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German Pages 258 [260] Year 1972
Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft 9
Siegfried Kanngießer
Aspekte der synchronen und diachronen Linguistik
Max Niemeyer Verlag Tübingen 1972
Redaktion Lothar Rotsch
ISBN 3-484-22010-4 ©
Max Niemeyer Verlag Tübingen 1972 Alle Rechte vorbehalten. Printed in Germany Satz: Biicherdruck Helms KG, Tübingen Einband von Heinr. Koch Tübingen
Inhalt
Vorwort Einleitung: Kontinuität und Fortschritt in der Linguistik 1
VII 1
Ansätze zu einer Methodologie der Linguistik
7
1.1
S t r u k t u r von explanativen u n d deskriptiven S y s t e m e n
1.2
I n f o r m a t i o n s g e h a l t u n d Prüfbarkeit von T h e o r i e n
7
1.3
E i n f a c h h e i t u n d Universalität von Theorien
21
1.4
Revidierbarkeit von T h e o r i e n in der Linguistik
25
1.5
F u n k t i o n und S t r u k t u r von Idealisierungen
28
2
Idealisierungen im Aufbau der Linguistik
33
18
2.1
C h o m s k y - K o n z e p t i o n der Linguistik
33
2.2
F u n k t i o n u n d S t r u k t u r der H o m o g e n i t ä t s - A n n a h m e
37
2.3
Auswirkungen der H o m o g e n i t ä t s - A n n a h m e auf S y n c h r o n i c u n d
2.4
A u s w i r k u n g e n der H o m o g e n i t ä t s - A n n a h m e in der G r a m m a t i z i t ä t s Theorie
46
2.5
F u n k t i o n u n d S t r u k t u r einer I n h o m o g e n i t ä t s - A n n a h m e
64
3
Aspekte einer Integration von Synchronic und Diachronie (A)
76
Diachronie
39
3.1
H y p o t h e s e n b i l d u n g über S y s t e m e n von p r i m ä r e n Daten (1)
76
3.2
Charakteristik der S t r u k t u r eines G r a m m a t i k e n - S y s t e m e s
80
3.3
S t r u k t u r einer T h e o r i e der G r a m m a t i z i t ä t
88
3.4
A n w e n d u n g s g r e n z e n der G r a m m a t i z i t ä t s - T h c o r i e
97
3.5
V e r w a n d t s c h a f t s b e z i e h u n g e n zwischen k o e x i s t i e r e n d e n G r a m m a t i k e n .
102
3.6
S t r u k t u r der E x t e n s i o n von G r a m m a t i k e n - F a m i l i e n u n d G r a m m a t i k e n
104
3.7
Kriterien für den A u f b a u einer a d ä q u a t e n S p r a c h t h e o r i e
116
4
Aspekte einer Integration von Synchronie und Diachronie (B) .
120
4.1
Universalicn-Systeme u n d G r a m m a t i k e n - F a m i l i e n
120
4.2
I n t e r p r e t a t i o n von G r a m m a t i k e n - F a m i l i e n u n d E x t e n s i o n s s y s t c m e n . .
139
4.3
Z u s a t z zur Spezifikation des I n t e r p r e t a t i o n s s c h e m a s
142
4.4
E x k u r s über die V o r a u s s e t z u n g e n einer soziolinguistischcn Theorie . .
146
V
5
B e m e r k u n g e n zur s y n c h r o n e n A n a l y s e der Sprachstruktur
..
171
5.1
Charakteristika der synchronen Linguistik-Konzeption
171
5.2
Anwendungsmöglichkeiten der synchronen Konzeption (1)
177
5.3
Anwendungsmöglichkeiten der synchronen Konzeption (2)
183
6
B e m e r k u n g e n zur d i a c h r o n e n A n a l y s e der S p r a c h s t r u k t u r . . .
188
6.1
Hypothesenbildung über Systemen von primären Daten (2)
188
6.2
Charakteristika der diachronen Linguistik-Konzeption
190
6.3
Analyse von Diffusionsstadien und Zustandsfolgcn
199
6.4
Diachrone Aspekte der Grammatizitäts-Theorie
219
6.5
Diffusionsstadien und Diffusionsintensitäten
220
6.6
Analysierbarkeit von Diffusionswahrscheinlichkeiten
224
6.7
Anwendungsmöglichkeiten der diachronen Konzeption
235
7
Bestätigungsfähigkeit u n d Falsifizierbarkeit
240
7.1
Hypothesenbestätigung und Hypothesenwahrscheinlichkeit
240
7.2
Maße des Bestätigungsgrades und der eplanativen Kraft
242
7.3
Konsequenzen aus der Unvollständigkeit der Bestätigung
247
Literaturverzeichnis
VI
248
Vorwort
Der irreversible Prozeß der Mathematisierung und der Versuch, jede Theorienbildung strengen methodologischen Kriterien zu unterwerfen, sind die Konnotationen der modernen Linguistik, durch die sie von der klassischen Sprachwissenschaft auf charakteristische Art unterschieden ist. Die Ansprüche, denen die linguistische Forschung damit zu unterliegen hat, sind durch die algebraischen Systeme der von N. Chomsky begründeten und unter verschiedenen Aspekten weiterentwickelten generativen Linguistik bislang wohl am adäquatesten erfüllt worden. Allerdings erfolgte die Entwicklung der generativen Linguistik fast ausschließlich unter einem rein synchronen Gesichtspunkt; die systematischen Probleme des Verhältnisses von Synchronic und Diachronie wurden, von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen, im Rahmen der generativen Linguistik noch kaum behandelt. Diese Probleme stehen im Mittelpunkt dieser Arbeit, bei der es sich um meine überarbeitete Göttinger philosophische Dissertation von 1969 handelt. Ausgehend von einer methodologischen Analyse der Funktion und Struktur explanativer und deskriptiver linguistischer Theorien (Kap. 1) wird dabei gezeigt, daß die generative Linguistik auf Grund der Vernachlässigung diachroner Phänomene nicht nur prinzipiell unvollständig ist, sondern schon im rein synchronen Bereich empirisch inadäquat wird, da der synchronen Sprachbeschreibung die zu starke Idealisierung der „homogenen Sprachgemeinschaft" zugrundeliegt. Mit einer weitreichenden Restriktion des Idealisierungsniveaus, mit der der Objektbereich der linguistischen Theorie anders als von Chomsky und seinen Nachfolgern spezifiziert wird (Kap. 2), wird dann in einem modifizierten generativen Rahmen ein theoretisches System skizziert, in das statt einer Grammatik ein System von (koexistierenden) Grammatiken inkorporiert ist, das eine konsistente und kohärente Analyse synchroner u n d diachroner Probleme zu erlauben scheint, zugleich aber auch den Aufbau einer formalen Soziolinguistik in gewissen wesentlichen Teilaspfekten mit erlauben könnte. Weiterhin werden die Rückwirkungen der diachronen Theorie auf die Universalienhypothese ebenso erörtert wie eine Formulierung von Adäquatheitskriterien versucht wird VII
(Kap. 3 und 4). Einer knappen Darstellung der reformulierten Synchronie, die durch Beispiele für die Anwendbarkeit der Konzeption ergänzt wird (Kap. 5), folgt dann der weitere Ausbau der generativen Diachronie (Kap. 6) Abschließend wird dargestellt, wie sich der Bestätigungsgrad einer Theorie und der Grad ihrer explanativen Kraft formal bestimmen lassen (Kap. 7). Insofern stellt die Arbeit einen Beitrag zu den Versuchen dar, die Einheit der Linguistik, die in der Kohärenz der verschiedenen linguistischen Disziplinen wesentlich mitbegründet ist, zumindest näherungsweise wiederherzustellen. Es versteht sich dabei, daß auch dieser Versuch als vorläufig aufzufassen ist; definitive Erfolge auf dem Weg zu einer einheitlichen Linguistik werden sich erst nach weiteren und weiterführenden Schritten in diese Richtung erzielen lassen.
VIII
Einleitung: K o n t i n u i t ä t u n d Fortschritt in der Linguistik
Die Geschichte der Linguistik ist nicht nur eine Aufeinanderfolge verschiedenartiger Sprachtheorien, sondern immer auch eine Geschichte des linguistischen Erkenntnisinteresses. Denn mit dem Aufbau von Theorien verbindet sich immer ein spezifisches Interesse an bestimmten Fragestellungen, an Fragestellungen, die in einem synchronen oder diachronen, einem komparativen oder kontrastiven Bezugssystem oder einer Mehrzahl solcher Bezugssysteme aufgeworfen werden, und die die eigentlichen Ausgangsdaten der linguistischen Forschung sind. Dabei kann das in verschiedenen Bezugssystemen spezifizierte Interesse an einer linguistischen Erkenntnis der Sprachen nicht gleichsam absolut, voraussetzungslos verstanden werden; vielmehr ist dieses Interesse an den Sprachen, das ihrer in Theorien niedergelegten Erkenntnis vorausgeht, oder (was dasselbe meint) das Bedürfnis nach einer linguistischen Erklärung bestimmter sprachlicher Phänomene, das systematische Erklärungsversuche dann allererst auslöst, immer schon in ein Hintergrundwissen über Sprachstrukturen integriert, das als gesichert aufgefaßt wird. Denn wie jemand, der etwas — sei es zu recht oder zu unrecht — in Zweifel zieht, zumindest für diesen seinen Zweifel Gründe haben muß, die ihm selbst unzweifelhaft sind, so muß, wer sprachliche Phänomene zu erkennen, und das heißt eben: zu erklären und zu beschreiben sucht, diese seine Erklärung relativ zu solchen Annahmen über die Sprache formulieren, die von ihm selbst als keiner weiteren Erklärung bedürftig angesehen werden. Dieser Hintergrund eines nicht weiter hinterfragten Wissens, relativ zu dem eine linguistische Erklärung von Sprachphänomenen erst möglich wird, kann dabei durch bereits vorliegende und nicht weiter problematisierte Theorien über die Sprache konstituiert sein; er kann sich jedoch auch aus einem nicht weiter thematisierten Consensus der Linguisten ergeben, dem gegenüber weitere Fragen zumindest als uneffektiv erscheinen können, der aber in jedem Fall hochgradig strukturiert ist. Das bedeutet: jenes Hintergrundwissen, relativ zu dem sinnvolle linguistische Erklärungen allererst möglich werden, das selbst aber als nicht weiter erklärungsbedürftig vorgesetzt wird, ist, sei es durch Theorien, sei es durch
1
einen Consensus der Gelehrten oder durch beides, immer schon hochgradig prädisponiert, und die Art dieser Prädisposition spezifiziert genau die Voraussetzungen, die in der linguistischen Forschung eingegangen werden, um explanative Systeme aufbauen zu können. Linguistische Erkenntnis relativ zu einem bestimmten Interesse ist also immer linguistische Erkenntnis relativ zu bestimmten Voraussetzungen, wobei es von genau diesen Voraussetzungen abhängt, welche Fragen gestellt, welche sprachlichen Phänomene zum Gegenstand einer Untersuchung genommen werden können und müssen. Mit anderen Worten: durch die beim Aufbau einer Theorie eingegangenen Voraussetzungen wird der Objektbereich der Theorie weitgehendst determiniert. Nun ist klar, daß sich die Voraussetzungen einer Wissenschaft im Laufe ihrer Entwicklung ändern können und faktisch ändern; entsprechend weist jede Änderung der Voraussetzungen der Linguistik andere sprachliche Phänomene als einer linguistischen Erklärung bedürftig aus, führt zu distinkten Spezifikationen des Objektbereiches der Forschung — demzufolge läßt sich auch nicht in einer für alle Zeiten verbindlichen Formulierung angeben, was den spezifischen Gegenstand der Linguistik ausmacht; der Objektbereich der Linguistik verändert sich mit dem linguistischen Erkenntnisinteresse und relativ zu diesem. Natürlich verläuft diese Umdisposition der Erkenntnisinteressen in der Linguistik, die Umdisposition der Erklärungsbedürfnisse also und die dazu einschlägige Reorganisation der Forschung, in aller Regel nicht planlos, sondern weist eine bestimmte Struktur auf; eine Struktur, in der die Möglichkeit des Fortschritts in der Linguistik begründet ist. Folgendes: indem bewußt auf bestimmte, in einem gewissen Entwicklungsstadium S j der Linguistik eingegangene Voraussetzungen reflektiert wird, indem also in einem Stadium S2 zu erklären versucht wird, was in Sj als keiner Erklärung bedürftig angesehen wurde, werden in Sj eingegangene Voraussetzungen zurückgenommen; an ihre Stelle können in S2 nur solche Voraussetzungen treten, die weniger beinhalten; kurz: die Voraussetzungsbasis der Linguistik wird schmaler, der Objektbereich der linguistischen Theorie damit aber zwangsläufig umfangreicher, und ganz ohne Zweifel ist eine Theorie umso erklärungsintensiver, je umfassender der von ihr abgedeckte Objektbereich ist. Mithin läßt sich von den Umdispositionen des linguistischen Erkenntnisinteresses, mit denen eine Zurücknahme bereits eingegangener Voraussetzungen zusammenfällt, sinnvoll sagen, daß sie einen Fortschritt in der Entwicklung der Linguistik begründen: sie ermöglichen den Aufbau von erklärungsstärkeren, umfassendere Objektbereiche abdeckenden linguistischen Theorien. Und diese Theorien sind des weiteren dadurch gekennzeichnet, daß sie einen immer abstrak2
teren Charakter annehmen müssen. Denn je schwächer die Voraussetzungen einer Theorie sind, desto weniger prima-facie-Erfahrung der Sprachen kann in den Aufbau der Theorie und damit in die linguistische Erklärung der Sprachen eingehen; je weniger aber bei Erklärungsversuchen auf primafacie-Erfahrungen rekurriert werden kann (ζ. B. deshalb, weil die primafacie-Erfahrungen selbst Gegenstand des Erklärungsversuches sind), desto abstrakter, unanschaulicher muß das erklärende System konzipiert sein, das nicht mehr gleichsam ein Konterfei der Sprachrealität sein kann, sondern diese Realität auf einem hohen Abstraktionsniveau erfaßt und von dort diese Sprachrealität nicht widerspiegelt, sondern vielmehr erklärbar macht (cf. hierzu Kap. 1). Insofern führen die Fortschritt auslösenden Umdispositionen des linguistischen Erkenntnisinteresses zu einer grundsätzlichen Neuorientierung der Forschung: sie erzwingen den Aufbau neuer, zunehmend abstrakterer theoretischer Konzeptionen, die auf immer umfangreichere Objektbereiche zutreffen; die Aufgaben der Forschung stellen sich gänzlich neu. Und in diesem Sinne stellt de Saussures berühmte Unterscheidung zwischen synchroner und diachroner Linguistik ( c f . d e Saussure 1916, 174— 223) eine aus einer gewissen Entwicklungsphase der Linguistik hervorgehende prinzipielle Reformulierung der Aufgaben einer Linguistik dar, die zuvor nahezu ausschließlich komparativ vorging; sie ist damit zugleich jedoch auch eine tiefgreifende Umdisposition des linguistischen Erkenntnisinteresses, begleitet von einer schwerwiegenden Zurücknahme der in der komparativen Theorie eingegangenen Voraussetzungen über die Struktur der Sprachen und somit ein entscheidender Fortschritt in der Entwicklung der Linguistik überhaupt. Nach de Saussure hat sich das Ünguistische Erkenntnisinteresse in einem diachronen Bezugssystem auf die Entwicklung der Sprachen zu richten; in einem synchronen Bezugssystem dagegen muß es sich auf die interne Organisation der Sprache, ihre Struktur und ihr Funktionieren während eines gewissen Zeitraumes, eines e t a t d e 1 a η g u e richten. Und diese Festlegung der Aufgaben der Linguistik brachte nicht nur eine Erweiterung des Objektbereiches der linguistischen Forschung, der durch die klassischen linguistischen Fragestellungen im Rahmen eines um komparative Aspekte erweiterten diachronen Bezugssystemes festgelegt war, sondern erzwang auch eine Analyse deijenigen Voraussetzungen, die in der klassischen Linguistik ungeprüft eingegangen wurden. Denn gerade die Kenntnis der Funktionierens von Sprachen, ihres Aufbaus und ihrer Struktur galt hier als durch die prima-facie-Erfahrung von Sprachen im Modus des Sprechens gesichert, und diese Erfahrung wurde als keiner weiteren Analyse bedürftig angesehen. Genau diese Voraussetzungen der schließlich 3
im Sinne Pauls strikt positivistisch konzipierten klassischen Sprachwissenschaft, in deren Rahmen die Entwicklung einer Sprache nur an Hand der direkt wahrnehmbaren oder doch zumindest rekonstruierbaren Äußerungen in dieser Sprache verfolgt werden sollte, erwies sich jedoch im Rahmen der synchronen Linguistik als durchaus problematisch, da Fragen wie etwa die folgenden durch keinen Rekurs auf prima-facie-Erfahrungen beantwortbar waren und sind: sollte eine Sprache als Ganzes in der Tat nicht mehr sein als eine Menge von endlich vielen, zufällig hervorgebrachten Äußerungen, und wenn ja, wie sollte diese Menge geordnet sein? Wie funktioniert die Sprache als Ganzes, als eine Einheit, und wie ist diese Einheit strukturiert? Wie folgt ein Sprachzustand auf einen anderen Sprachzustand; auf welchen Ebenen baut sich ein Zustand einer Sprache auf? — Die Liste solcher Fragen ließe sich verlängern, und diese Fragen waren im Rahmen der klassischen Linguistik, gleichsam trotz oder gerade wegen ihres elementaren Charakters, nicht mehr beantwortbar, und damit wurde in der Tat das Fundament der klassischen Linguistik erschüttert: zwar geht es in ihrem Rahmen um Folgen von Sprachzuständen, aber es bleibt ungeklärt, was unter einem Sprachzustand zu verstehen ist; zwar werden sich verändernde Strukturen untersucht, aber diese Strukturen werden nicht näher bestimmt, usf. Diachrone Fragestellungen lassen sich erst dann sinnvoll formulieren, wenn vorab gewisse synchrone und auch universale Aspekte der Sprachstruktur geklärt sind; insofern aber ist die Diachronie von der Synchronie abhängig. Das bedeutet zunächst und vor allem, daß der A u f b a u der Theorie einer Sprache so angelegt sein muß, daß sich keine Widersprüche zwischen ihrer synchronen und diachronen Komponente ergeben; die Theorie muß, in diesem Sinne, k o h ä r e n t sein; Synchronie und Diachronie müssen systematisch aufeinander bezogen werden. Und insofern sind die klassischen Diachronien in der Tat nicht mehr umstandslos anwendbar, da sie eine solche Kohärenzforderung kaum mehr zu erfüllen vermögen. Diese Kohärenzforderung schließt beispielsweise die Forderung ein, daß Synchronie und Diachronie im Rahmen einer e i n h e i t l i c h e n Wissenschaftssprache aufzubauen sind; daß diese Forderung aber derzeit nicht erfüllt ist, liegt o f f e n zutage. Die Gründe dafür sind sicher in dem Umstand zu suchen, daß die synchrone Linguistik in einer Art entwickelt wurde, die sie schon in methodologischer Hinsicht von der klassischen Linguistik strikt abhebt. Denn die synchrone Linguistik wurde schließlich in ihrer wohl konsistentesten Form im Rahmen der algebraischen generativen Linguistik aufgebaut (cf. zu dieser Entwicklung der synchronen Linguistik etwa Chomsky 1965a, oder Bierwisch 1966, sowie die dort angegebene Literatur), mit der
4
jenes Abstraktionsniveau erreicht wird, auf dem eine Beantwortung synchroner Fragestellungen allererst möglich zu sein scheint, während die klassischen Diachronien keineswegs im Rahmen eines solchen Abstraktionsprozesses weiterentwickelt wurden. Dieser methodologische Aspekt bezeichnet sicher einen der Gründe, die es derzeit unmöglich machen, von der Kohärenz von Synchronic und Diachronie sinnvoll zu reden; er verweist jedoch auch auf die Perspektive, in der die Kohärenzforderung erfüllbar wird: sie ist nämlich nur dann erfüllbar, wenn sich eine Diachronie aufbauen läßt, die den methodologischen Standards der Synchronie ebenfalls zu genügen vermag. Es muß also, kurz gesagt, um eine abstraktere Konzeption der diachronen Linguistik gehen, und diese Konzeption muß in der Begrifflichkeit der generativen Linguistik (als der bislang konsistentesten Version von Linguistik überhaupt) entwickelt werden, wenn die Einheit der Linguistik, die genau in dem Grade verloren gegangen ist, in dem die Kohärenzforderung nicht erfüllt werden kann, in einer hinlänglichen Weise wiederhergestellt werden soll. Der Aufbau einer diachronen Linguistik ist also von den im Rahmen der synchronen Linguistik bereits erarbeiteten Resultaten abhängig. Diese Abhängigkeitsbeziehung ist jedoch nicht einseitig; natürlich müssen die Resultate der synchronen Linguistik auch daraufhin geprüft werden, inwieweit sie den Aufbau von Diachronien überhaupt ermöglichen. Denn eine Synchronie, die den Aufbau einer Diachronie nicht zu ermöglichen vermag, ist offensichtlich inadäquat; eine Sprache ist auch dann, wenn sie zum Gegenstand einer rein synchronen Untersuchung genommen wird, ein veränderliches und sich veränderndes Objekt, dessen vollständige Erklärung und Beschreibung diachrone Untersuchungen gänzlich unerläßlich macht. Synchrone Linguistik-Konzeptionen, die so angelegt sind, daß sie eine Analyse der Prinzipien der Sprachentwicklung ausschließen, sind empirisch unzulänglich und müssen modifiziert werden; diachrone Linguistik-Konzeptionen aber, die die Standards der synchronen (generativen) Linguistik nicht erreichen, sind methodologisch inadäquat und müssen ebenfalls modifiziert werden. Die vollständige Erklärung und Beschreibung einer natürlichen Sprache setzt offenbar die Existenz einer synchronen und einer diachronen Theorie dieser Sprache voraus, und Erklärung und Beschreibung können offenbar nur dann konsistent sein, wenn die Kohärenz von Synchronie und Diachronie belegt werden kann, wenn also, anders gesagt, sich sinnvoll von der Einheit der Linguistik (im Sinne einer widerspruchsfreien Zuordnung ihrer Disziplinen, speziell von Synchronie und Diachronie) reden läßt. Das jedoch ist beim derzeitigen Entwicklungsstand der Linguistik zweifellos nicht mög5
lieh. Diese Einheit durch eine kohärente Verbindung von Synchronic und Diachronie zumindest approximativ wiederherzustellen und so die Möglichkeit einer vollständigen Erklärung und Beschreibung einer natürlichen Sprache versuchsweise zu restituieren, ist ganz offenbar eine vordringliche Aufgabe der linguistischen Methodologie. Soll diese Aufgabe sinnvoll erfüllt werden, muß erstens zur Kenntnis genommen werden, daß die methodologischen Standards der synchronen Linguistik auch für die diachrone Linguistik verbindlich sind; die Diachronie ist auf einem gegenüber den klassischen Diachronien sehr hohen Abstraktionsniveau im Sinne der generativen Linguistik zu konzipieren; der Mathematisierungsprozeß, aus dem die generative Synchronic hervorgegangen ist, hat entsprechend auf die Diachronie überzugreifen. Um den Aufbau einer solchen diachronen Linguistik zumindest approximativ leisten zu können, muß zweitens die Konzeption der generativen Synchronie sozusagen auf ihre Diachroniefähigkeit hin überprüft werden; es bleibt also zu untersuchen, wie eine generative Synchronie aufgebaut sein muß, um mit einer diachronen Konzeption kohärent sein zu können. Insofern aber muß die gesamte Konzeption der generativen Linguistik daraufhin überprüft werden, ob sie eine im skizzierten Sinne vollständige Erklärung und Beschreibung der Sprachen zu liefern vermag (und in diesem Zusammenhang ist es sicherlich angebracht, sich der generellen Funktion und Struktur explanativer und deskriptiver Theorien in der Linguistik des genaueren zu vergewissern. Cf. hierzu Kap.l). Diese Perspektive, in deren Rahmen die Einheit der Linguistik, allerdings um den Preis einer gegenüber den klassischen Ausprägungen der Diachronie erheblich modifizierten Konzeption der diachronen Linguistik, vielleicht wiederherstellbar wäre, zielt dabei keineswegs auf einen Bruch der Kontinuität in der Entwicklung der Linguistik ab; sie ergibt sich vielmehr aus genau dieser Entwicklung, aus dem Fortschritt, den die Synchronie-Diachronie-Distinktion darstellt; die Kontinuität des Fortschritts in der Linguistik wird durch eine solche Perspektive keineswegs in Frage gestellt, sondern vielmehr bestätigt.
6
1
Ansätze zu einer Methodologie der Linguistik
1.1
Struktur von explanativen und deskriptiven Systemen
1.1.1 Die Aufgabe einer jeden Wissenschaft, die mit dem Anspruch auftritt, eine empirische Wissenschaft zu sein, besteht, wie sich mit einiger Aussicht auf Zustimmung annehmen läßt, zunächst und vor allem darin, ihren Objektbereich zutreffend und möglichst v o l l s t ä n d i g zu e r k l ä r e n und zu b e s c h r e i b e n . Kann diese Annahme gerechtfertigt werden (und die Ergebnisse der Wissenschaftsphilosophie sprechen wohl dafür, cf. Popper 1969, passim), so sind mit ihr, implizite, auch die Aufgaben der Linguistik festgelegt, die ja als eine der empirischen Wissenschaften zu qualifizieren ist: es muß in der linguistischen Forschung vor allem darum gehen, Systeme zu konstruieren, die mit explanativer und deskriptiver Kraft auf die natürlichen Sprachen zutreffen und dies, um für die linguistischen Erklärungen und Beschreibungen zumindest relative Vollständigkeit sichern zu können, zumindest unter einem synchronen u n d diachronen Aspekt, denn nur so kann das tradierte Potential sinnvoller linguistischer Fragestellungen annähernd ausgeschöpft und, gegebenenfalls, signifikant erweitert werden. In diesem Zusammenhang ist natürlich die Frage relevant, wie linguistische Systeme im Prinzip strukturiert sein müssen, um ihren Aufgaben entsprechen, also im Prozeß der Explanation und Deskription sinnvoll fungieren zu können, kurz: aus der Spezifizierung der Funktionen der Linguistik ergeben sich gewisse strukturelle Anforderungen an die Systeme, die als linguistische T h e o r i e n gelten sollen; von der Erfüllung dieser Forderungen wird es abhängen, ob ein linguistisches System explanative und deskriptive Kraft erreichen kann, d. i. ob dieses System hinreicht, sprachliche Phänomene zutreffend erklären und beschreiben zu können. 1.1.2 Deskriptive und explanative Kraft kann in einer Wissenschaft nur dann erreicht werden, wenn sie über Systeme einer bestimmten Struktur, nämlich über Theorien verfügt. Dabei gilt: einen sprachlichen Sachverhalt 7
zu e r k l ä r e n heißt, eine Aussage, die diesen Sachverhalt b e s c h r e i b t , aus Universalien und Randbedingungen (also, cf. Kap.4, speziellen grammatischen Annahmen) deduzieren zu können (cf. hierzu Popper 1969, § 12 und passim). Da nun kein logischer Unterschied zwischen der Herleitung einer Aussage und einer P r o g n o s e besteht („Prognose" im weitesten Sinne genommen, cf. Popper 1969, 32, Anm.*2) besteht, läßt sich zu Recht, wenngleich etwas verkürzt, sagen, daß die Erklärung eines sprachlichen Sachverhalts, eines Datums in seiner Voraussage besteht; die Möglichkeit der Prognosededuktion begründet also die Möglichkeit der Explanation; ganz allgemein gilt also, daß linguistische Systeme dann und nur dann explanative Kraft erreichen, wenn sie prognosefähig sind. Und es ist klar, daß eine notwendige (allerdings nicht hinreichende) Bedingung für die Prognosefähigkeit eines linguistischen Systemes oder anders gesagt, einer linguistischen Theorie die logische Kohärenz dieses Systemes bzw. dieser Theorie ist; kurz: die Theorie muß so angelegt sein, daß Deduktionsmöglichkeiten vorliegen (und zwar muß sich dabei widerspruchsfrei deduzieren lassen; Systeme, die schon aus logischen Gründen defekt sind, k ö n n e n empirisch nicht mehr zutreffen, sie sind prinzipiell unzulänglich und deshalb, sofern eine Beseitigung der logischen Defekte aus ebenso prinzipiellen Gründen unmöglich ist, aus der Forschung zu eliminieren). Nun sind es zweierlei Leistungen, die ein linguistisches System im Hinblick auf seine prognostische Kapazität vollbringen muß: es muß erstens die Klasse der in einer Sprachgemeinschaft möglichen grammatischen korrekten Sätze voraussagen, d. i. e r z e u g e n , und es muß zweitens die Klasse der Strukturbeschreibungen prognostizieren, die diesen Sätzen zuzuordnen sind, und die als Spezifikationen der Art zu interpretieren sind, in der die Sprecher/Hörer der Sprachgemeinschaft diese Sätze verstehen. — Inwieweit ein linguistisches System diesen beiden Forderungen zu genügen vermag, läßt sich an einem Beispiel verdeutlichen. Gegeben sei eine Menge von sprachlichen Daten, genauer: von Sätzen in einer artifiziellen Sprache L: (1)
ab, aba
Um die Sätze in (1) erklären zu können, muß offenbar eine Theorie von L, in linguistischer Terminologie und mit einer gewissen Vereinfachnng: eine Grammatik G von L existieren, die die Sätze in (1) erzeugt, also eine Prognosededuktion ermöglicht, und die es weiterhin gestattet, die für die Sätze in (1) einschlägigen Strukturbeschreibungen zu prognostizieren. Um diese Anforderungen zu erfüllen, reicht es bereits hin, für L die folgende PSG (also ein einfaches generatives System, cf. Maurer 1969, §1.1) anzunehmen:
8
(2)
G
=
(Ν, Τ, S, Ρ) mit
1.N = {5} 2. Τ = {a, b} ( 5 ->55] 3. Ρ
= { S ->e [5
(Pl)
}
(p 2 )
J
(p3)
Mit der in (2) angegebenen Grammatik G lassen sich verschiedene Ableitungen durchführen, die genau zu den Sätzen in (1) führen, mit denen diese Daten also, in einer ersten Hinsicht, ihre prognostische Erklärung finden: S SS aS ab
S SS Sb ab
(gegeben) (Pl) (p2) (p 3 )
(a) S SS aS aSS abS aba
(b)
(gegeben) (Pl) (p 2 ) (Pl) (p 3 ) (p 2 )
(c)
(gegeben) (Pl) (p3) (p 2 )
S SS Sa SSa Sba aba
(gegeben) (Pl) (p 2 ) (Pl) (p 3 ) (p 2 )
(d)
S SS SSS aSS abS aba
(gegeben) (Pl) (Pl) (p 2 ) (p3) (p 2 ) (e)
Man sieht leicht, daß es möglich ist, die Anwendungsfolge der Produktionsregeln zu verändern, ohne daß diese Veränderung Rückwirkungen auf das Ableitungsresultat hat; sie hat also keine Konsequenzen für die schwache generative Kapazität der Grammatik. Bleibt zu fragen, ob die Anwendungsfolge der Regeln Rückwirkungen auf die starke generative Kapazität von G, also auf die Art, in der sie die Zuordnung von Strukturbeschreibungen ermöglicht. — Wie eine solche Zuordnung von Strukturbeschreibungen möglich ist, läßt sich allgemein dahingehend charakterisieren: sei G = (Ν, T, S, Pj eine PSG, und seien χ G L (G) und eine Ableitung A: S = wa —^• Wj ->·•·•-> wn j > w n = χ gegeben. Dann läßt sich ( o f t in mehr als einer Weise, cf. (3)) notieren:
9
,ν
ο=
*oVo
w
r
χ Α
w
ι ^ι
w *
r
w
x z
2=
ι-1 =
x
n-lan-iyn-l
l 2yi
w
=
n-l
x
n.fn-iyn.2
η
mit ι. V W ; G ( N U T ) * 2. ΑΙΞΝ für ο < i j. Der Teil z / + y dieser Kette ist mit der nach 3 zu notierenden Variablen durch ein Geradenstück zu verbinden. Der Ar-Teil der gegenwärtigen Kette wird, gefolgt von der nach 3 notierten Variablen, gefolgt v o m ^ · -Teil die (neue) gegenwärtige Kette genannt. 5. Falls i = 0 , ist der Prozeß beendet; ansonsten wird die für / nächstkleinere (ganze) Zahl genommen und neuerlich nach 3 verfahren. (Allgemeinere Ausführungen über die Arbeitsweise von G finden sich in § 5.1.2) Die Anwendung des unter 1 — 5 skizzierten Verfahrens liefert für die in (1) notierten Sätze relativ zu G aus (2) und relativ zu (3) die folgenden Strukturbeschreibungen, die entsprechend in Form von Strukturbäumen (d. i. in Form von gerichteten und ettikettierten Graphen) zu notieren sind: (4)
10
a
b
S
S
a S
b S
S
S
ia)
(b)
a
b
S
a S
V
\ /
S
(d)
(c)
(e)
(0
R e l a t i v zu diesen Überlegungen lassen sich f o l g e n d e S ä t z e f o r m u l i e r e n : 5 1 . Z w e i verschiedenen A b l e i t u n g e n eines K e t t e χ &L(Gj
k a n n dieselbe
S t r u k t u r b e s c h r e i b u n g zugeordnet sein. 5 2 . Z w e i verschiedenen A b l e i t u n g e n einer K e t t e χ e L (G) k ö n n e n vers c h i e d e n e S t r u k t u r b e s c h r e i b u n g e n z u g e o r d n e t sein. S . 3 E i n e r A b l e i t u n g einer K e t t e χ G L (G) k a n n m e h r als eine S t r u k t u r b e schreibung zugeordnet sein. Β e w e i s e : S l folgt aus ( 3 ) ( a ) , ( 3 ) ( b ) , ( 4 ) ( a ) und ( 4 ) ( b ) o d e r aus ( 3 ) ( c ) , ( 3 ) ( e ) , ( 4 ) ( c ) und ( 4 ) ( e ) ; S 2 folgt aus ( 3 ) ( c ) , ( 3 ) ( d ) , ( 4 ) ( c ) und ( 4 ) ( d ) ; S 3 folgt aus ( 3 ) ( e ) , ( 4 ) ( e ) und ( 4 ) ( 0 ( S t r u k t u r b e s c h r e i b u n g e n lassen sich nicht nur in F o r m von G r a p h e n , sondern a u c h d u r c h die indizierte K l a m m e r u n g eines S a t z e s relativ zu einer S t r u k t u r g r a m m a t i k
( c f . Maurer 1 9 6 9 , 1 8 5 ) a n g e b e n . Die in ( 4 )
n o t i e r t e n S t r u k t u r b e s c h r e i b u n g e n e n t s p r e c h e n d e n f o l g e n d e n ( d u r c h Weglassen des I n d e x S v e r e i n f a c h t e n ) B e s c h r e i b u n g e n n a c h d e m K l a m m e r u n g s v e r f a h r e n : ((a) (bj), ((a) (b)), ((a) ((b) (a))), (((a) (b)) (a)), ((a) ((b) (a))), (((a) (b)) (a)). Die R e i h e n f o l g e dieser B e s c h r e i b u n g e n entspricht der in ( 4 ) g e w ä h l t e n . ) Wie die S k i z z e ( 1 ) — ( 4 ) v e r d e u t l i c h t , verfügen die generativen S y s t e m e in
11
der Tat über die für Prognosededuktionen relevanten Eigenschaften: sie erlauben die Voraussage von Klassen von möglichen Sätzen und von diesen Sätzen zugeordneten Strukturbeschreibungen, und insofern kann die Grammatik als ein theoretisches System (und nicht als bloßer Kalkül) aufgefaßt werden, als ein Hypothesensystem, das auf Sprachfakten effektiv zutrifft. Die Möglichkeit einer e m p i r i s c h e n D e u t u n g eines theoretischen Systems setzt voraus; daß das System zwei Sorten von Sätzen enthält: nämlich (1) universale Sätze („Sprachgesetze" also), und (2) singuläre Sätze, die auf die jeweils speziellen Fälle zutreffen, wobei aus den Universalien mit Hilfe grammatischer Randbedingungen der den speziellen Fall beschreibende Satz deduziert werden können muß, sodaß ein spezielles sprachliches Faktum beschrieben und erklärt werden kann. — Dabei ist klar, was hier unter „grammatischen Randbedingungen" allein verstanden werden kann: nämlich in Regelform notierte Sätze, mit denen den strukturellen Besonderheiten der verschiedenen Sprachen Rechnung getragen wird (cf. hierzu auch Kap. 4). Was unter „linguistischen Universalien" zu verstehen ist, bedarf jedoch noch genauerer Analyse. 1.1.3 Der Objektbereich der generativen Linguistik ist unter anderem auch dadurch gekennzeichnet, daß sich in ihm unendüche Satzmengen nachweisen lassen, und schon deshalb ist leicht einzusehen, daß generelle Annahmen über diesen Objektbereich die linguistische Erfahrung zwangsläufig transzendieren müssen: keine dieser Annahmen kann durch Erfahrung definitiv abgesichert werden, denn jede dieser Annahmen besitzt unendlich viele Anwendungsfälle und damit auch unendlich viele Prüfungsmöglichkeiten; die Menge dieser Prüfungsmöglichkeiten kann jedoch nicht vollständig ausgeschöpft werden, und in dieser prinzipiellen Nicht-Ausschöpfbarkeit der Prüfungsmöglichkeiten ist der transzendente Charakter der generativen linguistischen Theorien wesentlich begründet. Und eben deshalb können beispielsweise die beiden folgenden (provisorisch formulierten) universalen linguistischen Annahmen , Jeder Satz S einer natürlichen Sprache L hat eine Transformationsstruktur t" und „Für die Anzahl der möglichen Zustände ζj, Z2, . . . einer natürlichen Sprache L gibt es eine oberste Grenze r" empirisch nie vollständig abgedeckt werden; derartige Annahmen transzendieren immer die mögliche linguistische Erfahrung (cf. auch Kap. 6 und 7). — Analoges gilt jedoch auch für die singulären Sätze der Linguistik, die ja immer Universalbegriffe (wie etwa den Begriff „Transformation" oder Kategorien wie „NP", „VP" etc.) enthalten; der sinnvolle Gebrauch dieser Begriffe aber setzt die Annahme einer Disposition zu einem gesetzmäßigen grammatischen Verhalten und damit jedenfalls auch gewisse Universalien 12
voraus. Bei der Theorienbildung in der Linguistik wird also der Bereich möglicher linguistischer Erfahrung immer überschritten, und genau das gibt den Grund für die Unmöglichkeit gewisser definitiver Verifikationen von Theorien ab, die entsprechend immer einem Falsifikationsrisiko ausgesetzt bleiben, in dem sie sich bewähren, also als effektiv anwendbar herausstellen müssen. Natürlich wird dieses Risiko, das sich aus dem Umstand ergibt, daß die Klasse der Falsifikatoren einer Theorie nie als leer gedacht werden kann, letztlich nur deshalb eingegangen, um Erfahrungen, um Sprachfakten nicht nur konstatieren, sondern auch erklären zu können. Und dabei sind es in Sonderheit die Universalien, die die explanative Kraft einer Theorie begründen, zugleich aber auch das Falsifikationsrisiko für die Theorie beträchtlich erhöhen; eben weil durch sie die Erfahrung in einem hohen Grade transzendiert wird, besteht die Möglichkeit ihrer Falsifikation bei jeder Erweiterung des ihrer Formulierung zugrundeliegenden Datenmateriales. Der Verzicht auf Theorienbildung in der Linguistik, speziell der Verzicht auf die Formulierung von Universalien, würde (soweit er überhaupt möglich ist) also die Menge der Falsifikationsmöglichkeiten der (dann nicht mehr „theoretisch" zu nennenden) linguistischen Systeme entscheidend restringieren, zugleich jedoch auch die Explanationsmöglichkeit zerstören. Und deshalb, weil explanative Kraft für linguistische Systeme erreicht werden soll, m u ß das Risiko, das in der Transzendierung der Erfahrung immer liegt, auch in der Linguistik eingegangen werden: denn nur so bleibt es nicht bei Sprachbeschreibungen, nur so werden auch Spracherklärungen möglich. Vor diesem Hintergrund läßt sich die Frage, welche linguistischen Annahmen als Universalien aufzufassen sind, etwa derart formulieren: Wie m u ß die linguistische Erfahrung transzendiert werden, um zu Universahen zu gelangen? (Es besteht dabei, beiläufig gesagt, keine Induktionsmöglichkeit für eine derartige Transzendierung (cf. Popper 1969, §1 und passim); Universalien können nur, unter Einschluß des vollen Falsifikationsrisikos, systematisch erdacht, gleichsam erraten werden (cf. Peirce 1956, passim); ihre Zulänglichkeit kann sich dann nur in ihrer empirischen Prüfung erweisen: wenn überhaupt, dann liegt in dieser die Leistung der Induktion (cf. Peirce 1956, passim); nicht die Theorie, sondern der Grad ihrer Bewährung wird also induziert; cf. hierzu auch Kap. 4 und 7).— Bei der Frage nach dem Grad der Transzendierung, der bei der Theorienbildung erreicht wird bzw. erreicht werden muß, geht es des genaueren um folgendes: es ist die Frage, ob die linguistischen Universalien lediglich generelle Sätze sind — oder solche Sätze, die deshalb stärker als generelle Sätze sind, weil 13
sie die Existenz eines sprachlichen Sachverhaltes m i t N o t w e n d i g k e i t behaupten. Die Annahme „Jeder Satz S einer natürlichen Sprache L hat eine Transformationsstruktur f " ist sicher viel schwächer als die Annahme „Jeder Satz S einer natürlichen Sprache L hat n o t w e n d i g eine Transformationsstruktur t", mit der die linguistische Erfahrung sehr viel nachhaltiger transzendiert wird. Entsprechend geht es bei der Universalienproblematik, kurz gesagt, zunächst um die Frage, ob Universalien mit Notwendigkeit behauptet werden können; es geht sozusagen um die mögliche Stärke von Universalitätsbehauptungen in der Linguistik und damit auch, mittelbar, um den Grad der explanativen Kraft, der für linguistische Theorien erreichbar ist. 1.1.4 Logisch möglich sind, grob gesagt, alle nicht widerspruchsvollen Aussagen; linguistisch möglich sind, ebenso grob gesagt, alle Annahmen, die den Universalien nicht widersprechen. Dabei ist es offensichtlich, daß die linguistischen Universalien im Vergleich zu den Tautologien der Logik einen durchaus k o n t i n g e n t e n Charakter haben, der nicht zuletzt in ihrer prinzipiellen Reviedierbarkeit, dem Falsifikationsrisiko, dem sie permanent ausgesetzt bleiben, begründet ist. Diese Revisionsmöglichkeit ist für Tautologien offensichtlich nicht gegeben; entsprechend müssen die Universalien, die ja gerade keine Tautologien sind, auch einen anderen Status als Tautologien haben, und dieser ihr spezieller Status ist durch die Annahme der Kontingenz der Universalien hinreichend charakterisiert. — Wird nun den universalen Systemen der Linguistik gleichwohl ein nichtkontingenter Charakter zugeschrieben und damit zugleich ihre Nicht-Revidierbarkeit behauptet, so setzt diese Behauptung, wie auch immer sie des genaueren ausfallen mag, jedenfalls die Annahme der Existenz letzter Erklärungsgründe für die Linguistik voraus, die eine unverrückbare Basis für den Aufbau der Linguistik abgeben sollen, da sie selbst einer weiteren Erklärung zwar nicht mehr fähig, aber auch nicht mehr bedürftig sind. Eine solche notwendige, gleichsam essentialistische Basis linguistischer Erklärungen resultiert jedoch (einmal davon abgesehen, daß eine derartige Basis bislang noch nie befriedigend entwickelt werden konnte) im ungünstigsten Falle nur aus einer Dogmatisierung der Voraussetzungen, die beim Aufbau einer Linguistik-Konzeption eingegangen wurden, und die sodann jeder Kritik entzogen werden (cf. hierzu vor allem die Einleitung dieser Abhandlung). Es lassen sich jedoch auf keine Weise Voraussetzungen gewinnen, die in dem Sinne zwingend sind, daß ihre Gültigkeit für alle Zeiten garantiert bleibt; und die Dogmatisierung von Voraussetzungen, eine dogmatisierte Explanationsbasis ist, das bedarf keiner weiteren Frage, in 14
jedem Falle wissenschaftlich unzulässig. — Unterbleibt eine solche Dogmatisierung jedoch, und wird gleichwohl die Nicht-Revidierbarkeit der gewählten Erklärungsbasis behauptet, so ist klar, daß diese Basis, die ein System von Sätzen darstellen muß, a l s b e g r ü n d e t e entwickelt werden muß; Sätze aber können nur durch andere Sätze begründet werden. Da aber nicht abzusehen ist, wie es ohne eine neuerliche Dogmatisierung zu vermeiden ist, daß die begründenden Sätze wieder durch Sätze begründet werden müssen, die dann ihrerseits wieder durch Sätze zu begründen sind usf., führt der Begründungsversuch zwangsläufig in einen unendlichen Regreß, kraft dessen eine nicht-revidierbare Explanationsbasis prinzipiell nicht mehr gewonnen werden kann. — Als Ausweg aus diesem Dilemma von Dogmatismus und unendlichen Regreß bliebe nunmehr lediglich noch die psychologistische Annahme, daß linguistische Sätze nicht nur durch weitere linguistische Sätze begründet werden können, sondern auch durch Spracherlebnisse, auf die rekurrierend der Regreß dann vermieden werden könnte. Dieser Versuch kann jedoch auf Grund des transzendenten Charakters aller linguistischer Aussagen zu keiner Lösung führen: denn es läßt sich keine linguistische Aussage formulieren, die nicht in irgendeiner Weise die Erfahrung transzendiert, und die Aussage etwa „Ich erfahre diese Äußerung a als eine Frage, als Interrogativausdruck" transzendiert die Erfahrung bereits in einer durch Spracherlebnisse nicht mehr einholbaren Weise; Universalbegriffe wie „Äußerung" und „Interrogativausdruck" bzw. „Frage" können ihre Basis nicht in Spracherlebnissen haben, da sie über diese weit hinausführen. Da ohne solche Begriffe aber nicht auszukommen ist, kann es auch keine letzte Erklärungsbasis psychologistischer Natur in der Linguistik geben. — Und angesichts dieses Trilemmas von Dogmatismus, unendlichen Regreß und Psychologismus bleibt offensichtlich nur eines: zugleich mit der Revidierbarkeit von Linguistik-Konzeptionen auch die Revidierbarkeit der in ihnen formulierten Universalien anzunehmen, und das heißt eben: den im Vergleich zu den Tautologien der Logik kontingenten Charakter der Universalien einzusehen. Die Annahme ,Jeder Satz S einer natürlichen Sprache L hat eine Transformationsstruktur t" ist also genau solange als universal anzusehen, wie sich die Konzeption der generativen Linguistik, die diese Annahme ermöglicht, einschließlich ihrer Voraussetzungen bewährt; die prinzipielle Revidierbarkeit der Konzeption begründet auch die prinzipielle Revidierbarkeit der Universalien: es gibt keine letzten Erklärungsgründe, keine definitiv für alle Zeiten zutreffende Explanationsbasis in der Linguistik, und genau deshalb sind die Universalien kontingent, also einer Revision nicht nur prinzipiell fähig, sondern, von Fall zu Fall, auch bedürftig. 15
1.1.5 Universalien der Linguistik sind also im Vergleich zu logischen Tautologien kontingent, da die Theorien, in denen sie formuliert werden, prinzipiell falsifizierbar und damit revidierbar sind. Dennoch ist jedoch klar, daß sich die beiden provisorisch formulierten, generellen Annahmen , Jeder Satz S einer natürlichen Sprache L hat eine Transformationsstruktur t" und „Für die Anzahl der Zustände Zj, Z2< • · · einer natürlichen Sprache L gibt es eine oberste Grenze r" in einem spezifischen Sinne voneinander unterscheiden: denn angenommen, in der letzten Annahme wird r ^ 25 gesetzt, und weiter angenommen, der streng allgemeine Satz „Die Anzahl der Zustände ζ;· einer natürlichen Sprache L beträgt maximal 25" trifft auf alle bislang bekannten Sprachen zu, so besagt der Umstand, daß dieser Satz sich bislang bewährt hat, noch nichts gegen die Möglichkeit, daß Sprachen auftreten können, die, unter anderen als den bisher bekannten Kommunikationsbedingungen, mehr als 25 Zustände durchlaufen. Ein (nach Voraussetzung) wahrer allgemeiner Satz über das Höchstalter natürlicher Sprachen hat also, wie das Beispiel illustriert, einen durchaus zufälligen Charakter; er ist günstigstenfalls so formuliert, daß er sich in Übereinstimmung mit dem bisher bekannten Tatsachenmaterial befindet, und eben daraus resultiert dann seine Allgemeinheit; der Satz ist jedoch nicht, wie seine Variante in § 1.1.3, ein Universale, das auf die Klasse der m ö g l i c h e n Fälle zutreffen soll, also die Erfahrung sehr viel stärker transzendiert. Die Annahme ,Jeder Satz S einer natürlichen Sprache L hat eine Transformationsstruktur weist dagegen genau diesen stärkeren Transzendierungsgrad auf, denn sie gilt, falls die Konzeption der generativen Linguistik vorausgesetzt wird, in der Tat mit linguistischer Notwendigkeit, da nach dieser Konzeption jedem Satz eine Tiefenstruktur TS zugrundeliegt und auf TS zumindest eine Menge obligatorischer Transformationen tQ , . . . ,tQ zutreffen muß. Unter Voraussetzung der generativen Linguistik gilt diese Annahme also mit Notwendigkeit, unabhängig von allen speziellen, nur auf Einzelsprachen zutreffenden grammatischen Systemen; ihre Notwendigkeit resultiert aus dem Umstand, daß sie für die Klasse der möglichen natürlichen Sprachen (die, im Sinne der Chomsky-Konzeption, mit der Klasse der möglichen generativen grammatischen Systeme gegeben ist) immer erfüllbar ist, und zwar unabhängig auch davon, in welchem Zustand eine Sprache sich befindet. Natürlich kann eine derartige linguistische Annahme keine Tautologie sein, und relativ zu einer solchen ist sie durchaus kontingent, also durch Erfahrung korrigierbar: aber es geht hier nicht um die logische, sondern um die linguistische Notwendigkeit von Annah16
men, von Sätzen in theoretischen linguistischen Systemen, die natürlich in d e m skizzierten Sinne „schwächer" ist als j e n e der einschlägigen Sätze der Logik. Der Begriff der linguistischen Notwendigkeit, der Sprachnotwendigkeit also, der hier avisiert ist, läßt sich nun, in einer gewissen Analogie zu Tarskis Behandlung der logischen Wahrheit, provisorisch etwa folgendermassen definieren: (LN) Eine linguistische Annahme α heißt dann und nur dann l i n g u i s t i s c h n o t w e n d i g (oder s p r a c h n o t w e n d i g ) , wenn sie unter Voraussetzung einer Linguistik-Konzeption K, aus einer Satzfunktion s in Κ ableitbar ist, die für alle möglichen natürlichen Sprachen, die nur durch die Randbedingungen voreinander unterschieden sind, erfüllbar ist.
