelle, zu bemerken, was ich nun eigentlich tue, so ist der Gewohnheitscharakter der Handlung ein starkes Motiv dafür, um von Augenblick zu Augenblick zu vergessen, daß ich aufpassen wollte. Die Gewohnheitsbildung ist das Mittel, durch das der Leib nicht nur ein umgängliches und handliches Instrument wird, sondern durch das wir auch der Verpflichtimg entbunden werden, alles mit Aufmerksamkeit zu verrichten. Der Leib kennt ja die Schemata, nach denen wir handeln. „Ich habe es nicht nötig", sagt Merleau-Ponty, „mir ein Wort vorzustellen, um es zu wissen und um es auszusprechen. Es genügt, daß ich es zur Verfügimg habe als eine der Modulationen, eine der möglichen Arten, wie ich meinen Leib gebrauchen kann4." Selbst wenn ich eine Fremdsprache lese, brauche ich mir nicht Wort für Wort deren Klang und deren Aussprache vorzustellen; das tue ich nur, solange ich die Sprache erlerne. Das Kind, das lesen lernt, sehen wir noch beschäftigt mit dem Erwerb von Grundformen, die bald, wenn sie eingeschliffen sind, überhaupt keine Aufmerksamkeit mehr vom Sprecher verlangen. Ganze Satzperioden, ganze Gedankenentwiddungen haben wir zu unserer Verfügung in der Form von Verhaltensmodellen, die gebrauchsfertig bereitliegen. Dem geübten Politiker kostet es gar keine Mühe, eine improvisierte politische Rede zu halten, denn „Improvisieren" bedeutet nicht: etwas Neues ausdenken, sondern: das zum Gebrauch Bereitliegende in einen etwas anderen Zusammenhang bringen. Finde den „führenden Gesichtspunkt", und die „begeisterte Rede" stellt sich von selbst einl Weiß er hinterher noch, was er gesagt hat? Nein, aber wenn ich ihn danach frage, reproduziert die Gewohnheit wohl etwa die gleiche Geschichte. Oft können wir uns tatsächlich nicht mehr daran erinnern, ob wir etwas, das wir der Gewohnheit übergeben haben, ausgeführt haben oder nicht. Wir wissen ζ. B. nicht mehr, ob wir vor dem Schlafengehen das Gas abgedreht haben, das Licht ausgeknipst haben — und, einmal im Bett, versuchen wir vergeblich, uns zu vergegenwärtigen, ob wir es taten. Wer dann sagt: ich werde es wohl getan haben, vertraut der Gewohnheit, vertraut dem Leib, der das Wie und Was kennt. 4
Merleau-Ponty, Phenomenologie,
S. 210.
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Leib, Verhalten und Reflexion
Bei dieser Art von Handlungen findet kein „Wollen" seine Verwendung. Es geht von selbst, d. h. der Leib arbeitet mit einer Autonomie, die kaum irgendeine Reflexion erfordert. Wer wirklidi den Versuch unternimmt, willkürliche Bewegungen in diesem Sinne zu machen, daß er von Phase zu Phase voraussieht, was möglich ist, was er möchte und dann die Ausführung genehmigt, macht keine fließende Bewegung, sondern eine Reihe von stoßartigen, nicht angepaßten, nicht ineinander überfließenden, ruckartigen Bewegungen. Die Rolle der Reflexion, des Wissens und Wollens, ist in unserem Verhalten viel geringer, als wir gewöhnlich annehmen. Gewöhnlich! Wir sind es gewohnt, es ist eine Gewohnheit, über unser Handeln zu reden, als ob es andauernd aus Wissen und Wollen hervorgeht, als ob wir nachdenken, bevor wir etwas tun, als ob dasjenige, was wir dann tun, aus diesem Nachdenken folgt und deshalb der Situation angepaßt wäre. In Wirklichkeit zeigt sich in unserem Tun, daß der Leib im Hinblick auf die Reflexion eine weitgehende Autonomie besitzt. 4. KETTENREAKTIONEN. DIE AUTOMATENTHEORIE James' Betrachtungen über die Gewohnheit führen ihn ganz allmählich in eine Richtung, die ihm, wie wir sehen werden, selbst nicht gefällt. Wenn für die Ausführung einer komplizierten Handlung eine Kette aufeinanderfolgender Nervenprozesse A, B, C, D, Ε usw. nötig ist, dann besteht Gewohnheitsbildung darin, daß jedes Element automatisch das folgende Glied einschaltet [I, 114]. Oder auch, die Empfindung, durch den ersten Teil der Handlung verursacht, ist Anlaß für das Einsetzen des zweiten Teiles der Handlung. Die Gewohnheitshandlung verläuft wie eine automatische Kettenreaktion.
s
Fig. 3: Talks to teachers S.41 In dem Kapitel über die Gehirnfunktion läßt James sehen, wie er sich die Entstehung solcher erworbener Kettenreaktionen auf physiologischer
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Kettenreaktionen. Die Automatentheorie
Ebene vorstellt [I, 24ff.]. Das läuft auf eine Theorie der bedingten Reaktion hinaus. An anderer Stelle spricht er sich hierüber deutlicher aus: „Jede erworbene Reaktion ist als Regel entweder eine Komplikation, aufgepfropft auf eine angeborene Reaktion oder ein Substitut für die angeborene Reaktion, die ein und dasselbe Objekt ursprünglich hervorlockte5." Betrachten wir den zweiten Fall. Ein Kind, dem man ein neues Spielzeug zeigt, greift danach. Es bekommt einen Schlag auf die Hand und fängt an zu weinen. Man sagt: „Schön darum bittenl", und es bittet. Es bekommt sein Spielzeug und lacht. Fig. 3 verdeutlicht, wie James das als vier aufeinanderfolgende, einfädle Reaktionen darstellt®. Sie können freilich auf eine neue Weise geordnet werden, wie Fig. 4 zeigt. Das Kind hat jetzt etwas gelernt. Bitten und Lachen sind Substitute für die ursprüngliche Reaktion: Greifen. Die übrigen partiellen Reaktionen fallen aus. Das Ganze beruht auf einer Organisation von Prozessen und Verkettungen im Gehirn. Die motorischen Kettenreaktionen, bei denen das eine Glied einer Handlung, ohne Eingreifen von Wollen oder Wissen, das folgende Glied einschaltet, beruhen auf derselben organisierenden Kapazität des Gehirns oder, wie wir James früher sagen hörten, auf der Plastizität des Gehirns.
lachen
Fig. 4: Talks to teachers S. 42 Aber wenn wir sagen, daß das Rückenmark eine Maschine mit einigen Reflexen ist, warum sollten wir dann nicht sagen, daß das Gehirn auch so eine Maschine mit vielen Reflexen ist, und daß das der einzige Unterschied ist [I, 129]? Führt die Theorie der Gewohnheit über die Lehre der bedingten Reaktion nicht zu einer Automatentheorie, die von der gleichen Einseitigkeit ist wie der Behaviorismus? Ist also doch nicht die Wirklichkeit, 5 8
Talks to teachers, S. 38. Talks to teachers, S. 39 ff.
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Leib, Verhalten und Reflexion
die sich hinter dem Verhalten verbirgt, die Tätigkeit des Gehirns? Gehen wir von der Voraussetzung aus, daß wir uns auf Tatsachen ein und derselben Ebene beschränken, der leiblichen Ebene. Können nicht alle äußerlich wahrnehmbaren Erscheinungen intelligenten Verhaltens auf dieser Ebene ausreichend beschrieben werden [I, 128]? Diese Frage des Behaviorismus hatte James sich schon vorgelegt. In gewissem Sinne, sagt er, kann ich dieser Schlußfolgerung nicht ausweichen. Ich ging ja davon aus, daß zwischen Vorgängen im Bewußtsein und Vorgängen im Gehirn immer ein Parallelismus besteht. Folglich muß es jedenfalls prinzipiell möglich sein, die Bewußtseinserscheinungen wie Gehirnerscheinungen zu beschreiben. Wir müssen doch wohl annehmen, daß die Kompliziertheit der Gehirnmaschinerie von derselben Ordnung sein muß wie die Kompliziertheit des Bewußtseins. Aber wenn wir das annehmen, warum sollten wir dann nicht radikal sein? Die Hemisphären sind Maschinen. Was ist dann die Funktion des Bewußtseins? Mechanisch keine einzige [I, 128f.]. Es ist Descartes' Verdienst, der erste mit genügend Wagemut gewesen zu sein, der ein vollkommen autonomes Nervensystem annahm, das imstande ist, komplizierte und scheinbar intelligente Handlungen auszuführen. Aber mit einer völlig willkürlichen Selbsteinschränkung wandte er diesen Gedanken nur auf das Tier an, nicht auf den Menschen. Müssen wir diese Einschränkung nicht beseitigen? Müssen wir nicht mit Hodgson sagen, daß kein einziges Erlebnis irgendwelche kausale Wirksamkeit besitzen kann? Sind Erlebnisse nicht mit den Farben eines Mosaiks zu vergleichen? Die Steinchen selbst geben sich gegenseitig Halt und werden nicht von den Farben gehalten [I, 130]. Wir wollen dann nicht davor zurückschrecken, diese Gedanken auf rein „menschliche" Leistungen anzuwenden, ζ. B. auf das Schreiben des „Hamlet". Natürlich muß es möglich sein, die Komposition eines Stückes wie „Hamlet" in den Ausdrücken des Gehirns von Shakespeare zu beschreiben. Auf die gleiche Art könnten wir eine vollständige Biographie über die zweihundert Pfund warmer Eiweiße, Martin Luther genannt, schreiben, ohne zu berücksichtigen, daß er etwas Innerliches erlebte. Aber hat das viel Sinn? Verhält es sich nicht so, daß in dem Blick, den unsere alltägliche Selbstinterpretation auf die Entstehung eines Kunstwerkes als persönlicher Schöpfung richtet, ein unersetzlicher Gesichtspunkt für den Psychologen liegt [I, 132f.]? An anderer Stelle hat James es noch einmal ausdrücklich und packend gesagt: „Ein Streichquartett Beethovens ist tatsächlich, wie jemand sagte, das Gekratze von Pferdeschwänzen auf Katzendärmen und kann in solchen Ausdrücken erschöpfend beschrieben werden; aber die Anwendung dieser
Homöostase: Der Organismus wahrt Normen
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Beschreibung schließt keineswegs die gleichzeitige Anwendbarkeit einer völlig andersartigen Beschreibung aus7." Die Psychologie muß ebenso wie die Physik eine gewisse Naivität wahren. Wenn sie merkt, daß in ihrem Untersuchungsfeld Vorstellungen ursächlich zu wirken scheinen, dann tut sie gut daran, auch so darüber zu sprechen. Sie gewinnt nichts dabei, hierin mit dem common sense zu brechen und sie verliert, wenn sie es tut, auf jeden Fall alle Natürlichkeit der Sprache [I, 137]. Und so muß man wohl zu der Schlußfolgerung kommen, daß die Automatentheorie, die dem Psychologen aufgedrängt wird, im gegenwärtigen Stand der Psychologie unverantwortlich und unangebracht ist [1,138]. Als James das schreibt, hat er das Prinzip der Komplementarität noch nicht entdeckt. Deshalb kommen ihm seine eigenen Schlußfolgerungen unannehmbar vor. Die ganzen Principles hindurch bringt er die Erörterung ja selbst immer wieder auf die Ebene der Gehirnprozesse zurück, d. h. auf die Ebene, wo die Automatentheorie ihren unwiderleglichen Nutzen hat! Nur wenn wir das Komplementaritätsprinzip annehmen, können wir darüber einig werden, daß die Automatentheorie und die deskriptive Erlebnislehre einander erfüllende Betrachtungsweisen ein und derselben Wirklichkeit sind. 5. HOMÖOSTASE: DER ORGANISMUS WAHRT NORMEN Die etwas allzu schnelle Gleichsetzung der Grundlagen der Gewohnheiten mit fundamentalen Eigenschaften aller Materie, wie sie von James vollzogen wird, hemmt die Entwicklung seiner eigenen These. Diese müßte ja lauten: Das Verhalten, so wie es in Eigenschaften des Leibes fundiert ist, zeigt schon vor aller Reflexion Zielgerichtetheit. Das Verhalten wählt dort Umwege, wo der kürzeste Weg nicht begehbar ist. Es zeigt also eine Variabilität der Mittel, um ein und dasselbe Ziel zu erreichen. Es zeigt Anpassimg an Umstände und an Situationen wechselnden Charakters. Es verrät Verfügungsgewalt über den Leib. So sahen wir, daß James schon im II. Kapitel die Gründe angab, die uns dazu führten, von einem Psychismus zu sprechen. Daß dieser „Psychismus" wenigstens zum großen Teil Leiblichkeit ist und kein „Geist", ist eine auf der Hand liegende Schlußfolgerung. Die Gewohnheit ist eine Anpassung an immer wiederkehrende Aufgaben und führt zu einer anhaltenden Verfügbarkeit. Gerade die Gewohnheit spricht für das „psychische" Gepräge des Leibes. Aber James hat auch behauptet, daß die Naturgesetze nichts anderes sind als die unveränderlichen Gewohnheiten, die die elementaren Teile der Materie bei ihrer wechselseitigen Aktion und Reaktion haben [I, 104], Dann reicht es nicht 7
Will to believe, S. 76.
