Die Aufgabe einer Psychologie der Deutung als Vorarbeit für die Geisteswissenschaften: Vortrag, gehalten auf d. Kongreß für experimentelle Psychologie zu Gießen am 21. April 1904 9783111547152, 9783111178387


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I. Die Voraussetzungen und der Begriff der Deutung
II. Versuch einer Theorie der Deutung
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Die Aufgabe einer Psychologie der Deutung als Vorarbeit für die Geisteswissenschaften: Vortrag, gehalten auf d. Kongreß für experimentelle Psychologie zu Gießen am 21. April 1904
 9783111547152, 9783111178387

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DIE AUFGABE EINER PSYCHOLOGIE DER DEUTUNG ALS VORARBEIT =

FÜR DIE

GEISTESWISSENSCHAFTEN

VORTRAG GEHALTEN AUF DEM KONORESZ FÜR EXPERIMENTELLE PSYCHOLOGIE ZU OIESZEN AM 21. APRIL 1904 • VON

DR. TH. ELSENHANS PRIVATDOZENT DER PHILOSOPHIE

IN

HEIDELBERG

GIESZEN J. RICKERSCHE VERLAGSBUCHHANDLUNG (ALFRED TÖPELMANN)

1904.

Druck von C. G. Röder, Leipzig.

I.

Die Voraussetzungen und der Begriff der Deutung. Wenn im folgenden der Versuch gemacht werden soll, eine verhältnismäßig noch wenig berücksichtigte Aufgabe der Psychologie in ihrem Werte für die „Geisteswissenschaften" in helleres Licht zu stellen, so sei es gestattet, hier den Begriff „Geisteswissenschaften" in dem herkömmlichen Sinne zu gebrauchen, ohne dabei auf die methodologische Streitfrage einzugehen, ob die Abgrenzung derselben gegenüber den Naturwissenschaften sich auf einen Unterschied der Objekte, oder vielleicht nur auf einen Gegensatz der wissenschaftlichen Betrachtungsweise gründen lasse. Es genügt für unsern Zweck, wenn wir darin einig sind, daß es Wissenschaften gibt, welche sich mit dem Geistesleben des Menschen und mit den Erzeugnissen desselben beschäftigen, um so mehr, da wir auch vom Standpunkte der zuletzt genannten Anschauung aus im wesentlichen darauf hinauskommen würden, die meisten der bisher so genannten „Geisteswissenschaften" einer besonderen Gruppe zuzurechnen. Wir verstehen also hier unter Geisteswissenschaften die Wissenschaften vom menschlichen Geistesleben und 1*



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seinen Erzeugnissen, wie sie uns z. B. in der Geschichte, in der Philologie, in der Rechtswissenschaft als geschichtlich gewordene Disziplinen entgegentreten. Von menschlichem G-eistesleben ist uns nun aber unmittelbar nur unser eigenes gegeben. Nur von unsern Gedanken, Gefühlen, Wollungen haben wir genau genommen eigentliche Kenntnis. Nur das von uns selbst erlebte Geistesleben ist unserm "Wissen direkt zugänglich. Und doch kann sich der Forscher unmöglich auf sein eigenes Ich beschränken, nicht bloß, weil das Objekt seiner Forschung doch nicht bloß er selbst ist, sondern weil er dabei der Gefahr einer Verallgemeinerung zufalliger individueller Besonderheiten nicht entgehen würde. Er muß also zum mindesten auch fremdes Geistesleben in den Kreis seiner Untersuchung ziehen. Die Vergleichung der Äußerungen und Produkte des Geisteslebens verschiedener Menschen, Völker, Zeitalter ist ja das fruchtbarste Forschungsmittel der Geisteswissenschaften. Nun ist aber das jenseits unsres eignen Ich liegende Geistesleben nirgends unmittelbar, sondern stets nur mittelbar in seinen Äußerungen und Produkten gegeben. Diese Äußerungen und Produkte liegen uns vor in Worten der Laut- und Schriftsprache, Geberden, Werken der Technik, Schöpfungen der Kunst, wirtschaftlichen Ordnungen, Staatsverfassungen, bestimmten Formen der Religion und des Kultus. Wir erhalten also von ihnen Kenntnis ausschließlich durch unsere Sinne, indem wir sie schauen, hören, betasten oder von ihnen lesen, den Bericht über sie hören. Der Weg zu ihrer Erforschung geht stets durch



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sinnliche Medien. An sich sind uns außer den in unserm eignen Ich sich abspielenden geistigen Vorgängen nur Komplexe sinnlicher Eindrücke gegeben. Für ein bloßes Sinnenwesen wären jene Geisteserzeugnisse bloße Zusammensetzungen von kleinen schwarzen Flecken auf weißem Papiere, Geräuschen und Tönen, Tastempfindungen, Faxben und Formen ohne weitere Bedeutung1). Sie sind es auch für uns in einer fremden Sprache, die wir nicht verstehen. Wenn wir nun allen diesen unserer sinnlichen Wahrnehmung gegebenen Erscheinungen eine „mehrals-mechanische" Bedeutung zuschreiben, wenn wir sie als Äußerungen und Produkte denkender, fühlender, wollender Wesen wie wir auffassen, so tun wir das unter der Voraussetzung, daß es eine menschliche Gattung gibt, der gewisse Grundzüge geistigen Lebens gemeinsam sind, und daß die Betätigung dieses geistigen Lebens bei ihnen ähnlich wie bei uns zutage tritt. Mit anderen Worten: wir deuten jene sinnlichen Eindrücke nach der Analogie unseres eigenen Geisteslebens. In gewissem Sinn kann man daher allerdings sagen: was wir als „andere Menschen" bezeichnen, ist nichts anderes als ein „mo') Von dem erkenntnistheoretischen Gesichtspunkt, von welchem aus jene Sinneseindrücke selbst als Reaktionen unserer Organisation auf bestimmte davon völlig verschiedene Beize zu betrachten wären, können wir hier absehen, da es hier nnr darauf ankommt, wie sie uns erscheinen. Es gilt auch hier der Grundsatz, in eine Spezialuntersuchung so wenig als möglich systematische Voraussetzungen einzumischen. Auch mit dem „naiven Realismus" läßt sich wie mit irgend einer anderen konstanten Fehlergrösse wissenschaftlich arbeiten.