(Man beachte dabei, daß ein System universal z u t r e f f e n d e r Regeln nur ein Teilsystem der universalen Theorie ist, die im wesentlichen A n n a h m e n über die F o r m von Grammatiken, Bedingungen für den A u f b a u von Grammatiken enthält: und genau diese Bedingungen-Systeme sind es, deren universale Erfüllbarkeit garantiert werden m u ß . ) — Natürlich ist klar, daß m a n auf Grund von ( L N ) im Einzelfall nie definitiv wissen k a n n , o b ein Universale oder ein in F o r m eines Universales formulierter genereller Satz vorliegt, der de f a c t o von gewissen, bislang immer erfüllbaren Randbedingungen abhängig ist. Von der Definition der Sprachnotwendigkeit in ( L N ) läßt sich entsprechend nur ein n e g a t i v e r Gebrauch machen: d u r c h den Nachweis von falsifizierenden Randbedingungen k ö n n e n Pseudo-Universalien sukzessive eliminiert werden; ein positiver Gebrauch von (LN), etwa zur definitiven Auszeichnung von Universalien, ist nicht möglich. Nach Popper läßt sich nun die in (LN) entwickelte A n n a h m e dahingehend spezifizieren ( c f . Popper 1969, 388): Sei Ν die Klasse der im Sinne von ( L N ) notwendigen Sätze. Mit Hilfe dieser Klasse Ν läßt sich dann für a b (in Worten: w e n n a, d a n n notwendig b) die folgende, relativ triviale Definition formulieren, die auch intuitiv o h n e weiteres eingesehen werden k a n n : (4)
ojf>
b
^
7
(a-*b)
&Ν
Popper führt dann weiterhin aus (die Nummerierung im folgenden Zitat ist der vorliegenden Abhandlung angepasst); Auf Grund der Definitionen ( L N ) und ( 4 ) k a n n zur Spezifikation der Elemente von Ν die weitere A n n a h m e eingeführt werden, „daß „a b" der Name eines Satzes mit den folgenden Eigenschaften ist: (5) (6)
a
• b ist nicht immer wahr, wenn α falsch ist, im Gegensatz zu
a
b.
a
b ist nicht immer wahr, wenn b wahr ist, im Gegensatz zu
a 17
(7) (8)
b ist immer wahr, wenn α unmöglich (notwendig falsch) ist, oder wenn seine Negation α notwendig wahr ist. b ist immer wahr, wenn b notwendig wahr ist." (Popper 1969,
Dabei können (5) — (8), wie Popper hinzufügt, auf Sätze und auf Satzfunktionen zutreffen. — Festzuhalten bleiben also, zusammenfassend, etwa die folgenden Annahmen über die Funktion und die Struktur auch der generativen Linguistik: ( f l j ) Die Funktion der Linguistik besteht in der Explanation und Deskription von Sprachfakten. Die Spracherklärung und Sprachbeschreibung m u ß in einem synchronen und einem diachronen Bezugssystem vorgenommen werden. (ι12) Der Aufbau einer Linguistik-Konzeption ist immer an Voraussetzungen gebunden, die prinzipiell revidierbar sind. (ßg) Explanative und deskriptive Systeme einer Linguistik-Konzeption müssen logisch kohärent, prognosefähig und empirisch deutbar sein. (04) Soll mit linguistischen Systemen explanative Kraft erreicht werden, so müssen sie Universalien enthalten. Universalien sind logischen Tautologien gegenüber kontingent. (a^) Universalien sind stärker als generelle linguistische Sätze, da sie im Gegensatz zu diesen mit Notwendigkeit, unabhängig von allen Randbedingungen, auf alle möglichen natürlichen Sprachen in allen ihren möglichen Zuständen zutreffen. (ag) Vom Begriff der Sprachnotwendigkeit läßt sich nur ein negativer Gebrauch machen; er ermöglicht die Eliminierung von Pseudo-Universalien, erlaubt jedoch keinerlei positive Bestimmung von Universalien. (αη) Die Formulierung von Universalien ist an das Vorliegen einer Linguistik-Konzeption gebunden; zugleich mit dieser sind die Universalien revidierbar. — Es gibt keine letzten Erklärungsgründe in der Linguistik. 1.2
Informationsgehalt und Prüfbarkeit von Theorien
1.2.1 Theorien sind, auch in der Linguistik, durch die Erfahrung niemals eindeutig bestimmt, und zwar bleiben sie in genau dem Grade unbestimmt, in dem mit ihnen die mögliche linguistische Erfahrung transzendiert wird. Und kraft dieser ihrer Unbestimmtheit könen Theorien auch nie definitiv verifiziert werden; sie können vielmehr nur explanativ und deskriptiv auf die Erfahrung zutreffen und sich an ihr in einem bestimmten Grade bewähren. Dabei ist es nun offensichtlich so, daß eine Theorie umso besser bewährt, bestätigt werden kann, je günstiger die Möglichkeiten zur Prüfung einer 18
Theorie sind; der Grad der Prüfbarkeit einer Theorie legt also auch den Grad ihrer Bestätigungsfähigkeit fest. Die Prüfbarkeit einer Theorie aber läßt sich, schon intuitiv, als eine Funktion ihres Informationgsgehaltes ansehen: denn offensichtlich kann eine Theorie genau dann gut geprüft werden, wenn mit ihr viel behauptet wird, wenn eine Vielzahl von Möglichkeiten besteht, daß die Theorie in Konflikt mit Erfahrungsdaten geraten kann, kurz: wenn sie über starke explanative Kraft verfügt und, weiterhin, über ein umfangreiches Anwendungsfeld verfügt. Es besteht insofern ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen der Bestätigungsfähigkeit, der Prüfbarkeit und dem Informationsgehalt, dem Umfang und der deskriptiven und explanativen Kraft einer Theorie. Für den Zusammenhang von Prüfbarkeit und Bestätigungsfähigkeit gilt dabei in Sonderheit folgendes: (1) Der Grad, in dem sich eine Theorie bewährt, in dem sie als bestätigt angesehen werden kann, wächst mit der A n z a h l der bestätigenden Fälle. (2) Der Bestätigungsgrad einer Theorie wächst, wenn die bestätigenden Fälle aus einem sehr u m f a n g r e i c h e n (etwa synchron und diachron spezifizierten) A n w e n d u n g s f e l d der Theorie oder aus einer V i e l z a h l von A n w e n d u n g s b e r e i c h e n (etwa aus der Klasse aller natürlichen Sprachen) stammen: was auch heißt, daß der Grad, in dem eine Theorie bestätigt werden k a n n , umso höher zu steigen vermag, je universaler und umfangreicher die Theorie ist. (3) Schließlich spielt für die Bestätigungsfähigkeit einer Theorie auch ihre B e s t i m m t h e i t eine wesentliche Rolle: je g e n a u e r die prüfbaren und sich bewährenden Prognosededuktionen ausfallen, desto höher steigt der Bestätigungsgrad der Theorie, die die Formulierung dieser Prognosen erlaubt. Mit anderen Worten: je reicher und dezidierter der Informationsgehalt einer Theorie ist, desto umfangreicher ist die Klasse ihrer Prüfungsmöglichkeiten; mit einer wachsenden Menge von Prüfungsmöglichkeiten wächst aber auch der Grad, in dem eine Theorie, die sich bewährt, bestätigt werden kann. (Cf. zur genaueren Explikation der Begriffe „Informationsgehalt" und „Bewährungsgrad" einer Theorie Popper 1969, Anhang +VIII und +IX sowie § 7.1 dieser Arbeit.) 1.2.2 Nun ist klar, daß der Informationsgehalt einer Theorie, und damit ihre explanative und deskriptive Kraft, umso höher ist, je unwahrscheinlicher diese Theorie ist, je riskanter die in ihr enthaltenen sich bewährenden Annahmen sind. Umgekehrt ist natürlich die Zutreffenwahrscheinlichkeit einer Theorie umso höher, je weniger riskante Annahmen sie enthält, je weniger mit ihr die Erfahrung transzendiert wird: aber es ist auch klar, daß die Steigerung der Zutreffenswahrscheinlichkeit immer mit einer Verminderung der explanativen Kraft des Systems erkauft wird, mit dem im ungünstigsten Falle dann nichts mehr erklärt wird, sondern nur noch Sprachfakten konstatiert werden. 19
Das komplementäre Verhältnis zwischen Zutreffenswahrscheinlichkeit und explanativer Kapazität, das hier deutlich wird, läßt sich dahingehend spezifizieren: in den empirischen Wissenschaften, also auch in der Linguistik, muß zwischen Theorien von hohem Informationsgehalt, Theorien von hoher explanativer Kraft mit einer Vielzahl von Prüfungsmöglichkeiten, relativ zu denen ein hoher Bestätigungsgrad erzielt werden kann, und Theorien von hoher Zutreffenswahrscheinlichkeit, also von hoher deskriptiver Kraft und einer geringen Anzahl von Prüfungsmöglichkeiten, die auch das Falsifikationsrisiko vermindert, g e w ä h l t w e r d e n , da aus rein logischen Gründen hoher Informationsgehalt und hohe Zutreffenwahrscheinlichkeit nicht gleichzeitig erreicht werden können (cf. hierzu Popper 1 9 6 9 , passim, wo die hier skizzierten Überlegungen genauer entwickelt werden). Und da sich der Informationsgehalt und die Zutreffenwahrscheinlichkeit von Theorien disproportional zueinander verhalten, kann eine Entscheidung in diesem Dilemma der Theorienbildung sicherlich nur quasi-dezisionistisch herbeigeführt werden, indem, relativ zu den tradierten Aufgabenstellungen der Wissenschaft, die Funktionen der linguistischen Forschung sozusagen normiert werden: enthält die Normierung (wie in § 1.1) die Explanationsforderung (und diese Forderung sollte, wenn die Kontinuität der Forschung nicht aufgegeben werden soll, jedenfalls gestellt werden), so m u ß die Entscheidung, der Normierung entsprechend, zugunsten der informationshaltigeren Theorie ausfallen; der Versuch, die natürlichen Sprachen zu erklären, muß also unternommen werden. Natürlich bleibt dabei offen, wie diese Entscheidung begründet, die Normierung systematisch entwickelt werden kann. Aber es ist auch evident, daß die Normierung der linguistischen Tradition entspricht: der Versuch, Erklärungsadäquatheit zu erzielen, kennzeichnet die Geschichte der Theorienbildung in der Linguistik (cf. etwa Chomsky 1 9 6 8 , bes. Kap. 1 und die dort referierte Literatur). Die Berufung auf die Tradition der Linguistik liefert sicherlich zwar keine systematische Begründung der Explanationsforderung, rechtfertigt sie aber doch wohl bis zu einem gewissen Grade, während der Verzicht auf Explanationsversuche, wider jede Wissenschaftspraxis, lediglich dogmatisch gefordert werden könnte. Und zumindest insofern ist es legitim und legitimiert, wenn bei der Theorienbildung in der Linguistik an der Explanationsforderung festgehalten und der Versuch, die natürlichen Sprachen nicht zur zu beschreiben, sondern auch zu erklären unter Einschluß des Falsifikationsrisikos unternommen wird.
20
1.2.3 In der Linguistik geht es also um Theorien von hohem Informationsgehalt; die informationshaltigere Theorie ist aber immer auch diejenige, die die unwahrscheinlichere ist, sie ist damit auch die Theorie von stärkerer explanativer Kraft. Und es ist klar, wie paradox es auch immer anmuten mag, daß die Bestätigungsfähigkeit einer Theorie mit ihrer Unwahrscheinlichkeit wächst — eben weil mit der Unwahrscheinlichkeit der Theorie auch die Klasse ihrer Prüfungsmöglichkeiten wächst. Und wird das Potential möglicher Prüfungen vollständig und streng ausgeschöpft und bewährt sich die Theorie in diesen Prüfungen, so wächst natürlich auch der Bestätigungsgrad der Theorie; anders gesagt: das Ausmaß der Falsifikationsrisiken, gegenüber denen eine Theorie sich bewährt, gibt an, in welchem Grade die Theorie bestätigt ist. Es läßt sich also eine weitere Annahme über die Funktion und Struktur der Linguistik formulieren, mit der die Zielsetzungen der Theorienbildung genauer spezifiziert werden. (ag) Linguistische Theorien müssen über einen hohen Informationsgehalt verfügen, über eine starke explanative Kapazität, und damit einem hohen Falsifikationsrisiko, einer Vielzahl von Prüfungsmöglichkeiten ausgesetzt sein, und die Theorie muß sich gegenüber allen Falsifikationsversuchen bewähren, wobei der Bewährungsgrad der Theorie mit der Klasse ihrer gescheiterten Falsifikationsversuche wächst. Insofern ist ipso facto die jeweils unwahrscheinlichste der mit den Tatsachen übereinstimmenden Theorien ausgezeichnet; nicht maximale Zutreffenswahrscheinlichkeit, sondern maximale explanative Kraft ist das Ziel der Theorienbildung in der Linguistik: und nur wenn dieses Ziel erreicht wird, also ein beträchtliches Falsifikationsrisiko eingegangen wird, besteht einige Aussicht, die Natur der menschlichen Sprachkenntnisse befriedigend erklären zu können.
1.3
Einfachheit und Universalität von linguistischen Theorien
1.3.1 Theorien sind durch die Erfahrung nicht eindeutig bestimmt, da sie ja wesentlich Erfahrung transzendieren. Da aber nicht alle Theorien die Erfahrung im gleichen Grade transzendieren, kann sehr wohl der Fall eintreten, daß für einen Objektbereich ο zwei Theorien T j und T2 konstruiert werden, die, falls sie sich beide bewähren, natürlich miteinander konkurrieren: was natürlich die Frage aufwirft, ob und wie diese Konkurrenz entschieden werden kann. Zwar läßt sich der Forschungspraxis hier eine unzweideutige Antwort entnehmen: es wird immer diejenige Theorie ausgezeichnet, die sich als die einfachere der konkurrierenden Theorien anse21
hen läßt; fraglich bleibt jedoch, wie eine solche Einfachheitsbewertung motiviert ist, worin ihre spezielle Leistung besteht, und fraglich bleibt auch und vor allem, wie die Einfachheit eines theoretischen linguistischen Systemes überhaupt gemessen werden soll. Hinzu kommt, daß mit dem Hinweis auf die mögliche Konkurrenz zweier Theorien T j und Τ 2 natürlich noch nicht das ganze Spektrum von Problemen erfaßt, das in die Auszeichnungs-Problematik involviert ist: denn es geht ja, ganz allgemein, bei der Auszeichnungsproblematik darum, die Klasse h j , . . . der über einem Objektbereich ο möglichen Hypothesen, die vermutlich unendlich sein dürfte, derart zu restrigieren, daß eine optimale Hypothese hj ausgewählt werden kann. Nun befindet sich ein Linguist, der diesem Selektionsproblem konfrontiert ist, im Prinzip in der gleichen Situation, der sich ein Sprecher-Hörer im Spracherlernungsprozeß gegenüber sieht: deijenige, der eine Sprache, genauer: eine Sprache lj in L (cf. Kap. 2 und 3) zu erlernen versucht, ist einer weiten Klasse von möglichen Hypothesen über die Struktur von lj in L konfrontiert, deren Umfang er restringieren, aus der er die in Frage kommende grammatische Hypothese zur Internalisierung auswählen muß; nur so kann er Sprachkenntnisse erwerben. Und es ist eine einigermaßen plausible Annahme, daß diejenigen Kriterien, die die Wahl des Sprecher-Hörers determinieren, zumindest analog zu jenen Kriterien sein müssen, derer sich der Linguist bedient (cf. Chomsky 1965, Kap. 1 und die Kap. 2 und 4 der vorliegenden Abhandlung). Entsprechend muß zunächst geklärt werden, welche Struktur diese Analogie des genaueren aufweist, und wie der Gebrauch der analogisierten Kriterien motiviert ist. (Hervorgehoben werden muß jedoch auch, daß die hier benutzte Analogie zwischen der Situation des Sprecher-Hörers im Spracherlernungsprozeß und der des Linguisten bei der Hypothesenbildung lediglich illustrativen Charakter hat; es wird also keinesfalls behauptet, daß der Erwerb von W i s s e n , hier: von Sprachkenntnissen, und der Aufbau von W i s s e n s c h a f t e n , hier: der Linguistik, prinzipiell die nämliche Struktur hätten. Wenngleich es hier sicherlich Ähnlichkeiten gibt, so bedeutet das doch nicht, daß der begriffliche Unterschied zwischen Wissen und Wissenschaft verwischt werden dürfte.) 1.3.2 Vor jedem Rekurs auf Einfachheitsbewertungen scheint folgendes klar zu sein: diejenige Hypothese, die einen sehr hohen Universalitätsgrad aufweist, ist sicherlich einer Hypothese vorzuziehen, die einen geringeren Universalitätsgrad aufweist. Denn der Informationsgehalt der universaleren Hypothese ist höher; sie leistet, auf Grund ihrer stärkeren explanativen 22
Kapazität, mehr; anders gesagt: die Klasse ihrer Falsifikationsmöglichkeiten ist umfangreicher und da mit dem Aufbau einer Theorie die Falschheit aller ihrer Falsifikations-Sätze behauptet wird, sagt die Theorie mit der umfangreicheren Klasse von potentiellen Falsifikatoren ipso facto mehr über die Sprachrealität als eine Theorie, die kaum Falsifikationsmöglichkeiten aufweist. Und wenn die universaleren Theorien diejenigen sind, die ausgezeichnet werden müssen, so muß die Leistung von Einfachheitsbewertungen, die zu einer solchen Auszeichnung verhelfen sollen, offenbar darin bestehen, daß mit ihnen der Universalitätsgrad einer linguistischen Theorie konsistent gemessen wird. Nun verhalten sich aber Falsifizierbarkeit und Universalität proportional zueinander (cf. Popper 1969, Kap. III — VI); der Grad der Universalität einer Theorie wächst mit dem Grad ihrer Falsifizierbarkeit: und insofern scheint es zulässig zu sein, den Grad der Einfachheit einer Theorie mit dem Grad ihrer Falsifizierbarkeit zu identifizieren, denn kraft einer solchen Identifikation kann mit Einfachheitsbewertungen genau das geleistet werden, was offensichtlich geleistet werden soll: es wird nämlich der Grad der Universalität einer Theorie gemessen, und das Meßresultat erlaubt dann die Auszeichnung einer Theorie. Und läßt sich nun die skizzierte Analogie zwischen dem Prozeß der Hypothesenbildung in der Linguistik und dem Prozeß des Erwerbs von Sprachkenntnissen aufrecht erhalten, so bedeutet diese Identifikation von Falsifizierbarkeit und Einfachheit, daß sowohl der Linguist als auch der Sprecher-Hörer die Klasse der über einem Objektbereich ο möglichen Hypothesen dadurch restringiert, daß er von allen mit den Sprachfakten übereinstimmenden Hypothesen diejenige auszeichnet, die am besten falsifizierbar ist: denn es ist diese Hypothese, die den höchsten Universalitätsgrad aufweist, die also im Hinblick auf den erreichbaren Grad von Universalität als optimal anzusehen ist. Weiter spezifiziert eine Explikation des Einfachheitsbegriffes durch seine Identifikation mit dem Begriff der Falsifizierbarkeit jene besondere Ökonomie der Hypothesenwahl, die durch Einfachheitsbewertungen möglich wird: denn gewählt wird ja diejenige der mit den Sprachfakten übereinstimmenden Hypothesen, die am besten zu eliminieren ist, wenn sie mit der Erfahrung nicht mehr zur Deckung gebracht werden kann. Denn weil die Klasse der Falsifikationsmöglichkeiten für diese Theorie sehr umfangreich ist, lassen sich ihre Defekte natürlich auch sehr schnell aufdecken; die Eliminierung der Hypothese kann also rechtzeitig erfolgen. Die Entscheidung für die Theorie mit dem höchsten Universalitätsgrad ist also auch eine Entscheidung für eine optimale Möglichkeit der Irrtumskorrek23
tur; mit Einfachheitsbewertungen wird diejenige Hypothese ausgezeichnet, die am einfachsten zu korrigieren ist. Wenn von der Einfachheit bzw. Komplexität einer Theorie die Rede ist, steht also nicht ihre vermeintliche Kompliziertheit zur Debatte, sondern der Grad ihrer Universalität, der mit Einfachheitsbewertungen gemessen wird, wobei Einfachheit gleich dem Grad der Falsifizierbarkeit (und damit auch dem Maß der Unwahrscheinlichkeit einer Theorie) ist. Und ohne daß damit die Begriffe „Wissen" und „Wissenschaft" unzulässig identifiziert würden, läßt sich sagen, daß sowohl der Linguist als auch der SprecherHörer in einer analogen Situation mit demselben Kriterium die nämliche Entscheidung herbeiführen: nämlich die Entscheidung für die Theorie mit der stärksten explanativen Kapazität. 1.3.3 Die Leistung von Einfachheitsbewertungen liegt also darin, daß durch sie der Grad der Gesetzmässigkeit einer Theorie, der Grad ihrer Universalität gemessen wird. Die zentralen Begriffe einer solchen Einfachheitsmetrik sind dabei der Begriff der „Prüfbarkeit" (cf. Kap. 7) und der „Unwahrscheinlichkeit" der Theorie andererseits: je unwahrscheinlicher eine Theorie ist (je mehr Falsifikationsmöglichkeiten sie aufweist), desto besser ist sie prüfbar. Damit ist klar, daß etwa der Umfang des nicht-terminalen Vokabulars einer linguistischen Theorie, oder der Umfang des nicht-terminalen Vokabulars im Verhältnis zur Länge, oder im Verhältnis zur Anzahl der Erzeugungsregeln a l l e i n nicht, wie verschiedentlich vorgeschlagen, umstandslos als Basis für den Aufbau einer Einfachheitsmetrik genommen werden kann; n e b e n der (formalen) Angabe von Struktureigenschaften eine Theorie muß auch die Klasse ihrer möglichen Prüfungen zumindest approximativ ausschöpfend angegeben werden; Einfachheitsbewertungen sind somit immer auch eine e m p i r i s c h e Angelegenheit, und nur kraft dieser ihrer empirischen Komponente vermögen Einfachheitsbewertungen auch empirisch signifikante Resultate zu liefern. — Für die Linguistik mag nun provisorisch gelten, daß eine Theorie dann besonders unwahrscheinlich, also hochgradig universal ist, wenn sie (1) über ein nichtterminales Vokabular verfügt, dessen Umfang so weit wie möglich reduziert ist, (2) wenn die Länge der Erzeugungsregeln minimal ist, (3) wenn die Anzahl der Erzeugungsregeln und der Bedingungen für ihre Anwendbarkeit sehr gering ist, und (4) wenn die Theorie über eine umfangreiche Klasse von Falsifikationsmöglichkeiten verfügt, denen gegenüber sie sich bewährt. — Sicher ist diese Beschreibung von Einfachheitskriterien nicht sehr genau; sie verdeutlicht aber vielleicht doch, daß es prinzipeil möglich ist, eine Einfachheitsmetrik zu entwickeln und daß, vor allem, diese Metrik 24
zweierlei Information verarbeiten muß: nämlich formale und empirische Information. Und mit einiger Sicherheit läßt sich eine solche Metrik als ein Explikat der intuitiven Bewertungspraxis der Sprecher-Hörer auffassen, denen es ja, aus Ökonomiegründen, darum gehen muß, ein gut korrigierbares, formal gut handhabbares und optimal empirisch prüfbares System zu internalisieren (cf. Kap. 2 und 4); ein System also, das dieser groben Beschreibung in etwa entspricht. Und insofern ist auch die Analogie zwischen dem Sprecher-Hörer und dem Linguisten durchaus signifikant, denn beiden geht es ja um das nämliche: um optimale linguistische Systeme (in jenem Doppelsinn von „linguistischen System", mit dem zugleich die explizite linguistische Theorie und die impliziten Sprachkenntnisse der Sprecher-Hörer erfaßt werden). — Zusammenfassend läßt sich also eine weitere Annahme über die Funktion und Struktur der Linguistik formulieren, die zumal für die generative Sprachtheorie relevant ist, bei deren Aufbau die Möglichkeit von Einfachheitsbewertungen ja unverzichtbar ist: (ag) Der Grad der Einfachheit einer Theorie korrespondiert dem Grad ihrer Falsifizierbarkeit, also ihrer Unwahrscheinlichkeit, ihrer Prüfbarkeit und Revidierbarkeit. Einfachheitsbewertungen liefern nur dann signifikante Resultate, wenn sie eine formale und eine empirische Komponente aufweisen. 1.4
Revidierbarkeit von Theorien in der Linguistik
1.4.1 Alle linguistischen Theorien sind prinzipiell revidierbar; die Modifikation einer jeden linguistischen Theorie kann durch neue Erfahrungen erzwungen werden. So können die Voraussetzungen, unter denen natürliche Sprachen Gegenstand linguistischer Theorien werden können, entscheidende Abänderungen erfahren; durch neue, weniger beinhaltende Voraussetzungen ersetzt werden (cf. die in der Einleitung eingeführten Annahmen), so daß seinerseits einer Erklärung bedürftig wird, was zuvor die Basis für Erklärungsversuche abgab, kurz: es gibt keine letzten Erklärungsgründe in der Linguistik, und in eben diesem Umstand ist die prinzipielle Revidierbarkeit aller linguistischen Theorien begründet. Und unter diesem Aspekt, im Hinblick auf die prinzipielle Revidierbarkeit von linguistischen Theorien, wird auch deutlich, daß es nicht die Aufgabe der linguistischen Forschung sein kann, den ohnehin nicht zum Erfolg führenden Versuch zu unternehmen, Systeme zu konstruieren, deren Wahrheit definitiv sichergestellt werden kann; es geht nicht einmal darum, Systeme zu konstruieren, deren Aufbau wenn nicht von der Forderung nach definitiver Wahrheit geleitet wird, so doch von der gleichsam als Ersatz für eine nicht erreichbare Zielsetzung fungierenden 25
Forderung nach maximaler Zutreffenswahrscheinlichkeit bestimmt wird; die Aufgabe der linguistischen Forschung ist es vielmehr, einfache, also universale Systeme von starker explanativer Kapazität zu liefern, die empirisch gut prüfbar sind, also, auf Grund ihrer hohen Unwahrscheinlichkeit, auch einem hohen Falsifikationsrisiko ausgesetzt sind: Systeme also, die die Eigenschaft der prinzipiellen Revidierbarkeit aufweisen. 1.4.2 Die Geschichte der Linguistik läßt sich, unter diesem Aspekt, als eine Geschichte von revidierten Theorien auffassen, als den Versuch, die Falsifikationsrisiken, denen theoretische Systeme ausgesetzt sind, systematisch zu steigern, um so zu immer informationshaltigeren Theorien, zu Theorien von immer stärkerer explanativer Kraft zu gelangen. Kontinuität und Fortschritt in der Entwicklung der Linguistik sind also, so gesehen, vor allem in dem Umstand begründet, daß das Falsifikationsrisiko der zu revidierenden Theorie geringer sein muß als das Falsifikationsrisiko, das mit der revidierten Theorie eingegangen wird; ein kontinuierlicher Fortschritt in der Entwicklung der Linguistik liegt also dann vor, wenn die historisch jüngere Theorie falsifikationsgefährdeter ist als die Theorie, auf die sie folgt; wenn ihre explanative Kraft (gegebenenfalls mit einer Erweiterung ihres Objektbereiches), wenn der Grad ihrer Einfachheit wächst; kurz: der Grad ihrer Revidierbarkeit steigt. Das gilt sowohl für die universalen linguistischen Systeme als auch für die Systeme von Randbedingungen, für die speziellen Grammatiken also: in jedem Falle ist die Revisionsmöglichkeit gegeben; auch die Universalien sind, da sie immer nur relativ zu gewissen Voraussetzungen formuliert werden können, im gleichen Grade revidierbai; in dem die Voraussetzungen revidierbar sind. Und in dieser ihrer Revidierbarkeit, in dem Umstand, daß die Empirie Kontrollinstanzen auch für Universalien liefert, ist die Möglichkeit einer Abgrenzung der universalen linguistischen Annahmen von sprachmetaphysischen Aussagen begründet, die einer empirischen Revision keinesfalls fähig sind (ihrer allerdings auch nicht bedürftig sein sollen, zumindest relativ zu dem Anspruch, mit dem sie formuliert werden). Jedenfalls ergibt sich, kurz gesagt, aus dem nicht-empirischen, also apriorischen Charakter solcher Annahmen zugleich ihr nichtwissenschaftlicher Status; Chomskys Annahme über den angeborenen Schematismus, der die Form möglicher Sprachkenntnisse determiniert (cf. Chomsky 1968,bes. Kap. 3), ist entsprechend nur insofern eine wissenschaftliche, eine linguistische Annahme, wie sie prinzipiell einer Revision, einer Korrektur durch die Erfahrung fähig ist. Wird die Möglichkeit einer solchen Korrektur bestritten, so werden zugleich die Grenzen der Linguistik überschritten; jede solche Grenzüberschreitung aber impliziert eine Metaphy26
sik der Sprache, mit der die Linguistik keinesfalls ergänzt wird, sondern die selbst mit der Linguistik konkurriert. Zweifellos ist diese Konkurrenz in eben dem Grade unentscheidbar, in dem eine Sprachmetaphysik dem Zugriff der linguistischen Erfahrung prinzipiell entzogen wird; ebenso zweifellos aber ist ein an der Erfahrung nicht prüfbares System linguistisch gänzlich irrelevant. Die Stärke der Linguistik liegt genau darin, Theorien liefern zu können, die hohen empirischen Falsifikationsrisiken ausgesetzt sind, die eine starke explanative Kapazität aufweisen; sie liegt nicht darin, Systeme zu liefern, die an keinerlei Erfahrung scheitern können, die, so gesehen, empirisch leer sind. Oder anders, und klarer gesagt: die Aufgabe der linguistischen Forschung ist nicht die Spekulation über die Sprache, sondern die durch Erfahrung kontrollierbare Erklärung und Beschreibung der Sprache, wobei die Möglichkeit einer Revision und damit auch einer Verbesserung dieser Erklärung und Beschreibung stets gegeben sein muß, sodaß auch in der Geschichte der Linguistik Fortschritte möglich werden. 1.4.3 Erklärung und Beschreibung sind in der Linguistik, wie in jeder anderen empirischen Wissenschaft, von den Voraussetzungen abhängig, die, als revidierbare, beim Aufbau der linguistischen Theorie eingegangen werden. Und ein wesentlicher Grund für die Revidierbarkeit der Voraussetzungen ist zweifellos der Umstand, daß in die Formulierung der Voraussetzungen häufig idealisierende Spezifikationen des von der Theorie behandelten Objektbereiches eingehen: Idealisierungen also, die die Reichweite der Theorie insofern restringieren, wie sie aus deren Objektbereich Klassen von Phänomenen eliminieren, die dann, bei jeder empirisch vertretbaren Anwendung der Theorie, als Falsifikatoren verwendet werden können. Die Möglichkeit der Revision einer Theorie ist also häufig mit dem Zwang zur Idealisierung beim Aufbau dieser Theorie gekoppelt; Idealisierungen, die dem Aufbau einer Linguistik-Konzeption zugrundeliegen, sind entsprechend häufig der Anlaß für eine Revision der Konzeption, und zwar genau dann, wenn diese Idealisierungen empirisch nicht mehr zu rechtfertigen sind, wenn mit ihnen die Sprachrealität nicht transzendiert, sondern (implizit oder explizit) verfälscht wird. Es ist insofern durchaus notwendig, den Gebrauch idealisierender Verfahren in der Linguistik einer empirischen Kontrolle zu unterwerfen, durch die allein vermieden werden kann, daß die Explanationsmöglichkeit auf Grund einer durch Idealisierungen verkürzten Erfahrung gewonnen wird bzw. die Explanation nicht der g e s a m t e n verfügbaren linguistischen Erfahrung korrespondiert, sondern nur Teilaspekte dieser Erfahrung erfaßt, mit ge27
wissen anderen Teilaspekten jedoch in Konflikt gerät, und so insgesamt unbefriedigend ausfällt. Zusammenfassend läßt sich also sagen, daß die Verwendung idealisierender Verfahren in der Linguistik die Forderung nach Vollständigkeit der linguistischen Erklärungen und Beschreibungen (soweit diese Forderung, relativ zu einem Komplex verfügbarer sprachlicher Daten, sinnvoll erhoben werden kann) nicht restringieren darf, da sonst keine Möglichkeit mehr gegeben ist, die linguistische Theorie an a l l e n verfügbaren Daten zu bewähren; die Theorie wird vielmehr systematisch mit der Erfahrung konfligieren und damit ihre Akzeptabilität definitiv einbüßen: denn ihre effektive Anwendbarkeit auf alle sprachlichen Phänomene, die kontrollierter Erfahrung (cf. § 7.1) zugänglich sind, ist ebenso definitiv nicht mehr gegeben.
1.5
Funktion und Struktur von Idealisierungen
1.5.1 Theorien, die deskriptive und explanative Adäquatheit zu erreichen in der Lage sind, lassen sich in der Linguistik, wie in jeder anderen empirischen Wissenschaft, nur auf der Basis gewisser idealisierender Spezifikationen des Objektbereiches dieser Theorien aufbauen (cf. Toulmin, 1961, und, speziell für die Linguistik, etwa Katz 1966, 115—118; die idealisierende Objektivierung eines Untersuchungsgegenstandes ist eine Voraussetzungen der theoretischen Erkenntnis, denn nur so lassen sich grammatische Gesetzmäßigkeiten, läßt sich explanative Kraft überhaupt erzielen. Diese unerläßliche Idealisierungspraxis involviert nun immer zweierlei: e r s t e n s nämlich eine gewisse (mehr oder weniger weitreichende) Vernachlässigung gewisser Faktoren der Sprachrealität, die als linguistisch irrelevant begriffen und auf Grund einer i d e a l i s i e r e n d e n A b s t r a k t i o n aus dem Objektbereich der linguistischen Theorie eliminiert werden, sodaß sich z w e i t e n s mit dem Idealisierungsprozeß immer auch eine K o n s t r u k t i o n v o n i d e a l e n Obj e k t e n verbindet, die, als die spezifischen Gegenstände der linguistischen Theorie, sich von realen, observablen Objekten zumal dadurch unterscheiden, daß sie Eigenschaften aufweisen, die den realen Objekten selbst nicht zukommen. „Objektivierung" bedeutet also auch in der Linguistik unter anderem „Zuordnung von idealen Eigenschaften auf Untersuchungsgegenstände"; die Idealisierung schiebt sich somit gleichsam wie ein Filter zwischen Sprachtheorie und Sprachrealität. Und kraft der Idealisierungen kann die Sprachrealität durch die Sprachtheorie nur in einem gewissen (mehr oder weniger genauen) Approximationsgrad rekonstruiert werden; mit dem abstrakten Begriffssystem der linguistischen Theorie kann mithin 28
die Sprachrealität nicht exakt, sondern nur angenähert exakt erfaßt werden, kurz: es bleibt ein Unsicherheitsfaktor im Hinblick auf die Adäquatheit der Theorie, der genau aus der Einwirkung der Idealisierungen auf die Entscheidbarkeit der Adäquatheitsprobleme, auf die Forderung nach empirischer Konsistenz überhaupt resultiert. Allgemein gesagt: eine Theorie kann nur in dem Grade empirisch konsistent sein, in dem die bei ihrem Aufbau und bei der Strukturierung ihres Objektbereiches gewählten Idealisierungen gerechtfertigt werden können. 1.5.2 Die durchaus notwendigen Idealisierungen bei der Konstruktion einer linguistischen Theorie und bei der Spezifizierung des Objektbereiches dieser Theorie bringen es mit sich, daß die linguistischen Erklärungen und Beschreibungen in einer gewissen Distanz zur Sprachrealität formuliert werden m ü s s e n , und das kann natürlich durchaus Rückwirkungen auf den empirischen Gehalt, genauer: um die deskriptive und damit, a fortiori, auf die explanative Kapazität und Adäquatheit der linguistischen Theorie haben. Mehr noch: durch einen Idealisierungsprozeß kann die Konsistenz einer Theorie in empirischer Hinsicht vollständig zerstört werden. Denn dieser Prozeß birgt offensichtlich immer die Gefahr einer Verselbständigung der Theorie gegenüber der Sprachrealität, und dies zumal in dem Sinne, daß der Fall eintreten kann, daß die Theorie der Sprachrealität nicht mehr hinreichend approximiert ist, sodaß sie einer Falsifikation prinzipiell nicht mehr fähig ist (und damit also in eine Sprachmetaphysik übergeht); zum anderen kann der Fall eintreten, daß der U m f a n g der Theorie derart r e s t r i n g i e r t wird, daß eine Reihe von durch die Theorie nicht mehr erfaßten Sprachfakten zur systematischen Falsifikation der Theorie verwendet werden können; die Theorie büßt dann ihre r e l a t i v e V o l l s t ä n d i g k e i t und damit ihren Anspruch auf Konsistenz ein. (Damit wird auch klar, daß besonders kühne Idealisierungen sich keinesfalls als vernünftige Steigerungen des Falsifikationsrisiko einer Theorie deuten lassen: eine Theorie muß zunächst mit a l l e n verfügbaren Daten in Einklang gebracht werden, bevor nach Falsifikationsmöglichkeiten gesucht wird, und es geht nicht an, auf verfügbare Daten idealisierend zu verzichten, die Theorie also gewissen Falsifikationsmöglichkeiten zu entziehen, statt sie ihnen zu konfrontieren. Idealisierungen und Falsifikationversuche verhalten sich also disproportional zueinander, und es muß entsprechend darum gehen, bei der Theorienbildung ein maximales Falsifikationsrisiko bei einem minimalen Idealisierungsgrad herzustellen). - Allgemein gilt also, daß die Theorie, wenn der Idealisierungsprozeß eine gewisse E r t r ä g l i c h k e i t s g r e n z e überschreitet, 29
e n t w e d e r i h r e n M o d e l l c h a r a k t e r v o l l s t ä n d i g e i n b ü ß t o d e r s i c h als e i n p r i n z i p i e l l i n a d ä q u a t e s M o d e l l h e r a u s s t e l l t ; d i e T h e o r i e k a n n a l s o in k e i n e m F a l l e m e h r e m p i r i s c h b e w ä h r t w e r d e n . U n d e n t s p r e c h e n d stellt sich die Erträglichk e i t s g r e n z e für I d e a l i s i e r u n g e n als e i n e F u n k t i o n d e r M ö g l i c h k e i t h e r a u s , e i n e T h e o r i e e m p i r i s c h b e w ä h r e n , sie a l s o r e c h t f e r t i g e n z u k ö n n e n . V o r a u s s e t z u n g d i e s e r R e c h t f e r t i g u n g s m ö g l i c h k e i t a b e r ist d i e r e l a t i v e V o l l s t ä n d i g k e i t d e r T h e o r i e e b e n s o w i e ihre h i n r e i c h e n d e A p p r o x i m a t i o n a n d i e S p r a c h r e a l i t ä t ; n u r w e n n d i e s e V o r a u s s e t z u n g e n erfüllt s i n d , ist e i n e T h e o r i e b e s t ä t i g u n g s f ä h i g . U n d n u r w e n n d i e s e r N a c h w e i s für d i e p r i n z i p i e l l e B e s t ä t i g u n g s f ä h i g keit, genauer: die e m p i r i s c h e Priifbarkeit der T h e o r i e erbracht w e r d e n k a n n , ist d i e g e w ä h l t e I d e a l i s i e r u n g s b a s i s z u l ä s s i g ; d a s K r i t e r i u m d e r e m p i r i s c h e n S i g n i f i k a n z s t e l l t m i t h i n z u g l e i c h e i n K r i t e r i u m für d i e Z u l ä s s i g k e i t v o n I d e a l i s i e r u n g e n dar; e s m a r k i e r t g l e i c h s a m d i e o b e r s t e G r e n z e ihrer E r t r ä g l i c h keit; wird diese Grenze überschritten, m u ß die Idealisierung abgeschwächt u n d d i e T h e o r i e n e u k o n z i p i e r t w e r d e n 1 . ( D a b e i ist e s , b e i l ä u f i g g e s a g t , k l a r , 1
Mit d e m R e k u r s auf die Idealisierungen, die in j e d e n , wie a u c h immer in k o n k r e t o e n t w i c k e l t e n A u f b a u einer Linguistik-Konzeption eingehen, und der Charakteristik der verschiedenen Idealisierungsgrade, die hier gewählt w e r d e n k ö n n e n , und mit d e m Hinweis auf die (implizit eingegangenen o d e r explizit angegebenen) Voraussetzungen, die zur E n t w i c k l u n g einer Linguistik-Konzeption uncrläßlich sind, wird d e m D-N-Modell der E x p l a n a t i o n u n d Deskription, das von Hcmpel und O p p e n h e i m entwickelt wurde (cf. etwa C.G. H c m p e l , A s p e c t s o f S c i e n t i f i c E x p l a n a t i o n and o t h e r essays in the p h i l o s o p h y of science, New YorkL o n d o n 1 9 6 5 ) , und das bei d e n vorausgehendnen Überlegungen in seinen wesentlichen Zügen stillschweigend antizipiert w u r d e , ein o f f e n s i c h t l i c h nicht unwichtiger Aspekt hinzugefügt, der sich vielleicht dahingehend b e z e i c h n e n läßt: die Wahl der Voraussetzungen und die Stärke der Idealisierung entscheiden darüber, was in der Linnguistik als ein E x p l a n a n d u m im Sinne der D-N-Auffassung überhaupt entwikkelt werden k a n n . Im Hinblick auf gewisse Voraussetzungen und Idealisierungen wird also ein linguistisches E x p l a n a n d u m a l s s o l c h e s allererst g e w o n n e n . Das h e i ß t : unterschiedliche Voraussetzungen und unterschiedliche Idealisierungen b e i m A u f b a u einer K o n z e p t i o n führen zwangsläufig zu a n d e r e n E x p l a n a n d a für die Theorie, die im R a h m e n der K o n z e p t i o n geliefert w e r d e n soll. (Die Geschichte der Linguistik etwa ließe sich u n t e r diesem Aspekt als eine Geschichte der Kons t r u k t i o n unterschiedlicher E x p l a n a n d a a u f f a s s e n , deren A u f e i n a n d e r f o l g e e i n e F u n k tion unterschiedlicher Idealisierungen und Voraussetzungen ist, w o b e i Voraussetzungen immer d a n n aufgegeben w e r d e n , w e n n sie sich, im Sinne der in der Einleitung entwickelten Kriterien, als n u n m e h r i n e f f e k t i v erweisen). Der dcduktiv-nomologischc Aspekt ist also zwar ein wesentlicher, a b e r s i c h e r n i c h t der a l l e i n e n t s c h e i d e n d e A s p e k t in d e r Theorie d e r e x p l a n a t i v e n K a p a z i t ä t : jene p r a g m a t i s c h zu n e n n e n d e Dimension des Forschungsprozcßes in der Linguistik, in der ein E x p l a n a n d u m als solches allererst k o n s t i t u i e r t wird, ermöglicht die E n t s c h e i d u n g darüber, w a s linguistisch erklärt werden soll, welche sprachlichen P h ä n o m e n e einer Erklärung bedürf-
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daß diejenigen Kriterien, an denen sich die empirische Signifikanz der Theorie entscheidet, nicht selbst auf der Basis jener Idealisierungen gewonnen werden dürfen, deren Zulässigkeit sie allererst entscheiden sollen, sondern der linguistischen Observation entnommen werden müssen, kurz: die empirische Prüfung des abstrakten, die Erfahrung transzendierenden Systemes ist nur auf jener schmalen Datenbasis möglich, die mit kontrollierter linguistischer Erfahrung zu gewinnen ist.) 1.5.3 Für die Theorienbildung in der Linguistik läßt sich entsprechend, wenn auch mit einer gewissen Vagheit, diese durch Idealisierungen gefilterte Interdependenz von Theorie und Empirie, von Explanation und Deskription mit einer Annahme fassen, die gleichsam ein methodisches ÖkonomiePrinzip beinhaltet: (ÖJQ) Bei der Theorienbildung in der Linguistik müssen einerseits ausreichende Idealisierungen vorgenommen werden, um explanative Kraft für eine Theorie überhaupt erzielen zu können, und andererseits m u ß die Theorie hinreichend umfangreich, also relativ vollständig und damit gut prüfbar sein, um in einem signifikanten Grade an die Sprachrealität approximiert und damit auch an ihr bewährt werden zu können, sodaß ihre deskriptive Kraft garantiert werden kann. Denn nur so lassen sich reine Spekulationen einerseits und bloße Datenkollektionen andererseits vermeiden; nur so läßt sich die Spannung, die zwischen den Versuche, Beschreibungsadäquatheit u n d Erklärungsadäquatheit zu erzielen, offensichtlich besteht, gleichsam derart ausbalancieren, daß beide Adäquatheitsstufen erreichbar werden und die Effektivität der Theorie
tig sind, während mit dem D-N-Modcll allein festgelegt wird, w i e Erklärungen vorgenommen werden müssen, id est: es wird festgelegt, welche F o r m linguistische Systeme haben müssen, um explanationsfähig zu sein. Anders gesagt: mit dem D-NModell wird eine Explanationsstruktur vorgeschlagen, während in der pragmatischen Dimension des Forschungsprozeßes darüber entschieden wird, auf welche Gegenstände ein linguistisches System sich sinnvollcrweise zu richten hat, das dem D-N-Modell genügt. Natürlich wird, und zwar nicht nur mittelbar, von einer solchen pragmatisch getroffenen Entscheidung die gesamte Adäquathcitsproblematik mitbetroffen, denn eine Erklärung ist offenbar nicht schon dann adäquat, wenn sie dem deduktiv-nomologischcn Aspekt genügt, sondern sie muß weiterhin auch eine Erklärung genau für das sein, was in der pragmatischen Dimension als erklärungsbedürftig bestimmt wurde; sie muß, kurz gesagt, den Intentionen der Konzeption entsprechen und in diesem Sinne b e f r i e d i g e n d sein. - Leider ist es derzeit jedoch so, daß in der Linguistik alle Kriterien fehlen, mit denen unter Umständen festgelegt werden könnte, wann eine Erklärung in diesem Sinne „befriedigend" ist.
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damit gesichert ist ( o d e r , wie sich in einer sehr viel anspruchsvolleren Terminologie formulieren läßt: n u r so lassen sich die Wahrheit — also die deskriptive A d ä q u a t h e i t — und d e r S i n n — also die explanative A d ä q u a t h e i t — einer linguistischen Theorie auf einer und nur einer Basis k o n s i s t e n t vereinigt denken).
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2
Idealisierungen im A u f b a u der Linguistik
2.1
Chomsky-Konzeption der Linguistik
2.1.1 In der im wesentlichen von Noam Chomsky begründeten g e n e r a t i v e n Linguistik, die wohl die kohärenteste der derzeit vorliegenden Linguistik-Konzeptionen darstellt, wird die deskriptive Konsistenz der linguistischen Theorie und damit, zumindest mittelbar, auch ihre Vollständigkeit dadurch zu garantieren versucht, daß der Prozeß der Hypothesenbildung in der Linguistik auf dem Prozeß der Spracherlernung simuliert wird (cf. Chomsky 1965, Kap. 1 und passim); bei der Hypothesenbildung soll also eine Information verarbeitet werden, die jener analog ist, deren Verarbeitung im Spracherlernungsprozeß zur Sprachbeherrschung führt. Offensichtlich ermöglicht es dieses (nicht-induktive) simulative Vorgehen, die Struktur der Sprachkenntnisse, die einem Sprecher-Hörer Sprachbeherrschung ermöglichen, und damit die vollständige (vom Sprecher-Hörer internalisierte) G r a m m a t i k einer Sprache linguistisch zu rekonstruieren; der Adäquatheitsgrad der linguistischen Theorie hängt also weitgehend davon ab, welches Simulationsniveau bei ihrer Konstruktion erreicht wird. Dabei formuliert der Linguist seine explizite, wissenschaftliche Hypothese ungefähr nach dem gleichen Schema, nach dem der Sprecher-Hörer seine immanenten Sprachkenntnisse entwickelt: aus einer endlichen Menge D von primären linguistischen Daten (,die teilweise sogar degeneriert, also nicht wohlgeformt sind,) wird eine endliche Grammatik G abstrahiert, die die unendlich vielen Sätze der in der Kommunikation zu verwendenden bzw. vom Linguisten zu beschreibenden Sprache L erzeugt. Diese Praxis der Hypothesenbildung läßt sich graphisch, etwas vereinfacht, folgendermaßen skizzieren:
D
G
L
Fig. 1
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Bei der Hypothesenbildung in der Linguistik wird also, zumindest bis zu einem gewissen Grade, Information verarbeitet, die der im Spracherlernungsprozeß verarbeiteten Information weitgehend entspricht; im weiteren Sinne dieses Vorgehens kann dann auch davon gesprochen werden, daß die Grammatik G die Sprachkenntnisse der Sprecher-Hörer p j , ρ2, . . . , p n in einer Sprachgemeinschaft P, also die Sprachkompetenz der abbildet. Der spezifische Gegenstand der generativen Theorie ist also die Sprachkompetenz der Sprecher-Hörer in P, dieser Objektbereich muß linguistisch beschrieben und erklärt werden, und die linguistischen Erklärungen und Beschreibungen müssen natürlich zutreffend, also adäquat ausfallen. Um aber die Adäquatheit einer deskriptiven und explanativen linguistischen Theorie entscheiden zu können, müssen explizit formulierte Adäquatheitskriterien vorliegen, die eine solche Entscheidung erlauben. 2.1.2 Um zu einer Auflösung der Adäquatheitsproblematik zu kommen, wird von Chomsky ein System von Adäquatheitsbedingungen angegeben, das auf die generative Theorie zutrifft; die Theorie gilt entsprechend in genau dem Grade als adäquat, in dem sie das Bedingungensystem erfüllt, mit dem, allgemein gesagt, eine Gradation der Adäquatheit von linguistischen Theorien vorgenommen wird. Dieses Bedingungensystem für die ChomskyAdäquatheit (CA) läßt sich in einer knappen, etwas modifizierenden Paraphrase der verstreuten einschlägigen Formulierungen Chomskys (cf. etwa Chomsky 1957, Kap. 6 und Chomsky 1965, Kap. 1, bes. 61; cf. weiterhin auch Bierwisch 1966, § 1.1) wie folgt angeben: (CA) Mit der generativen Theorie natürlicher Sprachen kann O b s e r v a tionsadäquatheit, Deskriptionsadäquath e i t und E x p l a n a t i o n s a d ä q u a t h e i t erreicht werden. Dabei gilt für die generative Theorie Τ folgendes: (CA.O) Τ ist observationsadäquat, wenn sie ein Verfahren zur Aufzählung der Klasse SBj, SB 2 SBn von Strukturbcschreibungen für 5 von eine gegebene Klasse Sy. Sätzen liefert. m (CA.D) Τ ist deskriptionsadäquat, wenn sie folgendes liefert: (a) ein Verfahren zur Aufzählung der Klasse iy, ^ · · · v o n möglichen Sätzen, (b)ein Verfahren zur Aufzählung der Klasse SBy, SB2, • . . von möglichen Strukturbeschreibungen, (c) ein Verfahren zur Aufzählung der Klasse G j , G2, • • • von möglichen generativen Grammatiken, (d) die Spezifizierung einer Funktion F derart, daß SBp,· ·, diejenige Strukturbeschreibung ist, die einem Satz s• durch eine orammatik G, zugeordnet wird, für beliebige ij.
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(CA.E) Τ ist explanationsadäquat, wenn sie folgendes liefert: die Spezifizierung einer Funktion m derart, daß m(i) eine natürliche Zahl ist, die einer Grammatik G• als ihr Wert zugeordnet wird (.wobei niederer Wert durch höhere Zahl angezeigt wird). Z u s a t z : Jede Theorie T, die (CA.E) erfüllt, muß auch (CA.D) und (CA.O) erfüllen; jede Theorie T, die (CA.D) erfüllt, muß auch (CA.O) erfüllen.