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Leib, Verhalten und Reflexion
mehr aus, hinzuzufügen, daß die Gewohnheiten in der Welt des Organischen größere Variabilität besitzen. Denn sie sind im Wesentlichen mit den „Gewohnheiten" des anorganischen Stoffes gleichgesetzt. Aber wenn man die Kontinuität von Organismus und Natur wahren will, wird man wohl nicht daran vorbei kommen, diese Kontinuität vom Organismus her zu definieren und nicht umgekehrt. Will man von den Eigenschaften des Stoffes aus beginnen, dann konstatiert man einen Bruch, keine Kontinuität. Die „Gewohnheiten" des anorganischen Stoffes sind ja keine Gewohnheiten in demselben Sinne, in dem wir bei Organismen von Gewohnheiten reden. Im letzten Fall ist die Gewohnheit ja Ausdrude einer regulativen Anpassung, die im Organismus ihren Ursprung findet. Das kann man von den naturgesetzlichen „Gewohnheiten" nicht sagen. Man kann wohl sagen, daß eine interne regulative Anpassung im toten Stoff vorhanden ist, auf einer Nullebene. Dann ist die gewünschte Kontinuität aufrechterhalten: toter Stoff ist ein besonderer Fall lebenden Stoffes, weil seine Eigenschaften und Funktionen begrenzter sind als die des lebenden Stoffes — nicht umgekehrt. Die Verrichtungen des lebenden Stoffes und die Vorgänge in ihm, in einem Organismus, sind nicht völlig abhängig von den stofflichen Bedingungen in der Umgebung des Organismus. Das zeigt sich in allen jenen Verrichtungen, durch die Organismen, ihre eigenen Funktionen regulierend, eine Norm aufrechterhalten und so ihre relative Selbständigkeit hinsichtlich der stofflichen Umgebung zu erkennen geben. Hierdurch entsteht in einem gewissen Gegensatz zum äußeren Milieu, ein „milieu interne", das, mit eigenen, internen Kommunikations- und Reaktionssystemen versehen, durch eine Jordan-Kurve symbolisiert wird: ein Organismus differenziert als geschlossene Gestalt die Welt in zwei Bereiche, innen und außen8. Jeder Punkt der Kurve kann mit jedem anderen Punkt entlang einer Bahn, die ganz innerhalb der Kurve liegt, verbunden werden. Ein Organismus ist ein System mit relativer Autonomie. In einem berühmten Ausspruch hat Claude Bernard das folgendermaßen zusammengefaßt: Die Stabilität des innernen Milieus ist eine Bedingung für seine Unabhängigkeit vom äußeren Milieu®. Gut siebzig Jahre später führte Cannon hier den Begriff Homöostase ein10. 8 Vgl. James, I, 289: „One great splitting of the whole universe into two halves is made by each of us; and for each of us almost all of the interest attaches to one of the halves; but we all draw the line of division between them in a different place. When I say that we all call the two halves by the same names, and that those names are ,me' and ,not-me respectively, it will at once be seen what I mean". 8 CI. Bernard, Lefons sur les proprietis physiologiques; Vol. I, Paris, 1859, S. 9 f.: „Cette sorte d'independance que possfede l'organisme dans le milieu
Homöostase: Der Organismus wahrt Normen
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Homöostase ist die allgemeine Eigenschaft der Organismen, danach zu streben, Lebensbedingungen konstant zu halten. Der Organismus verfügt über Mechanismen, durch die er innere Normen aufrechterhält, wie konstante Körpertemperatur, konstanten Zuckergehalt des Blutes. Es ist deutlich, daß eine eigene Temperaturregulation, die ein inneres Temperaturniveau gewährleistet, das für die physiologischen Funktionen günstig ist, den Organismus gegen die Folgen äußerer Temperaturschwankungen schützt und ihn somit gleichzeitig befähigt, sich in verschieden temperierten Milieus aufzuhalten. Der Begriff Homöostase wurde ursprünglich nur auf die internen vegetativen Verrichtungen des Organismus angewandt. Das „Konstanthalten von Lebensbedingungen" beschränkt sich jedoch nicht auf dieses Niveau. Aufrechterhaltung von Nonnen findet auch im Verhalten im weiteren Sinne statt. Auch die Reflexe können als homöostatische Erscheinungen, als Mittel zür Aufrechterhaltung von Nonnen betrachtet werden. Auch sie treten auf durch eine interne Regulation vermittels eines Mechanismus, der angeboren ist und in der Struktur des Organismus festliegt. Dasselbe gilt für die Instinkte, die auf angeborener Grundlage beruhenden artspezifischen Verhaltensweisen, die eine ziemlich starke Invarianz zeigen. Instinkthandlungen verlaufen im Prinzip blind, automatisch. Sie machen das Tier fähig, ohne Überlegung oder Einsicht sein Leben zu behaupten, einfach „kraft seiner Natur"11. Dann hat es einen Sinn, von einer hierarchischen Ordnung homöostatischer Ebenen zu sprechen, wo jede höhere Ebene die tiefere voraussetzt. Instinkthandlungen ζ. B. setzen einen Organismus voraus, der die eigenen Stoffwechselprozesse reguliert und über motorische Reflexe verfügt. Die „Freiheit", die der Organismus dadurch im Hinblick auf das Milieu besitzt, schafft Spielraum für freie, spontane Verhaltensweisen. Dieses Verhalten erfordert selbst wieder eine Regulation. Es muß angepaßt sein, eine gewisse Norm wahren, will der Organismus in seiner relativen Autonomie standhalten können. Das tierische Verhalten zeigt dann auch angeborene Verhaltensstrukturen, die mit der Erhaltung und Fortpflanzung des Organismus zusammenhängen. exterieur vient de ce que, chez l'etre vivant, les tissus sont en realite soustraits aux influences exterieures directes et qu'ils sont proteges par un veritable milieu interieur . . . ; . . . l'independance du milieu exterieur et du milieu interne est teile, qu'on peut considerer ces etres comme vivant dans un milieu organique propre." 1 0 W . B. Cannon, The wisdom of the body; New York, 1932. 1 1 „Instinkt wird gewöhnlich als die Fähigkeit definiert, auf solche Weise zu handeln, daß bestimmte Zwecke verwirklicht werden, ohne Einsicht und ohne vorausgehende Übung in der Ausführung"; Principles, II, 383. 14 Linschoten
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Leib, Verhalten und Reflexion
Ein einziges Beispiel. Die Grabwespe Sphex flavipennis fängt instinktmäßig Heusdirecken, lahmt sie, so daß das unbewegliche Tier leben bleibt, steckt es in ein in die Erde gegrabenes Loch und legt ein Ei darauf. Somit hat die frisch ausschlüpfende Larve frische Nahrung zur Verfügung. Dieses ganze komplizierte Verhalten beruht nicht auf mütterlicher Besorgtheit, sondern auf einem Instinkt. Das Verhalten zeigt eine Zielgerichtetheit, die vor jeglicher Reflexion liegt und in Eigenschaften des Körpers, in homöostatischen Eigenschaften fundiert ist, die in den anorganischen Stoffen fehlen, d. h. auf der Nullebene fungieren. 6. REGULIERUNG AUF HÖHEREN EBENEN Bei der Aneignung von Gewohnheiten geht es um eine neue homöostatische Ebene. Die Gewohnheit liegt nicht als vorgegebene, angeborene Struktur im Organismus eingeschlossen, ist nicht artbestimmt, sondern ist eine individuelle Anpassung eines bestimmten Organismus an bestimmte Situationen, die zur Automatisierung von Bewegungen und Verhaltensweisen führt. Auch Gewohnheiten wahren Normen; aber die individuellen Normen individueller Organismen. Damit entsteht eine neue Freiheitsebene: die der Variabilität des Verhaltens innerhalb einer Art oder Gruppe. Die Tatsache, daß Gewohnheiten verschiedener artgleicher Organismen, Tiere oder Menschen, untereinander übereinstimmen können, darf uns nicht irreführen. Das geht hervor aus der Ubereinstimmung in Körperbau und -funktionen, in fundamentalen Tendenzen und in der sozialen Umgebung; Gewohnheiten folgen jedoch immer aus einer individuellen Anpassung. James wählte seine Beispiele vornehmlich aus dieser Gruppe. Das Fehlen einer deutlichen Unterscheidung zwischen den „Gewohnheiten" des anorganischen Stoffes und der selbststeuernden Organismen einerseits, zwischen verschiedenen homöostatischen Ebenen andererseits, hinderte ihn, seine Maschinentheorie des Nervensystems ausreichend zu differenzieren. Jede höhere homöostatische Ebene bedeutet eine höhere Ebene der „Freiheit", der Emanzipation des Organismus hinsichtlich der Gesetze der anorganischen Natur. Jede höhere Ebene bedeutet eine Bereicherung dessen, was James „Plastizität" nannte, eine Erweiterung der Anpassungsmöglichkeiten an stets variablere Situationen, eine größere Variabilität des Verhaltens. Erst dann, wenn das zu einer individuellen Variabilität wird, hat es einen Sinn, von Gewohnheit zu reden. Und sie überschreitet immer die Ebene der instinktmäßigen Verhaltensweisen. Wir machten oben mit der Grabwespe Sphex flavipennis Bekanntschaft. Der Forscher Fabre, der sich lange Jahre mit Insekten beschäftigte, machte mit Sphex folgenden Versuch. Zu dem früher beschriebenen Verhalten ge-
Regulierung auf höheren Ebenen
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hört, daß die Wespe, die eine Beute gemacht hat, diese zum gegrabenen Loch schleift. Bevor die Beute hierin abgelegt wird, inspiziert die Wespe zunächst noch das Loch. Während einer solchen Inspektion entfernte Fahre die gefangene Heuschrecke einige Zentimeter vom Rand des Loches. Die Wespe, die ihre Beute wiederentdeckt, schleppt sie wiederum heran und untersucht das Loch aufs neue. Fahre zieht die Heuschrecke wieder weg. Dasselbe Vorgehen wiederholt sich vierzigmal. Dann gab Fahre seine Versuche auf12. Der blinde Instinkt siegte über seine Geduld. Hier zeigt das Verhalten, bei aller Zielgerichtetheit, die darin liegt, eine derartig starre Phasenkoppelung, daß von einer automatischen Reaktionskette gesprochen werden muß. Die Erfüllung einer Phase lockt zwangsläufig den Einsatz einer folgenden Phase hervor. So stellte sich James auch den Verlauf von Gewohnheitshandlungen vor. Zu Unrecht. Versuche mit Ratten haben bewiesen, daß diese Tiere sehr wohl imstande sind, den Weg in einem Labyrinth finden zu lernen. Zunächst kennt das Tier den Weg noch nicht, dann lernt es ihn einigermaßen kennen, obgleich es sich wiederholt verläuft. Die Anzahl der Täuschungen wird geringer und schließlich kennt die Ratte den Weg. Sie hat eine motorische Gewohnheit entwickelt, die nutzlose Mühe erspart. Nach einer Theorie, ähnlich der von James, könnte man sich diese motorische Gewohnheit als eine Kettenreaktion vorstellen, eine Kette aufeinanderfolgender, jeweils durch die Empfindung des Voraufgehenden hervorgerufene Bewegungen. Aber MacFarlane hat überzeugend dargetan, daß eine Ratte, die den Weg durch ein mit einer flachen Wasserschicht gefülltes Labyrinth laufend gut gelernt hat, diesem Weg noch folgt, wenn sie im selben Labyrinth, aber jetzt höher mit Wasser gefüllt, unvorbereitet schwimmen muß13. Das letzte erfordert aber völlig andere Bewegungsformen als das erste. Die Anpassung des Tieres an die gegebene Situation, die Gewohnheitsbildung im Labyrinth, beschränkte sich nicht auf die Automatisierung einer Bewegungsform. Das Tier hat einen Weg in einem Raum, gelernt, den es erkannte. Im Hinblick auf diese Erkenntnis, die das Verhalten steuert, sind die homöostatischen Reaktionen der tieferen Ebene, die elementaren Verhaltensformen wie Reflexe und Instinktverhaltensweisen, selbst eine plastische Natur geworden. Das Tier macht von diesen Eigenschaften „Gebrauch", es „wählt" aus aus den Mitteln, die es zur Verfügung hat, für die Organisation eines Verhaltens höherer Ordnung. Es ist hierzu imstande, weil für dieses Tier offenbar die Homöostase auf tieferen Ebenen nicht nur J. A. Bierens de Haan, Die tierischen Instinkte; Leiden, 1940, S. 229. D. A. Macfarlane, The role of kinesthesis in maze learning; Univ. Calif. Publ. Psychol., 1930 (4). Vgl. Buytendijk, Wege zum Verständnis, S. 178 ff., und Trait0 de psychologie animale; Paris, 1952, S. 197 ff., für eine Kritik der Kettenreflextheorie der Verhaltensweisen. 12
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Leib, Verhalten und Reflexion
eine Stabilisierung von Verhaltensformen auf dieser E b e n e bedeutet, sondern es außerdem die stabilisierten Funktionen in einer höheren Ordnung zu organisieren versteht. E s organisiert das eigene Verhalten. D a s muß sich im Nervensystem widerspiegeln. Offenbar regulieren Zentren auf höheren nervösen Ebenen den Zusammenhang der Verrichtungen auf tieferen E b e nen. Wenn solche Regulationsformen, die eine Integration und Organisation einschließen, habituell werden, können sie offensichtlich eine übereinstimmende Verlaufsform erhalten wie tieferliegende Tätigkeiten. U n d so erscheint uns die Gewohnheit oft als ein Mechanismus von der gleichen Ordnung wie Reflexe und Instinkte, ohne es zu sein. D e n n eine Gewohnheit kann wieder verlernt werden. D i e Gewohnheit schafft freilich ihrerseits eine Ordnung, in der eine willkürliche Handlung, eine Handlung mit echten Absichten, möglich wird. Wir befindet uns noch immer im Bereich der Möglichkeiten des Leibes. Reflexion oder eine „ S e e l e " erwiesen sich als noch nicht nötig. Und darum ging es James: Verhalten beruht zum guten Teil auf der „Weisheit" des Leibes selbst. 7. W O L L E N D e r L e i b wird, so sagen wir, vom Willen gesteuert. Begierde, Wunsch und Wille sind Erlebniszustände, die jedermann kennt und die durch keine Definition deutlicher gemacht werden. Wir können uns wohl die F r a g e vorlegen, was der Wille „tut". Und dann will es uns scheinen, daß die einzige unmittelbare F o l g e von „Wollen" in Körperbewegungen hegt, die deshalb willkürliche Bewegungen heißen [II, 486]. Dennoch können wir nicht sagen, daß alle Bewegungen durch den Willen entstehen. D i e willkürlichen Bewegungen sind hinsichtlich der reflektorischen Bewegungen, der instinktiven und emotionalen Bewegung, sekundäre Funktionen, keine primären Funktionen des Organismus. James hält das für einen sehr wichtigen Punkt in der Theorie des Wollens: D e m Studium der Bewegung, die wir „Wollen" nennen, geht die unwillkürliche, spontane Bewegung auf Grund der vorgegebenen leiblichen Organisation voraus. Die willkürliche Bewegung ist mit anderen Worten eine Organisation auf höherer Ebene, die schon eine Organisation auf tieferer E b e n e voraussetzt. Eine echte willkürliche Bewegung setzt beispielsweise voraus, daß die handelnde Person voraussehen kann, was sie tun wird — und wie könnte sie das, wenn sie nicht schon wüßte, was sie kann? Aber dann muß sie letzteres durch die Erfahrungen gelernt haben, die sie mit ihrem eigenen L e i b machte [II, 487]. D i e willkürliche Bewegung setzt eine Vertrautheit mit dem eigenen L e i b voraus. Stellen wir uns vor, daß wir plötzlich erwachsen zu Bewußtsein kämen. Wie wüßte ich dann, was ich mit einem Arm anstellen könnte? Wie wüßte ich dann,
Wollen
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wie ich gleich welchen Körperteil handhaben muß? Willkürliche Bewegungen sind Organisationsformen auf dem Boden einer Organisation auf tieferer Ebene, die ich kenne. Das bedeutet, daß ein Vorrat von Vorstellungen mehrerer möglicher Bewegungen in unserem Gedächtnis vorhanden sein müssen, Vorstellungen, die auf Erfahrungen beruhen. So ist die Erfahrung der eigenen leiblichen Möglichkeiten die erste Bedingung für die Möglichkeit zu wollen [II, 488]. Untersuchungen beweisen die diesbezügliche Richtigkeit. Um eine Reihe willkürlicher Bewegungen mit Erfolg ausführen zu können, muß sie von führenden Empfindungen gelenkt werden [II, 490], deren Bedeutung bekannt sein muß14. Das bedeutet, daß, wenn wir eine Bewegung ausführen wollen, eine auf Erfahrung gebaute Vorstellung dieser Bewegung vorhanden sein muß [II, 492]. Aber nun schiebt sich ein interessantes Problem in den Vordergrund, wenn wir näher definieren wollen, worin das „Wollen" einer Bewegung besteht. Muß uns noch etwas anderes als diese Bewegungsvorstellung vorschweben, wenn wir eine Bewegung ausführen wollen? Ist, mit anderen Worten, das „Wollen" mehr als das Haben der Bewegungsvorstellung? Nein, sagt James, es braucht im Geist nichts anderes zu sein als die kinästhetische Vorstellung dessen, was die Handlung werden muß [II, 492 f.]. Ich empfange doch von der Peripherie her Empfindungen der Wirkungen desjenigen, was ich tue. Ich weiß, wo sich mein Arm ungefähr befindet, und das Ungefähr ist präzise genug, um darauf wieder reagieren zu können. Aber etwas von einem Fiat, „so sei es", ist bei einer Bewegungsaüsführung nicht nötig. Eine willkürliche Bewegung ist möglich, wenn wir Erfahrung darüber besitzen, was der Leib kraft eigener Organisation vermag. Eine willkürliche Bewegung wird in der Ausführung von den Bewegungsempfindungen gelenkt, die mir melden, wie die Bewegung verläuft. Ob dieser Verlauf gut ist, messe ich an der Erfahrung, die idi von meinen Bewegungen habe und an der diese spezifische Bewegung steuernden Bewegungsvorstellung. Diese Vorstellung besteht axis einer Vorwegnahme einer Reihe von Bewegungsempfindungen [II, 521], Die antizipierende Vorstellung einer Melodie von Bewegungsempfindungen bestimmt laut James, was eine Bewegung sein wird. Aber wodurch wird nun bestimmt, daß eine Bewegung da sein wird? Die Frage, um die es sich handelt, lautet: Ist die Bewegungsvorstellung ein ausreichender Grund für das Hervorrufen der vorgestellten Bewegung oder ist noch ein besonderes antecedens nötig, wie ein Fiat, eine Entscheidung, eine Zustimmung oder ein Willensakt [II, 522]? Die Antwort lautet: nicht immer ist so etwas nötig. Es gibt eine ideomotorische Tätigkeit, bei der die Bewegungsvorstellung selbst die Bewegung auslöst. Bedingung 14
Vgl. Buytendijk, Allgemeine Theorie, S. 286 ff.
Leib, Verhalten und Reflexion
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dafür ist, daß es keine gegensätzlichen Vorstellungen gibt, die die Auswirkung der Bewegungsvorstellungen hemmen. Wir wissen, was es heißt, an einem frostkalten Morgen in einem unbeheizten Zimmer aus den Federn zu kommen. Der Gedanke an das Aufstehen ist, solange wir unter den warmen Decken liegen, einfach unannehmbar. Die Zeit rückt vor. Ich suche sie zu strecken: noch fünf kleine Minuten. Und ich stelle zur gleichen Zeit fest: „ich muß aufstehen, das kann so nicht weitergehen". Aber handle ich danach? Kann ich den Augenblick nachweisen, in dem ich einen Willensentschluß fasse und in dessen Folge aufstehe? Ist es nicht vielmehr so, daß ich plötzlich bemerke: ich bin aufgestanden? Auf einmal stehe ich neben meinem Bett. Habe ich das nun gewollt in jenem intellektualistisch expliziten Sinne von: so muß es geschehen, so geschehe es? Was meine Bewegung gelenkt hat, ist die Vorstellung: „I must lie here no longer", die in einem glücklichen Augenblick: nicht von Antagonisten behindert oder gehemmt wurde. Dieses Aufstehen war ein ideomotorischer Prozeß [II, 524 f.]. Man kann das einen „Entschluß" nennen. Aber dem kommt kein explizites „ich will — es geschehe" zustatten. Wenn ich die Kälte einen Augenblick lang vergesse, entlädt sich die Vorstellung unmittelbar in die Tätigkeit; oder, die Vorstellung, daß ich aufstehen muß, wird so schwerwiegend, daß sie trotz der Antizipation von Kältegefühlen doch zur Tätigkeit führt. Dann habe ich das Gefühl einer energischen geistigen Anspannung und bin der Meinung, daß ich tugendhaft gehandelt habe15. Es will James scheinen, daß die beschriebene Situation in Kleinformat die Gegebenheiten für die gesamte Psychologie des Wollens umfaßt [II, 525], Bewegungen gehen aus Vorstellungen hervor. Aber ist es nicht eine Schwierigkeit, daß nicht jede Vorstellung zu einer Bewegung führt? Nim, sagt James, dessen bin ich noch gar nicht so sicher. Wenn ich eine Bewegungsvorstellung habe und doch nichts tue, kann ich in der Regel wenigstens eine beginnende Bewegung bemerken, die dann durch eine andere gehemmt wird. Es gibt eine natürliche Neigung im Menschen, Bewegungsvorstellungen in wirkliche Bewegungen umzusetzen. Es ist ζ. B. fast unmöglich, einem kleinen Kind, das gerade das Sprechen lernt, etwas vorzusagen und dann zu warten, bis es das nachsagt und nicht gleichzeitig das vorgesagte Wort selbst wieder mitzusagen. Zumindest richtet sich unsere Mundstellung nach dem Wort, das wir das Kind nachsprechen lassen wollen. Es ist fast unmöglich, einem der zögert, über einen Graben zu springen, Mut zu machen und nicht gleichzeitig vorahmend mitzuspringen. Jede Bewegungsvorstellung weckt in irgendeinem Maße die aktuelle Bewegung; und zwar in stärkerem Maße, wenn die Bewegungsvorstellung 15
Talks to teachers, S. 174 f.