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difiziertes eigenes Ich". „Der Mensch außer mir, von dem ioh ein Bewußtsein habe, ist eine Verdoppelang und zugleich eine Modifikation meiner selbst." 1 ) So selbstverständlich diese Feststellung scheinen mag, so weittragend sind ihre Konsequenzen. In sämtlichen Geisteswissenschaften stehen wir u n t e r dieser A b h ä n g i g k e i t von unserm eignen Geistesleben. Geschichtliche Urkunden, literarische Denkmäler, "Werke der "Wissenschaft, sie werden lebendige Zeugen vergangenen Geisteslebens für uns erst dadurch, daß wir in die toten Buchstaben etwas von unsrer eignen Seele hineinlegen, daß wir das sinnlich Gegebene auf Geistiges d e u t e n . E r s t e n s müßte daher im System der "Wissenschaften die Wissenschaft vom eigenen Geistesleben die Grundlage oder mindestens eine unerläßliche Vorarbeit bilden, da selbst irgend eine Sprachvergleichung nur möglich ist, indem wir die Schriftzeichen mit einer „Bedeutung" versehen, die zuletzt aus unserem e i g n e n B e w u ß t s e i n stammt. Logik, Ethik, Ästhetik, Religionsphiloaophie haben gewiß ihre selbständige Aufgabe zu erfüllen; soweit sie aber die Geisteserzeugnisse dieser Gebiete untereinander vergleichen, sind sie völlig abhängig von der psychologischen Erforschung des e i g e n e n I c h , welches zu ihrem Verständnis den Schlüssel bildet 5 ). ') Th. Lipps, Grundlegung der Ästhetik. I. 1903. S. 106. *) In derselben Lage ist auch die experimentelle Psychologie, wenn sie die physischen Begleiterscheinungen psychischer Prozesse an a n d e r e n Menschen variiert, um daraus Schlüsse auf die psychischen Vorgänge zu ziehen. Denn jene physischen Vorgänge haben überhaupt „mehr-als-mechanische" Bedeutung nur dadurch, daß wir sie auf Grund eigner Erlebnisse deuten.



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Zweitens aber wird auf die Ergebnisse dieser Wissenschaften der Vorgang von großem Einfloß sein, durch welchen auf Grund jener Analogie mit dem eigenen Bewußtsein die Brücke vom sinnlichen Zeichen zur geistigen Bedeutung geschlagen wird. Die Art der Vermittlung durch die sinnlichen Medien und der Anknüpfung des geistigen Inhalts wird die Resultate in ausschlaggebender Weise modifizieren. Die Erforschung des V o r g a n g s der Deutung wird daher als unerläßliche Vorarbeit für die Geisteswissenschaften zu betrachten sein. Unter Deutung verstehen wir den Vorgang, in welchem wir aus sinnlich gegebenen Zeichen ein Geistiges erkennen und wiedergeben. Nach zwei Seiten hin haben wir denselben abzugrenzen. Zuerst der sogenannten E i n f ü h l u n g gegenüber. Wenn wir uns in die Bewegung einer Linie, in das Gleichgewicht oder Ungleichgewicht äußerer Massenvertoilung, in den Flug des Vogels, in die Bewegungen des Turners „einfühlen", so findet ein Miterleben des fremden Zustandes, ein „inneres Mitmachen" statt, bei welchem wir dem Eindruck des Geschauten unmittelbar und rückhaltlos hingegeben sind1). SinnDie -wissenschaftliche Erforschung jener eigenen Erlebnisse ist also auch hier unumgängliche Voraussetzung. Dies tritt am stärksten da hervor, wo wir auf gar keine zuverlässige Aussagen uns stützen können, wie in der Psychologie des Kindes oder der Tiere. Hier ist es ja völlig einleuchtend, daß nur die Analogie unseres eigenen Bewußtseins uns eine Deutung ermöglicht. ') Th. Lipps a. a. O. S. 111 ff. Ob die „Einfühlung" als Prinzip der Ästhetik verwertbar ist, kommt hier nicht in Be-