Mit (CA) wird eine Möglichkeit geliefert, den Grad der Adäquatheit einer generativen linguistischen Theorie festzustellen; es wird angegeben, unter welchen Bedingungen eine Theorie als beobachtungsadäquat, als beschreibungsadäquat und als erklärungsadäquat qualifiziert werden kann. Einer solchen Rechtfertigung Qualifikation muß jedoch die e m p i r i s c h e der Theorie vorausgehen, id est: es muß gesichert werden, daß eine Theorie sich in Übereinstimmung mit der Sprachrealität befindet, wenn (CA) sinnvoll auf sie angewendet werden soll; es muß also empirisch garantiert werden, daß die von Τ erzeugten Sätze Sj tatsächlich Sätze einer natürlichen Sprache L sind und die ihnen zugeordneten Strukturbeschreibungen SB: tatsächlich determinieren, wie die Sprecher-Hörer einer Sprachgemeinschaft Ρ die s;· erzeugen und interpretieren. Bevor (CA) also sinnvoll angewendet werden kann, muß die empirische Signifikanz von Τ erwiesen sein, daß Τ eine Theorie faktischer Sprachkompetenzen ist, der Sprachrealität also hinreichend approximiert ist, um empirisch signifikante Aussagen überhaupt liefern zu können. 2.1.3 Jede linguistische Theorie muß also im Hinblick auf ihre empirische Signifikanz gerechtfertigt werden; Gegenstand des Rechtfertigungsprozesses ist dabei das zentrale System der Theorie, also die generative Grammatik, die, nach Chomsky, sowohl eine i n t e r n e als auch eine e x t e r n e Rechtfertigung erfahren muß (cf. Chomsky 1965, 27), wobei die externe Rechtfertigung im Hinblick auf (CA.O) und (CA.D), die interne Rechtfertigung dagegen im Hinblick auf (CA.E) erbracht werden muß, sodaß, der logischen Struktur des Systemes von Adäquatheitsbedingungen entsprechend, eine interne Rechtfertigung a fortiori nicht mehr möglich ist, wenn eine externe Rechtfertigung nicht erbracht werden kann. Die externe Rechtfertigung einer Grammatik besteht dabei im Nachweis ihrer „correspondence to linguistic fact" (Chomsky 1965, 27); kann ein solcher Nachweis grundsätzlich nicht erbracht werden, so ist die Konsistenz der generativen Theorie definitiv zerstört. Bei den Sprachfakten, mit denen die Theorie übereinstimmen muß, handelt es sich um die Sprachkenntnisse von Sprecher-Hörern einer Sprache; sie sind der spezifische Gegenstand der Theorie, 35
und es ist für die Rechtfertigungsmöglichkeit offenbar entscheidend, daß dieser Gegenstand auf eine vertretbare Art zum Gegenstand der Theorie genommen, in sinnvoller Weise objektiviert wird. Diese Objektivierung wird nun von Chomsky derart vorgenommen, daß sie einen gewissen Idealisierungsgrad aufweist; wörtlich lautet die Chomsky-Idealisierung (CI) folgendermaßen: (CI)
Linguistic theory is concerned primilaiy with an ideal speakerlistener, in a completely homogenous speech community . . . (Comsky 1965, 3)
Die Objektivierung in (CI) ist bei der Konzipierung der generativen Linguistik bislang vollständig akzeptiert worden (cf. etwa Katz 1 9 6 6 , 117); sie legt im zuvor angegebenen Sinne (cf. § 1.5) fest, von welchen idealen Objekten die generative Theorie handelt. Denn sowohl dem Sprecher-Hörer als auch der Sprachgemeinschaft, der er angehört, werden in (CI) durchaus Eigenschaften zugeschrieben, die sie in der Realität nicht aufweisen: so ist der Sprecher-Hörer insofern ein ideales Objekt, wie von den physischen, psychischen und umweltsabhängigen Bedingungen seiner Existenz bei der Behandlung seiner Sprachkenntnisse abstrahiert wird, und aus dieser Abstraktion ergibt sich die Unterscheidung zwischen Kompetenz und Performanz (cf. Chomsky 1 9 6 5 , 3 - 4 ) ; die Strenge dieser Unterscheidung legt zugleich fest, ob etwa sprachliche Handlungen („speech acts") wie überhaupt alle pragmatischen Aspekte der Satzerzeugung aus dem Gegenstandsbereich der Grammatik eliminiert werden. Die Sprachgemeinschaft schließlich ist insofern ein ideales Objekt, wie ihr in (CI) Homogenität zugeschrieben wird, die generationsspezifischen, sozial bedingten oder geographisch begründeten Divergenzen zwischen den Sprachkenntnissen der Sprecher-Hörer also idealisierend aus dem Objektbereich der generativen Theorie eliminiert werden. — Für die Rechtfertigungsproblematik bedeutet das, daß die Rechtfertigung der Theorie erst dann nachweisbar signifikant ist, wenn die Zulässigkeit der Idealisierung in (CI) nachgewiesen werden kann: wenn also gezeigt werden kann, daß die Theorie sich nicht kraft der idealisierenden Spezifikation ihres Objektbereiches gegenüber der observablen Sprachrealität verselbstständigt und so ihren Gegenstand, die Sprachkenntnisse der Sprecher-Hörer in einer Sprachgemeinschaft, und damit natürlich auch die Struktur der in dieser Sprachgemeinschaft gesprochenen Sprache, von vornherein verfehlt. Denn natürlich gibt, wer (CI) behauptet, die Inhomogenität der Sprachstruktur bereits zu; es bedürfte sonst nicht ihrer expliziten idealisierenden Vernachlässigung; fraglich ist jedoch, ob diese Vernachlässigung legitimiert werden kann: denn überschreitet (CI) die an der linguistischen Observation ausmeßbare Erträglichkeitsgrenze, so wird
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die Idealisierung unzulässig und alle Theorien, die eine solche Objektivierung der Sprachrealität voraussetzen, büssen zwangsläufig ihre empirische Signifikanz ein, in welchem Maße sie auch immer relativ zu (CI) die Bedingungen in (CA) erfüllen mögen — denn schon (CI) kann nicht mehr gerechtfertigt werden. Fraglich ist also, kurz gesagt, ob mit (CI) ein zulässiges Explanandum für die linguistische Theorie konstruiert wird (cf. Anm. 1) oder ob schon die Wahl des Explanandum eine nicht mehr vertretbare Distanz zwischen Sprachtheorie und Sprachrealität erzeugt. Entsprechend muß die Chomsky-Konzeption der generativen Linguistik, soll ihre empirische Signifikanz entschieden werden, vor allem im Hinblick auf die Zulässigkeit oder Unzulässigkeit der Idealisierung in (CI) geprüft werden, wobei es genau dann, wenn die Prüfung negativ ausfällt, unerläßlich wird, (CI) durch eine andere Idealisierung zu ersetzen, und die Konzeption derart zu modifizieren, daß sie den dann anders spezifizierten Objektbereich zu beschreiben und zu erklären vermag; kurz: stellt sich (CI) als unzulässig heraus, ist ipso facto auch die empirische Konsistenz der Chomsky-Konzeption der generativen Linguistik nicht mehr belegbar; soll dann die Konsistenz der generativen Konzeption wiederhergestellt werden, so wird es unerläßlich sein, die Chomsky-Version dieser Konzeption relativ zu einer neuen Idealisierungsbasis mehr oder weniger weitreichend abzuändern.
2.2
Funktion und Struktur der Homogenitäts-Annahme
2.2.1 Der empirische Gehalt einer linguistischen Theorie, ihr Vermögen, informationsreiche Aussagen über die Sprachrealität zu liefern, kann nur dann sichergestellt werden, wenn es möglich ist, die Theorie extern zu rechtfertigen. Dabei ist es des weiteren offensichtlich, daß eine externe Rechtfertigung nur dann signifikant ist, wenn die Idealisierungsbasis, auf der die Theorie aufgebaut ist, abgesichert werden kann; die Sprache muß entsprechend auf der Basis einer Idealisierung zum Gegenstand der Theorie genommen werden, die mit der linguistischen Erfahrung jedenfalls verträglich ist. Läßt sich diese Verträglichkeit nicht erreichen, so bleibt jede externe Rechtfertigung prinzipiell uneffektiv, da dann die Sprachrealität schon in der Art, in der sie objektiviert wurde, systematisch verfehlt wurde und zwar genau in dem Grade, in dem die idealisierende Objektivierung mit den Resultaten der linguistischen Beobachtung inkompatibel ist — wie also eine empirische Erträglichkeitsgrenze für Idealisierungen überschritten wird. Entsprechend muß auch die Idealisierung in (CI) daraufhin geprüft werden, ob und inwieweit sie lediglich vertretbare Abweichungen von Observationsresultaten involviert, die, relativ zu der Unterscheidung zwischen 37
Kompetenz und Performanz, einer legitimierbaren Vernachlässigung gewisser Phänomene an der Peripherie der Sprachrealität gleichkommen, oder ob und inwieweit in (CI) relevante Kompetenzphänomene verfehlt, also unzulässigerweise in den Performanzbereich verlagert wurden. Fraglich ist also, kurz gesagt, ob mit (CI) eine v e r t r e t b a r e idealisierende Abgrenzung von Kompetenz und Performanz vorgenommen wird oder ob sich diese Idealisierung auf Grund ihrer Funktion und Struktur als empirisch inadäquat herausstellt. 2.2.2 In (CI) wird in zweifacher Hinsicht eine Idealisierung vorgenommen: zunächst erfolgt eine Idealisierung des Sprecher-Hörers und sodann, 1 ο g i s c h u n a b h ä n g i g d a v o n , die Idealisierung der Sprachgemeinschaft, die sich im Schlußteil von (CI) in einer H o m o g e n i t ä t s A n n a h m e niederschlägt. Der Sinn dieser Homogenitäts-Annahme, ihre Funktion besteht nun offensichtlich darin, d i e Kompetenzen d e r v e r s c h i e d e n e n (idealen) S p r e c h e r - H ö r e r , aus denen sich eine Sprachgemeinschaft zusammensetzt, a 1 s identisch d e n k e n z u k ö n n e n ; mit der Homogenitäts-Annahme wird also eine I d e n t i t ä t d e r K o m p e t e n z e n , eine generelle Gleichförmigkeit der Sprachkenntnisse der Sprecher-Hörer in einer Sprachgemeinschaft idealisierend vorausgesetzt (und diese Voraussetzung wird wohl nicht zuletzt aus Gründen einer gewissen Forschungsökonomie eingegangen). Kraft dieser Voraussetzung reicht dann eine und nur eine generative Grammatik hin, um a l l e in einer Sprachgemeinschaft verfügbaren Sprachkenntnisse beschreiben zu können, denn diese Sprachkenntnisse sind ja in der Kompetenz des einen Idealen Sprecher-Höres repräsentiert, die Gegenstand der Grammatik ist, und die, nach Voraussetzung, mit den Kompetenzen aller anderen Sprecher identisch ist. Und insofern prädisponiert die Homogenitäts-Annahme in einer ganz wesentlichen Hinsicht die Form der Theorie einer Sprache, denn mit dieser Annahme wird es möglich, aber auch erforderlich, eine und nur eine Grammatik als Theorie einer Sprache zu etablieren; von dieser Grammatik muß dann weiterhin gesagt werden, daß mit ihr die Sprachkenntnisse, über die die Sprecher-Hörer in einer Sprachgemeinschaft verfügen, v o l l s t ä n d i g und adäquat zu erfassen sind. 2.2.3 Festzuhalten bleibt jedoch auch, daß die Legitimierbarkeit einer solchen Homogenitäts-Annahme, genauer: der von ihr implizierten Identitätsvoraussetzung keineswegs unmittelbar evident ist; es ist vielmehr noch sehr die Frage, ob die Annahme nicht eine zu weitreichende Distanz zwischen Sprachtheorie und Sprachrealität zur Folge hat; es bleibt durchaus pro38
blematisch, ob sich die Theorie nicht kraft der Homogenitäts-Annahme derart gegenüber der linguistischen Observation verselbständigt, daß sie nicht mehr auf eine signifikante Art gerechtfertigt werden kann. Denn wer eine Homogenitäts-Annahme i d e a l i s i e r e n d einführt, gibt damit zugleich, wenn auch implizit, die Inhomogenität der Sprachstruktur zu und damit auch die Ungleichförmigkeit der Kompetenzen der SprecherHörer; die Eliminierung dieser Ungleichförmigkeit aus dem Objektbereich der Theorie bedarf somit ganz ohne Frage einer Rechtfertigung, zumal die inhomogene Verteilung der Sprachkenntnisse in einer Sprachgemeinschaft ja auch zur Sprachkenntnis der Sprecher-Hörer, gleichsam zu ihrer MetaKompetenz rechnet; derartige Phänomene aber können von einer Kompetenz-Theorie, mit der eine v o l l s t ä n d i g e Rekonstruktion der Sprachkenntnisse der Sprecher-Hörer erreicht werden soll, nicht umstandslos vernachlässigt werden; die beobachtbare Inhomogenität der Sprachstruktur, die Ungleichförmigkeit der Sprachkenntnisse der Sprecher-Hörer ist vielmehr zunächst durchaus von linguistischen Interesse, also ein möglicher Gegenstand der linguistischen Explanation und Deskription. 2.3
Auswirkungen der Homogenitäs-Annahme auf Synchronie und Diachronie
2.3.1 Die mit der Homogenitäts-Annahme sich verbindende Identitätsvoraussetzung kommt also im wesentlichen einer Vernachlässigung der Ungleichförmigkeit der Sprachkenntnisse der Sprecher-Hörer in einer Sprachgemeinschaft Ρ gleich, und diese Vernachlässigung ermöglicht die Konstruktion des idealen Objektes „homogene Sprachgemeinschaft P " qua „gleichförmiges System von Sprachkenntnissen". Mit der Konstruktion des idealen Objektes werden jedoch bereits alle generationsspezifischen Unterschiede zwischen den Sprachkenntnissen der Sprecher-Hörer in Ρ und damit alle dynamischen Faktoren aus dem Objektbereich der Theorie eliminiert; die Homogenitäts-Annahme hat insofern des weiteren zwangsläufig eine starke Idealisierung des Spracherlernungsprozeßes zur Folge, genauer: kraft der idealisierenden Identitätsvoraussetzung, die von der Homogenitäts-Annahme impliziert wird, und der zufolge angenommen werden muß, daß a l l e Sprecher-Hörer in Ρ über dieselben Sprachkenntnisse verfügen, kann die von einem Sprachakquisationsmechanismus SAM ausgegebene Grammatik G ersichtlich nur eine Reproduktion derjenigen Grammatik sein, die den Eingabe-Daten des SAM zugrundeliegt; die Rückkopplung von G an die Daten und die Verbesserung und Korrektur von G auf dieser Rückkopplungsbasis kann offensichtlich nur eine A n g l e i c h u n g der 39
erworbenen Sprachkenntnisse an die in Ρ bereits verfügbaren Sprachkenntnisse zur Folge haben, da sonst, wenn die Angleichung ausbliebe, eine Ungleichförmigkeit der Sprachkenntnisse in Ρ angenommen werden müßte: eine solche Annahme aber u n d die Homogenitäts-Annahme sind unverträglich miteinander; eine Theorie, die beide Annahmen enthält, ist kontradiktorisch. Die Spracherlernung muß insofern, idealisierend, als eine Reproduktion von Sprachkenntnissen nicht aber als eine m o d i f i z i e r t e Reproduktion von Sprachkenntnissen dargestellt werden, wie sie sich aus der Vereinfachung, Erweiterung und Reduktion der Grammatik ergeben kann, die den Eingabe-Daten des SAM zugrundeliegt. Die Homogenitäts-Annahme hat ihr genaues lernpsychologisches Korrelat in Chomskys „instantaneous model" der Spracherlernung (cf. Chomsky 1965, Kap. 1,§ 6), mit dem die zeitliche Dimension der Spracherlernung eliminiert wird, in der sich natürlich Ungleichförmigkeiten im Ausmaß der Sprachbeherrschung für die Sprecher-Hörer ergeben. Und der Umstand, daß Chomsky dieses Modell explizit zurückgezogen hat (Chomsky 1968, 87, Anm. 19), verdeutlicht auch die Problematik der Homogenitäts-Annahme, die mit einer Darstellung des Spracherlemungsprozeßes, bei der die verschiedenartige Struktur der erworbenen Sprachkenntnisse berücksichtigt wird, schlicht unverträglich ist. Und es besteht kein Zweifel daran, daß eine Theorie der Spracherlernung, die die Inhomogenität der erworbenen Sprachkenntnisse berücksichtigt, die realistischere, empirisch besser stützbare ist (cf. Mc Neill 1966, passim). Und hinzu kommt, daß kraft der Homogenitäts-Annahme auch die Bedingungen der Spracherlernung, speziell die Eingabe-Daten für den SAM, als für alle Sprecher-Hörer in einer Sprachgemeinschaft Ρ in gleicher Weise verbindlich angesetzt werden müssen; die unterschiedlichen Bedingungen der Spracherlernung, die sich aus der sozialen Herkunft, der unterschiedlichen Generationszugehörigkeit der Sprecher-Hörer sowie der geographischen Diffenzierung der Sprachgemeinschaft ergeben, und deren Konsequenz der Erwerb unterschiedlicher Sprachkenntnisse ist, können, soll die Homogenitäts-Annahme erhalten bleiben, n i c h t reflektiert werden: denn wenn gilt, daß unterschiedliche Lernbedingungen zu unterschiedlichen Lernresultaten führen, so führt die Annahme heterogener Bedingungen für Spracherlernungsprozeße wiederum zum Widerspruch mit der Homogenitäts-Annahme. Damit aber wird deutlich, daß sich die Homogenitäts-Annahme im gleichen Grade, in dem eine bessere Approximation der Sprachtheorie an die Sprachrealität versucht wird, als eine Überidealisierung erweist, die einer empirischen Rechtfertigung nicht mehr fähig ist. Davon aber wird jede auf (CI) gegründete Theorie in Mitleidenschaft gezogen, sodaß sich die Frage ergibt, ob diese Idealisierung nicht zugunsten
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einer schwächeren, der Sprachrealität aber besser korrespondierenden Idealisierung aufgegeben werden sollte; einer Idealisierung, relativ zu der die (dann allerdings zu reformulierende) Theorie der Realität der Sprachen besser approximiert werden kann — derart, daß mit der Klasse ihrer potentiellen Falsifikatoren, die durch eine schwächere als die in (CI) mitgeteilte Idealisierung in jedem Fall erweitert wird, zugleich auch ihr Informationsreichtum, ihre explanative Kraft und der Grad ihrer Prüfbarkeit steigt: denn je mächtiger die Klasse der potentiellen Falsifikatoren ist, über die eine Theorie verfügt und der gegenüber sie sich bewährt, desto effizienter ist die Theorie, desto kontrollierbarer ist ihre Konsistenz, die immer dann gefährdet ist, wenn die Korrespondenz zwischen Erklärungskraft und Prüfbarkeit verloren zu gehen droht. 2.3.2 Eine Abschwächung der Idealisierung in (CI) wird jedoch noch aus einem weiteren Grunde dringlich. Denn auf der Basis von (CI) kann der Umstand, daß die Sprachkenntnisse der Sprecher-Hörer in Ρ sich verändern können und in der Tat auch v e r ä n d e r n , wenn überhaupt, dann nur in einer höchst problematischen Art reflektiert werden. Allgemeiner: (CI) stellt keine hinlängliche Objektivierung von L dar, wenn L auch diachron beschrieben und erklärt werden soll (und es bedarf keiner Frage, daß diachrone Erklärungen und Beschreibungen aus Vollständigkeitgründen ebenso notwendig sind wie aus systematischen Gründen, kurz: der diachrone Aspekt kann nicht umstandslos vernachlässigt werden, wenn die Linguistik ihrem Objektbereich gerecht werden will). Die Rückwirkungen, die (CI) auf die Diachronie hat, lassen sich im nochmaligen Rekurs auf das „instanteneous model" der Spracherlernung genauer explizieren. Mit diesem Modell werden ja die generationsspezifischen Unterschiede, die zwischen den Sprachkenntnissen der Sprecher-Hörer bestehen, gleichsam totalnivelliert; die Anwendung des Modelles setzt die Annahme voraus, daß alle, die eine Sprache als Primärsprache erlernen, schlagartig, ohne Einschränkungen, genau die in Ρ verfügbaren, dieser Sprache zugrundeliegenden Sprachkenntnisse und nur diese erwerben — nur so kann die Identitätsvoraussetzung, die mit (CI) eingegangen wird, sinnvoll aufrecht erhalten werden, d.h. hier: widerspruchsfrei behauptet werden. Der Preis, der für diese Widerspruchsfreiheit gezahlt werden muß, ist jedoch sehr hoch: denn diese Identität der Sprachkenntnisse der Sprecher-Hörer in Ρ muß ja, diachron gesehen, auf Dauer angenommen werden, eine Differenzierung der Sprachkenntnisse in Ρ kann nicht als möglich ausgewiesen werden, und das bedeutet, daß den Sprachkenntnissen in Ρ praktisch Unveränderlich zugeschrieben werden muß. Unter dieser Voraussetzung gerät die Homogenitäts-Annahme ganz offenbar, dia41
c h r o n g e w e n d e t , zu einer S t a b i l i t ä t s - A n n a h m e und d a m i t zu einer A n n a h m e , die ganz o f f e n s i c h t l i c h k o n t r a f a k t i s c h ist: d e n n es gibt keinerlei linguistische B e f u n d e , die die A n n a h m e einer v o l l k o m m e n stabilen K o m p e t e n z s t r u k t u r a u c h nur plausibel m a c h e n k ö n n t e n ; das F a k t u m der S p r a c h e n t w i c k l u n g , d. i. das F a k t u m d e r V e r ä n d e r u n g zugrundeliegender K o m p e t e n z s t r u k t u r e n k a n n nicht b e s t r i t t e n w e r d e n (cf. hierzu a u c h § 2.5.5). Der Versuch, (CI) gegenüber d i a c h r o n k o n z i p i e r t e n E i n w e n d u n gen zu verteidigen, m u ß zunächst scheitern: u n d zwar insofern, wie er auf die U m d e u t u n g von (CI) zu einer Stabilitäts-Annahme h i n a u s l ä u f t , d e r e n K o n t r a f a k t i z i t ä t w o h l u n b e s t r i t t e n ist. E n t s p r e c h e n d k a n n a u c h eine Theorie, die auf (CI) basiert, nicht mehr a d ä q u a t sein; sie ist, aus d i a c h r o n e n Gründen, definitiv inakzeptabel. U n d diese Kritik k a n n sicher nicht d a d u r c h u n t e r l a u f e n w e r d e n , d a ß alle d i a c h r o n e n P r o b l e m e b e i m A u f b a u d e r Sprachtheorie u m s t a n d s l o s vernachlässigt oder m e h r n o c h : für irrelevant erklärt w e r d e n , d. h. i n d e m die Linguistik auf eine ihrer Disziplinen, nämlich die s y n c h r o n e Linguistik, reduziert w i r d . Eine solche R e d u k t i o n wäre nicht n u r aus Vollständigkeitsgründen, s o n d e r n a u c h aus systematischen Gründen u n a n n e h m b a r : d e n n die S p r a c h t h e o r i e m u ß es g e s t a t t e n , eine A n t w o r t auf die Frage zu f o r m u l i e r e n , wie es möglich ist, d a ß s y n c h r o n e S t r u k t u ren in d i a c h r o n e Prozesse eingebettet w e r d e n ' k ö n n e n b z w . d a ß die Sprache sich verändern k a n n und in der Tat verändert, w ä h r e n d sie in Ρ zur K o m m u n i k a t i o n g e b r a u c h t wird, also „ s y n c h r o n f u n k t i o n i e r t " . Diac h r o n e Prozesse sind somit natürliche Gegenstände der linguistischen Theorie, a u c h der Theorie eines S p r a c h z u s t a n d e s , und die Erklärung u n d Beschreibung dieser P r o z e ß e m u ß möglich sein, w e n n die T h e o r i e nicht von vornherein unvollständig und unsystematisch und d a m i t auch inadäq u a t sein soll. Das b e d e u t e t , d a ß sich für eine relativ zu (CI) angelegte Theorie n u r d a n n (empirische) A d ä q u a t h e i t wird erreichen lassen, w e n n sich die U m · i n t e r p r e t a t i o n von (CI) zu einer in d e r Tat k o n t r a f a k t i s c h e n StabilitätsA n n a h m e irgendwie vermeiden läßt. Und allerdings läßt sich eine solche D e u t u n g vermeiden — j e d o c h nur d a n n , w e n n eine wenig suggestive Zus a t z a n n a h m e eingeführt wird. Folgendes: eine mit ( C I ) k o n s i s t e n t e (diac h r o n e ) A n n a h m e über den Ablauf der S p r a c h e n t w i c k l u n g h ä t t e zu besagen, d a ß die U b e r f ü h r u n g eines Z u s t a n d e s ζ der ( h o m o g e n e n ) S p r a c h k e n n t nisse in Ρ in einen n a c h f o l g e n d e n Z u s t a n d z' sich v o l l k o m m e n h o m o g e n vollzieht; es müßte also a n g e n o m m e n w e r d e n , d a ß a l l e Sprecher-Hörer in Ρ ihre S p r a c h k e n n t n i s s e erstens g l e i c h z e i t i g , also simultan, und zweitens g l e i c h f ö r m i g , also in derselben Weise verändern. Dieses K o n z e p t einer h o m o g e n e n S p r a c h e n t w i c k l u n g (,wie 42
sie dann aus der homogenen Entwicklung der Sprachkenntnisse in Ρ resultiert,) disponiert natürlich hochgradig den Charakter möglicher diachroner Theorien — diese Theorien müßten wohl im Rahmen eines diachron gewendeten „instanteneous models" aufgebaut werden, das die Ausblendung aller Differenzierungen aus der Zustandsfolge ζ > ζ ' erlaubt —, aber es ist ganz offenbar mit (CI) konsistent: die Identitätsvoraussetzung kann nicht mehr erschüttert werden, wenn die Sprachentwicklung so dargestellt wird, daß im Prozeß der Entwicklung der zugrundeliegenden Sprachkenntnisse keinerlei Differenzierungen zwischen den Kompetenzen der Sprecher-Hörer in Ρ auftreten. Dabei ist es vollkommen unerheblich, ob die Sprachentwicklung als ein kontinuierlicher oder diskreter Prozeß aufgefaßt wird (cf. jedoch Abschnitt 6.3), denn die vorausgesetzte Homogenität der Entwicklung erhält die Identität der Sprachkenntnisse in Ρ unabhängig davon, ob der Prozeß ζ > ζ ' gleichsam schlagartig, abrupt erfolgt oder allmählich, eine ganze Reihe von Zwischenphasen durchlaufend erfolgt; in keinem Fall ergibt sich die Notwendigkeit, von Differenzierungen in Ρ sprechen zu müssen. Mithin wäre (CI) nur noch in einer einschlägigen Art zu ergänzen, um zu einer vollständigen, also auch diachrone Aspekte reflektierenden, und in sich widerspruchsfreien Objektivierung zu gelangen, in deren Rahmen sich die Identitätsvoraussetzung halten läßt. Diese Objektivierung ließe sich, grob und vereinfacht, aber ohne die Substanz von (CI) zu verändern, etwa folgendermaßen formulieren: E r g ä n z u n g v o n (CI): Gegenstand der generativen Sprachtheorie sind: 1. die Sprachkenntnisse Κ eines idealen Sprecher-Hörers p, mit: a .ρ gehört einer homogenen Sprachgemeinschaft Ρ an b.K(p) befindet sich im Zustand ζ 2. der Prozeß Ζ der Entwicklung von K(pj zu K'fp), mit: a.Z verläuft vollkommen homogen b J K ( p ) Ψ K'fp) c.K'(p) befindet sich im auf ζ folgenden Zustand z'
Bleibt zu fragen, ob sich diese Ergänzung von (CI) rechtfertigen läßt. — Zunächst steht wohl außer Frage, daß die Identitätsvoraussetzung aus (CI) (in der E r g ä n z u n g i n l a wieder aufgenommen) in der E r g ä n z u n g durch die Einführung einer weiteren Homogenitäts-Annahme vorgegeben wird; aus dem Teil 2a der E r g ä n z u n g , mit dem behauptet wird, daß die Sprecher-Hörer in Ρ während aller Phasen der Entwicklung ihrer Sprachkenntnisse über dieselben Sprachkenntnisse verfügen, f o l g t , daß die Sprachkenntnisse der Sprecher-Hörer identisch sind, also auch in jedem Zustand ζ übereinstimmen. Allgemein läßt sich vielleicht sagen, daß (CI) aus dem für die Diachronie einschlägigen Teil 2 der E r g ä n z u n g 43
v o n (CI) abgeleitet werden kann; unabhängig von einer solchen Deduktionsmöglichkeit dürfte jedoch klar sein, daß die Chomsky-Idealisierung in (CI) genau dann gegen diachrone Einwendungen aufrechterhalten werden kann, wenn der Teil 2 der E r g ä n z u n g , also die idealisierende Objektivierung der Sprachentwicklung als einer homogenen, als adäquat ausgewiesen werden kann. Ein solcher Adäquatheitsnachweis fur den Teil 2 der E r g ä n z u n g kann jedoch auf keinen Fall geführt werden, alle bekannten Daten der Sprachgeschichte widersprechen der Annahme einer homogenen Sprachentwicklung in einem so hohen Maße, daß der Teil 2 der E r g ä n z u n g v o n (CI) nicht mehr als eine methodologisch vertretbare Idealisierung, sondern vielmehr als eine Hypostasierung diachroner Zusammenhänge gelten muß, wie sie empirisch in gar keiner Weise nachgewiesen werden können. Ζ. B. machen sämtliche bekannten D a t e n über die A u s b r e i t u n g von Sprachverä n d e r u n g e n , w i e s i e in d e r Z e i t vonstatten g e h e n , nur allzu deutlich, daß Innovationen, die in einem Teil von Ρ bereits vorgenommen wurden, nur allmählich (wenn überhaupt) auf Ρ insgesamt übergreifen; die Existenz einer Ausbreitungsinhomogenität von Innovationen macht den Teil 2 der E r g ä n z u n g v o n (CI), also die idealisierende Annahme einer homogen ablaufenden Sprachentwicklung, schlechterdings kontrafaktisch. Die Erträglichkeitsgrenze für diachron ansetzende Idealisierungen wird hier weit überschritten, da wesentliche Komponenten der Sprachentwicklung zwangsläufig aus dem Objektbereich möglicher Diachronien ausgeblendet werden müssen, wenn die Ε r g ä n z u n g v o n (CI) als Objektivierung von L und der Entwicklung von L akzeptiert wird. Denn die diachrone Theorie m u ß sich dann gegenüber der Realität der Sprachentwicklung verselbstständigen, und es dürfte korrekt sein, den Grad ihrer Verselbständigung mit dem Grad ihrer Inadäquatheit gleichzusetzen. Entsprechend ist es sinnvoll zu fragen, ob Alternativen zu (CI) bzw. zu der E r g ä n z u n g v o n (CI) formuliert werden können, ob eine adäquatere diachrone Objektivierung von L möglich ist. D a f ü r aber scheint die gesamte linguistische Tradition zu sprechen; und es ist klar: mit der Eliminierung von Teil 2 der E r g ä n z u n g wird zugleich auch (CI) hinfällig, denn (CI) kann, wie angedeutet, nur dann als mit diachronen Annahmen konsistent behauptet werden, wenn dieser Teil 2 ebenfalls behauptet wird, der „correspondence to linguistic fact", Übereinstimmung mit den Gegebenheiten der Sprachentwicklung de facto gerade nicht aufweist.
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2.3.3. Die Idealisierung in (CI) hat also zweierlei Konsequenzen für die generative Theorie einer Sprache, in die diese Idealisierung eingeht: in s y n c h r o n e r Hinsicht ergibt sich, daß diese Theorie die beobachtbaren Inhomogenitäten der Sprachkenntnisse in Ρ prinzipiell nicht zu erfassen vermag; in d i a c h r o n e r Hinsicht kann mit einer solchen Theorie die Instabilität der Sprachkenntnisse in Ρ entweder überhaupt nicht oder nur unter Zuhilfenahme inadäquater Zusatzannahmen beschrieben und erklärt werden. Daraus ergibt sich, daß eine auf (CI) reagierende Theorie faktisch immer falsifiziert werden kann; relativ zu den in (CI) nicht objektivierten Faktoren des Kompetenzbereiches läßt sich eine Vielzahl erfolgreicher Falsifikationsversuche vornehmen, die Theorie k a n n sich empirisch nicht mehr bewähren. So bleibt, wenn die Konsistenz der generativen Theorie wiederhergestellt werden soll, nur die Möglichkeit, zunächst (CI) und sodann, in einer einschlägigen Art, die Theorie selbst zu modifizieren, und zwar derart, daß sich (zumindest eine relative) Vollständigkeit der linguistischen Explanation und Deskription erreichen läßt, und die Theorie so in einem höheren Maße in „correspondence to linguistic fact' angelegt werden kann. Und diese „correspondence" sollte des weiteren auch hinreichen, die generative Theorie nicht nur dann mit psycholinguistischen Annahmen konsistent koppeln zu können, wenn in diese Annahmen eine grob vereinfachende, dabei aber strikt falsifizierbare Darstellung der Spracherlernungsprozesse in Ρ eingeht. — Dies alles verdeutlicht, daß die effektive Anwendbarkeit der Chomsky-Konzeption der generativen Linguistik oder verwandter, also auf (CI) reagierender Konzeptionen der generativen Linguistik n i c h t gegeben ist: die Konzeption ist der Sprachrealität weder in synchroner noch in diachroner Hinsicht hinreichend approximiert, um konsistente und relativ vollständige Explanationen und Deskriptionen liefern zu können; die Theorie kann, wegen (CI), gerade nicht gerechtfertigt, sondern vielmehr effektiv falsifiziert werden. Die anzustrebende „correspondence to linguistic f a c t " läßt sich also, kurz gesagt, für eine auf (CI) basierende Kompetenz-Theorie nicht herstellen, und insofern muß sich die Überlegung nahelegen, (CI) abzuschwächen, der Sprachrealität besser anzunähern, und die generative Konzeption so aufzubauen, daß sie auf der Basis einer abgeschwächten Idealisierung gegenüber Falsifikationsversuchen besser bestehen kann.
45
2.4
Auswirkungen der Homogenitäts-Annahme auf die Grammatizitäts-Theorie
2.4.1 Die negativen Rückwirkungen, die sich aus der HomogenitätsAnnahme auf die Konsistenz der generativen Theorie ergeben, zeigen sich des weiteren auch in einem Bereich, der in aller Regel als unabhängig von auch diachrone Aspekte berücksichtigenden Überlegungen angesehen wird: nämlich im Bereich der Grammatizitäts-Theorie. Für deren Konsistenz ist es zweifellos entscheidend, daß die empirische Signifikanz der durch G bewirkten Abbildung der Klasse Sj, • • · v o n Sätzen in L in die Klasse SBj, SB2, . . . von Strukturbeschreibungen für die sichergestellt werden kann, oder anders gesagt: daß die Zulässigkeit der Zuordnung von starker und schwacher generativer Kapazität „on grounds of correspondence to linguistic f a c t " (Chomsky 1965, 27) derart garantiert werden kann, daß die SB: festlegen, wie die Sj in der Kommunikation in Ρ verstanden werden. Dabei ist nun kraft der Identitätsvoraussetzung in (Cl) für alle Sprecher-Hörer nur die nämliche Interpretation der Sj möglich wie sie, umgekehrt, auch die nämlichen SBj liefern müssen; es kann also, des genaueren, in Ρ keine Interpretations- und Erzeugungsprozesse geben, die voneinander abweichen, gleichwohl aber als korrekt zu qualifizieren sind; gefordert werden m u ß mit (CI) vielmehr auch die Homogenität der Interpretationsund Erzeugungsprozesse in P. Die Homogenitäts-Annahme besagt also in grammatizitätstheoretischer Hinsicht, daß alle Sprecher-Hörer in Ρ die gleichen Sätze als korrekt erzeugen und diese Sätze entsprechend auch in der gleichen Weise interpretieren, also verstehen: m i t d e r Homog e n i t ä t s - A n n a h m e wird also eine v o l l s t ä n d i g stabile N o r m a l f o r m für E r z e u g u n g s - und Int e r p r e t a t i o n s p r o z e s s e in Ρ a n g e n o m m e n ; alle dieser N o r m a l f o r m nicht e n t s p r e c h e n d e n P r o z e s s e , und damit natürlich auch deren Resultate, also Sätze in L und Strukturbeschreibungen für diese Sätze, m ü s s e n e n t s p r e c h e n d a l s , , a b w e i c h e n d , , (im technischen Sinne dieses Begriffes) q u a l i f i z i e r t w e r d e n . Und genau in diesem Sinne fuhrt ζ. B. Mötsch im Rahmen einer Adjektiv-Syntax des Deutschen aus: „Mit dem Begriff der Grammatikalität hängt der Begriff der „deutschen Normalsprache" eng zusammen. Unausgesprochen haben wir bisher unterstellt, daß Sätze vom Standpunkt der Grammatik der deutschen Normalsprache abweichen." (Mötsch 1965, 11). Und eine derartige Normierung des Begriffes „Grammatischer Satz in Z," wird natürlich nicht nur relativ zur Syntax, sondern, der Homogenitäts-Annahme entsprechend, die auf alle grammati-
46
sehen Ebenen zutrifft, implizit oder explizit auch relativ zu den anderen Grammatik-Komponenten vorgenommen. So behaupten etwa Abraham und Kiefer bei ihrem Versuch einer Formalisierung der Fodor-Katz-Semantik das Folgende: „Sentences like (9) (i) (ii) (iii) (iv) (v)
colourless green ideas sleep furiously yesterday he had his liquid shoes on he is eating his hot soup cold the boy elapsed the dog looks barking
and so on, will turn out to be anomalous, i. e. they are not meaningful" (Abraham-Kiefer 1966, 37—38). Die Homogenitätsannahme aus (CI) impliziert also in der Grammatizitäts-Theorie eine Normalitäts-Annahme, und damit auch eine disjunktive Zerlegung der Sprache L in die Klasse / der normalen, also grammatisch richtigen Sätze und die Klasse λ der unnormalen, abweichenden und also (in einem bestimmten Grade, cf. ChomskyMiller 1963, 4 4 3 - 4 4 9 ) ungrammatischen Sätze, sodaßL = / U λ und / Π λ = φ gilt, wobei / eine Satzmenge ist, die von der auf L zutreffenden Grammatik G erzeugt wird, während λ eine nicht von G erzeugbare Satzmenge in L ist; G bildet also die normalen Sprachkenntnisse in Ρ ab, die zur Erzeugung von / in L führen, die λ zugrundeliegenden Sprachkenntnisse sind dagegen inkorrekt, mit ihnen wird das korrekte System G verfehlt. Natürlich ist nun diese disjunktive Zerlegung von L und damit, mittelbar, die Homogenitäts-Annahme in (CI), die eine solche Zerlegung erzwingt, nur in genau dem Grade zu rechtfertigen, in dem die Annahme einer Normalform der Sprachkenntnisse in Ρ empirisch gerechtfertigt werden kann, id est: die Zerlegung muß empirisch signifikant sein. Nun spricht aber gegen die Signifikanz einer solchen Zerlegung unter anderem bereits der Umstand, daß die Sprachkenntnisse der Sprecher-Hörer sich kontinuierlich verändern, und zwar nicht bei allen Sprecher-Hörern in der gleichen Weise. Das macht es zwar nicht unmöglich, ein sinnvolles Explikat für den Begriff „grammatischer Satz in L" zu konstruieren, aber doch die d i s j u n k t i v e Zerlegung von L problematisch, da bei einem unterschiedlichen Entwicklungsstand der Sprachkenntnisse der Sprecher-Hörer diese auch zu unterschiedlichen Annahmen über den Grammatizitätsgrad eines Satzes gelangen werden oder, anders gesagt: verschiedenartige Ausprägungen der Sprachkompetenz haben es zur Folge, daß es verschiedenartige Satzmengen in L geben muß, die als grammatisch korrekt zu qualifizieren sind; diesem Umstand kann aber mit der disjunktiven Zerlegung von L in keiner Weise adäquat Rechnung getragen werden. So können etwa generationsspezifische Differenzen zwischen den Sprachkenntnissen 47
der Sprecher-Hörer, die natürlich in der Erzeugung qualitativ unterschiedener Satzmengen als grammatisch korrekt in L ihren Niederschlag findet, nur derart zum Gegenstand der Theorie genommen werden, daß eine dem Faktum der Sprachentwicklung zuwiderlaufende Normierung der Sprachkenntnisse in Ρ eingeführt wird, relativ zu der dann gewisse Satzmengen als ungrammatisch qualifiziert werden. Und das k o m m t , natürlich, nicht einer normativen Maßnahme gleich, s o n d e r n m i t dieser Q u a l i f i k a t i o n v e r b i n d e t sich eine e m p i r i s c h e A n n a h m e über die B e s c h a f f e n h e i t der gramm a t i s c h r i c h t i g e n S ä t z e in L, d i e g e r e c h t f e r t i g t w e r d e n k ö n n e n m u ß . S i e kann jedoch nicht gerechtfertigt werden, wenn bei der Entwicklung einer Grammatizitäts-Theorie, wie es erforderlich zu sein scheint, auch diachrone Annahmen in Rechnung gestellt werden; die Normalitäts-Annahme und damit die Homogenitäts-Annahme, aus der sie folgt, m u ß also aus diachronen Gründen verworfen werden, da sie mit dem Umstand konfligiert, daß in Ρ verschiedenartig entwickelte (und sich verschiedenartig entwickelnde) Systeme von Sprachkenntnissen k o e x i s t i e r e n , also, als internalisierte, mit allen ihren Konsequenzen für eine Grammatizitäts-Theorie, simultan in einer Sprachgemeinschaft präsent sind. Die Homogenitäts-Annahme verhält sich also, kurz gesagt, kontrafaktisch zu einer Grammatizitäts-Theorie, die auch diachrone Aspekte berücksichtigt: und auch dieser Umstand spricht letztlich dafür, die Idealisierung in (CI) abzuschwächen. 2.4.2 Die von der Homogenitäts-Annahme implizierte NormalitätsAnnahme wird jedoch nicht erst in einer diachronen GrammatizitätsPerspektive fragwürdig; sie ist schon deshalb problematisch, weil sich signifikante Normierungskriterien nur schwer angeben lassen; solche Kriterien sind aber unerläßlich, wenn die disjunktive Zerlegung von L empirisch sinnvoll gedeutet werden soll. So ist es zunächst klar, daß im Rahmen der algebraischen generativen Linguistik, die es mit der Menge der möglichen Sätze einer Sprache zu tun hat, der Begriff „Normalität eines Satzes" nicht, etwa statistisch, durch den Begriff „Üblichkeit eines Satzes" expliziert werden kann; ebenso klar ist aber auch, daß die Annahme, ein Satz sei genau dann „normal in L", wenn er von G erzeugt wird, nicht hinreicht, denn es geht ja gerade um die Angabe von Kriterien für die Restriktion der generativen Kapazität von G, die beachtet werden müssen, damit G derart aufgebaut werden kann, daß nur die Menge der grammatischen Sätze in L und ge-
48
nau diese erzeugt wird; kurz: G hat den Status einer empirischen Hypothese, und es geht nicht darum, was ein formales grammatisches System leisten kann, sondern darum, was es leisten muß, um adäquat zu sein. Adäquatheit kann aber nur erreicht werden, wenn die disjunktive Zerlegung von L empirisch deutbar ist. Chomsky nun sucht diese Deutung (als nahezu der einzige, der sich um eine Interpretationsmöglichkeit überhaupt bemüht) mit Mitteln der Psycholinguistik, genauer: im Rekurs auf den Begriff „Verständlichkeit eines Satzes" zu liefern, wobei der Grad der Normalität eines Satzes als eine Funktion des Grades seiner (unmittelbaren) Verständlichkeit aufzufassen ist (Cf. Chomsky 1965, Kap. 4). Die ersten Schwierigkeiten für diesen Deutungsversuch scheinen sich jedoch schon bei einer Konfrontation der Begriffe „Akzeptabilität eines Satzes" und „Grammatizität eines Satzes" zu ergeben: ein grammatischer Satz (mit kohärenter SB) kann durchaus ebenso unverständlich oder noch unverständlicher sein wie ein ungrammatischer Satz (mit defekter SB)', im Fall der beiden Sätze (10)
(i) 'Istanbul ist von der Türkei die Hauptstadt bedeutende (ii) Deijenigc, der diejenigen, der diejenigen Bücher, die in demjenigen Regal, das vor zwei Tagen, obwohl die Finanzierung schwierig war, angeschafft worden ist, standen, entwendet hat, benennt, wird, falls er nicht mit dem Dieb identisch ist, mit einem Teil der Bücher, die in dem Regal, das vor zwei Tagen, obwohl die Finanzierung schwierig war, angeschafft worden ist, standen, belohnt.
ist sicher der ungrammatische Satz in (10) (i) besser verständlich und in der Kommunikation sehr viel akzeptabler als der Satz (10) (ii), der grammatisch vollkommen wohlgeformt ist. Diese Schwierigkeit ließe sich jedoch etwa dadurch lösen, daß zwei unterschiedliche Interpretationsprozesse angenommen werden: bei der Interpretation von (10) (ii) ist es offenbar schwierig, die korrekte grammatische Struktur dieses Satzes w i e d e r z u e r k e n n e n ; e s ergeben sich also R e k o g n i t i o n s s c h w i e r i g k e i t e n b e i d e r I n t e r p r e t a t i o n , die die Kommunikationsakzeptabilität von (10) (ii) vermindern, während im Fall von (10) (i) die grammatisch korrekte Struktur dieses Satzes allererst r e k o n s t r u i e r t werden muß, damit der Satz verständlich wird. Mit der Annahme zweier verschiedener interpretatorischer Leistungen aber, nämlich der Rekognition einerseits und der Rekonstruktion andererseits (wie auch immer diese Leistungen des genaueren erbracht werden können), läßt sich auch im Hinblick auf die Verständlichkeit und damit, im Sinne der Chomsky-Konzeption, die Normalität von Sätzen sinn49
voll von Graden der Unverständlichkeit sprechen, wobei dann die Klasse der Sätze, deren Verständnis eine Rekonstruktionsleistung erfordert, mit der Klasse der ungrammatischen, unnormalen Sätze identisch ist. Schließlich ließe sich auch sagen, daß die Rekognition eine Performanzleistung, die Rekonstruktion aber eine Kompetenzleistung ist, kurz: die Akzeptabilitätsproblematik würde keine Argumente gegen Chomskys Versuch liefern, die von der Homogenitäts-Annahme implizierte Normalitäts-These durch den Rekurs auf den Begriff „Verständlichkeit eines Satzes" zu explizieren, also einer empirischen Deutung zu unterziehen. — Die Schwierigkeiten dieser Explikation ergeben sich vielmehr aus anderen Gründen; sie werden deutlich in Chomskys Replik auf eine von Jakobson vorgetragene Kritik an der Grammatizitäts-Theorie, die von Chomsky im skizzierten Sinne entwickelt wurde: This line of argument completely misses the point. It blurs an important distinction between a class of utterances that need no analogic or imposed interpretation, and others that can receive an interpretation by virtue of their relations to properly selected members of this class. Thus, e.g., when Jakobson observes that „golf plays J o h n " can be a perfectly perspicous utterance, he is quite correct. But when he concludes that it is therefore as fully in accord with the grammatical rules of English as „John plays golf", he is insisting on much too narrow an interpretation of the notion „grammatical rule" - an interpretation that makes it impossible to mark the fundamental distinction between the two phrases. The former is a perspicious utterance precisely because of the series of steps that we must take in interpreting it - a series of steps that is initiated by the recognition that this phrase deviates from a certain grammatical rule of English, in this case, a selectional rule that determines the grammatical categories of the subject and object of the verb „play". No such steps are necessary in the case of the nondcviant (and uninteresting) J o h n plays golf" (Chomsky 1961, 2 3 4 - 2 3 5 )
Chomsky begegnet also Jakobson linguistisch, wenngleich mit starken pragmatischen Akzenten konzipierter Kritik im Rekurs auf die Psycholinguistik: dabei bleibt jedoch, aus den zuvor skizzierten Gründen, z u n ä c h s t offen, ob als abweichend und unnormal qualifizierte Sätze i n j e d e m F a l l e einen größeren Interpretationsaufwand erforderlich machen als solche Sätze, die als normal gebildet und „grammatisch" ausgezeichnet werden. Diese für Chomskys Ansatz unerläßliche Generalisierungsmöglichkeit kann etwa dann versagt sein, wenn die grammatischen Sätze einen bestimmten Komplexitätsgrad übersteigen; aber auch der Fall der folgenden beiden Sätze macht diese Generalisierungsmöglichkeit problematisch: 2
Chomsky bezieht sich hier auf R. Jakobson, Boas' View of Grammatical Meaning, in: T h e
A n t h r o p o l o g y
t h r o p o l o g i s t
50
of
Franz
(1959) bes. p. 144.
Boas.