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Blondels Analyse der willkürlichen Bewegung
nicht durch antagonistische Vorstellungen behindert wird [II, 526]. Bewegung ist die natürliche und sofortige Folge eines Fühlens, ungeachtet der Qualität des Fühlens. Das gilt für Reflexe, für Ausdrucksbewegungen und ebensosehr für die willkürliche Bewegung. Ideomotorische Tätigkeit bildet auch für jene Handlungen das Grundmodell, bei denen noch ein besonderes „Fiat" nötig ist. 8. BLONDELS ANALYSE DER WILLKÜRLICHEN BEWEGUNG Eine der Schwierigkeiten, zu der James' Betrachtungen hinführen, ist, daß an der willkürlichen Bewegung nichts Willkürliches bleibt, wenn sie als die natürliche und normale Folge einer Bewegungsvorstellung aufgefaßt wird. Das ist übrigens eine Schwierigkeit, die wir nicht nur bei James finden. Es besteht also Grund, danach zu fragen, was mit „willkürlich" gemeint wird. Auch hier kann von einer ungerechtfertigten Substantivierung die Rede sein. Es ist durchaus möglich, daß der „Willensakt", der bei einer ersten Betrachtung für eine willkürliche Bewegung nötig zu sein scheint, keineswegs eine selbständige, von der Bewegung wirklich zu unterscheidende Tätigkeit ist. In einer Analyse der willkürlichen Bewegung gelangt Blonde1, u. a. unter Einfluß von James, zu einer Unterscheidung von vier Momenten16. 1. Die willkürliche Bewegung setzt motorische Mechanismen auf tieferen Ebenen voraus, motorische Gewohnheiten, durch die sich Glieder und ihre Gliederungen mehr oder weniger unabhängig voneinander bewegen können. Körperbeherrschung wird also vorausgesetzt. 2. Die willkürliche Bewegung setzt eine Bewegungsvorstellung voraus, die sie auslöst und in der die tatsächliche Bewegung antizipiert wird. Es ist klar, daß ein Alpinist während einer Besteigung von Augenblick zu Augenblick weiß, wohin und wie er seinen Fuß setzen muß. 3. Die willkürliche Bewegung setzt ein affektives Getriebensein voraus, das in der vorgestellten Bewegung ein Mittel sieht, ein begehrtes Ziel zu erreichen. 4. Die willkürliche Bewegung setzt eine Zustimmung zum affektiven Getriebensein voraus, die die Handlung bestimmt. Diese Motivierung kann ja zugunsten einer anderen abgewiesen werden. Was bedeutet jedoch „abweisen"? Bedeutet das nicht rundweg, wie in dem Falle des noch nicht Aufstehens wegen der Kälte, daß die eine Vorstellung gegenüber einer anderen den kürzeren zieht? Daß der eine Drang den anderen besiegt und verdrängt? Die „willkürliche" Bewegung setzt 1 8 Ch. Blondel, Les „mouvements volontaires". In: Dumas, Nouveau Psychologie; Τ. VI., Paris, 1939, S. 381 f.
Traiti
de
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Leib, Verhalten und Reflexion
dann — auch bei Blondel — immer noch keinen „Willen" voraus! Es wird keine rein „psychische" Tätigkeit vorausgesetzt, die unleiblich wäre. Wir können mit Buytendijk sagen, und James hätte sich dem angeschlossen: „Nirgends ist uns auch nur der geringste Anlaß zu der Ansicht gegeben, daß jene Funktionen, die wir die .psychischen' nennen, in irgendeiner Lebensphase gleich einem Dämon in den Körper fahren" 17 . Das „Psychische" ist eine Weise, in der wir das körperliche Handeln in bestimmter Hinsicht benennen. In welcher Hinsicht? Der Organismus ist, so sahen wir, durch eine Jordan-Kurve zu symbolisieren; er hat sich abgegrenzt, isoliert, die Emanzipation einer relativen Unabhängigkeit erlangt. Er ist nicht, wie uns der Behaviorismus vorhielt, ein einfacher Leiter von Aktionsströmen: er reguliert seine leitenden Eigenschaften von innen her. Das meinte James mit der selektiven Wirksamkeit des Bewußtseinsstromes. Der Organismus ist ein (innerhalb gewisser Grenzen) sich selbst stimmendes Instrument. Er „empfängt" und reagiert verschiedenartig auf Grund verschiedenartiger Stimmungs- und Gefühlslagen, die von innen her reguliert werden, und zwar solcherart, daß dabei Normen gewahrt werden. Die Tätigkeiten des Organismus erscheinen daher nicht in direkter, eindeutiger Abhängigkeit von den Geschehnissen in der Umgebimg. Hinsichtlich dieser Geschehnisse ist jene Tätigkeit demnach (jedenfalls zum Teil) unvorhersagbar. Es sind auch keine reinen Zufallserscheinungen, sondern Funktionen äußeren Geschehens und innerer Gestimmtheit. Sie erscheinen spontan, nicht zwangsläufig; sie erscheinen variabel und dennoch normiert. Sie erscheinen als sinnvoll, als Resultate freier Erwägung, Wahl und Entscheidung. Verhaltensweisen erscheinen als Verrichtungen, die von innen her gelenkt werden. In dieser Hinsicht nennen wir sie psychisch bestimmt. „Wollen" ist die Weise, in der die Selbsterfahrung, das Erleben, diese Erscheinungen faßt und ausspricht. „Ich will" ist kein Hinweis auf die Tätigkeit meines „Psychismus" als Selbständigkeit, sondern ist mein ausgesagtes Wissen über meine Gestimmtheit. Die Analyse des Erlebnisses gewährt mir eine Einsicht in die Struktur der willkürlichen Bewegung, die komplementär ist mit der Einsicht, die die organische Betrachtung jener Bewegung einbringt: eine durch die Person gelenkte Bewegung, in der spontan eine Stellungnahme vorgenommen wird auf Grund einer Wertung. Wir müssen dann sagen, daß dasjenige, was mit Recht „willkürliche Bewegung" heißt, doch eine unwillkürliche, nämlich rein ideomotorische Tätigkeit sein kann. Die Verwirrung entsteht durch die traditionelle, mythologisierende Belastung des Ausdrucks „Wollen", der die Erscheinungen verdunkelt, statt sie zu erhellen. 17
Wege zum Verständnis, S. 143.
Emotion: Erlebnis körperlicher Reaktionen
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9. EMOTION: ERLEBNIS KÖRPERLICHER REAKTIONEN Mit unerbittlicher Bündigkeit schreitet James in der Beweisführung fort, daß das Erlebnis auf den Leib zurückweist und nicht einem autonomen Psychismus oder einer unstofflichen Seele entspringt. Ja, wir können allmählich sehen, daß seine Betrachtungen zu einer grundlegenden These führen, die wir vorläufig wie folgt umschreiben können: Im Erlebnis kommt der Leib zu sich selbst. So betrachtet ist Erlebnis die Erkenntnis, die der Leib vom eigenen Tun hat. So lelirt Jumes es in seiner umstrittenen Theorie der Emotionen18. Die Emotion ist eine komplizierte Erscheinung. James muß schon gleich zu Anfang feststellen, daß Emotionen oft durch Dinge geweckt werden, mit denen wir keinen praktischen Umgang pflegen. Etwas Lächerliches ζ. B. oder etwas Schönes sind nicht notwendig Dinge, mit denen wir etwas tun. Wir lachen darüber oder bleiben staunend stehen. Das weist hin auf die Vielfältigkeit der Situationen, in denen Emotionen auftreten, auf die Vielfältigkeit der Verhaltensweisen, mit denen Emotionen gepaart gehen. Daß die Emotion nicht ohne weiteres mit dem aktuellen körperlichen Verhalten zusammenhängt, beweist die Erfahrung. Es kann sein, daß ich böser werde, wenn ich an eine Beleidigung zurückdenke, als damals, da ich sie erfuhr. Und wir werden mehr erschüttert durch eine Mutter, die gestorben ist, als durch eine, die noch lebt [II, 442 f.]. Dennoch müssen wir daran festhalten, daß es nicht der Geist ist, der erschüttert wird, sondern der leibliche Mensch. Seine Erschütterung ist eine Unruhe des Körpers. Das ist am deutlichsten, wenn wir uns zunächst auf eine Betrachtung der gröberen Emotionen wie Haß, Begierde und Zorn beschränken. In unserer natürlichen Alltagseinstellung meinen wir, daß die psychische Wahrnehmung eines Geschehnisses eine psychische Erregung hervorruft, die Emotion genannt wird; wir meinen dann weiter, daß dieser psychische Zustand einen körperlichen Ausdruck verursacht. Die Theorie von James besagt dagegen, daß die körperliche Veränderung unmittelbar der Wahrnehmung des Geschehens folgt, und das Erlebnis dieser Veränderungen in ihrem Vollzug ist die Emotion [II, 449]. Die alltägliche Auffassung sagt: wir verlieren unser Vermögen, werden ärgerlich und weinen; wir begegnen einem Bären, bekommen Angst und laufen weg; wir werden beleidigt, werden böse und schlagen. Die These 1 8 Wir folgen hier der Erörterung in den Principles. James hatte die Theorie schon früher veröffentlicht: What is an emotion? Mind 1884 (9), 188—205. Ein wenig später erschien — unabhängig von James — eine Studie des Dänen C. Lange, Om Sindsbevoegelser; 1885; übersetzt: Über Gemütsbewegungen, Leipzig, 1887, in der ein übereinstimmender Gedankengang niedergelegt war. Man spricht deshalb von der James-Langesdien Gefühlstheorie. In den Principles wird Lange voller Zustimmung zitiert. Späterhin kam James auf die Frage in einem Artikel zurück: The physical basis of emotion; Psychol. Rev., 1894 (1), 516—529.
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Leib, Verhalten und Reflexion
von James besagt jedoch, in einer gemeinverständlichen Formulierung, daß diese Reihenfolgen falsch sind; es ist richtiger, zu sagen, wir ärgern uns, weil wir weinen, sind böse, weil wir schlagen, haben Angst, weil wir beben. Ohne diese körperlichen Zustände, die der Wahrnehmung unmittelbar folgen, wäre die Wahrnehmung eine reine Zur-Kenntnisnahme, blaß, farblos und der Gefühlswärme beraubt. Es müßte dann so sein können, daß wir einen Bären sehen und urteilen, daß es das Beste ist, wegzulaufen; daß wir beleidigt werden und es für richtig halten, zu schlagen; dann freilich würden wir die Angst oder den Zorn nicht fühlen [II, 450]. Die Theorie von James wird in der Regel in dieser, von ihm selbst popularisierten Form berichtet und besprochen: wir haben Kummer, weil wir weinen. Es ist von Wichtigkeit, festzustellen, daß das keine korrekte Wiedergabe des wesentlichen Inhaltes der These ist, die vielmehr so formuliert werden muß: Kummer ist die Weise, in der wir das Weinen erleben. Das Weinen ist die primäre emotionale Erscheinung; „Kummer" ist die Weise, in der wir uns das klarmachen. Der wichtige Punkt ist das Primat der körperlichen Reaktion. Wenn wir einen Bären sehen oder beleidigt werden, setzen wir mit körperlichen Reaktionen ein; deren Bemerken ist Emotion. In jener Reaktion, die wir als Emotion bemerken, steckt schon die Antwort, die der Leib dieser Situation gibt und diese Antwort wird also primär nicht durch das Bemerken der Reaktion bestimmt. Wenn mich einer böse macht und ich fühle mich wütend, dann ist meine Reaktion auf sein Verhalten schon unterwegs, ist vielleicht sogar schon gewesen. Erst wenn ich weglaufe, gewahre ich meine Angst vor dem Bären. Das Erlebnis, wie schnell auch immer, kommt hinterher; wie ich den Schmerz erst fühle, wenn ich meine Hand schon vom heißen Ofen weggezogen habe. Erst hinterher, wenn ich es beschreibe, erscheint mir mein eigenes Verhalten als eine rationale Stufenfolge von Bemerken, Überlegen, Beschließen und Handeln. Wenn ich einmal sicher zu Hause sitze, sage ich: „Ja, ich sah den Bären und dachte dann: jetzt laufe ich am besten, denn sonst ist es zu spät". Es ist in gewissem Sinne wahr, daß ich, indem ich sage: „Ich sah ihn, dachte, verflixt, das schaffe ich nicht, ich mache mich am besten aus dem Staub", eine sinnvolle Interpretation dessen gebe, was ich tat, als ich weglief. Aber in dem Augenblick, da ich weglief, hat sich dieser Prozeß bestimmt nicht so abgespielt. In der Situation selbst handelte ich ohne irgendeine Reflexion, buchstäblich unüberlegt. In kritischen Situationen ist es selbst so, daß ich „keine Zeit habe", mich Gefühlen hinzugeben. Das stellt sich später ein, als eine verspätete Resonanz. Das Verhalten ist schon vor jeglicher Reflexion sinnvoll abgestimmt. Der Leib reagiert in der Handlung und in den inneren Umstimmungen, die dazu gehören. Das Erleben dieser Umstimmungen ist die Emotion. Emotion ist das Erleben der Resonanz, die ein Geschehnis in unserem Leib weckt; eine Resonanz, die in physiologischen
Lotze und Horwicz
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Ausdrücken beschrieben werden kann. Der Leib reagiert auf das Erregende durch erhöhte Adrenalinausschüttung, durch eine veränderte Atmung usw. Zum Teil führen diese inneren Prozesse auch zu äußerlich wahrnehmbaren Erscheinungen: rot oder blaß werden, Transpiration, Zittern und Beben. Es sind Erscheinungen einer inneren Umstimmung. Sie verraten, daß sich der Organismus auf die neue Handlung vorbereitet. Er ist im Zustand der Unruhe. Diese inneren Veränderungen werden gefühlt und dieses Fühlen ist die Emotion. Der Leib ist der Resonanzkörper. „Our whole cubic capacity is sensible alive; and each morsel of it contributes its pulsations of feeling, dim or sharp, pleasant, painful, or dubious, to that sense of personality that every one of us unfailingly carries with him. It is surprising what little items give accent to these complexes of sensibility. When worried by any slight trouble, one may find that the focus of one's bodily consciousness is the contraction, often quite inconsiderable, of the eyes and brows. When momentarily embarrassed, it is something in the pharynx that compels either a swallow, a clearing of the throat, or a slight cough" [II, 451]. Wenn wir uns eine heftige Emotion vorstellen und dann versuchen, aus diesem Erlebnis alle Gefühle der leiblichen Symptome zu entfernen, was halten wir dann übrig? Nichts! Kein „mindstuff", aus dem noch eine Emotion aufgebaut werden könnte. Was übrigbleibt, ist ausschließlich eine Wahrnehmung, ein kalter, neutraler, intellektueller Zustand [II, 452]. Was ist Furcht, wenn dabei kein beschleunigter Herzschlag oder keine flüchtige Atmung, keine bebenden Lippen oder kraftlosen Glieder, keine Gänsehaut oder knurrenden Eingeweide auftreten? Entferne diese leiblichen Zustände und die Emotion ist dahin! Jede Emotion liefert das gleiche Bild. Eine entleibte menschliche Emotion ist eine Non-Entität. Ist man nicht sofort ruhig, wenn die Symptome der Wut oder der Furcht plötzlich verschwinden? Es waren keine Symptome, es war die Emotion selbst. Nochmals: hier darf kein Mißverständnis entstehen. Die Theorie besagt nicht, daß Emotionen „ausschließlich" leibliche Zustände sind. Die Theorie besagt, daß der Leib eine Resonanz der Geschehnisse darstellt, die uns vital angehen; die Emotion ist die Weise, in der wir diese vitale Bezogenheit unseres Leibes erleben. 10. LOTZE UND HORWICZ James Theorie der Emotionen hat zu seiner Zeit große Unruhe geweckt. Er fand Anhänger und Gegner. Wir lassen das unbeachtet, ebenso die Versuche, die Theorie experimentell zu bestätigen und zu widerlegen1®. Uns 18 Siehe für die zeitgenössische Diskussion über die Theorie den Artikel von C. Stumpf, Über den Begriff der Gemüthsbewegung; Z. Psychol., 1899 (21),
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Leib, Verhalten und Reflexion
interessiert der Sinn der Theorie an sidi, und zwar im Zusammenhang mit James' Grundgedanken. In dieser Hinsicht sind einige historische Bemerkungen von Wichtigkeit. Titdiener hat ausführlich dargelegt, daß die Theorie nicht neu war20. Aber was das anbelangt, kann man wohl Stumpf beipflichten: vollständige Originalität könnte in Sachen, die immer der Introspektion zugänglich waren, zwar für die Spitzfindigkeit des Autors sprechen, aber nicht für die Sache, die er verteidigt21. Es gibt Vorgänger. Zwei von ihnen, beide hat James gelesen, sollen hier angeführt werden. Auf dem Vorsatzblatt von James' Exemplar des Werkes von Lotze „Medicinische Psychologie", findet man die Aufzeichnung: „Emotions due to bodily reverberation, § 438"22. Bei der Lektüre dieses Paragraphen zeigt sich, daß James' Formulierung keine Zusammenfassung der Betrachtungen Lotzes ist, sondern eine Schlußfolgerung. Lotze selbst, völlig in Ubereinstimmung mit den gängigen Auffassungen seiner Zeit, faßt körperlichen Ausdruck auf als Begleiterscheinungen, obgleich in seiner Beschreibung auch schon eine Andeutung liegt, daß sie mehr sind als das. Es gibt Gemütszustände, sagt er, bei denen wir zu Bewegungen gelangen, die in besonders angepaßter Art dem psychischen Verlangen nach Tätigkeit entgegenkommen. So erweckt ein rhythmischer Eindruck eine lebhafte Stimmung, die wir wieder verstärken, indem wir die Arbeit rhythmisch ausführen. Auch dort, wo eine Stimmung primär durch das Bemerken intellektueller Verhältnisse hervorgerufen wird, erhält sie durch sinnliche Gefühle ein eigenes Kolorit; die Abschnürung dieser Gefühle hemmt die Bildung des Gemütszustandes. „Wir haben andere Gedanken und Bestrebungen, wenn wir liegen, andere wenn wir stehen; eine erzwungene zusammengedrängte Körpersteilung dämpft unseren Muth, bequem und nachlässig gelagert vermögen wir schwerlich andächtig zu sein, und aller Zorn beruhigt sich durch 47—99. Die beste kritische Auseinandersetzung mit der Theorie auf experimenteller Grundlage ist zu finden bei W . B. Cannon, Bodily changes in pain, hunger, fear and rage; New York, 1920 2 . 2 0 Ε. Β. Titchener, An historical note on the James-Lange theory of emotion; Amer. J. Psychol., 1914 (25), 4 2 7 ^ 4 7 . 2 1 Stumpf, Über den Begriff der Gemüthsbewegung, S. 67. Anläßlich seines eigenen Artikels, den James damals noch nicht gelesen hatte, schrieb Stumpf im September 1899 an James: „Merkwürdig ists mir mit Brentano gegangen. Ich dachte mit ihm in Hinsicht der Affecte ziemlich einstimmig zu sein und erhalte nun von ihm einen 7 Bogen langen Brief, worin er sidi entschieden für Ihre Auffassung und gegen die meinige erklärt. Eine etwas beschämende Wirkung meiner Argumentationen! Wenn er einmal an das Veröffentlichen seiner Arbeiten geht, werden Sie an ihm für die Affectlehre eine nicht zu verachtende Stütze haben"; Perry, Thought, II, S. 741. 2 2 Perry, Thought, II, S. 89.