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liehe Anschauung und gefühlsmäßiges Miterleben Ich und Nicht-Ich vereinigen sich hier so eng in einem einheitlichen Akte, daß sie als unterschiedene Elemente überhaupt nicht zum Bewußtsein kommen. Daher auch die Möglichkeit, in das Leblose, das nicht Geisteserzeugnis ist, Gefühle hineinzuverlegen, eine Möglichkeit, welche durch die Reflexion auf den Unterschied zwischen dem lebendigen Ich und dem unlebendigen Nicht-Ich sofort aufgehoben wird. Anders die Deutung, bei welcher wir uns des Unterschiedes zwischen dem eigenen Ich und dem an die sinnlichen Zeichen geknüpften Inhalt als eines fremden Erzeugnisses in der Regel bewußt sind. Die Einfühlung mag daher gelegentlich ein Hilfsmittel der Deutung werden, z. B. bei der Einfühlung in die Stellung einer antiken Statue, die gedeutet werden soll; ihre volle Ursprünglichkeit wird aber in demselben Maße abnehmen, als die Reflexion darüber Platz greift. In zweiter Linie ist die Deutung dem bloßen V e r stehen gegenüber abzugrenzen. Schleiermacher, dem wir eine Theorie der Hermeneutik verdanken, die wohl immer noch als die beste systematische Bearbeitung dieses Gegenstandes bezeichnet werden kann, hat die Hermeneutik, die nichts anderes ist als kunstmäßige Deutung, als K u n s t des Verstehens bezeichnet*). A u g u s t Boeckh, dessen in der „Encytracht, wo es sich nur um die Abgrenzung des tatsächlichen Vorgangs gegen die „Deutung" handelt. ') Vgl. J. Volkelt, Zur Psychologie der ästhetischen Beseelung, Zeitschrift für Philos. u. philos. Kritik, her. v. Falckenberg. 1898. I L 164. 2) Fr. Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik mit be-



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klopädie und Methodologie der philologischen Wissenschaften" gegebene „Theorie der Hermeneutik" 1 ) an Schleiermacher sich anschließt, folgt ihm darin und charakterisiert die Aufgabe der Hermeneutik nach zwei Gesichtspunkten: I. als Verstehen aus den objektiven Bedingungen des Mitgeteilten, dem Wortsinn an sich — grammatische Interpretation, und dem Wortsinn in Beziehung auf reale Verhältnisse, z. B. Auslegung eines Schriftwerkes im Zusammenhang mit den gangbaren Vorstellungen der Zeit, zu welcher es entstanden ist — historische Interpretation; II. als Verstehen aus den subjektiven Bedingungen des Mitgeteilten, und zwar teils aus dem Subjekt an sich, sofern jeder Sprechende und Schreibende die Sprache auf eigentümliche und besondere Weise gebraucht — individuelle Interpretation; teils aus dem Subjekt in Beziehung auf die subjektiven Verhältnisse, die in den individuellen Zwecken und in der subjektiven Richtung der Darstellung liegen — generische (wegen der „in einer besonderen Form, einer Gattung ausgeprägten" mit dem Zweck gegebenen Kunstregel) Interpretation. Auch D i l t h e y definiert in seiner verdienstvollen Abhandlung über „die Entstehung der Hermeneutik" 2) die Auslegung oder Interpretation als das „kunstmäßige Verstehen von dauernd fixierten soliderer Beziehung auf das Neue Testament. Herausg. von F. Lücke. 1838, S. 7. ') August Boeckh, Encyklopädie und Methodologie der philologischen Wissenschaften, herausg. v. Bratuscheck, 2. Aufl. v. Klußmann. 1886. S. 79 ff. s ) Wilhelm Dilthey, Die Entstehung der Hermeneutik. Philosophische Abhandlungen, Chr. v. Sigwart zu seinem 70. Ge-



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Lebensäußerungen", wobei er übrigens nicht unberücksichtigt läßt, daß es auch eine Auslegungskunst gibt, deren Gegenstände Skulpturen oder Gemälde sind. Wenn Dilthey hierbei vom Verstehen ausgeht als dem Vorgang, „in welchem wir aus Zeichen, die von außen sinnlich gegeben sind, ein Inneres erkennen"1), so ist er sich bewußt, dabei mit dem Sprachgebrauch nicht völlig übereinzustimmen. Sagen wir ja auch: Ich verstehe nicht, wie ich so handeln konnte, ja ich verstehe mich selbst nicht mehr, wo es sich doch nicht darum handelt, aus sinnlich gegebenen Zeichen erst ein Inneres zu erkennen. In Wirklichkeit wird gerade der letztgenannte Vorgang, der für jede Art von Interpretation charakteristisch ist, besser durch „Deutung" wiedergegeben. Beim Verstehen handelt es sich — entsprechend dem Hauptwort Verstand — um die Einordnung eines Objekts in den Zusammenhang unseres Wissens überhaupt, ob dasselbe nun in sinnlich wahrnehmbaren Zeichen gegeben ist oder nicht, beim Deuten stets darum, zum sinnlich vorliegenden Zeichen den geistigen Inhalt, die „Bedeutung" zu suchen. Beiden Begriffen, dem Verstehen sowohl als der „Einfühlung" gegenüber, kommt endlich noch das Weitere hinzu, daß zur Deutung in der Regel nicht bloß die Auffassung, sondern auch die Wiedergabe des Aufgefaßten in sprachlicher Form gerechnet wird. Darauf weist auch in dem Wort Hermeneutik die geburtstag gewidmet. 1900. S. 187—202. Die Abhandlung Diltheys wurde mir erst bekannt, als die Grundzüge des vorliegenden Vortrags bereits entworfen waren. ») Dilthey a. a. O. S. 188.