A m e r i c a n
An-
(11)
(i) * Die Stundenten der Philosophie lesen Kant (ii) Die Philosophiestudenten lesen Bücher, die von Kant geschrieben wurden
Mit dem Satz (11) (i) wird eine ähnliche Selektionsregel verletzt wie sie bei der Erzeugung des Satzes „golf plays John" verletzt wurde, genauer: die Objektselektion für das Verb „lesen" wird verfehlt, und entsprechend muß (11) (i) als unnormal und ungrammatisch qualifiziert werden. Gleichwohl scheint es eine mehr als brauchbare Annahme zu sein, daß dieser Satz keinen größeren Interpretationsaufwand erforderlich macht als Satz (11) (ii), der eine seiner möglichen „Normalformen" sein könnte. Insofern ist selbst dann, wenn es in gewissen Fällen zutreffen mag, die generelle Gültigkeit von Chomskys Argument zweifelhaft, und schon dies macht den gesamten psycholinguistischen Interpretationsansatz problematisch. W e i t e r h i n aber, und das nun ist in der Tat entscheidend, gilt bei dieser Argumentation offensichtlich, daß der Satz „golf plays J o h n " e r s t d u r c h eine G r a m m a t i k als abweichend bestimmt wird; die psycholinguistische Annahme der erschwerten Verständlichkeit von abweichenden Sätzen setzt also die linguistische Grammatizitätsentscheidung bereits voraus; sie ist an einen gewissen Grammatikbegriff gebunden und trägt zu dessen Begründung keineswegs bei. Eine Argumentation aber, die besagt, daß die Verständlichkeit eines Satzes erschwert ist, da er von einer Normalform abweicht, und daß er von einer Normalform abweicht, weil seine Verständlichkeit erschwert ist, ist ganz offensichtlich inkonsistent: das linguistische Argument soll durch psycholinguistische Argumente abgesichert werden, diese setzen jedoch, um ihrerseits sinnvoll formuliert werden zu können, eben jenes Argument voraus, das doch psycholinguistisch allererst begründet werden sollte — die Homogenitäts-Annahme führt also, gekoppelt mit ihrem grammatizitätstheoretischen Spezifikat der psycholinguistisch interpretierten Normalitäts-Annahme, in einen manifesten Zirkel, und zwar deshalb, weil die Begriffe „grammatisch" und „verständlich" nicht unabhängig voneinander eingeführt werden. Die disjunktive Zerlegung von L jedenfalls läßt sich derart nicht rechtfertigen, und damit ergibt sich auch keine psycholinguistische Rechtfertigungsmöglichkeit für die Idealisierung in (CI). Mit (CI) wird vielmehr eine zu weitreichende Distanz zwischen Sprachtheorie und Sprachrealität erzeugt, die die Sprachtheorie in einem hohen Grade kontrafaktisch werden läßt; mit anderen Worten: die Chomsky-Konzeption der generativen Linguistik und die ihr verwandten Konzeptionen vermögen das System der Adäquatheitsbedingungen in (CA) offenbar nur dann zu erfüllen, wenn (CI) als vollständig gültig vorausgesetzt wird; damit zugleich aber muß die Zulässigkeit der Homogenitäts-Annahme behauptet werden: genau 51
diese Behauptung ist jedoch unhaltbar; sie läßt sich einerseits, in ihrer grammatizitätstheoretischen Spezifizierung, psycholinguistisch nicht rechtfertigen und kollidiert andererseits mit empirisch zutreffenden Grundannahmen jeder diachronen Linguistik, sodaß auf der Basis von (CI) letztlich nur eine Theorie gewonnen werden kann, für die „correspondence to linguistic fact" und damit empirische Signifikanz, also deskriptive Kraft nicht zu erreichen ist, da sie sich gegenüber ihren Falsifikationsmöglichkeiten nicht zu bewähren vermag. Es ist mithin eine wesentliche Voraussetzung für einen konsistenten Aufbau der generativen Linguistik, mit Idealisierungen zu arbeiten, die jedenfalls schwächer sind als die in (CI) eingeführte Idealisierung. 2.4.3 Neben wohl eher diachronen Gründen sprechen jedoch auch genuin synchrone Argumente gegen die Homogenitäts-Annahme. Denn wie sehr die Adäquatheit der generativen Theorie durch diese Annahme zerstört wird, zeigt sich, wiederum im weiteren Rahmen der GrammatizitätsTheorie, zumal bei einer Analyse der Zulässigkeit dieser Idealisierung für die Abbildung der Klasse sj, S2< • • • von Sätzen in L in die Klasse Sßj, SZ?2- · · • v o n einschlägigen Strukturbeschreibungen. Im Rahmen der Chomsky-Konzeption der generativen Linguistik (oder auch im Rahmen verwandter generativer Konzeptionen) muß jeder der nachfolgenden Sätze (12) (13) (14)
(i) (ii) (i) (ii) (i) (ii)
Maschinen können denken Maschinen können fühlen Hunde können denken Hunde können fühlen Amöben können denken Amöben können fühlen
im Sinne der disjunktiven Zerlegung von L entweder als grammatisch oder als (in einem gewissen Grade) ungrammatisch gekennzeichnet werden; die Sätze in (12)—(14) können entweder von einer Grammatik des Deutschen erzeugt werden oder sie können nicht erzeugt werden. Eine (hypothetische) Bewertung der Sätze in (12)—(14) (und damit eine empirisch relevante Teilhypothese über die Struktur deutscher Sätze) muß jedoch keineswegs auf eine derartige Disjunktion (mit einer wie auch immer vorgenommenen Gradation der Ungrammatizität) hinauslaufen, wenn bei der Bewertung, und damit natürlich beim Aufbau der linguistischen Hypothese, die für die Konzipierung der Theorie durchaus relevante Inhomogenität der Sprachkenntnisse in Ρ berücksichtigt wird, sodaß gleichzeitig auch die kontrafaktischen Konsequenzen der Idealisierung in (CI) vermeidbar werden. 52
Exemplifizieren läßt sich ein solches Vorgehen derart: relativ zu einer Sprecher-Hörer-G r u p p e Ρ^ m P, genauer: relativ zu den grammatischen Kenntnissen einer Teilmenge der Sprecher-Hörer der Sprachgemeinschaft könnten die Sätze in (12)—(14) mit Ausnahme von Satz (13) (ii) als u n g r a m m a t i s c h aufgefaßt werden: was natürlich einer Teilhypothese über die Wohlgeformtheit von deutschen Sätzen gleichkommt. Legitimiert werden könnte die Hypothese durch eine mittelbar vorgenommene Analyse der Beschaffenheit der Sprachkenntnisse der Sprecher-Hörer in Pj, die sich etwa auf i n d i r e k t e Grammatizitätsbewertungen der Mitglieder von Ρf stützen könnte, die sozusagen in einem „transposed mode of speech" formuliert sind — sich also in Aussagen niederschlagen wie „MASCHINEN UND AMÖBEN KÖNNEN NICHT DENKEN UND NICHT FÜHLEN; UND HUNDE
KÖNNEN FÜHLEN, ABER NICHT DENKEN". Solche Aussagen sind natürlich
nicht inhaltlich, als Annahmen etwa über die Fähigkeiten von Computern oder Amöben zu verstehen, sondern vielmehr als indirekt formulierte Annahmen über die grammatische Struktur von deutschen Sätzen; sie sind insofern charakteristisch für die in P j entwickelten Sprachkenntnisse, die linguistisch zu erklären und zu beschreiben sind. Rekonstruieren lassen sich derartige Grammatizitätsbewertungen etwa mit der folgenden Paraphrase: „die Verben d e n k e n und f ü h l e n erfordern auf Grund ihrer Selektionsstruktur Subjekt-Nomina mit anderen Merkmalen, als sie die Nomina „Maschinen" und „Amöben" aufweisen. Entsprechend sind die Sätze in (12) und (14) ungrammatisch relativ zu den Sprachkenntnissen in Pj. "3 Entsprechend müßten die Sprachkenntnisse in P j durch eine Grammatik beschrieben werden, die u.a. auch folgende (oder stark äquivalente) Regeln enthalten muß: 3 Natürlich rechnet diese Fähigkeit, indirekte Grammatizitätsentscheidungen formulieren zu können, ebenfalls zur grammatischen Kompetenz der Sprecher-Hörer einer Sprache; Grammatiken, die diese Kompetenz zum Gegenstand haben, müssen entsprechend auch diese indirekte Sprechweise erklären und beschreiben können. Das könnte beim Aufbau einer generativen Grammatik etwa dadurch geleistet werden, daß in die Grammatik ein System von Deformationsregeln aufgenommen wird, mit dem aus den ursprünglich korrekten Strukturen von S ä t z e n , d i e G r a m m a t i z i t ä t s b e w e r t u n g e n d e r S p r e c h e r - H ö r e r b e i n h a l t e n , jene degenerierten Sätze abgeleitet werden, mit denen indirekte Grammatizitätsentscheidungen ausgedrückt werden; denkbar wäre es jedoch auch zu versuchen, im Rahmen der universalen linguistischen Theorie eine Bedingung zu formulieren, mit der die Teilklasse der von einer Grammatik erzeugten Sätze, die dieser Bedingung genügt, als die Klasse dcijcnigen Sätze definiert wird, die gebraucht werden können, um indirekte Bewertungen der Grammatizität von Sätzen vornehmen zu können. - Aber wie auch immer: allgemein läßt sich wohl sagen, daß die in diesen Zusammenhang involvierten Probleme erst dann einer befriedigenden Lösung fähig sein werden, wenn
53
(15)
(i) (ü) (iü) (iv)
V
->[+V,+mental] 1 [+rational/+[+N ,+animal+perzeptiv+human ]
[+mental]->\[-rational/+[+N,+animal+perzeptiv+human] Ν ->{+N,+animal] [+animal] -+ [+perzeptiv]
[+perzeptiv]->{+human ] ( d e n k [+V,+rational/+[+N,+human] (vii) ( f ü h l [+V,-rational/+[+N,+humanl (viii) ( M a s c h i n e [ + N , - a n i m a l ] ) (ix) ( A m ö b e [+N,-perzeptiv]) ( H u n d [+N,-human]) (x) ( A b g e o r d n e t e r [+N,+human]) (xi) (v) (vi)
]) ])
D i e Grammatik in ( 1 5 ) , die bei einer einschlägigen K o m p l e t t i e r u n g die S p r a c h k e n n t n i s s e der h y p o t h e t i s c h e n Gruppe P j erfassen würde, k ö n n t e also S ä t z e w i e k ö n n e n
A b g e o r d n e t e
f ü h l e n ,
n e n
d e n k e n ,
b e n
d e n k e n
k ö n n e n
nicht aber S ä t z e w i e
M a s c h i n e n
d e n k e n ,
H u n d e
• M a s c h i n e n k ö n -
k ö n n e n
f ü h l e n , A m ö -
usf. erzeugen; diese Sätze sind also relativ z u d e n Sprach-
k e n n t n i s s e der Gruppe P j u n g r a m m a t i s c h . A b e r deshalb müssen die Sätze in ( 1 2 ) und ( 1 4 ) durchaus n o c h nicht für a 11 e
Sprecher-Hörer in Ρ u n g r a m m a t i s c h sein. D e n n e s läßt sich eine
Gruppe
in Ρ d e n k e n , die e t w a unter d e m E i n f l u ß der E n t w i c k l u n g in
der C o m p u t e r - T e c h n i k , mit der ja a u c h die S p r e c h w e i s e v o n d e n „ D e n k m a s c h i n e n " a u f g e n o m m e n ist, die S e l e k t i o n s s t r u k t u r der V e r b e n k e n
und
f ü h l e n
d e n -
s o w e i t gelockert h a t , d a ß bei einer einschlägigen
eine formalisierte linguistische Pragmatik vorliegt, denn es ist der G e b r a u c h von Sprachkenntnissen, der darüber entscheidet, w i e Grammatizitätsbewertungcn vorgenommen werden. Und zwischen einer F ä h i g k e i t (hier: der Sprachfähigkeit) und dem G e b r a u c h , der von ihr gemacht wird, muß begrifflich zweifellos unterschieden werden, d . i . auch pragmatische Aspekte müssen, nachdem sie als solche kenntlich gemacht wurden, in eine Kompetenztheorie eingehen. Für die pragmatische Komponente der Sprachkompetenz existiert jedoch, von verschiedenen wohl noch provisorischen Ansätzen abgesehen (cf. etwa Wunderlich 1968), noch keine effektive Theorie, so daß eine systematische Lösung der einschlägigen Probleme bis auf weiteres noch aussteht. (Nachzutragen bleibt, daß in diesem Rekurs auf die Grammatizitätsentscheidungen der Sprecher-Hörer nicht etwa die explizit von der Sprecher-Hörern gelieferten Rcgelkenntnisse, wie sie ihnen im Grammatikunterricht vermittelt wurden, als Indikatoren ihrer Sprachkompetenz bestimmt werden können; mit dem Ausdruck „indirekte Grammatizitätsentscheidung" soll auch der u n r e f l e k t i e r t e Charakter dieser Entscheidung angesprochen sein. Derartige unreflektierte Indikatoren lassen sich aus der Analyse konkreter Kommunikationsabläufe experimentell gewinnen; cf. etwa Witting 1968, Davy-Quirk 1969.) 54
Merkmaispezifikation des Nomens M a s c h i n e , relativ zu G (P2) Satz (12) (i) etwa vollkommen wohlgeformt ist. Entsprechend müßte G (P2) die folgenden (oder äquivalente) Regeln enthalten, um die Sprachkenntnisse, die in der Sprecher-Hörer-Gruppe Ρ2 vorfindlich sind, angemessen erfassen zu können:
(16)
(i)
entspricht (15) (1)
{
+animal + p e r z e p t i v + h u m a n )
(ü)
l
- animal + simulativ
[+mentalj
J
f i a t i o n a l / + [ + N , + a n i m a l + perzeptiv + h u m a n ] (iü) Civ) -
e n t s p r i c h t (15) (iii) - (15) (v)
(v). (vii)
[-animal]
[+simulativ]
(vii)
(denk[+V^ratio„a,/^N{^tiv}
(viii)
e n t s p r i c h t ( 1 5 ) (vii)
(ix) (x)
^
( M a s c h i n e [+N,-animal + s i m u l a t i v ] )
(xi) (xii) • entspricht ( 1 5 ) (ix) - ( 1 5 ) (ix)
Falls die Grammatik in (16) zu einer sinnvollen empirischen Hypothese erweitert wird, so kann mit G (P2), wie es den Sprachkenntnissen der Sprecher-Hörer dieser Gruppe entspricht, wohl der Satz „Maschinen können denken", nicht aber der Satz „Maschinen können fühlen" erzeugt werden; dieser Satz wird also im Hinblick auf den Grad seiner Grammatizität von verschiedenen Gruppen auch unterschiedlich eingestuft, er ist nicht einfach grammatisch oder ungrammatisch, sondern die Qualifikation fällt relativ zu den unterschiedlichen Teilssystemen von Ρ auch unterschiedlich aus. Genau diesem Umstand aber wird durch die b e i d e n Teilgrammatiken in (15) und (16) Rechnung getragen, id est: wenn die Homogenitäts-Annahme in (CI) aufgegeben werden soll, wenn also die synchron konstatierbare Inhomogenität der Sprachkenntnisse in Ρ linguistisch analysiert werden soll, kann die linguistische Theorie einer Sprache nicht aus einer und genau einer Grammatik aufgebaut werden, sondern sie muß eine Mehrzahl von generativen Grammatiken umfassen. Das macht natürlich eine Neuformulierung der generativen Linguistik-Konzeption, speziell auch der Grammatizitäts-Theorie erforderlich (cf. § 3.3 dieser Abhandlung); gleich55
wohl scheint klar zu sein, daß ein Grammatiken-System der Sprachrealität besser approximiert werden kann als eine und nur eine Grammatik qua linguistische Theorie. Mit anderen Worten: ein Grammatiken-System wird eine stärkere deskriptive und damit, a fortiori, auch eine stärkere explanative Kapazität aufweisen als eine einzige Grammatik. Dies gilt umso mehr, als eine Sprachgemeinschaft Ρ im Normalfall in mehr als zwei Sprecher-Hörer-Gruppen zerfällt; im Sinne des hier skizzierten Beispiels ließe sich annehmen, daß eine Gruppe P j in Ρ existiert, für die der Satz „Maschinen können fühlen" ebenso grammatisch ist wie der Satz „Abgeordnete können fühlen"; möglicherweise könnte mit G(Pj) auch der Satz „Hunde können denken" als vollkommen korrekt erzeugt werden; diese Grammatik würde sich also von den fragmentarisch umrissenen Grammatiken G(Pj) in (15) und G/'/^/' in (16) noch in weiteren Aspekten unterscheiden. Die Anzahl der generativen Grammatiken die ein empirisch adäquates Grammatiken-System umfassen muß, hängt von der Anzahl der Sprecher-Hörer-Gruppen ab, die in einer Sprachgemeinschaft koexistieren; dabei ist klar, daß verschiedene Sprachgemeinschaften in unterschiedlich viele Gruppen zerfallen können, und auch in einer Sprachgemeinschaft die Anzahl der Sprecher-Hörer-Gruppen im Verlauf der Entwicklung dieser Sprachgemeinschaft variieren kann; kurz: die Anzahl der Pj in Ρ muß zwar, auf Grund der Endlichkeit von Sprachgemeinschaften überhaupt, endlich sein, aber sie ist nicht fest. Festzuhalten bleibt weiterhin, daß für den Aufbau eines GrammatikenSystemes vor allem dieses entscheidend ist: daß die nämlichen Sätze in L(P) durch das Grammatiken-System, den unterschiedlichen, gruppenspezifisch disponierten internalisierten grammatischen Kenntnissen der Sprecher-Hörer in Ρ entsprechend, unterschiedliche Strukturbeschreibungen erfahren können, und daß ausgedrückt werden kann, daß die grammatischen Kompetenzen gewisser Gruppen umfangreicher sind als die grammatischen Kompetenzen gewisser anderer Gruppen: daß also, wie sich diese beiden Aspekte auch bezeichnen lassen, die Divergenzen, die zwischen den von den Gruppen internalisierten System hinsichtlich der starken und der schwachen generativen Kapazität bestehen, linguistisch erfaßt werden können; entscheidend ist, daß, kurz gesagt, die Sprachkenntnisse in einer Sprachgemeinschaft P, und damit die Struktur von L(P), o h n e eine Homogenitäts-Annahme, o h n e eine idealisierende, genauer: eine überidealisierende Identitäts-Voraussetzung, o h n e eine Normalitätsbehauptung, o h n e eine disjunktive Zerlegung von L(P) und damit auf einer anderen als der in (CI) formulierten Basis beschrieben und erklärt werden können. Und natürlich ist, aus den skizzierten Gründen, eine Sprachtheorie, in deren Rah56
men eine gegebene Sprache L nicht nur durch eine und nur eine Grammatik, sondern durch ein Grammatiken-System analysiert wird, der Sprachrealität in einem höheren Maße approximiert als z.B. die nur mit einer Grammatik für L operierende Chomsky-Konzeption dieser Theorie; mit einem Grammatiken-System läßt sich eher „correspondence to linguistic fact" erzielen als mit einer Grammatik, und entsprechend wird sich eine ein GrammatikenSystem inkorporierende Sprachtheorie gegenüber Falsifikationsversuchen besser bewähren als eine Theorie, die für L eine und nur eine Grammatik spezifiziert; ihre explanative und deskriptive Kraft wird also höher sein, und dies nicht zuletzt auch deshalb, weil ihr Umfang wächst, sodaß die Anwendung der Theorie auf einen umfassenderen Objektbereich als den von der Chomsky-Konzeption abgedeckten möglich wird. D i e Homogenit ä t s - A n n a h m e a u f z u g e b e n h e i ß t a l s o zu vers u c h e n , von s c h w ä c h e r e n Voraussetzungen her e i n e s t ä r k e r e T h e o r i e zu entwickeln. (Nachzutragen bleibt dabei, daß der Gebrauch von Selektionsregeln in den illustrativen Fragmenten in (15) und (16) natürlich kein Votum für eine bestimmte generative Grammatik-Konzeption impliziert; die in (15) und (16) skizzierten Zusammenhänge ließen sich etwa auch durch Kasusrestriktionen in einer Kasus-Grammatik darstellen (z.B. indem d e n k e n als ein V spezifiziert wird, daß ein Agentivnomen erfordert, und M a s c h i η e als ein N, das nicht im Agentiv auftreten kann); gleiches würden auch Verträglichkeitregeln in einer quasiprädikatenlogischen Grammatik leisten, die gewisse Argumente als unverträglich mit gewissen Funktionen ausweisen; ebenso ließe sich eine einschlägige Spezifikation von Dependenregeln denken, mit denen entsprechende Kontextbeziehungen formulisierbar sind, kurz: der Aufbau eines Grammatiken-Systemes ist nicht an einen bestimmten Typ von generativer Grammatik gebunden; er erfordert lediglich g e η e r a t i ν e Grammatiken, und das heißt: solche Grammatiken, die sich als Theorien über die Sprachkompetenz von Sprecher-Hörern empirisch interpretieren lassen.) 2.4.4 Daß Sprachen durch ein Grammatiken-System effektiver beschrieben und erklärt werden können als durch eine und nur eine Grammatik, läßt sich noch unter einem weiteren Aspekt verdeutlichen. Denn wenn die Annahme zutrifft, daß es keine Homogenität, keine Identität und, letztlich, keine Stabilität der Sprachkenntnisse der Sprecher-Hörer einer Sprache geben kann, so ist auch klar, daß in die Grammatizitätsbewertungen der Sprecher-Hörer irgendwelche diachronen Prozeße involviert sein müssen — daß also diese Bewertungen Aufschluß auch darüber geben müssen, in wel57
chem Grade die Sprecher-Hörer an der kontinuierlich ablaufenden Sprachentwicklung partizipieren oder, anders gesagt: welche diachrone Position die von ihnen internalisierte Grammatik im Rahmen des GrammatikenSystemes einnimmt. Denn im System der G j müssen sich natürlich gewisse Grammatiken als gegenüber gewissen anderen Grammatiken , jünger" auszeichnen lassen, wenn die G j verschiedene, simultan präsente und einen bestimmten Sprachzustand konstituierende Phasen in der Entwicklung der Sprachkenntnisse in Ρ reflektieren sollen, mehr noch: reflektieren müssen, wenn das System adäquat sein soll. Und unter diesem Aspekt kann etwa das Grammatikfragment in (16) als ,jünger", als moderner angesehen werden als das Fragment in (15), denn in den Relationen zwischen den beiden Fragmenten manifestiert sich offensichtlich eine gewisse Tendenz der Sprachentwicklung im Deutschen, die auf eine Lockerung der Kontextrestriktionen für das Verb d e n k e n hinausläuft. Indem die Grammatiken des Grammatiken-Systemes i n R e l a t i o n z u e i n a n d e r g e s e t z t w e r d e n , läßt sich somit der kontinuierliche Ablauf der Sprachentwicklung (wie etwa die Entwicklung von Kontextrestriktionen), genauer: die Entwicklung der Sprachkenntnisse in Ρ linguistisch analysieren, und es bedarf keiner Frage, daß mit einer solchen Analyse durchaus relevante Kompetenzphänomene erfasst werden; indem der d i a c h r o n e P h a s e n a b s t a n d zwischen den G j des Grammatiken-Systemes expliziert wird (der, falls das System diachron geordnet wird (cf. hierzu Kap. 6), von Gj nach Gn stetig wächst), wird zugleich eine Distanzrelation zwischen den Sprachkenntnissen der Sprecher-Hörer-Gruppen in Ρ expliziert, mit der der kontinuierliche Ablauf der Sprachentwicklung erfaßt werden kann. 4 Dazu die Sätze in (17), für die sich wohl annehmen läßt, daß in ihnen Strukturen realisiert sind, die mit den derzeit im Deutschen verfügbaren Sprachkenntnissen nicht mehr von allen Sprecher-Hörern des Deutschen ohne eine Verletzung der Regeln des von ihnen internalisierten grammatischen Systemes erzeugt werden können: (17)
(i) Wen ihr sucht, der ist nicht hier (ii) Beim Bäckermeister war nicht Not (iii)Das ging ihm doch über den Spaß (iv)An wen kam die Kunde (v) Und das Blut hat im Reiter gesiedet
4
Diese Überlagerungen von synchronen und diachronen Aspekten in der Sprachanalyse werden an verschiedenen Stellen dieser Abhandlung nochmals erörtert, cf. etwa im Hinblick auf weitere Beispiele § 6.7.3; cf. weiterhin die Überlegungen zu einer Stellungnahme von C.F. Hockett in § 6.3.3.
58
Die Sätze in (17), die einer Schulgrammatik aus dem Jahr 1920 entnommen sind, sind als korrekte auf der Basis von Sprachkenntnissen erzeugt, die sich mit den derzeit, am Ende der sechziger Jahre verfügbaren grammatischen Kenntnissen sicher nicht mehr vollständig decken; und genau dieser diachrone Aspekt schlägt sich in einer Bewertung der Grammatizität der Sätze in ( 1 7 ) durch die Sprecher-Hörer des Deutschen nieder, wenn diese Sätze als „antiquiert", „unmodern" usf. qualifiziert werden. Der diachrone Phasenabstand, durch den die beiden hier einander konfrontierten Systeme von Sprachkenntnissen getrennt sind, schlägt sich also in Grammatizitätsentscheidungen nieder, die zugleich eine Entwicklung der Sprachkenntnisse indizieren; ein dynamischer Aspekt wird also reflektiert: und derartige, für die Beschaffenheit der Sprachkompetenz durchaus relevante Zusammenhänge lassen sich jedoch nicht mit einer und nur einer Grammatik für L, wohl aber mit einem Grammatiken-System über L (während eines gewissen Zustandes von L) analysieren, dessen interne Relationen die kontinuierliche Entwicklung der Sprachkenntnisse in einer Sprachgemeinschaft Ρ (wie sie auch durch die einschlägigen Grammatizitätsentscheidungen der Sprecher-Hörer selbst belegt wird) durchaus zu reflektieren vermögen. Denn eine diachrone Ordnung des Systemes reflektiert ja genau dieses: daß gewisse Grammatiken konservativer sind als gewisse andere Grammatiken des Systemes, und die Relationen zwischen den Grammatiken (die als koexistierend begriffen werden müssen) geben an, wie die kontinuierliche Entwicklung dieser Sprachkenntnisse abgelaufen ist. Und insofern sprechen auch diachrone Gründe dafür, die Sprachtheorie derart aufzubauen, daß eine Sprache durch ein Grammatiken-System, nicht aber durch eine und nur eine Grammatik beschrieben und erklärt wird: denn das Grammatiken-System liefert, weil es auch diachrone Aspekte erfaßt, mehr relevante Informationen als eine und nur eine Grammatik zu liefern vermag, die, wiederum im Gegensatz zu einem Grammatiken-System, zudem auch die Inhomogenität einer Sprache vernachlässigen muß. 2.4.5 Natürlich ist die Inhomogenität und Instabilität der Sprachkenntnisse in einer Sprachgemeinschaft Ρ nicht, wie die bislang skizzierten synchron-diachronen Argumente vermuten lassen könnten, auf die starke generative Kapazität der von den Sprecher-Hörern internalisierten Systemen beschränkt; sie betrifft auch und vielleicht mehr noch die schwache generative Kapazität dieser Systeme und damit den Umfang der von ihnen erzeugbaren Satzmengen (und somit, a fortiori, wiederum auch die starke Kapazität). Die folgenden deutschen Sätze liefern ein Beispiel, das grammatische Inhomogenitäten und Instabilitäten auf der Basis der schwachen generativen Kapazität von internalisierten Grammatiken illustriert: 59
(18)
(i) (ii) (iii)
Peter ist größer als Paul Peter ist größer als wie Paul Peter ist größer wie Paul
(19)
(i) (ii)
Peter blieb wegen des Regens zu Hause Peter blieb wegen dem Regen zu Hause
(20)
(i) (ii) (iii) (iv)
Wegen mir können wir gehen Meinetwegen können wir gehen Deinetwegen werden keine Umstände gemacht Wegen Dir werden keine Umstände gemacht
In (18) wird eine abstrakte Komparativstruktur in drei verschiedenen Varianten realisiert, (19) und (20) liefern alternative Versionen einer Kasusrektion im Kontext der Präposition wegen (.wobei es sich, in der Terminologie der Kasusgrammatik, natürlich um Oberflächenkasus handelt). Dabei ließen sich, etwa relativ zu (18), nicht nur drei, sondern mehr Sprecher-Hörer-Gruppen annahmen: 1. f Ü I P J ist, einem bestimmten Sprachverhalten im Deutschen entsprechend, das sich in einer einschlägigen Sprachpraxis niederschlägt, nur (18) (i) korrekt; 2. für Ρ2 sind (18) (i) und (18) (iii) korrekt; 3. für Ρ3 sind alle Sätze in (18) grammatisch korrekt; 4. für P j ist nur Satz (18) (iii) vollgrammatisch (Satz (18) (i), genauer: die in ihm enthaltene Realisierung einer Komparativstruktur wird als „antiquiert" und „maniriert" verworfen). Diese hypothetisch angenommenen Bewertungen lassen sich durchaus an Hand des derzeitigen Sprachgebrauchs im Deutschen in ihrer gruppenspezifischen Auffächerung belegen, und zwar mit durchaus signifikanten Methoden (cf. Anm. 3). Es ist dabei offensichtlich die Gruppe P j , deren Sprachkenntnisse am umfangreichsten sind (sie muß über 3 Komparativregeln verfügen, befolgt jedoch zumeist jene,, die zu (18) (ii) führt); ^ verfügt, im Gegensatz zu den beiden verbleibenden Gruppen, über eine Alternativregel für Komparativkonstruktionen (befolgt jedoch meist die Regel, die zu Satz (18) (iii) führt). Und dies alles mag, wenngleich nur andeutungsweise, verdeutlichen, daß die Sprachkenntnisse der P- sich auch in ihrem Umfang voneinander unterscheiden: daß also Inhomogenitäten in der Beschaffenheit der Sprachkenntnisse der Ρ(· auch die schwache Kapazität von Grammatiken betreffen (,womit a fortiori, wie schon gesagt, auch ihre starke Kapazität mitbetroffen wird). Und zugleich mit diesen Inhomogenitäten (die Sätze in (19) und (20) lassen sich, analog zu den Sätzen in (18), ebenfalls als Manifestationen inhomogener Sprach60
kenntnisse in Ρ bestimmen) lassen sich auch die Instabilitäten der Sprachkenntnisse in Ρ analysieren, denn natürlich bestehen zwischen den Sprachkenntnissen der Gruppen Pj, . .. , Pj auch diachrone Phasenabstände: im Deutschen dürfte sich die Komparativkonstruktion in (18) (iii) bzw. die Kasusrektion in (19) (i), entsprechend jene in (20) (i) und (20) (iv) durchsetzen; die anderen Varianten der Kasusrektion bzw. der Komparativkonstruktion dürften allmählich eliminiert werden; und diese Zusammenhänge, auf die Sprachkenntnisse der Gruppen Pj, . . . , Pj projiziert, ergeben eine diachrone Ordnung dieser Kenntnissysteme, kraft derer diese Systeme wohl als koexistierend, aber auch als diachron distinkt ausgewiesen werden. Die Relationen, die zwischen den Systemen bestehen, erlauben es weiterhin, die Richtung, den Ablauf und die Inhalte der Sprachentwicklung zu analysieren, und nicht zuletzt insofern würde ein Grammatiken-System für die P j mehr leisten als eine Grammatik für eine als homogen hypostasierte Sprachgemeinschaft Ρ zu leisten in der Lage wäre; das System erlaubt es, Instabilitäten und Inhomogenitäten gleichermaßen zu behandeln und liefert insofern synchron-diachrone Informationen, die mit einer Grammatik, und nur mit einer Grammatik, auf keinerlei Weise gewonnen werden können. 2.4.6 Die Instabilität und Inhomogenität der Sprachkenntnisse in Ρ betrifft also sowohl die starke als auch die schwache generative Kapazität der koexistierenden, also simultan internalisierten Grammatiken; erfaßt werden dabei nicht nur syntaktische und phonologische, sondern auch (und gerade) semantische Zusammenhänge. Um ein Beispiel zu geben: die folgenden Sätze des Deutschen (21)
(i) (ii) (iii) (iv) (v) (vi) (vii) (viii) (ix) (x)
Die Zivilisation ist ein Experiment Sozialismus und Demokratie bedingen einander Das Nichts ist das Absolute Die Wahrheit trägt einen Wolfspelz Das Ganze ist das Unwahre Die Zeit ist gerichtet Selbstvergessenheit ist Selbstbefreiung Der Sinn der Geschichte ist der Fortschritt Der Fortschritt ist ein Experiment Das Experiment ist unwiederholbar
werden von den Sprecher-Hörern des Deutschen mit Sicherheit nicht homogen interpretiert, und dieser Interpretations-Inhomogenität (die sich im Rahmen einer mehr oder weniger analog zur generativen Syntax konzipierten generativen Semantik natürlich ebenfalls als eine Erzeugungsinhomogenität herausstellen würde, auf die dann auch der Syntax analoge 61
Inhomogenitätskriterien zutreffen würden) kann sicherlich nicht dadurch Rechnung getragen werden, daß die Sätze in ( 2 1 ) in sinnvolle und graduiert sinnlose unterteilt werden, da eine semantische Normierung den in Ρ faktisch nachweisbaren Sprachkenntnissen ebensowenig adäquat ist wie eine syntaktische Normierung ihnen adäquat sein kann (mit anderen Worten: die Aufgabe einer linguistischen Semantik besteht nicht in der semantischen Beurteilung von Sätzen, sondern in deren semantischer Beschreibung — wie gut die Beurteilung auch immer fundiert sein mag; es geht um Kommunikationsmöglichkeiten, nicht aber um deren Sinn oder Sinnlosigkeit; wenn diese Möglichkeiten in Ρ aktual genutzt werden, sind sie ipso facto Gegenstand einer linguistischen Beschreibung); weiterhin stellt es keine adäquate Behandlung der Sätze in ( 2 1 ) dar, wenn jedem Satz in ( 2 1 ) alle seine in Ρ möglichen, also jedenfalls «-viele Bedeutungen zugeordnet werden, und zwar von einer und nur einer Grammatik zugeordnet werden: denn erstens wird es in /"Gruppen gegeben, die gerade nicht über n-viele, sondern über η - m-viele Satzbedeutungen für ( 2 1 ) verfügen, und zweitens wird es Gruppen geben, deren Grammatik es gar nicht zuläßt, a l l e n Sätzen in ( 2 1 ) eine Bedeutungsstruktur zuzuschreiben. Diese Gruppen (deren Annahme keine Normierung im zuvor skizzierten Sinne darstellt, da die relativierende Funktion der Vielzahl der Gruppen eine semantisch motivierte Variante der disjunktiven Zerlegung von L unmöglich macht) verfügen also über Kriterien, Sätze aus ( 2 1 ) zu verwerfen, und natürlich können auch diese Kriterien wieder inhomogen sein, kurz: wie keine syntaktische und keine phonologische Homogenität in Ρ behauptet werden kann, so kann auch keine semantische Homogenität behauptet werden; die semantischen Kompetenzen der Sprecher-Hörer in Ρ sind, wie alle grammatischen Kompetenzen der Sprecher-Hörer, inhomogen und instabil; entsprechend ist auch unter semantischem Aspekt ein Grammatiken-System ein leistungsfähigeres Modell für eine Sprachbeschreibung als eine Grammatik. 2.4.7 Die Sprachkenntnisse in einer Sprachgemeinschaft sind also inhomogen und instabil, wobei es schließlich und letztlich entscheidend ist, daß die qualitativen und quantitativen Divergenzen zwischen den Sprachkenntnissen der P- in Ρ von den P· selbst in einem hohen Maße t o l e r i e r t w e r d e n u n d t o l e r i e r t w e r d e n m ü s s e n , da diese Divergenzen sich in der Konsequenz der diachronen Prozesse nahezu zwangsläufig ergeben und in diesem Sinne unaufhebbar sind; sie lassen sich auch durch keine Normierung aufheben, da jede Normierung die Homöostase der grammatischen Prozesse in Ρ nicht nur in wesentlichen Aspek62
ten verfehlen kann, sondern diese auch nur bedingt aufheben kann, sodaß Divergenzen prinzipiell nicht ausgeschlossen werden können. Das heißt: da die S p r a c h k e n n t n i s s e der Sprecher-Hörer in Ρ z w a n g s l ä u f i g i n h o m o g e n u n d instabil sind.sind die S p r e c h e r - H ö r e r auch unausweichl i c h z u r grammatischen Toleranz g e z w u n g e n . Diese Toleranz besagt nichts gegen die Möglichkeit von Sprachkritik (sie besagt nicht einmal etwas gegen einen gegen das Toleranzgebot verstossenden normativen Sprachunterricht), sondern reflektiert lediglich die faktischen Bedingungen der Kommunikation (, deren Beachtung Voraussetzung auch für einen normativen Grammatikunterricht ist; er wäre sonst nicht durchführbar, da Kommunikation zwischen Lehrenden und Lernenden sich kaum herbeiführen ließe); und nur auf der Basis dieser in Ρ wechselseitig geübten grammatischen Toleranz ist die Koexistenz diachron distinkter Positionen in der Entwicklung der Sprachkenntnisse in Ρ während eines und nur eines Zustandes ζ dieser Sprachkenntnisse überhaupt möglich, allgemeiner: die Möglichkeit von Sprachentwicklung überhaupt setzt die Existenz gruppenspezifisch distinkter Subsysteme von Sprachkenntnissen in Ρ voraus, damit aber auch eine Koexistenzrelation zwischen diesen Subsystemen und insofern auch jene praktische grammatische Toleranz, auf deren Basis die Koexistenzrelation allererst zustande kommen kann. S p r a c h e n t w i c k l u n g , also die Differenzierung der in Ρ verfügbaren Sprachkenntnisse, die von einer Identität der Sprachkenntnisse der Sprecher-Hörer zu reden sinnlos macht, i s t n u r a u f d e r B a s i s d e r v o n d e n Ρ j in Ρ w e c h s e l s e i t i g g e ü b t e n g r a m m a t i s c h e n T o l e r a n z m ö g l i c h . Und zumal diese diachrone Perspektive verdeutlicht, daß die idealisierend angenommene Homogenität der Sprachkenntnisse in Ρ und die auf dieser Annahme gegründete disjunktive Zerlegung von L(P) eine geradezu prinzipielle Kontrafaktizität der Chomsky-Konzeption der generativen Linguistik zur Folge hat, die vor allem darin begründet ist, daß die mit einer IdentitätsVoraussetzung operierende Theorie nicht fähig ist, diachrone Prozesse zu reflektieren, und entsprechend im Rekurs auf diese diachronen Prozesse beständig falsifiziert werden kann. Allgemein: die Chomsky-Konzeption ist der Sprachrealität nicht hinreichend approximiert, um extern gerechtfertigt werden zu können, und dies vor allem deshalb, weil die Zulässigkeit der Idealisierung in (CI) nicht bestätigt werden kann. Das aber heißt, daß eine auf der Basis von (CI) aufgebaute generative Theorie sich weitgehend gegenüber der Sprachrealität verselbständigt, und damit ihr empirischer Gehalt, ihre Interpretationsfähigkeit zweifelhaft und ihre deskriptive Adäquatheit letztlich zerstört wird. Und genau diese Inadäquatheit wird in eben dem 63
Maße manifest, in dem die Theorie nicht in der Lage ist, die Inhomogenität und Instabilität der in einer Sprachgemeinschaft Ρ vorfindlichen Sprachkenntnisse zu erklären und zu beschreiben. Um eine Theorie aber derart aufbauen zu können, daß sie diese Gegenstände adäquat zu behandeln vermag, ist er unerläßlich, die Idealisierung in (CI) durch eine schwächere, aber der Sprachrealität besser approximierte Idealisierung zu ersetzen, denn nur so kann vermieden werden, daß eine wie auch immer modifizierte generative Theorie ihren Gegenstand, die Sprachkenntnisse in P, nicht bereits im Ansatz verfehlen muß.
2.5
Funktion und Struktur einer Inhomogenitäts-Annahme
2.5.1 Die Verselbständigung der Chomsky-Konzeption der generativen Theorie einer Sprache gegenüber der Sprachrealität bringt es, allgemein gesagt, mit sich, daß die Konsistenz der durch die Theorie ermöglichten Prognosen empirisch prinzipiell nicht sichergestellt werden kann; ein Sachverhalt, der sich in der Konsequenz der Homogenitäts-Annahme aus (CI) ergibt, mit der eine natürliche Sprachgemeinschaft nicht als das erfaßt werden kann, was sie ist: nämlich ein hochgradig strukturiertes, ungemein komplexes und permanent fluktuierendes Gebilde. Für die Konsistenz der generativen Theorie einer Sprache ist es also unerläßlich, daß die Homogenitäts-Annahme, die eine signifikante externe Rechtfertigung der Theorie unmöglich macht, abgeschwächt wird, und zwar abgeschwächt zugunsten der Annahme einer relativen Inhomogenität und Instabilität der in Ρ vorfindlichen Sprachkenntnisse. Und einer solchen Abschwächung von (CI) entsprechend muß natürlich auch die generative Theorie einer Sprache derart modifiziert werden, daß sie diesen ihren neu bestimmten Objektbereich mit deskriptiver und explanativer Adäquatheit zu analysieren vermag; das heißt vor allem: die Theorie muß sowohl ein synchrones als auch ein diachrones Subsystem enthalten ( , wobei es die Forderung nach einem diachronen System ist, die den letztlich entscheidenden Unterschied zur Chomsky-Konzeption der Theorie einer Sprache ausmacht). Eine natürliche Sprache muß also, wenn sie adäquat beschrieben und erklärt werden soll, durch ein integriertes, synchron-diachrones theoretisches System analysiert werden, das die Mehrdimensionalität von Ρ insgesamt zu erfassen vermag. Die erforderliche Abschwächung der Homogenitäts-Annahme bedingt es dabei, daß die Sprachgemeinschaft P , der vielfach motivierten Heterogenität der Grammatizitätsbewertungen der Sprecher-Hörer in Ρ entsprechend, zunächst als ein mehrdimensionales System angesehen werden muß, das in
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endlich viele, intern homogene Subsysteme, nämlich Sprecher-HörerGruppen Pj Pn zerfällt, wobei die Pj in Ρ über qualitativ und quantitativ distinkte, jedoch partiell identische Sprachkenntnisse verfügen, id est: die Pj haben unterschiedliche, jedoch nicht notwendig disjunkte Grammatiken G(Pj) = Gj G (Pn) =Gn internalisiert, wobei die G;·, in einem diachronen Bezugssystem, distinkte Phasen in der Entwicklung der Sprachkenntnisse in Ρ reflektieren, die, während eines Zustandes ζ von L, simultan, als koexistierende gegeben sind. (Daß die G- nicht disjunkt sind, belegen im übrigen bereits die illustrativen Grammatik-Fragmente in (15) und (16); die durch „entspricht (15)" markierten Regeln in (16) bilden den gemeinsamen Durchschnitt der beiden Grammatiken, der also nicht leer ist.) Die Relationen, die in dem Grammatiken-System bestehen, reflektieren weiterhin, wenn gewisse Ordnungsbedingungen im System der Gj beachtet werden (cf. Kap. 6), die diachrone Struktur des Systemes von Sprachkenntnissen Ρ qua natürliche Sprachgemeinschaft. Entscheidend ist dabei weiterhin auch, daß die in Ρ befolgten Toleranzprinzipien, auf deren Basis die angenommene Koexistenzbeziehung allererst möglich wird, im Rahmen des Grammatiken-Systemes auch theoretisch erfaßt werden, da nur so neue synchrone Inadäquatheiten bei der Formulierung einer dem GrammatikenSystem korrespondierenden Grammatizitäts-Theorie vermieden werden können. Eine neugefaßte Grammatizitäts-Theorie muß also in der Lage sein, die inhomogenen und instabilen Grammatizitätsbewertungen der SprecherHörer in Ρ angemessen zu rekonstruieren, und dabei L(P) nicht disjunktiv zu zerlegen. Weiter ist schließlich klar, daß die partielle Identität der Sprachkenntnisse der P j in Ρ allein nicht hinreicht, die Kommunikationskontinuität in Ρ erklärbar zu machen; in diesem Zusammenhang muß vielmehr eine weitere (und durch Beobachtung leicht legitimierbare) Annahme über die Kompetenz der Sprecher-Hörer eingeführt werden: die Annahme nämlich, daß die Mitglieder der P- prinzipiell in der Lage sind, ihre Sprachkenntnisse, im Rahmen der generellen Mobilität der Sprachkenntnisse i n P , z u e r w e i t e r n (womit zunächst nur gesagt ist, daß der Prozeß der Spracherlernung, bis zu einer gewissen obersten Grenze hin, nicht abbricht) und entsprechend auch die von ihnen internalisierten generativen Systeme zu e x t e n d i e r e n ; diese E x t e n s i o n s - K o m p e t e n z der Sprecher-Hörer sowie die partielle Identität ihrer Sprachkenntnisse garantiert im Prinzip die generelle Möglichkeit der Kommunikation in Ρ (.wobei jede f a k t i s c h e Minderung der Kommunikationskontinuität ihren Grund darin haben kann, daß die Extensionskompetenz nicht ausgeschöpft 65
wird, oder daß der diachrone Phasenabstand zwischen den G- ein durch Extension nicht mehr überbrückbares Ausmaß angenommen hat: und nur dieser letzte Umstand vermag die prinzipielle Kommunikationsmöglichkeit definitiv zu begrenzen). Die Leistung der grammatischen Extension besteht also darin, daß den Pj durch die Extension neue Ausdrucksmöglichkeiten zuwachsen, daß gewisse Gruppen sich ein sprachliches Potential erwerben können, über das gewisse andere Gruppen möglicherweise schon zuvor verfügten. Anders gesagt: die P· qua Subsysteme des Systemes Ρ befinden sich in sprachlicher Wechselwirkung, in g r a m a t i s c h e r I n t e r a k t i o n , und diese Interaktion wird genau auf der Basis eines extendierenden Kompetenzgebrauches möglich, in dem sich, unter anderem, die Mobilität der Sprachkenntnisse in Ρ und damit auch der Sprache L(P) selbst manifestiert. 2.5.2 Um eine geeignete Idealisierungsbasis für die Theorie einer Sprache zu gewinnen, reicht es also nicht hin, lediglich die Homogenitäts-Annahme aus (CI) zugunsten der Annahme einer relativen Inhomogenität und Instabilität der grammatischen Kenntnisse in Ρ abzuschwächen; es muß vielmehr weiterhin das Vorliegen einer grammatischen Interaktion zwischen den P- in Ρ angenommen werden, wobei Inhomogenität, Instabilität und Interaktion durch die in Ρ notwendig praktizierte grammatische Toleranz abgedeckt werden. (Zur genaueren Interpretation der Interaktion cf. § 2.5.3) Und relativ zu diesen Überlegungen legt sich die folgende, auf einem sehr viel niedrigeren als dem in (CI) beanspruchten Idealisierungs-Niveau angesetzte Spezifikation des Objektbereiches der generativen Theorie einer Sprache nahe, die wohl eine Konstruktion von idealen Objekten involviert; jedoch deshalb unproblematischer als (CI) ist, weil sie o h n e die Annahme einer v o l l k o m m e n e n Identität der Sprachkenntnise der Sprecher-Hörer in Ρ möglich wird, also empirisch akzeptabler, der Sprachrealität besser approximiert ist: (NI)
Gegenstände der generativen Theorie Τ einer Sprache L, die während eines Zustandes z(L) in einer Sprachgemeinschaft Ρ gesprochen wird, sind: 1. die Sprachkenntnisse Κ von endlich vielen (intern homogenen) Gruppen P , , . . . , P n von (idealen) Sprecher-Hörern p, q, .. . fcf, mit: a JC(PJ Φ Κ (Ρ) für ι Φ] b J C f P j ) Π Κ(Ρ·)Φ φ für ι Φ) 2. die Prozesse der grammatischen Interaktion zwischen den P. in Ρ
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D i e in die „Idealisierung niederen Grades" in ( N I ) involvierte Konstrukt i o n v o n idealen O b j e k t e n b e t r i f f t zunächst die A n n a h m e der E x i s t e n z von Sprecher-Hörer-Gruppen, deren S p r a c h k e n n t n i s s e intern h o m o g e n sind (anders gesagt: die S p r a c h k e n n t n i s s e der Mitglieder einer Gruppe P j w e r d e n als äquivalent a u f g e f a ß t , cf. hierzu § 3 . 2 . 1 ) ; eine A n n a h m e , mit der z u n ä c h s t alle U n t e r s c h i e d e z w i s c h e n I d i o l e k t e n e i n g e e b n e t w e r d e n ; allerdings ist das „ E i n e b n u n g s n i v e a u " niedriger als in (CI), d e n n die Eine b n u n g liefert nicht das K o n z e p t einer h o m o g e n e n S p r a c h g e m e i n s c h a f t P , s o n d e r n Ρ wird vielmehr in die Pj zerlegt und s o m i t , speziell d u r c h Teil 1, Punkt a in ( N l ) , als i n h o m o g e n b e s t i m m t . D i e I n h o m o g e n i t ä t v o n Ρ resultiert damit aus der E x i s t e n z g r u p p e n s p e z i f i s c h e r U n t e r s c h i e d e in B e z u g auf v o r f i n d l i c h e S p r a c h k e n n t n i s s e in P\ eine K o n s t r u k t i o n , mit der die H e t e r o g e n i t ä t einer S p r a c h g e m e i n s c h a f t auf e i n e m Idealisierungsniveau erfaßt wird, das deshalb vertretbar ist, weil es k e i n e „Idiosynkratisierung" der Sprachtheorie zur F o l g e h a t 5 . Es ist klar, daßÄ" in P, u n d damit natürlich a u c h der in Ρ g e s p r o c h e n e n Sprache L, d u r c h ( N I ) e n t s c h i e d e n 5
Dessen ungeachtet bleibt es jedoch auch hier bis zu einem gewissen Grade offen, wie die Abgrenzung von Kompetenz und Performanz vorgenommen werden soll, d. i. wie Grammatiken aufgebaut sein sollen, die mit deskriptiver und explantiver Kraft auf die Kompetenzen aller /•· in Ρ und damit aller Sprecher-Hörer in Ρ zutreffen sollen. Denn auch mit dieser schwächeren Idealisierung werden alle pragmatischen Aspekte aus dem Gegenstandsbereich der Grammatik eliminiert (in (NI) wird die Sprecher-Hörer-Idealisierung aus (CI), wenngleich auch nicht die Idealisierung der Sprachgemeinschaft übernommen); die Sprecher-Hörer werden also isoliert von den spezifischen Kommunikationsbedingungen objektiviert. Bei einer solchen Isolation lassen sich jedoch gewisse semantische Probleme kaum mehr lösen, z.B. diejenigen, die sich aus der Topik-Komment-Distinktion ergeben: denn diese Distinktion reflektiert im Normalfall immer gewisse Gegebenheiten einer spezifischen Kommunikationssituation; sie ist also wesentlich pragmatischer Natur. (Cf. Fillmore 1968, Anm. 52). - Mit anderen Worten: ein Sprecher-Hörer erzeugt und versteht nicht einfach Sätze in L, sondern er erzeugt und antizipiert diese Sätze zu einem bestimmten kommunikativen Zweck. Mithin bleibt zu prüfen, ob nicht auch die Idealisierung des Sprecher-Hörers, wie sie in (CI) und (NI) übereinstimmend vorgenommen wird, zu stark ist, um noch angemessen sein zu können, und ob nicht, bei Beibehaltung der physiologischen Komponente der Sprecher-Hörer-Idealisierung und gewisser wesentlicher Teile ihrer psychologischen Komponente, nicht besser ein i d e a l e r S p r e c h e r - H ö r e r in e i n e r i d e a l e n K o m m u n i k a t i o n s s i t u a t i o n , genauer: dessen Sprachkenntnisse zum Gegenstand einer generativen Grammatik genommen werden sollten. Die Grammatik müßte dann eine Komponente enthalten, mit der sich ein bestimmter Kompetenzgebrauch in Relation zu einer bestimmten (und typisierten) Kommunikationssituation beschreiben und erklären liesse, kurz: sie müßte eine pragmatische Komponente enthalten. Im Rahmen dieser Komponente müßte dann auch angegeben werden können, wie und in welchem Grade gut motivierte Kommunikationserwartungen enttäuscht bzw. 67
m e h r
Struktur aufgeprägt wird als d u r c h (CI); ( C I ) läßt sich als ein empi-
risch allerdings hochgradig unwahrscheinlicher
S p e z i a l f a l l
von (NI)
darstellen: d e n n n a c h ( N I ) wäre Ρ als die V e r e i n i g u n g der P- z u d e f i n i e r e n , id est, es gilt Ρ =
Pj, w o b e i η im N o r m a l f a l l e i n e n Wert größer als 1
a n n e h m e n dürfte; ( C I ) w ä r e , s o g e s e h e n , n i c h t s anderes als der Spezialfall, in d e m η gleich 1 z u s e t z e n ist. Ein solcher Spezialfall aber dürfte sich e m p i risch w o h l k a u m b e l e g e n lassen. -
D a ß ( C I ) sich als ein Spezialfall v o n ( N I )