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die Ruhe des Körpers; die Hand, welche die Runzeln der Stirn glättet, beschwichtigt auch den Verdruß, der sich durch sie aussprach. Es würde schwer sein, die Grenzen dieses Einflusses zu bestimmen; aber er geht ohne Zweifel sehr weit .. .',23; so weit, folgert James, daß mit den Ausdruckserscheinungen das Fühlen selbst verschwindet. So erkennt Lotze der Körperstellung und den „Körpergefühlen" eine konstitutive Funktion in den Gemütszuständen zu, die, wenn man weniger Nachdruck auf das „Psychische" legt, als Lotze es noch tat, begründeterweise eine Theorie wie die von James hervorrufen kann. Horwicz, dessen Werk, wie wir früher sahen, James kannte, lehrt, daß das Fühlen seine Grundlage in der auf Selbsterhaltung angelegten Autonomie und in der Spontaneität des Organismus findet. Gefühl „ist das Innewerden des Nutzens oder des Schadenssagt er zurückgreifend auf den uralten Gedanken, daß der Gegensatz zwischen dem Angenehmen und dem Unangenehmen, dieser Grundgegensatz des Fühlens, mit den biologischen „Absichten" des Organismus zusammenhängt. Und, sagt er, Fühlen ist das Bemerken des Nützlichen oder Schädlichen. Geschieht das nicht primär durch den Leib? Dieses „Innewerden" ist die allgemeinste und elementarste Bewußtseinsform, mehr ein dumpfes Ahnen als ein Erkennen oder Wissen. Rein rezeptiv, passiv ist es nicht. Das Fühlen braucht kein Streben zu werden, da es das schon immer ist25. Es ist wahr, daß Horwicz später über eine Rückwirkung der Gefühle auf Drüsenabsonderungen spricht und daß er Ausdrucksverhalten als Folge des Fühlens betrachtet. Aber diese Überlegungen müssen zunichte werden, wenn man einmal mit James das Verhältnis von Leib und Seele revidiert. Darin liegt auch die Originalität, die die Theorie der Emotionen von James zeigt. Ein gewisser Zusammenhang zwischen Fühlen und Leib war seit langem bekannt und wiederholt beschrieben worden. Die Theorie war aber immer mit den Schwierigkeiten des psycho23 R. H. Lotze, Medicinische Psychologie; Leipzig, 1852, S. 518. Vgl. dort auf derselben Seite den folgenden Abschnitt: „Der heitere Genuß schöner Verhältnisse ist nicht blos diese abstracte Freude, sondern in dem lebhafteren, freieren Athmen, dem beschleunigten Herzschlage und der gediegenen Spannung der Muskeln fühlen wir unser eigenes Selbst davon gehoben und getragen; Reue und Bekümmernis um Vergangenes ist nicht blos ein sittliches Verdammungsurtheil, das innerlich ausgesprochen, von der Seele neu vernommen wird; die Erschlaffung unserer Glieder, die mindere Größe des Athmens, die Beklemmung der Brust, vielleicht im Ärger selbst die krampfhaften Verengerungen der Bronchien und die aufwürgende Bewegung der Speiseröhre, die den Bissen im Munde stocken macht, zeigen, wie auch die leibliche Organisation symbolisch ein verschmähtes, unter dessen Drucke sie seufzt, auszustoßen versucht". James' Frage, ob die „leibliche Organisation" nicht gerade das Primäre ist, mutet hier keineswegs gezwungen an. 24 Horwicz, Psychologische Analysen, Bd. II/2, S. 52. 25 Horwicz, Psychologische Analysen, Bd. II/2, S. 58 ff.
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Leib, Verhalten und Reflexion
physischen Problems belastet. James' Orientierung in diesem Punkt versetzte ihn in die Lage, alte Ergebnisse in einem neuen Zusammenhang sinnvoller zu formulieren. „Wenn unsere Hypothese richtig ist, läßt sie uns tiefer denn je begreifen, wie sehr unser geistiges Leben, im strengsten Sinne des Wortes, mit unserer Leibesform verbunden ist" [II, 467]. 11. EMOTION UND FÜHLEN Wir sprachen schon von Gefühlen, während James seine Theorie zunächst auf die Emotionen als die gröberen affektiven Erscheinungen einschränkt. Was die „feineren Emotionen" oder Gefühle anbelangt, die moralischen, intellektuellen und ästhetischen Gefühle — bei ihrer Behandlung versagt James [II, 468 ff.]. Es ist auch klar weshalb. Die Einsicht in die Verhältnisse der Emotionen erfaßt ihn so, daß er sie zum Allgemeinfall macht, von dem er dann auch die Gefühle abzuleiten sucht. Die direkte leibliche Ergriffenheit auf Grund vitaler Belange zeigt sich jedoch bei den Gefühlen viel weniger oder überhaupt nicht. Dadurch liegt der Nachdruck viel mehr auf dem Unterschied als auf der Verwandtschaft. Denn wiewohl James einerseits der Meinimg ist, daß auch die Gefühle in starkem Maße leiblich bestimmt sind, so sagt er doch auch das Folgende: „Wie sorgfältige Introspektion zeigt, arbeitet der leibliche Klangkörper vielmehr als wir gemeinhin voraussetzen. Dennoch, wo eine langfristige Bekanntheit mit einer bestimmten Klasse von Effekten, sogar ästhetischen, die emotionale Reizbarkeit ebensoviel abgestumpft, wie Geschmack und Urteil geschärft hat, erhalten wir die intellektuelle Emotion, wenn sie so genannt werden darf, in reiner Form. Und deren Trockenheit, die Farblosigkeit, die Abwesenheit jeglicher Glut, wie im Geist eines gründlichen Fachkritikers, zeigen uns nicht nur, wie völlig verschiedenartig dieser Sachverhalt von den ,gröberen' Emotionen ist, die wir zuerst betrachteten, sondern legt uns die Vermutung nahe, daß fast der ganze Unterschied darin besteht, daß der leibliche Klangkörper in einem Fall vibriert und im anderen stumm ist . . . Ein Laie würde sich in seinen Gefühlen verletzt fühlen, wenn er zur Geistesverfassung eines solchen Kritikers Zugang hätte und sehen könnte, wie kalt, wie dünn, wie leer von menschlicher Bedeutung die Motive für ein günstiges oder ungünstiges Urteil sind, die dort überwiegen" [II, 471]. Auch an anderer Stelle macht James einen Unterschied zwischen den Emotionen und den Gefühlstönen2®. Aber in demselben Artikel kommt er unter dem Druck der Kritik auch zu einer näheren Spezifizierung seiner Theorie. Freilich laufen wir vor einem Bären weg; aber nicht, wenn er an einer Kette festliegt oder wenn wir, im Schießen geübt, ihn mit einem Gewehr erjagen. Der Reiz für die leib26
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Emotion und Fühlen
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lidien Veränderungen, die als Emotion erlebt werden, ist nicht ein Ding oder ein Geschehnis schlechthin, sondern eine Situation. Die Emotion ist das Bemerken der leiblichen Resonanz auf die Bedeutung der Dinge; die Bedeutung ist abhängig von der Situation, in der sie erscheint27. Wir dürfen wohl anders formulieren: in der Emotion hallt der Wert wider, mit dem uns etwas anspricht; manche Werte sind vitale Werte; die Reaktionen darauf liegen im Leib vorgezeichnet; andere Werte sind soziale, humane, intellektuelle, moralische oder ästhetische; sie erscheinen auf einer höheren homöostatisdien Ebene; die Reaktionen darauf sind nicht angeboren, sondern wurden von anderen beigebracht oder persönlich entwickelt. Solche Werte greifen uns nicht so direkt leiblich an, sondern mehr in unserem Personsein. Das stimmt überein mit einer anderen Schriftstelle: „Wenn wir vollständig gefühllos wären und einzig und allein Vorstellungen unseren Psychismus beschäftigt hielten, so würden wir all unsere Vorliebe und Abneigung mit einem Schlag verlieren und unfähig sein, irgendeine Situation oder irgendein Erlebnis im Leben nachzuweisen, das wertvoller oder bedeutungsvoller wäre als irgendein anderes"28. Auch das Fühlen demonstriert eine Teilnahme der Person. So sahen wir es auch im VIII. Kapitel, § 7, wo wir James in einer Betrachtung folgten, die den Nachweis zum Ziele hatte, daß wir die Qualitäten, in denen wir die Welt erfahren, aus unserer Bezogenheit auf diese Welt verstehen müssen. Nicht die Emotion, sondern das Fühlen ist dann der allgemeine Fall, die Emotion das Besondere. Emotion ist eine besondere Klasse, eine besondere Modalität von Fühlen oder affektiver Teilnahme. In Emotion und Fühlen sehen wir die Person an dem anderen in seinem Wert teilnehmen, und wir sehen sie teilnehmend mitschwingen. James sagte es schon, daß Fühlen die Wertefunktion ist, und in diesem Licht erhält seine Wahl des Wortes „feeling" für das Erlebnis-im-allgemeinen eine neue Bedeutung. Im V. Kapitel § 7 sahen wir, wie James „feeling" mit einem Zumutesein verglich; im „feeling" sprechen uns die Dinge an — in ihrem Wert, und wir gewahren unsere Resonanz darauf20. Intellektuelle, moralische und ästhetische Gefühle können dann auch etwas höher veranschlagt werden (wie Lotze und Hortvicz das übrigens auch tun!), weil es tatsächlich „höhere" Gefühle sind. Sie werden auf einer höheren Ebene homöostatischer Organisation möglich, wenn die „gröberen" 2T Sartre setzt sich in seinen Esquisse d'une thiorie des emotions, Paris, 1948, mit dieser näheren Ausarbeitung der Theorie von James nicht auseinander. Zu Unrecht. Denn nadi der Modifikation kann James' Theorie sicherlich nicht in geringerem Maße als die von Sartre als eine phänomenologische betrachtet werden.
28 29
Talks to teadiers, S. 229.
Vgl. meine Algemene functieleer, S. 163 ff.
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Leib, Verhalten und Reflexion
Gefühle, die mehr mit der Verletzbarkeit des Leibes zusammenhängenden Emotionen, schon vollauf fungieren. Daß die höhere Organisation jetzt die tiefere lenkt und sie auf diese Weise sogar in sich aufnimmt, ist ein Sachverhalt, der uns später noch beschäftigen wird. 12. DIE FUNKTION DES ERLEBNISSTROMES In den Erscheinungen von Wollen und Fühlen wurde uns klar, was James meinte, als er sagte, daß das Erlebnis auf den Leib zurückweist. Er meinte doch nichts anderes, als was Merleau-Ponty später formulieren sollte: „Unser Leib, insofern er sich selbst bewegt, d. h. insofern er nicht von einem Blidc auf die Welt zu trennen ist und er die Verwirklichung jenes Blickes selbst ist, ist die Möglichkeitsbedingung nicht nur der geometrischen Synthese, sondern auch aller expressiven Verrichtungen und aller Errungenschaften, die die Kulturwelt darstellen"30. Der Leib ist Ursprung der Wirklichkeit. Und die Reflexion, die sich im zuschauenden, aktionslosen Erleben als ein Ursprung höherer Ordnimg sieht, entdeckt bei näherem Zusehen ihren tieferen Ursprung im Leiblichen. James' Lehre der Leiblichkeit ist eine Vorform der Phänomenologie; und zwar eine, die trotz aller Einwände, die man gegen sie erheben kann, von einem reineren Gefühl für die Bedeutung des Leiblichen aus aufgestellt wurde, als manche spätere Phänomenologie des „Geistes". Der Erlebnisstrom hat zwei Funktionen, die ins Auge springen: „it leads to knowledge, and it leads to action"31. Eine langfristige westliche Tradition neigt dazu, in der rationalen Funktion, die zur Erkenntnis führt, den wesentlichsten Aspekt des Bewußtseins zu sehen. Aber wie kann sich dieser Standpunkt in einer Zeit behaupten, in der die Evolutionslehre uns lehrte, daß der Mensch Vorfahren hatte, die noch keine Menschen waren? Im Rahmen jener Evolution muß das Bewußtsein einen sinnvollen Platz einnehmen, es muß seinen Nutzen haben im Leben. Es ist nutzlos, es sei denn, daß es zum Handeln führt. Der Geist ist dem Menschen als Hilfe gegeben, sich der Welt, in der er sich aufhält, anzupassen. „We cannot escape our destiny, which is practical; and even our most theoretic faculties contribute to its working out"32. Eine klassische Schwierigkeit, die anläßlich dieses Gedankenganges immer wieder auftaucht, ist, daß das Bewußtsein, wenn es eine biologisch nützliche Funktion besitzt, diese Funktion bereits gehabt haben müßte, um auf Grund seines Nutzens entwickelt zu werden — was offensichtlich nicht möglich ist. Aber hören wir James zu! Was wir auch an metaphysischen 30 31 32
Merleau-Ponty, Phenomenologie, Talks to teachers, S. 22. Talks to teachers, S. 27.