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meinsame "Wurzel mit Hermes, dem Götterboten, der die göttlichen Gedanken in sinnlich Faßbares übersetzt. Wollten wir also die Deutung als eine Art des Verstehens bezeichnen, so wäre zum mindesten dieses Merkmal der sprachlichen Fassung des Verstandenen zum Zweck der Mitteilung hinzuzufügen.

n. Versuch einer Theorie der Deutung. Eine Theorie der Deutung, wie sie die Geisteswissenschaften fordern müssen, hätte also hauptsächlich folgende Punkte zu beachten: 1. die Auffassung der sinnlich gegebenen Zeichen, durch welche alle Kenntnis fremden Geisteslebens für uns vermittelt wird, 2. die Art der Verbindung dieser sinnlich gegebenen Zeichen mit dem geistigen Inhalt, und 3. die Art der Wiedergabe dieses geistigen Inhalts in sprachlicher Form. 1. Unter den sinnlichen Medien sind für uns weitaus die wichtigsten die Sprachzeichen, für die Gegenwart die Laut- und Schriftsprache, für die Vergangenheit die Schriftsprache. Durch die letztere geht ja der größte Teil unserer gesamten Kenntnis des geschichtlichen Lebens. Sehen wir von den Fällen, in welchen die Schriftzeichen selbst unvollständig oder undeutlich überliefert sind und die Entzifferungskunst als eine spezielle Technik einzutreten hat, hier ab, so handelt es sich vor allem um die Auffassung der Schriftzeichen zum Zwecke ihres Verständnisses, um



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die physiologisch-psychologische Seite des Lesens. Die Psychologie der Sprache hat sich verhältnismäßig spät der Untersuchung dieses Vorganges zugewandt, nun aber bereits in einer Anzahl glücklicher Versuchsreihen den Sachverhalt nach verschiedenen Seiten hin aufgehellt1). Die Sprachzeichen erscheinen von hier aus als ein verwickelter Assoziationskomplex, in welchem die verschiedenen Sinne in verschiedenartiger Abstufung beteiligt sind. Die Art, wie die Reproduktionen der gesehenen, gehörten, gesprochenen, geschriebenen Wörter zusammenwirken, muß auch für die Deutung von Einfluß sein. Insbesondere werden auch bei der Darbietung der Sprachzeichen nur für einen Sinn, z. B. der visuellen Darbietung auch die übrigen Sinne, z. B. die akustischen, motorischen, graphischen Erinnerungsvorstellungen mehr oder weniger mitwirken. Für den Vorgang der Deutung bei den verschiedenen Sinnestypen ist hier, um das schon an dieser Stelle vorwegzunehmen, von Wichtigkeit die Frage, mit welchem der Komponenten des Assoziationskomplexes die Bedeutung assoziiert ist. Wir haben akustische, optische, motorische, graphische Wortbilder. Für den Akustiker knüpft sich die Bedeutung des Wortes vorwiegend an den Klang desselben. Muß ein „Alektischer", ein „ Wortblinderu, der die gesehenen Worte nicht mehr deuten kann, die verlorene Assoziation zwischen dem sinnlichen Zeichen und der Bedeutung auf irgend einem anderen Wege, z. B. durch ') B. Erdmann und R. Dodge, Psychologische Untersuchungen über das Lesen 1898. J. Zeitler, Philos. Studien. Bd. 16. 1900. S. 380 ff.



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Assoziation zwischen dem gehörten Wort „Tisch" und der allgemeinen Vorstellung „Tisch" neu herstellen, so zeigt sich, daß der Assoziationskomplex der Wörter doch keine so innige Verknüpfung darstellt, daß nun bei einem Ausfall sofort irgend ein anderer sinnlicher Bestandteil desselben die Reproduktion der Bedeutung vermitteln könnte. Die visuelle Vermittlung der Deutung z. B. muß sich zuerst allmählich in eine akustische verwandeln. Hauptsächlich aber gaben die Untersuchungen über das Lesen eine exakte Bestätigung des grollen Einflusses, den der sofort hinzugedachte „Sinn" der Worte oder ihre „Bedeutung" schon auf die Sicherheit und G-eschwindigkeit der bloßen sinnlichen Wahrnehmung der Wortbilder selbst hat. 2. Damit sind wir aber bereits auf die zweite Frage, den Hauptpunkt, die Art der Verbindung der sinnlichen Zeichen mit dem geistigen I n halt geführt. Wir lesen z. B. eine Zeitung und im Augenblick des Lesens kommen uns nicht bloß die tatsächlich allein gegebenen gedruckten Buchstaben und daraus zusammengesetzten Wörter, sondern auch deren Bedeutungen, mindestens der Sinn der ganzen Sätze zum Bewußtsein. Dies ist nur möglich auf Grund der assoziativen Verbindungen zwischen den Wortbildern und ihrer Bedeutung, vermöge welcher die Wahrnehmung der erstem sogleich die letztere uns vergegenwärtigt. Woher stammen aber diese Assoziationen? Wir setzen voraus, daß die Wörter unserer Sprache eine allgemein anerkannte Bedeutung haben, mit anderen Worten, daß allgemeingültige Assoziationen zwischen Wortbild und Bedeutung bestehen. Aber nur das Wort-