darstellen läßt, besagt n u n o f f e n b a r a u c h , d a ß die s c h w ä c h e r e Idealisierung den reicher strukturierten O b j e k t b e r e i c h liefert; d e m z u f o l g e m u ß e i n e relativ zu ( N I ) k o n z i p i e r t e Theorie a u c h reicher strukturiert sein als e i n e relativ z u (CI) konstruierte Theorie; sie wird e n t s p r e c h e n d a u c h über d i e umfangreichere Klasse potentieller Falsifikatoren verfügen, d e n e n gegenüber sie sich z u b e w ä h r e n hat, und insofern i n f o r m a t i o n s r e i c h e r , v o n einer größeren Anw e n d u n g s b r e i t e und damit l e t z t l i c h a u c h erklärungsstärker sein. Allgemeiner: die s c h w ä c h e r e Idealisierung erzwingt d e n A u f b a u einer erklärungsstärkeren Theorie, da sie das Falsifikationsrisiko der T h e o r i e zwangsläufig steigert. D i e s e Charakteristik der b e i d e n alternativ m ö g l i c h e n K o n z e p t i o n e n (also einer ( C I ) - K o n z e p t i o n und einer ( N I ) - K o n z e p t i o n ) gilt u n g e a c h t e t d e s U m bestätigt werden können, also wie und in welchem Grade ein Antwortsatz in einer Dialogsituation „abweichend" bzw. „zutreffend" sein kann. Die pragmatische Komponente miißte auf irgendeine Weise die Explikation der Begriffe „pragmatisch abweichender Satz" bzw. „pragmatisch korrekter Satz" gestatten, und mit der Einführung dieser Begriffe liessen sich sicher einige wesentliche Probleme der Grammatizitäts-Theorie lösen, die sich bislang allen syntaktischen, semantischen und phonologischen Lösungsversuchen entzogen haben. Überdies wäre die Linguistik sehr viel kohärenter in das System der Kommunikationswissenschaften integrierbar, wenn es vermittels einer linguistischen Pragmatik gelänge, die grammatischen Voraussetzungen des Ablaufs von Kommunikationsprozeßen in konkreten Situationen zu beschreiben. Hervorzuheben bleibt noch, daß eine pragmatische Komponente nicht umstandslos in ein syntaktisches oder semantisches System eingebracht werden kann. Denn es ist e i n e Sache, die Menge der syntaktisch w o h l g e f o r m t e n Sätze einer Sprache zu erzeugen, und es ist eine w e i t e r e Aufgabe, die Menge der wohlgeformten u n d s i n n v o l l e n , also der semantisch korrekten Sätze dieser Sprache zu erzeugen, und es ist schließlich ein d r i t t e s , die A n g e m e s s e n h e i t von wohlgeformten und sinnvollen Sätzen i n g e w i s s e n Komm u n i k a t i o n s s i t u a t i o n e n zu spezifizieren. Ein linguistische Pragmatik muß entsprechend von der Syntaktik und Semantik logisch wohl unterscheidbar sein - was natürlich nichts daran ändert, daß Syntaktik, Semantik und Pragmatik, als die drei wesentlichsten grammatischen Disziplinen, letztlich einander in einem Gesamtsystem sinnvoll zugeordnet werden müssen, um das Funktionieren natürlicher Sprachen, das auch ein Funktionieren zu Kommunikationszwecken ist, adäquat analysieren zu können. Auch in diesem Fall muß also, analog dem Fall der Beziehungen zwischen Synchronie und Diachronie, eine Kohärenzforderung erfüllt werden können, wenn Vollständigkeit für die Explanation und Desprition angestrebt wird. 68
standes, daß die beiden Objektivierungen ein wesentliches Moment gemeinsam haben: denn in beiden wird vom Begriff des „idealen Sprecher-Hörers" Gebrauch gemacht. Allerdings spielt dieser Begriff in (NI) eine andere Rolle als in (CI), gerade die Handhabung dieses Begriffes macht die signifikanten Unterschiede zwischen den beiden Idealisierungen deutlich. Denn in (CI) wird das g e s a m t e System von Sprachkenntnissen in Ρ auf einen und nur einen idealen Sprecher-Hörer projiziert (und diese Projektion i s t die Homogenitäts-Annahme), während in (NI) dieses Gesamtsystem von Sprachkenntnissen in Ρ auf eine M e h r z a h l von idealen Sprecher-Hörern (für die Mehrzahl der P- in Ρ steht) projiziert wird (und diese Projektion i s t die Heterogenitäts-Annahme); die Idealität der Sprecher-Hörer besagt nichts dagegen, daß ihnen distinkte Sprachkenntnisse zugeschrieben werden. Die Sprecher-Hörer-Idealisierung besagt nur, daß bei einer Charakterisierung der Sprecher-Hörer einer Sprache von den physischen, psychischen und umweltabhängigen Bedingungen abstrahiert wird, denen in konkreto ablaufende Kommunikationsprozeße unterliegen; eine Abstraktion, von der die Homogenitäts-Annahme logisch offenbar ebenso unabhängig ist wie die Heterogenitäts-Annahme, und entsprechend kann diese Idealisierung sowohl in (CI) als auch in (NI) ohne weiteres eingeführt werden. In der Tat lassen sich ja auch empirische Befunde durchaus beibringen, die eine Rechtfertigung der Sprecher-Hörer-Idealisierung erlauben könnten; z.B. sind alle Sprecher-Hörer in der Lage, performanzbedingte grammatische Fehlleistungen kraft ihrer immanenten Kompetenz zu k o r r i g i e r e n ; die Korrektur aber ist ja nichts anderes als eine Distanzierung von den Performanzgegebenheiten, die die Fehlleistung auflösten, und damit gleichzeitig ein Rückverweis auf die von Performanzgegebenheiten unabhängige Kompetenz, ganz im Sinne der Abstraktion, die zum Konzept des „idealen Sprecher-Hörers" führt, ein Begriff, der nur auf der Basis einer Abgrenzung von Kompetenz und Performanz möglich wird. Und diese Abgrenzung, die in (NI) ebenso vorgenommen wird wie in (CI), kann durchaus als berechtigt angesehen werden: denn der reale Sprecher-Hörer selbst nimmt in seinem kommunikativen Verhalten eine entsprechende Angrenzung vor; die Idealisierung hat somit ein Korrelat in der Sprachrealität, relativ zu dem sich ihre Zulänglichkeit bzw. Unzulänglichkeit entscheiden läßt. 2.5.3 Daß die Idealisierung in (NI) sowohl einen synchronen als auch einen diachronen Aufbau der generativen Linguistik erforderlich macht, ergibt sich zumal aus der Annahme des Ablaufs grammatischer Interaktionsprozeße (Teil 2). Diese Prozeße, die auf der Basis der Extensionskompetenz der Sprecher-Hörer möglich werden, führen, wie in einem synchronen Be69
zugssystem der Analyse gesagt werden muß, zum (sicherlich niemals vollständigen, durch eine oberste Schranke begrenzten, cf. hierzu Kap. 3) A u s g l e i c h der grammatischen Inhomogenitäten, die zwischen den /*· bestehen; unter einem diachronen Aspekt betrachtet reflektiert dieser gleiche Prozeß eine Umstrukturierung, eine Entwicklung der Sprachkenntnisse der Pj, aus der immer wieder neue Inhomogenitäten hervorgehen. Dieser synchrondiachronen Interpretation des Interaktionsprozeßes entsprechend muß angenommen werden, daß jede synchron notwendige Akkumulation von Interaktionsprozeßen qua Inhomogenitätsausgleich diachron in eben dem Grade, in dem das Ausmaß der Interaktionen immer größere Abstände zwischen den Sprachkenntnissen der P- reflektiert, eine Intensivierung der Mobilität der Sprachkenntnisse in Ρ auslöst; insofern aber verhalten sich die synchrone und die diachrone Deutung der Interaktionsprozeße durchaus komplementär zueinander (cf. hierzu Kap. 4), d.i. sie liefern unterschiedliche, aber einander ergänzende Darstellungen desselben sprachlichen Phänomens. Für eine generative Linguistik-Konzeption, die relativ zu der in (NI) mitgeteilten idealisierenden Objektivierung aufgebaut werden soll, und die entsprechend auch die Interaktionsprozeße in Ρ zu ihrem Gegenstand haben muß, bedeutet das nun folgendes: erstens muß es im Rahmen dieser Konzeption möglich sein, die Theorie einer Sprache synchron und diachron deuten zu können (nur so kann die Theorie dem in (NI) spezifizierten Objektbereich gerecht werden); zweitens werden sich diese Interpretationen, der besonderen Natur des Objektbereiches entsprechend, für den sie einschlägig sind, komplementär zueinander verhalten, sodaß es drittens unerläßlich wird, die Kohärenz der beiden Komplementär-Interpretationen sicherzustellen und d a m i t eine Integration von Synchronie und Diachronie im Rahmen der generativen Sprachtheorie herbeizuführen. Im Rahmen einer solchen Perspektive angelegt, könnte die Theorie nicht nur die Unzulänglichkeiten der ChomskyKonzeption vermeiden, sondern es zugleich auch erklärbar machen, wie synchron funktionierende Strukturen in diachrone Prozeße eingebettet werden können bzw. erklären, wie es möglich ist, daß Sprachen jederzeit zur Kommunikation gebraucht werden können, obwohl sich beständig Entwicklungsprozeßen ausgesetzt sind, sich also kontinuierlich verändern. 2.5.4 Mit (NI) wird in zweifacher Hinsicht eine diachrone Dimension angesprochen: erstens kann angenommen werden, daß die Unterschiede zwischen den Sprachkenntnissen der Gruppen (cf. (NI), Teil 1, Zeile a) diachron strukturiert sind; d i e K ( P j ) also simultan präsenten, aber wohl unterschiedenen Entwicklungsphasen vonK" angehören, also gewissermassen Phasenverschiebungen in Ρ reflektieren. Zweitens sind die Interaktionsprozeße auch als dia-
70
chrone Prozeße zu bestimmen, also als Prozeße, durch die mit den K(P^) auch Κ verändert wird. Dieser Zugang zur Diachronie ist offenbar prinzipiell von jenem Zugang verschieden, der mit der E r g ä n z u n g von (CI) (in § 2.3.2) versucht wird. Die diachrone Theorie, die auf die E r g ä n z u n g v o n (CI) reagiert, kann zwangsläufig nur solche Prozeße zum Gegenstand haben, die den Übergang eines Sprachzustandes in einen nachfolgenden Sprachzustand bewirken; die Theorie muß gleichsam ipso facto eine Theorie der Zustandsfolgen, die Theorie einer Reihe aufeinanderfolgender Sprachzustände sein (,wie auch immer eine solche Reihe des genaueren strukturiert sein mag). Demgegenüber fehlt in (NI) der Hinweis auf einen Nachfolgerzustand völlig; es geht in (NI) (noch) nicht um eine Objektivierung von Zustandsfolgen, sondern um die Objektivierung derjenigen diachronen Prozeße, die s c h o n w ä h r e n d eines Sprachzustandes ablaufen, und die insofern als die Bedingungen der Möglichkeit von Zustandsfolgen aufgefaßt werden müssen. Und erst dann, wenn Systeme vorliegen, die diesen Primärbereich der Diachronie zu beschreiben und zu erklären in der Lage sind, kann versucht werden, eine Theorie der Zustandsfolgen zu entwickeln. Mit anderen Worten: eben weil in E r g ä n z u n g v o n (CI) der Begriff „Nachfolgerzustand" bereits auftritt, kann der Primärvereich diachroner Prozeße nicht mehr erfaßt werden; mit der Objektivierung werden dynamische Aspekte der Kompetenz nur insofern erfaßt, wie sie gleichsam „zwischen zwei Sprachzuständen" lokalisiert werden können, wobei die beiden Zustände selbst gewissermaßen adynamisch bestimmt werden. Mit (NI) dagegen werden bereits Sprachzustände als dynamische objektiviert, denn die zugrundeliegende Kompetenz in Ρ wird als instabil, als mobil aufgefaßt. Insofern aber ist (NI) eine reichere Objektivierung als die E r g ä n z u n g v o n (CI); mit ihr wird eine Kompetenzbegriff etabliert, der vor jeder Analyse von Zustandsfolgen eine Analyse der Dynamik der Sprachkenntnisse in Ρ erlaubt, und dessen Einführung den Aufbau eines konsequent diachronen Kompetenzmodelles erforderlich macht, eines Modelles, das die Sprachkenntnisse in Ρ als veränderliche und sich permanent verändernde zum Gegenstand hat. Die in den Diachroniebegriff involvierten Probleme treten keineswegs erst dann auf, wenn die Beziehungen zwischen zwei aufeinanderfolgenden Zuständen einer Sprache untersucht werden sollen, sondern bereits die Analyse eines und nur eines Zustandes einer Sprache wirft diachrone Probleme auf, deren Lösung für eine Theorie dieses Sprachzustandes unerläßlich ist. Dieser Aspekt ist in (NI) objektiviert; entsprechend muß die linguistische Theorie einer Sprache (gänzlich unabhängig davon, ob sie unter der Verwendung von generativen, strukturalistischen, distributionalistischen o.ä. Systeme oder konventionell-informell aufgebaut wird) so angelegt sein, daß sie diachrone Aspekte 71
von vornherein integriert, ohne dabei jedoch die synchrone Dimension zu verfehlen, kurz: die Theorie muß synchrone und diachrone Phänomene zu reflektieren in der Lage sein, sie muß erklären können, daß die Sprache sich zugleich mit ihrem Funktionieren in der Kommunikation verändert und sich verändern kann, ohne ihre Kommunikationseffizienz, wie auch immer diese beschaffen sein mag, einzbüßen. 2.5.5 Bei den Überlegungen, die zu (NI) (aber etwa auch zu der E r g ä n z u n g v o n (CI) führten, wurde generell vorausgesetzt, daß die Instabilitäten und Inhomogenitäten der Struktur einer in Ρ gesprochenen Sprache L auf Instabilitäten und Inhomogenitäten der Sprachkenntnisse zurückfuhrbar sind, über die die Sprecher-Hörer in Ρ verfügen. Diese Voraussetzung, wie selbstverständlich sie auch anmuten mag, wird in der linguistischen Diskussion jedoch keineswegs generell akzeptiert, und zwar selbst dann nicht, wenn die Theorie der ^-Kompetenzen im Sinne von Anm. 4 durch eine pragmatische Komponente erweitert wird, die erklärt, wie Sätze im Hinblick auf Kommunikationssituationen erzeugt werden — wobei die Veränderung der Kommunikationsbedingungen natürlich Veränderungen dieser pragmatischen „kommunikativen" Kompetenz zur Folge haben müßte. Dabei wird die Annahme einer dynamischen Kompetenz zumeist mit dem Argument bestritten, daß Sprachveränderungen a u s s c h l i e ß l i c h performanzbedingt sind, und die Instabilität und Inhomogenität der Sprachstruktur somit gerade nicht als eine Funktion gruppenspezifisch divergierender Sprachkenntnisse in Ρ bestimmt werden könne, sondern vielmehr aus dem Umstand resultiere, daß die Sprecher-Hörer in Ρ über unterschiedliche „Performanzen", d.i. über unterschiedliche Verwendungsstrategien für eine homogene Kompetenz verfügen. Träfe diese Argumentation zu, wäre die Relativierung von (CI) auf (NI) offenbar nicht nur unnötig, sondern falsch, da mit ihr Phänomene wie das der Inhomogenität und Instabilität zu Unrecht in den Kompetenzbereich verlagert werden, Aspekte des Performanzbereiches unzulässigerweise auf den Kompetenzbereich projiziert würden. Entsprechend könnte auch eine auf (NI) reagierende Kompetenztheorie nicht leisten, was sie leisten soll; die Erklärungsmöglichkeiten, die sie bereitstellen soll, ließen sich nur im Rahmen einer Performanztheorie gewinnen, die die Unterschiede der Verwendungsstrategien thematisiert. Es mag hier dahingestellt bleiben, wie eine solche Argumentation im Normalfall begründet wird (cf. jedoch z.B. Sperber 1965, passim); wesentlicher sind hier die Implikationen dieser Argumentation, deren Akzeptabilität dann über die Akzeptabilität der Annahme entscheiden mag, Sprachveränderungen seien ausschließlich performanzbedingt. Für eine Analyse dieser Implikationen 72
ist es sicher angebracht, die Annahme von der Performanzabhängigkeit der Entwicklung der Sprachen etwas genauer zu fassen. Grob skizziert ist eine solche Präzisierung wohl derart möglich: (CI) wird akzeptiert, jedoch durch die Zusatzannahme ergänzt, daß die Sprecher-Hörer in Ρ über v e r s c h i e d e n a r t i g e , etwa durch die in Ρ entwickelten kulturellen Normen, durch Rollenerwartungen und Rolleninterpretationen präformierte V e r w e n d u n g s s t r a t e g i e n Vj, . . . , Vn für eine homogene Kompetenz Κ verfügen, die für alle Sprecher-Hörer dieselbe ist (und, sofern diachron auch von Zustandsfolgen geredet werden soll, auch immer dieselbe war). Die Vj, die sich insofern voneinander unterscheiden, wie sie in distinkten Geltungsbereichen auf syntaktischen, semantischen, phonologischen und pragmatischen Strukturen in Κ operieren, ließen sich dann, eben weil sie von unterschiedlicher Kapazität sind, als konstitutiv für die Instabilitäten und Inhomogenitäten von L auffassen (und damit natürlich auch als konstitutiv für „restringierte" und „elaborierte" Sprechweisen im Sinne Bernsteins, bei dessen „codes" (cf. Bernstein 1962, 1964, passim) es sich genau um solche Vj handeln dürfte, wobei diese Vj, nach Bernstein, hinsichtlich ihrer Kapazität, ihrer Anwendungsfrequenz u.a. auf den Schichtenaufbau einer Gesellschaft projizierbar sind. „Schichtenspezifische Formen des Sprachverhaltens" wären demzufolge eine reines Performanzphänomen; kognitive Leistungen ergeben sich, soweit sie sprachabhängig sind (, wenn sie überhaupt sprachabhängig sind, cf. hierzu Lenneberg 1967, passim), in ihrer Heterogenität mithin als eine Funktion unterschiedlich reicher Vj, die auf einer homogenen Κ -Struktur operieren, genauer: Κ unterschiedlich selektieren, also latent vorhandene sprachliche Möglichkeiten mehr oder weniger umfassend freisetzen). Dieser Ansatz ist jedoch höchst problematisch; er ist, des genaueren, mit dem Begriff der Linguistik als einer empirischen Wissenschaft kaum mehr verträglich. Denn m i t £ wird im Sprecher-Hörer, und dies für a l l e SprecherHörer, die Existenz eines in prästabilisierter Harmonie gegebenen Sprachkenntnissystemes angenommen, also die Existenz einer Entität von der Art der platonischen Ideen, die in allen Sprecher-Hörern zwar präsent ist, und an der die Sprecher-Hörer, ganz im platonischen Sinne, in einer gewissen Art teilhaben, und dies eben dank des Verfügens über die Vj, mit deren Einführung gleichsam ein linguistisches Methexis-Problem gelöst werden soll. Die Lösung dieses Problemes ergibt sich dabei aus einer Zerlegung von/T relativ zu einer Strategie Vj\ das Teilsystem von/C , auf das Vj zutrifft, wird als a k t i v e K o m p e t e n z A T y von dem Teilsystem^ 2 νοηΑΓ, auf das Vj nicht zutrifft, das p a s s i v bleibt, abgetrennt; es gilt dabei offenbar Κ = K J O K 2 · λ . K j C J i 2 = Φ· Die Disjunktion in dieser Aussage ergibt sich sich logisch aus dem Umstand, daß alle V- in ihrer Kapazität nicht umfassend 73
genug sind, um Κ auszuschöpfen; diese Voraussetzung aber muß eingegangen werden: mit der Annahme, daß die VjK ausschöpfen können, wäre zugleich angenommen, daß jene Instabilitäten und Inhomogenitäten, die mit der Methexis-Theorie erklärt werden sollen, gar nicht existieren, da alle Sprecher-HöicrΚ ja in der gleichen Weise ausschöpfen, d.i. es ergähe sich ein Widerspruch zu den Voraussetzungen der Theorienbildung. Es bedarf nun kaum einer Frage, daß mit Κ2 ein Begriff in die Theorie eingeführt wird, der gewissermaßen ο k u 11 ist: eine Kompetenz, die prinzipiell passiv bleiben muß, kann nur unterstellt, nicht aber empirisch belegt werden. Ist dieser Begriff aber einmal eingeführt, so kann sein Gebrauch nicht gleichsam stillgelegt werden, seine weitere Anwendung ist unvermeidlich; die Konsequenzen einer Anwendung dieses Begriffes in einer Methexis-Theorie aber sind wohl unannehmbar. Es mag im synchronen Bereich noch angehen, einen Inhomogenitätsausgleich durch eine K-Konvergenz zu erklären, d.i. durch die Annahme, daß zwei Strategien V^ und Vj derart verändert werden, daß sie den gleichen Κ -Bereich abdecken; diachron gewendet hat die Methexis-Theorie jedoch die absurde Konsequenz, daß Sprachentwicklungen, verstanden als eine Konsequenz der Veränderung der F-Kapazitäten, als ein „Sichvergegenwärtigen" latent bereits verfügbarer Strukturen, also als ihre Aktualisierung zu verstehen ist, mit der zumeist die Deaktualisierung zuvor aktualisierter Strukturen zusammengeht, Sprachentwicklung wäre, strikt platonistisch, als das durch F-Modifikationen determinierte „Erinnern" und „Vergessen" von AT-Strukturen aufzufassen, die Methexis an der platonischen Entität, nicht aber diese Entität könnte Veränderungen erfahren. In konkreto heißt das, daß z.B. angenommen werden muß, daß die Sprecher-Hörer des Mittelhochdeutschen die zur Erzeugung des Neuhochdeutschen erforderliche Kompetenz latent bereits besessen haben, wenn die Entwicklung des Deutschen vom Mittelhochdeutschen zum Neuhochdeutschen im Rahmen einer MethexisTheorie erklärt werden soll, id est (so die Annahme): im Mittelhochdeutschen sind Kompetenzen aktualisiert, die im Neuhochdeztschen deaktualisiert sind, und umgekehrt. Verschiebungen in der Aktualisation latent immer schon vollständig gegebener Kompetenzstrukturen s i n d Sprachentwicklungen. Damit ist klar: mit der Methexis-Theorie wird n i c h t behauptet, daß in der Kompetenz der Sprecher des Mittelhochdeutschen die für die Erzeugung des Neuhochdeutschen erforderliche Kompetenz als eine m ö g l i c h e mit angelegt ist, d.i.: daß gewisse Extensionsmöglichkeiten bestehen und in einer einschlägigen Weise hätten ausgeschöpft werden k ö n n e n (wie es faktisch geschehen ist), sondern dieser m o d a l e Aspekt wird in der Methexis-Theorie dazu benutzt, von der Möglichkeit der Extensionsprozeße auf eine bereits latente Existenz der möglichen Kompetenzsysteme zu schließen. 74
Mit der Einführung des Begriffes „passive Kompetenz" wird möglichen Sprachkenntnissen eine bestimmte „Seinsweise", nämlich „latentes Sein" zugeschrieben; modale Aspekte werden also in ontologische Annahmen umformuliert. Natürlich ist ein solches Vorgehen schon logisch unhaltbar (von der Möglichkeit einer Struktur kann nicht auf ihre Existenz geschlossen werden), aber gleichwohl m u ß auch festgestellt werden, daß durch ein derartiges alogisches Vorgehen die Linguistik als empirische Wissenschaft einer kruden Ontologie geopfert wird, derzufolge die Z u k u n f t der Sprache als ihre bereits latente, gewissermassen präexistente Gegenwart hypostasiert werden muß. Und es liegt auf der Hand, daß die Annahme der ausschließlichen Performanzbedingtheit aller Instabilitäten und Inhomogenitäten der Sprachstruktur auf Grund ihrer ontologischen Konsequenzen zumindest für eine Linguistik ausscheiden muß, die als eine empirische Disziplin konzipiert ist, für die die Gesetze der Logik Gültigkeit haben. Insofern aber ist (NI) gerechtfertigt gegenüber gewissen Ausschließlichkeitsansprüchen der Performanztheorien, wobei allerdings hinzugefügt werden muß, daß sinnvolle Entwürfe zu einer Performanztheorie, die in der Tat wünschenswert wären, natürlich ohne die skizzierten ontologisch-obskuren Annahmen auskommen, Cf. etwa Chomsky-Miller (1963) passim. Jedoch gehen in diese Entwürfe auch nicht die skizzierten Ausschließlichkeitsansprüche ein). Freilich: daß es gelingt, (NI) gegen die Ausschließlichkeitsansprüche zu verteidigen, die beim Aufbau von Performanztheorien im Hinblick auf diachrone Prozeße zuweilen erhoben werden, und so, wenngleich ex negativo, zu einer Objektivierung zu gelangen, heißt allerdings auch, daß die Theorie eines Sprachzustandes, die befriedigende Informationen über seine Struktur und die konkreten Bedingungen seiner Möglichkeit liefern soll, grundsätzlich in der Lage sein muß, die Dynamik der Kompetenzen in Ρ reflektieren zu können, kurz: auch eine diachrone Theorie muß als eine Theorie der Sprachkompetenz aufgebaut werden können. (Und das bedeutet nun weiterhin, daß auch die durch den Ansatz Bernsteins gekennzeichneten soziolinguistischen Probleme, zumindest zu einem nicht unbeträchtlichen Teil, in den Objektbereich einer Kompetenztheorie zu verweisen sind, da im Rahmen einer Performanztheorie bereits die Formulierung dieser Probleme nur dann möglich ist, wenn eine Reihe höchst problematischer ontologischer Hilfsannahmen eingeführt wird. Solche Hilfsannahmen, mit denen eine spekulative Komponente in die Sprachtheorie eingeht, lassen sich ohne weiteres vermeiden, wenn die verschiedenen schichtenspezifischen Formen des Sprachverhaltens auf der Basis eines Kompetenzmodelles zu erklären versucht werden, cf. Abschnitt 4.4.)
75
3
Aspekte einer Integration von Synchronic und Diachronie (A)
3.1
Hypothesenbildung über Systemen von primären Daten (1)
3.1.1 Wird die generative Theorie einer Sprache relativ zu der Idealisierung in (NI) aufgebaut, so m u ß sie in einer Form konzipiert werden, die sich von der Chomsky-Konzeption dieser Theorie wesentlich unterscheidet. Die Änderungen im Aufbau der Theorie betreffen (1) den theoretischen Status einer generativen Grammatik im Rahmen der Theorie einer natürlichen Sprache, (2) die Grammatizitäts-Theorie und (3) die Theorie der primären linguistischen Daten und damit auch die Praxis der Hypothesenbildung in der Linguistik, die sich wohl in einer Analogie zum Spracherlernungsprozeß, jedoch nicht analog zu den von Chomsky überidealisiert dargestellten Spracherlernungsprozeßen vollziehen kann. Das bedeutet: die Menge D der primären linguistischen Daten kann nicht, wie in der ChomskyKonzeption (cf. Fig. 1), als homogen angesehen werden; die durch Beobachtung gewonnenen Daten müßen vielmehr so organisiert werden, daß ihre Organisation die Heterogenität der Sprachkenntnisse der P j in Ρ reflektiert. Bereits bei der Hypothesenbildung, genauer: bereits bei der Zusammenstellung von D hat eine erste Strukturierung von Ρ zu erfolgen, und das heißt: die unterschiedlichen Sprachkenntnisse der P j müssen in unterschiedlichen Datensystemen belegt werden. Entsprechend muß D zunächst in endlich viele, nicht notwendig disjunkte, qualitativ distinkte Mengen Dy, £>2 D n zerlegt werden; für D insgesamt gilt also D = Di wobei das System der Dj die Sprachkenntnisse, über die die Gruppen Pj, P2, . . . . Ρ m Ρ verfügen, p a r t i e l l belegt. Die Zerlegung der im Sinne der Chomsky-Konzeption als homogen zu denkenden Datenmenge D in ein Datensystem ist der erste Schritt beim Aufbau einer generativen Konzeption, die die Inhomogenität und Instabilität der Sprachkenntnisse in Ρ erfassen soll. 3.1.2 Ist das Datensystem zusammengestellt, sind also Datenmengen D j , D2, • • , D n gegeben, so müssen diese Datenmengen auf die Sprecher76
Hörer-Gruppen, die in Ρ koexistieren, projiziert werden, wobei eine Menge D j einer G r u p p e P- genau dann und nur dann zugeordnet wird, wenn / = / gilt. Mit anderen Worten: es werden die Paare (Dj, P j ) (D)V Pm) (n =m) hergestellt; sodann sind über den Dj endlich viele, nicht notwendig disjunkte und qualitativ distinkte G r a m m a t i k e n a u f z u b a u e n , die die Sprachkenntnisse der P j vollständig erklären und beschreiben, also die Mengen von grammatischen Sätzen in L(Pj und nur diese k o r r e k t voraussagen. Das System dieser Grammatiken ist also ein System von auf der Basis der D j entwickelten (und zwar n i c h t i n d u k t i v entwickelten, u n d , wie sich aus der partiellen Belegung der Sprachkenntnisse und d e m Anspruch auf vollständige Erklärung und Beschreibung ergibt, auch nicht induktiv zu entwickelnden) Hypothesen über die Sprachkenntnisse der /"·; dabei ist aus Gj, G2, . . . . Gn eine generative G r a m m a t i k G^ einem Paar (Dj, Pj) jeweils derart zugeordnet, daß / =j =k gilt. Das System der G r a m m a t i k e n , das als eine Repräsentation der in Ρ koexistierenden Systeme von Sprachkenntnissen interpretierbar ist, liefert dann, in einer ersten A p p r o x i m a t i o n , die Theorie Τ der in Ρ gesprochen Sprache L, das heißt: sie sagt die Mengen von grammatisch k o r r e k t e n Sätzen voraus, die die G r u p p e n auf Grund ihrer Sprachkenntnisse erzeugen k ö n n e n ; diese Satzmengen l j , I2 l n lassen sich dabei als „Sprachen in Z," d e u t e n , die in der gruppeninternen K o m m u nikation verwendet werden (und die einschlägig erweitert werden müssen, u m eine reibungslose g r u p p e n e x t e r n e K o m m u n i k a t i o n zu ermöglichen). Symbolisiere ,JW" den Begriff „ S a t z m e n g e " , dann gilt also: M(Gj) =l^,M(G2J =l2< · · · • M(Gn) =ln und L = jQj lj. Mit diesen Formeln wird in einer gewissen Näherung der Heterogenität natürlicher Sprachen R e c h n u n g getragen; ebenso wie das Grammatiken-System ja auch die zugrundeliegende Heterogenität der Sprachkenntnisse in Ρ reflektiert. Denn dieses System ist als Repräsentation der in Ρ koexistierenden und L zugrundeliegenden Systeme von Sprachkenntnissen empirisch deutbar; das GrammatikenSystem liefert damit eine (wenngleich noch unvollständige) Theorie Τ der in Ρ gesprochenen Sprache L. Die Konsistenz dieser Theorie allerdings entscheidet sich nicht, gleichsam k r a f t gesicherter I n d u k t i o n , im Prozeß der Hypothesenbildung, sondern erst in der empirischen Prüfung des Grammatiken-Systemes, beim erklärten Versuch einer Falsifikation der von Τ ermöglichten grammatischen Prognosen; und erst d a n n , w e n n das Grammatiken-System sich gegenüber einem solchen gezielten Falsifikat ions versuch bewährt hat, kann zu entscheiden versucht w e r d e n , in welchem Grade Τ bestätigt ist (cf. zur Bestätigungsproblematik Kap. 7; linguistische Prüfungsverfahren und Beispiele für deren A n w e n d u n g finden sich in Davy-Quirk ( 1 9 6 9 ) und Quirk-Svartik ( 1 9 6 6 ) passim.) Und welchen Bestätigungsgrad 77
Τ zu erreichen vermag, hängt davon ab, inwieweit das Grammatiken-System die Klasse Sj, S2> · · • v o n g r a m m a t ' s c h korrekten Sätzen in L(P) konsistent erzeugt und die Klasse SBj, SB2, • . . von einschlägigen Strukturbeschreibungen korrekt aufzählt, wobei die Klasse der SBj derart in die Klasse der Sj abgebildet werden muß, daß mit der Abbildung erklärt wird, wie die Pj in Ρ die s j , · •• der Kommunikation verstehen. Liefert die Abbildung diese Erklärung nicht, ist sie inadäquat. Für die Herstellung einer qualifizierten Abbildbeziehung ist dabei zu beachten, daß die Theorie T, die aus einem System qualitativ unterschiedener generativer Grammatiken aufgebaut ist, gerade nicht eine Repräsentation von L liefert, die homogen ist, sondern L wird i n h o m o g e n , a l s d a s S y s t e m d e r /• e r z e u g t , und in dieses System muß die Abbildung entsprechend erfolgen. — Festzuhalten bleibt noch, daß eine Datenmenge Dj, eine Sprecher-Hörer-Gruppe Pj in P, eine Grammatik G^ aus dem Grammatiken-System und eine Sprache lj in L einander genau dann zugeordnet sind, wenn i =j =k =1 gilt. Das System der Dj liefert dabei, speziell im Fall seiner Erweiterung n a c h dem Aufbau der Theorie Τ jene Basis, auf der Τ empirisch überprüft werden kann. Und wird beim Aufbau der Theorie einer natürlichen Sprache nach den Prinzipien „Prüfung der Theorie" und „Korrektur der Theorie" verfahren, wird weiterhin jede Revisions- und Verbesserungsmöglichkeit beim Aufbau der Theorie genutzt, so besteht eine begründete Aussicht, zu einer befriedigenden linguistischen Erklärung und Beschreibung der in Ρ verfügbaren Sprachkenntnisse und damit der Struktur der in Ρ gesprochenen Sprache /, zu gelangen. 3.1.3 Natürlich läßt sich auch eine Praxis der Hypothesenbildung, die zu einer Theorie Τ qua Grammatiken-System führt, in Relation zum Spracherlernungsprozeß setzen; hier würden dann als die Eingabe des SAM die gruppenspezifisch strukturierten Datenmengen fungieren, seine Ausgabe wäre dann ein Grammatiken-System, in dessen Grammatiken die Sprachkenntnisse der verschiedenen Sprecher-Hörer belegt sind. Werden diese Gegebenheiten auf die Situation des Linguisten transponiert, so heißt das: die Theorie Τ stellt einen Eingabe-Ausgabe-Mechanismus dar, dessen Eingabe die Dj und dessen Ausgabe a l l e /· in L sind, id est: Τ gibt L aus; um dies aber leisten zu können, muß Τ als ein Grammatiken-System, das die Heterogenität der Mengen der grammatisch korrekten Sätze in L reflektiert, konzipiert sein. Graphisch läßt sich dieser Eingabe-Ausgabe-Mechanismus (mit gewissen Vereinfachungen) darstellen, indem F i g . 1 folgendermassen modifiziert wird:
78
Fig.2
Die Darstellung in F i g . 2 ist insofern eine Vereinfachung, wie sie den Eindruck vermittelt, daß die Datenmengen, die Grammatiken und die Sprachen in L lediglich paarweise nicht disjunkt seien, während es faktisch (cf. Abschnitt 2.4) einen nicht leeren gemeinsamen Durchschnitt aller Datenmengen, Grammatiken und Sprachen in L gibt. — Darüber hinaus aber ist der Gesamtprozeß der Hypothesenbildung relativ zu einer Inhomogenitäts-Annahme bislang noch keineswegs vollständig beschrieben: so bleibt der in (Nl) angenommene grammatische Interaktionsprozeß unberücksichtigt (cf. jedoch Abschnitt 3.6), die gesamte Grammatizitätsproblematik wurde bisher nicht behandelt (cf. jedoch die Abschnitte 3.3 und 3.4), schließlich ist auch noch nichts über die spezifische Ordnung der Grammatiken, die L erzeugen, und damit die Ordnung der Sprachen in L gesagt (cf. jedoch Abschnitt 3.2). Gleichwohl aber wird bereits in dieser 79
Phase der Hypothesenbildung zweierlei deutlich: erstens nämlich der Umstand, daß es grundsätzlich möglich ist, die generative Theorie einer Sprache — etwa in Form eines Grammatiken-Systemes — so aufzubauen, daß sie die Heterogenität der Sprachkenntnisse in Ρ und damit auch die Mehrdimensionalität von L zu ihrem Gegenstand zu nehmen vermag, und zweitens wird deutlich, daß eine derart aufgebaute Theorie sich in wesentlichen Aspekten von der Chomsky-Konzeption der generativen Theorie einer Sprache unterscheiden wird. Und sollte sich die interne Konsistenz beider Auffassungen von „Theorie einer Sprache" nachweisen lassen, so kann die Konkurrenz der beiden Auffassungen nur mit externen Gründen, also empirisch entschieden werden, id est: der Grad der effizienten Anwendbarkeit der Theorie wird es sein, der eine Auszeichnung einer der beiden Auffassungen von Theorie erlaubt.
3.2
Charakteristik der Struktur eines Grammatiken-Systemes
3.2.1 Mit der Beschreibung des Prozesses der Hypothesenbildung (, die zudem noch unvollständig ist,) ist natürlich noch nichts über die Struktur der generativen Theorie einer Sprache L gesagt, die in Form eines Systemes von koexistierenden Grammatiken, als ein K o e x i s t e n z m o d e l l aufgebaut wird. Diese Struktur kann nur dann genauer entwickelt werden, wenn das Grammatiken-System und die Voraussetzungen eines Aufbaus eine formale Charakteristik erfahren, die zumindest hinreichen sollte, die Möglichkeit einer Integration von Synchronic und Diachronie, die durch das Koexistenzmodelija vor allem bewirkt werden soll, auch unter formalen Aspekten einsichtig zu machen. Und im Hinblick darauf lassen sich nun einige Festlegungen, Definitionen, Postulate und Annahmen formulieren, mit denen zumindest eine Grundstruktur des Modells gewonnen werden kann, relativ zu der dann eine Interpretation des Modelles, die Synchronie und Diachronie gleichermaßen erfaßt, vorgenommen werden kann (cf. Kap. 4). 6 Um diese Grundstruktur entwickeln zu können, sind zunächst die folgenden Festlegungen erforderlich: 6
Es ist nicht das Ziel der folgenden A u s f ü h r u n g e n , eine axiomatische Theorie von Synchronie und Diachronie zu entwickeln. Vielmehr soll lediglich — u n d dies allerdings auch mit f o r m a l e n Mitteln - ein R a h m e n umrissen werden, in d e m der A u f b a u einer axiomatisch-diachronen Sprachtheorie, die einer signifikanten empirischen Interp r e t a t i o n fähig ist, im Prinzip möglich ist. Daß eine weitere Präzisierung der folgend e n A n n a h m e n unerläßlich ist, steht a u ß e r Frage; d a ß sie einer solchen Präzisierung j e d o c h nicht n u r bedürftig, sondern a u c h fähig sind, sollte in der Skizze mit d e u t lich w e r d e n .
80
(22)
Ρ ist eine endliche natürliche Sprachgemeinschaft.
(23)
G ist eine endliche Menge von grammatischen Regeln.
(24)
Gp ist die Menge der Regeln aus G, die von
befolgt werden.
Mit den Festlegungen (22) — (24) wird lediglich gesagt, daß für jeden Sprecher-Hörer ρ aus Ρ gilt, daß er eine Teilmenge der in Ρ verfügbaren Regelmenge G internalisiert hat; daß jeder Sprecher-Hörer also über eine gewisse sprachliche Kompetenz, über gewisse grammatische Kenntnisse verfügt, die Voraussetzung für die Beherrschung der Sprache L(Pj sind. Festgelegt werden muß nun noch, wie die Menge G auf die Sprecher-Hörer bezogen ist; axiomatisch läßt sich hier fordern up ep Gp = G (25) läßt sich als ein „Ausschöpfungsaxiom" begreifen, denn mit (25) wird gefordert, das die Sprecher-Hörer aus Ρ die Menge G in dem Sinne ausschöpfen, daß es keme Regel in G gibt, die nicht mindestens von einem Sprecher-Hörer in Ρ internalisiert wurde und somit zu seinen Sprachkenntnissen rechnet. Ist das Axiom in (25) erfüllt, läßt sich eine endliche Überdeckung von Ρ und G annehmen; eine Annahme, die aus empirischen Gründen entscheidend wichtig ist, da mit ihr die Zuordnung von Ρ und G genauer spezifiziert werden kann. Was es mit einer solchen Zuordnungsannahme auf sich hat, läßt sich zunächst graphisch verdeutlichen:
Fig. 3
81
Die in F i g . 3 (zwar nicht in aller Vollständigkeit, aber doch deutlich genug) skizzierte e n d l i c h e U b e r d e c k u n g von Ρ und G macht deutlich, daß beim Aufbau eines Koexistenzmodells z u n ä c h s t von idiosynkratischen, sprecherspezifischen Sprachkenntnissen ausgegangen wird, daß also, nach (24), jedem Sprecher-Hörer aus Ρ spezielle Regeln aus G zugeordnet werden. Zugleich wird aber auch deutlich, wie durch eine explizite Idealisierung des Sprecher-Hörers, die schwächer als jene in (CI) ist (wo eine solche Idealisierung nach dem Überdeckungsprinzip zwar implizite vorausgesetzt, aber formal nicht entwickelt wird), eine mögliche und höchst problematische Idiosynkratisierung der linguistischen Theorie vermieden werden kann: indem nämlich, wie in F i g . 3 schon skizziert, zusammenfallende Gp, G .. . aus G als Systeme äquivalenter Sprachkenntnisse aufgefaßt werden. Und wenn diese Äquivalenz n i c h t für a l l e G , Gg, . . . aus C behauptet wird, lassen sich die Sprachkenntnisse in Ρ auf einem sehr viel niedrigeren Idealisierungsniveau zum Gegenstand der Theorie nehmen, als es in (CI) vorgeschlagen wird, denn (CI) ist, so gesehen, nichts anderes als die Festlegung, daß alle G , G , . . . aus G äquivalent miteinander sind. — Die erforderliche schwächere Idealisierung läßt sich nun folgendermaßen entwickeln: (26)
ρ ~q
**Gp=
Gg für p, q GP
Mit (26) ist nun eine Möglichkeit gegeben, den Begriff der „SprecherHörer-Gruppe" dadurch einzuführen, daß die Äquivalenzbehauptung genauer spezifiziert, und zwar derart, daß als äquivalente Sprecher-Hörer diejenigen aufgefaßt werden, die dasselbe Regelsystem aus G befolgen, wenn nicht für alle Sprecher-Hörer in Ρ gilt, daß sie dasselbe Regelsystem aus G befolgen: (27)
Es gibt eine endliche Indexmenge / , Regelmengen G• C G mit i S / und Teilmengen A C Ρ derart, daß 1. G- = Gj *+i=j 2. Zu jedem ί S / existiert ein ρ ·
-cons +comp +stress
-cons -comp -stress
Φ I— . +comp. (Vasiliu 1966, 86-87)
5.3.2 Aus der Grundmenge phonologischer Regeln in (72) wird bei der Erzeugung von L g eine gruppenspezifische Auswahl getroffen; diese Auswahl, die die Sprachkenntnisse der /^yj-Sprecher-Hörer disponiert, legt den Aufbau der verschiedenen gruppenspezifischen phonologischen Systeme Gpj, Gp2· • • · Gp^ ^ e s t · ' n denen die Sprachkenntnisse der Gruppen Pj, . . . , Ρ^ erfaßt sind. Für diese Auswahl ist erstens die inhomogene Distribution der Regeln aus (72) und zweitens die unterschiedliche Ordnung der Regel, die ausgewählt werden, charakteristisch. Dieser Sachverhalt läßt sich folgendermaßen beschreiben: I j j j f j -Grammatik Gpj
:=
a - b - c - d - e - f - h - i -j - k
/ß^-Grammatik Gp^ : =
a - b — c - d - e - f - j -- k - g - a a - b - c -d - e - f - h - i - j k - g - a a - b - e - f - h - i - j - k
/^^j-Grammatik Gp^ : =
a - b - e - f - c - h - i- j - k
/^^-Grammatik Gp^ : =
a - b - f - c - h - i - j " k
'ß/?2"C' ramma, 'l·; Gp2 • /ßßj-Grammatik Gpj : =
/
Die Systeme in (73) beschreiben die Sprachkenntnisse, über die sechs Sprecher-Hörer-Gruppen Pj, . • i n phonologischer Hinsicht verfügen; 185
die G p j sind dabei den P j eindeutig zugeordnet. (Man beachte dabei, daß diese phonologischen Systeme geordnete Regesysteme sind; die Anwendungsfolge der Regeln k a n n also nicht beliebig verändert werden.) — Die Spezifikation in ( 7 3 ) unterscheidet sich geringfügig von d e n A n n a h m e n Vasilius, der zunächst t ß g j , lßR2 u n < ^ ^DR3 Z U größeren Gruppe der „Muntenian Dialects" zusammenfasst, I ß g j und als „Moldavian Dialects" kennzeichnet und I ß g ^ als „ p o i n t 8 3 3 dialect" referiert. Allerdings ist die weitere Differenzierung dieser G r u p p e n in ( 7 3 ) konsistent mit Vasilius Strukturierungsvorschlag; hinzu k o m m t , d a ß Vasilius sprachgeographisch motivierter Gliederungsvorschlag im R a h m e n einer Theorie der Nachbarschaftsgrade, wie sie d u r c h ein Koexistenzmodell möglich wird, ein strukturelles Korrelat f i n d e n k a n n : d e n n es liegt auf der Hand, daß Vasilius Zusammenfassung der Dialekte zu größeren G r u p p e n genau den Nachbarschaftsbeziehungen entspricht, die zwischen diesen Dialekten bestehen. — Festzuhalten bleibt weiterhin, d a ß der phonologische Standard der G p j für die I ß g j genau von der folgenden ( u n g e o r d n e t e n ) Menge erfaßt wird: (74)
a, b, f, j ,k
Mit ( 7 4 ) ist o f f e n b a r nichts anderes als der Durchschnitt der Gpgegeben; der Umstand, d a ß ( 7 4 ) eine ungeordnete Regelmenge ist, verdeutlicht dabei, d a ß das System der G p j (im Sinne von (38)) nicht abgeschlossen gegenüber der Durchschnittsoperation ist; ( 7 4 ) liefert also nicht w i e d e r u m eine G r a m m a t i k (alle G r a m m a t i k e n in ( 7 3 ) sind geordnete Regelmengen), entsprechend gibt es auch keine Standard-Grammatik, die eine Standard-Sprache in L g erzeugt; vielmehr ist das G p - S y s t e m , wie jedes GrammatikenSystem, verzweigt geordnet. 5.3.3 Vasiliu geht in seiner Analyse auf Extensionsmöglichkeiten nicht ein; gleichwohl ist es wohl einsichtig, d a ß auf die Systeme in ( 7 3 ) Extensionsregeln durchaus angewendet werden k ö n n t e n : d a ß also auch für die L^-Sprecher-Hörer durchaus Infusionsmöglichkeiten bestehen ( u n d entsprechend natürlich Diffusionsmöglichkeiten, die weitere Entwicklungen in L g auslösen k ö n n e n ) . Um nur ein Beispiel zu geben: mit der folgenden einfachen Regel k ö n n t e (zumindest im phonologischen Bereich) ein Totalausgleich der Sprachkenntnisse von Ρ ^ und Ρ j bewirkt werden, der gewisse Inhomogenitäten der Z ^ - S t r u k t u r abbaut und k r a f t dessen eng benachbarte Systeme ineinander überführt: (75)
Gpj· Extension
zu Gpy Erweiterte Gp^ um Regel (c) aus
(72) derart, daß Regel (c) in der Rcgelordnung von G p j unmittelbar auf Regel ( 0 folgt und Regel (h) unmittelbar vorausgeht.
186
Wird die in (75) beschriebene Infusionsmöglichkeit genutzt, ergibt sich offenbar Gp^ = Gp$ und damit auch IßR^Gp^) = (Gp$)\ dieselben Grammatiken erzeugen dieselben Satzmengen. Und mit einer derartigen Infusion würde natürlich auch das Ausmaß der Toleranzerfordernisse reduziert, die der kommunikative Gebrauch von L ^ bedingt. — Anzumerken bleibt weiterhin, daß auch Vasiliu in seiner B e s c h r e i b u n g der phonologischen /.^-Struktur darauf hinweist, daß sinnvoll angenommen werden kann, daß zwischen den koexistierenden Systemen aus (73) auch diachron differenziert werden kann und muß, daß also wie auch immer spezifizierbare Phasenabstände zwischen diesen Systemen bestehen (cf. Vasiliu 1966, 96—97); er setzt mithin für seine Analyse voraus, daß Synchronic und Diachronie einander gewissermaßen durchdringen. Das aber heißt nicht anderes als dieses: wenn diese Analyse theoretisch abgesichert werden soll, muß eine Sprachtheorie vorausgesetzt werden, die über jene Eigenschaften verfügt, die ein Koexistenzmodell im Gegensatz zur ChomskyKonzeption aufweist.
187
6
Bemerkungen zur diachronen Analyse der Sprachstruktur
6.1
Hypothesenbildung über Systemen von primären Daten (2)
Die Aufgabe der linguistischen Forschung besteht darin, möglichst effiziente Hypothesen über die Struktur von Sprachzuständen sowie, in einer Erweiterung dieser Aufgabenstellung, über die Struktur von Folgen von Sprachzuständen zu entwickeln; es geht also, allgemeiner gesagt, in der Sprachwissenschaft im wesentlichen darum, über gewissen Objektbereichen Hypothesen aufzubauen, mit denen explanative und deskriptive Adäquatheit erreicht werden kann, und zur Klasse der einschlägigen Objektbereiche rechnen mit Sicherheit auch Sprachzustände und Zustandsfolgen. Inwieweit nun für diese Objektbereiche effiziente Hypothesen entwickelt werden können, hängt nicht zuletzt davon ab, ob es zulängliche Datensysteme als Ausgangspunkte der Hypothesenbildung gibt. Dabei ist klar, daß die Möglichkeiten der Hypothesenbildung sehr viel günstiger sind, wenn aktualisierte Sprachzustände zum Gegenstand einer Untersuchung genommen werden: in einer solchen Untersuchung kann über beliebig erweiterbare Datensysteme verfügt werden; es liegen (direkte oder indirekte) Grammatizitätsbewertungen der Sprecher-Hörer explizit vor, usf.; die Analysegenauigkeit kann entsprechend stetig gesteigert werden, indem neues Datenmaterial verfügbar gemacht wird und die Hypothese diesem Material, in gleichsam stetiger Progression ihrer Adäquatheit, angepaßt wird. Diese Möglichkeit besteht offenbar nicht, wenn nicht-aktualisierte Sprachzustände Gegenstand der Untersuchung sind: das verfügbare Datenmaterial ist endlich und in aller Regel auch erschöpfbar; weiterhin liegen keine das Datenmaterial weiter strukturierenden Grammatizitätsbewertungen der Sprecher-Hörer vor, kurz: auf Grund gewisser Unzulänglichkeiten der verfügbaren Datensysteme wird die Hypothesenbildung erheblich erschwert. Das wirkt sich sowohl auf die synchrone als auch auf die diachrone Forschung aus, hat aber wohl schwerwiegendere Konsequenzen für die Diachronie: zwar können auch nicht-aktualisierte Sprachzustände zum Objekt synchroner Theorien genommen werden, aber im Rahmen der Diachronie 188
m ü s s e n diese Zustände analysiert werden: jede Zustandsfolge enthält nicht-aktualisierte Sprachzustände, und sofern eine vollständige diachrone Theorie aufgebaut werden soll, muß diese Theorie auch von Zustandsfolgen handeln. Das wirft natürlich eine Reihe von Problemen auf, deren Lösung durch die in (NI) enthaltend Spezifikation des Aufbaus von Sprachzuständen zusätzlich erschwert wird, da auch bei der Aufarbeitung einer Datenmenge D, die einen nicht mehr aktualisierten Sprachzustand belegt, eine Zerlegung von D in Mengen Dj, . .. , Dn erfolgen muß; mit anderen Worten: es kann, wiederum aus Adäquatheitsgründen, nicht darauf verzichtet werden, D im Hinblick auf Inhomogenitäten zu analysieren. Eine solche Analyse aber ist ganz ohne Zweifel nicht immer möglich; nicht-aktualisierte Sprachzustände sind häufig nur in einer der /· belegt, aus denen sich der Zustand zjL) aufbaut; Inhomogenitätsannahmen sind dann prinzipiell nicht mehr möglich, entsprechend wird die diachrone Analyse der Sprachstruktur unvollständig ausfallen müssen (, was natürlich auch auf die für eine Theorie der Zustandsfolgen erreichbare Vollständigkeit Rückwirkungen haben wird). Auf Grund empirischer Gegebenheiten kann also der Fall eintreten, daß eine gewisse Unvollständigkeit einer Theorie in Kauf genommen werden muß. Allerdings bleibt festzuhalten, daß auch nichtaktualisierte Sprachzustände unter gewissen Bedingungen als inhomogen erkannt werden können, die Beleglage also nicht immer Unvollständigkeiten der Theorie nach sich zieht; das Datenmaterial kann durchaus hinreichend differenziert sein (etwa durch Oppositionen wie P r i e s t e r s p r a c h e vs. G e s c h ä f t s b r i e f e , die in der Klasse der Belegtexte zuweilen nachweisbar sind), um gewisse Inhomogenitäten der Sprachstruktur explizieren zu können; weitere Explikationsmöglichkeiten lassen sich speziell durch die Anwendung sprachgeographischer Verfahren gewinnen (cf. etwa Karas 1968, 4 1 5 - 4 2 0 ) , sodaß bei der Hypothesenbildung eine zumindest relative Vollständigkeit durchaus erreicht werden kann. Die Analysierbarkeit inhomogener Strukturen ist also, unter gewissen Voraussetzungen, auch dann gegeben, wenn es nicht-aktualisierte Sprachzustände sind, die zum Gegenstand einer synchron-diachronen Untersuchung genommen werden. Sind diese Voraussetzungen jedoch nicht erfüllt, können im strengen Sinne explanative und deskriptive Systeme nicht konstruiert werden; es muß zwangsläufig beim Aufbau von Erklärungs- und Beschreibungs s k i z z e n bleiben, deren Komplettierung auf Grund einer speziellen Datenlage prinzipiell unmöglich ist.