S. 445.
Ich selbst: Das Meine
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Einsichten haben mögen, was für unanwendbare ästhetische Wahrnehmungen oder ethische Sentiments, wir können sie als Überfunktion betrachten, die notwendigerweise die Wirkung jeder komplizierten Maschine begleitet83. Jede homöostatische Ebene, auf der Funktionen stabilisiert werden, bedeutet gleichzeitig eine höhere Ebene der „Freiheit", sagten wir weiter oben; das scheint nun in Ubereinstimmung mit den Auffassungen von James zu stehen. Der Organismus erwirbt neue Möglichkeiten, indem er alte stabilisiert. Er zeigt deshalb prinzipiell jene „Üppigkeit", mehr zu können und zu tun, als „nötig" ist. Indem er in seinen Nöten vorsorgt, entwickelt er Tugenden. Die erhabensten Tugenden erblühen letztlich aus den elementarsten Nöten. Prosaischer sagte Merleau-Ponty dasselbe in dem oben zitierten Auszug. 13. ICH SELBST: DAS MEINE Ist die Bedeutung des Erlebens nun nicht doch zu armselig geworden? Behält das Bewußtsein, wenn seine traditionellen Funktionen Stüde um Stüde auf den Leib zurückgeführt werden, nicht eine grundlegende Funktion: die Ichfunktion? Wir wollen James' Analyse des Selbstbewußtseins folgen. Was bin ich, was meine ich, wenn ich ich sage? Im weitesten Sinne spricht James vom Selbst als dem Gesamt alles dessen, was ein Mensch das Seine nennen kann. Nicht nur der Leib gehört zu dem Meinen, auch meine psychischen Eigenschaften, meine Kleidung, mein Haus, meine Familie und meine Freunde, mein Ansehen und mein Werk, das Land und die Pferde, die ich besitze, meine Jacht und mein Bankkonto [I, 291]. Geht es ihnen gut und nehmen sie zu, dann bin ich frohgelaunt; nehmen sie ab, dann bin ich niedergeschlagen. Aber man muß verschiedene Ebenen des Selbst unterscheiden. An erster Stelle gibt es ein materielles Selbst, das ist der Leib. Um dieses herum, weiter als das materielle Selbst, gibt es das soziale Selbst, das Anerkanntwerden von Artgenossen, das Leben in sozialen Relationen; dabei tritt die Erscheinimg in den Vordergrund, daß dieses soziale Selbst in der Regel eine Vielheit von Selbsten ist. Der Chef, zu Hause und auf dem Büro, wir kennen alle Variationen dieses Themas; aber wir kennen auch aus der direkten eigenen Erfahrung den Unterschied im eigenen Verhalten und „Charakter", wenn wir uns von einer Situation in die andere begeben. Richtig besehen, sagt James, hat ein Mensch ebensoviele soziale Selbste, wie es Personen gibt, die von ihm eine Vorstellung haben. Ich selbst bin nicht nur mein Leib und mein Eigentum, sondern auch eine Funktion meiner sozialen Beziehungen. James macht in diesem Zusammenhang eine Reihe von Bemerkungen, die auch jetzt noch aktuell sind. 33
Talks to teachers, S. 24.
15 Linsdioten
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Leib, Verhalten und Reflexion
An dritter Stelle bittet das geistige Selbst um unsere Aufmerksamkeit. James versteht darunter das Innere, die Subjektivität, psychische Vermögen oder Dispositionen, konkret gefaßt; nicht das Prinzip der persönlichen Einheit, das „reine Ich", das nicht wie das geistige Selbst zum empirischen Ich gehört. Die psychischen Dispositionen bilden den dauerhaftesten und intimsten Teil des empirischen Selbst. Eine Betrachtung unseres eigenen Unterscheidungsvermögens oder eigener Fertigkeiten erfüllt uns mit mehr Selbstgefühl als die Betrachtung irgendeines anderen Besitzes. Das Innere ist ganz besonders „das Meine". Wir betrachten es als Subjektivität. Wir denken uns selbst als Denker. Wir sehen unsere eigene substantielle Subjektivität als unser zentrales Selbst. Aber was ist dieses Selbst? Muß man es nicht das aktive Element des Erlebens nennen? E s gibt etwas Geistiges in uns, von dem etwas ausgeht: „It is what welcomes or rejects. It presides over the perception of sensations, and by giving or withholding its assent it influences the movements they tend to arouse. It is the home of i n t e r e s t . . . It is the source of effort and attention, and the place from which appear to emanate the fiats of the will" [I, 297 f.]. James meint hiermit nicht ein Personprinzip, das wir eventuell als vorhanden voraussetzen; er meint nicht eine Seele oder einen Geist, sondern ein erfahrenes Selbst, einen inneren Kern, den wir fühlen. Können wir nun näher angeben, was wir genau fühlen? Hier wird James bescheiden; er will nur für sich selbst sprechen, wenn er auch nahelegt, daß andere seine eigenen Beobachtungen falls nicht dem Inhalt nach, so doch der Form nach werden bestätigen können. Freilich, sagt er, fällt es mir schwer, in jener inneren Tätigkeit irgendein rein geistiges Element zu entdecken. Immer wenn es meinem introspektiven Blick gelingt, sich schnell genug nach innen zu wenden, um eine der Spontaneitätsäußerungen in einer Tat einzufangen, ist irgendein leibliches Geschehen alles, was ich je in Erfahrung bringe; und dazu vornehmlich ein Geschehen, das in meinem Kopf lokalisiert zu sein scheint. Die Aufmerksamkeit ausrichten, Zustimmen, Verneinen, Sich-anstrengen werden als Bewegungen von etwas im Kopf gefühlt. Manchmal betrifft es Empfindungen in den Augenmuskeln, manchmal in Gesichtsmuskeln, zuweilen fühlt man etwas im Kehlkopf. Für ihn selbst gelte jedenfalls, so sagt James, daß das zentrale Selbst bei sorgfältiger Betrachtung aus diesen leiblichen Gefühlen bestehe. Das Gefühl geistiger Tätigkeit ist dann im Wesen ein Fühlen leiblicher Tätigkeiten [I, 301 f.]. Nochmalige Wiederholung: Jeder von uns wird von einem unmittelbaren Respektfühlen vor seinem eigenen reinen Prinzip individuellen Daseins beseelt [I, 318]. Aber das führt nicht zur Entdeckimg eines rein geistigen Prinzips. Die Worte „ich" und „selbst", insofern sie Gefühle
Ich selbst: Das reine Ich
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wecken und emotionale Bedeutung haben, sind objektive Bezeichnungen, die zu allem in Beziehung stehen, was imstande ist, in einem Erlebnisstrom Erregungen von einer bestimmten, besonderen Art hervorzurufen [I, 319]. Das fühlbarste Selbstsein ist das leibliche Selbstsein. Der ieigene Leib ist der Kem des Erlebnisstromes. Er ist in besonderer Weise „das Meine": ich selbst. 14. ICH SELBST: DAS REINE ICH Wenn James' Analyse des empirischen Ich ein unbefriedigtes Gefühl hinterläßt, so wohl deshalb, weil das Ich, als Subjektivität, als Quelle spontaner Tätigkeit angekündigt, nur als inhaltlich bestimmte Objektivität geiaßt werden könnte. Unvermeidlich drängt sich dann doch die Frage auf, wer das Selbst, das Meine, als Selbst erfährt. Die Rüdewendung zu sich selbst setzt ja — jedenfalls logisch — eine Verdopplung voraus: ich betrachte midi selbst undfindedann nicht „ich", sondern das Meine. Nennen wir nun dieses erste Ich das reine Ich, dann kann man die Frage stellen, ob das Ich das Ich selbst betrachten und fassen kann. Kann das reine Ich Betrachtimgsgegenstand sein? Hier schließt sich James vollständig den Auffassungen an, die Horwicz diesbezüglich zum besten gab34. Er begnügt sich sogar vor allem damit, Horwicz zu zitieren [I, 325 ff.]. Und dieser ist eindeutig der Ansicht, daß aller Selbstrespekt, alle Gefühle und Wertungen mit Bezug auf das Eigene, zu Objektivitäten Beziehung haben. Man kann auch sagen, daß alles das, worauf sich ein Fühlen oder ein Erlebnis bezieht, mit innerer Notwendigkeit in jenem Erlebnis als Objekt im weitesten Sinne des Wortes, als „Gegenstand", gefaßt werden muß. Das Erleben, rückbezogen auf das Erleben selbst, erfaßt dieses letzte ausschließlich und notwendigerweise als etwas, das erlebt wird und insofern „Inhalt" des reflexiven Erlebnisses ist. Das reine Ich entzieht sich, mit anderen Worten, jeder Betrachtung, die dieses Ich als solches zu fassen sucht. Das reine Ich ist der Endpunkt einer unendlichen Regression. In dem „ich betrachte mich selbst", betrachte ich nicht mein reines Ich, sondern ein objektiviertes „Mich-Selbst". Trachte ich dieses entweichende Ich gegenwärtig zu fassen in: „ich betrachte mich selbst als ein Ich, das sich selbst betrachtet", dann entweicht das betrachtende Ich wiederum. Logisch kann man diese iterative Regression unendlich weiterdenken. Psychologisch sind wir ziemlich schnell am Ende. Ich kann simulieren; simulieren, daß ich simuliere — das auch noch; aber simulieren, daß ich simuliere, daß ich simuliere ist schon unvorstellbar. Falls solche Iterative vorstellbar oder erlebbar sind, sind sie es unter einer Bedingimg: daß in ihrer Formulierung eine Zweipoligkeit gewahrt bleibt. Ich denke — etwas. 31
15·
Horwicz, Psychologische Analysen, II/2, S. 260 ff.
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Leib, Verhalten und Reflexion
Ich denke — daß ich etwas denke. Ich denke — daß ich etwas denke, nämlich, daß ich etwas denke. Es gibt keine Regression des Ich; dasselbe Ich erlebt Gegenstände zunehmender Kompliziertheit. Verdopplungen, Komplikationen und Regressionen bieten sich nicht im Ichausdruck dar, sondern im Gegenstand des Erlebens. Die Grundstruktur der Intentionalität bleibt diese: ich-bin-mir-einer-Sache-bewußt, wie kompliziert die Struktur dieser „Sache" auch sein mag. Alle komplizierten Strukturen sind Variationen dieser unveränderlichen Grundstruktur. Wir haben es hier mit einem phänomenologischen Prinzip von großer Tragweite zu tun. Das macht metaphysische Konstruktionen eines letzten Ichs hinter allen sukzessiven empirischen Ichs überflüssig. Die Seele „hinter" dem Selbst und das transzendentale Ego „hinter" der Seele sind keine neuen, realen Ichs, sondern logische Varianten ein und desselben Ichausdrucks. Persönliche Identität ist Identität ein und derselben Person. Es ist aufschlußreich, zu sehen, wie James im Prinzip zu derselben Lösung gelangt. 15. DAS ERLEBNIS PERSÖNLICHER IDENTITÄT Im V. Kapitel § 2 hatten wir James' These vor Augen, daß ich mich selbst in kontinuierlichem Fortschreiten erlebe. Damit wurde die persönliche Indentität eingeführt. Und zwar nicht als eine objektive, sondern als eine erlebnismäßige Identität. Hier ist der Ort, diese Behauptung mit James wiederaufzunehmen und ein wenig aufmerksamer zu betrachten. Erlebnisse sind keine losgelösten, gesonderten, einander abwechselnden und aufeinanderfolgenden Bewußtseinsteile; sie durchdringen einander und mehr als das, sie gehören in einer persönlichen Identität zusammen. Im Erleben selbst wird dieses Zugehören miterlebt. Jedes Erlebnis ist imstande, aus der Mannigfaltigkeit anderer Erlebnisse, auf die es sich eventuell bezieht, die Erlebnisse, die zum eigenen Ich gehören, von denjenigen zu unterscheiden, die nicht dazu gehören [I, 331]. Die zum selben Ich gehörenden Erlebnisse besitzen eine Wärme und Intensität, die anderen fremd ist. Das Erlebnis erkennt seine Verwandten wieder. In dem einen Erlebnis beurteilte ich ein anderes Erlebnis als das meine. Was besagt das? Nichts anderes, als daß es um ein Gleichheitsurteil geht, daß ich Erlebnisse zusammen-erlebe; es handelt sich um eine subjektive Synthese. Wir tuen gut daran, uns hier daran zu erinnern, was im V. Kapitel § 4 über die Einheit des Erlebnisstromes gesagt wurde. Wenn ich die innere Verwandtschaft meiner eigenen Erlebnisse erfahre, ihre Zugehörigkeit zu ein und demselben Erlebnisstrom, dann geschieht das in „a single pulse of subjectivity" [1,278]. Das Fühlen der persönlichen Identität beruht auf dieser Übereinstimmung, durch ein zwischen verschiedenen erlebten Dingen bemerktes Erlebnis: ich erlebe die Identität meines heutigen Selbst
Erleben und Zeit
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und meines gestrigen und sage: „Ich bin derselbe, der idi gestern war" [I, 332], James ist sich zutiefst bewußt, wie nahe seine These an die Ich-Theorie der Assoziationspsychologie heranrückt. Dennoch ist nicht die Rede davon, meint er, daß das Ich, meine persönliche Identität — wie die Assoziationspsychologie behauptet — ein Aggregat aus einer Reihe von unablässig auftretenden Leibesempfindungen sein soll. Das ist es ebensowenig wie eine substantielle Seele, die als Träger der Erlebnisse fungieren soll. E s ist immer ein aktuelles Ich, ein jetzt auftretendes Erlebnis, das frühere Erlebnisse in sich aufnimmt lind auf sich hinordnet. „Ich" heißt nichts anderes, als daß da immer ein aktueller Fokus im Erlebnisstrom ist. Man kann von einer Aneignung früherer Erlebnisse durch die aktuellen sprechen. In diesem Augenblick, meine Kontinuität mit meiner eigenen Vergangenheit erlebend, eigne ich mir diese Vergangenheit an. Der aktuelle Abschnitt des Erlebnisstromes, der aktuelle „thought", repräsentiert dann meine voraufgehenden Erlebnisse. Ich erlebe jetzt, daß ich derselbe „bin" wie vor zehn Jahren. Das tue ich jetzt oder besser: das aktuelle Erlebnis eignet sich frühere Erlebnisse an. Dieses aktuelle Erlebnis selbst ist nie sich und anderen Objekt, sondern objektiviert nur, was an ihm vorüberging. Im nächsten Augenblick wird es vielleicht selbst objektiviert werden. Das „Ich" ist nichts anderes als das aktuelle Erlebnis, das sich den kontinuierlichen Strom voraufgegangener Erlebnisse aneignet: „The passing thought is the thinker" [I, 401]. E s ist möglich, daß das aktuelle Erlebnis sein eigenes unmittelbares Dasein fühlt, wie schwerlich das auch in der Selbstwahrnehmung zu verifizieren ist; mehr als das unmittelbare Daseinsfühlen „weiß" das aktuelle Erlebnis nicht über sich selbst. Alles Wissen über das jetzt aktuelle Erlebnis kann erst durch ein darauffolgendes Erlebnis erworben werden, wenn das heutige vorüber sein wird und ein neues sich dieses verstrichene aneignet. Was bedeutet dann Aneignung? Offenbar nicht, daß sich das aktuelle Erlebnis das vorherige an sich selbst aneignet, denn das aktuelle Erlebnis hat kein explizites Wissen über sich selbst; am intimsten erlebten Teil seines Gegenstandes eignet sich das aktuelle Erlebnis das vorherige an: am Leib. Der Leib ist der Fühlkern persönlicher Identität [I, 341]. Der Leib bildet erlebnismäßig die Grundlage meines Selbsterlebens. Die unausgesetzte Aneignung voraufgehender Erlebnisse am Leib im Erleben begründet das Fühlen persönlicher Identität. 16. E R L E B E N U N D Z E I T Mit dem Voraufgehenden wurde gleichzeitig gesagt, daß das Erleben bei allen abrupten Übergängen, die auftreten können, sich doch als fortdauernder Strom konstituiert, nämlich insofern das in der Aneignung rück-
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Leib, Verhalten und Reflexion
schauend geschieht. Das aktuelle Erlebnis greift zurück auf das frühere, das damit in gewissem Sinne fort-dauert. Diese Fortdauer liegt andererseits auch schon darin beschlossen, daß das aktuelle Erlebnis auf ein kommendes Erlebnis vorausgreift, wie das auch schon die inaktuellen, verstrichenen Erlebnisse taten: „The knowledge of some other part of stream, past or future, near or remote, is always mixed in with our knowledge of the present thing" [I, 606]. Ausschließlich deshalb kann von einem Erlebnissirom gesprochen werden. Aber dann ist die Dauer schon ein Merkmal des aktuellen, für sich betrachteten Erlebnisses. Der heutige Augenblick ist kein Zeitpunkt; er hat eine gewisse Stärke. „Um es kurz zu machen, der praktisch erlebte heutige Augenblick ist nicht die scharfe Kante eines Messers, sondern ein Hohlrücken mit einer gewissen Breite, auf dem wir sitzen und von dem aus wir nach zwei Richtungen in die Zeit schauen. Die Zusammensetzungseinheit unserer Zeitwahrnehmung ist eine Dauer, gleichsam mit einem Vorder- und Hintersteven" [I, 609]. Eine Aufeinanderfolge von Erlebnissen ist an sich noch kein Erlebnis einer Aufeinanderfolge. Das Vorherige muß, um als „vorherig" erlebt zu werden, mit dem Aktuellen und während des gegenwärtigen Augenblickes erlebt werden [I, 628 f.] — das Urbild und der Ursprung allen Zeiterlebens. Aufschlußreicher als jetzt die Theorie der physiologischen Zeitprozesse darzulegen, die James hierauf folgen läßt, ist es, festzustellen, daß er sich in seiner Formulierung aufs neue als Vorläufer Husserls zeigt. Bei Husserl lesen wir: „Jedes Erlebnis ist in sich selbst ein Fluß des Werdens, es ist was es ist, in einer ursprünglichen Erzeugung von einem unwandelbaren Wesenstypus; ein beständiger Fluß von Retentionen und Protentionen vermittelt durch eine selbst fließende Phase der Originalität, in der das lebendige Jetzt des Erlebnisses gegenüber seinem ,Vorhin' und ,Nachher' bewußt wird"55. Auch hier also: das aktuelle Erlebnis als Teil des Erlebnisstromes hat selbst schon einen fließenden Charakter und ist wesentlich durch Retention und Pretention, durch einen Rückgriff auf vorhergehende und eine Vorwegnahme kommender Erlebnisse gekennzeichnet. In dieser Grundstruktur des Erlebnisses in Kontinuität mit Retention und Pretention sieht Husserl — ebenso wie James — die Grundlage für das Selbstbewußtsein und die Reflexion. Das aktuelle Erlebnis, sagte James, weiß nichts über sich selbst, kann aber über das voraufgehende Erlebnis etwas wissen. Selbstbewußtsein vollzieht sich in einem Rückblick. Zur selben Schlußfolgerung kommt Husserl in einer Betrachtung über das Urbewußtsein (das aktuelle, jetzt auftretende Erlebnis) und die Reflexionsmöglichkeit.