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bild ist uns gemeinsam1) und als identisch im strengen Sinne kontrollierbar. Die Vorstellungen, durch welche wir uns die Bedeutung vergegenwärtigen, können wir j a niemals unmittelbar mit den Bedeutungsvorstellungen anderer Menschen vergleichen. Alle Versuche dieser Art sind stets wiederum sinnlich vermittelt! Die Assoziation zwischen "Wortbild und Bedeutung ist also trotz aller Abhängigkeit vom überlieferten Wissensschatz zuletzt doch unser eigenstes Eigentum, das Ergebnis unserer individuellen Entwickelung*). Wie sind diese Assoziationen entstanden? Der Grundstamm derselben hat sich bereits im Kindesalter gebildet, und es leuchtet von hier aus ein, von welcher Wichtigkeit Untersuchungen über die Entwicklung von Sprechen und Denken beim Kinde, oder über die Entstehung der ersten Wortbedeutungen beim Kinde sind, wie sie z. B. B. Erdmann8), Ament4), Meumann5) angestellt haben. ') In der Sprache des „naiven Realismus" geredet. Wollte man diese Ausdrucksweise vermeiden, so könnte man etwa sagen: unseren Sinnen in derselben Weise gegeben. *) Wobei sich bereits in der sinnlichen Vermittlung Unterschiede geltend machen, sofern beim Akustiker die Bedeutung sich vorwiegend an das akustische Wortbild knüpft, beim Motoriker an das motorische. Es fragt sich, ob hierbei Mittelglieder übersprungen werden, so daß nach vollständiger Bildung des Wortassoziationskomplexes die Bedeutung sich an jeden sinnlichen Bestandteil desselben knüpfen kann. ') B. Erdmann, Die psychologischen Grundlagen der Beziehungen zwischen Sprechen und Denken. Archiv f. system. Philos. Bd. 2. *) Wilhelm Ament, Die Entwickelung von Sprechen und Denken beim Kinde. 1899. 4 ) E. Meumann, Die Entstehung der ersten Wortbedeu-



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In dem hier sich anschließenden Entwicklungsprozeß, welcher unter normalen Bedingungen zur annähernden Aneignung des Sprachschatzes der Muttersprache mit den geläufigen Wortbedeutungen führt, lassen sich als Hauptfaktoren unterscheiden: die zunehmende Kenntnis des Baues der Sprache, die fortschreitende Ausbildung des Denkens, und die wachsende Ausbreitung des Wissens, also der grammatikalische, logische und historische Faktor, deren Zusammenwirken dann im einzelnen Fall das Verständnis der Sprachzeichen ermöglicht. Die psychologische Verfolgung dieses ganzen Prozesses bis in das Kindesalter zurück unterliegt aber der Schwierigkeit, daß wir von dem eigenen kindlichen Denken keine zuverlässige Kenntnis haben, und daher auch in der Analyse der Entwicklung selbst auf Deutung des kindlichen Sprechens angewiesen sind. Die Unsicherheit der Deutung wird größer, wenn es sich um frühere Epochen der eigenen Sprache oder um fremde Sprachen handelt. Das fremde Wort wird in Wörtern der eigenen Sprache wiedergegeben. Es wird übersetzt. Aber eine Bürgschaft dafür, daß nun die daran sich knüpfenden, die Bedeutung repräsentierenden Vorstellungen sich decken, ist noch weniger vorhanden. Vielmehr werden, je entlegener die Kultur eines Volkes ist und je größer daher der Abstand von dem eigenen Wissensinhalt und der eigenen Denkweise ist, um so mehr auch die Vorstellungen selbst und die daraus gebildeten Betungen beim Kinde. Festschrift für Wilh. Wundt zu seinem 70. Geburtstage. 1902. II. 152—215.



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griffe differieren. Die aristotelische ¿VTeXexeta läßt sich mit keinem deutschen Ausdruck wiedergeben, der mit Sicherheit dieselbe Vorstellung hervorruft, welche mit dem griechischen Wort für den Griechen verbunden war. Die Forderung der Deutung führt hier daher zu eingehenden grammatikalischen, logischen, psychologischen und historischen Untersuchungen. Das Wort wird etymologisch untersucht, in der Wandlung seiner Formen verfolgt, im g r a m m a t i k a l i s c h e n Zusammenhang des Satzes betrachtet. Es wird ferner die Bedeutung desselben, der zugrunde liegende Begriff l o g i s c h zergliedert und dadurch die Möglichkeit geschaffen, durch Aufzählung der Merkmale in Wörtern der eigenen Sprache den Inhalt des fremden Begriffs vollständig zu umschreiben. Je größer der Abstand der Begriffe und sprachlichen Formen der Fremdsprache von der Muttersprache ist, desto schwieriger wird jene Zergliederung der Begriffe und desto vollständiger muß sie doch erfolgen, da in demselben Maße die Wahrscheinlichkeit abnimmt, in der eigenen Sprache entsprechende Wörter für denselben Begriff zu finden. Darin liegt ja die der Übung in den alten Sprachen zugeschriebene Gymnastik des Denkens. Aus der, dieser logischen Zergliederung häufig entgegenwirkenden, im übrigen nicht zu entbehrenden, lexikalischen Behandlung entsteht die Gefahr für die Aufgabe der Deutung, daß zwischen dem Fremdwort und irgend einem in der Bedeutung oder im Laut demselben nahekommenden Wort der Muttersprache eine Assoziation hergestellt wird, die schließlich völlig geläufig wird und zu der falschen Annahme einer voll-