189
6.2
Charakteristica der diachronen Linguistik-Konzeption
6.2.1 Beim Aufbau einer diachronen Theorie ist es zunächst unerläßlich, sich des genaueren der Aufgaben zu vergewissern, die diese Theorie bewältigen soll. Denn nur wenn die Aufgabenstellung hinreichend spezifiziert ist, kann verhindert werden, daß von der Theorie Leistungen verlangt werden, die sie ihrer Natur nach nicht zu erbringen in der Lage ist; nur eine klare Formulierung der Aufgabenstellung erlaubt eine ebenso klare Formulierung von Effizienzkriterien, die der intendierten Reichweite der Theorie angepaßt sind. — Nun sollen mit einer Theorie der Sprachentwicklung — genauer: mit einer Theorie der Entwicklung von Sprachkenntnissen, einem diachronen Kompetenzmodell — der linguistischen Tradition entsprechend i m m e r z w e i Fragen beantwortet werden, die strikt voneinander zu unterscheiden sind und deren Verhältnis zueinander hinreichend klar bestimmt werden muß, um nicht durch eine Vermengung distinkter Explanationsbedürfnisse und möglicherweise in der Konsequenz einer Verfehlung epistemologischer Prioritäten oder, vor allem, in der Konsequenz einer inkonsistenten Spezifikation von Objektbereichen an die diachrone Theorie eine Aufgabenstellung heranzutragen, deren Bewältigung mit rein linguistischen Verfahren ohnehin nicht erreicht werden kann: die Aufgabe einer diachronen Theorie besteht (1) darin, ein Modell für den Ablauf von Sprachentwicklungsprozessen zu liefern (sie muß also spezifizieren, w i e Sprachen sind verändern), und sie muß (2) Auskunft darüber geben, w a r u m solche Entwicklungsprozesse stattfinden. Dabei ist nicht zu erwarten, daß eine diachrone linguistische Theorie a l l e für die Beantwortung dieser Fragen relevanten Aspekte erfaßt; die Theorie kann, schon den Bedingungen ihrer Möglichkeit zufolge, keine sprachexternen Gegebenheiten analysieren, ihre Anwendbarkeit ist auf rein sprachinterne Aspekte beschränkt — die Menge dieser Aspekte allerdings muß sie ausschöpfen können, die Analyse muß, anders gesagt, vollständig sein können. Mit dieser Vollständigkeitsforderung kann nun sinnvollerweise nicht die Forderung nach einer Zusammenfassung aller Fakten zu einem Faktenaggregat gemeint sein, es geht vielmehr daurm, daß die unter (1) und (2) referierten Fragestellungen durch die Angabe von Prinzipien zu beantworten sind, die für alle empirisch aufweisbaren Fälle von Sprachentwicklung einschlägig sind; es geht bei der Beantwortung von (1) und (2) um Prinzipien der Sprachentwicklung. Wie Poppers generelle Induktionskritik (cf. Popper 1969, passim) verdeutlicht, können solche Prinzipien nicht aus Einzelfakten induziert werden; entsprechend bleibt nur die Möglichkeit, diese Prinzipien im Rahmen einer Konzeption hypothetisch zu formulieren, die 190
Brauchbarkeit der durch diese Konzeption ermöglichten Theorien, der Grad ihrer empirischen Bewährung, entscheidet dann letztlich über die Stringenz der vorgeschlagenen Prinzipien. Die im Rahmen des Koexistenzmodelles (hypothetisch) formulierbaren Prinzipien der Sprachentwicklung lassen sich nun dahingehend charakterisieren: 1. Mit einem diachronen interpretierten Koexistenzmodell wird ein dynamisches Kompetenzmodell aufgebaut; in diesem Modell wird die Sprachentwicklung als eine Funktion der Diffusion von Sprachkenntnissen in einer Sprachgemeinschaft Ρ gedeutet. Die Diffusion wird durch einschlägig interpretierte Extensionssysteme reflektiert, mithin also durch transformationelle Systeme; die Sprachentwicklung weist somit eine spezifische Transformationsstruktur auf, und eine generative Diachronie läßt sich entsprechend als eine transformationelle Diachronie auffassen. — Frage (1) wird also in einem Koexistenzmodell, unter den Interpretationsvoraussetzungen aus Kap. 4, durch die Angabe eines Diffusionsprinzipes beantwortet; eines Prinzipes, demzufolge Sprachentwicklung sich in der Konsequenz einer Transformation (oder, was dasselbe meint, einer Extension) von Sprachkenntnissen in Ρ ergibt. Anders gesagt: sei SEM der „Mechanismus der Sprachentwicklung", so ist SEM ein System, dessen Eingabe bereits in Ρ verfügbare Sprachkenntnisse sind, und bei dessen Ausgabe es sich um neu gewonnene Sprachkenntnisse handelt, die die Eingabe-Sprachkenntnisse ersetzen. Die Leistung von SEM besteht darin, bereits verfügbare Sprachkenntnisse in neue Sprachkenntnisse zu überführen; SEM erbringt damit eine spezifische Transformations- oder, in der Sprache des interpretierten Modelles, eine charakteristische Diffusionsleistung. B e i d e m Prinz i p d e r S p r a c h e n t w i c k l u n g , das sich relativ zu einem Koexistenzmodell behaupten läßt, h a n d e l t e s s i c h also, allgemein gesagt, u m e i n D i f f u s i o n s p r i n z i p , d e m z u folge die S p r a c h e n t w i c k l u n g als ein transf o r m a t i o n e l l e r P r o z e ß a u f z u f a s s e n i s t . Der generelle Charakter dieser Annahme garantiert die Vollständigkeit der mit ihr erfolgten Antwort auf Frage (1); er garantiert weiterhin die hochgradige empirische Prüfbarkeit dieser Annahme und damit, im Sinne von Kap. 1, ihre Wissenschaftlichkeit. 2. Die Annahme eines Diffusionsprinzipes der Sprachentwicklung hat natürlich auch Rückwirkungen auf die genauere Formulierung der Frage (2); die Frage, warum die Sprachen sich entwickeln, läßt sich des genaueren als die Frage reformulieren, warum in einer Sprachgemeinschaft Ρ Diffusionsprozesse ablaufen; im gleichen Sinne ließe sich fragen, unter 191
welchen Bedingungen Eingaben in SEM erfolgen. — Die Antwort auf diese Frage, die durch ein Koexistenzmodell nahegelegt wird, überschreitet (im Gegensatz zu der auf Frage (1) gegebenen Antwort) bereits den Bereich der Linguistik i.e.S. und integriert Annahmen speziell der Psycholinguistik: denn diese Antwort besagt, daß Diffusionsprozesse durch den Versuch ausgelöst werden, die Kommunikationsmöglichkeiten in Ρ zu optimieren und entsprechend die Inhomogenitäten der Sprachstruktur abzubauen. Dieser Versuch wirkt sich in der Umstrukturierung der internalisierten Grammatik aus; einer Umstrukturierung, die darauf abzielt, Semigrammatizitäten in L zu beseitigen und das Zentrum von L (im Sinne von § 3.3.2) wenn möglich auszubauen und zu stabilisieren, wobei die systematische Unvollständigkeit dieser Stabilisierungsversuche wiederum neue Diffusionen auslöst usf; die Optimierungsversuche wirken keinesfalls retardierend auf die Sprachentwicklung, sondern steigern im Normalfall sogar die Diffusionsintensität (cf. Abschnitt 6.5), also die Intensität der Sprachentwicklung. Allerdings bedarf es wohl kaum des Hinweises, daß eine Deutung des Diffusionsprinzipes als eines Optimierungsprinzipes kaum hinreichend für eine vollständige Antwort auf Frage (2) sein kann: die Deutung träfe erstens nur für konservative Diffusionen (, die lediglich eine Neuverteilung der Sprachkenntnisse in Ρ bewirken,) zu, denn nicht-konservative Diffusionen (, die nicht eine Neuverteilung, sondern eine echte Innovierung der Sprachkenntnisse in Ρ bewirken und somit die eigentlich relevanten Objekte der Diachronie spezifizieren) lassen sich wohl kaum als Kommunikationsoptimierungen verstehen; sie verursachen ja geradezu eine Destabilisierung des Kommunikationsniveaus. Und dieser Unvollständigkeit der Deutung korrespondiert zweitens der Umstand, daß Sprachentwicklung immer auch ein sozial gesteuerter Prozeß ist: Innovationen werden häufig nur deshalb vorgenommen, um den sozialen Rang einer Schicht sprachlich zu indizieren und zu stabilisieren (cf. Weinrich-HerzogLabov 1968), die gleiche Funktion kann ein systematischer Innovationsverzicht aufweisen, der einen sehr konservativen Sprachgebrauch in einer Schicht bewirkt (cf. Labov 1966), kurz: es gibt eine Reihe von soziolinguistischen Parametern, ohne deren Spezifizierung die Frage unter (2) sich nicht vollständig beantworten lassen wird. Das Bedingungensystem, das die Eingabe in SEM steuert, den Diffusionsprozeß also reguliert, läßt sich beim derzeitigen Stand der Forschung nicht hinreichend entwickeln; es wird sich, darüber hinaus, wohl auch kaum im Rahmen einer (wie auch immer angelegten) linguistischen Diachronie aufbauen lassen, Zusatzannahmen aus Psycholinguistik und Soziolinguistik werden in jedem Fall erforderlich sein, wenn ein Bedingungensystem angegeben werden 192
soll, das einige Bestimmtheit aufweist. (Denn offenbar ist es mit allgemeinen Ausführungen über soziolinguistische bzw. psycholinguistische Bedingungen nicht getan; es muß vielmehr versucht werden, diese beiden Perspektiven durch die Angabe bestimmter Bedingungen zu konkretisieren.) Zusammenfassend läßt sich also sagen, daß nur die Frage (1), die Frage nach dem Ablauf von Sprachentwicklungen einer hinreichenden linguistischen Antwort fähig ist. Frage (2), die Frage nach den Gründen für das Zustandekommen von Sprachentwicklungen läßt sich mit rein linguistischen Methoden nicht beantworten; allerdings handelt es sich bei dieser Frage, im Gegensatz zu Frage (1), auch nicht um eine genuin linguistische Fragestellung, denn mit dieser Fragestellung zugleich werden auch psycholinguistische und soziolinguistische Probleme aufgeworfen, die eine generative Diachronie schon ihrem Anspruch nach nicht zu lösen vermag. Eine vollständige Antwort wird sich hier wohl nur im Rahmen einer diese drei Perspektiven integrierenden, vermutlich primär kommunikationswissenschaftlichen Theorie finden lassen; die Entwicklung einer solchen Theorie aber liegt derzeit gänzlich außerhalb der Reichweite der Forschung. Allerdings scheint Grund zu der Annahme zu bestehen, daß ein Koexistenzmodell beim Aufbau der linguistischen Komponente einer solchen Theorie eine gewisse Rolle zu spielen vermag; jedenfalls ist das Modell zumindest einer soziolinguistischen Erweiterung fähig. — Und schließlich: daß mit einer diachronen Theorie nur Teilaspekte geliefert werden können, wenn nach den Gründen für Sprachentwicklungen gefragt wird, besagt nichts gegen die Theorie; vielmehr verhält es sich so, daß es bereits falsch wäre, von der diachronen Forschung hier eine vollständige Antwort zu verlangen: denn Fragestellungen, die auch, aber eben nicht nur linguistische Aspekte reflektieren, können durch eine Spezifizierung dieser linguistischen Aspekte ganz offenbar nicht vollständig beantwortet sein. Oder anders gesagt: nicht alle Probleme einer Theorie der Sprachentwicklung können Probleme der diachronen Theorie sein; es gibt Probleme — und sicherlich sehr wichtige Probleme —, die gänzlich außerhalb der Reichweite dieser Theorie liegen und deren Lösung von der Theorie sinnvollerweise nicht verlangt werden kann. Und ein Problem dieser Art wird mit der Frage aufgeworfen, w a r u m sich die Sprachstruktur verändert. 6.2.2 Diachrone Theorien haben den Ablauf möglicher Sprachveränderungsprozesse zum Gegenstand, nicht aber die Gründe für das Eintreten von Sprachveränderungen in konkreten Einzelfällen; eine dynamische Kompetenztheorie — und jede sinnvolle Diachronie muß darauf abzielen, solche Kompetenztheorien zu liefern — kann ihrer Natur nach die häufig 193
performanzbedingten, von instabilen Kommunikationssituationen abhängigen Faktoren, die Sprachentwicklungen auslösen, nicht analysieren. Entsprechend kann auch eine diachrone Erklärung der Sprachentwicklung in nichts anderem als in der Angabe genereller Diffusionsbedingungen zuzüglich der Randbedingungen bestehen, die einen konkreten Entwicklungsprozeß beschreiben. Um derartige Erklärungen formulieren zu können, muß natürlich die diachrone Arbeitsweise des Koexistenzmodelles hinreichend spezifiziert sein. Dabei ist zunächst folgendes festzuhalten: i m S y s t e m d e r Gj u n d d a m i t i n / M a ß t s i c h e i n e Richtung a u s z e i c h n e n . Diese Auszeichnung kann derart vorgenommen werden: zunächst wird der Grad der Innoviertheit einer Grammatik aus F festgelegt; diese Festlegung wird, den Annahmen in Kap.3 und 4 entsprechend, durch den Rekurs auf den der Grammatik zugeordneten (oder zuordbaren) Einfachheitswert möglich — je einfacher ein System ist, desto höher ist der Grad seiner Innoviertheit, und umgekehrt. Solche Innoviertheitsbewertungen, für alle Gj aus F durchgeführt, erlauben es, die Gj sukzessive zu ordnen, wobei die sukzessive Folge von Grammatiken von der am wenigsten einfachen Grammatik (also der unökonomischsten Grammatik) zu der einfachsten (und ökonomischsten) Grammatik führt; es gilt also: G- aus F folgt dann und nur dann Gj aus F in F, wenn Gj einfacher als Gj ist. Diese Folgebeziehung bewirkt nun dadurch eine Auszeichnung einer Richtung im System der Gj, daß die Grammatiken, deren jede ja diachron distinkte, gleichwohl aber simultan präsente Phasen in der Entwicklung der Sprachkenntnisse in Ρ reflektiert, in dieser Ordnung zugleich die Aufeinanderfolge dieser Phasen abbilden, die zusammen einen bestimmten Zustand in der Entwicklung der Sprachkenntnisse in Ρ ausmachen; einen Zustand, der diachron immer schon vorstrukturiert ist. Die Verwandtschaftsbeziehungen im System der Gj, die synchron als Nachbarschaftsbeziehungen gedeutet wurden, lassen sich diachron, relativ zu einer solchen sukzessiven Ordnung der Gj, nunmehr als P h a s e n a b s t ä n d e deuten, wobei, im Sinne dieser Interpretation gilt, daß der Phasenabstand zwischen irgendzwei, irgenddrei usf. Grammatiken aus F umso geringer ist, je enger die zwischen ihnen bestehende Verwandtschaftsbeziehung ist, und umgekehrt. Die Spezifikation der Verwandtschaftsverhältnisse zwischen den Gj liefert in der diachronen Interpretation des Modelles die Spezifikation der Grade der Entwicklungsdistanz, der Phasenabstände, die zwischen den Gj in F bestehen. Nun ist klar, daß der für eine Angleichung von irgendzwei Grammatiken aus F erforderliche Extensionsaufwand sich proportional zu dem zwischen den Grammatiken bestehenden Phasenabstand verhalten muß; die Extensions194
kosten steigen proportional mit dem Ausmaß des Phasenabstandes. (Für die synchrone Theorie bedeutet das: die Infusionskosten steigen mit jeder Abschwächung der Nachbarschaftsbeziehungen im System der G-; je aufwendiger die Infusionserfordernisse sind, desto geringer wird, wie sich vermuten läßt, die Infusionswahrscheinlichkeit sein.) — Diffusionsprozeße erfordern also einen gewissen Kostenaufwand; und es scheint relativ zu diesem Umstand durchaus sinnvoll zu sein anzunehmen, daß durch den Kostenaufwand die Diffusionswahrscheinlichkeit disponiert wird: je höher die Diffusionskosten sind, desto geringer wird die Diffusionswahrscheinlichkeit sein; Systeme aber, die im Diffusionsprozeß (also im Verlauf der Sprachentwicklung) retardieren, werden zunehmen unproduktiv für die weiterentwickelte Sprachstruktur, ihre Anwendung wird ineffektiv; Konsequenz dieses Sachverhaltes dürfte die letztliche Eliminierung dieser Systeme aus F sein. — Diese Struktur, über die eine empirisch relevante, also gut prüfbare Hypothese formuliert werden kann, läßt sich zunächst natürlich nur für konservative (also gleichsam F-interne) Diffusionen annehmen; auf die Wahrscheinlichkeiten nicht-konservativer Diffusionen wirken ohne Zweifel noch andere Faktoren ein, Faktoren, die einerseits aus den spezifischen Gegebenheiten des Grammatikaufbaus resultieren, andererseits jedoch auch von der vermutbaren Akzeptabilität der Umstrukturierung einer Grammatik und ihrer Konsequenzen für die Kommunikation in Ρ abhängen (Zu Teilaspekten hierzu cf. Abschnitt 6.6). Allgemein scheint es jedoch möglich zu sein, in einer empirisch signifikanten Weise von einem Wahrscheinlichkeitsprofil der Sprachentwicklung sprechen zu können; dieses Wahrscheinlichkeitsprofil wäre als durch die Diffusionswahrscheinlichkeit der Gj aus F disponiert anzusehen (, wobei allerdings festzuhalten bleibt, daß mit einer Theorie der Diffusionswahrscheinlichkeiten der Kompetenzbereich weitgehend verlassen wird; es werden pragmatische, performanzbedingte Faktoren relevant, wenn untersucht wird, mit welcher Wahrscheinlichkeit Diffusionsprozeße in Ρ ausgelöst werden.) Diffusionsprozeße (die sich nach Kap. 4 durch Extensionssysteme darstellen lassen) treten in Ρ also mit unterschiedlichen, performanzbedingten Wahrscheinlichkeiten auf; der kontinuierliche Ablauf dieser Prozeße im Kompetenzbereich steht jedoch außer Frage: die Sprachkenntnisse in Ρ sind permanent (allerdings mehr oder weniger intensiven) Diffusionsprozeßen ausgesetzt; die Entwicklung der Sprachkenntnisse in Ρ vollzieht sich insofern kontinuierlich, es gibt keine „Sprünge" in der sukzessiven Folge von Grammatiken, und die interne Diffusion der Grammatiken reißt nicht ab. Die Kontinuität der Diffusion der generativen Systeme aus F konstituiert die Kontinuität der Sprachentwicklung, in der die Kommunikationseffizienz der diffundierenden Sprachstruktur gewahrt bleibt; die Sprachkontakte der Sprecher-Hörer 195
in Ρ werden also durch den Ablauf der diachronen Prozeße nicht beeinträchtigt, allgemeiner: diachrone Prozeße haben keine Rückwirkungen auf das synchrone Funktionieren der Sprache, das in eine kontinuierliche Sprachentwicklung einbezogen ist. 6.2.3 Daß Sprachentwicklungen kontinuierlich verlaufen können (daß also die Sprecher-Hörer Innovationen auf Grund ihrer grammatischen Kompetenz umstandslos zu akzeptieren vermögen, und zwar auch dann, wenn die Innovationen ihrer bewußten Sprachauffassung zuwiderlaufen), hat seinen Grund sicherlich nicht zuletzt darin, daß effektive und kostensparende Diffusionen schon auf Grund der Struktur der internalisierten Grammatik möglich werden. In diesem Zusammenhang ist besonders der bereits erwähnte Umstand neuerlich hervorzuheben, daß das Transformationssystem einer generativen Grammatik ein Blockierungssystem darstellt, das im Erzeugungsprozeß nur eine unendliche Teilmenge Tj der unendlichen Menge Τ der von der Grammatik erzeugbaren Tiefenstrukturen passieren läßt, also in korrekte Oberflächenstrukturen überführt; die transformationelle Weiterentwicklung einer wiedeaus Γ jedoch blockiert, wobei Τ = Tj U 7^ rum unendlichen Teilmenge mit Tj Γι 7^ ~ Φ gilt. Nun ist klar, daß, zumal Umstrukturierungen des Blockkierungssystemes leicht durchführbar sind, jede solche Umstrukturierung ist eine als grammatische Diffusion darstellbare Innovation ist: T^ stellt somit gleichsam ein Reservoir von Strukturen dar, das als zunächst nicht aktualisiertes durch Diffusionsprozeße im Blockierungssystem aktualisiert werden kann; ist somit eine Komponente im Diffusionsprozeß, deren Existenz keineswegs parasitär ist, sondern wesentlich auf die Sprachentwicklung einzuwirken vermag. Daß eine generative Grammatik kraft der rekursiven Kapazität ihrer Basiskomponente unendlich viele Tiefenstrukturen erzeugen kann, ohne daß alle dieser Strukturen in Oberflächenstrukturen transformierbar sind, beeinträchtigt also keineswegs die Interpretierbarkeit der Grammatik; die Menge der nicht akzeptierten Tiefenstrukturen läßt sich vielmehr als eine der Diffusionsbasen deuten, deren Existenz eine der Voraussetzungen von Sprachentwicklung ist. (Und dieser diachronen Interpretation von 7^ korrespondiert natürlich eine einschlägige synchrone Interpretation, cf. § 5.1.2, wo 7*2 als eine der erforderlichen Infusionsbasen gedeutet wird.) Natürlich läßt sich auch die Diffusion des Blockierungssystemes einer generativen Grammatik als ein an Einfachheitsbewertungen orientierter Optimierungsversuch im Sinne der auf Frage (2) aus § 6.2.1 versuchten Antwort deuten. Hier allerdings bleibt anzumerken, daß eine solche Interpretation keineswegs die Annahme impliziert, Sprachentwicklung sei nichts anderes als die Vereinfachung von Sprachstrukturen, genauer: die Entwicklung der 196
Sprachkenntnisse bestände in der kontinuierlichen Vereinfachung der Sprachkenntnissysteme. Diese Folgerung ist deshalb unzulässig, weil die Einfachheitsbewertungen der Ρ• nicht auf dieselben Systeme zutreffen, sondern immer an gruppenspezifische Gegebenheiten gebunden sind; entsprechend werden auch die Vereinfachungsresultate unterschiedlich, nämlich gruppenspezifisch ausfallen, sodaß der auf eine Grammatik Gj aus F zutreffende Diffusionsprozeß ein anderes Resultat als ein auf G^ a u s F zutreffender Diffusionsresultat haben wird. Die Sprachstruktur wird durch die Sprachentwicklung also keineswegs nivelliert; die Verschiedenartigkeit der Diffusionsresultate bewirkt vielmehr genau das, was, in synchroner Terminologie, als die „Inhomogenität der Sprachstruktur" gekennzeichnet wurde. In Entsprechung zu dieser synchronen Formulierung kann dann in einem diachronen Bezugssystem gesagt werden, daß mit dem Prozeß der Sprachentwicklung die Phasenverschiebungen im System der Gj aus F bzw. im System der lj aus L keineswegs eingeebnet werden; demzufolge wird auch die Unterschiedlichkeit der Phasenabstände zwischen den Gj aus F bzw. zwischen den lj aus L in keiner Weise aufgehoben, kurz: die strukturellen Bedingungen der Möglichkeit von Sprachentwicklung und Sprachentwicklung faktisch auslösenden Faktoren der Kompetenzstruktur in Ρ bleiben im Prozeß der Entwicklung, der Veränderung von Sprachkenntnissen erhalten. Insofern kann eine E n d p h a s e für Sprachentwicklungen nicht sonnvoll angenommen werden (, obwohl natürlich sinnvoll angenommen werden kann, daß die Entwicklung einer b e s t i m m t e η Sprache, z.B. durch Sprachspaltung ein Ende findet, cf. Abschnitt 6.3, aber auch Sprachspaltungen sind natürlich Sprachentwicklungen): es bleibt in allen Phasen bei der Koexistenz v e r s c h i e d e n a r t i g e r Systeme, sodaß Innovationen, Optimierungsversuche, also Diffusionsprozeße immer wieder ausgelöst werden müssen. Und der kontinuierliche Ablauf dieser Prozeße impliziert keineswegs eine irgendwie „systematische" Vereinfachung der Sprachkenntnisse in P, d.i. er zeitigt keine die Sprachkenntnisse der Sprecher-Hörer-Gruppen i n g l e i c h e r W e i s e betreffenden Vereinfachungen, sondern er produziert vielmehr neue Inhomogenitäten und damit neue Instabilitäten, die ihrerseits dann wiederum auslösende Funktionen haben, usf.: Sprachentwicklung, im Sinne eines homöostatisch ablaufenden diachronen Prozeßes, ist der immer wieder zu erneuernde und in der Tat immer auch wiederholte Versuch, unter den je einschlägigen, in toto variierenden grammatischen Bedingungen in Ρ eine Optimierung der Sprachmittel insbesondere zum Zweck der gruppenexternen Kommunikation zu erreichen, wobei jede Veränderung der grammatischen Gegebenheiten in P, also auch die Optimierung selbst, neue Diffusionsprozeße auslöst; die Diffusion ist, in einem metaphorischen Sinne, „rekursiv". Und das heißt eben: die 197
Sprache wird ständig erneuert, die Diffusionsprozeße im Kompetenzbereich (, die natürlich durch entsprechende Prozeße im Performanzbereich ergänzt werden,) brechen nicht ab; die Homöostase erreicht kein festes Gleichgewicht. Eine solche Auffassung von Sprachentwicklung hat Rückwirkungen auf den Versuch, den Charakter der diachronen Theorie genauer zu bestimmen, und zwar unter einem wohl auch sprachphilosophisch relevanten Aspekt: denn eine diachrone Theorie, in die die Voraussetzung der „Rekurvivität der Diffusion" eingeht (natürlich ist diese Formulierung vereinfachend und metaphorisch), kann offenbar nicht umstandslos als eine t e l e o l o g i s c h e Theorie gedeutet werden. Freilich: selbst dann, wenn die sozialen Determinanten der Sprachentwicklung ausgeblendet werden (cf. Abschnitt 4.4), so ist in der Optimierungsannahme immer noch eine Behauptung über den Z w e c k der Sprachentwicklung enthalten: die Sprachentwicklung dient, grob gesagt, der Verbesserung der Kommunikationsmöglichkeiten in P. (Es ist klar, daß diese Funktionsbestimmung zumindest in dieser ihrer Ausschließlichkeit schon dann nicht mehr haltbar ist, wenn die sozialen Determinanten der Sprachentwicklung mit berücksichtigt werden; gewisse Sprachentwicklungen können sich als reine Abgrenzungsversuche im Sinne von § 4.4.4 erweisen. Aber es ist auch klar, daß diese Funktionsbestimmung gerade dann,, wenn der soziale Kontext vernachlässigt wird oder, unter der Voraussetzung eines gesellschaftlichen Idealzustandes, als keine Diskriminierung im Sinne von § 4.4.4 bewirkend gedacht wird, unerläßlich ist: sie gibt an, inwieweit Sprachentwicklung auch nach einer Homogenisierung der Gesellschaft noch weiter stattfinden wird: nämlich aus sprachinternen Gründen, aus Gründen der Kompetenzverteilung in P.) — Die Verbesserung der Kommunikationsmöglichkeiten, sofern sie als Telos der Sprachentwicklung bestimmt wird, ist jedoch nur ein näherungsweise erreichbares Ziel, das, kraft des metaphorisch „Rekursivität der Diffusion" genannten Prozesses, unter immer neuen Bedingungen und damit immer wieder angestrebt werden muß. Mit anderen Worten: die diachrone Theorie ist wohl insofern teleologisch zu nennen, wie sie eine Behauptung über die Zweckgerichtetheit der Sprachentwicklung enthält; sie liefert jedoch insofern keine im klassischen Sinne teleologische Sprachauffassung, wie sie kein Vollkommenheitsideal impliziert, d.i. wie sie nicht die Annahme einer Endphase der Sprachentwicklung impliziert, in der die Klasse der Entwicklungszwecke erfüllt ist. Genauer: die Annahme einer gewissermaßen endzeitlich gedachten, vollkommen homogenen Sprachgemeinschaft, die über die in einem absoluten Sinne optimalen grammatischen Mittel und nur diese verfügt (, derart, daß für alle Sprecher-Hörer eine vollständige Verfügungsgewalt über diese Mittel behauptet werden kann), ist keine Annah198
me der diachronen Theorie. Wenn diese Theorie kraft der Optimierungsannahme als teleologisch bezeichnet wird (im skizzierten, eingeschränkten Sinne), so ist deshalb die Theorie jedoch nicht gewissermaßen eschatologisch zu nennen; sie projiziert keinen Idealzustand als das Endziel der Sprachentwicklung in die Zukunft, sondern ihre Aufgabe besteht in der Analyse von Diffusionsprozeßen, in deren Homöostase kein Endziel impliziert ist. Bei dieser Analyse muß u.a. auch, ganz diesseits aller globalen sprachphilosophischen Deutungen der Sprachentwicklung, in Rechnung gestellt werden, daß Diffusionsprozeße in ihren verschiedenen Phasen mit u n t e r s c h i e d l i c h e r I n t e n s i t ä t ablaufen können (und in der Tat auch ablaufen); entsprechend bleibt zu fragen, ob ein diachron interpretiertes Koexistenzmodell es möglich macht, G r a d e der Diffusionsintensität in sinnvoller Weise zu reflektieren. Allerdings ist, noch bevor die Frage nach den Möglichkeiten einer Diskriminierung von Diffusionsintensitäten des genaueren überhaupt formuliert werden kann, zu klären, inwieweit der Ablauf von (möglicherweise unterschiedlich intensiven) Diffusionsprozeßen auf die Konstitution von F o l g e n v o n S p r a c h z u s t ä n d e n einwirkt; anders gesagt: es muß geklärt werden, inwieweit es sinnvoll möglich ist, in Übereinstimmung mit der linguistischen Tradition (cf. Paul 1970, 2 3 - 3 7 und passim) einerseits anzunehmen, daß der Prozeß der Sprachentwicklung k o n t i n u i e r l i c h abläuft, andererseits aber auch behaupten zu können, daß dieser kontinuierlich ablaufende Prozeß als eine Folge d i s k r e t e r Sprachzustände charakterisierbar ist. Erst dann, wenn geklärt ist, wie Zustandsfolgen in einen kontinuierlichen Prozeß eingebettet werden können, kann mit einiger Aussicht auf Erfolg auch nach der Intensität der Sprachentwicklung (qua Intensität der Diffusionsprozeße im System der von den P^ in Ρ internalisierten G-j gefragt werden: die Ablaufstruktur muß bereits gewonnen sein, bevor nach den Intensitäten des Diffusionsablaufs gefragt werden kann, bevor also die D a u e r einer Sprachzustandes analysiert werden kann. 6.3
Analyse von Diffusionsstadien und Zustandsfolgen 11
6.3.1 Die Analyse der koexistierenden grammatischen Systeme und Wechselbeziehungen zwischen ihnen macht deutlich, daß die Entwicklung einer Sprache nichts ist, das von ihrem synchronen Funktionieren abgetrennt 11 Die Überlegungen in diesem und den folgenden Paragraphen dieses Kapitels sind explizit als provisorisch zu verstehen. Es geht bei diesen Überlegungen vor allem darum, gewisse interessante Möglichkeiten zu diskutieren, die sich der Diachronie mit dem Aufbau einer Diffusionstheorie bieten können. Perfekte Lösun-
199
werden könnte, wie denn umgekehrt auch das synchrone Funktionieren einer Sprache nicht von den Entwicklungen der zugrundeliegenden SprecherHörer-Kompetenzen, von der Analyse diachroner Prozeße abgetrennt werden kann: Synchronie und Diachronie überlagern einander derart, daß jedes sprachliche Phänomen, das einer synchronen Erklärung fähig ist, auch einer diachronen Erklärung fähig sein muß. Insofern ist mit einer befriedigenden, einer adäquaten diachronen Theorie jedenfalls mehr zu leisten als die nur gleichsam komparative Analyse der verschiedenen Zustände, die eine natürliche Sprache durchläuft; die Theorie muß vielmehr Auskunft darüber geben können, wie es möglich ist, daß eine Sprache, die doch in j e d e r ihrer Entwicklungsphasen ein funktionierendes Kommunikationsmittel ist, überhaupt in diskrete Zustände zerfallen k a n n ; sie muß es also, allgemeiner gesagt, gestatten, die Bedingungen der Möglichkeit von Zustandsfolgen explizieren zu können, und das heißt insbesondere auch dieses: die Theorie muß eine Spezifikation deijenigen Bedingungen gestatten, auf Grund derer die Überführung eines Sprachzustandes in einen nachfolgenden Sprachzustand o b l i g a t wird. Lassen sich solche Bedingungen angeben, so sind mit ihnen zugleich auch die generellen Regularitäten gewonnen, denen Zustandsfolgen effektiv unterliegen. Nun setzt die Möglichkeit der Überführung von Sprachzuständen es offenbar voraus, daß jeder Sprachzustand gewissermaßen von vornherein Diffusionsprozeßen ausgesetzt ist, deren Einwirken konstitutiv für die Zustandsfolge ist; demzufolge muß die diachrone Theorie einerseits die Diffusionsstruktur eines Sprachzustandes zum Gegenstand nehmen können und es andererseits, darüber hinaus, möglich machen, im kontinuierlichen Ablauf der Diffusionsprozeße Sprachzustände diskriminieren zu können; die diachrone Theorie muß, allgemein gesagt, folgender Adäquatheitsforderung genügen: ( F ) Die diachrone Theorie muß ( 1 ) die Entwicklung einer natürlichen Sprache L als eine F o l g e von (endlich vielen) Sprachzuständen z^ (L) > Z2 (L) > . . . > zn (L) zu analysieren gestatten, (2) der ein kontinuierlicher Prozeß der Diffusion der Sprecher-Hörer-Kompetenzen zugrundeliegt, auf denen L ihrer Struktur nach basiert. Die Forderung in (F) ist, wie schon gesagt, durchaus der linguistischen Tradition verpflichtet, auch die Endlichkeitsforderung, hier informell eingeführt, die noch einer besonderen Rechtfertigung bedarf, wurde schon in der Tradition vertreten, so etwa von Schleicher und anderen (cf. Ahrens 1955,
gen der involvierten P r o b l e m e können und sollen nicht g e b o t e n w e r d e n ; es w i r d lediglich der Versuch u n t e r n o m m e n , gewisse einschlägige P r o b l e m e der diachronen Sprachtheorie angemessen zu f o r m u l i e r e n ; erst in z w e i t e r Hinsicht w i r d angedeutet, wie eine Lösung dieser P r o b l e m e denkbar ist.
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passim). Die Tradition der Forderung besagt jedoch keineswegs, daß auch schon eine Vielzahl von Möglichkeiten gefunden wäre, ihr zu genügen; vielmehr verhält es sich so, daß die Segmentierung eines kontinuierlichen diachronen Prozesses in Zustände gerade nicht gelungen ist, eine Vielzahl von Versuchen in diese Richtung wurde sehr bald als hoffnungslos aufgegeben — mit der Konsequenz, daß (F) (2) in aller Regel zugunsten von (F) (1) vernachlässigt wurde (cf. ζ. B. Paul 1970, Kap. 1 passim); die klassischen Diachronien sind im wesentlichen Theorien von Zustandsfolgen, o h n e daß in diesen Theorien die konstituierenden Bedingungen für Sprachzustände entwickelt würden, o h n e daß der Kontinuitätsannahme explizit und mit weiteren Annahmen konsistent Rechnung getragen würde. Nun verhält es sich mit einem diachron interpretierten Koexistenzmodell offenbar genau umgekehrt: mit dem Modell kann, wie Kap. 4 und Abschnitt 6.2 belegen, zwar (F) (2) erfüllt werden, also die Diffusionsstruktur beschrieben und erklärt werden, aber es ist nicht möglich (F) (1) zu erfüllen, also eine Segmentierung des kontinuierlichen Prozesses in Zustände vorzunehmen. Entsprechend muß es bei der Komplettierung der diachronen Theorie zunächst und vor allem darum gehen, eine Segmentierungsmöglichkeit derart zu entwickeln, daß (F) (1) in einer Art erfüllt werden kann, die mit den bereits eingeführten Annahmen, die zur Erfüllung von (Fj (2) beitragen, konsistent ist.
6.3.2 Elemente einer Zustandsfolge sind Sprachzustände bzw. die Zustände der Sprachkenntnisse in P, die der Sprachstruktur während einer gewissen Erstreckung in der Zeit zugrundeliegen. Diese Zustände, die durch GrammatikenFamilien analysiert werden, sind gewissermaßen mehrdimensional, die in ihnen koexistierenden grammatischen bzw. sprachlichen Systeme weisen gewisse Phasenverschiebungen auf; ein Zustand umfaßt also nicht nur eine und genau eine Phase in der Entwicklung der Sprachstruktur bzw. der Sprachkenntnisse, sondern Zustände sind gleichsam Phasenmengen — und nicht zuletzt deshalb ist die Segmentierung von Sprachzuständen so problematisch. Mit der Segmentierung müssen Phasenmengen zu Sprachzuständen zusammengefaßt werden, wobei mit der Segmentierung gleichsam ein Raster auf einen kontinuierlich ablaufenden Prozeß projiziert wird, das diesen Prozeß in diskrete Einheiten, eben in Sprachzustände zerlegt. Angenommen nun, ein solches Raster, also ein einschlägiges Segmentierungskriterium, sei gegeben (in welchem Rahmen es entwickelt werden kann, wird im folgenden erörtert), so bliebe vor allem zu klären, wie eine Zustandsfolge — im Sinne von (F) — strukturiert ist, d.i. der Charakter der Folgebeziehung „ > " wäre des genaueren zu bestimmen. Dabei kann, in Übereinstimmung mit der linguistischen Tradition (cf. wiederum 201
Paul 1970, Kap. 1 passim), eine Spezifikation der folgenden Art vorgenommen werden: (76)
Ζ (Lj ist eine Folge Zj (Lj > Z2 (L) >. . . (Lj von Sprachzuständen: 1. Ist z. (Lj in Ζ (Lj, so ist z. (Lj > z. (Lj nicht in Ζ (Lj, für i = / (U 1 = 1,2 nj 2. Ist z. (Lj > z . (Lj in Ζ (Lj und ist z. (Lj > z f c (Lj in Ζ (Lj, so ist auch z. (Lj > z . (Lj in Ζ /7J, fiir i * / Φk (i. j, k = l, 2, nj 3. Ist z(. (Lj in Ζ W und ist ζ. ^ in Ζ (Lj, so ist z(. (Lj > z - ^ in Ζ W oder z. (Lj > z. ('i.J ist in Ζ (L), für ϊΦ) (i. j = 1, 2. !. . ,
Zustandsfolgen sind also irreflexiv ((76), Teil 1), transitiv ((76), Teil 2) und konnex ((76), Teil 3), d.h. eine Zustandsfolge ist rein logisch eine R e i h e , und genau diese Spezifikation als Reihe ist es, die Zustandsfolgen auch schon in der linguistischen Tradition erfahren haben. — Natürlich ist ( 7 6 ) noch nicht vollständig; eine wesentliche Eigenschaft von Folgebeziehungen, nämlich ihre Nicht-Umkehrbarkeit, ist explizit noch nicht angegeben: (77)
Ist z. (Lj >Z/. (Lj in Ζ (Lj, so ist 2· (Lj > z{ (Lj nicht in Ζ (Lj, für i Φί (i, j = 1.2 nj
Mit (77) wird die Asymmetrie der Folgebeziehung behauptet; es ist klar, daß ( 7 7 ) logisch aus ( 7 6 ) hervorgeht. Relativ zu diesen Überlegungen läßt sich nun versuchen, des genaueren anzugeben, in welcher Art eine natürliche Sprache L zum Gegenstand einer diachronen Theorie wird. In ( 3 3 ) wurde L als ein System koexistierender Sprachen bestimmt, in ( 4 9 ) wurde dieser Begriff dahingehend erweitert, daß auch eine Menge λ der ungrammtischen Sätze, als die Komplementmenge des Systemes der /;· bezüglich L , in den Objektbereich der Theorie fällt. Es ist klar, daß mit (33) und ( 4 9 ) lediglich der Aufbau von L während eines L-Zustandes z- von L spezifiziert wird (i - 1, 2, . . . , n), wobei im Rahmen einer diachronen Analyse von einem solchen Zustand gesagt werden kann, daß in ihm verschiedene Phasen der Sprachentwicklung präsent sind; e i η S p r a c h z u s t a n d i s t d e m z u f o l g e , verkürzt gesagt, e i η S y s t e m von k o e x i s t i e r e n d e n E n t w i c k l u n g s p h a -
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s e n d e r S p r a c h s t r u k t u r (, wobei es genau die Modalitäten dieser Koexistenzrelation sein werden, die über die Segmentierungsmöglichkeiten entscheiden). Im Hinblick auf die Anwendungsbreite der diachronen Theorie ist dieser Sprachbegriff offenbar noch zu eng; es bleibt weiterhin festzuhalten, daß eine jede natürliche Sprache auch als eine nicht leere Zustandsfolge im Sinne von (76) — (77) aufzufassen ist, wobei die Zustände im Sinne von (33) bzw. (49) zu verstehen sind. Zustandsfolgen sind somit ein natürlicher Gegenstand der Sprachtheorie; sie sind analysierbar durch eine R e i h e von Grammatiken-Familien Fj, . . . , Fn, wobei die Fj analog zu den Zj· (L) die in (76) bis (77) spezifizierten Eigenschaften der Irreflexivität, Transitivität, Konnexivität und Asymmetrie aufweisen. Der Geltungsbereich der der Grammatiken-Familien kann dabei wiederum an Hand der Indexstruktur bestimmt werden: eine Grammatiken-Familie F- der Reihe trifft auf einen Sprachzustand Zj (L) in Ζ (L) genau dann und nur dann zu, wenn i = j. Allerdings lassen diese Angaben noch eine ganze Menge von Problemen unberührt; speziell ein Aspekt bedarf der Erläuterung: in (F) wurde informell die in (76) — (77) beibehaltene Annahme eingeführt, daß die Klasse der Zustände einer Sprache e n d l i c h ist. Diese Annahme sei nochmals expliziert: (78)
Die Klasse der Zustände einer Sprache L ist endlich.
(78) ist offenbar eine Voraussetzung für die Endlichkeitsannahme in (76), und es bleibt zu prüfen, inwieweit diese Voraussetzung berechtigt ist. Es liegt auf der Hand, daß diese Voraussetzung alles andere als trivial ist; sie stellt zumindest mittelbar eine Hypothese über die Naturgeschichte des Menschen dar, die allein mit linguistischen Mitteln wohl kaum verteidigt werden kann. Allerdings gibt es in der Tat einige nicht-linguistische Annahmen, die direkt oder indirekt f ü r (78) sprechen. Folgendes: sofern sich die b i o l o g i s c h e Hypothese bewährt, daß die Disposition zur Sprachfähigkeit spezies-speziflsch ist, also allein dem Menschen zukommt, und zwar kraft eines gegen andere Pleiotropismen s t a b i l e n Pleiotropismus der Genestruktur (cf. Lenneberg 1967, und die dort referierte Literatur), so ist klar, daß die Sprachgeschichte einen A n f a n g hat; dieser Anfang ist identisch mit dem Anfang der Menschheitsgeschichte. (Es gibt keine Sprache diesseits oder jenseits der menschlichen Sprache.) Ein E n d e aller Sprachgeschichte ließe sich nun im Rekurs auf den zweiten Hauptsatz der Thermodynamik behaupten, mit dem die Endlichkeit allen Lebens behauptet wird; das Ende der Spezies 203
aber hätte dann auch das Ende des ihr und nur ihr eigenen Kommunikationsmittels S p r a c h e zu Folge. Dieser Hinweis kann und soll nur besagen, daß (78) mit gut gesicherten physikalischen Hypothesen und zumindest hochgradig plausiblen biologischen Denkansätzen konsistent ist, daß Kritik an (78) aus diesen Bereichen keinesfalls zu erwarten sein dürfte. Allerdings ist (78) mit dieser Absicherung gegen physikalische oder biologische Einwendungen noch keineswegs gerechtfertigt, da eine (78) widersprechende Unendlichkeitsannahme auch dann formuliert werden kann, wenn physikalische und biologische Aspekte ausgeklammert werden, und es liegt auf der Hand, daß eine solche spezifisch linguistisch orientierte Annahme diejenige wäre, die in diesem Zusammenhang die größere Aufmerksamkeit beanspruchen kann. Eine solche Version einer Unendlichkeitsannahme läßt sich dann formulieren, wenn Sprachzustände im Hinblick auf ihre z e i t l i c h E r s t r e c k u n g thematisiert werden. Folgendes: zwei voneinander verschiedene Sprachzustände (die Frage, ob Sprachzustände in einer Zustandsfolge mehrfach auftreten, sich also wiederholen können, kann hier vernachlässigt werden: es gibt keinerlei Daten, die für eine Wiederholbarkeitsannahme sprechen; diese Annahme kann gewissermaßen von vornherein als nur spekulativ verworfen werden) — zwei voneinander verschiedene Zustände einer Sprache gehören in Bezug auf ihre zeitliche Erstreckung offenbar zu zwei verschiedenen Abschnitten einer Zeitstrecke, auf der die gesamte Zustandsfolge aufgetragen wird. Nun läßt sich aber jeder Abschnitt der Zeitstrecke in weitere Abschnitte zerlegen, deren jeder sich wiederum in Abschnitte zerlegen läßt, usf.: wenn also ein Sprachzustand als die Ausdehnung einer Sprache während eines gewissen Abschnittes einer Zeitstrecke aufgefaßt wird, so läßt sich folgern, daß die Sprache über unendlich viele Sprachzustände verfügt, denn die Zeitstrecke kann in unendlich viele Abschnitte zerlegt werden. Diese Folgerung ergibt sich offenbar unabhängig von allen Zusatzannahmen über die Naturgeschichte des Menschen; die Unendlichkeitsbehauptung wird deshalb möglich, weil zunächst eine Korrespondenz zwischen Sprachzuständen und den Abschnitten einer Zeitstrecke hergestellt wird, und von der Existenz eines Kontinuums von Abschnitten der Zeitstrekke wird dann auf die Existenz eines Kontinuums von Sprachzuständen geschlossen. Die Unendlichkeitsannahme ist, so gesehen, k e i n e historische Behauptung sondern eine Kontinuumsannahme, mit der speziell die unbegrenzte Segmentierbarkeit der Folge Ζ (Lj behauptet wird. Gegenüber einer solchen, (78) widersprechenden Argumentation bleibt wohl vor allem zu klären, unter welchen linguistischen Voraussetzungen die für diese Argumentation entscheidende Korrespondenz von Sprachzuständen und den Abschnitten einer Zeitstrecke herbeigeführt wird. Zuvor jedoch sei 204
knapp skizziert, welche Konsequenzen sich aus einer derart formulierten Unendlichkeitsannahme ergäben. Sprachzustände werden nach Voraussetzung durch Grammatiken-Familien analysiert; sofern aber nun die Anzahl der Zustände einer Sprache unendlich ist, könnte eine v o l l s t ä n d i g e diachrone Analyse einer Sprache, also die Analyse der Folge a l l e r ihrer Zustände, nur mit einer unendlichen Reihe von Grammatiken-Familien geleistet werden. Ein unendliches theoretisches System, wie es diese Reihe darstellen würde, kann aber in keiner Weise verfügbar gemacht werden; die Linguistik ist, wie jede andere Wissenschaft auch, dazu gezwungen, mit endlichen Begriffssystemen zu arbeiten: es gibt k e i n n a c h p r ü f b a r e s unendliches Begriffssystem. D.h.: unter Voraussetzung der Unendlichkeitsannahme ergäbe sich die systematische Unvollständigkeit der diachronen Linguistik, der ein unendliches Begriffssystem nicht zur Verfügung stehen kann. (Man beachte bei dieser Argumentation, daß (1) ein System, das die Klasse aller möglichen Sätze erzeugt, keineswegs eine Theorie der möglichen Sprachzustände, ja noch nicht einmal eine Theorie der faktischen Sprachzustände ist, und daß (2) die Annahme einer „Rekursion" von Sprachzuständen ausgeschaltet wurde: eine unendliche Folge von Sprachzuständen ist als eine unendliche Folge n e u e r Sprachzustände zu verstehen; nicht aber als eine Folge endlich vieler Sprachzustände in unendlich vielen Variationen, die mit einem gewissermaßen „rekursiven" System von Grammatiken-Familien möglicherweise beschreiben und erklärt werden könnte.) — Konsequenz einer Unendlichkeitsannahme ist also zunächst — und zwar auch außerhalb der Voraussetzungen eines Koexistenzmodelles — die systematische Unvollständigkeit der Diachronie. Natürlich besagt dieser Umstand nichts gegen die Unendlichkeitsannahme; er ließe sich ja auch als ein Hinweis auf die prinzipielle Begrenztheit der linguistischen Erkenntnismöglichkeiten deuten, kraft derer eben eine systematische Unvollständigkeit der diachronen Analyse in Kauf zu nehmen wäre — und wo definitive Erkenntnisgrenzen gezogen sind, kann nicht sinnvoll gefordert werden, diese Grenzen zu überschreiten. Allein, es bleibt der Verdacht, daß eine derartige Grenzziehung vorschnell ist, und zwar insofern, wie die Korrespondenzbeziehung zwischen Sprachzuständen und den Abschnitten einer Zeitstrecke a l s u n g e p r ü f t e der Argumentation zugrundeliegt, mit der die Unvollständigkeit der Diachronie gerechtfertigt werden soll. Diese Korrespondenzbehauptung besagt im wesentlichen offenbar folgendes: es wird angenommen, daß eine Sprache sich in jedem Moment ihrer Existenz verändert, also kontinuierlich diffundiert, und daß jede dieser Diffusionen konstitutiv für einen Sprachzustand ist. Als Humboldt davon sprach, daß die Sprache sich „in jedem Moment ihres Daseins" verändert, wollte er 205
genau diese Kontinuität der Diffusion begrifflich erfassen, und diese Humboldtsche Annahme, die auch bei der diachronen Interpretation des Koexistenzmodelles adaptiert wird, geht i n e i n e r b e s t i m m t e n Weis e in die Unendlichkeitsbehauptung ein, und zwar insofern, wie sie mit zwei weiteren Annahmen gekoppelt wird: die „Momente des Daseins" einer Sprache werden zunächst auf die Abschnitte einer Zeitstrecke projiziert, sodann wird jeder „ M o m e n t " als Sprachzustand bestimmt, sodaß die „Momente des Daseins" einer Sprache Sprachzustände s i n d ; von diesen Momenten aber gibt es unendlich viele, sodaß es auch unendlich viele Sprachzustände gibt. — Dieses Vorgehen beim Aufbau einer diachronen Hypothese ist jedoch keineswegs zwingend. Die Humboldtsche Kontinuitätsbehauptung kann eingeführt werden, ohne daß jeder Moment des Daseins einer natürlichen Sprache als Sprachzustand aufgefaßt werden müßte; ein Sprachzustand wäre auch als eine „Menge von Momenten" definierbar, wie das bei der diachronen Interpretation des Koexistenzmodelles dadurch geschieht, daß die Zustände einer Sprache als Phasenmengen bestimmt werden. Mit anderen Worten: es besteht kein Anlaß, die Begriffe „Sprachveränderung" bzw. „Diffusion" und „Sprachzustand" miteinander zu identifizieren; die beiden Begriffe lassen sich auch in anderen Zuordnungen einführen. Und für den Versuch, die Identifizierung zu vermeiden, spricht ein weiterer Umstand: in dieser „Sprache der Identit ä t " müßte auch gesagt werden, daß gleichzeitig erfolgte, aber voneinander verschiedene Diffusionen gleichzeitige, aber voneinander verschiedene Zustände einer Sprache ausbilden; ein „ M o m e n t " des Daseins einer Sprache wäre mithin nicht notwendig ein und nur ein Sprachzustand, sondern er könnte auch eine Klasse von Sprachzuständen sein — vermutlich dürfte das sogar der Normalfall sein. Es könnte sich im Rahmen der Unendlichkeitsbehauptung sogar die Notwendigkeit ergeben, jedem Moment aus dem Kontinuum der Momente ein Kontinuum von während dieses Momentes realisierten Sprachzuständen zuordnen zu müssen — und es bedarf wohl kaum noch eines Hinweises darauf, daß sich kann k a u m mehr eine Möglichkeit böte, eine effektive, mit den skizzierten theoretischen Annahmen konsistente diachrone Analyse vorzunehmen. Die Empirie wäre letztlich durch eine Inflation der Begriffe jedes sinnvoll möglichen theoretischen Bezugssystemes beraubt; sie bliebe so „blind" wie dieses inflationäre theoretische Bezugssystem „leer" wäre. Es besteht aber kein Anlaß, das Verhältnis von theoretischer Diachronie und empirischer Diachronie so zu bestimmen, daß jede Rückkopplung dieser Disziplinen unmöglich wird. Insofern aber ist es zweckmäßig und wohl auch plausibel, die Identifizierung der Begriffe „Diffusion" und „Sprachzustand" und damit auch die Identifikation der Begriffe „Folge von Diffusionen" und „Folge von Sprach-
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zuständen" zu vermeiden, für die ein zwingender Anlaß ohnehin nicht besteht. Und diese Identifizierung ist eben genau dann zu vermeiden, wenn nicht jede einzelne Diffusion, jede einzelne Sprachveränderung, sondern erst eine gewisse Menge von Diffusionen, von Sprachveränderungen als konstitutiv fiir das Entstehen eines neuen Sprachzustandes aufgefaßt wird; ein Sprachzustand Zj (L) geht also nicht schon deshalb in einen nachfolgenden Sprachzustand über, weil er diffundiert, sondern die Folge Zj (L) > Zj (L) ergibt sich erst dann und genau dann, wenn der auf Zj (L) einwirkende Diffusionsprozeß in ein bestimmtes S t a d i u m getreten ist, wenn die Diffusion dieses Zustandes ein bestimmtes Ausmaß erreicht bzw. überschritten hat. Für die Segmentierungsproblematik bedeutet das, daß nicht, wie es im Rahmen der Unendlichkeitsannahme implizite geschieht, j e d e r Diffusion eine Segmentierungsfunktion zugeschrieben werden kann, sondern daß es vielmehr ein bestimmtes Stadium im Ablauf des Diffusionsprozesses ist, das die Segmentierung auslöst. Nicht alle Stadien, die ein auf z;· (L) (i = 1, 2,. . . , n) einwirkender Diffusionsprozeß durchläuft (und die durch das Zusammenwirken verschiedener Diffusionen definiert sind), bewirken also eine Zustandsfolge, sondern Zj (L) wird durch den nachfolgenden Zustand Z: (L) genau dann abgelöst, wenn der Diffusionsprozeß sein E n d s t a α i u m (wie auch immer das bestimmt sein mag) erreicht hat. Das heißt mit anderen Worten, daß nicht Diffusionen, sondern, verkürzt gesagt, Klassen von Diffusionen eine Segmentierungsfunktion zugeschrieben werden muß, und es ist klar, daß auch unendlich viele Diffusionen in Teilklassen zerlegt werden können, deren Anzahl endlich ist. Werden nun endlich viele dieser Klassen als Sprachzustände (qua kontinuierlich diffundierende Systeme von Sprachkenntnissen) auf die Zeitstrecke aufgetragen, so ergeben sich auch nur endlich viele Abschnitte dieser Strecke, id est: die Klasse der Zustände einer Sprache ist endlich; die Annahme in (78) hätte insofern ihre Bestätigung gefunden. Es ist nun allerdings ohne weiteres möglich, daß für Zustandsfolgen zurück gewiesene Argument auf die Stadienfolge eines Diffusionsprozesses neuerlich anzuwenden, d.i. es ließe sich behaupten, daß die Klasse der Stadien eines auf Zj(L) einwirkenden Diffusionsprozesses unendlich ist. Aber auch diese Behauptung läßt sich zurückweisen, sofern auch die Stadien eines Diffusionsprozesses als durch Klassen von Diffusionen bestimmt aufgefaßt werden; mit anderen Worten: wie die Sprechweise von einem Diffusionskontinuum vermieden werden kann, so kann auch die Sprechweise von Teilkontinua vermieden werden.12 Man kann sinnvoll von der Endlichkeit der 12 Mit anderen Worten: es kann analog zu (78) die Annahme eingeführt werden: „Die Klasse der Diffusionsstadien eines Sprachzustandes ist endlich", und diese
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„Momente des Daseins" einer Sprache reden; (78) ist eine durchaus relevante diachrone Annahme. — Hervorzuheben ist allerdings noch, daß die Projektion einer Zustandsfolge auf eine Zeitstrecke keineswegs eine Zerlegung dieser Strecke in Abschnitte gleicher Länge zur Folge haben muß; Sprachzustände können unterschiedlich lange andauern. In konkreto: es kann Sprachzustände geben, die 250 Jahre andauern, und ebenso solche, die nur 50 Jahre andauern; allein die Diffusionsintensität eines Sprachzustandes entscheidet über die Dauer seiner zeitlichen Erstreckung; eine „Normaldauer der zeitlichen Erstreckung" kann mit linguistischen Argumenten nicht angenommen werden. — Wie auch immer: eine Endlichkeitsannahme wie in (78) ist einer Annahme, mit der Existenz eines Kontinuums von Sprachzuständen behauptet wird, in jedem Fall vorzuziehen; für sie sprechen alle verfügbaren empirischen Befunde, und sie gestattet es weiterhin, eine effektivere Diachronie aufzubauen, eine Diachronie, für die lediglich ein endliches, nicht aber ein unendliches Begriffsnetz erforderlich ist; eine Diachronie, deren empirisches Fundament nicht, um die Kant-Paraphrase neuerlich aufzugreifen, „blind" zusammengestellt und deren theoretisches System nicht „leer" jenseits aller empirischen Forschung angesiedelt ist. Die Auszeichnung von (78) bedeutet, auch in der Diachronie die Einheit von Theorie und Empirie zu wahren, und die Forderung nach der effektiven Anwendbarkeit einer Theorie nicht zugunsten einer spektakulären und spekulativen Kontinuumstheorie preiszugeben, die, wenn sie möglich ist, nur als unanwendbare möglich ist. 6.3.3 Eine Projektion einer endlichen Folge von Sprachzuständen auf endlich viele aufeinanderfolgende Abschnitte einer Zeitstrecke (also die Annahme, daß Zustandsfolgen auch im Hinblick auf ihre zeitliche Erstreckung endlich sind) ist offenbar nur dann sinnvoll möglich, wenn Sprachzustände als diffundierende gedacht werden können. Eine solche Deutung von Sprachzuständen aber wird durch ein Koexistenzmodell nicht nur nahegelegt, sondern geradezu erzwungen: jeder Zustand Zj (L) (i = 1, 2, . . . , n) ist ein System phasenverschobener Sprachen l j , . . . , l n in L, denen die in den verschiedenen Sprecher-Hörer-Gruppen verfügbaren Systeme von Sprachkenntnissen zugrundeliegen; zwischen diesen Sprecher-Hörer-Gruppen vollziehen sich verAnnahme kann mit Argumenten verteidigt werden, die denen analog sind, mit denen die Verteidigung von (78) versucht wurde. Wenn die Klasse der „Momente des Daseins" einer Sprache als unendlich begriffen wird, so folgt dann, daß eine Sprache sich in jedem Moment ihres Daseins verändert. Wird eine endliche Momente-Klasse angenommen, so folgt zwar, daß die Sprache in jedem Moment ihres Daseins diffundiert, aber diese Folgerung ist dann offenbar unproblematisch, da die Kontinuumsprobleme effektiv ausgeschaltet sind.