35
Ideen, I, S. 149.
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Die Retention, sagt Husserl36, ist keine Modifikation, in der Eindrucksgegebenheiten real erhalten bleiben, sondern sie ist eine Intentionalität von eigener Art. Tritt ein neues Erlebnis auf, dann geht das vorhergehende nicht verloren, sondern wird „im Griff gehalten". Dadurch ist ein Rückblick auf das Vorhergehende möglich. Freilich ist die Retention selbst noch kein Rückblick, aber weil das Vorherige noch im Griff bleibt, kann ich zurückschauen und in einer Reflexion die Retention erfüllen. Es ist somit die Retention, die ein „Selbstbewußtsein". ein Bewußtsein der eigenen Erlebnisse möglich macht37. Die Reflexion ist die Erfüllung der in der Retention vorgegebenen Möglichkeit, daß Erleben „sich selbst" zurückgreifend erlebt. Und in dieser Reflexion vollzieht sich das Bewußtsein persönlicher Identität 38 . Aber das aktuelle, zurückgreifende, reflexive Erlebnis selbst ist ein aktuelles Erlebnis und als solches selbst nicht-reflexiv3*. Auch hierin also Übereinstimmimg zwischen James und Husserl: das aktuelle Erlebnis ist sich nie seiner selbst, sondern höchstens des voraufgehenden Erlebnisses reflexiv bewußt. Auch Merleau-Ponty versteht Husserl in diesem Sinne40. Die Erfüllung der Retention in der Reflexion sahen wir bei James als Aneignung umschrieben. Man könnte Husserl und James die Frage stellen, ob die Aneignung das Selbstbewußtsein nicht schon voraussetzt. James hat diese Frage vorausgesehen. „Ein kluger Leser wird entgegenhalten, daß das Erleben nicht einen Teil seines Gegenstandes ,Ich' nennen und damit andere Teile verbinden kann, ohne erst diesen Teil mit sich selbst zu verbinden; und daß es das nicht mit sich selbst verbinden kann, ohne über sich selbst zu wissen; — so 38 E. Husserl, Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins; Jb. Phil, phänomenol. Forsch., 1928 (9), S. 471 ff. 37 Vgl. Zeitbewußtsein, S. 436: „Der Fluß des immanenten zeitkonstituierenden Bewußtseins ist nicht nur, sondern so merkwürdig und doch verständlich geartet ist er, daß in ihm notwendig eine Selbstersdieinung des Flusses bestehen und daher der Fluß selbst notwendig im Fließen erfaßbar sein muß". 38 Vgl. Ideen, I, S. 150: „Durch reflektiv erfahrende Akte allein wissen wir etwas vom Erlebnisstrom und von der notwendigen Bezogenheit desselben auf das reine Ich . . . ; daß all die Erlebnisse des Stromes die seinen sind eben insofern, als es auf sie hinblicken oder ,durch sie hindurch' auf ein anderes Ichfremdes blicken kann". 39 Vgl. Ideen, I, 150: „Wir können diese Modifikation primär auf die unreflektiert bewußten aktuellen Erlebnisse beziehen, da sofort zu sehen ist, daß an diesen primären Modifikationen alle reflektiert bewußten eo ipso Anteil gewinnen müssen dadurch, daß sie als Reflexionen auf Erlebnisse, und in voller Konkretion genommen, selbst unrefiektiert-bewußte Erlebnisse sind .. 40 Merleau-Ponty, Phenomenologie, S. 436: „L'id6e d'une conscience qui serait transparente pour elle-meme et dont l'existence se ram^nerait ä la conscience qu'elle a d'exister n'est pas si diffdrente de la notion d'inconscient". Vgl. Husserl, Zeitbewußtsein, S. 472 f.
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daß unsere Voraussetzving, daß das Erleben eventuell kein unmittelbares Verständnis seiner selbst hat, verworfen werden muß. Die Antwort hierauf lautet, daß wir uns davor hüten müssen, uns durch Worte irreführen zu lassen. Die Worte ich und midi bezeichnen nichts Mysteriöses oder Einmaliges — es sind im Grunde nur Worte des Nachdrucks, und das Erleben legt immer Nachdruck auf etwas. In einem Teil des Raumes, der erlebt wird, kontrastiert es ein Hier mit einem Dort; in einem Zeitabschnitt ein Jetzt mit einem Dann; von einigen Dingen nennt es das eine dies, das andere das. Ich und du, ich und es sind hiermit völlig vergleichbare Unterscheidungen, Unterscheidungen, die in einem Erkenntnisfeld, das ausschließlich Gegenstände enthält, möglich sind; das „Ich" bedeutet für das Erleben nichts als das leibliche Leben, das es jetzt fühlt. Das Fühlen meines leiblichen Daseins, wie schwach auch erkannt, kann dann das vollständige Original meiner bewußten Selbstheit sein, die grundlegende Wahrnehmung, daß ich bin. Alle Aneignungen können mit Bezug hierauf geschehen, durch ein Erlebnis, das in dem Augenblick nicht unmittelbar von sich selbst erkannt wird" [I, 341 Anm.]. Das Erlebnis, das sich in einer die Retention erfüllenden Reflexion für „seinen" Leib retentionale Erlebnisse aneignet, entdeckt sich zurückgreifend als „Ich"41. 17. ANTIZIPATION: ANEIGNUNG PROTENTIONALER ERLEBNISSE Wenn Erleben wesentlich durch Retention und Pretention gekennzeichnet ist, gibt es dann, parallel zur Aneignung retentionaler, nicht auch eine Aneignung protentionaler Erlebnisse? Aber wie kann das, was noch kommen muß und somit noch nicht da ist, angeeignet werden? Dieser Einwand ist jedoch nicht annehmbar. Anerkennt man die protentionale Struktur des Erlebens, das Sich-voraus-sein-zu, dann anerkennt man auch deren Möglichkeit einer reflexiven Aneignung, die Antizipation heißt. Das aktuelle Erlebnis eignet sich dann auf Grund der Pretention kommende Erlebnisse an. Wir haben es im Prinzip schon in dem kennengelernt, was James „Bewegungsvorstellung" nannte. Für die Ausführung einer echten, willkürlichen Bewegimg reicht es ja nicht aus, daß die Person weiß, was sie tun kann; oder besser: dieses Wissen darf nicht ein bloßes Verfügen über aktualisierbare Bewegungsmöglichkeiten in der motorischen Organisation des Leibes sein. Es muß ein vorausgreifendes Verfügen sein, in dem Fühlen 41 Auf Unterschiede zwischen James und Husserl betreffs des „Idi" gehen wir hier nicht ein. Unterschiede gibt es. Es scheint jedodi nicht unmöglich zu sein, die beiden Standpunkte zu vereinigen. Vgl. für das, was Husserl betrifft, vor allem Ideen, II, S. 93—120.
Antizipation: Aneignung protentionaler Erlebnisse
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dessen, „was geht", muß ein Vorfühlen von hier und jetzt auszuführenden Bewegungen in ihrem Verlauf und Endresultat gegeben sein. So sehe ich, wenn ich nach irgendwas lange, daß ich „daran kann", ich habe es schon in meinem Griff. So bin ich, bevor ich springe, antizipierend schon auf der gegenüberliegenden Seite des Grabens; so richte ich mich jetzt schon nach dem Ball, den ich gleich greifen werde. Das Kommende antizipieren besagt, daß das Kommende, das Noch-nicht-Vollzogene, dem Vollzogensein vorauseilend, schon jetzt in meinem Verhalten wirksam ist. Zunächst vollzieht sich diese Pretention, ebenso wie die Retention, vor jeglicher Reflexion im Leibbewußtsein selbst42. Der Leib eilt schon dem Geschehen voraus. Bisher sahen wir James erörtern, daß allererst ein „Wissen" des Könnens da sein muß, eine Leiberfahrung [II, 487], ein Vorrat an auf Erfahrung beruhenden Bewegungsvorstellungen [11,488]. Diese haben dann nicht ausschließlich Erinnerungswert, sie versetzen uns auch in die Lage, eine Reihe zukünftiger Bewegungsempfindungen vorzufühlen [II, 521]. Danach kam James zu der Schlußfolgerung, daß die vorreflexive ideomotorische Tätigkeit eine genügende Grundlage für die Bewegung selbst bildet, die daraus einfach hervorgeht [II, 522 f.], „Uberlegt handeln", „Entschließen", „Wollen" im allgemeinen, müssen dann auf Relationen zwischen Bewegungsvorstellungen zurückgeführt werden, die mit einem Anspannungsgefühl, einem leiblichen Fühlen, gepaart gehen, was in Wirklichkeit das ist, was wir im Sprachgebrauch als „Wollen", als einen geistigen Akt substantialisieren. Der Wille ist nach James, genauso wie die Aufmerksamkeit, ein Streitobjekt zwischen den Vorstellungen. Die Schwierigkeiten, mit denen sich James hier belastet, hat Ricoeur ausführlich kommentiert43. Wir übergehen das, um auf eine Lösung hinzuweisen, die in James' Theorie beschlossen liegt. Was ist eine Bewegungsvorstellung qua Vorstellung? James verwendet hier das Wort idea, gegen das er, wie wir früher und ausführlich gesehen haben, großes Bedenken hegt. Nun denn, beim erneuerten Gebrauch des Ausdrucks geht es James nicht um einen „psychischen Inhalt", sondern um einen Ausdruck für das Erlebnis einer Situation. „Was die gängige Psychologie ,ideas' nennt, ist nichts als ein Teil des totalen Gegenstandes des Vorstellens. Alles, was wir gleichzeitig geistig besitzen, außer acht lassend, welch ein komplexer Zusammenhang von Dingen und Relationen das sein mag, ist ein Gegenstand des Erlebens." So könnte „A-und-B-und-ihre-gegenseitige-Unvereinbarkeit-und-die-Tatsache - daß - nur - eins - von - ihnen - wahrsein-kann-und-verwirklidit-werden-kann-ungeachtet-der-Wahrscheinlichkeitoder-der-Wünschbarkeit-beider" ein solcher komplexer Gegenstand sein Vgl. Straus, Vom Sinn der Sinne, S. 297 ff. und Buytendijk, Allgemeine Theorie, S. 197 ff. 4 3 P. Ricoeur, Philosophie de la volenti; Paris, 1949, S. 167 ff. 42
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Leib, Verhalten und Reflexion
[II, 569]. Der Gegenstand beim Uberlegen oder Zögern hat eine derartige Struktur, und der Übergang zur Entscheidung ist dadurch gekennzeichnet, daß sich der Gegenstand verändert, daß ζ. Β. Α verworfen wird und man Β beibehält. Wir haben dann das Gefühl, gewählt zu haben. Aber wir haben dann auch gewählt. Die Wahl mag sich vorreflexiv, im Leibbewußtsein vollzogen haben, es ist eine „Entscheidung" gefallen; das Erlebnis, das verschiedene Richtungen nehmen konnte und vorhersah, hat eine Richtung genommen. Im Erlebnisgegenstand hat sich die Pretention determiniert. Es folgt, nach einigem Zögern, ein Verhalten, das wir hinterher als etwas erklären, das aus einem Bewegungsplan folgt. Dieser „Plan" war aber schon, protentional, die Bewegung selbst. So lasen wir es auch bei Blondel. Die „Bewegungsvorstellung", der „Bewegungsplan", ist schon eine virtuelle Bewegung44. Im Laufe der Ausführung kann dann eine Berichtigung des Planes stattfinden auf Grund der tatsächlichen Bewegungsempfindungen, während andererseits deren Verlauf wieder durch den Plan reguliert wird. Aber nicht nur der Leib „weiß", daß und wie das alles geschieht. Ich kann auch einen Begriff davon haben, es wird mir in einer Reflexion zugänglich. Ich kann bewußt das, was geschehen wird, vorwegnehmen, d. h. ich kann mir schon vor ihrem Vollzug protentionale Erlebnisse aneignen. Ich eigne mir Zukunft an, nicht als eine leere Zeit, die noch erscheinen muß, sondern als kommende Bewegungs- und Erlebnisformen, die ich vorhersehe. So werde ich mir kommenden Bewegens und Erlebens als Jetzt-Wollen bewußt. Menschliches Verhalten ist wesentlich mit dieser Reflexionsmöglichkeit durchsetzt. Diese Reflexion ist die Erfüllung der in der Pretention vorgegebenen Möglichkeiten, daß Erleben, vorausgreifend, „sich selbst" erlebt. Aber dann liegt darin auch die Lösung des Problems von der „Wirksamkeit des Bewußtseins". Wenn wir annehmen, daß es ein Erleben gibt, dann müssen wir auch annehmen, daß es wirksam, ist [II, 571], daß es auf das Verhalten Einfluß ausübt, daß es Wirkungen hervorbringt. Mit anderen Worten, es muß Verhaltensformen geben, die reflexiv gelenkt werden. Aber wie ist das möglich, wenn das Erleben eigentlich nichts anderes als eine „Verinnerlichung" der Gehirntätigkeit ist? Sagen wir dann nicht, daß es in letzter Instanz doch das Gehirn ist, das die Verhaltensweisen „intelligent" lenkt [I, 79]? Das Erleben als solches kann dann nicht wirksam sein. Ohne jeden Zweifel. Wir dürfen nicht wieder einem Dualismus anheimfallen, der eine Interaktion von Geist und Stoff postuliert. Wir wollen dann lieber sagen, daß das reflexive Erleben die „Verinnerlichung" einer neuen Dimension in den Gehirnprozessen ist. Reflexion bedeutet, daß nicht nur Dinge erlebt werden, sondern auch, daß das Erleben erlebt wird. Und damit ist im Verhältnis zu den Dingen eine neue Dimension entstanden. Jetzt 44
Vgl. Buytendijk, Allgemeine Theorie, S. 280 ff.