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ständigen Identität der Bedeutungen führt. Man denke an die Wiedergabe des englischen „idea" durch „Idee" oder „belief" bei Hume durch „Glaube". Dieser Gefahr hat neben jener logischen Bearbeitung der durch die Worte bezeichneten Begriffe entgegenzuarbeiten: die p s y c h o l o g i s c h e Berücksichtigung der individuellen Eigenart des Urhebers eines Schriftwerkes und seiner Denkweise und das historische Verständnis der Sprachzeichen und ihrer Bedeutung aus der Vorstellungswelt ihrer Zeit. Es bedarf keiner besonderen Hervorhebung, daß diese Hilfsmittel der Deutung selbst wieder das Verständnis der Sprachzeichen voraussetzen, mit deren Hilfe grammatikalisches, logisches, psychologisches, historisches Wissen gewonnen wird. Sie sind daher — das lehrt die psychologische Untersuchung des Deutungsvorgangs — dem Bewußtsein des Forschers selbst gegenüber sekundär, aus welchem als der primären Quelle die toten Buchstaben mit lebendigem Inhalt erfüllt werden. Nicht dieser Inhalt selbst, sondern nur die fortlaufende Berichtigung und Ergänzung desselben kann aus den Schriftwerken und Aussagen anderer gewonnen werden. Eine Psychologie der Deutung wird aber ihre Aufmerksamkeit besonders dem Umstand zuwenden müssen, daß bei vollständiger Deutung eines Schriftwerks vergangener Zeit alle jene Hilfsmittel womöglich in einem A k t e zusammenwirken müssen. Man sagt von dem Philologen, der sich daran macht, ein Schriftwerk z. B. den neuaufgefundenen Aristotelischen „Staat der Athener" zu deuten: er hat neben der grammatikalischen Kenntnis der Sprache ein „Bild" E l s e n h a n s , Die Aufgabe einer Psychologie cL Deutung.

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der geschichtlichen Größe, z. B. des Hellenentums, aua welcher das Schriftwerk stammt. Ist aber die historische Gesamtkenntnis, die er von einer geschichtlichen Epoche besitzt, tatsächlich ein Vorstellungsganzes, ein Gesamtbild, mit dem im Augenblick der Deutung die einzelnen Vorstellungen zusammengehalten werden könnten, ob sie hineinpassen oder nicht? Sie erschöpft sich darin schon deshalb nicht, weil die Vergegenwärtigung einer solchen charakteristischen Geschichtsepoche zweifellos mit vielerlei Gefühlselementen verwebt ist, noch ganz abgesehen davon, daß das Ganze viel zu kompliziert ist, um zu einem einheitlichen „Vorstellungsganzen", zu einem „Bild" sich zusammenzuschließen. Was ist aber dann das "Wesentliche an diesem Vorgang ? Die populäre Ausdrucksweise kann uns hier den richtigen Weg weisen. Man sagt, der Historiker, der Sprachforscher hat ein „Gefühl" dafür, was der richtige Sinn einer Stelle, die richtige Auffassung eines Schriftwerks ist. Er wird dieses „Gefühl" durch grammatikalische, logische, psychologische, historische Gründe zu rechtfertigen suchen, aber es wird ihn vielfach vor aller wissenschaftlichen Beweisführung auf den richtigen Weg weisen, und es wird vor allem in zweifelhaften Einzelfällen, wo eine Entscheidung nur durch ein Zusammenwirken der genannten Faktoren zu gewinnen ist, oder wo es sich um die Auffassung der charakteristischen Grundzüge eines Zeitalters handelt, eine maßgebende Rolle spielen. Lassen wir einen Meister der Altertumswissenschaft aus seiner Selbstbeobachtung heraus reden. A u g u s t Boeckh sieht in seiner bereits erwähnten



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Theorie der Hermeneutik 1 ) eine Hauptschwierigkeit dieser Disziplin, einen unvermeidlichen Zirkel darin, daß die verschiedenen Arten der Auslegung reale Kenntnisse der geschichtlichen Entwicklung voraussetzen, während doch andererseits diese erst durch die Auslegung des gesamten Quellenmaterials gewonnen werden können, und daß ferner jede individuelle Äußerung durch eine u n e n d l i c h e Anzahl von Verhältnissen bedingt sei, weshalb es unmöglich sei, diese zur diskursiven Klarheit zu bringen. Die Aufgabe der Hermeneutik könne daher nur durch unendliche A p p r o x i m a t i o n , d. h. durch allmähliche, Punkt für Punkt vorschreitende, aber nie vollendete Annäherung gelöst werden. Und er fährt dann fort: „Für das Gefühl wird jedoch in gewissen Fällen ein vollständiges Verständnis erreicht, und der hermeneutische Künstler wird um so vollkommener sein, je mehr er im Besitz eines solchen den Knoten zerhauenden, aber freilich keiner weiteren Rechenschaft fähigen Gefühls ist. Dies Gefühl ist es, vermöge dessen mit einem Schlage wiedererkannt wird, was ein anderer erkannt hat, und ohne dasselbe wäre in der Tat keine Mitteilungsfähigkeit vorhanden." Dieses „Gefühl, welches aus der Ähnlichkeit mit dem Erklärten herauswirkt, ist ein innerlich produktives; es tritt an die Stelle des Verstandes die Phantasie als hermeneutische Tätigkeit." *) Sollte dieser psychische F a k t o r , durch welchen n a c h p s y c h o l o g i s c h e r W a h r s c h e i n l i c h k e i t ') a. a. 0. S. 82 ff. *) a. a. 0. S. 86 f.