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schiedene Prozeße der grammatischen Interaktion, die sich, diachron beschrieben und erklärt, als Diffusionsprozeße erweisen, als Prozeße, die die in Ρ verfügbaren Sprachkenntnisse verändern, innovieren und damit natürlich auch die Struktur von L im Zustand Zy modifizieren, sodaß z- (L) in der Tat als diffundierender Sprachzustand gedacht werden kann. Daß diese Interaktionsprozeße, das System der konservativen und nicht-konservativen Extensionen, zugleich auch, synchron analysiert, eine die Kommunikationsmöglichkeiten in Ρ stabilisierende Funktion haben, besagt nichts gegen ihre diachrone Kapazität; generell gilt hier jene Charakteristik des Synchronie-Diachronie-Verhältnisses, die Hockett, freilich etwas vereinfachend und apodiktisch, zudem auch mißverständlich durch den Gebrauch des auf de Saussure zurückgehenden System-Begriffes, derart gibt: A language is a kind of system in which e v e r y a c t u a l u t t e r a n c e , whether spoken aloud or merely thought to oneself, at once and the same time by and large c o n f o r m s (or m a n i f e s t s ) the system, and c h a n g e s the system, however slightly. (Hockett 1 9 6 8 , 83)
Diese Ausführungen Hocketts lassen sich wohl im Sinne der schon verschiedentlich vorgebrachten Forderung verstehen, daß alle sprachlichen Aktivitäten, die einer synchronen Analyse zugänglich sind, auch einer diachronen Analyse zugänglich sein müssen — daß es also zwei einander überlagernde Aspekte gibt, die im Hinblick auf die Struktur natürlicher Sprachen zu thematisieren sind, zwei Dimensionen der Prozeße grammtischer Mobilität, die in zwei distinkten Bezugssystemen zu untersuchen sind. Und wenn Hockett weiterhin ausführt: The distinction between system-conforming and system-changing events cannot, in principle, be made. (Hockett 1 9 6 8 , 83)
so dürfte wohl gemeint sein, daß das Synchronie-Diachronie-Problem letztlich unlösbar ist, daß es nicht möglich ist, zwei theoretische Bezugssysteme anzugeben, deren eines, nämlich das synchrone, die grammatische Mobilität in Ρ hinsichtlich ihrer stabilisierenden Funktionen und deren anderes, nämlich das diachrone, die grammatische Mobilität in Ρ hinsichtlich ihrer destabilisierenden Funktionen erklärt und beschreibt. Solche Möglichkeiten der Explanation und Deskription sind jedoch durch ein Koexistenzmodell hinlänglich eröffnet; je nach Explanations- und Deskriptionsabsicht sind mit der synchronen bzw. der diachronen Spezifikation des Modelles die Voraussetzungen für die Analyse der stabilisierenden bzw. destabilisierenden Funktionen der Prozeße grammatischer Mobilität in Ρ erfüllt. Man kann also sehr 209
wohl Hocketts Annahme über die Verflechtung von Synchronic und Diachronie teilen, ohne deshalb zu der Konsequenz genötigt zu sein, die Hockett glaubt ziehen zu müssen. Es ist im Hinblick auf die Hockett-Hypothese wesentlich zu sehen, daß mit der Formulierung „changes the system, however slightly" von Hockett Gradunterschiede in der Veränderung eines Systemes, hier: eines Sprachzustandes behauptet werden. Diese Behauptung dürfte wohl der Annahme korrespondieren, daß der Diffusionsprozeß, der auf einen Sprachzustand einwirkt, verschiedene aufeinanderfolgende Stadien durchläuft, wobei die verschiedenen Stadien jeweils mehr oder weniger bedeutende, d. i. umfassende Veränderungen des Sprachzustandes bewirken. Diese Annahme kann in einer unproblematischen Art dahingehend ergänzt werden, daß mit der Sukzession der Diffusionsstadien zugleich das Ausmaß der Diffusion der zjL) zugrundeliegenden Sprachkenntnisse fortschreitet, id est: daß die Stadienfolge repräsentativ für die zunehmende Modifikation des Sprachzustandes, für das Anwachsen der Stärke des Diffusionsprozesses ist, das anhält, bis der Prozeß sein Endstadium erreicht hat, in dem der diffundierende Sprachzustand durch einen Nachfolger-Zustand abgelöst wird. Der Rekurs auf solche „Gradunterschiede der Sprachveränderung" aber macht es möglich, den für eine Zustandsfolge Z(L) konstitutiven Diffusionsprozeß Δ in endlich viele, aufeinanderfolgende Diffusionsprozesse . . . , δ zu zerlegen, wobei jeder Teilprozeß 8j seinerseits wiederum endlich viele, aufeinanderfolgende Stadien STjiSJ, . . . . ST^&J durchläuft, wobei das Stadium STj (8-) als das Anfangsstadium und ST^JSj) als das Endstadium von δ· gekennzeichnet werden können. (Anzumerken bleibt hier allerdings, daß für die Prozesse δ(· nicht notwendig gilt, daß sie über die gleiche Stadienzahl verfügen; der Wert von m ist also nicht konstant. Wenn von einem Ε η d S t a d i u m die Rede sein soll, bedeutet das lediglich, daß die Endstadien gemeinsame Eigenschaften besitzen, die unabhängig von der Stadienanzahl sind.) Ein solches Vorgehen würde es implizieren, daß dann, wenn Δ auf eine Zeitstrecke t aufgetragen wird, die durch die Sj-Zerlegung von Δ sich ergebenden Abschnitte von t die zeitliche Erstreckung von Sprachzuständen reflektieren würden. Als der „Zustand einer Sprache" wäre alles aufzufassen, was zwischen zwei Endstadien liegt; eine Sprechweise, die insofern berechtigt und wohl auch suggestiv ist, wie ja angenommen werden muß, daß Δ nicht abbricht, wenn einer der Teilprozesse das Stadium S T m erreicht hat; vielmehr wird sich Δ über das Anfangsstadium STj des nachfolgenden Teilprozesses fortsetzen. Denn neu entstehende Zustände einer Sprache sind vom Moment ihres Entstehens an wiederum der Einwirkung von Diffusionsprozessen ausgesetzt und somit instabil; diese ihre Instabilität wird 210
dann in der Sukzession der Diffusionsstadien anwachsen, bis ein neues Endstadium des Diffusionsprozesses erreicht ist — bis auch dieser Sprachzustand durch einen neuen, nachfolgenden Sprachzustand abgelöst wird. 6.3.4 Die (sicherlich hochgradig provisorischen) Überlegungen aus § 6.3.3 verdeutlichen, daß die Teilforderung (F) (1) aus (F) in § 6.3.1 wohl genau dann wird erfüllt werden können, wenn es gelingt, (Fj (2) in einer bestimmten Art nachzukommen: nämlich derart, daß der Z(L) zugrundeliegende Diffusionsprozesse als eine Folge von Teilprozessen analysiert wird, die über „Kurven" verlaufen, deren Fallen und Steigen relativ zu den Anfangsstadien bzw. den Endstadien der Teilprozesse erfolgt. Um (F) (2) in dieser Art erfüllen zu können, sind Voraussetzungen zu erfüllen, die sich derart charakterisieren lassen: es muß (1) möglich sein, die Stadiensukzession in bj zu explizieren (i = 1, . . . , m); (2) muß angegeben werden können, wodurch das Endstadium einer Stadiensukzession spezifiziert werden kann, und (3) müssen die Relationen bestimmt werden, die zwischen ST m (b^) und STj(Sj) bestehen, wenn der in Δ auf δ^ folgende Teilprozeß ist — vielleicht ist es in diesem Zusammenhang sogar erforderlich, die Relationen zwischen verschiedenen Vorgängerstadien von ST^B^) und verschiedenen Nachfolgerstadien von STj(bj) des genaueren zu bestimmen. — Von diesen Forderungen kann zunächst nur (1) mit dem bislang entwickelten Begriffssystem einigermaßen hinlänglich erfüllt werden. Folgendes: Diffusionen bewirken offenbar eine Veränderung der zwischen den Gj aus F bzw. den /· aus L bestehenden Koexistenzbeziehungen; sie modifizieren die existierenden Verwandtschaftsbeziehungen und damit zugleich auch das Ausmaß der Phasenabstände sowie das Grammatizitätsniveau der grammatischen Sätze in Z, w ä h r e n d z^Lj. Gilt nun weiterhin, daß der Diffusionsprozeß sich dahingehend auswirkt, daß er Gemeinsamkeiten zwischen den L während z f L ) zugrundeliegenden Sprachkenntnissystemen mehr und mehr tilgt (und diese Annahme ergibt sich aus der in § 6.2.2 erfolgten Auszeichnung einer Richtung des Diffusionsprozesses), so ist klar, daß mit dem Fortschreiten des auf Zj(L) einwirkenden Diffusionsprozesses die Phasenabstände zwischen den Gj aus F bzw. den aus L anwachsen, daß das Grammatizitätsniveau der grammatischen Sätze in L fällt, die Menge der semigrammatischen Sätze in L also steigt, der Umfang von SjJL) restringiert wird und entsprechend der Extensionsaufwand, der speziell für die Zwecke der gruppenexternen Kommunikation zu leisten ist, kontinuierlich wächst. Diese Zusammenhänge machen deutlich, daß es verschiedene Möglichkeiten gibt, eine Stadiensukzession zu explizieren. Angenommen, zum Zeitpunkt t laufen Diffusionsprozesse d j , . ; . , dn ab, so ist das zum Zeitpunkt t realisierte 211
Diffusionsstadium charakterisierbar durch (1) die Angabe des zum Zeitpunkt t erforderlichen Extensionsaufwandes, (2) durch die Angabe der existierenden Phasenabstände im System der /· aus L bzw. der Gj aus G zum Zeitpunkt t, (3) durch die Angabe des Umfangs von SjJL) zum Zeitpunkt t sowie (4) dadurch, daß der Umfang der Menge der Sätze, die im Grade m grammatisch in L während Zj(L) sind, in Relation zum Umfang der Menge der semigrammatischen Sätze in L gesetzt wird. — Zum Zeitpunkt t j wirken sich dann zusätzlich noch die auf dp . . . ,dn folgenden Diffusionsprozesse dn+j,..., dm auf die Verfassung von z^(L) aus; das Diffusionsstadium kann dann in analoger Weise bestimmt werden, die Unterschiede zwischen den Messungen reflektieren dann die Stadiendifferenzen — in dieser Art kann dann verfahren werden, bis das Endstadium des Prozesses erreicht ist. Natürlich sind die verschiedenen skizzierten Möglichkeiten, eine Stadienfolge zu determinieren, miteinander äquivalent; sie ergeben sich in analoger Weise aus den in Kap. 3 entwickelten Annahmen. Es mag daher hinreichen, wenn die oben angeführte Skizze unter dem in (3) genannten Aspekt etwas präziser gefaßt wird. Eine Stadienfolge ließe sich (3) entsprechend so beschreiben: STj(8·) ist gegeben durch card (SjJL)) von L im Zustand z^L) zum Zeitpunkt t, mit der Diffusionsfolge d j , . . . , dn ST2(^1) ist gegeben durch card (SjJL)) von L im Zustand z-(Lj zum Zeitpunkt t j mit der Diffusionsfolge dp . . . , dn, dn+p . . . , dm, usf. bis zum Erreichen des Endstadiums ST m (5j). Mit der Anzahl der einwirkenden Diffusionen (mit der Fortsetzung der Diffusionsgeschichte) wächst natürlich auch der Grad der Desintegration von L im Zustand z^(L), d. i. der Ausbau der verzweigten Ordnung im System der l^ bzw. im System der zugrundeliegenden Gj aus F schreitet fort, das Gleichgewicht des Sprachzustandes geht mehr und mehr in Ungleichgewicht über, damit aber bereitet sich das Endstadium des auf Zj(L) einwirkenden Prozesses vor. 6.3.5 Die im vorausgehenden Paragraphen knapp umrissenen Überlegungen sollen im wesentlichen verdeutlichen, daß ein Koexistenzmodell es im Grundsatz möglich macht, eine für die interessierende Fragestellung einschlägige Theorie der Sukzession von Diffusionsstadien aufzubauen. Natürlich müßte der skizzenhafte Entwurf noch erheblich genauer gefaßt und weiter ausgebaut werden, wenn eine befriedigende Theorie aufgebaut werden soll; eine solche Erweiterung und Präzisierung sollte, im Zuge eines weiteren Ausbaus des Koexistenzmodelles, durchaus möglich sein. 212
Das Modell macht es insofern möglich, die zu Anfang von § 6.3.4 unter (1) genannte Forderung zu erfüllen, sodaß auch (F) aus § 6.3.1, die umfassendere Adäquatheitsforderung für Diachronien, mit diesem Modell zumindest teilweise erfüllt werden kann. Es bleibt jedoch noch offen, ob und inwieweit (F) insgesamt erfüllt werden kann, d. i. es muß noch gezeigt werden, ob und inwieweit die zu Anfang von § 6.3.4 unter (2) und (3) eingeführten Forderungen, die ja Spezialisierungen von (F) sind, mit diesem Modell erfüllt werden können. Im Hinblick auf diese Forderungen verhält es sich nun so, daß die Frage, ob eine Sprache L sich n o c h in dem Zustand z ^ L ) befindet oder s c h o n in den nachfolgenden Zustand Z:(L) übergegangen ist oder ob diese beiden Zustände in Teilbereichen während ihrer Erstreckung in der Zeit in der Übergangsphasekurzfristig miteinander koexistieren, in der bisherigen, ziemlich umfangreichen Literatur zur diachronen Linguistik noch kerne theoretisch befriedigende Antwort gefunden hat; vielmehr ist die Frage, wann und unter welchen Modalitäten ein Sprachzustand in einen nachfolgenden Sprachzustand übergeht, noch vollkommen offen. Entsprechend sind auch die Forderungen in (2) und (3) aus § 6.3.4 noch in keiner Weise erfüllt, d. i. es gibt keine befriedigende Theorie der Übergangsmodalitäten, wie sie in (2) und (3), aber auch in (F) insgesamt verlangt wird. Das ist umso erstaunlicher, wie in der praktischen diachronen Forschung Übergangsmodalitäten kaum je als ein wesentliches Problem empfunden werden. Mit anderen Worten: in der praktischen Forschung wird zumindest implizite mit einem Kriterium gearbeitet, das eine Abgrenzung von Sprachzuständen, also eine δ-Gliederung von Δ in unproblematischer Weise erlaubt. Bei diesem Abgrenzungskriterium handelt es sich letztlich um eine g r a m m a t i z i t ä t s t h e o r e t i s c h e Annahme (und daß Explikationen dieses Abgrenzungskriteriums, wenn es überhaupt als solches erkannt wurde, noch kaum avisiert wurden, dürfte zumindest mit darauf zurückzuführen sein, daß grammatizitätstheoretische Probleme nicht als Probleme einer diachronen Linguistik aufgefaßt wurden): der gängigen diachronen Praxis zufolge sind die verschiedenen Zustände einer natürlichen Sprache dadurch definiert, daß es keinen Satz in dieser Sprache gibt, der in mehr als einem der Zustände dieser Sprache ein g r a m m a t i s c h e r Satz ist. L, im Zustand Zj(L) von der Grammatiken-Familie Fj erzeugt, und L, im nachfolgenden Zustand Zj(L) von der nachfolgenden Grammatiken-Familie F j erzeugt, werden also als d i s j u η k t aufgefaßt, und Disjunktivität, so verstanden, ist mithin das Diskriminierungskriterium für Sprachzustände, wie es durch das praktische Vorgehen der diachronen Linguistik nahegelegt wird (in dem unverfänglichen Sinne, daß ζ. B. das Mitte 1213
hochdeutsche und das Neuhochdeutsche keine grammatischen Sätze gemeinsam haben, und eben d e s h a l b distinkt voneinander, also verschiedene Zustände der deutschen Sprache sind). Die Reformulierung dieses Abgrenzungskriteriums im Rahmen der zuvor, in § 6.3.4 formulierten Überlegungen läuft nun offenbar darauf hinaus zu sagen, daß L im Zustand z^(L) während des Diffusionsstadiums STm(h-j (also im Endstadium) und L im nachfolgenden Zustand Zj(L) während des Diffusionsstadiums STJ(SJ) (also im Anfangsstadium) vollständig disjunkt sind. Diese Angabe mag zunächst als hinlänglich erscheinen, sie reproduziert sozusagen die Praxis der Forschung in angemessener Weise, sie korreliert einem tatsächlichen Vorgehen - gleichwohl aber muß noch erläutert werden, inwieweit sie einem solchen Vorgehen überhaupt möglich wird. D. h. es muß geklärt werden, wie eine solche p o s t f e s t u m konstatierbare Disjunktion überhaupt Zustandekommen kann. Eine Erklärung dieser Zusammenhänge scheint nun möglich zu werden, wenn auf gewisse Überlegungen aus § 6.2.2 zurückgegriffen wird, wo für das System der GJ aus F zwei gewissermaßen gegenläufige Entwicklungstendenzen ausgemacht wurden. Diese Tendenzen besagen, daß eine Teilklasse der GJ aus F in steigendem Maße diffundiert, also einer Vielzahl konservativer, speziell aber nicht-konservativer Extensionen ausgesetzt ist, während die verbleibende Teilklasse der Systeme aus F sich diffusionsresistent verhält, also die vorgängigen Modifikationen nicht mehr übernimmt, was die schrittweise Restriktion des Kommunikationszusammenhanges in Ρ (nicht: seine Auflösung) nach sich zieht. Die derart retardierenden Systeme aber werden für die Erzeugung von L im Zustand z^(L) beim Durchlauf durch die Diffusionsstadien zunehmend unproduktiver, ihr Beitrag zum Zentrum von L bzw. ihr Anteil an SJJL) verringert sich zunehmend, d. i. die Beziehung zwischen den von den retardierten Systemen und den nicht-retardierenden Systemen erzeugten Sprachen läuft mehr und mehr auf eine Disjunktion hinaus. Natürlich verbindet sich dieser Prozeß mit dem allmählichen Erlöschen der Gruppen in P, die Träger dieser diffusionsresistent gehaltenen Kompetenzen sind. Das Endstadium eines Prozesses b- ist also mit der vollkommenen Stillegung der diffusionsresistenten Kompetenzen gegeben. Was p o s t f e s t u m a l s Disjunktion erscheint, ist a b o v o das Resultat einer fortschreitenden Stillegung gewisser Kompetenzsysteme; d i e s e r A s p e k t a b e r m a c h t die D i s j u n k t i v i t ä t s a n n a h m e h o c h g r a d i g probl e m a t i s c h . Um ein Beispiel zu geben: es sei das Mittelhochdeutsche MHD als ein Zustand der deutschen Sprache vorausgesetzt. Nun ist jedoch 214
in der Endphase der Stadiensukzession von MHD der Fall denkbar, wo einerseits „frühe" Stadienausprägungen im Gebrauch sind (, denen diffusionsresistente Kompetenzsysteme zugrundeliegen), und andererseits „späte" Stadienausprägungen im Gebrauch sind (, die aus stark diffundierenden Kompetenzsystemen hervorgegangen sind). Das Erlöschen dieser „frühen" Stadienausprägungen wäre nach den zuvor skizzierten Überlegungen konstitutiv für den Übergang von MHD in den nachfolgenden Zustand NHD der deutschen Sprache; das Endstadium von MHD, das mit dem Wegfall diffusionsresistenter Kompetenzsysteme erreicht ist, ist mithin zugleich als das Anfangsstadium von NHD aufzufassen. Das aber heißt nichts anderes, als dieses: d a ß d i e b e i d e n Sprachzustände n i c h t d i s j u n k t s i n d . Das grammatizitätstheoretische Diskriminierungskriterium, das in der Praxis der diachronen Forschung umstandslos vorausgesetzt wird, reicht also zumindest i n d i e s e r F o r m nicht hin; die theoretischen Skrupel gegenüber der Praxis der Forschung sind also vollauf gerechtfertigt. Und sie sind dies umso mehr, als ja auch die f-Gliederung von Ρ in der Stadiensukzession Modifikationen erfahren kann und wird; die /^-Struktur von Ρ während z^L) im Stadium STj(Sj) wird in aller Regel mit der /'-Struktur von Ρ während Zj(L) im Stadium S T ^ h · ) nicht identisch sein, sondern sich derart verschoben haben, daß die stark diffundierenden Kompetenzsysteme in Ρ in einem sehr viel höheren Maße von Sprecher-Hörer-Gruppen „besetzt" sein werden als die diffusionsresistenten Systeme, die mehr und mehr aufgegeben werden. Mithin wird auch die /^Struktur von Ρ während z ^ L ) nicht mit der P-Struktur von Ρ während zJL) übereinstimmen^, wobei / der Nachfolger von i ist). Und auch diese Umschichtungen in der ^-Struktur von Ρ im Ablauf der Stadienfolge bzw. der Zustandsfolge machen das Disjunktivitätsprinzip unhaltbar, da mit ihnen Kompetenzen über Zustandsgrenzen hinweg übertragen werden, so daß auch die Erzeugung nicht-disjunkter Satzmengen über Zustandsgrenzen hinweg möglich wird. Die Praxis der Forschung ist also theoretisch n i c h t abgesichert, das Disjunktivitätskriterium muß als Abgrenzungskriterium aufgegeben werden. Es bleibt jedoch die Frage, welches Kriterium an seine Stelle treten könnte. Wenn, ohne eine irgendwie verbindliche Lösung in dieser Richtung anzustreben, hier eine Alternativmöglichkeit skizziert werden soll, so wird bei deren Formulierung wohl zweierlei zu beachten sein: erstens nämlich das Erlöschen von Kompetenzsystemen in der Abfolge der Stadien, und zweitens die Konsequenz dieses Erlöschen für die Art der Verzweigung der /• im Stadienablauf. Das heißt, daß die Disjunktion als eine Disjunktion zwischen den „frühen" und den „späten" Stadien eines Zu215
standes verstanden werden muß; das Endstadium der Stadiensukzession ist genau dann erreicht, wenn es kein diffusionsresistentes System aus F mehr gibt, das zur Erzeugung von L beiträgt; die Disjunktion ist also eine zwischen den diffusionsreichen und den diffusionsarmen, bzw. diffusionsresistenten, Sprachen in L w ä h r e n d z^Lj mit einer Stadienfolge STj (δ·), . . . , STm(δ-) im Diffusionsverlauf. Und genau dann, wenn diese Phase erreicht ist, erfolgt der Übergang eines Sprachzustandes in einen nachfolgenden Sprachzustand. STm(8·) und S T s i n d mithin dadurch und nur dadurch voneinander unterschieden, daß in STj (8j) ein diffusionsresistentes System n i c h t m e h r existiert, während in ST m (b^) mindestens ein diffusionsresistentes System n o c h existiert: der Wegfall dieses Systemes ergibt dann den nachfolgenden Sprachzustand Zj(L) im Diffusionsstadium STj (bj ). Diese informelle Skizze liefert eine möglicherweise befriedigende Perspektive, in der die Übergangsphasen von Zustandsfolgen beschrieben und erklärt werden können, sodaß die Forderungen (2) und (3) aus § 6.3.4 und damit dann auch (F) aus § 6.3.1 insgesamt zu erfüllen sind. Sollte sich ein Ausbau der skizzierten Annahmen als möglich erweisen, so müßte die Theorie natürlich in entsprechender Weise auf die Praxis der Forschung zurückwirken, id est: das Disjunktivitätsprinzip müßte als ein wohl nicht nur p o s t f e s t u m , sondern auch a d h o c eingeführtes Prinzip fallen gelassen werden. Denn dieses Prinzip entspricht nicht einer Diachronie, in deren Rahmen Sprachentwicklung als ein kontinuierlicher, wenngleich gegliederter Prozeß aufzufassen ist, sondern es korrespondiert dem schon von Paul monierten Verfahren, den V e r g l e i c h der verschiedenen Zustände einer Sprache als eine Theorie der Sprachentwicklung auszugeben. Eine solche vergleichende Praxis wird natürlich nur dann möglich, wenn die verschiedenen und verschiedenartigen Überlagerungen von Synchronic und Diachronie gänzlich mißachtet werden, id est: wenn eine im Prinzip unzureichende sprachtheoretische Position als Fundament dieser Praxis genommen wird. Der Versuch, etwa im Rahmen eines Koexistenzmodelles eine andere, adäquatere Position zu gewinnen, involviert dann natürlich seine je spezifischen Probleme, und ohne Zweifel handelt es sich bei dem Problem der Übergangsmodalitäten des Prozesses Zj(L) > Zj(L) um ein besonderes schwerwiegendes Problem. Aber selbst dann, wenn der skizzierte Lösungsvorschlag für dieses Problem sich nicht bewährt, also keiner weiteren Spezifikation und Präzisierung mehr zugänglich ist, dürfte es besser sein, die für diachrone Fragestellungen einschlägigen Probleme in der Tat auch aufzurollen und den Versuch, sie einer Lösung zuzuführen, immerhin zu unternehmen, als eine Diachronie aufzubauen, die eben des216
halb, weil sie wesentliche Probleme systematisch ausblendet, auch beständig systematischer Unzulänglichkeiten überführt werden kann. 6.3.6 Das Ziel einer Theorie der Zustandsfolgen läßt sich allgemein dahingehend charakterisieren: es geht im wesentlichen darum, eine sprachinterne Chronologie für den Ablauf der Sprachentwicklung zu konstruieren; analoges gilt natürlich auch für eine Theorie der Diffusionsstadien. Es liegt auf der Hand, daß eine solche Chronologie die einzige ist, die mit genuin linguistischen Mitteln gerechtfertigt werden kann, d. i. sie kann, wenn überhaupt, nur mit genuin linguistischen Mitteln konstruiert werden. Eine solche Chronologie reflektiert den „natürlichen"Ablauf der Sprachentwicklung; sie besagt also nichts darüber, daß auch die Kenntnis vergangener Sprachzustände im Rahmen der einschlägigen Sprachwissenschaften nicht nur tradiert, sondern auch vertieft werden, eine linguistische Chronologie ist gewissermaßen ,.nicht-reflexiv"; mit ihr werden Sprachkenntnisse, die Resultat der diachronen Forschung selbst sind, nicht thematisiert, denn es ist klar, daß derartige Sprachkenntnisse für den natürlichen Ablauf der Sprachentwicklung irrelevant sind. Ebensowenig einschlägig für eine solche Chronologie sind solche Sprachkenntnisse, die kraft einer konservierenden Sprachplanung erhalten bleiben; derartige Entwicklungen können nur in soziolinguistischen, nicht aber in linguistischen Kategorien abgehandelt werden (, während etwa Dialekte, die sich im Verlauf der Sprachentwicklung gleichsam homöostatisch erhalten, bei einer sprachinternen Chronologie natürlich in Rechnung gestellt werden müssen). Schon diese knappen Hinweise dürften verdeutlichen, daß die Existenz einer sprachinternen Chronologie sprachexterne Chronologien keineswegs überflüssig macht; allerdings dürfen die beiden Arten von Chronologien nicht kategorial verfehlt werden. Es ist durchaus sinnvoll, sprachliche Entwicklungen gewissen sozialen und politischen Entwicklungen zu korrelieren; allerdings ist diese Korrelation nicht mit genuin linguistischen Mitteln herbeiführbar, sondern sie muß im Rahmen einer diachronen Soziolinguistik entwickelt werden — zumindest in der Mehrzahl aller Fälle, was natürlich nicht ausschließt, daß es noch weitere, die Linguistik übergreifende Aspekte geben kann, die hier fruchtbar zu machen wären. Sprachexterne Chronologien können wesentliche, linguistisch nicht greifbare Aspekte erfassen — etwa wenn die Rolle des Lateinischen während des Römischen Imperiums thematisiert wird, oder die Einwirkungen der Buchdruckerkunst auf das Deutsche, usf. — und sprachinterne Chronologien nicht nur sinnvoll komplementieren, sondern auch komplettieren; 217
allerdings muß jede Vermengung der beiden Chronologien vermieden werden. Theoretisch ist das bereits dann vermieden, wenn wenigstens eine Zustandsgrenze der externen Chronologie keine Zustandsgrenze der internen Chronologie ist, aber auch ein Zusammenfallen zweier konsistent aufgebauter Chronologien, deren eine intern, und deren andere extern ist, wäre unproblematisch (obschon sicher nicht der Normalfall), wenn der Verschiedenartigkeit der Bezugssysteme Rechnung getragen wird, was de facto allerdings keineswegs hinreichend geschieht. Dessen ungeachtet wird man jedoch sagen können, daß erst im Rahmen einer kohärenten Korrelation von internen und externen Chronologien ein vollständiges Bild von der Entwicklung der Sprachen sich wird gewinnen lassen, indem die Struktur der Sprachentwicklung ebenso dokomentiert ist wie die auf sie einwirkenden und die von ihr ausgehenden Entwicklungskomponenten dokumentiert sind. Daß ein derart vollständiges Bild der Sprachentwicklung derzeit aus einer Vielzahl von Gründen — nicht zuletzt auch aus Gründen, die die Kapazität der vorliegenden Diachronien betreffen — nicht gezeichnet werden kann, steht wohl außer Zweifel. Außer Zweifel jedoch sollte es auch stehen, daß ein solches Bild als das Fernziel aufgefaßt werden muß, relativ zu dem die weitere Theorienbildung, nicht nur in der Linguistik, vorzunehmen ist. 6.3.7 Aus (79) ergibt sich, daß die interne Chronologie der Sprachentwicklung einen Anfang und ein Ende haben muß, eine Theorie der Zustandsfolgen muß mit hin einen Anfangszustand in der Entwicklung einer Sprache und einen Endzustand in dieser Entwicklung auszeichnen können. Was unter diesen Begriffen zu verstehen ist, kann unproblematisch dahingehend erläutert werden: ein A n f a n g s z u s t a n d von Z(L) ist ein Zustand z^L) in Z(L), der keinem Zustand z(L) in Z(L) (i Φ j) folgt; ein Endzustand in Z(L) ist ein Zustand Zj(L) in Z(L), dem kein Zustand Zj(L) in Z(L) folgt. Der Reihencharakter der Zustandsfolge, der in (76) und (77) spezifiziert wurde, besagt nun, daß es h ö c h s t e n s einen Anfangszustand bzw. h ö c h s t e n s e i n e n Endzustand gibt; wird (78) akzeptiert, so folgt weiterhin, daß es m i n d e s t e n s einen Anfangszustand bzw. m i n d e s t e n s e i n e n Endzustand gibt; also Zustände, die die oben genannten Eigenschaften bezüglich des Nachfolgens (oder des Vorausgehens; die Relation „Vorausgehen" hat mit der Relation „Nachfolgen" alle wesentlichen Eigenschaften gemeinsam) aufweisen. Das bedeutet, daß es nur einen und genau einen Anfangszustand und nur einen und genau einen Endzustand von Z(L) gibt. Der Diffusionsprozeß, der vom Anfangszustand zum Endzustand einer Sprache führt, ist der Gesamtprozeß der Entwicklung einer Sprache. Dieser Prozeß muß 218
natürlich nicht für alle Sprachen in der gleichen Weise ablaufen (er kann von Sprache zu Sprache verschiedene Intensitäten aufweisen, cf. Abschnitt 6.5); d. i. eine wohl universale Ablaufstruktur kann in einer Mehrzahl von Varianten realisiert sein. 6.4
Diachrone Aspekte der Grammatizitäts-Theorie
Die in Abschnitt 3.3 umrissene Grammatizitäts-Theorie reicht natürlich nur hin, wenn lediglich der grammatische Status eines Satzes in einem der Zustände von L untersucht werden soll. Nun hat die Erörterung in § 6.3.5 jedoch gezeigt, daß der Fall, daß ein Satz in meheren Zuständen von L grammatisch ist, zumindest nicht ausgeschlossen werden kann. Natürlich muß die Grammatizitätstheorie derart erweitert werden, daß sie auch solche Fälle zu reflektieren vermag, wie denn die Theorie überhaupt dahingehend erweitert werden muß, daß der Begriff „grammatischer Satz in L " auch dann anwendbar ist, wenn L nicht in einem ihrer Zustände Zj (L), sondern als Zustandsfolge Z(L) ins Auge gefasst wird. Denn wenn L als Zustandsfolge begriffen wird, dann ist, wenn etwa die deutsche Sprache in diesem Sinne aufgefaßt wird, der Satz HEIDE UNDE WALT SINT BEIDE NU VAL im gleichen Sinn ein grammatischer Satz des Deutschen wie der Satz NUN SIND WALD UND HEIDE FAHL, unabhängig davon, daß der erste Satz dem Mittelhochdeutschen und der zweite Satz dem Neuhochdeutschen angehört. Eine Grammatizitätsbewertung relativ zu Z(L) ist also allgemeiner als eine Bewertung relativ zu ζ^ (L) in Z(L); sie übergreift die diachrone Differenzierung, relativ zu der die zustandsabhängige Bewertung erst möglich wird. Um die hier angedeutete Anwendungsbreite des Begriffes „grammatischer Satz in Z," theoretisch zu sichern, und um des weiteren auch Sätze, die in einer Mehrzahl von Zuständen einer Sprache grammatisch sind, auch als solche kennzeichnen zu können, empfiehlt es sich, eine neue, spezifisch diachrone, über zustandsabhängige Bewertung hinausführende Grammatizitätskategorie einzuführen, die sich etwa als Kategorie der T r a n s g r a m m a t i z i t ä t kennzeichnen liesse. Kategoriesierungen im Hinblick auf Transgrammatizität sind immer nur relativ zu Z(L) von möglich, ihr Bezugssystem ist die Zustandsfolge, nicht der Sprachzustand. Des genaueren läßt sich dieser Begriff in Analogie zu (46) und (47) einführen; unter der weiteren Voraussetzung, daß Z(L) durch eine R e i h e Fj, . . . , Fn von Grammatiken-Familien erzeugt wird. (Cf. hierzu § 6.3.2). (Dj) Der Grad der Transgrammatizität t eines Satzes S aus L ist die Anzahl der Fj aus Fj, . . . , F , die S erzeugen. (D2J Ein Satz S aus L ist semitransgrammatisch im Grade u relativ zu 219
F- aus Fj, . . . , Fn< wenn S transgrammatisch im Grade t ist, ohne von F- erzeugt werden zu können. Mit (Djj ist festgelegt, wie S im Hinblick auf die Rolle zu bestimmen ist, die S in der Geschichte einer Sprache spielt, d.i. in welchen Zuständen dieser Sprache er ein grammatischer Satz ist. Um ein Beispiel zu geben: es sei S e i während zjL) und es sei 5 e L im nachfolgenden Zustand z/L), so weist S einen Trangrammatizitätsgrad von 2 auf. Nach f Z ^ j ist S dann semitransgrammatisch im Grade η - 2, d.i. er ist in η - 2-vielen Zuständen von L kein grammatischer Satz. Insofern ist mit (Dj) und f Z ^ eine Möglichkeit gegeben, die historische Rolle eines Satzes zu bestimmen; insbesondere aber ist es möglich, den Verzicht auf die Disjunktivitätsannahme für Sprachzustände aufzufangen: daß Sätze in meheren Sprachzuständen grammatisch sein können, besagt weder im Hinblick auf Sprachzustände noch im Hinblick auf Folgen von Sprachzuständen etwas gegen die Anwendbarkeit des Begriffes „grammatischer Satz in mit der Wahl einer einem bestimmten Bezugssystem eindeutig entsprechenden Kategorie wird auch die Grammatizitätsbewertung jeweils eindeutig. 6.5
Diffusionsstadien und Diffusionsintensitäten
6.5.1 Schon zuvor wurde darauf hingewiesen, daß die vermutlich universelle Ablaufstruktur des Diffusionsprozeßes in verschiedenen Sprachen im Zuge ihrer Entwicklung unterschiedlich realisiert werden kann. Insbesondere gilt dabei, daß der Diffusionsprozeß unterschiedlich i η t e η s i ν ablaufen kann, und zwar sowohl Δ insgesamt für verschiedene Sprachen als auch die δ· im Hinblick auf die verschiedenen Zustände einer Sprache. Natürlich muß, wenn derart der Begriff der D i f f u s i o n s i n t e n s i t ä t in Anspruch genommen wird, des genaueren erläutert werden, was unter diesem Begriff zu verstehen ist. Naheliegend ist es zu sagen, daß ein Diffusionsprozeß genau dann besonders intensiv ist, wenn er besonders schwerwiegende Änderungen der Sprachstruktur bewirkt, und daß er genau dann weniger intensiv sein wird, wenn die von ihm bewirkten Änderungen der Sprachstruktur eher geringfügig sind. Bleibt zu fragen, wie das Ausmaß der bewirkten Änderungen zu messen ist. Wie hier erforderliche „Metrik der Diffusionsintensitäten" gewonnen werden kann, läßt sich relativ zum Aufbau einer Grammatik vor Augen führen. Allen Entwürfen der Grammatik-Theorie ist wohl eines gemein: daß nämlich generative Systeme als hierarchisch organisierte Systeme aufzufassen sind, wobei die Ebenen dieser Hierarchie von der Spitze bis zur Basis systematisch miteinander verbunden sind. Kraft dieser systematischen Verbindung läßt es sich nicht vermeiden, daß jede an der Spitze 220
der Hierarchie vorgenommene Veränderung im Aufbau des Systemes Rückwirkungen auf alle nachfolgenden Ebenen der Hierarchie hat; ebenso verändern sich die Relationen zwischen den Komponenten des Systemes sehr stark, wenn derartige Veränderungen auch nur in einem seiner Teilsysteme vorgenommen werden. So hat ζ. B. die Einführung auch nur einer einzigen neuen (nicht-redudanten) syntaktisch-semantischen Kategorie erhebliche Auswirkungen auf das Gesamtsystem, während die Einführung eines neuen phonetischen Merkmals den Gesamtsystem, während die Einführung eines neuen phonetischen Merkmals den Gesamtaufbau des Systemes kaum verändert. Entsprechend läßt sich sagen, daß die Intensität eines Diffusionsprozeßes davon abhängt, auf welches Teilsystem einer Grammatik er einwirkt, und an welcher Stelle er auf dieses Teilsystem einwirkt: je höher dieses Teilsystem in der Gesamthierarchie placiert ist, und je höher der in diesem Teilsystem erfasste Bereich hierarchisiert ist, desto gravierender ist das Diffussionsresultat. Natürlich gilt auch die Umkehrung dieser Annahme, die gewissermassen die Idee einer „Metrik der Diffusionsintensitäten" enthält. Denn auf eine Grammatiken-Familie bezogen besagt sie, daß Diffusionsprozeße umso intensiver sind, je mehr der Systeme, aus denen die Grammatiken-Familie F komponiert ist, in ihren hoch hierarchisierten Teilsystemen von ihnen betroffen sind. Wird diese Idee für eine Messung akzeptiert, so läßt sich offenbar sagen, daß ein Diffusionsprozeß eine Stadienfolge in unterschiedlichen Intensitätsgraden durchlaufen kann, sodaß des weiteren auch der Gesamtprozeß Δ in den verschiedenen δ-Abschnitten von Δ unterschiedlich intensive Ausprägungen erfahren kann. Mithin kann auch nicht von vorherein ein homogener Diffusionsverlauf unterstellt werden; vielmehr ist es angemessener anzunehmen, daß sowohl die Diffusion von Sprachen als auch von Sprachzuständen unterschiedlich intensiv verlaufen kann. Ein Diffusionsprozeß &2> und zwar genau dann, wenn mit δ^ ζ. Β. auch syntaktische, mit 62 dagegen nur phonologisch- phonetische Prozeße verbunden sind. Die vollständige diachrone Theorie einer Sprache muß also nicht nur spezifizieren, wie eine Sprache, genauer: das System der ihr zugrundeliegenden Sprachkenntnisse diffundiert, sondern sie muß auch den Grad der Intensität spezifizieren, den der Diffusionsprozeß in seinen verschiedenen Phasen aufweist. Es bedarf keiner Frage, daß die zuvor skizzierte Meßidee allein den Aufbau einer solchen Theorie noch nicht ermöglicht; vielmehr muß eine explizite Metrik der Diffusionsintensitäten entwickelt werden, wenn die Entwicklung von natürlichen Sprachen unter diesem Aspekt in einer empirisch signifikanten Art analysiert werden soll. Der Aufbau einer solchen Metrik aber steht in der Diachronie noch aus.
221
6.5.2 Der Grad der Diffusionsintensität liefert ein Maß für das Niveau der Sprachentwicklung, für das Ausmaß der Veränderungen, die eine Sprache im Verlauf ihrer Entwicklung erfährt. Es liegt auf der Hand, daß dieses Maß nicht notwendig mit dem Maß der Diffusionsgeschwindigkeit identisch sein muß; es ist vielmehr unabhängig vom Ausmaß der zeitlichen Erstreckung eines eines Diffusionsprozeßes. Die Intensität eines Diffusionsprozeßes erlaubt mithin keinerlei Rückschlüsse auf die Diffusionsgeschwindigkeit, und umgekehrt, id est: ein sehr intensiv sich vollziehender Diffusionsprozeß kann eine sehr geringe Diffusionsgeschwindigkeit aufweisen, während ein minimal intensiver Diffusionsprozeß sich sehr schnell vollziehen kann, also eine hohe Diffusionsgeschwindigkeit erreichen kann, u n d u m g e k e h r t . Es können sich, mit anderen Worten, durchaus erhebliche Disproportionen zwischen Diffusionsintensitäten und Diffusionsgeschwindigkeiten ergeben, die eine Identifizierung der beiden Begriffe unmöglich machen. Natürlich bestehen dessen ungeachtet sehr enge Relationen zwischen Diffusionsintensitäten und Diffusionsgeschwindigkeiten; es ist wesentlich zu wissen, wie lange ein Diffusionsprozeß, also ein 5 ( .-Abschnitt von Δ währt und wie intensiv er abläuft, um angeben zu können, ob es z.B. Diffusionsgrenzen derart gibt, daß gewisse sehr intensive Diffusionsprozeße eine bestimmte Diffusionsgeschwindigkeit nicht überschreiten; die Korrelation von Diffusionsgeschwindigkeit und Diffusionsintensität kann sich weiterhin dann als wesentlich erweisen, wenn untersucht werden soll, ob und inwieweit gewisse Sprachplanungen erfolgreich oder nicht erfolgreich verlaufen sind; es mag sein, daß es, abhängig von Grad der erwünschten Diffusionsintensität, einen Mindestzeitraum für den Diffusionsverlauf gibt, der notwendig durchlaufen sein muß, bevor Erfolganalysen sinnvoll durchgeführt werden können, usf.; die Korrelation von Diffusionsintensität und Diffusionsgeschwindigkeit kann sowohl für die theoretische als auch für die angewandte Linguistik zu wesentlichen Einsichten führen. Diese Einsichten sind allerdings nur dann zu erwarten, wenn diese Begriffe in der Tat in einer nicht-naiven Weise einander korreliert, nicht aber miteinander identifiziert werden; in diesem letzteren Falle kann nur noch ein falsche Bild der Sprachentwicklung gezeichnet werden; die inadäquate Begrifflichkeit, die sich schon dann ergibt, wenn Diffusionsintensität und Diffusionsgeschwindigkeit gleich gesetzt werden, würde notwendig zu unqualifizierbaren Forschungsresultaten führen. 6.5.3 Der Umstand, daß sich die Diffusionsgeschwindigkeit und die Diffusionsintensität einer Sprache disproportional zueinander verhalten können, muß besonders in der komparativen Linguistik in Rechnung gestellt werden, in der an zentraler Stelle, wenngleich zumeist implizite, jedenfalls aber in 222
einer anderen Nomenklatur, Gebrauch von diesen Begriffen gemacht wird (und zwar, wie anzumerken ist, nicht immer in zureichender Weise). Die Aufgabe der komparativen Linguistik besteht, grob gesagt, darin, genetische Korrepondenzen zwischen den Sprachen einer Sprachfamilie zu erklären und zu beschreiben (also solche Übereinstimmungen zwischen verschiedenen Sprachen, die sich aus einem gemeinsamen Ursprung dieser Sprachen erklären lassen, und die den Begriff „Sprachfamilie" allererst definieren); darüber hinaus muß im Rahmen der komparativen Linguistik die Aufgabe bewältigt werden, älteste, nicht mehr empirisch belegte Sprachzustände zu rekonstruieren. Das geschieht, wiederum grob vereinfachend gesagt, im wesentlichen derart, daß aus den genetischen Korrepondenzen frühere Sprachformen extrapoliert werden; die Analyse dieser Korrepondenzen ist also die vorgängige Aufgabe der komparativen Forschung. Diese Aufgabe wird nun dadurch zu erfüllen versucht, daß zunächst eine Menge von Sprachen, die als einer und nur einer Sprachfamilie zugehörig aufgefasst werden, diachron geordnet werden, d.i. es wird, zumeist nach dem Stammbaumprinzip, spezifiziert, welche Sprache welcher anderen Sprache in dieser hypothetischen Sprachfamilie vorausgeht bzw. nachfolgt. Über diesem diachron geordneten Sprachensystem wird dann eine komparative Hypothese formuliert, die die genetische Mobilität der Sprachenfamilie zum Gegenstand hat. Es liegt auf der Hand, daß die Korrespondenzbeziehung zwischen den verschiedenen Sprachen im Ablauf der diachronen Prozeße mehr und mehr abgebaut wird, also auch, da ihre Manifestationen geringfügiger werden, schwerer zu fassen ist. Die Hypothese über die genetische Mobilität der Sprachenfamilie besagt in diesem Zusammenhang nun, in welchen Sprachen, genauer: in welchen Zuständen dieser Sprachen die genetische Mobilität besonders schwach bzw. besonders stark gewesen ist, id est: inwieweit der ursprüngliche Sprachbestand überhaupt noch erhalten ist. Es liegt auf der Hand, daß dieser ursprüngliche Bestand besonders in den Sprachen noch gut dokumentiert sein wird, die eine nur geringe Diffusionsintensität aufweisen. Die genetische Mobilität hängt also von dem Faktor „Diffusionsintensität", nicht aber von dem Faktor „Diffusionsgeschwindigkeit" ab: eine Sprache, die sich nur langsam verändert hat, kann sich in diesem langsam ablaufenden Prozeß gleichwohl intensiver verändert haben als eine Sprache, die sich sehr schnell, aber auf einem geringen Diffusionsgrad verändert hat. Um ein Beispiel zu geben: sei Ly die Usprungssprache, aus der zwei Sprachen Lj und Z^ herse vorgegangen sind; ' wiederum in L ^ und L ^ zerfallen. Wenn nun die Sprache L j mit großer Intensität diffundiert, in der Folge LJJ — L2 — L L j dagegen nur ein geringes Niveau der Diffusionsintensität erreicht wird, dann wird in den jüngeren Sprachen L^, L ^ die ursprüngliche genetische 223
Struktur sehr viel besser dokumentiert sein als in Lj, der älteren dieser Sprachen. Die Möglichkeit, eine Sprache als „früh" datieren zu können, besagt also nicht notwendig etwas über die besonders geringe genetische Mobilität dieser Sprache; das Alter einer Sprache ist keineswegs notwendig ein Indikator für genetische Nähe zur Ursprungssprache, und entsprechend liefert auch die älteste der belegten Sprachen einer Sprachenfamilie nicht notwendig auch die geeignetsten Rekonstruktionsbasen: eben weil eine besonders geringe Diffusionsgeschwindigkeit nicht notwendig ein besonders geringes Diffusionsniveau, eine nur geringe Diffusionsintensität einschließen muß. Hypothesen über die genetische Mobilität einer Sprachenfamilie können also erst dann adäquat formuliert werden, wenn vorgängig bereits gewisse Begriffe der diachronen Theorie, insbesondere die Begriffe „Diffusionsintensität" und „Diffusionsgeschwindigkeit" (oder Äquivalente dieser Begriffe) adäquat eingeführt worden sind; insofern ist die komparative Linguistik von der diachronen Theorie logisch und sachlich abhängig (und eine solche Abhängigkeit besteht sicher nicht nur in dieser einen Hinsicht). Die Fundamente der komparativen Linguistik (oder zumindest ein gewisser wesentlicher Teil dieser Fundamente) müssen also aus der diachronen Theorie deduzierbar sein; die komparative Sprachanalyse muß mithin kohärent an die Analyse der Sprachenentwicklung angeschlossen sein. Und erst dann, wenn diese Kohärenzforderung, die ja in analoger Weise für die Beziehungen zwischen Synchronic und Diachronie gilt, für a l l e Disziplinen der Linguistik ih zureichender Weise erfüllt ist, wird es möglich sein, die Sprachen in der Fülle ihrer Aspekte im Rahmen einer e i n h e i t l i c h e n Theorie zu analysieren.