Leibliches Bewußtsein
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können sofortige Reaktion und unmittelbares Erleben „aufgehalten" werden; wir können „denken, ehe wir handeln", d. h. durch Reflexion frühere Erfahrungen in der Reaktion auf aktuelle Situationen nutzbar machen. Aber diese Fähigkeit zeigt sich unter den ergänzenden Gesichtspunkten verschiedenartig. Einmal als Modifikation in der Intentionalität des Erlebens und ein anderes Mal als eine neue Eigenschaft des tatsächlichen Leibes. 18. LEIBLICHES B E W U S S T S E I N
Zurück- und vorausgreifende Reflexion, in Retention und Protention vorgezeichnet, müssen als Aneignung an „meinem" Leib verstanden werden, nicht als ein Zurüdcbiegen des „Bewußtseins" über sich selbst. Retention und Protention entspringen in den Eigenschaften des Organismus, in seiner spontanen Tätigkeit auf Grund seiner relativen Autonomie. Im reflexiven Erleben kommt der Leib zu sich selbst, entdeckt sich als Ursprung, als Urgrundlage, als Ich. Er entdeckt dann gleichfalls, daß seine Ursprünglichkeit und Spontaneität bereits vorgegeben sind und nicht erst durch die Reflexion entstehen. Der Leib hatte schon „Bewußtsein", ein vorreflexives Bewußtsein, eine (im Hinblick auf die Reflexion) implizite Intentionalität. Der Leib, das nicht durch die Reflexion Gewollte, das Unwillkürliche, bildet die Grundlage der Reflexionen45. Das Bewegen-Können muß eindeutig als eine ursprüngliche Intentionalität verstanden werden, heißt es bei Merleau-Ponty: „La conscience est originairement non pas un ,je pense que', mais un ,je peux'"46. Der Ausdrude ist in den unveröffentlichten Schriften Husserls gebräuchlich, fügt er noch hinzu. Nach Husserl gehört wesentlich zu jedem Tun, zu jeder Praxis ein „praktischer Horizont", „ein Horizont dessen, was ich in meiner horizontmäßig bewußten Situation kann. Dieses Ich-kann ist nicht Sache des midi von außen her induktiv Betrachtenden, induktiv meine Weise auf Umweltliches zu reagieren Verfolgenden und von daher ,objektiv' meine Dispositionen, meine objektiven Fähigkeiten, Geschicklichkeiten etc. Feststellenden. Vielmehr handelt es sich um den in dem gegebenen Moment lebendigen Könnenshorizont, um den mir bewußten Herrschaftsbereich, um mein mir wohl bewußtes Vermögen — aber bewußt nicht in Form von Akten, sondern in Form eben des Horizontes, ohne den kein Akt Akt ist, ohne den keine Praxis den mindesten Sinn hat" 47 . Ricoeur, Philosophie de la volonte, S. 84 ff. Merleau-Ponty, Fhenomenologie, S. 160. 4T E. Husserl, Geburt, Tod, Unbewußtsein. Unveröffentlichtes Manuskript im Husserl-Ardiiv zu Löwen, unter der Signatur A VI 14. Das Zitat findet man auf S. 30 der dort vorhandenen Abschrift. 46
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Es geht um den inneren Horizont von James „world of practical realities" [II, 293]: den Leib. Es ist der Leib, der primär über die Dinge „weiß"; durch den Leib geschieht es, daß wir Bewegungen lernen und „sich bewegen" heißt: durch den Leib eine Schau auf die Dinge zu haben, auch ohne jede „Vorstellung" jener Dinge48. Das Leibbewußtsein ist es, das die reflexiven Aneignungen fundiert. Es ist der Leib, der in seinem Verhältnis zur Lebenswelt die Reflexion schon vorzeichnet. Kommt es uns nicht doch — wiewohl wir oft meinen, daß der Leib „blind" handelt — oft so vor, als ob er Einsicht zeigt, nachdenkt, erwägt, wählt und entscheidet? Geschieht das nicht deshalb, weil in der relativen Autonomie des Organismus die direkte kausale Beeinflussimg innerer und äußerer Prozesse verzögert, reguliert wird? Der Leib erhält Normen aufrecht. Er hat schon ein eigenes Wertsystem, von dem aus Zustände und Geschehnisse „beurteilt" werden. Er zeigt spontane Tätigkeit. Er regelt seine Verhältnisse durch Retention und Pretention. Er schaltet zwischen Reiz und Reaktion eine Phase „inneren Handelns" ein, die in der leblosen Natur fehlt, die der inneren Abstimmung, wodurch er als Subjekt erscheint. In der Reflexion vollzieht sich das alles noch einmal, jetzt aber „sehend". Für das Erleben selbst ist dies eine völlig neue und ursprüngliche Tätigkeit, wodurch sich der „Geist" ganz klar über die „Natur" zu erheben scheint. Aber dieser Geist ist seiner Natur nach im Verhalten des Organismus vorgezeichnet. Die Autonomie des Organismus kommt in der Reflexion als „Geist" zu sich selbst. „Im Funktionieren des Leibes findet die Dingwahmehmung statt und auch die Wahrnehmung des Leibes durch sich selbst"49. Das Leibbewußtsein ist die Grundform und das Fundament der Reflexion. Es ist der Leib, der „kann", „weiß" und „will", noch bevor wir das in der Reflexion wiederum wissen. 19. LEIB, VERHALTEN UND REFLEXION Eine der Thesen James' lautete, daß das Bewußtsein, falls es etwas ist, ein Mittel ist, über das der Organismus verfügt, um sich anzupassen. Wir sahen, daß diese Anpassung keine passive, sondern eine aktive ist, daß der Organismus durch eine relative Autonomie gekennzeichnet ist, die in der Homöostase sowohl ihre Grundlage, wie ihren Ausdruck findet. Homöostase, 48
Merleau-Ponty, Phenomenologie, S. 161: „La conscience est l'etre ä la chose par l'intermediaire du corps. Un mouvement est appris lorsque le corps l'a compris, c'est-ä-dire lorsqu'il l'a incorpore ä son ,monde', et mouvoir son corps c'est viser ä travers lui les choses, c'est le laisser repondre ä leur sollicitation qui s'exerce sur lui sans aucune representation". 49 Ε. Husserl, Die Welt der lebendigen Gegenwart und die Konstitution der außerleiblichen Umwelt; Phil, phenomenol. Res., 1945/46 (6), S. 341.
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durch die Normen aufrechterhalten werden, liefert jedoch gleichzeitig neue Möglichkeiten. Wer eine Sprache für praktische Zwecke erfindet, bemerkt, daß er auch in ihr dichten kann. Regulation und Freiheit sind die Kehrseiten der Homöostase, sind die Aspekte, die einander hervorrufen. Eine neue Regulierung führt zu neuer Freiheit; neue Freiheit erfordert neue Regulation, um ausgeübt werden zu können. Im Menschlichen überschreitet dieser Prozeß eine Grenze. Wenn wir zu der Schlußfolgerung kommen, daß das Verhalten keineswegs eine Folge „geistiger Tätigkeit" im klassischen Sinne des Wortes ist, daß Wahrnehmen und Handeln, doxisches Vertrauen und Gewohnheit, emotionale Reaktion und „Wollen" alle der Reflexion voraufgehen und somit das klassische Bewußtsein nicht nötig haben, weder, um vollzogen zuwerden, noch, um erklärt zu werden; wenn wir folgern, daß all das Verhalten und das darin enthaltene retentionale und protentionale Erleben aus dem Leib entspringen, dann müssen wir gleichfalls sehen, daß sich mit der Reflexion eine neue Dimension, sowohl der Regulation als auch der Freiheit, öffnet. In der Reflexion kommt der Leib zu sich selbst, und er entdeckt sich als Ich, in einer Kontinuität fortschreitender Erlebnisse, eines Erlebnisstromes. Der Leib entdeckt sich in einer Geschichte. Der Leib entdeckt sich als ein Ich, das schon da war, das seinen Ursprung in einer Vorzeit hat, die es sich nicht mehr aneignen kann, zu der die Reflexion nicht mehr zurückreicht. Er entdeckt sich auf eine Zukunft hin, die er sich als sein eigenes Ende ebensowenig aneignen kann. Geburt und Tod entziehen sich, ebenso wie die vorreflexive Leiblichkeit, seinem Blick. Aber ich kann diese Grenzen als Grenzen verstehen. Ich habe in der Reflexion jenen Abstand zu „mir selbst", der das ermöglicht. Damit sind die Möglichkeiten des Tieres prinzipiell überschritten. Ich weiß über mich selbst, insofern sich Erleben an meinem Leib Erlebnisse aneignet. Ist das nicht der Sinn der Theorie der Emotionen von James? In der Emotion (als Erlebnis) erlebe ich, was mein Leib „erlebt", die Teilnahme an den Dingen und den Geschehnissen, die diesen Leib in seiner organischen Struktur ansprechen und denen gegenüber er sich verhält, hinsichtlich derer er Stellung bezieht auf Grund seiner eigenen, organismischen Normen. Dafür ist keine einzige „Vorstellung" nötig; bevor ich mir einbilden kann, was nicht alles geschehen könnte, ist der Leib bereit. Er kennt seine Welt, bevor „ich" sie mir vergegenwärtige. Der Leib thematisiert die „Dinge" ursprünglich in einem Wahrnehmen, das durch den Leib geschieht. Die erste Wahrnehmung kann daher niemals als ein „Geistesakt" verstanden werden; die Ding-Konstitution in der ersten Bedeutung ist der Reflexion nicht zugänglich, jedenfalls nicht so, wie sie sich vollzieht. Das doxische Vertrauen, bezogen auf und gegründet in der Leiblichkeit, kann nicht auf einen spirituellen Glauben zurückgeführt werden;
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es ist im Gegenteil die Grundlage, auf dem reflexive, doxische Modalitäten, Zögern, Zustimmung, Zweifel, Verneinung und Bejahung usw. fundiert sind. Doxisdies Vertrauen selbst ist die Weise, in der der Leib an der Lebenswelt teilnimmt. Der Leib ist in seinen Interessen bei den Dingen. Aber ich weiß darüber Bescheid. In der Reflexion eigne ich mir das Erleben an meinem Leib an, und ich gelange zu mir selbst. Nicht, daß ich mich als mich selbst fasse. In der Reflexion wird das Meine als das Meine dem Erleben zugänglich. Dabei werde „ich" sehend, und es erscheint mir die Schau, die der Leib schon auf die Dinge hatte, als blind. Erfahrung ist nicht mehr ausschließlich etwas, das sich der Leib im Umgang mit den Dingen als Vertrautheit und Gewohnheit erworben hat; Erfahrung wird das Wissen dieser Vertrautheit und deren Zusammenhang mit den Situationen, in der sie erworben wurde. Im reflexiven Rüdegriff öffnet sich ein Erfahrungsschatz, der willkürlich anwendbar ist. Ich kann von dieser Erfahrung Gebrauch machen. Ich denke. Erfahrung liegt nicht mehr nur in habituellen Verhaltensformen aufbewahrt, sondern wird formulierbar. Ich entwickle mich zu meinem eigenen Psychologen, sagte James. Ich werde mein eigener Zuschauer, ich kann sogar nicht aufhören, mich zu beobachten, nachzuforschen, was ich, mein Leib, tut oder was er im Begriffe zu tun ist. Retention und Pretention werden in der Reflexion, im aneignenden Erlebnis, durchsichtig. Ich sehe, was ich kann, ich sehe, was ich will und ich spreche dieses Wissen aus. In der Sprache kommt mein Leib zu Wort. In der Sprache habe ich das Mittel, durch das ich, gemeinsam mit den anderen Mitmenschen, im weiterfließenden Strom der Erlebnisse Bedeutungen fixiere. Wir können sie fixieren, weil wir „sehend" geworden sind, weil das eigene Erleben durch die Reflexion in den Blick gerückt ist; weil ich an der unmittelbaren Retention vorbei, in der niedergeschlagenen Retentionalität des Gedächtnisses, in meiner Erfahrung, Ubereinstimmungen und Identitäten finde. Ich nenne die Dinge beim Namen; die durch den Leib vorkonstituierten Dinge werden sie selbst, wiederholbare Dinge, verwandte Dinge, Artexemplare; ich rekonstituiere sie in „Allgemeingegenstände", ich sage ihr Wesen aus, ich lege sie in der Schrift fest. Im direkten Erlebnis „spricht", noch sprachlos, der Leib seine Intentionalität aus, seine Bezogenheit auf die Dinge, die ihn angehen; die Dinge, die ihn bedrohen, verlocken, die Dinge, die er nötig hat, die sein Leben hemmen oder fördern, die Dinge, an denen er in seinem Leben teilnimmt und auf die er in der Emotion widerhallt. Der Leib erlebt diese Dinge, und dieses Erleben ist ein Thematisieren in einer Selektivität, die vor allen Akten in seinem organischen Gefüge selbst gegeben ist. In der Reflexion wird der Erlebnisstrom selbst ein Feld für neue Thematisierungen. Das, was der Organismus bereits vollzog, wiederholt sich auf einer höheren Ebene. Eine „Innerlichkeit" tritt hervor: das Erleben der
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Dinge wird in der Reflexion für ein neues Erleben zugänglich. Ich rede von dem, „was in mir vor sich geht"; ich kann nur reden, weil ich erlebe, daß ich erlebe. Und ich substantiviere in der Sprache meine Reflexion als Ich, mein Inneres, meine Seele. Ich begreife mich selbst als „reines Ego", als einen sehenden Geist, der den blinden Leib bewohnt. Die Illusion der Immanenz wurde geboren und das Feld ist reif für eine philosophische Fixation in dem Gegensatz von Seele und Leib, Geist und Stoff. Warum spreche ich mich in der Sprache so über mich selbst aus? Weil ich über mich rede und mich selbst nicht reden kann? Das reflexive Erlebnis, das sich das vorreflexive Erlebnis aneignet, wird selbst wie ein vorreflexives vollzogen. Zurüdc- und vorausgreifend werden Erlebnisse zugänglich, nicht greifend. Aber wie kann ich das anders formulieren, als zu sagen, daß das Ich (obgleich ich greifend nicht von mir selbst weiß) reflexiv von mir, von meinem Leib weiß? In der Reflexion vermute ich eine neue Ursprünglichkeit, die des reinen Ich, weil ich im Rückgriff die Ursprünglichkeit des Zurüdcgreifens nicht zugleich am Leib aneignen kann. Und trotzdem muß ich anerkennen, daß diese Ursprünglichkeit in der des Leibes fundiert ist. Damit wird eine jahrhundertealte Tradition, die in der Sprache überlieferte, sedimentierte Substantivierung des „Inneren", angetastet. Die Phänomenologie versucht in einer Rüdewendung zur Lebenswelt den Leib als Ursprung wiederzufinden. Sie findet sich dabei in Ubereinstimmung mit James. Aber es wäre eine neue Unrichtigkeit, die Reflexion nun nicht auf ihren eigenen Wert zu schätzen und sie ausschließlich als Widerspiegelung des direkten Erlebens zu betrachten. Schon die funktionelle Betrachtungsweise, der James zugetan ist, spricht dagegen. Reflexion ist, funktional gesehen, ein neuer homöostatischer Mechanismus. Dadurch kommt es, so sagten wir, daß Erfahrung als Erfahrung zugänglich und brauchbar wird. Die Einsicht in Verhältnisse, die Intelligenz, die entsteht, wenn der Erfahrungsinhalt überblickt werden kann, befähigt den menschlichen Organismus, sich auf eine neue Weise der Umgebung anzupassen — unter Wahrung seiner eigenen Normen. Wir erhalten dadurch die Fähigkeit, die relative Autonomie als Autonomie zu bekräftigen und durch aktives Eingreifen in das Milieu zu fördern. Eine neue Autonomie wurde erworben; Milieu-Anpassung wird, zu einem gewissen Teil, Milieubeherrschimg. Leibliche Funktionen verselbständigen sich in Werkzeugen und werden ihnen in zunehmendem Maße übertragen. Die Welt der Maschine öffnet sich. Eine Welt, in der von uns konstruierte Maschinen schließlich unsere organischen Normen für uns aufrechterhalten. Leben wir nicht schon in dieser Zeit? Betrachtet man die Reflexion als einen neuen Regulierungsmechanismus, dann gilt nach der Kehrseitenregel auch, daß sie neue Freiheit schenkt. Die Freiheit eines Denkens, das nicht ausschließlich dem Organismus dient, son-
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dem Wahrheit sucht, das dem Guten als Gut nachjagt und das Schöne um seiner selbst willen verwesentlicht. Das war nicht vorgesehen. Es ist, wenn man will, Zugabe und Überfülle. Aber wir, die diese Freiheit besitzen, können nicht aufhören, alles in deren Licht zu sehen. Und nicht ganz zu Unrecht. Denn wenn das „Höhere" auf dem „Tieferen" gebaut wurde, dann ist es, obwohl darin fundiert, doch nach eigener Form und Funktion nicht mehr ausschließlich Funktion des „Tieferen". Im Gegenteil, es dringt „mit rüdewirkender Kraft" in das „Tiefere" ein. Das Höhere lenkt das Tiefere. Wenn man es vorzieht, kann man auch sagen, daß höhere Formen Organisationsformen des Tieferen sind. Auch dann bleibt es wahr, daß beim höher organisierten Organismus die Organisationsformen, die es mit tieferen Organismen gemeinsam hat, jetzt in anderem Zusammenhang funktionieren. So ist das menschliche Lernen, auch das motorische, durch die Reflexion um eine Dimension reicher als das tierische, und es ist, bei aller Verwandtschaft, in dieser Hinsicht damit doch unvergleichbar. Die Reflexion, die Werte als Werte entdeckt, dringt zurück in das „Nur-Leibliche". Menschliche Bedürfnisse und Triebe, Gewohnheiten und Emotionen, menschliches Wahrnehmen und Handeln, sind durch die Reflexion gestempelt. Wer deshalb in der Reflexion die eigentlich menschliche Erscheinimg sieht, hat nicht unrecht. Wer dann sagt, daß das menschliche Erleben einen eigenen, unableitbaren Gesichtpunkt auf die Dinge schafft, hat es ebensowenig; und hieraus folgt, daß menschliches Erleben vom Erlebnis selbst aus beschrieben und geordnet werden muß und kann, daß auch sein Verhalten vom Erlebnis her verstanden werden kann. Aber hieraus folgt nicht, daß der Geist sein eigenes, selbständiges Dasein hat. Menschliches Verhalten und Erleben können und müssen ebensosehr von dem Gesichtspunkt aus beschrieben und geordnet werden, daß sie Funktionen eines Organismus sind.