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and nach s a c h k u n d i g e r A u s s a g e z u l e t z t unser ganzes Verständnis der g e s c h i c h t l i c h e n Verg a n g e n h e i t v e r m i t t e l t wird, nicht der eing e h e n d s t e n U n t e r s u c h u n g wert sein? Hat hier nicht die P s y c h o l o g i e noch eine b e d e u t u n g s volle A u f g a b e zu lösen? Vielleicht läßt sich angeben, in welcher Richtung diese Arbeit etwa hegt. Das in Betracht kommende „Gefühl" ist jedenfalls durch das Zusammenwirken vieler Faktoren zustande gekommen, es ist ein Verschmelzungsprodukt aus vielen einzelnen Gefühlen, es ist — nach Wundts Ausdrucksweise — ein „Totalgefühl", das aus einer Vielheit von „Partialgefühlen" entspringt1), nur daß wir dabei zu berücksichtigen haben, daß darauf eigentlich besser das Verhältnis des Allgemeinen zum Besonderen, als das des Ganzen zu den Teilen paßt2). "Wir haben nach Beispielen hierfür in unserem Seelenleben nicht weit zu suchen. Das bekannteste unter ihnen ist das sogenannte „Gemeingefuhl", ein Ausdruck, der eigentlich am besten für sämtliche Gefühle dieser Art gebraucht würde, unter dem man aber in der Regel das sog. „Lebensgefühl" versteht, eine Art Resultante unserer sämtlichen sinnlichen Gefühle, ein Verschmelzungsprodukt aus sämtlichen mit unserem körperlichen Zustand verbundenen Gefühlen, dessen Qualität besonders durch die sogenannten Organempfindungen, wie Hunger und Durst, die Atem>) Wundt, Grundriß der Psychologie. 3. Aufl. S. 192. *) Vgl. hierzu und zum folgenden meinen Aufsatz „Über Verallgemeinerung der Gefühle". Zeitschr. für Psychol. u. Physiologie der Sinnesorgane. Bd. 24. S. 194 ff.



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und Pulsbewegung bestimmt wird. Charakteristisch ist für dieses „Lebensgefühl" das mehr oder weniger vollständige Aufgehen der einzelnen Gefühle in das Gemeingefühl und das Ausstrahlen (die Irradiation) einzelner Organgefühle auf die allgemeine Gefühlslage, so daß die Qualität dieser letzteren überwiegend von irgend einer Organempfindung aus bestimmt wird. So beherrscht z. B. die Erschwerung des Atmens in zunehmenden Maße die ganze Gefühlslage. Innerhalb der höheren Gefühle hat sich eine ähnliche Beobachtung besonders an das S p r a c h g e fühl geknüpft, das als ein unmittelbares Gefühl des Sprachrichtigen aus unzähligen Übungen im Sprechen, Hören, Lesen der Sprache, aus grammatikalischen Kenntnissen und logischen Prozessen, die alle ihrerseits von Schwingungen des Gefühlslebens begleitet waren, entstanden ist. Ahnlich ist der Sachverhalt in vielen anderen Fällen, wenn etwa die Gesamteindrücke von Personen, Gebäuden mit ihren Einzelräumen und ihrer Ausstattung, Landschaften oder auch gelesenen Büchern eine „Stimmung" in uns zurücklassen, die aus der Gesamtheit der bisherigen Gefühlserlebnisse sich zusammensetzt, meist aber unter dem Einfluß der Irradiation einer vorwiegenden Gefühlsqualität steht. Diese Beobachtung haben wir nun wohl auch auf den Vorgang der D e u t u n g anzuwenden, der uns hier zur vollständigen „Interpretation" im Sinne Boeckhs wird. Auch das Studium einer geschichtlichen Epoche hinterläßt einen solchen G e f ü h l s n i e d e r s c h l a g , zu •welchem eine große Zahl von Einzelgefühlen zu-



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sammengewirkt hat, die sich ihrerseits zu Gemeingefühlen vereinigten, um dann in Gemeingefühle höherer und noch höherer Ordnung einzugehen. Gefühlstöne führt in der Regel schon das einzelne Wort mit sich. Wir dürfen nur Wörter wie Großmut, Gemeinheit, Ekel, Waldesrauschen, Verwesung aussprechen, um uns der mitschwingenden Gefühlsqualitäten bewußt zu werden. In der Fremdsprache ist es ferner der Klang der Sprache selbst, welcher zu einer bestimmten Modifikation der stimmungsmäßigen Auffassung beiträgt. Die Kenntnis der überlieferten Literatur, der Kunst, der Wissenschaft, einzelner hervorragender geschichtlicher Persönlichkeiten, des geschichtlichen Verlaufs selbst, der geographischen Beschaffenheit kommt dazu, um dieses gefühlsmäßige Gesamt„bildu zu vollenden. Bei entsprechender Ausdehnung und Vertiefung der geschichtlichen Kenntnis ist das Ergebnis dann ein a von ganz bestimmter oder v i e l m e h r n Gemeingefühl innerhalb ganz bestimmter Grenzen sich bew e g e n d e n Nuance des Gefühlslebens, das nun mit dem Namen der Epoche oder des Volkes in assoziativer Verbindung steht. So führt der Name für geschichtliche Epochen oder auch Ereignisse: Hellas, Renaissance, römische Kaiserzeit, französische Revolution, Freiheitskriege einen Gefühlston allgemeiner Art mit sich, der aus vielen einzelnen Gefühlsfaktoren sich zusammensetzt. Es fehlt auch nicht an dem Moment der Irradiation. In der Gefühlswelt, in welche das Hellenentum uns versetzt, mögen vielleicht die Gefühlseindrücke, welche an den Hermes des Praxiteles, oder an die Persönlichkeit Piatos, oder an