6.6
Analysierbarkeit von Diffusionswahrscheinlichkeiten
6.6.1 Wenn eine explanative diachrone Theorie, also ein prognosefähiges diachrones System, das in Form eines Koexistenzmodelles angelegt ist, auf aktuale Sprachzustände, genauer: auf das aktuale Diffusionsstadium eines aktüalen Sprachzustandes angewendet wird, schließt das in gewisser Weise den Versuch ein, zukünftige Sprachentwicklungen zu prognostizieren. Dieser Zusammenhang ist klar: Gegenstand der Theorie sind ja nicht nur koexistierende Kompetenzsysteme, sondern zugleich die Veränderungen, die diese Kompetenzsysteme erfahren; sofern die Theorie die Entwicklung der Sprachkenntnisse in Ρ während ST- (δ·) thematisiert, thematisiert sie zugleich auch die gewissermassen nächstzukünftige Struktur im Aufbau dieser Sprachkenntnisse in P, d. i. sie prognostiziert in gewisser Weise die Sprachkenntnisse in Ρ 224
während STj + j (bj), dem nächstfolgenden Diffusionsstadium. Gegenstand der einschlägigen diachronen Aussagen ist also auch das auf das aktuale Diffusionsstadium eines aktualen Sprachzustandes n a c h f o l g e n d e Diffusionsstadium; ein nachfolgender Sprachzustand kann nur dann thematisiert werden, sofern das aktuale Diffusionsstadium das Endstadium S T n (h^j eines Sprachzustandes z;· ( L j ist, sodaß das nachfolgende Diffusionsstadium das Anfangsstadium STj (bj) eines nachfolgenden Sprachzustandes Zj (L) ist, in dem sich dieser neue Zustand von L zunächst erschöpft. Fraglich ist also, ob und wieweit es mit den Mitteln der diachronen Theorie möglich ist, eine Stadienfolge vorauszusagen, also die Menge derjenigen konservativen und nicht-konservativen Extensionen zu prognostizieren, die zur Ausbildung eines neuen Diffusionsstadiums, also zur modifizierten Neukonstitution der zugrundeliegenden Grammatiken-Familie F (F hier als das System der in Ρ internalisierten Sprachkenntnisse verstanden) führen. (Diese Fragestellung, die für diachrone Theorien einschlägig ist, kann natürlich auch für die synchrone Variante des Koexistenzmodelles formuliert werden; sie zielt dann auf die Prognostizierbarkeit von Infusionsstadien.) Natürlich besagt die Restriktion des Objektbereiches auf das nachfolgende Diffusionsstadium nichts gegen die Möglichkeit anzunehmen, daß gewisse Diffusionsresultate, wenn sie einmal vorliegen, in der Stadiensukzession stabil bleiben; es ist jedoch klar, daß der Versuch, gewissermaßen „Erhaltungsgesetze" für Diffusionen zu formulieren, ein weiterer, zusätzlicher Prognoseansatz ist, der die Möglichkeit der Formulierung von diachronen Aussagen über eine zukünftige Stadienfolge bereits voraussetzt. Mit Erhaltungsannahmen wäre dann eine Klasse von Kompetenzstrukturen ausgezeichnet, von denen gilt, daß sie sich „bis auf weiteres" stabil verhalten, also während eines gewissen zu spezifizierenden δ-Abschnittes nicht mehr diffundieren. Einschlägige Stabilitätsvoraussagen aber sind etwas grundsätzlich anderes als Aussagen über zukünftige Entwicklungen, die Restriktion ist insofern berechtigt. Nun handelt es sich bei der Voraussage eines nachfolgenden Diffusionsstadiums (, die, im Spezialfall, zugleich auch die Voraussage eines neuen Sprachzustandes, nämlich eines Anfangsstadiums einer neuen Stadienfolge sein kann) notwendig um eine Prognose, die auf Grund des nicht-deterministischen Verlaufes der Sprachentwicklung lediglich Wahrscheinlichkeiten zum Inhalt haben kann; für sie kann der Anspruch definitiver Gültigkeit nicht erhoben werden. Aussagen dieser Art sind nur dann möglich, wenn zukünftige, gegebenenfalls aktuale Diffusionsprozeße zum Gegenstand genommen werden; Wahrscheinlichkeitsaussagen über bereits abgelaufene Diffusionsprozeße sind n i c h t möglich. Das wird zumal dann einsichtig, wenn eine in diesem Zusammenhang nicht zulässige Konnotation von „Wahrscheinlichkeitsaussage" 225
ausgeschaltet wird. Denn gegen die These, daß über bereits faktische Diffusionsprozeße keine Wahrscheinlichkeitsaussagen formuliert werden können, könnte ja eingewendet werden, daß auch über schon abgeschlossene Diffusionsprozeße mit Sicherheit geltende Aussagen durchaus nicht immer gemacht werden können, z.B. auf Grund einer ungünstigen Beleglage, und daß es sich bei diesen Aussagen demzufolge ebenfalls um Wahrscheinlichkeitsaussagen handelt. Demgegenüber bleibt jedoch festzuhalten, daß es bei einer solchen Argumentation um den G r a d d e r G e l t u n g einer linguistischen Aussage geht, um „Aussagenwahrscheinlichkeiten", nicht aber um die Wahrscheinlichkeiten des Eintretens gewisser sprachlicher Entwicklungen, um „Ereigniswahrscheinlichkeiten" bzw. um Aussagen, die solche Wahrscheinlichkeiten zum Inhalt haben. Genauer: im ersten Fall geht es um eine metatheoretische Aussage etwa folgender Art: „ gilt auf Grund der Datenbasis e im Grade C", d.i. es geht um das Problem der Prüfbarkeit, genauer: der Bestätigungsfähigkeit linguistischer Aussagen (Cf. hierzu Kap. 7). Im zweiten, hier interessierenden Fall geht es dagegen um Aussagen etwa der folgenden Art: „Der Diffusionsprozeß d wird mit der Wahrscheinlichkeit w eintreten", also um eine spezifisch objektsprachliche Art von Aussagen. Die Vermengung von Aussagenwahrscheinlichkeit und Ereigniswahrscheinlichkeit käme also einer Vermengung von Objektsprache und Metasprache gleich, und die Konsequenzen einer solchen Kategorienverfehlung sind klar: die Konsistenz der Theorie wäre zerstört. — Sicherlich lassen sich in einem gewissen Sinne alle Aussagen der Linguistik als „Wahrscheinlichkeitsaussagen" qualifizieren, und zwar insofern, wie sie als prinzipiell widerlegbare eben nur mit Wahrscheinlichkeit gelten. Aber dieser metatheoretische Aspekt besagt nichts gegen die These, daß der Begriff „Ereigniswahrscheinlichkeit" nur im Hinblick auf zukünftige Sprachentwicklungen brauchbar ist: Prozeße, die bereits abgeschlossen sind, können nicht mehr mit Wahrscheinlichkeit eintreten; sie sind durch ihre Faktizität allen Wahrscheinlichkeitserörterungen definitiv entzogen; bei ihrer Beschreibung steht nur die Struktur des faktisch abgelaufenen Prozesses, nicht aber seine Wahrscheinlichkeit zur Debatte. Alternative Prozeßabläufe können hier nicht mehr auftreten; zukünftige Diffusionsprozeße dagegen können in einer Vielzahl von Alternativen ihre Realisierung finden, sie können in der einen oder anderen Art ablaufen. Und eine Wahrscheinlichkeitsaussage wird (im hier gewählten Sprachgebrauch) genau dann formuliert, wenn wenigstens eine dieser Alternativen als die wahrscheinlichste gekennzeichnet wird, wenn, konkreter, aus der Klasse der möglichen Diffusionsstadien, die einem aktualen Diffusionsstadium direkt nachfolgen können, eines als das wahrscheinlichste ausgefiltert wird. Die Frage, die nur an auf aktuale Diffusionsstadien angewendete diachrone Theorien herangetra226
gen werden kann, läßt sich mithin genauer derart formulieren: an Hand welcher Kriterien kann die (möglicherweise unendliche) Klasse der direkt nachfolgenden Diffusionsstadien derart restringiert werden, daß mindestens ein und höchstens ein Stadium als das wahrscheinlich eintretende Diffusionsstadium qualifiziert werden kann? 1 3 — Es liegt auf der Hand, daß dies eine empirisch signifikante Fragestellung ist, die mit metatheoretischen Problemen der Bestätigungsfähigkeit keinesfalls zu identifizieren ist: nur Antworten auf diese Fragestellung können zur Klasse der Aussagen führen, die Wahrscheinlichkeitsaussagen, Aussagen über Ereigniswahrscheinlichkeiten genannt werden können. 6.6.2 Die Wahrscheinlichkeit grammatischer Diffusionsprozeße kann und muß unter zwei einander ergänzenden Aspekten analysiert werden: zum einen muß nach der Wahrscheinlichkeit des Auftretens gewisser Diffusionsprozeße gefragt werden, zum anderen muß gefragt werden, mit welcher Wahrscheinlichkeit Diffusionen sich in einer Sprachgemeinschaft Ρ ausbreiten werden. Die A u f t r e t e n s w a h r s c h e i n l i c h k e i t eines Diffusionsprozesses d ist also nicht mit seiner A u s b r e i t u n g s w a h r s c h e i n l i c h k e i t identisch; beide Aspekte müssen strikt voneinander abgehoben werden, wenn ein nachfolgendes Diffusionsstadium prognostiziert werden soll. Die Frage, welche Kriterien die Auszeichnung des wahrscheinlichsten der möglichen nachfolgenden Diffusionsstadien erlauben könnten, läßt sich also genauer in zwei Teilfragen reformulieren: zunächst wird es darum gehen anzugeben, welche Kriterien die Auftretenswahrscheinlichkeiten determinieren (Teilfrage 1), sodann muß es darum gehen anzugeben, welche Kriterien die Ausbreitungswahrscheinlichkeiten der wahrscheinlich auftretenden Diffusionen determinieren (Teilfrage 2). — Nun wurde in § 6.2.2 bereits skizziert, daß mit Diffusionen immer ein Vereinfachungseffekt intendiert ist, und das bedeutet in diesem Zusammenhang, daß ein Diffusionsprozeß umso wahr13 Dabei bleibt anzumerken, daß eine Theorie der Diffusionswahrscheinlichkeiten letztlich schon in der klassischen diachronen Linguistik vorgezeichnet ist: so etwa dann, wenn gesagt wurde, daß die Syntax konservativer als die Lautstruktur sei. Denn mit einer solchen Annahme wird ja zugleich behauptet, daß die Diffusionswahrscheinlichkeit im Bereich der Phonologie höher ist als im Bereich der Syntaktik. Daß eine Weiterentwicklung dieser latent gegebenen Tendenzen in der Tradition ausblieb, daß insbesondere kaum Prognoseversuche oder nur kaum unternommen wurden, dürfte seinen Grund nicht zuletzt darin haben, daß die technischen Voraussetzungen für eine einigermaßen hinlängliche Prognosepraxis schlechterdings nicht gegeben waren. Dank der formalen Systeme der generativen Linguistik ergibt sich nunmehr j e d o c h eine veränderte Perspektive, die genau zu überprüfen durchaus angebracht ist.
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scheinlicher auftreten wird, je mehr er zur Vereinfachung des Systemes der Gj in F beitragen wird, also gewissermaßen die Extensionskosten vermindert. Insofern sind es also Einfachbewertungen, die den Diffusionsverlauf steuern, i.e. die Wahrscheinlichkeit von Diffusionen ist eine Funktion des Ausmaßes der mit ihnen erreichbaren Vereinfachungen im Aufbau von F. Diesem ersten Kriterium für die Auftretenswahrscheinlichkeit von Diffusionsprozessen — dem Kriterium des erreichbaren Vereinfachungseffekt — ist allerdings ein weiteres Kriterium beizufügen: in § 6.5.1, 6.5.2 wurde der Begriff der Diffusionsintensität (informell) eingeführt, und es ist eine naheliegende Annahme, daß auch der Intensitätsgrad einer Diffusion Einfluß auf die Wahrscheinlichkeit ihres Auftretens hat. Die Häufigkeit von Diffusionen mit einem geringen Intensitätsniveau wird sicherlich höher liegen als die Häufigkeit von Diffusionen mit einem hohen Intensitätsniveau, d.i. es wird versucht, mit einem möglichst minimalen Modifikationsaufwand eine maximale Optimierung des internalisierten generativen Systemes zu bewirken, mit möglichst geringen Extensionskosten optimale Vereinfachungseffekte zu erzielen. Dieses Zusammenwirken von Einfachheitsbewertungen und Diffusionsintensitäten liefert vermutlich jenen Faktor, der die Auftretenswahrscheinlichkeit einer Diffusion bestimmt. Allgemein wird sich sagen lassen, daß ein Diffusionsprozeß umso wahrscheinlicher auftritt, je geringer seine Intensität ist und je nachhaltiger der durch ihn bewirkte Vereinfachungseffekt im System der Gy aus F ist. Natürlich bleibt zu klären, wie eine solche Konjunktion von Einfachheit und Diffusionsintensität genauer strukturiert ist; gleichwohl dürfte Grund zu der Annahme bestehen, daß es genau diese Konjunktion ist, die im Prinzip die Steuerung des Diffusionsverlaufes liefert. Ein Beispiel mag diesen Zusammenhang verdeutlichen. Wenn die vorausgehenden Überlegungen sich bewähren, so gilt in konkreto, daß Regelsysteme umso eher diffundieren, je niedriger sie in einer Grammatik G;· hierarchisiert sind, und je nachhaltiger der durch die Diffusion im Hinblick auf F herbeigeführte Vereinfachungseffekt ist; eine hohe Hierarchisierung impliziert demgegenüber ein hohes Maß an Diffusionsresistenz. Entsprechend werden in Gj aus F etwa enthaltene Alternativregeln, die niedrig hierarchisiert sind, ζ. B. also Regeln, die einer Lexikoneinheit eine Klasse von möglichen Selektionsbeschränkungen zuordnen, mit hoher Wahrscheinlichkeit diffundieren: die Reduktion der Klasse möglicher Selektionsbeschränkungen ist sicherlich eine Vereinfachung, und Umstrukturierungen auf diesem Hierarchisierungsniveau weisen sicher auch keine besonders hohe Diffusionsintensität auf. Wird etwa das grammatische Verhalten der Präposition w e g e n im Hinblick auf die Klasse möglicher Rektionen von Oberflächenkasus so analysiert, wie es in der Argumentation zu den Sätzen in (20) geschehen ist, so wird sich in der 228
Menge der Sprecher-Hörer des Deutschen eine Sprecher-Hörer-Gruppe />· ausmachen lassen, deren Sprachkenntnissen zufolge es für dies Präposition, vermutlich aber auch für die Präposition t r o t z eine Alternativrektion von Oberflächenkasus existiert, die, informell, durch die folgende Lexikonregel spezifiziert ist: (79)
{
(wegen
Itrotz
|
PRÄPOSITION /
Es ist wahrscheinlich, daß im weiteren Verlauf der Diffusion der der deutschen Sprache zugrundeliegenden Sprachkenntnisse die Alternative in (79) eliminiert wird, wobei die Auftretenshäufigkeit von (79) (b) des weiteren dafür zu sprechen scheint, daß die Diffusion zuungunsten von (79) (a) ausfallen wird, also im nachfolgenden Diffusionsstadium eine Regel (79') existieren wird, in der die Zeile (a) aus (79) nicht mehr enthalten sein wird. In einem derartigen Rahmen (der ganz fraglos eines weiteren Ausbaus bedürftig, aber wohl auch fähig ist) ließe sich dann, bei umfassender Analyse des gegenwärtigen Diffusionsstadiums des Deutschen, eine Klasse von mit Wahrscheinlichkeit auftretenden Diffusionen angeben, mit dem so spezifizierbaren Diffusionsverlauf aber wäre zugleich auch das nachfolgende Diffusionsstadium bestimmt. Über Auftretenswahrscheinlichkeiten lassen sich mithin durchaus signifikante Aussagen formulieren, d.i. die Möglichkeit einer einschlägigen Analyse und Prognose ist im Prinzip gegeben. Inwieweit sie allerdings in konkreto genutzt werden kann, wird wesentlich davon abhängen, inwieweit eine explizite Theorie der Auftretenswahrscheinlichkeit von Diffusionen entwickelt wird, die auf gesicherten Voraussetzungen beruht, also aus einer gesicherten Theorie der Einfachheitsbewertungen und Diffusionsintensitäten abgeleitet werden kann (oder doch zumindest in wesentlichen Teilen aus einer solchen Theorie deduzierbar ist). Die Überlegungen aus Kap. 4 bzw. aus Abschnitt 6.5 verdeutlichen dabei, daß es (im Prinzip) möglich ist, eine solche Theorie aufzubauen, d.i. Wahrscheinlichkeitsaussagen kohärent begründen zu können. 6.6.3 In der Argumentation zu (79) wurde ein Aspekt zur Geltung gebracht, der noch einer genaueren Prüfung bedarf. Es wurde nämlich aus dem Umstand, daß eine Diffusion von (79) wahrscheinlich ist, und aus der Prädominanz der Variante (79) (b) im System der G-, die dem derzeitigen Diffusionsstadium des Deutschen zugrundeliegen, geschlossen, daß (1) der Diffusionsprozeß, dessen Auftreten wahrscheinlich ist, sich in Ρ (verstanden als die Menge der Sprecher-Hörer des Deutschen) sich durchsetzen wird, und daß er sich (2) zugunsten von (79) (b) durchsetzen wird, id est: von der 229
Auftretenswahrscheinlichkeit wurde auf die Ausbreitungswahrscheinlichkeit geschlossen. Diese Art zu Schließen ist jedoch unzulässig, denn die Kriterien für die wahrscheinliche Ausbreitung von Diffusionen selektieren neuerlich die Klasse der Diffusionen, deren Auftreten wahrscheinlich ist. Die Antwort auf die in § 6.6.2 gestellte Teilfrage 2 wirkt also zurück auf die Antwort auf die eben da gestellte Teilfrage 1, wobei die Argumentation zu (79) ein Beispiel für eine mögliche Antwort auf die Teilfrage 1 ist. Die Kriterien, die in § 4.4.4 am Beispiel der Hypothesen (hj) - f h j ) für Diffusionsausbreitungen angegeben wurden, sind zugleich auch Kriterien für die Wahrscheinlichkeit der Ausbreitung möglicher Diffusionen; mit ihnen wird nicht angegeben, wann eine Diffusion wahrscheinlich, sondern wann ihre Ausbreitung wahrscheinlich ist. Die Bedingungen, die die Wahrscheinlichkeiten der Diffusionsausbreitung determinieren, liefern gewissermaßen den Filter, den die Klasse der Diffusionen, deren Auftreten wahrscheinlich ist, durchlaufen m u ß , und nur insofern, wie sie diesen Filter passiert, ist sie konstitutiv für das nachfolgende Diffusionsstadium, andernfalls bleibt die Diffusion ein lokales und temporäres Ereignis. Konkreter: sofern f / ^ aus § 4.4.4 zutrifft, Diffusionsausbreitungen also in der Tat nur soweit toleriert werden, wie sie keine die Sozialstruktur destabilisierende Funktion haben, so bleibt zu fragen, ob und inwieweit die Alternative in (79) nicht auch zugleich gewisse soziolinguistische Implikationen aufweist. Wenn die Variante (79) (a) zugleich für einen gewissermaßen gehobenen Sozialstatus repräsentativ ist, und in einer einschlägigen SprecherHörer-Gruppe P j als einzige existiert, während (79) (b) in einer Gruppe P j (i Φ j) als einzige Regel existiert, wobei P j gegenüber P j unterpriviliert ist, sodaß (79) die in einer Gruppe Ρ^ anzutreffende Mischform ist (i Φ j Φ k), so ist der in der Argumentation zu (79) angenommene Diffusionsverlauf in der Tat wenig wahrscheinlich. (79) (a) wird vielmehr als eine statussignifikante Form von Hyperkorrektheit konserviert werden, die Nivelierung, die die Diffusion von (79) implizierte, würde nicht akzeptiert, die Ausbreitung der Diffusion wäre also nicht sichergestellt. Die verschiedenen Prozeße der vertikalen grammatischen Mobilität würden es weiterhin mit sich bringen, daß auch (79), gewissermaßen als unvermeidbare Mischform, erhalten bleibt, kurz: der an sich wahrscheinliche Diffusionsprozeß k ö n n t e den Filter, der mit den Bedingungen der Diffusionsausbreitung gegeben ist, n i c h t passieren, der wahrscheinliche Diffusionsverlauf würde blockiert. Die Frage, inwieweit sich wahrscheinlich auftretende Diffusionen ausbreiten können, läuft also auf die Frage hinaus, inwieweit sie in Ρ toleriert werden können, genauer: A u s b r e i t u n g s w a h r s c h e i n l i c h k e i t e n sind T o l e r a n z w a h r s c h e i n l i c h k e i t e n . Der Grad der wahrscheinlichen grammatischen Toleranz steuert den Verlauf des Diffusionspro230
zesses, also den Verlauf der Sprachentwicklung. Man wird allgemein sagen können, daß mit der Toleranzbreite auch das Spektrum möglicher Sprachentwicklungen wächst; jedenfalls steht die besondere Bedeutung einer praktizierten grammatischen Toleranz für alle synchronen und diachronen grammatischen Prozeße gänzlich außer Frage, denn die Ausbreitung dieser Prozeße ist in einer wesentlichen Hinsicht ausschließlich die Funktion der existierenden Toleranzschwellen. Der Verstoß gegen das Toleranzgebot jedenfalls restringiert die Klasse der möglichen Sprachentwicklungen ganz erheblich; die faktische Antizipation aller Entwicklungsmöglichkeiten ist nur dann möglich, wenn alle Toleranzmöglichkeiten, ohne Restriktion, die aus der Sozialstruktur der Sprache resultieren kann, effektiv und vollständig ausgeschöpft werden. 6.6.4 Die Kriterien, die für die Auftretenswahrscheinlichkeit von Diffusionen angenommen wurden, implizieren die weitere Hypothese, daß die Diffusionswahrscheinlichkeit für die verschiedenen Teilsysteme einer generativen Grammatik aus systematischen Gründen nicht gleich hoch sind. Dabei gilt insbesondere, daß im Aufbau der Grammatik hoch hierarchisierte Teilsysteme erheblich diffusionsresistenter sind als niederig hierarchisierte Teilsysteme. Wenn aber generell auf die Hierarchisierung von der Spitze zur Basis ein System steigender Diffusionswahrscheinlichkeiten projiziert werden kann, so wird es offenbar auch möglich, die Hierarchie der Teilsysteme bzw. der Regeln in diesen Teilsystemen als eine Abbildung der relativen Chronologie ihres Zustandekommens zu interpretieren (cf. zu diesem Aspekt auch Klima 1964, wo die Existenz relativer Chronologien im Aufbau einer Grammatik erstmals thematisiert wurde). Denn es ist durchaus möglich zu sagen, daß der Grad der Diffusionsresistenz zugleich auch ein Stabilitätsgrad ist, und man wird mit der Annahme nicht fehlgehen, daß Strukturen, die ein hohes Stabilitätsniveau aufweisen, früher etabliert wurden als die instabilen, hochgradig diffusionsfähigen Strukturen. Diese latent diachrone Dimension, die für Grammatiken behauptet werden kann, kann in Analogie auch für Grammatikenfamilien behauptet werden. Es liegt auf der Hand, daß der Verwandtschaftsgrad zwischen zwei Grammatiken Gj, Gj aus F umso höher sein wird, je höher die Regelsysteme, über die sie gemeinsam verfügen, hierarchisiert sind, denn eine solche hohe Hierarchisierung hat die Koinzidenz der auf einem niedrigeren Niveau hierarchisierten Systeme notwendig zur Folge. Mithin läßt sich allgemein sagen, daß die Verwandtschaftsgrade, die für die Grammatiken in F behauptet werden können, die relative Chronologie des Zustandekommens der Grammatiken-Familie F reflektieren: je enger eine Verwandtschaftsbeziehung ist, desto früher wurde sie konstitu231
iert. In der Begrifflichkeit der Grammatizitäts-Theorie läßt sich dieser Sachverhalt derart paraphrasieren: je geringer der Grad der Semigrammatizität zwischen den von zwei in F koexistierenden Grammatiken erzeugten Satzmengen ist, desto enger ist die Verwandtschaftsbeziehung zwischen diesen Grammatiken, je enger Verwandtschaftsbeziehungen in F sind, desto eher haben sie sich (zumindest im Normalfall) in der Entwicklung von Fergeben. Diese Annahmen sind auch psychologisch gut motivierbar. Diffusionsprozeße sind ja als Optimierungsversuche interpretierbar; je höher aber eine Regel hierarchisiert ist, desto höher ist auch der Grad ihrer Universalität und damit ihrer Einfachheit, ihrer Gesetzmäßigkeit; sie bedarf mithin nicht mehr der Optimierung, ihr kann ein hohes Maß an Diffusionsresistenz zugeschrieben werden, ein hoher Grad an Stabilität, während niedrigere Hierarchisierungen geringere Universalitätsgrade und damit geringere Einfachheitsgrade, also auch ein höheres Maß an Diffusionsanfälligkeit, an Instabilität implizieren. Analoges gilt für Verwandtschaftsbeziehungen, die ja nur aus dem internen Aufbau von Grammatiken erklärbar sind. Die Diffusionswahrscheinlichkeit steigt also ganz allgemein mit dem Fallen des Hierarchisierungsniveaus; Diffusionswahrscheinlichkeit und Hierarchisierungsniveau verhalten sich umgekehrt proportional zueinander; entsprechendes gilt für die verschiedenen Ausprägungen von Verwandtschaftsbeziehungen im System der G j aus F. Diffusionsresistenz ist also in einem gewissen Sinne ein Gradmesser für Universalität; Strukturen, die sich im Verlauf der Sprachentwicklung als stabil erwiesen haben, Regelsystemen, die nur geringfügig diffundierten, wird eine gewisse Universalität nicht abzusprechen sein. Dieser diachrone Parameter in der Theorie der grammatischen Universalien kann sich zumal deshalb als wesentlich herausstellen, weil die Fruchtbarkeit typologischer Untersuchungen für die Universalien-Theorie keineswegs ipso facto erhellt: da der Gegenstand einer Typologie, nämlich eine Klasse natürlicher Sprachen, nur synchron, im Rahmen eines Zeitabschnittes, eines δ-Abschnittes von Δ objektiviert wird, kann die typologische Untersuchung nichts über die Stabilität der im Klassendurchschnitt liegenden und deshalb als universell deklarierten Strukturen besagen. Und es kann nicht ausgeschlossen werden, daß der in einem δ-Abschnitt von Δ aufweisbare Klassendurchschnitt schon im nachfolgenden Abschnitt von Δ wesentlich andere Elemente enthält als er zuvor enthielt, d.i. die Sprachentwicklung kann so verlaufen, daß die angenommene Universalität sich als v e r m e i n t l i c h e Universalität herausstellt, da sie durch die Sprachentwicklung aufgehoben wird. Diesem Umstand kann nur dann Rechnung getragen werden, wenn in der Typologie auch dem Faktor Sprachentwicklung Rechnung getragen wird, das aber 232
heißt: wenn das Kriterium „Zugehörigkeit zu einem Sprachendurchschnitt während eines δ ^-Abschnittes von Δ relativ zu einer bestimmten Zeitstrecke" als Universalitätskriterium aufgegeben wird, etwa zugunsten des Kriteriums „gleichbleibende Zugehörigkeit zu einem Sprachendurchschnitt". Der diachrone F a k t o r , der mit d e m Begriff „gleichbleibend" in dies näherungsweise formulierte Kriterium Eingang fände, würde aber die Analyse von Diffusionsresistenzen erzwingen, allerdings auch die Mängel eines rein synchronen typologischen Vorgehens beseitigen. Eine auf Universalien-Analysen abzielende Typologie läßt sich ohne eine diachrone K o m p o n e n t e offenbar nicht effektiv entwickeln; vielmehr wird es gerade diese diachrone K o m p o n e n t e sein, die eine Entscheidung über die Stringenz typologischer Universalitätsbehauptungen gestattet. (Diese Überlegungen gelten natürlich auch dann, wenn nicht die Durchschnitte von Sprachen, sondern das V o r k o m m e n bzw. Nichtvorkommen ausgezeichneter Strukturen untersucht wird, z . B . von Agentiv- oder Lokativ-Strukturen, wie es in der Typologie von Fillmore ( 1 9 6 8 ) vorgesehen ist: auch hier reicht der Existenznachweis für solche Strukturen in verschiedenen Sprachen als Universalitätskriterium nicht aus; vielmehr muß weiterhin die Entwicklungskonstanz, die Diffusionsresistenz dieser Strukturen garantiert sein, wenn anderes als a d - h o c -Annahmen formuliert werden sollen, id est: in die Analyse müssen diachrone Faktoren eingehen. — Es versteht sich dabei von selbst, daß es sich bei den Universalien, von denen hier die Rede ist, nur um substantielle Universalien handeln kann: formale Universalien sind gewissermassen noch vor aller Empirie als solche ausgewiesen; sie sind p e r d e f i n i t i o n e m stabil gegen Diffusionsprozeße, und es wäre tautologisch, die Existenz dieser Universalien empirisch-typologisch „ a u f z u d e c k e n " oder zu „ b e w e i s e n " . ) 6.6.5 Man wird auf Grund der §§ 6.6.1 — 6 . 6 . 4 nicht von einer T h e o r i e der Diffusionswahrscheinlichkeiten sprechen können, wie denn insgesamt nicht von einer Theorie der Diffusion gesprochen werden kann, also von einem S y s t e m , das Aussagen enthält, die Diffusionsgesetze oder, was dasselbe meint: Diffusionsuniversalien z u m Gegenstand haben; bislang wurde eher eine Skizze einer solchen Theorie, ein erster Entwurf geliefert. Allerdings scheint es sich dabei so zu verhalten, daß eine Diffusionstheorie im Grundsatz aufgebaut werden kann, daß Diffusionsgesetze prinzipiell formulierbar sind, und daß demzufolge die generative Theorie der diachronen Prozeße es in einem Teilbereich, nämlich im Rahmen einer Analyse der Diffusionswahrscheinlichkeiten, ermöglichen könnte, innerhalb gewisser Grenzen auch die Z u k u n f t der Sprache zu thematisieren, Sprachentwicklungen also, teilweise, prognostizieren zu können. 233
Im Rahmen einer solchen Perspektive ist es eine interessante Frage, ob es auf irgendeine Weise möglich ist, sich der Konsistenz solcher Prognosen, also ihres empirischen Gehaltes und der Chancen ihres Zutreffens versichern zu können. Nun ist zumindest dies klar: Aussagen über die Wahrscheinlichkeit von Diffusionsprozeßen sind durch den Rekurs auf das aktual gegebene Diffusionsstadium nicht abdeckbar, denn sie beziehen sich immer auf das nachfolgende, das nächstzukünftige Diffusionsstadium, auf eine mögliche Verfassung der Sprache, die noch nicht Sprachrealität geworden ist; entsprechend können diese Aussagen auch nicht durch einen Rekurs auf die Sprachrealität empirisch abgedeckt werden. Sie sind insofern jedem unmittelbaren Falsifikationsrisiko entzogen, und sie sind ebensowenig einer jederzeitigen empirischen Bestätigung zugänglich. Gleichwohl sind diese Aussagen keine spekulativen Aussagen; sie sind im Prinzip einer empirischen Bestätigung fähig, und sie können ebenso empirisch falsifiziert werden: beides allerdings erst dann, wenn in der Entwicklung eines Sprachzustandes, allgemeiner: einer Sprache dieses nachfolgende Diffusionsstadium erreicht ist, das sie zum Gegenstand haben. Mit anderen Worten: der empirische Gehalt, die Konsistenz der diachronen Wahrscheinlichkeitsaussagen ist erst dann feststellbar, wenn jeder zukünftige Diffusionszustand, den sie thematisieren, Sprachrealität geworden ist; die Aussagen können nur in distinkten Phasen der Sprachentwicklung formuliert werden: Wahrscheinlichkeitsaussagen eilen gewissermassen der Entwicklung einer Sprache voraus, und ihre Prüfung ist erst dann möglich, wenn die Sprachentwicklung sie wieder erreicht hat, wenn das prognostizierte zukünftige Entwicklungsstadium Realität geworden ist. Davon, ob diese Realität sich in Übereinstimmung mit den Prognosen gestaltet oder nicht, wird es abhängen, ob diese Aussagen sich bewährt h a b e n oder nicht. Denn diese Aussagen sind nicht n i c h t auf Grund der Sprachrealität korrigierbar: denn alle Gründe für die Formulierung von Wahrscheinlichkeitsaussagen entfallen, wenn diese Aussagen prüfbar geworden sind. Sie mögen sich als falsch erweisen: ihre Revision ist gleichwohl überflüssig; für faktisch abgeschlossene Prozeße können Wahrscheinlichkeitsaussagen nicht mehr formuliert werden. Ein System von Wahrscheinlichkeitsaussagen, das, wie es sich im Fortgang der Sprachentwicklung herausstellen kann, zutrifft, büßt seinen Charakter als System von Wahrscheinlichkeitsaussagen ein; trifft es nicht zu, wird es durch ein System ersetzt, das den dann abgeschlossenen Prozeß erklärt und beschreibt. Diese Situation ist jedoch keineswegs für linguistische Wahrscheinlichkeitsaussagen spezifisch, sondern sie tritt in nahezu allen empirischen Gesellschaftswissenschaften auf; Konjunkturprognosen der Wirtschaftswissen-
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Schäften etwa, um nur ein Beispiel zu nennen, unterliegen den gleichen Bedingungen wie diachrone Wahrscheinlichkeitsaussagen. In diesem Zusammenhang ist es sicher nicht unwichtig darauf hinzuweisen, daß Sprachplanungen, analog zu Wirtschaftsplanungen, direkten Einfluß auf das Auftreten und die Ausbreitung der vorausgesagten Diffusionsprozeße haben kann; der Regelkreis zwischen Theorie und Praxis ist hier also in der besonderen Art geschlossen, daß durch Sprachplanungen zur Widerlegung gut motivierter diachroner Aussagen beigetragen werden kann und daß mit Sprachplanungen eine Bestätigung sehr viel weniger gut motivierter diachroner Aussagen bewirkt werden kann. Daß Sprachplanungen derzeit nur vereinzelt betrieben werden, verhindert es, daß der skizzierte Regelkreis bereits als geschlossen angesehen werden kann. Die Möglichkeiten aber, daß er in dieser Weise geschlossen wird, kann nicht von der Hand gewiesen werden, und es wird einiger Anstrengung bedürfen, um dieser Perspektive in theoretischer und praktischer Hinsicht gerecht werden zu können.
6.7
Anwendungsmöglichkeiten der diachronen Konzeption
6.7.1 Synchronie und Diachronie sind, sofern sie im Rahmen eines Koexistenzmodelles aufgebaut werden, als intensional distinkte, extensional aber übereinstimmende linguistische Systeme aufzufassen (cf. Kanngießer 1 9 7 1 , bes. 4 2 — 4 6 ) ; insofern sind die in Kap. 5 gelieferten Beispiele zugleich auch, implizite, Beispiele für die Anwendbarkeit der diachronen Konzeption, ein Sachverhalt, der explizit gemacht werden kann, wenn die in den Beispielen verwendeten Begriffe diachron uminterpretiert werden, wenn also statt von „Nachbarschaftsbeziehungen" von „Phasenabständen" gesprochen wird, usf. Die Unterschiede zwischen Synchronie und Diachronie sind deshalb keineswegs eingeebnet; sie sind allerdings nur dann greifbar, wenn die die Forschung steuernden Erkenntnisinteressen, die j e spezifischen Erklärungsabsichten selbst hinreichend klar ausformuliert werden, d . i . wenn klar ist, mit welchen Erklärungsabsichten die Interpretation eines Koexistenzmodelles vorgenommen wird. Angesichts dieser Sachlage sind explizit diachrone Anwendungen des Koexistenzmodelles wohl nur noch insoweit von besonderem Interesse, wie sie zur Verdeutlichung der zuvor eingeführten Annahmen über die Zusammenhänge zwischen Diffusionsresistenz und Universalität zwischen der Auftretenswahrscheinlichkeit und der Ausbreitungswahrscheinlichkeit von Diffusionsprozeßen beitragen können. Im Hinblick darauf kann ζ. B. untersucht werden, ob und inwieweit sich von der Universalität der NP-Struktur D E T — ADJ — Ν sprechen läßt, die in verschiedenen gram235
matischen Analysen immer wieder vorausgesetzt wird (.wobei ADJ für eine Klasse von Adjektiven stehen soll, deren transformationelle Einführung, wie Mötsch (1965) gezeigt hat, im Deutschen nicht möglich ist). Wenn von der Universalität dieser NP-Struktur gesprochen wird, so ist damit gemeint, daß die Kette DET — ADJ — Ν immer dann in einer Grammatik auftritt, wenn in dieser Grammatik NP auftritt; DET — ADJ - Ν ist dabei keineswegs als die einzig mögliche NP-Expansion aufzufassen, sondern als eine Expansion, die in der Klasse der möglichen NP-Expansionen notwendig enthalten und deshalb substantiell universal ist. — Nun läßt sich jedoch leicht zeigen, daß die Behauptung, die NP-Struktur DET — ADJ — Ν sei substantiell universal, empirisch unhaltbar ist. Denn in den Grammatiken, die den Zustand „Althochdeutsch" der deutschen Sprache erzeugen, ist für die NP-Expansion zumindest in den frühen Diffusionsstadien dieses Sprachzustandes eine PSRegel anzusetzen, in der die Kategorie DET nicht enthalten ist: ι (ADJ) (N) (80) NP < l (PRON) Die Regel in (80) verdeutlicht hinreichend, daß DET - ADJ - Ν keine universale NP-Struktur ist. Die Kategorie DET wurde vielmehr in den letzten Diffusionsstadien von AHD eingeführt und hat sich dann, im Rahmen der Struktur DET — ADJ — N, in den nachfolgenden Diffusionsstadien und Zuständen des Deutschen erhalten. Der Diffusionsprozeß läßt sich etwa derart skizzieren: (81)
A
fJ
~ % => (DET) - 1 - 2
Mit (81) ist eine nicht-konservative Diffusion angegeben, deren Struktur in (57), Teil 1 und Teil 3, Zeile b genauer beschrieben wurde. Diese Diffusion weist ganz ohne Zweifel einen hohen Intensitätsgrad auf, was aus ihren Rückwirkungen einigermassen deutlich wird: (81) zieht zwangsläufig weitere Diffusionen im subkategorialen Teil der Grammatiken nach sich, so etwa im Hinblick auf die Kategorie PRON, die durch die Einführung von DET teilweise defunktionalisiert wurde und neu spezifiziert werden mußte, aber auch im Hinblick auf DET selbst, denn natürlich muß ein Determinantenkomplex noch weiter aufgefächert werden. Daß diese Prozeße dann auch Rückwirkungen auf den Transformationsverlauf haben, steht außer Frage, entsprechend werden sich auch in diesem Bereich Diffusionen nachweisen lassen; der Umstand schließlich, daß DET-Elemente zuweilen, logisch gesehen, die Funktion von Quantoren übernehmen, legt des weiteren die Annahme nahe, daß in der Konsequenz von (81) auch im semantischen Bereich Diffusionen erfolgten. Ein Vereinfachungseffekt schließlich wird mit (81) insofern bewirkt, wie 236
durch die Einführung einer neuen nicht-redundanten Kategorie, mit der eine andere Kategorie gleichsam funktional entlastet wird, die Erzeugung reicher und kohärenter strukturierter Sätze ermöglicht wird. Ob die Diffusion in (81) soziolinguistisch relevante Implikationen aufweist, kann hier nicht untersucht werden; es kann jedenfalls nicht von vornherein ausgeschlossen werden, daß solche Implikationen, wie auch immer des genaueren, vorliegen. — Die folgende PS-Regel
die gewissermaßen das heute noch gültige Diffusionsresultat ist, enthält, wie ausgeführt, in der Kette DET — ADJ — Ν vermutlich substantiell universale Kategorien, jedoch sind diese Kategorien, der diachronen Analyse zufolge, in dieser Verkettung nicht universal. Die Diachronie ist insofern eine hochgradig effektive Falsifikationsinstanz für Universalitätsbehauptungen; sie ist dabei jedoch nicht nur dieses: Strukturen bzw. Regelsysteme, die als universal gekennzeichnet werden, sind, wenn im Hinblick auf diese Kennzeichnung vorgenommene diachrone Falsifikationsversuche scheitern, mit guten Gründen als universal aufzufassen, denn sie haben sich gegen e i n s c h l ä g i g e , keineswegs a d h o c vorgetragene Falsifikationsversuche als universal erwiesen. 6.7.2 Die weitreichenden Rückwirkungen, die (81) für die Organisation einer Grammatik, qua internalisiertes System von Sprachkenntnissen hat, machen deutlich, daß Diffusionen im syntaktischen Bereich per se intensiver sind als Diffusionen im phonologischen Bereich, die die syntaktischen Prozesse keineswegs notwendig affizieren müssen, was umgekehrt unerläßlich ist. Sofern die Annahme zutrifft, daß sich die Diffusionshäufigkeit proportional zum Grad der Diffusionsintensität verhält (id est: daß Diffusionen niedrigen Intensitätsgrades häufiger vorkommen als Diffusionen mit einem hohen Intensitätsgrad; eine Hypothese, die wohl unverfänglich sein dürfte), so folgt daraus, daß hoch hierarchisierte Systeme stabiler sind als tief hierarchisierte Systeme; die Hypothese der klassischen Diachronie, daß die Syntax konservativer (also weniger diffusionsanfällig, stabiler) ist als die phonologische Struktur, ließe sich somit durchaus aufrecht erhalten. Weiter wäre auf diese Weise ein diachrones Argument für die mögliche Form von generativen Grammatiken gewonnen: die Syntaktik ist der Phonologie deshalb vorgeordnet, weil sie diffusionsresistenter als diese ist, mithin auch universeller; der hierarchische Aufbau einer Grammatik wäre mithin so vorzunehmen, daß die Hierarchie die Stabilität bzw. Universalität der hierarchisierten Regelsysteme derart reflektiert, daß die Hierarchie 237
von der Spitze zur Basis das Absinken des Stabilitäts- bzw. Universalitätsniveaus wiedergibt. Mit anderen Worten: eine Grammatik ist genau dann optimal organisiert, wenn ihr Aufbau die relative Chronologie ihrer Teilsysteme und deren Regeln reflektiert. Denn was für die Grammatik insgesamt gilt, gilt natürlich auch für jedes ihrer Teilsysteme. Die Phonemik ist ein diffusionsresistenteres, universaleres System als die Phonetik, und dem muß im Aufbau der Phonologie Rechnung getragen werden. Dabei ist natürlich nicht auszuschließen, daß sich die Zuordnungsbeziehungen zwischen den Systemen einer Grammatik in der Abfolge der diachronen Prozesse ändern können, id est: daß ζ. B. der Diffusionsverlauf so ist, daß zunächst rein phonologische Strukturen in syntaktische Zusammenhänge integriert werden; ein einschlägiges Beispiel ist hier die Morphologisierung des Ablauts im Deutschen. Ebenso ist etwa eine Verschiebung der LautBedeutung-Relation derart denkbar, daß ein Bedeutungswandel lautlich markiert wird; als im Veda z. b. aus a s u r a „Herr, Gott" eine Bezeichnung für Dämonen wurde, wurde dieser semantische Diffusionsprozeß lautlich durch eine zu a - s u r a führende Diffusions gekennzeichnet und unterstützt. Im Diffusionsverlauf vollzieht sich also eine Wechselwirkung zwischen den Teilsystemen einer Grammatik, in deren Konsequenz tradierte Abgrenzungen zwischen diesen Teilsystemen hinfällig werden können. Die Verschiebung der Zuordnungsbeziehungen betrifft also nur die Grenzen zwischen den Grammatik-Komponenten, sie hebt jedoch nicht die relative Chronologie dieser Komponenten selbst auf, d.i. die Phonologie kann in keiner Phase der Sprachentwicklung universaler und stabiler als die Syntaktik sein, selbst wenn sich Umschichtungen für die Elemente dieser Systeme ergeben: die Beziehungen zwischen den Systemen selbst sind stabil und damit universal. 6.7.3 Die Anwendung der diachronen Konzeption muß auch deutlich machen können, inwieweit die Ausbreitung gewisser Diffusionen blockiert wurde. Lakoff ζ. B. faßt das englische Verb t o a g r e s s als eine Ausnahme auf (cf. Lakoff 1965, V I I I - 4 bis VII1-5), das heißt: als eines der grammatischen Phänomene, die eine Falsifikation der Homogenitätsannahme in (CI) erlauben (, wobei Lakoffs Theorie der Ausnahmen wie auch die auf sie zurückgehende Markierungstheorie letztlich nur Versuche eine a d h o c - Rechtfertigung von (CI) sind: die Generalisierung in (CI) kann, einmal eingeführt und durch die linguistische Erfahrung widerlegt, durch Zusatzannahmen nicht mehr gerechtfertigt werden), t o a g r e s s , offenbar eine progressive Analogiebildung und keineswegs eine genetische Adaptation, ist nicht allen Gruppen von Sprecher-Hörern des Englischen lexika238
lisch verfugbar, für gewisse Gruppen jedoch nachweisbar. (Abgeleitete Formen wie a g g r e s s o r oder a g r e s s i o n sind dagegen generell verfügbar.) Diese Analogiebildung wurde in der Geschichte des Englischen schon mehrfach allgemein zu etablieren versucht, ohne jedoch hinreichende Mehrheiten in der Ρ• -Gliederung der Englisch-Sprecher-Hörer zu finden; es liegt also der Fall einer partiellen Ausbreitungsblockierung von Diffusionen vor. Ein solcher Sachverhalt aber kann nicht unter dem Titel „Irregularität" abgehandelt werden; der Umstand, daß ein Verb nicht allgemein akzeptiert wird, macht es nicht irregulär, sondern verweist auf seine restringierte Ausbreitung. Insofern können gewisse (sicherlich nicht alle) Spezialitäten, die Grammatiken in Bezug aufeinander aufweisen, als Resultate einer blockierten Diffusionsausbreitung erklärt werden; daß es nur wenige Sprecher-Hörer des Englischen gibt, die über Regeln für t o a g r e s s verfügen, impliziert mithin nicht, daß diese Regeln irgendwie irregulär sind, sondern reflektiert genau jene Inhomogenität der Sprachkenntnisse, die ohne Spezialitäten von Grammatiken in Bezug aufeinander gar nicht denkbar ist. Es gibt insofern keine „Ausnahmen"; eine Ausnahme ist immer eine „Ausnahme von der Norm", bei der Setzung von Normen im Zusammenhang mit linguistischen Beschreibungen aber werden letztlich die Begriffe „Sprachbeschreibung" und „Sprachplanung" unzulässig miteinander identifiziert. Die diachrone Sprachanalyse liefert also mit der Theorie der Diffusionsausbreitung eine Theorie, die jede Ausnahmen-Theorie mehr als zu ersetzen vermag: denn Ausnahmen-Theorien können nichts anderes sein als a d h o c - Rechtfertigungen für ansonsten unhaltbare Generalisierungen (, wie sie speziell durch (CI) erzwungen werden). Die Anwendungsmöglichkeiten der diachronen Theorie reichen also, wie diese Skizze zwar informell, aber vielleicht doch hinreichend verdeutlicht, von der Universalien-Theorie bis hin zu ansonsten nur a d h o c zu erfassenden sprachlichen Phänomenen; die Diachronie vermag sogar Argumente für die Grammatik-Theorie zu liefern: die Implikationen einer Theorie der Sprachentwicklung sind also so reich, daß diese Theorie, über ihren spezifischen Gegenstand hinaus, Einsichten erlaubt, die sonst nicht zu gewinnen wären. Und auch dies bestätigt die These, daß eine befriedigende linguistische Theorie ohne eine diachrone Komponente, ein diachrones Teilsystem nicht entwickelt werden kann.
239
7
Bestätigungsfähigkeit und Falsifizierbarkeit
7.1
Hypothesenbestätigung und Hypothesenwahrscheinlichkeit
Jedes linguistische System, mit dem der Anspruch auf empirische Signifikanz erhoben wird, muß auf Grund der Sprachrealität geprüft werden können; es muß also Falsifikationsversuchen aussetzbar sein, und das System ist offenbar genau in dem Grade bestätigt, in dem es sich gegenüber dem Falsifikationsrisiko bewährt. Es reicht also nicht hin zu sagen, daß ein System sich gegenüber gewissen Falsifikationsrisiken bewährt; es muß weiterhin ausgeführt werden können, in welchem Grade es sich bewährt, also bestätigt ist — etwa um gegenüber einem System, das dem Falsifikationsrisiko ebenfalls standhält, ausgezeichnet oder verworfen werden zu können, je nach dem Grad der Bestätigungsfähigkeit der beiden konkurrierenden Systeme. Die Theorie des Bestätigungsgrades, um die es offenbar geht, muß es also nicht nur ermöglichen, den Grad der „correspondence to linguistic fact" eines theoretischen linguistischen Systemes zu messen, sondern sie muß es weiterhin auch gestatten, zwischen konkurrierenden linguistischen Systemen eine Entscheidung treffen zu können, mit der das System ausgezeichnet wird, das besser bestätigungsfähig ist. 14 14 Die folgenden Ausführungen sind der Wissenschaftsphilosophie Poppers in einem noch höheren Maße verpflichtet als die Überlegungen aus Kap. 1. Insbesondere wurden auch die Definitionen von B(x,y) und E(x,y) sowie die Desiderate (85) (93) nach Popper (1969) 353 formuliert; es wurde lediglich die Notation gegenüber der von Popper verwandten geändert und einige Desiderate stärker formalisiert. Es muß an dieser Stelle hervorgehoben werden, daß Poppers Ansatz verschiedentlich auf Kritik getroffen ist; cf. die Diskussion um diesen Ansatz in B.J.P.S. 6 (1955) 155-163 und 7 (1956) 243-256 (u.a. mit einem Beitrag von Bar-Hillel) sowie Kemenys Rezension in J.S.L. 20 (1955) 304. In dieser Auseinandersetzung geht es letzlich um das, was in Abschnitt 7.2 dieser Abhandlung „intuitive Desiderata fur den Forschungsprozeß" genannt wird; es geht darum, ob Hypothesen hochgradig wahrscheinlich oder hochgradig informationsreich sein sollen, wenn ihre Annehmbarkeit zur Debatte steht. Nach Kap. 1 ist immer diejenige Hypothese die überlegene, die mehr Information liefert; der Grad der Annehmbarkeit wächst mit dem Grad des Informationsreichtums, und damit
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Wenn in diesem Sinne von Bestätigung die Rede ist, steht offenbar die Frage zur Debatte, inwieweit eine linguistische Aussage χ durch eine ebensolche Aussage y bestätigt oder widerlegt wird bzw. inwieweit y χ bestätigt oder widerlegt. Allgemeiner: wenn χ eine linguistische Hypothese h ist, und wenn y ein Aussagensystem ist, das empirisches Tatsachenmaterial e zum Inhalt hat, so geht es um die Frage, ob und inwieweit h durch e bestätigt oder widerlegt wird. Sei nun B(x, y) zu lesen als „der Grad der Bestätigung von χ durch y"; Wfx, y) als „die relative Wahrscheinlichkeit von χ in Bezug auf y" und Wfx) als „die absolute Wahrscheinlichkeit von x". Nach den Annahmen aus Kap. 1 wächst der Bestätigungsgrad mit dem Grad der Falsifizierbarkeit, d. i. mit dem Grad der Prüfbarkeit, dem empirischen Gehalt oder der Unwahrscheinlichkeit einer Hypothese; es ist deshalb nicht möglich, den Bestätigungsgrad mit der relativen Wahrscheinlichkeit von χ bezüglich y zu identifizieren, also B(x, y) = Wfx, y) zu setzen. Vielmehr gilt B(x, y) Φ Wfx, y); der Grad der Bestätigungsfähigkeit einer Hypothese und die Hypothesenwahrscheinlichkeit sind nicht miteinander identisch. Die Unmöglichkeit, in der Wissenschaft G e w i f i h e i t , keiner Revision mehr fähiges, aber auch keiner Revision mehr bedürftiges Wissen zu erlangen, k a n n n i c h t durch den Versuch kompensiert werden, gleichsam ersatzweise wenigstens maximale Hypothesenwahrscheinlichkeiten zu erreichen. Hohe Hypothesenwahrscheinlichkeiten gehen nach Kap. 1 immer auf Kosten des Informationsgehaltes der Hypothese; der Informationsgehalt einer Hypothese fallt mit der Steigerung der Hypothesenwahrscheinlichkeit. Der Höchstgrad der Bestätigung von χ muß mit I f x ) , d. i. dem Maß des Gehaltes von* wachsen; der Grad der Bestätigungsfähigkeit wächst insofern mit dem Grad der Prüfbarkeit von x: denn je informationsreicher eine Hypothese ist, desto besser kann diese Hypothese geprüft, der Sprachrealität konfrontiert werden. Es soll also, im Sinne der Konzeption Poppers, Bfxx, y) = Ο gelten, und es soll Wfxx, y) = 1 sein. In diesem Rahmen läßt sich dann eine Theorie des Bestätigungsgrades entwickeln, die mit den Desiderata aus Kap. 1 konsistent ist. mit dem Grad der Revidierbarkeit. Die Poppcr-Dcsiderata korrespondieren einer Wissenschaftsauffassung, in der das unerreichbare Ideal absoluter Gewissenhcit nicht durch das Ideal der maximalen Hypothesenwahrscheinlichkeit ersetzt wird, sondern in der aus der Unerreichbarkeit absoluter Wahrheiten die einzig mögliche Konsequenz gezogen wird: die Konsequenz nämlich, daß es die Aufgabe der Wissenschaft ist, Hypothesen möglichst zu falsifizieren - um zu neuen und informationsreicheren und wiederum falsifizierbaren Hypothesen vordringen, um Fortschritte erTeichen zu können, Fortschritte, die Beiträge zum Wachstum menschlichen Wissens sind.
241
7.2
Maße des Bestätigungsgrades und der explanativen Kraft
7.2.1 Eine Definition von B(x, y), bei der in Rechnung gestellt wird, daß der Informationsreichtum einer Hypothese ein wesentlicher Faktor auch bei der Hypothesenprüfung ist (und zwar schon insofern, wie er das Spektrum der möglichen Prüfungen festlegt), kann auf E(x, y) basieren, einen nicht-additiven Maß für das Erklärungsvermögen von χ hinsichtlich y, also für die explanative Kraft einer Hypothese h hinsichtlich eines bestimmten Tatsachenmateriales e. Dieses Maß für die explanative Kapazität von χ kann derart definiert werden: (83)
E(x, y) 1. wm
W(x, y) - WfyJ W(x, y) + WM *ο
mit:
2. χ ist widerspruchsfrei (84)
B(x, yj = E(x, y) (1 + W(x) W(x, y)) 1. WM * Ο
mit:
2. χ ist widerspruchsfrei
Die Bedingung 2 aus (83) und (84), obschon geradezu selbstverständlich, („ex falso sequitur quidlibet"), ist gänzlich unerläßlich: eine Hypothese, die diese Bedingung nicht erfüllt, ist bereits vor aller Prüfung falsch, nämlich bereits logisch falsch, und insofern einer Konfrontation mit der Sprachrealität nicht mehr fähig. — Mit der Funktion des Bestätigungsgrades kann, so wie sie in (85) definiert ist, die Gesamtmenge der folgenden D e s i d e r a t e (die von Popper 1969, 353 formuliert wurden) erfüllt werden, so daß die effektive Anwendbarkeit der Theorie des Bestätigungsgrades gesichert ist: (85)
Β fx, 1. y 2. y 3. y
(86)
B(y, y)