X. SCHLUSSBETRACHTUNG 1. AUF DEM WEGE ZU EINER PHÄNOMENOLOGISCHEN PSYCHOLOGIE Dort, wo wir endigen, beginnt eine phänomenologische Psychologie, wie sie in den letzten Dezennien im Werk eines Buytendijk, eines MerleauPonty, eines Straus und vieler anderer geboren wurde. Bei Husserl finden wir die methodologische und systematische Vorbereitung, die sie ermöglicht. Aber William James ging schon voraus. Die Übereinstimmung ist keine zufällige. Die Psychologie von James ist der Intention und dem Grundgedanken nach eine phänomenologische Psychologie. Warum ist sie es nicht explizit geworden? James hat es nicht verstanden, in seiner Bekämpfung der Theorie der repräsentativen Erkenntnis, einen reinen Begriff der Intentionalität zu entwickeln. Erkennen, die Bezogenheit des Erlebens auf Dinge, hält er für eine fundamentale Relation, die anerkannt werden muß [I, 216]; der erkennende Charakter ist ein Grundmerkmal des Erlebnisstromes [I, 271]. Aber, sagt er später, der Ausdruck „Bewußtsein" bezeichnet eine Art äußerlicher Relation1, nämlich jene zwischen dem seienden Menschen und dem seienden Ding. Es ist noch eine andere Formulierung möglich. Wenn in einer Reihe von Erlebnissen das eine auf das andere verweist, dann bedeutet das, daß das eine als Erkennender, das andere als Gegenstand fungiert2. Auch hier handelt es sich um eine äußere Relation zwischen Erlebnissen. Gut zehn Jahre früher hatte er sich schon in dieser Art geäußert. Was meinen wir, wenn wir sagen, daß wir hier und jetzt die Tiger in Indien kennen? „Die meisten Menschen würden antworten, das, was wir meinen . . . ist, sie, wenn auch körperlich abwesend, dennoch auf eine bestimmte Weise in unserem Erleben gegenwärtig zu haben. Gewöhnlich wird von dieser Anwesenheit bei gleichzeitiger Abwesenheit ein großes Mysterium gemacht; und die scholastische Philosophie, die nur ein schulmeisterlich gewordener common sense ist, würde das als eine besondere Daseinsweise erklären, intentionale Inexistenz genannt, der Tiger in unserem Geist. Die Menschen würden wenigstens sagen, das, was wir mit dem Kennen der Tiger meinen, ist, geistig auf sie hinweisen (pointing), während wir hier sitzen. 1 2
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Does „consciousness" exist? Essays, S. 25. A world of pure experience; Essays, S. 57.
Linsdioten
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Aber was meinen wir nun mit Hinweisen in einem solchen Fall wie diesem? . . . Das Hinweisen unseres Erlebens auf die Tiger kennen wir einfach und ausschließlich als eine Aufeinanderfolge von Assoziationen und motorischen Folgen, die dem Erlebnis folgen und die, bis zum Ende gefolgt, in harmonischer Art zu einem realen oder idealen Zusammenhang oder sogar zur unmittelbaren Gegenwärtigkeit der Tiger führen" 3 . Weil James Brentanos erste Bestimmung der Intentionalität als intentionale Inexistenz abweist, bekümmert wie er ist um jede Formulierung, die eine Immanenz suggeriert, fällt er im entscheidenden Augenblick auf eine assoziationistische Formulierung mit behavioristischem Einschlag zurück, die aufs neue das Erkennen als eine äußere Relation umschreibt. Erst Husserl wird den Intentionalitätsbegriff frei von allen äußerlichen und tatsächlichen Relationen definieren, als das für das Erlebnis wesentlich Kennzeichnende, daß sie Erlebnis-von-etwas ist, und er wird vor einer psychologistischen Fehlinterpretation der Intentionalität warnen4. Die Psychologie setzt diesen Begriff voraus, den sie selbst nicht ableitet. Als Voraussetzung haben wir den Begriff bei James allerdings fortwährend angetroffen. Seine gesamte Analyse der Merkmale des Erlebnisstromes beruht darauf, ebenso wie die Bekämpfung der Assoziationstheorie mit ihren Implikationen. James' Psychologie war deshalb schon eine phänomenologische „avant la lettre". Sie wurde als eine deskriptive Erlebnislehre aufgestellt, entlang einer schon bei Brentano angedeuteten, bei Husserl formal ausgearbeiteten Linienführung. James, wie auch die explizite Phänomenologie, machen vor der Problematik der Lebenswelt halt. Daß Husserl und später Merleau-Ponty hier leichter Zugang fanden, ist Husserls Begriffsreinigung der Intentionalität und Reduktion zu verdanken. Und schließlich konfrontiert uns James mit einer Erlebnislehre des Leibes, die in vielen wesentlichen Punkten eine phänomenologische Psychologie vorwegnahm. James war auf dem Weg zu einer phänomenologischen Psychologie. Wir würden ihm allerdings nicht gerecht werden, wenn wir nicht hinzufügten, daß er ihr in einem zentralen Punkt schon voraus war: in seiner Integration einer objektivierenden Psychologie innerhalb des Rahmens der deskriptiven. 3
The knowing of things together; Psydiol. Rev., 1895 (2), S. 109 f. Ideen, I, S. 64: „Wohl zu beachten ist dabei, daß hier nicht die Rede ist von einer Beziehung zwischen irgendeinem psychologischen Vorkommnis — genannt Erlebnis — und einem anderen realen Dasein — genannt Gegenstand — oder von einer psychologischen und sonstwie realen Verknüpfung, die in objektiver Wirklichkeit zwischen dem einen und dem anderen statthätte. Vielmehr ist hier und überall von rein phänomenologischen Erlebnissen, bzw. von ihrem Wesen die Rede, und von dem, was in ihrem Wesen ,a priori', in unbedingter Notwendigkeit beschlossen ist." 4
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2. NATUR UND VERNUNFT „Das ist keine Wissenschaft, das ist nur die Hoffnung einer Wissenschaft"®. Diese Worte geben wieder, was James über den Stand der Dinge in der Psychologie dachte; auch über seine eigene Psychologie. Eine Skizze, mehr nicht. Irgendwelche Einsicht, einige Tatsachen, aber keine systematische Konzeption, keine Wissenschaft. Es lag auf der Hand, daß James zu dieser Schlußfolgerung kam. Er ist nicht davon überzeugt, daß die Entwicklung eindeutiger, universaler theoretischer Systeme sinnvoll ist. Setze voraus, daß wir das erreichen, sagt er. Setze einmal voraus, daß wir ein solches Begriffssystem entwickelt haben, daß unsere Welt auf einige einfache Begriffe zurückzuführen ist. Unsere universale Konzeption hat dann das Chaos des Konkreten rationalisiert. Ist dann die Grundlage jener Rationalisierung selbst auch eine rationale? Nein, die Grundlagen unseres Seins bleiben logisch undurchsichtig®. Jede systematische und rationale Konzeption des Ganzen muß scheitern. Wenn die Philosophie zum Ziel hätte, die gesamte Wirklichkeit durch den Geist in Besitz zu nehmen, dann würde nur das Ganze der unmittelbaren Wahrnehmungserfahrung den Gegenstand der Philosophie bilden, denn nur jene Erfahrung findet die Wirklichkeit selbst7. Es kann daher keine bündige Konzeption des Ganzen geben. Es gibt noch einen Grund. „Während ich rede und die Fliegen summen, fängt eine Seemöwe an der Amazonasmündung einen Fisch, fällt ein Baum in der Wildnis des Adirondackgebirges, niest ein Mann in Deutschland, stirbt ein Pferd in der Tartarei und werden in Frankreich Zwillinge geboren. Was bedeutet das? Bildet die Gleichzeitigkeit dieser Geschehnisse und einer Million anderer, die genauso lose nebeneinander dastehen, einen rationalen Zusammenhang zwischen ihnen und vereinigt sie das zu etwas, WEIS für uns eine Welt bedeutet" 8 ? Ein System muß, um ein System zu sein, ein geschlossenes System sein®. Und warum sollten alle jene Geschehnisse ein System bilden? Die Welt ist ein Multiversum10, kein Universum; ein pluralistisches Ganzes von menschlicher Verschiedenheit; ein kaleidoskopartiger Strom von Variationen. Kein System kann das auf ein einziges Prinzip zurückführen. Und so gibt James am 26. Juli 1910, einen Monat vor seinem Tod, schriftlich die Anweisung, daß sein letztes Werk folgenden Untertitel tragen solle: A beginning of an introduction to philosophy. In der Welt des Vielfältigen ist der Philosoph ein Anfänger; einer, der in seinem Staunen zögert, W. James, Psychologie, S. 468. Will to believe, S. 70 ff. 7 W. James, Some Problems of philosophy; New York, 1911, S. 96 ff. 8 Will to believe, S. 119. 9 Will to believe, S. 13. 10 Will to believe, S. 43. 5 β
16·
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das Konkrete durch abstrakte Konzeptionen seiner Konkretheit zu entkleiden; einer, der von einem System absieht. Und dennoch! Mit bewegender Inkonsequenz läßt er darauf folgen: „Say that I hoped by it to round out my system .. ."u. Bevor wir den Kopf schütteln, bedenken wir jedoch, was das Wörterbuch sagt: Systema — ein aus verschiedenen Teilen bestehendes Ganzes, eine Zusammenstellung. Eine aufklärende Ordnung, würde James sagen, durdi die wir uns in der gegebenen Welt heimisch fühlen können. „Was ist gemeint mit ,sidi heimisch fühlen' an einer neuen Stelle oder bei neuen Menschen? Es bedeutet einfach, daß wir, wenn wir ein neuses Zimmer beziehen, zunächst nicht wissen, welchen Zug wir vielleicht im Rücken fühlen werden, welche Türen aufgehen werden, welche Gestalten hereinkommen können, welche interessanten Dinge in Kisten und Ecken zu finden sind. Wenn wir nach ein paar Tagen den Bereich all dieser Möglichkeiten kennengelernt haben, verschwindet das Fremdheitsgefühl"12. Und so ist die Philosophie, das wissenschaftliche Denken im allgemeinen, ein Versuch, im Multiversum heimisch zu werden. Aber das gelingt nur teilweise durch den Entschluß zur Einseitigkeit. Wir wählen dann einen Gesichtspunkt, von dem aus wir die Erscheinungen besehen und von dem aus wir sie auf eine einzige Formel zurückzuführen trachten. Nun wählt aber nicht jeder denselben Gesichtspunkt; und sieh, unsere Formeln unterscheiden sich. Verschiedenartige Gesichtspunkte führen zu verschiedenartigen Formulierungen. Aber schließt die eine die andere aus? Müssen wir nicht vielmehr sagen, daß sie einander ergänzen? Ist eine mechanistische Interpretation der Welt nicht mit einer teleologischen zu vereinigen13? Sie sind zu vereinigen, wenn wir begreifen, was Komplementarität bedeutet. Sie sind zu vereinigen, wenn wir uns klarmachen, daß es Betrachtungsweisen derselben Lebenswelt sind, daß „the deeper features of reality are found only in perceptual experience" 14 ; daß verschiedene Gesichtspunkte die Erscheinungen in verschiedenem Zusammenhang sehen müssen, zu verschiedenen Fragestellungen führen müssen, aus denen verschiedene Antworten resultieren müssen. Wer sich daranmacht, das Werk von William James zu studieren, ist sehr bald über seine Un-Systematik erstaunt, ärgert sich vielleicht über seine Inkonsequenz. So erging es uns auch bei der Aufhellung seiner psychologischen Betrachtungen. Dennoch fesselt einen seine Originalität und es entwickelt sich nebenher allmählich das Gefühl, daß das scheinbare Un-System ein Versuch ist, zu einer umfassenderen Systematik zu gelangen. 11 12 13 14
Some problems Will to believe, Will to believe, Some problems
of philosophy, S. VII f. S. 78. S.75f. of philosophy, S. 97.
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James' Psychologie ist ungewöhnlich, weil darin nicht, wie in den meisten psychologischen Systemen, zwischen einem kausal erklärenden und einem intentional beschreibenden Gesichtspunkt gewählt wird. James' Psychologie zeigt auf den ersten Blick einen methodischen Pluralismus und dadurch auch eine scheinbare Verwirrung von heterogenen Gesichtspunkten und Erklärungen. Aber der dahintersteckende Gedanke ist das Prinzip der Komplementarität. Und das kann seinerseits nur zu seinem Recht gelangen, wenn man, wie James, einsieht, daß die Einheit des Systems nicht auf „der einen vernünftigen Methode" beruht, sondern auf der Einheit der vorrationalen Wirklichkeit, auf der einen Lebenswelt, dem einen ursprünglichen Zusammenhang der divergierenden Fragestellungen. Und dieser Zusammenhang ist geordnet durch den Leib, den Lebensträger. James sucht diesen Ursprung, die Quelle, wo der Strom entspringt und hinter den man nicht weiter zurück kann. Der Leib ist die Stelle, wo der Strom des Erlebens entspringt. Das weiterströmende Erleben hat durch Retention und Protention die Möglichkeit zur Reflexion. Einmal zur Reflexion gelangt, zeigt sich der Ursprung in einem doppelten Aspekt: als das, was erlebt wird und nur aus dem Erleben zu verstehen ist, und als das, woraus das Erleben selbst hervorgeht. Hier bietet sich die Möglichkeit an, einen von den beiden Gesichtspunkten zu wählen: die Beschreibung und Analyse von Erlebnis und Leib im Zusammenhang der Intentionalität und die Beschreibung und Analyse von Erlebnis und Leib im raumzeitlichen Zusammenhang der erlebten Wirklichkeit. Das erste führt zu dem, was man deskriptive, das zweite zu dem, was man erklärende Psychologie nennt. Löst man sie voneinander, dann entstehen eine „geisteswissenschaftliche" und eine „naturwissenschaftliche" Psychologie, die einander durch die Verabsolutierung ihres Gesichtspunktes nicht mehr verstehen und einander sogar auszuschließen scheinen. James wollte ihren wechselseitigen Zusammenhang bewahren. Das setzt eine Theorie dieses Zusammenhanges voraus, eine Phänomenologie der Lebenswelt, die bei James jedenfalls implizit angelegt wurde. Seine scheinbare Un-Systematik ist daher in Wirklichkeit eine Konsequenz einer tiefer grabenden, umfassenderen Systematik. Sie ist es, die ihn in die Lage versetzte, zu sagen: „Es ist nicht so, daß wir ganz und gar Natur sind, außer einem Teil, der Vernunft, sondern alles ist Natur und alles ist zugleich Vernunft" 15 . 16
Letters, I, S. 153.
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NAMENVERZEICHNIS Agassiz, L. 6 Allport, G. W. 1 Amiel, H. F. 87 Angell, J. R. 32 Aristoteles 54 Bain, A. 38 Bergson, Η. 1 f 3 8 f., 79 ff., 83, 87 f., 91, 96 Berkeley, G. 55, 64,198 Bernard, Cl. 208 Blondel, Ch. 215 f., 234 Bohr, N. 192 f. Boring, Ε. G. 16, 63 Brentano, F. 39, 72, 105 ff., 157, 242 Bühler, K. 84 Buytendijk, F. J. J. 202, 216, 241 Cannon, W. B. 208 Darwin, Ch. 12 Descartes, R. 22, 41, 51, 73, 103, 113, 150, 189, 195 f. Dewey, J. 1, 15, 32 Donders, F. C. 30 Dostojewski], F. M. 7, 87 Euklid 89,184 Fabre, J. H. 210 f. Fediner, G. Th. 7, 63 Fick 26 Fink, E. 86 Freud, S. 87, 93 f. Geulincx 171 Gurwitsch, A. 4, 36, 128—131, 149 Gusdorf, G. 91 Haering, Th. L. 165 Hall, G. S. 9, 12 Hartley, D. 22 Helmholtz, H. von 6 f., 170, 199 Herbart, J. F. 46 Hering, E. 13, 162 ff. Heymans, G. 28
Hobbes, Th. 38,77 f. Hodgson 206 Horwicz, A. 219 ff., 223, 227 Hume, D. 1, 11, 22, 38, 165 Husserl, E. 2 f., 39, 72, 82, 89 f., 113 ff., 149 ff., 158 f., 164 f., 195, 230 f., 235, 241 f. James, H. 5 Janet, P. 17, 41 Judd 15 Kant, I. 176 f. Kantor, J. R. 15, 34 Kloos, W. 85 Kopfermann, H. 123 Lacan, J. 94 Ladd, G. T. 33 Lamarck, J. B. 12 Lashley, K. S. 180 Locke, J. 1, 15, 22, 38, 42, 46, 50—55, 60 f., 63, 78, 103 Lotze, R. H. 23, 219 ff., 223 Lyell, Ch. 12 McDougall, W. 34 McFarlane, D. A. 2 11 Madi, E. 13 Marcel, G. 188 Marty, A. 13 Merleau-Ponty, M. 95, 147, 165, 197, 203, 224 f., 231, 235, 241 f. Messer, A. W. 84 Metzger, A. 3 Mill, J. 48 Mill, J. S. 11, 22, 77 f., 157 Müller, J. 55 ff., 64 f., 67 Münsterberg, H. 13 f. Nietzsche, F. 97 Nogue, J. 162 ff. Parmenides 86 Perry, R.B. 16,39
Namenverzeichnis
253
Plateau 59 Pos, H. J. 76 f., 78 ff. Proust, M. 87
Stumpf, C. 13, 16, 70, 220 Sully, J. 139 Swedenborg, E. 5
Reid, Th. 11 Rilke, R. M. 85 Roback, Α. A. 11 Rothschuh, Κ. E. 64
Taine, H. 7, 11 Tilquin, A. 180 Titchener, Ε. B. 132, 220
Sartre, J . P. 142 Spencer, H. 11 f., 32 Stewart, D. 11 Stern, W. 127 Sterne, L. 53 Stimer, M. 85 Straus, Ε. 96, 241
Walker, J. 11, 13 Watson, J. B. 15, 180—183, 185 f. Weber, Ε. H. 63 Werner, H. 57—62, 127 Wundt, W. 6 f., 9, 12—16, 24 f., 28, 30 f., 48 ff., 60 f., 63, 70
Vierordt, K. 63
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