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die Olympischen Spiele sich knüpfen, den ausschlaggebenden Einfloß auf die Gefühlsqualität üben. Jedenfalls ist für unsere Frage wesentlich, daß diese histor i s c h e n „Totalgefvihle" oder „Gemeingefühle" 1 ), wie man sie auch nennen könnte, trotz aller scheinbaren Unbestimmtheit für die Deutung einen sicheren Kanon abgeben können. Ist die Auslegung einer Schriftstelle, die Deutung eines Kunstwerks zweifelhaft, oder handelt es sich um die richtige Auffassung ganzer Kulturepochen, so leiten sie den Forscher in einer ganz bestimmten Sichtung. Ob eine Vorstellung oder ein Vorstellungskomplex mit dem Gefühlszuwachs, den sie bringen, in dieses Gefühlsganze hineinpaßt oder nicht, wird mit instinktiver Sicherheit entschieden. Wie beim Sprachgefühl ist auch hier der ganze Vorgang nicht leicht faßbar, aber ebenso wie bei diesem die Leitung, welche dem Vorstellungsverlauf zuteil wird, eine außerordentlich zuverlässige. Wir werden annehmen müssen, daß ein besonders feiner Sinn für Gefühlsähnlichkeiten hier wirksam wird, der alles die Harmonie dieses Gefuhlsganzen Erhöhende sofort herausfühlt und jede abweichende Schattierung als störenden Mißton empfindet. 3. Wir dürfen denselben Vorgang nur in umgekehrter Richtung verfolgen, um zu erkennen, auf welchen Grundlagen die mit der Deutung in der Regel verbundene sprachliche F a s s u n g des Gedeuteten beruhen wird. Dort Einzelvorstellungen mit ihren Bedeutungen und Gefühlstönen, deren ') Zur Rechtfertigung dieser Gleichstellung vgl. die oben angeführte Abhandlung.



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einheitliches Zusammenwirken einen Gefühlsniederschlag hervorbringt; hier die Umsetzung des Geföhlten in Sachvorstellungen und dieser in "Worten. Die Art des letzteren Vorgangs können wir uns etwa an folgendem Beispiel deutlich machen. Es ist bekannt, wie Stimmungen auf den Vorstellungsverlauf wirken. Eine trübe Stimmung ruft eine Reihe unangenehmer Vorstellungen ins Bewußtsein. Diese Vorstellungen sind häufig untereinander nicht assoziativ verknüpft. Unter dem Einfluß eines verdorbenen Magens ist vielleicht das Barometer des LebensgefühlB gesunken und nun tauchen unangenehme Vorstellungen der verschiedensten Art auf, die mit der Vorstellung des verdorbenen Magens gar nichts zu tun haben. Sie haben nur eine ähnliche Gefühlsqualität. Es ist also hier nicht die Vorstellungsassoziation, welche sie über die Schwelle des Bewußtseins auftauchen läßt, sondern es sind die begleitenden Gefühlstöne, welche um ihrer Ähnlichkeit mit der allgemeinen Gefühlslage willen auch den mit ihnen verbundenen Vorstellungen zur Reproduktion verhelfen. So hat jedes „Gemeingefühl" und zwar in um so stärkerem Grade, je mehr es die allgemeine Gefühlslage in einem gegebenen Augenblick beherrscht, die Tendenz, Vorstellungen hervorzurufen, welche einen ihm ähnlichen Gefühlston mit sich führen, oder allgemeiner gesagt, solchen Vorstellungen zur Reproduktion zu verhelfen, welche einen der Qualität des Gemeingefühls entsprechenden Gefuhlszuwachs bringen. So vermag der Ubersetzer einen dem Gesamtcharakter der Epoche und des Volkes entsprechenden Ausdruck zu finden. So kann der Historiker eine geschichtliche



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Periode anschaulich schildern, indem er ans der Stimmung heraus, in welche er sich bei der Vertiefung in dieselbe versetzt fühlt, eine Reihe von Vorstellungen und entsprechenden Wortbildern in sich hervorruft, deren Gefühlswirkung jener Stimmung entspricht und die daher auch den Hörer oder Leser in dieselbe Gefühlslage überfuhrt. E r wandelt im Geiste unter der Sonne Homers und er weiß die Töne zu finden, die auch in anderen dieselbe Stimmung anklingen lassen. Hier berührt sich der Historiker mit dem Dichter. Die P h a n t a s i e ist es, welche hier die maßgebende Bolle spielt und aus einem mächtigen Gefühl heraus eine Vorstellungswelt und einen adäquaten Ausdruck für sie hervorbringt 1 ). Wenn dieses Hineinragen des Gefühls- und Stimmungsmäßigen auch in die wissenschaftliche Forschung bedenklich erscheint, so ist zu beachten, daß die hier besprochenen Gefühlsfaktoren, soweit ihnen dieser weitgehende Einfluß zugestanden wird, ja selbst erst aus der wissenschaftlichen Arbeit entstehen und durch sie beständig reguliert werden. Wird es doch kaum ernstlichem Widerspruch begegnen, daß bei jeder schöpferischen Geistesarbeit, auch der wissenschaftlichen, Phantasie und Verstand zusammenwirken. Die Verstandesseite zu bearbeiten ist hauptsächlich Sache der wissenschaftlichen Methodenlehre. Eine P s y c h o l o g i e der Deutung wird sich vorwiegend der ') Daher kann auch der Dichter historischer Dramen, der gegen geschichtliche Einzelheiten sich verfehlt, dadurch gerechtfertigt sein, daß er aus seinem „ Gemeingefühl" heraus durch das Medium der Anschauung doch auch den Zuschauer und Hörer in dieselbe Gefühlsstimmung versetzt.



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G-eföhlsseite dieses Vorgangs zuwenden müssen, welcher, obwohl von so großem Einfluß, doch noch so wenig aufgehellt ist. Von der Lösung dieser Aufgabe konnten hier freilich nur Andeutungen gegeben werden. Vielleicht liegt aber doch in der gezeigten Richtung einer der Wege, welche die Psychologie gehen kann, um den Geisteswissenschaften mehr und mehr eine verdienstvolle Mitarbeiterin zu werden.